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German Pages 200 Year 2019
André Kieserling, Tobias Werron (Hg.) Die Fakultät für Soziologie in Bielefeld
Sozialtheorie
André Kieserling, geb. 1962, ist Professor für soziologische Theorie und Allgemeine Soziologie an der Universität Bielefeld. In seiner Forschung beschäftigt er sich vor allem mit soziologischer Theoriebildung zu den Themen Interaktionssysteme und soziale Schichtung. Tobias Werron, geb. 1970, ist Professor für soziologische Theorie und Allgemeine Soziologie. In seiner Forschung beschäftigt er sich vor allem mit historisch-soziologischen Themen, insbesondere Konkurrenz, Nationalismus und Globalisierung.
André Kieserling, Tobias Werron (Hg.)
Die Fakultät für Soziologie in Bielefeld Eine Oral History
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4993-2 PDF-ISBN 978-3-8394-4993-6 https://doi.org/10.14361/9783839449936 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt Einleitung | 7 Soziologie und Sozialpolitikforschung Franz-Xaver Kaufmann im Gespräch mit Lutz Leisering | 9 Ein Soziologe und Jurist erinnert sich Klaus Dammann im Gespräch mit Stefan Kühl | 23 Die Fakultät als Ort der Freiheit Har tmann Tyrell im Gespräch mit Volker Kruse | 39 Von Freud und Leid einer benachbarten Einrichtung Peter Weingar t im Gespräch mit Simone Rödder und Niels Tauber t | 55 »In der großen Halle des Volkes« Claus Offe im Gespräch mit Holger Straßheim und Detlef Sack | 69 »Selbstverwaltungstage« und »antagonistische Kooperationen« Hansjürgen Daheim im Gespräch mit Volker Kruse | 81 »Die Systemtheorie ist vollkommen überschätzt« Hans-Jürgen Andreß im Gespräch mit Jost Reinecke | 85 Zu groß für den Großkonflikt Ger t Schmidt im Gespräch mit Ursula Mense-Petermann | 89 Die Anfänge der Sozialanthropologie in Bielefeld Günther Schlee im Gespräch mit Joanna Pfaff-Czarnecka | 101 Kampf der Statusgruppen und diabolische Augen Karin Knorr Cetina im Gespräch mit Bettina Heintz | 115
Geschlechterforschung zwischen »institutioneller Paranoia« und Anerkennung Ursula Müller im Gespräch mit Tomke König | 135 Luhmann war immer latent wichtig Klaus Japp im Gespräch mit Reinhold Hedtke | 147 »Die Lehrenden waren genauso unsicher wie ich« Rudolf Stichweh im Gespräch mit André Kieserling | 159 Die Fakultät als Großstadt und ihre intermediären Strukturen Jörg Bergmann im Gespräch mit Ruth Ayaß und Sarah Hitzler | 171 Die Universität als wissenschaftlicher Termitenbau Bettina Heintz im Gespräch mit Tobias Werron | 185
Einleitung
Der vorliegende Band ist ein Jubiläumsband der besonderen Art. Die Fakultät für Soziologie an der Universität Bielefeld, gegründet 1969, wird in diesem Jahr fünfzig Jahre alt. Für ihre Mitglieder war das herannahende Jubiläum ein Anlass, über den Ort, an dem sie forschen und lehren, nachzudenken und sich über ihre Erfahrungen auszutauschen. Dabei kamen heutige Mitglieder mit früheren ins Gespräch und erfuhren manches, was sie noch nicht wussten und was ihnen die Fakultät, der sie selbst schon mehr oder weniger lang zugehören, auf neue Weise nahebrachte. Manchmal ergänzten sich die Erzählungen, manchmal überschnitten und bestätigten sie sich, manchmal ergaben sich bemerkenswerte Unterschiede in den Perspektiven und Auffassungen. So entstand die Idee, die zur Entstehung dieses Buches geführt hat: die Idee, ehemalige professorale Mitglieder der Fakultät von heutigen Mitgliedern interviewen zu lassen und auf diese Weise ein Gespräch zwischen Mitgliedergenerationen in Gang zu setzen, das diese Vielfalt von Perspektiven, Erfahrungen und Stimmen zum Sprechen bringt. Die Gesprächskonstellationen folgen, soweit es möglich und sinnvoll war, dem Schema »Vorgänger/in im Gespräch mit Nachfolger/in auf einer Professur«, ergänzt durch einige weitere Interviews, die in anderen Konstellationen geführt wurden. Im Band sind die Gespräche chronologisch nach Mitgliedschaft in der Fakultät geordnet: Je früher der oder die Interviewte Mitglied der Fakultät geworden war, desto weiter vorne steht das Interview im Band. Den Leserinnen und Lesern soll diese Anordnung erlauben, sich bei der Lektüre ihr eigenes Bild von der Fakultätsgeschichte zusammenzusetzen und, sofern sie auf eigene Erfahrungen mit der Fakultät zurückgreifen können, sich gerne auch zur Ergänzung und zum Widerspruch aufgefordert zu fühlen. Den Inhalt wie auch den Stil der Interviewführung sowie der Selbstauskünfte haben wir ganz den Interviewenden und Interviewten überlassen, um auch in dieser Hinsicht die Vielfalt der Stimmen möglichst realistisch abzubilden. Unsere Rolle als Herausgeber beschränkte sich darauf, passende Interviewpaare zu identifizieren, ein paar Fragen vorzuschlagen, Texte und Titel zu redigieren, die Reihenfolge festzulegen sowie die Texte formal zu vereinheitlichen. Ganz herzlich bedanken möchten wir uns bei Alexandra Boldys und
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Tobias Werron und Andé Kieserling
Helga Volkening für ihre kompetente Unterstützung bei der formalen Überarbeitung der Beiträge sowie bei Katharina Braunsmann und Stella Medellias für die Transkription von Interviews. Wir finden, das Ergebnis ist, schon weil sich der Band auf Interviews zwischen professoralen Mitgliedern beschränkt, noch keine umfassende und erschöpfende Oral History der Fakultät für Soziologie, aber doch immerhin ein lesenswerter Anfang zu einer solchen. Unser eigenes Interesse an der Geschichte der Fakultät jedenfalls wurde durch die Lektüre der Interviews erheblich verstärkt. Wir hoffen nun, dass dies auch auf die Leserinnen und Leser des Bandes zutreffen wird. Tobias Werron und Andé Kieserling
Soziologie und Sozialpolitikforschung Franz-Xaver Kaufmann im Gespräch mit Lutz Leisering
Franz-Xaver Kaufmann hat in Zürich, St. Gallen und Paris Jura, Wirtschaftswissenschaften und Soziologie studiert, in St. Gallen promoviert und in Münster habilitiert. Nach einer Tätigkeit in der Industrie kam er über die Sozialforschungsstelle an der Universität Münster (Sitz Dortmund) an die Universität Bielefeld, wo er seit 1969 ordentlicher Professor für Sozialpolitik und Soziologie an der Fakultät für Soziologie ist (emeritiert 1997). Er hat maßgebliche Beiträge in den Bereichen Sozialpolitik, Familiensoziologie, Religionssoziologie und Demographie geleistet. Kaufmann hat zahlreiche Preise und Ehrendoktorate erhalten und war vielfach gesellschaftspolitisch aktiv. 1980-1992 war er Gründungsbeauftragter und Direktor des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik der Universität Bielefeld. Lutz Leisering ist sein Schüler, wurde 1999 als Nachfolger auf die Professur für Sozialpolitik berufen und 2019 pensioniert. Er arbeitet zu europäischer und zuletzt vor allem zu globaler Sozialpolitik.
Leisering: Die Fakultät für Soziologie hat die Soziologie in Deutschland wesentlich mitgeprägt. Das enorme Wachstum der deutschen Soziologie begann etwa zeitgleich mit der Gründung der Fakultät. Zu den nachhaltigsten Wirkungen der Fakultät zählt die wesentlich durch Dich vorangetriebene Soziologisierung der deutschen Sozialpolitikforschung, ja die Schaffung einer Soziologie der Sozialpolitik in Deutschland. Jens Alber, ein bedeutender Sozialpolitikforscher der auf Dich folgenden Generation, bezeichnete Dich einmal als »unser aller Lehrer«. Obwohl fast ein Drittel des Bruttosozialprodukts in Deutschland auf Sozialausgaben entfällt, war Sozialpolitik bis in die 1970er Jahre nur am Rande ein Thema der Sozialwissenschaften, und dabei primär der Verteilungsökonomie und des Sozial- und Arbeitsrechts. In den Jahren 1976-1978, durch den Bielefelder Soziologentag (1976), das Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie »Soziologie und Sozialpolitik« (1977) und die Gründung der Sektion Sozialpolitik in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (vermutlich 1978) nahm die Soziologisierung der Sozialpolitikforschung institutionell Gestalt an. Wie kam es zu diesem maß-
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geblichen wissenschaftsgeschichtlichen Übergang 1976-1978, was sind die Hintergründe? Inwieweit war die Fakultät beteiligt, oder war es primär eine auf Einzelpersonen, vor allem auf Dich, zurückzuführende Bewegung? Kaufmann: Weder noch. Die Fakultät als solche war praktisch nicht beteiligt. Sie war zu der Zeit nicht in einem Zustand, sich zu kollektivem Handeln in irgendeinem Fach aufzuraffen. Aber neben mir war Christian von Ferber Mitglied der Fakultät, er hatte auch eine Professur für Allgemeine Soziologie. Aber er hatte in den späten 1960er Jahren in der ZEIT eine Aufsatzserie über Sozialpolitik veröffentlicht, die dann auch als Buch erschienen ist, und war also für Sozialpolitik sehr motiviert und hat die Akademisierung der Sozialpolitik vorausgesehen. Zu der Zeit waren die meisten Positionen im Bereich des sozialen Sicherungssystems – und darum ging es in erster Linie – mit verdienten Gewerkschaftlern besetzt oder mit abgehalfterten Vertretern der Arbeitgeber. Es war klar, dass es nicht so bleiben konnte. Daher hatten von Ferber und ich gemeinsame Interessen. Ich kam ja aus der Schweiz und musste mich erst in diese sozialpolitischen Verhältnisse hineindenken, da hat mir von Ferber sehr geholfen. Hinzu kam, dass Joachim Matthes zu der Zeit Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie war. Er hat den Bielefelder Soziologentag 1976 ausgerichtet und ermutigte mich oder uns, im Bereich Sozialpolitik etwas zu veranstalten. Das haben wir gemacht – wir bekamen viel Raum, hatten eine Plenarsitzung und zwei Nachmittagssitzungen, und da wurden relativ viele, auch schon ordentliche Referate vorgetragen, die dann in ausgearbeiteter Form größtenteils im Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1977 erschienen sind. Das war der Anfang der Institutionalisierung. Hinzu kam, dass wir uns überlegten, ob wir eine Sektion für Sozialpolitik in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie gründen wollten. Aber das Interesse war so groß – es waren über 100 Leute in dem Saal, der viel zu klein war –, so dass von Ferber und ich sofort sagten, wir gründen heute nicht. Wir haben nur eine Interessentenliste herumgegeben und dann aus dieser Liste eine Gruppe ausgewählt, die sich in der Werner-Reimers-Stiftung zunächst als Arbeitsgruppe in mehreren Sessionen traf, und dort wurde dann die eigentliche Gründung vollzogen. Das ist in einem Aufsatz in der Zeitschrift für Sozialreform beschrieben worden. Von Ferber blieb noch einige Zeit nach dem Bielefelder Soziologentag an der Fakultät, bevor er nach Düsseldorf ging. In der Zeit haben wir noch zusammengearbeitet, haben oft Oberseminare zu Sozialpolitik gemeinsam gemacht. Leisering: Wäre die Sozialpolitik stärker geworden in der Fakultät, wenn von Ferber geblieben wäre? Kaufmann: Das wäre damals relativ schwierig gewesen, und damit komme ich auch auf die generelle Frage der Schwerpunktbildung innerhalb der Fakultät. Die Fakultät war eine Creatio ex nihilo, man hat wirklich bei null angefangen.
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Man hat sich das Programm der sogenannten aktiven Professionalisierung1 gegeben und hatte viel damit zu tun, diese Institutionalisierung auf den Weg zu bringen. Ich meine, die kritische Masse der Sozialpolitikforschung an der Fakultät entstand schon in den 70er Jahren. Da hatte ich ein Forschungsprogramm des Bundesministeriums für Forschung und Technologie zur »bürgernahen« Gestaltung der sozialen Umwelt und zwei große Projekte, das eine mit Grunow und Hegner, das andere mit Schneider und Schliehe. Trotz dieser kritischen Masse gab es keinen Weg der Institutionalisierung der Sozialpolitikforschung, denn das Credo der damaligen Universität war, dass es keine Universitätsinstitute geben soll. Und die Sonderforschungsbereiche waren auch ganz in den Anfängen. Ich kam nie auf die Idee, einen Sonderforschungsbereich zu beantragen, vielleicht hätte ich das machen sollen. Leisering: Aber dieses Credo der Universität, keine Institute zuzulassen, scheint damit zusammenzuhängen? Kaufmann: Ja. Leisering: Dass in gewissen Bereichen keine kritische Masse erreicht wurde. Kaufmann: Dass die kritische Masse nicht institutionalisiert werden konnte. Wir waren immerhin etwa acht Wissenschaftler, und Christian von Ferber hat drei weitere gehabt. Also im Prinzip wäre das Personal da gewesen. Leisering: War die Soziologisierung der Sozialpolitikforschung im Rückblick in Deiner Sicht erfolgreich? Denn auch die Politikwissenschaft bemächtigte sich zunehmend des Gegenstands Sozialpolitik. Und in meiner Wahrneh1 | In dem Interview mit Thorsten Strulik (Interview mit einem Mitbegründer der Fakultät für Soziologie. In: Kruse, Volker; Thorsten Strulik (Hg.) Hochschulexperimentierplatz Bielefeld. transcript Bielefeld 2019, S. 87-101) erläutert Kaufmann den Begriff »aktive Professionalisierung«: Der Begriff wurde von Joachim Matthes und mir entwickelt. Matthes hatte eine Art reflexiver Professionalisierung im Sinn: die Soziologie sollte eine reflexive Wissenschaft sein, die ihre eigenen Probleme und praktischen Konsequenzen reflektiert. In meiner Sicht musste Professionalisierung aber auch Berufsvorbereitung sein. Da es zu der Zeit keine Berufe für Soziologen gab, mussten wir unsere eigene Praxistauglichkeit unter Beweis stellen, indem wir uns selbst unsere Berufsmöglichkeiten schufen. Curricularen Ausdruck fand dies in der Schaffung von »Praxisschwerpunkten« mit einschlägigen Professuren. Die beiden Auffassungen von Professionalisierung, reflexive Soziologie (Matthes) und Berufsfeldentwicklung (Kaufmann), haben sich gut ergänzt. Wir hatten eine Leitidee, mit der sich sogar die Studenten einigermaßen anfreunden konnten, weil wir sagten, wir wollen keine passive Professionalisierung. Wir wollten nicht, dass die Wirtschaft oder die Verwaltung die Aufgaben der Soziologen definieren, sondern wir wollten sie selbst definieren.
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mung hat seit den 1990er Jahren die politische Ökonomie – wie auch immer definiert – in diesem Feld international eine Hegemonie errungen. Kaufmann: Die Soziologisierung der Sozialpolitikforschung war insofern erfolgreich, als die Sektion für Sozialpolitik sich sehr schnell verbreiterte. Das war ja die Zeit, in der auch an anderen Orten was geschah. So war der Sonderforschungsbereich 3 in Frankfurt/Mannheim sehr kreativ, und da waren auch Leute aus der Sozialpolitik dabei. Dann kam die Sektion Soziale Indikatoren der Deutschen Gesellschaft für Soziologie als zweite Sektion mit Bezug auf sozialpolitische Fragen hinzu, aber es blieb eine akademische Angelegenheit. Die Akademisierung der Sozialpolitik vollzog sich sehr langsam, und wahrscheinlich hat sich der Auf bau des Sozialrechts, wie er durch das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht in München durch Hans Zacher vorangetrieben wurde, diesbezüglich einen größeren Einfluss gehabt. Aber alles in allem muss man sagen, die beiden Prozesse – Soziologisierung der Sozialpolitikforschung und Akademisierung und Professionalisierung der sozialpolitischen Praxis – verliefen weitgehend unabhängig voneinander, wenn auch nicht ohne Wechselwirkungen. Leisering: Man kann unterscheiden zwischen »Sozialpolitik« als Bezeichnung bestimmter politischer Maßnahmen und »Wohlfahrtsstaat« als eine umfassende soziokulturelle Konstellation. Einen großen Schwerpunkt auf Wohlfahrtstaat in diesem genaueren Sinne hast Du publikationsmäßig erst nach Deiner Emeritierung gelegt, also in den späten 1990ern, in den 2000ern und, in englischen Übersetzungen, in den 2010er Jahren. Bis Mitte der 90er Jahre hatte sich aber in meiner Sicht die paradigmatische Struktur der Wohlfahrtsstaatsforschung international schon verfestigt in Richtung einer Dominanz der politischen Ökonomie. So konnte Dein Ansatz einer genuin soziologischen, soziokulturell akzentuierten und pluralistisch orientierten Herangehensweise international nicht so stark werden, wie er unter anderen Bedingungen hätte werden können. Kaufmann: Ja. Hier muss ich autobiographisch antworten. Ich habe mich zu verschiedenen Zeiten meiner wissenschaftlichen Lauf bahn schwerpunktmäßig mit Sozialpolitik beschäftigt, zunächst in der Habilitationsschrift. Dann kam der Auf bau der Fakultät, da stocherte ich ziemlich im Dunkeln, wie ich das angehen sollte, und habe dann die Idee einer Theorie des Wohlfahrtsstaats entwickelt und in die von mir geleitete Forschungsgruppe »Steuerung und Erfolgskontrolle im öffentlichen Sektor« am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) eingebracht. Wir hatten am ZiF eine Arbeitsgruppe, die sich mit international vergleichender Sozialpolitik- und Wohlfahrtsstaatsforschung – das war noch nicht so begrifflich fixiert – beschäftigte. Ich habe in der Folge, also Anfang der 80er Jahre, noch einmal einen Anlauf genommen, habe Vorträge gehalten und Entwürfe gemacht, auch Vorlesungen gehalten. Es gab
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damals auch ein Professorenkolloquium mit einigen Historikern, ein institutionalisiertes Kolloquium, in dem ich vortrug, und da fragte mich Reinhard Koselleck, ob das, was ich vorhabe, ohne Gesellschaftstheorie zu machen sei. Diese Frage brachte mich ins Grübeln, denn dazu fühlte ich mich noch nicht in der Lage. Er hatte natürlich Recht, und das hat bewirkt, dass es so lange gedauert hat, bis ich mit einigermaßen ausgereiften Arbeiten an die Öffentlichkeit getreten bin. Vor allem mein Jahr am Wissenschaftskolleg in Berlin – das war 1998/99 – hat mich sehr vorangebracht. Ich war vielleicht etwas zu vorsichtig mit meinen Äußerungen, dass ich mich nicht früher hervorgewagt habe mit noch nicht ganz ausgegorenen Sachen. Du hast schon Recht, meine Wohlfahrtsstaatstheorie ist spät gekommen. Hinzu kam, dass meine Englischkenntnisse sehr schlecht waren. Hätte ich besser Englisch gesprochen, hätte ich mich ganz sicher früher in die internationale Szene gewagt und dort mich auch zu profilieren versucht. Aber ich war von der Herkunft her stark nach Frankreich orientiert, und Frankreich hat in dieser Zeit stark an Einfluss und Bedeutung in der einschlägigen Forschung verloren, und der angelsächsische Raum hat gewonnen. Ich habe diesen Prozess nur allmählich mitmachen können. Leisering: Man wird sagen müssen, dass der größte Teil der deutschen Soziologie sich erst sehr spät publikationsmäßig international orientiert hat. Kaufmann: Das ist sehr richtig. Leisering: Ist die begrenzte Rolle der Soziologie in der Sozial- und Wohlfahrtsstaatsforschung exemplarisch für die Rolle der Soziologie auch in anderen Themenfeldern? In der Globalisierungsforschung etwa wird von Soziologen der Weltgesellschaftsbegriff stark gemacht. Das war an der Fakultät vor allem nach Deiner Zeit, in Form des im Jahr 2000 gegründeten Instituts für Weltgesellschaft. Als Vertreter des Instituts habe ich auf Konferenzen zu Globalisierung die Erfahrung gemacht, dass der Begriff »Weltgesellschaft« keine Rolle spielt. Da sind Politikwissenschaftler dominant, die sprechen über »Globalisierung«, und Namen wie Luhmann oder J.W. Meyer fallen gar nicht. Also die Frage: Hat die Soziologie als Disziplin nicht deutliche Grenzen bei der Durchdringung großer internationaler Forschungsfelder? Kaufmann: In Deutschland hatten wir Soziologen im Bereich Sozialpolitik einen Vorsprung, weil die Politikwissenschaft zu der Zeit, als ich anfing, noch sehr normativ ausgerichtet war, vor allem in Hinblick auf die Demokratie in Deutschland. Von daher hat die Politikwissenschaft in Deutschland die Wohlfahrtsstaatlichkeit und Sozialpolitik erst in den späten 1980er Jahren entdeckt. Dann hat es sich stark entwickelt, und durch politikberatende Funktionen haben es die Politikwissenschaftler leichter gehabt. Wir Soziologen hatten diesen Theoriepluralismus, zumal das Buch von Niklas Luhmann zum Wohlfahrts-
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staat aus dem Jahre 1981 nicht das stärkste ist, was er geschrieben hat, und wenig Konsequenzen hatte. Ich glaube, dass ich sagen darf, dass meine Arbeiten stärker zu einer Paradigmatisierung der soziologischen Wohlfahrtsstaatsforschung beigetragen haben, aber bis ich soweit war, dauerte es eine Weile. Leisering: Ich erinnere mich an Gespräche mit John W. Meyer, dem Weltgesellschaftstheoretiker aus Stanford, in denen er sagte, dass er ganz früh die Entscheidung getroffen habe, auch quantitativ zu forschen, weil in der angelsächsischen Wissenschaftswelt nur dann mit durchgreifender Anerkennung zu rechnen sei. Kaufmann: Ja, genau. Leisering: Hier lag möglicherweise eine Schwäche des soziologischen, soziokulturellen Zugriffs auf Wohlfahrtstaatlichkeit. Kaufmann: Ich habe ja auch stark quantitativ gearbeitet in den ersten Jahrzehnten. Leisering: Aber nicht so sehr auf der Ebene des Vergleichs ganzer Wohlfahrtsstaaten. Kaufmann: Nein, nicht im Vergleich. Es kommt eine Sache hinzu: Ich hatte das Angebot, ans Wissenschaftszentrum Berlin zu gehen, das muss um 1980/82 gewesen sein, und dort ein Institut für vergleichende Gesellschaftsforschung aufzubauen. Wenn ich das gemacht hätte, dann wäre das alles etwas anders geworden. Ich bin damals nicht hingegangen, auch aus familiären Gründen, wir wollten unsere Kinder nicht diesem unruhigen Berliner Milieu aussetzen. Und so ist es dann mit der ausgearbeiteten Wohlfahrtsstaatstheorie spät geworden. Leisering: Jetzt ein anderer Aspekt des Faches Sozialpolitik an der Fakultät, und zwar die Frage der Politisierung. Die 1970er Jahre waren ja eine stark politisierte Zeit an deutschen Universitäten. Du hast in früheren Zusammenhängen gesagt, dass Bielefeld nicht so stark, nicht so radikal politisiert war, hast aber auch berichtet von politischen Trennungslinien, die anlässlich einer Berufung auf brachen, die ich jetzt aber nicht ansprechen möchte. Kaufmann: Ja, das war die Holzkamp-Affäre. Leisering: Wie war es im Gebiet Sozialpolitik selbst? Es gab ja Claus Offe an der Fakultät, der auch zu Sozialpolitik – wenn auch ganz anders – arbeitete, und dezidiert links, ursprünglich neomarxistisch, orientiert war.
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Kaufmann: Ja, richtig. Leisering: Neben Dir und Offe gab es zudem Luhmann, der am Rande zum Wohlfahrtsstaat gearbeitet hat. Gab es politische Konflikte, taten sich gar Bruchlinien auf? Kaufmann: Die blieben weitgehend latent, aber sie wurden einmal manifest, als die Zeit meines ersten Assistenten – ich hatte ja nur einen Assistenten aus Fakultätsmitteln, Jürgen Krüger – ausgelaufen war und die Stelle neu zu besetzen war. Damals war Claus Offe im Dekanat, und er hat dort mit – wie ich es sehe – unfairen Mitteln versucht, mir einen ihm weltanschaulich nahestehenden Kandidaten aufzudrängen. Das ist das einzige Mal in meiner Karriere, wo ich nur mit einer massiven Drohung die Fakultät dazu bringen konnte, nicht gegen meine Interessen zu entscheiden. Von dem Moment an war das Verhältnis zwischen Offe und mir – aus meiner Sicht jedenfalls – gestört. So ist es nie zu einer Zusammenarbeit gekommen, aber ein oder zwei Seminare haben wir zusammen gemacht, wie auch mit Luhmann im Bereich Religion. Luhmann hat sich nicht für den Wohlfahrtsstaat interessiert. Das Buch 1981 war eine reine Auftragsarbeit, und das merkt man beim Lesen auch, wenn ich das so sagen darf. Es gab Leute, die sagten: »Ihr passt doch zusammen, Offe und Du, ihr könntet doch zusammen einen Schwerpunkt bilden.« Das wurde mir auch nahegelegt, aber das war aus meiner Sicht aufgrund mangelnden Vertrauens nicht mehr möglich. Leisering: Jetzt zum Thema Interdisziplinarität. Du selbst bist stark interdisziplinär orientiert und hast dies immer wieder auch methodologisch reflektiert. Die von Dir angetriebene Soziologisierung der Sozialpolitik verband sich in Deiner Forschung in den 1970er Jahren mit einer Rezeption der US-amerikanischen Public Policy-Forschung und Implementationsforschung. Sozialpolitische Fragen, gerade im Hinblick auf praktische Anwendbarkeit, erfordern oft einen interdisziplinären Zugriff. Lag hier nicht eine Schwachstelle der Fakultät? Die Fakultät hat immer ihren einzigartigen Charakter als Fakultät nur für Soziologie betont – auch wenn es Professuren für Politikwissenschaft und für Sozialanthropologie gab. War diese monodisziplinäre Ausrichtung der Fakultät im Rückblick in Deiner Sicht sinnvoll? Kaufmann: Man muss sehen, dass die Fakultät bei ihrer Gründung eigentlich nicht monodisziplinär konzipiert war, sondern sie sollte eine sozialwissenschaftliche Fakultät werden. Ich selbst habe mich immer mehr als Sozialwissenschaftler denn als Soziologe verstanden. Aber der Begriff Sozialwissenschaften hat in Deutschland nie eine kodifizierte Bedeutung bekommen. Interessanterweise wurde bei der neuen Auflage des Staatslexikons der Görres-Gesellschaft mein alter Artikel Sozialwissenschaften beibehalten, weil sie niemanden fanden, der einen neuen Artikel hätte schreiben wollen. Aber
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für mich war klar, ich kam aus dem französischen Raum, wo diese breitere Orientierung und auch die Wechselwirkungen zwischen den Fächern viel stärker waren als im deutschen und auch als im angelsächsischen Raum. Von daher war es für mich klar, dass die Fakultätsgründung nicht eine monodisziplinäre Sache sein sollte. Aber sie hat sich de facto zu einer solchen entwickelt. In der ersten Runde wurden noch breiter orientierte Kollegen berufen, die Nachberufungen waren aber größtenteils enger und stärker auf Soziologie fokussiert. Als wir anfingen, fanden wir Soziologen in der Sozialpolitik, aber auch in anderen Anwendungsbereichen, ein weites Feld. Die Politikwissenschaftler kamen erst nach uns, und die Wirtschaftswissenschaftler hatten damals zu Anwendungen wenig Lust, sie bewegten sich mehr im Bereich allgemeiner Theorien. Das hat sich im Laufe der Jahrzehnte geändert, und in der Konkurrenz der Disziplinen haben die Soziologen nicht so eine gute Figur gemacht. Leisering: Entspricht Deine Wahrnehmung der meinigen, dass sich die Fakultät eingeigelt hat mit einer teilweise engen soziologischen Sichtweise? Kaufmann: Das kann man so sagen, sie hat sich verengt. Dass die Praxisschwerpunkte interdisziplinär sein mussten, war jedenfalls mir immer klar und ich habe das auch immer vertreten, aber wir haben selten Leute gefunden, die diese Interdisziplinarität wirklich repräsentierten. Günter Büschges war so einer, der konnte das. Der war von Haus aus Volkswirt und war erst danach in die Soziologie gekommen. Die Leute, die nur Soziologie studiert haben, sind offensichtlich wenig befähigt, sich für andere Fächer zu öffnen, was nicht nur eine Eigenschaft der Soziologie ist, sondern auch vieler anderer Disziplinen. Die interdisziplinären Leute haben meistens mehr als ein Fach studiert. Ich selbst habe Jura, Volkswirtschaft, Betriebswirtschaft und Soziologie studiert. Leisering: Die von Dir beschriebene ursprüngliche, nicht monodisziplinäre Ausrichtung der Fakultät scheint mir im kollektiven Gedächtnis der Fakultät nicht präsent. – Jetzt zur Institutionalisierung von Interdisziplinarität. Es gab recht erfolgreiche Einrichtungen außerhalb der Fakultät mit wesentlicher Fakultätsbeteiligung, ich nenne drei: das Institut für Wissenschaft- und Technikforschung, das von Dir gegründete Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik und schließlich die von Dir mit auf den Weg gebrachte Fakultät für Gesundheitswissenschaft. Waren dies sinnvolle Strategien, Interdisziplinarität außerhalb der Fakultät zu institutionalisieren oder hätte man es auch innerhalb der Fakultät versuchen sollen oder können? Kaufmann: Institutionalisierungen innerhalb der Fakultät wären schwierig gewesen, denn eine solche Schwerpunktbildung ist immer die Sache weniger, und die Fakultät besteht aus vielen Leuten. Auch in der Fakultätskonferenz hat eigentlich nie eine Gruppe das Sagen gehabt, es sind immer vielfältige Repräsentationen gewesen, was vom Grundsatz her auch richtig ist. Daher wäre es
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nicht einfach gewesen, innerhalb der Fakultät für Soziologie stärker strukturierte Einheiten zu bilden, die sich in eine bestimmte Richtung entwickelt hätten. Das war eigentlich erst mit dem Wandel der Forschung zu Großforschungen möglich, die sich erst nach meiner Zeit richtig entwickelt hat, erst dann ist auch das Bewusstsein dafür entstanden. Das Institut für Weltgesellschaft ist ja auch kein Institut der Fakultät, oder? Leisering: Im Grunde belegt das Institut für Weltgesellschaft, dass Interdisziplinarität innerhalb der Fakultät nicht wirklich klappt. Ich war seit Gründung des Instituts beteiligt, wir waren immer offen und haben aktiv geworben bei Kollegen anderer Fakultäten. Es hat nie gut geklappt, mit wenigen Ausnahmen, so war Werner Abelshauser aus der Geschichtswissenschaft beteiligt und Ulrike Davy aus der Rechtswissenschaft. Es ist letztlich ein auch paradigmatisch streng soziologisch orientiertes Unternehmen geblieben. Kaufmann: Das hing wohl auch mit Übervater Luhmann zusammen, ohne den es den Begriff der Weltgesellschaft in Bielefeld nicht gegeben hätte. Sein erster Aufsatz dazu ist 1971 erschienen, da ist ihm schon eine enorme Vorausschau gelungen, er war seiner Zeit weit voraus. Leisering: Weltweit waren es drei Denker, die ungefähr zur gleichen Zeit, in den frühen 70ern, den Begriff erarbeitet haben, unabhängig voneinander: Niklas Luhmann, John W. Meyer und Peter Heintz, der Schweizer Entwicklungssoziologe. – Jetzt zum Gegenstandsbereich der Soziologie. Auch wenn die Fakultät tendenziell monodisziplinär geworden ist, ist sie thematisch doch immer sehr, sehr breit aufgestellt gewesen, was ein enormer Vorteil war für Studierende. Begründbar wäre diese Breite etwa mit der Auffassung, dass Soziologie keinen spezifischen, ihr eigenen Gegenstand habe, sondern eher eine Perspektive sei, die an verschiedenste Gegenstände angelegt werden könne. In Deinen Selbstdarstellungen klingt eine solche Sichtweise manchmal an. Auch Deine Entscheidung, Soziologie zu Deiner Profession zu machen, hat, so scheint es mir, auch mit der Absicht zu tun, eine bestimmte Sichtweise, die sehr ertragreich sein kann, anzuwenden. Du hast einmal davon gesprochen, Soziologie trage dazu bei, diffuse Problemlagen klarer zu definieren. Hat die thematisch breite Aufstellung der Bielefelder Soziologie – ich nenne es einmal Gemischtwarenladen –, nicht auch Kosten, eben, wie Du es selbst ansprachst, dass eine kritische Masse in gewissen Bereichen nicht entstehen kann? Kaufmann: Ja, aber eigentlich haben wir durch die Definition der Praxisschwerpunkte auch eine Eingrenzung der Gegenstandsbereiche herbeigeführt. So sind bestimmte Gegenstandsbereiche nicht stark verfolgt worden. Zum Beispiel haben die Familiensoziologie und die Religionssoziologie nur als Hobby von Matthes, Luhmann, Tyrell und mir Kontur gewonnen. Jetzt muss ich ein bisschen kritisch werden gegenüber meinen Nachfolgern: der Bologna-Pro-
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zess scheint eine starke Zäsur für die Fakultät gewesen zu sein, in deren Zuge hat man das Konzept der aktiven Professionalisierung aufgegeben. Das konnte man machen, aber man hat eigentlich kein neues Konzept entwickelt. Und dadurch ist, glaube ich, der Eindruck eines Gemischtwarenladens entstanden – wahrscheinlich trifft er für die heutige Zeit stärker zu als für die 1970er und 1980er Jahre. Für die 1990er Jahre würde ich das schon nicht mehr sagen, da habe ich mich schon ein bisschen aus der Fakultät zurückgezogen. Leisering: Ich denke, die Praxisschwerpunkte waren eine wichtige Innovation. Du hast selbst aber auch einmal gesagt, dass das Konzept nicht immer ernst genommen wurde. Meine Wahrnehmung war, dass manche Praxisschwerpunkte das Konzept ernster nahmen als andere. Zum Beispiel war der Bereich Entwicklungspolitik eine kleine eigene Welt von Lehrenden und Studierenden. Kaufmann: Ja, die haben das geschafft. Leisering: Noch heute wird von den Nachfolgern versucht, ein wenig von dieser eigenen Welt trotz der Bologna-Strukturen zu bewahren. Aber insgesamt ist im Zeitalter der großen Verbünde ein Praxisschwerpunkt mit meist nur einer Professur einfach zu schwach aufgestellt. Kaufmann: Ja. Vielleicht hängt das auch mit Personen zusammen. Ich habe mich mit Günter Albrecht, der den Bereich Soziale Probleme vertrat, ganz gut verstanden, und wenn von Ferber noch dagewesen wäre, hätte man zusammen vielleicht etwas zustande gebracht. Aber Günter Albrecht war – in meiner Wahrnehmung – ein eher individualistischer Forscher, der wenig für größere Kooperationen übrig hatte. Und so ist daraus nichts geworden, obwohl wir es gelegentlich versucht haben. Wir haben immer wieder gute Seminare zusammen gemacht, und wir hatten vor allem relativ viele Studenten, die den Praxisschwerpunkt Soziale Probleme mit dem Ergänzungsfach Sozialpolitik kombinierten. Dadurch hat sich in der Lehrpraxis durchaus so etwas wie eine Synergie zwischen den beiden Gebieten ergeben. Sie hat sich aber nicht in der Forschung niedergeschlagen. Leisering: Wenn Soziologie eher eine Perspektive ist als dass sie einen eigenen, sie charakterisierenden Gegenstandsbereich hätte, wäre dann die ältere Idee von Dahrendorf, dass Soziologie primär als Nebenfach zu studieren sei, nicht folgerichtig? Dann hätte sich die Fakultät stärker als Nebenfachdienstleister profilieren müssen. Kaufmann: Eine solche Frage kann man natürlich ex post stellen. Aber für die Leute, die im Handeln waren, war es unbedingt notwendig, dass sich die Fakultät als Fakultät legitimiert. Und mit einem bloßen Nebenfachangebot hätten wir als Fakultät keine Chance gehabt. Dazu kam das Stichwort »berufs-
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bezogener Studiengang«, das schon Schelsky geprägt hatte. Die Strategie der aktiven Professionalisierung, die Joachim Matthes und ich im Wesentlichen entwickelt haben, war daher konzeptionell, wie ich meine, schon vernünftig und hat auch Wellen geschlagen. Man hat Grundgedanken übernommen, natürlich nicht wörtlich, aber dem Sinn nach. So hatte der Bielefelder Studiengang einen großen Einfluss auf die Rahmenprüfungsordnung auf Bundesebene. Wenn Du mich jetzt nach meiner persönlichen Einschätzung fragst, würde ich jedem raten, der sich in Soziologie profilieren will, dass er noch ein anderes Fach dazu studiert. Das habe ich auch oft Studenten gesagt, weil die Soziologie zu wenig empirisches Fleisch hat. Leisering: Ich sage das auch meinen Studierenden, aber ein Haken ist, dass leider die Kollegen aus der Wirtschaftswissenschaft und der Rechtswissenschaft schlechtere Noten geben als die Soziologen. Das heißt, wer sich dafür entscheidet, weiß, dass der Notendurchschnitt dadurch sinkt. Kaufmann: Das ist natürlich tragisch, aber gute Studenten würde das nicht unbedingt abhalten, denn auch auf dem Arbeitsmarkt hat ein mehrfach qualifizierter Student wohl bessere Chancen hat als einer, der nur Soziologie oder nur Ökonomie oder was auch immer studiert hat. Leisering: Jetzt zur Rolle von Theorie. Die Fakultät hält historisch – wesentlich wegen Luhmann, aber auch generell – Theorie sehr hoch. Theorie wird hoch geschätzt, und in meiner Wahrnehmung gab es bis vor einigen Jahren eine starke Neigung zu abstrakten, zum Teil abgehobenen Theoretisierungen. Zugleich gab es aber auch konkrete angewandte Forschung in der Fakultät, die, wie es mir schien, nicht immer von allen geschätzt wurde. Du selbst warst von dieser Geringschätzung sicherlich ausgenommen, weil Du anspruchsvolle Theoriebildung und Anwendungsforschung verbunden hast und als Autorität anerkannt warst. Kaufmann: Dann hast Du das überschätzt. Ich selbst hatte – das ist jetzt nicht als Klage gemeint –, auch wenn ich rückblickend denke, nie das Gefühl, dass ich ein besonders hohes wissenschaftliches Standing innerhalb der Fakultät hatte. Das war nie vergleichbar mit Luhmann oder Offe. Aber das hat mich nicht besonders gekratzt, weil ich meine Referenzpunkte außerhalb der Fakultät hatte, auch eher außerhalb der Soziologie. Meine Arbeiten wurden wesentlich stärker von Rechtswissenschaftlern, Theologen und Historikern rezipiert. Anerkennung habe ich häufig von solchen Seiten bekommen. Ich habe mich durch die Fakultät weder besonders unterstützt, noch besonders bedroht gefühlt. Ich habe einfach meine Sachen gemacht und habe auch nicht erwartet, dass ich etwas Besonderes – Anerkennung oder so – fände. Nicht Anerkennung, sondern die Fragen, die ich bearbeitet habe, haben mich primär motiviert. Und da hatte ich eine etwas verhängnisvolle Neigung, nämlich, wenn
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mich etwas interessierte, es zu machen, auch wenn es nicht so sehr zu meinem bisherigen Profil passte. So bin ich relativ breit geworden. Die Durchschlagskraft meiner Arbeiten wäre größer gewesen, wenn ich mich auf eines dieser Gebiete, auf denen ich tätig gewesen bin, konzentriert hätte. Ich habe aber auch zum Beispiel Aufsätze über Joseph Beuys, das so genannte Rechtsgefühl und ich weiß nicht was alles geschrieben, die überhaupt nichts mit meinen primären Orientierungen zu tun hatten. Leisering: Teilst Du die Sicht einer starken, vielleicht zu starken Theorieorientierung der Fakultät, und wurden die Problematik und Grenzen abstrakter Theorien an der Fakultät reflektiert? Kaufmann: Nein würde ich dezidiert sagen. Am Anfang habe ich einiges über das Verhältnis von Theorie und Praxis geschrieben, auch zur Anwendungsproblematik der Soziologie, weil mir klar war, dass das selbst ein soziologisches Problem ist, das man reflektieren muss. Aber damit war ich ziemlich allein gewesen, das wurde von anderen Seiten nicht übernommen. Leisering: Ich möchte jetzt die Theoriefrage auf das Gebiet Sozialpolitik beziehen und daran erinnern, dass Du früher einmal gesagt hast, dass Du unsicher bist, ob Sozialpolitik überhaupt theoriefähig ist. Das ist eine starke Aussage. Du selbst hast seit den 1980er Jahren an einer Steuerungstheorie gearbeitet und erst sehr spät, wie schon angesprochen, eine institutionalistische und soziokulturell fokussierte Theorie des Wohlfahrtsstaats entwickelt, die auf einer Differenzierungstheorie der Gesellschaft und dem Begriff Anerkennung aufruht. Wie würdest Du es heute sehen: Ist Sozialpolitik theoriefähig, oder etwas schwächer gefragt, ist Sozialpolitik nicht geeignet für Großtheorien? Kaufmann: Sozialpolitik im engeren Sinne würde ich nicht als theoriefähig sehen. Hier halte ich den alten Begriff der Kunstlehre für vernünftiger, den die Ökonomen schon in den 1920er Jahren benutzt haben in Bezug auf Sozialpolitik, aber auch in Bezug auf Wirtschaftspolitik oder ähnliches. Die Sozialpolitik als anwendungsorientierte Wissenschaft muss die Probleme der Praxis reflektieren, systematisieren, muss nach Wissenslücken Ausschau halten, die zum Teil theoretischer, zum Teil empirischer Art sein können oder sollten, um einen höheren Reflexionsgrad zu vermitteln. Aber daraus wird – soweit ich sehe – schwer eine Rahmentheorie, das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Von den Großkopfeten würde ich hier Robert Merton als Gewährsmann nennen, an dem ich mich selber auch orientiert habe, an seinem Begriff der theories of the middle range. Leisering: Jetzt zum Fragenkomplex Internationalität. In meiner Wahrnehmung war die Fakultät lange unzureichend international und global orientiert, sowohl in ihren Themen als auch in ihrer Publikationsstrategie. Eine Ausnah-
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me bildete vor allem die Entwicklungspolitik, in der Person von Hans-Dieter Evers und in Form des Forschungsschwerpunkts Lateinamerikaforschung, den es ja schon länger nicht mehr gibt. Lange gab es keine Forschung zur Europäischen Union, was ja bemerkenswert ist für eine so große Fakultät und was bei der Ablehnung des Antrags auf einen Sonderforschungsbereich zum Thema Weltgesellschaft im Jahre 1999 auch von Gutachtern moniert worden ist. Du selbst warst dagegen schon seit Deiner Habilitationsschrift und aufgrund Deines Werdegangs international orientiert. Teilst Du die Sicht einer geringen internationalen Orientierung der Fakultät, und wenn ja, was waren Ursachen und Folgen? Kaufmann: Da muss man mehrere Schichten unterscheiden. Das erste, was mir als Schweizer, der nach Deutschland kam, auffiel, war die generell starke nationale Orientierung der deutschen Wissenschaftslandschaft, jedenfalls in den Sozialwissenschaften. Das war in der Schweiz viel weniger der Fall, weil wir ja ein kleines und mehrsprachiges Land sind, das naturgemäß immer in verschiedenen Richtungen guckt. In den 1960er und 1970er Jahren, auch noch in den 1980er Jahren war die deutsche Leitkultur stark nationalistisch orientiert – in der Wissenschaft, den Sozialwissenschaften – und begann sich erst im Zusammenhang der Globalisierungsdiskussion zu öffnen. Interessant ist, dass die europäische Wirtschaftsforschung auch erst relativ spät gekommen ist. An der Universität Mannheim haben sie Forschung zu Europa stark gemacht, und das war klug, denn Europa ist uns viel näher als die Weltgesellschaft in abstracto. Bei Luhmann fing es an, bei ihm gab es praktisch keine Aussagen zu Europa. Leisering: Die Größe eines Landes spielt eine Rolle. In den skandinavischen Ländern sind die Kollegen enorm global orientiert, auch in der Sozialpolitikforschung. Die Schweiz ist in dieser Hinsicht vergleichbar. Kaufmann: Bei den Skandinaviern kommt hinzu, dass sie von vornherein auf Englisch publizierten und wahrscheinlich auch schon Englisch denken, wenn sie zur Sozialpolitik schreiben, während Deutschland eine große eigene Tradition hatte. Ich habe in einem kleinen Buch versucht, diese deutsche Tradition des sozialpolitischen Denkens aufzuarbeiten. Es war eine nationale Tradition, als Teil einer durch die deutsche Sprache bestimmten Kultur. In den Diskussionen um die Ausrichtung der Fakultät hat Europa nie eine Rolle spielte. Aber das galt generell für die politische Öffentlichkeit in Deutschland. Wenn ich mich richtig erinnere, hat die deutsche Publizistik, also Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung und der Spiegel, in den 1960er und 1970er Jahren europäische Themen wenig aufgegriffen. Da fand man in der Neuen Zürcher Zeitung wesentlich mehr, wie auch zur Dritten Welt. Ich selbst habe mich mit der Europäischen Union nur am Rande beschäftigt. Es war auch irgendwo ein schwer greif barer Koloss, diese Europäische Union.
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Leisering: Aber in Deiner 1970 als Buch veröffentlichten Habilitationsschrift von 1968 hast Du schon ganz früh die genuin globale Politik angesprochen, etwa die Aktivität der Internationalen Arbeitsorganisation und die globale Karriere des Begriffs soziale Sicherheit. Das war damals ganz ungewöhnlich. Und Dein Aufsatz von 2003 über die Evolution der globalen sozialen Menschenrechte ist bis heute das Beste, was es soziologisch dazu gibt. Selbst das war 2003 noch früh nach deutschen Maßstäben gemessen. Es spielen auch nationale Kulturen rein, Großbritannien hat die Vergangenheit des Empire. Kaufmann: Deutschland hatte seine Kolonien ja schon nach dem 1. Weltkrieg verloren. Leisering: Es waren wenig Kolonien, man kam spät, hat sie dann verloren. An der London School of Economics gab es bereits in den 1960er Jahren erste Studiengänge für Verwaltungsexperten im Sozialbereich aus der Dritten Welt. Britische Politikberater wie Brian Abel-Smith gingen bereits in den 1960er Jahren in die ganze Welt, um im Gesundheitswesen zu beraten, das war für Briten viel naheliegender als in Deutschland. Obwohl Deutschland sozialpolitisch viel zu bieten hat, sind wir bis heute im globalen Süden sozialpolitisch wenig mit eigenständigen Modellen präsent. Kaufmann: Den Eindruck hatte ich auch. Selbst Hans Zacher, der Gründer des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht in München, hat zwar größere internationale Konferenzen organisiert, aber wenig auf Englisch publiziert und ist international wenig rezipiert worden. Leisering: Ich danke Dir herzlich für das informative Interview.
Ein Soziologe und Jurist erinnert sich Klaus Dammann im Gespräch mit Stefan Kühl
Klaus Dammann hat in Freiburg i.Br., Tübingen, Rabat/Marokko, Hamburg und Speyer Soziologie, Politikwissenschaft und Jura studiert. Er begann nach einer Lehrstuhlvertretung in Heidelberg und einer Professur an der FU Berlin im Herbst 1972 in Bielefeld auf dem Lehrstuhl für Öffentliche Verwaltung (später »Organisationssoziologie«) und wurde im Jahr 2005 emeritiert. Stefan Kühl hat in Bielefeld selbst Soziologie studiert und wurde nach der Emeritierung von Klaus Dammann im Jahr 2007 als Nachfolger auf diese Professur berufen. Als Hintergrundinformation wird in Fußnoten auf veröffentlichte und unveröffentlichte Quellen zur Geschichte der Fakultät verwiesen.
Kühl: Lieber Herr Dammann, Sie gehörten zur zweiten Welle der Professoren an der Universität Bielefeld. Spielte der Umstand, dass es eine relativ neue Fakultät war, in Ihrer Zeit noch eine merkliche Rolle? Dammann: Ja und nein. Ende 1969 war mit dem Transfer fast aller Abteilungsleiter und großer Teile des übrigen Personals, vor allem der Assistenten, und auch der Studierenden nach Bielefeld die Münsteraner Sozialforschungsstelle an ihrem Standort Dortmund aufgelöst. 1970 waren mit Helmut Schelsky die aus der Münsteraner Fakultät übernommenen Professoren – drei von vier – in Bielefeld – neben ihm noch Joachim Matthes und Karl Heinz Pfeffer, ein reuiger Ex-Nazi ohne Lehrstuhltransfer. So hätte man, mit sechs Stellen aus Münster (zusätzlich die der Münsteraner Stelleninhaber Kaufmann, Luhmann, Steger und Storbeck) als kleines Institut weiterleben können. Ich hatte aber Ende 1972 dann schon als ca. dreizehnter Professor meinen Ruf. Neben den »Münsteranern« gab es vor mir mindestens genauso viele (sowohl ältere und jüngere) aus anderen Standorten z.B. aus Göttingen, Berlin und Köln. Schon Ende 1973 waren im Rahmen von achtzehn Professuren alle fünf Praxisschwerpunkte und das Querschnittsfach Planungs- und Entscheidungstheorie institutionalisiert. Das ist etwas, was in einer »alten« Fakultät wegen Ressourcenkonflikten wohl nicht gelungen wäre. Der Auf bau von Fakultät und Personal kam aber nie zu
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einem klaren Abschluss. 1980 kamen mindestens vier besetzte Professuren der aufgelösten PH hinzu. Dann stagnierte die Zahl der Professuren lange um mehr als fünfundzwanzig Stellen herum1, es gab aber ständig Ab- und Anbauten von Stellen, Wieder- und Neubesetzungen. Man sprach von »Vorwärtsstrategien« und »Gesundschrumpfung«.2 Wir hatten nie das Gefühl, in einer »alten« Organisation zu wirken. Kühl: Die Sogkraft von Bielefeld muss anfangs in der Soziologie sehr groß gewesen sein. Wir wissen, wer alles die Rufe angenommen hat. Welche Berufungen sind dann gescheitert und was waren Ihrer Meinung nach die Gründe dafür? Dammann: Na ja, von Sogkraft kann man vielleicht nicht reden. Wie gesagt, wurden fast alle Habilitierten-Stellen aus Münster und Dortmund transferiert, und das ging nur mit den Stelleninhabern. Ohne diese Maßnahme wäre die Bielefelder Soziologie politisch gar nicht finanzierbar gewesen. Mancher hatte allerdings gleichzeitig Rufe woanders hin, ich nenne Kaufmann und Luhmann, die dann Bielefeld vorzogen. Bemerkenswert ist aber: Mehrere Berufungen von Professoren scheiterten. Heinz Hartmann blieb lieber mit seiner Stelle in Münster bei den Ökonomen. Und Rufe wurden von mehreren vorne auf der Berufungsliste platzierten Bewerbern abgelehnt. Beispiele sind Ursula Kurz, die lieber unprofessoral in Frankfurt a.M. blieb als Professorin bei uns zu werden, Fritz Sack und Ulrich Oevermann, die alle Rufe in Allgemeiner Soziologie ablehnten, Ute Gerhard und Carola Hagemann-White in der Forschungsforschung sowie ganz zu Beginn Klaus Holzkamp in Sozialpsychologie. Für diesen Holzkamp, mit Brückner damals der führende kritische Psychologe, hatten die Studierenden gekämpft. Zu deren großer Enttäuschung begründete er seine Absage nicht. Als mögliche Motive wurden bei ihm und anderen erörtert: Bleibeangebote am attraktiveren Standort – »richtige« Großstädte, wo man vielleicht ein schönes Eigenheim hat, ortsgebundene Familienbeziehungen aufgrund der Berufstätigkeit der Partnerin sowie Weigerung, als jemand wahrgenommen zu werden, der mit Luhmann vor Ort konkurriert. Es wird bei Absagen oft nicht bedacht, dass vielleicht einfach Ehepartner oder Geliebte NEIN! gesagt haben, weil sie nur die hässlichen Seiten Bielefelds kannten oder gar nicht umziehen konnten, ohne erwerbslos zu werden. Ein Fakultätskollege verließ sogar Bielefeld, weil das Rektorat sich weigerte, seine promovierte Ehefrau in seinem 1 | Im Haushaltsplan 1990 waren 27 Professuren etatisiert, ebenso viele wie bei den Mathematikern. Mehr (29) hatte nur die Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft; so in: Universität Bielefeld, Stellungnahme des Senats zur Verteilung der Stellen und Mittel 1990. 2 | Dietrich Storbeck, Brief vom 29. Januar 1988 an den Dekan der Fakultät für Soziologie.
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Drittmittelprojekt einzustellen. Er fand eine BRD-Universität, die dazu »ja, gerne« sagte. Heute kommt man mit Tagesrandzügen der DB von überall nach und weg von Bielefeld. Früher dauerten Fahrten aber länger als heute und nur äußerst wenige bedienten unsere Universität von Bayern oder Hessen aus. Kühl: Bielefeld gehört zu den großen Zentren der Soziologie. Wenn Sie mit kleineren Instituten vergleichen müssten, welche Unterschiede würden Sie nennen? Dammann: Mir fällt nur ein, dass es in kleinen Instituten wohl nicht möglich gewesen wäre, dass Professoren ihr Lehrfach stillschweigend einfach umwidmen, nachdem die thematischen Moden gewechselt hatten. Und dass bei uns zeitweise die Relation von Prüfern und Diplomanden 1,5 betrug. Als offizielle »Lehrauslastung« wurde 1985/6 nur 0,25 gemessen (0,95 in der Biologie, 0,93 in der Psychologie, 0,92 bei den Juristen), allerdings 1989/90 dann schon 0,403. Der Stellenüberhang wurde dann irgendwann mit beinahe 150 Semesterwochenstunden beziffert4. Das innerfakultäre Problem war die ganz ungleichmäßige Belastung, die man in einem kleinen Institut wohl nicht geduldet hätte. Manche Professoren hatten zeitweise gar keine Diplomkandidaten oder Doktoranden im Prüfungsverfahren. In die Lehramtsexamina hatten die meisten von uns allerdings keinen Einblick. Sie konzentrierten sich auf wenige Spezialisten dafür. Kühl: Die Universität Bielefeld hat eine sehr spezielle Architektur, in der unter anderem der Grundgedanke kurzer Wege zwischen den Fakultäten räumlich verwirklicht wurde. Wie sahen die Räumlichkeiten der Fakultät zu Ihrer Zeit aus und wie hat die räumliche Situation die Arbeit in der Fakultät geprägt? Dammann: Ich war noch etwa zwei Jahre im Auf bau- und Verfügungszentrum (später FH-Gebäude), wo die Wege damals zwischen zwei oder drei Fakultäten noch kürzer waren. Über Zuschreibungen von wissenschaftlicher Arbeit auf Raum ist mir ebenso wenig bekannt wie über Forschungszusammenarbeit über Fakultätsgrenzen hinweg. Einzige Ausnahme vielleicht die Zusammenarbeit zwischen Karl Krahn aus unserer Fakultät und Siegfried Katterle aus der Volkswirtschaftslehre. Hier aber war wohl nicht der kurze Weg zueinander, sondern die gemeinsame gewerkschaftspolitische Ausrichtung entscheidend. Zusammenarbeit in der Lehre gab es anfangs noch, zum Beispiel zwischen Luhmann aus der Soziologie und Winfried Brohm aus der Rechtsfakultät. Viel später hatte Soziologiepersonal Lehraufträge in der Juristenausbildung, nach3 | Siehe Anmerkung 1, Anlage 6. 4 | Das bedeutete mehrere Professuren plus entsprechender »Mittelbau«, vgl. K.-D. Bock/J. Weyer, Die Verteilung des an der Fakultät für Soziologie tätigen Personals auf die geplanten wissenschaftlichen Einheiten, Sept. 1988 (hektografiert).
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dem dort die einstufige Reformausbildung abgeschafft war. Die wollten keine Soziologie in der eigenen Fakultät, haben Rechts- und Verwaltungssoziologie gerne uns überlassen. Kühl: Wie ist Ihre eigene Forschung durch die Fakultät – durch die Kooperation mit bestimmten Kolleginnen und Kollegen, durch die Größe und Struktur der Fakultät – beeinflusst worden? Dammann: Dazu habe ich keine Hypothese, außer der, dass ich und andere Bielefelder immer erheblich mehr als Auswärtige Luhmann in unseren Arbeiten zitierten. Viele von uns hatten das aber auch schon vor ihrer Berufung getan; man müsste also Aufenthalt in Bielefeld und Zitationsverhalten sorgfältig korrelieren. Genereller aber sind Forschungskooperationen zwischen Professoren der Fakultät für mich wenig beobachtbar gewesen. Kühl: Wie erfolgreich waren die wenigen Versuche, die Sie beobachten konnten? Dammann: Die papiermäßig vorgesehene Kooperation zwischen den Forschungsbereichen von Richard Grathoff und Karin Knorr-Cetina im Bereich der Kultursoziologie scheiterte, und auch ein geplantes DFG-Projekt von Johannes Berger, Niklas Luhmann und Claus Offe zur Moderne kam nicht zustande. Gelebt wurde aber ein Forschungsschwerpunkt zur Zukunft der Arbeit mit beispielsweise Jürgen Feldhoff und Gert Schmidt, nicht zu verwechseln mit einem Institut gleichen Namens im Rheinland, dem man Lobbyismus für Unternehmensinteressen nachsagt. In unserer Fakultät wurde arbeitssoziologisch, von Grundlagenstudien abgesehen, eher »arbeitnehmerorientiert« geforscht und von einer Reihe von Professoren Kooperation mit Gewerkschaften gepflegt. Kühl: Was waren zentrale Konflikte in der Selbstverwaltung in den ersten Jahren der Fakultät? Dammann: Zweimal wurden illegale Resolutionen beschlossen oder versucht: Der Fakultätsgründer Schelsky wurde von einer Mehrheit gerügt und nahm das zum Anlass, sich mit Lehrstuhl in die Juristische Fakultät nahe seines Wohnsitzes zu verabschieden.5 Man nahm dem Multifunktionär offiziell übel, dass er bei Fakultätskonferenzen fehlte. Das zu rügen, wäre nur im Diszipli5 | Die Mitnahme des Lehrstuhls wurde als einmalig in der deutschen Universitätsgeschichte skandalisiert. Das aber ist nur ein Beispiel für kurzfristiges Organisationsgedächtnis und wurde im Ministerialapparat nicht ernst genommen. Schließlich bestand die Fakultät aus vielen Personen, die ihre Stellen aus Münster mitgebracht hatten. Schelsky ließ sich mit Stelle rücktransferieren, sogar in einen Fachbereich, der aus seiner alten Fakultät entstanden war.
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narwege legal gewesen. Sein alter schöner Wohnsitz im Vorort Münsters, der unfreiwillige Verlust des ZiF-Direktorats mit Chauffeur sind neben der in der Rüge bekundeten Undankbarkeit der Hälfte seiner früheren Abteilungsleiter andere Gründe aus dem möglichen Motivkatalog, die auch genannt werden. Kühl: Wir sehen heute Kämpfe der Professuren um Ressourcen der Fakultät. Wie war das in den ersten zwei Jahrzehnten der Fakultät? Dammann: Konfliktreich war anfangs die Vermutung von Empirebuilding einzelner Professoren auf Kosten lehrintensiver, aber durch Stellenknappheit marginalisierter Bereiche wie damals z.B. der quantitativen Methoden. Kollegen der Allgemeinen Soziologie, die fast nur durch Dauerbeschäftigte z.B. in Form von Akademischen Räten entlastet wurden, haderten mit den Praxisschwerpunkten, in denen sich bis zu drei auf Zeit beschäftigte Assistenten sammelten. Luhmanns Professur wurde beispielsweise von drei Assistenten schnell auf null geschrumpft, fast zwanzig Jahre lang, um dann, auch durch das Entgegenkommen der angeblich konkurrierenden Kollegin Knorr-Cetina, eine 2/3- Assistentenstelle zu bekommen. Personalpolitische Konflikte gab es ständig, da Professoren lange nicht alleine »ihre Mittelbauer« benennen durften, und Professorenstellen sowieso durch Mehrheitsentscheidung besetzt wurden. Spektakulär war ein Fall, wo sich zwei Professoren einer Arbeitsgruppe durchsetzen konnten – gegen einen »zu linken« in Frankfurt ausgebildeten Projektmitarbeiter von Offe. Der eingestellte, anscheinend aus Polen geflüchtete Bewerber entpuppte sich dann als verdienter Stipendiat des dortigen kommunistischen Establishments. Die Schadenfreude war groß. Immerhin hatten nun DKP-Spartakisten dann eine Anlaufstelle für »materialistische« Studien ihres Geschmacks. Ich glaube, dieser Fall ist in einem der Schlüsselromane über unsere Fakultät erzählt, die der Kollege Mummendey, der auch viele andere Namen benutzte, veröffentlicht hat.6 Darin wird unsere Hochschule als Universität für die Landbevölkerung nach Rinteln an der Weser, einen ganz alten Uni-Standort in der Nähe verlegt, wo die Juristen im 18. Jahrhundert noch Gutachten über Hexerei produzierten. Kühl: Gab es persönliche Enttäuschungen in der Fakultät, die Ihnen in Erinnerung geblieben sind? Dammann: Manche Kollegen wirkten chronisch enttäuscht – z.B. über gelungenes Empirebuilding anderer – und haben sich aus der Selbstverwaltung zurückgezogen. Ein Assistent suizidierte sich, als seine Habilitation aussichtsloser wurde. Andere Enttäuschungen: Viele »Mittelbauer«, mit oder ohne Habilitation, mussten ohne Dank und formelle Verabschiedung ihre Arbeit in der 6 | Hans Dieter Mummendey, Die Bauchtänzerin 1991. Vgl. von ihm ferner : Claudia, Alzheimer und ich. Kriminalroman 1992, sowie: Bielefeld – Burano & retour 1991.
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Fakultät oder gar die hauptberufliche Beschäftigung abbrechen und manchmal die akademische Lauf bahn verlassen. Ich war vor allem enttäuscht, als nur zögernd und heimlich der mit Beweisangeboten von zwei Kollegen gefütterten uniinternen Anzeige gegen den Kollegen Hans W. Gottinger nachgegangen wurde. Gottinger sollte sich als hauptamtlicher Professor unserer und gleichzeitig noch einer anderen Fakultät im benachbarten Ausland dargestellt haben. Das führte erst nach einem neuen dienstrechtlichen Fehltritt zur Entlassungsdrohung durch das Rektorat und dann zu »freiwilligem« Rücktritt. Das vielleicht illegale Kassieren von Besoldung in sechsstelliger Höhe wurde wohl nie gegenüber dem Land thematisiert. Als Skandal wurde der Werdegang des »Hochstaplers« Gottinger dann sehr spät und gleich weltweit publiziert.7 In der Fakultät externalisierte man den ehemaligen Kollegen spätestens dann: Gottinger galt als fremd, als Wirtschaftswissenschaftler, lehrte bei uns »nur« Planungs- und Entscheidungstheorie. Kühl: Man erkennt in der Fakultät für Soziologie – auch im Vergleich zu anderen Fakultäten – enorme Schwierigkeiten, Kollegen für das Dekansamt zu gewinnen. Wie haben sich diese Schwierigkeiten entwickelt? Dammann: Die Wahl des Dekans wurde von den Professoren Anfang der 1970er nach Dienstalter geplant, aber manche wurden dann doch für ungeeignet befunden und nie nominiert. Also irgendwie Meritokratie? Oder doch: Irgendwann erreicht jeder sein Inkompetenzniveau? Luhmann schickte Gedanken zur Verwaltungseffizienz des Dekanats herum und zur erneuten, früh abgeschafften Zuordnung des »Mittelbaus« zu einzelnen Professoren. Er machte das zur Bedingung dafür, Dekan zu werden. Damit fiel er durch und konnte sich ein ganzes Jahr Ärger ersparen und weiter seine Theorieentwicklung vorantreiben. Offe machte ihm die Ablehnung eines Pflichtdekanats dann nach, legte Wahlbedingungen vor und scheiterte ebenfalls.8 Kühl: Wie stark wurden in den politisch bewegten 1970er Jahren in der Selbstverwaltung allgemeine politische Themen aufgegriffen? Dammann: Ich erinnere mich am besten an Ereignisse außerhalb der Selbstverwaltungsgremien, aber mit Fakultätsbezug. Soziologiestudierende nahmen in vorderster Front am Protest bei der Eröffnung des ZiF – alias »Zentrum für imperialistische Fäulnis« – teil. Auch ein junger Mann aus unserer Fakultät exponierte sich damals schon, der später nach seinem Diplom im Geheimverfahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt 7 | In: Nature 448, 9. August 2007 (Korrektur zu Bielefeld in der Ausgabe vom 16. August 2007) und in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. August 2007. 8 | Protokoll Nr. 2/1984 der Fakultätskonferenz vom 8. Februar 1984, TOP 2.
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wurde und seine sechs Jahre voll absitzen musste (»RZ«, Aachener Kino-Fall »Entebbe«).9 In beiden Fällen ging es auch um die Dritte Welt. Kühl: Spiegelte sich diese Politisierung auch in den Fakultätskonferenzen wieder? Dammann: Neben den mikropolitischen Spielen, in denen Fraktionen – Linke Assistenten Fraktion und Studierende – agierten hier ein Beispiel aus der großen Politik: Eine Rüge an die türkische Regierung wegen Inhaftierung eines kurdischen Separatisten provozierte die Frage, ob man etwas unterstützen solle und dürfe, was auch in der BRD und im übrigen Westeuropa unter Strafe gestellt war. Man durfte ja nicht mit Gewaltdrohung für die Sezession Schottlands, Bayerns oder Lippe-Detmolds agitieren. Aber wie z.B. auch im Falle der Rüge gegenüber Schelsky scherte sich die Fakultätskonferenz nicht um das Recht, fragte nicht beim Justiziariat an, was galt, sondern neigte bei Aufregung zum sofortigen Moralisieren. Vielleicht die alte Ehe zwischen Philosophie und Soziologie? Kühl: Gab es festliegende Gegnerschaften unter politischen Abgrenzungsgesichtspunkten? Dammann: Politisch bildete sich zeitweise eine LAF – Linke Assistenten Fraktion – die auch vier oder fünf Professoren umfasste. Sie wollte die Lehre der »Kritik der Politischen Ökonomie« (Originalton Marx) auch in andere Bereiche als den der nicht rechtgläubig besetzten Professur »Politische Ökonomie« (angeblich Originalton Moskau) bringen. Sie positionierte sich u.a. auch gegen die Drangsalierung von »Mittelbauern« durch Professoren, die es jenseits von rechts/links-Zuschreibungen gab. Öffentlich wurden politische Gegnerschaften durch jene Konventswahlen, in denen eine von Offe angeregte Liste »Hochschule in der Demokratie« mit Mathematikern und Soziologen im Vordergrund gegen weiter rechts verortete Listen kandidierte. Das Rektorat mit Dietrich Storbeck aus unserer Fakultät als Prorektor für Bauwesen und Strukturfragen veranstaltete einmal eine Konventswahl, deren Wahlordnung die rechtere Mehrheitsliste bevorzugte. Aus unserer Fakultät heraus wurde die Wahl angefochten und musste nach neutraler Wahlprüfung wegen Verstoß gegen mehrere Wahlrechtsgrundsätze der Verfassung wiederholt werden. Der wohl schuldige Justiziar wurde zum Hochschulkanzler im Randgebiet der BRD weggelobt. Der Kollege Storbeck fühlte sich aber in der Presse der Manipulation beschuldigt. Luhmann, der immer als Mann der Mitte galt, musste vermitteln. 9 | Vgl. www.freilassung.de/div/texte/rz/enno/enno.htm (Zugang 31. Januar 2018) und (ohne Autor), Schwache Indizien, aber ein starker Wille zum Schuldspruch, taz archiv, ohne Datum (Zugang 31.Januar 2018).
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Auch intern, in der linken Konventswahlliste und der Linken Fraktion der Fakultät gab es Meinungsverschiedenheiten, z.B. mit Claus Offe, auch von anderen früheren Mitgliedern des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) her. Diese unterschrieben eine Solidaritätserklärung gegen Medienmanipulation nicht. Mit ihr sollte der falsch zitierte oder missverstandene Artikel eines Göttinger »Mescalero« über einen Terroranschlag der Roten Armee Fraktion, dem Mord an Siegfried Buback und zwei Begleitern, neu publiziert werden. Offe wurde vom Landgericht Bielefeld allerdings für seine Unterschrift aus Gründen der garantierten Meinungsfreiheit freigesprochen, andere Unterzeichner einer Wiederpublikation an anderen Orten dagegen nicht.10 Kühl: Welche Rolle spielte bei diesen Gegnerschaften die Frauenbewegung? Dammann: Es gab zwei Bielefelder »Subsistenzansätze«, einen feministischen und den von Evers, beide im Arbeitsbereich Entwicklungssoziologie- und -politik. Sie schienen aber relativ gut mit einander klarzukommen11. Die Vertreterinnen des feministischen Subsistenzansatzes, Veronika Bennholdt-Thomsen und Claudia von Werlhof waren bei studierenden Anhängerinnen einer militanten Frauenbewegung in der Fakultät als Pionierinnen der Geschlechtsthematisierung beliebt. Aus dieser Protestbewegung heraus, verbandelt mit dem Frauenkulturzentrum in der Stadt (»Lederjacken-Lesben«, deren Politik: »auch ein anerkannter Transmann ist keine Frau«), wurde einem Kollegen in der Fakultätskonferenz an den Schlips gegriffen, und Türen linker Wissenschaftler wurden beschmiert (»Verräter«).12 »Me Too«-Ängste, so der heutige Ausdruck, brachten Lehrende dazu, bei Sprechstunden die Türen zum Sekretariat oder zum Flur offen stehen zu lassen. Der schriftliche sexualisierte Übergriff eines Bielefelder Geschichts-Professors auf eine unserer Soziologie-Assistentinnen wurde skandalisiert: eine »Me Too«Aktion, denn schon damals wurden andere Übergriffe bundesweit auf- und angegriffen. Bei allen angeblichen Frau/MannFronten gab es durchaus Solidarität mit dem Fakultätsfeminismus, der ja in der Linken Assistenten Fraktion hauste. Kühl: Welche Rolle spielte dabei die damals sich institutionalisierende Genderforschung?
10 | Vgl. zur Affäre: Stefan Spiller: Der Sympathisant als Staatsfeind. Die Mescalero-Affäre, in: Wolfgang Kraushaar, Hg., Die RAF und der linke Terrorismus 2006: 1227-1259. 11 | Andrea Baier, Subsistenzansatz. Von der Hausarbeitsdebatte zur »Bielefelder Subsistenzperspektive«, in: Ruth Becker/Barbara Budrich, Hg., Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, 2. Auflage 2008: 75-80 und Thomas Bierschenk, Hans-Dieter Evers und die »Bielefelder Schule« der Entwicklungssoziologie, 2002. 12 | Teilweise bekannt durch Niklas Luhmanns ironische Schilderung in: Frauen, Männer und George Spencer Brown, in: Zeitschrift für Soziologie 17 (1988) 47-71.
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Dammann: Der »Wissenschaftliche Feminismus« (ironischer Fremdname von Frauenforschung) hatte unabhängig von seinen internen Divergenzen Gegnerpersonen, die fast alle sehr männlich aussahen. Luhmann hat aber schon 1988 die Betonung der Bestandteile des Frauseins (Frau und Sein) beim Gendern ebenso aufgespießt, wie es deviante Feministinnen an anderen Orten von anderen Prämissen her taten. Frauenforschungsambitionen mit biologischen Prämissen hielten sich lange in der Fakultät. Aber auch Männerforschung (mit Mannsein als Rollenspiel) fand Interesse; Ursula Müller forschte zu diesem Thema. Konstruktivismus, z.B. der beschränkte von Judith Butler, fand allerdings doch recht spät fakultätsöffentlichen Widerhall. Manche sahen noch die Umbenennung in »Genderforschung« als nur taktisch begründete Bemäntelung für Biologismen (Gebärfähigkeit und all das). Kühl: Welche Rolle spielte diese hochpolitisierte Zeit bei Berufungen für Professuren? Dammann: Schon beim Kampf für den Linkspsychologen Holzkamp koalierte die Fakultätslinke mit Linksliberalen. Bei der Nachfolgeregelung dann für Peter Christian Ludz aus der Politischen Wissenschaft hatte die Mehrheit zunächst einen Mann auf den ersten Platz gesetzt, der Mitarbeiter eines Spitzenpolitikers der Sozialdemokratie gewesen war, und die als linker eingeschätzten Claus Offe und Volker Ronge waren dahinter platziert. Daraufhin marschierten Studierende ein und »sprengten« die Sitzung der Fakultätskonferenz. An der Spitze eine junge Frau, Tochter einer »Putzfrau«, wie man damals noch sagte, also Nutznießerin der Bildungsexpansion jener Jahre. Die Professoren gönnten sich in den nächsten Tagen eine stressfreiere Lesepause. Der philosophische Frankfurter Jargon des Erstplatzierten leuchtete einer neuen Mehrheit dann nicht mehr als Bereicherung ein. Es wurde neu abgestimmt, und Offe, der deutlicher soziologisch qualifiziert war, wurde vorne neu platziert und berufen. Wir hatten später noch einen solchen Fall, wo mangelhaftes und dann nachgeholtes Lesen einen Berufungsvorschlag zu Fall brachte. Es mischten sich immer Kriterien der wissenschaftlichen Qualität mit solchen richtungspolitischer Art. Reine Machtpolitik, z.B. Patronage (»einer von meinen Leuten«), habe ich nie erlebt. Aber manche ziemlich unumstrittene Liste. Kühl: Wie sah die studentische Protestkultur zu Ihrer Zeit generell aus? Wurden die Konflikte damals auch – wie an anderen Universitäten – körperlich ausgetragen? Dammann: Zu dieser »Kultur« gehört sicher der Erwartungskomplex »scharfe Praktiken«. Viele davon sind übersichtlich dargestellt in der 25 Jahre-Fest-
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schrift unserer Fakultät13. Neben den kleinen Übergriffen, die ich dort und hier geschildert habe, gab es körperliche Präsenz natürlich bei Demos in der Stadt gegen die Bildungspolitik der Landesregierungen. Und: Niklas Luhmann wurde noch 1989 im Audimax Opfer eines Mehlattentats- zusammen mit dem weiteren Diskutanden zum Thema Gentechnik, CDU-Politiker und Jurist Benda. Das fand aber weniger Aufmerksamkeit als das 1969er Busenattentat auf Theodor W. Adorno. Dieser Angriff konnte wegen Adornos plötzlich folgendem Tod zum Drama gemacht werden. Kühl: Häufig kann man in kleinen Instituten beobachten, dass die öffentliche inhaltliche Kritik an unmittelbaren Kollegen tabuisiert ist – wie war dies in Bielefeld? Dammann: Luhmann hat Kontroversen mit ortsansässigen Gegnern öffentlich ausgefochten, mit Richard Grathoffs ganz anderer Husserl-Verwertung, mit Karin Knorr-Cetinas Kritik an seiner Theorie funktionaler Differenzierung, mit Gerhard Wagners fundamentalem Metaphysik-Verdacht gegen ihn. Dessen Bielefelder Dissertation ist eine überaus engagierte Abrechnung mit Luhmanns Theorien aus der Sicht von Comte und Feuerbach. Aber anscheinend sind danach diesen von mir zitierten Kritiken Theorien nicht gefolgt, die Resonanz aus der Luhmann-Schule zur Folge hätten haben können.14 Auch Johannes Berger und Claus Offe haben mehrfach schriftliche Luhmann-Kritik publiziert, aber das mag nach ihrer Bielefelder Zeit und eine Folge ihrer hier langjährig angeeigneten Expertise gewesen sein. Kühl: In der Außenwahrnehmung der Fakultät war Luhmann sehr wichtig. Aber wie sah das nach Ihrer Erinnerung von innen her aus? Dammann: Die eben genannten Kritiker von innen nahmen Luhmann schon sehr wichtig. Viele andere als Gegner Bekannte, wie beispielsweise die Soziologiefunktionäre Hartmann, Lepsius oder Scheuch versuchten dagegen eher, Luhmann keine weiteren Profilierungsanlässe zu bieten. Da das Zeitschriftenbulletin der Fakultät mit seinen Inhaltsangaben viel gelesen wurde, gerade in langweiligen Sitzungen, musste bei uns im Übrigen allen klar sein, dass Luhmann in der Zahl seiner Fachpublikationen andere Deutschsprachler überragte. Nach seinem Tod stand er dann ja auch an Platz 1 eines empirisch begründeten Rankings. Von den anderen Bielefeldern kam der Luhmann-Kenner 13 | Klaus Dammann, Was hat es gebracht? Politik sozialer Bewegungen und Entscheidungen der Fakultät für Soziologie, in: Franz-Xaver Kaufmann/Rüdiger Korff, Hg., Soziologie in Bielefeld . Ein Rückblick nach 25 Jahren 1995: 65-87. 14 | Vgl. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1986/7- Grathoff, Zeitschrift für Soziologie 1992/3- Knorr-Cetina, und 1992/3- Wagner, Gerhard Wagner, Gesellschaftstheorie als politische Theologie? 1993.
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Hartmann Tyrell immerhin wohl auf Platz 16, Habermas aber war abwesend unter den ersten 50.15 Dagegen war niemandem in der Fakultät klar, wie sehr Luhmann schon damals auch in Radio, Fernsehen, Bildungseinrichtungen und Publikumszeitungen Europas (BRD, Italien, Österreich, Schweiz) mit Texten und seinem Körper präsent war. Kühl: Eine Hypothese zur Rezeption von Luhmanns Theorie und seiner empirischen wissenssoziologischen Forschungen ist, dass Bielefelder Soziologen ihn häufiger und kenntnisreicher zitiert haben als Fremde, und zwar auch Gegner seiner Theorien. In den Leseempfehlungen des Kommentierten Veranstaltungsverzeichnisses der Fakultät war er bei Vielen präsent, wohl nur abwesend bei Gegnern und Skeptikern, nicht bei allen, aber immer denselben. Dammann: Es wurde immer wieder bei den Kollegen der Allgemeinen Soziologie Neid auf Luhmanns Aufmerksamkeitswerte und seine Reputation als Theoretiker vermutet. Darin wurde auch ein Motiv dafür gesehen, dass relativ viele Kollegen weggingen oder Rufe in diesen Arbeitsbereich nicht angenommen hatten. Das, obwohl Luhmann doch durch die Definition seines Interesses – sein Begriff von »Allgemeinheit« der Theorie – sich der Konkurrenz zu entrücken versuchte. Ein Bielefelder Professor hat sich nicht gescheut, in Luhmanns Vorlesung zu sitzen und schon dadurch dessen Rang anzuerkennen. Und er hat das nach meiner Erinnerung erste Lehrbuch zu einer von Luhmanns Theorien publiziert: Gabor Kiss.16 Lehrveranstaltungen gemeinsam mit Luhmann auch auf seine Einladung hin haben nur Kollegen – etwa ein Dutzend – gewagt, die nicht im Verdacht von Konkurrenzverhalten standen. Ein weiteres spezielles Genre von Luhmann-Aufmerksamkeit war der Klatsch. Der wurde vornehmlich von einer in Oerlinghausen, also nahe bei Luhmann wohnenden Sekretärin eines Kollegen gestreut. Kühl: Wie würden sie das damalige Verhältnis zur Hochschulleitung beschreiben? Dammann: Unsere Fakultät war bei der Hochschulleitung deshalb beliebt, weil wir politisch gewollte Professuren aufnahmen, notfalls durch Kooptation der Stelleninhaber, wenn von anderen Fakultäten auswärts oder inneruniversitär Ablehnung kam: zweimal Wissenschaftsforschung zu aktuellen Konflikten, Bevölkerungswissenschaft damals aktuell wegen Geburtenrückgang und Migration, Umweltsoziologie, dass schon vor der Tschernobyl-Katastrophe im 15 | Jürgen Gerhards, Reputation in der deutschen Soziologie – Zwei Welten, in : Soziologie 31, 2002, Heft 2, 19- 33 mit anschließender Diskussion. 16 | Gabor Kiss, Grundzüge und Entwicklung der Luhmannschen Systemtheorie 1986.
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Aufschwung war sowie dreimal Lehrerbildung, darunter speziell auch Geografie. Es gab aber dann für diese Großzügigkeit, nach Meinung mancher Professoren nicht genügend Belohnungen bei der Mittelverteilung von »oben«. Ungläubig, aber interessiert wurde wahrgenommen, dass die angeblich bevorzugte Juristenfakultät einen der Kanzler zum Dr. iur. h.c. ernannte. Ehre wem Ehre gebührt? Einzelne Professoren hatten ein gespanntes Verhältnis zur Hochschulleitung. Dort sprach und schrieb man von »charakterlich schwierigen« Leuten. Beispielsweise weigerte sich Luhmann, in ein Gremium des Zentrums für Interdisziplinäre Forschung einzutreten, weil er den Rektor beschuldigte, dessen Konzept geändert zu haben. Es ging darum, dass Luhmann und andere früh hierher berufene Professoren eine zeitweise hauptamtliche Forschungstätigkeit am ZiF für sich in Aussicht gestellt sahen. Manche waren als Abteilungsleiter in Münster/Dortmund ja hauptberufliche Forscher mit wenig Lehrbelastung gewesen. Unter anderen der langjährige Rektor Grotemeyer, von der Massenhochschule FU Berlin in den Westen migriert, förderte wider ihre Erwartungen keine Forschungsuniversität mit wenig Lehre für die »happy few«, sondern eine ganz normale Regionaluniversität und daneben ein ZiF, in dem keine langfristige Forschung betrieben wurde, dagegen viel Tagungsbetrieb. Kühl: Wodurch hat sich das Verhältnis zwischen Fakultät und Hochschulleitung dann damals entspannt? Dammann: Eine Koalition mit der Hochschulleitung schien unausweichlich, als die Broschüre »Rot-grüne Universität im Abseits« publiziert wurde, von dem rechtsradikal genannten Verein »Western Goals Europe«. Vorsitzender war ein reichsbürgerlich argumentierende FH-Professor namens Bracht, Sitz war Lemgo. In den USA fungierte ein Ku-Klux-Klan-Funktionär als Gründer.17 Er verschickte auch eine Liste mit Marxisten in unserer Fakultät und im Umkreis des Rektors an ausgewählte Kreise. Weil in der Liste abenteuerliche »Verwechselungen« vorkamen, wurde aus der Fakultät heraus Strafanzeige beim Staatsschutz gestellt. Das blieb ebenso ohne Erfolg wie ein Prozess des Rektors gegen die Broschüre vor dem Landgericht Detmold. Dort das Argument gegen die Klage: Meinungsfreiheit. Kühl: Fast vergessen ist, dass es einmal einen bedeutenden bevölkerungswissenschaftlichen Schwerpunkt bei uns an der Fakultät gab – was war Ihre Wahrnehmung? Dammann: Ich habe dieses Forschungsgebiet nicht in der Fakultät gesehen. Ok : »an« der Fakultät. Herwig Birg wurde für ein Zentralinstitut berufen, das 17 | Vgl. Jürgen Zimmer, Eingebildeter Rotschock, DIE ZEIT, 1985, Nr.3, 11. Januar 1985.
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von der Landesregierung zu Abwiegelungszwecken gewünscht war (»Wir tun etwas.«). Dann kooptierte ihn die Fakultät, weil seine Fachkollegen, die Ökonomen, das nicht tun wollten. Aus unserer Fakultät war ein US-amerikanischer Soziologe im Berufungsverfahren als Alternative zur Diskussion gestellt worden. Getuschelt wurde über Konflikte zwischen Birg und Kaufmann mit seinem Schwerpunt in der Soziologie der Sozialpolitik, die in jenem Zentralinstitut zusammenarbeiten mussten. Birg, von vielen als Sozialdemokrat beobachtet, schrieb und referierte seine Thesen zur Demografie der Deutschen in Deutschland u.a. in rechten Milieus, z.B. dem von Götz Kubitschek. Sie wurden als einwanderungsfeindlich und biodeutsch-apologetisch verstanden, waren aber wohl politisch ganz naiv, »rein wissenschaftlich« gedacht. Franz Xaver Kaufmann galt schon damals eher als liberaler oder gar linker Katholik, hatte außerdem, wie Luhmann, einen Migrationshintergrund (Eltern aus der Schweiz und Deutschland). Er war sicher zu sensibel und zu soziologisch gebildet, um solche zumindest missverständlichen Töne zu überhören oder gar wertzuschätzen. Aber Genaueres über die Kommunikation der beiden im Institut gelang nie zu mir. Ich habe einmal, natürlich freundlich, mit dem Kollegen Birg über sein Publikationsmilieu gesprochen. Er kannte angeblich nicht dessen politischen Hintergrund. Also insofern war es kein früher Fall »Sarrazin«. Zumal damals die »neue« rechte Szene außerhalb enger Antifa-Kreise noch nicht als gefährlich galt. Kühl: An der Fakultät für Soziologie wurde anfangs sehr viel Zeit in die Curriculums-Entwicklung gesteckt. Was waren dort die Hauptdiskussionspunkte? Dammann: In meiner Zeit gab es im Lehrgebiet »Allgemeine Soziologie« – oder hieß es »Soziologische Theorie?« – den Curriculums-Konflikt zwischen dem Lager Grathoff und den Luhmann-Leuten. Jeder wollte seine Auffassung vom Gegenstand der Soziologie kanonisieren, Luhmann z.B. Wissen über Organisationen und Interaktionen auch in dem für alle Studierenden verbindlichen Teilfach verorten, für das Grathoff und er zuständig waren. In einem fakultätsweit diskutierten Konflikt ging es um Studienzeitrichtwerte (Semester und damit Semesterwochenstunden), die von der Landesregierung vorgegeben worden waren. Psychologen durften danach länger studieren als Soziologen und im Fach entsprechende Lehrkapazitäten anhäufen. Bei diesem Punkt kam es vor Schreck sogar zur Neukonstituierung einer sonst inaktiven Fachkommission Sozialwissenschaften der Landesrektorenkonferenz und zu ihrer Anhörung im Landtag. Die endgültige Verordnungsregelung hätte ebenso wie die Ausgangslage zu Stellenstreichungen führen können. Deshalb, nicht etwa wegen besonderen Engagements für Berufsorientierung, einigte man sich in Bielefeld darauf, ein Pflichtpraktikum einzuführen. Das konnte ja für die Vor- und Nachbereitung auch Lehrkapazität rechtfertigen. Die strittige Fakultätsdiskussion erinnere ich in Einzelheiten nicht. Aber sicher
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waren nicht nur die Vertreter einer prinzipiellen Stellensicherung, sondern auch die Gegner der Praxisorientierung aufgewacht. Kühl: Als ich selbst in Bielefeld studiert habe, war ich von der Möglichkeit überrascht, komplett auf Benotungen verzichten zu können. Was war der Grund dafür, dass man auf Noten verzichten konnte und warum wurde das geändert? Dammann: Ein Ende der unbenoteten Leistungsnachweise und Diplomprüfungen war sehr umstritten, auch unter Professoren, denn der Verzicht auf Benotung ersparte denen ja Begründungsaufwand und Konflikte. Der Kollege Offe wurde mit dem Programmpunkt Zwangsbenotung 1984 nicht Dekan. Die Einführung der fakultativen Benotung war in Zeiten beschlossen worden, in denen Meritokratie, Leistungsdruck sowie Notenwillkür im Prüfungswesen öffentlich problematisiert wurden, auch von Leuten, die später in unserer Fakultät sich aufhielten – man denke an Jürgen Kriz, Rüdiger Lautmann, Claus Offe und Günther Steinkamp. Nachdem in der BRD, so hieß es, nur noch in unserem und einem Bremer Studiengang Benotung fakultativ war, wurde uns schließlich die Examensbenotung von der Landesregierung aufgezwungen. Es ging in der Fakultät, anders als draußen, nicht um Kritik an einer Errungenschaft der angeblich leistungsfeindlichen 1968er Bewegung, sondern z.B. um die von Luhmann immer betonte Signalfunktion von Benotungen auf dem Arbeitsmarkt. Sollten Studierende lieber innerakademisch oder erst draußen für Berufspositionen selegiert werden? Wir hatten keine schlechten Erfahrungen unserer unbenoteten Absolventen auf dem Arbeitsmarkt feststellen können. Es gab allerdings keine verlässliche Erhebung zu dieser Frage. Organisationen, akademische wie politische, scheuen eben in der Regel methodenbewusste Evaluationen ihrer Ergebnisse. Kühl: Gab es grundsätzliche Konflikte um die inhaltliche Ausrichtung? Dammann: Es ging nie grundsätzlich um den Aus- oder Einschluss von »Praxisorientierung« der Lehre und damit oft auch der Forschung, dem Hauptkennzeichen der Fakultät. Das war vom Planer Schelsky noch vor Beginn durchgesetzt worden. Für das ursprünglich praxisorientiert gedachte Querschnittsfach Planungs- und Entscheidungtheorie nahm Dietrich Storbeck die Urheberschaft in Anspruch. Es passte aber auch zu Luhmanns Konzeption von Planung und Entscheidung, später bei ihm in der Vorstellung von Reflexionstheorien aufgehoben. Die spätere Umorientierung dieses Teilfaches auf das Thema Steuerung wurde von allen geduldet. 1986 versuchte der Fakultätskollege Otthein Rammstedt, die Empirie- und Praxisorientierung schon der nationalsozialistischen Soziologie herauszuarbeiten.18 Diese Juxtapositionierung 18 | Deutsche Soziologie 1933- 1945. Die Normalität einer Anpassung 1986.
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war aber nicht geeignet, die Akzeptanz der Praxisschwerpunkte in der Fakultät zu beeinträchtigen oder Theorie plötzlich besser dastehen zu lassen.
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Die Fakultät als Ort der Freiheit Hartmann Tyrell im Gespräch mit Volker Kruse
Hartmann Tyrell hat in Münster Soziologie, Geschichte und Kunstgeschichte studiert und bei Helmut Schelsky promoviert. 1972 wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bielefelder Fakultät für Soziologie, später (apl.) Professor für Theorie und Geschichte der Soziologie. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen außerdem Familiensoziologie und Religionssoziologie. Von 2000 bis zu seiner Pensionierung 2008 war er Herausgeber der Zeitschrift für Soziologie. Volker Kruse hat in Marburg, Freiburg und Bielefeld Geschichte, Sozialwissenschaften, Philosophie und Pädagogik studiert und ist seit 2006 (apl.) Professor für Geschichte der Soziologie und Soziologische Theorie an der Fakultät für Soziologie.
Kruse: Hartmann, wann und wie bist Du von Münster nach Bielefeld gekommen? Tyrell: Ich habe in Münster studiert und der Abschluss meines Studiums war zu Anfang 1972 an der Münsteraner Philosophischen Fakultät die Promotion – mit den Nebenfächern Geschichte und Kunstgeschichte. Die Gutachter der Dissertation waren Schelsky und Krysmanski; Rigorosum bei Schelsky. In dieselbe Zeit fiel eben, das ist bekannt, der personelle Ausbau in Bielefeld, und es gab die Ausschreibung von zwei Stellen mit Aufgaben speziell im Bereich der Einführung in das Studium, für den Einstieg in den Diplomstudiengang, also Erstsemesterveranstaltungen. Meine Bewerbung war schon erfolgt, als ich im Münsteraner Rigorosum war. Ich habe kurz nach dem Rigorosum mit Schelsky auch noch kurz gesprochen, und der hat mir da ganz offen und freundlich gesagt, dass er mir sehr gewogen sei, aber in der Bielefelder Angelegenheit müsse er aus Gründen, die ältere Bindungen rechtfertigten, die Bewerbung des Kollegen Klaus Bock vorziehen. Klaus Bock war dann ja auch bald an der Fakultät. Und es ist dann aber so gewesen, dass die Vorstellungsgespräche stattfanden, und zwar ein Vorstellungsgespräch für alle sieben Kandidaten. Und das war für mich das erste und blieb dann auch über lange Zeit mein einziges Vorstellungsgespräch, das in diesem Siebenerkreis. Die Personalentscheidung
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hatte dann das Dekanat zu treffen. Ein Dekanat, das seinerzeit besetzt war mit Christian von Ferber an der Spitze, mit Paul Wolters als Assistentenvertreter und Prodekan, ich weiß gar nicht, wer der zweite Professor war, ich glaube Günther Albrecht. Dazu ein Student, an den ich mich auch namentlich gut erinnere. In dieser Viererkonstellation habe ich mich aus Gründen, die ich nicht durchschaue, durchgesetzt, war da jedenfalls erfolgreich mit Heinz Harbach, meinem langjährigen Kollegen in der gleichen Funktion. Nun war es so, dass Schelsky mit dem Ergebnis nicht glücklich war. Und das hatte zur Folge, dass die Fakultät, zumal das Dekanat in eine gewisse Krise geriet. Und diese Krise sah so aus, dass, soweit ich weiß, Schelsky intervenierte, vor allem, dass der Dekan in dieser Angelegenheit zurückgetreten ist. Von Ferber war nach einiger Zeit aber dann doch auch wieder im Amt. Ich war zu der Zeit zunächst ja noch Münsteraner, bin vor allem dann ex post eingeweiht worden. Informant war vor allem Wolfgang Kröpp, der seinerzeitige Dekanatsassistent; wir waren späterhin befreundet. Jedenfalls ist aus dieser Krise nach langen Verhandlungen wohl insbesondere Schelskys mit den Mittelbauvertretern, das war insbesondere wohl Fritz Schütze, eine Strukturbildung in der Fakultät hervorgegangen, die zunächst für die ersten Jahre sehr folgenreich war, nämlich bezogen auf die Frage der Verteilung des Personals über die Fakultät. Es ging um die Bildung von zehn Arbeitsgruppen, davon sechs um die Praxisschwerpunkte herum und die ersten vier anders gruppiert. Aber wie auch immer. Jedenfalls war der entscheidende Punkt, dass es keine persönliche Zuordnung der Assistenten gab, was Luhmann sehr geschmerzt hat, was aber die Vereinbarung zwischen den Mittelbauvertretern und wahrscheinlich nicht nur Schelsky, aber damals noch wesentlich Schelsky war. Also das war die Folge. Ich darf aber jetzt noch ganz kurz hinzufügen: Von den sieben Bewerbern um die Stelle waren Heinz Harbach und ich am Ende die zwei Obsiegenden. Aber ein halbes Jahr später waren alle anderen, Florian Tennstedt, der unter den Bewerbern war, den kennt man vielleicht noch, aber vor allen Dingen Klaus Bock, der der Fakultät dann über lange Jahre (Lehrorganisation) engagiert gedient hat, wenn ich so sagen darf, sie alle waren dann auch in der Fakultät vertreten. Man sieht die Absorptionsfähigkeit der Fakultät in dieser Auf bauphase. Ich habe mich immer als »Kriegsgewinnler« dieser Zeit verstanden. Kruse: Wie war Dein persönliches und wissenschaftliches Verhältnis zu Schelsky? Tyrell: Schelsky war mein Doktorvater in Münster und war ein mir durchaus zugetaner Doktorvater. Es gab keine besondere Nähe. Aber er war in dieser besagten Angelegenheit, und das war recht charakteristisch, ganz offen und aufrichtig darin, mir zu sagen, in diesem Fall sei ich nicht seine Wahl. Und auch sonst, darf ich sagen, hatte ich immer ein vergleichsweise sachliches und meinerseits natürlich respektvolles Verhältnis zu Schelsky. Da war aus der Münsteraner Zeit gespeiste Bewunderung, das kann ich nicht anders sagen.
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In seiner Organisationskraft, Tatkraft, in seinem Entscheidungswillen war er in der Frühzeit der Fakultät durchaus noch eine respektierte Größe, übrigens ohne größeren studentischen Zulauf. So viele gab’s aber ja auch nicht. Dass er obendrein die Fakultätssitzungen – anfangs noch ganztägige Fakultätskonferenzen! – dadurch lockerte, dass er sich für diese Sitzungen mit Alkohol ausstattete, mit reichlich Alkohol ausstattete, und gelegentlich aber den Whiskey auch anderen anbot. Beim Bier weiß ich es nicht. Ich bin da ja noch nicht dabei gewesen, aber jedenfalls waren das die damals gern erzählten Geschichten, auf Schelsky bezogen. Kruse: Manche sagen, dass Schelsky in der Gründungsphase der Fakultät nicht mehr so eine große Rolle gespielt habe. Ihm sei die Leitung des ZiF am wichtigsten gewesen, die er ja auch innehatte. Hast Du das ähnlich erlebt? Tyrell: Die Leitung des ZiF lag ihm wohl besonders am Herzen, ja. Im Nachhinein aber stößt man auf die Äußerungen seinerseits, die beste Zeit des ZiF sei die in Rheda gewesen, als das ZiF noch im Rhedaer Schloss residierte, als dort ein großer Kreis von handverlesenen Gelehrten zu verschiedenen Tagungen erschien. Es gab einen sehr renommierten und reputationsträchtigen Kreis, der zu der Gründungsphase der Universität gehörte, man braucht nur an die Juristen zu denken mit Mestmäcker und Westermann und anderen. Auch Böckenförde natürlich. Natürlich war auch Blumenberg eine Zeit lang ein Kandidat für Bielefeld. Und so weiter und so weiter. Das war handverlesen; die besondere Bindung an das ZiF, auch in Weiterführung des Institutionenthemas bei Schelsky, die Bindung an das ZiF war stark und geschätzt. Kruse: Warum wurde dann eigentlich diese ZiF-Leitung durch Schelsky bereits 1971 beendet? Tyrell: Der Abgang vom ZiF war bekanntlich eine direkte Provokation der Universität, der Universitätsleitung, und zwar in dem Sinne, dass Schelsky den beabsichtigten Rücktritt von der ZiF-Leitung nicht im persönlichen Gespräch im Rektorat vortrug, sondern in einem FAZ-Artikel, in der samstäglichen Tiefdruckbeilage in einem großen Artikel, der sich – wie dann ja mehr und mehr – sehr kritisch mit der seinerzeitigen Lage der Universitäten auseinandersetzte, also sozusagen öffentlich mitteilte. Das wurde damals, wenn ich’s recht erinnere, allgemein als für die Universitätsleitung und die Universität insgesamt als sehr schmerzlich registriert. Schelskys Motive werden eben doch in den Schwierigkeiten gelegen haben die, für jemand gelten, der sehr zu kämpfen geneigt war, aber der seine Kämpfe möglicherweise dann doch nicht unbedingt in der Form der Gruppenuniversität, also mit Statusgruppen von Professoren, Mittelbau und Studenten, also in ständiger Auseinandersetzung auszufechten. Das war natürlich auch die Gegebenheit in Fakultät und Fakultätskonferenz.
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Kruse: Nun gab es ja im Februar 1973 diesen berühmten Eklat mit der Rüge von Schelsky durch die Fakultätskonferenz, der dann damit endete, dass Schelsky die Fakultät samt seinem Lehrstuhl verließ. Wie hast Du die denn wahrgenommen? Du hast die ja schon damals mitbekommen. Du warst zumindest schon an der Fakultät. Tyrell: Also, es gehörte, was Schelsky angeht, seinerzeit zu dem inneren oder dann im äußeren sichtbaren Rückzug aus der Fakultät, dass er zu einer Habilitationsangelegenheit, die in der Fakultätskonferenz zu verhandeln war, nicht erschien. Ich war damals Mitglied der Fakultätskonferenz, bin bei der besagten Sitzung dabei gewesen und darf wohl berichten. Nun war seinerzeit die Fakultät natürlich, denkt man von Dortmund und Münster her, nicht frei von, wenn ich so sagen darf, von potentiellen Vatermördern (lacht). Der Vatermörder war in dem Fall – er hat es selbst vor einigen Jahren, wohl 2012 beim Gedenken an Schelskys hundertsten Geburtstag ausgesprochen – Franz-Xaver Kaufmann, der dem Sprecher des Mittelbaus damals den Impuls zuschob, das Nicht-Erscheinen Schelskys zu der betreffenden Habilitationsangelegenheit zu missbilligen. Und das ist in die Diskussion geraten, also der Mittelbau hat sich’s zueigen gemacht. Der Antrag wurde gestellt, bekam dann die Formulierung einer Rüge für Schelsky. Und das hat dann zu einer längeren Debatte in der Fakultätskonferenz geführt mit verschiedenen Stellungnahmen, mit der auf Distanz gehenden Stellungnahme etwa von Luhmann, der vom Dekan auch ausdrücklich als Jurist angesprochen wurde in dieser Angelegenheit. Auch andere waren in gleicher Richtung bemüht; es gab auch zumindest einen modifizierten (abgemilderten) Antrag. Aber die Grundstimmung wollte den öffentlichen Tadel an Schelskys Adresse. Und so kam die Mehrheit für den Antrag, Schelsky zu rügen, zustande. Es fehlte nicht an Gegenstimmen. Ich selbst hab mich, gegen Schelsky halbherzig loyal, enthalten. Natürlich hat Luhmann dagegen gestimmt. Auch Kaufmann hat nicht dafür gestimmt, er hat sich enthalten, weil er zuvor einen anderen Antrag präferiert hatte. Ja, und die Fakultät tat damit etwas, was von Ferber Luhmann partiell angelastet hat: Der entscheidende Punkt, die entscheidende rechtliche Information kam von ihm nicht. Für Schelsky aber war sofort klar: mich darf nur der Minister rügen. Die Fakultätskonferenz ist dazu nicht befugt. Und dann hat er seine Düsseldorfer Kontakte – der damalige Staatssekretär von Medem war die entscheidende Figur – mobilisiert und hat es in der Tat vermocht, den Abgang nach Münster an die dortige juristische Fakultät mit dem Lehrstuhl im Gepäck zu erwirken. Kruse: Einerseits ist es ja vielleicht die berühmteste oder bekannteste Fakultätskrise. Sind Dir andere Fakultätskrisen oder schwere Konflikte innerhalb der Fakultät nachhaltig in Erinnerung geblieben? Tyrell: Also, ich würde in dem Fall sagen, es war keine Fakultätskrise. Also, Schelsky war auf dem Rückzug aus der Fakultät. Das war unverkennbar. Und
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das, was als Struktur da war und was Schelsky als solche mithinterlassen hat in der Fakultät, es war da und blieb weiterhin für die folgenden Jahren in den 70ern erst einmal bindend. Nein, durchaus nicht – keine Krise, eher eine tendenzielle Problemlösung. Natürlich war es für die Fakultät schmerzhaft, auf die Art eine Stelle zu verlieren. Natürlich sind sofort, auch mit Unterstützung des Rektorats, enorme Anstrengungen gemacht worden, diesen überaus Abgang der besonderen Art zu kompensieren. Weil es ja doch auch ein universitätshistorisch einmaliger Vorgang ist, dass jemand mit Stelle geht. Aber ich würde nicht sagen, dass das eine Krise der Fakultät zur Folge hatte. Eine Krise oder der schärfste Konflikt war die Holzkamp-Angelegenheit 1971/72. Da ging’s mit viel Publicity um die Berufung eines Professors für das Fach Sozialpsychologie. Und da hatte sich eine große, deutlich links artikulierte Mehrheit, weit über die studentische Fraktion hinaus, für den Berliner, ich sag jetzt plump Marxo-Psychologen Holzkamp entschieden. Das war nun wirklich ein Konflikt in der Fakultät, weil es nicht wenig Gegenstimmung innerhalb des Lehrkörpers, also der Professoren gab. Aber auch, weil es einen nicht geringen Teil von Kollegen gab, die ihrerseits davon ausgingen, der kommt gar nicht. Der ist aus Berlin gar nicht wegzuholen. Wir führen hier einen Kampf, der im Endeffekt so ausgeht, wie er dann auch ausgegangen ist. Holzkamp wird uns nicht beglücken oder wird uns nicht die Ehre geben. Es war aber immerhin so, dass es ein mehrfaches Hin und Her, bezogen auf den Ruf nach Bielefeld, zwischen Fakultät, Rektorat und Düsseldorf gab. Der Minister hatte, ich glaube, zwei Mal aufgefordert werden müssen, den Ruf auszusprechen. Er hat es dann getan. Aber das Ergebnis war, dass dann die Botschaft kam, in der Tat, Herr Holzkamp lehnt den Ruf ab. Und es ist dann die Stelle mit dem Kollegen Mummendey besetzt worden, der von da an bis zu seiner Emeritierung an der Fakultät geblieben ist und ein fester Bestandteil der Fakultät und des professoralen Sportbetriebs war. Kruse: Gab es noch andere schwere Fakultätskonflikte, die Dir in Erinnerung geblieben sind? Tyrell: Also, von der Holzkamp-Geschichte, trage ich vielleicht noch grade etwas nach, weil die Antwort Nein ist. Es war ein publizistisch begleiteter Konflikt. Ich habe damals noch in Münster wohnend mehrere Sendungen oder mehrere Kurzbeiträge zumindest oder Kommentare dazu im WDR 3, im Feuilleton dort gehört. Es war ein auch die Universität insgesamt betreffender, von vielen Seiten, auch der linken Szenerie insgesamt, mit großem Interesse verfolgter Konflikt, der die Fakultät intern spaltete, das Rektorat in Nöte und Schwierigkeiten brachte. Das Ministerium sozusagen mittangierte in nicht geringem Grade. Und insofern – also als Konflikt mit beträchtlicher Publizität in diesem Sinne – war der Holzkampstreit dann doch wohl der einzige »schwere Konflikt«, den die Fakultät in ihrer Geschichte, wenn auch in ihrer Frühzeit, in dieser Drastik zu Wege gebracht hat. Mit einer massiv politisierten und ver-
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bissenen, aber argumentationsstarken studentischen Fraktion innerhalb der Fakultätskonferenz, aber auch bei weitgehendem Mitspielen des Mittelbaus und darüber hinaus. Danach ist auf dieser Ebene in der Fakultät nicht mehr konfligiert worden, auch wenn’s ›links/rechts‹ weiterging. Kruse: Würdest Du sagen, dass es wissenschaftliche oder persönliche Gegnerschaften innerhalb der Fakultät gab? Dass sich da vielleicht so gewisse Fraktionen herausgebildet haben, die über Jahre bestanden? Tyrell: Also, es gab insbesondere im Mittelbau, dem ich ja angehörte, über beträchtliche Zeit eine deutliche Fraktionierung; für die Studenten war die linke Positionierung ohnehin selbstverständlich. Und auch bei allen Personalangelegenheiten war das studentische Engagement in der Hinsicht schon geklärt. Für den Mittelbau aber galt eine relativ ausgeprägte Spaltung zwischen, also ich sag mal dezidierten Marxisten, politisch gut trainiert – Manfred Küchler war ein dahin gehöriger Name – und einer Gruppe, die sich eher links-liberal oder liberal jedenfalls begriff und die sich eher unter Druck sah, die aber mit Leuten wie Fritz Schütze oder auch Hans Haferkamp und so weiter, gut gerüstet war, und in der Anfangskonstellation der 1970er Jahre war diese Gruppe in der Fakultät gelegentlich sogar tonangebend. Sie verfolgte in Theorie und Forschung ihr spezifisches interpretatives Programm, Matthes war der Gesprächspartner im Lehrkörper, spielte in der Fakultätskonferenz eine relativ starke Rolle. Den Mittelbau gab es da auch homogen agierend. Es gibt die schöne Geschichte: der Dekan schlägt einen Haushalt vor, der Mittelbau schlägt einen anderen vor und setzt sich damit durch. So was gab es anfangs auch. Jedenfalls ist klar erkennbar: der Mittelbau war an fakultätspolitischen Entscheidungen stark beteiligt. Die Politisierung gehörte bei großen Teilen der Fakultät also fast zum Normalgeschäft. Die Fakultätskonferenz tagte zunächst ganztägig. Und da war die Stimmung noch teils noch eine im Gefolge von 1968, die sich da austobte. Die ›Veralltäglichung‹ organisiert von Ferber; er hatte das Zeug, die Fakultät erstens mit einer brillanten Formel, nämlich »organisierter Zeitverschwendung«, aber vor allen Dingen mit einer Entschlossenheit, die ab 12 Uhr die Fakultätskonferenz mit Rücktrittsdrohungen dauerkonfrontierte, die Fakultät zu zwingen, die Sitzungen auf die Zeit von 9 bis 1 zu beschränken. Das ist eine seiner großen Taten, die nicht unerwähnt bleiben sollten. Da war ich dabei. Kruse: Wie ist Deine eigene Forschung durch die Fakultät beeinflusst worden? Es ist ja bekanntermaßen eine große Fakultät, deutlich größer als die meisten soziologischen Institute im deutschsprachigen Raum. Hat die Kooperation mit Fachkollegen, Fachkolleginnen Deine eigene wissenschaftliche Arbeit beeinflusst?
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Tyrell: Das kann man, glaube ich, generell sagen. Hier war ein Ort, an dem vielfältig diskutiert worden ist. Das versteht sich von selbst, in den verschiedensten Kontexten. Aber die Fakultät, wie ich sie erlebt habe, war kein Ort intensivierter kooperativer Forschung oder des eng kooperativen Arbeitens unter Kollegen. Stattdessen war sie von meiner Beschreibung her immer ein Ort der Freiheit, der dem Einzelnen alle Chancen ließ, allerdings auf sich selbst gestellt. Also Dinge und Themen zu verfolgen, die ihn interessierten und die ihn lockten. Die Zeit der erzwungenen Kooperationen unter Drittmittelvorzeichen und so weiter, von der war die Fakultät zu ihren Anfangszeiten und bis in die 80er Jahre, und auch bis in die 90er Jahre noch relativ weit entfernt. Das gilt für viele, das gilt auch für viele in dem Sinne, also grade weil der Mittelbau dann doch Freiheiten hatte, die denen der Professoren eigentlich kaum nachstanden. Zumindest bei der fehlenden Zuordnung, die irgendwann natürlich aber dann doch hergestellt, aber später hergestellt wurde, aber zunächst mal auch dadurch. Das hatte seine Kehrseite und führte in einigen Fällen, ich erinnere mich daran gut, fast zu »Betreuungsdefiziten«. Dass man den Eindruck hat, Kollegen schieden aus, auf die nicht hinreichend geachtet worden war. Aber im Übrigen muss ich energisch sagen, ich hab für mich doch vorzugsweise nicht Anomie, wenn ich so sagen darf, sondern eher doch Freiheit verspürt. Und die auch jeder, der irgend wollte, für sich in Anspruch nahm. Und meine Forschungsthemen? Das war zunächst ein familiensoziologisches Interesse, immer so ein bisschen historisierend, das war dann sehr stark die klassische Soziologie. Das war dann später die Religionssoziologie. All das ist eigentlich an keiner Stelle fremdgesteuert, sondern das sind alles so Dinge, die sich irgendwie mehr oder minder von selbst ergaben. Und für die ich also keine Lizenzen brauchte, man publiziert dann. Und im Publizieren war ich so halbwegs erfolgreich. Das waren überwiegend dann Zeitschriftenaufsätze. Aber es war das, was stabilisierte und mich an den Themen hielt. Nirgendwo eigentlich waren es, wenigstens in den 70er und 80er Jahren, Arbeiten, von denen ich sagen könnte, sie sind in engster Kooperation oder in dichtem Gespräch mit irgendjemand anders erfolgt. Ich hab mich in der Fakultät durchweg eigentlich wohl gefühlt. Aber diese Freiheit, die sie einräumte in diesen Belangen, gehörte unbedingt dazu. Also, es war so der Versuch, sich über Publikationen auch im Hause seinen Erfolg zu machen, wenn ich so sagen darf. Kruse: Seine Reputation zu verstärken. Würdest Du sagen, man kann das verallgemeinern? Tyrell: Ich würde das in einem gewissen Maße verallgemeinern, ja. Kruse: Dann könnte man sagen, die Fakultät für Soziologie war zumindest forschungsmäßig im letzten Jahrhundert eine Fakultät der Individualisten?
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Tyrell: Ja, ich glaube, das wird man so sagen dürfen, ja. Natürlich gab es an bestimmten Stellen der Fakultät, wenn ich so sagen darf, verdichtete Milieubildung. Es gilt insbesondere für den, auch mit gewissen Sonderkonditionen angetretenen Praxisschwerpunkt ›Entwicklungsplanung und Entwicklungspolitik‹, also Evers und der ganze Kreis rundherum, Johannes Augel, also Südostasien und Lateinamerika mit vielerlei Verbindungen dahin, und gepflegten Beziehungen, die auch für Bielefeld sichtbar wurden, nachher auch mit dem, ich glaube, ersten Graduiertenkolleg, das die Fakultät hatte. Und der Kreis war relativ groß. Zumal in dieser Gegend sich dann auch noch die Frauenforschung ansiedelte, also mit Claudia von Werlhoff und anderen. Das war ein relativ verdichteter Raum, wenn ich so sagen darf. Den gab es auch anderswo, vielleicht kleinteiliger. Den gab es sicher in der Zeit, als Offe hier war. Da gab es eine enge Verbindung zu Johannes Berger. Hierher gehörte Christoph Wehrsig, der für Heinz Harbach und mich nachher ein Dritter im Bunde war, was den Einführungsbereich anging. Klaus Japp ist nachher dazu gestoßen. Auch da gab es eine Vernetzung, die dicht war, längeren Bestand hatte und die ihr intellektuelles Potential auch in dem Sinne hatte, dass sie anspruchsvolle Studenten anzog. Das kann man gar nicht anders sagen. Kruse: Wie war eigentlich die Stellung von Luhmann in der Fakultät in Bezug auf Studierende, in Bezug auf wissenschaftlichen Nachwuchs und in Bezug auf die Professorenkollegen? Aus Deiner Sicht? Tyrell: Ich kann es relativ einfach sagen. Für Luhmann war der Augenblick der Einigung zwischen, wenn es denn so war, Schelsky und dem Mittelbau in der Zuordnungssache, ein Moment, das ihn unglücklich gestimmt hat: Lockere Arbeitsgruppen, eher ungebundene Mitarbeiter und die Entscheidung definitiv gegen den persönlichen Assistenten. Darüber, dass das enttäuscht, geschmerzt hat, gibt es Äußerungen, die vor allem über Wolfgang Kröpp, den damaligen Dekanatsassistenten, auch bei mir angekommen sind. Also durchaus Enttäuschung, kein Mitarbeiter, kein persönlicher Mitarbeiter, kein Dauernahkontakt in die Fakultät hinein, wenn man das so sagen darf, also die Rolle, die André Kieserling dann später realisieren konnte, es dann die Zuordnung gab. Im Übrigen war es in der Frühzeit zunächst so, dass es mit Elmar Lange einen Mitarbeiter gab. Aber das war speziell auf die Reform der öffentlichen Verwaltung bezogen, nämlich das Projekt, das Luhmann mit Renate Mayntz zusammen betrieb. Und da war Elmar Lange sozusagen der Gehilfe der beiden, der vieles von der empirischen Arbeit da zu tun hatte. Nochmals: auf den Mitarbeiter hatte Luhmann wohl sehr stark gesetzt. Und wenn er sich gern als in der Fakultät isoliert beschrieb, dann war die Wunde, die das auch meinte, dieser Punkt. Ansonsten kann man sagen, dass Luhmann, was die Kollegen angeht – ich muss vorsichtig sein, aber es gab, glaube ich, in keinerlei Richtung in die Fakultät hinein eine engere Vernetzung, die sich in privatem Verkehr, regelmäßigen Besuchen oder gar gemeinsamen kleinen Festivitäten im Kol-
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legenkreis niederschlug. Also Interaktion gewissermaßen neben dem Fakultätsbetrieb, den hat es zumindest nicht mit hoher Frequenz oder mit hoher Intensität gegeben, so sehr Luhmann wohl bestimmte Kollegen mit Bildung, wie Theo Harder etwa, geschätzt und aufs Gespräch hin gemocht hat. Da erzähle ich eine kleine Episode. Luhmann pflegte eine Zeit lang, um von Ferbers Ausdruck noch einmal aufzunehmen, in die ›organisierte Zeitverschwendung‹ der Fakultätskonferenzen gern einiges an Kompaktliteratur mitzunehmen, als Haupt- oder Nebenbeschäftigung während der Sitzung. Dazu gehörte, dass er gerne mit Folianten auftrat und etwa Großausgaben von Thomas von Aquin mit in die Fakultätskonferenz trug. Dazu gehörte dann aber auch, dass Theo Harder, der Obermathematiker, aber des Altgriechischen in perfektem Maße fähig – er entstammte einem Theologenhaushalt – das dann ein bisschen zu imitieren und zu konterkarieren pflegte, indem er große Aristoteles-Bände in die Fakultätskonferenz mitnahm. Also diese Art von Imitation und Wettbewerb hat es auch gegeben. Beider Kontaktnahme war das zuträglich. Gut, Luhmann hatte, soweit ich da urteilen darf, auch zu Kaufmann ein recht freundschaftliches und respektiertes Verhältnis, das schon aus der Dortmunder Zeit stammte. Aber ich sehe unter Luhmanns Kollegen, von denen ja viele wie er über lange Zeit in der Fakultät blieben, niemanden eigentlich, der eine enge, freundschaftsnahe oder sonst engere persönliche Bindung an ihn gehabt/gepflegt hätte. Aber vielleicht übersehe ich auch Wesentliches. Da hätte sich mit der Assistentur vielleicht manches anders ergeben. Stattdessen ist Luhmanns Situation, wenn man jetzt die Lehre nimmt, grade in den 70ern und in den frühen 80er Jahren eher eine der doch relativen Isolierung. Bei aller Reputation, seit dem Habermas-Luhmann-Disput, in dem Suhrkamp-Band von 71, bei aller Reputation landesweit, war es so, dass der Zulauf an Studenten in der Fakultät für ihn eher ein sparsamer war. Luhmann ist gestartet mit einer Vorlesung zum Thema ›Interaktion‹, die Idee der Interaktion als kleinstes Sozialsystem. Das war 1970 und das war eine Vorlesung, die er richtig ausstaffierte mit Veranstaltungsplänen, mit großen Literaturangaben, mit Abfolgeskizzen des Gedankengangs und der Vorlesung und so weiter. Und das ist offenbar kein sehr großer Erfolg gewesen. Ich bin zuvor in Münster in Luhmanns Veranstaltungen gewesen, da gab es einen festen, stabilen Zulauf, aber auch keinen überwältigend großen, aber in Bielefeld war das kaum mehr. Und Luhmann wusste es dann so einzurichten, dass er es im Semester jeweils auf drei Veranstaltungen brachte. Eine am Montag ab 16 Uhr, dreistündig, eine zweistündige später gern eine Vorlesung am Dienstag um 16 Uhr, und dann ab 18 Uhr, das war in der Regel das anspruchsvollste Programm, und dahin stießen dann später gelegentlich auch Kolloquien. Etwa ein religionssoziologisches, an dem ich organisatorisch und planerisch sehr beteiligt war. Aber auch unabhängig davon war es so, dass insbesondere diese Dienstagsabendveranstaltung einen gewissen Zulauf hatten, aber eben weniger aus der Fakultät und von ihren Studenten, sondern sehr viel auswärtigen Zulauf. Das sah er sehr gern. Und da ging es gelegentlich durchaus auch spannend und lebhaft zur Sache. Da waren
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auch Leute, die ihm gelegentlich Begriffsvorschläge machten. Zum Beispiel ist in einer dieser Sitzungen dieser Begriff der ›Theoriearchitektur‹ ihm vorgeschlagen worden, den er sich dann zu eigen gemacht hat, und solche Dinge. Das war der Herr Bluhm aus Düsseldorf. Das gab es alles. Aber das war, wenn ich noch recht im Bilde bin, der Dienstagabend. Da war, je nach Thema auch, der Zulauf größer, erst recht, wenn es dann Kolloquien waren. Ich könnte mich täuschen, wenn ich das so auf Montag/Dienstag verteile, aber ich glaube, es war so angelegt, zumal er es nach der Vorlesung auch es gern sah, wenn die Verantwortung zunächst in der Sitzung dann auch in anderen Händen lag. Also Referate/Vorträge und so weiter. Die Vorlesungen selbst (samt der Aufnahmen und Kassetten, so dass man ihnen im Auto lauschen konnte) lasse ich mal beiseite. Kruse: Was jetzt den wissenschaftlichen Nachwuchs anbetrifft, da haben sich doch einige dann an Luhmann orientiert? Tyrell: Ja, durchaus, aber zunächst eben in kleinerer Zahl. Was so ›die Intellektuellen‹ unter den Studierenden anging, die fanden eine Zeitlang, in den 70er und 80er Jahren den Weg eher zu Offe und Berger, zu linker Gesellschaftstheorie. Ein Magnet war Luhmann für sie nicht. Und er tendierte ohnehin nicht dazu, junge Intellektuelle an sich zu binden oder Schüler zu haben. Das lag ihm auch eher fern. Aber es gab in den 1970ern durchaus einen kleinen, teils einzelgängerischen Kreis, der, wenn ich so sagen darf, systemtheoretisch infiziert war und sich selbst an Luhmann band. Es gab natürlich einige, ich nenne jetzt als erfolgreichsten Schüler (unter Vorbehalt) in jener Zeit des schwachen Zulaufs nur Rudolf Stichweh, Luhmanns wegen nach Bielefeld gekommen, von Berlin nach Bielefeld gewechselt. – Ach so, ich kann vielleicht von Luhmann noch zwei, drei weitere Dinge sagen, die es festzuhalten lohnt. Dahin gehört, das ist auch bekannt, dass er mit Methode zu verhindern wusste, Dekan zu werden. Aber andererseits gilt, dass er andere Selbstverwaltungsaufgaben in der Fakultät aber sehr gewissenhaft wahrgenommen hat, also etwa längere Zeit als Vorsitzender des Prüfungsamts, zu anderer Zeit auch des ›Ausschusses für Lehre‹, abgekürzt ALe und später dann Lehrkommission; da – und auch im Prüfungsamt – bin auch ich des Längeren tätig gewesen, und da amtierte er zügig, korrekt und genau, am Ende der Sitzung das Protokoll gleich ins Mikro sprechend. Bürokratisches oder die latent rechtlichen Dinge im Prüfungsamt gingen ihm eben leicht von der Hand. Dazu war er auch vier Jahre lang Herausgeber der Zeitschrift für Soziologie, das gehörte auch dazu. Und auch das hat er auf bemerkenswerte Weise gemacht, bemerkenswert deshalb, weil er unter allen Herausgebern der ZfS einer Statistik von Stefan Hirschauer zufolge der großzügigste Urteiler war. Niemand sonst hat so generös votiert und so häufig also eher für Annahme oder für bedingte Annahme plädiert, wie er das getan hat. Zumindest wenn der Hirschauer-Befund stimmt. In der Theorie dagegen war ihm das Nein viel näher als das Ja.
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Kruse: Wie war eigentlich das Verhältnis von Luhmann und Parsons? Also in den 70er Jahren hat ja Parsons auch noch gelebt. Der war ja am Ende seines Lebens noch in Heidelberg und wurde dort ausgezeichnet und gefeiert. Und ist dann bald gestorben. Tyrell: Das ist eine schöne Vorlage im fußballerischen Sinne, die ich gerne aufnehme. Es ist, von Luhmanns Zeit in Harvard abgesehen, ein kurzer Briefwechsel aus der Mitte der 60er Jahre erhalten, der erkennen lässt, dass das Verhältnis zwischen Luhmann und Parsons ein eher sprödes war; Parsons wirkt da dominant, fast patriarchalisch. Der Soziologentag zu Max Webers hundertstem Geburtstag 1964 gab den Anlass. Luhmann schrieb nachher einen kleinen Brief und darin, er habe Parsons in Heidelberg von Ferne gesehen; es folgte eine kleine Skizze mit Ideen zum Buchvorhaben »Grundrechte als Institution«. Und Parsons reagiert darauf etwas schroff, »warum Sie sich nicht zu mir gekommen?« Jedenfalls hat man diesen Brief als einziges Luhmann-bezügliches Stück in Parsons’ Hinterlassenschaft gefunden. Aber wie das Verhältnis beider zuvor in Harvard war, dazu wage ich gar nichts zu sagen. Auf Luhmanns Seite sicher zurückhaltend und scheu. Weiterhin wird man sagen dürfen: in den 1960er Jahren ist Parsons Universalmonarchie in der Soziologie noch völlig ungefährdet. Und Luhmann setzt seinerseits ja auch auf Parsonianischem Boden an, wie ja jeder weiß; das Terrain ist von Parsons in gewisser Weise systemtheoretisch bereitet, aber Luhmann teilt bekanntlich nicht nur Anschluss, sondern auch Differenz mit: ›funktional-strukturell‹ statt ›strukturfunktionalistisch‹. Und dazu gehört dann im Weiteren eben eine eigene deutsche Erfolgsgeschichte. Ich höre jetzt an dieser Stelle mal auf und komme auf die Story von 1979 zu sprechen, die ich erzählen möchte. Die Story setzt etwas Wohlbekanntes voraus: den Absturz von Parsons, den unglaubliche Absturz und Reputationseinbruch von Parsons in den 1970ern hat etwas Spektakuläres und ist selber fast ein zu untersuchendes Reputationsschadensphänomen. Aber wie auch immer – 1979: da jedenfalls hat die Universität Heidelberg, die Parsons im Jahr 1929 ja auf sehr leichte Art, wie man heute weiß, eine deutsche Promotion vermittelt hatte, den 50. Jahrestag dieser Promotion gefeiert. Sie hat – Wolfgang Schluchter war das vor allem – Jahrestag der Promotion zum Anlass genommen für eine Ehrenpromotion. Und da versammelte sich, was zumindest in Deutschland auf dem Feld der Soziologischen Theorie sozusagen Rang und Namen hatte und bildete einen Kreis um Parsons herum, in dem Parsons sich offenkundig ausgesprochen wohl gefühlt hat, in der er sich als Großtheoretiker geehrt und reputationsmäßig restituiert empfinden konnte. Von den Dingen in Heidelberg (Anfang Mai), die ja publiziert sind, muss ich jetzt nichts weiter sagen, außer: Luhmann war dabei und auch Habermas. Von Heidelberg führt der Weg der Erzählung nach Bielefeld, er führt über München: denn in München, wo 1920 Max Weber verstarb, ist Parsons gestorben, wenige Tage, wenige Tage nach der so erfolgreich verlaufenen Heidelberger Tagung. Der Kreis, der sich da zusammengefunden hatte, muss auch in München noch beisammen gewesen
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sein. Folgt man den Worten von Parsons’ Witwe, so ist Parsons eines ungewöhnlich glücklichen Todes, eines Todes in Euphorie gestorben. Ungefähr so hat es Luhmann berichtet. Nun war es so, dass ursprünglich nach Heidelberg aber nicht nur ein Besuch in München schon aus Weber-Gründen vorgesehen war, sondern dass Parsons weiterreisen sollte und -gereicht werden sollte, in jedem Fall nach Düsseldorf, wo Richard Münch residierte, der sich ja ein Stück weit zum Nachfolger und intellektuellen Erben von Parsons aufgebaut hatte, in den 70er Jahren schon. Und der Weg sollte dann weiter führen nach Bielefeld, wo Richard Grathoff die einladende Person war, der Gastgeber sein sollte. Grathoff war deshalb an Parsons stark interessiert, weil er die amerikanische Fassung des Briefwechsels zwischen Parsons und Schütz herausgebracht hatte. Und an Archiven und Hinterlassenschaften in dieser Art in besonderer Weise interessiert war. Und das führte dann wohl an einem Sonntag in Oerlinghausen dazu, dass Grathoff nach dem Tode von Parsons die Fakultät zu sich einlud, dies gemeinsam mit seiner Frau, die eine wunderbare Gastgeberin und Organisatorin auch dieser Einladung war. Viele kamen, und die Dinge waren dann so arrangiert, dass Grathoff der Gastgeber war und Luhmann aus Heidelberg und München berichtete. Man saß in einem großen Kreis und ich kann gar nicht anders sagen, dass Luhmanns Berichterstattung, sein Erzählen, das den wissenschaftlichen Gang der Tagung miteinbezog, mir in bleibender Erinnerung ist. Ungewöhnlich eindringlich, zugleich feinfühlig und voller Takt ist mir die Schilderung der Umstände von Parsons’ Tod in Erinnerung, des Sterbens des großen Theoretikers. Ich habe Luhmann nie in solcher Kultiviertheit und, wie soll ich sagen, Mitmenschlichkeit sprechen hören wie da, zumal wo es um die Trauer der Witwe ging. Das war für die Zuhörer sehr verbindend, irgendwie ein Zusammensein der besonderen Art, von dem ich gar nicht weiß, wie es in anderen Köpfen auf bewahrt wird. Dennoch: für die Fakultät, die sich ja sonst eher gern als anomisch und kohäsionsschwach beschrieb, war es ein Vorkommnis von ganz anderer Art. Kruse: Nun möchte ich noch eine Frage stellen zur soziologischen Theorie. Ein Merkmal der Bielefelder Fakultät ist ja auch, dass die Theorie relativ stark und relativ breit gewesen ist. Wie würdest Du die Entwicklung der soziologischen Theorie an der Bielefelder Fakultät von den Anfängen bis beinahe heute sehen? Tyrell: Ich würde zunächst sagen, dass es am Anfang in dieser Hinsicht zweierlei Sichtbarkeit gab. Es betrifft natürlich einerseits mit deutlicher Theoriedezidiertheit die Systemtheorie, weitgehend ein Einmannunternehmen, mehr und mehr mit Bielefeld assoziiert. Diese Bielefeldverknüpfung hat sich für die gesellschaftstheoretischen Ambitionenen von Johannes Berger und Claus Offe in ihrer Bielefelder Zeit nicht eingestellt, eher mit den Arbeiten von Franz-Xaver Kaufmann. Das sind ganz sicher Lichtblicke der Bielefelder Szenerie gewesen. Übersehen wird andererseits aber meist, dass die Fakultät auch
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etwas Bielefelderisches verloren hat, das in ihr in den 70er Jahren in besonderer Weise geblüht hat. Und das ist das, was Joachim Matthes das ›interpretative Paradigma‹ nannte und ein breites Spektrum von Forschungsrichtungen einbezog (vom Symbolischen Interaktionismus bis zur Ethnomethodologie). Des Näheren meine ich die »Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen«, auch wenn der Doppelband, der sich mit ihr verbindet, ein bisschen unleidlich wirkt und technisch irgendwie was Unfertiges hat1. Die zwei Bände, wo sie Namen nennen, stellen zwar Matthes ganz nach vorn, aber der Spiritus Rector des ganzen Unternehmens war doch Fritz Schütze. Ihm ging es auch um Import, den Import aller seinerzeit neueren interpretativen Forschungsaktivitäten und -richtungen in den USA. Verknüpft war das auch mit mehreren ZiF-Konferenzen. Immerhin waren Goffman, Cicourel, Garfinkel u. Co. hier in Bielefeld. Diese Gruppe war, auch wenn es noch nicht so richtig auffiel, ein enormes Potential, Potential, das zunehmend in die qualitative Forschung drängte. Es ist dann aber leider so gewesen, dass bei dem Weggang von Matthes nach Erlangen (1975) ein Teil der Gruppe mitging. Fritz Schütze selbst – da schon der Erfinder des narrativen Interviews hierzulande, mehrfach in Kalifornien bei Anselm Strauss forschungsaktiv – hat dann nach einem absolut unselig verlaufenen, wiewohl erfolgreichen Habilitationsverfahren die Fakultät geradezu fluchtartig in Richtung Kassel verlassen. Da war der Bielefelder Arbeitsgruppenfaden vollends gerissen. Immerhin das Bielefelder Nebeneinander von quantitativen und qualitativen Methoden in der Methodenausbildung der Fakultät hat hier wohl seine Wurzeln. Wobei sich die qualitative Seite natürlich nachher und auch theoretisch sehr energisch mit Karin Knorr und mit Stefan Hirschauer zurückgemeldet hat. Kruse: Und Grathoff ja auch? Tyrell: Ja, aber Grathoff war nun grade in theoretischer Hinsicht nicht so übermäßig produktiv. Klar, er ist ein Luckmann-Schüler und war mit Konstanz eng liiert, von wo er ja auch zu uns kam. Und als empirisch-qualitativer Forscher ist er kaum aufgetreten. Der Bielefelder Reputation hat er nicht die meisten Punkte hinzugefügt. Kruse: Dann gab’s ja auch lange Zeit eine unter Studenten sehr populäre Marxistische Soziologie so. In Richtung Marxismus zumindest oder von Marx inspiriert. Soziologie vor allem mit Berger und Offe. Tyrell: Das war eine Zeitlang sicher sehr erfolgreich und ist in der Lehre bedient worden, weniger allerdings in dem Fach ›Politische Ökonomie‹, das wir 1 | Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, herausgegeben, verfaßt und übersetzt von einer Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologe, 2 Bände, Rowohlt: Reinbek 1973.
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ja auch hatten und das mit Peter Schöber besetzt war. Andererseits kann man – mit aller Vorsicht – auch für Johannes Berger, besser aber noch meinen verstorbenen Kollegen Christoph Wehrsig und auch für Klaus Japp sagen, dass mehr oder minder vieles von den marxistisch fundierten gesellschaftstheoretischen Orientierungen in den Luhmann-Sog hineingeraten ist. Kruse: Diese Theorieströmungen haben hier ja auch teilweise parallel existiert. Wie haben die eigentlich koexistiert? Waren die eher für sich gewesen oder haben die auch eine Theoriedebatte geführt? Das war ja von Matthes auf dem Soziologentag 1976 angeregt worden. Tyrell: Vielleicht ein Wort zu dem Theorievergleichsvorhaben. Joachim Matthes ist daran gescheitert, dass er im holländischen Wassenaer ein großes Buch zum Theorienbestand und -vergleich in der Soziologie schreiben wollte. Das zielte auch auf die Lehre und hieß im Grünen Buch vorlesungsbezogen »Typen und Strukturen soziologischer Theoriebildung«2. Matthes war von seinen Theorieprämissen her sehr skeptisch gegenüber der Systemtheorie und ihren Erfolgen. Und Matthes war einer der wenigen, die, das kann man auch an seinen Publikationen sehen, Luhmann gegenüber Konkurrenz im Sinn hatten. Und das Scheitern an dem Theorie-Buchvorhaben hat wohl mit der Fortbewegung weg von Bielefeld nach Erlangen zu tun. Matthes hat sein Theorievergleichsprogramm in Bielefeld, wie gesagt, im Lehrbetrieb der Allgemeinen Soziologie etablieren wollen. Aber das hat sich nicht ergeben. Und auch der Soziologentag von 1976 blieb, wenn ich’s recht sehe, ohne Weiterungen. Und was nun in der Fakultät den Theorienpluralismus und die Systemtheorie darin anging, so koexistierte man, ohne viel zu kommunizieren. Man koexistierte, Luhmanns Bücher, immer neue, las man oder las man nicht; aber auf ihr Erscheinen fakultätsintern zu reagieren, ihnen Kolloquien oder Seminare oder Diskussionsrunden zu widmen, das war unüblich; es mag Ausnahmen gegeben haben. Ich will auch nicht ausschließen, dass es 1984 auf »Soziale Systeme« hin eine solche Ausnahme gab oder auch auf die »Wissenschaft der Gesellschaft« hin. Aber vor Augen ist mir nichts, nur ein Kolloquium zur »Kunst der Gesellschaft« – das aber bald nach Luhmanns Pensionierung und zum Zeichen, dass man die Verbindung aufrechterhalten wollte. Aber ansonsten, um es zu wiederholen: zu den Freiheiten des Fakultätslebens gehörte, dass man sich nicht für die Kollegen und ihr wissenschaftliches Tun und Leisten interessieren musste, es sei denn, es ging um Stellen und Stellenbesetzungen. Schließlich und nochmals zu Luhmann: der Zulauf, den es seit den 80ern gab, der wuchs Luhmann wohl weniger aus dem Fakultätsnachwuchs zu als von außen her, wozu auch Italien gehört: Elena Esposito; auch Dirk Baecker etwa, 2 | Mit »Grünem Buch« ist gemeint: Klaus Hurrelmann/Gerhard Trott (Hg.), Studienreform an der Fakultät für Soziologie. Dokumentationen und Erläuterungen der Lehrpläne und Prüfungsordnungen, Bielefeld 1973.
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der ja lange hier war, und auch André Kieserling stießen als Graduierte von andernorts her, intellektuell attrahiert, dazu. Im Übrigen gab es da noch die Nachbarfakultäten, LiLi zumal, an denen Luhmann seine systemtheoretische Anhängerschaft hatte. Kruse: Noch eine letzte Frage. Du hast ja über eine sehr lange Zeit auch die Entwicklung der Studierenden verfolgen können, unter anderem als Studienberater. Hattest Du da auch eine besondere Nähe dazu? Wie würdest Du sagen, wie haben sich die Studierenden in dieser Zeit als Typus entwickelt? Gab es am Anfang eine starke Protestkultur, und wie haben sich dann die Studierenden weiter entwickelt? Tyrell: Die Protestkultur war, schon abgeschwächt, noch im Raum, aber die Fakultät selbst und direkt kein Adressat davon. Es gab über lange Jahre eine starke linkspolitisierte Studentenschaft, aber das war der organisierte Teil, bis in die Fachschaften hinein. Das war eine Position, die in der Fakultätskonferenz durchweg mehr oder weniger präsent war, oder auch in den Dekanaten mit ihren Studentenvertretern. Es ist klar, da war immer eine linke Präsenz, die aber den Charakter von lautstarker Protestkultur wohl nur in der Frühzeit hatte: Holzkamp. Was laut und links angefangen hatte, wurde nach und nach zunehmend leise. Und gerade auch der Lehrbetrieb wurde in diesem Sinne leise. Vor allem aber setzte sich dann in der Fakultät ein Bild des Lehrbetriebs durch, das diesen als bleiern, unengagiert und für Lehrende wie Lernende unbefriedigend beschrieb. Ein Dauerthema – gerade vor dem Hintergrund didaktisch euphorischer Anfänge; viel Programm – grünes Buch usw. Nicht, dass wir nicht gute und exzellente Studenten gehabt hätten. Nicht, dass es nicht engagierte Lehrende gab. Obendrein: die Praxisschwerpunkte! Aber irgendwie war der normale Lehrbetrieb dann eben doch in die Normalitäten der alt-üblichen Lehrformen hineingezogen, also vom Typ Referatbetrieb, der entscheidende Lehrverantwortung abwälzt auf vielfach schlecht vorbereitete Studierende, sie den Stoff vortragen ließ und, und, und. Kruse: Es gab ja damals keine richtige Zwischenprüfung im heutigen Sinne, sondern es gab so ein Kolloquium mit mehreren Studierenden. Tyrell: Ja, das war die Anfangsphase. Und dahinter steckte eigentlich eine Idee, in der die ursprüngliche Universitätskonstellation bzw. Universitätsplanung noch nachlebte. Die Konzeption des 1:15. Ein Professor mit einer relativ stabilen Zuständigkeit für 15 Studierende. Das war so die Schelsky-Idee am Anfang, aber die Massenuniversität ging darüber hinweg, das ist klar. Aber in der frühen Form der Fakultät gab es die eigentlich schöne Idee, oder vielleicht auch zu schöne Idee, man könne doch auf eine Zwischenprüfung als Prüfung (vor dem Einstieg ins Hauptstudium) und aus der Sache ein protokolliertes Beratungsgespräch machen. Ein Beratungsgespräch, in dem die Studierenden
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(drei oder vier jeweils) sehr detailliert auf den Stand ihres Studiums blicken, sich mit zwei Lehrenden detailliert darüber verständigen, wo sie stehen, was sie im Hauptstudium vorhaben, aber auch was sie gemacht haben und so weiter und so weiter. Meist war’s ein 2.4, aber ohne Weiterungen, ohne Wiedersehen. Durchfallen konnte man da nicht. Das war eine irgendwie schöne Idee, die aber ohne den Ernst, den eine Prüfungssituation sonst hat, auskommen musste. Da hat es sicher viel guten Willen und auch viele gute Gespräche gegeben. Aber eben auch die beiderseitige Tendenz zur Lustlosigkeit und Ähnlichem, weil die Studenten (mit dem Abitur im Kopf) eben nicht unbedingt eine unverbindliche Beratungskonstellation wie diese goutieren mochten. Für die Lehrenden war die Sache vor allem da prekär, wo sie auf besonders schwache, unzulänglich ›soziologisierte‹ Studierende trafen, denen sie den Weg ins Hauptstudium kaum sperren konnten. Ferne Zeiten! In den 80ern wohl ist die Prüfungsordnung dann revidiert worden. Ähnlich ist es einer anderen schönen Idee ergangen, der nämlich, dass die Studierenden sich gegen Benotung der Diplomarbeit entscheiden konnten, und das war flankiert von einer Grundstimmung, die das präferierte und als fakultätsloyal stützte. Die Fakultät setzte auf ›das Fortschrittliche‹ ihrer Ordnung und in der Sache auf die Gutachten bzw. die Kultur der Gutachten. Und die Idee war: die künftigen Arbeitgeber bekommen die Gutachten über die Diplomarbeit in die Hand und wissen dann viel mehr von ihren soziologisch diplomierten Bewerbern. Es liegt soziologisch auf der Hand, dass das eine Fehlkalkulation war: die »Knappheit der Zeit« und der Eindruck, die Entscheidung für Nichtbenotung sei vermutlich nur die Abwahl einer drohenden eher schlechten Note. Die weitgehende Zurückschneidung solcher progressiv-reformfreudigen Momente an ihrer Prüfungs- und Studienordnung, den frühen 70ern entstammend, hat die Fakultät als ganz normale Organisation vollzogen, die ihre Regeln den Gegebenheiten anpasst; kaum Widerstand und auch keine Trauer über den Verlust von Identitätsmerkmalen, wie sie das Selbstverständnis der Fakultät (das Grüne Buch) in den Jahren zuvor durchaus mitbestimmt hatten. Kruse: Schönen Dank für das Interview, Hartmann. Tyrell: Ich danke auch.
Von Freud und Leid einer benachbarten Einrichtung Peter Weingart im Gespräch mit Simone Rödder und Niels Taubert
Peter Weingart hat in Freiburg, Berlin und Princeton, NJ, Soziologie, VWL, BWL und Staatsrecht studiert. Er war seit 1973 Professor und seit 1981 Lehrstuhlinhaber für Soziologie mit dem Schwerpunkt Wissenschaftssoziologie und Wissenschaftsplanung. Seit 1993 bis zu seiner Emeritierung 2009 war er zudem Direktor des Instituts für Wissenschafts- und Technikforschung. Seit 2015 hat er den »South African Research Chair in Science Communication« an der Universität Stellenbosch inne. Simone Rödder hat in Mainz und Glasgow Biologie und in Bielefeld Soziologie studiert und bei Peter Weingart 2008 mit einer wissenschaftssoziologischen Arbeit promoviert. Niels Taubert hat in Hamburg und Bielefeld Soziologie studiert und war mit Peter Weingart über eine Vielzahl von Projekten verbunden.
Rödder/Taubert: Bielefeld gehört ja zu den großen Zentren der Soziologie. Wenn Du die Fakultät für Soziologie mit kleineren Einrichtungen vergleichst, welchen Unterschied würdest du als Erstes nennen? Weingart: Bielefeld ist groß und die anderen sind klein. Also, was Bielefeld auszeichnet, beziehungsweise was die mit Größe verbundenen Probleme sind, ist, dass es von Anfang an nicht leicht war, innerhalb der Professorenschaft und auch mit den wissenschaftlichen Mitarbeitern jeweils Konsens zu finden. Es hat von Anfang an Spaltungen gegeben. Die waren in den 1970er Jahren, als ich hergekommen bin, im Wesentlichen ideologischer Natur. Da gab es noch die Rechts-Links-Teilung, später hat sich das dann eher so in ad-hoc-Probleme verlagert. Dann ging es um Theorie gegen Methoden zum Beispiel, oder Qualis gegen Quantis.
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Rödder/Taubert: Es ist interessant, dass Du als Erstes Konflikte nennst, wenn Du die Besonderheiten einer großen Einrichtung mit denen einer kleinen vergleichst. Weingart: Das bringt einfach die Größe mit sich. Wir hatten am Anfang 26 Lehrstühle, glaube ich. In der Größenordnung bewegte sich das, und die Fakultät war stolz darauf, eine der größten Fakultäten Europas zu sein, wenn nicht überhaupt die größte soziologische Fakultät. Das bringen natürlich solche heterogenen Strukturen mit sich. Rödder/Taubert: Erlaubt eine so große Fakultät innerhalb der Professorenschaft eine gewisse interne Arbeitsteilung? Dass es differenzierte Karrieren gibt, die des Aushängeschild-Theoretikers, aber auch die des- oder derjenigen, die freiwillig länger im Amt des Dekans oder der Dekanin bleibt? Weingart: Ja, es galt für Bielefeld von Anfang an, dass die Größe der Fakultät dazu führt, dass die Binnendifferenzierung schärfer ist und dann entlang solcher Kriterien verläuft. Anfangs war sie vielleicht eher politisch motiviert, später dann entlang der innerdisziplinären Strukturen und Interessen. Rödder/Taubert: Du bist zur Gründung der Fakultät für Soziologie, oder ein bisschen davor, aus Amerika gekommen. Was hat die Erfahrung mit einer amerikanischen Universität bedeutet für Deinen Blick auf die Fakultät für Soziologie und auch auf die Universität Bielefeld? Weingart: Ich war 1967/68 in Princeton und bin dann zurückgegangen an die FU Berlin, um zu promovieren. Ich hatte das Angebot von meinem Doktorvater Otto Stammer, dass er mich, wenn ich es denn fertigbringen würde, in zwei Jahren promovieren würde. Genauso haben wir das gemacht, ich war praktisch fertig, als ich einen Job übernommen habe in dem damaligen Wirtschaftswissenschaftlichen Institut, dem Gewerkschaftsinstitut. Während dieser zwei Jahre in Düsseldorf habe ich nach einem Verlag für die Dissertation gesucht, und auf diese Weise bin ich an Schelsky gekommen, der damals den Bertelsmann Universitätsverlag gegründet hatte. Das schien mir die ideale Plattform zu sein. Schelsky lud mich zu einem Vortrag ein, ich besuchte ihn in Münster und habe dann von ihm mehr über Bielefeld erfahren. Ich wollte zurück an die Uni, weil mir die Gewerkschaft nicht gefiel und war deshalb interessiert. Man muss sich ja daran erinnern, Bielefeld war eine Reformuniversität in diesen bewegten Jahren, Ende der 60er und bis in die 1970er Jahre war das, dass die Universitäten unter den Studentenprotesten gelitten haben. Das bedeutete, dass eine Menge Leute nach Bielefeld kamen, die einen sehr guten Ruf hatten, die normalerweise leicht an anderen Universitäten hätten landen können, oder auch gelandet sind. Zum Beispiel Böckenförde als Jurist, oder von Weizäcker als Ökonom. Also mir wurde durch Schelsky nahegebracht, dass speziell die Fakul-
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tät für Soziologie in Bielefeld eine besondere Rolle spielen würde und aufgrund ihrer Größe und Ausrichtung einmalig in Deutschland war. So wurde Bielefeld sehr attraktiv, um als Soziologe dahin zu gehen. Rödder/Taubert: Und so auch für Dich. Weingart: Meine Frau, als wir nach Bielefeld kamen, sagte: »In dieser Stadt kann ich nicht leben«. Das lag auch nahe, wenn man aus dem Bahnhof herauskam. Aber gleichwohl war es dann doch attraktiv, an diese Fakultät zu kommen, weil es die beste soziologische Fakultät in Deutschland war. Rödder/Taubert: Die spezielle Soziologie, die Du dann viele Jahre in Bielefeld vertreten hast, war die der Wissenschaft. Die Wissenschaftssoziologie hat neben einem innersoziologischen auch mehrere interdisziplinäre Referenzpunkte. Wie würdest Du das Verhältnis zwischen beiden beschreiben, den Bezug zu anderen wissenschaftsreflexiven Fächern versus den Bezug zur Soziologie? Weingart: Innerhalb der Soziologie war die Wissenschaftssoziologie immer eine kleine Nummer. Sie hat nie eine Rolle wie die Sozialstrukturanalyse, die Methoden oder die Organisationssoziologie gespielt. Durch die Zuordnung meines Lehrstuhls, beziehungsweise anfangs der C3-Professur, zu einem so genannten ›Praxisschwerpunkt‹ war nochmal eine Sonderstellung gegeben, durch die die Wissenschaftssoziologie in der Gesamtfakultät eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Das hat sich geändert, einerseits dadurch, dass der Praxisschwerpunkt im Lauf der Zeit erfolgreich war und auf alle Fälle sehr stabil. Dadurch haben wir über die Jahre hinweg, so sehe ich das heute, eine Sonderstellung erlangt, die einerseits im Abseits war, andererseits aber an Bedeutung gewonnen hat. Die Bezüge der Wissenschaftssoziologie zu anderen Disziplinen sind durch den Praxisschwerpunkt viel stärker gewesen, als das für die Soziologie sonst gilt, der Bezug zur Wissenschaftstheorie, der Bezug zur Wissenschaftsgeschichte, aber auch der Blick aus der Perspektive der Wissenschaftssoziologie auf andere Wissenschaften. Rödder/Taubert: In dem Fall haben also die institutionellen Strukturen die interdisziplinäre Zusammenarbeit befördert? Weingart: Ja, wir hatten den Auftrag institutionell vorgegeben, mit anderen Wissenschaften zusammenzuarbeiten. Schelsky, dem ich, wie schon gesagt, verdanke, dass ich nach Bielefeld gekommen bin, obwohl Schelsky gegen meine Ernennung gestimmt hat in der ersten Abstimmung, in der zweiten Abstimmung dann die einzige Stimme dagegen war, der hat mich dann zu sich gebeten und gesagt: »Herr Weingart, in aller Freundschaft, das war nicht gegen Sie gerichtet, aber ich wollte für den Praxisschwerpunkt jemanden haben, der
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näher an der Praxis ist. Und insofern, da das ja jetzt nicht so gekommen ist, möchte ich Ihnen mit auf den Weg geben: Haben Sie immer die Praxis im Auge.« Und das hab ich auch beherzigt, ich hab auch keinen Groll gegen ihn gehabt. Das war eben Auftrag des Praxisschwerpunkts und wir haben dann von Anfang an Leute zum Beispiel aus den Ministerien geholt, um den entsprechenden Kurs zu lehren, es gab einen curricular vorgeschriebenen Kurs ›praktische Wissenschaftspolitik‹. Dadurch haben sich eine Menge Verbindungen in die Wissenschaftspolitik ergeben. Zum Beispiel Dorothee Dzwonnek, die später viele Jahre Generalsekretärin der DFG war, hat damals in diesem Rahmen bei uns Lehrveranstaltungen abgehalten. Rödder/Taubert: Du hast also den Praxisbezug stark auf die Politik ausgerichtet. War dieser Fokus auf Politik und Politikberatung das, was Schelsky mit Praxis meinte? Weingart: Ja, das kann ich wohl unterstellen. Schelsky hatte eine konkrete Vorstellung davon, was mit den Praxisschwerpunkten zu machen sei. Es gab ja drei, Mathematisierung der Einzelwissenschaften, Lateinamerikaforschung und Wissenschaftsforschung, wobei sich das damals noch Wissenschaftswissenschaft nannte, das war die erste Formulierung. Für die zwei letztgenannten, Lateinamerika und Wissenschaft, hatte er zwei Leute im Auge, die er schon lange Jahre gefördert hatte. Der Lateinamerikaforscher, der wurde dann da installiert und dann gab es einen zweiten, das war ein Bildungsforscher, den hatte er eigentlich für den Praxisschwerpunkt Wissenschaftsforschung im Auge. Das muss man im Hinterkopf haben, wenn man darüber nachdenkt, was er unter Praxis verstanden hat, aber ansonsten kann man sagen, dass für ihn der Bezug zur Politik und insofern auch zur Politikberatung wohl das Wichtigste war. Rödder/Taubert: Du betonst die Bedeutung des Praxisbezuges. Wie sah denn das Verhältnis zur Fakultät aus, gab es da auch Beziehungen zu anderen Schwerpunkten, zu anderen Bindestrich-Soziologien? Weingart: Es gab einen Bezug zur Hochschulforschung, allerdings nicht in der Soziologie, sondern in der Pädagogik. Wir haben eine Zeit lang zusammen das Curriculum bestritten. Und dann habe ich einen Fehler gemacht, indem ich darauf hingearbeitet habe, dass wir uns von den Hochschulleuten trennen. Diese unsinnige Trennung zwischen Wissenschaftsforschung und Hochschulforschung wird heute wieder zurückgeholt in der Gründung des DZHW (Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung in Hannover, Anm. d. Red.). Damals haben wir das gemacht, weil das Curriculum zu voll schien und die Studierenden auch nicht zufrieden damit waren. Außerdem haben wir geglaubt, dass das Programm der Wissenschaftsforschung nicht voll zur Entfaltung kommen würde.
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Rödder/Taubert: Das heißt, die stärkste Zusammenarbeit war in der Lehre, Curriculum wurde gemeinsam bestritten, das sind ja die Lehraktivitäten innerhalb des Studiengangs Soziologie? Weingart: Ja, das kann man sagen. Das Interesse der Soziologie an der Wissenschaftsforschung war immer gering. Innerhalb der Fakultät hat es keine dauerhaften Beziehungen gegeben, die über die ganze Zeit hinweg gelaufen wären. Rödder/Taubert: Was jetzt den Universitätsschwerpunkt (im folgenden USP) angeht war der nächste Schritt aus der Sicht der institutionellen Geschichte die Gründung des Instituts für Wissenschafts- und Technikforschung (im folgenden IWT). Was waren die Gründe? Weingart: Von Anfang an war klar, dass eine Schwachstelle in der Organisation darin bestand, dass die Universitätsschwerpunkte keine formale und abgesicherte Position innerhalb der Universität hatten, das war immer unser Problem. Meines Erachtens hat auch Schelsky nicht gesehen, dass das nicht richtig funktioniert. Infolgedessen habe ich, als ich Geschäftsführer war, dann auch in der Folgezeit immer wieder versucht, das zu ändern und den USP formal zu einem Institut umzuwandeln. Das stieß regelmäßig auf den Widerstand des Rektorats, insbesondere Grotemeyers, der das rundherum ablehnte und die Priorität der Fakultäten hochhielt. Da gab es überhaupt kein Verständnis dafür, wie dieses Commitment zur Interdisziplinarität, das zentraler Teil der Schelskyschen Universitätskonzeption war, organisatorisch abgesichert werden sollte. Darüber hatte niemand nachgedacht. Rödder/Taubert: Welche Gelegenheitsstruktur ermöglichte es dann, das Institut zu gründen? Weingart: Die Situation änderte sich für kurze Zeit als Karin Knorr, die Mitglied im USP war, im Rektorat saß. Sie machte den Vorschlag, wir hatten das natürlich abgesprochen, dass es zu einer formalen Institutsgründung kommen sollte. Und dann hing es an einem Argument, nämlich: »Wenn man so ein Institut gründet, dann wird man das nie wieder los.« Das war das schärfste Argument gegen eine solche Gründung. Da habe ich den Vorschlag gemacht, eine Sunset-Klausel einzuführen. Das heißt, nach vier Jahren wird es eine erste Evaluation geben. Wenn die positiv ist, gibt’s nochmal vier Jahre drauf und nach acht Jahren wird das Institut automatisch geschlossen und kann nur mit der Mehrheit des Senats wiederbegründet werden. Das hat sogar innerhalb des USP Widerstand erzeugt, die Mitglieder waren erst dagegen, aber da es die einzige Bedingung war, unter der wir das Institut überhaupt gründen konnten, haben schließlich alle zugestimmt, und so wurde es im Senat auch beschlossen. Dann haben sich im Lauf der Zeit die Bedingungen insofern verändert,
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als dass der Senat seine Zustimmungsfunktion verloren hat, er wurde entmachtet, sodass schließlich und endlich das Rektorat allein die Entscheidung treffen konnte. Wie wir ja mit dem Ende des IWT erfahren haben, wurde nicht mehr ernsthaft nach solchen Regeln verfahren, sondern es wurde einfach ad hoc entschieden. Rödder/Taubert: Was war der Unterschied zwischen dem USP und einem Institut der Universität? Weingart: Der wichtigste Unterschied war, dass wir einen formalen Haushalt hatten. Vorher bekamen wir Geld gewissermaßen auf Zuruf zur Verfügung gestellt. Das hat auch funktioniert, aber immer nur nach einigem Bangen. Jetzt hatten wir Sicherheit, wir hatten ein Budget, mit dem wir umgehen konnten. Außerdem hatten wir einen besseren Status, was die Zuordnung von Professuren anbetraf. Es sind zwei Professuren dazugekommen, die wir als USP so nicht bekommen hätten. Ob das im Endeffekt eine gute Sache war, ist eine andere Frage, aber zumindest war ein höherer Grad an Formalisierung gesichert, und das war wichtig, auch von der Außenwirkung her gesehen. Das Institut hat nach außen eine ganz andere Rolle gespielt als der USP, der USP ist nicht ernst genommen worden. Rödder/Taubert: Wie wurde denn die Gründung einer zentralen wissenschaftlichen Einrichtung in der Fakultät wahrgenommen? Auch die Fakultäten treten ja mit dem Selbstverständnis auf: Wir sind die zentralen Organisationseinheiten der Universität, und wenn jetzt eine zentrale wissenschaftliche Einrichtung in der Nähe einer Fakultät errichtet wird, das riecht nach Konkurrenz oder gar Konflikt. Wie wurde das begrüßt, mit Applaus, oder gab es Reibungspunkte in Bezug auf die Fakultät für Soziologie? Weingart: Nicht nur in Bezug auf die Fakultät für Soziologie, sondern in Bezug auf die beiden beteiligten Fakultäten. Die Historiker, die auch die Philosophie hatten, wachten in gleicher Weise eifersüchtig darüber, dass ihr Einfluss gewahrt bliebe. Das Problem liegt ja schon im Hochschulgesetz. An ein Promotionsrecht war in unserem Fall gar nicht zu denken, anders als jetzt zum Beispiel beim MCTS (Munich Center for Technology in Society an der TU München, Anm. d. Red.) in München. Das zweite Manko war, dass wir bei der Besetzung von Professuren nur ein Mitbestimmungsrecht hatten, das wir uns mühselig vom Rektorat erkämpft hatten. Wir verfügten also nur über ein Mitbestimmungsrecht, nicht aber über die endgültige Bestimmung darüber, wer zu berufen war und wer nicht. Rödder/Taubert: Inwieweit kam es hier zu Konflikten?
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Weingart: Erster Konfliktfall: Bei der Besetzung der Stelle für Wissenschaftsgeschichte insistierte die Fakultät für Geschichtswissenschaft darauf, dass wir Peter Lundgreen wählen sollten. Wir waren deswegen dagegen, weil Lundgreen kein Wissenschaftshistoriker war, Lundgreen war ein Bildungshistoriker. Im Endeffekt hat sich das gut gewendet, nicht nur, dass wir alle enge Freundschaft mit ihm geschlossen haben, sondern er hat sich sehr auf das Programm eingelassen und dann Forschung gemacht, die einschlägig war. Das gleiche traf zu für die Wissenschaftstheorie. Der erste, der mit von der Partie war, war Lorenz Krüger. Das war ein Glücksfall, weil Lorenz Krüger eine Wissenschaftstheorie vertrat, mit der wir etwas anfangen konnten, gleichwohl blieben die Forschungen disparat, sie waren nicht aufeinander bezogen. Später kam dann Carlos Moulines, auch zu dem entwickelte sich eine Freundschaft, aber er hat eine Wissenschaftstheorie vertreten, mit der wir auch nicht viel anfangen konnten. Dieses Verhältnis der Fakultäten zu den zentralen Einrichtungen ist ein Grundproblem, und bis heute wird die Existenz der zentralen Einrichtungen weder von den Hochschulgesetzen gestützt, noch wird sie von den Universitätsadministrationen vernünftig behandelt. Von daher ist der Primat der Fakultäten und damit auch der Disziplinarität klar, trotz aller Beschwörungen von Interdisziplinarität. Das ist ein Windei. Rödder/Taubert: Ich habe das so verstanden, dass am USP noch mehr Disziplinen beteiligt gewesen waren. Bildungsforschung hast Du eben schon gesagt und Hochschulforschung? Wo sind die dann abgeblieben? Weingart: Formal war es so, dass an dem USP laut Auf bauplan der Universität die Hochschulforschung und laut Stellenplan neben der Wissenschaftssoziologie die Wissenschaftstheorie und die Wissenschaftsgeschichte beteiligt waren. Das war der formale Plan. Wir haben früh schon darüber nachgedacht, die Ökonomie mit aufzunehmen, ebenso wie die Rechtswissenschaften. Wäre alles vernünftig gewesen, hat sich aber nicht ergeben, weil es auch keine geeigneten Mitstreiter gab. Die Begrenzung auf die drei ursprünglichen Disziplinen war der Ausgangspunkt, das, was Schelsky sich ausgedacht hatte. Rödder/Taubert: Die Person Schelsky ist jetzt schon an zwei Stellen aufgetaucht, einmal auf der Ebene der Universität mit der Planung und Konzeption von Universitätsschwerpunkten und auf der anderen Seite als die wesentliche Person, die die Fakultät für Soziologie gegründet hat. Ein drittes Baby von Schelsky ist das ZiF, die Idee eines Centre of Advanced Studies. War das eine Organisation, die Dir aus Amerika vertraut war, oder war das für Dich etwas Neuartiges? Weingart: In meiner Zeit in Princeton habe ich von dem Centre of Advanced Studies nichts mitbekommen. Man muss sich ja vergegenwärtigen, an welchem Punkt der Karriere ich dort damals war, nämlich als Student. Ich habe
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auch erst hinterher erfahren, dass Schelsky nach Amerika gegangen ist, um sich darüber zu informieren, wie das Centre aussehen sollte, das er dann als ZiF gründete. Als ich nach Bielefeld kam, war das ZiF noch im Schloss Rheda. Schelsky schwärmte dauernd davon und hat mich sehr früh zu mehreren Veranstaltungen eingeladen, sodass ich diese ›Rhedaer-Schloss-Zeit‹ des ZiF ziemlich bewusst miterlebt habe. Daraus hat sich eine enge Verbindung zum ZiF und schließlich zu einer ganzen Reihe der CAS entwickelt. Ich wurde Mitglied des Beirats des ZiF, dann des Direktoriums und schließlich von 1989 bis 1994 Geschäftsführender Direktor. Selbst war ich Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin, des Getty Research Institute in Los Angeles, und des SCASS in Upsala, Mitglied des Beirats des Hanse Wissenschaftskollegs und dann noch einmal Mitglied des ZiF-Beirats. Also eine langjährige Liebesbeziehung zu dieser Form der Einrichtungen interdisziplinärer Institutes for Advanced Study. Rödder/Taubert: Die Frage der Räumlichkeiten ist auch bezüglich der Universität interessant. Sie hat ja eine Architektur, deren Grundgedanke derjenige kurzer Wege zwischen den Fakultäten ist. Was bedeutete das für die interdisziplinäre Wissenschaftsforschung? Weingart: Wir sind 1975 ins Hauptgebäude gezogen, und in dem Moment war realisiert, was mit dem Gebäude intendiert war, nämlich, dass die Kontakte zu den anderen Fakultäten leichter hergestellt wurden. Ich hatte früh auch persönliche Verbindungen in die Geschichtswissenschaft, war mit Kocka und Wehler befreundet, kannte Koselleck gut. Die Historiker hatten einen Gesprächskreis ins Leben gerufen und die Soziologen eingeladen, so dass auch dadurch eine enge Verbindung entstanden war. Also räumlich funktionierte das gut. Bei aller Kritik, die die Leute an dem Hauptgebäude haben als ›das große Betonschiff‹, ich habe diese Kritik nie nachvollziehen können und empfand immer als sehr günstig, dass man nah dran war an allem. Wenn ich das vergleiche mit irgendeinem Campus in einer Stadt, wo die Leute kilometerweit auseinander sind, da ist die Beschränkung auf die eigene Fakultät und die eigene Disziplin viel krasser, als das bei uns je der Fall war. Wenigstens räumlich wurden Möglichkeiten geschaffen. Rödder/Taubert: Sprechen wir über das Thema Selbstverwaltung, kaum eine Institution hat einen stärkeren Apparat der Selbstverwaltung wie die Universität. Was fällt dir beim Stichwort Selbstverwaltung ein, was ist dir in Erinnerung geblieben? Weingart: Wie alle Newcomer bin ich sehr bald zum Dekan gewählt worden, um gewissermaßen die Schmutzarbeit in der Fakultät erledigen zu müssen. Nun ist das, was damals Dekanatsarbeit bzw. Selbstverwaltung war, mit der Funktion des Dekans heutzutage überhaupt nicht zu vergleichen. Wir haben
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damals die Dekanatsarbeit gemacht als eine Sache, die man am Mittwochnachmittag machte, mal eben mit der linken Hand. Und ansonsten lag das bei dem Verwalter, dem Otto Lüke, der über allem thronte. Also das war in den 1970er Jahren ein eher lässiges Geschäft. Rödder/Taubert: Worauf würdest Du das zurechnen, dass sich die Selbstverwaltung so stark verändert hat, auch in Bielefeld, wo es noch keine hauptamtlichen Dekaninnen und Dekane gibt? Weingart: Das gesamte Verwaltungsgeschäft hat enorm zugenommen. Alleine welche Rolle die Einwerbung von Drittmitteln heute spielt im Vergleich zu damals. Man muss sich das so vorstellen, dass das Drittmittelgeschäft zu der Zeit allein aufgrund der kargen Förderbedingungen praktisch noch keine Rolle spielte. Die wenigen Projekte, die von der DFG gefördert wurden, oder von der Volkswagen-Stiftung… ich habe ziemlich früh damit angefangen und wurde dann von Kollegen mit etwas Verwunderung und auch Bewunderung angeschaut, dass ich Drittmittel eingeworben hatte. In den frühen 1970er Jahren war das noch kein Thema. Es gab keine Exzellenzinitiative, es gab keine Konkurrenz unter den Unis, es gab keine Bewertungen, es gab den ganzen Aufwand der bibliometrischen Erfassung nicht. Heutzutage muss sich ein Dekan auch um solche Aspekte kümmern. Er oder sie muss Fakultätspolitik machen. Auch Fakultätsaußenpolitik war damals kein Thema. Das Bielefelder Festhalten am Selbstverwaltungsmodell ist insofern fast anachronistisch, vor allem, wenn man das mit amerikanischen Universitäten und der Rolle des dortigen Department Chairman vergleicht. Ich habe keine eigene Anschauung, wie eine Uni wie Frankfurt, die Stiftungsuniversität geworden ist, wie die das macht und was deren Aufgaben sind, aber sicher ist, dass die Bedeutung der Verwaltungsaufgaben der Dekane enorm angewachsen ist. Rödder/Taubert: Du bist ja damals sehr jung Dekan geworden und aus heutiger Sicht würde man sagen, wenn jemand neu an der Universität ist, keine eigene Hausmacht hat, vielleicht auch nicht viele Personen kennt, wäre das eine Selbstschwächung einer Fakultät, so jemanden zum Dekan zu machen. Würdest Du sagen, das galt damals nicht? Weingart: Ich glaube nicht, dass das galt, denn es gab keinen Kampf um den Dekansposten. Man hätte ja vermuten können, dass gerade bei dieser RechtsLinks-Spaltung sorgfältig darauf geachtet worden wäre, dass der richtige Kandidat oder die richtige Kandidatin ins Amt kommen würde. Also ich weiß noch, dass Claus Offe, den ich schon aus Berlin kannte, sagte: »Das ist doch gut, wenn du Dekan werden würdest, du bist ein Pragmatiker und das ist gerade richtig so.« Niemand hat ernsthaft gedacht, dass ein Dekan groß Einfluss nehmen kann, um der einen oder anderen Seite Vorteile zu verschaffen.
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Rödder/Taubert: Was gehörte zu deiner Tätigkeit, was war der Fokus der Aufgaben? Weingart: Es musste der Haushalt gemacht werden und es mussten Leute eingestellt werden. Die größte Prüfung meiner Amtszeit war die Einstellung eines wissenschaftlichen Mitarbeiters. Der galt als Offe-Kandidat und als links, und das Dekanat, also Mummendey, Eberwein und ich, waren der Ansicht, dass wir damit die Balance zwischen rechts und links zugunsten der linken Fraktion kippen würde und wir wollten die Balance erhalten. Da gab’s großen Knatsch. Das Dekanat wurde besetzt und ich kriegte einen Tag lang Begleitung zur Toilette, da lief immer einer mit und wartete. Am Abend desselben Tages gab es eine Versammlung in einem der großen Hörsäle und der Rektor Grotemeyer stand am oberen Eingang und wachte darüber, dass dieses Schauspiel vernünftig zu Ende geführt wurde. Unten auf dem Podium waren Eberwein und ich und mussten diese Entscheidung verteidigen. Aber der Rest waren Routine-Aufgaben, namentlich Unterschriften. Rödder/Taubert: Als das Dekanat besetzt wurde, hattest Du also Begleitung zur Toilette. Wir würden gerne noch mehr über die studentische Protestkultur erfahren, die Art und Weise, wie damals protestiert wurde. Weingart: Derjenige, der mit mir auf die Toilette gegangen ist, ist Professor für Kommunikationswissenschaft geworden. Aber es gab noch häufiger Protest. Als das ZiF eröffnet werden sollte, wurde der Plenarsaal des ZiF von Studierenden mit dem Hinweis besetzt, dass die Politik des Direktoriums nicht transparent genug sei. Das war ein Generalverdacht, dass die Leute, die in Entscheidungspositionen sitzen immer irgendwie nicht transparent genug sind. Dadurch wurde in dem Fall die offizielle Eröffnung verhindert. Die 1968er Revolte hat sich natürlich bis weit in die 1970er Jahre hinein fortgesetzt, und es gab alle Nase lang einen Protest hier und eine Demonstration da. An der Uni hat das aber in meiner Erinnerung nur noch eine vergleichsweise geringe Rolle gespielt, abgesehen von solchen Ereignissen. Bielefeld war ja vergleichsweise ruhig, verglichen mit Berlin, Frankfurt und Köln. Rödder/Taubert: Zu der Besetzung des Dekanats gehörte auch, dass du eingemauert wurdest oder? War das eine symbolische Mauer, oder war das mit Mörtel und Ziegel? Weingart: Also die Begleitung zur Toilette fand zwischen meinem Büro statt auf U6 und da war keine Mauerei im Gange. Aber eine weitere Protesthandlung war, dass jemand an die Wand geschmiert hatte. Es gab eine Fernsehserie, da spielte ein Schauspieler mit, der hieß Peter Wyngarde, geschrieben W-Y-N-G-A-R-D-E, und böse Zungen behaupteten, dass er auch so aussah wie ich. Das hatte jemand im Gang da draußen drangepinselt. Aber diese Beset-
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zung des Dekanats und die einen Tag lang währende Festsetzung, das haben wir mit Ruhe und Gelassenheit über uns ergehen lassen, und am Abend war die Sache dann vorbei. Rödder/Taubert: Gibt es Enttäuschungen in Bezug auf Dein Wirken an der Universität Bielefeld und das Verhältnis zur Fakultät für Soziologie? Weingart: Ich kann schon sagen, dass die größte Enttäuschung war, dass es erst innerhalb des IWT kein Eintreten für die Zukunft des IWT gab, dass man sich da so hat auseinander dividieren können, und dann, dass die Fakultät kein Interesse am Erhalt des IWT hatte. Aber Letzteres war nicht so unerwartet. Ich hatte noch ein Gespräch vorher mit dem damaligen Dekan aus dem klar hervorging, dass sie nichts über uns wussten. Sie hatten keine Ahnung, was das IWT machte, was das IWT für die Fakultät möglicherweise bedeuten würde. Ich sehe das inzwischen auch als meinen eigenen Fehler an, dass ich nicht genügend Propaganda gemacht habe. Also hat sich niemand dafür eingesetzt. Das Rektorat auch nicht, obgleich die Bedeutung des IWT zwar immer betont wurde, aber letztlich gab es wenig Einsatz dafür. Das war wieder das strukturelle Problem, dass die Fakultät wichtiger war. Wenn das Rektorat gegenüber der Fakultät eine entsprechende Politik vertreten hätte, wenn es das IWT gegenüber der Fakultät mitsamt der Professur für Wissenschaftssoziologie als nicht-disponibel vertreten hätte, wäre das anders gelaufen. Wenn in der Abstimmung über eine schon entschiedene Berufung das Rektorat nicht in dieser Weise agiert hätte, dann gäbe es das Institut heute noch. Allerdings haben die IWT-internen Querelen es dem Rektorat auch schwer gemacht, eine solche Linie zu vertreten. Das war schon eine Enttäuschung. Rödder/Taubert: Wir möchten abschließend über die Außenwahrnehmung der Fakultät sprechen. Innerhalb der deutschsprachigen Soziologie war und ist ja Niklas Luhmann das große Aushängeschild. Wie sah das von innen aus? Weingart: Die Fakultät hatte gern so eine Galionsfigur nach außen, aber das hat sie ihm intern nicht gedankt. Luhmann wurde nicht mit Lorbeeren und besonderen Privilegien versehen, sondern war einer unter anderen. Das passte durchaus auch zu seinem Naturell, er war in meiner persönlichen Wahrnehmung ein eher zurückgezogener Kollege. Es gab auch erhebliche Skepsis, gibt es ja immer noch, wenn ich das richtig sehe, die Trennung zwischen den Systemtheoretikern und allen anderen, so dass man nicht sagen kann, dass Luhmanns überragende Rolle innerhalb der Zunft nach innen hin so gewirkt hat. Er war auch jemand, der keinen Wert darauf legte. Rödder/Taubert: Ich frage mich, ob Luhmann zu der Zeit den Stellenwert hatte, oder ob nach Beendigung des Hauptwerkes die Bedeutungszuschreibung erst richtig los ging, und wenn man in die Zeit dieser ersten Generation von
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Bielefelder Soziologen schaut, ob man da nicht ein viel differenzierteres, ein vielfältigeres Bild sieht und eine Vielzahl von fundamentalen Debatten, die damals stattgefunden haben und die Systemtheorie war eine davon. Um ein paar Stichworte zu nennen, es gab den Arbeitskreis Bielefelder Soziolog_innen, der sich um das Geschäft der qualitativen Soziologie bemüht hat, es gab die Diskussion um ethnographische Forschung, und den Versuch einer Methodologie. Hast du den Eindruck auch, dass das Ex-Post-Zuschreibung ist, oder war das damals schon prägend? Weingart: Das stimmt in gewisser Weise immer bezüglich solcher Figuren wie Luhmann, die eine Mehrzahl, wenn nicht eine Vielzahl von Proselyten schaffen, die sich anschließen. Dadurch wird ihre Rolle im Nachhinein anders wahrgenommen. Zu der Zeit, als er selbst das Unikat war, galt viel mehr Normalität, wenn man so will, die systemtheoretische Schule gab es noch nicht als Schule. Erst muss ja das Hauptwerk überhaupt da sein. Rödder/Taubert: Wir haben bereits über die studentischen Proteste gesprochen. Auch Du wurdest einmal des Protests bezichtigt und musstest Dich im Dekanat verteidigen. Weingart: Ja, wegen eines Ritts in die Uni. Das war ein Sommersemester und ich hatte eine sehr angenehme und gute Gruppe von Studenten im Seminar. Aus irgendeinem Anlass wurde ich befragt zu meinem Pferd und meinem Faible für Cowboys, und dann habe ich gesagt, okay, ich wette, wenn einer von euch auf das Pferd aufpasst, dann reite ich zur Uni. Rödder/Taubert: Und die Studierenden haben die Herausforderung angenommen? Weingart: Ja, dann musste ich planen, musste erst mal mit dem Auto abfahren, wo ich langreiten konnte, habe mir noch Kartenmaterial besorgt, wie man von Werther zur Uni reitet und schließlich kam der Tag der letzten Sitzung im Semester. Ich habe mich aufs Pferd gesetzt und der Plan war, ich wollte wie in einem vernünftigen Westernfilm, am Rand der Wiese oberhalb der Uni erscheinen, wo damals noch die Finnbahn war, und dann langsam trippelnd die Wiese herunter kommen. Das ist dann auch gelungen, zumindest zeitlich gesehen. Dann hat allerdings nicht einer von den Studierenden das Pferd gehalten, sondern eine Cousine von Wolfgang Krohn, die kannte das Pferd auch schon. Ich habe den Sattel auf die Schulter genommen und bin in den Fahrstuhl gestiegen und nach oben auf U-6 gefahren. Das Ganze war natürlich alles Schauspiel. Dann wartete da aber ein Journalist, der von den Studierenden verständigt worden war. Er fragte, wogegen ich mit dem Ritt protestierte. Ich hatte ihm die Frage nicht in den Mund gelegt, und ihm auch nicht gesagt, dass ich gegen irgendetwas protestieren würde, aber als er die Frage dann gestellt
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hatte, habe ich gesagt: gegen Zäune. Der Journalist, Lokalreporter der Neuen Westfälischen, war völlig humorlos, er hat das bierernst genommen. Gerade als ich mit dem Seminar anfing, kam die Sekretärin in den Seminarraum und sagte: »Herr Weingart, da kommt ein Anruf von der Univerwaltung. Können Sie mal eben kommen?« Dann musste ich ans Telefon, da rief aus der Verwaltung jemand an und fragte: »Ist das Ihr Pferd, da draußen?« Nachdem ich das bejaht hatte, sagte er: »Das ist keine Pferdewiese, das ist eine Liegewiese.« Das war das Stück Wiese zwischen dem Gebäude und der Straße, die war gemäht und das mochte das Pferd auch besonders gern. »Sie müssen Ihr Pferd da runter nehmen«. Also musste ich runter, musste der Cousine sagen, sie soll das Pferd auf die andere Straßenseite nehmen und dann bin ich wieder nach oben. Fünf Minuten später rief wieder jemand an und sagte: »Ist das Ihr Pferd da?« Ich bejahte wieder. »Das Pferd muss von dem gemähten Stück auf das ungemähte Stück, weil das gemähte Stück auch noch Liegewiese ist und der Rest ist Wildwiese. Also musste ich der Cousine sagen, sie soll das Pferd auf die ungemähte Wiese bringen. Schließlich war ich fertig mit dem Seminar, kam wieder runter, und dann interviewte mich noch ein Journalist, diesmal vom Westfalen-Blatt. Der hatte kapiert, dass das nicht ernst gemeint war. Dann musste ich drei Stunden lang nach Hause reiten, so lange dauerte das nämlich. Rödder/Taubert: Und das Medienecho? Weingart: Am nächsten Tag waren die Artikel in der Zeitung, und das erste war, dass Otto Lüke mich zu sich zitierte, also mich als ehemaligen Dekan und Vorgesetzten. Er zitierte mich zu sich und beschwerte sich mit deutlichen Worten über die Pressereaktion Es muss etwa zwei Tage später gewesen sein, da waren Leserbriefe zu dem Artikel in der Zeitung, und in einem dieser Leserbriefe hieß es sinngemäß: »Da kann man mal sehen, wozu Professoren Zeit und Geld haben«. Das war der Kommentar. Ich musste mich also dann Otto Lüke gegenüber verteidigen und habe ihm von da an jeden Herbst von meiner Ernte eine Tüte Äpfel mitgebracht. Auf diese Weise war er dann besänftigt. Rödder/Taubert: Es gibt wohl zwei Lehren aus der Geschichte, die eine sprichst du an, wie die Verwaltung die Lehre letztendlich behindert und der zweite Punkt ist ein verkehrspolitischer Wandel, dass eben das Pferd kein legitimes Verkehrsmittel mehr ist in der heutigen Zeit. Weingart: Die Episode ist nicht ohne Ambivalenz: ich werde noch heute auf den Ritt angesprochen u.a. von jungen Leuten, die zu der Zeit, im Juli 1982, noch gar nicht geboren waren. Das lässt in mir die Unsicherheit wachsen, ob mein H-Index stärker durch die öffentliche Erwähnung dieser Eskapade als durch meine wissenschaftlichen Arbeiten bestimmt ist.
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»In der großen Halle des Volkes« Claus Offe im Gespräch mit Holger Straßheim und Detlef Sack
Claus Offe war Professor für Politikwissenschaften und Politische Soziologie an den Universitäten Bielefeld (1975-1989) und Bremen (1989-1995) sowie an der Humboldt-Universität zu Berlin (1995-2005). Er war als Gastprofessor unter anderem an den Institutes for Advanced Study in Stanford und Princeton, der Australian National University, der Harvard University, der University of California, Berkeley und der New School in New York tätig. Er promovierte an der Universität Frankfurt und erhielt seine Habilitation an der Universität Konstanz. Holger Straßheim hat in Marburg und Berlin Politikwissenschaft, Rechtswissenschaften und Medienwissenschaften studiert. Er ist seit 2018 Professor für Politische Soziologie an der Universität Bielefeld. Detlef Sack hat in Hamburg und Kassel Germanistik, Geschichte und Politikwissenschaft studiert. Er ist seit 2008 Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Bielefeld.
Strassheim/Sack: Lieber Herr Offe, wenn Sie an Ihre Zeit in Bielefeld zurückdenken, welche Erinnerung ist besonders eindrücklich? Offe: Das Gebäude der Universität, genannt die »große Halle des Volkes« mit der chilenischen Malerei am einen Ende und dem Hallenbad am anderen. Das war sehr eindrucksvoll, auch in der sozial strukturierenden Kraft der Architektur. Ich musste auf dem Weg zu meinem Büro die Halle durchqueren, vorbei an den Läden, Mensen und Gaststätten. Diese Strecke habe ich dann oft durch die Tiefgarage zurückgelegt – einfach, um nicht aufgehalten zu werden, weil man da immer jemanden traf. Manchmal weniger willkommen wegen der verlorenen Zeit für ein Schwätzchen. Das Gebäude hatte seiner gewaltigen Ausmaße nach den Sinn, es am angeblich regenreichsten Ort der Republik zu erlauben, unter einem gemeinsamen großen Dach trockenen Fußes Kontakte zu pflegen. Das Gebäude wurde erst 1976 fertig gestellt und zur Nutzung freigegeben. Vorher war ich für ein Jahr im AVZ untergebracht, im »Auf bau- und Verfügungszentrum«, wie es im damaligen, irgendwie sozialdemokratisch
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anmutendem Deutsch hieß: überall diese »Mehrzweckhallen« und »Multifunktionsräume«, gerne in bombastischem Sichtbeton. Im AVZ hat jetzt wohl die Bielefelder Polizei ihren Sitz. Das Universitätsgebäude und das gesamte Ensemble der Nachbargebäude mit dem ZiF und der Laborschule nebenan, wo dann meine Töchter eingeschult worden sind, das war alles architektonisch sehr eindrucksvoll. Strassheim/Sack: Sie sind dann ja auch in einer Phase der Reformuniversitäten nach Bielefeld gekommen. Offe: Ja, nach dem Ende der Studentenbewegung und ihrer Wissenschaftskritik sollten in Bielefeld die Ideen von Helmut Schelsky zum Zuge kommen. Ich war damals wohl in der Nähe eines Rufes an die Universität Konstanz, wo ich 1973 habilitiert hatte. Konstanz und Bielefeld galten als die universitären Neugründungen, die ambitioniert forschungsintensiv und mit deutlichen Privilegien ausgestattet waren, was Sabbaticals, Lehrverpflichtungen, und verfügbare Konferenzzentren anging. Ich war damals in USA und habe 1974 in Berkeley unterrichtet. Am Tag vor meiner Abreise erhielt ich Ende Dezember 1973 an meinem Arbeitsplatz am Starnberger Max-Planck-Institut den Anruf eines ehemaligen Mitarbeiters, der inzwischen nach Bielefeld gegangen war. Der teilte mir mit, dass sich mein Name wohl auf der Einladungsliste für Bewerber auf eine Professur befinde. Einen Tag später hätte er mich nicht mehr erreicht. Als sich das durch ein offizielles Schreiben des Dekans als zutreffend herausstellte, bin ich, wohl im März 1974, von Berkeley nach Bielefeld geflogen, um mich mit Vortrag und Jobinterview vorzustellen. Ich habe dann den Ruf erhalten und habe am 1. Februar 1975 in Bielefeld angefangen. Und Bielefeld ist der Ort, an dem ich länger institutionell angesiedelt war als an irgendeinem anderen Ort, insgesamt 14 Jahre lang. Mittlerweile bin ich zwar länger in Berlin, aber ich war an der Humboldt-Universität nicht so lange wie an der Universität Bielefeld, weil ich nach zehn Jahren und meinem Eintritt in den Ruhestand 2005 noch an der Hertie School of Governance tätig war. Strassheim/Sack: Wenn Sie die Zeit für sich Revue passieren lassen, 14 Jahre sind eine lange Zeit. In der Retrospektive: Gab es Phasen in Bielefeld, in denen Sie bestimmte Forschung besonders intensiv betrieben haben? Offe: Das kann man sagen. Was damals von der Großen Koalition (1966 bis 1969) und der anschließenden sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt an Gesetzgebungen zustande gebracht und vorbereitet wurde, war ein aufregendes, attraktives Modernisierungsprojekt der bundesdeutschen Politik. Erst im Rückblick konnte man sehen, dass sich in der ersten Hälfte der 70er Jahre national wie international das »Ende der Nachkriegszeit« eingestellt hatte – das Ende einer in der deutschen politischen Geschichte völlig unnormalen Normalität und Stabilität. In meinem Interessen- und Forschungsgebiet gab es da die
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Arbeitsmarktpolitik (die noch 1974 von der allseits geteilten Annahme einer drohenden »Potentiallücke«, also einer ungedeckten Nachfrage nach Arbeitskräften, ausging), insbesondere durch Vorbereitung des Berufsbildungsgesetzes und des Arbeitsförderungsgesetzes der damaligen Großen Koalition. Das waren zwei wichtige gesetzgeberische Durchbrüche von 1969. Meine Habilitationsschrift (1975) war eine Studie über die Berufsbildungsreform. Wir haben dann in Forschung und Lehre viel Arbeitsmarktpolitik betrieben, und zwar mit einer äußerst interessierten und engagierten Gruppe von Bielefelder Studierenden, die sich dann etwas großspurig als »Projektgruppe Arbeitsmarktpolitik« konstituierten. Dies auch mit engem Kontakt zu den beiden außeruniversitären Instituten, die sich hierzulande mit diesen Themen beschäftigten, dem Münchener Institut von Burkhard Lutz und dem SOFI in Göttingen sowie natürlich dem IAB der Bundesanstalt für Arbeit. Wir hatten natürlich keine vergleichbaren Ressourcen, aber das hat doch sehr viel Zeit, Energie und Engagement in Anspruch genommen. Das lief anfangs ohne Drittmittel – nur mit Konferenzen, Experteninterviews und Behördenbesuchen. Erst Ende der 70er Jahre kamen zwei größere Drittmittel-Projekte hinzu, die von der Stiftung Volkswagenwerk bzw. der DFG finanziert wurden: eines über die »Entwicklungsdynamik des Dienstleistungssektors« und ein anderes über Arbeitszeitpolitik. Dabei lag die digitale Revolution natürlich noch gänzlich jenseits unseres Horizonts. Alles, was wir damals geschrieben haben, ist schließlich auf mechanischen Schreibmaschinen produziert worden. Die ersten Ahnungen davon, was da auf uns zukommt, habe ich im Jahr 1977/78 bekommen, das ich im Institute for Advanced Studies in Princeton verbracht habe. Die Mathematiker an dem Institut konnten ihre Funktionen, Kurven und Formeln auf Bildschirmen darstellen! Das hat mich tief beeindruckt. Die anderen, die Geisteswissenschaften und Sozialwissenschaften, die auch Abteilungen am Institut in Princeton haben, die hatten das nicht und sahen die Digitalisierung auch noch nicht auf sich und ihr Untersuchungsfeld zukommen. In dem Projekt über Dienstleistungsarbeit gab es drei Teilprojekte: (Einzel-)Handel und dessen Rationalisierungsmöglichkeiten, öffentliche Dienstleistungen und Unternehmensverwaltungen. Diese Forschungen haben sich u.a. in drei gewichtigen Dissertationen niedergeschlagen. Interessant zu sehen ist, wie falsch man liegen kann im Rückblick. Aber das gilt nur mit Einschränkungen: Wir haben ein Konzept gehabt von Dienstleistungsarbeit als Organisations-, Koordinations-, Bewachungs-, und Beaufsichtigungsfunktionen für produktive Prozesse – Dienste als »Produktion der Produktion«, als Kontrolle und Überwachung wirtschaftlicher und anderer Abläufe. Und die erst heute vollends fragwürdig gewordene Annahme war die, dass solche Funktionen der Lenkung und Normalisierung sozialer Prozesse sich gegen die aus der herstellenden Arbeit vertrauten Rationalisierungsstrategien sperren. Das war die Gedankenwelt, die von der angelsächsischen Literatur (z.B. William Baumol) damals durchaus geteilt wurde und sich seither gewaltig verändert hat. Von wegen »Kundenpräsenz« als definierendes Merkmal von Diensten: Heute las-
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sen mittelständische Betriebe ihre Buchhaltung über Nacht in Bangalore erledigen. Strassheim/Sack: Wie haben Sie in dieser Zeit neue Forschungsthemen identifiziert? Offe: Die politische Situation in den 1970er Jahren nach dem Ende der sozialliberalen Koalition von Willy Brandt, also die Ära Schmidt (1974-1982) ließ damals durchaus ambivalente Eindrücke entstehen hinsichtlich der Zukunft der damals sogenannten »aktiven« Politik, d.h. einer vorausschauenden reformorientierten »Mehr-Demokratie-wagen«, also einer linksliberalen Politik (1969-1974). 1975 bin ich in Bielefeld angetreten und wir haben scharf beobachtet, welche Rückschläge es dann gab. Das ist der zeitgeschichtliche Kontext. Heute sehen wir, ein unbearbeitetes, aber vielversprechendes Thema, dass 1974/75 international und national sogar jenseits des Eisernen Vorhangs die große Zeitenwende angefangen hat. Die Zäsur, das Ende der »trente glorieuses« war 1975. Und was dann kam, war eine neue Phase der innenpolitischen Entwicklung. Die ganzen »Altlasten«, wenn man so will, der linken Bewegung der 1960eer und frühen 1970er Jahre waren sehr präsent. Es gab damals an der Fakultät eine »Linke Assistenten-Fraktion« (LAF). Die Mitglieder arbeiteten hochschulpolitisch, wissenschaftspolitisch und personalpolitisch unter ermutigender Anleitung einzelner Mitglieder des Lehrkörpers, der ja – wie ich selbst – zum guten Teil aus Personen bestand, die von den Kämpfen, Debatten und Bewegungen der 60er Jahre geprägt waren. Das war ein politisch linkes, z.T. marxphilologisch ausgesprochen gelehrtes intellektuelles Biotop, in dem viel stattfand, was uns sowohl sozialwissenschaftlich anregend wie politisch-praktisch sinnvoll erschien. Damals gab es z.B. in Bielefeld eine »gewerkschaftsorientierte« Sozialforschung. Solche Ansätze wurden auch vom lokalen DGB begrüßt und gefördert. Die Treffen des entsprechenden Arbeitskreises fanden dienstags morgens um 8:00 Uhr in einem Gewerkschaftshaus statt. Den Gewerkschaften stand ich mit meiner bildungsbürgerlichen Primärsozialisation nicht besonders nahe und hatte einen eher ethnologischen Zugang zu ihrem Milieu. Ich erinnere mich, dass für die teilnehmenden Funktionäre Sitzungsgelder gezahlt wurden, die auf einer zirkulierenden Liste zu quittieren waren und dann umgehend in ein kleines Gedeck, bestehend aus Kaffee und Weinbrand, umgesetzt wurden. Bei diesen und anderen Gelegenheiten kam es zu lehrreichen Debatten sowohl über gewerkschaftliche Organisations- und Strategiefragen wie über die »Zukunft der Arbeit« oder jene der deutschen Automobilindustrie; zu letzterer hatte sich mein Doktorand und späterer Habilitand Wolfgang Streeck sorgfältige Gedanken gemacht, die er als Gast der Fakultät vortrug. Ich erinnere mich an die gewerkschaftstheoretischen Thesen eines IGM-Funktionärs (und späteren Landesministers in NRW), die darauf hinausliefen, dass die beiden wichtigsten Machtmittel der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung diese seien: der
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Kanzlerbrief und die Presseerklärung. Zur gleichen Zeit habe ich Seminare über Weber, Michels, Lenin und Luxemburg angeboten. Der Kollege Krahn hat sich da bei den gewerkschaftsorientierten Themen und Forschungen besonders hervorgetan. Das hatte auch mit nordrhein-westfälischer Landespolitik zu tun. Außer in Bochum wurden in Bielefeld eben auch »arbeitnehmerorientierte« Themen besonders gefördert. Strassheim/Sack: Da Sie gerade eben vom akademischen Biotop sprachen: Sie haben Anfang der 1980er Jahre einen Aufsatz veröffentlicht. Sie sprechen dort etwas launig von der Wissenschaft als vergleichbar mit kalifornischen See-Elefanten. Also die Population der Sozialwissenschaften zwischen Auftragsforschung und sozialer Bewegung und die See-Elefanten sind eine sorgsam behütete Population, die aber an einem, irgendwie eingeschränkten Genpool leidet, sodass sie nicht neue Territorien erkunden können und auch bestimmte externe Schocks nicht gut verkraften und gar nicht erst erkennen können. Offe: Das habe ich mitgenommen aus dem Winterquartal 1974 in Berkeley. Dort konnte man besichtigen, dass die See-Elefanten sehr gefährdet waren, obwohl sie eine blühende Population waren, überall am Strand des Pazifik. Aber sie hatten eben einen sehr engen Genpool. Wie Sie sagen: das war eine launige Assoziation. Der Anlass war eine Podiumsdiskussion hier an der FU, für die das geschrieben wurde. Nein, man muss sagen, dass wir ein reichhaltiges Repertoire an Wissenschaftlern hatten. Allein Niklas Luhmann! Berger und ich haben gemeinsam mit Luhmann ein Seminar veranstaltet zum Thema »Marxismus und Systemtheorie«. Das wurde ein Ereignis, da saßen über hundert Leuten in einem dieser Hörsäle. Unvergesslich war mein Zimmernachbar Luhmann. Der eröffnete mit dem Spruch »Auf dem Brackwasser des Marxismus schwimmen die losen Blätter des Kapital.« Er hatte einen ausgeprägten Sinn für beißende Absurditäten. Berger war ein äußerst gelehrter Marx-Philologe; er hat auch die Kapital-Kurse unterrichtet, die es damals gab. Und ich hatte auch eine starke Affinität zum Marxismus, wenn auch eher zu den politischen Schriften von Marx über Frankreich. Und so gab es durchaus eine streitige aber produktive Diskussion mit Niklas Luhmann. Man konnte nie so recht nachvollziehen, was in seinem gelehrten und ungemein belesenen Kopf vor sich ging. Ich erinnere mich an eine dieser Fakultätskonferenzen. Das waren Ereignisse, bei denen es bisweilen zu heftigen Konfrontation und den entsprechenden Gefühlsaufwallungen kam. Wann immer dergleichen vorkam, griff Luhmann zu seinem Zettelkasten und sortierte die Lesefrüchte vom Vortag – mit allen Anzeichen der Verachtung für derlei unnütze Kommunikationen. Einmal gab es eine Umfrage des Dekans zur Planung der weiteren wissenschaftlichen Aktivitäten der Fakultät. Da sollten die Professoren angeben, welche Forschungsprojekte sie planten und wieviel Jahre die in Anspruch nehmen würden und was das alles
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an Drittmittel oder an Eigenmitteln kosten würde. Und jeder schrieb da brav etwas auf. Zwei Jahre und einen Titel xyz. Luhmann trug ein: Thema: Theorie der Gesellschaft, Dauer: 20 Jahre, Kosten: keine. Er war in jeder Hinsicht ein Unikat. Sonst war von Interesse und ist in der Fakultäts-Öffentlichkeit von den Studierenden wie von den Lehrenden wahrgenommen worden, was Peter Weingart mit seinen wissenschaftssoziologischen Studien gemacht hat, etwa zum Thema der »Finalisierung« der Wissenschaft. Ebenso das, was Kaufmann und vor ihm von Ferber im Bereich einer Soziologie der Sozialpolitik gemacht haben. Es gab 1976 einen Soziologentag in Bielefeld, da haben Gero Lehnhardt und ich zusammen ein Hauptreferat über »Staatstheorie und Sozialpolitik« gehalten. Das stand im relativen Gegensatz zu dem, was Kaufmann und von Ferber, die Editoren des späteren Sonderbandes der Kölner Zeitschrift, an Vorstellungen zum Thema hatten. Luhmann hatte ich schon kennen gelernt und danach viel von ihm gelesen, als er Ende der 60er Jahre in Frankfurt für ein Semester Adorno vertreten hat. Als damaliger Habermas-Assistent bilde ich mir noch heute ein wenig darauf ein, dass es mir gelungen ist, meinen Frankfurter akademische Mentor Habermas zu einer Auseinandersetzung mit meinem späteren Bielefelder Zimmernachbarn Luhmann anzustiften. Habermas hatte damals noch nicht die Zeit gefunden, sich mit dem wuchernden Werk Luhmanns zu beschäftigen; mein ebenso respektvoller wie nachdrücklicher Rat an ihn war, das alsbald nachzuholen. Ein Jahr später erschien sein gemeinsam mit Luhmann verfasster Band »Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie«. Strassheim/Sack: Sie haben ja eben schon Streitigkeiten angesprochen. Gab es größere Konflikte oder besondere Spannungsfelder, an die Sie sich noch erinnern? Offe: Ein wichtiger Konflikt, der mich selbst betroffen hat und auch zu Friktionen in der Fakultät geführt hat, war der »Deutsche Herbst« 1977. Einen Tag vor meiner Abreise nach Princeton, am 5. September 1977, ist der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer entführt und später von RAF-Terroristen ermordet worden. Das war bekanntlich ein tiefer Einschnitt in der gesamten Zeit. Wenn man etwa von Flensburg nach Frankfurt mit dem Zug reiste, konnte es passieren, dass man unterwegs nicht weniger als 13mal einer Personenkontrolle unterzogen wurde. Seit den ersten Baader-Meinhof-Aktionen 1974 gab es ständige Kontrollen, überall an der Autobahn stand Polizei, man musste man den Kofferraum öffnen usw. Es war wirklich ein Ausnahmezustand, der sich dann im Jahre 1977 noch steigerte. Es gab dann den »Buback-Nachruf« und die zugehörige »Affäre«. Ein damals anonymer studentischer Autor bekannte in einer Göttinger Studentenzeitung in unbeholfenen Wendungen, dass ihn bei der Nachricht von der
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Ermordung des Generalbundesanwaltes Siegfried Buback im April 1977 ein Gefühl »klammheimlicher Freude« angekommen sei – ein Gefühl, dessen er sich indes nicht erfreut, sondern eher schämt. Dieser junge Mann, der das verfasst hat, ist in einer Weise mundtot gemacht und kriminalisiert worden, die uns empört hat. Es bildete sich dann spontan eine Gruppe von über 50 Kollegen – Juristen waren dabei, Philosophen, Sozial- und Politikwissenschaftler – die sich in einer gemeinsamen Erklärung diese Einschränkung der Meinungsfreiheit energisch verbaten und im eigenen Namen den inkriminierten Text des »Nachrufs« veröffentlichten. Das war eine Initiative von Kollegen aus Hannover und Bremen. An dieser Publikation habe ich habe mich als einziger Hochschullehrer aus Nordrhein-Westfalen (alle anderen waren in Bremen oder Niedersachsen tätig) beteiligt. Ich war dann auch der einzige, der vor dem Landgericht Bielefeld einen Strafprozess wegen Staatsverleumdung hatte. Der Prozess fand erst im Januar 1979 statt, nach meiner Rückkehr aus den USA und nachdem alle die Kollegen aus den beiden anderen Bundesländern in ähnlichen Verfahren einen Freispruch erzielt hatten. Einer meiner Verteidiger war Ulrich K. Preuß, der zuvor selbst in Bremen freigesprochen worden war. Das Ganze hat in der Fakultät zu allerlei distanzierendem Naserümpfen geführt, am deutlichsten bei Herrn Storbeck, der mir sonst durch seine akademische Tätigkeit nicht in Erinnerung ist. Sehr fair, auch dienstrechtlich, hat sich der damalige Rektor der Universität, der Mathematiker Grotemeyer verhalten. Aber in der Lokalpresse wie auch im nordrhein-westfälischen Landtag, wo der damalige Wissenschaftsminister Johannes Rau wegen übermäßiger Nachsicht gegenüber dem »Terroristenfreund« Offe in Bedrängnis geriet, ging es hoch her. Das ist dann alles glimpflich abgelaufen, hat mit Freispruch geendet. Aber man kann heute schwer vermitteln, welche Ausnahmesituation der »Deutsche Herbst« und die ganze damit zusammenhängende Auseinandersetzung darstellte. Die FAZ gab auf der Frontseite die Dienstorte der professoralen »Anstifter« terroristischer Anschläge (»Sie können dafür«) bekannt, darunter meinen. Ich wurde zum Staatssekretär im Ministerium einbestellt, habe mich aber dem Ansinnen, einen speziell für mich maßgeschneiderten (neuerlichen) Diensteid zu unterschreiben, verweigert. Das waren störende, lästige, beleidigende, aber vorübergehende und nicht irgendwie strukturbildende Zwischenfälle im Zusammenhang des politischen Zeitgeschehens damals. Ich war seit den 60er Jahren mit einigen Personen aus dem späteren RAF-Umkreis von der Universität her bekannt, z.B. mit Horst Mahler, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin, genauso wie mit Joschka Fischer. Ich habe aber die späteren militärischen Gewaltphantasien der RAF nie für was anderes als blanken politischen Irrsinn gehalten. Mein Lehrstuhl hieß ja etwas großspurig »Lehrstuhl für Politikwissenschaft und Soziologie«. Ich war 35 und hatte nie wirklich Politikwissenschaft studiert – abgesehen davon, dass ich in Politikwissenschaft habilitiert war bei F. Scharpf und F. Naschold in Konstanz. Ich hatte einen großen Nachholbedarf und ein großes Interesse, ihn quasi im Selbststudium zu befriedigen, nach-
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dem ich die arbeitsmarktpolitischen Dinge zu einem gewissen Abschluss gebracht hatte. Dies zumal auch deswegen, weil mir seitens der Fakultät auferlegt wurde, jedes zweite Semester eine Einführungsvorlesung in die politische Theorie (»Von Machiavelli bis Weber«) anzubieten. Von manchen Teilen des Stoffes, v.a. Hobbes und Locke im 17. Jahrhundert, hatte ich bis dahin wenig Ahnung und musste mich daher sehr gründlich mit der Vorlesung beschäftigen. Ich treffe heute noch Leute, die da drin saßen und sich erinnern, das sei eine lohnende Vorlesung gewesen, chronologisch vom 16. bis zum 20. Jahrhundert gegliedert. Nebenher habe ich meine Aufsätze geschrieben und nicht mehr größere Drittmittel-Projekte betrieben. Die sind ja auch sehr aufwendig, was die Beantragung, Berichterstattung und die Betreuung der aus der Projektarbeit entstehenden Dissertationen anging. Strassheim/Sack: Wie haben Sie sich denn die politische Ideengeschichte angeeignet? Offe: Unverzichtbar ist, dass man die Primärtexte liest. Und das habe ich also den Principe von Machiavelli durchgearbeitet, die Discorsi nur lückenhaft. Es ist ja auch eine Menge Holz, die da zu verarbeiten ist. Ich hatte Quentin Skinner in Princeton kennengelernt und bin heute noch mit ihm befreundet. Er hat zur politischen Ideengeschichte gearbeitet, zur Reformation und Renaissance, mit einer beneidenswert gelehrten Kontrolle des Stoffes und einem wirklich brillanten analytischen Ansatz. Er hat mich sehr inspiriert. Und dann im 19. Jahrhundert kann man ja auch viel finden. John Stuart Mill habe ich gründlich studiert – die Principles of Political Economy und die Auseinandersetzungen mit dem Utilitarismus und Bentham. Ich habe Toquevilles Démocratie en Amérique und das Ancien Règime gründlich gelesen und später noch etwas drüber geschrieben. Und Max Weber. Es gab dann noch einen Ausblick auf die »Weimarer Juristen« (Otto Kirchheimer usw.), aber im Wesentlichen hört es dann auf. Heute gibt es Spezialisten, die ihr Leben lang nichts anderes gemacht haben als z.B. J.S. Mill auszulegen. Ab 1982 habe ich intensiven Arbeitskontakt mit dem damals neu gegründeten WZB unter der Leitung von Fritz Scharpf aufgenommen und dort auch ein Sabbatical verbracht. Zwei für mich bedeutende Person in dieser Zeit möchte ich noch erwähnen. Ich war schon 1970/71 für ein Jahr auf einer Postdoctoral Fellowship in Harvard, wo ich recht engen Kontakt mit Karl Deutsch und v.a. Albert Hirschman hatte. Ich habe Hirschman 1970 bei einem Empfang aus Anlass des Erscheinens von Exit, Voice and Loyalty, seinem wohl berühmtesten Buch, kennengelernt. Daraus wurde dann eine der wichtigsten Begegnungen meines professionellen Lebens. Ich hatte beim ersten Treffen keine Ahnung, dass Hirschman ein deutscher Jude war. Mir fiel einmal ein Wort auf Englisch nicht ein, als ich mich mit ihm unterhielt, und sagte dann in irgendeinem Zusammenhang »in German we would say kopflastig«. Darauf sagte er: »Yes, top-heavy!« Wir waren später befreundet. Er hat mich 1977 nach Princeton ein-
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geladen. Eine ganz bedeutende Erscheinung, intim vertraut mit der Ideengeschichte der Politischen Ökonomie seit dem 18. Jahrhundert. Literarisch brillant und treffsicher in der Analyse; er hat mich auch inspiriert, das alles ein wenig nachzuarbeiten. 1985, im Jahr seines 70sten Geburtstages, habe ich für ihn eine Autoren-Konferenz am ZiF organisiert. Strassheim/Sack: Sie haben es vorhin schon erwähnt: Sie hatten eine Professur für Politikwissenschaft und Soziologie inne. Wie muss man sich das vorstellen? Wie war Ihre Position innerhalb der Fakultät? War das eine Schnittstellenposition, über die Sie auch die politikwissenschaftlichen Fragen in die Fakultät hineingebracht haben? Offe: In Berlin hatte ich bei Otto Stammer, Ludwig von Friedeburg und bei Renate Mayntz studiert. Die Hälfte meiner Zeit habe ich wohl bei Otto Stammer verbracht. Die politische Soziologie, Max Weber über Bürokratie, Demokratie und Legitimität, auch die Geschichte der Sozialdemokratie – das gehörte zu dem, was man da lernen konnte. Also, ich habe keine besonders wichtige Rolle in der Fakultät gespielt. Das Konzept der Bielefelder Reformuniversität war ja, dass man Theorie und Praxis, Soziologie und angewandte Politik zusammenbringt. Und dann gab es acht wissenschaftliche Einheiten wie Politik und Verwaltung, Soziologie und Entwicklungspolitik usw. Alle hüteten ihre Claims und ich war eher querschnittsorientiert und sollte Politikwissenschaft lehren. Wenn man jemanden mit 35 auf so eine Stelle setzt, dann muss man natürlich tolerant sein. Die Kollegen haben sich teilweise nicht besonders kooperativ verhalten, aber sie haben mich gewähren lassen. Das politische Milieu an der Fakultät (nicht so sehr im Lehrkörper wie in Mittelbau und bei den Studierenden) ausgesprochen grün-affin mit starker feministischer Basis. Ich erinnere mich an eine Studentin, die in meiner Sprechstunde über ihre »Doppelbelastung« klagte: nicht die, wie ich vorschnell assoziierte, zwischen den Rollen von Hausfrau und Berufstätiger, sondern die zwischen feministischen Studien, zu denen sie sich gedrängt fühlte, und dem regulären Studium der Soziologie. Ich war trotz einiger eher politischer Friktionen, über die ich geredet habe, nicht stigmatisiert. Ich hatte auch genug Freunde: Johannes Berger habe ich erwähnt, ebenso Jürgen Feldhoff; hinzu kamen eine ganze Reihe von klugen Köpfen im Mittelbau und unter meinen Doktoranden, die später akademisch und beruflich recht erfolgreich werden sollten, darunter Herbert Kitschelt, Helmut Wiesenthal, Uwe Schimank, Rolf G. Heinze, Wolfgang Merkel und Ulrike Götting und ein Dutzend weitere. Für die Bildung vielfältiger Kooperationsnetze spielte auch die sehr gute räumliche Ausstattung der Fakultät eine günstige Rolle. Strassheim/Sack: Gab es auch Gegnerschaften? Offe: Gegnerschaften? Also manchmal gab es Reibungen im Zusammenhang mit Habilitationsverfahren, z.B. mit Kaufmann. Aber es ging immer
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um fachliche Kontroversen, selten um politische oder persönliche. Manche Leute haben mir nicht so gut gefallen, manche habe ich ignoriert, mit manchen konnte man gut diskutieren. Wenn jemand das Kürzel »BRD« benutzte, schrieb ein Mitglied des Lehrkörpers gelegentlich missbilligend an den Rand »DDR-Deutsch!« Aber das war auch schon ein Höhepunkt politischer Meinungsverschiedenheit. Luhmann blieb mir immer ein Rätsel, ein höchst herausforderndes allerdings. Mit ihm hatte ich produktive, auf wechselseitigem Respekt beruhende Diskussionen, einmal in Berlin bei einer Veranstaltung an der Akademie der Künste, einmal in Amsterdam bei einem Kongress und einmal in Italien bei einer Konferenz. Das war also eher außerhalb von Bielefeld. Ein großer Gewinn meiner Zeit in Bielefeld war das sog. »Professorium«, d.h. ein interdisziplinäres Kolloquium von Inhabern von C4-Stellen. C3-Stellen kamen nicht in Betracht, weil da sozusagen noch Patronageverdacht aufkommen konnte, dem man vorbeugen wollte. Böckenförde, Wehler, Kocka, Grimm, Kosellek und einige andere trafen sich dann reihum zu Hause bei einem der Professoren, alles natürlich Männer damals. Einer musste etwas vortragen, dann folgte eine interdisziplinäre Diskussion. Das war für mich oft ziemlich anspruchsvoll und leicht aufregend – nicht unfreundlich, aber es war schon so: wenn Herr Wehler in seiner verbindlichen Art den Daumen senkte, dann musste man sich noch einmal genau überlegen, was man da gesagt hatte. Es war gut, dass man mit den Juristen und den Historikern, zum Teil auch den Philosophen und den Soziologen dann mehrmals im Semester solche kollegialen Intensivdiskussionen hatte. Strassheim/Sack: Welche Rolle spielte für Sie das ZiF? Offe: Das ZiF bot interessante Konferenzen, die oft von den Historikern initiiert waren. Kocka hat da sehr viel gemacht. Da war ich eher Zaungast, manchmal habe ich da auch vorgetragen. Aber ich habe dabei viel gelernt und war dann allerdings zuletzt 1988/89 Fellow im ZiF da oben auf dem Berg. Damals hat Dieter Grimm eine ZiF-Forschungsgruppe über »Staatsaufgaben« geleitet, ich glaube das war 1989 und das daraus hervorgegangene Buch ist 1994 erschienen und ist 1996 zu einer zweiten Auflage gekommen. Ich habe mich viel mit den USA und Großbritannien beschäftigt – Reagan und Thatcher. Das ist ja der Neoliberalismus der 1980er Jahre, der natürlich dann in den Kohl-Jahren auch noch eine Rolle spielte. Er hat sich nie so auf dem Kontinent durchgesetzt wie in den angelsächsischen Ländern. Über die britische Entwicklung habe ich Seminare veranstaltet und dann einen Aufsatz geschrieben für die Forschungsgruppe von Dieter Grimm. Ich habe damals angefangen, mich für das bedingungslose Grundeinkommen als ein sozialpolitisches Alternativmodell zu interessieren, auch für die damals in den Fokus rückende »informelle« Ökonomie. Zu diesen Themen habe ich am ZiF Konferenzen durchführen können, aus denen dann die üblichen Sammelbände hervorgegangen sind. Für solche Vorhaben war das ZiF wirklich eine ganz wichtige Einrichtung, auch interna-
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tional. Ein amerikanischer Kollege erzählte mir einmal in Berkeley, er komme gerade von einer Konferenz in Deutschland zurück. Wo er denn gewesen sei? An den Namen der Stadt konnte er sich nicht erinnern, sehr wohl aber an den Namen der Einrichtung, an der die Konferenz stattgefunden hatte: »ZiF«. Und da waren auch wirklich sehr, sehr gute Sachen, die die Historiker, die in Bielefeld ja ohnehin vorwiegend sozialwissenschaftlich arbeiteten, da veranstaltet haben. Auf Initiative von Wolfgang Streeck haben wir ein großes Projekt über »Neokorporatismus« begonnen. In dem Zusammenhang habe ich Philipp Schmitter kennengelernt und wir haben dann viel über Verbände gearbeitet, über Tripartismus, »Germany Incorporated« usw. Aus heutiger Sicht eine der Hegel’schen Eulen, die damals in der Dämmerung ihren Flug begannen. Seit Mitte der 80er Jahre kam es durch freundschaftliche und fachliche Kontakte zu Ulrich Preuß und Stephan Leibfried zu intensiven Beziehungen nach Bremen. In Bremen wurde 1989 ein »Zentrum für Sozialpolitik« gegründet. Nachdem ich an den Vorbereitungen für dieses große Institut beteiligt war, habe ich mich dort beworben und war damit auch erfolgreich. Das bedeutete dann auch den Abschied von Bielefeld. Strassheim/Sack: Wenn Sie jetzt versuchen würden, noch einmal zusammenzufassen, was das Besondere an Bielefeld war im Vergleich zu den vielen anderen Instituten und Institutionen, an denen Sie tätig waren – wie würden Sie das charakterisieren? Offe: Es war challenging. Es war eine Herausforderung und es gab die Ressourcen – die zeitlichen, räumlichen, personellen, finanziellen – mit denen man diesen Herausforderungen einigermaßen gerecht werden konnte. Die Studierenden, die ich in Bielefeld hatte, waren wohl die besten, die ich je irgendwo hatte. Mit dem damaligen Verwaltungsleiter der Fakultät, Otto Lüke – er war für die Fakultät und ihre Entwicklung sehr wichtig – musste man gut »können«. Wenig überraschend: Die Macht sitzt in der Verwaltung. Wenn man mit ihm zurechtkam, gab es kaum noch ernste Probleme; anders, wenn nicht.
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»Selbstverwaltungstage« und »antagonistische Kooperationen« Hansjürgen Daheim im Gespräch mit Volker Kruse
Hansjürgen Daheim war vom Sommersemester 1979 bis zur Emeritierung Ende 1995 Professor für Allgemeine Soziologie der Fakultät. Vor seinem Wechsel nach Bielefeld war er seit 1967/68 Inhaber des ersten von zwei Lehrstühlen für Soziologie an der neugegründeten »Reform«-Universität Regensburg in einem Fachbereich zusammen mit Historikern (sechs Lehrstühle), aber auch mit Politologen und Geografen (je zwei Lehrstühle). Volker Kruse hat in Marburg, Freiburg und Bielefeld Geschichte, Sozialwissenschaften, Philosophie und Pädagogik studiert und ist seit 2006 (apl.) Professor für Geschichte der Soziologie und Soziologische Theorie an der Fakultät für Soziologie. Nach dessen Emeritierung vertrat er für fünf Semester die Professur von Hansjürgen Daheim, der auch als sein »Habilitationsvater« fungiert hatte. Das Interview wurde schriftlich geführt.
Kruse: Lieber Hansjürgen, vielen Dank für Deine Bereitschaft zu diesem Interview zur Geschichte der Fakultät für Soziologie. Ich möchte mit einer Frage zur Größe der Fakultät beginnen. Bielefeld gehört zu den großen Zentren der Soziologie. Wenn Du sie mit kleineren Instituten vergleichen müsstest, welche Unterschiede würdest Du nennen? Daheim: Im Vergleich von Regensburg und Bielefeld kann man sagen, dass es relativ konstante Probleme und Chancen im Zeitablauf gibt. In Regensburg geringere Spezialisierung in der Lehre, Schwierigkeiten für Forschung und Publikation, eine relativ einfache Selbstverwaltung in der kleinen Einheit, in Bielefeld mehr Spezialisierung in der Lehre, mehr Chancen für Forschung und Publikation, aber auch eine komplexere und zeitraubendere Selbstverwaltung. Das Erlebnis und die Mühen des Auf bruchs beim Auf bau einer Universität und des Fachs kann man unabhängig von der Größe haben, ebenso wie eine komplexe und konfliktreiche Selbstverwaltung; besonders eine Konfrontation
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Hansjürgen Daheim im Gespräch mit Volker Kruse
mit den Kollegen und den organisierten Studierenden: Im Zeitablauf werden Probleme und Chancen verstetigt. In der großen Bielefelder Fakultät ging es darum, sich in eine fortgeschrittene und stark formalisierte »Reform«-Universität mit eigenen Problemen einzubringen: dem »Selbstverwaltungstag«, hoher Spezialisierung in der Lehre, Schwierigkeiten des Zugriffs auf stud. Hilfskräfte und Assistenten; positiv war vor allem war die Möglichkeit der Spezialisierung in der Lehre wie der kontinuierlichen Arbeit an gesellschaftlichen Problemen. Kruse: Wie ist Deine eigene Forschung durch die Fakultät – durch die Kooperation mit bestimmten Kolleginnen und Kollegen, durch die Größe und Struktur der Fakultät – beeinflusst worden? Daheim: Für die eigene Arbeit gab es vor allem Anregungen in gemeinsamen Lehrveranstaltungen, aber auch bei der Betreuung/Mitbetreuung von Doktoranden und natürlich in den Rigorosa der Promotionen. So verdankt sich mein Interesse an der klassischen politischen Ökonomie den Lehrveranstaltungen mit einem Kollegen, das an der Zwischenkriegssoziologie in Deutschland sowie das·an Strukturpoblemen von Gesellschaften in Nordostasien der Mitbetreuung von Doktoranden. Aus letzteren entwickelten sich auch Forschungsprojekte, die nach der Emeritierung beginnen konnten. Kruse: Warst Du mit der Stellung Deines Arbeitsbereichs innerhalb der Fakultät zufrieden? Daheim: Mit der »Allgemeinen Soziologie« befassten sich mehrere Arbeitsgruppen. Eine direkte Kooperation der hier tätigen Kollegen gab es nach meiner Erinnerung nicht, was auch wohl schwierig, mindestens sehr zeitaufwendig gewesen wäre. Eine besondere Frage war natürlich die starke Stellung der »Praxisbereiche«, die sich aus dem Reformanspruch der Fakultät ergab. Kruse: Welche Erfahrungen sind Dir aus der Selbstverwaltung in Erinnerung geblieben – zum Beispiel wichtige Themen oder Entscheidungen. Daheim: Hinsichtlich der Selbstverwaltung erinnere ich mich pauschal an eine gewisse Hypertrophie: wöchentlicher »Selbstverwaltungstag« und lähmende Diskussionen in der Fakultätskonferenz. Haftengeblieben ist aber vor allem das Berufungsverfahren für meinen Nachfolger. Die stärkste Einflussgruppe (an der niemand vorbeizukommen schien) waren die Frauen im Fakultätsrat. Nach vielen Diskussionen einigte sich die Kommission auf einen entsprechenden Vorschlag, der vom Fakultätsrat angenommen wurde. In den Berufungsverhandlungen wurde der aber durch das Rektorat konterkariert; die vorgeschlagene Professorin lehnte ab. Die Berufungskommission begann
»Selbstver waltungstage« und »antagonistische Kooperationen«
unter neuer Leitung von vorne. Berufen wurde schließlich ein Kollege, der nach den Kriterien des ersten Durchgangs keine Chance gehabt hätte. Kruse: Erinnerst Du Dich an besondere Konflikte innerhalb der Fakultät? Daheim: Konflikte sind mir vor allem solche entlang der Statuslinien erinnerlich: besonders als harte Interessenpolitik des »Mittelbaus«. Es ist bei Neuberufungen von Professoren (nach meiner Erinnerung) zweimal vorgekommen, dass die zu der Stelle gehörende Assistentenstelle bereits besetzt war, als der Neuberufene den Dienst antrat. Mindestens einmal wurde ein Konflikt auch durch, sagen wir einmal, »mandarinhaftes« Verhalten eines Professors hervorgerufen: Ein Kollege wollte die Assistentenstelle eines anderen mit einem seiner Doktoranden besetzen, obwohl der sich gar nicht beworben hatte. Kruse: Gab es festliegende Gegnerschaften, etwa unter wissenschaftlichen oder auch unter politischen Abgrenzungsgesichtspunkten? Daheim: Von Konflikten politischer Art wurde erzählt, aber in meiner Zeit gab es sie nicht mehr. Eine oder zwei lockere Gruppierungen entlang politischer Linien der gesellschaftlichen Auseinandersetzung waren erkennbar, aber nicht in Aktivitäten in der Fakultät beobachtbar. Kruse: Wie würdest Du das damalige Verhältnis zur Hochschulleitung beschreiben? Daheim: Das Rektorat versuchte vor allem bei Berufungen die Kontrolle auszuüben, das Kultusministerium kontrollierte die Revision der Diplomprüfungsordnung. »Antagonistische Kooperation« ist vielleicht eine brauchbare Beschreibung der Beziehung zwischen Fakultät und Rektorat bzw. Ministerium in diesen Angelegenheiten. Kruse: Gibt es persönliche Enttäuschungen, über die Du sprechen möchtest? Daheim: Zu meiner Zeit war die Bielefelder Fakultät relativ konsolidiert, es gab keinen Auf bruch mehr wie ich ihn aus den ersten Regensburger Jahren kannte. Erfreut war ich über die besseren Arbeitsbedingungen in der Lehre und die Chance, ohne Druck z.B. ein Papier für einen Kongress zu schreiben oder mich in ein Gebiet einlesen zu können. Ziemlich enttäuscht war ich über die Entwicklungen in der Selbstverwaltung. In Regensburg hatte ich erlebt; wie neue Formen der Zusammenarbeit der »Statusgruppen« durch Rückkehr zu traditionellen Formen beseitigt wurden. Aber für den Bielefelder »Selbstverwaltungstag« und die endlosen Diskussionen fehlte mir eigentlich die Zeit. Kruse: Wie sah die studentische Protestkultur zu Deiner Zeit aus?
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Daheim: An eine spezifisch Bielefelder Protestkultur kann ich mich nicht erinnern. So etwas wie den »Vorlesungsstreik« gegen ein neues Hochschulgesetz mit Besuch des Kultusministers (Regensburg im SS 1973) habe ich in Bielefeld nicht erlebt, wohl aber einen Protestmarsch von Studierenden und Professoren, mit dem Rektor an der Spitze, in die Bielefelder Innenstadt (der Anlass ist mir nicht mehr erinnerlich). Kruse: In der Außenwahrnehmung der Fakultät war Luhmann sehr wichtig. Aber wie sah das nach Deiner Erinnerung von innen her aus? Daheim: Luhmann hatte als Prominenter und als Jurist auch in der Fakultät Ansehen und Einfluss. Im Diplomprüfungsamt z.B., dessen Mitglied er lange war, hat er einmal durch einen indirekten Hinweis auf die »Systemrationalität« einen Verwaltungsgerichtsprozess über die Benotung einer Diplomarbeit abrupt zu Ende gebracht: »Wie lange wollen Sie noch streiten? Wenn wir ein Urteil haben, wissen wir, woran wir sind.«
»Die Systemtheorie ist vollkommen überschätzt« Hans-Jürgen Andreß im Gespräch mit Jost Reinecke
Hans-Jürgen Andreß hat Soziologie, Volkswirtschaft, Politik und Pädagogik in Frankfurt a.M. und Quantitative Methods an der University of Michigan in den USA studiert. Sein Tätigkeitfeld umfasst unter anderem Medizinsoziologie, soziale Infrastruktur, Sozialstruktur, Arbeitsmarkt und Berufsforschung (insb. Arbeitslosigkeit), Sozial- und Familienpolitik (insb. Armut) sowie Methoden und EDV in den Sozialwissenschaften. Zurzeit ist er Universitätsprofessor für empirische Sozialund Wirtschaftsforschung an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Jost Reinecke hat Soziologie, Geschichte und Sozialpädagogik an der Universität-GH-Duisburg studiert. Seine Forschungsschwerpunkte: Rational-Choice-Theorien in den Sozialwissenschaften; Theoretische und empirische Bedeutung; Methodologie und Anwendung von Klassifikations- und Strukturgleichungsmodellen im Querschnitt und Längsschnitt; Entwicklung von Verfahren zur mehrfachen Ersetzung von fehlenden Werten in komplexen Datensätzen; Entwicklung der Jugendkriminalität im Altersverlauf; die Bedeutung der Dimensionen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit für die Erforschung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Seit 2004 ist er Universitätsprofessor für Quantitative Methoden der empirischen Sozialforschung in der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld.
Reinecke: Bielefeld gehört zu den großen Zentren der Soziologie. Wenn Sie mit kleineren Instituten vergleichen müssten, welche Unterschiede würden Sie nennen? Andress: Die Fakultät hatte das Glück, Teil einer Universitätsneugründung zu sein, die u.a. von maßgeblichen Fachvertretern (Schelsky) konzipiert wurde. Es verwundert daher nicht, dass sie zu Beginn üppig ausgestattet war. Als ich 1980 nach Bielefeld kam, gab es, wenn ich mich richtig erinnere, allein drei Professuren im Bereich Methoden. Diese Größe und die alleinige Disziplin
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innerhalb einer Fakultät zu sein haben der Bielefelder Soziologie nicht gut getan. Das wissenschaftliche Personal bestand aus zu vielen Indianern und zu wenigen Häuptlingen. Jeder kannte jeden und hatte häufig eine bestimmte Meinung über den Anderen oder die Andere. Die Anwesenheit anderer Disziplinen hätte die Einsicht befördert, dass man Dinge auch anders machen kann, z.B., wie man wissenschaftliche Standards setzt. Aus meiner Sicht gab es zu viele Gruppen, die sich gegenseitig den Erfolg nicht gönnten. Da die individuelle Forschungsausstattung der Professuren minimal war, fand der Streit um Ressourcen im Wesentlichen über Personal statt. Außerdem wurde von zu vielen Personen Politik statt Forschung gemacht. Das kann (muss nicht) an kleineren Instituten mit gut ausgestatteten Lehrstühlen sehr viel entspannter sein. Jeder und jede verfügt über einen ausreichenden Etat, über den man selber bestimmen kann. Man versteht sich eher als Gruppe, die die Gruppeninteressen gegenüber den missgünstigen anderen Disziplinen gemeinsam verteidigt. (Natürlich gibt es auch immer Beispiele von kleinen Instituten, bei denen sich die Hauptakteure total zerstritten haben.) Der Wettbewerb mit anderen Disziplinen zwingt einen dazu, darüber nachzudenken, wo und wie man besser sein muss und welche Strategien man ergreifen will, um in diesem Wettbewerb erfolgreich zu sein. In Bielefeld fand dieser Wettbewerb für die meisten Fakultätsangehörigen in entfernten Gremien und Diskussionsforen auf Universitätsebene statt, häufig orchestriert durch das Rektorat, das in Bielefeld eine starke Macht hatte und mehr als Kontrollbehörde wahrgenommen wurde. Reinecke: Wie ist Ihre eigene Forschung durch die Fakultät – durch die Kooperation mit bestimmte Kolleginnen und Kollegen, durch die Größe und Struktur der Fakultät – beeinflusst worden? Andress: Ich habe Bielefeld einen Großteil meiner wissenschaftlichen Entwicklung zu verdanken. Ein Großteil meiner Aktivitäten konzentrierte sich auf die Lehre und die Frage, wie man die Methodenausbildung anwendungsorientierter machen kann u.a. durch die Vermittlung moderner multivariater Analyseverfahren sowie die Benutzung statistischer Programmpakete und anderer sozialwissenschaftlicher EDV-Anwendungen. Ich hoffe, hier die Fakultät ein Stück weit voran gebracht zu haben. Unter den heutigen Bedingungen publikationsbasierten wissenschaftlichen Arbeitens wäre diese große Zeitinvestition jedoch nicht besonders einträglich gewesen. In der Forschung und in meinen Publikationen habe ich keine Kooperationen mit Fakultätskollegen und –kolleginnen gepflegt, sondern mein »eigenes Ding« gemacht oder bin Kooperationen mit Personen außerhalb Bielefelds eingegangen, was natürlich auch damit zu tun hatte, dass es für meine statistischen und methodischen Interessen in der Fakultät zwar Abnehmer, aber keine Ansprechpartner gab.
»Die Systemtheorie ist vollkommen überschät zt«
Reinecke: Waren Sie mit der Stellung Ihres Arbeitsbereichs innerhalb der Fakultät zufrieden? Andress: Ich würde sagen, die Arbeitsgruppe Methoden war in der Fakultät als notwendiger Teil akzeptiert, aber mit den Inhalten und einigen Personen »fremdelte« der Großteil der anderen Fakultätsangehörigen. Reinecke: Erinnern Sie sich an besondere Konflikte innerhalb der Fakultät? Andress: Natürlich gab es über dies oder das Konflikte. Ich habe wahrscheinlich einige vergessen und möchte hier auch nicht über Vergangenes berichten. Zwei halte ich allerdings für erwähnenswert, weil der eine etwas über den »Geist« der Fakultät und der andere etwas über den Zustand der Methoden in der Profession aussagt. Die Fakultät hatte einen Antrag auf Einrichtung eines Sonderforschungsbereiches bei der DFG über Themen und Probleme der Weltgesellschaft eingereicht, der aber bei der Erstbegutachtung scheiterte, weil nicht alle, aber eine große Anzahl von Projekten nicht als förderwürdig beurteilt wurde. Die Erarbeitung des DFG-Antrages war schon nicht problemlos und mit einigen Hahnen- und Hennenkämpfen verbunden. Rudolf Stichweh versuchte dann die positiv evaluierten Projekte in einer Institutsgründung, dem Institut für Weltgesellschaft, zusammenzuführen, was zu lebhaften Debatten innerhalb der Fakultät führte, weil es so etwas wie ein Institut mit einer eigenen Ordnung noch nicht gegeben hatte. Sowohl aus dem Kreis der Professoren als auch aus der Gruppe der wissenschaftlichen Mitarbeiter wurde die Befürchtung geäußert, dass Fakultätsressourcen eventuell privilegiert verteilt und/oder die Rechte bestimmter Gruppen eingeschränkt werden. Ich fand diese Befürchtungen übertrieben. Selbst wenn sie eingetroffen wären, hätte die erfolgreiche Arbeit des Institutes auf alle anderen abgestrahlt. Hier hätte ich mir mehr Gelassenheit gewünscht, die Anderen einfach mal machen zu lassen und die Erfolgreichen mit entsprechenden Ressourcen auszustatten. Ich gebe aber zu, dass ich mich selber zu oft von dieser Stimmung des gegenseitigen Belauerns habe anstecken lassen. Ein anderer, länger andauernder Konflikt betraf meine eigene Arbeitsgruppe und war mit dem Wunsch Karin Knorr-Cetinas und ihrer Mitarbeiter verbunden, qualitative Methoden gleichwertig im Curriculum der sozialwissenschaftlichen Methodenausbildung zu verankern. Dieses war nach langen Diskussionen gelungen, führte aber eher zu einem Nebeneinander der beiden Empiriezugänge und Dateninterpretationen als zu ihrer wechselseitigen Ergänzung. Die Studierenden haben jedoch die Gelegenheit genutzt, die ungeliebte quantitative Methodenausbildung auf das Nötigste zu beschränken und stattdessen die vermeintlich leichtere qualitative Methodenausbildung zu belegen. Indirekt wurden sie in diesem Verhalten durch die Theorielastigkeit der Fakultät bestärkt, in der zwischen den Zeilen latent immer das Bedenken mit-
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Hans-Jürgen Andreß im Gespräch mit Jost Reinecke
schwang, dass diese ganze Statistik ohnehin »technisch überdreht« sei und die wahre soziologische Erkenntnis sich nur durch tiefgründige Inspektion des »Falles« ergeben würde. Natürlich war und ist die eine oder andere quantitative Methode so etwas, wie mit dem fünften Gang durch die Gegend fahren. Man sieht die möglicherweise wichtigen Details nicht mehr. Das muss man daher nicht alles gut finden. Aber leider ist durch diese Skepsis bei vielen Absolventen und Absolventinnen der Fakultät (Diplom, Promotion, Habilitation) die Vorstellung davon abhanden gekommen, dass Soziologie eine empirische Wissenschaft ist, die präziser Fragestellungen bedarf, welche nach höchsten wissenschaftlichen Standards geprüft werden müssen. Diese unnötige und auch nicht nachvollziehbare Frontstellung zwischen quantitativen und qualitativen Methoden hat sich dann Jahre später auch in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie durch die Gründung einer eigenen Sektion und unter maßgeblicher Beteiligung der Bielefelder Kollegen wiederholt. Trotz aller Lippenbekenntnisse, dass sich beide Traditionen in der empirischen Forschung ergänzen und valide Ergebnisse erst durch eine Triangulation unterschiedlicher Methoden zustande kommen, kann man entsprechende Forschungsprojekte oder entsprechende verbindende Ausbildungsgänge in Deutschland an den Fingern einer Hand abzählen. Entsprechende Kooperationen habe ich in meiner Bielefelder Zeit in der Fakultät jedenfalls nicht gesehen. Reinecke: In der Außenwahrnehmung der Fakultät war Luhmann sehr wichtig. Aber wie sah das nach ihrer Erinnerung von innen her aus? Andress: Die Systemtheorie war und ist meiner Ansicht nach vollkommen überbewertet, was sie mit vielen soziologischen Großtheorien gemeinsam hat. Zu viele junge Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sind auf diesem Ticket auf Positionen gelangt oder haben Abschlüsse bekommen, ohne sich in anderen wissenschaftlichen Kontexten zu bewähren. Man kann auch nicht gerade sagen, dass ihre Schüler und Schülerinnen an Ausbildungs- und Forschungseinrichtungen außerhalb Bielefelds oder in einschlägigen soziologischen Fachzeitschriften besonders erfolgreich waren. Insgesamt fand ich die Systemtheorie nicht unwichtig, aber ich fand sie Opium für die jüngeren Personen, um einmal einen anderen Großtheoretiker zu zitieren. Sie bekamen den falschen Eindruck, dass Soziologie vor allem Theorie ist, dass man damit etwas außerhalb der Universität anfangen kann und dass der Test von Theorien eine Nebensache ist, die man, wenn es nötig ist, mit links machen kann.
Zu groß für den Großkonflikt Gert Schmidt im Gespräch mit Ursula Mense-Petermann
Gert Schmidt hat in München und New York Soziologie, Volkswirtschaftslehre, Politikwissenschaft und Statistik studiert. Nach einer Lehrstuhlvertretung an der Universität Dortmund und einer zweijährigen Tätigkeit als geschäftsführender Direktor der Sozialforschungsstelle Dortmund wurde er 1981 auf die Professur für Sozialwissenschaften an der Bielefelder Fakultät für Soziologie berufen. 1992 nahm er einen Ruf an die Universität Erlangen-Nürnberg an. Ursula Mense-Petermann hat in Bielefeld Sozialwissenschaften, Germanistik und Erziehungswissenschaften studiert und hat sich 2006 an der Bielefelder Fakultät für Soziologie habilitiert. 2009 wurde sie in der Nachfolge von Gert Schmidt auf die inzwischen um-denominierte Professur für Arbeits- und Wirtschaftssoziologie in Bielefeld berufen.
Mense-Petermann: Wir hatten ja im Vorgespräch schon darüber gesprochen, dass die Fakultät für Soziologie in Bielefeld im nächsten Jahr ihr 50-jähriges Jubiläum feiert, und aus dem Anlass wollen wir ein bisschen zurückschauen. Ich selbst kann ja noch nicht allzu lange zurückschauen, denn ich bin seit knapp 10 Jahren erst als Professorin für Arbeits- und Wirtschaftssoziologie an der Fakultät, und Du bist ja mein Vorvorgänger auf derselben Professur gewesen, und tatsächlich kennen wir uns ja schon aus der Zeit, denn ich hab ja auch in Bielefeld studiert und unter anderem auch bei Dir studiert. Aber als Studentin habe ich eigentlich wenig von der Fakultät selber mitbekommen, und deshalb möchte ich Dich jetzt nach einigen Erinnerungen fragen. Kannst Du vielleicht zu Anfang nochmal sagen, von wann bis wann Du in Bielefeld warst und wie Deine Professur denominiert war? Schmidt: In Bielefeld war ich zwischen 1981 und 1992. Es ist eine Professur mit der Titulierung ›Sozialwissenschaften‹ gewesen, die dann von der ehemaligen Pädagogischen Hochschule (PH) übernommen wurde, die ja in die Universität Bielefeld integriert worden war. Erwartet wurde von mir, dass ich Arbeits- und Industriesoziologie und Allgemeine Soziologie lehre und dass ich
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Ger t Schmidt im Gespräch mit Ursula Mense-Petermann
Unterricht gebe auch für Studierende in den Studiengängen der Sozialwissenschaften. Diese Sonderstellung hat sich aber naturwüchsig gewissermaßen neutralisiert. Ich war an der Fakultät für Soziologie und habe dort halt gearbeitet, wie die anderen auch. Aber ursprünglich kam die Professur aus der PH. Mense-Petermann: Ja, aber Du bist ja nicht aus der PH, also Du hattest diese Professur noch nicht an der PH, sondern Du bist von außen berufen worden direkt nach Bielefeld. Schmidt: Ich war zuvor einige Jahre in Dortmund – da war ich Lehrstuhlvertreter und Leiter des Landesinstitutes Sozialforschungsstelle. An die Bielefelder Fakultät bin ich ohne jede Vorbereitung durch PH-ähnliche Erfahrungen gekommen. Mense-Petermann: Was hat das damals für Dich bedeutet, an die Bielefelder Fakultät für Soziologie zu gehen? Schmidt: Ich war damals in einem Alter und einer Berufs- sowie Bildungsphase, wo ich mich an verschiedenen Universitäten beworben habe – und Bielefeld war selbstverständlich ein sehr anziehender ›Landeplatz‹. Parallel dazu hatte ich mich u.a. in Kassel, Hamburg und auch in Berlin beworben. In Bielefeld und in Berlin hatte ich dann ›Erste Plätze‹ – und Bielefeld war schneller mit der Berufung. Aber es war schon ein Wissen da, dass Bielefeld und Soziologie in dieser Zeit, also Beginn der 80iger Jahre, eine besonders attraktive Aufnahmestation war. Mense-Petermann: Was hat denn die Attraktivität ausgemacht? Schmidt: Die Attraktivität damals: Es war eine große Fakultät, und – das habe ich ja schon gewusst – es ist eine institutionelle Besonderheit in Bielefeld gewesen, dass es eine Fakultät für Soziologie gab mit einer Vielfalt der Studiengänge und der Ausrichtungen; das Fach war breit und stark vertreten. Es war nicht eine bestimmte Thematik oder ein bestimmter Personenkreis, was mich angezogen hat, sondern einfach die Fakultät für Soziologie Bielefeld. Da einmal, wenn man die Chance bekommt, hinzugehen – was Besseres war nirgendwo sonst zu finden. Mense-Petermann: Später bist Du ja dann aus Bielefeld weggegangen, und Du hast ja auch Erfahrungen dann an kleineren Instituten gemacht. Was würdest Du denn sagen, was macht den Unterschied aus zwischen der Bielefelder Fakultät für Soziologie und Forschung und Lehre dort im Vergleich zu der Arbeit an einem kleineren Institut?
Zu groß für den Großkonflikt
Schmidt: Ja, ich bin nach zehn Jahren von Bielefeld weg, weil ich mir mit Blick auf die Berufsphase sagte, entweder ich bleibe jetzt ganz hier – es hat mich nichts aus Bielefeld weggetrieben! – oder ich mach nochmal etwas Anderes und kann nochmal neu ansetzen an einer anderen Universität. Das war ein allgemeiner Gedanke: Nach zehn Jahren in Bielefeld und noch 15 Jahre vor mir: ich war so um die 40 rum, als ich anfing und um die 50 rum, als ich aufhörte in Bielefeld. Und das – kleinere – Institut in Erlangen erschien mir sehr reizvoll für solch einen Schritt. Das Besondere an Bielefeld war auch in der Erinnerung – wie ich schon gesagt habe – natürlich die Breite des Angebotes, die Größe der Fakultät, die Möglichkeiten, die man hatte, mit unterschiedlichen Persönlichkeiten zusammenzuarbeiten, auch in unterschiedlichen Studiengängen mitzuwirken. Trotzdem bin ich dann weggegangen – nicht nur aus familiären Gründen und wegen lebensweltlicher ›Süddeutschland-Orientierung‹, sondern auch aus der Erwartung heraus, wenn nochmal, dann müsste ich jetzt wechseln. Vom Fachlichen her wäre ich gerne auch in Bielefeld geblieben, und ich glaube, man hätte mich dort auch noch ein bisschen ausgehalten. Mense-Petermann: Wie war das denn dann konkret in der Arbeit, also wie war denn Deine Professur damals aufgehängt in der Fakultät und welche Bedeutung hatte Deine Professur innerhalb der Fakultät? Schmidt: De facto war es so, dass ich sehr bald zuständig war vor allem für die Themenfelder Organisation-Arbeits-Industrie-Soziologie – aber man hat mir die Chance gegeben, auch viel in Allgemeiner Soziologie zu machen, und das hat mir auch Spaß gemacht. Von der Stellung in dem Lehrangebot war der Schwerpunkt Arbeit, Industrie und Betrieb. Das war die einzige Stelle dafür an der Fakultät, neben der Professur vom Kollegen Krahn. Mense-Petermann: Und was würdest Du sagen, wie ist Deine eigene Forschung durch die Größe und die Struktur der Fakultät beeinflusst worden, also zum Beispiel mit Blick auf Kooperationen mit bestimmten Kolleginnen und Kollegen? Du hattest ja schon gesagt, dass das sozusagen für Dich auch das Besondere war, eben die Größe und die Vielfalt und die Breite der von den Kollegen und Kolleginnen vertretenen – hauptsächlich Kollegen damals wahrscheinlich, ich weiß gar nicht, ob es schon Kolleginnen gab oder viele Kolleginnen gab – dass das wichtig war, aber hat das dann im Arbeitsalltag auch tatsächlich eine Rolle gespielt, also mit Blick auf tatsächliche Kooperationen? Schmidt: Aber ja. Ich hatte schnell die Chance nutzen können, meine Interessen in Allgemeiner Soziologie, Geschichte der Soziologie – insbesondere Georg Simmel und Max Weber – und in Theorievergleich an der Fakultät auch als Lehrender mit unterzubringen, auch in Einführungsveranstaltungen. Also Bielefeld bot mir die Chance, neben dem eigentlichen Kernfach, das ich zu ver-
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treten hatte, rasch auch Dinge zu tun, die mich auch interessiert haben, wo ich lernen konnte, wo ich neue Sachen für mich erobern konnte – beispielsweise in der Zusammenarbeit mit der Entwicklungssoziologie. Das hat mir sehr viel gebracht, da war ich auch mitbeteiligt an manchen Dissertationen und anderen Examensarbeiten. Bielefeld war groß genug, dass es mich nicht eingeengt hat. Es war nicht wie in kleineren Instituten, wo man dann doch eher genötigt ist, die Bereiche abzudecken – forschungs- und lehrmäßig – die die Stelle definiert hat, sondern ich hatte die Chance und habe sie auch wahrgenommen, mich selbst im Fach ein bisschen breiter bewegen können. Das hat mir genutzt und ich hoffe, der Soziologie und den Studierenden hat’s nicht allzu viel geschadet. Mense-Petermann: Und mit Blick jetzt auf konkrete Forschungsprojekte – hat es da sozusagen….? Schmidt: Gemeinsam mit anderen, einem ganzen Kreis von Leuten, konnte ich ohne große Widerstände von außen rasch einen kleinen Schwerpunkt auf bauen, der hieß »Zukunft der Arbeit« und da versammelten sich dann ökonomisch und sozialpolitisch orientierte Kollegen, da versammelten sich an industriellen Beziehungen Interessierte, an Technikentwicklung Interessierte. Wir hatten für viele Jahre eine relativ gut zusammen arbeitende kleine Arbeitsgruppe – es gab regelmäßige Arbeits- und Diskussionssitzungen und in einer eigenen Schriftenreihe wurden Zwischenergebnisse laufender Projekte dokumentiert. Sowas, das ist richtig, war möglich und da wurden auch keine großen Grenzen gesetzt, das konnte man an der Fakultät machen. Wenn man Vorschläge hatte, die nicht ganz absurd waren, dann wurden die auch administrativ unterstützt. Mense-Petermann: Kannst Du Dich noch erinnern, wer daran beteiligt war außer Dir selbst? Schmidt: »Zukunft der Arbeit«: Über viele Jahre sind v.a. Jürgen Feldhoff, Hajo Weber, Werner Rammert, Christel Rammert-Faber, Eckard Dittrich, Klaus Japp, Christoph Wehrsig, tragende ›Mitstreiter‹ gewesen, hinzu kamen jüngere Kollegen wie Michael Behr, Martin Heidenreich, Phillip Hessinger und Veronika Tacke. Einige wichtige Namen habe ich sicher jetzt vergessen … Das war so ein Kreis von zehn-zwölf Leuten, die über mehrere Jahre weg sich Projekte ausgedacht haben, wechselseitig auch sich befruchtet haben, und wo wir auch Themen erarbeitet haben und kleine Veranstaltungen gemacht haben. Dann gab es Beziehungen zu Kollegen wie Herrn Glagow u.a. – auch zum ASIF-Institut (Arbeitsgruppe für sozialwissenschaftliche Industrieforschung), das von Hans-Joachim Braczyk gegründet worden war. Das war insgesamt schon eine feine Sache – und sowas war, glaube ich, ganz typisch für die strukturellen Möglichkeiten, die so eine große Fakultät bietet. Es gibt keine großen Gegenparteien, man kann sich selbst irgendwie organisieren, man sucht die Partner
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dafür und dann kann man auch institutionelle Definitionen durchsetzen, und das hieß damals bei uns halt Forschungsschwerpunkt »Zukunft der Arbeit«. Mense-Petermann: Welche Bedeutung hatte der denn nach innen und nach außen? Also nach innen mit Blick auf die Frage, ob es auch parallel dazu andere solche Schwerpunkte gegeben hat, die andere Kollegen gemacht und getragen haben, und nach außen – ich meine, da gibt es ja die großen Institute in dem Bereich, das Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. (ISF) in München, das Soziologische Forschungsinstitut Göttingen (SOFI), also wie hat sich dieser Bielefelder Schwerpunkt zu solchen Instituten, zu den großen Forschungsinstituten verhalten? Schmidt: Andere, ähnliche Strukturen von Forschung gab es an der Fakultät selbstverständlich auch, Peter Weingart etwa mit der Wissenschaftssoziologie, Evers mit Entwicklungssoziologie, Albrecht mit Sozialstrukturanalyse und andere mehr. Wir waren nicht die einzige Institution innerhalb der Fakultät dieser Art. Und nach außen hin da kam mir persönlich zugute, dass ich ein bisschen Vorgeschichte hatte als Mitarbeiter des ISF in München und ich kannte die ›einschlägigen‹ Kollegen sowohl in Frankfurt (IFS) wie in Göttingen (SOFI). Die anderen Kollegen im Forschungsschwerpunkt hatten zusätzliche Vernetzungen – etwa nach Berlin und Köln. So waren wir insgesamt gut ›eingenetzt‹ im relevanten Forschungsfeld. Mense-Petermann: Würdest Du sagen, das ist damals von außen so wahrgenommen worden wie ein Forschungsschwerpunkt auf Augenhöhe? Schmidt: Also ich glaube schon, dass wir – der Forschungsschwerpunkt »Zukunft der Arbeit« – mit unseren Projekten bei den Konferenzen und den Veranstaltungen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, bei den Soziologentagen und Sektionssitzungen wahrgenommen wurden. Die Kollegen aus Frankfurt und München und Göttingen haben unsere Projekte akzeptiert als zu ihrem Interessebereich gehörend und wir haben ja auch gemeinsame Veranstaltungen organisiert. Mense-Petermann: Kann man eigentlich sagen, dass das schon eine frühe Form von Verbundforschung war, wie man das ja heute nennen würde? Schmidt: Nein, so weit ging es glaube ich nicht. Das waren keine expliziten Verbünde. Man hat zusammengearbeitet auf Projektebene, man hat sich auch auf Veranstaltungen getroffen, aber einen richtigen Verbund institutionell gab es für den Schwerpunkt »Zukunft der Arbeit« nicht. Das wäre ja dann eher die Ebene der Schwerpunkte oder Sonderforschungsbereiche der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gewesen.
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Mense-Petermann: Was denkst Du, warum sich dieser Forschungsschwerpunkt nicht hat halten können in Bielefeld? Schmidt: Das hat einfach damit zu tun, dass mehrere Personen etwa in der gleichen Zeit wie auch ich die Fakultät verlassen haben. Eckhard Dittrich etwa ging nach Magdeburg. Ich bin ja dann nach Erlangen gegangen und den Schwerpunkt gab es dann noch eine ganze Weile, aber irgendwann war auch nicht mehr genug Personal da. Mense-Petermann: Dann warst Du ja auch in Deiner Bielefelder Zeit mal Dekan. Wie wurde man eigentlich damals Dekan? Gab es sozusagen feststehende Regeln, so was wie Anciennität zum Beispiel? Schmidt: Es gab eine Regel, der ich auch unterworfen wurde. Relativ früh nach Beginn meiner Tätigkeit an der Fakultät wurde ich freundlich verpflichtet, Hochschullehrersprecher zu werden. Das war so eine Art Initiationsritus und das ist auch vernünftig gewesen. Über die Rolle, die man übernommen hat, hat man die Fakultät kennengelernt. Das war ganz nützlich. Und dann gab’s die Frage des Dekans, die kam immer wieder auf: wer ist nun dran! Und nach – glaube ich – zwei, drei Perioden war halt ich dran und wurde gefragt – das war ganz üblich so – ob ich das nicht machen wollen würde und ich habe nicht hart genug ›Nein‹ gesagt. Dann bin ich halt Dekan geworden, das war 1987-89. Ich habe mich nicht darum gerissen, aber es kam einfach halt wie naturwüchsig auf jeden zu. Ich war allerdings etwas länger Dekan als erst gedacht war und als ich wollte, weil es Schwierigkeiten gab mit der Rekrutierung einer Nachfolge. Da war keiner bereit, es zu tun, und dann wurde schließlich ich von Herrn Grotemeyer, dem damaligen sehr sympathischen und sehr kompetenten Rektor, zur Weiterführung des Amtes ›verdonnert‹; ich wurde dienstverpflichtet. Ich musste dann also etwas länger Dekan spielen, als ich das wollte. Ich habe das überlebt, aber das war ein bisschen ärgerlich, weil es in der Fakultät eigentlich professionskulturell nicht schlecht gewesen wäre, wenn ganz normal ein Nachfolger da gewesen wäre, aber das funktionierte halt damals irgendwie nicht. Mense-Petermann: Das heißt, dann musstest Du auf die Suche gehen und versuchen, jemanden zu finden und zu überzeugen, der das Amt dann übernommen hat? Schmidt: Also, dass ich als Person auf die Suche gehen musste: Nein. Aber es war dann eben klar, ich mache das jetzt noch, weil ich verpflichtet bin, und dann musste sich innerhalb der Hochschullehrerschaft irgendwann mal eine Situation ergeben, wo halt ein Nachfolger kommt. Aber das war nicht so, dass ich da groß auf die Suche gegangen bin. Auf die Suche sind alle gegangen.
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Mense-Petermann: Das kommt mir sehr bekannt vor, das haben wir heute auch mitunter, diese Situation, dass es nicht einfach ist, jemanden für das Dekans-Amt zu finden. Schmidt: Ich meine, das war damals ein bisschen alltagsdramatisch, aber im Rückblick muss man sagen: es sind fast normale Vorgänge, die in solchen Institutionen und Gremien halt immer mal wieder kommen und wie gesagt: der Schaden ist nicht allzu groß gewesen, der dadurch entstanden ist. Mense-Petermann: Was gab es denn sozusagen für Mittel oder für Anreize, jemanden zu gewinnen, der das dann übernommen hat? Also war das eher so auf der Ebene von – ja moralischem Druck, sage ich mal – oder an das Pflichtgefühl der Kollegen zu appellieren, oder gab es irgendwelche Anreize, dass man irgendwas gekommen hat, wenn man das Amt übernommen hat? Schmidt: Der einzige institutionalisierte Anreiz war, glaube ich, dass man zwei oder vier Stunden Lehrdeputat erlassen bekam. Das war, glaube ich, der einzige Anreiz. Also Geld gab’s nicht mehr, das wäre auch nicht nötig gewesen. Und prestigemäßig war auch nicht viel zu machen mit dem Amt. Also: die Anreize waren halt nicht groß und die Fakultät selber war so unterschiedlich in den verschiedensten Leuten und Gruppen, die da waren – es verband sich auch nicht sehr viel Vorfreude auf das, was man da gestalten kann. Es war eigentlich einfach eine ganz normale Erwartung: irgendwann muss man, wenn man längere Zeit an der Fakultät ist, halt den Dekan spielen. Mense-Petermann: Und was waren in Deinem Dekanat die zentralen Themen oder Projekte oder vielleicht auch Konflikte? Schmidt: Ich erinnere mich an zwei Dinge, die während meines Dekanats an der Fakultät passiert sind: Das eine war die Einrichtung des neuen Forschungs- und Lehrgebietes Public Health, das fiel in meine Zeit. Von der Sache hatte ich nicht sehr viel Vorahnung, aber es gab zum Glück sehr gute Kollegen – u.a. Wolters und Stollberg – die sich engagiert haben und die dann auch davon professionell profitiert haben, und wir haben Public Health als ein strukturelles Element innerhalb der Fakultät, auf Uni-Ebene und im Ministerium erfolgreich durchgesetzt. Und das zweite war: Wir haben darüber hinaus ein bisschen Umstrukturierung der Fakultätsschwerpunkte vornehmen müssen. Das erfolgte auch ein wenig auf Druck von außen, vom Ministerium und durchs Rektorat – verknüpft auch mit finanziellen Fragen. Ohne dass ich da die große Initiative gespielt hätte, kam doch so etwas wie ein Druck auf, wir müssen an der Struktur was ändern. Das haben wir auch durchgezogen – und da gab es natürlich Konflikte. Wir haben zum Beispiel den ganzen Bereich der Stadtsoziologie, der an der Fakultät verankert war, aufgegeben. Das ging nicht ohne bittere Enttäuschung und schmerzliche Frustration.
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Mense-Petermann: Und welche anderen Bereiche sind dann gestärkt worden? Schmidt: Nun gab es neu – wie erwähnt – die ›Gesundheitsforschung‹. Gestärkt worden ist natürlich oder gestützt worden ist immer die Entwicklungssoziologie, denn die hatte ja eine starke Stellung. Dann war damals unsere Industrie- und Arbeitssoziologie verhältnismäßig stark, dann war Sozialstruktur stark vertreten mit der Arbeitsgruppe um Herrn Albrecht. Wichtig war auch die Wissenschaftssoziologie mit Weingart und Knorr-Cetina, und die Sozialpolitik mit Kaufmann. Man hat ein bisschen versucht, die Fakultät zu straffen, und das ist auch gelungen. Mense-Petermann: Wie war denn damals das Verhältnis zur Hochschulleitung, wie würdest Du das beschreiben? Du hast jetzt eben gesagt, dass der Druck eigentlich aus dem Ministerium kam. Schmidt: Ein bisschen Druck kam auch aus der Hochschulleitung, vom Kanzler und Rektor. An sich war die Zusammenarbeit mit dem Rektorat und der Hochschulleitung gut. Man kann es nicht anders sagen: Im Rektorat saßen gute, erfahrene Experten, die der Soziologie auch grundsätzlich ›wohlgesonnen‹ waren – aber der Druck auf den Strukturwandel kam schon auch von dort her. Eine Universität auf der Ebene des Rektors muss ja auch nach außen immer ausweisen, wo sie erfolgreich gewesen ist. Und damals begann, was ja später viel stärker wurde: Der Einsatz der inhaltlich ja immer problematischen Sondierungsfrage nach der ›Effizienz‹. Mense-Petermann: Und was ist Dir so aus der Selbstverwaltung in Erinnerung geblieben? Also zum Beispiel wichtige Themen oder Entscheidungen oder überhaupt Erfahrungen mit der Selbstverwaltung in der Zeit? Schmidt: Ich kann da nicht sehr viel Konkretes berichten. Ich war eine Weile im Forschungsausschuss der Fakultät, ich habe also da mitgewirkt, aber an einzelne große Themen und Ereignisse, oder gar an ›dramatische Situationen‹, kann ich mich nicht erinnern. Mense-Petermann: Es gibt ja schon die Erzählung, dass es in der Fakultät für Soziologie immer recht konflikthaft zugegangen sei. Schmidt: Ja, das ist es auch. Es war ja eine sehr große, diversifizierte und in mancher Hinsicht auch disparate große Gruppe gewesen – mit unterschiedlichen Vorerfahrungen und unterschiedlichen politischen Ausrichtungen. Konflikte und Spannungen gab’s genügend. Einiges davon habe ich auch selbst erlebt, habe mitkämpfen müssen, und auch ein bisserl mitgelitten – das ist richtig. Aber insgesamt muss man im Rückblick sagen: Diese große Fakultät war auch von einem erheblichen Maß an struktureller Toleranz geprägt.
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Man hat sich wechselseitig in der Regel nicht bewusst groß wehgetan und bekämpft, man hat versucht, sein Terrain abzugrenzen und zu verhindern, dass da Eingriffe gemacht werden; die Fakultät hat auch bezüglich der Konfliktbearbeitung Vorteile in ihrer Größe gehabt. Mense-Petermann: Waren die, was würdest Du sagen, die Konfliktlinien eher wissenschaftliche oder eher politische oder einfach persönliche? Schmidt: Es gab wohl alles drei. Es gab natürlich Erfahrungen von Verständigungsproblemen zwischen Personen und es gab natürlich unterschiedliche wissenschaftliche Vorverständnisse. Anlässlich von Habilitationsverfahren und Berufungsvorgängen wurden da schon Differenzen deutlich. Es gab eher sehr stark an einem engeren Begriff von Soziologie als Profession Orientierte, es gab andere Kollegen, die mehr Öffnung in gesellschaftliche Politikbereiche hinein hatten. Es gab auch, wenn man es schlicht formulieren will, gut erkennbar gemäßigte Rechte und stramme Linke innerhalb der Fakultät. Aber die Fakultät insgesamt hat sich über ein gemeinsames Grundverständnis, was Soziologie ist, doch relativ stabil gehalten. Es hätte schlimmer sein können. Mense-Petermann: Und wie sah die studentische Protestkultur zu Deiner Zeit aus? Schmidt: Die gab es, aber es war in Bielefeld keine starke und laute Protestkultur. Die Topoi der alten 70er Jahre Debatte waren passé oder wurden relativ ›diszipliniert‹ vorgetragen. Die wichtigste Protestkultur, die ich erfahren habe, war das Aufkommen einer etwas, sagen wir, aggressiveren oder etwas pointierteren feministischen Gruppe. Also irgendwann wurden in einer Hochschullehrerkonferenz Mehltüten verschüttet. Also es gab eine aktive – sichtbare – feministische Bewegung, die aber auch ausgehalten wurde. Da wurden Streitgespräche geführt, aber es gab keinen, sagen wir massiven großen Konflikt, der nach außen getragen wurde. Mense-Petermann: Gab es eigentlich damals Professorinnen an der Fakultät? Schmidt: Ja, aber wenige: ich erinnere mich an Ursula Müller und Karin Knorr Cetina als Professorinnen an der Fakultät. Mense-Petermann: Dann war die Geschlechtersoziologie schon vertreten zu der Zeit. Schmidt: Ja, die war vertreten und die wurde auch sichtbar gemacht.
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Mense-Petermann: Spielte denn aus Deiner Sicht der Umstand, dass es sich um eine selbst zu der Zeit noch relativ neue Fakultät handelte, noch in irgendeiner Weise eine merkliche Rolle? Schmidt: Nein, das kann ich nicht sagen. Es gab immer mal Erzählungen ›Aus der Frühzeit in Vechta‹, und es war, glaube ich, ein allgemeines Bewusstsein da, dass die Fakultät für Soziologie in Bielefeld eine irgendwie neue besondere Einrichtung des Faches ist. Allein schon der Größe wegen, wir waren ja über 20 Hochschullehrer, und ich glaube, die einzigen ähnlich großen Einrichtungen waren damals Mannheim, Köln und Berlin. Mense-Petermann: Und gleichzeitig waren ja wahrscheinlich für die Außenwahrnehmung der Fakultät bestimmte Einzelpersonen besonders wichtig, also Niklas Luhmann sicherlich. Schmidt: Die Identifizierung nach außen der Fakultät für Soziologie Bielefeld mit Luhmann war evident, ganz klar. Aber das darf man auch nicht überziehen; das war nur ein ›Element‹. Es gab auch andere Kollegen, die nach außen durchaus stark gewirkt haben: Das gilt etwa für Kaufmann mit Sozialpolitik und Evers mit Entwicklungsländerforschung. Der Kollege Weingart mit der Gruppe Wissenschaftssoziologie war ebenfalls ein Repräsentant der Fakultät nach außen. Dann gab es natürlich Herrn Rammstedt mit der Simmel-Ausgabe, auch das war ein Ausweis der Bielefelder Fakultät. Die Identifizierung der Fakultät ging natürlich auch über Einzelpersonen, aber im Gegensatz zu anderen Instituten war es doch schon auch so: Es gab auch eine deutliche Außenwahrnehmung der Fakultät für Soziologie Bielefeld als Ganzes, als etwas im Lande Besonderes. Mense-Petermann: Und hat das nach innen irgendeine Rolle gespielt, dass es, ich sag mal so, wenige herausgehobene Einzelpersonen gab, die sehr stark wahrgenommen wurden? Schmidt: Ich habe ja hervorgehoben, dass es durchaus neben Luhmann noch eine Reihe anderer Soziologen mit beachtlicher Außenwirkung und –wahrnehmung gab. Und erinnernd an Luhmann darf man sagen, dass dessen große Außenwahrnehmung die Binnenbewegungen in der Fakultät wenig beeinflusst hat. Luhmann hat sich nicht besonders stark eingemischt in die Innerfakultätsgeschichten. Er hatte seine schönen pointierten Bemerkungen dazu, aber er war fakultätspolitisch nicht aggressiv. Mense-Petermann: Du hast dann ja, nachdem Du weggegangen bist, noch eine ganze Weile die Gelegenheit gehabt, die Fakultät von außen weiter zu beobachten. Welche Entwicklungen hast Du nach Deinem Weggang wahrgenommen?
Zu groß für den Großkonflikt
Schmidt: Also: Meine Wahrnehmung war – und ist auch heute rückblickend – schon: Ich habe eine besonders gute Phase der Bielefelder Soziologieentwicklung erwischt. Die 80er Jahre waren wirklich ein bisschen die auch starken Jahre der Ausstrahlung der Fakultät nach außen. Nachher in den 90er Jahren und später kamen andere neue große Schwerpunkte mit Ausstrahlung dazu. Aber die Fakultät für Soziologie Bielefeld blieb über die nächsten zwei, drei Jahrzehnte ein starkes Element, das im Fach an vielen Ecken repräsentiert war. Ich habe keine Wahrnehmung des Niedergangs gehabt. Nur nach den 80er Jahren gab es eine breite Entwicklung der Soziologie auch außerhalb Bielefelds mit starken Instituten. Aber Bielefeld ist ohne Zweifel nach wie vor ein wichtiger Angelpunkt für die Identität des Faches in Deutschland. Mense-Petermann: Ja, damit bin ich mit meinen Fragen eigentlich am Ende. Gibt es noch irgendwas, was Dir wichtig ist, das bisher nicht zur Sprache gekommen ist? Schmidt: Was ich ergänzen würde: Die Jahre, in denen ich in Bielefeld war, waren eine Zeit, in der die Soziologie sich selber nach außen oftmals definierte als eine Phase ›Soziologie in der Krise‹. Krise der Soziologie war damals nach den 70er Jahren und den Turbulenzen dort ein großes Thema. Es sprach zum Beispiel Sebastian Herkommer aus Berlin für mein engeres Forschungsfeld vom ›Elend der Industriesoziologie‹. Ich muss sagen, im Rückblick waren die 80er Jahre nicht nur in Bielefeld, sondern insgesamt, doch Jahre der erfolgreichen Konsolidierung des Faches in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Herausforderungen. Es gab die Etablierung des Schwerpunktes Humanisierung des Arbeitslebens, es gab die große Kommission für gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Wandel mit erheblichem Soziologie-Input, es gab im Bereich der Bildungspolitik institutionalisierte Diskurs-Gremien auf staatlicher Ebene, in denen Soziologen mitwirkten u.a.m. In diesen Jahren ist die Soziologie eigentlich in eine neue Phase der Wechselwirkung in der Zusammenarbeit mit staatlichen Organen getreten. Das war in den 80er Jahren, das muss man, glaube ich, rückblickend sagen, etwas Besonderes. Die Öffnung seitens der Gesellschaft für Soziologie und seitens der Soziologie das Engagement auch ›in die Gesellschaft hineinzugehen‹, das hat damals das Fach ein Stückweit neu geprägt. Mense-Petermann: Vielen Dank, dass Du bereit warst, das Gespräch mit mir zu führen.
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Die Anfänge der Sozialanthropologie in Bielefeld Günther Schlee im Gespräch mit Joanna Pfaff-Czarnecka
Günther Schlee ist Gründungsdirektor am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, wo er seit 1999 die Abteilung »Integration und Konflikt« leitet. Zuvor war er Inhaber der Professur für »Sozialanthropologie« an der Universität Bielefeld. Er hat Honorarprofessuren an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und der Universität Leipzig inne. In Hamburg studierte Günther Schlee Völkerkunde, Romanistik und Allgemeine Sprachwissenschaft. Promoviert wurde er 1977 über das Glaubens- und Sozialsystem der Rendille, einer Ethnie in Nordkenia. Seine Habilitation erlangte er 1986 in Bayreuth mit Identities on the move: clanship and pastoralism in northern Kenya, einer Arbeit, die sich mit Prozessen der Ethnogenese befasst. Neben ausgedehnten Forschungsaufenthalten in Kenia, Äthiopien und im Sudan war er Gastdozent in Padang (Sumatra) und an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris. Joanna Pfaff-Czarnecka wurde 2001 als Nachfolgerin von Prof. Schlee auf die Professur Sozialanthropologie berufen. Sie studierte, promovierte und habilitierte an der Universität Zürich und lehrte u.a. an den Universitäten Bern, Oxford, Tokio und Kathmandu. Sie forscht am Himalaya und in Mitteleuropa zu Themen der politischen Anthropologie, Globalisierung, Ungleichheit und Zugehörigkeit. Der Fokus liegt zurzeit auf Universitäten und den Prozessen des Studierens.
Pfaff-Czarnecka: Wir wollen uns über die Geschichte der Sozialanthropologie an der Uni Bielefeld – im Umfeld der Fakultät für Soziologie – unterhalten. Ich würde gerne mit der Frage beginnen, welche Beweggründe dazu geführt haben, dass an der Fakultät für Soziologie eine Professur für Sozialanthropologie eingerichtet wurde. Sozialanthropologie gab es ja nicht von Anfang an in der Fakultät … Schlee: Ja, die Sozialanthropologie war nicht dabei. Ich vermute, dass das Feld geebnet wurde durch Georg Elwert. Ich war de facto Nachfolger von Georg Elwert. Er hatte an der Fakultät sehr lange eine Assistentenstelle inne. Als ich
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anfing, war er dann schon in Berlin, glaube ich. Er hatte mit H.D. Evers und einer Reihe von anderen Leuten den Forschungsschwerpunkt Entwicklungssoziologie, wie er damals hieß, aufgebaut. Dieser war sehr stark geprägt durch den Bielefelder Ansatz, auf den wir sicher später zurückkommen werden. Georg Elwert war ja gleichermaßen Sozialanthropologe als auch Soziologe; ich weiß nicht genau, was er im Einzelnen studiert hat. Auf jeden Fall war seine Professur später »Ethnologie« und ich vermute, dass er da sozusagen das Feld geebnet hat und dass das die Notwendigkeit der sozialanthropologischen Perspektive an die Fakultät für Soziologie eingebracht hat. Dann wurde – ich vermute mal ohne eine bestimmte Person im Blick zu haben – eine Stiftungsprofessur bei der Stiftung Volkswagenwerk erfolgreich angeworben, welche die Universität fünf Jahre lang mit einer gewissen Ausstattung finanziert bekam. Im Anschluss daran wurde diese dann vom Land Nordrhein-Westfalen übernommen. Um die habe ich mich dann beworben. Ich habe diese Professur dann auch recht zügig gekriegt. Dass ich einen ersten Listenplatz haben würde, teilte man mir an dem Abend mit, an dem wir meine Habilitation in Bayreuth feierten. Pfaff: Gab es von Anfang an die Denomination »Sozialanthropologie« oder konntest du wählen, ob du ›Ethnologe‹ oder ›Sozialanthropologe‹ heißen möchtest? Schlee: Das hieß »Sozialanthropologie« und ich war durchaus damit einverstanden. Wir hatten ja auch später beim Max-Planck-Institut diese Bezeichnung gewählt. Damals gab es noch eine Missverständnismöglichkeit für den deutschen Terminus »Sozialanthropologie«, weil das auch die Fachbezeichnung der physischen Anthropologen war, die sich mit den physischen morphologischen Unterschieden zwischen den sozialen Schichten auseinandersetzen. Also etwa, dass höhergestellte Bevölkerungskreise auch eine größere Hutnummer brauchen und insgesamt größer wachsen … Die hießen im Deutschen »Sozialanthropologen«. Aber inzwischen ist diese Forschungsrichtung so obsolet und die englische Bedeutung dieses Begriffes so dominant geworden, dass es diese Missverständnismöglichkeit heute nicht mehr gibt. Pfaff: Dann ging es dir genauso wie mir, dass Du als ein habilitierter Ethnologe in Bielefeld angekommen bist und einverstanden warst, diese neue Bezeichnung des Fachs anzunehmen, weil sie durchaus interessante Konnotationen hatte. Schlee: Ja, ich hatte nichts dagegen. Auch gerade, weil es die soziologisch orientierte Richtung war, die sich an der englischen Sozialanthropologie stärker anlehnt, wo Kultur zumindest nicht als unabhängige Variable gesehen wird. In sozialanthropologischer Perspektive wird nicht irgendetwas verursacht durch Kultur, sondern allenfalls wie Kultur auf Umstände reagiert … das
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hat mir sehr gut gefallen und entsprach meiner Auffassung von Ethnologie. In kritischem Abstand zur Fachbezeichnung Ethnologie habe ich auch damals schon gesagt und geschrieben, auch im Anschluss an Elwert, dem ich sehr viel verdanke, dass Ethnie ja kein universales Gliederungsprinzip der Menschheit sei. Es gibt ja auch Menschengruppen, die nicht ethnisch organisiert sind und die zum Beispiel in kulturellen Kontinua leben, wo der Übergang fließend ist. Viele Menschen leben ja in modernen urbanen Kontexten, die de-ethnisiert sein können. Es ist durchaus nicht so, dass die allgemeine und vergleichende Wissenschaft von Menschen ›Ethnologie‹ heißen müsse, weil das ein universales Gliederungsprinzip sei. Pfaff: Inwiefern hast du es erlebt, dass sozialanthropologische Forschung an der Fakultät etwas herablassend betrachtet wurde? Schlee: Ja, ja sicher natürlich. Das spürte man. Damals hatte man ja kein Power Point, aber es gab einen Landkartenraum, wo man sich, so wie für den Schulunterricht, die großen Landkarten auf Leinwand besorgen konnte. Die konnte man in den Seminarräumen aufhängen und ich hatte natürlich immer eine Landkarte dabei, weil ich von konkreten Leuten sprach, die auf bestimmten Teilen der Erdoberfläche lebten. Darüber haben sich die Kollegen dann auf dem Gang mokiert. Na, geht es wieder in den Erdkunde-Unterricht? Immer wieder wurde die Sozialanthropologie als eine ›spezielle Soziologie‹ behandelt. Doch was ist speziell daran? Es hieß, dass die allgemeine oder theoretische Soziologie im Grunde ja keine Empirie, außer der Alltagserfahrung, brauche. Luhmann arbeitete viel mit verfremdeter Alltagserfahrung. Um neue Sichtweisen an die Alltagserfahrung heranzutragen, genügt Ostwestfalen-Lippe. Dafür braucht man keine Feldforschung in fernen Ländern. Das führt dann zu vorschnellen Verallgemeinerungen dessen, was man in diesem Rahmen vorfindet. Dann redet man von der menschlichen Gesellschaft, meint aber die nordwesteuropäische und nordamerikanische Gesellschaft. Pfaff: Oder nur Deutschland … Schlee: Oder nur Deutschland. Der Titel einer Lehrveranstaltung war ›Einführung in die Sozialstruktur‹. Da stand gar nicht einmal dabei, dass es die Sozialstruktur der Bundesrepublik Deutschland war. Da kriegte man dann Statistiken über die damalige Bundesrepublik vermittelt … das war die Welt. Das ist dann offenbar allgemeine Soziologie. Demgegenüber landen wir, die wir vergleichend auf fünf Kontinenten unterwegs sind, oder vier oder drei von den fünf, in der Schublade ›spezielle Soziologie‹. Das ist natürlich eine vernagelte Perspektive, wie sie vernagelter nicht hätte sein können, und so was spürt man dann natürlich. So ein kleines bisschen ist man der Exot. Auf jeden Fall etwas sehr Spezielles. Was die Kollegen in und um Bielefeld machen, ist ›allgemein‹, und der Rest der Welt ist offenbar recht speziell (… lacht.).
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Pfaff: Und, wen und welche Ansätze an der Fakultät hast Du als besonders spannend und inspirierend erlebt? Schlee: Es ist natürlich unvermeidlich, dass man in Bielefeld die Systemtheorie von Luhmann wahrnimmt und ich war auch etliche Male in seinem Seminar oder bei öffentlichen Vorträgen dabei. Habe mir einiges von Luhmann mit reingezogen, hab auch hier und da für Forschungsanträge durchaus auch Begrifflichkeiten von Luhmann mit verwendet, auch, wenn das für mich nie so zentral gewesen ist. Ich habe mich gelegentlich in das Kolloquium bei den Systemtheoretikern gesetzt und auch Luhmann gerne zugehört. Viele andere Kollegen habe ich dort nie gesehen. Die Wahrnehmung der Schulen in der Soziologie (Systemtheorie versus Handlungstheorie) hat sicher meine eigene Begrifflichkeit geschärft. In der Ethnologie oder Sozialanthropologie verlaufen die Trennlinien an anderer Stelle. In Bielefeld habe ich dann viel aufgesogen, als ich plötzlich Professor an einer Fakultät für Soziologie war und mit einem mal Sachen prüfen musste, die ich selbe nie studiert hatte. Soziologie wurde dann schnell etwas wie mein drittes Nebenfach. Beim Weltkongress habe ich dann als Dekan der Presse erklärt, was Soziologie ist und worin ihre gesellschaftliche Bedeutung besteht. Einige Kollegen fanden meine Ausführungen übrigens gar nicht so schlecht. Aber dass man menschliche Gesellschaften systemtheoretisch oder handlungstheoretisch betrachten kann, also vom Individuum her, ausgehend vom Modellieren der Kalküle von Individuen, dann andere Individuen dazu nimmt und wechselseitige Interaktion usw., betrachtet und das dann auf Gruppen ausweitet, und deren Interaktionen. Letztlich ist das alles eine Ausweitung auf eine Summierung oder eine komplexe Interaktion von Einzelentscheidungen. Das wäre der handlungstheoretische Ansatz. Andererseits kann man auf all dies auch von oben gucken, sozusagen auf eine Landkarte der sozialen Welt mit ihren Systemen und Subsystemen, regionalen Varianten und dergleichen. Ich hab eigentlich seitdem immer wieder beides gemacht, also »Wie Feindbilder entstehen« oder »How Enemies Are Made« sind sehr stark handlungstheoretisch geprägt und »Difference and Sameness as Modes of Integration«, wo Du ja mit dran beteiligt bist, ist sehr stark aus der Vogelperspektive betrachtet, also: Warum haben wir im einen Teil der Welt diese kleinräumige Fragmentierung mit ganz vielen kleinen Sprachen und Kulturgruppen und anderswo haben wir die großen Einheiten? Das ist ja im Grunde eine Vogelperspektive und wenn man die mit den Handlungsoptionen einzelner Menschen verknüpfen will, stößt man auf das Mikro-Makro-Problem. Das erfordert eine unheimliche Bewältigung von Komplexität. Pfaff: Und gab es noch vielleicht andere Persönlichkeiten, etwa Karin Knorr Cetina, mit denen Du in einen Austausch kamst? Schlee: Ja, sicher, Karin Knorr Cetina. Die war ja federführend bei unserem SFB-Antrag zur Globalisierung. Und da hatte ich ein Teilprojekt drin »Globa-
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lisierung von unten«, in dem ich Migrantenwissen untersuchen wollte. Das steht noch auf unserer Website vom Max-Planck-Institut als laufendes Projekt. Der Antrag ist dann letztlich gescheitert, trotz positiver, ausschließlich positiver Begutachtung, aber es gab noch eine Reihe konkurrierender Anträge, die rückhaltloser gelobt worden waren. Unter Soziologen kommen dann natürlich auch immer kritische Bemerkungen und das killt einen solchen Antrag. Also im Grunde, vermute ich, aufgrund dieser Rivalitäten, Handlungs- und Systemtheorie und verschiedenen Schulen usw., bringen da Soziologen eben keine kooperativen Spiele zustande. Das, was sie in der Spieltheorie untersuchen, können sie selber nicht. Pfaff: Und noch andere, die zu Wissen geforscht haben, etwa Peter Weingart? Schlee: Ja, das war auch einer, zu dem ich mehr Kontakt hatte als zu anderen. Pfaff: Dann gab es Rudolf Stichweh … Schlee: Stichweh war ja Nachfolger von Luhmann, also das war sozusagen die Fortsetzung, Stichweh war auch ein Schüler von Luhmann. Ja, mit Stichweh haben wir noch zusammen das Projekt ›Freundschaft und Verwandtschaft‹ entwickelt, an dem auch der Göttinger Historiker Frank Rexroth beteiligt war. Pfaff: Was hat Dich an der Fakultät besonders herausgefordert? Schlee: Besonders herausgefordert? Ja, eine besondere Herausforderung bestand darin, dass man gegen eine bestimmte Art der Fachkultur in der Soziologie anarbeiten musste. Also, da waren noch sehr viele Lehrveranstaltungen. Diese wurden den Dauer-Oberräten überlassen, die machten Einführung in dies und Einführung in das und dann kriegten die jungen Abiturienten, die gerade frisch anfingen, und die sich der Gesellschaft und dem menschlichen Leben widmen wollten, ja, sie bekamen einen gewissen Methodenminimalismus vermittelt. Da wurde das wache Interesse runter dekliniert und umgemünzt in bestimmte kochrezeptartige methodische Vorstellungen. Ich hatte großen Wert darauf gelegt, dass ich immer auch eine Veranstaltung im Grundstudium machen konnte, damit ich auch die ganz jungen Leute noch kriegen konnte, bevor sie bei diesen akademischen Oberräten gewesen sind. Denn, wenn sie vorher bei diesen akademischen Oberräten gewesen waren und dann zu mir später in die Lehrforschung kamen … Ich erinnere mich sehr lebhaft an ein Gespräch. Eine Lehrforschungsgruppe wollte nach Simbabwe und da hatten wir einen Betreuer vor Ort. Ich sollte die Vorbereitungen in Bielefeld durchführen. Da habe ich gesagt, dass wir uns jetzt breit einlesen müssen, angefangen mit dem ›Ethnographic Survey‹. Was gibt es an jüngeren Monographien, ethnographisch, naturräumlich usw? Wir müssen zunächst die Literatur sichten und wir müssen uns breit informieren, um länderkundliches und
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ethnographisches Wissen über Simbabwe zu erwerben, um dort ernstgenommen zu werden. Wir richten jetzt erstmals eine Lesegruppe ein. Und da meinte dann eine Teilnehmerin »… Ja, ich wollte doch aber eigentlich nur Befreiungskämpferinnen interviewen …«. Da hatte sie bereits gelernt: Du musst dein Thema, dein Interesse fokussieren. Du brauchst am besten einen Fragebogen oder Leitfragen und du musst die Zeit einrechnen und es darf nicht zu viel sein. Und dann musste ich den Studierenden neue Perspektiven beibringen. »Wenn die euch als kompetenten Gesprächspartner akzeptieren sollen, dann müsst ihr schon etwas wissen. Dann könnt ihr nicht vollkommen unwissend in das Land reisen und dann gleich mit irgendwelchen speziellen Fragen auftauchen. Die Leute akzeptieren euch nicht und die erzählen euch nicht die interessanten Sachen, weil die denken, ihr versteht das sowieso nicht.« Also das offene Interesse, das wache Erkenntnisinteresse junger Menschen an der Welt war dann durch die 50-, 55-jährigen akademischen fossilisierten Oberräte zum Teil schon wieder zugeschüttet worden. Und das musste man dann neu erwecken. Das war ein gewisser Kampf gegen so eine pseudoprofessionalisierte Fachkultur. Pfaff: Warst Du mit der Stellung Deines Arbeitsbereichs innerhalb der Fakultät zufrieden? Schlee: In einer numerischen Aufzählung muss immer jemand der letzte sein. ›Entwicklungssoziologie‹, oder nachdem ich dazukam ›Entwicklungssoziologie und Sozialanthropologie‹ war zunächst die AG VI, und rutschte, immer auf dem letzten Platz verbleibend, bei einer Neuordnung, bei der aus sechs Einheiten acht wurden, noch weiter herunter. Dass Kollegen, die zu dieser Untereinheit gehörten, davon sprachen, ist ein Indikator, dass sie das durchaus als eine Art Marginalisierung wahrnahmen. Außerhalb Bielefelds mangelte es dagegen nicht an Anerkennung. Dort war der ›Bielefelder Ansatz‹ bei allen, die etwas mit Afrika, Asien oder Lateinamerika zu tun hatten, gut bekannt. Auch ich fand deswegen den Ruf nach Bielefeld sehr erfreulich, obwohl ich ihn wohl ohnehin angenommen hätte, weil die Bielefelder Professur meine erste Dauerstelle war. Pfaff: Und welche Erfahrungen sind Dir aus der Selbstverwaltung in Erinnerung geblieben – zum Beispiel wichtige Themen oder Entscheidungen. Schlee: Eine wichtige Entscheidung war, den Weltkongress für Soziologie 1994 nach Bielefeld zu holen. Der absorbierte auch mit einem Vorlauf von über einem Jahr viel Arbeitskraft. Auch für die regionale Wirtschaft war das ein Faktor. Hotelkontingente in großem Umfang und in einem beträchtlichen geographischen Umkreis mussten rechtzeitig vorher blockiert werden. Als es dann soweit war, war ich Dekan und habe eine Begrüßungsansprache gehalten. Die Arbeit haben aber andere gemacht, darunter der Kollege Storbeck. Eine andere
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wichtige Entscheidung war die Gründung der Fakultät für Gesundheitswissenschaften aus der Fakultät für Soziologie heraus. Die neuen Kollegen gehörten zunächst zu uns, bis die neue Fakultät dann auf eigenen Beinen stand. Pfaff: Was wusstest Du über Bielefeld, als Du Dich beworben hast? Ging von der Fakultät für Soziologie ein besonderer Reiz aus, dass Du gedacht hast ›das wird für mich spannend‹? Schlee: Ja, der Bielefelder Ansatz war damals schon im Gespräch und ich kannte ja seit mehreren Jahren aus dem Bayreuther Kontext Georg Elwert sehr wohl. Ich hatte auch das eine oder andere gelesen und das fand ich schon durchaus einschlägig. Außerdem war das eben die größte Fakultät für Soziologie Europas oder der Welt, also die Universität, wo die Soziologie einen Fakultätsstatus hat und deswegen sich auch irgendwie weiter begreifen muss, im sozialwissenschaftlichen Spektrum mehr umfassen muss, als nur die klassische Soziologie. Das fand ich alles durchaus interessant. Zentral für den Bielefelder Ansatz war die Bedeutung der Subsistenzwirtschaft zu unterstreichen. Diese wird ja immer in Armutsstatistiken unterschlagen. Die Statistik besagt immer wieder, dass eine Milliarde oder zwei Milliarden oder wie viele Menschen auch immer von 1 Dollar am Tag leben müssen. Sie leben selbstverständlich nicht von 1 Dollar am Tag, sondern leben von dem, was sie in ihren Gärten anbauen und auf ihren Feldern ernten oder aus dem Wald holen oder erbeuten. Sie leben zum großen Teil außerhalb der Geldwirtschaft. Und die Bedeutung dieser nicht monetarisierten Wirtschaft für das Gesamtbild oder das Ende der Einschränkung dieser Subsistenzwirtschaft im Sinne von Monetarisierung und Globalisierung und im Grunde das Vordringen des Kapitalismus muss untersucht werden. Doch der Kollege Grathoff hat einmal gesagt …«Wie kann man sich nur für Subsistenzwirtschaft interessieren? Subsistenz ist das, was wir zum alltäglichen Leben brauchen. Wir sollten die Kultur und die verfeinerten Leistungen würdigen ….« Er hat gar nicht verstanden, worum es geht! Dass die Lebensbasis eines großen Teils der Menschheit durch kommerzialisierte Formen verdrängt wird, durch Tauschverhältnisse, in denen diese Menschen oft dann wesentlich schlechter da stehen. Das war der Bielefelder Subsistenzansatz, welcher aus meiner Sicht von H.D. Evers und Georg Elwert stark geprägt war. Pfaff: Wer war damals da, als Du gekommen bist? Schlee: H.D. Evers war natürlich die eindeutige Leitfigur. Tilmann Schiel war da, der mit ihm auch etliche Sachen als Ko-Autor geschrieben hatte. Mein Assistent war Heiko Schrader, der frisch promoviert war. Später waren Marie-Hélène Perey und Rüdiger Korff meine Assistenten, jeder zu seiner Zeit. Dann war Veronika Bennholdt-Thomsen da, die sozusagen die feministische Variante des Bielefelder Ansatzes vertreten hat. Georg Stauth war da und vertrat den Islam,
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Ägypten und Nahen Osten. Tut mir leid, wenn ich jetzt einige vergessen habe; dann gab es eine enge Kooperation mit den Geographen. Der Geograph Ulrich Mai war da sehr aktiv und sehr sichtbar, da wusste man gar nicht, zu welcher Fakultät er gehörte. Er gehörte also gruppendynamisch dazu, zu diesem Cluster. Auch Erhard Berner war in den frühen Jahren schon da. Pfaff: Johannes Augel? Schlee: Johannes Augel selbstverständlich. Er hat das Dokumentationszentrum Lateinamerika geleitet, dessen Direktion ich dann auch teilweise innehatte. Also immer abwechselnd mit H.D., wer gerade vor Ort war. Lange habe ich mich um die Formalia gekümmert … die Arbeit hat er gemacht, dieses Dokumentationszentrum Lateinamerika geleitet und den habe ich in sehr angenehmer Erinnerung. Er ist ja dann auch nach Afrika gegangen. Er hat in Guinea Bissau geforscht. Pfaff: Wie war das strukturell? Wie viele Stellen waren da und wie war das möglich, dass diese Abteilung so groß war und so viele namhafte Persönlichkeiten beinhaltete? Schlee: Also ich kann jetzt nach diesem zeitlichen Abstand nicht mehr sagen, was alles Grundfinanzierung war und was aus Projekten finanziert war. Auf jeden Fall lebte man von den Forschungsmitteln her und wahrscheinlich auch von Stipendien und angeworbenen Personalmitteln. Der Forschungsschwerpunkt wurde sehr stark von dem großen VW-Programm der Südostasienforschung finanziert. Gegenwartsbezogene Südostasienforschung, so ähnlich hieß das. Das war ein großes Programm, das über mehrere Jahre lief und verlängert wurde. Das war die materielle Basis, denn von der Fakultät kriegte man gar nichts. Ich glaube, ich hatte da mal so was wie 160 Mark. Das wäre eine halbe Konferenzreise gewesen. Pfaff: Das heißt, die Abteilung war sehr drittmittelstark und das hat sich ja dann noch verstärkt, als Du gekommen bist. Schlee: Mit den Graduiertenkollegs natürlich. Wir haben alle sehr viel mehr an Geld rein geholt, als wir selber gekostet haben. Pfaff: Wer war Dein erster Doktorand? Schlee: Der erste, den ich als meinen Studenten zur Promotion geführt habe, war Steve Tonah, später – und bis heute – Professor in Accra. Er hat eine sehr erfolgreiche Karriere in Afrika gemacht und auch im Sinne des Bielefelder Ansatzes.
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Pfaff: Du selber bist ja Afrikanist. Du hast schon Südostasien erwähnt. Dann gab es ja noch das lateinamerikanische Dokumentationszentrum. Schlee: Ja. Pfaff: … War das Absicht, das regionale Spektrum möglichst breit aufzufächern? Im Sinne, dass dieser Entwicklungszusammenhang an der Bielefelder Soziologie möglichst die Welt abdeckte, oder hat es sich eher einfach so ergeben? Schlee: Wir hatten schon regionalwissenschaftliche Vorstellungen dahinter. Wir wollten auch eine Wechselbeziehung zwischen verschiedenen Teilen der Welt betrachten und suchten nach sinnvollen Vergleichsmöglichkeiten. Ich erinnere mich, dass H.D. Ewers auch von dem Becken des Indischen Ozeans gesprochen hatte … Kulturverbindung … Das hat ihn durchaus interessiert. Und er wusste auch über die Sprachfamilien Bescheid und wie weit sich die Papuasprachen von den westlichen austronesischen und speziell den malaischen Sprachen unterscheiden. Er hatte durchaus ein großräumiges Verständnis, ohne selber Forschung zur Kulturgeschichte zu betreiben. Aber er hatte diese große kontinentale Sichtweise. Er hat auch immer die These vertreten, dass die entscheidenden Entwicklungsprozesse durch kontinentale Vereinheitlichung gehen. Also, dass Amerika zu einer Großmacht geworden ist durch die Eisenbahn, durch die Verbindung der Küsten und er hat etwas Ähnliches erwartet mit Eurasien. Es war lange, lange bevor andere Leute zu Seidenstraße und zur Politik des modernen China zu forschen anfingen. Er hat gesagt, Eurasien kann zu einer Wirtschaftsmacht werden, wenn die kontinentale Distanz überwunden wird und wir nicht nur den Seeweg haben nach Asien, sondern auch die kontinentalen Verbindungen, denn am amerikanischen Beispiel haben wir gesehen, dass das die wirklichen Entwicklungsprozesse auslöst. Er hatte eine globale Sicht und er hatte, glaube ich, nicht den Ehrgeiz, unbedingt die ganze Welt abdecken zu müssen, aber dass die Teile, die untersucht werden, auf unterschiedliche Art miteinander korrespondieren und etwas miteinander zu tun haben. Das war, glaube ich, seine Sicht. Wir hatten ja auch immer ein Kolloquium. Darin hab ich eine Menge über Südostasien gelernt. Wir hatten nie ein getrenntes Afrikanistik-Kolloquium oder dergleichen. Es wurde immer alles zusammen gebracht und letztlich auch verglichen. Pfaff: Weil es auch konzeptuell sehr spannend war. Schlee: Das war aber eine Selbstverständlichkeit. Nie ist jemand auf die Idee gekommen, die Regionalgruppe Afrika mit einem Sonderkolloquium für Regionalspezialisten anzubieten.
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Pfaff: Deine Abteilung … wer hat darin im Verlauf der Jahre mitgearbeitet und welche thematischen Schwerpunkte hast du eingebracht? Schlee: Welche thematischen Schwerpunkte ich eingebracht habe …? Ich hatte natürlich schon die Forschung in Nordkenia zu meiner Habil hinter mir. Ich habe dann in den ersten Jahren auch weiter an »Identities on the Move« gearbeitet, was dann schließlich der Buchtitel wurde. Ich habe damals auch politische Anthropologie und auch die Arbeit über kollektive Identifikation weiter betrieben. Ich habe natürlich auch Arbeiten betreut, die vom Subsistenzansatz ausgingen, der ja nicht im Widerspruch dazu steht. Wenn ich einen Akzent gesetzt habe, dann v.a. die klassischen ethnologischen Methoden. Ich habe in Bayreuth und später auch in Bielefeld immer regelmäßig die Veranstaltung zur Verwandtschaftsethnologie, zur genealogischen Methode angeboten. Pfaff: Und hast Du die Lehrforschung initiiert oder gab es diese bereits, als Du kamst? Schlee: Nein, die gab es, aber ich hab die natürlich begeistert mitgemacht. Pfaff: Und wie sah es mit der Lehre aus? Schlee: Ich hab die Sozialanthropologie bzw. sozialanthropologische Veranstaltungen zu bestimmten Themen im Grundstudium und im Hauptstudium jahrelang angeboten. Zur Verfügung standen jeweils acht Stunden Lehrdeputat, wobei zwei Stunden davon mein Doktorandenkolloquium waren, und die sechs Stunden Veranstaltungen im Grund- und Hauptstudium waren nach einer Anlaufphase stets gut gefüllt. Dann eines Tages, im Jahr, bevor ich dann weggegangen bin, war plötzlich eine Veranstaltung überhaupt nicht mehr gut gefüllt. Es hat sich ergeben, dass die fossilisierten Mitarbeiter, die Dauer-Oberräte in der Kommission für Lehre sich ausgedacht hatten, dass die Sozialanthropologie eine spezielle Soziologie ist, genauso wie die Frauenforschung, und, wenn man diese spezielle Soziologie schon im Grundstudium gemacht hat, sie dann nicht noch im Hauptstudium weiter studieren darf. Es gibt halt Leute, die Langweiler sind. Sie selbst haben leere Lehrveranstaltungen und die mussten dann über die Studienordnung dafür sorgen, dass ihre eigenen Veranstaltungen voll waren, damit sie eine Existenzberechtigung hatten. Durch so ein Gerangel ist es dann letztendlich kaputt gemacht worden, bevor Du die Stelle angetreten hattest. Ich hab noch an Dich appelliert, dass das ein lohnender Streit wäre, aber dann bist Du … Pfaff: Ich hab das nicht geschafft … Schlee: Es haben andere Leute dagegen gesteuert. Ich hab auch in den 90er Jahren mit sehr großem Aufwand versucht, einen Magisterstudiengang So-
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zialanthropologie zu etablieren. Das war zu einem Zeitpunkt, als noch wenige Leute davon redeten. Ich war ja damals erst Lehrkörpersprecher und später auch eine Zeitlang Dekan, und auch eine Zeitlang Vorsitzender des Ausschusses für Lehre. Ich habe mich also durchaus in die akademische Selbstverwaltung eingebracht. Ich habe die Soziologen angehalten, doch bitte ein Gleiches zu tun und auch einen Magisterstudiengang Soziologie zu entwerfen, weil der Diplomstudiengang, das Diplom für Soziologie in Deutschland einen sehr guten Namen hatte, aber Diplom in anderen Ländern eben für die Friseurausbildung steht oder irgendwelche nichtakademischen Ausbildungen … und deswegen habe ich gesagt: »wenn es denn Magister heißen soll, bietet doch bitte mehr als nur einen Studiengang an. Vieles überlappt sich, vieles von dem, was ihr macht, können wir gebrauchen, vieles von dem was wir machen, könnt ihr gebrauchen. Wir können das einfach wechselseitig öffnen. Was wir ohne weiteres machen könnten, wäre, einen Magisterstudiengang Sozialanthropologie, einen Magisterstudiengang Soziologie und einen Magisterstudiengang Politologie anbieten« …. Und so lange Frau Windhoff-Héritier damals in Bielefeld war, hatten wir auch sehr offenes Gehör. Das wurde systematisch hintertrieben von den Mitarbeitern, die das hätten umsetzen sollen, weil die eben den Diplomstudiengang Soziologie und das Diplom als berufsqualifizierenden Abschluss und ihr Markenzeichen bewahren wollten, und alle anderen Aktivitäten, die man auch noch hätte machen können, dem unterordnen wollten. Durch den Bologna-Prozess haben sie dann von oben und außen die Strukturierung in BA und MA übergestülpt bekommen. So haben sie einen MA, der Soziologie heißt, gekriegt, und die anderen Fächer haben sie nicht eingeführt. Wenn man damals auf mich gehört hätte, hätte man sich 20 Jahre früher diesen Prozess selbstbestimmt betreiben können und sich sogar an die Spitze einer Entwicklung setzen können. Aber das waren dieselben Leute, die verhindert haben, dass man Sozialanthropologie im Grundstudium und im Hauptstudium machen kann, und die Studierenden sollten sich gefälligst auf eines beschränken. Es gab also immer Leute mit der großen Heckenschere, die versucht haben, meine Aktivitäten zu stutzen. Pfaff: Konntest Du Dich in anderen Bereichen gegenüber den Soziologen gut behaupten? Schlee: Ich musste vom ersten Tag an Soziologie prüfen. Da war jetzt endlich der neue Professor da. Jetzt plötzlich konnten die anderen endlich ihr Forschungsfreisemester nehmen. So musste ich ran … und dann waren viele Kollegen ganz plötzlich weg. Ich hab deren Kandidaten geerbt und musste mich auf die Themen, auf die sie sich länger vorbereitet hatten, von einem Tag zum anderen vorbereiten, um darüber prüfen zu können. (… lacht.) Ich hatte im Grunde ja ein anderes Handwerk gelernt und vertrat ein anderes Fach, welches nicht Bestandteil der Kultur der Fakultät für Soziologie in Bielefeld war. Sie setzten einfach einen Wissenskanon voraus, der für sie selbstverständlich
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war, und dann musste man sich natürlich noch in das eine oder andere einlesen. Die anderen Professoren waren 26 an der Zahl; ich hab mich sehr stark darauf eingelassen, … auch darauf einlassen müssen, man musste ja immer die Relevanz der Sozialanthropologie für die Soziologie erklären. Da hatte ich einmal eine Veranstaltung »Grundbegriffe der Soziologie«. Es war eine Kombination von einer Vorlesung und einer Übung, einer begleiteten Übung und ja » … Schlee … können Sie nicht die Übung dazu machen…? Vielleicht sogar mit sozialanthropologischen Beispielen…« ? Dann hab ich da einen Lehrplan vorgelegt, in dem immer 1:1 anhand ethnologischer Monographien ein soziologischer Grundbegriff erörtert werden sollte und der Veranstalter meinte «.Oh, das hätte ich gar nicht gedacht, dass das so gut klappt …« Da habe ich dann gesagt: »… das ist halt Maßarbeit«. (lacht …) So etwas konnte man natürlich machen, aber die Anpassungsleistung ging immer von mir aus. Pfaff: hmm Schlee: Ich als der kleinere Bestandteil musste natürlich immer meine Relevanz für den größeren Zusammenhang darstellen und es hat nichts geschadet. Es war eine gewisse geistige Gymnastik, das, was man sagen will, auch in einer anderen Begrifflichkeit verkaufen zu können und sich und die eigene Relevanz für ein anderes Fach darstellen zu müssen. Pfaff: Gab es festliegende Gegnerschaften, etwa unter wissenschaftlichen oder auch unter wissenschaftlichen oder auch unter politischen Abgrenzungsgesichtspunkten? Schlee: Es gab eine ziemlich klare Zweiteilung der Fakultät in diejenigen, die als Universitätsprofessoren berufen waren und diejenigen, die durch die Inkorporation der Pädagogischen Hochschule an unsere Fakultät kamen. Erstere redeten gerne von der ›Zwangsintegration der PH‹ und befürchteten eine ›PH-isierung der Universität‹, also eine Anpassung in eine Richtung, die sie als ›nach unten‹ bezeichneten. Diese Einstellung ist übrigens nicht auf Bielefelder Kollegen beschränkt. Später, als ich bereits bei Max Planck war, habe ich einmal am Rande einer Konferenz mich aus einem Gespräch verabschieden wollen, mit der Begründung einen ehemaligen Bielefelder Kollegen treffen zu wollen, der auch irgendwo in der Menschenmenge war. Der Kommentar eines Max-Planck-Kollegen, der mit Bielefeld vertraut war, war: ›Aber ist das denn kein PH-Mensch?‹ Die PH-Kollegen reagierten auf diesen Gegensatz und verschärften ihn dadurch, dass sie in der Personalpolitik eigene Netzwerke förderten und ihr Wahl- und Abstimmungsverhalten sehr gut koordinierten. Die anderen waren individualistischer. Ihnen gelang es nur einmal, eine Absprache zu treffen, einander zu wählen und übrig gebliebene Stimmen zu verschenken, und diese
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Absprache auch einzuhalten. In der Periode gab es dann keinen PH-Professor mehr in der Fakultätskonferenz und das Lamento, ›die Didaktik‹ würde jetzt sträflich vernachlässigt, war laut. Pfaff: Wie würdest Du das damalige Verhältnis zur Hochschulleitung beschreiben? Schlee: Den damaligen Kanzler Huvendiek habe ich in sehr angenehmer Erinnerung. Er kam auch gerne zu Veranstaltungen von uns, so z.B. der Eröffnung des Graduiertenkollegs ›Markt, Staat, Ethnizität‹. Pfaff: Gab es offene Konflikte? Schlee: Naja, es gibt einige hässliche Geschichten. Insbesondere die Besetzung der Professur für Frauenforschung, die am Ende an Gudrun Lachenmann ging. Das war eine langwierige Geschichte, weil eine Bielefelder Kandidatin meinte, es sei Zeit für sie und dann hat sie die lokalen Studentinnen animiert. Ich weiß nicht was sie genau taten u.a. Rundschreiben zu verfassen und an andere Fachschaften verschicken. In der Folge wurden die Herren in der Berufungskommission für ihre Frauenfeindlichkeit angegriffen und der Ablehnung feministischer Grundpositionen usw. bezichtigt. Wo wir in keiner Weise eine männliche Mehrheit hatten und die Frauen in der Kommission genau das gleiche meinten! Es war klar, dass das Frauenforschung sein würde und an eine Frau gehen würde und am Ende hat die Stelle Gudrun Lachenmann gekriegt. Doch die Aktivistinnen meinten, dass eine andere Frau hätte unterstützt werden sollen, die im Unterschied zu Gudrun den wahren Feminismus vertrat. Das war dann eine Ideologisierung und eine Hetzkampagne. Das Internet war damals noch nicht soweit, sonst hätte man einen shit-storm erwartet, aber das war sozusagen das damalige Äquivalent von einem shit-storm, mit Rundmails an andere Fachschaften usw. Uns wurde so eine Art patriarchale Verschwörung unterstellt, aber ich meine, es hat mir nicht am Ende geschadet. Ich weiß nicht, ob das eine erwähnenswerte Geschichte ist. Pfaff: Gab es irgendeiner Hinsicht bei Dir ein Bedauern, Bielefeld zu verlassen? Schlee: (überlegt) Also ehrlich gesagt, so ohne dass ich jetzt die Gründe speziell über Bielefeld suchen würde, war ich damals mehr als heute noch ein rastloser Mensch und ich erinnere mich genau, dass ich in der Bayreuther Zeit, wo alles wunderbar lief und ich noch mehrere Jahre hätte bleiben können, aber mit dem Ruf nach Bielefeld doch irgendwie das Gefühl hatte, jetzt sechs Jahre an einem Ort gewesen zu sein, mal wieder etwas anderes machen zu können. Nach zwölf Jahren in Bielefeld – ich war da immerhin von 1986 bis 1999 im April – hatte ich das Gefühl, dass sich etliches routinisiert hatte.
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Das Gefühl hat überwogen, dass man doch jetzt auch mal wieder was anderes machen könnte. Universitätsprofessor ist für mich der schönste Beruf, den es überhaupt geben kann. Wenn ich mir einen Beruf aussuchen könnte, dann wäre das nicht Leiter eines speziellen Forschungsinstituts, sondern Universitätsprofessor mit geringer Lehrverpflichtung, aber mit regelmäßigem Kontakt zu Studenten und mit gutem Budget ausgestattet. Sozusagen Eliteprofessor an einer Forschungsuniversität wäre für mich die ideale Vorstellung … und ich bin ja dem Ideal sehr nah gekommen. Ich bin halt ein Glückskind. Wenn die eine oder andere Weiche anders gestanden hätte, hätte ich auch Sprachlehrer oder Buchillustrator oder Taxifahrer werden können. Gelegenheiten, irgendwo ums Leben zu kommen, hatte ich auch oft genug.
Kampf der Statusgruppen und diabolische Augen Karin Knorr Cetina im Gespräch mit Bettina Heintz
Karin Knorr Cetina studierte und promovierte 1971 an der Universität Wien, 1981 habilitierte sie sich in Bielefeld mit einer wissenschaftssoziologischen Studie (»Die Fabrikation von Erkenntnis«). Von 1983 bis 2001 war sie Professorin an der Fakultät für Soziologie in Bielefeld. 2001 wechselte sie an die Universität Konstanz, war zudem seit 2004 Gastprofessorin an der Universität Chicago. 2010 wurde sie in Konstanz emeritiert und im selben Jahr zur Distinguished Service Professorin an der Universität Chicago berufen. Bettina Heintz ist Seniorprofessorin an der Universität Luzern. Sie war von 2004 bis 2013 die Nachfolgerin von Karin Knorr Cetina auf der Professur für Soziologische Theorie und Allgemeine Soziologie.
Heintz: Bielefeld gehört zu den großen Zentren der Soziologie, und wenn Du das mit einer kleineren Fakultät oder einem kleinen Institut vergleichen würdest, das Du ja vielleicht auch kennst, was waren da die Unterschiede? Knorr Cetina: Ich finde größer immer besser. Nicht nur wegen Bielefeld, sondern weil Du einfach viel mehr epistemische Diversität hast. Ich habe das in Konstanz gesehen: Konstanz war im Grunde sehr klein und da hat man zwar ein bisschen mehr in der Hand, wenn man Professor ist, aber andererseits man hat auch niemanden zur Verfügung. Man hat einen Bernhard Giesen, der seine »Collective Memory« und derartige Dinge macht, dann hat man ein oder zwei quantitative Leute, und dann ist schon das Ende der Affäre. Das war nicht der Fall in Bielefeld, und das war hilfreich aus verschiedenen Gründen, denn meine Arbeiten sind ja interdisziplinär orientiert, und dafür braucht man nicht nur disziplininterne Diversität, sondern man braucht sie auch übergreifend. Aber der Zentrumsstatus von Bielefeld, der hat ja auch den Effekt, dass gute Studierende kamen, zumindest zu meiner Zeit. Sie haben vielleicht in Berlin, Frankfurt oder irgendwo angefangen, aber die wollten dann nach Bielefeld,
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weil das einen guten Ruf und gute Leute hatte. Und eine Menge davon: es hatte ja nicht nur Luhmann, es hatte Politikwissenschaftler, Entwicklungssoziologie, Wissenschaftsforschung, in all diesen Bereichen bekannte Leute. Heintz: Und mit wem hast Du dann primär zusammengearbeitet? Also entweder Person oder Bereiche oder Theorien oder empirische Felder? Knorr Cetina: Das ging in zwei oder drei Richtungen. Die eine Richtung war sicherlich Wissenschaftsforschung, da gab es das IWT [Institut für Wissenschafts- und Technikforschung], das ja jetzt nicht mehr existiert. Und das war für mich wichtig. Nicht so, dass ich mit Peter Weingart zusammen gearbeitet hätte oder mit Günther Küppers, aber Gespräche, ich ging zu Kolloquien oder hielt selber mal einen Vortrag. Vor allem mit Wolfgang Krohn, der sehr offen war, auch gegenüber der neueren Wissenschaftsforschung. Diese Wissenschaftsforschung hatte also Historiker, hatte Verbindungen zur Philosophie, was man ja in der Wissenschaftsforschung wollte und brauchte. Man wollte nicht nur Soziologie, auch Anthropologie. Im Moment ist es international so, dass die Anthropologie in Amerika sehr auf Wissenschaftsforschung eingestiegen ist, die Soziologie weniger. Und wir hatten das alles. Und es war fast ein Muss, dass man Historiker und Philosophen hat. Das war die eine Richtung, die andere war Mikrosoziologie. Da gab es eine Tradition vor mir, das sollte ich vertreten und habe ich auch. Da gab es Richard Grathoff und auch Otthein Rammstedt, der die Simmel-Herausgabe gemacht hat. Heintz: Und die Tradition vorher? Knorr Cetina: Das war Fritz Schütze. Die hatten damals herausgegeben – ich weiß nicht mehr wie das hieß. Ein oder zwei Bände, ein mikrosoziologisch orientierter Ansatz. Heintz: Ganz wichtiges Buch. Ja genau. Knorr Cetina: Fritz Schütze war das ja maßgeblich, der immer mal wieder kam und auch einen Vortrag hielt. Heintz: Alltagswissen hieß das, glaube ich. Zwei Bände. Knorr Cetina: Ja, zwei Bände. Ich hatte das gar nicht gekannt, aber die Tradition war schon präsent, durch Grathoff vertreten. Der hat auch mitgespielt, glaube ich, bei meiner Berufung damals. Und mit Grathoff hatte ich dann immer ein gutes Verhältnis. Wir haben nicht gemeinsam publiziert, er war ja mehr historisch und phänomenologisch orientiert, nicht Wissenschaftsforschung. Aber die Tradition einer phänomenologisch – nicht so stark hermeneutisch wie in Frankfurt – orientierten Mikrosoziologie, die für die Ethnomethodolo-
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gie wichtig ist, aber auch für den symbolischen Interaktionismus, die war mit ihm vertreten. Das hat er auch gelehrt, Theorie hat er zum Teil gelehrt. Und dann war in Bielefeld vorher auch methodisch einiges los. Ich war ja eigentlich auf einer Methodenstelle zunächst, und die wurde dann umgewandelt in eine Theorie oder allgemeine Soziologie – da kann ich mich gar nicht mehr an die Stellenkombination erinnern, da müsste ich nachschauen. Heintz: Wer war denn vor Dir auf Methoden? Qualitativ? Knorr Cetina: Auch Fritz Schütze. Schütze und wer immer da noch mit Schütze zusammengearbeitet hat – möglicherweise sind einige Leute dann in Konstanz gelandet. Da war ja dann auch ein Zentrum der Mikrosoziologie. Schütze war auf jeden Fall prominent und angesehen. Heintz: Und das waren die drei Hauptrichtungen? Knorr Cetina: Das waren die drei Hauptrichtungen – mit Niklas Luhmann. Luhmann war einer meiner Habilitationsgutachter. Am Anfang gab es mal ein Seminar mit Humberto R. Maturana über Konstruktivismus. Und Luhmann und ich haben uns sozusagen über Konstruktivismus verständigt oder unterhalten. Ich wurde nie zu einem Luhmannianer, aber ich habe viel von Luhmann gelernt, auch übernommen an Konzepten. Teilweise habe ich diese Anwendbarkeit von Luhmann, an die ich ursprünglich gar nicht geglaubt hatte, dann gefunden in der Hochenergiephysik. Das war ein relativ geschlossenes System, und solche Begriffe wie geschlossenes System und die Idee einer kognitiven Konstruktion, veräußerlicht auf Physik, das war schon hilfreich. Heintz: Aber vielleicht noch eine Frage, die ist jetzt hier gar nicht vorgesehen, die mich immer irgendwie irritiert hat. Du warst da, hast deine Wissenschaftsforschung betrieben, in dieser Zeit hat Rudolf Stichweh auch Wissenschaftsforschung betrieben, bis in die neunziger Jahre, auch Prozessionssoziologie. Luhmann hat 1990 Wissenschaft der Gesellschaft rausgegeben. Also: Auf der einen Seite Du und die Leute um Dich herum, auf der anderen Seite Luhmann und Stichweh – das war ja irgendwie wenig Bezüge, außer, dass Du einmal diesen Aufsatz geschrieben hast, diesen relativ berühmten zur Unterkomplexität der Differenzierungstheorie. Für mich waren das immer komplementäre Programme. Stichweh und Luhmann stoppen auf der Ebene der Publikation: Publikationen sind das Letztelement des autopoietischen Systems Wissenschaft. Weiter nach unten gehen wir nicht, wir disaggregieren nicht weiter. Das ist nun genau das, was die konstruktivistische Wissenschaftsforschung untersucht, also bis es zur Publikation kommt, etwa Du in deinem Buch Fabrikation der Erkenntnis. Und ich habe das immer als komplementär verstanden. Es wurde aber nie als komplementär rezipiert, auch von euch nicht, jedenfalls hat sich das nie in den Publikationen niedergeschlagen. Was ich immer außer-
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ordentlich schade fand. Du hast mit Stichweh erst viel später zusammengearbeitet, in den Neunzigerjahren oder noch später, oder? Knorr Cetina: Ja, ja. Heintz: Mit Blick auf Themen wie Weltgesellschaft, Globalisierung, also eigentlich das, was für Euch beide neu war. Wieso hat sich das nicht früher ergeben? Knorr Cetina: Ja nun, ich hatte Stichweh erst gar nicht gekannt. Er hat mich aber meines Wissens nicht aufgesucht. Was in Amerika passieren würde, wenn da jemand Neuer kommt, der auf dem gleichen Gebiet arbeitet, dann würde die Person, die schon am Ort ist, kommen und sagen, reden wir doch mal. Aber an der Fakultät waren diese persönlichen Interaktionen nicht automatisch, und ich habe sie auch nicht gesucht. Ich war nicht in einer Stellung damals, ich hatte dringende Arbeiten abzuschließen, ich war froh, dass ich meine Ruhe hatte, um das zu machen. Man hat mich sozusagen am Anfang gar nicht so sehr wahrgenommen, hatte ich den Eindruck. Man hat mich einfach in Ruhe gelassen. Das war mir recht. Meine Familie war teilweise noch in den USA, ich habe den Wechsel von Forschung und Lehre wahrgenommen und bin immer wieder rüber. Und Stichweh habe ich überhaupt nicht – ich habe nicht realisiert, dass er da ist und was er macht. Das hat mehrere Jahre gebraucht. Und Luhmann kam auch nicht. Luhmann kannte mich schon, weil er ja das erste Buch gelesen hatte … Heintz: Er zitiert es auch relativ häufig, finde ich… Knorr Cetina: Aber er suchte keinen Input von mir, und mir war mir nicht bewusst, dass er überhaupt ein Buch über Wissenschaft und Gesellschaft schreibt. Ich weiß gar nicht, wann das genau herausgekommen ist. Heintz: 1990. Knorr Cetina: Also, da haben wir uns nicht drüber verständigt. Wir haben uns schon über seine Systemtheorie verständig. Wir haben drüber geredet in verschiedenen Zirkeln und dann gab es ein Streitgespräch zwischen ihm und mir, das die Fakultät mal inszeniert hatte, wo wir zwei Stunden lang strittig, aber freundlich miteinander debattiert haben. Das war auch pumpvoll und jeder hat das für gut angesehen, dass das mal passiert ist. Aber es war auch konsequenzenlos. Luhmann hat sich ja eher zurückgezogen, er wollte seine Ruhe haben und er hatte seinen Zettelkasten. Er wollte, glaube ich, sein Leben und seine Theorie nicht verkompliziert haben – durch Fragestellungen. Das ist analog dem was ihm mit dem Kommunikationsbegriff passiert ist, meines Erachtens. Ich kenne die Kommunikationstheorie ja ein bisschen, von den Lin-
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guisten her, die das betreiben, den tatsächlichen Kommunikationsforschern. Und da hatte ich immer den Eindruck, der Luhmann redet über etwas auf irgendeiner ganz allgemeinen Ebene. Wenn man mal genauer auf Kommunikation hinschaut, kann man damit überhaupt nix anfangen, muss ganz andere Konzepte verwenden und kommt auch zu anderen Ansichten. Also Kommunikation, wirkliche sprachliche Kommunikation, hält dann die Gesellschaft auf der Weltebene nicht zusammen. Das ist nicht so einfach, denn man spricht ja verschiedene Sprachen. Man versteht sich nicht. Heintz: Ja, das ist wegen dieser Engführung von Kommunikation auf Sprache, oder? Das muss ja nicht sein. Also man kann ja Kommunikation medial auch anders sehen. Knorr Cetina: Naja, man braucht heutzutage Sprache oder Mathematik. Über Gesten kann man das nicht wirklich machen. Die wirkliche Kommunikationsforschung ist ja in der Zwischenzeit ein Spezialgebiet wie die Wissenschaftssoziologie. Und was die dann machen, das geht so viel mehr ins Detail und ist so anders orientiert. Das kann anschließen an die Ethnomethodologie, an die Sequenzanalyse. Aber das kann nicht selber anschließen an Luhmann. Heintz: Aber was ich interessant finde ist: Zwischen diesem Kommunikationsbegriff und anderen Elementen der Systemtheorie und ethnomethodologischen Forschungen gab es ja Bezugnahmen. Luhmann hat Erving Goffman, Harold Garfinkel und so weiter relativ viel zitiert, und dann wurde er für meinen Geschmack immer ein bisschen autopoietischer. Aber auch von der anderen Seite haben z.B. Wolfgang Ludwig Schneider oder Heinz Messmer diesen Link versucht. Sie haben mit diesem Kommunikationsbegriff gearbeitet, ihn aber konversationstheoretisch uminterpretiert. Und ich finde das ausgesprochen produktiv. Es zeigt auch, dass da Anschlussmöglichkeiten sind. Und bei der Wissenschaftsforschung – weil ich ja selber in diesem Bereich gearbeitet habe – hat es mir einfach nie eingeleuchtet. Das ist jetzt gar kein Vorwurf an Dich oder Stichweh oder Luhmann, sondern eher eine Frage. Knorr Cetina: Naja, es gibt vielleicht noch einen Grund – das hätte mit Luhmann nicht sein müssen, aber bei Stichweh schon eher. Ich unterscheide ja zwischen der epistemischen Dimension und der professionellen – wofür Andrew Abbott bekannt ist. Und ich hatte auch bei Stichweh immer den Eindruck, dass er über die Disziplin eigentlich als Profession redet, weil Publikation ja etwas ist, das zählt in der Profession, für die Karriere. Und die mehr erkenntnistheoretische Wissenschaftsforschung, die damals noch in einer jungen Phase war, hat das abgelehnt. Ich auch. Ich habe heute noch Verachtung dafür (lacht), obwohl ich meine eigene Verachtung völlig ungerechtfertigt finde. Aber irgendwo ist immer noch eine emotionale Reaktion da. Aber da ist schon ein Unterschied: Aus professionellen Gründen wird sehr viel gemacht und muss
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gemacht werden von Departments und Fachbereichen, da fällt auch die Ausbildung oft rein. Aber aus epistemischen Gründen müsste man oft ganz andere Dinge machen. Man macht eigentlich fast alles falsch, was man da professionell macht. Und die Neuheit dieser Wissenschaftsforschung bestand ja darin, mal die epistemische Seite anzusehen. Heintz: Ja, das war ja das Interessante. Knorr Cetina: Und nicht die Organisation und nicht die Wissenschaftspolitik, das alles war nicht mehr im Auge. In der Zwischenzeit ist das ja auch wieder gekommen. Aber damals hat man das nicht mehr annehmen wollen und hat gesagt, das machen die anderen. Das bringt uns nichts, wir untersuchen kleinere Mikrokosmen innerhalb der Organisation. Diese Trennung habe ich zum Beispiel im CERN [Europäische Organisation für Kernforschung] auch wiedergefunden. Die haben unterschieden zwischen »the System« und »the Science«. »The Science« war das Epistemische und »the System« war das CERN, also Infrastruktur und Organisation und Ressourcenfragen etc. Und mit »the System« wollten die nichts zu tun haben. Wir sagten: Ok, ihr müsst das finanzieren und wir finanzieren auch mit, wir helfen mit den Anträgen etc., aber lasst uns in Ruhe damit. Daher habe ich das vielleicht auch falsch eingeordnet und nicht gesehen, dass da Überlappungen stattfinden könnten. Bei Luhmann ist durch den Konstruktivismus eigentlich die Verbindung schon hergestellt, deswegen ging ich auch, als Maturana mal zwei Wochen lang da war, hin und habe mir das angehört. Aber zu einer wirklichen Gesprächsentwicklung mit Luhmann kam es nicht. Er war nicht so präsent an der Uni und ich dachte, das geht in ganz andere Richtungen. Heintz: Dann gehe ich mal wieder über zu den Fragen: Die Architektur in Bielefeld, die sollte ja sozusagen diese Fakultäten zusammen zu bringen, über die große Halle. Und die Frage ist, wie es zu deiner Zeit ausgesehen hat, bis vor dem Neubau, und ob das irgendwie zu einer Förderung der interdisziplinären oder intrafakultären Kontakte geführt hat. Knorr Cetina: Naja, wir hatten alle einzelne Räume und die waren geschlossen, nicht offen – es war nicht Teil der Kultur, die Tür offen zu lassen. Aber wir hatten die Halle und wir hatten eine Art von Caféort [Univarza], in den man gehen konnte, um einen Kaffee zu trinken. Man konnte auch gemeinsam essen gehen. Und dass man in das Café gehen konnte und sich in der Halle über den Weg lief, das war schon positiv. Vor allem an einem Ort, wo es viel regnet, wo man auch nicht gern nach außen geht. Und man konnte was einkaufen, hatte eine Bank, man konnte schwimmen gehen. Im Sport bin ich den Leuten nicht begegnet, aber in der Halle schon. Und dann natürlich weniger in den Gängen, weil wir ja auf mehreren Fluren waren, angereiht in Zimmern. Also die Gänge waren nicht so gebaut, dass man sich da notwendigerweise über den Weg läuft.
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Heintz: Als ich gefragt wurde, habe ich gesagt, ich hätte Pech gehabt, das man gar nicht in der Hand hatte, auf welchem Gang man platziert wurde. Ob man da in einem Gang war, in dem per Zufall irgendwie interessante Leute sind. Knorr Cetina: Das war ich ja auch nicht. Das IWT war im fünften Geschoss und Grathoff im dritten oder sogar im vierten. Also man kriegte ein Zimmer, wo halt eins frei war. Heintz: Die nächste Frage haben wir eigentlich schon ein bisschen angeschnitten, nämlich inwieweit Deine Forschung durch die Kooperation intern – Bielefeld-intern – und die größere Struktur beeinflusst wurde. Du hast ja gesagt, was für Dich wichtige Zentren waren oder Subzentren, ohne dass Du da jetzt tatsächlich kooperiert hast. Hast Du da mit jemanden kooperiert, in Bielefeld? Knorr Cetina: Also zusammen publiziert meines Wissens nicht. Das habe ich mit den Leuten aus meiner eigenen Arbeitsgruppe gemacht. Den größten inhaltlichen Einfluss auf mich, das sage ich immer wieder, hatten eigentlich die guten Studierenden und dann meine Doktoranden, die aus ihren Feldern Dinge reinbrachten, die Horizont erweiternd waren, oder Probleme, über die man nachdenken und diskutieren konnte. In diesem Kreis haben wir uns regelmäßig getroffen. Aber diese anderen Personen, die ich vorhin genannt habe, und ihre kleinen Gruppen, das hat schon zu allem Möglichen geführt, das man sich dann angehört hat. Wir hatten ja kein zentrales Kolloquium, in meiner Erinnerung. Das hätte auch keinen Sinn gemacht, dafür ist der Laden zu groß. Und da bin ich aber dann immer wieder auch mal hingegangen, habe andere getroffen, gelegentlich hat man sich auch privat gesehen. Auch Luhmann war bei mir – ich habe ja auch in Oerlinghausen gewohnt. Er hat zwar nie selber etwas gemacht meines Wissens, aber er kam auch mal, wenn ich eine Einladung machte. Es kam schon so ein bisschen zu dem, was man in Amerika an den guten Unis oft hat: dieser Fluss von Informationen. Man schnappt was auf in einem Kolloquium, diskutiert es, nachher hat man es im Kopf. Man berät das mit dem Nächsten, der vielleicht nicht da war, so fließt etwas, zirkuliert. Und das war vorteilhaft, auch wenn es nicht zu direkten Kooperationen kam. Heintz: Soweit ich weiß, hast Du zu den relativ wenigen in der Fakultät gehört, die international stark engagiert waren. Weingart natürlich auch. Knorr Cetina: Weingart war das auch, Luhmann war das auch, allerdings nicht so stark in Amerika, ich war mehr in Richtung Amerika orientiert, weil ich von da kam.
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Heintz: Und dann gab es auch solche, die das überhaupt nicht waren, oder? Hat das einen Unterschied gemacht oder wie wurde das wahrgenommen? Also heute würde das doch enormes Prestige vermitteln, oder? Insbesondere USA. Knorr Cetina: Ich hatte mit den anderen Leuten, die da waren, auch weniger zu tun. Die internationale Orientierung hat uns vielleicht irgendwie zusammengebunden. Auch Hans-Dieter Evers war durch seine Entwicklungssoziologie ständig in anderen Ländern. Natürlich war das mehr Anthropologie, aber er war immer wieder weg und hatte Projekte laufen, an anderen Orten, und es gab Leute, die das gar nicht hatten, also die reine Organisationssoziologie in Bielefeld, die war relativ lokal. Aber auch gute Leute waren oft lokal – gut von dem, was sie wussten oder dachten und welche Kommentare sie abgaben. Aber da hat sich dann weniger Kontakt ergeben. Heintz: Und dann warst Du ja im Arbeitsbereich qualitative Soziologie. Die Frage wäre: Warst Du mit Deiner Stellung zufrieden? Aber Du warst ja quasi dein eigener Arbeitsbereich. Knorr Cetina: Ja, ich kam über eine Methodenstelle nach Bielefeld und dann war ich in dem Arbeitsbereich und hatte keine Probleme, weil das in Bielefeld Tradition hatte. Die Tradition ist immer noch da, glaube ich, weil Bergmann da war und sie aufrechterhalten hat. Es gab natürlich immer Spannungen mit den Quantitativen, das ist heute in den USA schon weniger der Fall. Heintz: Während es in Deutschland wieder sehr aufgeflammt ist, mit dieser Akademie. Knorr Cetina: Das habe ich wahrgenommen, ja. Aber natürlich sind das dann andere Richtungen, die nicht viel mit einander anfangen können. Man lebt nebeneinander, nicht wahr? Das war in der Fakultät schon mit einer Reihe von Leuten so. Meine Stelle wurde dann ja allgemeine Soziologie beziehungsweise Mikrosoziologie. Dann habe ich das vertreten. Heintz: Dann warst Du in der Theorieabteilung, also quasi mit Luhmann und Hartmann Tyrell zusammen? Knorr Cetina: Ja, aber die haben ja keine wirkliche Abteilung gebildet. Wir hatten kein Komitee, in dem wir uns drüber unterhalten haben, was sollte man in Theorie lehren. Ich war so deklariert und ich hab Theorieveranstaltungen gemacht, aber ich habe nicht mit denen koordinieren müssen. Heintz: Als ich kam, da gab es so einen Arbeitsbereich, aber da haben wir nur so formale Dinge zu besprechen gehabt.
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Knorr Cetina: Wenn es ihn damals schon gab, haben wir ihn nicht realisiert. Heintz: Und eine weitere Frage, die sich jetzt eher auf die Selbstverwaltung bezieht, was Du da für Erfahrungen gemacht hast. Wie lange warst Du in Bielefeld? Knorr Cetina: Fast zwanzig Jahre. Von 1982 bis 2001, oder so. Achtzehn Jahre, glaube ich. Heintz: Wie hat die sich verändert in diesen zwanzig Jahren? Das ist ja eine enorm lange Zeit! Knorr Cetina: Naja, es war eine relativ stabile Zeit. Dann ging ich weg, ging Offe weg, Evers ging weg oder zog sich zurück. Auch Luhmann wurde noch emeritiert, als ich noch da war, aber ich weiß nicht mehr genau, wann das war. Heintz: 1997, glaube ich. Knorr Cetina: Und dann ist es so abgebröckelt, weil diese Personen, die das getragen haben, einfach weggingen oder emeritierten. Und vor allem bin ich ja dann auch eine Zeit lang im Rektorat gewesen, vier Jahre, und war dann auch an der Fakultät nicht mehr so präsent. Ich bin aus den Fakultätskonferenzen, in denen ich mir immer fremd vorkam, ins Rektorat umgezogen. Aber die Veränderungen, die kamen schon mit den Leuten, und diese Achtundsechziger-Nachwehen, die waren noch da, als ich kam. Und auch 1983 war das durchaus noch da. Heintz: Und was heißt das konkret? Knorr Cetina: Studierendenproteste, das Verhalten von den Studierenden, die Politisierung der Fakultät überhaupt. Heintz: Wie stelle ich mir die Politisierung vor? Knorr Cetina: Das hat mit dem ganzen Gremienverhältnis zu tun. Heintz: Also politisch rechts und links, oder wie? Oder konservativ? Knorr Cetina: Nein, die waren links stehend, wie die Soziologie ja fast überall. Das hing mit der Gremienfakultät und mit dieser Statusgruppenordnung zusammen … Mit der Selbstverwaltung habe ich hinten und vorne Probleme. Die erste Frage ist, was darunter verstanden wurde. Im Hinblick auf viele Dinge hatten wir ja keine Selbstverwaltung, sondern wir hingen am Gängelband des Ministeriums. Das hat ja entschieden, wen wir berufen können, und es hat das
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Budget entschieden. Also eigentlich hatten die Fakultät oder auch das Rektorat nicht viel Macht. Damit hat uns das Ministerium immer wieder viel Arbeit gemacht, was auch zu Problemen geführt hat. Die Wissenschaftsminister haben die Universitäten ja irgendwie als Profilierungsressource gesehen. Die haben ständig ein neues, revidiertes Universitätsgesetz rausgegeben, das wir realisieren mussten. Das war immer Arbeit auch auf der Fakultätsebene, irgendwelche Strukturänderungen oder Lehränderungen, ständig waren wir mit irgendeiner Art von Umsetzung beschäftigt. Auf der anderen Seite hat Selbstverwaltung wahrscheinlich gemeint, man will eine demokratischere Universität, an der alle Gruppen beteiligt sind. Da kommt diese Politisierung rein. Meines Erachtens ist da etwas passiert: Konstruktivismus, Hardcore-Konstruktivismus. Die haben uns Klassen aufoktroyiert. Denn es ist nicht natürlich der Fall, dass Professoren und Studierende in einem strukturellen Konflikt stehen. Das war nicht mal in Konstanz der Fall. Es war auch nicht an allen deutschen Unis der Fall. Dieser strukturelle Konflikt ist die Übertragung eines Marx’schen Klassenmodells auf die Hochschule. Heintz: Und das war virulent noch in Bielefeld? Knorr Cetina: Das war noch virulent, ja. Das ist gegen Ende abgeflacht, insofern als die Studierenden das Interesse irgendwie verloren hatten und nicht mehr so politisch engagiert waren. Aber der Mittelbau hat seine Grabenkämpfe weitergeführt. Und das war, da bin ich wirklich überzeugt davon, oktroyiert, weil es hier keinen natürlichen Klassenkonflikt gibt. Was natürlich passiert, ist, dass Arbeitsgruppen entstehen, in denen Studierende drin sind, von denen die Professoren auch abhängig sind, weil sie viel der naturwissenschaftlichen Arbeit direkt machen, die aber auch umgekehrt beeinflusst werden von den Professoren. Und der Mittelbau ist dazwischen und beaufsichtigt direkt und arbeitet mit beiden zusammen. Und das bildet sich sozusagen natürlich, wenn Du Forschung betreibst. Und das sollten wir ja auch betreiben. Aber durch diese künstlich fixierten Klassen, die wir hatten, die Statusgruppen, standen wir uns in jeder Fakultätskonferenz gegenüber. Dann wurde immer nachgeschaut, wer darf wofür wählen? Und der Mittelbau hatte diese Klassenidee irgendwie voll absorbiert. Vielleicht hat man zu viel Marx gelesen damals. Wenn die Professoren etwas wollten, dann wollte es der Mittelbau schon mal als erstes nicht, ohne dass gefragt wurde, macht es vielleicht Sinn oder nicht. Und umgekehrt. Aber die Anfeindungen gingen sehr stark von unten nach oben. Das war hinderlich. Das war nicht eine Erfindung der Bielefelder Uni, es war das Wissenschaftsgesetz. Also, das war eine Obstruktion, und ich bin bis heute der Meinung, dass das der deutschen Universität nicht gut getan hat. In Baden-Württemberg, zum Beispiel Konstanz, haben sie es nicht so realisiert. Ich hab das nie so empfunden in Konstanz. Da saßen Studierende in unseren Fachbereichssitzungen, aber die haben entweder nichts gesagt oder waren einverstanden oder haben mal gefragt, die Studierenden hätten gern das
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und das – war okay, sollte man zur Kenntnis nehmen. Und der Mittelbau war in Baden-Württemberg eher assoziiert mit den Lehrstuhlinhabern, nicht abhängig von denen, aber assoziiert mit denen. Als Lehrstuhlinhaber hatten wir das ausschließliche Recht zu sagen, den wollen wir hier als Assistenten haben. Heintz: Und das war in Bielefeld nicht so? Knorr Cetina: Nein. Das waren diese Entscheidungen, die ich nicht treffen konnte. Die hat die Fakultät getroffen. Und das hat dann zu Balanceakte und Konflikte zwischen den Beteiligten geführt. Heintz: Als ich kam, 2004, gab es diese Mittelbaukonflikte nicht mehr, und es war auch keine Frage, dass ich mir meine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aussuchen konnte. Knorr Cetina: Konntest Du? Heintz: Ja, keine Frage. Da hat niemand irgendwie mitgeredet. Dann hat sich das irgendwann mal verändert, ja? Knorr Cetina: Das hat sich geändert, ja. Das wurde besser, das ist abgeflacht. Aber die strukturelle Fixierung von Statusgruppen … das war formierte Gesellschaft in Klassen, indem man die Rechte, die es gibt, nicht Personen zuteilt, sondern Klassen. Und das brauchst Du überhaupt nicht. In Chicago haben wir nichts derartiges. Wir haben natürlich gelegentlich persönliche Konflikte, auch Rekrutierungsentscheidungen, aber da ist halt eine one person one vote und die Assistenzprofessoren auch, one vote, bestimmen bei allem mit, außer bei ihrer eigenen Tenure. Also wenn Tenureentscheidungen stattfinden, dann sind die Assistenzprofessuren nicht stimmberechtigt. Das machen dann nur die Fullprofessoren. Und damit besteht das Problem überhaupt nicht. Es besteht nicht. Heintz: Wir waren ja bei Erfahrungen mit der Selbstverwaltung. Knorr Cetina: Ich habe jetzt mehr allgemeine Erfahrungen geschildert. Wir konnten natürlich, das war vielleicht schon Teil der Selbstverwaltung, aber das war eigentlich auf der Rektoratsebene, den Auf bau der Gesundheitsforschung betreiben. Ich war damals Ko-Rektor für Struktur und Planung und musste mich damit beschäftigen. Ich das auch gern gemacht, und das war ein langer Prozess, der dann am Ende erfolgreich war. Heintz: Aber das war jetzt auf Rektoratsebene – irgendetwas Entscheidendes zur Selbstverwaltung innerhalb der Fakultät?
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Knorr Cetina: Da waren immer wieder Sachen mit dem IWT, welchen Status hat das? Es gab ja die alleinstehenden zentralen Institute und die, die mit der Fakultät verbunden waren. Aber das IWT war, glaube ich, nicht alleinstehend, sondern mit der Fakultät verbunden. Damit hat sich die Fakultät immer wieder beschäftigt, da gab es gelegentlich Konflikte drüber. Sonst war es eine Menge Kleinkram. Nur war eines witzig auf der Fakultätsebene: Wir gingen jedes Mal aus den Fakultätssitzungen heraus, und jeder von uns mit der Haltung »Was die Fakultät jetzt wieder entschieden hat, was das für ein Blödsinn ist«. Es war immer diese Haltung: Ich bin eigentlich nicht diese Fakultät. Diese Entkopplung, ich war gerade drin und habe mit entschieden, aber es ist eigentlich alles Unsinn, was da geschieht. Wir gehören gar nicht dazu. Es war eine ständige Distanzierung. Nicht nur von mir, sondern auch von anderen Leuten, und keine politische Distanzierung, links oder rechts. Man hat sich distanziert. Heintz: Sozusagen vom System. Knorr Cetina: Aber man musste ja abstimmen. Und es kamen bei diesen Abstimmungen halt immer wieder Dinge raus, die lausige Kompromisse waren, fand man. Die nicht richtig waren. Heintz: Erinnerst Du Dich ansonsten an besondere Konflikte in der Fakultät? Über einen, Professorenschaft vs. Mittelbau, hast Du ja schon gesprochen. Knorr Cetina: Es gab regelmäßig Konflikte um Berufungen und Besetzungen, weil die ja zentral von der Fakultät entschieden wurden, auf allen Ebenen. Da war das Einverständnis nicht immer da. Aber an einen großen Konflikt kann ich mich eigentlich nicht erinnern. Aber kleinere. Zum Beispiel, wenn Luhmann ansuchte, ob er eine Wissenschaftliche Hilfskraft bekommen kann. Das haben wir, glaube ich, einmal abgelehnt, nicht ich, aber irgendwelche Mehrheiten, die da waren, weil ja alle entscheiden durften. Da gab es dann eine Vorstellung von Egalität. Jemand, der hervorragte, das wurde abgeschnitten. Das wurde nicht anerkannt. Das hat mich und auch andere damals schon frustriert. Da waren immer manche dagegen, dass hier irgendwer irgendeinen Vorteil auf Grund von irgendwas hat. Was immer sie geleistet haben. Und solche Konflikte gab es massenhaft. Oder zum Beispiel, wer wird Dekan? Da gab es immer Konflikte drum rum, man hatte politische Angst davor. Nur politische. Es ging nie darum, kann die Person was, wäre die vielleicht gut organisationssoziologisch. Es ging immer nur drum, mit wem ist der in welcher Koalition, und wird der mir was antun oder nicht, und dann bin ich dagegen. Heintz: Damit im Zusammenhang steht die anschließende Frage, ob es festliegende Gegnerschaften gab? Knorr Cetina: Ja, das sind diese oktroyierten Statusgruppen gewesen.
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Heintz: Und innerhalb der Professorenschaft gab es das nicht so? Zwei Lager oder drei Lager, die sich bekriegt hätten? Knorr Cetina: Das war mehr von Anlässen abhängig. Also die, die ich Dir genannt habe, mit denen ich gesprochen habe, mit denen habe ich dann auch in der Regel eher gestimmt. Lager sind mir nicht in Erinnerung. Aber die quantitativen Leute haben in der Regel in ihrem Interesse gestimmt, und das war schon eine Art Lager. Heintz: Zur meiner Zeit gab es das eindeutig eine Zeit lang; nicht die ganze Zeit, nicht von Anfang an. Und das kann ja extrem destruktiv sein für die Fakultät. Knorr Cetina: Es gab so eine Art linksradikale Gruppierung, die bildeten dann eine Koalition mit einigen Mittelbauleuten. Das war aber nicht fachlich organisiert. Heintz: Das hast Du auch schon angedeutet, das damalige Verhältnis zur Hochschulleitung muss kein schlechtes gewesen sein, wenn Du Ko-Rektorin warst. Knorr Cetina: Ja, meines war sehr gut. Ich hatte schon vorher einen guten Eindruck von der Hochschulleitung, auf Distanz, ohne sie zu kennen. Karl Peter Grotemeyer ist ja erst Anfang der neunziger Jahre ausgeschieden, und der hatte einen guten Ruf. Mit ihm habe ich auch gelegentlich gesprochen. Und dann wurde ich aufgefordert, ob ich nicht ins Rektorat kommen will, auch weil ich wohl in der Soziologie die erste Professorin war. Das ist mir gar nicht mehr so in Erinnerung gewesen, aber das muss der Fall gewesen sein, weil sie mich deswegen angeschrieben haben. Möglicherweise sind sie deswegen auf mich gekommen, da sie da mal einen Soziologen wollten, und haben mich gefragt ins Rektorat einzutreten. Und ich habe dann vom Rektorat einen sehr guten Eindruck gehabt. Heintz: Wann war denn das? Warst Du da schon länger in Bielefeld? Knorr Cetina: Ja, ich war schon ein paar Jahre da. Ich war, glaube ich, vier Jahre im Rektorat, das muss von 1988 bis 1992 oder 1987 bis 1991 gewesen sein. Ich habe nach diesen vier Jahren schon gemerkt, dass ich fachlich nicht genug machen kann, und hab dann nicht mehr weiter kandidiert. Die Situation damals war die, das sie einen Kanzler hatten, den Herrn Huvendick [Karl-Hermann Huvendick] und den Herrn Krauß [Hartmut Krauß] als Fachbeauftragter, auch für die Fakultät, der selber Soziologe war.
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Heintz: Ja, den kenne ich noch, der wurde, glaube ich, gerade pensioniert, als ich kam. Knorr Cetina: Ja, und der Grotemeyer. Der Huvendiek war einfach beeindruckend, weil er die gesamte Universität im Kopf hatte: wer sitzt wo, auf welcher Position, und, wenn wir Geld brauchten, wie kann man was verschieben? Was kann man wie ändern, damit wir das machen können? Und das hat er im Rektorat dann artikuliert, da könnten wir das und jenes. Also ein ganzes Mapping der Universität hat sich immer vor mir aufgetan und ich habe immer nur bedauert, dass ich das nicht aufnehmen konnte. Ich habe nicht unloyal sein wollen, heimlich aufnehmen wollte ich nicht, aber merken konnte man sich das nicht alles. Und der Krauß wusste auch sehr viel und konnte viel. Und der Grotemeyer hat das angenommen, er war der Meinung, als Mathematiker ist er sowie mit fünfunddreißig zu nix mehr fähig. Da hat er da das angenommen, die Rektoratstätigkeit, und war ein ausgezeichneter Rektor. Heintz: Das haben viele gesagt, ja. Knorr Cetina: Weil er über den Tellerrand schaute, und er hat verschiedenen Wissenschaftsministern dann auch gesagt, wo es lang geht. Er hat nichts einfach übernommen. Er hat sehr viel Außenpolitik gemacht: Wir müssen da mal eine Ausnahme aus dem Gesetz nehmen, wir müssen das so und so machen. Die haben ihm dann auch aus der Hand gefressen, denn die haben das auch gewusst: Er hat die Uni im Griff, und das ist auch was wert, und er redet ja keinen Unsinn, er weiß, warum er das sagt. Heintz: Dann eine ganz andere Frage: Ob es persönliche Enttäuschungen gab? So richtig persönliche? Knorr Cetina: Es gab schon persönliche Enttäuschungen. Das eine war sicher der SFB. Wir haben ja einen SFB auf bauen wollen gegen Ende meiner Zeit, haben das gemacht, das war ein Mordsaufwand, und das ging schief. Ich glaube, wenn das nicht passiert wäre, wenn wir den SFB bekommen hätten, wäre ich vielleicht gar nicht von Bielefeld weg. Dann wäre das auch eine Herausforderung gewesen, das weiter zu leiten, das haben Stichweh und ich gemacht. Dann hätte vielleicht das Angebot in Konstanz nicht gezogen. Ich hatte vorher ein Angebot aus München gehabt, da war diese SFB Geschichte noch nicht entschieden, und das war schwierig, weil ich das eben nicht wusste. Das war eine Enttäuschung, klar. Und das hat auch damit zu tun, wie diese SFBs angelegt sind, dass wir gezwungen waren, das intern hinzukriegen. Aber intern hatte man dann halt nicht wirklich so viele Leute, die sich da angestrengt haben und wirklich genau das machen wollten. Diese SFBs sind immer eine Form von Simulation, weil es nicht einfach ist, Leute, die für ganz andere Zwecke rekrutiert sind, plötzlich unter einen Hut zu spannen unter einer Fragestellung.
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Das war ein Ereignis, was schiefging, am Schluss. Aber es gab noch eine andere Enttäuschung, die war irgendwie tiefgreifender, glaube ich. Wir hatten ja noch diese Nachphase der sechziger Jahre in den Achtzigerjahren, als ich kam. Das war ja eigentlich eine Aufregung, eine positive Aufregung, eine Energie. Man hatte einen Vorwärtsdrang. Das hätte transponiert werden können in Forschungsenergie. Da ist aber nicht passiert, sondern verpufft in diesen politischen Grabenkämpfen. Der Kampf zwischen den Statusgruppen ging ständig weiter und kostete Zeit, obwohl es eigentlich ohnehin rechtlich festgelegt war. Aber man hat sich dann in diesem Kampf verausgabt. Das war völlig absurd. Es ging eigentlich eine ganze Generation von Nachwuchs verloren damit, und man hat auch als Professor nicht die Verbindungen gehabt zu dem Mittelbau, konnte keine Arbeitsgruppe übergreifend konstituieren. Ich habe meine konstituiert, aber mit Studierenden, bypassed the faculty. Wenn man diese Energie in Forschung hätte stecken können, da hätte man tolle Dinge machen können. Heintz: Das war aber schon ganz anders zu meiner Zeit. Ich fand, es hat immer enorm gute Leute im Mittelbau gehabt, mit denen man völlig gleichberechtigt sprechen konnte. Knorr Cetina: Ja, das ist irgendwann gekippt, hat sich verlaufen. Diese Generation der Grabenkämpfer im Mittelbau ist dann langsam emeritiert. Die war ja auch nicht viel jünger als ich oder gleichjung. Heintz: Und sonst noch persönliche Enttäuschungen? Knorr Cetina: Schon, es gab eine dritte Dimension, der ich dann in Amerika, weil das da ganz anders ist, nochmal nachgespürt habe. Das war auch schon in Konstanz anders. Man hatte persönliche Beziehungen, aber die hat man als Fakultät überhaupt nicht gespielt. Da war zum Beispiel mal einer gestorben, ein Kollege, ein ziemlich junger, der relativ schnell an schrecklichem Krebs umgekommen war. Da hat man nicht mal eine Nachricht bekommen. Man hat nachträglich erfahren, dass da ein Begräbnis war. Also, das waren Umgangsformen. Es war ja nicht verboten, das ist wirklich eine Frage der Kultur, der Unternehmenskultur. Wie wir persönlich miteinander umgehen. Aber diese Umgangsformen waren schlecht. Heintz: Das fand ich auch. So ein hoher Grad von Kulturlosigkeit und Unzivilisiertheit. Knorr Cetina: Man spielt das auch gegenüber Leuten, die man rekrutiert: Die dürfen kommen, werden nicht mal gegrüßt, werden dann nicht verabschiedet, nichts. Das war auf allen Ebenen so. Aber realisiert habe ich es das erste Mal, dass mir da eigentlich was fehlt und dass ich das schon sehr komisch finde, wie ich über diesen Tod nichts erfahren habe, und dann Monate später festgestellt
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habe, dass der gestorben ist. Das haben sie einfach nicht für nötig gehalten, da ein Rundschreiben zu machen. Eine persönliche Enttäuschung war auch, dass es mit dem IWT nicht zu einer intensiveren wissenschaftlichen Auseinandersetzung und auch nicht zu Lehrveranstaltungen meinerseits der Wissenschaftssoziologie und Wissenssoziologie für unsere Studierenden kam. Es gab persönlich einerseits eine sehr gute Beziehung zu den Beteiligten, damals waren das Weingart, Kueppers, Krohn, und Lundgren, aber es gab keine wirklichen epistemischen Debatten, die wir eigentlich gebraucht hätten. Ich hätte die Zeit nutzen können, um zu einem verständnisgetrageneren Umgang mit den wissenschaftspolitischen und -soziologischen Vorstellungen am IWT zu gelangen, aber ich habe das vermieden. Umgekehrt wollte man auch von mir nicht erklärt haben, warum ich auf meine Art von empirischer und konstruktivistischer Wissenssoziologie so versessen war. Wir hätten Konflikte gehabt, aber sie wären produktiv gewesen. Man umzingelte sich, vermied aber den Augenkontakt. Heintz: Jetzt als Du da kamst, 1984 oder 1982, war das damals noch eine junge Fakultät für dich oder in der Außenwahrnehmung? Knorr Cetina: Du meinst jung, weil das eine neue Universität war? Ja, das war noch im Diskurs vorhanden: Wir sind eine Ausnahme, da war Helmut Schelsky. Anfangs konnte ich auch noch zwischen Forschung und Lehre wechseln, das heißt, dass ich in einem Semester mehr gelehrt habe, doppelt, und im nächsten praktisch nicht da war. Ich habe das mehrere Jahre gemacht. Meine Forschungen waren ja immer woanders, nie in Bielefeld, so war es gut, dass das möglich war. Die Idee, die Erzählung von der Gründung der Fakultät, der Universität, das war da, auch die zentrale Rolle der Soziologie. Da war ich auch irgendwie stolz drauf, das hat mich beeinflusst. Ich habe das am Anfang schon gesagt: Das hat mich schon beeinflusst, dass das eine wichtige Fakultät war, eine hervorgehobene, eine große, und dass dieser junge Spirit noch vorhanden war. Heintz: Also eine junge Fakultät, mit dieser Dynamik des Jungseins. Gleichzeitig hast Du auch von diesen verhärteten Fronten gesprochen, davon, dass die Energie, die man mitgebracht hatte aus den 1968ern, quasi kaputt war. Wie geht denn das zusammen? Knorr Cetina: Das war schon trotzdem wichtig. Du warst vereinzelt, musstest deine Sachen alleine machen. Und da war die Größe der Fakultät ein Vorteil: Ich bin ihnen nicht abgegangen. Wenn ich nicht immer da war, war das okay. In einer kleinen Fakultät geht das nicht. Wenn Du sieben Leute hast, kannst Du nicht einfach mal, wenn Trubelzeit ist, ein Freisemester nehmen, um irgendwo in Amerika zu sein. Dennoch hat man vom Ruf der Fakultät profitiert. Man hat zum Beispiel gute Studierende bekommen. Also, da waren immer
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einige Leute drunter, Stefan Hirschauer ist natürlich ein bekanntes Beispiel, Klaus Amann, Herbert Kalthoff und einige andere. Die hätten wir auch in Amerika in der Elite-Uni aufgenommen. Die kamen nach Bielefeld, weil sie von Bielefeld gehört hatten. Und das hab ich zum Beispiel in Konstanz vermisst, das gab es nicht. Die kamen nicht nach Konstanz, als graduierte Studierende, um dann ein Doktorat zu machen. Heintz: Ja, das fand ich auch, das ist das ganz Spezielle an Bielefeld gewesen, diese Qualität der Studierenden. Knorr Cetina: Das war wichtig, das hat einen eingebettet, auf dem Ruf basierend, aber es hat einen dann gehalten. Die Professoren, da lief das nicht so recht, vor allem im Mittelbau lief nichts. Aber das hat nichts gemacht, weil man die guten Studierenden hatte. Heintz: Die Studentische Protestkultur … Knorr Cetina: … war am Anfang, in den Achtzigerjahren, voll vorhanden. Also wir hatten Lehrveranstaltungen, die boykottiert wurden. Heintz: Wieso? Knorr Cetina: Was weiß ich, da gab es wieder irgendeinen Konflikt im Nahen Osten. Da gab es eine Kundgebung zur selben Zeit, also hat man die Lehrveranstaltungen boykottiert. Oder jemand hat in einer Lehrveranstaltung irgendwas gesagt, das falsch interpretiert werden konnte. Es gab sicherlich keinen Rechtsradikalen oder Rechtsstehenden an der Fakultät, aber da musste man ein bisschen aufpassen. Oder es kamen bestimmte Gelder nicht oder das Rektorat hat eine Entscheidung getroffen. Dann gab es nicht genug Wohnheime, das hat ja gestimmt, das war ein berechtigter Protest. Da haben sie Zelte aufgestellt in der Uni und haben dort übernachtet. Das Rektorat – ich war nicht im Rektorat zu der Zeit – hat dann nicht so recht gewusst, was sollen wir denn jetzt machen. Wir wollen die ja nicht abschleppen lassen von der Polizei. Da gibt es ja auch hygienische Issues, die mussten eine Dusche haben. Aber für Protest an der Uni war das Rektorat zuständig, nicht so sehr die Fakultäten. Die Fakultät kriegte das nur zu spüren, weil man aus Protest alles Mögliche boykottiert hat. Heintz: Es war, meine ich, ja auch eine Hochzeit der Frauenbewegung – gab es das zu dieser Zeit? Knorr Cetina: Ja, da wurde auch protestiert. Heintz: Auch fakultätsintern? Von den Soziologinnen also.
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Knorr Cetina: Studierende, die mehr verlangt haben, gab es, irgendwann gab es die Frauenbeauftragte, dann gab es mit der Scherereien. Immer, wenn keine Frau auf der Berufungsliste war, gab es Ärger und Proteste. Aber die Studierenden haben sich damals auch noch was einfallen lassen. Die sie sind in die Veranstaltungen gegangen und haben sie gesprengt, indem sie sagten, wir wollen jetzt über was wirklich Relevantes diskutieren. Und da war man auch ein bisschen gefordert, weil man nicht so recht wusste, was man jetzt eigentlich tun soll. Man war eigentlich nicht trainiert für solche Fragen. Und ich habe die dann halt diskutieren lassen. Aber die Sachen, die sie im Kopfe hatten, waren immer politische Fragen. Es ist niemand gekommen und hat gesagt, lasst uns doch jetzt mal darüber diskutieren, wie die Tatsache, dass wir präfrontale und backfrontale Prozessiersysteme haben, mit politischen Äußerungen zusammenhängt. Oder über Relativismus in der Wissenschaftstheorie. Das hätte man machen können, aber das kam nie auf. Die haben mal die Türen des Rektorats angeschmiert und gedroht einzubrechen. Dann haben sie den Gang zum Rektorat verschlossen in der Nacht, damit man nicht mehr reinkonnte. Heintz: Aber es gab keine Proteste, die sich gegen die Fakultät oder bestimmte Professuren oder bestimmte Gebiete richteten, und wirklich nur von Soziologie-Studierenden organisiert worden waren? Knorr Cetina: Nein, daran erinnere ich mich nicht. Als wir den integrierten Methodenkurs (IMK) durchgesetzt haben – daran habe ich auch mitgewirkt – kann es sein, dass auch Studierende dafür argumentiert haben, weil das hilfreich war, sie konnten dann ein Semester lang forschen, ein Semester wurde gelehrt. Aber sonst waren es politische Anlässe und Geldanlässe, die mit Studentenheimen, Ausstattung, Bezahlung zu tun hatten, von Hilfskräften – solche Dinge. Heintz: Die letzte Frage: über Luhmann, die Relevanz von Luhmann. Knorr Cetina: Ich sage ja, ich habe mit ihm diskutiert, wir haben uns über Konstruktivismus verständigt. Ich habe ihn eigentlich immer geschätzt, weil es immer gut war, mit ihm zu reden. Und es ist mir jetzt unlängst mal passiert, als ich über bestimmte Dinge wie strukturelle Kopplung etc. nachgedacht habe, habe ich mir gedacht, ich würde eigentlich jetzt gerne mit Luhmann drüber reden. Denn in Chicago ist niemand, mit dem man das tun konnte wie mit Luhmann. Er hat den Finger an die Nase gelegt und hat dann irgendwas hervorgeholt, was schon immer interessant war – nicht eine Lösung, aber interessant. Ich bin ja nie zum Luhmannianer geworden und hab das auch gar nicht gut werden können als Mikrosoziologin, aber ich hab von ihm profitiert, manchmal an den überraschendsten Stellen – eben in der Hochenergiephysik. Wo mir dann einfiel, das ist ja ein total geschlossenes System, und zwar ein menschliches und technisches gleichzeitig, aber geschlossen. Und persönlich
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waren wir eben beide in Oerlinghausen, und deswegen kam er auch – so oft habe ich das nicht gemacht – zu einer Einladung. Und ich hab ihn eigentlich gern gemocht. Heintz: Wie hast Du ihn persönlich so in Erinnerung? Zum Beispiel bei so einer Einladung, im informellen Bereich? Knorr Cetina: Er hatte immer verschmitzte Augen. Er hatte intelligente Augen, die aber verschmitzt waren. Und ironisch. Und nicht satirisch, sondern satanisch irgendwie, da gab es so einen Begriff dafür. Also, irgendwie war er so leicht… Heintz: Diabolisch. Das kommt auch in den Schriften immer wieder vor (lacht). Knorr Cetina: Es kommt in seinen Schriften vor, aber er war es auch selbst. Weil er ja Witze gemacht oder Dinge nicht erklärt hat. Er hat was zur Tautologie erklärt, aber wenn man da genau hin schaute als Philosoph, ein bisschen in der analytischen Philosophie geschult war, dann hat man sich gefragt, ist das überhaupt eine Tautologie? Das ist es ja gar nicht, wenn man das auseinandernimmt. Und oft hat man das Gefühl gehabt, er hat das diabolisch zugelassen, nicht weiter erklärt. Er wusste genau, dass das eigentlich nicht hinhaut, oder er hat es vermutet. Aber das war ihm recht so. Dieses Diabolische war aber gut, finde ich. Er hat die Dinge sehr oft transformiert auf eine epistemische Ebene, auf eine fachliche Ebene. Auch wenn es um politische Dinge ging, dann hat er was gesehen darin, was er so drehen konnte, das es fachlich interessant war. Und das fand ich gut. Das ist ein Ideal, wenn man das kann. Heintz: Aber in der Fakultät: Er war ja die große Berühmtheit in der Fakultät, die viele Leute angezogen hat. Du hast vorhin die Geschichte mit dieser HiWi-Stelle erzählt, die ihm verweigert wurde. Gab es denn überhaupt keine Tendenz, ihn zu respektieren? Man muss ja nicht Systemtheoretiker sein, um zu sehen, dass das ein außerordentlicher Soziologe ist und dass er der Fakultät viel Reputation bringt. Gab es da eher diese Gleichmachertendenz oder gab es auch eine Referenz, so ein Hochblicken? Knorr Cetina: Der öffentliche Raum wurde tabuisiert. Wenn man das so, wie Du es gerade gesagt hast, laut gesagt hätte, dann wäre man als rechts verschrien worden, als autoritätsgläubig, als Elitist, und das sind ja alles Negativbegriffe in Deutschland, nicht Positivbegriffe. Oder Reputation: man muss sich wirklich die Dinge selbst anschauen und kann nicht nach Reputation gehen, die andere zuschreiben. Das konnte man nicht sagen, nur meinen. Und die gleichmacherische Seite, die hatte voice. Albert O. Hirschmann unterschied zwischen exit und voice, und Luhmann praktizierte exit. Er hat gesagt, wenn ich Fachbe-
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reichsleiter würde, dann würde ich das und das machen, und er wusste genau, dass das die Leute nicht wollten. Dann war er exkulpiert. Er war auch oft nicht da, kam irgendwann nicht mehr zu Fakultätskonferenzen, hat sich absentiert. Aber die, die voice benutzt haben, das waren immer die Radikaleren und die Politisierten, nicht die, sagen wir, fachlich Cleveren. Ich fand das damals schon unmöglich. Auch wenn die Leistung zugeschrieben ist: Die Universität wird ein Attraktor über solche Personen, und das muss sie honorieren. Das konnte sie nicht gehaltsmäßig honorieren, weil wir ein Gehaltsschema haben, aber sie hätte es honorieren können mit anderen Ressourcen, mit Freistellung, Zeit und Hilfskräften. Er hat es aber auch nicht verlangt. Er hat nicht gesagt: Wenn ihr das nicht tut, dann geh ich hier mal. Er wollte nicht weg aus Deutschland, er hat sich meines Wissens nirgendwo beworben, auch nicht scheinbeworben, um sein Gehalt zu heben.
Geschlechterforschung zwischen »institutioneller Paranoia« und Anerkennung Ursula Müller im Gespräch mit Tomke König
Ursula Müller hat in Köln Sozialwissenschaften, Germanistik und Theaterwissenschaften und dann in Frankfurt a.M. Soziologie studiert und dort auch promoviert. Bevor sie in 1989 die Professur für »Sozialwissenschaftliche Frauenforschung« in Bielefeld antrat, war sie stellvertretende Direktorin an der Sozialforschungsstelle Dortmund. Ursula Müller wurde im Jahr 2012 pensioniert. Tomke König hat in Frankfurt a.M. Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie studiert und in Soziologie promoviert. Sie wurde in 2012 als Nachfolgerin von Ursula Müller auf die Professur für Geschlechtersoziologie berufen.
König: Als Du 1989 nach Bielefeld gekommen bist, wie hast Du die Fakultät damals wahrgenommen, auch im Unterschied zu anderen Standorten der Soziologie? Müller: In Bielefeld war es so ähnlich wie auch in Frankfurt: Eine wohltuende Diversität. Ich kannte viele Kollegen aus der Literatur, einige wenige auch persönlich wie Karl Krahn und Gert Schmidt und auch als frühere Mitarbeiter der von Schelsky gegründeten Sozialforschungsstelle, von deren Nachfolgeinstitut ich nach Bielefeld kam. Die Fakultät war in Lager geteilt – mindestens drei, was aber nicht alle umfasste. In der ersten Lehrkörpersitzung, auf der ich allgemein sichtbar wurde, sagte ein Kollege, er wolle nicht Prodekan werden, weil jetzt so ein schwammiges Fach (meines) eingeführt würde und der politische Eingriff von außen die Fakultät dominiere. Danach kamen dann verschiedene Herren auf mich zu und wollten mir so ungefähr sagen, dass es im Moment noch so eine Art Flitterwochen gäbe und alle wären nett zu mir – was so nun auch nicht zutraf – aber das ginge bald vorbei und dann würden härtere Zeiten kommen und da würde ich starke Freunde brauchen. Sie haben versucht mir klar zu machen, wie ich meine Position und Funktion ausfüllen solle und wie viel sie dafür getan hätten, dass die Stelle kommt, so dass ich jetzt auch meinen Teil beitragen sollte in Dingen, die ihnen wichtig waren. Diese Ebene der
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Fakultätspolitik war für mich anfangs sehr dominant. Zunächst ging es mir ja darum, den Frauenforschungsdiskurs und den Raum dafür überhaupt zu entwickeln, was eher in den schon vorhandenen und dann auch weiter wachsenden Netzwerken fakultätsübergreifend geschah. Einige Kollegen begrüßten mich aber auch freundlich und kollegial, zum Beispiel mein Zimmernachbar Hans-Jürgen Daheim schon vorab auf einer Tagung, Otthein Rammstedt, der mir offen und diskussionsinteressiert begegnete, oder auch Franz-Xaver Kaufmann, der zu meinem Begrüßungsempfang kam und sagte: »Frau Müller, ich wollte doch, dass wir uns auch einmal außerhalb der Gremien begegnen« und das fand ich sehr schön. Andere verhielten sich abwartend, und ich lernte sie außer auf Sitzungen in Prüfungen besser kennen. Offiziell waren die meisten ja für die Einrichtung der Professur gewesen. Aber es wurde dann auch gesagt: Also der eine, der nicht Prodekan werden wollte wegen der Frauenforschung, der drückt nur das aus, was hier viele denken. So war ich von vornherein auf einen Double-Talk eingestimmt, was mir aber auch zuvor schon klar war. In der Vorgeschichte gab es ja auch die ganzen Debatten um meine Vorgängerinnen bzw. die Initiatorinnen der Verstetigung der Frauenforschung, die dann nicht zum Zuge kamen. In dieser Zeit hatten wohl einige Professoren über die Studierenden, die für diese Kolleginnen gekämpft haben, einiges zu leiden und fühlten sich in der ein oder anderen Weise behelligt und das war sicher so ein Punkt, der zu einer abwartenden Haltung geführt hat. Andererseits wurden durchaus Räume geöffnet; auf der Ebene der Fakultätsverwaltung fand ich große Loyalität und Unterstützung durch den vielfach gefürchteten Verwaltungsbeamten, der mich ganz klar gut behandelt und mir hilfreiche Tipps gegeben hat, im Unterschied zum damaligen Studiengangsbeauftragten. Der war mir als Berater für meine Lehre benannt worden und sagte mir: »Eins will ich Ihnen sagen, wenn Sie hier versuchen, vom Grundstudium über das Hauptstudium bis zum Diplom nur mit der Frauenforschung durchzukommen, das haben damals die Linken schon versucht mit Marx, das haben wir zu verhindern gewusst und bei Ihnen werden wir das auch zu verhindern wissen.« Sprach’s und verließ mein Büro – das war die initiale Beratung. Später hat er mich bei der Prüfungs- und Studienordnung durch unvollständige Beratung im ersten Anlauf fakultätsöffentlich auflaufen lassen. Das hat den Lauf der Geschichte aber nicht aufgehalten. König: Wie ging es dann mit der Etablierung der Frauenforschung als Fach weiter? Müller: Auf einer Lehrkörpersitzung, bei der vorher bekannt war, dass ich nicht teilnehmen konnte, wurde dann beschlossen, das Fach Frauenforschung vorerst nicht einzuführen. Insbesondere Luhmann hätte sich dagegen ausgesprochen, wie ich dann hörte. Daraufhin bin ich hin zu ihm und habe mit ihm ein Gespräch geführt – offensiv aber freundlich. »Ich habe gehört, Herr Luhmann, dass Sie sich gegen dieses Fach ausgesprochen haben. Ich möchte
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Ihnen darlegen, dass dieses Fach wichtig ist und warum.« Und dann habe ich ihm einiges dazu gesagt und er meinte: »Frau Müller, Sie glauben gar nicht, wie viele Frauen mit ihrer Diplomarbeit zu mir kommen und sagen, aber bloß kein Frauenthema, Herr Luhmann.« Ich meinte: »Das glaube ich Ihnen, das kann ich mir gut vorstellen, denn die Frauenthemen haben ja das Problem, dass sie als unwissenschaftlich betrachtet werden und die Diplomandinnen wollen damit nicht in eine Ecke gestellt werden – was aber meines Erachtens gerade die Notwendigkeit dieses Faches mit ausmacht. Und das vornehmste Ziel dieses Faches ist es, sich überflüssig zu machen, indem nämlich die Allgemeine Soziologie und die Industriesoziologie und alle anderen, das als ein Thema behandeln, das sie etwas angeht, statt es außen vor zu lassen. Und vor diesem Hintergrund bitte ich Sie, sich dem nicht zu verweigern«, so ungefähr waren meine Worte. Er guckte dann aus dem Fenster und sagte, »früher war ich ja ganz dagegen, aber heute – nun ja.« Und da wusste ich, er wird kein begeisterter Verfechter werden, aber ich hatte atmosphärisch verstanden, er wird uns gewähren lassen. Und dann gab es eine Lehrkörpersitzung im Internationalen Begegnungszentrum mit dem einzigen Thema Frauenforschung. Luhmann kam, setzte sich vorn an seine angestammte Tischecke und alle guckten, was macht Luhmann. Er sah mich an und schwieg. Noch mitten in der Debatte stand er auf, nickte freundlich nach allen Seiten und ging. Das war offenbar ein Signal, das die anderen entschlüsseln konnten: Luhmann will das geschehen lassen. Ich kann mich noch erinnern, dass Kaufmann mit mir diskutiert hat in dieser Sitzung und sehr ernst mir gegenüber seine Sorge ausgedrückt hat, dass das Profil der Soziologie und des Diploms völlig zerfleddere; wenn es eine Fülle neuer Fächer gäbe, was sei denn eigentlich noch das Profil der Fakultät für Soziologie? Ich habe ebenso ernst geantwortet – eine bestandene Feuerprobe, wie mir nachher gesagt wurde. Und wie es dann weiter ging, das geht aus den Akten des Dekanats hervor. Luhmann und ich sind uns dann mal in die Haare gekommen bei einer Berufung, da war er sehr stark für einen Kandidaten und es gab eine sehr gute Kandidatin, die hat er runtergeputzt. Das habe ich mir nicht gefallen lassen und ihn angeschimpft, und ansonsten war das Verhältnis kollegial und ok. Wie mir gesagt wurde, soll er vor meiner Ankunft in Bielefeld, aber ohne direkten Bezug zu mir persönlich (vielleicht eher an Karin Knorr-Cetina orientiert, die ein Kind mehr hatte als ich) gesagt haben: »Wenn eine Frau es bis hierher zu uns schafft, habilitiert und mit zwei kleinen Kindern – die ist knallhart.« König: Vielleicht magst Du noch einmal von der Frage weggehen, wie die Kollegen auf Dich als erste Professorin der Frauenforschung reagiert haben und beschreiben, wie Du als Neue die Fakultät wahrgenommen hast. Müller: Es war für mich hoch spannend und das Gefühl hat mich auch nie verlassen. Ich komme hier in ein empirisches Feld hinein, indem ich Insider und Outsider zugleich bin, mit den damit gegebenen Erkenntnischancen. Und
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es ist ein Riesenforschungsfeld, auch gerade unter Frauen- und Geschlechteraspekten; ich hatte damals begonnen, das internationale Forschungsgebiet »Geschlecht und Organisation« im deutschen Sprachraum einzuführen und verfügte nun über einen exklusiven Feldzugang, in dem ich täglich Neues hinzulernte. Und nach einiger Zeit, als ich viel mehr Kontakt mit Studierenden und mit anderen unterhalb der Professorenebene hatte – Mittelbau, Sekretärinnen – wurde mir wiederholt sehr deutlich, dass es eine doppelte Realität gab. Das eine war die hegemoniale Kultur und diejenigen, die sie vertraten, sahen keine Diskriminierung, sondern sie sahen nur gute oder weniger gute Wissenschaftler und Studierende. Und dann gab es die anderen, die diese zweite Realität deutlich spürten. Beispielsweise kam eine sehr befähigte Diplom-Kandidatin zu mir, die kurz vor einer Prüfung bei mir stand und die ich nach ihren Perspektiven fragte. Sie sagte: »Ich dachte, ich würde in der Wissenschaft bleiben, aber jetzt werde ich das nicht mehr«. Sie war zur Prüfungsvorbereitung zu einem Assistenten in einen anderen Bereich gegangen und als sie in sein Büro kam, schaute der sich eine Pornoseite an, die er dann noch eben abgeschaltet hat. Und das hat sie ungeheuer schockiert in Hinblick darauf, was alles in dieser Universität und dieser Fakultät noch möglich ist. Es war natürlich auch der Aspekt, wenn er sich das vorher angeguckt hat, wie guckt der dann anschließend auf sie und wie ist überhaupt seine Einstellung gegenüber Frauen? Und der Umstand, dass es solche Elemente von Geschlechterkultur in der Uni überhaupt gibt und man am Dienst-PC sich so etwas angucken kann. Es gab natürlich noch drastischere Geschichten, die man auch erzählen könnte. Diese Frau hat jedenfalls mit Rückzug reagiert und die Uni verlassen. Solche Arten des nur ganz niedrigschwellig bemerkbaren Ausscheidens, die entgingen der Aufmerksamkeit der dominanten Gruppe völlig. König: Was mich noch interessieren würde ist, wie Du eine so große Fakultät wie die für Soziologie in Bielefeld wahrgenommen hast? Müller: Das war ich ja von Frankfurt gewohnt. Ich fand eine große Fakultät immer sehr viel besser, weil es da viel mehr Nichtabstimmung gab und Räume und eine atmosphärische Öffnung entstanden, als zwei große Figuren, nämlich Offe und Berger, kurz nach meiner Berufung zeitgleich die Fakultät verlassen haben. Da konstellierte sich vieles neu, und es gab mehr Spielräume für mich und für die Frauenforschung. Es ging ja die ganze erste Zeit um die Etablierung des Faches in der Studien- und Prüfungsordnung im Soziologiediplom. Ich empfand von vornherein keine Phalanx dagegen, das muss ich sagen. Man schien eher gespannt, ob und wie ich das durchsetzen würde. Wenn aber die Dominanz von einigen Figuren mit ihren ganzen Strategien und Vernetzungen erst mal wegfällt, dann kann man die vorhandene Vielfalt überhaupt erst richtig sehen und auch genießen und hat mehr Bewegungsspielraum. Das war ein günstiger Moment.
Geschlechter forschung zwischen »institutioneller Paranoia« und Anerkennung
König: Deine Stelle war bekanntlich das Ergebnis von Kämpfen und Du hast schon erwähnt, dass Dir die Ablehnung der Frauenforschung dezidiert entgegengeschlagen ist. Kannst Du noch einmal versuchen zu rekonstruieren, wie sich das im Laufe der Zeit weiterentwickelt hat? Deine Professur war ja in der Allgemeinen Soziologie angesiedelt. Müller: Es war natürlich ein großer Freiraum, weil es zur Frauenfrage und Geschlechterfrage in der Allgemeinen Soziologie ja eher problematische Ideen gab – sozusagen die bürgerliche Geschlechterpolarisierung wissenschaftlich verfeinert und legitimiert. Daran habe ich mit Ursula Beer und später mit Birgit Riegraf in der Lehre gearbeitet und später auch in der schönen Kooperation mit Otthein Rammstedt, jeweils zum Erscheinungsbild verschiedener Aspekte des Geschlechterverhältnisses in der soziologischen Theorie. Zum anderen war ich zunächst irritiert, weil ich meine empirischen Felder bereichsübergreifend in der Arbeits- und Industriesoziologie, der Arbeitsmarkt- und auch der Jugend- und Familiensoziologie sowie, wenn man will, mit der Gewaltforschung auch im Bereich Soziale Probleme, soziale Kontrolle hatte, worin sich das Übergreifende der Geschlechterperspektive zeigte. Es hat mich immer sehr interessiert, wie Erfahrungsdaten, ob nun aus dem Alltag oder aus der wissenschaftlichen Forschung oder aus verschiedenen Praxiszusammenhängen, sich in den soziologischen Theorien wiederfinden. Das habe ich als Chance gesehen und einiges im Bereich Theorie und Methodologie angeboten sowie kontinuierlich stark nachgefragte Lehrforschungen, zum Teil mit direktem Bezug zu meinen Forschungsprojekten in der Fakultät und am Interdisziplinären Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung. Vor diesem Hintergrund wurde die Ansiedlung in der Allgemeinen Soziologie der Querschnittsaufgabe der Frauenforschung gerecht, und es ging zunächst darum, eine curriculare Positionierung zu finden. Strategisch hatte ich schon vor Bielefeld begriffen, dass es über formal vertraute Strukturen gelingt, eine Art von institutioneller Paranoia gegenüber Neuerungen abzuwehren. Für das neue Gebiet müssen Lernziele und curriculare Einheiten formuliert und Prüfungsgegenstände bestimmt werden, aus denen hervorgeht, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten in diesem Fach angeeignet werden. Ein ganz neues Gebiet formal in einem »stinknormalen« Studiengang erscheinen zu lassen, ohne seine wesentlichen Inhalte zu dezimieren, war die Aufgabe. Und zum anderen auch die Schwierigkeit, weil es ja immer noch Stimmen gab, dass das Fach der Fakultät politisch aufgezwungen worden sei. Mir wurde aber sofort durch Rektor Grotemeyer klar gemacht, das ist eine wichtige Professur für uns, wir freuen uns, dass Sie da sind und so weiter. Die Diskrepanz in der Behandlung meiner Anliegen zwischen Rektorat und Fakultät war in den ersten Jahren sehr deutlich und ich konnte immer mit Rektor und Kanzler oder auch mit dem Ministerium, das ich aus meiner vorherigen Tätigkeit schon kannte, Rücksprache nehmen. Auch der Arbeitskreis Wissenschaftlerinnen NRW hat sich in dieser Zeit zum
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heutigen Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW gemausert und ich wurde die erste Sprecherin. Ich war von 1987 bis 1991 auch Sprecherin der Sektion Frauenforschung in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, genau in dieser Zeit der curricularen Durchsetzung der Frauenforschung und auch der »Wende«. Ich habe sehr viele ostdeutsche Kolleginnen in die Sektion aufgenommen und mich mit denen vernetzt. Es war eine Phase des Wachsens in allen Bereichen: in der Institutionalisierung, der Öffnung der Forschungsförderung bis hin zur DFG und so weiter, was aber das Verdikt, Frauenforschung sei keine Wissenschaft, nicht aus der Welt geschafft hat – trotz oder eher wohl wegen der großen Erfolge. König: Denkst Du, dass diese von Dir beschriebenen Zusammenhänge spezifisch sind für die Frauen- und Geschlechterforschung oder gab es auch andere Forschungsfelder und Themengebieten, denen es so ähnlich ging? An so einer Fakultät geht es ja immer auch um die Frage, welche thematischen Schwerpunkte entwickelt werden und wie groß ein Forschungsbereich werden soll. Müller: Du hast völlig Recht, es gibt da große Gemeinsamkeiten mit einem Modus, der sowieso vorherrschte. Ich habe immer das Gefühl gehabt, es wird von mancher Seite mit einer lustvollen Verbissenheit gekämpft. Freude an der Destruktion, Freude, anderen etwas kaputt zu machen, Freude, wenn jemandem etwas misslingt und relativ wenig Glückwunsch für Erfolge, das war so mein Eindruck. König: Das könnte ja auch etwas mit der Frage von fehlender Anerkennung zu tun haben, was meiner Beobachtung nach für viele Wissenschaftler_innen eine Rolle spielt. Müller: Anerkennung ist eine Währung, die zunehmend wichtiger wird und mit dieser, wenn man so sagen will, neoliberalen Umformung der Universitäten, da nimmt so etwas natürlich noch zu, weil die Zurechenbarkeit von Leistung zum eigenen Namen sehr viel wichtiger wird. Mir sind eine Reihe Leute begegnet, die mir mit einem gewissen Leid sagten, wie viel sie der Fakultät gegeben hätten und wie wenig sie dafür zurückbekommen haben. Ein Leiden unter Nichtanerkennung. Wenn ein neuer Dekan kam, haben alle geguckt, wie wird der jetzt mit den Widerständen fertig und wird er sich darüber hinwegsetzen. Ich war auch wirklich baff darüber, wie viel Zeit vergeudet wurde, um zu verhindern, dass etwas geschieht. Das hat sich dann geändert. Es gab damals noch Senatssitzungen bis abends um fünf oder halb sechs und Vorbesprechungen morgens um acht, und ich habe als Senatsmitglied und Dekanin auch Stirnrunzeln geerntet, als ich sagte, das schaffe ich nicht – ich pendle und habe zwei kleine Kinder. Die Universität hat sich ungeheuerlich entwickelt bezogen auf viele der Themen, die damals ganz neu waren und nicht wahrgenommen wurden. Ich denke, es gibt sicherlich
Geschlechter forschung zwischen »institutioneller Paranoia« und Anerkennung
das Bedürfnis nach Anerkennung, aber es gibt – zumindest wie es sich damals mir darstellte, auch auf diesen sehr hohen Positionen – eine Gruppe von Leuten mit destruktiver Lust am Kampf. Dabei geht es nicht um Wissenschaft, sondern es geht um Dominanzgehabe und um das Wegnehmen und Aneignen von Ressourcen. Professoren können zu jedem Thema aus dem Stand eine Rede halten und jede Ansicht dazu vertreten. Entweder so rum oder so rum. König: Da wird Politik betrieben. Müller: Da wird Politik betrieben und diejenigen, die in Ruhe ihre Wissenschaft machen wollen, die damit eigentlich nichts zu tun haben wollen, die sind in ihren Arbeitsbedingungen gefährdet. Es sei denn, sie haben eine Extraposition wie Luhmann, der aber seinerzeit auch lange keine Mitarbeiterstelle hatte – aber Luhmann hat nicht auf diese Weise um Ressourcen gekämpft. König: Dann bleiben wir doch gerade bei Luhmann. In der Außenwahrnehmung der Fakultät war und wird Luhmann sicherlich häufig als zentrale Figur angesehen. Wie sah das denn Deiner Erinnerung nach konkret aus? Müller: Für mich war das auch in der Innenwahrnehmung der Fakultät so, aber mit einer Sonderstellung. Ich glaube, er hat einen Ruf nach Lecce bekommen, wo er schon lange immer wieder tätig war und da bekam er dann schließlich André Kieserling als Mitarbeiter. Auch wenn man gar nicht seinen Theorien anhing, wurde doch irgendwie zugestanden, dass er eben ein großer Soziologe und ein bedeutendes Mitglied der Fakultät ist. Ich habe eigentlich niemals eine verächtliche Meinung über Luhmann gehört. Er war ja ein Mann von dezidierten Ansichten und ein wirklicher Gelehrter, das wurde auch geschätzt. Zum Beispiel waren auch Daheim oder Kaufmann sehr geschätzt in ihrer Qualifikation und ihrem Wissen und es hatte Gewicht, wenn sie sich bei irgendeiner Anhörung zu diesem und jenem gemeldet haben. Obwohl man auch dann nicht unbedingt sicher war, nicht schlecht behandelt zu werden. Aber es gab bestimmte Leute, die als Strippenzieher und Intrigenspinner bekannt waren, die auch relativ selten Dekan geworden sind. Es gab ein Zurückweichen vor Ansprüchen bestimmter Personen, die sowieso andere Wege hatten, um sich durchzusetzen. Und wenn es endgültig zu einem ganz großen Krach kommen sollte, gab es doch auch wieder Wege, wie sich die Fakultät dann doch noch einigen konnte. So als ob es in ihr auch eine Kraft gäbe, die der endgültigen Selbstdestruktion zuwider wirkt, so scheint es mir jetzt. Insofern gab es keine Extrabehandlung der Frauen- und Geschlechterforschung. Aber entgegen dem, was Luhmann in seiner Entscheidungstheorie sagt, wenn etwas einmal entschieden war, dann blieb das erst einmal so, da habe ich den Eindruck, dass das bezogen auf die Frauenforschung noch lange nicht galt. Bei jeder Änderung der Studienordnung oder von sonstigen Formalien, die die Fächer betrafen, musste das Fach bestätigt werden. Die Stellenausstattung war
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direkt an die Lehrbelastung gekoppelt und nicht an die Forschungsleistung – da war permanente Wachsamkeit gefordert. König: Ich würde gerne noch einmal auf die Gruppe der Studierenden eingehen. Die studentische Protestkultur hat bekanntlich nicht nur in Bielefeld bei der Etablierung der Frauenforschung eine wichtige Rolle gespielt. Müller: Bei meinem Bewerbungsvortrag kamen Studierende mit einem großen Plakat und stellten es hinter mir so auf, dass es die Tafel verdeckte. Darauf stand: »Wissenschaftliche Zuhälter raus! Wir schaffen an, ihr sahnt ab!« Ich war die erste, die den Vortrag hielt und Karin Knorr-Cetina als Kommissionsvorsitzende beugte sich lächelnd zu mir und fragte ruhig: »Brauchen Sie die Tafel?« Und da ich verneinte, sagte sie: »Dann können wir das ja da hängen lassen.« König: Das heißt, als Du kamst, waren die studentischen Proteste noch sehr lebendig. Welche Erfahrung hast Du dann in späteren Jahren gemacht? Müller: Ich habe am Anfang Veranstaltungen mit Bewegungsthemen angeboten, zum Beispiel zu Sexismus im Alltag. Das war eine sehr gut besuchte Vorlesung und die Studierenden konnten mit vielen Beispielen auch etwas beisteuern. Das Verhältnis von Geschlechtertheorie, empirischer Forschung und Politik habe ich immer wieder thematisiert. Ich wurde nicht von Studierenden angegriffen, konnte nicht für sie Claudia von Werlhof oder Veronika Bennholdt-Thomsen sein, habe aber die gewünschten Themen der Studierenden akzeptiert, teilweise mit Unterstützung aus der Entwicklungssoziologie (Gudrun Lachenmann war noch nicht da) oder von Ursula Beer begleitet und habe fair und ernst nehmend geprüft, wie ich die bei manchen Aktiven vorhandene Befürchtung eindämmen konnte, »die Fakultät« würde sich an ihnen in der Diplomprüfung »rächen«. Es gab schon Studierende, die lieber eine politische Aktionsgruppe machen und zu siebt arbeiten und dafür einen Schein haben wollten. Da war die neu gegründete Sektion Frauenforschung in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie als Forum sehr wichtig, weil wir immer mehr Kolleginnen in gleicher Lage waren. Wir wollten natürlich solidarisch sein und Engagement belohnen, aber es musste ja auch intellektuell Hand und Fuß haben. Da haben wir frühzeitig einen Workshop der Sektion zur Lehre in der Frauenforschung gemacht. Die Frauenforschung kam ja aus Bewegungen und da gehörten für mich natürlich die Studentinnen mit dazu. Zu der Zeit war Ursula Beer noch da und ich habe als eine meiner allerersten Taten nach meiner Berufung die Verlängerung ihrer Stelle durchgesetzt, was sehr gut war, weil sie in der Zeit habilitieren konnte. Die Gutachten haben dann Daheim, Kaufmann, Regina Becker-Schmidt und ich geschrieben. Kaufmann hat mir in diesem Kontext sehr imponiert, weil er diese Arbeit absolut ernst genommen hat, auch wenn sie einem linken Theoriespektrum zugeord-
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net werden konnte. Er neigte aber dazu, diese Arbeit als ein ernsthaftes Stück marxistischer Theorieauseinandersetzung zu werten, das hohen Ansprüchen genüge. Das zeigte dann auch diese Macht des sehr guten Rufs. Das war sehr entscheidend. Dass man so auch gutachten kann, indem man sagt: das ist nicht meine Theorie, aber was da vorliegt, ist wissenschaftlich höchst anerkennenswert. Das fand ich toll. Kaufmann hat in seinen Arbeiten dann, zum Beispiel in einem legendären Bundesfamilienbericht als allererster Soziologe auf bundesweiter Ebene die außerhalb der Berufstätigkeit geleistete Arbeit, also Haus- und Sorgearbeit mit einbezogen und im Bruttosozialprodukt berechnet. Das war ja auch eine zentrale Forderung der Frauenbewegung und Frauenforschung. In den Zeiten der Auseinandersetzung hatte sich an ihm und seinen Theorien oder auch dem von Kaufmann geleiteten Bevölkerungswissenschaftlichen Institut viel entzündet. Ich denke, dass es der damaligen Zeit der Entstehung der feministischen Kritik geschuldet war, aber dass sein Verständnis vieler Dinge viel komplexer war. Wobei das In-Frage-Stellen der herkömmlichen Geschlechterordnung sicher etwas Bedrohliches hatte. Er hat ja auch gesagt, die Frauen haben den Geschlechtervertrag aufgekündigt – aber das kann man so und so interpretieren. Das bedeutet noch nicht unbedingt, ich bin dagegen. König: Wie ist denn Deine eigene Forschung durch die Fakultät für Soziologie in Bielefeld beeinflusst worden? Müller: Zunächst ging es damals darum, einen Raum für die Frauenforschung zu schaffen und den Gegenstand theoretisch genauer zu bestimmen. Wir hatten eigene Impulse, aber wir setzten uns vor allen Dingen mit den infrage kommenden Theorien auseinander. Es wurde gefragt, was in der Geschichte der soziologischen Theorieentwicklung bisher erarbeitet wurde, das in der einen oder anderen Form nützlich sein konnte, wenn es durch Kritik hindurch gegangen war. Es gibt einen schönen Aufsatztitel von Regina Becker-Schmidt »Adorno kritisieren und dabei von ihm lernen«, den man auch auf andere Theorien übertragen kann. Das war ein langer und komplizierter Prozess, in dem deutlich wurde, dass unsere Themen und Erfahrungswelten in den Traditionen nicht oder nur verzerrt vertreten waren. Auf der Ebene hat sich dann auch mein Horizont immer weiter entwickelt in verschiedene soziologische Bereiche hinein und ich konnte den Studierenden Theorieentwicklung projektförmig nahe bringen. Es gab die erwähnte Zusammenarbeit mit Otthein Rammstedt und später bei einem großen internationalen Forschungskongress in Bielefeld eine Kooperation mit der Wissenschaftsforschung, die zustande kam, weil die internationale Planung einen Feminist Focus gefordert hatte. Londa Schiebinger hat das anerkennend so benannt: »Germany is changing«. Darüber hinaus wollte sich die Bielefelder Wissenschaftsforschung aber doch nicht so »infizieren lassen« durch die Geschlechterthematik – sehr bedauerlich. Das nächste größere Erlebnis von Zusammenarbeit und inhaltlicher Debatte in der Fakultät und zugleich für mich das letzte waren die Gründungs-
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aktivitäten zum SFB 882 »Von Heterogenitäten zu Ungleichheiten«. Da gab es – nicht immer, aber doch – Situationen, wie ich mir eigentlich den wissenschaftlichen Diskurs in Bielefeld immer vorgestellt habe. Darauf musste ich also sehr lange warten. Ansonsten gab es natürlich häufiger größere Veranstaltungen in der Universität oder fakultätsübergreifende Veranstaltungen, nationale und internationale Tagungen, Kolloquien etc., an denen wir beteiligt waren, aber mehr über das Interdisziplinäre Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung, als über die Fakultät. Wir haben ganz früh, in meinem ersten Sommer in Bielefeld, eine Tagung zum Dialog zwischen Frauenforschung und Mainstreamforschung gemacht (Interdisziplinäre Forschungsgruppe Frauenforschung (Hg.) 1992: Zweierlei Welten. Feministische Wissenschaftlerinnen im Dialog mit der männlichen Wissenschaft. Frankfurt, New York: Campus). Da hat je eine Frauenforscherin der Universität Bielefeld mit einem Vertreter der »traditionellen Wissenschaft« diskutiert, in vier verschiedenen Disziplinen. König: Wenn ich es richtig weiß, dann hast Du damals mit Hartmut Esser gesprochen. Müller: Ja und das Ereignis samt Publikation war aus meiner Sicht eine sehr gute Tat. Das hat viel dazu beigetragen, die Frauenforschung zu profilieren. Es gab schon auch in der Fakultät Austausch, aber es war eher so der zweite Teil meiner Beschäftigung. Ich habe zum Beispiel mit dem Rektorat ein Projekt gemacht »Asymmetrische Geschlechterkultur und Frauenförderung als Prozess«, das auf subtile Diskriminierung an der Universität Bielefeld zielte und große langfristige Wirkungen zeigte, und ich habe Kollegen aus der Soziologie und aus anderen Fakultäten in den begleitenden Fachbeirat geladen, die sich alle geehrt fühlten, von mir angesprochen zu werden – als wäre es ein Gütesiegel, das ich ihnen verliehen habe. Wir haben mit dem Projekt »Virtual International Gender Studies« des Bundesforschungsministeriums eine der allerersten Formen von Blended Learning in Kooperation von vier Universitäten erprobt und der Kollege Albert war im Beirat unterstützend aktiv. Aber vieles, in dem wir pionierhaft waren, ist erst sehr viel später als Errungenschaft der Universität Bielefeld und meist bezogen auf andere Inhalte und Personen wieder aufgenommen worden. Zu viel Pionierhaftigkeit hat sich da auch nicht ausgezahlt. König: Ich komme noch einmal zu einem anderen Thema. Welche Erfahrungen sind Dir aus der Selbstverwaltung in Erinnerung geblieben? Gab es Themen oder Entscheidungen, von denen Du rückblickend sagen würdest, da ist etwas Wichtiges vorangegangen oder stecken geblieben? Müller: Zunächst mal war es so, dass ich ja die erste Dekanin war – und zwar ohne Bindung an eine Gruppierung – und das gleichzeitig zwei andere Kolleginnen in der Pädagogik (Dagmar Hänsel) und in der Literaturwissenschaft
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(Elisabeth Gülich) Dekaninnen wurden. Das ergab einen erfreulichen Frauenkontext. Es war einfach der Zug der Zeit: die Frauen kommen. Mit mir als Dekanin wurde Otthein Rammstedt Prodekan, und er sagte mir: »Wissen Sie, Frau Müller, es wurde gesucht nach jemandem, der es mit den Frauen kann.« Das fanden wir beide amüsant. Ich auch deshalb, weil es in der Fakultät erst eine kleine Gruppe war: Knorr-Cetina, die bereits auf dem Weg ins Rektorat war, Gudrun Lachenmann, die erst kürzlich eingetroffene Adrienne Héritier und ich. So hieß es, die Frauen sind zu einer Macht geworden und da muss jetzt jemand her, der mit ihnen kann. Da habe ich gelernt, wie sich Qualifikationsdefinitionen und Wertigkeiten ändern können. »Mit Frauen zu können« kann ein Kriterium werden, ob man zum Dekan befähigt ist. Das fand ich revolutionär. Auf der Ebene der Dekane haben wir zunächst Stutzen ausgelöst – weder im Rektorat noch in den Dekanaten hatte es, von vereinzelten Referentinnen im Rektorat abgesehen, je eine Frau gegeben. Die haben sich aber schnell an uns gewöhnt und sich kollegial verhalten. Wir haben ja eben über Gemeinsamkeiten gesprochen, wie es der Frauenforschung im Vergleich mit anderen neuen Initiativen gegangen ist. Aber ich würde sagen, einen Punkt gibt es doch, der sie unterschieden hat. Sie hatte nicht nur ein Erkenntnisinteresse an Ungleichheiten und Asymmetrien in den Geschlechterverhältnissen, sondern auch den Fokus auf Wandel und das war sehr nötig. Noch in den 1960er Jahren war das Gros der Hochschullehrer der Meinung, Frauen könnten in der Wissenschaft überhaupt nichts Kreatives leisten. Das waren die akademischen Lehrer der Kollegen, mit denen ich anfangs zu tun hatte und man konnte Elemente davon bei manchen wiederfinden. Etwa wenn einer sagte: »Ja, wir haben hier deshalb so wenig Frauen, weil die viel zu vernünftig und gesund sind, um sich diesem Stress auszusetzen, den wir hier haben.« Der Kontext war übrigens die Begründung einer homosozial-männlichen Berufungsliste. Insofern war das eine historisch einmalige Situation, in der diese Anfänge und diese Bewegungen sich vollzogen haben und das Hergebrachte immer noch in das Neue hinüber reichte. In den 1990er Jahren ist alles an Institutionalisierung passiert, was auch heute noch rechtliche Wirkung hat. Es gab viele Versuche der Gleichstellungspolitik, Wege zu finden und homosoziale Kooptationen sowie Old-Boys-Networks zu durchbrechen, von denen offiziell ja keiner etwas wissen wollte. Ein Kollege sagte einmal als Vorsitzender einer Berufungskommission: »Wenn das zutrifft, was hier behauptet wird, dann hätte ich Frau X als Bewerberin aktiv diskriminiert und das habe ich nicht getan.« Hat er auch nicht. Aber es ging nicht (nur) um die aktive Diskriminierung, sondern darum, ein Gespür zu entwickeln für Unterschwelliges und für Prozesse, die scheinbar ungerichtet sind, aber dann doch zum Ergebnis führen – keine Frau. Und da spielen natürlich manifeste Interessen eine Rolle. Es war eben eine Zeit von Wandel und Umbruch und dabei stellte sich immer die Frage, was ist in diesem Zusammenhang von dieser Professur zu halten und wie wird da agiert. Da habe ich mir sicher auch ein seriöses Image erarbeitet, aber es hat mich und gelegentlich auch Studie-
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rende durchaus nicht vor Wiederholungen alter und abwertender Argumenten gegenüber meinem Fachgebiet geschützt. Das hatte ich Anfang der 1980er Jahre von den allerersten Professorinnen gehört, aber in den 2000er Jahren nicht mehr erwartet. Aber gut, das ist etwas, das gehörte dazu. Und wie gesagt, es war ein unglaublich guter Erfahrungsbereich für die Entwicklung von Geschlechtertheorie. Vielleicht war es eine einmalige historische Chance, und ich habe versucht, sie nach Kräften zu nutzen. König: Das ist ein gutes Schlusswort. Ich danke Dir für das offene Gespräch.
L iter atur Esser, Hartmut/Müller, Ursula, 1992. Soziologie: Wissenschaftstheorie und Methodologie. Ursula Müller im Gespräch mit Hartmut Esser. In: Interdisziplinäre Forschungsgruppe Frauenforschung (IFF) (Hg.): Zweierlei Welten. Feministische Wissenschaftlerinnen im Dialog mit der männlichen Wissenschaft. Frankfurt, New York: Campus, S. 56-90. Müller, Ursula, 2006. Leben lernen, forschen gehen. In: Vogel, Ulrike (Hg.), Wege in die Soziologie und in die Geschlechterforschung. Autobiographische Notizen der ersten Generation von Professorinnen an der Universität. Wiesbaden: VS-Verlag, 274-287. Dies., 2008. De-Institutionalisierung und gendered subtexts. ›Asymmetrische Geschlechterkultur an der Hochschule‹ revisited. In: Zimmermann, Karin/Kamphans, Marion/Metz-Göckel, Sigrid (Hg.), Perspektiven der Hochschulforschung. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 143-156. Dies., im Erscheinen. Walk on the Wild Side. In: Grau, Jutta/Plöger, Lydia (Hg.): Auf bruch und Begrenzung – 50 Jahre Universität Bielefeld als sich öffnender Raum für Frauen. Bielefeld.
Luhmann war immer latent wichtig Klaus Japp im Gespräch mit Reinhold Hedtke
Klaus Japp hat in Frankfurt a.M. Soziologie und Philosophie studiert. An der Universität Bielefeld wurde er 1983 habilitiert. Er hat dort eine Professur für »›Soziologie ökologischer Risiken« (1989) wahrgenommen sowie danach eine Professur für »Politische Kommunikation und Risikosoziologie« (ab 2000). Seine Forschungsschwerpunkte waren Systemtheorie, Risikosoziologie, Soziale Bewegungen, Terrorismus. Der Kontext von sozialen Bewegungen und Terrorismus (sowie Populismus) beschäftigt ihn auch »im Ruhestand«. Reinhold Hedtke hat in Münster und Bielefeld Sozialwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und Geschichte studiert und war an der Fakultät von 2002 bis 2019 Professor für »Wirtschaftssoziologie und Didaktik der Sozialwissenschaften«.
Hedtke: Bevor wir anfangen, eine kurze Ergänzung zu den Fragen. Ich möchte bei der Frage sechs gerne nicht nur auf Gegnerschaften, sondern auch auf Seilschaften und Bündnisse eingehen. Japp: (lacht) Hedtke: Denn das ist ja das Pendant dazu. Und außerdem würde ich gerne abschließend eine weitere Frage stellen zur Rolle der Fakultät für die Disziplin Soziologie insgesamt und für die Systemtheorie im Besonderen, weil sich das ganz gut anschließt an die Frage nach der Wahrnehmung der Fakultät und der Bedeutung von Luhmann. Dazu kann man ja auch spontan etwas sagen, oder? Japp: Ich denke ja. Hedtke: Ja wenn es Dir Recht ist, können wir gleich anfangen mit der ersten Frage. Bielefeld gehört zu den großen Zentren der Soziologie und wenn Du das mit kleineren Instituten vergleichen müsstest, wo würdest Du Unterschiede sehen?
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Japp: Naja, also auf der Hand liegt natürlich, dass das Angebot für die Studierenden wesentlich umfassender ist. Also kleine Institute, wie zum Beispiel jetzt hier in Osnabrück, die können ja immer nur einen kleinen Teil dessen anbieten, das in Bielefeld angeboten werden kann. Das ist das eine. Auf der anderen Seite würde ich sagen, es gibt auch Nachteile. Also zum Beispiel finde ich – ich weiß das auch von anderen, von kleineren Instituten – es gab ja in Bielefeld nicht wirklich eine großartige Kommunikationskultur. Ich weiß nicht, ob sich das inzwischen geändert hat, insbesondere im Lehrpersonal, und das hängt sicher mit der Größe zusammen und dass die auch eine gewisse Intransparenz erzeugt mit wem man es jetzt zu tun hat und sich nicht so leicht persönliche Kontakte herstellen. Das ist der Nachteil dabei, würde ich sagen. Hedtke: Würdest Du denn auch Vorteile oder Nachteile mit Blick auf Forschung und Publikation sehen? Japp: Also aus meiner Perspektive würde ich erst mal sagen, nicht unbedingt nur Vorteile. Ich habe ja in einem Kontext Systemtheorie sowohl geforscht als auch gelehrt, und das war auch immer eine überschaubare Anzahl von Personen innerhalb der Fakultät, und das wird sicher auch mit anderen Schwerpunkten so gewesen sein. Die Größe allein macht es nicht. Die großen Unternehmungen allerdings wie Sonderforschungsbereiche, Exzellenzcluster und dergleichen, so etwas kann man ja eigentlich nur machen, wenn man eine große Fakultät hat, wie in Bielefeld. Aber wie man an deren Geschichte sieht, ist es auch keine Garantie. Hedtke: Das stimmt. Japp: Also unterm Strich würde ich sagen, das ist nicht unbedingt so, dass die Größe verlässlich korreliert mit Forschungsintensität. Letztendlich könnte man sagen, dass alle Arbeitsbereiche ja doch für sich forschen und ihre eigenen Relevanzkriterien haben. Das zeigt sich dann eben auch im Scheitern von Exzellenzinitiativen und SFBs. Dass man übergreifende Relevanzkriterien produzieren kann, an die sich alle halten, ist dann eher unwahrscheinlich, würde ich denken. Hedtke: Das war schon eine ganz gute Überleitung zur nächsten Frage, wie die eigene Forschung von Dir durch die Fakultät beeinflusst worden ist, also durch Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen oder durch die Größe und die Struktur der Fakultät. Wie würdest Du das beschreiben? Japp: Also bei mir persönlich würde ich sagen, dass vieles durch Luhmanns Vorgaben strukturiert wurde im Hinblick auf das, was ich selber dann über die Jahre hinweg gemacht habe. Wenn ich jetzt zum Beispiel daran denke, ich bin ja aus Frankfurt gekommen und da war ich noch komplett von Kritischer
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Theorie infiziert, wenn ich das so sagen darf, und habe das über die Jahre dann abgelegt. Das ist soziologisch sozusagen irrelevant geworden. Interessanterweise hat ja an der Fakultät für Soziologie Kritische Theorie auch keinen Ort. Also es gibt da keine Arbeitsgruppe oder dergleichen, die sich schwerpunktmäßig mit Kritischer Theorie befassen würde. Das ist etwas, was aus meiner Perspektive, das heißt durch Systemtheorie, durch intensive Beschäftigung mit Systemtheorie eigentlich abgestorben ist, weil Systemtheorie hat ja kein Verhältnis, also kein – wie soll ich sagen – kein affirmatives Verhältnis zu dieser Art von Kritik, wie sie in Frankfurt betrieben worden ist. Auf der anderen Seite ist es aber so, dass Forschungsinteressen sich im Kontext von Systemtheorie viel leichter ausbilden lassen, weil das eine Theorie ist, die auch immer für sich selbst neue Begriffsbildung für relevant halten kann. Ein Beispiel sind soziale Bewegungen, wo das immer über die Jahre hinweg kontrovers war, wie das eigentlich zur Systemtheorie passt und wie es nicht passt. Und da ist laufend empirisch und theoretisch konstruktiv geforscht worden. Das trifft jetzt natürlich auch noch auf andere Felder zu, aber das hat bei mir eigentlich den Ausschlag gegeben, denn die Kritische Theorie aus Frankfurt ist ja vom Typus her eine Theorie, die viel mehr sicheres Wissen über die Gesellschaft vorsieht als die Systemtheorie das tut. Man weiß wer im Recht ist – in Frankfurt. Hedtke: Ist denn Deine eigene Forschung davon beeinflusst worden, dass doch die Systemtheorie hier in Bielefeld personell relativ stark vertreten war und ist? Japp: Naja, das habe ich ehrlich gesagt nie so gesehen. Ich habe das eher qualitativ gesehen, also vor allen Dingen durch die Person Luhmann und dann vielleicht durch zwei, drei Leute, die um ihn herum für die Systemtheorie tätig geworden sind. Also sicher Rudolf Stichweh beispielsweise, aber auch keine große Anzahl von Leuten. Ich würde sagen, das ist eher nicht sehr erfolgreich gewesen – und über die Forschungskooperationswilligkeit im Luhmannpersonal möchte ich mich an dieser Stelle lieber gar nicht auslassen. Das ist auch durch eine hohe Eigenwilligkeit gekennzeichnet. Und bei mir selbst – also ich habe ja nur ein großes Drittmittelprojekt gehabt, bei der VW-Stiftung über »Gefährdungshaftung« als moderne Prävention. Das habe ich mit den Leuten, die ich da als Mitarbeiter hatte, relativ isoliert durchgezogen und ohne weitere übergreifende Kooperationen. Hedtke: Das finde ich eher ein bisschen überraschend, weil man doch sagen kann, dass es viele Personen gibt, mehr als an anderen Einrichtungen, und man eigentlich denken könnte, dass aus dieser Anzahl von Personen auch eine kritische Masse mit Blick auf Forschung und Forschungskooperationen geworden wäre. Aber das siehst Du anders?
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Japp: Ich sehe das anders und zwar einfach erst mal mit der Unterscheidung Theorie und Empirie. Leute, die mich beobachten und wenn sie diese Interviews beobachten, die werden sagen, naja, das ist ja auch alles bloß Theorie gewesen, und in der Tat gibt es ja von Luhmann vorgegeben innerhalb der Systemtheorie einen starken Bias zur Theorieforschung, also für Begriffsbildung. Und da wird viel empirisches Wissen aus anderen Mainstream-Soziologien herangesaugt. Und deswegen, das Projekt, das ich damals gemacht habe, schon der Begriff »Gefährdungshaftung«, da habe ich eher mit Juristen aus einer benachbarten Fakultät drüber kommuniziert, als mit Leuten, die jetzt über den Gesellschaftsbegriff von Luhmann nachgedacht haben. Das ist weit entfernt. Und auch deswegen, wie gesagt, weil das ganz konkret und empirisch orientiert war. Wir haben Interviews gemacht, in Versicherungs- und Chemieunternehmen. Also wir sind erst mal weit weg davon gewesen, das alles begrifflich zu kontrollieren. Das war dann noch eine eigene, langwierige Arbeit. Aber wir hatten da eigentlich niemanden, wo man jetzt gedacht hat, den fragen wir mal und den laden wir jetzt mal zum Kolloquium ein. Das war eher ein bisschen unwahrscheinlich. Hedtke: Wenn man jetzt mal ein bisschen formaler wird und nach der Stellung des Arbeitsbereichs in der Fakultät fragt: Wie würdest Du die Stellung des Arbeitsbereiches beschreiben und wie würdest Du das beurteilen? Warst Du damit zufrieden oder eher unzufrieden? Japp: Mit meinem eigenen meinst Du? Hedtke: Ja. Japp: Ja mit dem war ich im Grunde sehr zufrieden. Also das ist wahrscheinlich auch wieder überraschend, weil die meisten werden sagen, sie waren eher so einigermaßen zufrieden. Ich war ziemlich zufrieden, denn ich hatte ja lange, also über ein paar Jahre hinweg hatte ich eine Professur, die eher marginal war. Das war auch so eine systemtheoretische Innovation, dass man über ökologische Risiken eine soziologische Professur bauen kann. Und dann entstand mit der Bologna-Reform Nachfrage nach politischer Kommunikation, also Interesse am politischen System als Lehr- und Forschungskontext. Daraus ist dann dieser Arbeitsbereich »Politik und Gesellschaft« entstanden, wo wir dann Politikwissenschaftler hatten, also Mathias Albert und andere und seine Mitarbeiter und andererseits auch Soziologen. Und diese soziologische Hälfte – wenn ich das so ausdrücken darf – des Arbeitsbereichs, die haben wir gemacht und haben das »Politische Kommunikation« genannt und das war, sagen wir mal, systemtheoretisch dominiert. Ich würde mal tippen, dass es das einzige in der Lehre verankerte Curriculum war, das systemtheoretisch dominiert war. Aber nur dominiert natürlich. Man kann das ja nicht hundert Prozent machen. Wir haben natürlich auch politische Soziologie und Politikwissenschaft mit einbe-
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zogen, aber immer alles im Rahmen von Systemtheorie und das hat mir enorm Spaß gemacht und hat meine primären Interessen befriedigt. Deswegen war ich sehr zufrieden. Jetzt, das sieht man ja in den letzten Jahren, ist das natürlich wieder zurück gebaut worden. Das hängt dann eben auch an bestimmten Personen, in dem Fall an meiner, die nicht mehr da war. Hedtke: Ja, aber der Studiengang Politische Kommunikation hat sich ja bis in die jüngste Vergangenheit gehalten, er wird jetzt allerdings eingestellt, wie Du wahrscheinlich gehört hast. Stattdessen entsteht jetzt ein Masterstudiengang Politikwissenschaft. Das ist ja auch sozusagen ein Signal. Japp: Ja, aber das ist leicht zu interpretieren. Ich würde sagen, das ist jetzt die Übernahme durch die Politikwissenschaft. Bei Einrichtung dieses Arbeitsbereichs Politik und Gesellschaft wurde zu Beginn immer befürchtet, also von der soziologischen Seite der Fakultät, dass diese aktiven, sehr umtriebigen Politikwissenschaftler diesen Bereich irgendwann übernehmen werden, und wenn das so ist, wie Du sagst, dann geschieht das jetzt. Ob das gut oder schlecht ist, will ich gar nicht beurteilen. Hedtke: Das kann man ja mal dahingestellt sein lassen. Japp: Ja, würde ich auch sagen. Auf jeden Fall sollte man das dahingestellt sein lassen. Hedtke: Genau. (lachen) Wenn Du an die Selbstverwaltung einer Fakultät denkst und das so Revue passieren lässt. Welche Erfahrungen sind Dir denn in Erinnerung geblieben? Gab es wichtige Themen, Entscheidungen, Konflikte? Japp: Also ehrlich gesagt, da erinnere ich mich hauptsächlich an meine Dekanszeit. Und die war wieder geprägt durch Luhmann, nämlich seinen Tod. Also wissenschaftsbiographisch fällt mir das als erstes ein. Ich habe am Anfang meiner Dekanszeit immer gesagt, dass zwei Dinge nicht passieren dürfen. Und eine Sache davon war, die andere habe ich vergessen, dass Luhmann stirbt. Das ist dann aber passiert und wir haben damals die Trauerfeierlichkeiten innerhalb der Fakultät organisiert und versucht, irgendwie angemessen mit diesem Verlust klarzukommen. Daran erinnere ich mich erst mal ganz besonders, weil das für mich einen großen Stellenwert hatte. Und ansonsten, was sozusagen strukturell relevant war, muss ich sagen, dass ich eigentlich eine Dekanatszeit gehabt habe, die sowohl im Hinblick auf das Rektorat, als auch im Hinblick auf unsere Fakultätskonferenz, also die Kollegen eigentlich eher friedlich war. Also so, dass mir das nach anfänglichen Nervositäten, die glaube ich jeder hat, wenn er als Dekan anfängt, irgendwie doch ganz gut gefallen hat. Und das war die letzte Zeit vor Einrichtung von Bologna. Die kam danach
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und da ist, glaube ich, die Konfliktintensität im Selbstverwaltungsbereich gestiegen. Vorher war das nicht so der Fall. Hedtke: Würdest Du das denn auch auf die späten achtziger und frühen neunziger Jahre beziehen, dass die Konfliktintensität in der Selbstverwaltung der Fakultät eher niedrig war? Japp: Aus meiner Perspektive ja. Ich habe das ja selbst auch noch erlebt. Am Anfang der Achtziger bis Mitte der Achtziger gab es noch so einen Schatten einer Links-Rechts-Fraktionierung an der Fakultät. Ich will jetzt weiter keine Namen nennen, aber Claus Offe und Johannes Berger waren zum Bespiel damit verbunden. Als die alle weg waren, Mitte der achtziger, Ende der achtziger Jahre, ließ diese Fraktionierung schon mal nach, also so eine klassische Links-Rechts-Orientierung, die für Soziologen zu der Zeit ja irgendwie attraktiv war, die fiel eigentlich aus. Ist auch nie wieder revitalisiert worden, soweit ich es sehen kann. Und an deren Stelle sind dann eben die klassischen Konflikte getreten, wie quantitativ versus qualitativ, aber auch Systemtheorie versus, sagen wir mal, Mainstream. Und in meiner Zeit würde ich sagen, sind diese Konflikte erst intensiv geworden mit den Großforschungsunternehmungen, wie Diewald und dergleichen. Hedtke: Aber das wären dann ja methodologische und paradigmatische Konflikte, wenn man das so sagen will. Konflikte um Ressourcen oder Professuren oder Schwerpunkte und Profile der Fakultät hat es nicht gegeben? Japp: Doch sicher, also wissenschaftspolitische Konflikte – wie angedeutet – hat es durchaus gegeben, aber keine politischen. Aus meiner Sicht ist das dann verschwunden aus dem Fakultätsleben. Hedtke: Kannst Du das ein bisschen konkretisieren, was wissenschaftspolitische Konflikte gewesen sind? Japp: Ja, ich würde sagen bei den Stellenbesetzungen für die Nachfolge von Luhmann war das zum Beispiel wichtig. Ich war selbst bei der Nachfolge von Stichweh in der Kommission. Da gab es ein enorm hohes Konfliktpotential, weil da sozusagen eine Forschungsfront stand, die vertrat, dass es nur auf Forschung ankäme, zum Beispiel Helmut Willke, der damals noch bei uns war, hat diesen Standpunkt vertreten, und mit diesem Standpunkt wurden eben auch einzelne Kandidaten abgewertet zugunsten von Leuten, die diesen Kriterien entgegen kamen. Und andererseits einen Schwerpunkt, wo sozusagen mit einem heimlichen Gustus gegen Systemtheorie stärker auf die Lehre geachtet wurde. Das war zum Beispiel so ein Konflikt, an den ich mich erinnere, der über Monate hinweg ausgetragen wurde. Die Kommission – daran kannst Du Dich vielleicht auch noch erinnern – wurde auch mal aufgelöst. Ich wurde
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rausbefördert sozusagen als Dogmatiker, nicht mehr haltbar oder so etwas in der Art. Ich weiß gar nicht mehr, was es genau war. Ich glaube, verschiedene Leute in der Kommission konnten auch nicht mehr miteinander. Also das war ein Konflikt, den ich miterlebt habe, der richtig intensiv war. Aber wie gesagt, ich würde sagen, der war nicht politisch, aber wissenschaftspolitisch schon. Mit einer starken Forschungsorientierung gegenüber einer dem widersprechenden starken Orientierung an der Lehre, und das verbunden mit Aversion gegen Systemtheorie. Also, wie verwaltet man das Erbe von Luhmann? Durch eine hundertprozentige Forschungsorientierung, die in der Lehre jetzt nicht mehr fundiert werden kann oder anders? Und ich würde sagen, dass dann eine Art Kompromiss gefunden wurde. Hedtke: Ja, wir können im Grunde genommen die Frage fünf jetzt als beantwortet betrachten. Die geht ja darum, ob es besondere Konflikte innerhalb der Fakultät gab. Darüber haben wir gerade gesprochen und wir können eigentlich gleich zur nächsten Frage gehen, nämlich ob es diese Art von Gegnerschaften, von festen Gegnerschaften gab, etwa unter wissenschaftlichen oder eben anderen Abgrenzungsgesichtspunkten. Japp: Also ich würde offen gestanden, auch wenn mir da vielleicht widersprochen wird, eigentlich sagen: Nein. Wenn ich mir das anschaue, was jetzt in den letzten Wochen in der »Soziopolis«, aber auch in der Fachöffentlichkeit ausgetragen wird an Differenz zwischen quantitativer und qualitativer Sozialforschung und der daran jeweils orientierten soziologischen Theorie, also insbesondere Stefan Hirschauer, der sich da ja ziemlich weit aus dem Fenster gehängt hat, und andererseits die Rational Choice-Ecke aus Mannheim, wo sich Hartmut Esser sehr weit aus dem Fenster gehängt hat. Das kann man als einen solchen wissenschaftspolitischen Konflikt interpretieren, weil es die Soziologie ja als Ganze angeht und sich einzelne Personen mit ihrem ganzen Gewicht und ihrem Forschungsgewicht vor allen Dingen auch da engagieren. Ich würde nicht sagen, dass es vergleichbare Konflikte in der Zeit, die ich erlebt habe, gegeben hatte. Also selbst ab 2000, als etwa die ganzen Umstrukturierungen angelaufen sind im Zuge der Einführung und dann Weiterentwicklung von Bologna. Ich erinnere mich nur an einen Einzelfall, wo das mal wirklich über eine lange Zeit hinweg alles komplett strittig gewesen ist, und das war die Abschaffung des Arbeitsbereichs »Soziale Probleme«. Das war so ein Konflikt, wo einer gar nicht damit zufrieden war, das war natürlich Günther Albrecht. Alle anderen haben diesen Begriff der Gründungsuniversität benutzt. Das ist ja so ein Begriff gewesen, mit dem man immer Innovationsansprüche angemeldet hat und Traditionsbestände abgewertet hat, indem man eben gesagt hat, das ist hier keine Universität, die seit fünfzig Jahren Soziale Probleme macht und dafür bekannt ist oder so, sondern es ist eine Gründungsuniversität, die noch keine lange Geschichte hat und entsprechend eine hohe – höhere sagen wir mal, nicht eine hohe, aber eine höhere Kontingenz bei solchen Fragen der
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Einrichtung von Arbeitsbereichen, ihrer Erhaltung oder nicht Erhaltung angemahnt hat. Aber auch das hatte nicht so eine starke Wirkung – wie soll man sagen – es war kein wirklich so übergreifender Konflikt, der jetzt die ganze Fakultät betroffen hätte. Da haben sich zwar alle more or less dafür engagiert oder dagegen engagiert, aber nicht so in dem Rahmen, wie ich das gerade im Kontext von Hirschauer u.a. natürlich gegen die Rational Choice-Fraktion sehe. Hedtke: Würdest Du denn daraus jetzt sozusagen umgekehrt auch den Schluss ziehen, dass es eigentlich auch keine Bündnisse, keine Fraktionen in der Fakultät gegeben hat, wenn es schon keine festliegenden Gegnerschaften gab? Japp: Also ich denke schon, dass es das gegeben hat. Das hat es, aber ich würde es nach wie vor auch weiterhin doch damit verbinden, dass es das nur so lange gegeben hat, wie es noch diese wiederum politischen Voreinstellungen gegeben hat, also zum Beispiel eine starke sozialdemokratische Einstellung. Ich nenne jetzt mal keine Namen. Also eine starke sozialdemokratische Einstellung, Gewerkschaftsrelevanz und Verwandtes, die in der Industriesoziologie noch eine große Rolle gespielt haben, also wo das dann wissenschaftspolitisch zur Geltung gebracht wurde, in der Zeit schon. Aber die Personen, die diese Relevanzen für wichtig gehalten haben, die sind ja irgendwie dann – sagen wir mal – zum Ende der neunziger Jahre hin eigentlich alle ausgeschieden. Und entsprechend hat auch das Gewicht der Industriesoziologie und die Industriesoziologie als Träger von politischen Einstellungen irgendwie an Gewicht enorm verloren an der Fakultät. Hedtke: Ja das stimmt. Japp: Also, so würde ich das sehen wollen. Und deswegen sinken die Konflikte, die dann entstehen, nicht ins Bedeutungslose ab, aber sie werden doch mit weniger Enthusiasmus befeuert als Konflikte, die auch noch politisch gestützt werden. Hedtke: Dann will ich jetzt mal einen ganz anderen Bereich ansprechen, nämlich die Frage, wie eigentlich damals das Verhältnis der Fakultät oder auch Dein persönliches Verhältnis zur Hochschulleitung war? Japp: Ich würde sagen, meins war gut. Ich erinnere mich im Wesentlichen an meine Dekanszeit und das war eine Zeit, wo erst zum Schluss diese Umwälzungen stattfanden, dass man längerfristige Entwicklungspläne zu entwerfen hatte und überhaupt so eine Strukturplanung an den Hochschulen begann, die dann natürlich zu immer stärkeren Interventionen seitens des Rektorats Anlass gaben. Aber das fing erst an, als ich mit meinem Dekanat zu Ende war und diese ganze Bologna-Reform, also ab zweitausendzwei-drei-vier-fünf un-
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gefähr in der Zeit. Da nahm glaube ich die Spannung zwischen Rektorat und Fakultät zu. Vorher war das eher – also gemütlich wäre übertrieben – aber doch kooperativ. Also es hat in meiner Zeit jedenfalls ganz gut funktioniert. Und später mit dem Rektorat, in der Person Sagerer, die steht ja auch für diese Zeit, wo stärker Druck auf die Fakultäten seitens der Hierarchiestufen darüber, also seitens des Rektorats, aber auch des Wissenschaftsministeriums, spürbar geworden ist. Das war vorher in dem Maße nicht der Fall. Sozusagen die ganze Strecke, wo es noch den Diplomstudiengang gab, da war die Fakultät eigentlich freier. Hedtke: Und diese Veränderung führst Du im Wesentlichen auf externe Verhältnisse, auf wissenschaftspolitische, externe Strukturveränderungen zurück? Japp: Ja, wenn ich mich frage, woran das gelegen hat, dann ist es eindeutig die Einführung der Bologna-Reform und der damit verbundene Anspruch, die Fakultäten stärker strukturell zu steuern. Sagerer versucht das ja und, wenn ich den Namen sagen darf, dann sag ich aber nicht, ob er das mit Erfolg oder ohne Erfolg macht. Das überlasse ich anderen Beobachtern. Hedtke: Ja, vielleicht kommen wir jetzt zur persönlicheren Frage, ob es Enttäuschungen gibt, die für Dich in Erinnerung geblieben sind? Japp: Nein. Hedtke: Okay. Dann können wir gleich zur nächsten Frage weitergehen, und die hast Du ja in gewisser Weise vorhin schon angesprochen, nämlich ob der Umstand, dass es noch eine relativ neue Fakultät war, in der Zeit, in der Du Dekan warst oder in Deiner Zeit als Professor, noch eine merkliche Rolle gespielt hat. Japp: Was ist die Frage genau? Hedtke: Die Frage ist, ob es sich bemerkbar gemacht hat im Alltag, in der Struktur, in den Bedingungen, dass die Fakultät noch relativ jung war? Japp: Fällt mir ehrlich gesagt nichts zu ein, außer dem, was ich vorhin schon gesagt habe, dass dieser Mythos der Gründungsuniversität eine Rolle gespielt hat – eine nicht zu verachtende Rolle gespielt hat, bei den Besetzungen und auch bei der Einrichtung neuer Schwerpunkte und so weiter. Da war es vielleicht für die Fakultät doch leichter sich innovativ zu verhalten, mal etwas zu ändern, als eine traditionelle Fakultät oder ein Institut, dass schon eine ganz lange Tradition hat. Aber ich würde nicht sagen, dass das ganz allein bedeutend war. Also in dem Moment, wo es Arbeitsbereiche gibt, die ihre Bestands-
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interessen verteidigen, verfestigt sich das alles genauso wie an einer Fakultät, die jetzt fünfzig Jahre immerhin auch schon alt ist, aber damals noch zwanzig, dreißig Jahre alt war. Und damals in der Gründungszeit war auch wieder das Gewicht dieser Gründungspersonen also Schelsky und vielleicht Luhmann, die damals die Fakultät beherrscht haben. Und das war ja viel stärker als in den drei Jahrzehnten, die jetzt zurück liegen, und wo diese Leute gar nicht mehr anwesend waren. Schelsky zum Beispiel hat ja dann für die Wissenschaft in der weiten Welt geschrieben und nicht in Bielefeld. Hedtke: Wenn das Verhältnis in der Fakultät selber eher unpolitisch war, gab es denn zu Deiner Zeit so etwas wie eine studentische Protestkultur und wenn ja, wie sah die aus? Japp: Da würde ich sagen, auf die Gefahr hin, dass mich so einige Studenten schräg angucken, aber ich würde sagen, gab es nicht. Fehlanzeige. Hedtke: Okay. Dann zur letzten Frage. In der Außenwahrnehmung der Fakultät war Luhmann sehr wichtig, aber wie sah das Deiner Erinnerung nach von innen aus? Dazu hast Du ja schon etwas gesagt, aber vielleicht kannst Du das nochmal zusammenfassen? Japp: Ja, ich würde eine Luhmannsche Unterscheidung benutzen nämlich die von – also nicht nur von ihm, die hat er von Merton – aber von latent – manifest. Also Luhmann war immer latent wichtig, für die ganze Fakultät und für einige wenige Personen war er manifest wichtig, also die, die mit ihm zusammengearbeitet haben oder in seinem Kontext weiter gearbeitet haben, zu denen ich mich auch zählen würde. Und das hat im Übrigen dazu geführt, wenn man das so rückblickend nochmal sagen darf, dass viele Konflikte, also vor allen Dingen Konflikte zwischen Systemtheorie und Mainstream meinetwegen – und Systemtheorie ist ja nicht Mainstream –, also dass diese Art von Konflikten nicht besonders hochgekocht sind, das hing mit dieser latenten Bedeutung von Luhmann für die Fakultät zusammen. Und viele Leute haben diesen Vorteil in Anspruch genommen haben, ohne selbst die theoretischen und wissenschaftspolitischen Präferenzen von Luhmann zu teilen. Also das ist, glaube ich, eine wichtige Sache gewesen, dass Konflikte, die damit gar nicht zusammenhingen, also zum Beispiel quantitative Sozialforschung und qualitative Sozialforschung oder politische Soziologie als Politikwissenschaft oder nicht, dass auch diese Konflikte sozusagen durch den Bedeutungsschatten von Luhmann eingehegt worden sind. Und die sind dann alle hochgekommen, also richtig erst hochgekommen, als Luhmann weg war. Vielleicht übertreibe ich ein bisschen, aber aus meiner Perspektive stellt sich das beides doch so dar, ja. Es hat jedenfalls eine wichtige Rolle gespielt. Es gab latente Animositäten und Konflikte, die in der Zeit, wo diese für die Fakultät wichtige Person noch
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präsent war, nicht ausgelebt worden sind und dann aber mit mehr Schmackes in der Zeit danach. Hedtke: Vielleicht zum letzten Punkt: War denn aus Deiner Sicht die Fakultät für die Disziplin Soziologie wichtig? Was hat sie für eine Rolle gespielt? Japp: Naja klar, also in der Bundesrepublik sowieso. Da haben natürlich viele Augen auf die Fakultät geschaut, was sie entwickelt, was sie macht. Und da muss man dann natürlich jetzt auch mal sagen, dass das nicht immer nur Luhmann war. Da gab es natürlich auch noch viele andere Personen und die Größe hat da sicher einen Vorteil im Hinblick vor allem auf Personalausstattung. Und da ist auch die Forschungsintensität an der Fakultät höher als an kleinen Instituten, die sich schon mit der Lehre abzukämpfen haben. Also das würde ich schon sagen, dass das so zutrifft. Die Zeitschrift für Soziologie hat ja auch einen großen Stellenwert als Bielefelder Gründungsakt sozusagen. Also das kann man wohl sagen, dass die Fakultät ein Blickfang war für die deutsche Soziologie. Ob das immer noch so ist, würde ich – wenn ich das sagen darf – bezweifeln. Hedtke: Ja, okay. Wenn du noch etwas hinzufügen möchtest, gerne. Sonst hätte ich keine weiteren Fragen mehr. Japp: Muss ich mal einen Augenblick nachdenken, ob ich noch etwas hinzufügen möchte. Eigentlich will ich nur hinzufügen, dass ich mal gespannt bin, was aus diesem Projekt wird. Hedtke: Ja, ich auch (Lachen).
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»Die Lehrenden waren genauso unsicher wie ich« Rudolf Stichweh im Gespräch mit André Kieserling
Rudolf Stichweh, geboren 1951, ist Professor für Theorie der modernen Gesellschaft und Direktor des ›Forum Internationale Wissenschaft‹ der Universität Bonn und Leiter der Abteilung Demokratieforschung im Forum. Er ist ständiger Gastprofessor der Universität Luzern und Mitglied der Leopoldina und der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. André Kieserling, geb. 1962, ist seit 2006 der Lehrstuhlnachfolger von Rudolf Stichweh in Bielefeld und lehrt Soziologie und soziologische Theorie. Seit 2015 leitet er das dortige Niklas-Luhmann-Archiv.
Kieserling: Sie sind ja, lieber Herr Stichweh, schon Anfang der 1970er Jahre nach Bielefeld gekommen, um hier zu studieren. Können Sie mir etwas über diese Zeit Ihres Studiums erzählen: Was waren beispielsweise die Motive für die Wahl dieses Studienortes? Stichweh: Das kann man einfach sagen. Ich habe 1972 in Berlin begonnen, um dort Soziologie und Philosophie zu studieren, und habe dann ganz schnell die Erfahrung gemacht, dass man das zu dem Zeitpunkt dort nicht konnte. Mein erstes Semester war zugleich dasjenige, in dem die Freie Universität Ernest Mandel berufen wollte. Nachdem der Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher dem belgischen Trotzkisten die Einreise nach Deutschland verweigert hatte, trat die FU Berlin in den Streik. Es gab also keine Lehrveranstaltungen oder nur solche, die halb ›illegal‹ waren. In einer von ihnen habe ich damals schon etwas zur Wissenschaftssoziologie hören können, aber im Prinzip war die Universität außer Kraft gesetzt. Als dann der Sommer 1972 vorbei war und mein zweites Semester begann, war mir relativ schnell klar, dass ich in Berlin nicht bleiben kann. Im Informationszentrum in der Davidstraße gab es ein Regal mit Vorlesungsverzeichnissen deutscher Universitäten, und die bin ich durchgegangen, denn ich wusste zwar, dass ich Soziologie studieren wollte,
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aber ich wusste nicht so richtig, wo ich hingehen sollte. Schließlich blieben Konstanz und Bielefeld übrig, denn es war offensichtlich, dass dies die beiden Orte waren, an denen Soziologie ernsthaft als Studienfach verfügbar war. Ich glaube, ich wäre lieber nach Konstanz gegangen, weil ich aus der Region Bielefeld komme, nämlich aus Lemgo/Lippe, und eigentlich weit weg von Zuhause studieren wollte. Aber irgendwie war die Größenordnung ausschlaggebend. Ich habe mir gesagt, es sind so wenige Leute und so wenige Veranstaltungen dort in Konstanz, also bin ich nach Bielefeld gegangen. Kieserling: Woher kam dieses relativ frühe und bestimmte Interesse an Soziologie? Waren das Lektüren zur Schulzeit oder wie ist es dahin gekommen? Stichweh: Ich hatte seit der ersten Klasse des Gymnasiums eine Leidenschaft für alles, was mit Gesellschaft und Geschichte zu tun hatte. Und wie das am Gymnasium so ist, habe ich sehr lange nicht gewusst, dass das Fach, das dazu gehört, Soziologie heißt. Später habe ich begriffen, dass unter den Wissenschaften, die sich mit Geschichte und Gesellschaft befassen, die Soziologie diejenige ist, die das Recht hat, über alles zu forschen und nachzudenken, und das war dann auch das Wahlmotiv zu sagen, ich mache nicht Ökonomie, nicht Politikwissenschaft, sondern Soziologie, weil mich eigentlich alles interessierte – und das ist im Grunde bis heute stabil geblieben. Der Reiz der Soziologie ist, dass sie keine spezialisierte Sozialwissenschaft ist, sondern eine, die alles Soziale als Gegenstand ihrer Beobachtung hat und für diese Beobachtung laufend Begriffe und Theorien erfindet. Sachlicher Universalismus und Theorieorientierung, das ist Soziologie. Es war ein bisschen schwierig, mich tatsächlich zum Studium der Soziologie zu entscheiden, weil damals – Ende der 60er Jahre, als ich noch Gymnasiast war – alle ›Erwachsenen‹ sagten, du ruinierst dich mit diesem Fach. Aber ich habe mich dann doch entschlossen, es zu machen, und das war ja auch richtig, denn ich bin nach wie vor leidenschaftlich gern Soziologe und denke, dass es die interessanteste Wissenschaft ist. Kieserling: Zu welchem Zeitpunkt haben Sie denn den Vorsatz gefasst, das auch als Beruf zu machen, oder war auch das schon zu Beginn Ihres Studiums klar? Stichweh: Es gab schon in meiner Schulzeit im Gymnasium Lehrer, die meinten, ich sei mit meinem allgemeinen Interesse an Analyse, an Texten und am Verstehen eigentlich eher ein Wissenschaftler als ein Schüler, und das habe ich natürlich mit Freude gehört. Ich bin nicht an die Universität gegangen, um Professor zu werden, aber gehofft habe ich es vermutlich. Ich kann mir auch gar nicht so recht vorstellen, was ich anderes hätte machen sollen. Ich hätte mir einen außeruniversitären Beruf denken können, denn ich bin in einem Geschäftshaus aufgewachsen und habe in diesem Geschäft parallel zur Schule zehn Jahre gearbeitet, weil mein Vater sehr früh starb. Ich war also schon ein
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paar Jahre ein Geschäftsmann gewesen, wenn man so sagen will. Nachdem ich aber einmal an der Universität war, war die Wissenschaft eigentlich das Einzige, was ich ernsthaft in Betracht gezogen habe. Kieserling: Und das Studium in Bielefeld selbst, welche Erinnerungen haben Sie da? Haben Sie beispielsweise von der Breite der Fakultät Gebrauch gemacht oder eher bei Luhmann gehört? Stichweh: Als ich im Sommer 1973 nach Bielefeld kam, wusste ich, dass auch Luhmann dort lehrte. In der Sommerakademie der Studienstiftung hatte ich zwei Jahre vorher etwas von ihm gelesen. Aber bin nicht seinetwegen nach Bielefeld gekommen, und er lehrte in Bielefeld nicht im Grundstudium. Mein Interesse an ihm wuchs erst mit den Enttäuschungen durch viele andere. Im Vergleich mit dem Berlin jener Jahre war Bielefeld einerseits genau das Richtige, nämlich eine ernstzunehmende Universität, auch wenn sie in der Provinz lag, andererseits empfand ich viele der damals Lehrenden als Enttäuschung. Die Leute, denen ich im dritten, vierten und fünften Semester gegenübersaß, waren genauso unsicher wie ich und hatten oftmals einfach keine Ahnung, wie man einigermaßen vertretbare Lehre gestaltet. Daher war ich vom ersten Tag an nicht nur begeistert, sondern auch enttäuscht, aber andererseits hätte ich auch nicht gewusst, wo ich als nächstes hätte hingehen sollen. Kieserling: Aber Sie haben ja auch sehr bald selbst gelehrt? Stichweh: Ich habe schon zur Schulzeit Nachhilfeunterricht gegeben und dabei gemerkt, dass ich das kann, meine Nachhilfeschüler waren nach einiger Zeit immer richtig gut. In Bielefeld habe ich seit dem zweiten Semester als Tutor gearbeitet, und die Erfahrung war sehr ähnlich. So schüchtern und unsicher ich auch war, das verlor sich, sobald ich unterrichtete. Ich glaube, auch die Studenten hatten das Gefühl, dass ich ihnen etwas vermitteln konnte, obwohl ich nur ein, zwei Semester weiter war als sie. Als Tutor und studentische Hilfskraft habe ich auch verschiedene Regionen der Fakultät kennengelernt. Das war eigentlich sehr wichtig in einer Universität, die sonst in vielen Hinsichten so imperfekt war. Kieserling: Wie sind Sie dann auf ihr Thema Wissenschaft und auf ihren Betreuer Luhmann gekommen? Stichweh: Ich hatte schon in der Schule viel über Wissenschaftsgeschichte und speziell über Naturwissenschaftsgeschichte gelesen. Es gab zwei Optionen in dem Gymnasium, das ich besuchte, einen fremdsprachlichen Zweig und einen mathematisch-naturwissenschaftlichen. Ich habe mich bewusst gegen den fremdsprachlichen Zweig entschieden und bin den mathematisch-naturwissenschaftlichen Weg gegangen. Das Thema Wissenschaft als Naturwissen-
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schaft hatte mich also schon sehr früh fasziniert. Auch das erste Buch, das ich als Student in Berlin las, hatte damit zu tun. Das war Thomas Kuhns Buch über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Das ist ein unglaublich folgenreiches Buch, und es hat bei mir zu der Richtung beigetragen, in der ich ein paar Jahre später gearbeitet habe. Kieserling: Und Luhmann? Stichweh: Als ich ihn in meinem zweiten Bielefelder Semester zum ersten Mal hörte, in der Vorlesung ging es um Gesellschaftstheorie, kam er mir zunächst vor wie ein Verwaltungsbeamter. Aber schon wenig später war ich gefesselt und bin davon nie mehr losgekommen. Von dem Augenblick an war Luhmann für mich ›die Universität‹. Und es gab auch einen Kreis von anderen Luhmann-Studenten, und das war wichtig für mein Studium. Kieserling: Wer war denn das damals neben Ihnen? Stichweh: Es war ein Freund, der nicht Wissenschaftler geworden ist, so dass man ihn nicht mit Namen kennt. Wir haben quasi sieben Tage in der Woche zusammengesessen und unablässig diskutiert und die Welt erklärt; das war schon sehr wichtig. Und dann gab es ein paar andere, wir waren wirklich sehr wenige, so vier, fünf, sechs Leute. Aber die haben eben in diesen Studienjahren zwischen 1973 und 1977 eine große Rolle gespielt. Kieserling: Wenn Sie Berlin als so turbulent beschreiben, gab es denn irgendwelche Dauerproteste und dergleichen auch in Bielefeld oder war es eine politisch beruhigte Studentenschaft? Stichweh: Im Berliner Milieu war ich diesen Maoistischen Absurditäten abgeneigt und ich mochte die Stalinisten vom DDR-Typ nicht, aber ich war durchaus marxistisch oder kritisch-theoretisch inspiriert. Das war seit der Schulzeit die Richtung, in der ich aufgewachsen war, und das hat lange gehalten. Insofern war ich nicht jemand, der mit der Studentenrevolte und ihren Theorien gar nichts zu tun haben wollte. Und ich bin dann in Bielefeld auch neugierig in die ersten studentischen Vollversammlungen gegangen. Die fand ich allerdings genauso schlimm und lächerlich wie die in Berlin, und bin dann nie wieder hingegangen. Kieserling: Wie war Luhmann als akademischer Lehrer und Betreuer? Viele beschreiben ihn ja, in beiden Hinsichten, als einen Extremfall von Zurückhaltung. Stichweh: Eine Figur wie Luhmann erzeugt zunächst einmal einen unglaublichen Respekt, wenn ich das so sagen darf. Man kann sich gar nicht vorstellen,
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wie jemand so viele Dinge kennen, sie verstehen und miteinander verbinden kann und auf der Basis dieser Wissensbestände dann auch immer noch so völlig überraschend sein kann in dem, was er dann sagt, wenn man ihn etwas fragt oder ihm etwas vorträgt. Von daher waren der Respekt vor Luhmann und die Distanz zu ihm erst einmal riesig. Deswegen habe ich auch gar nicht so sehr Betreuung gesucht, sondern bin einfach zu allem hingegangen, was Luhmann machte, und das für eine Reihe von Jahren. Nach dem Diplom nicht mehr so viel, aber in den Jahren 1973 bis 1977 habe ich eigentlich jede Veranstaltung besucht, die Luhmann anbot. Und wir haben uns auch sonst in diesem Studentenkreis den ganzen Tag mit Luhmann beschäftigt, ihn nachdiskutiert und, in Grenzen natürlich, weitergedacht. Insofern habe ich den persönlichen Kontakt zu ihm anfangs gar nicht so gesucht, und in gewisser Hinsicht auch später nicht. Gegen meine Diplomarbeit gab es bei Luhmann einen leichten Widerstand. Das war eine Art Strukturgeschichte der deutschen Universität im 18./19. Jahrhundert, und zwar mit Blick auf die Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems, wie sie durch die spezifische Entwicklungsdynamik der deutschen Universität angestoßen wurde. Ich hatte Luhmann im Seminar eigentlich häufiger widersprochen, und vermutlich hat er mich auch damals noch für eine Art Marxist gehalten. Er war sich jedenfalls nicht ganz sicher, ob er mich betreuen wollte. Und ich habe ihm dann im Grunde nur gesagt, was ich machen will, und habe den Kontakt danach eher gemieden. Und später, in der Dissertationsphase, war das aus anderen Gründen ähnlich. Ich hatte ein Thema vorgeschlagen, das ihm nicht gefiel, dann haben wir uns so eineinhalb Stunden fast gestritten, und dann habe ich es fallen lassen. Danach hatte ich ein anderes Thema, wiederum eine Strukturgeschichte, diesmal zum Thema der Herausbildung der Physik als moderner wissenschaftlicher Disziplin, die das zwischen 1740 und 1890 entstehende Gesamtsystem der wissenschaftlichen Disziplinen entscheidend prägt. Das Thema interessierte mich natürlich, war zugleich aber auch so ausgesucht, dass Luhmann dazu eigentlich nichts sagen konnte. In den darauffolgenden vier Jahren habe ich, außer im Seminar, praktisch nicht mit ihm geredet. Ich weiß noch, als ich ihm dann gesagt habe, die Doktorarbeit ist jetzt fertig, da hat er zu mir gesagt, worüber ging es denn eigentlich noch? Aber das war mir Recht so und ich habe eigentlich immer so agiert. Kieserling: Wenn Ihr Thema die Wissenschaft war, hatten Sie Kontakte zu dieser Gruppe von Wissenschaftsforschern um Weingart in dieser Zeit oder später? Stichweh: Ja, das verstand sich von selbst. Ich habe in den ersten Wochen in Bielefeld, das erinnere ich noch gut, an einem Treffen mit Peter Weingart teilgenommen, zu dem diejenigen eingeladen waren, die im damaligen Praxisschwerpunkt Bildungs- und Wissenschaftsforschung studieren wollten. Irgendwie habe ich dann auch zu dieser Gruppe gehört, aber die Beziehungen
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waren nicht ganz so eng. Ich hatte eher Interesse an den Themen als an den Sozialzusammenhängen des Schwerpunkts. Ich habe damals auch gehofft, dass ich dort einmal arbeiten kann, aber das ist nie zustande gekommen. Kieserling: Sie haben die Universität dann auch verlassen und waren lange anderswo, unter anderem am Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte und sind dann der erste Luhmann-Nachfolger geworden. Ich erinnere mich noch, weil ich da auch in der Kommission war, dass das eine Personalentscheidung war, die eigentlich alle gut und nachvollziehbar fanden, also die nicht nur die Mehrheit hatte. Aber es ist ja doch vielleicht eine schwierige Situation so jemanden im Amte nachzufolgen. Hat Sie das irgendwie irritiert oder haben Sie das irgendwie als Belastung empfunden? Stichweh: Nein, die Leute haben mich das auch damals immer gefragt, aber ich habe das nicht so empfunden. Natürlich war ich irgendwie stolz. Ich hatte einen anderen Ruf aus Frankfurt an der Oder, aber als dann der Ruf aus Bielefeld kam, war die Sache zwar noch nicht entschieden, aber es war doch wahrscheinlich, dass ich den Bielefelder Ruf vorziehe, weil ich es gut fand, die Professur zu übernehmen, die Luhmann innegehabt hatte. Aber gleichzeitig wusste ich auch, dass eine Sukzession in der Besetzung eines Lehrstuhls an der Universität nicht eine Nachfolge in der Bedeutsamkeit einschließt. Ich hatte das nicht überschätzt, was ich da erreicht hatte, aber mich auch nicht überlastet, in dem Sinne, dass ich gedacht hätte, du musst jetzt genauso sein wie Luhmann, also vom ersten Tag an dieselbe Leistung erbringen. Und von daher war die Belastung gering und irgendwie hat mir auch geholfen, dass ich in der Folge immer das getan habe, was ich auch schon im Studium getan hatte. Ich hatte im Grunde meine eigenen Themen und meine Arbeitsweisen. Und ich habe gemerkt, dass, was ich kann und wie ich das mache, dass das ganz anders ist, als Luhmann es gemacht hat. Auch im Umgang mit Materialien und mit Historie. So, dass es in einer Hinsicht dieselbe soziologische Tradition ist, aber ich damit dann doch ganz anders umgehe. Und von daher war das richtig gut, dass es mit dem Ruf nach Bielefeld geklappt hat, aber diese Nachfolge war kein großes Problem und ich habe nie das Gefühl gehabt, ich muss jetzt eine Rolle spielen, der ich nicht gewachsen bin. Kieserling: Sie haben in der Bielefelder Zeit auch das Amt des Dekans übernommen. Wie kam es dazu? Stichweh: Ich engagiere mich in den Universitäten, in denen ich tätig bin, immer auch – wenn wir es so nennen wollen – hochschulpolitisch, einfach weil Universität mich interessiert. und ohne dass dahinter irgendeine Art von Programmatik stünde. Luhmann hat einmal gesagt, dass ihn die Universität eigentlich nicht so sehr interessiert, weil das nur ein kleines System ist, das sich wiederholt und immer dasselbe macht. Für mich war das immer anders,
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ich hatte eine starke Identifikation mit der Universität – und außerdem ist die Universität heute kein kleines System mehr, sondern weltweit ein großes System von immenser Diversität und Komplexität. Und von daher war ich auch immer motiviert, etwas für die Universität und in ihr zu tun, und bin auch gerne Dekan geworden und gewesen. Als Dekan war mir zum Beispiel wichtig, dass die Doktoranden-Ausbildung eine Art Studiengang wird, ich habe mich dafür stark engagiert. Es sind in diesen zwei Jahren auch die ersten Institutionen entstanden (eine ›Graduate School‹, ein Graduiertenkolleg), aus denen in der Folge relativ wichtige Erfolge der Bielefelder Soziologie und Geschichtswissenschaft hervorgegangen sind. Das war ein wichtiger Teil meiner Dekanatstätigkeit, und die Jahre waren schon irgendwie gut. Kieserling: In diese Zeit fallen ja auch die Bemühungen aus der Antragsphase zum Sonderforschungsbereich Weltgesellschaft. Stichweh: Das war sicher das wichtigste Engagement in den neun Jahren, die ich insgesamt in Bielefeld war. Wir haben von 1995 an zwei bis drei Jahre lang wöchentlich Sitzungen gemacht und entschieden daran gearbeitet. Vor allem Karin Knorr-Cetina und ich waren die beiden, die diesen SFB vorangetrieben haben. Der war richtig wichtig und ich glaube auch richtig gut. Ich denke bis heute, dass es eine kapitale Fehlentscheidung war, wer immer sie genau getroffen hat, diesen SFB nicht zu fördern. Wir hatten eine positive Evaluation und sind dann trotzdem nicht gefördert worden, vielleicht wegen München, wegen dieses Reflexivitätssonderforschungsbereichs, der überhaupt nichts hervorgebracht hat. Wie gesagt, ich halte das nach wie vor für eine kapitale Fehlentscheidung mit schwerwiegenden Folgen auch für die Fakultät für Soziologie. Es wäre eine Chance gewesen, etwas zu machen, was auch weltweit die Soziologie in erheblichem Maße beeinflusst. Das war schon eine große Enttäuschung, und für mich war Bielefeld danach dann auch weniger wichtig. Das lag auch daran, dass das Rektorat etwas gegen die Fakultät für Soziologie hatte und jedenfalls nicht begreifen wollte, wie wichtig sie für die Universität Bielefeld ist. Kieserling: Gab es denn damals noch nicht die heute übliche abstrakte Begeisterung für Großforschung, etwa nach dem Motto: Gleichviel wer es macht, Hauptsache es wird ein Sonderforschungsbereich? Stichweh: Mein Gefühl war eher, dass es im Rektorat eine Art Stimmung gegen die Soziologie gab. Es wurde dort zum Beispiel gesagt, wir machten das im SFB gar nicht gut, wir hätten nicht mal Power Point in unseren Präsentationen, während wir selbstverständlich Power Point in allen Präsentationen hatten. Dass solche Legenden entstehen konnten, verrät etwas über die damalige Stimmung. Ich bin nun schon lange nicht mehr in Bielefeld, aber mir scheint, dass dies ein bisschen besser geworden ist. Das Wissen des Rektorats um die
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Bedeutsamkeit einer solchen Fakultät, von denen es in Bielefeld nicht so viele gibt, ist besser entwickelt. Kieserling: Wenn Sie als Soziologe über Universtäten publizieren, dann betrifft das ja eine Organisation, die sie auch von innen her kennen, und zwar intensiver als andere Professoren, da sie nach Ihrer Bielefelder Zeit auch Rektor der Universität Luzern waren. Bereichert das Ihr wissenschaftliches Urteil oder sind das Dinge, die eher nebeneinander herlaufen? Stichweh: Die Rektoratszeit in Luzern ist ja etwas sehr viel Größeres und Umfangreicheres, auch wenn Luzern eine kleine Universität ist. Vier Jahre als Rektor, das ist dann doch eine Tätigkeit, die einen sehr involviert, zumal man in der Schweiz, weil es nicht so viele wissenschaftspolitische Institutionen gibt wie in Deutschland, als Rektor sehr direkt mit dem Staatssekretariat – es gibt kein Ministerium in der Schweiz, sondern ein Staatssekretariat – verknüpft ist. Die zwölf Rektoren der Schweizer Universitäten sind extrem wichtig für die Wissenschaftspolitik des Landes. In diesen vier Jahren Rektorat stand ich nicht nur lokal, vor Ort in Luzern, sondern auch national in Kontakt mit den Institutionen in Bern. Und ich habe das immer aus einer Doppelrolle heraus verstanden. Ich habe versucht, etwas zu erreichen und die Institutionen zu verbessern, in denen ich arbeite, und gleichzeitig ein Beobachter zu sein und auf dieser Basis besser zu verstehen, wie Universität funktioniert oder wie Wissenschaftspolitik funktioniert. Das dauert im Grunde bis heute an. Ich bin auch jetzt relativ stark engagiert, in ganz vielen Dingen: Das Exzellenzcluster und das Institut, das ich leite und so weiter. Dieser Doppelcharakter ist immer noch da. Ich mache diese Dinge, um praktisch etwas zu erreichen, aber uno actu studiere ich auch einen Untersuchungsgegenstand, über den ich laufend schreibe und wohl immer schreiben werde. Kieserling: Sie haben das gerade schon angedeutet, Bielefeld war ja eine und ist immer noch eine der größten soziologischen Fakultäten. Luzern war im Vergleich dazu klein und ich glaube auch Bonn ist eine eher kleine Soziologie. Wenn Sie das einfach mal vergleichen und versuchen, die puren Effekte der Größe oder umgekehrt der Kleinheit von Instituten bzw. von Fakultäten zu isolieren, worauf würden Sie dann kommen, was für einen Unterschied macht es, dass Bielefeld eine so große Fakultät war? Stichweh: Das kann man, glaube ich, im Prinzip leicht sagen. Es erlaubt eine sehr viel tiefergehende, sehr viel breiter ansetzende Ausbildung der Studierenden. Ich bin manchmal erschreckt, wenn ich irgendwo – man kann hier einen beliebigen Ortsnamen einsetzen – in den Vorlesungsverzeichnissen sehe, dass Studierende auf der Basis einer doch sehr stark von persönlichen Forschungsinteressen der Lehrenden bestimmten, das Fach aber in seiner Komplexität nicht angemessen repräsentierenden, Lehre ausgebildet werden. Und das war
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in Bielefeld anders. Und für die Forschung gilt natürlich dasselbe. In Bonn wiederum gibt es nur eine kleine Soziologie, aber eine Philosophische Fakultät mit mehr als 100 Professuren. Das war ein großer Vorteil für unser Exzellenzcluster über asymmetrische Abhängigkeiten, in dem es auch, aber nicht nur um Sklaverei als eine radikale Form der Abhängigkeit unter Menschen gehen soll und das deshalb diese viel allgemeinere Problembezeichnung verwendet: ›starke asymmetrische Abhängigkeiten‹. Wir sind in diesem Bonner Exzellenzcluster 25 ›Principal Investigators‹, und die Breite des Wissens, das im Cluster repräsentiert ist, ist beträchtlich. Es gibt Spezialisten für jede Weltregion und für gegenwartsnahe und für weit entfernte Zeiträume, und das ist ein Vorteil einer solchen großen Fakultät. Kieserling: Es gab ja lange Zeit die Außenwahrnehmung, dass Bielefeld so eine Fakultät der vielen Konflikte gewesen ist, aber andererseits eben auch so groß war, dass sie nicht durch irgendeinen Einzelkonflikt oder persönlichen Streit zwischen zwei Person jemals als Fakultät hätte irgendwie gefährdet sein können. Das geschieht ja kleinen Instituten mitunter, dass ein Konflikt, der nicht zu stoppen ist, das Institut sozusagen lähmt. Haben Sie zur Konfliktgeschichte der Universität Eindrücke gewonnen oder irgendetwas, dass Ihnen in Erinnerung geblieben ist? Stichweh: Für die Zeit, in der ich Dekan war (1999-2001), erinnere ich das Konfliktniveau der Fakultät als recht niedrig. Es gab den SFB-Plan und aus dem nichtbewilligten SFB hervorgehend das ›Institut für Weltgesellschaft‹, aber es war nicht so, dass irgendjemand ausgeschlossen worden war, höchstens einzelne Personen, an deren individuellen Beitrag man nicht so recht glaubte, aber es waren keine Zugangsweisen zur Soziologie ausgeschlossen. Der ganze Prozeß hatte einen integrativen Effekt für die Fakultät. Und für die Zeit, in die mein Dekanat fiel, würde ich sagen, die Fakultät war zwar sehr pluralistisch, was von Vorteil ist und was ich auch als Vorteil erlebt habe, aber sie war nicht gespalten durch unaushaltbare Konflikte. Ich erinnere aus meiner Dekanatszeit einen einzigen Fall. Ein Kollege war der Meinung, dass ich die Fakultät in eine systemtheoretische Richtung steuern würde, was das Letzte ist, was ich getan habe oder je zu tun vorgehabt hätte, aber er hatte es so wahrgenommen. Aber sonst fand ich die Fakultät in der Dekanatszeit eigentlich erstaunlich gut integriert. Die Leute hatten, glaube ich, das Gefühl, dass ich etwas für die Fakultät und nicht für irgendeine Partei zu tun versuche, und haben im Großen und Ganzen mitgemacht. Kieserling: Darf ich nach dem noch einmal nach dem SFB fragen? Sie sagen, dass war mit Bezug auf soziologische Ansätze eine offene Sache. Aber wie definiert man dann die Einheit eines solchen Unternehmens, die ja nicht schon mit dem Thema gegeben ist?
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Rudolf Stichweh im Gespräch mit André Kieserling
Stichweh: Es waren ja in der Hauptsache Karin Knorr-Cetina und ich, die diesen SFB geleitet haben, und wir haben das irgendwie hingekriegt, unsere jeweiligen Papiere aufeinander abzustimmen. Die Zugangsweise zu Fragen der Weltgesellschaft war in irgendeinem Sinne auch eine systemtheoretische, aber die Fragen waren so formuliert, dass sie offen waren für andere Perspektiven, für Makroperspektiven, für Phänomenologie, und deswegen war da der Konflikt irgendwie aufgelöst. Und dann hatte ich, einfach, weil ich in der Lage war, etwas zu schreiben, den Vorteil, dass die anderen, auch wenn sie vielleicht anders dachten, froh waren, dass jemand etwas geschrieben hat. Und dann funktioniert das. Es gibt diesen schönen Text von Herbert Simon, Birth of an Organization (1953), mit der These, dass derjenige, der als erster etwas Diskussionsfähiges zu Papier bringt, übergroßen Einfluss habe. Kieserling: Vielleicht können Sie abschließend noch etwas dazu sagen, was Sie dann nach neun Jahren dazu bewogen hat den Ruf nach Luzern anzunehmen, also in eine ganz andere Situation, eine Gründungssituation, zu gehen? Stichweh: Es war zunächst mal eine Art Gefühl: Bielefeld war jetzt vielleicht lange genug. Ich hatte aber keine Strategie, der ich nachging, sondern habe mich einfach mal um ein paar Professuren beworben, die damals, in den Jahren 2001 und 2002, frei wurden. Luzern war eine neugegründete Universität, für die ich ein relativ bekannter Soziologe war, und dorthin hat man mich sehr schnell berufen. Ich habe mich nicht sofort entschlossen, den Ruf anzunehmen, sondern sah darin eher eine Frage an die eigene Universität und ihr Rektorat: Was wären sie bereit zu tun, um mich zu halten? Das war noch dieses relativ unfreundlich eingestellte Rektorat, das die Sache wohl auch unterschätzt hat: Nach Luzern geht der nie! Am Ende gab es also keine Gründe, in Bielefeld zu bleiben, und ich hatte ja auch Lust, etwas Neues anzufangen, und also habe ich den Ruf angenommen. Kurz zuvor hatte mich ein in Luzern aufgewachsener Schweizer Romanist, der Professor in Konstanz war, gewarnt. Er sagte: Herr Stichweh, wollen Sie das denn annehmen? Und ich sagte: Warum nicht? Und dann sagte er: Sie müssen sich das so vorstellen, die Innerschweiz, also u.a. der Kanton Luzern, das ist so etwas Ähnliches wie die Südstaaten der Vereinigten Staaten. Das ist die katholische Provinz der Schweiz. Die katholischen Kantone haben 1848 einen Bürgerkrieg verloren und immer seither waren sie ein kulturelles backwater, und Sie müssen sich das gut überlegen, ob Sie es dort aushalten. Und das hat mir ein bisschen Angst gemacht, aber dann hab ich es doch gemacht. Und es hat auch irgendwie funktioniert. Natürlich ist Luzern nicht Oxford oder Cambridge, aber es hat Spaß gemacht und ich habe da viel gelernt. Ich fand auch die Schweiz sehr interessant. Was die Soziologie in Luzern betrifft, war es war ein gemischter Erfolg, teilweise ist es gelungen, teilweise auch nicht. Es ist ein ziemlich zerstrittenes kleines Department, und das war auch einer der Gründe, warum ich wieder fortgegangen bin. Aber Luzern ist dann selbst in der katholischen Provinz der Schweiz zugleich eine
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›Weltuniversität‹ und irgendwie hat die Balance gestimmt – und ich lehre da noch heute und finde die Veranstaltungen gut.
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Die Fakultät als Großstadt und ihre intermediären Strukturen Jörg Bergmann im Gespräch mit Ruth Ayaß und Sarah Hitzler
Jörg Bergmann hat in München studiert und war anschließend viele Jahre (19761986) an der Universität Konstanz tätig (als Mitarbeiter, Doktorand und Habilitand von Thomas Luckmann). Nach einer Lehrstuhlvertretung in Trier und einem Heisenberg-Stipendium führte ihn sein Weg nach Gießen an die Justus-Liebig-Universität (1990-2001) auf eine Professur für Mikrosoziologie. Von 2001 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2012 hatte Bergmann an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld die Professur für qualitative Methoden am Arbeitsbereich »Methoden der empirischen Sozialforschung« inne. Ruth Ayaß ist seine Nachfolgerin auf dieser Professur. Sarah Hitzler hat bei Jörg Bergmann promoviert und ist am Arbeitsbereich beschäftigt.
Ayass/Hitzler: Du bist ja 2001 von der Universität Gießen nach Bielefeld gekommen und warst von dort die Arbeit an einem vergleichsweise kleinen Institut gewohnt. Auch bei Deiner früheren Arbeit an der Universität Konstanz gab es mit der Fachgruppe Soziologie eine eher kleine Einheit. Was bedeutet denn die Arbeit in einer dann doch großen Fakultät für Soziologie, wenn Du es mit diesen anderen Arbeitskontexten vergleichst? Bergmann: Zunächst hatte ich, als ich nach Bielefeld ging, keine richtige Vorstellung davon, wie so eine große Fakultät mit fast 30 Professoren eigentlich funktioniert. In einer kleinen Fachgruppe wie in Konstanz oder einem kleinen Institut mit sechs Professoren wie in Gießen kennt man sich natürlich gegenseitig sehr gut. Aber man ist auch stark voneinander abhängig. Wenn da ein Kollege oder eine Kollegin mal nicht mitzieht oder sich weigert, bestimmte Funktionen zu übernehmen, dann leidet gleich das ganze Institut darunter. Aber ich habe dann schnell gelernt, dass sich auch eine große Fakultät wieder in kleinere Gruppen und Arbeitsgruppen unterteilt. Das ist ein bisschen so,
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Jörg Bergmann im Gespräch mit Ruth Ayaß und Sarah Hit zler
wie wenn man auf dem Land lebt und in die Großstadt fährt und überlegt, wie kann man denn in der Großstadt leben. Aber man lebt ja nicht in der Großstadt, man lebt dann eben in einem Bezirk oder in einer Nachbarschaft. Entsprechend unterteilt sich die ›Großstadt Fakultät‹ gewissermaßen wieder in kleinere Nachbarschaften und Untergruppierungen. Die Größe der Fakultät habe ich dann sehr rasch als angenehm empfunden. Insgesamt gab es innerhalb der Fakultät jedenfalls eine stärkere Diskussionskultur, als ich es bisher aus anderen Fachgruppen und Instituten kannte, wo sich viel auf einer persönlichen Ebene abspielte. Man sprach mit dem einen oder anderen, man hatte vielleicht Arbeitskontakte mit Einzelnen, aber das war auf einer sehr individuellen Ebene. In der Fakultät merkte man hingegen doch, auch über die Studierenden, die natürlich auch bei anderen Professoren waren, dass da ganz andere Einflüsse vorhanden waren, und das spiegelte sich dann auch im Umgang mit mir als neuem Professor. In meiner Erinnerung habe ich die Fakultät zunächst eher über die Studenten kennengelernt als über die Kollegen. Natürlich habe ich diese dann peu à peu auch kennengelernt. Zum Teil kannte ich sie ja auch vorher schon, weil ich von 1998-2002 im Herausgebergremium der »Zeitschrift für Soziologie« war, also da kannte ich dann schon den einen oder anderen Kollegen. Aber eigentlich habe ich die Größe der Fakultät erst durch die Studenten kennen gelernt und anschließend durch Aktivitäten, die die Fakultät insgesamt betrafen. Das war zum einen die rasch einsetzende Diskussion über die Reform des Diplomstudiengangs – das war gleich eine Diskussion, die mich heftig erwischt hat. Das andere war dann die Frage nach Sonderforschungsbereichen bzw. Graduiertenkollegs, also nach Forschungsinitiativen, die professurenübergreifend waren. Da merkte man schon, dass in so einer großen Fakultät mehr Wind, mehr Dynamik, mehr Energie zu spüren war, als es in einer kleinen Fachgruppe der Fall sein kann. Über solche Aktivitäten wie die Studienreform oder Initiativen für Graduiertenkollegs lernte ich dann peu à peu andere Professoren kennen. Man fängt natürlich dann an, Vorlieben oder Schwerpunkte oder Affinitäten wahrzunehmen, weil man natürlich auch mitbekommt, wie das eigene Profil und die eigene Kompetenz von den anderen wahrgenommen und eingeschätzt wird. Verglichen damit rückt in einer kleinen Fachgruppe die eigene Individualität sehr viel stärker in den Vordergrund. Wenn da die Individualitäten nicht aufeinander passen, dann hat man da ein schweres Arbeitsumfeld. Und in einer großen Fakultät ist das eher abgefedert: Man kann sich bis zu einem gewissen Grad aussuchen, mit wem man zu tun haben will. Und man kann vielleicht den einen oder den anderen ein bisschen ignorieren und kann sich gewissermaßen seine eigenen Netzwerke suchen, während das in einer kleinen Fachgruppe einfach nicht möglich ist. Da muss man mit anderen auskommen, und wenn das nicht geht, dann entsteht das, was man ja immer wieder hört, dass in kleinen Instituten eben die Leute nur noch über einen Rechtsanwalt miteinander verkehren. Also das ist in so einer großen Fakultät nicht so.
Die Fakultät als Großstadt und ihre intermediären Strukturen
Insgesamt habe ich die große Fakultät am Anfang eher als Herausforderung wahrgenommen und später als eine große Bereicherung, weil es meinen Horizont sehr stark erweitert hat, dass da kluge Kolleginnen und Kollegen waren. Das habe ich schon sehr genossen. Die paradigmenoffene Haltung in Bielefeld hat mir eigentlich sehr gut gefallen. Es gab schon Leute, die ihren eigenen Standpunkt vertraten, aber sie haben auch, weil es eben eine große Fakultät war, ein Sensorium dafür gehabt, dass es anderes in der Soziologie gibt als nur das, was man selber macht. Es war eben eine pluralistischere und tolerantere Haltung in der Fakultät, als es in einem kleinen Institut der Fall ist, wo jeder halt seinen Stiefel macht, und manchmal passt es zum anderen, meistens passt es eben nicht, während man in der Fakultät in Bielefeld doch mehr Chancen hatte, sich mit anderen zusammen zu tun. Ein Beispiel dafür: Mit Rudolf Stichweh hat mich nicht sehr viel verbunden, aber aus welchen Gründen auch immer hat er mich 2002, als er wegging – und da war ich ja erst ein oder zwei Jahre in Bielefeld – gefragt, ob ich in der von ihm initiierten IGSS [International Graduate School in Sociology] die Leitung übernehmen will. Das wäre in einem kleinen Institut nicht so ohne weiteres möglich gewesen, dass man jemanden, der doch weit weg von dem ist, was man selber tut, für so eine wichtige Funktionsstelle vorschlägt. Also da drückt sich schon eine Toleranz aus, ein Über-den-eigenen-Tellerrand-hinweg-Schauen und die Frage danach: Was macht jemand, welche Kompetenz zeichnet diese Person aus, statt nur zu versuchen, den eigenen Fahrplan zu realisieren. Das war eine wichtige Erfahrung für mich. Ich hatte damals mit den Theorieleuten, insbesondere als dann Bettina Heintz kam, doch eine relativ enge Verbindung, was mich am Anfang überrascht hat. Vermutlich war ich selber für die Theorieleute auch eine Art Bereicherung. An einer großen Fakultät können sich solche Konstellationen bilden, die dann erfolgreich und gewinnbringend sein können, während in kleineren Instituten so was eher schwierig ist. Was die Studenten angeht, die waren deutlich besser ausgebildet und deutlich fordernder, als ich es kannte. Ich glaube, dass im damaligen Studiengang die starken Einführungswochen mit dem Ziel, gleich von Anfang an den Leuten Handwerkszeug, Begrifflichkeiten und auch eine gewisse Ethik des wissenschaftlichen Arbeitens zu vermitteln, gefruchtet haben. Und diejenigen, die geblieben sind, wussten auch, was sie davon hatten. Diese Einführungskurse gab es in den kleinen Instituten nicht in dieser Form. Die Aufmerksamkeit, die in Bielefeld den Einführungsveranstaltungen gewidmet worden ist, war ein ganz wichtiger Aspekt, der bei den Studenten ein Bewusstsein entwickelt hat, gefordert zu sein und deshalb auch selbst etwas von den Professoren fordern zu können. Dieser Eindruck war vor allem im Vergleich zu Gießen ein großer Kontrast. Was ich vermisst habe, war ein Fachgruppenkolloquium, wie es dies in Gießen und Konstanz gab, also ein Kolloquium, wo mehr oder weniger aus moralischem Zwang heraus alle Beteiligten sich zu einem Vortrag treffen und man auf diese Art und Weise auch seine Kollegen kennenlernt. So etwas gab
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es in Bielefeld nicht. Es gab zwar viele Vortragstermine, aber manchmal auch zu viele, und dann verlief sich das Ganze eben. Das heißt, man hat eigentlich nie die Fakultät irgendwie insgesamt gesehen oder getroffen. Es gab durchaus auch Kollegen, bei denen ich lange Zeit brauchte, um diese überhaupt kennenzulernen. Das fand ich ein bisschen schade, ist aber vermutlich doch eine Konsequenz einer so großen Fakultät. Aber trotzdem wäre vielleicht so ein Fakultätskolloquium, wo dann so eine moralisch-ethische Verantwortung bestünde, dorthin zu gehen, vielleicht gar nicht so schlecht, um einen Treffpunkt für alle Beteiligten zu schaffen. Denn auch bei der Professorenversammlung sind statt der 28 Professoren nur 15 da, und es gab Leute, die dauerhaft fehlten, die irgendwie keinen moralischen Druck zur Kooperation empfanden. Und diese Möglichkeit, sich so aus einer Kooperation herauszuziehen, ist in einer großen Fakultät einfacher als in einer kleinen, wo man das dann eigentlich nur über entweder juristische Abgrenzungen oder aber über neurotische Profile machen kann. Ihr wisst schon, wovon ich rede! (lacht) Dann fand ich extrem bereichernd, dass die Fakultät selber in ein großes Netz an interfakultativen und interdisziplinären Bezügen eingebaut ist – zu den Linguisten, zu den Historikern. Auf der anderen Seite führte dies dazu, dass die Verbindung zu den Fakultätsmitgliedern in der Soziologie eher schwächer wird, weil man dann– so wie ich zum Beispiel mit Elisabeth Gülich (Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft) – mit anderen Personen Arbeitskooperationen aufnimmt, die dann zu Lasten von Kooperationen innerhalb der Fakultät gehen. Dazu kommt dann das ZiF [Zentrum für interdisziplinäre Forschung], dazu kommen dann die irrsinnig vielen Vortragstermine, zu denen man gehen kann und nicht immer geht. Also, es verläuft sich so ein bisschen aufgrund des großen Angebots. Man trifft oft eher andere Leute als eben die, die in der Fakultät Mitglieder sind. Und die Wege sind kurz, man trifft auf dem Weg zur Mensa oder zum Westend einfach viele Leute außerhalb der Fakultät. Dazu kamen bei mir die Sportaktivitäten der Professoren am Mittwochabend. Auch da trifft man eben dann andere Kollegen. Ich bin jedenfalls sehr früh sehr stark außerhalb der Fakultät vernetzt gewesen und habe dort Verbindungen gehabt – und weniger innerhalb der Fakultät und dort nur zu ausgesuchten Leuten. Die Fakultät war dann eher eine Schimäre, aber konnte es nur deshalb sein, weil sie eben so groß war. Ayass/Hitzler: An der Universität Gießen hattest Du eine Professur für Mikrosoziologie, in Bielefeld dann die Denomination für qualitative Methoden. Hat dies Deine Arbeit verändert, oder hat es Deine eigene Selbstwahrnehmung oder deine Fremdwahrnehmung in irgendeiner Weise beeinflusst? Bergmann: Weniger als ich selbst eigentlich erwartet oder befürchtet hatte. In Gießen selbst hatte ich ja schon immer Methodenkurse angeboten, und die eher material-thematischen Seminare waren meist Projektseminare, in denen auch mit qualitativen Methoden gearbeitet wurde. Es war schon eine gewisse
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Schwerpunktverschiebung hin zu den Methoden, aber auf der anderen Seite war es kein so radikaler Bruch, wie ich es eigentlich erwartet hatte, dass ich in Bielefeld nur noch Methoden machen muss und als Methodenheini wahrgenommen werde. Vorher hatte ich thematische Bezüge mit Methoden gelehrt und nun eben Methoden mit thematischen Bezügen. Diese Verbindung – Methoden plus materiale Soziologie – empfand ich als eine meinem eigenen Verständnis von Wissenschaft sehr entsprechende Beschreibung der Professur, die ich da innehatte. Dazu kommt natürlich, dass es einen großen Prozentsatz von Studierenden gab, die qualitativ arbeiten wollten. Die Methoden wurden auch nachgefragt von Studierenden, die bei ganz anderen Kollegen ihre Abschlussarbeiten machten, sowohl für Diplom- als auch Doktorarbeiten. Ich wurde nicht direkt überrannt, aber die Nachfrage nach qualitativen Methoden bei den Abschlussarbeiten war doch sehr, sehr groß. Das hat mich am Anfang eigentlich sehr überrascht, aber ich habe das als Aufwertung der qualitativen Methoden erfahren und nicht so sehr als Arbeitsbelastung. Die qualitativen Methoden waren auch so eine Art Querverbindung zu den anderen Soziologien, wo man dann auch als Methodiker mit Leuten aus der Theorie, aus den Politikwissenschaften oder aus der Sozialanthropologie zu tun bekam. Insofern war die Professur ein Fach, das quer zu den anderen thematischen Einteilungen lag. Klar habe ich Konversationsanalyse gemacht, aber ich war doch auch offen gegenüber anderen qualitativen Methoden, und das war, glaube ich, wichtig dafür, dass die Professur von den anderen Mitgliedern der Fakultät auch als eine wahrgenommen worden ist, die so ein bisschen verbindet. So eine große Fakultät ist ja immer in Gefahr, dass sie sich atomisiert, und man könnte sagen, dass man entweder über Theorie gewissermaßen quer zu den thematischen Fachverbindungen thematische Bindungen herstellt oder man macht das eben über Methoden. Bei der Theorie, da sie eben sehr stark systemtheoretisch orientiert war, war das nicht so sehr der Fall gewesen. Bei den qualitativen Methoden war es sicherlich der Fall. Und mit Bettina Heintz kam dann jemand, der theoretisch offen und damit ebenfalls quer zu den thematisch-materialen Einteilungen der Fakultät verbindend wirkte. Also ich glaube, wir beide haben uns nicht umsonst gut verstanden. Wir haben auch Seminare zusammen gemacht, und wir hatten beide den Eindruck, dass wir für die Fakultät so eine Art »Bindemittelprofessuren« waren. Für die Fakultät war das eigentlich ganz gut, die ja eben sonst, das hat sich damals schon ein bisschen angedeutet, auch die Möglichkeit bietet, zu privatisieren. Ayass/Hitzler: Die Fakultät hat ja relativ bald, nachdem Du gekommen bist, ihre Doktorandenausbildung institutionalisiert, über die IGSS und später im Rahmen der Exzellenzinitiative in der BGHS [Bielefeld Graduate School in History and Sociology]. Du warst in beiden ziemlich stark involviert. Was sind Deine Erfahrungen: Hat sich die Fakultät vielleicht dadurch verändert, dass so ein sehr starker Fokus auf die Doktorandenausbildung und damit einhergehend dann auf eine zunehmende Internationalisierung gelegt wurde?
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Bergmann: Als Stichweh mich fragte, ob ich die Leitung der IGSS übernehmen möchte, musste ich mich erst mal mit der Idee einer strukturierten Promotionsausbildung beschäftigen. Damit hatte ich mich bis dahin nicht so richtig beschäftigt. Ich hatte Erfahrungen aus den USA und mir leuchtete durchaus ein, dass man dafür gute Argumente finden kann. Es war interessant zu sehen, dass bereits die Einrichtung der IGSS bei einigen älteren Kollegen auf ziemlichen Widerstand stieß, weil befürchtet wurde, dass dort die – ich nannte es ironisch so – Reichsunmittelbarkeit der Doktoranden aus der vormaligen Doktorandenausbildung in Frage gestellt wurde. Bisher hieß es ja immer, »Wollen Sie bei mir promovieren?« – »Ja.« Und dann war man Doktorand bei jemandem. Diese Personenabhängigkeit des Promovierens hat ihre Vorzüge, sie hat aber natürlich auch massive Nachteile. Diese massiven Nachteile bestehen unter anderem natürlich darin, dass man in wahnsinnig hohem Ausmaß von Wohl und Wehe des Doktorvaters oder der Doktormutter abhängig ist. Das war zwar in meiner Zeit nicht mehr so stark der Fall, aber die starke Bindung an den Betreuer habe ich immer schon als ein bisschen unangenehm empfunden. Es gab also damals große Bedenken gegenüber der Einrichtung einer IGSS. Das ging so weit, dass wir bei der Universitätsspitze ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben haben, um zu klären, inwiefern die damalige Idee, dass jeder Promovend automatisch Mitglied der IGSS sein muss, überhaupt haltbar ist oder nicht. Und es stellte sich heraus, dass es nicht haltbar ist. Es muss also nicht jeder Doktorand IGSS-Mitglied oder jetzt BGHS-Mitglied sein, er hat dann aber auch keine Möglichkeiten, auf die Ressourcen zuzugreifen. Das ist dann später sehr rasch von den Doktoranden begriffen worden, und viele, die erst mal nicht in der IGSS waren, sind dann in die IGSS gegangen und konnten dann Anträge für Feldforschungsaufenthalte oder Archivforschung stellen. Die Einrichtung der Graduiertenschule hat mir also durchaus eingeleuchtet, nachdem ich mich damit beschäftigt hatte, aber mir war schon auch klar, dass diese dritte Ausbildungsstufe nach Bachelor und Master eine andere Art von Ausbildung sein muss als die ersten beiden. Da kann man die Ausbildungsqualität und ein Ausbildungsmilieu nicht über Verpflichtungen schaffen, sondern muss viel mehr auf Selbstverantwortung setzen. Wir haben daher auch von Anfang an die Zwänge von außen eher schwach gehalten. Wir wollten, dass die Doktoranden in einem Zeitraum von drei bis fünf Jahren einen Methoden- und einen Theorieschein machen und dann noch drei oder vier weitere Scheine. Ich wollte unbedingt, dass die Doktoranden nicht, wie es damals in Mannheim der Fall war, noch 20 Punkte oder so ähnlich auf ihrem Konto verbuchen mussten. Das hätte ich furchtbar gefunden. Zweitens war mir die Förderung von Doktorandinnen wichtig. Gerade für die Doktorandinnen ist die Zeit der Promotion auch das Alter, in dem man eine Familie gründet und Kinder bekommt. Und drittens wollten wir den Doktoranden Ressourcen zur Verfügung stellen. Ohne Ressourcen kann eine Graduiertenschule einpacken. Sie muss irgendwas anbieten. Man kann natürlich Eigenverantwortung for-
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dern, aber man muss den Leuten etwas geben, mit dem sie hantieren können. Wir wollten also mit minimalen Anforderungen und einem hohen Maß an Eigenverantwortung sowie Ressourcen eine Identität oder eine Kultur der Doktoranden entwickeln. Dann spielte die Internationalität eine große Rolle, das kam mir gerade recht. Ich hatte sowieso immer bedauert, dass man an einer deutschen Universität Karriere machen kann, ohne im Ausland gewesen zu sein. Das fand ich eigentlich immer etwas merkwürdig. Ich war selbst sehr viel im Ausland und hielt das immer für eine große Bereicherung auch für jüngere Leute. Wir haben die Doktorandenausbildung von Anfang an in englischer Sprache gemacht und die Stipendien auch so ausgeschrieben, dass sich Leute aus dem Ausland bewerben konnten. Allerdings beschränkte sich die Zahl der Kolleginnen und Kollegen in Bezug auf ihre Engagements in der Graduiertenschule auf eine überschaubare Gruppe. Es gab eine ganze Reihe von Kollegen, die durchaus insofern von der Graduiertenschule profitierten, als ihre Doktoranden von den Ressourcen, ob das Räume oder Mittel waren, profitierten, die sich aber in der Graduiertenschule wenig engagiert haben, etwa wenn es darum ging, Gutachten zu schreiben. Wir haben auf die Ausschreibung der Stipendien oft 200 bis 300 Bewerbungen bekommen, zu denen wir Kurzgutachten von den Kollegen angefordert haben, damit wir es runterkochen konnten auf 40 Interviews. Dieses Gutachtenschreiben ist zum Teil sehr widerwillig erfolgt, man musste immer nachhaken. Also das Engagement der Kollegen und Kolleginnen hielt sich auf der Ebene der Graduiertenausbildung doch sehr in Grenzen. Ich kann mich erinnern, dass mich ein Kollege, als es um die BGHS ging und um die Frage, ob die Historiker dabei mitmachen, en détail fragte, was finanziell für ihn und für die Doktoranden herausspringt, und ich sagte: »Erst mal gar nichts. Sie müssen sich genauso bewerben wie andere auch. Wenn sie Doktoranden mit Stipendien sind, dann können sie in die Räume etc., aber sonst nichts.« Da sagte er: »Dann ist es uninteressant für mich.« Das war schon bei vielen die Haltung: Was springt für mich dabei raus – und nicht, was kann ich dafür machen. Aber ich hatte den Eindruck, dass im Laufe der Jahre die Akzeptanz besser wurde, vielleicht auch, weil deutlich wurde, dass wir niemandem etwas wegnahmen und dass die Ausbildung nicht hieß, dass jetzt irgendwelche zusätzlichen besonderen Anforderungen auf die Doktoranden zukamen, aber dass gleichzeitig eine Diskussionskultur entstand, die sich durchaus positiv auf die eigenen Doktoranden auswirkte. Ich kann mich an einen Fall erinnern, in dem ein Doktorand nicht zufrieden war mit der Betreuung durch seinen Professor. Er wusste nicht so genau, was der Professor eigentlich von ihm wollte und empfand dessen Erwartungen ihm gegenüber als sehr diffus. Also hat er darum gebeten, ein Gespräch zu dritt zu führen, und das Gespräch ist zu aller Zufriedenheit verlaufen. Dem Doktoranden wurde vieles klarer, und vielleicht auch wegen meiner Anwesenheit hat der Betreuer deutlicher gemacht, was er erwartet. Das war nicht der einzige Fall. So was spricht sich dann unter Kolle-
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gen auch herum. Wir hatten vielleicht fünf, sechs solcher Betreuungsgespräche, und an diesen Gesprächen wird auch der Sinn einer solchen Graduiertenschule deutlich, insofern als neben dem Professor und dem Doktoranden eben eine dritte Instanz vorhanden ist, die zu einer Entlastung führen kann. Die Betreuungssituation ist ja bei uns insofern problematisch, als der Betreuer eine ganz merkwürdige ambivalente Situation hat. Er ist Betreuer und wird dann plötzlich über Nacht zum Gutachter. Das ist zum Beispiel in Finnland oder England nicht der Fall. Dort gibt es eben die Betreuer, und andere Personen beurteilen und vergeben die Note. Insofern ist es auch unter diesem Blickwinkel gar nicht so schlecht, wenn es da eine dritte Einrichtung gibt, die ein bisschen drauf schaut, so dass die Beziehung zwischen Betreuer und Doktorand noch von jemand anderem beobachtet wird. Insgesamt, glaube ich, hat die Graduiertenschule der Fakultät ganz gut getan. Gerade weil die Fakultät so groß ist, ist es gut, wenn es neben den bestehenden Arbeitsgruppen, die vielleicht oft nur bürokratisch existieren, weil die Budgets oder irgendwelche Funktionen oder Aufgaben gemanagt werden müssen, solche intermediären Strukturen gibt, die quer dazu verlaufen. Anders als bei Graduiertenkollegs oder bei Sonderforschungsbereichen, die eben nur Teile der Fakultät betreffen, handelt es sich bei der BGHS um eine Einrichtung, an der die ganze Fakultät irgendwie beteiligt ist. Also, was Stichweh damals mit der Graduiertenschule in die Wege geleitet hat, das war eine sehr gute Idee von ihm. Ich habe ihn da sehr bewundert, dass er als einer der ersten diesen Schritt gewagt und diesen Vorschlag gemacht hat. Das finde ich im Nachhinein sehr mutig, und es zeugt von viel Weitblick. Den hatte ich selber damals nicht. Ayass/Hitzler: Die IGSS ist dann relativ bald im Rahmen der Exzellenzinitiative zur BGHS weiterentwickelt worden. Wie ist Deine Erinnerung daran? Was hat die Exzellenzinitiative mit der Fakultät gemacht? Das war ja schon eine sehr strategische Entscheidung damals, die Geschichtswissenschaften mit hinein zu holen und eigentlich ein bestehendes Konzept wieder aufzuschnüren und neu zu denken. Bergmann: Das stimmt, ja. Dazu gibt es natürlich eine Vorgeschichte. Ein, zwei Jahre nachdem die Fakultät für Soziologie die IGSS eingerichtet hatte, kam die Geschichtswissenschaft auch auf die Idee, eine Graduiertenschule einzurichten. Es gab damals ein Förderprogramm, bei dem es Gelder für die Einrichtung einer Geschäftsführung gab. Stipendien gab es noch nicht, aber Geschäftsführung und Mittel für Hilfskräfte und eine Sekretärin. Die Fakultät für Geschichtswissenschaften hat im Prinzip zunächst die Struktur und die Organisation, die wir hatten, für ihre eigene Graduiertenschule kopiert. Im Prinzip haben die eine Kopie der IGSS gemacht. Bevor die Exzellenzinitiative kam, gab es also schon zwei, drei Jahre die IGSS, und dann gab es die historische Schule. Und es gab auch immer schon Verbindungen zu den His-
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torikern. Zum Beispiel über das Graduiertenkolleg Weltgesellschaft – da waren Historiker dabei. Und als dann die Exzellenzinitiative kam, wurde die Idee der gemeinsamen Graduiertenschule entwickelt. Ich weiß nicht mehr, von wem die Idee kam, es kann sein, dass sie vom Rektor kam. Das Rektorat hat damals aufgrund dieses neuen Programms viel darüber nachgedacht, welche Fakultät, welche Einrichtungen denn in die Nähe einer Exzellenzförderung kommen könnten. Und es war klar, dass zwei Graduiertenschulen, Geschichte und Soziologie, nicht gefördert werden können. Eine gemeinsame Graduiertenschule mit Soziologie und Geschichte könnte hingegen ein Alleinstellungsmerkmal sein, und es gab ja traditionelle Verbindungen zwischen Soziologie und Geschichte in Bielefeld. Was hat es mit der Fakultät gemacht? Also ich bin nicht so ganz sicher, ob es für die Fakultät insgesamt einen Gewinn gebracht hat. Ich habe eigentlich von den Geschichtswissenschaftlern eher wenig gelernt. Ich habe zwar mit meinem damaligen Vertreter, Thomas Welskopp, ein Seminar über soziale Mechanismen angeboten – es gab damals die Pflicht, dass man ein gemeinsames Theorieseminar anbietet – aber ich glaube, man merkte uns an, dass es irgendwie erzwungen war. Ich kann nicht so recht sehen, wie die Strukturentscheidung, alle Doktoranden der Soziologie und Geschichtswissenschaft in eine gemeinsame Einrichtung einzubinden, für die Soziologie wirklich einen großen Gewinn abwirft. Vielleicht ist das für die Geschichtswissenschaft besser. Mir hat diese »Zwangsehe« damals zwar strategisch-politisch eingeleuchtet, und sie war ja auch erfolgreich, aber inhaltlich nicht. Und mir leuchtet es eigentlich heute auch nicht ein. Ich glaube, dass die Fakultät, wenn sie denn eine Graduiertenschule eigener Art hätte, damit vielleicht sogar besser fahren würde. Wenn die Exzellenzförderung ausläuft und damit sozusagen die Notwendigkeit, eine gemeinsame Graduiertenschule aufrecht zu halten, nicht mehr besteht, entstünde ja so eine Situation, wo man überlegen müsste: Fahren wir eigentlich mit einer gemeinsamen Graduiertenschule besser oder fahren wir ohne eine gemeinsame besser? Ich sehe eigentlich nicht, weshalb die Doktoranden, die zum Beispiel bei uns arbeiten, sich jetzt unbedingt tieferes historisches Wissen, Methoden und Theorien aneignen sollen. Das ist eigentlich beliebig, also das würde ich jetzt spontan sagen. Ich könnte mir durchaus auch andere Konstellationen vorstellen. Wir haben mit den Leuten in der Linguistik mehr zu tun, und andere haben vielleicht mit der Psychologie, mit der Pädagogik oder mit der Philosophie oft mehr Verbindungen als mit der Geschichtswissenschaft. Gerade weil es so eine große Fakultät ist, gibt es natürlich immer einige Leute, die mit den Historikern ganz gut arbeiten können, aber es gibt eben auch einige, die davon nicht profitieren. Es war, glaube ich, damals auch so angedacht, dass es eben eine Episode ist, die ja irgendwann mal auch zu Ende gehen kann. Ich muss vielleicht noch einen Punkt dazu sagen, weil es meine eigene Professur berührt. Ich habe damals ja, als ich die BGHS dann geleitet habe, so viel zu tun gehabt, dass meine Professur vertreten wurde. Das hatte der Rektor
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angeleiert. Zu meinem Bedauern auch, denn ich habe gerne gelehrt und habe gerne mit den klugen Studenten, die wir da hatten, gearbeitet. Das hat für mich dazu geführt, dass ich, wie soll ich sagen, so ein bisschen in Distanz zur Fakultät gerückt bin. Von der Ancienität her wäre ich jemand gewesen, der damals Dekan hätte werden sollen. Ich habe den Leuten aber schon gesagt, also, entscheidet Euch. Soll ich Dekan werden oder soll ich die Graduiertenschule machen? Beides mache ich auf keinen Fall. Ich habe dann also die Graduiertenschule gemacht, und dann kam relativ bald danach das ZiF. Ich habe sogar ein oder zwei Semester Direktorium im ZiF und Direktorium in der BGHS gemacht, und das hat mich natürlich völlig aufgefressen. Ich bin im Prinzip Manager geworden, was ich eigentlich nie wollte. Aber ich dachte, naja, das ist das Schicksal von Professoren, die älter werden, dass sie irgendwo in Management-Jobs reinwachsen. Und so wie andere Leute halt Rektoren werden oder Prorektoren, so werde ich halt so was. Aber ich bin dadurch doch sehr an den Rand der Fakultät gerutscht. Ich war noch Mitglied in Berufungskommissionen, etwa für die Theorie und für die Medien und so weiter, was mich noch mit den Kollegen verbunden hat. Aber so richtig bin ich eigentlich in der Fakultät dann nicht mehr vor Anker gegangen. Ein Semester, bevor ich pensioniert wurde, war ich dann die ganzen Jobs los. Ich habe dann noch Lehre gemacht, aber danach war es zu Ende. Aber auch das war nur möglich, weil die Fakultät eben so groß ist. Ein kleines Institut hätte das, glaube ich, gar nicht verkraftet, dass jemand dauerhaft ausfällt. Das hat aber vielleicht auch negative Auswirkungen gehabt, weil die Bedeutung der qualitativen Methoden nicht mehr so richtig sichtbar war. Ihr wisst ja selber, wie nach meiner Pensionierung die Professur von der Fakultät gehandhabt wurde. Und es kann schon auch sein, dass einer der Gründe dafür war, dass ich für vier, fünf Jahre in der Fakultät fast unsichtbar war – wenn der vier oder fünf Jahre fehlen kann, dann kann die Fakultät vielleicht die Professur auch nochmal vier oder fünf Jahre vertreten. Jedenfalls hat es, glaube ich, der Wahrnehmung der qualitativen Methoden in der Fakultät geschadet, dass ich solange weg war und eigentlich Manager war. Ayass/Hitzler: Die Einrichtung des ZiF war für Schelsky mit der Überlegung verbunden, dass es gut wäre, die Professoren aus ihrem Alltagsgeschäft zu lösen, mit interdisziplinären Arbeitszusammenhängen zu konfrontieren, sie dort forschen und sich austauschen zu lassen und dann frisch inspiriert in die Fakultäten zurückzuschicken. Aber Du würdest sagen, das hat so nicht funktioniert? Bergmann: Das hat überhaupt nicht funktioniert. Also erstens muss man sagen, dass das ZiF natürlich Forschungsgruppen hatte, die eher weniger oder gar keinen Kontakt zu der Universität Bielefeld hatten. Zweitens hatten die Bielefelder Professoren, die eine ZiF-Gruppe geleitet haben, dann doch irgendwie sehr häufig mit allen möglichen Alltagsgeschäften vor Ort zu tun. Das heißt, so ganz weg waren sie halt doch nicht. Man hat seine Doktoranden, man
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hat seine Assistenten etc. etc. Das heißt also, diese Freiheit, mal durchzulüften und ganz was anderes zu machen und dann wieder zurückzukommen, das hat sich nie realisiert. Die Idee war natürlich schon, dass aus den Forschungsgruppen heraus beispielsweise Vorträge in den Instituten gehalten werden, Gespräche mit Kollegen vor Ort geführt werden sollten. Aber sehr häufig haben Leute einfach ihr Forschungsinteresse verfolgt. Dazu haben sie zehn, zwölf Leute von außerhalb eingeladen, die dann am ZiF waren, aber das hat in der Fakultät oder in der Universität insgesamt eher weniger bewirkt. Mein Eindruck ist, dass das ZiF für die Universität eher ein Faktor für die Außenreputation ist, als es tatsächlich etwas für das innere Leben der Universität bedeutet. Das ZiF lebt sehr stark von den jeweiligen Direktoren, die dann Ideen mitbringen. Wenn das Direktorium mit sehr stark naturwissenschaftlich orientierten Personen besetzt ist, dann bestehen beispielsweise die ZiF-Mitteilungen zu 80 bis 90 Prozent aus naturwissenschaftlichen Teilen. Wenn es eher geisteswissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Direktoren sind, die engagiert einwerben, mit Leuten telefonieren usw., dann ändert sich das auch wieder, was vielleicht auch okay ist. Aber es ist ein sehr indirekter Weg der Beteiligung von Professuren am ZiF – dass sie eben Direktoren werden müssen und als Direktoren dann im Direktorium was zu sagen haben. Es gibt also schon eine Möglichkeit, aber es ist ein sehr indirekter Transmissionsriemen, mit dem man in das ZiF hineinwirken kann. Und es ist mit Arbeit verbunden. Also, die Schelsky’sche Idee fand ich zwar schon auch toll: Man lüftet mal durch, liest mal etwas anderes, kriegt wieder mit anderen Kollegen zu tun, schaut in ganz andere Ecken hinein und bekommt damit neue Ideen. Das fand ich schon auch ganz gut, aber das hat sich schon damals nicht realisieren lassen. Ich glaube, das Wissenschaftsministerium hatte sich gegen den Vorschlag gewandt, dass ausschließlich Professoren der Universität Bielefeld sich ein solches Extra-Freisemester am ZiF verschaffen können. Aber das hätte deutlich geholfen für die Anbindung an die Uni. Für so eine stärkere Anbindung der Universität an das ZiF wäre das sicherlich eine gute Idee. Und man hätte ja vielleicht die Zahl begrenzen können, auf sagen wir fünf bis zehn Professoren im Jahr. Als Fellowships, auf die man sich bewerben kann für ein eigenes Forschungsfreisemester, das dicht an das reguläre Forschungsfreisemester gekoppelt ist oder damit verrechnet wird, das hätte sicherlich geholfen. Aber das gibt es nicht, man muss den mühsamen Weg gehen, eine Forschungsgruppe oder eine Kooperationsgruppe zu beantragen. Da muss man erst mal 30 Seiten produzieren, man hat eine ziemliche Konkurrenz, das ist sehr mühsam alles. Was ja am ZiF auch gemacht wird, sind öffentliche Vortragsreihen, die sind sehr gut angenommen worden. Das ist vom Rektorat sehr positiv wahrgenommen worden, weil darüber die Verbindung von der Stadt an die Universität deutlich geworden ist. Wenn wir zum Beispiel einen Nobelpreisträger hatten, der einen Vortrag hält, dann war das auch für die Universität gut. Ja, von außen wird die Universität oft über das ZiF wahrgenommen, also das kann man deutlich sehen. Bielefeld hat ja sonst wenig an Reputationsgeneratoren, und da ist
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das ZiF schon einmalig. Eine Forschungsgruppe pro Jahr, dann die Kooperationsgruppen, die Vorträge, die Konferenzen, dann die Ausstattung am ZiF, all die Mitarbeiter. Also das ist insgesamt schon sehr luxuriös. Und da muss man sich etwas einfallen lassen, damit die Verbindungen zur Universität stärker werden. Wir hatten damals auch überlegt, wie man Doktorandenschule und ZiF zusammenbindet. Hervorgegangen ist daraus »Das junge ZiF«, wo sich noch nicht in einem festen Professurenverhältnis befindliche Nachwuchswissenschaftler bewerben können. Also das ZiF soll schon unabhängig bleiben, muss aber diese Unabhängigkeit in Verbindung mit der Universität hinkriegen – und das ist ein heikles Verhältnis, für das es nach meiner Einschätzung keine Generallösung gibt. Ayass/Hitzler: Du bist 2001 nach Bielefeld gekommen und 2012 gegangen. Wie haben sich denn in dieser Dekade die Universität und die Fakultät verändert? Bergmann: Ich denke schon, dass die Exzellenzinitiative insgesamt ein wichtiger Faktor war. Sie hat einfach einen Strukturierungseffekt gehabt. Selbst die Leute, die nicht direkt an den entsprechenden Aktivitäten beteiligt waren, ob das nun ein Cluster oder eine Graduiertenschule war, haben mitgekriegt, dass da Aktivitäten gebündelt wurden, dass neue Koalitionen entstanden, dass Entscheidungen getroffen wurden. Und mit der Exzellenzinitiative haben sich auch neue Schwerpunkte ergeben, die vielleicht auch nur passagerer oder momentaner Art waren. Die Aktivitäten für das Exzellenzcluster zur »Kommunikation von Vergleichen« in den Jahren 2009 und 2010, als es um den Antrag ging, an dem ich unter anderem beteiligt war, das fand ich sehr mühsam. Ich fand das Thema spannend, aber es war darum mühsam, weil einige Leute nicht mitgemacht haben. Wie schon bei der BGHS – einige wollten zwar profitieren, aber nicht mitmachen. Es sortierte sich also nicht allein thematisch, wer was zusammenmacht, sondern es sortierte sich auch danach, wer etwas macht und wer etwas nicht macht. Aber bei so einer kollektiven Anstrengung fällt es dann einfach auf, wenn einer nur im Seil hängt und nicht auch am Seil zieht. Das hat – nicht nur latent, sondern es wurde durchaus auch im Gespräch mit anderen deutlich – ein Identitätsbewusstsein innerhalb der Fakultät sagen wir mal: abgeschwächt. Ich will nicht sagen ganz aufgelöst, aber es hat schon zu Enttäuschungen geführt. Natürlich kann man sich mit guten Gründen nur noch irgendwie einem Archiv widmen für einen berühmten Soziologen. Natürlich kann man sagen, ich habe jetzt so und so lang die und die Funktion übernommen, jetzt mache ich da mal mit, weil ich eventuell da mal Geld bekomme, aber ich schreibe nichts. Aber das ist für die Fakultät insgesamt nicht gut. Mir ist die Fakultät im letzten Jahr als ein Konglomerat erschienen, während ich sie am Anfang zwar schon in ihrer Diversität erlebt habe, aber nicht so sehr als Konglomerat. Das mag jetzt durchaus eine ganz persönliche, idiosynkratische Einschätzung sein.
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Aber ich hatte Verbindung hauptsächlich mit Bettina Heintz, und ich glaube, auch ihr Eindruck war der, dass die Fakultät sehr in Einzelinteressen aufgeht, die sich zwar manchmal zusammenfinden, dass die Fakultät aber nicht mehr als eine Gruppe agiert. Das ist eigentlich schade. Ich kann es beim Exzellenzcluster noch verstehen, weil ja da nur einige Leute mitmachen können, so dass automatisch eine Fraktionierung stattfindet. Diese Art der Fraktionierung war auch beim Sonderforschungsbereich der Fall. Vielleicht ist es in so einer Fakultät nicht zu vermeiden, dass manchmal eher homogene Verhältnisse anzutreffen sind und manchmal eher heterogene Verhältnisse. So wie die Graduiertenschule eher eine zentrierende und homogenisierende Funktion hatte, haben dann Cluster vielleicht eher eine heterogenisierende Funktion, weil nur einige beteiligt sind. Vermutlich ist das eine pulsierende Bewegung, und ich habe am Anfang eher so eine homogenisierende Situation und einen homogenisierten Zustand erlebt. Am Schluss hatte ich eben den Eindruck, dass die heterogenen Kräfte doch stärker geworden sind. Aber da mag ich mich täuschen. Ich hatte dann auch nur mehr Verbindung zu einzelnen Kollegen, und ich war in keinen Kommissionen mehr. Andererseits war dann mein Abschied wieder sehr schön. Da waren wieder alle da. Vielleicht kann man es wirklich mit Familienzusammenkünften vergleichen: Man lebt weit auseinander, und dann trifft man sich eben zu Trauerfeiern und zu runden Geburtstagen. Und so ist es vielleicht bei einer Fakultät dann auch, dass man sich bei Verabschiedungen und bei Antrittsvorlesungen trifft. Aber ansonsten geht doch jeder seine Wege und manchmal gibt es Zwischenstrukturen wie eben Cluster oder SFBs, aber darüber hinaus auch so was wie ein Identitätsbewusstsein in der Fakultät. Ob es das momentan gibt, weiß ich nicht. Ich hatte ja eher den Eindruck, dass es schwächer geworden ist. Andererseits muss das auch nicht schlecht sein. Früher gab es eben die Heroen. Als ich an der Universität München war und studierte, was war da die Universität Bielefeld? Die Universität Bielefeld war Luhmann, war Franz-Xaver Kaufmann und war Offe. Von Offe haben wir damals einen Raubdruck hergestellt, weil uns das Konzept der horizontalen Disparitäten in der Studentenbewegung interessiert hatte und weil wir nicht nur Marx machen wollten. Luhmann war interessant, weil wir mit Habermas zu tun hatten, der damals in Starnberg war und wir immer das Habermas-Luhmann-Duell verfolgten. Obwohl wir eher zu Habermas neigten, meinten wir alle, dass Luhmann 2:1 gewonnen hat. Das war Bielefeld für uns damals. Das heißt, die Fakultät hat sich durch die großen Köpfe ausgezeichnet, die auch eine Anziehungskraft hatten, so einen Magnetismus. Das ist sicherlich verschwunden. Also von den großen Köpfen lebt die Fakultät eben nicht mehr. Es war auch damals sicherlich heterogen. Bei allem, was man weiß, gab es ja auch heftige Auseinandersetzungen. Ich habe das nur vom Hörensagen mitbekommen, wie konfliktreich das in der Fakultät war. Bettina Heintz und ich waren, glaube ich, gemessen an dem, was da an Konflikten war, eigentlich eher mellow, eher dämpfend, eher konfliktregulierend und ausgleichend. So wurde mir das auch mitgeteilt, dass wir beide
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eher ausgleichender Art waren. Aber so eine Fakultät ist natürlich so groß, dass man die polemogenen Kräfte nicht unterschätzen darf, die dann eben auseinander streben und sich wiederum neu in einzelnen Gruppen festmachen. So eine große Fakultät ohne solche starken Magnete ist natürlich auch schwierig. Die Tendenzen hin zur Heterogenität sind doch sehr stark. Dann ist es immer möglich, dass sich die heterogenen Gruppen wechselseitig abschotten. Ich glaube, in der Fakultät wird insgesamt unterschätzt, dass es intermediäre Strukturen geben muss, um eben die auseinanderdriftenden Kräfte irgendwie zusammenzuhalten. Und das wären eben die Methodenausbildung, eine breite Theorieausbildung und die Graduiertenschule. Ich denke schon, dass man das so sehen muss: Die Fakultät muss schon auch dafür sorgen, dass sie diese Strukturen entwickelt und sie pflegt und bedient. Also ich fand die Fakultät toll, insgesamt. Meine biographische Einschätzung für diese zehn, zwölf Jahre: Die waren gut. Dazu kommt, dass ich gern Zug gefahren bin, also vier Stunden im Zug hin und zurück fand ich einfach wunderbar.
Die Universität als wissenschaftlicher Termitenbau Bettina Heintz im Gespräch mit Tobias Werron
Bettina Heintz studierte Soziologie und Sozialgeschichte an der Universität Zürich und war dann mehrere Jahre als Radioredakteurin tätig. Sie promovierte 1993 an der Universität Zürich mit einer Arbeit zu den mathematischen und historischen Voraussetzungen der Erfindung des Computers und habilitierte sich 1996 an der FU Berlin mit einer wissenschaftssoziologischen Studie zur Mathematik. 1997 wurde sie auf eine Professur für Allgemeine Soziologie und Geschlechtersoziologie nach Mainz berufen, 2004 wechselte sie nach Bielefeld auf eine Professur für Soziologische Theorie und Allgemeine Soziologie, die sie bis 2013 innehatte. Von 2013 bis 2017 war sie Professorin an der Universität Luzern, seit 2017 ist sie dort Seniorprofessorin. Tobias Werron ist seit 2016 ihr Nachfolger auf der Bielefelder Professur für Soziologische Theorie und Allgemeine Soziologie. Das Gespräch fand anlässlich des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im September 2018 in Göttingen statt.
Werron: Vielen Dank, Bettina, für Deine Bereitschaft, zur Oral History der Fakultät für Soziologie beizutragen. Wir fangen mit einer Reihe von Fragen an, die wir an alle etwa gleich richten wollen, um ein bisschen vergleichen zu können. Danach kann das Gespräch gern noch frei weitergehen. Bielefeld gehört ja zu den großen Zentren der Soziologie. Wenn Du mit kleineren Instituten vergleichen müsstest, welche Unterschiede würdest Du nennen? Heintz: Bevor ich nach Bielefeld kam, war ich in Mainz, und Mainz war ein kleineres Institut. Das waren, glaube ich, sechs Professoren und Professorinnen. Der Unterschied war wirklich eklatant. Mainz war sozusagen organisiert wie eine Familie und entsprechend gab es Familienkonflikte, sehr personalisierte Konflikte. Es war zu nah und deswegen auch zu konfliktiv. Als ich nach Bielefeld kam, hatte ich den Eindruck, ich sei von einer Gruppe zu einer Organisation gewechselt. Und das hat man an vielen Sachen gemerkt: Ein distan-
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zierteres Verhalten der Kollegen und Kolleginnen untereinander, mehr formale Strukturen, eine viel höhere Professionalität in den Fakultätssitzungen und dieses wie hieß es? Lehr… Werron: Lehrkörper?1 Heintz: Lehrkörper, ja genau das. In Mainz waren die Gremiensitzungen relativ unstrukturiert und dauerten sehr lange und es lief wie mit Gruppenkonflikten. In Bielefeld gab es auch Konflikte, aber es waren sozusagen rationale Konflikte, also Konflikte, so schien es mir, mit begründetem Dissens, mit Umgangsformen, nicht furchtbar netten Umgangsformen, aber mindestens irgendwie formalisierten Umgangsformen. Und es hatte einfach eine viel stärkere formale Struktur. Zudem wurde in den Sitzungen auch soziologisch argumentiert, das fiel mir im Vergleich zu Mainz auf. Und dann gab es natürlich auch Unterschiede, die einfach an der Zahl liegen, an den Größenunterschieden zwischen einem kleineren und einem größeren Institut bzw. einer Fakultät. Es gab viel mehr Möglichkeiten, im Haus Kollegen zu finden oder Kolleginnen, mit denen man was anfangen konnte. In einem Institut, das aus sechs Personen besteht, ist man sozusagen gezwungen, sich extern zu orientieren, während das in Bielefeld durch die Größe und das breite Spektrum an Interessen – und das waren ja nicht nur die Professoren, sondern auch der Mittelbau – einfach viel interessanter war. Werron: Das klingt jetzt ja erst mal uneingeschränkt positiv. Heintz: Das war auch erst einmal eine uneingeschränkt positive Erfahrung. Mit der Zeit hat sich mein Bild dann natürlich ein bisschen differenziert. Es gab später auch mehr Konflikte, aber als ich kam, war das Konfliktniveau relativ klein, und die Fakultät war noch nicht wie es später war, fragmentiert in unterschiedliche Parteien, die sich bekämpft haben. Werron: Interessant. Das war 2004, nicht wahr? Heintz: Ja, das war 2004. Werron: Auf die Frage nach den Konflikten innerhalb der Fakultät kommen wir gleich noch einmal zurück. Zunächst noch eine Frage zu den räumlichen Bedingungen, die Du in Bielefeld angetroffen hast. Die Universität Bielefeld hat eine sehr spezielle Architektur, die kurze Wege zwischen den Fakultäten und Disziplinen ermöglichen soll. Zur Zeit Deiner Berufung war das vielleicht 1 | »Lehrkörper« ist eine in der Fakultät verbreitete Bezeichnung für die informalen Beratungen der Statusgruppe der Professorinnen und Professoren, die üblicherweise im Abstand von einer Woche vor der Fakultätskonferenz stattfinden.
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sogar noch stärker der Fall, weil es diese Mehrzahl an Gebäuden noch nicht gab. Wie sahen die Räumlichkeiten der Fakultät zu Deiner Zeit aus, und wie hat die räumliche Situation die Arbeit der Fakultät geprägt? Und auch: Hat sich die räumliche Situation in Deiner Zeit geändert? Heintz: An eine räumliche Veränderung kann ich mich nicht erinnern in der Zeit, in der ich da war. Werron: Immer U3? Heintz: Ja, ich war immer in U3, und die Umgebung hat sich auch nicht verändert. Und ich fand nicht, dass die Kommunikationsmöglichkeiten durch diese Architektur größer gewesen sind. Eher war man irgendwie eingesperrt in diesen Fluren und hatte entweder Glück mit dem Flur oder Pech. Ich wäre lieber auf einem anderen Flur gewesen, mit anderen Leuten. Und da gab es nicht viel Kontakt. Das war auch so eine Anfangsbeobachtung: Diese Flure waren relativ eng, diese U-Flure. Auf dem Flur traf ich anfangs viele Leute, die ich nicht gekannt habe und die mich auch nicht alle gekannt haben. Und es kam oft vor, dass man auf diesen engen Fluren aneinander vorbeigelaufen ist, ohne sich zu grüßen. Es gibt ja so eine »Minimalsympathie«, auch die wurde teilweise noch unterschritten. Aber das habe ich nicht auf mich bezogen, sondern auf eine Darstellung von Professionalität und Formalisierung. Also: ja nicht zu freundlich und ja nicht zu nah. Werron: Hast Du das als übertriebene Darstellung von Professionalität empfunden? Heintz: Ja, so eine Distanzmarkierung, die eben dann bedeutet: Wir sind hier das wissenschaftliche Ameislein oder die wissenschaftliche Termite und haben Wichtigeres zu tun. So war ja die ganze Räumlichkeit: ein Termitenbau für wissenschaftliche Normalarbeiter, und die haben sich dann auch so verhalten. Und dazu hat gehört: Nicht zu viel partikularistische Freundlichkeiten. Und die Kontakte mit den anderen: Ich wüsste nicht, wann mir je per Zufall ein Historiker über den Weg gelaufen ist. Die Räumlichkeit hat das nicht gefördert und auch nicht diese Halle, da sind die Termiten einfach aneinander vorbeigelaufen. Manchmal hat man jemanden getroffen im Restaurant, im Univarza, das fand ich noch angenehm. Aber sonst war man eher eingesperrt in seinem Gefängnisgang und dann auch noch in der hässlichen Zelle. Werron: Das klingt jetzt schon weniger positiv. Heintz: Ja.
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Werron: Das hieße ja, dass Deine Stimmung vor allem durch die Ästhetik des Gebäudes und der Räumlichkeiten beeinflusst wurde und weniger durch seine funktionale Absicht, eher durch die Nüchternheit des Gebäudes und weniger durch seine räumliche Anordnung? Heintz: Genau, und man sah es ja auch bei den Liftfahrten: Im Bielefelder Lift, das hat Stefan Hirschauer sehr schön beschrieben, hat man sich eher nicht gegrüßt, auch wenn man wusste, wer man war. Ganz kurz vielleicht, aber man hat kein Gespräch angefangen. Es gab an sich viele Begegnungsmöglichkeiten, aber die wurden nicht spontan genutzt, schien mir. Die wurden nur genutzt, wenn man sich verabredet hatte. Werron: Kann man also sagen: Es gab Professionalitätsnormen, die selbst übliche Interaktionsregeln außer Kraft gesetzt haben? Heintz: Ja, es gab so eine Sachorientierung, und dann reichte es vielleicht noch zu Minimalsympathie – also im Ausdrucksverhalten –, aber zu viel mehr auch nicht. Werron: Wie ist Deine eigene Forschung durch die Fakultät – durch die Kooperation mit bestimmten Kolleginnen und Kollegen, durch die Größe und Struktur der Fakultät – beeinflusst worden? Über die Struktur der Fakultät im Allgemeinen hatten wir ja schon ein bisschen gesprochen. Jetzt geht es mehr um Kooperation im fachlichen Sinne. Heintz: Ja, die ist enorm stark beeinflusst worden. Als ich von Mainz nach Bielefeld kam, kam ich sozusagen ins Paradies der Soziologie, aus meiner damaligen Perspektive. Dort hatte ich auch viel Kontakt zu Systemtheoretikern – am meisten eigentlich zu Systemtheoretikern, das hat unterschiedliche Gründe gehabt. Ich hatte mich ja auch beworben, um mich mit Systemtheorie und dann natürlich auch mit Weltgesellschaftsforschung verstärkt auseinanderzusetzen. Dazu kam die qualitative Sozialforschung mit Jörg Bergmann u.a. Also, es gab einfach ein großes Potential an interessanten Leuten. Man konnte allem, was man langweilig fand, blendend aus dem Weg gehen, und sich die Sachen suchen, die für einen selbst interessant waren. Generell schien mir, dass in Bielefeld die Theorieorientierung stark war, auch bei Kollegen und Kolleginnen, die sich gar nicht als Theoretiker definiert haben. Es war sozusagen legitim, über Theoriefragen zu diskutieren. Dann war das Angebot an Vorträgen, Kolloquien etc. unglaublich vielfältig. Also ich habe enorm viel gelernt in dieser Zeit in Bielefeld, zunächst von der Fakultät und dann zunehmend auch von Historikern. Werron: Warst Du mit der Stellung Deines Arbeitsbereiches innerhalb der Fakultät zufrieden?
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Heintz: Ja, eigentlich schon. Mein Arbeitsbereich war ja der Arbeitsbereich Theorie, und es war unbestritten, dass es das braucht. Erstens war es ja quasi rechtlich verordnet, wenn man so will, und zweitens hat das auch mit dieser Theorieorientierung zu tun gehabt. Da gab es keine Legitimationsprobleme, Theorie zu lehren und sich für Theoriefragen zu interessieren. Ich habe nie irgendetwas Negatives in diesem Zusammenhang vernommen. Werron: Spielte dabei auch eine Rolle, dass ein großer Teil der Grundausbildung geschultert wird in diesem Arbeitsbereich? Heintz: Ja, mir war bekannt, dass ich das machen musste, und das war eine enorm aufwendige Sache, die je nach Dekan nicht unbedingt entsprechend gewürdigt wurde. Dass man zu einer Vorlesung noch vierzehn bis sechszehn parallele Übungen hatte und dafür Lehrpersonal brauchte, das dem Dekanat begreiflich zu machen, konnte je nach Dekan mühsam sein. Aber letztlich ging es. Ich nehme an, bei anderen Lehrveranstaltungen, die auch so grundständig waren, gab es vermutlich das gleiche Problem, dass das schwierig zu verhandeln war. Werron: Damit direkt verbunden die Frage nach den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die dafür benötigt und eingestellt werden müssen. Das war und ist ja immer noch ein Problem: Die teils sehr hohen Lehrdeputate bei relativ kurzen Anstellungsfristen. Heintz: Jaja, das gilt insbesondere für die Lehrkräfte für besondere Aufgaben, die dann überhaupt zu nichts anderem mehr kamen. Werron: Und trotzdem ja auf befristeten Verträgen waren bzw. sind. Welche Erfahrungen sind Dir sonst noch aus der Selbstverwaltung in Erinnerung geblieben? Zum Beispiel wichtige Themen oder Entscheidungen, z.B. Lehrkörper oder die Fakultätskonferenz? Heintz: Mein erster Eindruck der Fakultät und auch der entsprechenden Gremien war, wie gesagt, sehr gut. Das hat sich dann verschlechtert, weil es zu Fragmentierungen kam, auch zu Konflikten, z.B. um die Ausschreibung und Besetzung von Professuren. Ein Beispiel war die Nachfolge von Jörg Bergmann (Professur für qualitative Methoden), die vom Dekanat zunächst runtergestuft wurde auf eine W2-Stelle, was heftige Auseinandersetzungen zur Folge hatte. Werron: Erinnerst Du Dich an besondere Konflikte innerhalb der Fakultät – gab es festliegende Gegnerschaften, etwa unter wissenschaftlichen oder auch politischen Abgrenzungsgesichtspunkten?
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Heintz: Es gab schon Konflikte und verschiedene Konfliktfronten. Ich glaube, das hatte verschiedene Gründe. Zunächst hatte es einfach mit Ressourcen und Verschiebungen des Gleichgewichts innerhalb der Fakultät zu tun. Ein Konfliktanlass war der neue Sonderforschungsbereich Ungleichheit.2 Er hat nicht in erster Linie zu einer Verschiebung monetärer Ressourcen geführt, sondern zu einer gewissen Verschiebung des Profils der Fakultät hin zu einer eher quantitativ orientierten Ungleichheits- und Sozialstruktur-Forschung. Das war vor allem am Anfang, in der Antragsphase, sehr konfliktiv, weil es zu einer Profilverschiebung geführt hätte und es keinen Konsens in der Fakultät gab, was eigentlich das Profil sein sollte. Aber es gab, glaube ich, zumindest bei den Älteren, so ein Grundverständnis, wie das Profil auszusehen hätte. Nicht Systemtheorie; das wird nur von außen immer so gesehen. Es gab ja gar nicht so viele Systemtheoretiker. Sondern eine Theorieorientierung im weitesten Sinne. Keine Profilierung in quantitativer Sozialforschung jedenfalls. Das war, glaube ich, ein wichtiger Grund, weshalb es da Widerstand und Konflikte gab. Der andere Grund war die Frage der Denomination von frei werdenden Professuren. Die Sonderforschungsbereichsleute wollten eben, dass diese so denominiert werden, dass sie in den Sonderforschungsbereich passen. Da habe ich mich auch dagegen gewehrt, weil damit Entscheidungen gefällt worden wären, bevor man wusste, ob der SFB überhaupt bewilligt wird. Meiner Ansicht nach wäre es besser gewesen zu diskutieren, wie wir in den nächsten 20 oder 50 Jahren das Profil der Fakultät gestalten wollen. Das war ein starker Konfliktpunkt. Und dann hat sich das nochmal verstärkt durch den Exzellenzcluster, an dem ich wesentlich beteiligt war, der dann aber am Ende nicht bewilligt wurde.3 Das hätte nochmal eine Schwerpunktverlagerung bedeutet. Man hätte dann zwei Kraftzentren in der Fakultät gehabt … Werron: die unterschiedliche Richtungen repräsentieren … Heintz: Ja, das war eine Idee, die ich mit dem Exzellenzcluster-Antrag verfolgt habe: Wenn der Sonderforschungsbereich da ist – und der soll ja auch da sein, es ist ja völlig legitim, diese Art von Forschung zu machen –, dann wäre es sinnvoll, noch einen Sonderforschungsbereich zu haben oder ein anderes Großforschungsprojekt, das eine andere Ausrichtung hat, also ein bisschen mehr theorieorientiert, mehr qualitativ, mehr historisch orientiert ist. Dann hätte sich das ausgeglichen. Da waren aber nicht alle Mitglieder der Fakultät dafür, sondern manche fanden, sie kämen als Einzelforscher unter die Räder. Werron: Also gab es eine Front gegen die Großforschung überhaupt? 2 | Der SFB 882 »Von Heterogenitäten zu Ungleichheiten« wurde zwischen 2011 und 2016 von der SFB gefördert. 3 | Antrag auf einen Exzellenzcluster »Kommunikation von Vergleichen. Von der Entfaltung der Moderne zur Weltgesellschaft« (2011).
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Heintz: Ja, es gab eine Front gegen die Großforschung, und das wurde dann meinem Eindruck nach teilweise sehr unangenehm, weil es richtig harte und auch personalisierte Konfliktlinien gab. Also, was mir am Anfang so gefallen hat, diese Professionalität, die wich dann einer Politisierung der Argumentation. Den Konflikt fand ich teilweise völlig irrational. Das habe ich sicher auch so empfunden, weil ich eben direkt engagiert war. Werron: Wie würdest Du das damalige Verhältnis zur Hochschulleitung beschreiben? Heintz: Wenn ich das von mir aus beschreibe: Ich hatte immer ein sehr gutes Verhältnis. Ich fand es eine sehr gute, sehr professionelle Hochschulleitung, die mit sich reden ließ, die sachlich war. Die haben natürlich ihre Strategie gehabt und haben auch die Macht gehabt, sie durchzusetzen, aber sie haben sie nicht stur durchgesetzt. Weil sie alle aus der Wissenschaft kamen und selbst gute Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen waren, wussten sie, was Wissenschaft und Forschung ist und wie man sie am besten auf den Weg bringt. Wenn man mit Anfragen kam für eine Finanzierung von Forschung, dann konnte man immer mit der Leitung reden. Da hatte ich nicht das geringste Problem. Sie hat uns auch bei der Exzellenzinitiative enorm gut unterstützt, ohne zu groß zu drängen. Ich hatte nie Probleme mit dem Rektorat, aber das war nicht bei allen so. Es gab einige, die den Eindruck hatten, das Rektorat wolle die Fakultät für Soziologie abbauen, und wenn Du dann das Rektorat verteidigt hat, warst Du gewissermaßen die fünfte Kolonne in der Fakultät. Werron: Hatte diese These denn irgendeine empirische Grundlage? Heintz: Ich fand nicht. Ich wüsste nicht weshalb. Dass es diesen Eindruck gab, hängt vermutlich damit zusammen, dass die Großforschungssachen natürlich stärker prämiert wurden als Einzelforschung. Aber es gab auch etliche Einzelforscher, die damit kein Problem gehabt haben, die wollten nur in Ruhe gelassen werden. Es gab ja nicht die Order, dass sich jetzt alle einem Forschungsverbund anschließen müssen. Sondern ich glaube, dass die Leute, die weder im einen noch im anderen Forschungsbereich richtig Zugang hatten, sich überrollt vorkamen und dachten, das beruhe sozusagen auf Kooperation mit dem Rektorat. Werron: Und wie wäre deine Interpretation, wenn es keine empirische Grundlage gab – ging es um Anerkennungsfragen? Heintz: Ja, aber das durfte man nicht offiziell sagen, aber ich denke, es ging tatsächlich auch um Anerkennungsfragen und darum, dass das Rektorat, auch angestoßen von den damaligen Reformen, stärker auf Leistung gesetzt hat, bzw. auf das, was als »Leistung« ausgewiesen und gezählt werden konnte, und
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die Leute, die nach diesen Kriterien Leistung erbrachten, mehr wahrgenommen und prämiiert wurden. Werron: Aber die haben deswegen ja keine Geldprämien bekommen, oder? Heintz: Nein, man konnte zwar einen Antrag stellen, dass man eine Gehaltszulage kriegt, diese Leistungszulagen. Aber das war nicht der Punkt. Ich glaube, es ging eher um etwas, das gar nicht speziell mit der Fakultät, auch gar nicht nur mit Bielefeld zu tun hat, sondern mit der Ausrichtung der Universitäten auf stärkere Prämierung von Leistung, die teilweise auch über Indikatoren erfasst wurde. Auch wenn Gehaltszulagen in Bielefeld gar nicht so der Hauptpunkt waren: Die Prämierung von Leistungsbereitschaft spielte schon eine Rolle, und ich glaube, das Rektorat verstand darunter initiativ sein, was anreißen, erfolgreich zu sein. Und das führt natürlich in der Struktur der Professorenschaft zu einer neuen Schichtung: Es gibt dann die, die in diesem Sinne Leistung erbringen und sich dann manchmal auch eine Deputatsreduktion holen können oder ein Freisemester etc., und die auch extern anerkannt sind, das ist nun mal meistens hochkorreliert. Und andererseits die, die sich als gleichberechtigte Mitglieder der Fakultät empfinden, aber in der Wahrnehmung der Community und in der Wahrnehmung des Rektorats quasi schlechter dastehen. Es wurde stratifiziert. Das war nicht nur in Bielefeld so, sondern in sämtlichen Universitäten. Und ich habe den Eindruck, diese interne Stratifikation war ein wesentlicher Grund für Konflikte. Werron: Das hieße, dass es von außen induzierte Anerkennungskämpfe waren. Heintz: Ja, die aber nichts mit Bielefeld zu tun hatten. Werron: Nein, klar. Heintz: So wurde sozusagen sichtbar, dass die einen bekannter sind als die anderen. Diese informelle Reputationsschichtung gibt es ja immer, aber das hat in den alten Fakultäten keine große Rolle gespielt und durfte auch dann nach den 70ern Jahren keine Rolle mehr spielen. Luhmann zum Beispiel bekam ja eher aufs Dach, weil er so bekannt war. Und dann wurde Leistung sozusagen formalisiert und teilweise auch quantifiziert, und die, die dabei zu kurz gekommen sind, waren die, die dann angefangen haben, stärker zu revoltieren. Ich finde, die Fakultät, die wirklich viele kluge Leute hatte, hätte diese strukturellen Gründe mehr reflektieren müssen. Das geschah aber nicht oder kaum, und dann war das Klima viel zu emotionalisiert, um noch zu einer soziologischen Analyse zu kommen.
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Werron: Aber deswegen ist es umso interessanter, jetzt darüber zu reden, weil man es im Rückblick vielleicht klarer beschreiben kann, vielleicht jetzt auch diskutieren sollte, um ähnlichen Konflikten in der Zukunft vorzubeugen. Das führt zurück zu der ersten Frage, weil du ja mit einer sehr positiven Beschreibung der Professionalität der Fakultät angefangen hattest. Im Zeitablauf wandelt sich die Beschreibung hin zu einer stärker von Konflikten geprägten Stimmung, gegen die dann offenbar auch diese große Fakultät mit ihren professionellen Strukturen machtlos gewesen ist. Heintz: Ja, das habe ich so empfunden. Werron: Und das ist doch interessant, dass die von Dir wahrgenommenen Vorteile dieser Fakultät – ihre Größe, die relative Anonymität, die Professionalität usw. – unter Druck geraten sind durch generalisierende Leistungskriterien und Anerkennungskämpfe. Und dass die Erfahrungen, die Du in diesen knapp zehn Jahren gemacht hast, möglicherweise typisch sind für Fakultäten an deutschen Universitäten insgesamt. Heintz: Ja, das würde ich meinen, denn es fällt genau in diese Zeit der Restrukturierung, Exzellenzinitiativen, neuen Mittelverteilungsmodelle usw. Ich weiß nicht mehr, wann das genau war, das ist sicher von Universität zu Universität und Bundesland zu Bundesland verschieden, aber ich würde sagen, das fing an mit diesen Leistungsbesoldungen. Aber die waren, glaube ich, nicht mal so der zentrale Punkt, weil sie sowieso Betriebsgeheimnis sind. Sondern die Differenzierung, die relative Abwertung der Lehre, die Aufwertung der Forschung, dann die Idee, dass es zwei Typen von Professoren geben soll, nämlich die Forschungsprofessoren und die Lehrprofessuren, obschon das noch gar nicht umgesetzt war. Und das alles hat dann eben zu diesen Ungleichheiten und Anerkennungsproblemen geführt. Hinzu kam, dass zumindest zu meiner Zeit in der Fakultät auch die Ressourcen knapper wurden. Werron: Spielte der Umstand, das es eine relativ neue Fakultät war bzw. ist, in Deiner Zeit noch eine Rolle? Heintz: Eigentlich nicht. Werron: Wie sah die studentische Protestkultur zu Deiner Zeit aus? Heintz: Das gab es nicht. Werron: Ich erinnere mich, dass es in den Zweitausender Jahren diverse Proteste gab, weniger um die Universität und ihre Strukturen, sondern um Studiengebühren. Hast Du daran irgendwelche Erinnerungen?
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Heintz: Ja, da war ich noch in Mainz – da gab es Streiks. Werron: In der Außenwahrnehmung der Fakultät war Luhmann sehr wichtig. Aber wie sah das nach Deiner Erinnerung von innen her aus? Heintz: Also, ganz gewiss nicht mehr so wie zehn Jahre früher und vor allem war es nicht so, dass die Fakultät von den Systemtheoretikern dominiert gewesen wäre. Das war die Minderheit, wenn man die Professoren anschaut. Ich empfand es als eine große Diskrepanz: Einerseits dieses Image von Bielefeld gleich Systemtheorie und Luhmann, dieses Außenbild, und andererseits die faktischen Verhältnisse mit vielen Kolleginnen und Kollegen, die sich für Luhmann entweder gar nicht interessierten oder fanden, Luhmann und die Systemtheorie – das ist was Schlimmes. Also, es war damals keineswegs eine systemtheoretische Fakultät. Wie meinst Du – Luhmann spielt doch intern keine große Rolle, oder? Werron: Ja, zum Teil hängt das ja schon an den internen Kommunikationsthemen, denn die haben selten Berührung zu der Frage, ob es mal einen Luhmann gab und wie reputiert die Fakultät ist, oder wie stark die Reputation vielleicht davon abhängt, das es ihn mal gab. Es gibt selten Gesprächsanlässe, die solche Fragen aufwerfen würden. Und zwischen Leuten, die gemeinsam haben, dass sie Luhmann interessant finden und gelesen haben, zu denen ich mich auch zähle, gibt es vielleicht mal ein Fachgespräch, aber nicht unbedingt größere Berührungspunkte in der Forschung. Und auch die Luhmannleserinnen und -leser sind sicher alle aufgeklärt genug zu wissen, dass Luhmann inzwischen auch zur Geschichte der Soziologie gehört und man seine Texte entsprechend reflektiert aufnehmen muss. Eine andere Sache, die ich gerne nochmal aufgreifen würde, ist die Frage nach Deinen Erfahrungen mit Mittelbau-Stellen – auch vor dem Hintergrund von gegenwärtigen Versuchen an deutschen Universitäten, in ein Departmentsystem überzugehen, also quasi den Mittelbau mehr oder weniger abzuschaffen zugunsten eines Systems, in dem es im Prinzip nur Forschende gibt, die alle Professorinnen und Professoren sind (vielleicht mit bestimmten Abstufungen nach dem Vorbild des angloamerikanischen Systems). Wie siehst Du das als jemand, die auf viele Jahrzehnte der Erfahrung mit dem alten System zurückblicken kann? Heintz: Ich hatte nie ein Problem mit dieser Struktur Professor und Mitarbeiter bzw. Mitarbeiterin, seien sie universitäre oder Projektmitarbeiter, die einer Professur zugeordnet sind. In Bielefeld war das auch so strukturiert. Das war die formale Struktur. Diese Struktur hatte zwar eine Vertikalität drin, aber die hätte sie auch unabhängig von den Anstellungsverhältnissen gehabt, weil ich die Betreuerin der Qualifikationsarbeiten bin. Daneben gab es aber in Bielefeld
Die Universität als wissenschaf tlicher Termitenbau
einen starken und selbstbewussten und sehr kompetenten Mittelbau. Da gab es enorm gute Leute, die total interessant waren, und bei denen ich nicht gemerkt habe, spreche ich mit einem Professor oder einer Mitarbeiterin, weil es auch völlig wurscht war. Das war ein Gegengewicht zur formalen Vertikalität. Diese Qualität hat möglicherweise auch mit der Größe der Fakultät zu tun gehabt, weil dies bedeutete, dass auch der Mittelbau sehr groß und in sich differenziert war – von solchen, die gerade ihr Diplom machten, bis zu Habilitierten und längst vollwertigen Wissenschaftlern. Ich kenne natürlich auch andere Fällen, wo die Beziehung zu den Mitarbeitern sehr konfliktiv war und sich Professoren jenseits von Gut und Böse verhalten haben, aber ich habe selten große Probleme gesehen. Wenn man das aber auflöst und Departmentstrukturen einführt, dann besteht die Gefahr, dass die Pflichten runter delegiert werden und zwar offiziell, ähnlich wie teilweise schon jetzt bei den Juniorprofessuren: Juniorprofessur klingt zwar schön, aber der Nachteil ist, dass man früh alle unangenehmen Arbeiten miterledigen muss und in sämtlichen Gremien Einsitz nehmen muss. Man ist ein Fakultätsmitglied, ist in der Selbstverwaltung und kommt entsprechend wenig dazu, an der eigenen Forschung zu arbeiten. Juniorprofessuren haben dafür ja definitiv weniger Zeit als gewöhnliche Mitarbeiter und zugleich überhaupt keine Garantie, eine Professur zu kriegen. Und wenn diese Auflösung in eine Departmentstruktur zu ähnlichen Verhältnissen führen würde, dann weiß ich nicht, ob das für den Nachwuchs von Vorteil wäre. Werron: Ja, das ist sicher ein Folgeproblem, das man lösen müsste, und dann auch noch die Doktorandenausbildung, die dann anders organisiert werden müsste. Aber das eigentliche Problem, das mit Departmentstrukturen gelöst werden soll, ist ja gerade, dass Leute nicht so lange warten müssen, bis sie mal Gewissheit haben, ob sie im System bleiben können oder nicht, sondern dass kurz nach der Promotion entschieden wird, ob man an der Universität bleiben kann – also im Normalfall vielleicht mit Anfang dreißig und nicht mit Mitte vierzig. Heintz: Wenn die Dauerstellen schon so früh vergeben werden – was machen dann die, die später kommen und auch eine Dauerstelle wollen? Werron: Ja, der Übergang ist ohnehin ein großes Problem: Wie kommt man von einem System ins andere? Aber wenn man das neue System hätte, wäre es das ja in der Regel eine Frage, die nach der Promotion oder vielleicht nach zwei, drei Jahren Postdoc, entschieden würde. Das wäre die Idee. Ich hab da auch noch keine klare Meinung dazu, sondern versuche mir ein Bild zu verschaffen, was genau eigentlich die Vor- und Nachteile sind. Aus eigener Erfahrung würde ich auch sagen, aber ich war natürlich auch bei einer vorbildlichen Chefin, dass wissenschaftlicher Mitarbeiter eigentlich eine gute Stellung ist, wo man seiner Forschung und Lehre relativ unabhängig nachgehen kann. Aber das
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Problem ist eben erstens der mögliche Missbrauch von Abhängigkeitsverhältnissen, und zweitens, dass man ein existenzielles Risiko eingeht, wenn man spät, und dann mit ungewissem Ausgang, auf dem Arbeitsmarkt ankommt. Heintz: Ja, das ist schon so. Aber ich meine, und das ist vielleicht ein bisschen politisch unkorrekt, ich finde diese Diskussion etwas gar fürsorgerisch und mir fällt kein anderer Bereich ein, wo das so ist. Im Falle von Künstlern sorgt sich auch nicht das Kunstsystem um deren berufliche Zukunft. Die meisten sind schon dreißig oder mehr, wenn sie mit ihrer Dissertation fertig sind. Und das ist ein Alter, in dem man sich selber entscheiden und auch abschätzen kann, was die Kosten und Aussichten sind. Die Wissenschaft ist ja nicht der einzige Arbeitsmarkt, wo es zu wenig Stellen gibt und Ausbildungsinvestitionen keine berufliche Garantie bieten. Deshalb hat es mir nie ganz eingeleuchtet, weshalb gerade dieser Arbeitsmarkt so problematisiert wird. Wenn ich Schriftstellerin oder Journalist oder Künstlerin bin, denkt auch niemand drüber nach, wie man das System reformieren muss, damit das Risiko für mich geringer ist. Das Problem in der Wissenschaft scheint mir zu sein, dass man lange keine grundsätzlichen Entscheidungen treffen muss. Das habe ich im Zusammenhang mit dem Graduiertenkolleg, das ich geleitet habe, oft erfahren. Wenn das Abitur nicht zu schlecht war, geht man an die Uni, und wenn man da gut ist, kriegt man einen Hiwi-Job, macht das Diplom bzw. Bachelor/Master, und wenn man gute Noten hat, hat man gute Chancen auf ein Promotionsstipendium und dann bewirbt man sich da. Man muss sich nie fragen, will ich das und was will ich eigentlich? Werron: Aber das System dieser Abfolge, was Du gerade beschrieben hast, ist ja genau das System, das das Verschieben von Entscheidungen ermöglicht. Und deswegen trägt es schon seinen Anteil daran. Jemanden nach der Promotion gewissermaßen vor die Entscheidung zu stellen, mache ich das jetzt weiter oder nicht, indem man ihm eine dauerhafte Stelle gibt oder nicht, wäre gerade die Idee des Departmentsystems. Heintz: Nur entscheidet hier doch zuerst das System und nicht der Betroffene. Werron: Das waren meine Fragen – fällt dir jetzt noch etwas ein, was interessant wäre im Kontext der Geschichtsschreibung der Fakultät? Heintz: Ja, was ich vielleicht noch sagen könnte: Die Fakultät hat eine bestimmte Kultur gehabt, eben diese Darstellung von Sachlichkeit und Professionalität. Aber sie hatte auch eine bestimmte Unkultur: Sie war frei von irgendeinem Sinn für Ästhetik und symbolische Formen. Ein Erlebnis ist mir hier ganz besonders in Erinnerung geblieben. Manchmal kamen ja auch Berühmtheiten und haben einen Vortrag gehalten in einem der großen Hörsäle, die schon architektonisch von einer wirklich immensen Hässlichkeit waren. Ein-
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mal war das John Meyer und hielt vor einem großen Publikum einen Vortrag, und wurde auch enorm freundlich begrüßt – aber es gab nichts Festliches, kein Blümchen und nichts, und in seiner Verzweiflung ist der damalige Dekan ins Dekanatssekretariat gerannt und hat sich eine Gummipflanze geholt. Und dieser arme John Meyer musste dann neben dieser Gummipflanze einen Vortrag halten. Das war für mich der Inbegriff der ästhetischen Unkultur, die in Bielefeld herrschte. Also: sich das Leben ja nicht schönmachen. Und auch das entspricht dem Bild vom wissenschaftlichen Normalarbeiter als Termite im Termitenbau.
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Soziologie Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)
movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018
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