Queeres Schreiben im Katholizismus: Religionskritik im Frühwerk von Fernando Vallejo und Josef Winkler 9783110799965, 9783110798821

Wie ist die ambivalente Beziehung der queeren Literaturtradition zum Katholizismus zu verstehen? Diese Frage beschäftigt

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German Pages 401 [402] Year 2022

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Abkürzungstabelle für bibliographische Angaben
1 Einleitung
Teil 1: Mamotretos: Abschweifung und Bildlichkeit als religionskritische Schreibstrategien
1 Einleitung: Mamotretos
2 Poetologische Ansätze: Vallejos ernstes Spiel und Winklers kritische Filmkamera
3 Exkurs: Vallejo und Winkler über das Leben anderer Außenseiter
4 Leserlich werden müssen: Lebenserzählung in der katholischen Religionskultur
5 Sich lustvoll verlaufen wollen: Queere Autohagiographien
6 Josef Winklers Bilderflut: Poetik des Bildes
7 Fernando Vallejos phantasmatische Bilder: Poetik der Abschweifung
8 Fazit: Flammende mamotretos als religionskritische literarische Form
Teil 2: Monstren: Zoo- und Beleidigungspoetik als religionskritische Strategie
1 Einleitung: Monstren
2 Ethik und Moral: Ontologie, Tiere und Monstren
3 Poetik der Beleidigung
4 Josef Winklers zornige Kobrasprache
5 Fernando Vallejos entsakralisierende Hundssprache
6 Fazit: Zoo- und Beleidigungspoetik als religionskritische Strategien
Teil 3: Heilige Tunten: Religionsaneignung im neobarocken Schreiben
1 Einleitung: Heilige Tunten
2 Das Katholische am Neobarock
3 Der Neobarock als queere Kritik: La simulación
4 Befreiende Geste der Simulation: Vallejo, Winkler und Genet
5 Josef Winklers Maskenfantasien: Evangelium, Tod, Gebet
6 Fernando Vallejos religiöses Sprachspiel: Lachen, Priester, Feier
7 Fazit: Exzessive Ornamentik einer katholischen Oberfläche
Schluss: Die Ambivalenzen der queeren Religionskritik
Literaturverzeichnis
Personenregister
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Queeres Schreiben im Katholizismus: Religionskritik im Frühwerk von Fernando Vallejo und Josef Winkler
 9783110799965, 9783110798821

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Camilo Del Valle Lattanzio Queeres Schreiben im Katholizismus

spectrum Literaturwissenschaft/ spectrum Literature

Komparatistische Studien/Comparative Studies Herausgegeben von/Edited by Moritz Baßler, Werner Frick, Monika Schmitz-Emans Wissenschaftlicher Beirat/Editorial Board Peter-André Alt, Aleida Assmann, Marcus Deufert, Terence James Reed, Simone Winko, Bernhard Zimmermann, Theodore Ziolkowski

Band 80

Camilo Del Valle Lattanzio

Queeres Schreiben im Katholizismus Religionskritik im Frühwerk von Fernando Vallejo und Josef Winkler

D188

ISBN 978-3-11-079882-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-079996-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-086200-3 ISSN 1860-210X Library of Congress Control Number: 2022946216 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

| Para ustedes, mami y papi, siempre.

Vorwort Die vergleichende Literaturwissenschaft als Disziplin der strukturierten Lektüren und Interpretationen von sprach- und kulturübergreifenden Literaturtraditionen ist die methodisch fundierte Tätigkeit eines oder einer neugierigen Leser*in. Dieser ‚Lektüredilettantismus‘, den man einem oder einer Komparatist*in vielleicht vorwerfen könnte, ist eine Grundeigenschaft derselben Disziplin: Nur durch eine von vitalen Affekten motivierte Lektüre kann man Resonanzräume zwischen Literaturtraditionen entfalten, die sich einer auf einen Sprach- und Kulturraum beschränkten philologischen Lektüre entziehen. Dabei wird in der akademischen Komparatistik versucht, einem Gefühl für Resonanzen innerhalb des Unterschiedlichen, das sich zuvor aus den affektiv motivierten Vorlieben des Lesers oder der Leserin ergeben hat, methodisch nachzugehen. Der Vorwurf des ‚Dilettantismus‘ kann sogar zu einer wichtigen politischen Auseinandersetzung mit der Literatur führen, die postkoloniale Effekte mit sich bringen kann: Es werden, vor allem in Form der gegenwärtigen angelsächsischen Komparatistik, Literaturtraditionen der Peripherie und des Zentrums, des sogenannten Global South und Europas, parallel auf derselben Ebene gelesen. Dadurch werden in der Kultur noch vorherrschende koloniale Wertungen einer Kritik unterzogen und die globalen Dimensionen der Literaturgeschichte hervorgehoben. Meine Untersuchung versucht in diesem Sinne, die geopolitisch motivierte Werthierarchie zwischen Europa und Lateinamerika außer Kraft zu setzen. In meiner eigenen Erfahrung als Leser der schwulen Literaturtradition, welche sich vor allem auf den angelsächsischen, deutschsprachigen, frankophonen, italienischen und spanischsprachigen Kulturraum beschränkte, wurde ich mit einem sich wiederholenden Merkmal dieser Tradition konfrontiert, dem ich im vorliegenden Buch nachzugehen versuche. Die Obsession der schwulen Literaturtradition mit dem Katholizismus sowie der für mich eindeutige Einfluss dieser Religion auf das literarische Schaffen warfen viele Fragen in mir auf. Diese Fragen hatten mit meiner eigenen Erfahrung als schwuler Mann, der in einem kolumbianischen, streng katholischen Umfeld aufwuchs, zu tun. Daher waren sie nicht nur akademischer, sondern auch autobiographischer Natur, und die affektive Grundmotivation für das akademische Erforschen dieser Fragen war somit unmittelbar. Zusätzlich hat die überraschende Feststellung, dass diesem Gefühl im Rahmen einer vergleichenden Literaturwissenschaft kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird, die Durchführung dieses Projekts motiviert. Dabei ist es den Beschränkungen im Hinblick auf die Realisierbarkeit eines derartig großen Themas geschuldet, dass ich mein ursprünglich breiteres Projekt, das Texte einer viel umfassenderen queeren Literaturtradition beinhaltet

https://doi.org/10.1515/9783110799965-202

VIII | Vorwort

hätte, auf zwei Exponenten dieser Tradition reduziert habe. Mit der vorliegenden Untersuchung wurde somit der erste Stein für weitere Forschungsvorhaben gelegt. Und diesen Stein hätte ich nicht ohne die Hilfe und Unterstützung vieler Menschen in meinem Leben legen können – die folgende Danksagung empfinde ich daher als einen dem vorliegenden Buch wesentlichen vitalen Teil. No solo por mi vida, sino por su soporte de toda índole, por su amor incondicional, la motivación intelectual y una amistad más allá de la vida y de la muerte, van mis primeros, últimos y constantes agradecimientos a mis padres y a mi hermano, María Stella Lattanzio, Armando José Del Valle y Alejandro Del Valle-Lattanzio. Ohne die konstante und enge Betreuung, die strengen und immer freundlichen Kritiken und Kommentare, die bedingungslose Hilfe und vor allem die Unterstützung meiner Betreuerinnen Susanne Klengel und Anne Fleig wäre ich mit diesem Projekt keinen Schritt vorangekommen. An Christopher Laferl herzlichen Dank für seine Korrekturen und Kommentare, für die Unterstützung und die inspirierenden, intellektuellen Gespräche. An Andrea Krauja einen großen Dank für ihre Liebe und ihre Begleitung in all den schwierigen Momenten meines Lebens. Allen meinen Freund*innen vielen Dank, da ohne ihre intellektuelle und liebevolle Unterstützung und allgemein ohne ihre Begleitung aus dem Projekt nichts geworden wäre: Andrew Kerton, Carlos Arturo López, Daria Berkowska, Felix Reinstadler, Florian Burger, Salome Gersch, Friederike Gremmelspacher, Juan Pablo Del Valle, Luis Emilio López Maytorena, Marta Lupica Spagnolo, Marion Maurin, Michelle Schäfer, Milena Rolka, Giovana Suárez, Thiago Lorenz Weber und Vanessa Gómez Pereira. Einen besonderen Dank an meine Kollegin und Freundin Gesa Jessen für ihre Korrekturen, ihre Geduld und ihre Unterstützung. Die Grundmotivation, meine akademische Karriere im deutschsprachigen Raum fortzusetzen, verdanke ich zwei für mein Verständnis der Literatur sehr wichtigen Literaturwissenschaftler*innen: Wolfgang Müller-Funk und María Teresa Medeiros-Lichem. Mein Dank für die bedingungslose Unterstützung gilt auch der Friedrich Schlegel Graduiertenschule, der Geschäftsstelle und den Professor*innen: Vielen Dank für die finanzielle und intellektuelle Ermöglichung dieses Projekts! Auch allen meinen Kolleg*innen des FSGS-Jahrgangs 2017 vielen Dank für Eure freundliche und intellektuelle Unterstützung. Für die ausführlichen Korrekturen der Rechtschreibung und des Stils geht mein großer Dank an Philipp Seidel und an Stephanie Fleischmann. Zum Schluss, mein großer Dank an Sabine Friedrich für ihre Unterstützung und die Zusammenarbeit.

Inhalt Vorwort  |  VII Abkürzungstabelle für bibliographische Angaben  |  XIII 1 1.1 1.2

Einleitung  |  1 Die Tradition queerer Religionskritik  |  1 Die 1980er Jahre zwischen Kolumbien und Österreich: Kontextualisierung und Forschungsstand Überschrift zweiter Ordnung  |  25

Teil 1: Mamotretos: Abschweifung und Bildlichkeit als religionskritische Schreibstrategien  1

Einleitung: Mamotretos  |  45

2

Poetologische Ansätze: Vallejos ernstes Spiel und Winklers kritische Filmkamera  |  49

3

Exkurs: Vallejo und Winkler über das Leben anderer Außenseiter  |  69

4

Leserlich werden müssen: Lebenserzählung in der katholischen Religionskultur  |  77

5

Sich lustvoll verlaufen wollen: Queere Autohagiographien  |  85

6 6.1 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4

Josef Winklers Bilderflut: Poetik des Bildes  |  93 Grundlegende Bilder: Feuer, Kalbstrick, Großmutter  |  99 Taxonomie der Bilder Winklers  |  104 Erinnerungsbilder  |  104 Fiktionalisierte Bilder  |  107 Schockbilder  |  109 Ikonographische Bilder  |  115

7

Fernando Vallejos phantasmatische Bilder: Poetik der Abschweifung  |  118 Bilder der Abschweifung: Fluss, Feuer, Phantasma  |  124

7.1

X | Inhalt

7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 8

Taxonomie der Abschweifungen Vallejos  |  129 Sprachliche Abschweifungen  |  129 Zeitliche und örtliche Abschweifungen  |  133 Essayistische Abschweifungen  |  137 Metaliterarische Abschweifungen  |  141 Fazit: Flammende mamotretos als religionskritische literarische Form  |  146

Teil 2: Monstren: Zoo- und Beleidigungspoetik als religionskritische Strategie  1

Einleitung: Monstren  |  151

2 2.1 2.2 2.2.1

Ethik und Moral: Ontologie, Tiere und Monstren  |  155 Einführung: Deleuze und Spinoza  |  155 Zoopoetik: Kritik der Biopolitik  |  164 Kleiner Exkurs in die lateinamerikanische queere Zoopoetik des 20. Und 21. Jahrhunderts  |  188 Moralische Monstren und Lästermäuler: von der Zoo- zur Beleidigungspoetik  |  190

2.3

3 3.1 3.1.1 3.1.2

Poetik der Beleidigung  |  209 Die kolumbianische und österreichische Literaturgeschichte der Beleidigung  |  214 Nadaísmo oder die kolumbianische zornige Avantgarde  |  214 Thomas Bernhards und Peter Handkes Beschimpfungskunst  |  222

4

Josef Winklers zornige Kobrasprache  |  228

5

Fernando Vallejos entsakralisierende Hundssprache  |  240

6

Fazit: Zoo- und Beleidigungspoetik als religionskritische Strategien  |  261

Inhalt | XI

Teil 3: Heilige Tunten: Religionsaneignung im neobarocken Schreiben  1

Einleitung: Heilige Tunten  |  265

2

Das Katholische am Neobarock  |  276

3

Der Neobarock als queere Kritik: La simulación  |  289

4

Befreiende Geste der Simulation: Vallejo, Winkler und  | 295

5 5.1 5.2 5.3

Josef Winklers Maskenfantasien: Evangelium, Tod, Gebet  |  312 Evangelium zweier Schwuler: Tod und Heiligsprechung  |  315 Todesfaszinosum  |  325 Litaneien: Literarische Ritualisierungen  |  329

6 6.1 6.2 6.3

Fernando Vallejos religiöses Sprachspiel: Lachen, Priester, Feier  |  337 Humorvolle Entstellungen  |  338 Exzessive, opulente Sprache: Religiöses Jubeln  |  342 „Diese meine klerikale Sprache“   |  353

7

Fazit: Exzessive Ornamentik einer katholischen Oberfläche  |  357

Schluss: Die Ambivalenzen der queeren Religionskritik  |  359 Literaturverzeichnis  |  367 Personenregister  |  383

Abkürzungstabelle für bibliographische Angaben Autor

Werk

Abkürzung

Fernando Vallejo

Los días azules

DA

El fuego secreto

FS

Josef Winkler

Los caminos a Roma

CR

Años de indulgencia

AI

Entre fantasmas

EF

Menschenkind

MK

Der Ackermann aus Kärnten

AK

Muttersprache

MS

https://doi.org/10.1515/9783110799965-204

| He was the first person who ever said to people that they should live ‘flower-like’ lives. Oscar Wilde, De profundis E solo perché sei cattolica, non puoi pensare che il tuo male è tutto il male: colpa di ogni male. Sprofonda in questo tuo bel mare, libera il mondo. Pier Paolo Pasolini, La religione del mio tempo Sin fe en Ti y sin fe en tus hijos perdida casi toda la confianza solo siento que el amor me justifica. Fernando Molano Vargas, Todas mis cosas en tus bolsillos

1 Einleitung 1.1 Die Tradition queerer Religionskritik Zwei Pfeile seine Brust penetrierend, an einen Baumstamm gefesselt und mit einem friedlichen, ungetrübten Blick nach oben gerichtet – so präsentiert sich die weißliche Figur des heiligen Sebastian zwischen den niederen Schatten und dem himmlischen Licht: sich emporhebend, erigiert Richtung Himmel. Auf der Leinwand treffen sich verschiedene semantische Ebenen: die durch die lose sitzende, beinahe hinabgleitende Kleidung evozierte, profanierende Erotik, die in der friedfertig duldenden und leidenden Miene ausgedrückte sakrale Gewalt, der mittels Verdunklungen und Erhellungen dargestellte Kontakt zwischen Transzendenz und Immanenz. Ein seitliches Licht beleuchtet eine Figur, die in ihrer Rezeption im 20. Jahrhundert zur Kippfigur geworden ist,1 eine Figur, die zwischen Sakralisierung und Profanation, zwischen unbeflecktem, martialischreligiösem Martyrium und homosexueller, effeminierter Schmerzlust changiert. Die queere Kanonisierung des heiligen Sebastian,2 insbesondere die hier beschriebene Darstellung des Renaissancemalers Guido Reni aus dem Jahr 1615, lässt sich in der schwulen Literaturtradition der Moderne in verschiedenen kulturellen und sprachlichen Kontexten sehr gut nachverfolgen. Das Bild gilt hier als Exempel einer schwulen Literatur- bzw. Kulturtradition, in der sich ein subversiver, religionskritischer Diskurs etabliert hat, dessen kritischer Gehalt sich in einer Ambivalenz äußert. Diese queere Kanonisierung, die die Thematisierung einer queeren Tradition ermöglicht, umfasst verschiedene Epochen, Kulturen und Sprachräume und ist

|| 1 Eine Kippfigur wird in der Brockhaus-Enzyklopädie als Begriff der Wahrnehmungspsychologie mit dem Synonym „Umspringbild“ definiert. Mit Kippfigur meine ich ein Bild, das zwei verschiedene Darstellungen in einer versammelt und je nach Wahrnehmung unterschiedlich betont. Der Hinweis auf die Wahrnehmungspsychologie legt nahe, dass eine Kippfigur insbesondere die Rezeptionsinstanz betrifft: Im Folgenden wird die Kippfigur des heiligen Sebastian im Rahmen ihrer Rezeptionsgeschichte nachverfolgt, um den ambivalenten Inhalt dieser religiösen Figur nachzeichnen zu können. 2 Interessanterweise betont bereits Marita Keilson-Lauritz in ihrer Skizze eines „schwulen Kanons der Gestalten“, in der der Heilige Sebastian als kanonische Gestalt neben Stefan Georges Maximin, Thomas Manns Tadzio und den Bibelfiguren David und Jonathan aufgeführt wird, die Wichtigkeit nicht nur des Bildes der nackten Männlichkeit, sondern der Verbindung von Schmerz und Lust im Bild. Sie bezieht sich auch auf Mishima – von dem hier die Rede sein wird – als ein prominentes Beispiel der queeren Aneignung der Figur des römischen Märtyrers (Keilson-Lauritz, 1997, S. 31–32). https://doi.org/10.1515/9783110799965-001

2 | Einleitung

somit ein komparatistisches Thema: In Thomas Manns homoerotischer Novelle Der Tod in Venedig (1912) wird gleich zu Anfang bereits Bezug auf die Figur Sebastians genommen, indem die Rede auf das passiv-aktive Heldentum des heiligen Sebastian in Bezug auf Gustav Aschenbach gebracht wird.3 In Yukio Mishimas Coming-out-Roman Bekenntnisse einer Maske (Kamen no Kokuhaku, 1949) spielt die Figur des heiligen Sebastian und vor allem das Gemälde Guido Renis, das dann selbst vom japanischen Autor für den Photographen Eikoh Hosoe inszeniert wurde, eine wichtige Rolle für das Bekenntnis des Autors zur Homosexualität: Mit dem Bild Guido Renis kommt der autobiographische Erzähler Mishimas zur ersten Ejakulation.4 Der Bezug Mishimas auf die Tradition der Darstellung des heiligen Sebastian wird verbunden mit einem Hinweis auf die emanzipatorische Arbeit des Berliner Sexualforschers Magnus Hirschfeld: Es scheint mir eine höchst interessante Koinzidenz, dass Magnus Hirschfeld unter den Beispielen für Bilder und Skulpturen, für die Perverse eine besondere Vorliebe zeigen, die Darstellung des heiligen Sebastian an erster Stelle nennt. Die Vermutung liegt nahe, dass vor allem bei denen, die es von Natur aus sind, die widernatürlichen und sadistischen Triebe untrennbar miteinander verflochten sind. ([1949] 2018, S. 41)5

Diese „interessante Koinzidenz“ liegt dem vorliegenden Projekt als Ausgangsbeobachtung zugrunde, nicht aber der Schluss Mishimas, die queere Faszination für die Figur des heiligen Sebastian gründe in der Verbindung zwischen sadistischer und homosexueller Lust, sondern vielmehr im subversiven und ambivalenten Spiel der queeren Kulturtradition mit dem Katholizismus. Mishimas Darlegungen der Faszination für das Tragische6 und die Lust am Schmerz7

|| 3 „[D]aß er [Aschenbach] die Konzeption ‚einer intellektuellen und jünglinghaften Männlichkeit‘ sei, ‚die in stolzer Scham die Zähne aufeinanderbeißt und ruhig dasteht, während ihr die Schwerter und Speere durch den Leib gehen.‘ Das war schön, geistreich und exakt, trotz seiner scheinbar allzu passivischen Prägung. Denn Haltung im Schicksal, Anmut in der Qual bedeutet nicht nur ein Dulden; sie ist eine aktive Leistung, ein positiver Triumph, und die SebastianGestalt ist das schönste Sinnbild, wenn nicht der Kunst überhaupt, so doch gewiß der in Rede stehenden Kunst“ (Mann, [1913] 2004, S. 511). 4 „Es war meine erste Ejakulation und der ungeschickte und völlig unerwartete Beginn ‚meiner schlechten Gewohnheit‘“ (Mishima, [1949] 2018, S. 40). 5 Alle Kursivschriften in den Zitaten sind auch im Original kursiv, wenn dies nicht anders angegeben ist. 6 „Ich spürte bei seiner Tätigkeit eine Tragik, und zwar in einer in höchstem Grade sinnlichen Bedeutung“ (Mishima, [1949] 2018, S. 14). 7 „Auch mein Spielzeug [Penis] streckte seine Fühler aus in Richtung Tod und Blut und festes Fleisch“ (Mishima, [1949] 2018, S. 36)

Die Tradition queerer Religionskritik | 3

sind dabei aber nicht abseits des ambivalenten Spiels mit dem Katholizismus, das es hier zu analysieren gilt, zu verorten, im Gegenteil: Sie verdrehen die normalen Kategorien des Schönen und des Schlechten, indem sie an der christlichen Zelebration des Heiligtums teilnehmen (die Darstellung des Schmerzes macht einen großen Teil kanonischer christlicher Kunst aus)8 und sich gleichzeitig davon in ihrer sexualisierenden Profanierung entfernen. Diese findet man auch in Jean Genets Notre-Dame-des-Fleurs (1951) in der Darstellung einer gewissen schwulen Heiligkeit: „Sich an einer Tunte rächend, wäre ihr ohne Zweifel ein Wunder wie das Martyrium des Heiligen Sebastian gelungen. Sie hätte einige Pfeile geschleudert, aber anmutig, wie sie sagte: ‚Ich werf dir eine Wimper zu‘, oder ‚einen Autobus‘“ ([1951] 1998, S. 224–225). Die Saturation des Heiligenbildes mit anderen semantischen Implikationen hat Severo Sarduy – dessen Theorie des Neobarocks im Rahmen des dritten Kapitels dieses Buchs dargestellt wird – als ambivalentes, neobarockes Spiel bezeichnet: Yukio Mishima adoraba a San Sebastián. […] Pero su adoración era más asidua y dudosa: utilizaba una imagen del guerrero flechado […] como soporte a sus fantasías masturbatorias cotidianas. El joven martirizado, sin huellas visibles ni estigmas de tortura, se iba convirtiendo en la secuencia sádica del monólogo erótico, en atleta lacerado, luego en herido agonizante y finalmente en un guiñapo ensangrentado, en una pantomima del horror. […] Como Mishima […], [Antonio] Saura va convirtiendo el cuerpo de Cristo […] en un fetiche desgarrado. […] Juego paradójico de la destrucción […] en la misma tela [reune] a los […] mártires igualmente intactos y retocados – el cuerpo como envoltura se conserva, se respeta […]. (1999c, S. 1257)9

Die Ambivalenz zwischen Anbetung („adoración“) und Destruktion lässt das Verhältnis zum Katholizismus, das hier analysiert werden soll, höchst span-

|| 8 Wie wichtig die Darstellung von Leid in der christlichen Ikonographie ist, zeigt sich nicht nur an der zentralen Stellung, die das Kruzifix im christlichen Bilderkanon einnimmt, sondern auch an solchen Bildertypen wie der Mater Dolorosa der Vesperbilder, dem Schmerzensmann (imago pietatis) oder der Darstellung von Märtyrern, die als Attribute die Instrumente ihrer Folter mit sich tragen. 9 „Yukio Mishima verehrte den heiligen Sebastian. […] Aber seine Verehrung war eifriger und zweifelhafter: Er benutzte ein Bild des durchstochenen Kriegers […] als Unterstützung für seine alltäglichen masturbatorischen Phantasien. Der gemarterte Junge, ohne sichtbare Wunden noch Stigmata der Folter, fängt an, sich in der sadistischen Abfolge des erotischen Monologs in einen verletzten Athleten, dann in einen sterbenden Verletzten und schließlich in einen blutigen Fetzen, in eine Horrorpantomime zu verwandeln. […] Wie Mishima […], verwandelt [Antonio] Saura den Körper Christi […] in einen zerfetzten Fetisch. […] Paradoxes Spiel der Destruktion […] [– er sammelt] auf derselben Leinwand die […] gleichermaßen intakten und retuschierten Märtyrer – der Körper als Hülle wird konserviert, wird respektiert […]“ (meine Übersetzung).

4 | Einleitung

nungsvoll und komplex werden. Diese „Koinzidenz“ einer sich in der Figur des heiligen Sebastian entpuppenden Queerness lässt sich weiter verfolgen: Drei Jahre nach Mishimas Roman fügt der kubanische Schriftsteller Virgilio Piñera in seinem Werk La carne de René (1952) die Figur des heiligen Sebastian in einen Handlungsrahmen ein, der nicht nur die Homosexualität, sondern die Rollen der Passivität und der Aktivität, der Lust am Schmerz und der Schönheit des Leidens thematisiert.10 Das unter dem Namen Pierre et Gilles bekannte französische Künstlerpaar Pierre Commoy und Gilles Blanchart nutzt den heiligen Sebastian für verschiedene photographische Collagen, die ihn im Kontext einer schwulen Ästhetik des Kitsches neu konnotieren. Vor allem in ihrem Bild Saint Sebastian. Bouabdallah (1987) wird die Referenz auf Guido Renis Bild explizit. Die dem Barock und dem Neobarock zugeschriebene Überfülle wird von Renis Gemälde auch auf Pierre et Gilles Werk übertragen. Josef Winkler bezieht sich in der autobiographischen Trilogie Das wilde Kärnten auf die Figur des heiligen Sebastian,11 die später in der tragischen Darstellung des schönen Knaben Piccoletto in der Erzählung Natura morta (2001) ausdrücklicher in den Vordergrund tritt. Der Titel deutet bereits die Schönheit der Todesdarstellung an. Das Bild Guido Renis kommt dann explizit in dieser „römischen Novelle“ vor und wird auf die Figur Piccolettos projiziert: Vor den Fischständen, am Straßenrand, hatte ein Maler mit farbiger Kreide den Heiligen Sebastian mit großen Blutstropfen an den Pfeilen auf den Asphalt gemalt. Die Hände des Heiligen waren über dem Kopf an einem Baum mit Stricken festgebunden. Neben den verschiedenfarbigen, zerbrochenen Kreiden lag eine Ansichtskarte mit dem San Sebastiano von Guido Reni, die der Maler als Vorlage verwendet hatte. Als sich ein Mann mit dem Maler zu unterhalten begann […], drängte sich Piccoletto dazwischen und summte ein Lied. […] Piccoletto berichtete, daß eine junge, schöne, blonde Ärztin seine Stirnwunde, die er sich am Fischstand durch den kreisenden Ventilator zugezogen, im Krankenhaus genäht habe. (2001, S. 68–69)

|| 10 Der heilige Sebastian erscheint bereits am Anfang des Romans Virgilio Piñeras in einem Gemälde, das von der traditionellen Darstellung des Heiligen abweicht: Der heilige Sebastian, dargestellt mit dem Gesicht des Protagonisten René, steckt sich selbst die Pfeile in seinen Körper (Piñera 2000, S. 27–28). Die Figur des heiligen Sebastian taucht dann auch noch ein weiteres Mal im Roman auf (S. 50ff). 11 „Schön muß es für ihn sein, wenn ich sonntags in der kühlen Küche vor dem Seitenaltar niederknie und wir beide auf den Heiligen Sebastian blicken, während ich bete“ (MS 682). Diese Aussage wird von der Mutter des Ich-Erzählers geäußert, während sie das Kind noch im Mutterleib trägt. Die positiv konnotierte Beschreibung des Bildes vom heiligen Sebastian steht somit im Kontrast zu jener der Kruzifixe, die mit Schrecken konnotiert sind. Dies hebt die Wichtigkeit der Sebastian-Figur als Teil der mütterlichen bzw. effeminierten Welt hervor.

Die Tradition queerer Religionskritik | 5

Die am Ende der Novelle bei einem Unfall verunglückte und im Zentrum der Darstellung als Lustobjekt auftretende Figur Piccolettos wird hier in die schwule Rezeptionstradition der Figur des heiligen Sebastian eingeschrieben. Der Topos des Stilllebens (Winkler), die Faszination und Ästhetisierung des Tragischen (Mishima) und des Leidens (Piñera) werden im Komplex Tod-Sexualität im ganzen Werk Winklers immer wieder aufgegriffen: Das Sterben junger Knaben gilt als zentrales neobarockes Motiv in der Bilderwelt Winklers.12 Was in dieser queeren Umdeutung des heiligen Sebastian zum Ausdruck kommt, ist gerade die Ermöglichung eines anderen queeren Blicks auf die Tradition des katholischen Bilderkultes – gerade durch die Veränderung der Perspektive auf das Bild wird die religiöse Eindeutigkeit des Ikonischen zur Mehrdeutigkeit, das Sakrale des Bildes zur sexuellen Profanation, der Schmerz zur Lust. Das Bild wird durch den Blick des queeren Außenseiters aus der Peripherie perspektivisch vervielfältigt und ambivalent. Es verändert seine Semantik und wird zu einer Kippfigur, die zwischen dem Sakralen und dem Profanen, zwischen der katholischen Ikone und dem queer icon changiert. Laut der im Mittelalter populärsten hagiographischen Referenzschrift, Jacobus de Voragines Legenda Aurea, war Sebastian ein bei den Kaisern Diokletian und Maximian beliebter römischer Soldat, der wegen seiner frommen Verteidigung der Christen am Ende des dritten Jahrhunderts zum Tode verurteilt wurde, jedoch die Vollstreckung des Urteils überlebte. Sebastian setzte sich nicht nur für das damals gefährdete Leben von Christen ein, sondern partizipierte an der Evangelisierung des römischen Reiches (mit der Verteidigung des christlichen Martyriums, der Zerstörung der Götzenbilder und der Konversion einiger Ungläubiger). Der heilige Sebastian kann als eine rebellische Gestalt verstanden werden, setzte er sich doch für eine christliche Minderheit ein und berichtete von der Grausamkeit der Römer. Diese Figur ist bereits von ihrem Ursprung in der katholischen Tradition her eine subversive: Sie vollzieht eine autoritätskritische Handlung, indem sie auf die unschuldig Ermordeten im Rahmen eines sozialen Systems hindeutet (wie im Textkorpus, der dieser Untersuchung zugrunde liegt).13 Aus einem anderen Blickwinkel heraus betrachtet, || 12 Diese Faszination wird auch bei Yukio Mishima explizit zum Ausdruck gebracht: „Am meisten liebte ich Prinzen, die getötet wurden oder die dem Tode geweiht waren. Ich liebte alle jungen Männer, die sterben mussten“ ([1949] 2018, S. 24). 13 „Aber nach wenigen Tagen wurde Sebastian befreit, stellte sich auf die Treppe des Kaiserpalastes und machte dem Kaiser […] wegen der Grausamkeiten, die sie den Christen antaten, schwere Vorwürfe. […] ‚Der Herr hielt es für richtig, mich wieder zu erwecken, um zu euch zu kommen und euch wegen der Verbrechen, die ihr den Dienern Christi antut, Vorwürfe zu machen‘“ (Voragine 1988, S. 137).

6 | Einleitung

zeugt die Tatsache, dass Sebastian als eine dem männlich konnotierten Bereich des Militärischen zugeordnete Figur in die homosexuelle Kunsttradition aufgenommen wurde, von einer Subversion auf zwei Ebenen: jener der heteronormativ kodierten Rolle eines Offiziers und der unbefleckten sakralen heiligen Figur. Der Kampf Sebastians für die Rechte der christlichen Gemeinschaft wird in dessen Umkodierung zur schwulen Ikone ambivalent:14 Der schwule Sebastian wird nun, in seiner Profanation, als Symbol eines Kampfes gegen die homophobe christliche Religionskultur zelebriert. Als sich das Martyrium des Heiligen Sebastian ereignete, befand sich das Christentum noch in einer marginalen Position und wurde erst in den darauffolgenden Jahrhunderten nach und nach zu der Religion, die zunächst in Europa und schließlich, im Zuge europäischer Expansions- und Kolonialisierungsbewegungen, in großen Teilen der Welt das Zentrum politischer und militärischer Macht bildete.15 Dabei wird in der künstlerischen Darstellung Sebastians als eines fragilen Knaben auf subversive Weise die Effeminierung des Militärischen zelebriert und zugleich das Heilige sexualisiert, indem die Nacktheit und der Akt der Penetration hervorgehoben werden. Es wird ein Blick auf die christliche Tradition produziert, der explizit die Religion aus der Perspektive ausgeschlossener Individuen ‚beschmutzt‘, verweltlicht und als profanes Kulturgut entsakralisiert. Daraus geht die Kippfigur des Profanen und des Sakralen hervor, bei der die der Kunst inhärente Ambivalenz als eine religionskritische Strategie eingesetzt wird, die in der langen Tradition queerer Kunstproduktion des 20. Jahrhunderts verortet ist. Diese Ambivalenz äußert sich in der doppelten Bewegung der Destruktion und der Bejahung des Religiös-Katholischen, die selbst aus der Doppelwertigkeit des Positiven und des Negativen resultieren: Das Bild wird somit verformt und in seinen Wertungen verkehrt und zugleich gefeiert. Die Ambivalenz dieser ästhetischen Aneignung katholischer Bilder in der queeren Kunsttradition ist das Thema dieses Buchs.

|| 14 Marita Keilson-Lauritz betont in ihrer Analyse der kanonischen Gestalten homosexuellen Begehrens den wichtigen Aspekt des Martyriums in Bezug auf Hirschfelds Thematisierung der Dulder der Emanzipationsbewegung homosexueller Menschen. Dabei spiele der heilige Sebastian, so Keilson-Lauritz, eine wichtige Rolle (1997, S. 38). Eine andere relevante Arbeit zur Rolle der schwulen Ikonographie in der Kunst des 20. Jahrhunderts ist Sieghard Wilms Artikel zu F. Bacon, J. Kirby und A. Nes, in der einige Strategien der Aneignung ikonographischer Bilder in der schwulen Kunsttradition thematisiert werden (Wilm 2007). 15 Nicht umsonst erfährt die Darstellung des heiligen Sebastian erst in der Renaissance eine Verjüngung und Verschönerung, die der, wie Víctor R. Castro-Gómez anmerkt, synkretistischen, sehr eigentümlichen Verbindung zwischen griechischem Heidentum und Christentum entsprechen und daher „zwischen den zwei Weltanschauungen angesiedelt“ (1997, S. 180) sind.

Die Tradition queerer Religionskritik | 7

Die Studie geht in Anlehnung an Eve Kosofsky Sedgwick16 von der Annahme aus, dass sie in ihrer Auseinandersetzung mit einer queeren Kunsttradition nicht ein minoritäres Randphänomen der westlichen Kultur behandelt, sondern vielmehr ein zentrales Element, das durch seine Ausschließung immer die offizielle, heteronormative Kultur bestimmt hat.17 Kosofsky Sedwick zufolge betrifft die Auseinandersetzung mit der Frage der sexuellen Diversität immer auch den offiziellen Machtdiskurs, indem gerade durch das im Anderen entstandene Nicht-Erkannte des Homosexuellen die politischen und epistemologischen Grenzen des Wissens markiert werden.18 Somit wird in diesem Buch versucht, die zu analysierenden Werke der beiden Autoren nicht nur als Bestandteil einer Tradition queerer, sondern auch katholischer Literatur zu klassifizieren.19 Die Kritik am Katholizismus ist ein eindrückliches Beispiel einer wechselseitigen Konstituierung des Ein- und Ausschließens, der Peripherie und des Zentrums:20 Im Kampf um das Überleben queerer Subjekte innerhalb einer homophoben und misogynen Gesellschaft treten die Strukturen dieser Ausschließungsverfahren zu Tage. Insofern wird, aus der Perspektive queerer Texte, in der vorliegenden Untersuchung die wechselseitige Konstituierung eines politischen Problems dekonstruiert.21 Die queere Religionskritik, die es hier zu analysieren gilt, versucht somit aus einer ethischen und politischen Perspektive – mit Hinblick

|| 16 Siehe Sedgwick, 1990, S. 1ff. 17 Siehe Sedgwick, 1990. 18 Die Thematisierung der „epistemologischen Asymmetrie“ (Sedgwick, 1990, S. 5), in der die herrschenden Diskurse die Homosexualität als das Dunkle, Unbekannte, Andere ausschließen, spielt für Kosofsky Sedwick eine wesentliche Rolle in der Etablierung des herrschenden Diskurses selbst, woraus auch die Gewalt und der Angriff auf die homosexuellen Subjekte abzuleiten seien. 19 Franz Haas spricht in Bezug auf Winklers Werk von einer „negativen katholischen Literatur“ (1998, S. 42). Als Negativ des Katholischen bleibt dieses jedoch, gemäß der These von Haas, durchaus im Bereich der katholischen Religionskultur, da diese seine negative Bezugnahme bestimmt. 20 J. S. Bezzant sieht die intellektuelle Kritik am Katholizismus als einen unbestrittenen Bestandteil der Religion seit ihrem Anfang (1964, S. 71). Die hier analysierte queere Religionskritik wird somit als Teil der innerlichen dialektischen Bewegung der katholischen Religion verstanden. 21 Hier könnte man die Debatte über die Frage aufgreifen, inwieweit man diese Ambivalenzen und ihre Dekonstruktion als „postmodern“ bezeichnen kann oder soll. Klaus Kastberger zufolge wäre das Ambivalente in der Postmoderne „allgemeine Befindlichkeit geworden“ (2007, S. 274). Diese Position erklärt sich aus der theoretischen Landschaft der literarischen Produktion in den 1980er-Jahren, in der das Differenz-Denken der poststrukturalistischen Philosophie eine prägende Funktion hatte. Aus dem Grund wird im Folgenden auch teilweise davon die Rede sein müssen.

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auf ihre Positionierung im ganzen diskursiven Rahmen (Michel Foucault)22 – innerhalb der herrschenden Ordnung die Mechanismen der Macht, ihre Paradoxien und Tautologien herauszuarbeiten.23 Die vorliegende Forschungsarbeit adaptiert diese Perspektive der queeren Literatur, indem sie die Frage aufwirft, inwiefern die ambivalente Beziehung zum Katholizismus als ästhetische und poetische Grundeigenschaft des queeren Schreibens verstanden werden sollte. Die Darstellung des heiligen Sebastian soll hier einleitend als Beispiel einer Kritik am Katholizismus fungieren, die von der homosexuellen Kulturtradition des 20. Jahrhunderts geübt wurde und die mittels ambivalenter Bezugnahmen auf ihr Objekt verschiedene Strategien der künstlerischen Kritik erprobte. Die Untersuchung beschränkt sich auf zwei Vertreter der schwulen Literaturtradition im 20. Jahrhundert, Fernando Vallejo (*1942) und Josef Winkler (*1953), die im Kontext emergenter queerer Diskurse der 1980er-Jahre und im soziokulturellen Kontext zweier katholischer Länder vergleichend analysiert werden.24 Beide Autoren haben das Werk des jeweils anderen nicht nachweislich rezipiert, dennoch bietet der gemeinsame Bezug auf dieselbe Literaturtradition, die etwa Oscar Wilde und Jean Genet einschließt, einen guten Ausgangspunkt, um die Auseinandersetzung dieser Tradition mit dem Katholizismus möglichst umfassend und komparatistisch präzise zu beleuchten. Fernando Vallejo und Josef Winkler sind die zwei Autoren, in deren Werk – und insbesondere in deren Frühwerk – im Folgenden diese ambivalente Beziehung zum Katholizismus herausgearbeitet und diese implizite Religionskritik aufgezeigt wird. Die Forschung hat bereits die iterative Form der Gesamtwerke beider Autoren herausgestellt: die Wiederholung derselben Themen, die immer einen autobiographischen Gestus implizieren, und die Beibehaltung des Stils, der bereits in der ersten Schaffensphase zum Ausdruck kommt und auf den sie || 22 Im zweiten Band seiner Geschichte der Sexualität erläutert Michel Foucault sein Verständnis des Ethischen als eine intellektuelle Leistung der Betrachtung der Wirksamkeit moralischer Systeme auf das eigene Ich und dessen Bezug im ganzen diskursiven System ([1984] 2013, S. 35). 23 „For queers, it is not a question of radically changing the rules of the game, as was the case in the unrealized dream of modern liberal politics. The trick is to better understand those games in order to subvert them more effectively. In the waning of the ontologies of homosexual identities, the queer opts for the tautologies of representation“ (Montero, [1998] 1999, S. 1786). 24 Die Ambivalenzen in den Werken Vallejos und Winklers beschränken sich keinesfalls auf deren religionskritischen Inhalt. Vallejos komplexes Verhältnis zu Kolumbien, eine Ambivalenz zwischen Liebe und Hass, Sehnsucht und Abneigung, sind ein Thema für sich. Im Falle Winklers stellt sich die Frage, inwiefern die Ambivalenz zwischen dem Dörflichen und dem Globalen eine wichtige poetische Achse in seinem Werk ausmacht, wie Schmidt-Dengler (2012, S. 250) bereits betonte.

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im Laufe ihrer Entwicklung immer wieder zurückgreifen. Dieser Stil und auch der historische Entstehungskontext sind die zentralen Gründe dafür, die frühen Texte der Autoren aus der Zeit zwischen 1973 und 1993 zum Gegenstand der Untersuchung zu machen: Fernando Vallejos autobiographische Pentalogie, die im Jahr 1999 als El río del tiempo betitelt wurde und aus Los días azules (1985), El fuego secreto (1987), Los caminos a Roma (1988), Años de indulgencia (1989) und Entre fantasmas (1993) besteht; sowie Josef Winklers autobiographische Trilogie, die im Jahr 1984 den Titel Das wilde Kärnten erhielt und sich aus Menschenkind (1979), Der Ackermann aus Kärnten (1980) und Muttersprache (1982) zusammensetzt. Der Inhalt des zu analysierenden Textkorpus lässt sich schwer zusammenfassen, aufgrund der Schwierigkeit, die im Kapitel 1 mit dem Begriff des mamotreto beschrieben wird: Die Romane haben keine konkrete Handlung, die das Ganze verknüpft, aber einige Bilder bzw. semantische Linien, die mittels der Wiederholung das fragmentarische Ganze ansatzweise vereinheitlichen. Ein untergeordnetes Ziel dieses Buchs ist die Herausarbeitung dieser semantischen Linien. Im Falle von Winklers Trilogie Das wilde Kärnten handelt es sich um thematische Schwerpunkte, die die drei Romane voneinander trennen und sie auch gleichzeitig miteinander verknüpfen. Ausgangspunkt und Gravitationszentrum der Trilogie ist der Selbstmord von Jakob und Robert, zwei jugendlichen Liebhabern, der explizit als Motivation für das Schreiben Winklers dient und somit der Handlung einen Rahmen gibt. Aus diesem Anlass entsteht ein breiteres Werk, das ein ganzes Dorf und die Kindheit, bzw. Jugend des Autors porträtiert: Das Dorf Kamering in Kärnten – das Heimatdorf des Autors – ist der Ort, an dem sich alles Erzählte ereignet, beobachtet aus der erinnernden Perspektive eines Ich-Erzählers. Das Schlüsselereignis, das als Anstoß zum Schreiben dient, motiviert zugleich eine Auseinandersetzung des Autors/Erzählers mit seiner eigenen Biographie, die in ihrer dreiteiligen Struktur nacheinander Sohn, Vater und Mutter ins Zentrum stellt. Die wiederkehrenden thematischen Schwerpunkte lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: die Rituale der katholischen Kirche, das Alltagsleben auf dem Bauernhof, das Zusammenleben mit den Tieren, die Mahlzeiten und Gebete, verschiedene Todesfälle im dörflichen Kontext, die Beziehung des Ich-Erzählers zur als sprachlos bezeichneten Mutter und zum autoritären Vater, die Großeltern, das Leiden Jesu, die (Homo)Sexualität, die Pop-Kultur der 1980er-Jahre, die Architektur des Dorfes und vieles mehr. In den Worten Ernst Fischers könnte man die Trilogie folgendermaßen resümieren: Die drei Romane stellen Variationen zum Thema der traumatischen Initiation eines homosexuellen Jugendlichen in einer patriarchalisch-dörflichen Welt dar; sie können als radi-

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kale literarische Selbsttherapie des Autors gelesen werden. Die Wahrnehmungen des Erzählers rekapitulieren Abschnitte aus Winklers eigener Biographie; beschrieben wird der Weg von einer anarchischen Subjektivität zu einer aus dem Schreibvorgang gewonnenen Objektivierung seiner Kindheitsgeschichte und zur Neudefinition seiner Identität. (1999, S. 481)

Die von Fischer angesprochene Entwicklung drückt sich besonders in der stilistisch-sprachlichen Genese der Trilogie aus: von einer rein poetischen Prosa in Menschenkind bis zu einem mehr oder weniger klaren Erzählmodus im letzten Teil Muttersprache, der in eine Erzählung in der dritten Person mündet. Fischers Verweis, dass es sich hierbei um eine Art Bildungsroman (um einen erzählten „Weg“ aus einer „traumatischen Initiation“) handeln könnte, ist jedoch wenig haltbar – es findet keine merkliche Entwicklung der Figuren statt, der man folgen könnte. Stattdessen ziehen sich Motive und Bilder wie Linien durch all die Veröffentlichungen des Autors. Als eine dieser Linien lässt sich auch die Kritik am Katholizismus, die queere Religionskritik Winklers, ausmachen.25 In Vallejos Narrativik verläuft die Handlung auf eine ähnliche Art und Weise uneinheitlich. Wenn auch in der Pentalogie El río del tiempo eine Art biographischer Verlauf zu erkennen ist – von Vallejos frühesten „blauen“ Kindheitstagen über seine ersten erotischen Jugenderfahrungen, sein Leben in Rom als Filmstudent und seine Erlebnisse in New York bis hin zu seinen Reflexionen über das Altern und Sterben in Mexiko –, so entwickelt sich die Erzählung doch keineswegs linear: Die „blauen“ Tage der Jugend zum Beispiel bleiben bis zum Ende der Texte ein wiederkehrendes Thema. Die Erzählung enthält Zeitsprünge zwischen der Vergangenheit und der Entstehungszeit der Romane, sodass sich eine kreisförmige Struktur bildet, die sich in der ständigen Rückkehrbewegung des Erinnerns ausdrückt: Das Ende der Pentalogie etwa wiederholt den Anfang. Zugleich durchziehen einige motivische und thematische Linien verbindend und vereinheitlichend die fünfbändige Autobiographie: die Figur der Großmutter und die Sehnsucht nach ihr, die Hündin Bruja, das Kino, die Homosexualität, die Kirche, die Nostalgie, die existentielle Verzweiflung, die Gewalt, Kolumbien, die Politik, das Altern, der Hass, die Flüchtigkeit des Lebens, die || 25 „[W]ie man überhaupt sagen kann, daß er [Winkler] fortgesetzt an einem einzigen Buch arbeitet. Dieser Eindruck entsteht nicht nur durch das Orgiastische der Sprache, das das ältere wie neue Werke kennzeichnet. Ein begrenztes Ensemble thematischer und motivlicher Linien, nicht zuletzt die obsessive Auseinandersetzung mit einem Schlüsselereignis […], fungieren als Klammern […]. Zu diesen Linien gehört die Attacke gegen den Katholizismus und seine Repräsentanten, auch in diesem nach Italien, nach Rom und Neapel führenden Buch, das neue Bildwelten vor Augen stellt […]“ (Fischer, 1999, S. 483).

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Unfassbarkeit des Ichs, die Hexerei, das Feuer, das Wasser und vieles andere. Diese Linien treten in manchen Bänden prominenter hervor als in anderen, der Stil verbindet jedoch die unterschiedlichen Texte und heterogenen Elemente zu einem Fluss, der im Titel der Pentalogie metaphorisch die Struktur der Erzählung zum Ausdruck bringt. Einige geschilderte Ereignisse, die jeweils als Handlungseinheiten verstanden werden könnten – der allererste Wutanfall als Kind in Medellín,26 die Freundschaftsjahre mit Chucho Lopera,27 der Mord an einer Frau in Paris,28 der zweite Mord an einem Nordamerikaner in Valencia,29 der vom Ich-Erzähler gestiftete Brand eines Gebäudes in New York30 und seine betrügerische Ausübung des Psychotherapeutenberufs31 – bleiben für den restlichen Verlauf der Texte ohne tiefgreifende Konsequenzen. Diese Ereignisse sind jedoch nicht als dokumentarisches Material zu deuten, vielmehr stellen sie ihre Fiktionalität aus, wie in Kapitel 1 genauer analysiert wird. Der Zeitverlauf (die grobe Chronologie der biographischen Stationen des Lebens Vallejos) und die Schauplätze (Medellín, Europa, USA und Mexiko) bilden den Rahmen eines Werkes, das voller Abschweifungen und divergenter Argumentationslinien ist. Die Hauptfrage der vorliegenden Untersuchung wird in drei verschiedene Unterfragen gegliedert. Zuerst (Kapitel 1) wird die Frage nach der spezifischen Form der Texte gestellt, die hier mit dem aus Fernando Vallejos eigenen metaliterarischen Passagen entlehnten Begriff des mamotreto beschrieben wird. Im Zentrum steht dabei die Annahme, dass sich bereits auf der Ebene der poetologisch durchdachten Form der Primärtexte eine kritische und ambivalente Auseinandersetzung mit dem Katholizismus herausarbeiten lässt. Um die Ambivalenzen dieser queeren Religionskritik aufzuzeigen, wird dann zuerst der destruktiven und dann der konstruktiven Seite dieser Kritik nachgegangen: Zunächst (Kapitel 2) wird die harsche, direkte Kritik am Katholizismus analysiert, indem die Poetik der Beleidigung beider Autoren in den Fokus gerückt wird. Diese Beleidigungspoetik wird (im selben Kapitel) mit einer ‚Zoopoetik‘ zusammengelesen, da beide Poetiken gleichermaßen das ethische Denken und Schreiben der Autoren prägen. Schließlich (Kapitel 3) wird die zelebrierende Seite der Religionskritik behandelt, nämlich ihre neobarocke Ästhetik, die eine ambivalente Wertschätzung des Katholischen beinhaltet. Hier wird analysiert,

|| 26 Siehe DA 9. 27 Siehe FS. 28 Siehe CR 65–67. 29 Siehe CR 83. Beide Morde kommen dann in EF 108 wieder vor. 30 Siehe AI 150–152. 31 Siehe EF 62ff.

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wie sich mittels der Aneignung katholischer Ästhetik durch die Autor-ErzählerStimmen32 eine Einschreibung queerer Subjekte in den religiösen Diskurs vollzieht. Der Ambivalenzbegriff eignet sich sehr gut, wie Herbert Seidler es bereits betont hat, um, beruhend auf einer Annahme der „ambivalenten Strömungen in der Geschichte“, „zur besseren begrifflichen Erfassung von Figuren, Werken und Epochen“ (1969, S. 42) zu gelangen. Insbesondere erachte ich diesen Begriff als fruchtbar für die Analyse der „Strömung“ einer kulturellen Tradition von Außenseitern, die mit der Gesellschaft in einem ständigen, spannungsvollen Dialog der Ein- und Ausschließung stehen.33 Nur wenn die verschiedenen Perspektiven dieser Ambivalenz erfasst werden, kann der Reichtum dieses komplizierten Verhältnisses in den Blick genommen werden.34 Die Ambivalenz wird hier als eine Unentscheidbarkeit – als die Koexistenz „gegensätzlicher Wertungen von Entscheidungen im menschlichen Geistes- und Kulturleben“ (ebd. 43) – in der queeren Literatur betrachtet, die selbst zwischen Ab- und Zuneigung zur Religion schwankt. Es geht um die Perspektive der autobiographischen, queeren Subjekte auf den Katholizismus, die wie ihre Darstellungen stets ambivalent ist. Daher werden in der vorliegenden Analyse Momente sowohl der Konstruktion als auch der Destruktion des Religiös-Katholischen in den Blick genommen. Der Fokus verbleibt dabei auf dem Medium der Literatur, auf ihrer Positionierung zur katholischen Religion. Er richtet sich insbesondere auf die Positionierung erwachsener, autobiographisch-erinnernder, homosexueller Subjekte zum katholischen Diskurs, und nicht auf die Thematisierung anderer relevanter Aspekte innerhalb des Komplexes von Religion und Homosexualität, wie die Skandale der Päderastie oder, in einem breiteren Sinne, die ‚Knabenliebe‘.35 Wie

|| 32 Der Begriff der Stimme soll hier, im Rahmen des Konzepts einer queeren Anti-Subjektivität, gerade die Individualität des verletzten queeren Subjektes in seiner konkreten literarischen Realisierung erfassen. Die Stimme hebt somit die Materialität einer Sprache hervor, die queer in einem ständigen De- und Reterritorialisierungsprozess begriffen ist: Eine Stimme steht immer in Beziehung zu anderen Stimmen. 33 Susan Sontag bezieht sich in ihrem klassischen Text Notes on ‘Camp‘ auf implizite ambivalente Gefühle: „I am strongly drawn to Camp, and almost as strongly offended by it“ ([1961] 2018, S. 2). Diese als schwul verstandene Ästhetik des ‚Camp‘ bedient sich, so Sontag, nicht nur der Ambivalenzen, sondern der Doppeldeutigkeit (ebd. S. 12). Die zuvor dargestellte Kippfigur des heiligen Sebastian würde sich in diesem Sinne als eine Strategie des Camps lesen lassen. 34 Vgl. Seidler, 1969, S. 44. 35 Das sehr aktuelle Problem der Päderastie in der katholischen Kirche, das etwa im späteren Werk Vallejos explizit thematisiert wird – z.B. in Vallejos La virgen de los sicarios oder La puta de Babilonia –, betrifft eine Situation innerhalb der katholischen Kirche, wohingegen sich das vorliegende Buch mit der Religionskritik innerhalb der queeren Literatur auseinandersetzt.

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Didier Eribon gezeigt hat, entpuppt sich die schwule Literaturtradition als eine „form of resistance“ angesichts verschiedener Arten von symbolischer Gewalt gegen diverse Identitätsformen, für die diese Gewalt auch konstitutiv ist.36 Die Analyse dieser Formen des Widerstandes ermöglicht daher auch kritische Einblicke in die Religionskultur des Katholizismus,37 da beide Prozesse gleichermaßen und simultan existieren: Sowohl die Religion als auch die Religionskritik bestimmen sich in einer dialektischen Art und Weise gegenseitig.38 In dieser Hinsicht geht es um die Analyse von ästhetischen Strategien des Widerstandes, die zur Kristallisierung einer queeren Religionskritik dienen. Wenn hier die Rede von Homosexualität ist, bezieht sich dieser Terminus primär nicht nur auf die männliche Homosexualität. Es wird jedoch von der Annahme ausgegangen, dass sowohl die lesbische als auch die schwule Literaturtradition wegen ihrer unterschiedlichen Kulturtraditionsbildung auch andere politische Strategien herausgebildet haben und somit unterschieden werden sollten. Dabei soll der Kanonbegriff nicht unkritisch übernommen werden: Bei der in Bezug auf jeden Kanon nicht unumstrittenen Etablierung einer schwulen Kulturtradition und deren ‚Homo-Kanon‘ haben nicht nur einige Anthologien,39 sondern auch die intertextuellen und intermedialen Bezüge innerhalb der Texte, mit denen sie sich in die Tradition einschreiben, wie auch die Lexika40 und

|| Wenn es zwar wahr ist, dass dieses Thema in der kanonischen schwulen Kulturtradition relevant ist – etwa in Augusto D’Halmars Pasión y muerte del cura Deusto (1924) oder im Film Pedro Almodóvars La mala educación (2004) –, kommt es im hier zugrundeliegenden Textkorpus als ein Randphänomen vor: Man findet bei Vallejo zwar eine Erotisierung von Minderjährigen und bei Winkler eine erinnerte Erotik des Kindes zum Vater, diese Thematisierung dient aber nicht primär der Denunziation der Päderastie. In der Aktualität hat dieses Thema im Kontext nicht nur Europas – vor allem mit der Veröffentlichung Frédéric Martels Sodoma. Enquête en cœur du Vatican (2019) oder dem Film François Ozons Grâce à Dieu (2018) –, sondern auch in Lateinamerika an Relevanz gewonnen: Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang der Film Pablo Larraíns El club (2015). 36 Vgl. Eribon, 2004, S. 6. 37 „Man möchte meinen, daß Ungläubige Einwände gegen das Christentum überzeugender vorzubringen wissen als Gläubige, und sicherlich sollten Christen auch allen Aufmerksamkeit schenken, die ihre Glaubensanschauungen einer scharfen und eingehenden Kritik unterziehen“ (Vidler, 1964, S. 8). 38 „Nur wenige intellektuelle Einwände gegen das Christentum sind völlig oder auch nur weitgehend neu. Manche sind so alt wie das Christentum selbst, andere sogar noch älter; diese wurden natürlich nachträglich auf das Christentum bezogen“ (Bezzant, 1964, S. 71). 39 Vgl. Keilson-Lauritz, 1997, S. 23. 40 Das neuere Lexikon David A. Gerstners Routledge International Encyclopedia of Queer Culture nimmt z.B. Fernando Vallejo in die Tradition queerer Kultur auf. Dagegen kommt Vallejo in George E. Haggertys Gay Histories and Cultures: An Encyclopedia nicht vor.

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die Forschungsliteratur zu den jeweiligen Werken eine wichtige Rolle gespielt. Aus diesen Gründen lässt sich eine Traditions- oder Kanonbildung innerhalb der schwulen Literatur und Kultur nachzeichnen, die nicht nur einige Autoren (Stefan George, Oscar Wilde, Yukio Mishima, James Baldwin, Jean Genet, Jean Cocteau, Pedro Lemebel, Severo Sarduy, Hans Henny Jahnn, Hubert Fichte u.v.a.) als zentrale Figuren der Rezeptionsgeschichte etabliert hat, sondern auch gewisse politisch-emanzipatorische Strategien in der von einer sozialen Minderheit hervorgebrachten Ästhetik aufweist, zu denen die hier behandelte ambivalente queere Religionskritik gezählt werden soll. Die Tatsache, dass die politisch bestimmten Geschlechterverhältnisse in der Gesellschaft die Subjekte differenzieren, dient als Ausgangspunkt, um die kulturellen Produktionen und ihre strategischen Mittel der Kritik der zwei Geschlechter als ebenfalls differenzierte zu verstehen.41 Die charakteristische Ambivalenz in der homosexuellen Literatur- und Kulturtradition, die es hier zu erforschen gilt, wird in diesem Zusammenhang nur einer männlichen homosexuellen Tradition zugerechnet; dies schließt aber die Vermutung nicht aus, dass sie auch in der lesbischen Kulturtradition zu finden ist. Das Geschlecht des oder der Autor*in scheint letztendlich keine Rolle angesichts dieses Phänomens zu spielen; dies zeigen auf exemplarische Weise einige Werke von Autorinnen, die ihrerseits die strategische Religionskritik artikulieren, die hier analysiert werden soll (wie Marguerite Yourcenars Alexis ou le Traité du vain combat [1971], Terézia Moras Alle Tage [2004] oder Camila Sosa Villadas Las malas [2019]). Es gilt dann jenseits der vorliegenden Studie zu hinterfragen, ob sich die hier herausgestellte ambivalente queere Kritik des Katholizismus in einer breiteren queeren Tradition wiederfinden lässt, die sowohl schwule als auch lesbische, transsexuelle, nicht-binäre, bisexuelle, intersexuelle Kulturtraditionen miteinbeziehen würde. Die Verunsicherung und Störung (Kaminsky 2008) von – nicht nur sexuellen und geschlechtlichen – Binaritäten und Klassifizierungen der patriarchalen Mainstream-Kultur, die diese Ambivalenz impliziert, spricht für eine Übertragbarkeit des Begriffs queere Religionskritik auf das breitere Spektrum der LGBTIQ*-Kultur. Es geht hier um das Queere und nicht bloß um das Schwule, weil die hier zu analysierende Art der Kritik sich nicht nur auf die || 41 „[T]he difference of gender has always been significant in the conceptualization and experiences of lesbianism and male homosexuality and in the experiences of individuals and communities. Lesbians and gay men have shared many aspects of life […] but they have also developed in profoundly different ways. […] The degree to which male lives are recorded while female lives are ignored or suppressed affects the historical record. The fields of lesbian studies and gay studies have, until very recently, developed in an independent, though related, fashion“ (Zimmerman & Haggerty 2000, S. XII).

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Geschlechterverhältnisse richtet, sondern als eine epistemologische Infragestellung und Dekonstruktion normativer Binarismen und ihrer hierarchischen Wertungen zu verstehen ist: Dies betrifft dann nicht nur die sexuellen und geschlechterbezogenen Binarismen, sondern all jene, die das kategoriale, transzendente Denken mittels der Unterscheidung von Gattungen, Identitäten und Geschlechter produziert (dies zeigt sich vor allem an der moralischen Unterscheidung zwischen Mensch und Tier bei der Thematisierung der Zoopoetik im zweiten Kapitel). Queer meint somit kein Adjektiv, sondern vor allem ein Verb, das – wie die Dekonstruktion – mittels kritischer Auseinandersetzung das Werden der Formen in einem konkreten politischen Kontext präkarisierter diverser Subjekte von einer kategorialen, essentialistischen und identitären Klassifikation befreien möchte.42 Um das weite Forschungsfeld queerer Religionskritik in den Blick zu nehmen, rekurriere ich hier bereits auf das Wort „queer“ als Sammelbegriff für eine Perspektive jenseits der männlichen Homosexualität. Es geht dementsprechend um eine bestimmte queere Ästhetik, die sich auf eine bestimmte Weise mit dem katholischen Diskurs auseinandersetzt, und nicht so sehr um die spezifischen Inhalte der männlichen Homosexualität in den Texten: Die kritische Perspektive der queeren Subjekte in den Texten speist sich mehr aus ihrer Situation als Außenseiter in der Gesellschaft als aus ihrer Lage als spezifisch homosexuelle Männer. Sowohl der hier literaturwissenschaftlich entworfene Begriff des mamotreto als auch die Strategie der Beleidigung oder die Ästhetik des Neobarocks haben mit einer Textästhetik zu tun, die hier als queer bezeichnet wird, die aber nicht primär aus der Thematisierung männlicher Homoerotik abzuleiten ist. Meine Verwendung des Begriffes queer beruht auf der grundlegenden Annahme, dass die queeren ‚Identitäten‘ sich immer in einer Ambivalenz und Konfrontation konstituieren. Dies bedeutet, dass sie als Nicht-Identitäten betrachtet werden, insofern sie sich in einer Dialektik der Negation als Identitäten konsti-

|| 42 Amy Kamiskys Verständnis des Queeren als Verb spielt an diesem Punkt eine besondere Rolle: Es geht um eine Kritikform bzw. Denkbewegung, „[que] [c]uestiona la estabilidad de las normas. Revela la inestabilidad de la identidad y, paradójicamente, revela también la necesidad de crear y defender identidades alternativas para sobrevivir en una cultura regida por la identidad normatizada“ (2008, S. 879). In einer ähnlichen Art und Weise bezieht sich Katja Kauer in ihrer literaturwissenschaftlichen Einführung in die Queer Studies auf den Begriff queer als eine „kritische Denkbewegung“, die hier für eine kritische literaturwissenschaftliche Lektüre produktiv gemacht wird und dabei ihren historischen Ursprung im politischen Widerstand gegen eine queerphobe, heteronormative Gesellschaft im Kern des Begriffes bewahren soll (2019, S. 11).

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tuieren, die aber stets immer anders bleiben.43 Mit Juan Esteban Muñoz gedacht ist queer „el rechazo de un aquí y un ahora, y una insistencia en la potencialidad o la posibilidad concreta de otro mundo“ ([2009] 2020, S. 30)44. Der Begriff der Nicht-Identität soll somit die Gefahr umgehen, auf die Paul B. Preciado hingewiesen hat: “de hacer de la nominación queer una identidad, generando nuevas exclusiones y eclipsando las condiciones específicas de opresión de los cuerpos transexuales, transgénero, discapacitados o racializados” ([2008] 2020, S. 248)45. Queer wird demzufolge als Widerstandsform, als Denkhorizont aufgefasst, der eine breitere Entfaltungs- und Ausdrucksmöglichkeit des Subjektes in der Gesellschaft eröffnet. Aus diesem Grund werden alle Aspekte des „Queeren“ als Konfrontationen mit einem herrschenden Diskurs betrachtet, d.h. in der Art, wie sie diesen in seiner Form einer Kritik unterziehen. Ausgehend von bzw. gegen die diskursive Lage der queeren Subjekte in der heteronormativen Gesellschaft eröffnet sich durch das Schreiben eine andere Form, die es hier in ihren ästhetischen Strategien nachzuzeichnen gilt. Mittels Destruktion und Aneignung artikuliert sich das autobiographische queere Subjekt, indem diese beiden Handlungen stets dialektisch konstitutiv bleiben: Im zweiten Kapitel werden die destruktiven Aspekte betrachtet, die aber – im Fall der Beleidigung – auch affirmierende Momente implizieren; und im dritten Kapitel wird die neobarocke Lobpreisung als Affirmation des Katholizismus behandelt, die jedoch eine profanierende und blasphemierende Entstellung des Religiösen mit sich bringt. Trotz der entgegengesetzten Gewichtung in diesen beiden Kapiteln bleiben die zwei Bereiche der Erforschung der destruktiven und affirmierenden literarischen Strategien queerer Subjekte selbst ambivalent. Darauf weist bereits Dirck Linck in seiner Monographie zu Josef Winkler treffend in Bezug auf die männliche Homosexualität hin: Es reicht nicht, immer wieder zu thematisieren, daß die Gesellschaft eine Ordnung herstellt, die den Schwulen nicht enthält, Maßstäbe, die für ihn nicht gelten können, Bilder, an deren Entstehung er keinen Anteil hat. Wichtiger, schwieriger ist die Darstellung des Gebrauchs, den der Schwule von diesen Bildern, Maßstäben, von dieser Ordnung macht.

|| 43 Identität wird hier im etymologischen Sinne als „der- bzw. dasselbe“ gedacht, d.h. als eine Struktur, die eine Gleichheit impliziert. In diesem Sinne wäre eine ‚queere Identität‘ eine, die immer Verschiebungen erfährt und sich somit gegen eine Identitätspolitik wendet, wie Lee Edelman in No Future darlegt (2004, S. 24). 44 „[...] die Ablehnung eines Hier und Jetzt und das Beharren auf der Potenzialität oder der konkreten Möglichkeit einer anderen Welt“ (meine Übersetzung). 45 „[…] aus der Bezeichnung „queer“ eine Identität zu machen und damit neue Ausschließungen zu generieren und die konkreten Bedingungen der Unterdrückung von transsexuellen, transgender, behinderten oder rassialisierten Körpern zu verdecken“ (meine Übersetzung).

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[…] Wie arbeiten Schwule mit der Realität und den versteinerten Bedeutungen der Zeichen; wie schreiben sie sie um und wie sehen die Bilder nach dem Gebrauch aus? […] Die Dinge können ‚umgedreht‘ werden. […] Was machen Schwule, im Einzelfall, mit den Wörtern, wenn sie auf Künstlichkeit bestehen, mit dem Mythos, wenn ihre Literatur Christus, den Teufel und Sokrates aktiviert? (1993, S. 32–33)

Diese These liegt auch der methodologischen Ausrichtung einer Literaturwissenschaft zu Grunde, die sich mit dem Phänomen der Homosexualität auseinandersetzt: Es reiche nicht, so Linck, eine oppositionelle Identität des Schwulen herauszuarbeiten, sondern die ambivalente Positionierung dieses Subjektes in einer Gesellschaft und die damit zusammenhängenden kritischen Strategien zu durchdenken. Ferner impliziert der Rekurs auf den Begriff queer eine politische Debatte, die insbesondere im zu erforschenden Kontext der 1980er-Jahre eine spezifische Relevanz im Entstehungsumfeld der Queer Studies hatte.46 Das vorliegende Buch beschäftigt sich nicht mit dem riesigen Themenkomplex der Beziehung zwischen Erotik und Religion, der beispielsweise auf die Texte George Batailles zurückgeht. Es geht vielmehr um die kritische, politische Auseinandersetzung des queeren Schreibens mit dem Katholizismus als um die Beziehung zwischen Sexualität und Religion. Im Zentrum steht die Sexualität als Teil einer Politik sexueller (Nicht-)Identitäten im Kontext der HIV-geprägten 1980er-Jahre und nicht als Teilbereich einer Mystik, die (wie im Falle San Juan de la Cruz’ oder Santa Teresa de Ávilas) mit einer Sexualmetaphorik aufgeladen ist. Für eine Untersuchung der Mystifizierung des Sexuellen bzw. der Profanierung des Mystischen im Sexuellen wären die Texte Stefan Georges’ (etwa Der Teppich des Lebens) oder Juan Gil-Alberts (etwa Los arcángeles) die adäquateren Forschungsobjekte. Wenn auch dies nicht ein Thema dieses Buches ist, so lässt sich doch feststellen, dass eine der Subversionsstrategien des queeren Schreibens gegen den Katholizismus in der sexuellen Profanierung zu finden ist – Jean Genets Notre-Dame-des-Fleurs ist ein weiteres gutes Beispiel einer solchen queeren Subversion. Da der Fokus auf dem literarischen Schreiben liegt und nicht auf der religionswissenschaftlichen oder katholisch-theologischen Frage nach dem innerreligiösen Verständnis bzw. der Auseinandersetzung mit sexueller Diversität, bezieht sich das vorliegende Buch nicht auf die bereits etablierte Disziplin der Queer und Feminist Theology.47

|| 46 Vgl. Montero, [1998] 1999, S. 1783. 47 Für weitere Information zu diesem theologischen Bereich siehe Schrüger (1974), Thatcher (2015), Landwerd, (2010) oder Loughlin (2007). Interessant für eine weiterführende Analyse sind die Bücher Indecent Theology und The Queer God von Marcella Althaus-Reid, in denen die

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Der Grund dafür, dass hier der Katholizismus als Objekt der queeren Religionskritik in den Fokus genommen wird, wird in Kapitel 3 ausführlicher erläutert: Es liegt dabei die Annahme zugrunde, dass die queere Ästhetik, die es hier zu analysieren gilt, im katholischen Kulturraum eine besondere Form herausgebildet hat, die in anderen religiösen Kontexten schwer zu finden ist. Die Vorliebe für das Neobarocke führt hier direkt ins Zentrum eines katholischen Bildkults. Queere Religionskritiken anderer Konfessionen würden somit andere ästhetische Formen hervorbringen, die hier nicht analysiert werden können. Hubert Fichte oder James Baldwin, deren Werke sich ausführlich mit der christlich-protestantischen Religion auseinandersetzen, weisen mit Sicherheit andere Strategien auf, die jenseits des kontextuellen Rahmens des Katholizismus angesiedelt sind. Die vorliegende Studie versucht, verschiedene literaturhistorische, philosophische, sozialpolitische und historische Register zusammenzudenken, um diese rein komparatistisch – im Vergleich zwischen zwei scheinbar sehr verschiedenen Literaturtraditionen, der kolumbianischen und der österreichischen – als Teil eines einzigen Diskurses zu lesen und sie so produktiv werden zu lassen. Die Perspektive des transnationalen Vergleichs erlaubt somit jenseits der nationalkulturellen Grenzen den Raum und die Geschichte literarischer Wechselbeziehungen zu erfassen. Daher ist das vorliegende Buch auch ein Beitrag zur Erweiterung der in den Nationalphilologien verankerten literaturwissenschaftlichen Praxis und ihres ‚patriotischen‘ Verständnisses der Literatur.48

|| Autorin in einer theologischen und kulturwissenschaftlichen – nicht jedoch in einer literaturwissenschaftlichen – Analyse eine queere Perspektive auf den Katholizismus entwickelt. Der Fokus Althaus-Reids liegt im Bereich der Erforschung der katholischen Religionskultur Lateinamerikas, etwa in Indecent Theology, wo sie die Bilder der Jungfrau Maria und der Christologie einer Diskursanalyse unterzieht und ihren sexuellen Inhalt herausarbeitet. Althaus-Reid geht von folgender Annahme aus: „Our point of departure is the understanding that every theology implies a conscious or unconscious sexual and political praxis, based on reflections and actions developed from certain accepted codifications. These are theo/social codifications which configure epistemologies, visions of life and the mystical projections which relate human experience to the sacred“ (2000, S. 4). Das Projekt Althaus-Reids versteht sich als Kritik und Weiterführung einer lateinamerikanischen Tradition der Teología de la liberación (Befreiungstheologie) und knüpft von dort eine Verbindung mit dem neuen Denken der Feminist und Queer Theology. 48 Dies ist ein Problem, das in der germanistischen Literaturwissenschaft, die sich mit österreichischer Literatur beschäftigt, hervorgehoben wurde und das von Franz Haas als „österreichischer Solipsismus“ (2003, S. 38), „Austrozentrismus“ oder als „naiver Patriotismus“ (ebd. 40, hier in Bezug auf Schmidt-Dengler) bezeichnet wurde, da „selbst in der abschätzigsten Verdrehung […] thematisch immer noch Österreich zuerst [steht]“ (ebd. 40). Seit 2003 hat sich

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Das Forschungsobjekt und die Forschungsfrage berühren heterogene Denklinien (der Religionskritik, -theorie und -geschichte, der Queer Theory, der Politischen Theorie, der Literaturwissenschaft u.a.), die aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive verschiedene Literaturen im Rahmen eines Diskurses des 20. Jahrhunderts zusammendenken lassen. Aus diesem Grund wird an einigen Stellen auf die Methoden einer essayistischen bzw. konstruktivistischen Literaturwissenschaft zurückgegriffen,49 die sich nicht einer ausschließlich textbezogenen Analyse bzw. einem close reading widmet, sondern Literatur im breiteren Kontext eines politischen Denkens der 80er-Jahre und der europäisch geprägten Kulturtradition des ganzen 20. Jahrhunderts zu lesen erlaubt. Besonders in Anbetracht einer Literatur, die sich in einer Post-StonewallZeit mit politischen Fragen der Sexualität und des Geschlechts beschäftigt, bietet die kulturwissenschaftliche, komparatistische Methode die Möglichkeit einer kontextuellen Lektüre, die im Falle Josef Winklers und Fernando Vallejos bisher ausschließlich in den Grenzen der Nationalliteraturforschung vorgenommen wurde. Die Erforschung queeren Schreibens begünstigt zugleich eine kritische Perspektive auf die traditionellen, akademischen Methoden: Wie kann man jenseits der Gattung – und somit auch der Gattung des wissenschaftlichen Schreibens – schreiben?50 Diese Frage stellt sich insbesondere bei der Referenz auf essayistisch-theoretische, interdisziplinäre und intertextuelle Texte (von Ahmed, Álvarez, Sloterdijk u.a.). In dieser Hinsicht versteht sich das vorliegende Buch nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch als Beitrag zur Disziplin der Queer Studies. In den Texten von Josef Winkler und Fernando Vallejo spielen die Kenntnisse der Autoren als Leser einer breiten Literaturtradition immer wieder eine wichtige Rolle im Sinne einer expliziten produktiven Rezeption: Winkler bezieht sich

|| die wissenschaftliche Landschaft kaum verändert und die Germanistik scheint die österreichische Literatur als ein getrenntes Phänomen betrachten zu wollen. Auch Hermann Schlösser hebt diese österreichische Selbstobsession hervor und stellt sie in Kontrast zur deutschen Germanistik (2003, S. 94). 49 Hiermit beziehe ich mich insbesondere auf Bernd Scheffers Konzept einer neuen konstruktivistischen Literaturtheorie, die sich im Zusammenhang einer akademischen Beschäftigung mit Literatur merklich von einer szientistischen und mit allen Vorzeichen von Objektivität ausgestatteten Sicht distanziert. Scheffers Idee einer konstruktivistischen Literaturwissenschaft versucht essayistische, subjekt-bezogene, autobiographische und empirisch-orientierte, intersubjektive Methoden der Literaturwissenschaft zu kombinieren (1992). 50 José Esteban Muñoz bezieht sich auf Assoziation als Methode in der Lektüre und Theoretisierung der Queer Studies, indem er auf eine andere Art und Weise des queeren Denkens hinweist, die sich notwendigerweise im Schreiben ausdrücken soll ([2009] 2020, S. 32–33).

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wiederholt auf jene Autoren und Texte, die ihm als Einstieg in die Literatur dienten (Gebet- und Litaneibücher, J. Genet, A. Camus, P. Weiss, K. May u.a.) und widmete einige seiner Schriften auch einzelnen Autoren (Das Zöglingsheft des Jean Genet, Der Katzensilberkranz in der Henselstraße, Mutter und der Bleistift, Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot, Winnetou, Abel und ich u.a.); Vallejo legte bereits in seiner ersten Publikation Logoi. Una gramática del lenguaje literario seine Kenntnisse der langen westlichen Literaturtradition, angefangen mit Homer, dar und verdeutlichte auf über 1000 Seiten in seinen drei Biographien zu Porfirio Barba Jacob, José Asunción Silva und Rufino José Cuervo exemplarisch den Einfluss der lateinamerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts auf die Gegenwart.51 Im Falle zweier Autoren, deren Werke in einem unleugbaren intertextuellen Gefüge zustande kamen, ist die komparatistische Methode, die Echos in verschiedensten Kontexten und Texten aufspürt, die naheliegende Art und Weise, um das Werk gründlich zu analysieren. Mit dem Vorhaben, die Echoräume der Wechselbeziehung von Literatur mit ihren Kon-Texten herauszuarbeiten, nehme ich auf den literatur- und kulturwissenschaftlichen Ansatz Benno Wagners Bezug: Dabei wird Literatur nicht bloß als Rezeptor von Kon-Texten, sondern in ihrer Wirksamkeit und Wechselbeziehung mit diesem Kontext erforscht.52 Zusätzlich soll die Tatsache berücksichtigt werden, dass Winkler und Vallejo sich nicht nur mit einer breiten Literaturtradition, sondern mit verschiedenen Kunstmedien (der Film und die Musik sind wichtige Referenzrahmen der Primärtexte) und Kulturen auseinandersetzten: Winkler widmete Indien, Italien und Japan verschiedene Texte (Domra. Am Ufer des Ganges, Der Friedhof der bitteren Orangen, Roppongi. Requiem für einen Vater, Kalkutta. Tagebuch I, II und III u.a.)53 und Vallejo verschriftlichte seine Erfahrungen in den USA, Italien, Mexiko und Spanien in verschiedenen Büchern (Los caminos a Roma, La Rambla paralela, Años de indulgencia, Entre fantasmas u.a.). Diese Interkulturalität, bei der die Texte in einen Dialog mit anderen kulturellen Räumen treten, erfordert eine Suche nach den transkulturellen Echoräumen, um diese in einem breiteren

|| 51 Der Einfluss der Literatur des 19. Jahrhunderts auf Vallejos Werk wird von María Ospina Pizano in ihrer Dissertation hervorgehoben, wobei seine Rolle als Grammatiker zum Tragen kommt (2019, S. 45ff). 52 Benno Wagners kulturwissenschaftlicher, interkultureller Ansatz wird dann in einem anderen Artikel (2013) mit der Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours kombiniert und damit dasselbe Prinzip einer kontextuellen Analyse der Wechselbeziehung von Literatur und Gesellschaft verfolgt. 53 Zur Rolle des Transnationalen im Werk Winklers siehe Daffner, 2011. Der Sammelband Inge Arteels und Stefan Krammers (2016) zur Interkulturalität bei Winkler ist eine wichtige Publikation zu diesem Thema.

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Kontext jenseits der Germanistik und Hispanistik zu lesen. Die Echoräume, die es hier zu analysieren gilt, sind primär jene einer schwulen, sprach- und länderübergreifenden Literaturtradition. Ein weiterer Grund für die Anwendung der komparatistischen Methode ergibt sich daraus, dass sich die Texte innerhalb des Rahmens derselben schwulen Literaturtradition situieren lassen, die zuvor skizziert wurde: Die Kanonisierungsprozesse einiger Autoren, die zu dieser Tradition gezählt werden können, führen bei einigen Werken, die sich nicht explizit aufeinander beziehen, zu Ähnlichkeiten.54 Der interkulturelle, intermediale und intertextuelle Charakter des Gesamtwerkes beider Autoren begründet somit die komparatistische, kontextbezogene Lektüre der vorliegenden Untersuchung und verlangt nach einer Lektüre, die die verschiedenen, heterogenen Gebiete zusammenzudenken vermag. Der wiederkehrende Bezug auf die sogenannte französische poststrukturalistische Philosophie fußt nicht allein auf der historischen Tatsache, dass dieses Denken in den 1980er-Jahren eine besondere Wirksamkeit hatte, sondern erklärt sich aus dem Hauptanliegen dieses Buchs: Es geht mir um eine diskursanalytische Arbeit, die die Kultur innerhalb eines Machtgefüges der Gesellschaft zu verstehen versucht, somit die diskursgeschichtlichen Arbeiten Michel Foucaults zugrunde legt und in Einklang mit dem affekttheoretisch orientierten, spinozistischen Denken Gilles Deleuzes steht: Das Subjekt wird im differenziellen Gefüge der Gesellschaft und der Macht als ein agierendes und passives verstanden.55 Ferner findet sich der Rekurs auf diese Denktradition auch in der Tradition des Neobarocks, die sich konzeptuell (ausgehend vom Werk Severo Sarduys) im Kontext des poststrukturalistischen Denkens in Frankreich herauskristallisier-

|| 54 Es sind genau die zitatartigen Bezüge Winklers auf den Kanon schwuler Literatur (vor allem auf Wilde, Jahnn oder Genet), die zum Beispiel Ernst Fischer dazu veranlassten, Winkler „in dem Bezugsrahmen einer Literatur der Homosexualität [zu verorten], die sich als ein Genre eigenen Rechts versteht“ (1999, S. 483). Es handelt sich m.E. weniger um ein „Genre“, als vielmehr um eine Tradition, da diese ganz unterschiedliche literarische Gattungsformen umfasst. 55 Die Perspektive der affect studies, die man aus der heutigen Sicht in den hier zitierten theoretischen Texten von Sara Ahmed, Baruch von Spinoza und Gilles Deleuze herauslesen kann, setzt nicht so sehr den Akzent auf den Affekt-Begriff sondern auf das immanente und nicht-transzendente Differenz-Denken. Die Grundannahme der spinozistischen Affektlehre, jeder Körper steht in einer Affizierungsrelation zur ganzen Substanz, soll in erster Linie als eine Folge eines materialistischen Immanenzdenkens verstanden werden, das gerade die platonisch-ontologische Grundunterscheidung zwischen Diesseitigem und Jenseitigem unterläuft. Der Affektbegriff wird im zweiten Kapitel, gerade in der Diskussion um den Begriff des Zornes und den Unterschied zwischen Ethik und Moral, innerhalb der spinozistisch-deleuzianischen Philosophie näher erläutert.

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te.56 Im Zusammenhang mit diesem Kontext, aber auch wegen der Grundannahme, dass Literatur nicht außerhalb der herrschenden Machtstrukturen zu denken ist, liegt der Rückgriff auf die poststrukturalistische Tradition nahe. Mit der Analyse eines Teils der langen Tradition der Religionskritik im westlichen Denken,57 nämlich des queeren Schreibens gegen den Katholizismus, soll dieses Buch auch einen Beitrag zur kulturwissenschaftlichen Diskussion rund um den Begriff der Religionskultur leisten.58 Sich der Religion als Religionskultur zu nähern, impliziert gleichzeitig eine interdisziplinäre Perspektive (zwischen Religionswissenschaft, Theologie, Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft u.a.), die diesem Buch als Ganzes zugrunde liegt. Wenn es hier um eine kritische Auseinandersetzung mit dem „Religiösen“ geht, dann in Form einer breiteren Kritik am religiösen Diskurs im Sinne Foucaults, d.h. an einer diskursiven Formation, die sich als prägender Teil einer Kultur versteht, sprich als Religionskultur: Die Religion prägt somit diskursiv verschiedene Ebenen des Sozialen und somit auch die kulturellen Ereignisse, die hier unter dem Begriff der Religionskultur subsumiert werden. „Kultur“ als übergreifender Begriff für die Konstituierung von Merkmalen einer Gemeinschaft wird jedoch im Sinne des Diskursbegriffes Foucaults behandelt. So etwa versteht Vallejo in La puta de

|| 56 Siehe Preyer, 2013. 57 Wenn hier die Rede von „Religionskritik“ ist, dann nicht im Sinne der Religionskritik des Protestantismus, sondern im Sinne der Infragestellung ihres Wahrheitsgehaltes aus der Außenperspektive aufklärerischer Auseinandersetzung mit „den gängigen Vorstellungen von Religion“ (Schmidt, 2010, S. 409). Zur ausführlichen Darlegung der Tradition westlicher, aufklärerischer Religionskritik siehe Weinrich, 2011. Da im zweiten Kapitel Spinoza eine wichtige Rolle spielen wird, geht es hier um Religionskritik in seinem Sinne, nämlich als materialistische Kritik der katholischen Religion. 58 Hier stütze ich mich auf verschiedene Forschungsprojekte des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung in Berlin zum Begriff der Religionskultur: Daniel Weidners Projekt „Text- und Religionskulturen“ oder „Sakramentale Repräsentation“, Sigrid Weigels „Figurationen des Märtyrers in nahöstlicher und europäischer Literatur“ oder „Figuren des ‚Sakralen‘ in der Dialektik der Säkularisierung“ u.v.a. Die Artikel Martin Tremls stehen exemplarisch für eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf die Religion als Religionskultur, so seine Arbeit zum „Judentum als Schlüssel zur Religions- und Kulturtheorie“ oder „‚Wildes Denken‘ als Theologie (Slavoj Zizek)“. Zahlreiche Projekte des ZfLs versuchen sich in Bezug auf die Religionskultur zugleich von der totalen Säkularisierungshypothese zu entfernen, um das Religiöse als grundlegende Kulturinstanz zu verstehen. Siehe auch Markus Wittes Buch Religionskultur – zur Beziehung von Religion und Kultur in der Gesellschaft (2001), in dem die Nähe- und Distanz-Beziehung der Kultur zur Religion in den Bereichen der Ethik, Ästhetik, Geschichte, Religionsunterschiede, Wirtschaft und Wissenschaft herausgearbeitet wird. Dabei verstehen diese Forschungsprojekte Religion als Religionskultur, sprich als Komplex aus Institutionen, Bekenntnis und Kanonformationen.

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Babilonia, seiner ausführlichen Abrechnung mit der katholischen Religionskultur, seinen Gegner nicht bloß als Kirche oder Bekenntnis, sondern als Diskurs, der aus Institutionen, kanonischen Texten, Sitten, Moral, Geschichte und einer bestimmten Episteme besteht. Als Diskurs beinhaltet der Begriff nicht nur Form und Inhalt der religiösen Rede, sondern auch Verfahren der Ausschließung (Verbote, Grenzziehungen und der „Wille zur Wahrheit“), der Einschränkung (textuell, auktorial und disziplinär) und der Unterwerfung (Rituale des Sprechens, Doktrinen und Aneignungen), wie Michel Foucault in L’ordre du discours darlegt. In diesem Foucault’schen Sinne59 stützt sich die „Ordnung des Diskurses“ auf eine institutionell ausschließende, aber auch auf eine theoretisch verbindende Basis. Dies bedeutet, dass sich die hier postulierte Religionskritik queeren Schreibens auf die Religion als politisch-kulturelle Institution und als Diskurs bezieht – nämlich als Religionskultur –, und so überschreitet ihr Objekt der Kritik die Grenzen des konfessionellen und rituellen Rahmens: Religion wird hier als Teil des Wissens und der Strategien, Dispositive und Techniken der Macht in einer bestimmten katholischen Gesellschaft verstanden, und somit ist Religionskritik die implizite kritische Auseinandersetzung mit diesen Machtmechanismen. Auch Religionskritik ist folglich ein Teil einer Religionskultur als ihre Selbstreflexivität, die gerade im hier zugrundeliegenden Textkorpus eine besondere Form erlangt. Daher ist gerade dieser Textkorpus nicht nur Teil einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Katholizismus, sondern seiner Religionskultur, die eine eigene Ästhetik impliziert. Die Grenzen zwischen dem Politischem, dem Religiösem und dem Ästhetischen werden gerade in der komplexen gegenseitigen Abhängigkeit dieser Bereiche mittels des Begriffes der Religionskultur greifbar gemacht. Meine Studie geht gleichzeitig von der Annahme aus, dass die Grenzen zwischen Kultur und Politik (und die daraus resultierenden sozial-politischen und kulturellen Kritiken) fließend zu verstehen sind: Gerade in den zu analysierenden Texten – die die Absicht haben, Ungerechtigkeiten und Widersprüche innerhalb der katholischen Religionskultur und Gesellschaft zu denunzieren – kann man die Aspekte des Ästhetisch-Kulturellen vom Politischen nicht kategorial unterscheiden. Dies zeigt sich vor allem in der Betonung der Form im ersten Kapitel und in deren ästhetisch-politischer Funktion im hier entworfenen Begriff des mamotretos, sowie in der politisch-ethischen Kritik der Zoopoetik im zweiten Kapitel und der politisch-kritischen Aneignung katholischer Ästhetik des Neobarocks im dritten Kapitel. Bei der Analyse der ästhetischen Strategien

|| 59 Siehe Foucault 1993, S. 15.

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der queeren Religionskritik zeigt sich die politische Wirksamkeit der Texte direkt im Inneren der Religionskultur. Ein wichtiger Beitrag in der kulturwissenschaftlichen Betrachtung der Religion, und insbesondere des Katholizismus, ist Mario Perniolas Del sentire cattolico. La forma culturale di una religione universale (2001). In seiner Studie versucht Perniola das Katholische jenseits des Gebotes und der Institution zu verstehen, „perciò tendo a vedere la essenza di questa [cattolicità] non nel credere, ma nel sentire, non nella professione di una dottrina, ma nella possibilità di un’esperienza specifica, che è tuttavia suscettibile di universalizzazione“ (2001, S. 11–12)60. Entgegen der reduktiven Vorstellung des Katholizismus als einer doktrinären Praxis zeigt Perniola, inwiefern das Katholische als eine kulturelle Form des Fühlens – der aisthesis, würde ich hinzufügen – im Zentrum des Katholizismus steht. Mit Bezug auf Ignacio de Loyola und Francesco Guicciardini versucht Perniola den Katholizismus von seinem Ursprung her als kulturelles Phänomen zu verstehen. Obwohl er bei der Trennung des Politischen vom Kulturellen teilweise sehr kategorisch verfährt, indem er das Dogmatische bloß als eine Reaktion des Katholizismus auf die Reform liest, so liegt seine Perspektive auf die Religion und damit auch ein neues historisch-affektives Verständnis von Religion als Wahrnehmung und Erfahrung diesem Buch zugrunde. Der Fokus des vorliegenden Buches beschränkt sich auf den katholischen Diskurs im Kontext der 1980er-Jahre in Kolumbien bzw. Österreich. Gegenstand sind sowohl seine Inhalte (Textkanon, theologische Abhandlungen, Ikonographie, Großerzählungen u.a.) als auch seine Formen (Rituale, Rhetorik, Doktrinen, Kirche u.a.), so wie sie von Winkler und Vallejo literarisch in Szene gesetzt werden. Die literarische Themenwelt des Frühwerks dieser Autoren speist sich aus der Religion als Religionskultur: Winkler dekonstruiert im katholischen Diskurs der Dorfgemeinschaft eine Religionskultur, die die patriarchalen, rassistischen, homophoben und misogynen Handlungen des Dorfes prägt. Vallejo greift in seinem Schreiben nicht bloß die Kirche und den Vatikan an, sondern auch das, was er unter „cristianismo“ versteht und im Grunde genommen als eine zweitausendjährige, naturzerstörende Ideologie darstellt. Die parallelen Angriffe auf Jesus, die Kirche, die katholische Moral, die Texte, die Sitten usw., die man in den Werken beider Autoren wiederfindet, deuten auf ein Konzept von Religion als Religionskultur: Damit wird keine scharfe Trennung zwischen Kirche und Glauben vorgenommen, wie sie im allgemeinen Verständnis von

|| 60 „[…] deshalb tendiere ich dazu, die Essenz dieser [Katholizität] nicht im Glauben, sondern im Fühlen zu sehen, nicht im Bekenntnis zu einer Doktrin, sondern in der Möglichkeit einer bestimmten Erfahrung, die dennoch zu einer Universalisierung fähig ist“ (meine Übersetzung).

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„Religion“ als notwendig erscheinen mag.61 Sowohl die Institutionen, als auch der Glaube, die Sitten, die Rituale und die Kunst werden unter diesem Begriff der Religionskultur subsumiert und in den Texten der beiden Autoren nicht differenziert behandelt. Die Kritik wendet sich vielmehr gegen die Religion als Ideologie und gesellschaftskonstituierenden Diskurs und legt damit den Begriff der Religionskultur als konzeptuelle Grundlage der Analyse nahe.

1.2 Die 1980er Jahre zwischen Kolumbien und Österreich: Kontextualisierung und Forschungsstand Überschrift zweiter Ordnung Die vorliegende Analyse vergleicht zwei geographische Kontexte, die trotz unterschiedlicher Amtssprachen, geopolitischer Situierungen, Geschichten, Geographien u.v.a., zumindest eine markante Ähnlichkeit aufweisen: In beiden Ländern hat der Katholizismus eine unumstrittene, mächtige Rolle in der Geschichte des Landes gespielt. Der historische Zeitraum, der in den Blick genommen wird, sind die 1980er-Jahre, die – nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil zwischen 1962 und 1965 und einer Art „Aufhebung“ der kulturellen Revolution des Jahres 196862 – als verstärkte Fortsetzung einer vermeintlichen Säkularisierung der Gesellschaft verstanden werden können. Fortgeschrittene Technologien der Kommunikation beschleunigten den sozialen und intellektuellen Wandel (Braidotti 2010, S. 4)63 in diesem neuen Kontext. Die Religion diente jedoch weiterhin als wichtiges Thema

|| 61 Die Einträge zum Wort „Religion“ in philosophischen Lexika bemühen sich darum, einen historisch nicht einheitlichen Begriff zusammenzufassen, der stets umstritten bleibt. Josef Schmidt versucht etwa in Bruggers und Schöndorfs Philosophischem Wörterbuch den philosophischen Begriff der Religion als das „Bewusstsein von einem Bereich, der unsere kontingente Welt überschreitet“ (2010, S. 407) zu definieren. Dies scheint zugleich die Definition zu sein, die Johann Evangelist Hafner in Daniel Weidners Handbuch Literatur und Religion als die plausibelste bezeichnet und die auf der Unterscheidung zwischen Immanenz und Transzendenz, sprich auf der Verdopplung des Realen (2016, S. 7) beruht. Da es aber im vorliegenden Buch nicht um das Religiöse als Denkmodus, sondern um seine Rolle in der Gesellschaft geht, wird der Begriff der Religionskultur zugrundegelegt. 62 Dieses eher französische Phänomen fand auch in Österreichs eine Resonanz, die sich nicht nur im Wiener Aktionismus, sondern in studentischen Aktionen wie der „Uni-Ferkelei“ im selben Jahr 1968 niederschlug (siehe Kriegleder, 2011, S. 484). 63 Rosi Braidotti und Diedrich Diederichsen beschäftigen sich in verschiedenen Texten explizit und ausführlich mit der Kultur der 1970er- und 80er-Jahre und sind somit ein geeigneter Referenzpunkt bei der Betrachtung dieses Kontextes.

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der Kulturproduktion beider Länder und sei es auch teils durch negative Bezugnahme, wie sich im vorliegenden Buch zeigt. Die 1980er-Jahre waren sowohl in Kolumbien als auch in Österreich das Jahrzehnt einer langsamen Veränderung der Rechtslage für Homosexuelle, die vom Totalverbot zu einer allmählichen Anerkennung ihrer Rechte führte. Das ganze Jahrzehnt gilt für beide Länder als ein historischer Moment des Kampfes um rechtliche Anerkennung, die sich meistens durch die nicht weniger diskriminierende Verschiebung einer Auffassung von Homosexualität vom Punitiven zum Pathologischen vollzog. Erst zu Beginn dieses Jahrzehntes wurde in Kolumbien im „Decreto Ley-100 de 1980“ die Strafe vom homosexuellen Geschlechtsverkehr abgeschafft, „pero sigue siendo considerada una enfermedad por la psiquiatría, un pecado por la Iglesia católica y, por consiguiente, una conducta aberrante y censurable por parte de la sociedad colombiana“ (Cortina Gulfo 2017, S. 153)64. Die Pathologisierung der Homosexualität war gerade der Preis für die Legalisierung der Homosexualität, aber die Diskriminierung setzte sich fort. Erst 1982 (13 Jahre nach Stonewall) fand der erste Protest Homosexueller in Bogotá statt. Dieser öffentliche Widerstand führte dazu, dass der Tatbestand der Diskriminierung in der Verfassung von 1991 verankert wurde, die insgesamt als Ausdruck einer sich als pluralistisch und partizipativ verstehenden neuen Republik galt, in der jedem Menschen alleine wegen seiner/ihrer Menschlichkeit alle Rechte zugesprochen wurden.65 Die offizielle Begründung des Verfassungsgerichts für die Neuformulierung der Verfassung stützte sich auf die Eliminierung einer göttlichen Instanz aus dem Gesetz, die in der alten Verfassung nicht nur die Sitten, sondern die Gesetze bestimmt hatte.66 Die 1980er-Jahre waren in Kolumbien somit Zeiten des Kampfes um die Anerkennung der sexuellen Freiheit aller Bürger*innen. In Österreich begann der Prozess der Legalisierung von Homosexualität im Jahr 1971 mit der sogenannten „Kleinen Strafrechtsreform“. Dabei wurden jedoch der homosexuelle Geschlechtsverkehr mit Minderjährigen, das Befürworten und Propagieren homosexueller Praktiken („Werbung für Unzucht mit Menschen des gleichen Geschlechts oder mit Tieren“), die homosexuelle Sexarbeit („gewerbsmäßige gleichgeschlechtliche Unzucht“) und die „Begünstigung gleichgeschlechtlicher Unzucht“ weiterhin bestraft.67 Die Nut-

|| 64 „[…] diese wird aber weiterhin von der Psychiatrie als eine Krankheit, von der Kirche als eine Sünde und dementsprechend von der kolumbianischen Gesellschaft als eine aberrante und tadelnswerte Tat verstanden“ (meine Übersetzung). 65 Siehe Cortina Gulfo 2017, S. 156. 66 Siehe Cortina Gulfo 2017, S. 156. 67 Siehe §273 des österreichischen Bundesgesetzes: Strafrechtsänderungsgesetz 1971.

Die 1980er Jahre zwischen Kolumbien und Österreich | 27

zung des Wortes „Unzucht“ deutet bereits auf eine noch implizite Homophobie in der Gesetzgebung hin, deren Akzentuierung – im Unterschied zu Kolumbien – nicht auf der Pathologisierung sondern auf einer Gleichstellung der Figur des Homosexuellen mit der des „homosexuellen Knabenschänders“ beruhte.68 Sowohl in Kolumbien als auch in Österreich bestrafte das Gesetz primär das mannmännliche homosexuelle Verhalten, das nun in Österreich – nach 1971 – schrittweise legalisiert wurde. Bis zum Diskriminierungsschutz (der erst 2004 durch die Europäische Menschenrechtskonvention vollständig garantiert wurde) und zur Legalisierung der eingetragenen Partnerschaft zwischen homosexuellen Bürger*innen (im Jahr 2009) vergingen noch viele Jahre. Die 1980erJahre waren somit der Beginn eines langen Kampfes. Die 1980er-Jahre waren zugleich allgemein politisch bewegte Zeiten in Kolumbien und Österreich. Der kolumbianische Drogenhändlerkrieg erfuhr seinen Höhepunkt in diesen Jahren, die als das ‚Jahrzehnt des Terrors‘ bzw. des narcoterrorismo bezeichnet werden können.69 Es handelte sich hierbei um den zweiten großen Ausbruch von Gewalt nach der Zeit der Violencia in den 1950erJahren, der neue verbreitete Formen der Gewalt wie das sicariato (Auftragsmördertum) hervorbrachte – ein Geschehen, das in Vallejos La virgen de los sicarios literarisch verarbeitet wird.70 Obwohl dieses Thema gerade nicht im Vordergrund der Pentalogie El río del tiempo steht, lässt sich die explizite Nostalgie des Ich-Erzählers der Texte als Ausdruck des Unbehagens der 1980er-Jahre und als Zeugnis einer hoffnungslosen Situation lesen. Wichtiger Teil dieses kontextuellen Rahmens ist die verbreitete Desillusionierung angesichts einer gescheiterten Revolution der Guerrillas, die auch zu einem gescheiterten Friedensprozess im Jahr 1984 führte.71 Diese Desillusionierung vollzog sich im Kontext eines Erstarkens verschiedener konkurrierender bewaffneter Gruppen (Drogenkartelle, Paramilitär, Staatsgewalt, M-19, ELN, EPL, FARC u.a.) und des Krieges, der die Literatur der Violencia, den Nadaísmo und Autoren wie Vallejo geprägt hat. Höhepunkte des Konfliktes und die größte Katastrophe jener Jahre waren sicherlich zwei Massaker: die systematische Vernichtung der Partei Unión Patriótica ab 198572 und, im selben Jahr, der Brand des Justizgebäudes und die darauffolgende staatliche Exekution vieler Zivilisten. || 68 Siehe Greif 2017. 69 Siehe López Díez 2017. 70 Zahlreiche Forschungsarbeiten haben sich mit diesem Roman Vallejos beschäftigt, um eine Diagnostik der Gewalt dieser Jahre vorzunehmen. Siehe etwa Ospina Pizano (2019), Buschmann (2009), von der Walde (2001 u. 2000), Ángel, (1999) u.v.a. 71 Vgl. Melo, 2017, S. 256. 72 Jorge Orlando Melo spricht von mehr als 4000 Ermordeten (2017, S. 264).

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Nach der Besetzung des Justizgebäudes durch die Guerilla M-19 im Jahr 1985 führte der Brand des Justizpalastes, bei dem die Verantwortung des Staates am Mord vieler unschuldiger Menschen offensichtlich wurde, zu einem gesteigerten Misstrauen des Volkes gegenüber dem Staat. Das Jahrzehnt der Unruhen kulminierte dann 1989 in der Ermordung des liberalen, populären Präsidentschaftskandidaten Luis Carlos Galán, einem großen Feind der in der Politik institutionalisierten Drogenkartelle. Parallel dazu wurde der Krieg gegen die Guerilla durch die Gründung neuer, illegaler paramilitärischer Gruppen verschärft. Diese Ereignisse führten dann im Jahr 1991 zu einer neuen Verfassung, die das Land zu einer Modernisierung auf allen Ebenen führen sollte:73 In dieser Verfassung wird, trotz des Gottesbezugs im Vorwort,74 die Laizität und die Religionsfreiheit des Landes rechtlich verankert,75 die in der vorherigen Verfassung nicht explizit Erwähnung gefunden hatten. Die Kirche blieb seit der Zeit des Frente Nacional76 eine wichtige politische Instanz (sie schrieb sich sogar teilweise in die neue Verfassung ein), aber sie sollte im Laufe der 1980er-Jahre in einem beschleunigten Prozess der Säkularisierung in Kolumbien deutlich an

|| 73 „Colombia sería ahora una democracia real, con un Senado elegido en forma que garantizara la representación proporcional de los partidos más pequeños, con alcaldes y gobernadores electivos, con una carta de derechos políticos, económicos y sociales que se apoyó en las aprobadas pocos años antes en otras constituciones progresistas, como la de Brasil, y con toda clase de mecanismos e instituciones para proteger a los ciudadanos de las arbitrariedades del Estado y sus funcionarios, así como de las limitaciones del sistema social“ (Melo, 2017, S. 270). „Kolumbien sollte nun eine echte Demokratie sein, mit einem Senat, der so gewählt werden sollte, dass eine proportionale Repräsentation der kleineren Parteien garantiert würde, mit gewählten Bürgermeistern und Landesvertretern und mit einer Charta politischer, ökonomischer und sozialer Rechte, die auf denjenigen [Chartas] basierte, die wenige Jahre zuvor in anderen progressiven Verfassungen, wie der Brasiliens, verabschiedet wurden und alle möglichen Mechanismen und Institutionen einschloss, um die Bürger vor der Willkür des Staates und seiner Funktionäre, sowie vor den Beschränkungen des Sozialsystems zu schützen“ (meine Übersetzung). 74 „[…] invocando la protección de Dios“ (Vorwort der kolumbianischen Verfassung) – „in Anrufung des Schutzes Gottes“ (meine Übersetzung). 75 „Se garantiza la libertad de cultos. Toda persona tiene derecho a profesar libremente su religión y a difundirla en forma individual o colectiva. Todas las confesiones religiosas e iglesias son igualmente libres ante la ley.“ (Título 2, Capítulo 1, Artículo 19) „Die Religionsfreiheit wird garantiert. Jede Person hat das Recht, sich frei zu ihrer Religion zu bekennen und sie individuell oder kollektiv zu verbreiten. Alle religiösen Konfessionen und Kirchen sind vor dem Gesetz gleichermaßen frei“ (meine Übersetzung). 76 So wird die Zeit zwischen 1958 und 1974 bezeichnet, in der die exekutive Macht nur von zwei Parteien abwechselnd ausgeübt wurde.

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Macht verlieren.77 Mitten in diesen gewaltgeprägten Jahren bildete sich zugleich eine kritische Haltung gegenüber dem Staat und somit der Verfassung heraus, die von verschiedenen, in der Kultur gut repräsentierten Stimmen vertreten wurde – wie zum Beispiel durch Fernando Vallejo. Im Bereich der lateinamerikanischen Kultur und Literatur müssen die 1980er-Jahre im Zeichen der Boom-Generation – des verlegerischen Erfolgs berühmter Romanautoren Lateinamerikas, vor allem von G. García Márquez, M. Vargas Llosa, J. Donoso, J. Cortázar und C. Fuentes – verstanden werden, die viele andere und alternative, meistens queere oder feministische literarische Positionen in den Schatten rückten (P. Lemebel, N. Perlongher, A. Caicedo, C. Lispector, R. Castellanos, R. G. Jattin, C. Peri Rossi, E. Garro, u.v.a.). Fernando Vallejo gehört zu einer Generation an der Schwelle zwischen der Boom- und der sogenannten Post-Boom-Generation: Man findet einerseits bei Vallejo die Thematisierung des globalisierten urbanen Raums, die als Merkmal von letzterer gilt,78 aber zugleich die charakteristische – bei Vallejo negative – Obsession der Boom-Generation mit der Heimat.79 Vallejo steht jedoch für eine neue Form postmodernen Schreibens in Lateinamerika, das als narrativas del yo bezeichnet wird: Jenseits eines allwissenden Erzählers einer durchweg fiktionalen magischen-realistischen Darstellung schrieben immer mehr neuere Autor*innen aus der Ich-Perspektive und brachten Selbstfiktionalisierungstechniken ins Spiel, wie zum Beispiel auch Juan José Saer oder Pedro Lemebel. All diese Autor*innen, die vor allem im Kontext eines neobarocken Schreibens während oder nach dem Boom gelesen werden, waren am Markterfolg des Booms nicht beteiligt – weder Vallejo noch z.B. Lemebel in Chile oder Germán Espinosa in Kolumbien. Sowohl in der Literatur der Boom-Generation als auch in der literarischen Produktion, die abseits dieses Erfolges stattfand, sowie im Film80 entstand zunehmend eine kritische Perspektive auf politisch-soziale Phänomene in Lateinamerika und in Kolumbien, die sich dann im Werk Vallejos widerspiegelte. Die 1980er-Jahre in Österreich waren zwar keine Jahre des Terrors, aber der intellektuellen Unruhen rund um politische Themen und zugleich des Misstrau|| 77 Siehe Fernán González, 1997, S. 283ff. 78 Jorge Volpi bezieht sich sogar auf La virgen de los sicarios als auf einen Klassiker dieser Generation (2009, S. 187). 79 Siehe Aristizábal, 2015, S. 25. 80 Mauricio Duarte betont die wichtige Rolle des Filmes im Kolumbien der 1980er-Jahre als Kontext des literarischen Schaffens Vallejos. Dabei hebt Duarte die Filme Victor Gavirias, Francisco Nordens und Sergio Cabreras hervor, die zu einer verbreiteten Reflexion über die Gewalt in Kolumbien geführt haben (2013, S. 178).

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ens gegenüber einer emphatischen Vorstellung von „Heimat“, die vor allem aufgrund ihrer Rolle im Nationalsozialismus fragwürdig geworden war. Nach dem Zweiten Weltkrieg kristallisierte sich eine österreichische Identität heraus, die sich affirmativ auf den von den Alliierten an Österreich verliehenen ‚Opferstatus‘ der Moskauer Deklaration vom 30. Oktober 1943 stützte und eine Rückkehr zum Status des Landes vor dem „Anschluss“ im Jahr 1938 beabsichtigte. Dies erlaubte in den ersten Jahren nach 1945 keine ausgeprägte oder offizielle kritische Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit,81 die somit erst ab den 1960er-Jahren82 und dann noch expliziter in den 1980erJahren stattfand. Die Literatur der Frühphase der Zweiten Republik wurde von Heimito von Doderer geprägt und damit von seinem realistischen Ton, seinem versteckten, entnazifizierenden Übergang vom NSDP-Mitglied zum neuen Staatsautor und „der künstlerischen Konstruktion und der Zurückweisung jeglichen ideologischen Überbaus“ (Kriegleder, 2011, S. 464). Dies erlaubte einigen, über einen weit verbreiteten „Konsens des Schweigens“ zu sprechen, der unmittelbar nach 1945 begann und bis in die 1960er-Jahre hineinreichte.83 Das österreichische Theater kann als Beispiel für diese historischen Entwicklungen dienen.84 Das Schweigen lässt sich auch als Fluchtversuch vor der jüngsten Vergangenheit verstehen, wie er in der spätavantgardistischen Bewegung der 1950er-Jahre, der sogenannten ‚Wiener Gruppe‘ zu finden ist.85 Nach der demo|| 81 Evelyne Polt-Heinzl bemerkt, dass es wohl eine Thematisierung und Auseinandersetzung mit dem Terror der NS-Zeit gegeben habe (2013, S. 15), man denke z.B. an Ilse Aichingers Die größere Hoffnung oder an Milo Dors Werke u.a. Diese erinnernde Auseinandersetzung hat aber auf explizite Weise erst ab den 1960er Jahren in der Politik und in der Kultur stattgefunden und ist gleichzeitig zum prägenden Phänomen der sogenannten ‚Anti-Heimatliteratur‘ geworden. Dies ging einher mit der zunehmenden internationalen Rezeption prominenter österreichischer Autoren wie eben Bernhard oder Winkler. 82 „[D]ie Blickrichtung in der Literatur […], [die] nach 1945 vom Krieg geprägt war, begann sich immer mehr dem Staat, dem Land und seiner Identität, dem Vater-Staat und dem VaterLand, zuzuwenden. Vorerst wenig beachtet, zeigte sich während der jugendbewegten Sechzigerjahre immer deutlicher eine tragende psychologische Realität: wovon man lebt, dem wenden sich Aufmerksamkeit, Emotionen, Unbehagen und natürlich Kritik zu“ (Kraus, 1999, S. 591). 83 Dieser Konsens wird von Dagmar C. G. Lorenz (2006) als „Postwar Repression of Memory“ bezeichnet, ein Begriff, der eher auf eine Verweigerung des Erinnerns und weniger auf ein passives Nicht-Ausgesprochen-Werden hinweist. Ab den 1980er-Jahre verbreitete sich dann eine kulturelle Praxis der Erinnerung an die eigene Vergangenheit. 84 Siehe Grossegger, 2013. 85 „[D]ie Gegenwärtigkeit ungeheurer Probleme der jüngsten Vergangenheit, die in jedem der älteren Zeitgenossen arbeitete, wurde gerade von den Aktionisten des ‚Exils‘ kaum bemerkt und jedenfalls nicht einbezogen. Wie eine ‚schwarze Romantik‘, wie ‚schwarze Messen‘ gab es

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kratisierenden Regierung des jüdisch stämmigen Bruno Kreiskys86 (von 1970 bis 1983) markierte die Waldheim-Affäre von 1986 einen Höhepunkt in der Debatte rund um die Revision des ‚Opfermythos‘ Österreichs im Zweiten Weltkrieg, der bundesweite und breitere Auswirkungen als der 1962 geführte Prozess gegen den Dozenten Taras Borodajkewycz hatte. Diese Geschichtsskepsis oder -kritik stand gemäß Herbert Zeman87 in Verbindung mit einer Sprachkritik und ereignete sich daher insbesondere auch im Feld der Literatur. Erst zu dieser Zeit, mangels einer ausgeprägten Entnazifizierungspolitik, fing Österreich an, in öffentlichen Debatten und Kulturereignissen über seine Beteiligung am Horror des Nationalsozialismus nachzudenken. Dabei entstand in der Kultur eine Tendenz zum Anti-Heimat-Gefühl und zur Österreich-Kritik, die exemplarisch in Thomas Bernhards autobiographischen Schriften (vor allem in Die Ursache) Ausdruck fand. Essayistisch kann man auch diese vor „Provokationen und Konfrontationen nicht zurückscheuende Darstellung Österreichs“ (Zeman, 1999, S. 669) in Josef Haslingers Politik der Gefühle und in Robert Menasses Essays wiederfinden. Die österreichische Identität, die plötzlich in der neuen Erinnerungs- und Anti-Heimatkultur zum Problem wurde, führte, wie das Beispiel Josef Winklers zeigt, zur Entstehung von „Selbstfindungsgeschichten“, die vor allem das dörfliche Leben mit einem anti-idyllischen Ton thematisierten.88 In den folgenden Kapiteln wird sich immer deutlicher zeigen, inwiefern die Religionskritik Winklers in einer tieferen Dimension eine Denunziation des in der dörflichen Kultur nach dem Zweiten Weltkrieg fortbestehenden nationalsozialistischen Geistes ist. Diese Problematik wird dann in einem seiner letzten, denunziatorischen Bücher Laß dich heimgeigen, Vater oder Den Tod ins Herz mir schreibe (2018) ausführlich behandelt.

|| einen ‚schwarzen Eskapismus‘, eine Flucht aus der konkreten Wirklichkeit in verschiedenste oft sehr effektvolle Wolken eines wiederauferstehenden Surrealismus. […] [D]ie ‚Wiener Gruppe‘ gehörte nämlich bereits zu den Vorläufern einer Nachkriegsgeneration, die von den grauenvollen Ereignissen und der Last der schweren Existenzprobleme nichts mehr wissen wollte“ (Kraus, 1999, S. 584–585). 86 Vgl. Kriegleder, 2011, S. 482. 87 Siehe Zeman, 1999, S. 669. 88 „In der österreichischen Erzählliteratur der Siebziger- und Achtzigerjahre hat ein Schreibansatz besondere Bedeutung gewonnen: die Selbstfindungsgeschichte. Gemeint ist eine die Muster des Entwicklungs- und Bildungsromans adaptierende oder auch konterkarierende, damit jedenfalls nicht identische Erzählform, die sich mit einem autobiographischen Impuls verbindet und in unterschiedlichen Ausprägungsweisen entgegentritt. […] Ihre gängige Bezeichnung als ‚Anti-Heimat-Literatur‘ erscheint als analytischer Begriff nur bedingt brauchbar […]“ (Fischer, 1999, S. 481).

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Diese Ausbreitung einer Erinnerungskultur korrelierte mit der Entstehung der populistischen Partei FPÖ unter der Führung des populären Politikers Jörg Haider, der Winkler in verschiedenen Schriften angriff. Sowohl die Besinnung auf die Schuld Österreichs als auch die Entstehung einer neuen populistischen Bewegung markieren somit die 1980er-Jahre als eine Zeit der politischen Spannungen. Und inmitten dieser Spannungen schreibt Wendelin Schmidt-Dengler über die zunehmende Beschäftigung mit der Frage nach dem ‚Österreichischen‘ (mit Claudio Magris, Ulrich Greiner u.a.) in der deutschsprachigen Literatur und über die „Erfolgsserie der österreichischen Literatur um 1980“.89 In diesem Kontext des Entsetzens über die problematische Rolle des Staates und der Heimat kristallisiert sich um 1980 ex negativo eine österreichische Tradition heraus, die mit Wut aufgeladen war. Die 1980er-Jahre sind auch, aus einer westlich-globalen Perspektive betrachtet, eine Zeit der Herausbildung verschiedener politischer Widerstandsdiskurse und einer neuen Pop-Kultur, die im Falle Winklers eine wichtige Rolle spielt: So verweist Winkler auf John Lennons Tod90 und zitiert Songs der Beatles sowie die Beatles als popkulturelles Phänomen selbst: „und [ich] sehe auf Jesus brünettes Beatleshaar“ (MS 697). Die Entwicklung neuer Massenmedien und die damit zusammenhängende Popularisierung verschiedener Kulturbereiche, zu denen auch weiterhin die Religion zählte,91 waren ein zentraler Faktor in der kulturellen Entwicklung der Zeit – in Kolumbien begann z.B. der Fernseher als Medium eine wichtigere Rolle in der Kultur und in der Politik zu spielen.92 Nicht nur der Katholizismus trat in eine neue Phase der Popularisierung ein, sondern auch verschiedene Formen des Religiösen und Spirituellen (Buddhismus, New Age etc.), die als interkulturelle Widerstandsformen genutzt wurden, da sie die politische Seite der Religion ausdrücklicher an die Oberfläche brachten: „Aktio-

|| 89 Siehe Schmidt-Dengler, [1995] 1996, S. 374 u. 377. 90 „Als John Lennon ermordet wurde, hörte man in den österreichischen Medien Schreie des Entsetzens und der Empörung über diese Tat“ (MS 780). „Auf einem Bild in der Kronenzeitung sah er, wie der Leichnam John Lennons in einen Plastiksack gepackt weggetragen wurde“ (MS 789). 91 Hubert Knoblauch bezieht sich auf das Phänomen der „populären Religion“ im neuen Zeitalter des medialen Marktes in seinem Artikel (2000). Die These Knoblauchs wendet sich gegen eine vermeintliche Weiterentwicklung einer totalen Säkularisierung in Zeiten der medialen populären Kultur. 92 Mauricio Duarte sieht gerade im Fall Kolumbiens eine zunehmende Bedeutung des Fernsehers im politischen Feld der 1980er-Jahre, die sich insbesondere in den Konsequenzen der Übertragung der tragischen Ereignisse der Besetzung des Justizpalastes und des Erdrutsches von Armero zeigte (2013, S. 176).

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nismus und Religiosität waren wie zwei Brüder“ (Diederichsen, 1985, S. 37). Diese Popularisierung des Religiösen hat, so Diedrich Diederichsen, mit einer verbreiteten „Idee des Weiter“ (ebd.) zu tun, die sich in allen Gebieten der Kultur zeigte. Die Zeit war geprägt von einer Vielzahl verschiedener emergierender Diskurse, die teils miteinander in Konflikt traten und sich nicht als ein einheitlicher Kontext verstehen lassen. Diederichsen sieht etwa in der Punk-Bewegung die Essenz des Zeitgeistes der 1980er-Jahre, die in ihrer anarchistischen Positionierung ein Ausdruck der Desillusionierung gegenüber dem progressiven Denken der 68-Revolution war: „Punk stood the idealistic, optimistic, future-oriented, progressive perspective of the 1968 movement on its feet. […] It could just as easily refer to a pessimistic, nihilistic, sceptical, regressive contact with the ground“ (2018, S. 31). Das im zweiten Kapitel skizzierte misanthropische und zynische Schreiben93 Winklers und Vallejos kann im Kontext dieser medial verbreiteten populären Punk-Desillusionierung gelesen werden. In dieser Zeit war, so Diederichsen, zudem die Vorstellung Jean Baudrillards von einer medial generierten Transparenz prominent, die jegliche Annahme einer Tiefe oder Leidenschaft in der Kultur verunmöglichte: Es entstand ein Vakuum an linkem Engagement, das im Zeichen des ‚Situationismus‘ stand.94 Jürgen Oberschelp liest diesen im Begriff der Simulation impliziten Situationismus als Teil einer Popästhetik dieser Jahre, die sich durch ein Recycling von Texten in Form von Zitaten konstituierte und zu einer Hervorhebung des Scheins und der Oberfläche führte.95 Vallejos ausdrückliche Ablehnung des Sozialismus kann in diesem Sinne auch im Kontext eines Gefühls des ‚Endes der Ideologien‘ verstanden werden: Die Ideologien hatten ihre Wirkungskraft verloren und es blieb nur ihr leerer Schein übrig. Die Zeit der Sinnentleerung und Desillusionierung war aber auch eine der konkurrierenden Affekte: Diederichsen macht drei „basic emotions“ der 1980er-Jahre aus: „the feeling of unreality […], the sense of standstill […], and the looming apocalypse […]“. Sie gehen einher mit einem „state of depression enjoyed with a great deal of pathos, as well in a state of apocalyptic seriousness“ (2018, S. 36). Diese paradoxen, extremen und exaltierten Affekte || 93 Der Bezug auf den Zynismus wird im zweiten Kapitel ausführlich erklärt: Es geht um die Eigenschaften des zynischen Denkens, die Peter Sloterdijk in seiner Kritik der zynischen Vernunft darlegt. Es handelt sich um eine zornige, denunziatorische, auf den Körper hinweisende und manchmal parodisierende Kritik, die m.E. auch im Zusammenhang mit der PunkBewegung betrachtet werden kann. 94 Vgl. Diederichsen, 2018, S. 34–35. 95 Siehe Oberschelp, 1991. Diederichsen bezieht sich in einer früheren Schrift ebenso auf diese Kultur des Zitats als „Zitat-Pop-Kultur“ (1985, S. 109).

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sollten mit neuen „ideas and ideals of artificiality“ (ebd.) zusammengedacht werden, die zur im dritten Kapitel beschriebenen Ästhetik des Neobarocks passen. Das medial verbreitete Oberflächliche oder Scheinhafte dominierte in dieser Hinsicht jene Dekade. Diederichsen besteht jedoch auf der Feststellung, dass die Punk-Bewegung sehr mannigfaltig war: Im Gegensatz zum anarchistisch-desillusionierten Punk waren jene Jahre auch die Zeit des Aufkommens verschiedenster engagierter Bewegungen, d.h. die Zeit von „new forms of resistance“ (Braidotti, 2010, S. 2): Mit dem Aufkommen der „feminist, post-dictatorship, postcolonial and queer politics“ (Aikens, Grandas, Haq, Herráez & Nataša, 2018, S. 10) artikulierten sich in der Kultur, Politik und Philosophie verschiedene Subjektivitäten und machten ihre Position in der Gesellschaft sichtbar. Das Subjekt, betrachtet im Gefüge der Machtverhältnisse, wird zum Objekt nicht nur des kritischen Denkens, sondern einer politischen Agenda.96 Dies ist besonders wichtig für die Begründung meines Textkorpus: Die 1980er-Jahre, entscheidend durch die Ausbreitung von HIV und die tragischen Konsequenzen von AIDS geprägt, machen aus dem queeren Subjekt ein politisch aktives, zugleich bleibt dies aber weiterhin ein minoritäres Thema in der westlichen Politik und Theoriebildung. Die HIVEpidemie machte eine Struktur der Macht sichtbar und führte zu neuen „intersectional politics“, die eine biopolitische Einteilung der Gesellschaft in Minderheiten und Risikogruppen jenseits der Frage der sexuellen Identität in den Blick nahmen.97 Diese verschiedenen Diskurse des Widerstands entstanden vor allem als Antwort auf eine globale Hinwendung zu rechter Politik (beginnend vor allem mit den Regierungen Margret Thatchers und Ronald Reagans und mit dem Verfall der Sowjetunion),98 die die Angriffe auf die queeren Subjekte verschärfte. Mitten in der Krise scheint sich jedoch ein Drang zum Widerstand auf verschiedenen Ebenen entwickelt zu haben, wobei die poststrukturalistische Theoriebildung in Frankreich eine wichtige Rolle spielte.99 Daher nimmt das vorliegende Buch immer wieder Bezug auf diese Denktradition, die, so Braidot-

|| 96 In der Diagnostik der 1970er- und 80er-Jahre in Sexbeat. 1972 bis heute (1985) bezieht sich Diederichsen auf eine Bohème-Kultur des Weiter, die eine Kritik implizierte, die immer neue Subjekte erschuf (1985, S. 24). 97 Vgl. Diederichsen, 2018, S. 42. 98 Vgl. Braidotti, 2018, S. 17. 99 „The progressive politics as well as intellectual life of the eighties were dominated by the multiple energies emanating from Paris“ (Braidotti, 2018, S. 18). Braidotti betont vor allem die Wichtigkeit des französischen Denkens der Zeit (besonders jenes Kristevas, Irigarays und Cixous) in der Etablierung eines feministischen Denkens in der Theoriebildung der USA und Frankreichs.

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ti, einen deutlichen politischen und theoretischen Einfluss auf die Gesellschaft der Zeit hatte. Braidotti verortet in diesem Kontext die Entstehung eines posthumanen Denkens, das mit dem neuen Stellenwert ökologischer Diskurse einhergeht und das bis heute noch den politischen Kontext prägt. Die vorliegende Studie bezieht sich aus diesem Grund auf die ‚Zoopoetik‘ im Werk beider Autoren. Als Zeit der Transitionen und Veränderungen scheint das Jahrzehnt der 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts schwer fassbar zu sein; einige Aspekte treten jedoch bei der Untersuchung der Werke Vallejos und Winklers besonders ins Licht: die verschärfte Staatskritik während des Jahrzehnts des Terrors in Kolumbien, die verbreitete Anti-Heimat-Einstellung im Zusammenhang mit der Revision des Opfermythos in Österreich, die medialen Veränderungen und ihre beschleunigte Globalisierung (die einen Einfluss auf die Wende zum PostBoom in der lateinamerikanischen Literatur hatte), die verbreitete Desillusionierung, die HIV-Epidemie und die Folgen für die politische Positionierung queerer Subjekte, die erneute Popularisierung neuer rechter Politiken im Westen, die vermeintliche Säkularisierung des Staates in Kolumbien und die neue posthumane Theorie und ökologische Besinnung. Weder eine komparatistische Studie zur Beziehung zwischen Homosexualität und Katholizismus in der Literatur noch zu einer queeren Religionskritik in der europäisch geprägten Literaturtradition wurde bisher verfasst. Diese Tatsache mag überraschen, da die konflikthafte Beziehung zwischen Homosexualität und Religion diverse ästhetische Konventionen hervorgebracht hat. Auch eine komparatistische Analyse, die kolumbianische und österreichische Literaturen vergleicht, steht bisher noch aus.100 Das Verständnis peripherer Literaturen als Bestandteil der westlichen Literaturtradition, vor allem unter Berücksichtigung der langen Geschichte katholischer Kunstformen und schwuler Kulturtraditionen, erlaubt es, einen horizontalen Vergleich von Kunstformen verschiedener Kontexte der westlichen Kultur vorzunehmen – ein Ansatz, der bis heute sehr vernachlässigt wurde.101

|| 100 Eine vergleichende Studie zu den autobiographischen Schriften Thomas Bernhards und Fernando Vallejos wurde in Form einer Doktorarbeit von Natalia Villamizar unter der Leitung von Ottmar Ette in Potsdam angefertigt. 101 Hervorzuheben als vergleichende, nicht vertikal-wertende Analysen lateinamerikanischer und europäischer Literaturtraditionen im deutschsprachigen Raum sind besonders die Arbeiten des Philosophen Heinz Krumpel – jedoch in der Disziplin der Philosophie (2006) –, der Lateinamerikanistin Susanne Klengel – mit einem Fokus auf der literarischen Wechselbeziehung Lateinamerikas mit den französisch-sprachigen Literaturen zu Beginn des 20. Jahrhunderts (1994, 2011) –, des Komparatisten Stefan Kutzenberger – mit seiner Studie zu Grande

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Zahlreiche Dissertationen und Sammelbände wurden in der Winkler- und Vallejo-Forschung veröffentlicht. In Bezug auf Josef Winklers Werk wurde bereits seine Auseinandersetzung mit dem Katholizismus in verschiedenen Artikeln thematisiert. Die Mehrheit der Publikationen zu seinem Werk beschränkt sich zumeist jedoch auf vergleichende Studien innerhalb der deutschsprachigen und/oder europäischen Literatur oder auf die interkulturellen Aspekte im Spätwerk des Autors.102 All diese Artikel betonen den interkulturellen Hintergrund von Winklers Schreiben, der jedoch erst in der Schaffenszeit nach seiner Trilogie zum Tragen kommt und daher für das Frühwerk, das hier untersucht wird, keine wesentliche Rolle spielt. Die Forschungsliteratur hat bereits die ambivalente Beziehung Winklers zum Katholizismus aufgezeigt. Diese Ambivalenz wurde vor allem von Brigitte Schwens-Harrant hervorgehoben: „Bei aller Abscheu: die religiösen Bilder bleiben“ (2009, S. 82).103 Auf den Ansatz Schwens-Harrants, Winklers Werk als ambivalentes Schreiben zwischen Profanation und Sakralisierung zu verstehen, bezieht sich die vorliegende Analyse, die darauf zielt, diese Ambivalenz im Sinne einer queeren Religionskritik zu lesen. Dabei lassen sich die Lektüren

|| Sertão und der europäischen Literaturtradition (2005) –, oder der Komparatistin Martina Kopf – mit ihrer vergleichenden Studie zum Alpinismus und Andinismus (2016). 102 Einige Arbeiten, die sich entweder nicht auf den hier im Zentrum stehenden Textkorpus beziehen, die Religion bei Winkler aus einem anderen Blickwinkel behandeln oder einen anderen Schwerpunkt bei der Lektüre setzen, wären folgende: die Dissertation Christian Schenkermayer zur Interreligiösität in Winklers Domra (2020), Simone Brühls Buch zum ethnographischen Schreiben bei Winkler und H. Fichte (2013), Maria Ioana Sarcas Dissertation zum Existenzialismus im Werk Winklers und E. Ciorans (2008), Friedbert Aspetsbergers Buch zu Winklers Roppongi (2008), Kristina Werndls Buch zu Winklers Leichnam, seine Familie belauernd (2005), Rainer Fribolins Buch zu F. Innerhofer und Winkler (1989), Narjes K. Kalatehbalis kulturanthropologische Studie zur postkolonialen Alterität im Werk Winklers, E. Canettis und G. Grass’ (2005), Carmen Ulrichs Dissertation zu Indienbeschreibungen im Werk Winklers u.a. (2003), Karin Baumgartners Studie zur Reiseliteratur in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (2019), Sarah Monreals Dissertation zur Intertextualität bei Winkler im Vergleich zu C. Kracht und F. Hoppe (2017). 103 Nennenswert sind insbesondere drei Artikel von Brigitte Schwens-Harrant, die sich genau mit dem Thema des vorliegenden Buchs beschäftigen, deren Fokus hier aber im oben genannten Sinne erweitert werden: in Schwens-Harrant 2009 werden die „Sprachbilder“ Winklers in Bezug auf die religiösen Todesdarstellungen thematisiert; in Schwens-Harrant 2015 wird die Form der Litanei als wichtiger Bestandteil von Winklers Schreiben analysiert; und in SchwensHarrant 2014 spielen die „Verschiebungen“ vom Sakralen zum Profanen und andersherum eine wichtige Rolle als Bestandteil der Struktur von Josef Winklers Gesamtwerk.

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Friedbert Aspetsbergers und seine These einer Überschreibungsstrategie bei Winkler, die in meiner Arbeit wiederaufgenommen wird, miteinbeziehen.104 In Bezug auf die Homosexualität bei Winkler muss Dirck Lincks Dissertation Halbweib und Maskenbildner (1993) hervorgehoben werden, in der die Frage der Homosexualität im Konflikt zwischen Erfahrung und konzeptueller heterosexueller Maskierung thematisiert wird. Lincks Dissertation hat die Zuordnung Winklers zu einer Literaturtradition, die als ‚schwul‘ bezeichnet werden kann, begründet. Dabei versteht er das Bild der Maske oder Maskerade als wichtigen, politischen Bestandteil des schwulen Schreibens, als Metapher einer Befreiung schwuler Subjekte von den sozialen, homophoben Verhältnissen. Die komparatistische Perspektive Lincks dient als Bezugspunkt meiner Analyse, obwohl sich Linck nicht im Vordergrund dem Konflikt mit der katholischen Religionskultur widmet. Seine Studien ermöglichen es zwar, den Autor im Rahmen einer schwulen Literaturtradition wahrzunehmen, er liest Winkler jedoch ausschließlich im Vergleich mit europäischen Texten. Robert Walter-Jochums Dissertation Autobiographietheorie in der Postmoderne (2016) analysiert aus einer komparatistischen Perspektive das postmoderne Autobiographische in den Werken Winklers und anderer Autor*innen. Seine Überlegungen dienen als Bezugspunkt im ersten Kapitel des vorliegenden Buchs; sie erfassen jedoch nicht die religionskritische Perspektive dieser anderen, queeren Art und Weise, sich auf das Leben im Schreiben zu beziehen. Walter-Jochums Arbeit nimmt eine komparatistische Analyse des Autobiographischen im Werk Winklers vor, die allerdings im vorliegenden Buch zugunsten der queeren Perspektivierung auf die katholische Lebenserzählung in den Hintergrund rücken wird. Das Textkorpus meiner Analyse umfasst auch nicht nur autobiographische Texte, sondern versucht vielmehr, den Fokus auf das Leben des Autors auch zu problematisieren. Eine weiterführende Betrachtung der Möglichkeit einer queeren Autobiographie steht noch aus. Die Monographie Maria Irods Josef Winkler – literarische Stillmittel (2018), in der ein Überblick über Winklers ganzes Werk gegeben wird, beantwortet einige allgemeine Stilfragen. Die vergleichende Methode lässt sich auch ansatzweise in Irods Arbeit wiederfinden, jedoch wird dort fast ausschließlich ein Vergleich mit deutschsprachigen Texten vorgenommen. Die intermedialen und intertextuellen Bezüge, die hier aufgezeigt werden, werden nicht mit einer queeren Religionskritik in Bezug gesetzt, sie erfassen jedoch einen großen Teil der Intertextualität, in deren Rahmen Winklers Werk notwendigerweise zu verstehen ist. Im Sammelband von Christiane Ivanovic und Alexandra Millner, Die Entsetzungen || 104 Siehe Aspetsberger, 1993 u. 1997.

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des Josef Winklers (2014), werden einige relevante Aspekte von Winklers Texten diskutiert, die vor allem das Ambivalente darin hervorheben.105 Die ausführliche Analyse Dana Pfeiferovás zu den Todesbildern im Werk Winklers wird hier in Bezug auf die neobarocke Darstellung des Todes weitergeführt.106 Im Allgemeinen lassen sich folgende markante Linien in der WinklerForschung herausstellen: die große Mehrheit der Texte beschäftigt sich mit Werken, die nach Das wilde Kärnten erschienen sind; es gibt wenige vergleichende Studien, die das Werk Winklers aus einer globalen Perspektive lesen; nur wenige (Linck z.B.) setzen das Werk Winklers mit theoretischen bzw. philosophischen Diskursen in Bezug, stattdessen beschränken sich die meisten auf eine textimmanente Lektüre des Werkes; ein großer Schwerpunkt der WinklerForschung liegt in der Behandlung der Frage der Interkulturalität, die erst in einer späten Schaffensphase expliziter zum Ausdruck kommt. Die vorliegende Studie hingegen versucht im Vergleich nicht nur mit europäischen Literaturen das Werk Winklers im Rahmen einer queeren und einer katholischen Literaturtradition zu lesen. Auch zu Fernando Vallejo gibt es zahlreiche Monographien: Oswaldo Ortegón Cufiños Buch Religión, política y lenguaje en Fernando Vallejo versucht das Werk des kolumbianischen Autors anhand der im Titel genannten Hauptthemen zu analysieren. Im Zentrum steht jedoch nicht das Frühwerk, sondern vor allem La virgen de los sicarios. Besonders wichtig für die vorliegende Untersuchung ist nicht nur der spezifische Fokus Ortegóns, der auf der Wechselbeziehung zwischen Religion, Sprache und Politik liegt, sondern auch seine Analyse der Ambivalenz im Werk Vallejos, die er auf die anarchistische Tradition Bakunins zurückführt.107 Ortegón hebt auch die Verfahren der „automarginación“ und der Verteidigung der Homosexualität als Teil eines ethischen Programms hervor, das hier im zweiten Kapitel näher betrachtet wird.108 Der hier auch zu findende Bezug auf Deleuze und Guattari geht nicht nur auf Ortegóns Arbeit zurück,109 sondern auch auf Fernando González Santos Monographie zur deleu-

|| 105 Etwa Klaus Amans Beitrag zum ambivalenten Verhältnis Winklers zu seiner Vergangenheit und zur „Schreibkraft“ des Autors gegen den Schrecken des Todes (2014); Daniel Langes und Stefan Lessmanns Beitrag zur Metaphorik des Vogels, der in Bezug auf die Tierdarstellungen eine relevante Thematik anspricht (2014); Bernard Banouns Arbeit zu den „Figuren des Gegensatzes“ in Winklers Werk, die auch das Ambivalente betont (2014), und der bereits erwähnte Beitrag von Schwens-Harrant (2014). 106 Siehe Pfeiferová, 2007. 107 Vgl. Ortegón Cufiño, 2016, S. 82ff. 108 Vgl. Ortegón Cufiño, 2016, S. 98. 109 Vgl. Ortegón Cufiño, 2016, S. 91ff.

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zianischen Lektüre der Todesthematik bei Vallejo.110 Juanita C. Aristizábals Monographie zur Metaphorik der Rückkehr im Werk Vallejos berührt eine Thematik, die hier in Bezug auf die Pentalogie relevant ist, die jedoch bei Aristizábal nur in Hinblick auf die berühmtesten Publikationen Vallejos aufgezeigt wird (La virgen de los sicarios und El desbarrancadero). Aristizábal betrachtet Vallejos Werk als eines, das zurück zum Problem der Moderne führt und sogar gegen diese zu agieren versucht (sie bezieht sich auf Vallejos Obsessionen mit dem Dandytum, mit dem modernismo hispanoamericano sowie auf die Präsenz einer Dekadenz-Ästhetik u.a.)111. Die Rückwärtsgewandheit seines Werkes – die in der Nostalgie des Ich-Erzählers durchgehend manifest wird – führt Aristizábal zu dem Schluss, Vallejo versuche, eine Kritik der Postmoderne zu leisten.112 Das vorliegende Buch wird hingegen zeigen, wie sehr Vallejo am Denken seiner Zeit teilhat (Sarduy, Deleuze usw.), und somit gegen die immer wieder geäußerte Behauptung eines dezidiert konservativen Schreibens Vallejos argumentieren. Dabei stellt sich heraus, dass sein an der Oberfläche als reaktionär erscheinendes Werk (wie es Pablo Montoya in seinem berühmten Artikel zu Vallejo bezeichnet)113 eine tiefere, progressive, queere Kritik enthält, die nicht zu übersehen ist. Schließlich dient auch Juan Álvarez Studie zur Beleidigung in der kolumbianischen Geschichte und Kultur und sein Blick auf das Werk Vallejos in diesem Buch als Bezugspunkt, um im zweiten Kapitel eine Analyse der Rhetorik und Poetik der Beleidigung vorzunehmen.114 Álvarez sieht Vallejo als wichtiges Beispiel für eine Politik Kolumbiens, die sich immer durch ‚Spracherwärmungen‘ bewegt hat: Die Beleidigungskunst Vallejos ist somit Teil eines politischen Diskurses des ganzen Landes. Einige Monographien beschäftigen sich mit Fragen rund um die ‚Autofiktion‘ im Werk Vallejos, die aber gerade nicht im Zentrum des vorliegenden Buchs stehen.115 Einer der wichtigsten Texte in der ganzen Vallejo-Forschung ist Diana Diaconus Monographie zur Autofiktion, in der sie einige Thematiken in Bezug auf das Textkorpus behandelt, die im zweiten Teil relevant sein werden (vor allem der Zynismus im Werk Vallejos). Diaconus Monographie setzt sich als Ziel, anhand des Werkes von Vallejo die Rolle der Autofiktion als literarischer Gattung im lateinamerikanischen Kontext herauszuarbeiten, deren Wirksamkeit || 110 Siehe González Santos, 2006. 111 Vgl. Aristizábal, 2015, S. 14. 112 Vgl. Aristizábal, 2015, S. 15. 113 Vgl. Montoya, 2008. 114 Siehe Álvarez, 2018. 115 Besonders ausführlich wird diese Thematik in folgenden Publikationen behandelt: Villena Garrido (2009) und Musitano (2017).

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sie in ihrer Funktion als subversiver, entgegengesetzter Gattungsform sieht.116 Dabei hebt Diaconu das Zynische dieser Gattung hervor, in dem sich eine für das Werk Vallejos wesentliche Positionierung innerhalb des literarischen Feldes ausdrückt. Ein weiterer Fokus der Vallejo-Forschung liegt in der Analyse der Gewalt und ihrer Darstellung im Werk des Autors.117 In diesem Bereich finden sich auch die zahlreichen Analysen zum sicariato und zur Form der sogenannten narconovela in der Narrativik Vallejos, die aber vor allem La virgen de los sicarios betreffen, einen Text, der nicht im Korpus berücksichtigt wird.118 Das vorliegende Buch versteht sich nicht als Beitrag zur aktuellen Forschungsdebatte rund um den Begriff der Autofiktion, weil es von der Annahme ausgeht, dass jede Lebenserzählung Teil einer fabulación (Molloy) im Sinne einer ‚Selbstfabulation‘ verstanden werden soll. Die Referenzialität der Autobiographie oder der Autofiktion impliziert ein komplexes philosophisches Problem, das jenseits des Rahmens meiner Untersuchung liegt. Das aus der Begriffsprägung Doubrovskys hervorgegangene und weit verbreitete Verständnis der Autofiktion als Zwischenraum der Gattungen des Romanesken und Autobiographischen setzt nicht nur die Annahme eines rezeptionsästhetischen Paktes, sondern auch die Hypothese beweisbarer Fakten im Schreiben oder der Möglichkeit einer wahrheitsgemäßen Erzählung voraus, die im Autofiktionalen aufgehoben wird.119 Daher wird hier zwar die Technik der Fiktionalisierung – wenn diese explizit markiert wird – thematisiert, aber mit dem Begriff der Autobiographie als einer literarischen Gattung gearbeitet, die bereits Fiktionalisierungs- bzw. Selbstfiktionalisierungsprozesse beinhaltet.120 Da diesem Buch zudem eine produktionsästhetische Perspektive zugrunde liegt, die literarische

|| 116 Vgl. Diaconu, 2013. 117 Die zwischen Vallejo und R. Fonseca vergleichende, monographische Analyse von María de los Ángeles Romero steht hier an erster Stelle (2014). 118 Siehe Fonseca 2016, Cardona López 2000, Buschmann 2009, Hoyos 2015, von der Walde 2001 u. 2000 u.a. 119 Barbara Mariacher bestreitet sogar, dass es sich bei Das wilde Kärnten um eine Autobiographie handelt, da sie diese Trilogie eher im Rahmen einer Aufdeckungstradition surrealistischer Bildschöpfung liest (2020, S. 131–132). Trotzdem lassen sich autobiographische Züge im Text wiederfinden, deren Referenzialität jedoch dem Denunziatorischen und Enthüllenden unterzuordnen ist. 120 In zahlreiche Abhandlungen zum Thema wird gerade auf diese sprachtheoretischen, epistemologischen und ästhetischen Schwierigkeiten hingewiesen: etwa bei Kreknin, wo von einer „umfassenden Autofiktion“ der neuen Medien (2014, S. 4) die Rede ist und die Grenzen dieses Begriffes aufgelöst werden; oder bei Wagner-Egelhaaf, die die Nähe der neueren Autobiographie zur Fiktionalität und Doubrovskys Begriffsschöpfung der „Autofiktion“ aus der Autobiographieforschung betont (2013, S. 10).

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Formen als Schreibstrategien in den Blick nimmt, führt die der Autofiktionsforschung inhärenten Fokussierung auf literaturkommunikative und rezeptionsästhetische Aspekte – die sich etwa im Begriff des ‚Paktes‘ widerspiegelt – gleichzeitig aus methodischen Gründen die Argumentation nicht weiter. Vernachlässigt wird in der Sekundärliteratur zu beiden Autoren das sehr wichtige Thema des Tierischen in ihren Werken, die, wie in Kapitel 2 dargestellt wird, eine ganze Zoopoetik entwerfen. Es wird gezeigt, welch zentrale Rolle die Tiere im Werk der beiden Autoren spielen. Stefan Lessmann und Daniel Lange haben sich in einem Artikel der Symbolik der Vogeltiere im Werk Winklers gewidmet;121 und Megumi Andrade hat sich mit der Vorstellung einer „pureza perruna“ („hündische Reinheit“) in Vallejos Werk beschäftigt. Außer diesen beiden Artikeln lassen sich keine Texte finden, die sich ausführlich mit dem Thema auseinandersetzen, obwohl es Stoff für ganze Monographien bieten würde. Insbesondere eine transnationale Perspektive jenseits der Nationalliteratur wurde in der Forschung zu Vallejo und Winkler bisher weitgehend außer Acht gelassen – eine Dimension, die sich im Hinblick auf ihre Positionierung innerhalb einer queeren Literaturtradition eröffnet. Sie mag in Zukunft zu weiteren Analysen führen, die diese Tradition vor allen Dingen im Verhältnis zur Religion betrachten werden. Diese Positionierung vollzieht sich insbesondere, wie sich in diesem Buch zeigen wird, in der ambivalenten Bezugnahme auf religiöse Traditionen. Hier öffnet sich ein neues Forschungsgebiet, das ich als Tradition queerer Religionskritik bezeichnen möchte und das in diesem Buch ausgelotet werden soll. Das vorliegende Buch soll als ein erster Versuch verstanden werden, innerhalb der Literaturwissenschaft eine weiterführende Forschung zu initiieren, die diese Form der Religionskritik in der Kultur und besonders in der Literatur herausarbeitet. Diese queere Religionskritik wird im Folgenden auf drei verschiedenen Ebenen der zu analysierenden Texte exemplarisch anhand drei ihrer kritischen Strategien dargelegt: ihrer Form als mamotretos, ihrer Zoo- und Beleidigungspoetik und des Neobarocks. Es wird sich dann am Ende zeigen, inwiefern zwei bis jetzt noch nicht im Vergleich betrachtete Werke in einem gemeinsamen Resonanzraum religionskritischen und queeren Schreibens zu einer neuen produktiven Lektüre führen.

|| 121 Siehe Lange & Lessmann, 2014.

| Teil 1: Mamotretos: Abschweifung und Bildlichkeit als religionskritische Schreibstrategien

1 Einleitung: Mamotretos Zunächst möchte ich – aus einer formalen Perspektive – die Primärtexte Fernando Vallejos und Josef Winklers als mamotretos bezeichnen: Mamotreto ist eine im Spanischen selten benutzte, negativ konnotierte umgangssprachliche Bezeichnung für ein irreguläres, riesiges und formloses Buch. Der Begriff mamotreto impliziert zugleich auch die aus der Länge und der Unordnung resultierende Unmöglichkeit einer linearen und umfassenden Lektüre. Das Wörterbuch der Real Academia Española definiert das Wort auf zweierlei Art und Weise: einerseits umgangssprachlich als „libro o legajo muy abultado, principalmente cuando es irregular y deforme“1 und andererseits in seiner veralteten Bedeutung als „libro o cuaderno en el que se apuntan las cosas que se han de tener presentes, para ordenarlas después“.2 Beide Definitionen zeigen wichtige Merkmale auf, die in der folgenden Analyse eine zentrale Rolle spielen: Ein mamotreto ist, laut der ersten Definition, ein verformtes bzw. ein „irreguläres“ Buch, und es ist, laut der zweiten Definition, eine Notizensammlung, angelegt für eine spätere, nachträgliche Ordnung. Im Sinne der zweiten Definition fordert ein mamotreto die Instanz der Lektüre heraus, aus der chaotischen Form des Textes eine Ordnung zu schaffen, die aber immer unvollkommen bleibt. Dies könnte wiederum für jedes literarische Werk gelten, daher spielt die erste Definition noch eine wichtige Rolle: für ein mamotreto ist eine dem oder der Leser*in zugemutete Unordnung konstitutiv, die durch die Zersplitterung einer homogenen, einheitlichen Erzählung verursacht wird.3 Ein mamotreto ist daher eine ungeheuerliche Buch(un)form:4 Seine Monstrosität ergibt sich aus der fragmentarischen und unübersichtlichen Form des

|| 1 „Sehr dickes Buch oder Bündel aus Seiten, vor allem wenn es irregulär und deformiert ist“ (meine Übersetzung). Stand: 14.04.2021. 2 „Buch oder Heft, in das die Dinge, die man nicht vergessen darf, eingetragen werden, um sie später zu ordnen“ (meine Übersetzung). 3 Benjamin Loy (2019) spricht in seiner Dissertation von einem „wilden Lesen“, das aus der Konfrontation mit einer chaotischen, fragmentarischen Form der Werke Roberto Bolaños resultiert. Ein Vergleich der Werke des hier zu analysierenden Textkorpuses mit dem Werk Bolaños legt auch hier diesen Begriff nahe. Der Fokus dieses Teils liegt jedoch auf der Produktions- und nicht so sehr – wie bei Loy – auf einer Rezeptionsästhetik der Texte. 4 Vom Begriff des Ungeheuerlichen bzw. des Monströsen wird noch unten die Rede sein: Der primäre Bezugspunkt hierfür ist Hans Mayers Begriff der ‚moralischen Monster‘ in Außenseiter (1975). Diese breit zitierte Monographie des Germanisten hat einen wichtigen Beitrag zur Kontextualisierung und Lektüre der Homosexualität im Rahmen einer Gegenkultur der Außenseiter*innen geleistet und wird auch bei der Analyse von Winklers Werk herangezogen (etwa in Linck 1993). https://doi.org/10.1515/9783110799965-002

46 | Einleitung: Mamotretos

Werkes (ohne Anfang, Mitte oder Ende), in der die Narration ständig ausufert. Das Monströse wird hier als das Nicht-Klassifizierbare, das Nicht-Organische, das Andere verstanden.5 Die Monstrosität dieser Werke soll als poetologisch beabsichtigte, literarische, anti-narrative Strategie verstanden werden, die auf eine geschlossene und ordentliche Form verzichtet bzw. diese explizit zerstört. Meine These lautet, dass dieser mamotreto-Form eine poetologische Strategie beider Autoren vorausgeht, aus der die zu analysierende religionskritische und queere Position herauszulesen ist. Dieser Teil versucht zunächst, mit Hilfe der poetologischen Ansätze, die von den Autoren selbst in Reden, Gesprächen oder literaturtheoretischen Publikationen formuliert wurden, eine kritische Strategie aufzuzeigen, die dem religionskritischen Inhalt in ihren Werken Form gibt. Kritik wird hier als Ideologiekritik und in dieser Hinsicht als soziale Kritik „herrschender Verhältnisse“ verstanden, nämlich als „Angriff auf das, was man als Mechanismen der ‚Verselbstverständlichung‘ oder des ‚Selbstverständlichmachens‘ bezeichnen kann“ (Jaeggi, [2009] 2013, S. 269). Die Ideologiekritik wird dann als immanente Kritik eines als selbstverständlich etablierten Diskurses einer Gesellschaft – wie des Katholizismus im Falle Kolumbiens und Österreichs in den 1980er-Jahren – verstanden, der sowohl die Praxis als auch die Deutung dieser Praxis reguliert.6 Im Falle Vallejos und Winklers wird diese Kritik innerhalb des Katholizismus selbst geübt, d.h. im Dialog mit dem und im Katholizismus, in der Entfernung und Annäherung an diesen, in dessen Ent- und Aneignung.7 Die „in|| 5 In Bezug auf das Werk Winklers sagt Wendelin Schmidt-Dengler in seiner Vorlesung: „Es scheint keine Ordnung in diesen Texten zu geben, kein Prinzip, das diesen Gebilden ihre formale Absicherung verleihen würde“ (2012, S. 250). 6 Zu den Bestandteilen einer Ideologiekritik siehe Jaeggi, [2009] 2013, S. 269–270. 7 Diese „immanente Kritik“ (Jaeggi) der Ideologie wird in diesem Buch auch im Sinne der Dekonstruktion Jacques Derridas verstanden: „Deconstruction takes place, it is an event that does not await the deliberation, consciousness, or organization of a subject, or even of modernity. It deconstructs itself. It can be deconstructed. [Ça se deconstruit.] The ‘it‘ [ça] is not here an impersonal thing that is opposed to some egological subjectivity. It is in deconstruction […]. And the ‘se‘ of ‘se deconstruit‘, which is not the reflexity of an ego or of a consciousness, bears the whole enigma“ (1985, S. 4). Es wird sich in diesem Teil zeigen, inwiefern in der Form des Schreibens Winklers und Vallejos eine Dekonstruktion stattfindet, die innerhalb desselben kritisierten Diskurses des Katholizismus zum Ausdruck kommt: Die Ambivalenzen innerhalb der katholischen Religionskultur selbst (zwischen einem Weg des Lebens und einem Abschweifen von diesem Weg, zwischen Ein- und Ausschließung der Subjekte der katholischen Gemeinschaft) werden in der Form der Texte zum Ausdruck gebracht und produktiv poetisch genutzt. Es ist dann der katholische Diskurs selbst, der sich in den Texten Winklers und Vallejos (queer) dekonstruiert. Mein Verständnis vom „kritischen Schreiben“ entfernt sich jedoch von der Derrida’schen Dekonstruktion, indem hier ein Ich (ein Ego) als intentionale Instanz der Kritik hervorgehoben wird: Es ist sowohl eine subjektive als auch eine objektive Leistung der Kritik.

Einleitung: Mamotretos | 47

ternen Inkonsistenzen“ (ebd. 270) im Diskurs – bezüglich Tod und Geburt, Androphilie und Homophobie, Freiheit und Zwang u.a. – werden in den Werken dieser zwei Autoren enthüllt, um sich innerhalb dieses Diskurses zu positionieren: [Die Ideologiekritik] muss sowohl die falsche Auffassung einer Situation bzw. eines (gesellschaftlichen) Sachverhalts als auch die Beschaffenheit dieser Situation selbst kritisieren. […] Insofern zielt sie nicht nur auf die Richtigstellung der epistemischen Irrtümer, sondern auf die – ‚emanzipatorische‘ – Veränderung der Situation. (ebd. 277)

In dieser Hinsicht wird die Kritik selbst in der Sprache geleistet, indem Poetik und Kritik in engem Zusammenhang stehen: Es geht um eine Positionierung im Diskurs, die sich einer vokativen Form bedient. Die hier zu analysierenden mamotretos sind in erster Linie Texte, die gezielt an ein Publikum gerichtet sind: die Vorliebe für die erste Person, das an ein Du gerichtete Vokative (bei Vallejo meistens seine verstorbene Hündin Bruja oder der oder die Leser*in selbst und bei Winkler seine Mutter oder sein Vater) und die Nutzung von Waffen- oder Feuer-Metaphern für das Schreiben zeugen davon, dass beide Autoren Teil einer Tradition des Schreibens sind, die hier als kritisches Schreiben bezeichnet wird. Das kritische Schreiben wird als jenes Schreiben verstanden, das eine beabsichtigte, meist explizit ausgedrückte Zielgerichtetheit gegen einen vorherrschenden Diskurs aufweist, indem seine rhetorische Funktion entlarvt wird. Der explizite religionskritische Inhalt der Werke beider Autoren bekommt in der fragmentarischen Form dieser mamotretos eine adäquate literarische Form, die implizit mit moralisch strukturierten Erzählformen bricht. Das simultane Auftauchen verschiedenster Lebensphasen, die Wechselbeziehung zwischen Erinnern und Fabulieren, das konstante Brechen mit der chronologischen oder Plot-zentrierten Erzählung, die hartnäckige Wiederholung von Bildern (etwa die Feuerballons aus Pappe zu Weihnachten bei Vallejo oder die Leiche der Großmutter bei Winkler), das mentale Abschweifen als narrativer Fluss sind Strategien beider Autoren gegen die lineare, religiöse, teleologische Narration, die im Zusammenspiel mit den religionskritischen Inhalten einen politischen Sinn erhält: Die ganze Realität und insbesondere die sozio-politische, religionskulturelle Realität (die politischen und religiösen Institutionen, die Moral, die Sitten etc.) werden kritisch behandelt und hierin besteht zugleich die Zielgerichtetheit dieses kritischen Schreibens. Die fragmentarische, chaotische Form soll hinsichtlich dieser Zielgerichtetheit gelesen werden: Der explizite Inhalt korreliert mit der Form hinsichtlich einer kritischen Absicht. In diesem Sinn geht es um ein kriti-

48 | Einleitung: Mamotretos

sches Schreiben.8 Somit werden die Form und der Inhalt der Literatur als unauflösliches Paar behandelt. Der explosive Inhalt ihrer Texte findet in der explodierten narrativen mamotreto-Form eine rhetorische Kraft.9 Als Ausgangspunkt und externe Referenzpunkte für die Analyse der Erzähltexte dienen zunächst Vallejos Literaturtheorie oder ‚Grammatik der literarischen Sprache‘ in Logoi und die zahlreichen publizierten Interviews Winklers sowie seine Reden. Anhand dieser Texte wird die kritische politische Position der beiden Autoren sichtbar, die Korrelation von Schreibformen und persönlicher politischer Positionierung. Bei beiden Autoren findet man die klare Absicht einer Selbstinszenierung innerhalb des literarischen und des politischen Feldes. Daher ist der Einbezug ihrer Aussagen von Interesse für die Analyse einer von einem Ich geäußerten Religionskritik, bei der die Autoren selbst eine bewusst queere Position einnehmen und sich als Außenseiter dieser Religionsgemeinschaft bekennen. Dafür werden zwei spezifische anti-narrative Strategien in der Analyse beleuchtet – das Bild bei Winkler und die Abschweifung bei Vallejo –, die exemplarisch für die genannten religionskritischen Aspekte der Form in den Primärtexten stehen. In der vergleichenden Perspektive zeigt sich, inwiefern das Anti-Narrative als Strategie religionskritischen Schreibens insbesondere innerhalb autobiographischer Projekte eine wichtige Rolle spielt. Dabei wird sich (im Rückgriff auf Sara Ahmeds Queerbegriff) zeigen, wie in diesen Werken ein queerer Lebens- und Subjektbegriff in Opposition zu jenem des Katholizismus zum Ausdruck gebracht wird. Im autobiographischen Schreiben konstituiert sich eine paradoxe ‚queere, nicht-identische Identität‘, die nur innerhalb eines Umfeldes der Konfrontation und Anlehnung mannigfaltig gebrochen und daher queer ausgedrückt werden kann: „eine Ansammlung ungleichzeitiger homosexueller Identitäten“ (Linck, 1993, S. 30).10 Das Schreiben dieser NichtIdentität scheint in der mamotreto-Form zum Ausdruck zu gelangen.

|| 8 Auch Friedbert Aspetsberger weist darauf hin, dass die gattungsunspezifische Form der Werke Winklers ein kritisches Potenzial impliziert: „Winkler überschreitet also die Grenzen des Genres und nimmt es als kritisches Erfassungsschema für die ganze Lebenswirklichkeit […]“ (1993, S. 40). 9 Maria Irod nimmt in ihrer Dissertation eine klare Trennung zwischen sozial-kritischem Inhalt und literarischem Spiel im Werk Winklers vor (2018, S. 20). Diese Unterscheidung soll hier in Frage gestellt werden: Wenn es um die mamotreto-Form geht, dann als untrennbarer Teil ihrer impliziten sozial-kritischen Aspekte. 10 „Es ist ein Paradox, daß, im Spiegel zeitgenössischer Erfahrung, jene Schriftsteller, die sich nicht ‚bekannten‘, die ihren Problemen mit sich selbst nicht durch den Akt des Geständnisses abhalfen – Wilde, Proust, Gide, Hubert Fichte, Josef Winkler –, schwule Erfahrung realistischer, gebrochen also, dargestellt haben. In ästhetisch komplizierten Texten“ (Linck, 1993, S. 31–32).

2 Poetologische Ansätze: Vallejos ernstes Spiel und Winklers kritische Filmkamera Im Folgenden werden zwei literarische Strategien herausgearbeitet, die die Werke beider Autoren zu mamotretos machen, d.h. zwei Strategien, die die ausufernde Gestalt ihrer Werke zusammenhalten. Diese zwei Strategien geben dem unstrukturierten Buch eine Form, eine Textur, die trotz eines Mangels an Einheit, und zwar durch Schichten und Bilder sowie Faltungen, eine Kohäsion bekommt.11 Es geht um die in den poetologischen Ansätzen beider Autoren ausformulierte Poetik des Bildes und der Abschweifung,12 die sich in ihren Werken gleichermaßen wiederfinden lässt. Zunächst werden beide Strategien anhand jener Äußerungen und Texte skizziert, die nicht zum Textkorpus gehören, um dann diese in den Primärtexten aufzuzeigen. Dass die Abschweifung und das Bild als anti-narrative Strategien zu verstehen sind, ist im Falle der ersten einleuchtend, aber im Falle des zweiten nicht so offensichtlich, daher sind hier die Aussagen Winklers zu seiner Bildpoetik hilfreich, die im Folgenden präsentiert werden. Dabei wird gezeigt, dass seine mamotretos in Analogie zu einem Fotoalbum und Notizbuch zu verstehen sind. Der Begriff mamotreto ist Fernando Vallejos spielerische Antwort13 auf die Gattungsfrage seiner Bücher, er kommt explizit in seinen literarischen Texten || 11 Für Gilles Deleuze ist bei der Herausarbeitung einer barocken Ästhetik der Begriff der Textur(en) wichtig, der hier für den Begriff des mamotretos sehr nützlich sein kann: „So hängt die Textur nicht von den Teilen selbst ab, sondern von den Schichten, die ihre ‚Kohäsion‘ bestimmen: der neue Status des Gegenstands, das Objektil, ist untrennbar von den verschiedenen sich erweiternden Schichten, als ebenso viele Gelegenheiten zu Umwegen und Faltungen“ ([1988] 2000, S. 65). 12 Diese zwei Strategien werden bei Valentin Díaz als Teil einer Tradition des Neobarocks besprochen: die Abschweifung im Sinne von Severo Sarduys Begriff des retombée (seine Vergegenwärtigung verschiedener Diskurse, Zeiten und Orten) (2010, S. 46–48) und das Bild der „maquinaria de imaginarización de sí y del mundo“ (ebd. S. 51) / „Maschinerie der Einbildung von sich und der Welt“ (meine Übersetzung). Das Schminken und Übermalen des Realen sind wichtige Strategien des Neobarocks, die im dritten Teil ausführlich behandelt werden. 13 Ich lehne mich hier an das Konzept eines „ernsten Spieles“ als Teil einer queeren (Religions-)Kritik aus dem Artikel Amy Kaminskys an, in dem die Lateinamerikanistin den spielerischen und gleichzeitig politisch-ernsten Aspekt der queeren Kritik betont: „No jugar el juego de las identidades es en sí un desafío queer, sobre todo en los casos de una práctica textual queer al nivel de los personajes, los temas y la estética. La paradoja atrae; la práctica de la crítica queer es lúdica; el juego va en serio, pero nos divierte jugarlo“ (2008, S. 892). / „Das Spiel der Identitäten nicht zu spielen, ist an sich eine queere Herausforderung, vor allem in jenen Fällen einer queeren Textpraxis auf der Ebene der Figuren, der Themen und der Ästhetik. Das Paradohttps://doi.org/10.1515/9783110799965-003

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vor. Es geht bei Vallejo weder um Romane noch um Memoiren oder um Essays, sondern um alles zugleich.14 Diese humorvolle, selbstironische und nur scheinbar unbedeutende Bezeichnung seiner Texte als mamotretos trifft das Zentrum der Narrativik bzw. Anti-Narrativik nicht nur von Vallejos Frühwerk (El río del tiempo), sondern auch von Josef Winklers Erstlings-Trilogie (Das wilde Kärnten). Trotz der Definitionsschwierigkeiten legen beide Autoren einen Schwerpunkt auf die Form ihrer Texte: Vallejos Werk entwickelt sich zunächst aus seiner ausführlich formulierten Grammatik der literarischen Sprache, und im Fall Winklers korrespondiert der charakteristische, opake, barockartige Stil mit seinen expliziten Aussagen zu den literarischen Formen und den Zielen seines Schreibens.15 Die Gattungsfrage in Bezug auf Vallejos Werke ist eine sehr komplexe – nicht nur, weil sich seine Bücher ganz unterschiedlichen Registern zuordnen lassen (sein Werk bewegt sich nicht nur zwischen Roman und Memoiren, sondern auch zwischen Essay, vorgetragener Rede, Brief u.a.), sondern auch, weil die Aussagen des Autors bis heute nur zu noch mehr Unklarheiten in dieser Debatte geführt haben. In einem Interview für die spanische Zeitung El País behauptet der Autor, keine Romane geschrieben zu haben: „No es una novela. La novela es ficción, mentira, y hasta donde puedo tengo la costumbre de no mentir. No he escrito ni una sola novela“ (R. Mora, 2001).16 Dieses Beispiel ver-

|| xon ist attraktiv; die Praxis der queeren Kritik ist spielerisch; das Spiel ist ernstgemeint, aber es amüsiert uns gleichzeitig“ (meine Übersetzung). Die Verwendung des Spielbegriffes in Bezug auf Vallejo ist auch nicht neu: Diana Diaconu betont das Spielerische des Werkes Vallejos als eine zentrale poetische Strategie im Rahmen einer Tradition des Zynismus (2010, S. 245). Das Überschreiten der konventionellen Grenzen bei Vallejo wird also bereits von Diaconu als literarisches Spiel bezeichnet. 14 Diana Diaconu versucht mit dem Begriff der ‚Autofiktion‘ diese Problematik der Gattungsdefinition zu lösen, indem sie behauptet, dass Vallejo trotz seiner Abneigung gegen den Roman zu einer Mischung aus Roman und Biographie gelangt, die sie als Autofiktion bezeichnet (2010, S. 224). Es stellt sich dabei jedoch die Frage, ob mit diesem Begriff die Gattungsfrage geklärt ist, da er überhaupt nicht auf eine formale Definition zielt, sondern bloß den Wahrheitsgrad des Erzählten betrifft. Trotzdem hebt Diaconu eine Eigenschaft von Vallejos Schreiben hervor, die hier sehr wichtig ist: das Spielerische im Umgang mit den Konventionen der Literatur (ebd. S. 225). 15 In Bezug auf Franz Innerhofers Schöne Tage betont Josef Winkler den Fehler der Literaturkritik, sich auf das Inhaltliche konzentriert zu haben, obwohl vielmehr das Formale („die Form, der Stil, die Konstruktion, die eigene Sprache“ [2007, S. 46)]) Innerhofers Roman zu einem der „besten österreichischen Romane der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts“ (ebd.) gemacht habe. 16 „Es ist kein Roman. Der Roman ist Fiktion, Lüge, und soweit es mir möglich ist, habe ich die Gewohnheit, nicht zu lügen. Ich habe bis jetzt keinen einzigen Roman geschrieben“ (meine Übersetzung).

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deutlicht die generelle Verwirrung bei der Gattungszuordnung seiner Texte: Zunächst wendet sich Vallejo gegen den Roman, nicht bloß als fiktionale Schreibform wie im Zitat, sondern auch aufgrund der Verwendung der dritten Person, und bezeichnet den Roman als „género manido“ (R. Mora, 2001).17 Seine Selbstauffassung als Nicht-Romancier bleibt jedoch nicht ohne Widersprüche: In einem aktuelleren Interview relativiert Vallejo zunächst seine Absage an die Fiktion und räumt die Möglichkeit ein, dass der Wahrheitsanspruch, den man aus der oben zitierten Aussage ableiten kann, nicht zu streng zu nehmen sei: „Todos esos amigos son verdaderos, los bares verdaderos y las fiestas verdaderas. En esencia todo en mis libros es verdad porque lo que cuento en ellos son verdades acomodadas pues estoy escribiendo una obra literaria y no una autobiografía estricta“ (Rivera Marin, 2018).18 Man findet zudem die Bezeichnung „novela“ (Roman) in Vallejos Äußerungen, wenn er sich auf sein Werk bezieht. Aus dem Grund kann man nicht von einer allgemeinen, kohärenten Gattungspoetik in den Äußerungen Vallejos ausgehen. Seine wiederholte Ablehnung des in dritter Person geschrieben Romans und die ernste Betonung des mamotreto erlauben es, aus diesen journalistischen Texten eine Strategie herauszulesen, die hier in Beziehung mit seiner Religionskritik betrachtet wird: Es muy simple mi concepto de novela. Si entendemos por novela de tercera persona y narrador omnisciente, ése [sic] es un género manido, trillado, acabado, gastado, muerto. ¿Cómo va a saber un pobre hijo de vecino lo que piensan fulanito y zutanito de tal, y lo que comieron ayer y lo que soñaron anoche? Nadie es Dios Padre omnisciente y ubicuo ni tiene un lector de pensamientos ni de sueños para que se pongan a contarnos los ajenos. (Vallejo in R. Mora, 2001)19

Die Gattungsdiskussion bekommt hier in den Worten Vallejos eine religionskritische Dimension: Die transzendente Perspektivierung wird bestritten. Javier H. Murillos Einleitung zur Neuauflage der fünf autobiographischen Bücher, die

|| 17 „abgedroschene Gattung“ (meine Übersetzung). 18 „All jene Freunde sind echt, all jene Bars und all die Parties sind echt. Im Wesentlichen ist alles in meinen Büchern wahr, weil das, was ich dort erzähle, etablierte Wahrheiten sind, da ich ein literarisches Werk und keine Autobiographie im engeren Sinne schreibe“ (meine Übersetzung). 19 „Mein Konzept des Romans ist sehr einfach, wenn wir unter Roman jenen in dritter Person und mit einem allwissenden Erzähler verstehen, ist dieser eine abgedroschene, abgenutzte, abgeschlossene, abgelaufene, tote Gattung. Wie kann überhaupt der arme Sohn eines Nachbarn wissen, was Herr Soundso denkt, was er gestern gegessen und gestern Nacht geträumt hat? Niemand ist Gott Vater, allwissend und allgegenwärtig, niemand hat einen Traum- oder Gedankenleser, um uns von fremden Träumen und Gedanken zu erzählen“ (meine Übersetzung).

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unter dem Titel El río del tiempo neu vermarktet wurden, thematisiert diese Gattungsproblematik folgendermaßen: Y si el problema es de terminología, si los demás necesitan que les definan lo que Vallejo escribe, él encuentra sus propias definiciones. Sus frases no son frases sino “chorizos de palabras”, y tampoco son novelas sus libros sino “mamotretos”. (2002, S. 17)20

Der bereits im mamotreto-Begriff konnotierte umgangsprachliche Sinn zeugt nicht nur von ironischer Selbstdelegitimierung bzw. falscher Bescheidenheit, sondern von einem in seinem Werk expliziten Desinteresse daran, der Leserschaft entgegenzukommen: Seine Werke sollen dem oder der Leser*in störend, unleserlich und unzugänglich vorkommen. Die Äußerungen Vallejos zeugen somit von einer Absicht der Unleserlichkeit, die in der abschweifenden, nicht linearen, chaotischen Narrativik seiner Werke zum Ausdruck kommt. Dieses poetologische, an dem oder der Leser*in desinteressierte Schreiben Vallejos findet man zugleich auf der inhaltlichen Ebene z.B. in den meist respektlosen misogynen oder rassistischen Äußerungen21 oder in seiner wiederholenden, abschweifenden und anstrengenden Schreibweise.22 Diese beabsichtigte Zumutung ergibt sich zugleich aus der chaotischen Form seiner Veröffentlichungen, die sich von der Absicht einer linearen und kohärenten Handlungserzählung oder Ideenentwicklung verabschieden, und zwar auf explizite Art und Weise: So findet man in Años de indulgencia die interdiegetische Behauptung, der Erzähler habe auf eine Ordnung verzichtet, weil es seinem Leben einer Ordnung ermangle.23

|| 20 „Und wenn das Problem terminologischer Art ist, wenn die anderen meinen, dass das, was Vallejo schreibt, definiert werden müsse, dann findet er selbst seine eigenen Definitionen. Seine Sätze sind keine Sätze, sondern ‚Chorizos aus Wörtern‘ und seine Bücher sind auch keine Romane, sondern ‚mamotretos‘“ (meine Übersetzung). 21 Besonders offensichtlich sind die rassistischen Äußerungen – die im selbstironischen Schreiben Vallejos auch eine Drehung bekommen – in Años de indulgencia (siehe etwa AI 62); für seine Misogynie ist der Anfang von Entre fantasmas exemplarisch: „Vejez hijueputa que pesas más que teta caída de vieja […]“ (EF 7) /„Du Scheiß Alter, das schwerer wiegt als die herunterhängenden Titten einer Alten […]“ (meine Übersetzung). 22 Dies gelte zugleich für Winkler, dessen „Texte […] nicht angenehm [sind], sie verstören Zeile für Zeile, aber man wird den Eindruck nicht los: Hier hat einer ganz genau hingehört und gesagt, was es mit den Leiden […] auf sich hat […]“ (Schmidt-Dengler, 2012, S. 254). 23 „En fin, olvidándome pues de un orden para lo que no lo tiene porque no lo puede tener, sin puesto público como vivo, en el aire, en vilo, desocupado […]“ (AI 119) /„Letztendlich also, im Vergessen einer Ordnung dessen, was keine Ordnung hat, weil es keine haben kann, ohne öffentliche Stelle, so wie ich lebe, in der Luft, in der Schwebe, ohne Beschäftigung […]“ (meine Übersetzung).

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Die dem mamotreto wesentliche fragmentarische und chaotische Form ergibt sich somit aus einer Absicht, mit der Ordnung und Objektivierbarkeit des Erzählten, des erzählten Lebens zu brechen. Die offensichtlichste Strategie, auf die Vallejo dafür zurückgreift, ist jene der Abschweifung. Die Abschweifung ist aber keine beliebige Form, sondern vielmehr eine narrative Strategie, bei der die Ich-Instanz des Erzählers (seiner Assoziationsketten, Erinnerungen, Einfälle usw.) die Handlung zugunsten der Kontingenz aufhebt. Es ist ein Ich, das spricht und denkt: Der Fluss, der bereits im Titel der Sammelausgabe seiner autobiographischen Texte in den Vordergrund gestellt wird, verkörpert zugleich dieses Ich-fixierte Schreiben, das nur affektiv gesteuerten, existenzgebundenen Kräften folgt (daraus ergibt sich zugleich die Bedeutung des Beleidigens in Vallejos Werk, die im zweiten Teil ausführlich analysiert wird). Durch die Abschweifung wird die rhetorische Positionierung eines Ichs, das unaufhörlich spricht, hervorgehoben und zugleich als mannigfaltiges Selbst ambivalent zerstört.24 Dies kann mit Ortegón Cufiños Begriff des „‘yo‘ paródico“ verstanden werden, der für die Analyse des Werkes Vallejos wesentlich zu sein scheint.25 Es ist gerade die Abschweifung, die zur Auflösung eines einheitlichen Ichs führt, wie explizit im Text Vallejos thematisiert wird: „Al que está en guerra con el mundo porque no está en paz consigo mismo hay que aflojarle el yo obstinado. ¿Cómo? Muy simple. Puesto que el yo no es otra cosa que recuerdos, borrándole el recuerdo. Así la cinta queda limpia y lista para grabar de nuevo“ (FS 233).26 Es geht um den Film („la cinta“), der wie ein Fluss dem Ich Kohärenz gibt und es gleichzeitig aufhebt. Diese zwei Metaphern (der Fluss und der Film) sind in der Poetik Vallejos wichtig und gehen mit der Flüchtigkeit des Phantasmas einher – sie bilden das Grundmuster der Poetik der Abschweifung Vallejos.

|| 24 Anke Birkenmaier hebt in ihrem Artikel die ambivalente Natur der Ich-Instanz bei Vallejo hervor (2010, S. 169), die hier mitgedacht werden soll. Die Ich-Instanz bleibt trotzdem als ambivalentes Zentrum, von dem aus die Abschweifung zu denken ist. 25 „Ese ‘yo‘ paródico que se alimenta de lo que el mundo le provee se observa en la figura del narrador en la novela contemporánea hecha a partir de las voces de los otros, hoy más amplia y alienada que en épocas anteriores por efectos de la afluencia comunicacional“ (Ortegón Cufiño, 2016, S. 115). /“Jenes parodische ‚Ich‘, das sich aus dem nährt, was ihm die Welt bietet, lässt sich in der Figur des Erzählers im Gegenwartsroman wiederfinden, die sich aus den Stimmen der Anderen konstituiert und heute wegen des kommunikativen Zustroms breiter und entfremdeter/fremder als früher ist“ (meine Übersetzung). 26 „Bei demjenigen, der im Krieg mit der Welt ist, weil er mit sich selbst nicht in Frieden ist, muss man das festgefahrene Ich lösen. Wie? Ganz einfach. Da das Ich nichts anderes als Erinnerungen ist, indem man sein Gedächtnis löscht. Damit ist das Band wieder leer und bereit für die nächste Aufnahme.“ (Meine Übersetzung).

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Die rhetorische Abschweifung artikuliert das Werk Fernando Vallejos als ein einziges Kontinuum, das keine narrative Linearität und Kohärenz aufweist. Es geht in seinem Werk immer um dieselben Themen (Religion, Kolumbien, Gewalt, Homosexualität u.a.) – alles kommt wieder zurück wie ein Fluss der Erinnerung, der dem Ganzen eine Kohäsion in Form einer Ich-Erzählung verleiht. Es ist das Leben mit seinen Momenten, „[que] se parecen al movimiento del río: son incesantes“ (Pineda Buitrago, 2012, S. 334).27 Der Ich-Erzähler folgt keinen starren Regeln der Argumentation, sondern liefert sich dem Fluss des ‚Gesagten‘ völlig aus; darin liegt ihre rhetorische Kraft.28 Fernando Vallejos Werk zeichnet sich dadurch aus, dass es immer einen bestimmten Zweck verfolgt: Sein Schreiben ist zielgerichtet und hat im Laufe seiner Existenz unterschiedliche, aber immer kritische Ziele verfolgt (von den drei Biographien Porfirio Barba Jacobs, Asunción Silvas und Rufino José Cuervos, über seine autobiographischen Bücher bis zur kritischen Geschichte der katholischen Kirche La puta de Babilonia oder seiner kritischen Abhandlung über die darwinistische Theorie La tautología darwinista y otros ensayos). Vallejos erste, im Jahr 1983 erschienene selbstständige Veröffentlichung lässt sich aufgrund seines literaturwissenschaftlichen Stils am wenigsten in Einklang mit der Entwicklung seines späteren Werkes bringen. Es verleiht jedoch, wie bereits erwähnt, dem ganzen Werk des Autors eine literaturhistorische und -theoretische Grundlage: Logoi. Una gramática del lenguaje literario.29 Wie der Titel bereits verrät, handelt es sich dabei nicht auf den ersten Blick um ein mamotreto, sondern um den systematischen und strukturierten Versuch einer Grammatik der literarischen Sprache, d.h. einer Grammatik des Poetischen – im Gegensatz zu einer Grammatik der Schrift oder der Umgangssprache – mit Beispielen aus verschiedenen europäischen Sprach- und Literaturtraditionen. Logoi ist ein komparatistisches Projekt, das auf die Herausarbeitung einer Einheit des Literarischen bzw. der litera-

|| 27 „[die] den Bewegungen des Flusses ähneln: sie sind unaufhörlich“ (meine Übersetzung). 28 „Alteró la consecuencia discursiva para expandirse en divagaciones, para así poder cambiar de su presente inmediato al pretérito de si infancia, mezclando anécdotas de aquí y allá a su antojo, sin ningún orden cronológico, desafiando las convenciones de trama, suspenso y desenlace de la novela tradicional.“ (Pineda Buitrago, 2012, S. 333). / „Er veränderte die Abfolge der Erzählung, um sich in Abschweifungen zu ergehen, um auf diese Weise von seiner unmittelbaren Gegenwart in das Präteritum seiner Kindheit wechseln zu können, indem er Anekdoten von hier und dort nach Belieben und ohne chronologische Ordnung mischte und so die Handlungs-, Spannungs- und Auflösungskonventionen des traditionellen Romans herausforderte“ (meine Übersetzung). 29 Daniel Rivera Marín hebt die Bedeutung dieses Buches hervor, indem er Logoi als „un libro que lo fundó todo“ (2018 / „ein Buch, das alles begründete“, meine Übersetzung) bezeichnet.

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rischen Sprache zielt, womit das literarische Werk Vallejos in seiner scheinbaren Unvollkommenheit oder Unordnung eine Grundlage bekommt. Das Projekt einer ‚literarischen Grammatik‘ lässt den Verdacht aufkommen, dass den mamotretos eine Ordnung unterliegt: eine Ordnung, die auf einer der Antike entstammenden Tradition beruht.30 Die literarische Sprache Vallejos resultiert demzufolge aus der Literaturtradition: „Vamos […] a considerar la literatura como el reino de lo recibido, como el vasto dominio de la fórmula, del lugar común y del cliché“ (Vallejo, [1983] 2013, S. 29)31. Das Werk Vallejos kann entsprechend als ein explizit in die Tradition eingebundener Sprachfluss verstanden werden, und seine Abschweifungen und chaotische Struktur folgen einer streng strukturierten Sprache mit ihrer eigenen Grammatik, gegenüber der alles andere als willkürlich zu verstehen ist. In diesem Sinne lässt sich die wiederum selbstironische Behauptung Vallejos verstehen, er sei „el último gramático de Colombia“32, und María Ospina Pizano sieht daher bereits in Logoi eine „defensa del quehacer literario“ (2019, S. 48) und somit eine Verteidigung der Literatur als politischer Handlung. Logoi liegt ein konservativer Impuls zugrunde, der zugleich der hier angesprochenen Ambivalenz entspricht: die Gelehrsamkeit des Werkes Vallejos, die in Kontrast, aber auch im Dialog mit der Radikalität seiner performantiven Sprache, ihren populären Redewendungen und Beleidigungen steht. Die starke Hypothese, die Vallejo mit seiner Grammatik der literarischen Sprache aufstellt, ist ihre Gemachtheit, d.h. die Vorstellung, dass hinter jeglichem literarischen Text eine Sprache steckt, die eigenen Regeln folgt, die als eigenartig in der gesprochenen Sprache empfunden werden muss.33 Das literarische Schreiben wird – aus der poetologischen Sicht der Grammatik Vallejos – als ein intentionales Schreiben aufgefasst, als produktive Rezeption einer Sprache, die auf deren literarische Vorläufer antwortet. Es geht wiederum um die Rhetorik einer Sprache, die sich durch ihre Künstlichkeit hervorhebt.34 Daraus kann man

|| 30 Logoi fängt nämlich mit einer Auseinandersetzung mit der griechischen Literatur der Antike an – spezifisch mit Homer –, um dann einen großen Teil der westlichen Literaturgeschichte einzubeziehen. 31 „Wir werden die Literatur als das Reich des Empfangenen, als das große Reich der Formel, des Gemeinplatzes und des Clichés auffassen“ (meine Übersetzung). 32 Vallejo, [1994] 2008, S. 58. 33 „El lenguaje de la epopeya difería en escencia del de la vida diaria y un griego contemporáneo de Homero tenía que sentirlo así“ (Vallejo, [1983] 2013, S. 10). / „Die Sprache des Epos unterschied sich wesentlich von der des alltäglichen Lebens und ein Zeitgenosse Homers musste es so empfinden“ (meine Übersetzung). 34 Siehe Vallejos Referenz auf Aristoteles‘ Rhetorik und den Akzent auf die Künstlichkeit der Sprache in Vallejo [1983] 2013, S. 11.

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schließen, dass es sich, wenn Vallejos Prosa zur Redeform tendiert, nicht um die gesprochene Umgangssprache, sondern um eine komponierte bzw. ‚gemachte‘ Sprache handelt, die, laut vorgelesen, ihre Künstlichkeit zum Vorschein bringt. Die im Band Peroratas veröffentlichte Sammlung seiner Reden, d.h. seiner Texte, die gezielt als Vorträge geschrieben wurden, unterscheidet sich stilistisch auf markante Weise von seinen für das Lesen vorgesehenen literarischen mamotretos. Vallejo interessiert jedoch nicht bloß der Unterschied zwischen dem Geschriebenen und dem Gesprochenen, sondern jener zwischen der Umgangssprache und der literarischen Sprache35. Letztere ist, so Vallejo, eine rhetorische Sprache, die in der Lyrik gipfelt, aber an der auch die literarische Prosa teilhat.36 Aus dieser rhetorischen Natur der literarischen Sprache ergibt sich die Zielgerichtetheit der Prosa Vallejos (meistens an ein wechselndes Du gerichtet) und zugleich die Wichtigkeit der erzählerischen Ich-Form seiner Werke. Die Annahme der Rhetorizität der literarischen Sprache impliziert zugleich ihre politische Seite: Es geht um eine Stimme, die sich positioniert und somit eine kritische Haltung einnimmt. Daraus kann man schließen, dass die abschweifende Form seiner mamotretos bereits aus einer poetologischen Perspektive als kritische Praxis verstanden werden kann. Für Vallejo hat die Auseinandersetzung mit der Literatur in der Literaturwissenschaft („ciencia de la literatura“)37 „die Untersuchung der Sprache und der eigenen Verfahren der unterschiedlichen literarischen Gattungen“ zur Aufgabe (Vallejo, [1983] 2013, S. 16, meine Übersetzung)38. Somit sind wir wieder bei der Gattungsfrage: Die mamotretos sollen demzufolge als eine dezidiert rhetorische Form, sprich als eine rhetorische Strategie verstanden werden. Inwieweit Logoi als Poetik aufgefasst werden kann und inwieweit Vallejos Werk dieser treu bleibt, ist eine Frage, die den Rahmen dieser Analyse überschreitet. Fernando Vallejo legt den Grundstein für sein literarisches Werk, nämlich in Form der literarischen, durch Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch vererbten Grammatik der europäischen Literaturgeschichte, die nur scheinbar den Satzbau (Grammatik) betrifft. Er behauptet jedoch, dass die komplexeren literarischen Sprachformen, nämlich die Gattungen, auch Teil der rhetorischen Arbeit

|| 35 „Poesía o prosa, el lenguaje literario existe por oposición al habla“ (Vallejo, [1983] 2013, S. 17). / „Ob Poesie oder Prosa, die literarische Sprache existiert im Gegensatz zur gesprochenen Sprache“ (meine Übersetzung). 36 Vgl. Vallejo, [1983] 2013, S. 14. 37 Die hier erwähnte Bezeichnung „ciencia de la literatura“ stammt aus Vallejos Logoi und ist im spanischsprachigen Raum eine ungewöhnliche Art und Weise, sich auf die Literaturwissenschaft zu beziehen. Normalerweise wird diese Disziplin als „estudios literarios“ bezeichnet. 38 „[…] el estudio del lenguaje y de los procedimientos propios de los diversos géneros literarios“.

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des literarischen Schreibens sind.39 Was für eine Strategie steckt dann hinter seiner Wahl, mamotretos und keine Romane zu schreiben? Diese folgt einer subversiven Praxis des Schreibens, die sich einer ‚Organik‘ des Lebens entzieht,40 wie man sie etwa in den Lebensdarstellungen der Hagiographien findet. Paradoxerweise – und dies unterstreicht die Unklarheiten rund um die Gattungsfrage in Bezug auf Vallejos Werk – schreibt sich der Kolumbianer auch explizit einer Tradition zu, die der Gattung des Romans angehört. In Logoi erläutert er die gattungsstiftende Wirkung der „lugares comunes“ („Gemeinplätze“) und bezieht sich auf die Bedeutung der „fantasmas“ („Phantasmen“) in der literarischen Sprache: Diese finde man, so Vallejo, bei Mujica Láinez, Chateaubriand, D’Annunzio, Proust u.a. – d.h. in literarischen Texten, die als Exempla (‚Gemeinplätze‘) des modernen Romans gelten. Das letzte Buch seiner Autobiographie wird mit Entre fantasmas betitelt und endet mit denselben Worten, die auch im ersten Band am Anfang zu finden sind: „mi vago yo, fugaz fantasma“ (EF 256)41. Wenn man der Argumentation in Logoi weiter folgt, führt das Wort „fantasma“ in der literarischen Sprache (vor allem auf französisch das Wort fantôme) zum Wort „jugar“ und „jouer“, d.h. „spielen“.42 Der spielerische Trick, den man in Vallejos poetologischen Aussagen wiederfindet, ist die explizite Antwort auf die Tradition des modernen Romans, die in seinen mamotretos umgedeutet, fragmentiert und zerstört wird. Insofern ist der Bezug auf den modernen Roman in Vallejos Texten trotz allem gegeben, wenn auch in spielerischer Form: die mamometros als spielerische Umformung des Romans bzw. des herkömmlichen Erzählens. Aus diesem Grund könnten die mamotretos – als eine Ausuferung der organischen Erzählweise, die sich aus seiner Poetik der Abschweifung ergibt – als spielerische Romane bezeichnet werden, die auf eine negative Art und Weise Bezug auf die Tradition des modernen Romans nehmen – insbesondere im spielerischen Kontrast mit dem Roman des sogenannten Boom Latinoamericano (García Márquez, Vargas Llosa, etc.). Auf ähnliche Weise kontrastiert das Schreiben Winklers mit dem literarischen Kontext des in den 80er Jahren erfolgreichsten österreichischen Romanciers der Nachkriegszeit Heimito von Doderer.43

|| 39 Siehe zu den „lugares comunes“ („Gemeinplätzen“) der Gattungen Vallejo, [1983] 2013, S. 24. 40 Der Begriff des ‚Organischen‘ wird unten in Bezug auf das Lebenserzählen im Katholizismus ausführlich erklärt. 41 „[…] mein vages Ich, flüchtiges Phantasma“ (meine Übersetzung). 42 Siehe Vallejo, [1983] 2013, S. 25–26. 43 In Bezug auf Winkler beschreibt Maria Irod Das wilde Kärnten als „Sprachspiel mit eigenen thematischen Konstanten“ (Irod, 2018, S. 19), wofür ich hier den mamotreto-Begriff vorschlagen möchte.

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Die harsche Kritik Vallejos am „género manido“ des Romans ist daher ironisch zu verstehen: Charakteristisch für den damals neuen lateinamerikanischen Roman, so erklärt Vallejo ganz am Ende seiner literarischen Grammatik, ist der Einbezug der Umgangsprache in die literarische Sprache: „El lenguaje coloquial con su desorden y su encadenamiento fortuito de las ideas, pasa de los diálogos al relato y se apodera de la novela entera“ ([1983] 2013, S. 17)44. Diese Aussage führt die Leser*in seines Werkes von der Theorie zur Praxis seines eigenen Schreibens: Da Vallejos eigene Werke voller Umgangssprache sind (eingefärbt vom Dialekt des kolumbianischen Bundeslandes Antioquia), schreiben sich seine Bücher wohl in die Tradition des Romans ein, nämlich in einer spielerischen und subversiven Art und Weise, die bereits in seinem expliziten Hass auf den Roman zum Vorschein kommt. Demzufolge geht es hier um ein ernstes Spiel in der Literatur. Die nicht beschreibbare Form des mamotretos hat trotzdem eine Form, wenn diese als Unform gedacht werden kann. Als Anti-Roman antworten die Bücher Vallejos kritisch auf eine Tradition und einen literarischen Diskurs. Im Allgemeinen besteht ein Spiel aus Regeln und aus einem notwendigen zugelassenen Maß an Freiheit, mit diesen Regeln umzugehen: Das Spiel ermöglicht, das Strenge-Ernste durch das Zulassen von Variationen zu lockern, zu öffnen, zu verändern.45 Vallejos Grammatik der literarischen Sprache ist aus diesem Grund kein streng enzyklopädisches Projekt und auch keine Regelpoetik – es handelt sich vielmehr um eine fünfhundertseitige Beschreibung und Ansammlung einiger Gemeinplätze, die den Spielraum der Literatur konstituieren: Un sistema integrado de los recursos literarios, sin embargo, es una utopía. Y es que, como en las restantes realidades del lenguaje, no se pueden establecer sistemas con elementos polivalentes, con elementos que coinciden en parte y cuyos valores pertenecen a los órdenes más diversos. ([1983] 2013, S. 530)46

|| 44 „Die Umgangssprache mit ihrer Unordnung und der zufälligen Aneinanderreihung von Ideen geht von den Dialogen in die Erzählung über und bemächtigt sich des Romans“ (meine Übersetzung). 45 Hier wäre ein Vergleich von Vallejos ernstem Spiel mit dem Konzept des (Sprach)Spieles in Ludwig Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen sehr einleuchtend. Die Unfassbarkeit der Grenzen und Regeln eines Sprachspiels ist dem Spiel wesentlich, wie z.B. dem Tennisspiel: „aber es gibt ja auch keine Regeln dafür z.B., wie hoch man im Tennis den Ball werfen darf, oder wie stark, aber Tennis ist doch ein Spiel und es hat auch Regeln“ ([1984] 2006, S. 279). 46 „Ein integriertes System der literarischen Mittel ist jedoch eine Utopie. Und somit kann man, wie in allen anderen Realitäten der Sprache, keine Systeme mit mehrwertigen Elementen

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Die Sammlung von chaotischen Ideen, Memoiren und Erzählungen erlangt durch Vallejos Poetik der Abschweifung eine Kohärenz und eine Form. Diese Strategie, kombiniert mit der autobiographischen Absicht, seinem Leben einen Ausdruck zu verleihen, entfaltet in Opposition zur christlichen Tradition der Lebenserzählung (in der Hagiographie, aber auch im eschatologischen Konzept des Jüngsten Gerichts) ein religionskritisches Potenzial. Logoi kann als ein mamotreto, d.h. als Vallejos erstes mamotreto gelesen werden – das Buch besteht hauptsächlich aus Zitaten aller Art, die dieses ernste Spiel konstituieren, das sich dann im fiktionalen Werk ausbreitet. Man findet bereits in diesem Buch das Bild der Phantasmen,47 wie oben erläutert wurde, aber auch die Anknüpfung an eine Tradition von Schriftsteller*innen, die hier eine wichtige Rolle zu spielen beginnen. Die Phantasmen stehen für die Tradition, für die Wiederkehr der Literatur in der Literatur, für eine intertextuelle Strategie. Das intertextuelle Geflecht, das dann in Vallejos Werk auf verdeckte Weise eine konstituierende Rolle spielen wird, wird in Logoi bereits geknüpft. Hervorzuheben ist dabei die Auswahl an Autor*innen, die in diesem Zitat-Buch einen Platz finden – es wird ein Kanon entworfen (Mujica Láinez, Colette, Blasco Ibañez, D’Annunzio, Larra, Bioy Casares, Brancati, Barba-Jacob, Azorín u.v.a.), der den herkömmlichen großen Kanon (Cervantes, Dante, Goethe, Shakespeare, usw.) verschiebt und somit einen besonderen Akzent in der Literaturgeschichte setzt – ein Kanon, der zugleich dem dilettantisch in der Geschichte und in der Geographie abschweifenden Blick des Lesers Fernando Vallejos entspricht. Die veraltete Definition der RAE von mamotreto entspricht genau dem, was hier und im ganzen Werk Vallejos vorliegt: Notizen, Zitate, Referenzen, Metaphern und Bilder, die einer nachträglichen, emergierenden Ordnung angehören. Die Bindung, die ‚Einheit‘ des mamotretos findet ihren Kern in einem Ich (bei Logoi der Leser Vallejo und in seinem späteren Werk der Ich-Erzähler), das als Ausgangspunkt der Wahl der Zitate und der Abschweifung gilt. Auf die Gattungsfrage antwortet Josef Winkler in einer ähnlich verwirrenden Art und Weise, indem er sein Desinteresse bezüglich der Kategorisierung seiner Bücher als Romane kundtut: „Mich hat das nicht weiter beschäftigt“

|| etablieren, mit Elementen, die teilweise übereinstimmen und deren Werte den vielfältigsten Ordnungen angehören“ (meine Übersetzung). 47 Dem Phantasma als Figur geht Vallejo in verschiedenen Beispielen nach, wobei man bereits den Eindruck erhält, dass selbst diese Figur als Metapher für die Literaturtraditionsbildung genutzt wird: Dafür hebt Vallejo hervor, wie das Phantasma immer wieder in der westlichen Literaturgeschichte auftaucht und somit eine Tradition bildet ([1983] 2013, S. 24–25).

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(Prangel, 2003).48 Er selbst bezeichnet jedoch an einigen Stellen seine Bücher als „Romane“, wie etwa in Der Leibeigene, dem Band, der auf seine Erstlingstrilogie folgt: „Seit ich meine Romane veröffentlicht habe, grüßt sie [=die Tante] mich, als wäre ich ein Fremder […]“ ([1987] 1990, S. 26–27). Jedoch bestreitet er immer wieder, seine Frühwerke in Romanform geschrieben zu haben, da das Erzählerische dort nicht veranlagt war, sondern sich erst allmählich etablierte. Insofern geht es bei der Gattungsbezeichnung um eine spätere Ordnung, die die chaotische Form der mamotretos ergeben hat. In Bezug auf Menschenkind, sein erstes Buch, erklärt Winkler: „Es ist eigentlich kein Roman im klassischen Sinne, sondern eine Zustandsmetapher. Ich konnte damals noch nicht erzählen, es war ein Wortrausch, eine Wortdroge, die ich voll und ganz ausgekostet habe“ (Huber & Winkler, 2013). Ob Winkler erst durch das Auskosten dieser Wortdroge des Erzählens zur Gattung des Romans kommen konnte, ist stark umstritten – spätere Werke wie Friedhof der bitteren Orangen oder Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot sind ähnlich brüchig und anti-narrativ strukturiert, und die Frage, ob bei diesen ein „Erzählen“ zustande kommen konnte, bleibt unbeantwortet. Winklers Bücher stehen, ähnlich wie die von Vallejo, sowohl der Prosa als auch der Lyrik nahe und können sowohl als poetische Prosa als auch als Romane bzw. poetische Romane gelesen werden. Sie können aber auch als lyrische Bildersammlungen, Teile eines Notizheftes o.ä. verstanden werden. Durch die Unmöglichkeit einer eindeutigen Gattungszuordnung transzendiert eine solche Literatur die herkömmlichen Interpretationsmethoden, meint Oswaldo Ortegón Cufiño, der das Werk Vallejos als eine Zusammenstellung verschiedenster Gattungen und im Rahmen einer postmodernen Ästhetik liest. Eine solche Lektüre kann auch von Winklers Werk vorgenommen werden.49 D.h. die in der veralteten RAE-Definition der mamotretos genannte nachträgliche Ordnung der Notizensammlung existiert nur als Aufforderung zu einer potentiellen, späteren Lektüre des Unordentlichen, die sich nicht vollziehen lässt, dieses Unordentliche aber als solches bestimmt.

|| 48 Noch dazu wäre es wichtig zu untersuchen, wie die Beziehung zwischen dem Ich-Erzähler und dem Autor zu verstehen ist. Dies würde aber Fragen der Autor*innenschaft betreffen, die den Rahmen der vorliegenden Untersuchung überschreiten würden. 49 „Desde el momento en que biografía, autobiografía, reportaje, testimonio, ensayo, crónica y novela se funden en piezas literarias de corte auto-ficticio (tal nos presenta Vallejo), el análisis de sus obras trasciende los métodos de interpretación“ (Ortegón Cufiño, 2016, S. 13–14). / „Ab dem Moment der Verschmelzung von Biographie, Autobiographie, Reportage, Zeugnis, Essay, Chronik und Roman in autofiktionalen Werkstücken (wie Vallejo sie uns präsentiert) transzendiert die Analyse seiner Werke die Interpretationsmethoden“ (meine Übersetzung).

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Den mamotretos Winklers liegt eine kritische poetologische Haltung zugrunde, die der rhetorischen, literarischen Sprache Vallejos nahe ist: „Winkler überschreitet also die Grenzen des Genres und nimmt es als kritisches Erfassungsschema für die ganze Lebenswirklichkeit […]“ (Aspetsberger, 1993, S. 40). Besonders interessant an Friedbert Aspetsbergers Winkler-Lektüre ist der Bezug auf die „Metapher der Kamera“, die benutzt wird, „um sein monomanes Erzählen zu charakterisieren“ (Ebd. 48). Bereits in dieser Interpretation steckt der Bildbegriff, der hier als zentrales Moment postuliert wird. Im Gespräch mit den Oberösterreichischen Nachrichten bestätigt Winkler den Vorzug des Bildbegriffes für die Beschreibung der Form seiner Bücher gegenüber jeglicher Gattungsbezeichnung: [D]er Suhrkamp Verlag bezeichnet das Buch als einen Bildungsroman. Bei mir ist es ja immer eine Zusammenstellung aus kleineren Bildern und kleineren Geschichten, die dann zu einer größeren Geschichte in Form, Stil und Struktur zusammengestellt werden. […] Ich bin jemand, der Bilder sucht – unter meinen mehreren 1000 Buchseiten werden Sie kaum einen Satz finden, der nicht aus einem Bild besteht. (Grubmüller & Winkler, 2011)

Der von Winkler selbst verwendete Begriff des Bildes wird u.a. von Aspetsberger als kritische Strategie der „Umschreibung“ wahrgenommen.50 Diese Strategie ist besonders relevant für eine Analyse, die in Verbindung mit der (Un)form des mamotreto erfolgen soll: Seine „Romane“ sind in erster Linie Sammlungen von Bild-Sätzen bzw. Satz-Bildern. Mit „Bild“ ist dann ein sprachliches Bild gemeint, das im Folgenden expliziter erklärt wird. Die Kamera und die Schreibmaschine werden als Waffen wahrgenommen, als Konfrontationsmittel, als rhetorische Strategien der ‚Umschreibung‘ der Wirklichkeit. „Die Wirklichkeit wird in Bilder verhext, das unbeherrschbare Schicksal wird Sprache, mit der zu spielen ist“ (Linck, 1998, S. 35). Diese Kritik wird von Winkler jedoch nicht als ‚engagiertes Schreiben‘ aufgefasst, sondern als kritisches Schreiben, d.h. in einem – gegenüber dem programmatischen Engagement – erweiterten Sinne des Politischen: Was heißt ‚engagierte Literatur‘? Literatur muss poetisch sein. Engagierte Literatur im Sinne einer Memoiren- oder Mitteilungsliteratur hat mich nie interessiert. Wenn aber in einem Werk, das sprachlich hochwertig ist, gesellschaftliche Kritik aufgewühlt wird, maulwurfartig, in Erzählungen und Bildern, durch eine Analyse der Gesellschaft von unten, dann brauche ich das Wort ‚engagierte Literatur‘ gar nicht. Autoren, die ständig das Wort ‚Politik‘ im Mund führen und damit jonglieren, halte ich gar nicht so sehr für politisch. Für mich sind Autoren politisch, die tatsächlich gesellschaftliche Strukturen

|| 50 Siehe Aspetsberger, 1993, S. 48.

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aufbrechen, indem sie aus der Gegenwart, aus der Vergangenheit erzählen und berichten, wie es kommen konnte, dass es ist, wie es ist. (Reif & Winkler, 2012, S. 93)

Winkler verfolgt demzufolge keine Politik, sondern bezweckt vielmehr ein politisches, kritisches Schreiben als ‚maulwurfartige‘, bohrende Kritik in der Gesellschaft.51 In einem kürzeren Text zum „Schutzengel der Selbstmörder. Eingedenken am ersten Todestag Thomas Bernhards“, schreibt Winkler: „Ich arbeite an einer Schreibmaschine, die den Tod in alle Einzelteile meiner Knochen zerlegen wird. […] Schreibt Sätze aus meinen Büchern auf meine Totenkranzschleifen, Sätze, die ihr am meisten haßt“ (1995). Die poetologische Strategie Winklers, die hier im Rahmen der Bernhard-Trauer eine Bestärkung findet, zielt auf eine Konfrontation und, damit zusammenhängend, auf einen Skandal, auf die Empörung der katholischen Dorfgemeinschaft, die in Sätzen nicht nur – mittels der ‚Kamera‘ – porträtiert, sondern in der Tiefe kritisch erfasst wird.52 In seinen Romanen findet man metaliterarische Überlegungen zu diesem kritischen Schreiben: Das selbstbewusste Schreiben Winklers wird als Waffe und zugleich als Mittel des Überlebens verstanden – es besitzt die zweifache, ambivalente Funktion eines Werkzeuges der kritischen Destruktion („Mineur“) und eines Ortes der Rettung bzw. der Zuflucht („Stollen“) des Ich: [Der Vater] wußte nicht, daß diese mechanische Schreibmaschine mein erstes Werkzeug sein sollte, das mir half, wie ein Mineur einen Stollen zu erarbeiten, einen Berg zu durchbrechen, um an der anderen Seite ein neues Licht zu erblicken, das mich anfangs blenden und meine Hände automatisch an die Stirn und vor die Augen werfen würde, die Schreibmaschine wies den Weg in die Freiheit, sie konstruierte den Abschied von den Eltern Anschlag für Anschlag, Zeile für Zeile, Seite für Seite, Buch für Buch. (MS 565)

|| 51 Wendelin Schmidt-Dengler macht eine gewisse Ambivalenz bei der Frage der Zweckhaftigkeit von Winklers Schreiben aus: „Allerdings richtet sich Winklers Schreibwut gleichsam gegen die vereinfachende Praxis, in der die Produktion einem deutlich erkennbaren, als nützlich definierbaren Zweck unterworfen wird“ (2012, S. 249). 52 Thomas Bernhards Die Ursache – ein Text, der dem Buch Das wilde Kärnten sehr nahesteht – formuliert auch eine Kritik der salzburgischen Gesellschaft, die hinter einer heuchlerischen Fassade noch den Nationalsozialismus am Leben erhält. Das Durchbohren des Selbstverständlichen und Alltäglichen „der auf dieser Oberfläche existierenden Menschen“ (1975, S. 51) ist eine Praxis dieses kritischen Schreibens, die das Verdrängte zu enthüllen versucht. Sowohl Winkler als auch Bernhard versuchen die Geschichte andeutungsweise – wie der Untertitel verrät –, aus einer Ich-Perspektive zu berichtigen: „weil es Gewohnheit ist, die Geschichte zu verfälschen und als verfälschte Geschichte weiterzugeben, wo wir doch wissen, daß die ganze Geschichte nur als verfälschte Geschichte weitergegeben worden ist“ (1975, S. 23).

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Diese metaliterarischen Passagen bekunden die politische Absicht der ersten drei Romane, die Wahrheit offenzulegen und damit eine Kritik an den Patriarchen zu artikulieren. Die Schreibmaschine und die Kamera als Mittel der Kritik entsprechen in der tatsächlichen Praxis des Schreibens einer fragmentarischen Schreibweise, die sich auf bestimmte Bilder konzentriert. Es handelt sich um Momentaufnahmen,53 einzelne Bilder, die in der Winkler’schen Poetik des Bildes zu einer Fragmentierung und Entgleisung der linearen Narrativik führen. Mittels der Konfrontation mit diesen Momentaufnahmen wird die Kritik geübt. Anlässlich der Veröffentlichung von Wenn es soweit ist (1998) führt Ernst Grohotolsky ein Interview mit Josef Winkler, in dem es primär um die Poetik des Autors geht. Dort heißt es, dass die Motivation für das Schreiben aus dem Bildhaften herrührt. In Bezug auf seine damalige aktuelle Arbeit an dem Text der unter dem Titel Natura morta (2001) erscheinen sollte, erklärt Winkler: „Ich habe ständig so natura mortua-Darstellungen vor Augen. Es würde mich interessieren, so etwas einmal zu beschreiben, so ein Bild mit Fleisch und Früchten, so wie ich es im Roman Friedhof der bitteren Orangen begonnen hab“ (1998, S. 9). Das Weiterarbeiten an denselben Motiven ist ein klares Merkmal der Winkler’schen Prosa, das hier in Verbindung mit der Bild-Arbeit verstanden werden soll. Der Anspruch ist nicht, etwas Neues auf das Papier zu bringen, sondern eine neue Art der Darstellung mittels der Methode des „Reinstocherns“ und des „Umschaufelns“ auszuprobieren, um „etwas nicht Unglaubliches unglaublich zu erzählen“ (1998, S. 10). Man könnte, Grohotolsky zufolge, behaupten, dass es sich bei Winkler um eine realistische Literatur handelt, die in einer direkten und sogar extrem nahen Beziehung zur Realität steht – eine Beziehung, der der barocke Stil und die fantasievollen Bilder seiner Werke zu widersprechen scheinen. Es geht jedoch um die „Umschreibung“ und „Überschreibung“ der bestehenden Verhältnisse der Realität, d.h. um die Betonung der Bildhaftigkeit des Schreibens.54 Zwei Prozesse (die bildhafte Umschreibung

|| 53 In Josef Winklers Erzählung „Radiergummibrösel zwischen den Lungenflügeln der Truthühner, vor der Primiz“ aus seiner Erzählsammlung Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot findet man ein gutes Beispiel seiner Poetik des Bildes: In der Erzählung wird der Moment eines nicht wahrgenommenen Unfalls zum Höhepunkt und zur Klimax der Erzählung erklärt. Das Wort „Augenblick“ erhält eine poetische Bedeutsamkeit in der Erzählung, indem die Doppeldeutigkeit des Kompositums – in seinen Teilen („Auge“ und „Blick“), aber auch in seiner herkömmlichen Bedeutung als Moment – betont wird. Die bereits im Titel enthaltene Metapher des Radiergummis als Mittel, „diese Unglücksgeschichte ausradieren zu können“ (2008b, S. 29), betont die Prägnanz, die den Bildern der Erinnerung zugeschrieben wird. 54 „Es ist ein Erzähler [bei Winkler], der stets von der Jetztzeit ausgeht und beim Schreiben die Unmöglichkeit der Darstellung von Wirklichkeit reflektiert […]“ (Irod, 2018, S. 24).

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und die fotographische Aufnahme der Realität), die scheinbar widersprüchlich sind, bilden den Kern von Winklers Poetik des Bildes. Und manchmal gehts ja nur um ein einziges Bild, das man noch irgendwo in einer Ecke im Elternhaus findet, um daraus ein einziges Buch machen zu können. Ich brauch ja oft nur ein Bild oder vielleicht ein Ereignis, aus dem ich eine Metapher konstruieren kann, die mich über ein ganzes Buch hinaus rettet. (Winkler in Grohotolsky, 1998, S. 18)

Zwischen echtem Bild und Metaphorisierung der Realität kristallisiert sich das kritische Schreiben Winklers heraus.55 Die Wahl der fotografierten Ereignisse spielt eine wesentliche Rolle, nämlich in der Hervorhebung bestimmter Bilder, die in Konfrontation mit ikonographischen Darstellungen oder mit einer hagiographischen Lebenserzählung treten. Das Alltägliche und das Sündhafte darzustellen, die doppelseitigen Bilder der frommen katholischen Dorfgemeinschaft vor Augen zu führen, gehört zu seinen politischen Strategien, die mit dem ästhetischen Mittel des Bildes in Gang gesetzt werden. Daher geht Winklers Poetik des Bildes in mehreren Aussagen des Autors mit einer Referenz auf das Religiöse einher: Mit dem Beginn meiner Reisen war klar, dass es um das Schauen gehen wird, um Bilder. Es war naheliegend, dass ich nicht nach London oder Paris gehe, sondern nach Rom, ins Zentrum des Katholizismus. In Rom gibt es die Monstranzen und Tabernakel in viel großartiger Form als zu Hause […]. (Jandl & Winkler, 2008)

Das Bildhafte am Katholizismus (die Ikonographie, die Rituale, usw.) ist bei dieser Schreibstrategie zentral: das Sammeln und die Exposition von alltäglichen Bildern, die sowohl dem Film als auch dem Tagebuch nahestehen. Die wichtige Rolle der Bilder kann auch als eine Konsequenz der Rezeption Jean Genets gedeutet werden.56 Vor allem in der französischen Literaturtradition finden sich für Winkler die wichtigsten Exponenten einer bildhaften Schreibweise.57 Unten soll dementsprechend die Frage aufgeworfen werden, inwieweit

|| 55 Auf das kritische Potenzial der Fiktionalisierung historisch basierter Texte hat Aleida Assmann in ihrem Text bereits hingewiesen (2011). 56 Dies betrifft gleichzeitig die Rezeption des Werkes Hubert Fichtes: „Ein anderes Mal komme ich, ich kann mich noch ganz genau erinnern, in Klagenfurt in die Buchhandlung, und da sehe ich die Erstausgabe vom ‚Versuch über die Pubertät‘. Ich habe das Buch sofort mitgenommen, und bei den ersten Seiten, wo ein Toter mit einer Genauigkeit und mit einer Detailbesessenheit beschrieben wird, also da hat mich fast der Schlag getroffen“ (Fisch, 2005, S. 13). 57 „Ich habe gerne diese bilderreichen französischen Schriftsteller gelesen, lieber als die deutsche Literatur, weil die nicht so bildmächtig war. Von den deutschsprachigen Autoren

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Winkler eine dem Katholizismus unangenehme Ikonographie zum Ausdruck bringt, die aber keinem erzählerischen, übergeordneten Rahmen (Heilsgeschichte oder Eschatologie) entsprechen möchte. Die Bilder erscheinen wie im Rausch (Wortdroge) und führen zu einer Konfrontation und rhetorischen Momenten einer Anklage. Im Gespräch mit Klaus Kastberger und Friedhelm Rathjem erklärt Winkler seine Arbeit am bereits erwähnten Roman Natura morta als eine Selbsteinschreibung in die Kunstgeschichte, nämlich in die Tradition des Stilllebens: Aus dem „Chaos der Bilder“ seiner Notizbücher, die ihn während seines Aufenthaltes in Rom begleiteten, habe sich „[e]in Natura-morta-Motiv, ein Bild, aber wie bei Bruegel mit Menschen“ (Winkler & Rathjen, 2013, S. 289) herauskristallisiert. Die Arbeit an Bildern, die Winkler in diesen und anderen Interviews hervorhebt, wird gemeinsam mit der Bearbeitung der Sätze vollzogen und kann als poetologischer Ansatz gelesen werden, mit dem sich die Fragmentierung und die Anti-Narrativik von Winklers Werken aus einer produktionsästhetischen Perspektive erklären lässt.58 Die das Werk konstituierenden Bilder entstammen einer Sammlung von Notizbüchern; darin finden sich vor allem „Bilder von tödlichen Ereignissen“ (Jandl & Winkler, 2008). Josef Winkler inszeniert sich als Maler toter Bilder und als Sammler von Leichen (der im Roman Wenn es soweit ist im Knochensammler und Alter Ego Maximilian eine metaphorische Entsprechung findet). Gerade darin liegt die Absicht der Nacherzählung und die erzählerische Leistung: in einer Art Andenken an die Toten, das in Analogie zur Phantasmen-Metaphorik Vallejos betrachtet werden kann. Bilder werden immer wieder als Quellen des Schreibens identifiziert: Bilder sind für mich sehr wichtig, es liegen immer welche auf meinem Schreibtisch. Ich habe inzwischen 14 Bücher geschrieben, also mehrere 1000 Seiten. Man findet da nur wenige Sätze, die nicht aus einem Bild bestehen – Bilder innerhalb und außerhalb von mir. (Friedl & Winkler, 2010)

„Innerhalb und außerhalb“, in der subjektiven Umschreibung und in der unmittelbaren Konfrontation mit dem Bildlichen, oder vielmehr dazwischen entsteht || habe ich damals neben Peter Handke auch Gerhard Jonke und Peter Weiss gelesen“ (Reif & Winkler, 2012, S. 84). 58 „Die Bilder, die Beobachtungen, rinnen mir nicht durch die Finger, ich habe sie in meinen Notizbüchern fest- und aufgehalten. Ich kann mich an nichts erinnern, ich merke mir ohne Aufzeichnungen nichts, aber wenn ich ein Tagebuch von mir aus Indien oder Mexiko zur Hand nehme und es wieder lese, kann ich mich fast an jedes einzelne Bild erinnern, nehme sogar die Gerüche wahr und kann dann mit diesem Tagebuchmaterial eine Geschichte schreiben“ (Huber & Winkler, 2013).

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das autobiographische Schreiben Winklers – das Äußerliche konstituiert das subjektive Ich, das in den mamotretos Ausdruck findet.59 Das Bild steht zunächst mit dem Satz in Verbindung. Josef Winkler illustriert die Beziehung zwischen Bild und Satz in Bezug auf Peter Handke folgendermaßen: „Bei reiner Mitteilungsliteratur hätte ich ein schales Gefühl. Erst mit der Form des Satzes entsteht etwas“ (Jandl & Winkler, 2008). Das Formale, der Satz als Bild und nicht als Mitteilung, wird vom Autor als das Wesentliche bezeichnet. In einem anderen Interview mit Matthias Prangel hebt Winkler das Bildliche seines ganzen Werkes in Beziehung zum Satz folgendermaßen hervor: Es gibt in den elf Büchern von mir nur ganz wenige Sätze, die nicht aus einem Bild bestehen. Es besteht alles aus Bildern, die in Fluß kommen, die in Fluß gebracht werden, die sich verzweigen und die sich irgendwo auch wiederfinden. Eben ein Labyrinth von Bildern. Das muß mir schon sehr früh deutlich geworden sein. (Winkler in Prangel, 2003)

Der Fluss, der bei Vallejo eine wichtige metaphorische Rolle spielt, wird auch hier in Bezug auf das Bild als Schreibstrategie genannt. Der Fluss steht sinnbildlich für die Wichtigkeit des Abschweifenden in seiner Bildpoetik. Es geht nicht um starre, sondern um fließende Bilder, die dem Film nahestehen und die durch den Satz in Bewegung geraten. Bild, Satz und Erzählfluss sind dann drei wichtige Momente für das Verständnis der Winkler’schen Bildpoetik. Der Fluss steht aber zugleich in Verbindung mit dem Leben (Erinnerungsbilder, „die sich verzweigen und die sich irgendwo auch wiederfinden“) und bringt damit noch ein zusätzliches Element ins Spiel: das Tagebuch. In Bezug auf den Roman Menschenkind erklärt Winkler, dass er von „über tausenden Tagebuchseiten“ zu den ersten Sätzen des Buches gekommen sei (Winkler in Grohotolsky, 1998, S. 13). Menschenkind, von Winkler als das „metaphorischste“ Buch bezeichnet, ist der erste Teil der dreibändigen Autobiographie, gefolgt von Der Ackermann aus Kärnten und Muttersprache. Nur bei diesem letzten Buch, erklärt Winkler, sei ihm das Erzählen erstmals gelungen. Trotzdem ist es ein Erzählen, das nicht aus einer übergeordneten Perspektive, sondern von einer Art immanenten Position aus vollzogen wird:60 „Da weiß ich || 59 Es liegt nahe, Winklers Bildpoetik mit der rhetorischen Form der Ekphrasis zu vergleichen. Es geht jedoch hier nicht um eine einfache, sondern um eine komplexe Referenzialitätsbeziehung zwischen Sprache und Realität bzw. zwischen Sprache und Bild: Es geht nicht um eine Überführung des Bildlichen ins Sprachliche, sondern um eine Übermalung und Veränderung des Beschriebenen durch die Sprache. Daher verzichte ich hier auf den Begriff der Ekphrasis. 60 Es wird in diesem ‚immanenten Erzählen‘ auf jegliche übergeordnete Erzählinstanz verzichtet. Da im folgenden Teil die Opposition zwischen transzendentaler Moral und immanenter

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ja selber nicht, wo oben und unten ist oder wo die Mitte und links und rechts“ (1998, S. 14). Diese immanente, ich-fixierte Perspektive wird tatsächlich in Muttersprache durch den kontrastiven Wechsel in die dritte Person am Ende des Buches evident: Erst mit der Figur des am Rande des Dorfes lebenden Transvestiten löst sich die Erzählung von der internen Fokalisierung.61 Im Rest der Erzählung verbleibt das erzählende Ich in einer Gegenwart des Erinnerns, aus der die Bilder geschaffen werden. Es handelt sich um ein nicht organisches Erzählen (ohne Anfang, Mitte und Ende). Zum Verständnis dieses immanenten Erzählens dient die Urfassung der Trilogie in Form eines Tagebuchs: Es geht um eine Gegenwartsperspektive, eine „Buchhaltung des Lebens“62 ohne chronologische Orientierung. Diese zwei Aspekte – das Tagebuch und das immanente Erzählen – hängen insofern zusammen, als dass beide der Hervorhebung einer IchInstanz dienen, die aus der Gegenwart die fabulación (Molloy)63 des Lebens schafft.

|| Ethik eingeführt wird, benutze ich bereits an dieser Stelle den Begriff der ‚Immanenz‘, um die Ich-Zentriertheit der Erzählung zu betonen. 61 Die Figur des Transvestiten und der Wechsel in die dritte Person wird in extenso im dritten Teil behandelt. 62 Vgl. Winkler, 2008a. 63 Das Leben ist in seiner Faktizität und Kontingenz ein unverständliches bzw. bereits totes, seine Erzählung hingegen verständlich und sinnhaft. Die Natur beider Instanzen (Leben und Erzählung) befinden sich in der Autobiographie in einer unmöglichen Gleichstellung, die dazu führt, wie Sylvia Molloy bereits feststellte, dass die Autobiographie ein Unmögliches (imposible) bleibt: „[N]arrar la historia de una primera persona que sólo existe en el presente de su enunciación“ (Molloy, [1991] 1996, S. 11) / „Die Geschichte einer ersten Person zu erzählen, die nur in der Gegenwart ihrer Mitteilung existiert“ (meine Übersetzung). Die Erzählung des Lebens entspricht zwangsläufig einer Verwandlung, in der jedoch eine Identität zwischen beiden behauptet wird. Die kategoriale Unterscheidung zwischen Erzählung und Leben muss insofern aufrechterhalten werden: Der erste offensichtliche Grund wurde bereits von Molloy eingeführt, der zeitliche. Wenn „die Erzählung, der Ort der Vergegenwärtigung schlechthin“ (Müller-Funk, 2002, S. 72) ist, dann hört das Vergangene auf, vergangen zu sein, und die Erzählung wird zur Folge eines Gedächtnisaktes im Jetzt. Daher steht die Autobiographie, so Molloy, für die fabulación. Dies führt zur Annahme, dass die Autobiographie eine ambivalente nicht bestimmte Gattung ist, die zwischen Geschichte und Fiktion changiert und gleichzeitig keines von beiden ist; eine Gattung, in der aber der Text selbst im Vordergrund steht, und nicht, worauf dieser textextern durch die Erzählung referiert. Es geht in der Autobiographie um eine „autoconfrontación textual“ (Molloy, [1991] 1996, S. 13 / „textuelle Selbstkonfrontation“, meine Übersetzung), in der die Gegenwart des Schreibenden, des Ichs, das plötzlich zum Text wird, den Kern der fabulación ausmacht. Aus diesem Grund lässt sich schwer eine Grenze zwischen Autobiographie und Autofiktion ziehen, und somit wird in diesem Buch auf letzteren Begriff verzichtet.

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Sowohl Vallejo als auch Winkler sind Autoren, die der Form der Texte eine besondere Aufmerksamkeit widmen – eine Form, die im Rahmen eines kritischen, kämpferischen Schreibens die politische Kraft des Rhetorischen und der Sprache betont.64 Winkler spricht davon, die „Waffe[n] der Sprache in die Hand“ (Jandl & Winkler, 2008) zu nehmen, und Vallejo davon, mit seinen Texten eine Abrechnung mit Kolumbien, mit der Kirche und schlussendlich mit der ganzen Menschheit zu beabsichtigen. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung erklärt Winkler das Verhältnis zwischen Form und Inhalt folgendermaßen: „Sie können es sich so vorstellen: Die Form ist eine Katze, die schön und geschmeidig geht. Der Inhalt ist eine leere Blechdose, die man an den Schwanz der Katze anhängt. Die Katze kann noch so schön laufen, der Inhalt, die Blechdose, scheppert immer“ (Pulz & Winkler, 2018). Es geht nicht nur um eine Ästhetisierung der Sprache in der Pflege des Formalen, sondern um die Nutzung der Mittel des Literarischen für die politische-soziale Kritik bzw. die Betonung der Sprache als kritisch-politisches Mittel. Insofern sind beide Aspekte relevant, wobei sich das Inhaltliche bereits im Formalen ausdrückt: Beide Aspekte (das Inhaltliche und das Formale) müssen in Bezug auf diese Autoren zusammengedacht werden. Die persönlichen Aussagen der Autoren über ihre Werke sollen hier nicht als eine ausformulierte Poetik im engeren Sinne verstanden werden, sondern als Hinweise auf produktionsästhetische Strategien, die im Falle dieser zwei Autoren, bei denen der Ich-Erzähler und die Autorinstanz ununterscheidbar scheinen,65 von Relevanz sind. Dabei können diese Texte als Teile des Textkontinuums, das ihre Gesamtwerke ausmacht, gelesen werden. Diese Strategien werden in Vallejos Fall explizit in metaliterarischen Reflexionen im Werk thematisiert; im Falle Winklers werden sie im Folgenden mit besonderem Fokus auf der hier beschriebenen Bildpoetik in der autobiographischen Trilogie nachverfolgt.

|| 64 Bemerkenswert ist die von Wendelin Schmidt-Dengler ([1995] 1996, S. 375–377) hervorgehobene These Ulrich Greiners aus Der Tod des Nachsommers (1979), die österreichische Literatur entwickele sich aus einem Interesse an der Form und zeige ein Desinteresse an den Inhalten. Schmidt-Dengler ist der Auffassung, „daß die Studie Greiners nicht ohne Folgen auch für die Autoren und ihr Selbstverständnis blieb“ (ebd., 377). Dies könnte Winklers Interesse an der Form im Kontext des damaligen Diskurses erklären, meine These zielt jedoch eher darauf, diese Form schon in ihrem religionskritischen Gehalt als Teil des Inhalts zu verstehen, nämlich des religionskritischen Inhalts. 65 Vgl. Duarte, 2013, S. 180.

3 Exkurs: Vallejo und Winkler über das Leben anderer Außenseiter Yo llevo las cuentas de su vida mejor que usted. Las que se me han hecho un embrollo son las de la mía. Fernando Vallejo66

Bevor Fernando Vallejo den ersten Teil seiner Autobiographie im Jahr 1985 veröffentlichte, widmete er sich in einer langen biographischen Untersuchung dem Leben des kolumbianischen fin de siècle-Dichters Porfirio Barba Jacob. Diese Biographie ist zum ersten Mal 1984 als Barba Jacob: el mensajero und dann 1991 unter dem Titel El mensajero erschien. Vom Biographen ist Vallejo zum Autobiographen geworden – dieser Übergang bedeutete jedoch, stilistisch und narratologisch gesprochen, keinen Bruch in Vallejos Werk, da sich die erste Person schon mit der ersten literarischen Publikation als Zentrum seines Erzählwerks etablierte. Im Gegensatz zu Josef Winkler, der sich in einigen seiner Publikationen im Schreiben in dritter Person versuchte (etwa in Wenn es so weit ist, Die Verschleppung oder sogar in ein paar Passagen von Das wilde Kärnten), wird in Vallejos Literatur die erste Person als einzige Perspektive gewählt. Vallejo schrieb seine Biographien (oder romanhafte Biographien) kolumbianischer, kanonischer Autoren – neben der oben genannten sind es mit Almas en pena, chapolas negras (1995) über den modernistischen Dichter José Asunción Silva und El cuervo blanco (2012) über den Philologen Rufino José Cuervo insgesamt drei –, immer mit einer klaren Markierung seiner Perspektive und seines Standpunktes in Zeit und Raum. Diese Perspektive exemplifiziert, was hier mit ‚immanentem Erzählen‘ gemeint ist, und wird im Folgenden dargelegt. Exemplarisch ist der Anfang der ersten Biographie über Barba Jacob: „Camino de la muerte, en México, conocí a Edmundo Báez que me habló de Barba Jacob“ ([1991] 2017, S. 7).67 Der „Weg zum Tod“ ist Vallejos eigener als Biograph, der sich zu dieser Zeit in Mexiko aufhielt und dort seine biographischen Untersuchungen durchführte. Der erste Satz ist in der ersten Person geschrieben, und die ganze Biographie wird immer wieder, trotz des notwendigen Wechsels in die dritte Person, das forschende Ich erwähnen und die Quelle seiner Informationen verraten. Die Biographie antizipiert nicht nur den Stil und die anti|| 66 Vallejo, [1991] 2017, S. 210. / „Ich habe eine bessere Buchführung über ihr Leben als Sie selbst. Diejenige, die ich durcheinandergebracht habe, ist meine eigene“ (meine Übersetzung). 67 „Auf dem Weg in den Tod, in Mexiko, lernte ich Edmundo Báez kennen, der mir von Barba Jacob erzählte“ (meine Übersetzung). https://doi.org/10.1515/9783110799965-004

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narrative, sprunghafte, abschweifende Form, die seine Autobiographie annehmen wird, sondern auch die Thematik der Vergänglichkeit und der Flüchtigkeit des Lebens, die im Kern seiner Autobiographie stehen wird. Die Biographie Barba Jacobs wird nicht chronologisch erzählt und es wird darin auch nicht an sehr harschen subjektiven Kommentaren des Biographen gespart; so zum Beispiel im Kontext des sprunghaften Themenwechsels mitten in der Biographie, als Vallejo die negative Rezeption Barba Jacobs durch den mexikanischen Dichter Octavio Paz wiederum negativ (wenn nicht beleidigend) kommentiert: Hay en este país un loco, un loco pretencioso, que ha dicho, escrito, que el único que desafinaba en la segunda edición de Laurel, antología de la poesía moderna en la lengua española editada en México era Barba Jacob. […] Se llama Paz, dizque Octavio Paz. ¿Paz en este mundo en guerra? ¿La paz octaviana? En qué cabecita hueca cabe ponerse semejante pseudónimo… (ebd. 90)68

Diese Reihe von Beleidigungen des kanonischen mexikanischen Dichters, die sich sogar in späteren Schriften Vallejos wiederholen (wie in Los caminos a Roma oder Entre fantasmas), erfüllt nicht nur einen humoristischen Zweck – den offiziell anerkannten Dichter, den Nobelpreisträger als „loco“ („Wahnsinnigen“) oder seinen Namen als Pseudonym zu bezeichnen – sondern rückt auch die Instanz des Schreibenden in den Fokus, unterstreicht die Bedeutung des Ichs, das im Sprechakt der Beleidigung die Narration der Biographie abschweifen lässt. Es ist die erste Person, die sich in der aufgeheizten Sprache, in ihrer (beleidigenden) Rhetorik und Rhythmik äußert und die Linearität des Erzählten als sekundär erscheinen lässt, indem sie sich die Freiheit nimmt, von der Erzählung willkürlich abzuschweifen. Die dritte und die erste Person werden auch in einigen Passagen vermischt und treten in eine Beziehung der Ununterscheidbarkeit zwischen Biographiertem und Biographen ein. Damit wird auch die Biographie selbst als Gattung reflektiert. Die Fiktionalität des Gesagten bzw. die Falschheit des Erzählten wird ironischerweise als Inkompetenz des Biographen bezeichnet und seine Fehler werden als Folge der verfälschenden Informationsübertragung gerechtfertigt: „Objetivo sí, en el fiel de la balanza, ni le cargo ni le exculpo, digo lo que me || 68 „Es gibt in diesem Land einen Wahnsinnigen, einen angeberischen Wahnsinnigen, der gesagt, geschrieben hat, dass das einzige Unstimmige der zweiten, in Mexiko herausgegebenen Ausgabe von Laurel, antología de la poesía moderna en la lengua española Barba Jacob war. […] Er heißt Paz, angeblich Octavio Paz. Frieden (Paz) auf dieser Welt im Krieg? Der octavianische Frieden? Welchem leeren Köpfchen ist der Einfall entsprungen, ein solches Pseudonym auszuwählen…“ (meine Übersetzung).

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dicen“ (ebd. 125)69. Die behauptete Unzulänglichkeit der Biographistik wird paradoxerweise zum Wesen derselben: Die Leser*in wird im Verlauf der fünfhundertseitigen Biographie wiederholt mit der Metapher des Rauches konfrontiert. Diese steht für die Suche des Biographen bzw. den Versuch, das Leben des Biographierten zu fassen: „Como a un genio que se nos hubiera escapado de la botella estoy tratando de recuperar a Ricardo Arenales [Porfirio Barba Jacob]: cierro las manos para apresarlo y agarro humo de marihuana“ (ebd. 114)70. Das (auto)biographische Schreiben basiert auf der Erinnerung und dem Erinnerungsfluss des (Auto)Biographen und der Zeugenschaft der Bekannten des Biographierten. Die fremde Erinnerung als materielle Basis des Wahrheitsbezugs der Biographie ist von Anfang an porös bzw. instabil71, und dies wird bei Vallejo durch die Metapher des Rauches explizit gemacht: „Escribir vidas de santos con base en los recuerdos es como tejer con hilos de humo“ (ebd. 182)72. Wie die Wahrheit eines Lebens darstellen, das durch die verschiedensten Perspektiven wie Marihuanarauch entweicht? Diese Metapher des Rauches wird in den Romanen mit der des Phantasmas in Verbindung gebracht: Wie unten gezeigt wird, hat die Idee der Flüchtigkeit nicht nur mit dem Schreiben über das Leben zu tun, sondern mit der Verwischung der Grenzen einer Identität, die als verworren (queer) dargestellt wird. „Rastreador de fantasmas […]. Diez años perseguí al fantasma de Barba Jacob, y cuando por fin lo apresé, lo exprimí en una secadora de rodillos de ropa hasta la última gota. ¿Que no se puede exprimir un fantasma? No podrá usted, yo sí“ (EF 135).73 Das Leben, in der katholischen Tradition als Abbild der Identität verstanden, wird als flüchtig und chaotisch dargestellt.74 Somit wird mit einer fatalistischen, teleologischen Konzeption des

|| 69 „Objektiv, ja, wie auf einer Waage, ich füge nichts hinzu oder entschuldige nichts, ich sage, was mir gesagt wird“ (meine Übersetzung). 70 „Wie einen Geist, der uns aus der Flasche entkommen ist, versuche ich Ricardo Arenales [Porfirio Barba Jacob] zurückzuholen: ich schließe meine Hände, um ihn zu packen und greife Marihuanarauch“ (meine Übersetzung). 71 Aus dem Grund spricht María Fernanda Lander von einer Infragestellung der Autorität des Biographen, indem alles subjektiv aus der Perspektive des Ich-Erzählers erzählt wird (2015, S. 224). 72 „Das Leben von Heiligen auf der Basis von Erinnerungen zu schreiben, ist wie mit Rauchfäden zu weben.“ (meine Übersetzung). 73 „Phantasmenjäger […]. Zehn Jahre verfolgte ich das Phantasma von Barba Jacob, und als ich es endlich ergriffen hatte, wrang ich es in einem Wäschetrockner bis zum letzten Tropfen aus. Dass man kein Phantasma auswringen kann? Sie vielleicht nicht, ich schon“ (meine Übersetzung). 74 Auf ähnliche Art und Weise bezieht sich Carmen Perilli auf das aus der Biographie resultierende Bild Vallejos, „[que] nos ofrece una serie de identidades fracturándose en forma conti-

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Lebens gebrochen: Das Leben lässt sich nicht endgültig fassen und noch weniger einem Urteil unterziehen, wie es das Jüngste Gericht vollstrecken würde. Die Referenzialität wird durch die epistemologische Unzulänglichkeit des Biographen in Frage gestellt bzw. verabschiedet – die Entfernung des Biographen in Zeit und Raum und seine eingeschränkte Perspektive verbleiben als notwendige Bedingungen des Erzählens: Alle Zeugen, die den kolumbianischen Dichter Barba Jacob noch kennengelernt haben, sterben kurz vor Vallejos Besuch; die wechselhafte Identität und der sich ständig verändernde Name des biographierten Dichters verkompliziert zugleich die Arbeit des Biographen. Die Relativität der Perspektive der ersten Person wird deutlicher, wenn die Erzählung über das Leben Barba Jacobs plötzlich zur ersten Person plural übergeht: Hoy viernes veinticinco de octubre de 1907 a las siete de la mañana estamos anclando, desembarcando, del Venezuela en Puerto Limón Costa Rica, según puede constatar usted, si no lo cree, en la guía portuaria de El Noticiero, de San José. […] También podría decir que el Venezuela hizo escalas en Cartagena y en Colón juzgando por la duración del viaje: del martes veintidós al viernes veinticinco. Mas no lo digo pues no soy de esa raela de biógrafos suponedores. (Vallejo [1991] 2017, S. 156–157)75

Auf ähnliche, aber umgekehrte Weise wechselt die Autobiographie plötzlich von der ersten zur dritten Person. Das selbstkritische und selbstreflexive Schreiben Vallejos spielt mit der Möglichkeit der Verfälschung und bringt somit den Pakt zwischen Leser*in, Text und Autor ins Wanken. Die Referenzialität verliert ihre Selbstverständlichkeit: Der Erzähler/Autor kann sagen, was er möchte, indem er der Leser*in Ungläubigkeit unterstellt und ihr zur Überprüfung des Wahrheitsgehaltes auffordert, wird dieser überhaupt erst in Frage gestellt. Nicht nur das Wir in der Passage, d.h. das Zusammenkommen zweier unterschiedlicher Zeiten und Orte, sondern auch das Explizit-Werden des Glaubwürdigkeitspaktes führt

|| nua en desterritorializaciones voluntarias o involuntarias“ (Perilli, 2014, S. 75). / „[das] uns eine Serie von Identitäten präsentiert, die sich kontinuierlich in freiwilligen oder unfreiwilligen Deterritorialisierungen fragmentiert“ (meine Übersetzung). 75 „Heute, Freitag der fünfundzwanzigste Oktober 1907, um sieben in der Früh ankern wir und gehen in Puerto Limón in Costa Rica von Bord der Venezuela, wie Sie im Hafenführer von El Noticiero von San José nachschlagen können, wenn Sie es nicht glauben. […] Ich könnte auch sagen, dass die Venezuela, wegen der Dauer der Reise, auch Zwischenhalte in Cartagena und in Colón gemacht hat: von Dienstag, dem zweiundzwanzigsten bis Freitag, dem fünfundzwanzigsten. Aber ich sage es nicht, da ich nicht von jener Art mutmaßender Biographen bin“ (meine Übersetzung).

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ein Unbehagen bezüglich des Wahrheitsgehaltes der Erzählung ein („no soy de esa raela de biógrafos“). Die fast fünfhundert Seiten der Biographie von Barba Jacob sind in dieser Hinsicht auch ein mamotreto: Die Stimmen, die Töne, die Rhythmen und Textgattungen, die sich hier vermischen, scheinen aus dem Text etwas ganz anderes als eine Biographie zu machen: der Fokus wird von einer anderen Person auf die eigene verschoben. Der Inhalt der Biographien Vallejos ist jedoch nicht irrelevant: Es handelt sich zwar immer um kanonische Autoren, jedoch in gesellschaftlichen Außenseiterpositionen. Fernando Vallejo interessiert sich bei der Wahl biographischer Informationen besonders für die Anekdoten, die die Autoren in das Licht des Außenseitertums stellen: Barba Jacob wird durchgehend als Alkoholiker und Marihuanaraucher, als skandalöse ‚Tunte‘ und Dieb dargestellt. Vallejo porträtiert und zelebriert das Monströse im Kanon und somit zollt er diesen Autoren, die er (im Gegensatz zu vielen anderen wie Octavio Paz) immer in ein moralisch gutes Licht rückt, Tribut: Seine Biographistik ist eine subversive Re-Lektüre der kolumbianischen Literatur, die das Queere der offiziellen Dichter hervorhebt: „así Arenales [Barba Jacob] no era profundo aunque rebelde, sino que porque rebelde era profundo […]“ (ebd. 86–87)76. Dies führt zu einer durchgehend in der Biographie spürbaren empathischen Nähe zwischen dem Biographen und dem Biographierten, die sogar einige lebensgeschichtliche Ähnlichkeiten aufweisen.77 Besonders bezeichnend ist, dass der autobiographi|| 76 „[…] so war Arenales [Barba Jacob] nicht tiefgründig, obgleich rebellisch, sondern weil rebellisch, war er tiefgründig […]“ (meine Übersetzung). – Interessant ist die Passage im letzten Band von Vallejos Autobiographie Entre fantasmas, in der sich der positive Bezug auf Barba Jacob ändert. Der Erzähler empfindet im Nachhinein das biographische Projekt überhaupt als eine „convención manida“ („abgedroschene Sitte“) oder eine „bestialidad literaria“ („literarische Bestialität“) – ein gutes Beispiel für die paradoxen Meinungen und das selbstkritische Potenzial von Vallejos Schreiben (vgl. EF 37). 77 Die Migrationsgeschichte und Rückkehr Barba Jacobs nach Kolumbien (und sogar nach Antioquia, die Heimat beider Autoren) wird mit einem ähnlichen Pathos in der Autobiographie und in der Biographie beschrieben: „La patria para Barba Jacob, si es que alguna tuvo, era Antioquia, la tierra de su infancia. Y cuando él regresó él ya era otro, y Antioquia otra, que es lo que siempre pasa“ (Vallejo, [1991] 2017, S. 179) /„Die Heimat für Barba Jacob, wenn er überhaupt eine hatte, war Antioquia, das Land seiner Kindheit. Und als er zurückkam, war er bereits ein anderer, und Antioquia ein anderes, wie es immer der Fall ist“ (meine Übersetzung). In der Autobiographie heißt es: „Y ahora sí, Bruja niña, para la oreja y presta atención, prepárate para la llegada a Medellín al día siguiente, con el día reluciente. Un día de esos azules, de azul celeste, azul risueño, azul de antes. […] En la dolorosa alegría del retorno los iba recordando a todos, nombrándolos, nombrándome. […] Volvía al centro tras el inútil viaje por la periferia“ (CR 182–184) / „Und jetzt, Bruja Mädchen, hör zu und pass auf, bereite dich auf die Ankunft in Medellín vor, am nächsten Tag, am strahlenden Tag. Einer dieser blauen Tage,

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sche Erzähler sich selbst direkt in der Lebensgeschichte von Barba Jacob wiederfindet: „Siete años lo busqué, para encontrarme yo“ (DA 157)78. Die Faszination für Autoren, die als Außenseiter wahrgenommen werden, ist eine Gemeinsamkeit von Vallejo und Winkler. Die Biographie des letzteren über das Leben Jean Genets mit dem Titel Das Zöglingsheft des Jean Genet (1992) ist nicht nur eine biographisch motivierte Schrift über Genet, sondern auch eine Hommage in der Form einer Collage: Biographische Nacherzählung, verschiedene Zitate aus den Texten des Biographierten, Anekdoten, Gedichte, essayistische und autobiographische Passagen etc. werden hier zusammengefügt. Obwohl die ‚Biographie‘ Winklers zwar nicht wie bei Vallejo ständig das Ich des Biographen in den Mittelpunkt stellt, so taucht doch auch hier die Ich-Form immer wieder auf: Die Verehrung, die dieses Ich dem französischen Dichter entgegenbringt, wird zu einem wichtigen, wenn nicht zum primären Bestandteil der Biographie. Der Großteil des ersten Kapitels ist der Erzählung der Reise des Österreichers nach Paris gewidmet, einer Reise auf der Suche nach dem Sterbeort Genets, die dann am Ende des Buches mit der Pilgerreise nach Marokko zum Grab vervollständigt wird. In Bezug auf die Genet-Biographie erklärt Winkler: Und später, wie man weiß, habe ich ein Büchlein über Jean Genet geschrieben, wo ich mich selber, meine eigene Existenz mit reinreklamiert habe. Nur hab ich in den Büchern von Genet vieles gesucht, was mich besonders interessiert hat, weil ich’s ähnlich gefühlt habe oder so. Das ist natürlich auch kein Buch über Genet. (Grohotolsky & Winkler, 1998)

In diesem „Sich-Mit-Reinreklamieren“ steckt genau diese Wendung vom Biographischen zum Autobiographischen bzw. von der dritten zur ersten Person Singular, die auch in der Erstlingstrilogie zu finden ist: der Selbstmord Jakobs und Roberts als konstituierender Teil des eigenen Lebens des Autors. Winklers biographischer Text über Genet folgt auch keiner chronologischen Struktur: Sie beginnt und endet mit der Suche nach den Todesspuren Genets. Im Zentrum der Biographie steht das Faszinosum Genet, das zugleich das ganze Werk Winklers geprägt hat. Die Präsenz Genets ist schon in seinen ersten Publikationen explizit hervorgehoben, und diese produktive Rezeption des französischen Dichters tritt in der Genet-Biographie zum ersten Mal in den Vordergrund:

|| himmelblau, ein lächelndes Blau, das Blau von früher. […] In der schmerzhaften Freude über die Rückkehr erinnerte ich mich allmählich an sie alle, indem ich sie beim Namen nannte, indem ich mich beim Namen nannte. […] Ich kehrte nach meiner vergeblichen Reise durch die Peripherie ins Zentrum zurück“ (meine Übersetzung). 78 „Sieben Jahre habe ich nach ihm gesucht, um mich selbst zu finden“ (meine Übersetzung).

Exkurs: Vallejo und Winkler über das Leben anderer Außenseiter | 75

Teil der Biographistik ist dann die Position des Lesers, nämlich Winklers, wie in folgender Passage, als der Erzähler bzw. Winkler vor dem Schlafen in dem Hotelzimmer, in dem Jean Genet vermutlich Selbstmord begangen hat, das ganze Ambiente detailliert wiedergibt: Bevor ich mich ins Bett legte, in dem Genet oft übernachtet hatte, trank ich am Tisch sitzend eine Flasche Wein, wobei ich eine halbe Stunde lang auf den Aschenbecher mit dem Eiffelturm starrte und mich immer wieder nach seinem Sterbebett umsah. Ich hatte Angst in sein Totenbett zu steigen, schob die Nacht so lange wie möglich vor mir her und betäubte mich mit dem Wein. Im Leintuch fand ich mehrere Löcher, auf der blauen Bettdecke ein paar Blutflecken. Die meiste Zeit blieb ich wach und wälzte mich im viel zu weichen Bett – ich hatte das Gefühl auf Genets Eingeweiden zu liegen – oftmals hin und her. (1992, S. 15)

Die Gefühle des Erzählers nehmen einen wichtigen Teil in der Geschichte ein, was noch evidenter wird, als die Glaubwürdigkeit des Erzählten, die jede Biographie als Pakt zwischen Autor*in und Leser*in zugrunde legt, relativiert wird bzw. indem die Relativität der biographischen Information offenkundig wird (genauso wie bei Vallejo). Die Literarizität des Biographischen und die Subjektivität des Ich-Erzählers werden enthüllt, indem am Ende des ersten Kapitels erklärt wird, dass dieses Ich sich getäuscht hat und nicht im Sterbebett Genets geschlafen hat: „Einige Zeit später, als ich in Berlin in einer Buchhandlung stöberte, entdeckte ich zu meiner Enttäuschung und Verbitterung in einer französischen Biographie über Jean Genet […], daß ich offenbar doch nicht in seinem Totenbett übernachtet habe“ (ebd. 16). Obwohl sich Winkler, im Gegensatz zu Vallejo, nicht auf persönliche Kommentare zum Leben Genets einlässt, läuft die Ich-Erzählung parallel zur Erzählung des Lebens Genets. Es geht in beiden Fällen um eine immanente Erzählung, die das Fabulieren immer aus der Perspektive des Schreibenden in der Gegenwart voranbringt. In dieser Weise wird die Biographistik mit ihrem Wahrheitsanspruch relativiert und somit verlässt sie nie den Rahmen des Literarischen. Der Text besteht auch zum großen Teil aus Genet-Zitaten und bewahrt eine fragmentarische Form, die bereits in den ersten autobiographischen Büchern zu finden ist. Genet ist eine Figur unter anderen (wie Hans Henny Jahnn, Karl May oder Peter Weiss), die vom Leben des österreichischen Autors, so wie es in Das wilde Kärnten erzählt wird, nicht zu trennen sind. Dies erfolgt aus der impliziten „intertextuelle[n] Vernetzung vermeintlicher Lebensereignisse mit Lektüren“, wie Robert Walter-Jochum feststellt (2016, S. 245). Im letzten Teil der Trilogie (Muttersprache) findet man folgende Passage, die das Werk Genets sogar in eine leibliche Nähe zum Autobiographen rückt: „Wenn ich auch monatelang keine Zeile darin [in den Büchern Genets] lese, so

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trage ich sie ständig mit mir herum, wie meine Eingeweide, die ich nicht sehe, aber ohne die ich nicht leben kann“ (MS 584). Aus diesem Grund wäre die Frage relevant, inwieweit diese Biographie Genets als eine Art Fortsetzung von Winklers Autobiographie zu verstehen ist. Das autobiographische Schreiben wird zur Vernetzung verschiedener Lebenstexte, indem das Subjekt sich als mosaik- bzw. collageartiges Bild entwirft. Somit konstituiert sich das Autor-Ich als politisches Subjekt mit einer Stimme, die sich formal und inhaltlich kritisch positioniert. Diese Opposition zwischen einem Ich und einem Er, die auch in jener zwischen Subjekt und Gesellschaft anzusiedeln ist, macht aus der Autobiographie beider Autoren die Biographie eines sozialen Subjektes, eines kollektiven, ausgeschlossenen Subjektes, wie jene in Didier Eribons Sur la question gay (1999)79. Die Entwicklung im Werk beider Autoren ist trotz offensichtlicher Ähnlichkeiten entgegengesetzt: von der Biographie zur Autobiographie (Vallejo) und von der Autobiographie zur Biographie (Winkler). Bei beiden tritt jedoch das Autobiographische, die Bedeutung des Erzählstandpunktes, der zwischen Autorinstanz und Ich-Erzähler nicht differenziert, als Gravitationszentrum des Schreibens hervor. Das Leben der Anderen dient als Anhaltspunkt, um über das eigene Leben zu reflektieren. Die Biographie der Anderen wird somit ununterscheidbar mit der Autobiographie des Biographen.

|| 79 „[I]t is precisely this relation between an individual and a group that is at the heart of the book: individual subjectivity is always ‘collective‘, we might say, because an individual is always socialized – socialized within a social real, traversed by hierarchies and divisions. A minority subjectivity is always that of a group of people assigned to the same place within the social order and, in this particular case, within the sexual order“ (Eribon, 2004, S. 17).

4 Leserlich werden müssen: Lebenserzählung in der katholischen Religionskultur Die Bibel, sowohl das Alte als auch das Neue Testament, ist bereits in der etymologischen Bedeutung ihres Namens „Schriftrollen, Bücher“ (Walter, 2000, S. 58) und auf den ersten Blick in ihrer mannigfaltigen, jedoch in umstrittener Weise offenen Form, der Inbegriff eines mamotreto: Sie besteht aus unterschiedlichen Texten verschiedener Epochen, Autoren und Gattungen – und sogar religiöser Bekenntnisse –, die a posteriori in einer der Exegese geschuldeten ‚einheitlichen‘ Form geordnet werden. Dies entspricht den Prozessen der Kanonisierung, die zur Ausformung der einheitlichen Heiligen Schrift führte und die mit der Auslegung einhergeht.80 Die Bibel als mamotreto besitzt dementsprechend eine ambivalente Totalität (fragmentarisch und einheitlich zugleich): Die Einheitlichkeit des Heiligen Textes ist keine unumstrittene Angelegenheit, je nach Standpunkt – entweder literaturwissenschaftlich oder theologisch betrachtet – sieht das biblische mamotreto anders aus.81 Ein Beispiel wären auch jene Bücher oder Texte – z.B. die Apokryphen oder gnostischen Texte wie das Judasevangelium –, die je nach Standpunkt als Teil der organischen, einheitlichen Form der Bibel verstanden werden oder auch nicht. Diese latente mamotreto-Form der Heiligen Schrift erlaubt mir, die Hypothese aufzustellen, dass der in der Form aufgegriffene Bezug der Texte Winklers und Vallejos auf die Bibel eine Aneignung katholischer Textästhetik impliziert. Das Neue Testament kann als „Sammlung von Schriften“ (ebd. 58) unterschiedlichster Gattungen und Epochen genauso wie das Alte Testament als „spannungsreiche[s] Gebilde“ (van Oorschot, 2000, S. 42) diverser Verfasser, Kopisten und Propheten verschiedenster Epochen gelesen werden. In ihrer Zusammensetzung aus dem Alten und Neuen Testament kann die Bibel jedoch als eine Einheit verstanden werden: Das Neue Testament als Kritik oder Kommentar des jüdischen heiligen Textes komplementiert aus christlicher Perspektive das Alte Testament. Der wiederholte Bezug auf die jüdischen Schriften in der von den Aposteln verschriftlichten Lehre und des Lebens Jesu macht diese einheitliche Form des Buches aus. Diese Einheit der Heiligen Schrift des Chris-

|| 80 Vgl. Walter, 2000, S. 59. 81 „Die modernen Theologen betonen die Einheitlichkeit des Neuen Testaments viel zu stark. Letztlich beruht diese Einheitlichkeit auf dem gleichen Grundgedanken: der überragenden Bedeutung der Person und Ankunft Christi […]. Ein einheitliches System jedoch gibt es im Neuen Testament [sowie im Alten] nicht“ (Bezzant, 1964, S. 78). https://doi.org/10.1515/9783110799965-005

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tentums wird als „organisch“ verstanden, wie der Katechismus der Katholischen Kirche (KKK) das Organische seiner selbst behauptet.82 Auch durch die christliche Inkarnationslehre Jesu bildet sich auf einer inhaltlichen Ebene eine Einheit zwischen dem Alten und dem Neuen Testament: Gottes Menschwerdung in Jesus erfüllt die messianischen Ankündigungen des Alten Testaments. Da es sich bei den Evangelien um die Lebensgeschichte von Jesus handelt, ist die Frage nach der Organik dieser Erzählung bzw. des christlichen Lebensbegriffes von Relevanz. Das Berichten über das Leben Jesu impliziert gleichzeitig eine narrative, moralische Normierung83: Sein Leben soll als die heilige Lebensweise verstanden werden.84 In diesem Sinne konstituiert sich die Erzählung in den Evangelien – die, im Gegensatz zu den Briefen des Paulus und zur Johannesoffenbarung das Fundament des Christentums mit der Lebenserzählung Jesu legen – als eine geschlossene Form, die dem Kommentieren bzw. der abschweifenden Selbstbezüglichkeit der Verfasser keinen Raum lässt: Es geht um eine absichtlich kommentarlose Darstellung bzw. Wiedergabe des Lebens Jesu.85 Aus einer epistemologischen Perspektive der Biographistik lässt sich im Gegensatz zu den zuvor vorgestellten (Auto)Biographien Winklers und Vallejos festhalten, dass das Leben aus christlicher Sicht ein wohl erkennbares, fassbares und vor allem lesbares ist. Die organische Form und die narrative Exemplifizierung führen zu der Strukturierung und Postulierung eines heiligen Lebensweges, der in der Erzählung als lesbar objektiviert wird. Es geht nicht um die Nacherzählung eines durch die Kontingenz strukturierten Lebens (wie bei Valle-

|| 82 „Dieser Kathechismus ist als eine organische Darlegung des ganzen katholischen Glaubens gedacht. Man muss ihn [den KKK] als eine Einheit lesen“ (KKK Prolog V.18, S. 41). Der Begriff des Organischen behauptet hier eine Einheit, in der alle Teile in einer geschlossenen Entsprechung und gegenseitigen Konstituierung stehen. 83 Im Kern des Alten Testaments, spezifischer in der Thora oder dem Deuteronomium, ist der normierende Charakter der jüdischen Heiligen Schrift offensichtlicher, wie aus der Genese des Textes abzulesen ist. „Das vorliegende Buch der Tora beansprucht normierende Gültigkeit und bedarf somit des Schutzes vor Veränderung“ (van Oorschot, 2000, S. 41). Obwohl hier das Neue Testament von Interesse ist, gilt das Alte als der Teil der christlichen Heiligen Schrift, in dem der normierende Charakter des Buches festgelegt wurde. 84 Besonders produktiv für die Deutung des Anti-Narrativen im Werk Vallejos und Winklers als „anorganisch“ scheint hier der der Organik entgegengesetzte Begriff des „organlosen Körpers“ im Kapitel „Wie schafft man sich einen organlosen Körper?“ in Tausend Plateaus von G. Deleuze und F. Guattari zu sein. Das Organische als Teil eines strukturierenden, transzendenten Plans im Gegensatz zum vitalen, immanent-strukturierenden und werdenden Körper ohne Organe scheint genau der Gegenüberstellung der verschiedenen Arten von Lebenserzählungen zu entsprechen (siehe Deleuze & Guattari, 1993, S. 218). 85 Vgl. Niebuhr, 2011, S. 15.

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jo und Winkler), sondern um die Erfüllung eines in den Schriften bereits verkündeten Heilsplans. Dieser Heilsplan soll dann in den festgelegten Lebensstadien eines Christen (Taufe, Erstkommunion, Firmung, Hochzeit und Letzte Ölung) wiedererkannt oder wiedergelesen werden. Hingegen ist das Leben aus queerer Perspektive kein Durchlauf festgelegter Stadien, sondern ein autopoietisches Leben und somit der Kontingenz ausgeliefert – ein Leben, das in einer immanenten Erzählung Ausdruck erhält.86 Dafür steht auch exemplarisch die Entstigmatisierung des Selbstmordes bei Winkler. Die Lesbarkeit des christlichen Lebens basiert somit auf einer äußeren, transzendenten Perspektive (einer wiederholenden Struktur), im Gegensatz zum immanenten, diesseitigen Erzählen eines kontingenten, queeren Lebens. Besonders zu beachten sind die Gattungsspezifika der Evangelien, die in Bezug auf Lebenserzählungen eine spezielle Position einnehmen und vor allem in Bezug auf Winklers Frühwerk eine wichtige Rolle spielen. Die Evangelien sind „eine schriftliche Darstellung von Wirken, Leiden und Sterben Jesu aus Nazaret“ (Walter, 2000, S. 70), bei der die Frage nach der Biographie wichtig ist. Die Evangelien als Biographie Jesu sind nicht irgendeine Lebenserzählung, sondern der Ausdruck eines transzendenten Heilsplans Gottes, d.h. die Erzählung impliziert eine übergeordnete, transzendente, strukturierende und normierende Gottesinstanz, die im Erzählen selbst zum Ausdruck kommt.87 Winkler übernimmt zugleich, jedoch unter verkehrten Vorzeichen, den selbstauferlegten Auftrag der Verschriftlichung des Lebens und der Heiligsprechung Jakobs und Roberts, dies aber ohne transzendenten Referenzrahmen. Die Referenz auf die Gattung des Evangeliums ist explizit und zeugt von einer aktiven, kritischen Auseinandersetzung mit dieser: „Die Religion des Hasses und der Liebe in diesem Dorf zwingt mich dazu, die beiden Selbstmörder in einer sprachlichen Zelebration heilig zu sprechen“ (AK 234).

|| 86 Unten wird genauer auf diese queere Seite eingegangen und der Grund dargelegt, wieso hier die Rede von „queer“ ist. Besonders wichtig in diesem Sinne ist das Buch Jack Halberstams The Queer Art of Failure (2011), in dem die Thematisierung des Scheiterns oder Versagens als Momente eines queeren Lebens analysiert wird. Diese Konzepte des Versagens haben in der Erfüllung des festgelegten moralischen Lebensplans des Katholizismus keinen Platz, und gehören vielmehr einer vitalen, queeren Perspektive auf den Lebensbegriff an. 87 „Die biographisch strukturierte Jesusgeschichte wird in allen Evangelien, wenn auch auf je verschiedene Weise, als Ausdruck, ja, als Gegenwart des Handelns Gottes präsentiert. Man vergleiche dazu nur einmal die jeweils ersten Sätze der Evangelien, die ja für das Verstehen der Schriften im Sinne ihrer Autoren entscheidend sind. […] Die biographisch gestaltete Jesuserzählung wird somit bei allen vier Evangelisten zur Verkündungsgeschichte“ (Niebuhr, 2011, S. 19).

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Der Theologe Karl-Wilhelm Niebuhr erklärt: „Die Darstellung über Jesus und die Zeugnisse von ihm wollen nicht in erster Linie informieren, sondern orientieren. Sie zielen auf die Lebens- und Glaubenspraxis der Gemeinden, die sie nach dem Maßstab Jesu auszurichten versuchen“ (2011, S. 11). In dieser Hinsicht wird das Leben Jesu als Mythisches verstanden, nämlich als identitätskonstituierende Erzählung einer Gemeinschaft: „Der Mythos ist ein ganz spezifisches Narrativ, das Identität sicherstellt, indem es die eigene kleine auf eine große und umfängliche bezieht, auf die einer Gemeinschaft, die um ihre genealogischen Anfänge weiß“ (Müller-Funk, 2002, S. 249). Der Katholizismus als Gemeinschaft konstituiere sich Müller-Funk zufolge selbst durch diese narrative Exemplifizierung des Lebens Jesu: Diese Verschriftlichung, die erst ein Jahrhundert nach dessen Tod zustande kam, hatte den gemeinschafts- bzw. identitätsbildenden Zweck, den verschiedenen kleinen frühchristlichen Gemeinschaften eine Referenzschrift zu liefern, die „frohe Botschaft“ in der Schrift festzuhalten. Inwiefern ist diese identitätsstiftende Funktion des Evangeliums eine, die das Autobiographische selbst konstituiert? Vallejos und Winklers nicht strukturierte Autobiographien loten aus, inwieweit die eigene Lebenserzählung mit diesem vorgelegten organischen Lebensverständnis des Katholizismus korrespondiert oder davon abweichen muss. Die Beziehung zwischen dem Erzählen und der Religion wurde bereits umfassend untersucht: Mark Ledbetter hat in seiner Dissertation versucht, die Funktion des Narrativen in der Religion zu analysieren, indem das Narrative als „a process not only of revealing hidden meanings but also establishing meaning within and by its very structure“ (1989, S. 1) gefasst wird. Seine bedeutungsstiftende Funktion in der Religion ist, so Ledbetter weiter, „the discovery of virtue“ (ebd.). Das Narrative in der Religion erlaubt es, die Tugend und somit ein moralisches Denken zu artikulieren: Es wird im religiösen Sinne, so Ledbetter, als Ausdruck eines Begehrens („desire“) nach Ordnung verstanden.88 Eine solche narrative Form ist z.B. die Behauptung eines Lebens nach dem Tod bzw. einer teleologischen Eschatologie: vom Ende oder vom Anfang her das Leben zu erzählen bzw. zu ordnen. Das ist genau das Thema, mit dem Robert Walter-

|| 88 „Narrative technique is the process of discovering ordered existence or of dealing with the frustration of the inability to order existence.“ (Ledbetter, 1989, S. 5) Für Lebbetter, der sich auf Mircea Eliades Theorie des Religiösen bezieht, antwortet die ordnungsstiftende Funktion der religiösen Narrative auf eine subjektive Krise, einen subjektiven Wunsch nach Ordnung, die durch Bedeutung bzw. Sinn („meaning“) geleistet wird. Dies hat mit der Linearität und Organik des Narrativen zu tun, wie oben bereits erläutert. Für Ledbetter ergibt sich dies durch das Etablieren einer Alterität, die hier als transzendent geordnetes Anderes verstanden wird (ebd. 7).

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Jochum sein Buch zur Autobiographie beginnt: dem Jüngsten Gericht.89 Die Narration über das Leben tritt in Auseinandersetzung mit einem Narrativ, dem der Religion, das dem Leben bereits erzählend eine Teleologie zuschreibt. Diese Teleologie ist eine rein moralische: das gelebte Leben als lesbares Buch wird als Grundlage für ein späteres Urteil herangezogen.90 In Hinblick auf dieses Gericht zu leben, heißt, sich dem moralischen Gesetz zu unterwerfen, eine lesbare „Buchhaltung des Lebens“ (Vallejo) zu führen. Dies entspricht einem Narrativ, das im autobiographischen Schreiben problematisiert wird: Das mamotreto entzieht sich dieser moralischen Organik der Lebenslehre des Katholizismus. Die moralische Seite des Religiösen resultiert aus der unleugbaren Bedeutung der Schriftlichkeit im Religiösen: Gemeint ist nicht bloß die Vorlage einer heiligen Schrift bzw. des Wortes Gottes, sondern der implizite Gedanke eines schriftlich bestimmten Ablaufs der Geschichte und des Lebens. Es geht um die verschriftlichte normierende Rede und die Enthüllung eines Befehls Gottes im Sinne von Paulus91, der als Offenbarung der Wahrheit in Bezug auf das Leben aufgefasst werden muss. Es ist jedoch das Leben Jesu, das als messianische Erfüllung der prophetischen Schriften des Alten Testaments im engen Sinne betrachtet werden soll, jenes Leben, das von der Geburt bis zum Tod vollkommen durch diese vorgegebene heilige Schrift vorbestimmt wurde. Die Narration vom Leben Jesu ist dann eine, die einer festgelegten, notwendigen Kausalität folgt; die notwendige Folge seines Sterbens am Kreuz wird zur Konsequenz eines heiligen Plans.92 Die moralische Gesetzgebung ergibt sich dann in der vorausgehenden Verschriftlichung dieses Lebens. Beispielhaft ist die Darstellung des letzten Abendmahls im Matthäusevangelium, in der nicht nur die Referenz auf die jüdischen prophetischen Schriften, sondern auch auf eine narrative Vorverschriftlichung der Geschehnisse evident wird.93 Die

|| 89 Siehe Walter-Jochum, 2016, S. 7–8. 90 Siehe Off 20. 91 „Dem aber, der euch stärken kann / gemäß meinem Evangelium und der Predigt von Jesus Christus, / gemäß der Offenbarung des Geschehnisses, / das seit ewigen Zeiten verschwiegen war, nun aber offenbart und kundgemacht ist, / durch die Schriften des Propheten / nach dem Befehl des ew igen Gottes, den Gehorsam des Glaubens aufzurichten unter allen Heiden, / ihm, dem einzigen und weisen Gott, / sei durch Jesus Christus Ehre in Ewigkeit! Amen“ (Römer 16: 25–27). 92 Daraus ergeben sich auch die verschiedenen Auslegungen der Figur Judas Ischariots, der in der gnostischen Lehre (etwa im Judasevangelium) als eine wesentliche heilige Figur wahrgenommen wird, die zur Erfüllung der Weissagungen der Schriften durch die Kreuzigung beiträgt. Zur ausführlichen Behandlung dieser theologischen Frage siehe z.B. Frenske, 2000. 93 In der Urszene der Eucharistie bezieht sich der in der Lutherübersetzung geschilderte Ausdruck Jesu „das ist mein Blut des Bundes“ (Mt 26:28) auf Moses Rede zum Volk Israels, als dieser vor dem Empfang der Gesetzestafeln symbolisch auf das Stierblut Bezug nimmt: „Seht, das ist das Blut des Bundes, den der Herr mit euch geschlossen hat aufgrund aller dieser Wor-

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Vorstellung einer teleologischen und geschichtlichen Prädisposition der Geschehnisse im Leben betrifft nicht nur das Leben Jesu, sondern entspricht einer narrativen Form, die, wie Ladbetter herausarbeitet, eine moralische Ordnung des Tugendhaften etabliert: Letztendlich ist die Bibel die Referenzschrift für das Leben aller Christen. Das Leben Jesu und seine Narrative werden somit zum Exemplum für ein christliches Leben, das in den autobiographischen Schriften der katholisch sozialisierten Autoren Winkler und Vallejo problematisiert wird. Daraus folgen die „entpersonalisierten“ Autobiographien,94 die durch den wiederholten Bezug auf die Heiligengeschichte ein Subjekt zum Ausdruck bringen wollen, das sich selbst, unabhängig und gegen eine vorausgehende moralische Schrift, im eigenen Text immer wieder neu konstituiert. Auf diese Weise formiert sich ein anderes Verständnis der Schrift, nämlich nicht als Gesetzgebung, sondern als etwas Autopoetisches. Dadurch unterscheiden sich wiederum die zwei Lebensbegriffe: der transzendente des Christentums und der immanente in den religionskritischen, queeren Schriften der Autoren. Die moralische Beispielhaftigkeit des Biblischen wird im Text Winklers auch explizit thematisiert, in dem diese in Beziehung zum Schauspiel gebracht wird. Damit macht Winkler eine religionskritische Andeutung auf die Oberflächlichkeit des Moralischen:95 Der Gustl wird mir die Nägel in meine Hand schlagen, andeutend, aber Andeutung ist schlimmer als die Wirklichkeit, meine Finger werde ich spreizen, als ob er wirklich in die Hand geschlagen hätte, vor Schmerzen werde ich brüllen und alle werden sagen, daß ich auf eine Schauspielschule gehen sollte, ich sollte mein ganzes Leben nichts als Figuren der Bibel nachspielen, nie eine andere Rolle annehmen, dann wird mich der Papst heiligsprechen, wer wollte nicht angebetet werden? Selbst Gott will angebetet werden, man verehrt ihn mehr als die Menschen, und man verachtet ihn nicht einmal, wenn er einen Menschen sterben läßt. (MS 550–551)

Das Exemplum der Bibel soll – im moralischen Sinne – als dramatische Vorlage für das Leben des Ich-Erzählers dienen. Die Moral, das Verurteilen einer Aktion, || te“ (2. Mose 24:8). Nach dem Abendmahl zitiert Jesus direkt aus dem Buch Sacharja und wendet sich an die Jünger und besonders an Petrus, indem er dessen spätere Verleugnungen vorhersagt: „In dieser Nacht werdet ihr euch alle ärgern an mir; denn es steht geschrieben: ‚Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe der Herde werden sich zerstreuen‘“ (Mt 26:31). 94 Zur entpersonalisierten Form dieser „neuen“ Autobiographie Winklers siehe WalterJochum, 2016, S. 250–251. 95 Vom Begriff der Oberflächlichkeit wird im zweiten und dritten Kapitel ausführlicher die Rede sein: Es geht um den Begriff der Oberflächeneffekte (Deleuze), der in Opposition zum immanenten Verständnis des Lebens steht. Oberflächlich ist daher die moralische, soziale Ordnung, die in Kontrast zum eigenen affektiven Leben steht.

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wird hier in ihrer Theatralität und Scheinhaftigkeit relativiert und das Leben als ein Möglichkeitsraum für verschiedene, mögliche Handlungen geöffnet. Die Moral bzw. die biblische Handlungsanleitung erscheint wie ein Theatertext, der eine bestimmte Performance im Leben vorschreibt. Der Erzählung allgemein und ihrer Verschriftlichung liegt ein Impuls zur Bewahrung zugrunde, die für die konservative Geste des Moralischen und seine Erzählung unabdingbar ist. Exemplarisch ist die Beziehung zwischen diesem bewahrenden Erzählen und dem religiösen bzw. katholischen Ritual: Die Eucharistie ist z.B. die wiederholende Erzählung und Wiederinszenierung des Abendmahles. Auch die Erzählung bzw. die Lektüre der Bibel in der Messe spielt eine wesentliche Rolle: Es geht um eine wiederholende sinnstiftende Aktualisierung eines Narrativs, das eine Lebensmoral bewahrt und vermittelt. Die Zirkularität des Rituals bewahrt den Sinnzusammenhang gegen die Kontingenz der Linearität der Zeit, indem sie ihre losen Enden zusammenknüpft und ihr ihren konservierten Sinn jedes Mal von Neuem verleiht. Eine Erzählung, die in einem überlieferten Rahmen im Leben der Gläubigen immer wieder aktualisiert wird, ist die Eschatologie, die Lehre des Lebens nach dem Tod. Der Tod als Übergang zum ewigen Leben liegt außerhalb des Lebens und somit wird dem Leben ein externer, normierender Rahmen gegeben: die christliche Moral. Die religiöse Ordnung des Lebens kann aus den religiösen Narrativen nicht nur vom Ende, sondern auch vom Anfang her geschaffen werden, nämlich als ein a priori transzendentes Vorgegebenes: Begriffe wie das „Schicksal“ oder der „Wille“ Gottes drücken die Notwendigkeit eines bestimmten Lebensablaufs aus und schließen die Kontingenz des Lebens als unendlichen Möglichkeitsraum aus. Aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive ist Narration, als jene Ordnungs- und Vereinheitlichungsinstanz des Erlebten, ein Akt a posteriori: „In other words, the design – which does not consist simply of confused marks, but has the unity of a figure – is not one that guides the course of a life from the beginning. Rather the design is what that life […] leaves behind“ (Cavarero, [1997] 2000, S. 1). Dieses „Danach“ richtet sich gegen eine Präskription, die im Narrativen – z.B. des Intelligent Design Arguments – eine göttliche Bauinstanz behauptet. Die Etablierung einer präskriptiven Instanz, die mit einer Teleologie Hand in Hand geht, entspricht immer einem moralisch urteilenden Rahmen, der bestimmt, was Gutes und Böses im Leben bedeuten. Der von Jean-François Lyotard vorgeschlagene Begriff der grands récits, der sich auf diskursive Erzählungen mit „legitimierender Funktion“ (1987, S. 35) bezieht, kann in diesem Sinne als Konzept für diesen Referenzrahmen verstanden werden. Ledbetter sieht eine ähnliche legitimierende Funktion im Entdecken und Erschaffen von Werten im Narrativen, die auf Glauben und Autorität

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beruhen.96 Das Narrative produziert mittels der Richtungsweisung eine Werteskala, die als moralische Referenz des Lebens zu gelten hat: um zu einem bestimmten Ziel zu kommen, muss man die guten Schritte dahin machen:97 „Narrative technique makes evaluative judgements about existence that establishes particular virtues that one may follow to lead the good life“ (Ledbetter, 1989, S. 9). Es geht um eine starre lineare Ordnung des Lebens, die unumkehrbar bleibt.98 Die Abfolge und Richtung stehen fest. Das Leben weist eine klare Lesbarkeit auf, die im Begriff des „Buches des Lebens“ enthalten ist: „Und ein anderes Buch wurde aufgetan, welches ist das Buch des Lebens. Und die Toten wurden gerichtet nach dem, was in den Büchern geschrieben steht, nach ihren Werken“ (Off. 20: 12). Gegen diese Vorstellung wendet sich das Bild des Flusses bei Vallejo und bei Winkler: Es geht nicht direkt um einen starren Weg durch den Wald (Dante) oder eine starre Schrift in einem Buch, sondern um einen vitalen, kraftvollen Fluss, der verschiedene immanente, auto-poietische und kontingente Abzweigungen nimmt. In dieser Hinsicht beginnt und endet die Pentalogie Vallejos mit demselben Bild, genauso wie die chaotische Narration Winklers verschiedene Szenen und Bilder anhäuft, wiederholt und abschweifend präsentiert. Inwiefern ist das Anti-Narrative Winklers und Vallejos in ihren autobiographischen Schriften eine anti-katholische, religionskritische Schreibweise? Die Form der mamotretos stellt die Behauptung einer zugrundeliegenden, a priori festgelegten Ordnung in Frage. Die Lebensweisen, die hier zum Ausdruck kommen, passen mit dieser festgelegten, moralischen, linearen Lebensform nicht zusammen – es handelt sich um queere, vom Lebensweg abzweigende Lebensformen, die die Form der Lebenserzählung bestimmen. Beide Autoren rekurrieren auf verschiedene Schreibstrategien (die Abschweifung und das Bild), um das autobiographische Schreiben nicht als eines von einer Transzendenz bereits vorbestimmtes, sondern als ein immanent sich selbst konstituierendes zu konzipieren.

|| 96 Vgl. Ledbetter, 1989, S. 8. 97 Um diese moralische Ebene zu betonen, rekurriert Ledbetter auf den psychologischen Begriff des „Charakters“, der aber umstritten ist (1989, S. 9). 98 Laut Müller-Funk ist in der Narration der Apokalypse „die Ordnung der Dinge […] nicht beliebig umkehrbar: Die sieben Schöpfungstage der Genesis bringen das markant zum Ausdruck“ (2002, S. 251).

5 Sich lustvoll verlaufen wollen: Queere Autohagiographien El tiempo de lo queer es salir de la linealidad del tiempo hétero-lineal, que es una temporalidad autonaturalizante. José Esteban Muñoz99

Inwiefern soll die von einer Linearität abweichende Lebenserzählung als queer bezeichnet werden? Die Abschweifung als literarisches Stilmittel steht – vor allem im Kontext lebensgeschichtlicher Erzählungen – sinnbildlich für das absichtliche oder auch unabsichtliche Sich-Verlaufen im Leben. Eine produktive Konzeptualisierung der in der Literaturwissenschaft selten behandelten Abschweifung lässt sich mit Hilfe von Sara Ahmeds Queer-Begriff vornehmen.100 Ahmed konzipiert in ihrem Buch Queer Phenomenology Queerness als Desorientierung in Bezug auf eine gegebenen Lebenslinie.101 Da es sich hierbei explizit um eine phänomenologische Betrachtung handelt, sind die Folgen dieser Orientierung oder Richtung („direction“), bzw. der Desorientierung und des SichVerlaufens des Subjektes, körperlicher und räumlicher Art: Sie konstituieren den Raum, in dem das Subjekt lebt oder den es bewohnt („inhabit“) und verändert, und in dem sich seine Körperlichkeit oder Haut („skin“) und seine Identität bilden: „A lifeline can also be something that expresses our identity, such as the lines carved on the skin […]“ (2006, S. 18). Sara Ahmed denkt die queere Perspektive aus raumkonzeptueller, performativer und diskurskritischer Sicht. Sie geht vom Begriff der orientation aus (womit nicht nur die räumliche Verortung, sondern auch die sexuelle Orientierung gemeint ist), um eine phänomenologisch-queere Perspektive der disorientation zu denken: Now in living a queer life, the act of going home, or going back to the place I was brought up, has a certain disorientating effect. […] ‘[T]he family home’ seems full of traces of heterosexual intimacy that it is hard to take up my place without feeling those traces as points

|| 99 [2009] 2020, S. 69. / „Die queere Zeit ist ein Verlassen der Linearität der hetero-linearen Zeit, die eine selbstnaturalisierende Zeitlichkeit ist“ (meine Übersetzung). 100 Im Text selbst bringt Sara Ahmed die Abschweifung in Bezug auf ihr eigenes Buch zur Sprache: „My writing moves between conceptual analysis and personal digression. But why call the personal a digression? Why is it that the personal so often enters writing as if we are being led astray from a proper course?“ (Ahmed, 2006, S. 22). 101 „[D]irections take us somewhere by the very requirement that we follow a line that is drawn in advance“ (Ahmed, 2006, S. 16). https://doi.org/10.1515/9783110799965-006

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of pressure. In such moments, when bodies do not extend into space, they might feel ‘out of place’ where they have been given ‘a place’. (ebd. 11–12)

Ahmed bezieht sich auf die (eigene) Migrationserfahrung,102 um diesem grundlegenden phänomenologischen Begriff des ‚Zuhauses‘ nachzugehen, der selbst, auch aus einer intersektionalen Perspektive, mit der Konstituierung eines Raumes des sexuellen Begehrens zu tun hat. Die inhabitance des Erfahrungsraumes ist durchdrungen von Perspektivierungen, die das Leben und somit die Identität der Subjekte konstituieren: „The queer subject within straight culture hence deviates and is made socially present as a deviant“ (ebd. 21). Das Wichtige an der Auffassung Ahmeds ist die Akzentuierung der Intentionalität. Bereits in ihrem Begriff von point of view, in der Betonung der wechselseitigen Konstituierung von Raum und Subjekt, kann das Queere als ein intentionales SichVerlieren, als eine performative Verweigerung eines heteronormativen Lebensweges gefasst werden: We follow the line that is followed by others: the repetition of the act of following makes the line disappear from view as the point from which ‘we’ emerge. […] Bodies are directed and they take the shape of this direction. […] Lines are both created by being followed and are followed by being created. The lines that direct us, as lines of thought as well as lines of motion, are in this way performative: they depend on the repetition of norms and conventions, of routes and paths taken, but they are also created as an effect of this repetition. (ebd. 15–16)

In diesem Zitat wird die moralische Haltung zum Leben als ein performatives Phänomen präsentiert, versinnbildlicht als ein Weg, auf dem das queere Subjekt sich verläuft: „I experienced a dramatic redirection: I left a certain kind of life and embraced a new one. I left the ‘world’ of heterosexuality, and became a lesbian, even though this means staying in a heterosexual world“ (ebd. 19). In der Abzweigung des Lebens wird ein anderer Weg eingeschlagen, die Abzweigung ist aber ein konstituierendes Element der Linie: Ahmed betont aus phänomenologischer Sicht die Relevanz der disorientation innerhalb der orientation. Die Abzweigungen sind sozusagen im Weg impliziert, diese aber einzuschlagen

|| 102 „In a way, we learn what home means, or how we occupy space at home and as home, when we leave home. […] Migration could be described as a process of disorientation and reorientation […]. The skin of the social might be affected by the comings and goings of different bodies, creating new lines and textures in the ways in which things are arranged“ (Ahmed, 2006, S. 9).

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heißt, sich plötzlich als ein anderes Subjekt zu konstituieren: „So we follow the lines, and in following them we become committed to ‘what‘ they lead us to as well as ‘where’ they take us“(ebd. 17). Mit der Idee der Verquickung zwischen Weg und Abzweigung folgt Ahmed einer bereits Anfang der 1990er-Jahre etablierten, kanonischen Denklinie Eve Kosofsky Sedgwicks, die in ihrem Buch Epistemology of the Closet (1990) die implizite Wechselbeziehung und -bestimmung in der diskursiven Definition einer Opposition zwischen Hetero- und Homosexualität analysiert: Homo- und Heterosexualität konstituieren sich gegenseitig und bilden eine epistemologische Grundopposition, die mit denen von Wissen und Ignoranz, Privat und Öffentlich u.v.a. korrespondiert.103 Diese theoretischen Überlegungen sowohl Kosofsky Sedgwicks als auch Ahmeds sind für die vorliegende Studie von Relevanz, da sie die dekonstruktive Praxis in den Texten Winklers und Vallejos zu erfassen helfen: Sie reflektieren über die grundlegende Dialektik und wechselseitige Bestimmtheit von Heteronormativität und Queerness, nämlich in der Beziehung zwischen moralisch festgelegten und abweichenden Lebensformen (Ahmed), in der grundlegenden Definition der Hetero/Homosexualität im westlichen, wissenschaftlichen Denken (Sedgwick) und im ambivalenten Zusammenspiel von Homophobie und -erotik in der katholischen Religionskultur (Winkler/Vallejo). Die mamotretos als Lebenserzählung können als Projekt der Verzweigung eines festgelegten Weges verstanden werden: Die Abschweifung im Bild des Flusses und des Feuers bei Vallejo ist Ahmeds Begriff der disorientation sehr nahe. Sowohl bei Winkler als auch bei Vallejo werden ein Subjekt und sein Leben als radikales Irren – in expliziter Opposition zu einer Vergangenheit und zu einem Zuhause (Sabaneta und Kamering) – zum Ausdruck gebracht, und in diesem Irren steckt das queere Potential dieser Texte, deren Form zugleich diesem Irren Ausdruck verleiht. Was den Weg für Ahmed konstituiert, ist eine Teleologie der Hoffnung104 – es handelt sich in dieser Hinsicht um einen sehr

|| 103 Siehe Sedgwick, 1990, S. 9–10. 104 „Hope is an investment that the ‘lines’ we follow will get us somewhere“ (Ahmed, 2006, S. 18) und später „‘Life itself’ is often imagined in terms of ‘having a direction’, which decides from the present what the future should be“ (ebd. 20). Interessanterweise stand die Zukunft und die Hoffnung auf die Anpassung der katholischen Glaubens- und Sittenlehre an die damalige Zeit im Zentrum des Zweiten Vatikanischen Konzils, wie Johannes Paul II in der Vorrede zum Katechismus der Katholischen Kirche darlegt (siehe KKK Vorrede). Es geht um den Entwurf (im II. VK und im KKK) von einem Weg bzw. einer Richtung des katholischen Lebens.

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christlichen Begriff des Weges.105 Die Abzweigung des Weges kann jedoch nur aus der Perspektive des schon gegebenen Weges gedacht werden: Aus diesem Grund kann die Abschweifung in den autobiographischen Werken Vallejos und Winklers als eine literarische Strategie verstanden werden, die genau auf diese teleologisch-linearen Lebensmuster reagiert. Der Grund ist nicht allein, dass die Erzählungen in chaotischer, anti-narrativer Form geschrieben wurden, sondern dass diese mamotretos als Antwort auf eine katholische Lebensauffassung zu verstehen sind. Der Weg ist eine bekannte christliche Metapher für das Leben. Der Katholizismus bietet verschiedene Exempla von einem guten Lebensweg, von denen der wichtigste das Leben Jesu („Vorbild des christlichen Handelns“, KKK, Vorrede, S. 33) ist. Die Vorstellung des guten Wegs und der Abzweigung von diesem als „Abweg“ der Sünde wird in der biblischen Darstellung des Lebens Jesu an verschiedenen Stellen thematisiert. Die Lehre der zwei Wege findet man u.a. bei Matthäus: „Geht hinein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zu Verdammnis führt, und viele sind’s, die auf ihm hineingehen. Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind’s, die ihn finden“ (Mt 7:13–14). Dieses Gleichnis der zwei Wege ist in der katholischen Katechese ein wichtiger Bestandteil der Vorstellung vom Leben und daher für das Verständnis der Sittlichkeit der katholischen kirchlichen Gemeinschaft zentral – das Gleichnis betont die Intentionalität dieser Lehre in der Entscheidung zwischen zwei Wegen.106 Der Weg des Glaubens oder der im katholischen Katechismus genannte Weg Christi ist aus diesem Grund ein schwieriger, ein ausschließender Weg. Im Moment der Entscheidung präsentieren sich aber beide Wege: der eine gute und die vielfältigen bösen. Es geht um die Aufforderung zu einer Handlung bzw. Lebensentscheidung, die aktiv vollzogen werden muss: „Wenn aber der Glaube sich nicht in den Werken zeigt, ist er tot (vgl. Jak 2: 14–16) und kann keine Früchte für das ewige Leben bringen“ (KKK Vorrede, S. 33). An diesem Punkt sieht man ganz klar die Verquickung zwischen Weg und Abzweigung, wobei die christliche Perspektive eine moralische Wertung (der eine Weg ist besser als die anderen) produziert, die aus einer queeren Perspektive nicht mehr vertretbar ist, da das queere Subjekt wegen seines Begehrens oder seiner Geschlechtsidentität per se sündigt: Der sexuelle

|| 105 „Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich“ (Joh. 14:6). 106 „Das Gleichnis des Evangeliums von den zwei Wegen hat in der Katechese der Kirche einen festen Platz. Es zeigt, wie wichtig sittliche Entscheidungen für unser Heil sind“ (KKK. §1696).

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Akt dient nicht unbedingt der Fortpflanzung und führt nicht zum katholischen Sakrament der Ehe.107 In der Weite des Feldes oder der Wüste, die im Gegensatz zum einzigen Weg Jesu steht, kann man sich lange verlaufen – poetisch und sinnbildlich bieten sich im Neuen Testament die drei Versuchungen Jesu in der Wüste dar, nämlich am Ort der unendlichen Möglichkeiten, einen Weg einzuschlagen. Den drei Versuchungen des Teufels entgeht Jesus durch eine Rückkehr zur Schrift bzw. zum bereits vorgezeichneten Weg des Glaubens.108 Bereits am Anfang des ersten Evangeliums, jenem nach Markus, wird die Leser*in mit dem Thema der Wüste und des Weges konfrontiert, und speziell mit jenem des Weges, der als Heilung zu verstehen ist.109 Die Zerstreuung in der Wüste der sündhaften Versuchungen wird durch die Einreihung (Ahmed) in den Weg Christi aufgehoben und korrigiert – all die Exempla referieren immer auf eine Einheit des Weges bzw. auf die Einzigartigkeit dieses Weges: „Er ruft alle durch die Sünde voneinander getrennten Menschen in die Einheit seiner Familie“ (KKK Prolog I.1, S. 38). Die Lehre der zwei Wege ist eine dogmatische, moralische Rückführung nach Hause, zur Familie und Tradition: Es ist ein zirkulärer Weg, wohingegen die queeren Abzweigungen mannigfaltig wie Flüsse, und ihre Geographien kontingent geformt sind. Das Gleichnis des Hauses, das sich in Sichtweite des Weges befindet, hat eine große Wirksamkeit – vor allem im paulinischen Denken – in der || 107 An diesem Punkt wäre es interessant, den Queer-Begriff von Lee Edelman in No Future in die Debatte einzubringen: Edelman sieht in Queerness einen Verzicht auf den im herrschenden Diskurs impliziten „reproductive futurism“, der sich auf das Kind als Figur stützt: Das Queere verzichtet auf eine „history as linear narrative (the poor man’s teleology) in which meaning succeeds in revealing itself – as itself – through time. […] [T]he queer comes to figure the bar of every realization of futurity, the resistance, internal to the social, to every social structure or norm“ (2004, S. 4). Diese negative Positionierung ist jedoch für Edelman eine Quelle der jouissance (ebd. 5), die ich hier im „lustvollen Sich-Verlaufen“ mitlese. Das Queere äußert sich somit gegen die großen Erzählungen (Fortschrift, Erlösung, usw.), die in der Zukunft das Ziel des Lebens festlegen: Der Katholizismus kann als eine solche große Erzählung verstanden werden. Nicht umsonst begreift insbesondere Vallejo die Pflicht zur Fortpflanzung als eine, die vom Katholizismus selbst stammt. Edelmans Begriff des Queeren stützt sich auf eine reine Negativität, die hier hingegen eher im Sinne José Esteban Muñoz (der die Ausklammerung des Sozialen bei Edelman kritisiert) als ambivalente Beziehung zum Diskurs verstanden wird. Diese Beziehung verspricht eine Alternative nach der Negation, eine Erneuerung des Sozialen, des Diskurses. 108 Dreimal weist Jesus die Versuchungen Satans zurück, indem er an die Festlegung in der Schrift erinnert. Vgl. Mt 4:4, Mt 4:7, Mt 4:10. 109 „Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her, der einen Weg bereiten soll. Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, macht seine Steige eben!“ (Mk 1: 2–3).

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Aufforderung, den Versuchungen der Abwege zu widerstehen: Christlich zu leben bedeutet, die Kraft zu haben, im Hause Gottes zu verharren bzw. zu diesem Hause zurückzukehren.110 Ein abschweifendes Leben ist in dieser Hinsicht das Sündhafte: Die Abschweifung im autobiographischen Text korrespondiert aus diesem Grund mit dieser Abweichung vom „guten“ Weg und, mit den Begriffen Ahmeds formuliert, einer queeren Abzweigung der Lebensform in einer katholischen Gemeinschaft.111 Die Lehre der zwei Wege und die Erfüllung des guten Weges bedient sich der Möglichkeit, diesen Weg nicht einzuschlagen bzw. queer zu werden – und das funktioniert zugleich in der entgegengesetzten Richtung: Die Abzweigung bedient sich der Trennung, des intentionalen „Aus-der-Reihe-“ bzw. „-Linie“Tretens, um vom bereits vorgezeichneten Weg abzuweichen. Innerhalb dieser dialektischen Konstituierung bewegt sich eine Religionskritik, die in einem Akt der Abweichung und der Anerkennung die Religion gleichzeitig verneint und bejaht. Andere Exempla für dieses christliche Lebensverständnis sind die Hagiographien bzw. Lebenserzählungen von Heiligen, die eine Art tugendhaftes Leben im Glauben repräsentieren. Es ist genau aus dem Grund, dass Fernando Vallejo seine Autobiographie als ‚autohagiografía‘ bezeichnet: Darin wird die Teleologie des guten Weges ‚verwischt‘ und damit die Desorientierung verstärkt. Indem seine explizit anti-christlichen Erfahrungen (Mord, homosexueller Sex, Blasphemie, Beleidigung usw.) im Rahmen einer selbsternannten Hagiographie geschildert werden, ist der heilige Weg nicht mehr von dem sündhaften unterscheidbar. Hagiographie ist nicht nur eine Selbstbezeichnung der autobiographischen Texte Vallejos: In Entre fantasmas schildert er das Leben eines alten homosexuellen Freundes namens Tuno Álzaga Unsué und seine starke homosexuelle Libido und bezieht sich darin auf dessen Lebenserzählung als

|| 110 „Denn jedes Haus wird von jemandem erbaut; der aber alles erbaut hat, das ist Gott. Mose zwar war treu in Gottes ganzem Hause als Diener, zum Zeugnis für das, was später gesagt werden sollte, Christus aber war treu als Sohn über Gottes Haus. Sein Haus sind wir, wenn wir die Freimut und den Ruhm der Hoffnung festhalten“ (Hebr 3: 4–6). 111 In Años de indulgencia bezieht sich Vallejo, explizit auf Latein, auf das Gleichnis der zwei Wege in blasphemischer Art und Weise, indem der eine gute Weg mit dem Weg Satans gleichgesetzt wird: „[P]ecando y galicando por partida doble, por la vía lícita y per angostam viam nos empreñamos doblemente con dos hijos cada una de Satán“ (AI 19 / meine Hervorhebung). / „Sündigend und syphilisierend, in zweierlei Hinsicht, auf erlaubtem Wege und per angostam viam, haben wir uns gegenseitig zweimal, mit zwei Kindern, beide von Satan, geschwängert“ (meine Übersetzung).

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Hagiographie.112 Im selben Buch rekurriert Vallejo selbst in einer metaliterarischen Passage auf diese neologistische, humorvolle Bezeichnung, um sich auf sein eigenes Werk zu beziehen, nämlich die der Autohagiographie:113 Pero su historia por las Europas es otra historia. Algún día la contaré, cuando me decida a escribir novelas. Da para cualquier mentira, cualquier novela, por asombrosa. ¡Qué trabajo me cuesta a mí ese género manido, con las reglas hechas! ¡A mí que inventé un nuevo género literario, la autohagiografía, o vida de santo mamada en sus fuentes últimas, contada por él! (AI 140)114

Das Queere kann jedoch hier auch als eine Verunreinigung des Hauses Gottes bzw. als eine Form der Unreinheit verstanden werden: in der Unordnung der vermeintlichen göttlichen Ordnung der Natur. Klaus Mertes verortet den Grund der katholischen Homophobie in den sogenannten „Reinheitsvorschriften“, die sich von der jüdischen Tradition des Pentateuchs bis in den Katholizismus erstreckten:115 „Homosexualität ist verboten, da der Mann, der die weibliche Rolle spielt, zugleich Mann und Frau ist“ (2013, S. 18). Die Verunreinigung ist eine Verwechslung116 und Missachtung einer zugrundeliegenden Ordnung der Dinge bzw. einer klaren Trennung der Arten. Die Homosexualität verletzt diese Ordnung, da sie – verbunden mit dem Fortpflanzungsgebot – die Interaktionen zwischen Geschlechtern desorientiert. Die Homophobie im katholischen Denken resultiert aus dem dogmatischen Fehlschluss, aus der Betrachtung der Na|| 112 „Pero las hazañas de Tunito merecen libro aparte, su hagiografía […]“ (EF 134) / „Aber die Heldentaten Tunitos verdienen ein eigenes Buch, seine Hagiographie“ (meine Übersetzung). 113 Wenn der Begriff der „Autohagiographie“ in der literaturwissenschaftlichen Forschungsliteratur Platz findet, wird dieser zumeist in Anführungszeichen gesetzt. Sich selbst eine Heiligenvita zu schreiben, geht mit den katholischen Sitten nicht ganz konform: „Die Verfasser*innen von Heiligenviten schreiben meist nicht aus eigenem Antrieb, sondern als Vertreter oder im Auftrag einzelner Personen oder häufiger bestimmter Gruppen […]“ (Köpf, 2000, S. 1378). Es handelt sich hier um eine Aneignung und Subversion der katholischen Heiligsprechung, die im Sinne Vallejos Religionskritik ernst gemeint ist. Der Bezug Vallejos auf die hagiographische Tradition stellt ihn somit auch in den katholischen Kontext des Heiligenkultes, den der Protestantismus bereits ausklammert. 114 „Aber seine Geschichte in Europa ist eine andere. Irgendwann werde ich sie erzählen, sobald ich mich entschieden haben werde, Romane zu schreiben. Sie eignet sich für jede Lüge, jeden Roman, weil sie erstaunlich ist. Wie anstrengend ist sie für mich, diese abgedroschene Gattung, mit ihren vorgegebenen Regeln! Für mich, der eine neue Gattung erfunden hat, die Autohagiographie oder das Leben eines Heiligen, genährt aus seinen letzten Quellen und von ihm erzählt!“ (Meine Übersetzung). 115 Vgl. Mertes, 2013, S. 17. 116 Vgl. Mertes, 2013, S. 20.

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tur ein moralisches Gebot abzuleiten. Die Veruneindeutigung der Ordnung der Dinge ist eine queere Strategie und in dieser Hinsicht soll die Rede von Halbweib bei Winkler verstanden werden: „Halbweib war ich also und half der Mutter bei den Hausarbeiten“ (MS 660). Die Zelebration des Transvestismus in Vallejos und Winklers Texten impliziert zwar einen anderen Aspekt – jenen des Cross-Dressings, der nicht unmittelbar mit einer religiösen Verunreinigung in Verbindung gebracht werden kann –, dieser soll aber hier zu den Strategien der queeren Verunordnung gezählt werden.117 Die Funktion des Schmutzes wird vor allem im Falle Winklers in der Verwendung von Schockbildern offensichtlich. Die Überschreitung einer Grenze führt zu anderen Überschreitungen, die jedoch im Kern dieselbe, im katholischen Diskurs implizite Homophobie subvertieren: die Reinheitsvorschriften.118 Die Überschreitung von Gattungsgrenzen, die den mamotretos wesentlich zu sein scheint, antwortet darauf als queere Geste der Verunreinigung der Gattungsordnung und der Forderung anderer Identitätsformen:119 Die Gattungen bzw. Geschlechter nicht zu vermischen, ist genau das Gebot, wogegen sich das Queere wendet, und dies auch in Bezug auf die literarischen Gattungen. Eine queere Hagiographie soll in dieser Hinsicht als gattungsüberschreitende und religionskritische Strategie verstanden werden, wie im Folgenden anhand der mamotretos Winklers und Vallejos beispielhaft gezeigt wird.

|| 117 Bei Winkler findet man eine lange Auseinandersetzung mit einem Transvestiten in Muttersprache (MS 800–801) und der Erzähler wird dann am Ende selbst zu einem Transvestiten (MS 830–831). Bei Vallejo findet sich ein Bezug auf den Transvestismus nicht am Ende, sondern am Anfang seiner Autobiographie in Los días azules (vgl. DA 19), wo erzählt wird, wie er als Kind die Kleidung seiner Mutter anprobiert. Vom Transvestismus im Frühwerk Vallejos und Winklers wird im Kapitel 3 ausführlich die Rede sein. 118 „Kollektiv internalisierte Abscheugrenzen markieren kulturelle Grenzen. So werden sie dann identitätsstiftend für Kulturen“ (Mertes, 2013, S. 19). 119 An diesem Punkt denke ich an die Wendung zum queeren Denken am Ende von Jacques Derridas (1994) gattungskritischem Text La loi du genre.

6 Josef Winklers Bilderflut: Poetik des Bildes In seiner Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2008 nennt Josef Winkler den ursprünglichen Text, aus dem dann seine Erstlingstrilogie Das wilde Kärnten entstanden ist, ein „tausend Seiten langes Tagebuch“ (2008a).120 Er habe sich mit lebenserzählerischen Werken (Kafkas Brief an den Vater, Flauberts Briefe, Hebbels und Camus‘ Tagebücher, Weiss‘ Abschied von den Eltern u.a.) auseinandergesetzt, aus denen er selbst Zitate für seine Tagebuchaufzeichnungen entnommen hat. Die Entstehung seiner ersten drei Bücher muss man sich daher als ein collageartiges Schreibverfahren vorstellen: Das Tagebuch wird dabei zum Sammelnotizbuch von Gedanken, Zitaten und vor allem sprachlichen Bildern. Seine ersten drei Romane sind somit das Produkt einer abschweifenden, nicht strukturierten Lektüre121 verschiedener Texte und Textsorten, die dann dem mosaikartigen Bild seiner Autobiographie ihre Struktur gegeben hat. Es ist eine abschweifende Lektüre – wie jene Vallejos in Logoi –, die sein Schreiben in Gang setzte. Die Genese von Das wilde Kärnten ergibt sich aus einem der Kontingenz des Erlebten und des Gelesenen entsprungenen Text (dem Tagebuch), der sich immer in Abschweifungen verliert. Die Frage nach einem zusammenhängenden Plot bleibt ungelöst – einige Grundmotive des Erzählens fungieren in ihrer Wiederholung und Prägnanz als offensichtliche Zentren der Erzählung, von denen das Schreiben immer wieder abschweift. Die Grundmotivation für das Schreiben, wie sie schon in Nizans und Hebbels Epigraphen am Anfang der Trilogie angedeutet wird, wurde bereits genannt: Der Selbstmord der beiden homosexuellen Jungen, Jakob und Robert, der nicht nur in den ersten drei Romanen, sondern in seinem ganzen Werk eine wichtige Rolle spielen wird.122 Es geht aber im

|| 120 In einem späteren Buch, das denselben Titel der Büchnerpreisrede trägt, bezieht sich Winkler expliziter auf Das wilde Kärnten als ein langes Tagebuch: „[U]nd ich schrieb, immer wieder die im Heustadel pendelnden Füße der beiden leblosen, inzwischen längst verscharrten Buben vor Augen, Nacht für Nacht um mein Leben und um meinen Tod ein tausend Seiten langes Tagebuch“ (2011a, S. 38). Bezüglich des Titels dieses Unterkapitels: Auf Winklers „Bilderflut“ bezieht sich auch Wendelin Schmidt-Dengler (2012, S. 254). 121 Man kann keinen wirklichen Plan der Lektüre Winklers erkennen, der diese strukturiert hätte. Die Thematisierung des Lebens scheint zu allgemein zu sein, um diese als Lektüreplan zu verstehen: Von den biblischen und kirchlichen Texten, über Jean Genet, Julien Green und Hubert Fichte über Karl May bis zu Albert Camus findet man verschiedene Literaturtraditionen, die dann in seinem Text ausschweifend in einer Collage zusammengebracht werden. 122 In einem neueren Roman Winklers findet man wieder Bezüge auf den Inhalt seiner drei ersten Publikationen, u.a. auf den Selbstmord Jakobs und Roberts: „Nach dem Tod von Jakob https://doi.org/10.1515/9783110799965-007

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Weiteren nicht bloß um das Leben und den Tod Jakobs und Roberts, sondern dieser dient Winkler letztlich als Anlass, um über eigene Erinnerungen und sein eigenes Leben zu schreiben. Im ausführlich beschriebenen Bild der Selbstmörder wird eine weiterführende Kritik entwickelt, die sich an die ganze Dorfgemeinschaft richtet, die diesen gewalttätigen Fall zu verantworten hat. Es geht darüber hinaus um das Erzählen bzw. Porträtieren eines Dorfes als katholischer Gemeinschaft und des eigenen Lebens in dieser Gesellschaft. Als durch den Selbstmord motivierte Abrechnung entsteht ein mamotreto voller Bilder, Erinnerungen und Kommentare eines Ichs, das auf eigenen und fremden Tagebucheinträgen basiert und sich in Konfrontation mit einer ganzen Gemeinschaft konstituiert. Daher kann das Erzählen nur in einer ausschweifenden Form fortschreiten, indem das Andere – die Gemeinschaft mit all ihren Verbrechen, Ritualen und Sitten – als kontrastive Instanz der Konstituierung des Ichs dargestellt wird. Trotz der mamotreto-Form bleibt eine Grundstruktur bzw. ein Bezugspunkt der Abschweifung unangetastet: Es geht um eine zielgerichtete Kritik an der Religionskultur, die durch den genannten Selbstmord motiviert ist. Dieses trotz der Fragmentarität aufrecht erhaltene Sinnzentrum – die kritische Auseinandersetzung mit dem Katholizismus – tragen auch die Titel in sich: Es geht im ersten Buch Menschenkind um den Sohn – ein Titel, der ausdrücklich Bezug auf den „Menschensohn“ Jesus nimmt –, im zweiten Buch, Der Ackermann aus Kärnten, um den Vater – der dann stets nur „der Ackermann“ genannt wird – und im dritten Buch, Muttersprache, um die Mutter – deren Sprache zu einer inexistenten oder nie artikulierten Sprache erklärt wird.123 Die Heilige Familie wird in Das wilde Kärnten subversiv in einer düsteren Erzählung entweiht. Dieses Bild der Familie bleibt als hintergründiger Zusammenhang des Mosaiks bestehen, wie die Titel verdeutlichen. Die übergreifende Ikonographie der (Heiligen) Familie wird mit den Bildern aus Winklers eigenem Leben und dem Leben der Dorfgemeinschaft durchsetzt und ästhetisch produktiv gestört.

|| und Robert war ich abgrundtief zerstört, sie haben mir meinen eigenen Freitod vorweggenommen, aber mich auch gleichzeitig beglückt, weiterleben und über sie schreiben zu können, denn ich konnte damals nur über die Toten und nicht über die Lebenden schreiben und konnte mich nur mehr mit Lesen und Schreiben über Wasser halten […]“ (2018a, S. 140). 123 Die Jungfrau Maria ist auch eine Figur, die in den Evangelien als sprachlos gelesen werden kann: Das Lukasevangelium ist dasjenige, welches Maria eine wichtigere Rolle zuschreibt, gerade in der Szene der Verkündigung. In Lk 1: 46–55 findet sich „Marias Lobgesang“, der sie aber nur als eine Dienerin des Wortes und Willens Gottes hervorhebt: „Meine Seele erhebt den Herrn, / und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes; / denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen“ (Lk 1: 46–48 / meine Hervorhebung). Die Sprachlosigkeit Marias wäre ein weiterer interessanter Aspekt der Rolle der Heiligen Familie in Das wilde Kärnten.

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Die Frage nach der Bedeutung des Bildlichen bei Winkler impliziert notwendigerweise die Frage nach dem intermedialen Verhältnis zwischen Bild und Text, insbesondere unter Berücksichtigung des Kontextes der 1980er-Jahre und der in dieser Zeit zunehmenden Präsenz des Fernsehens und des populären Kinos.124 In Muttersprache findet sich eine autoreferentielle Thematisierung des Schreibens im Bild des Filmkamerakopfes: „Die Bilder in meinem Filmkamerakopf überschneiden sich, sind über- und unterbelichtet“ (MS 763–764).125 In einem späteren autobiographischen Text Winklers, Winnetou, Abel und ich (2014), wird sichtbar, welch wichtige Rolle das Medium Film in der Vergangenheit des Schriftstellers spielte.126 In Muttersprache wiederum erklärt der Erzähler: „Der Kinosessel war der einzige, auf dem ich klebte, alle anderen, die Sessel der Schulen, die weicheren Sessel der Bürokratie verließ ich mit zwei lachenden Augen“ (MS 626). Es geht hierbei jedoch nicht nur um den Film als Kunstform, sondern um seine diskursiv-politische Wirksamkeit bzw. um das, was W. J. T. Mitchell als die den medialen Bildern implizite „question of agency“ bzw. die „relation to power“ (1994, S. 6) nennt. Die Auseinandersetzung mit Bildern ist demnach aus der Perspektive Mitchells auch eine mit dem herrschenden Diskurs und folglich mit der impliziten Ideologie einer Gesellschaft.127 Dies betrifft in einer expliziteren Art und Weise den in Winklers Dorfgemeinschaft herrschenden katholischen Diskurs, in dem der Bilderkult bzw. die Ikonographie eine besondere Rolle spielen. Auf die diskursive Effektivität medialer und religiöser Bilder antwortet das Schreiben Winklers mit einer Poetik, die ich im Folgenden als Poetik des Bildes bezeichnen möchte. Winklers Poetik des Bildes soll in ihrer (religions)kritischen Funktion verstanden werden – nicht nur in ihrer Fragmentierung der Erzählhandlung, die seine Bücher zu mamotretos macht, sondern auch in der expliziten Auseinandersetzung mit dem Bildlichen im Schreiben: Die oben erwähnte Absicht, „schöne

|| 124 Die zunehmende Bedeutung des Fernsehens in den 1980er-Jahren ist der Ausgangspunkt der Bildtheorie W. J. T. Mitchells, die ihn im Jahre 1994 zur Vorhersage veranlasste: „[T]he problem of the twenty-first century is the problem of the image“ (1994, S. 2). 125 Friedbert Aspetsberger sieht im „Filmkamerakopf“ nicht bloß ein Bild, sondern einen „integralen Teil des Arbeitsprozesses“ (1997, S. 210). Es ist, so Aspetsberger, ein metaliterarisches Bild über das Schreiben Winklers selbst, und in Anlehnung an diese These erfasse ich hier den poetologischen Gehalt dieses Bildes. 126 „[D]enn ich konnte es nicht fassen, sich bewegende Bilder auf einer kleinen weißen Leinwand, der umgedrehten Landkarte von Kärnten, zu sehen, ich war vollkommen fasziniert davon und süchtig danach“ (Winkler, 2014, S. 18). 127 Siehe die Analyse der Beziehung zwischen Althussers Idologiebegriff und Panofskys Ikonologiebegriff in Mitchell, 1994, S. 29ff.

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Sätze“ zu schreiben, folgt einem Impuls zum Bildlichen, der das Schreiben als eine visualisierende Praxis selbst hervorhebt. Das Schreiben Winklers kann durchaus als eine bildliche Arbeit verstanden werden, nicht nur durch die Tendenz zu einer Beschreibungskunst, sondern auch im Betonen des Schriftlichen als Verbildlichung des Lebens. Das Schriftliche ist demnach eine Praxis der Schöpfung oder Formung des eigenen Lebens.128 In dieser Hinsicht soll Winklers Bemerkung in seiner Büchner-Preisrede verstanden werden: Er illustriert hier den Übergang einer von Engeln geführten „Buchhaltung des Lebens“ zu einem eigenmächtigen Lebensschreiben. Diese Überleitung wird bildlich in der Entdeckung der hohlen, ikonographischen Bilder der Engel repräsentiert: Ein Schirmer und Tröster war damals der Engel, von dem uns der Pfarrer im Religionsunterricht erzählte, dass ein Engel über jedes Kind ein Buch führe und alle guten und schlechten Taten, Fantasien, Träume und Gedanken aufzeichne und festhalte, bis zur Todesstunde, bis es so weit ist und der Engel, der Buchhalter unseres Lebens, die Entscheidung trifft, ob wir in den Himmel oder in die Hölle kommen […]. Einige Zeit später war ich meinem Schirmer und Tröster hinter die Schliche gekommen. Ich fuhr wieder einmal mit dem Pfarrer Franz Reinthaler […], ging nach dem feierlichen Gottesdienst […] hinter den Hauptaltar und sah, dass die großen, vergoldeten Engel hohl waren, keine Eingeweide, kein Herz und kein Hirn hatten, dass der Engel also, so dachte ich, vom Benzingeruch berauscht, als wir wieder im weißen Volkswagen des Pfarrers in mein Heimatdorf zurückfuhren, dass der hohle Engel ohne Herz und ohne Hirn gar kein Buch über meine guten und schlechten Taten und Gedanken schreiben könne. (2008a)

Das Zitat steht exemplarisch für die Profanisierung des Heiligen und für die beschreibende Sprache Winklers – es führt jedoch vor allem vor Augen, dass die bildliche Ebene der katholischen Welt im Zentrum seiner Poetik steht: Im Problem der Repräsentation seines Lebens durch die katholischen Bilder, in der hier metaphorisch zu lesenden Hohlheit der Bilder, die vom Religionskritiker Winkler entdeckt wird, artikuliert sich das Schreiben als ein Ergreifen der (Selbst-)Repräsentation des eigenen Lebens. Buchhalten und Gestalten sind die zwei Strategien seiner eigenen Lebenserzählung, die mittels bildlicher Schrift bzw. sprachlicher Bilder zustande kommen. Die bildliche Sprache Winklers entsteht daher auch in einer paradoxen oder ambivalenten Beziehung zur Religion: In Anlehnung an sie und zugleich in der Distanzierung von ihr. Aus der Entfernung von der katholischen Bilderwelt – die nur durch eine vorausgesetzte

|| 128 W. J. T. Mitchell sieht im Schreiben („writing“) genau jene Ausdrucksform, in der sich die visuelle Sprache als Treffpunkt zwischen Malerei, Druck und Sprechen manifestiert (1994, S. 113).

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Nähe zu denken ist – speist sich Winklers Religionskritik und Bildpoetik. Eine wichtige Strategie der Distanzierung sind die unten analysierten fiktionalen Bilder, die die Repräsentation in ihrer Künstlichkeit thematisieren und somit den Akt des Selbstentwurfs hervorheben. Winklers autobiographisches Schreiben scheint sich in einer Formel zu verwirklichen: Gott die Kamera wegnehmen, um selbst sein Leben als Rebellion gegen Gott zu verfilmen.129 „Was aber ist das: ein Sprachbild, ein sprachliches Bild?“ (Borgards, 2003, S. 10)130. Diese theoretische Frage Roland Borgards, die sich hier auf die Absicht von Peter Handkes Schreiben eines reinen Bildes131 richtet, lässt sich auch in Bezug auf die Bildpoetik Winklers stellen. Man kann festhalten, dass die Definition eines Sprachbildes höchst schwierig ist, da dieses unter anderem die Probleme der Referenzialität der Sprache und der Zeichenhaftigkeit des Bildlichen berührt: „Kein Begriffsgerüst vermag die Beziehungen zwischen den beiden Darstellungsmedien Bild und Sprache dauerhaft zu fixieren“ (ebd. 12). Die Frage nach dem sprachlichen Bild berührt nicht nur die beschreibende Praxis der Sprache, sondern auch die symbolische Ebene einer metaphorischen „Umschreibung“ (Aspetsberger) der Realität, die oben in Bezug auf Winkler thematisiert wurde. Die Spannung zwischen dem beschreibenden und dem metaphorischen Charakter der Sprachbilder scheint unauflösbar zu sein: In dieser Hinsicht soll das Sprachbild hier genau in diesem Spannungsverhältnis verstanden werden, nämlich als Strategie der Überschreibung des Realen,132 eine Überführung des Beschriebenen auf eine semantisch höhere Ebene der Metapher, die trotzdem nie den konkreten Bezug zur Realität verliert. Nur in der Überführung des Bildes in die Metapher vermag Winkler die diskursive – ideologische, ästhetische – Seite der Bilder zu erfassen.

|| 129 In Winklers Der Leibeigene findet man folgende Stelle: „Der Herrgott hat eine Unzahl von Engeln, die alles aufschreiben und filmen. Ein Engel richtet seine Filmkamera sogar jetzt auf dieses Gespräch, das wir im Stall führen“ ([1987] 1990, S. 144). 130 Die Erkenntnisse der Handke-Forschung können für die Untersuchung der Literatur Winklers sehr produktiv genutzt werden, da letztere intertextuelle Bezüge zu Handke aufbaut, es aber so gut wie keine Debatte rund um die Sprachbilder bei Winkler gegeben hat (abgesehen von Schwens-Harrants [2009] Bezug auf die Sprachbilder in einem Artikel, in dem die Bildtheorie in dieser Form nicht verhandelt wird). Der Einfluss Handkes auf Winkler und dessen Verehrung von Handkes Werk ist bekannt: „Für mich ist Peter Handke der größte europäische Schriftsteller“ (Reif & Winkler, 2012, S. 83). 131 Borgards bezieht sich dabei auf Handkes Versuch über die Müdigkeit: „Nicht auf so einen Gegensatz kam es mir mit dem Erzählen gerade an, sondern auf das reine Bild […]“ (Handke, 1989, S. 29). 132 Dies bezieht sich auf Friedbert Aspetsbergers Lektüre von Winklers Werk und seine „Umschreibung“ der Realität (1997).

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„Sprachbilder“ bzw. „sprachliche Bilder“ […] bezeichnen eine äußerste Grenze; sie befinden sich dort, wo Bild und Sprache sich fast zu berühren scheinen; sie bleiben dabei jedoch ganz aufseiten der Sprache; sie bilden die Sprachseite der Berührung. (ebd. 12)

Bilder werden hier zugleich als im Schreiben sich konstituierende, semantischpoetische Zentren (wie das Feuer, der Fluss, der Kalbstrick usw.) verstanden, die das Schreiben selbst in direkte Verbindung zur Realität stellen, was gleichzeitig den kritischen Charakter dieses bildlichen Schreibens bekräftigt: Es handelt sich um Bilder, die direkt auf das Leben in der katholischen Gemeinschaft hinweisen, jedoch gleichzeitig auf eine höhere, semantische, metaphorische Ebene führen. Man begegnet hier der Produktivität eines paradoxen Bildbegriffes, der die Unmöglichkeit einer Entsprechung von Sprache und Welt impliziert und diese dennoch voraussetzt: In der Macht, die diesen Bildern zugesprochen wird, gibt es einen dezidierten Sprachoptimismus; sie verfügen über eine Kraft, die Realität nicht bloß zu repräsentieren, sondern die Wahrnehmung von dieser zu verändern.133 Die poetische Bilderwelt – mit Handke durch Borgards betrachtet – schafft somit eine parallele Welt, die als inkommensurabel zur realen Welt gedacht wird, wobei letztere aber immer in einem gespannten Verhältnis (siehe Zitat oben: „ganz aufseiten der Sprache“) zu der poetisch-sprachlichen bleibt.134 Das Bild ist Trennung und Zugang zur Welt, d.h. ein liminales Phänomen. Im Folgenden werden einige konkrete metaphorische Bilder hervorgehoben, die der Erzählung in Das wilde Kärnten Konsistenz verleihen. Daraufhin wird eine vorläufige Taxonomie der Bilder Winklers skizziert, mithilfe derer verschiedene Strategien seiner Bildpoetik analysiert werden können.

|| 133 Siehe Borgards, 2003, S. 18ff. 134 Diese Ambivalenz wird in der Poetologie Borgards das Grundproblem genannt (2003, S. 46).

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6.1 Grundlegende Bilder: Feuer, Kalbstrick, Großmutter William Christopher Burwick hat in seiner Dissertation die besondere narrative Rolle hervorgehoben, die einigen wichtigen Bildern bei Winkler zukommt, indem sie als Strategien des Erinnerns und des Erzählens genutzt werden.135 Für Burwick erfüllen diese Bilder nicht nur eine symbolische Funktion, sondern bewirken eine Emphase des Materiellen im autobiographischen Schreiben Winklers. Im Folgenden werden bestimmte Bilder präsentiert, die zur Konstituierung von Winklers eigener Lebenserzählung dienen. In Das wilde Kärnten findet man Bilder, die in Winklers Schreiben eine besondere Kraft entfalten. In Der Ackermann aus Kärnten bekommt der oder die Leser*in eine mögliche, innertextuelle Erklärung dafür: Wäre ich in der Stadt aufgewachsen, hätte ich tausend Bilder einmal gesehen, so bin ich auf dem Land, in einem kleinen, abgeschnittenen Dorf aufgewachsen, wo ich ein Bild tausende Male gesehen habe. Aber immer wieder veränderte sich dieses Bild, indem es in meiner Fantasie weiterwuchs. (AK 456)

Die Bilder des Dorfes sind mannigfaltig vorhanden, konfrontieren iterativ die Subjekte und „wachsen“ in der „Fantasie“ des Schreibenden weiter – dadurch werden sie aber mehrdeutig und aus ihrer Mehrdeutigkeit heraus selbst umgedeutet und überschrieben. Die Idee eines Weiterwachsens der Bilder entspricht einer poetischen Strategie, die mit dem Übergang vom Bild zur Sprache zu tun hat. In der Sprache werden diese statischen Bilder wie in einem Film – daher das Bild der Filmkamera – in einen Erzählfluss eingefügt. Trotzdem entspricht diese Idee der Photographie in Konfrontation mit dem Film nicht einer kohärenten poetologischen Einheit – der Film bzw. die Filmkamera bleiben auch eine Metapher für das bildliche Schreiben, wie man es in Muttersprache an der bereits oben zitierten Stelle entdecken kann: „Die Bilder in meinem Filmkamerakopf überschneiden sich, sind über- und unterbelichtet. Tiere mit Menschenköpfen sind zu sehen und Menschen mit Köpfen von Ratten“ (MS 763–764). Daher wird das statische Dorf vielmehr im Kopf Winklers zum Film: „Die Augen starren. Die Zunge lispelt“ (AK 197). Die Versprachlichung der Bilder ermöglicht eben jene filmartige Bewegung der Bilder. Es ist die Verbindung zweier Schreibtechniken – des Bildes und der Abschweifung –, die zum Film führen: Die Assemblage des Filmes wird hier verstanden als eine Verschmelzung verschiede-

|| 135 Vgl. Burwick, 2015, S. 2.

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ner Bilder, die der poetischen Bearbeitung bzw. Überarbeitung der Bilder jenseits der Repräsentation entspricht. 136 Die erst später als Trilogie Das wilde Kärnten zusammengefügten und zuvor einzeln erschienenen Romane beginnen mit einem Bild, genauer gesagt, mit einer nicht beschrifteten Fotographie von Bauern in der Dorfgemeinschaft Kamering, und mit der Beschreibung eines Brandes im Jahr 1897 am selben Ort. Das Bild des Feuers, das bei Vallejo in voller Brisanz eine semantische Linie durch die Autobiographie zieht, ist hier zugleich der Anfang von Winklers Schreiben, das, dem Feuer gleich, alles im Dorf verschlingen wird: Das Feuer steht hier sinnbildlich am Anfang einer trilogieförmigen Abrechnung mit der katholischen Dorfgemeinschaft. Wie unten dargelegt wird, steht das Feuer bei Vallejo für ein abschweifendes Schreiben, das so auch bei Winkler zu finden ist. Das brennende Kruzifix am Anfang der Trilogie führt diese Bedeutung mit sinnbildlicher Kraft vor Augen: „[A]m anderen Ufer der Drau sahen die Leute das brennende kruzifixartig gebaute Dorf“ (MK 3). Mit diesem Bild des brennenden Kruzifixes, das der Form des ganzen Dorfes entspricht, beginnt Winklers Trilogie und legt somit den Grundstein für den darauffolgenden religionskritischen Text. Die ganze Trilogie wird sprunghaft und fließend verschiedenste Bilder der Erinnerung an das vergangene Leben in der Dorfgemeinschaft zusammenfügen und diese in einer rasenden, abschweifenden, alles verschlingenden Schreibweise ‚brennen‘ lassen. Das Feuer soll in Verbindung mit einer Rhetorik der Beleidigung (Kapitel 2) gedacht werden: Es wird hier zum Sinnbild für ein rabiates Schreiben, das im Sinne Fernando Vallejos, aber auch Thomas Bernhards137 eine Abrechnung mit der Dorfgemeinschaft bedeutet. Das Feuerbild entstammt einem konkreten fotographischen Bild, das bereits im ersten Band der Trilogie mit einem anderen Bild in Beziehung tritt. Die

|| 136 Auch bei Vallejo spielt der Film eine wichtige Rolle, die vor allem in Los caminos a Roma und Años de indulgencia thematisiert wird. In Los caminos a Roma befasst sich der autobiographische Ich-Erzähler mit seinen Studienjahren an der Filmakademie Cinecittà in Rom und in Años de indulgencia werden die New Yorker Jahre erzählt, in denen es um die Planung seines Filmes über die Gewalt in Kolumbien und unter anderem um die kolumbianische Filmgeschichte geht (siehe AI 68ff). 137 Der letzte, posthum erschienene Roman Thomas Bernhards, Auslöschung (1986) kann auch als Abrechnung mit der österreichischen Gesellschaft verstanden werden. Bei Bernhard ist bereits der Titel Ausdruck seines Plans, nämlich eine ‚Auslöschung‘ des erzählten Dorfes im Schreiben: „Das einzige, das ich schon endgültig im Kopf habe, hatte ich zu Gambetti gesagt, ist der Titel Auslöschung, denn mein Bericht ist nur dazu da, das in ihm Beschriebene auszulöschen, alles auszulöschen, das ich unter Wolfsegg verstehe, und alles, das Wolfsegg ist, alles, Gambetti, verstehen Sie mich, wirklich und tatsächlich alles“ (Bernhard, [1986] 1988, S. 199).

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ganze Erzählung dieses Buchs, Menschenkind, wird durch dieses Anfangsbild bestimmt: Fast hundert Jahre nach dem Brand, im Jahr 1976, begehen Jakob und Robert mit einem drei Meter langen Kalbstrick Selbstmord: Sie schlangen das Seil um ihn [einen Trambaum] und verknoteten die beiden Seilenden hinter ihren linken Ohren. Der Nerv des Stricks zuckte. Ihre Hände flochten sich zu einem Zopf ineinander, immer schneller im Kreis sich drehend wirbelten sie wieder auseinander und kamen vor ihren blutunterlaufenden Augen zum Stehen. (MK 7)

Wenn hier von einem sprachlichen Bild die Rede ist, dann muss die Beschreibung als narrative Technik in den Blick genommen werden: In diesem Zitat zeigt sich explizit, dass die Vorliebe für Details eine wichtige Rolle in Winklers Schreiben spielt. Die detailreiche Beschreibung führt jedoch auch zu einer Autonomie der Sprache selbst, die sich hier im Satz „Der Nerv des Stricks zuckte“ zeigt und die durch die rhetorische Seite der Beschreibung – die Personifikation – hervorgehoben wird. Somit wird das beschriebene Bild, die Ekphrasis, zum Sprachbild. Erst in der Beschreibung des Selbstmordes finden sich die Liebenden in einer letzten Vereinigung („Ihre Hände flochten sich zu einem Zopf ineinander“). Es geht bei Winkler in keiner Weise um eine realistische bzw. naturalistische Beschreibung des Geschehens oder des (kollektiv) Erinnerten, sondern um eine Beschreibung, die in den Wirkungsbereich jenseits des Bildes führt, nämlich zur Überschreibung – es geht hier um die Übertragung des Bildlichen ins Sinnbildliche, ins Metaphorische: So „hängen“ am Ende die zwei liebenden Leichen nicht, sie „stehen“. Die von Dirk Linck genannte Verhexung der Realität bzw. die von Friedbert Aspetsberger betonte kritische Umschreibung des Realen ist genau die Verformung, die von der kritischen „Kamera“ Winklers ermöglicht wird: Das Bild wird zur Sprache und damit wird es auch zu etwas anderem als nur einem beschriebenen Bild – es wird ein sprachliches Bild. Das Bild wird dann wiederum, in Sprache verwandelt, zum signifikanten Träger von Bedeutung in der Erzählung. Das ist der Wechsel von einem „Bild von etwas“ zu einem „Bild für etwas“ (Borgards, 2003, S. 9) – in dieser Hinsicht hört ein sprachliches Bild auf, Beschreibung oder Repräsentation von etwas zu sein, um Autonomie zu erlangen, um Bild in einer metaphorischen Hinsicht für etwas zu sein: Das Bild wird rhetorisch für etwas benutzt, hier für einen kritischen Zweck. In Muttersprache wird diese Autonomie der Bilder thematisiert: „Die Figuren haben sich selbstständig gemacht und machen mit mir, was sie wollen“ (MS 764). Diese Verbindung des Bildes, um es für etwas anderes zu benutzen, findet man auch in Form des Vergleichs: „Der Strick pendelt, schwingt hin und her wie die kastanienbraunen Hoden des laufenden Kindes“ (MK 101) oder „[d]as

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Geräusch eines schnalzenden Kalbstrickes empfindet das Kind in seinen Ohren wie das taube Ausfließen des Samens aus dem erigierten Geschlecht“ (MK 102). Der Kalbstrick als Bild erlangt seine semantische Kraft nicht nur, weil Jakob und Robert damit Selbstmord begangen haben, sondern weil er eine komplexe sinnbildliche Tiefe besitzt: Er ist nicht nur ein Hilfsinstrument bei der Geburt von Kälbern, sondern auch ein Instrument für die Erziehung der Kinder138 und ein Mittel zum Selbstmord. In Der Ackermann aus Kärnten findet man beim Rundgang durch die Häuser des Dorfes im „Haus 5“ eine Art detailreiche Präsentation des Kalbstrickbildes: Im Gasthaus. Es soll, meine Damen und Herren, vom Kalbstrick die Rede sein, mit dem Kälber an Fesseln gebunden und mit Bauernhänden aus dem Mutterleib gezogen werden. Es soll vom Kalbstrick die Rede sein, mit dem sich Jakob und Robert im Pfarrhofstadel erhängt haben, vom Kalbstrick, der rote reliefartige Nabelschnüre auf den Rücken der Kinder, tagelange Brennesselspuren hinterläßt, meine Damen und Herren, hört dem Kalbstrick zu, er hat genug gelebt, er kann selber sprechen, schwingt ihn und laßt ihn schnalzen, auf eine Bretterwand, eine Strohpuppe oder auf eine Glasscheibe, meine Damen und Herren, horcht hin und ihr werdet seine Sprache besser verstehen als die eigene. (AK 239)

In der Vielseitigkeit des Bildes verbirgt sich die ganze Erzählung: Geburt, Zucht, moralische Erziehung und Selbstmord sind drei konstituierende semantische Sinnebenen des Bildes des als erstickend beschriebenen Dorflebens, die hier in einem Bild des Kalbstricks zusammenkommen. Verschiedene Narrative kreuzen sich in diesem Bild und an der Kreuzung gewinnt das Bild eine kritische politische Kraft: Dabei offenbart sich die ideologische Struktur des Dorfes in der gleichzeitigen Förderung des Lebens und des Todes. Geburt und Tod werden hier in einem einzigen Bild zum Ausdruck gebracht, womit die Paradoxien der katholischen Gemeinschaft (die gleichzeitige Stiftung von Leben und Tod) sinnbildlich vor Augen geführt werden. Dabei löst sich das Objekt (Kalbstrick) von seiner konkreten Gestalt, um als komplexes Bild der ganzen Gesellschaft zu wirken. Das Bild wird somit in die Erzählung Winklers eingefügt und überschrieben. Der Kalbstrick steht für eine paradoxe Verbindung der Züchtigung und des (Selbst)Mordes; dieses Bild wird dann mit dem zugleich komplexen Bild des Kruzifixes – auch Sinnbild des ewigen Lebens, der Befreiung, aber auch des Todes Christi – in Verbindung gebracht: Es geht um das Zusammen-

|| 138 In Winklers Winnetou, Abel und ich findet man wieder die Erinnerung an den Kalbstrick, die Teil der Genese dieses Bildes ist (2014, S. 20).

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kommen – im Bild – von Schmerz und Lust, Tod und Leben, das als eine Perversion der Liebesrede Christi dargestellt wird: Der Peiniger schlägt das Kind mit einem armgroßen Kruzifix. Das Kind blutet aus den Handwunden des Gekreuzigten. Der Gekreuzigte schreit mit der Stimme des gezüchtigten Kindes, während das Kind lächelnd auf das aus den Nagelwunden rinnende Blut blickt. (MS 809/ meine Hervorhebungen)

In diesem Bild wird das Kind mit dem Bild des Kruzifixes gepeinigt und gleichzeitig mit Lust vergnügt. Das Fantasievolle am Bild, das, wodurch das Bild nicht mehr Beschreibung, sondern Sprachbild wird, drückt sich in der Personifikation des Schmerzes aus: Der Gekreuzigte leidet, seine Doktrin der Liebe leidet. Das Kalbstrickbild als grundlegendes Bild wird, wie im Falle des Kruzifixes, in andere Bilder überschrieben oder mit diesen in einem Narrativ zusammengefügt. Ein anderes Bild, dass immer wieder von Winkler selbst als grundlegend für das Schreiben und die Genese seiner Bilderwelt hervorgehoben wird, ist jenes der verstorbenen Großmutter:139 Genau wie bei Vallejo spielt die Großmutter eine wichtige Rolle in der Lebenserzählung Winklers, obwohl diese nicht wie bei Vallejo mit einem locus amoenus in Verbindung gebracht und somit positiv konnotiert wird: In Der Leibeigene, jenem nach der Trilogie entstandenen Roman, wird die Bedeutung dieses Bildes hervorgehoben und es wird im Bedeutungsbereich des Todes verortet: Erinnere ich mich an meine Großmutter, so sind es die immerselben Bilder, die wie ein Heiligenschein um ihren Totenschädel kreisen. Es ist der Geruch des Urins, es sind ihre schmutzigen Fingernägel, es ist der dreckige Enzianschmelzkäse […]. Noch ein paar andere, eingerahmte Bilder, die nach Schleim und Blut, nach der Fäulnis des schwindenden Tageslichts, nach einem von einer Messerspitze entkernten halbierten Gravensteinerapfel riechen, verbarrikadieren sich in meiner Brust. Ihre Angst vor dem Totenvogel! ([1987] 1990, S. 91)

Die Bilder Winklers sind von einer besonderen sinnlichen Natur, und sie werden in der sprachlichen Evokation dieser vergangenen Empfindlichkeit wiederbelebt. Erst in Der Ackermann aus Kärnten, wo die Erzählstimme im Vergleich zu Menschenkind an Deutlichkeit gewinnt, findet man eine wiederholte Auseinandersetzung mit dem Tod der Großmutter, der paradigmatisch für zahlreiche

|| 139 „Ich kann mich noch ganz genau erinnern: Ich war drei Jahre alt, da hat meine Tante mich in die Höhe gehoben und mir in einem Sarg meine tote Großmutter gezeigt. Das ist das erste Bild, an das ich mich wirklich erinnern kann. Mit diesem Bild sozusagen beginnt die Welt meiner Erinnerungen, meine Bilderwelt“ (Fisch, 2005, S. 14).

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andere Todesfälle steht: „Der Tod in diesem Dorf war mein Lehrmeister“ (AK 230). In diesem Zitat verbirgt sich die Auseinandersetzung mit dem Tod, die im Bild der verstorbenen Großmutter eine Genealogie findet. Dass sich Winklers Werk – und vor allem seine ersten drei Romane – am ausführlichsten mit dem Tod beschäftigen, ja, dass Winklers andere Themen aus diesem einen sich ableiten lassen, ist evident. Der Tod sammelt seine ganze poetische Welt in ihrer Bildhaftigkeit zusammen: „Angesichts seines [Jakobs] Todes scheint mir jede Bewegung, die sich in diesen Augenblicken abspielte, beschreibungswürdig. Der Tod entriß allem die Banalität“ (MK 162). Das Bild des Todes enthält somit eine kritische Kraft, die dem Oberflächlichen der sozialen Realität seine „Banalität“ entreißt. In der Bilderwelt des Todes spielt dieser eine Tod der Großmutter eine besondere Rolle, die immer wieder hervorgehoben wird. Außerdem eröffnet sich über die Großmutter, bzw. den Großvater, die sowohl bei Vallejo als auch bei Bernhard als wichtige, meist positive Gestalten der Vergangenheit dargestellt werden, eine Möglichkeit des Vergleichs beider Autoren. Der Brand, der Kalbstrick und der Tod der Großmutter sind Bilder, die in ihrer komplexen Beschaffenheit das Erschaffen von anderen Bildern in Gang setzen. Die Komplexität dieser Bilder liegt in ihren paradoxen Strukturen: die Schaffenskraft aus der Destruktion des Brandes, der Kalbsstrick als Züchtigungsinstrument und Mittel zum Selbstmord und die nostalgische und furchterregende Erinnerung an den Tod der Großmutter.

6.2 Taxonomie der Bilder Winklers Im Folgenden soll nun eine nicht vollkommene, aber zumindest grobe Taxonomie der Bilder bei Winkler vorgeschlagen werden. Die Winkler’sche Bilderwelt kann meines Erachtens nicht in einer erschöpfenden Art und Weise klassifiziert werden. Stattdessen werden insgesamt vier wichtige Arten von Bildern präsentiert, die die religions- und sozialkritischen Intentionen verdeutlichen: die Erinnerungsbilder, die Schockbilder, die fiktionalisierten und die ikonographischen Bilder.

6.2.1 Erinnerungsbilder Winklers Bildpoetik soll im Kontext einer entstehenden kulturellen Erinnerungspolitik Österreichs in den 1980er-Jahren gelesen werden. Winklers ersten drei Romane stehen dabei exemplarisch für eine Art Vergangenheitsbewältigung, die in der österreichischen Literatur der 1970er- und 1980er-Jahre immer

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präsenter wird und dann im Kontext der Waldheim-Affäre und des Gedenkjahrs 1988 zu ihrem Höhepunkt gelangt: Bücher wie Thomas Bernhards autobiographische Romane – vor allem Die Ursache (1975) –, das Theaterstück Heldenplatz (1988) oder Elfriede Jelineks Theaterstück Burgtheater (1985) stehen exemplarisch für eine literarische Vergangenheitsbewältigung der ersten Nachkriegsgeneration in Österreich.140 In Muttersprache findet man eine metaliterarische Überlegung zu diesem Aspekt: „Nicht befreit, neuerlich geknechtet hat mich die Beschreibung meiner Kindheit und Jugend, denke ich […]. Die Bilder, die ich mit dem Material meiner bäuerlichen Kindheit und Jugend entworfen habe, fordern mich jetzt wieder zurück“ (MS 584). Die Erinnerungsbilder sollen daher im Rahmen der in den 1980er-Jahren sehr präsenten Debatten über die Vergangenheitsbewältigung der ganzen Nation verstanden werden, die aus der ReEvaluierung der Opfer-These Österreichs folgten. Exemplarisch für das Klima dieser Zeit steht Josef Haslingers Essay Politik der Gefühle (1988), in dem die „emotionale Statik“ in Bezug auf das Fehlen einer Erinnerungskultur in Österreich nach 1945 thematisiert wird. Diese „politische Kultur der Unbewußtheit“ (Ziegler, 1993, S. 39) wird mit den Erinnerungsbildern Winklers konterkariert, nämlich in der Exposition nicht nur von NS-bezogenen Erinnerungen – die ihm danach den Ruf des „Nestbeschmutzers“ einbrachten –,141 sondern ebenso von Erinnerungen an die katholische Kultur und ihre sexistischen und homophoben moralischen Prämissen. Aus dem Unbewussten bzw. aus dem absichtlich aus dem kollektiven Gedächtnis Verdrängten oder Vertuschten holt Winkler die Bilder hervor, die auf eine subversive Konfrontation zielen. Dieses konfrontative Projekt – das auch beinhaltet, den eigenen Vater u.a. als Nazi darzustellen und als solchen bloßzustellen – hat bis heute im Schreiben Winklers keine Ruhe gefunden.142

|| 140 Diese Vergangenheitsbewältigung unterschied sich aber wesentlich von jener, auf die Claudio Magris sich in seiner Studie bezieht, nämlich die Gedächtniskultur Musils, Doderers, Zweigs u.a., die, teils ironisch, im „habsburgischen Mythos“ eine nostalgische Erinnerung an das nicht mehr vorhandenen Kakanien in der Ersten Republik zum Ausdruck gebracht haben (vgl. 1963). Es handelt sich hier um eine Erinnerungspraxis unter umgekehrten Vorzeichen, da es im Kontext der 1980er-Jahre vielmehr um das absichtlich negativ Verdrängte als um das positiv Verlorene geht. 141 Im Roman Der Leibeigene wird von Winklers Rückkehr nach Kamering erzählt, dabei geht es vor allem um den Hass gegen ihn, den die Veröffentlichung seiner ersten drei Romane verursacht hatte ([1987] 1990, S. 73–82). Winkler bezieht sich selbst auf das Wort „Nestbeschmutzer“ in verschiedenen Gesprächen, etwa in Winkler & Affenzeller, 2017. 142 Winklers Buch Laß dich heimgeigen, Vater oder den Tod ins Herz mir schreibe (2018a) soll als eine Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit seines Heimatdorfes verstanden werden.

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In einem an Bernhard erinnernden Ton werden Erinnerungsbilder entworfen, die die verleugnete NS-Geschichte des Dorfes ans Licht bringen: „Der Fischerhelmut schlug die Hacken zusammen, streckte die Hand aus und schrie, Heil Hitler! in den Klassenraum hinein, wenn der Lehrer im ersten Stock bei seiner Familie saß und das Mittagsbrot zu sich nahm“ (MS 572). Es handelt sich hier um ein Bild mit verschiedenen simultanen Momenten (das Klassenzimmer, das Grußsymbol, die Mahlzeit, der Lehrer, die Ruhe und die Alltäglichkeit), das einen bestimmten Diskurs in seiner Symbolik entfaltet. Das Bildhafte drückt sich auch in der kommentarlosen Beschreibung aus, die mit ihren gegenständlichen Alltagselementen (Mittagsbrot, Klassenraum, Familie) eine Sinnbildlichkeit erahnen lässt. Der Text fährt folgendermaßen fort: Am zehnten Oktober, dem Tag der Kärntner Volksabstimmung, steckten die Kärntner Fahnen zwischen Schulterblatt und Holzkreuz Christi. Hitler kommt zur Osterbeichte in mein Heimatdorf, geht im Stechschritt auf den Beichtstuhl zu, Heil Hitler! murmelt der Priester und nimmt ihm die Millionen toter Juden ab. […] Hitler bekreuzigt sich vor dem gekreuzigten Hitler in der Dorfmitte und verläßt den Ort, ohne zu grüßen. (MS 572–573)

Dass diese Szene fiktiv ist, da eine solcher Besuch historisch nicht stattgefunden hat, wird durch die Präsenzform angezeigt; die Geste jedoch, diese Situation genauso – im Indikativ Präsens – zu beschreiben, als würde es sich hierbei um ein Erinnerungsbild handeln, das rekonstruiert wird, soll als Teil eines kollektiven Gedächtnisses verstanden werden, das die historische Verquickung des Nationalsozialismus mit dem Katholizismus denunziert. Die Präsens-Form konfrontiert zugleich die Leserschaft mit dem Bild, als würde sie dieses gerade betrachten. Dabei dient auch das Kreuzbild („Holzkreuz Christi“, „Hitler bekreuzigt sich“) als Verbindung zwischen Nationalsozialismus und Katholizismus, in dem die Nähe beider Instanzen zum Ausdruck kommt. Womöglich entstammt dieses Bild einer produktiven Rezeption von Thomas Bernhards Die Ursache.143 Die Erinnerungsbilder ziehen sich durch Winklers ganzes Schreiben – sie vermischen sich jedoch auch immer wieder mit anderen Bildern, mit Erzählungen, Lektüren, Filmen usw., die zu einem einzigen Ensemble zusammengefügt werden. || 143 In dem in zwei Teile gegliederten Roman Thomas Bernhards wird die Verquickung zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus im Salzburg seiner Kindheit nicht nur denunziert, sondern auch mittels sinnreicher Bilder zum Ausdruck gebracht: „Der ganze Raum war nicht einmal ausgemalt worden, dafür fehlte es offensichtlich an Geld, denn wo jetzt das Kreuz hing, war noch der auf der grauen Wandfläche auffallend weiß gebliebene Fleck zu sehen, auf welchem jahrelang das Hitlerbild hing“ ([1975] 2009, S. 76).

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6.2.2 Fiktionalisierte Bilder Die fiktionalisierten Bilder dienen als Markierung der Gemachtheit der Bilder, d.h. sie heben in der expliziten Betonung ihrer Fiktionalität – innerhalb eines autobiographischen Rahmens – ihre Abhängigkeit vom fabulierenden IchErzähler hervor. Es geht daher nicht bloß um eine ‚literarische Ausarbeitung‘, sondern um eine explizit gemachte ‚Fiktionalisierung‘ des Erinnerten im Rahmen eines Erzählens, das eine gewisse Referenzialität auf die Vergangenheit beibehält.144 Ich möchte mich hier bewusst nicht des Begriffes der ‚Autofiktion‘ bedienen, da ich von der Annahme ausgehe, dass das autobiographische Schreiben immer Momente der Fiktionalisierung durchläuft.145 Das explizit Fiktionale wird nicht nur aufgrund seiner klaren Irrealität als fiktional zu erkennen gegeben, sondern an einigen Stellen bei Winkler mit dem Teilsatz ich stelle mir vor als solches deutlich gekennzeichnet: „Ich stelle mir vor, daß die Arme der Baumwurzeln den Toten würgen“ (MS 651). Die evident fiktionalisierten Bilder (vor allem in Menschenkind) sind die einer surrealen, traumhaften Natur. Die Überzahl an Bildern, deren semantischer Grund in ihrer Mannigfaltigkeit nur schwer zu entschlüsseln ist, verleiht der Erzählung einen neobarocken Charakter (siehe Kapitel 3): „Die pulsierenden Schrecksekunden in meinem Blut“ (MK 81); „Und die Mutter ißt jetzt Friedhofserde“ (MK 80); „Eine blutende Hand teilt seine Seele wie der Priester den Leib || 144 Ich beziehe mich in diesem Punkt auf die Unterscheidung Aleida Assmanns zwischen „literarischer Ausarbeitung“ und „Fiktionalisierung“ (2011, S. 218). 145 An dieser Stelle beziehe ich mich auf Sylvia Molloys Auffassung des autobiographischen Schreibens als „fabulación“, die sie in ihrer Monographie Acto de presencia. La escritura autobiográfica en Hispanoamérica entwickelt. Molloy beruft sich auf eine im 20. Jahrhundert etablierte Rhetorik der Autobiographie, diegewisse mnemotechnische Strategien aufweist. Dabei betont Molloy, dass die Frage der Fiktion in dieser Hinsicht irrelevant sei, da es immer um die Hervorbringung einer Ich-Figur geht, die vom autobiographischen Subjekt kreiert wird: „La evocación del pasado está condicionada por la autofiguración del sujeto en el presente: la imagen que el autobiógrafo tiene de sí, la que desea proyectar o la que el público exige“ ([1991] 1996, S. 19) / „Die Evokation der Vergangenheit ist durch die Selbstkonstituierung des Subjekts in der Gegenwart bedingt: durch das Bild, das der Autobiograph von sich hat, das er projizieren möchte oder das vom Publikum verlangt wird“ (meine Übersetzung). Mehr als um die Frage nach dem Wahrheitsgehalt oder nach der Fiktionalität des Erzählten bzw. Erinnerten, geht es bei Molloy um eine autobiographische Stimme, die sich im Diskurs zwischen Autor*in und Publikum herauskristallisiert und in der Gegenwart als Subjekt konstituiert. Es geht nicht um die Konstatierung des Erzählten in der Vergangenheit, sondern um die Anwesenheit („presencia“) der autobiographischen Stimme im gegenwärtigen Diskurs. Das ist auch genau der Fokus meiner Untersuchung: die Art und Weise, wie das autobiographische Subjekt in Bezug auf einen Kontext (die Religionskultur) eine eigene Art des Schreibens über sein Leben schafft.

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Christi halbiert und Zwillingen in den Mund schiebt“ (MK 143); „Sie schrie aus den Mäulern der offenstehenden Fenster in den echolosen Wald“ (MK 119) etc. Diese Auflistung von (möglichen) Tagebucheinträgen machen aus dem ersten Buch von Winklers Autobiographie ein surreales Fotoalbum meist schockierender Bilder. Grund dafür, diese Sätze bildlich zu verstehen, ist die markante Beschreibung von Sinneseindrücken („echolos“, „pulsierend“), von Handlungen („in den Mund schiebt“, „Mutter ißt“) und von Orten (Wald, Blut, Fenster), aufgrund derer man sich eine Wahrnehmungssituation dieser Bilder vorstellen kann. Die Perzeption der Bilder wird aber in einer höchst artifiziellen Art und Weise dargestellt, die der Beschreibung eines Traumerlebnisses nahesteht. In diesem Sinn werden Bilder in ihrer polysemantischen Dimension vor Augen geführt. Exemplarisch für die fiktionalisierten Bilder stehen die Passagen in Muttersprache, in denen der Erzähler aus dem gläsernen Mutterleib fiktionale Erlebnisse beschreibt. Diese Bilder aus dem Mutterleib werden bereits am Anfang als Vorstellungen gekennzeichnet und detailreich wiedergegeben, so als ob es sich um tatsächliche Erfahrungen des Ich-Erzählers handelte: Leicht kann ich mir vorstellen, wie ich mich in deinem Bauch wie ein Raumschiff um die eigene Achse drehte. Neun Monate lang blickte ich aus deinem gläsernen Bauch wie aus einem Fenster ohne Kreuz auf ein Fenster mit Kreuz und aus diesem Fenster, wenn du vor dem Fenster gestanden hast, wiederum auf das Fenster des Nachbarhauses, an dem die schwangere Nachbarsfrau stand und zu dir herüber blickte [sic!]. Du hast das Fenster geschlossen, genickt und gelächelt, freundlich wie du immer warst, zu jedem Mensch [sic!], zu jedem Tier. (MS 673)

Die Erzählinstanz begleitet die Mutter durch fiktionale Erinnerungen bei der Hausarbeit, bei Begegnungen mit anderen Personen, beim Sexualverkehr mit dem Vater, aber vor allem beim Anblick von Kruzifixen: „Während ich aus dem gläsernen Mutterbauch blickend seine Gesichtszüge fixiere, sieht der Gekreuzigte in mein embryonales Gesicht und nickt mir Menschen zu“ (MS 677). Die Verbundenheit mit der Mutter, in der fiktionalisierten Zuschreibung eigener Erinnerungen, entspricht dem in Muttersprache wiederholten Ziel, mit dem Schweigen der Mutter zu brechen. Das Erschaffen fiktionaler Bilder und die Etablierung von diesen als Teil einer Autobiographie korrespondiert mit der Absicht, ein Leben zu überschreiben, Korrektur oder Anklage zu sein im Zuge einer Selbstergreifung des eigenen Lebenserzählens. Das Subjekt konstituiert sich nicht nur aus dem, was es als Erfahrung im Leben gesammelt hat, sondern in der Wechselbeziehung mit den anderen Subjekten – Vater, Mutter, Kamering, Oma etc. –, die sein Leben wie in einem Fotoalbum füllen. Nur die Fiktionalisie-

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rung der eigenen Vergangenheit ermächtigt den autobiographischen Erzähler, Kritik an der Vergangenheit zu üben. Auf diese kritische Leistung der Fiktionalisierung in der autobiographischen Literatur der Gegenwart hat bereits Aleida Assmann hingewiesen.146 Die Fiktionalisierung der Vergangenheit hebt die Instanz des Ich-Erzählers hervor. Die Gemachtheit der Lebenserzählung wird dadurch offensichtlich: Sie handelt von einem Subjekt, das „ich“ sagt und aus seiner Perspektive Zugriff auf die Vergangenheit erlangt, um diese wiederzugeben und zu erweitern. Die Perspektive eines vorgeburtlichen Erzählers enthüllt ein Bild in seiner ganzen Komplexität: Darin verbinden sich Tod und Geburt, der Vater und die Mutter, das Individuum und das Kollektiv. Diese Komplexität wird durch die fiktionalisierten Bilder der Vergangenheit zum Ausdruck gebracht, und die Symbolhaftigkeit dieser Bilder wird dadurch gewährleistet.

6.2.3 Schockbilder Josef Winkler rekurriert in Das wilde Kärnten immer wieder auf Bilder, die mit W. J. T. Mitchells Begriff der offending images gelesen werden können: Es handelt sich um Bilder, die in einem bestimmten Kontext („framed and displayed“) als abstoßend rezipiert werden und somit ein „reciprocal act of violence“ (2005, S. 125) ausüben, d.h. die eine bewusste Transgression darstellen und beanspruchen, in der kontextgebundenen Rezeption Anstoß zu erregen.147 Die Todesdarstellungen spielen in dieser Hinsicht eine besondere Rolle: „Es sind Bilder, mit denen Winkler dem Tod sprachlich zu Leibe rückt. Sprachbilder, die den Leser fesseln, faszinieren und mitunter auch irritieren“ (Mariacher 2020, S. 111). Sexuelle, gewalttätige, beleidigende, abstoßende Bilder setzen die Autor*in und die Leser*in auf direkte, transgressive und gewaltsame Weise miteinander in Beziehung: Die Wirkung und agency des Textes in einem bestimmten Kontext wird so verstärkt. Die schockierenden Bilder agieren und nehmen an einem sozio-politischen Konflikt (in diesem Fall der Ein- und Ausschließungsdispositive des Katholizismus) teil, der ihnen vorausgeht.148 || 146 Vgl. Assmann, 2011. 147 Ernst Fischer bezieht sich in dieser Hinsicht auf Winklers Werk als eines, das „auch den Kitsch nicht vermeidet, wobei besonders die homoerotisch gefärbte und ins Kannibalistische gewendete Christusmetaphorik und die als Gegenwelt zur katholischen Opferliturgie entworfenen pornographischen und nekrophilen Sprachrituale Anstoß erregt haben“ (1999, S. 482). 148 „[T]he intractability of offensive images stems from their tendency to take up residence on the frontlines of social and political conflicts […]. They make their appearance in these conflicts

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Mitchell beginnt seine Überlegungen zur Genealogie der offending images in einem religiösen Terrain, im Bilderverbot in 2.Mose 20:4–6: Der Diskurs über beleidigende Bilder scheint bereits in jenem über die Sünde des Goldenen Kalbs (2. Mose 32) enthalten zu sein. Das Sündhafte an diesem Bild ist die durch die Bilderschöpfung vollzogene Rebellion der Selbstermächtigung, die an die zuvor zitierte Stelle Winklers zu den hohlen Engeln und zur Buchhaltung des Lebens erinnert. Die selbst geführte Buchhaltung des Lebens drückt sich subversiv in der Bilderschöpfung aus: „[I]f you start making images, it is inevitable that they will, as we say, ‘take on a life of their own’, become idols, take place of God, and thereby become offensive“ (Mitchell 2005, S. 134). Winklers Bilder sind in ihrer Thematisierung skandalöser, nicht frommer Inhalte aber nicht nur auf der Ebene der Bilderschöpfung transgressiv, sondern an sich in ihrer Schockwirkung.149 Wenn hier die Rede von Schockbildern ist, dann ist der resultierende Schock die Folge des Inhaltes und nicht der Form (letzteres wird im anschließenden Kapitel analysiert werden). Es geht also um transgressive Bilder und nicht um eine beleidigende, blasphemische Sprache. Dieser Unterschied (zwischen beleidigenden Bildern und Wörtern) muss, auch im Sinne Mitchells,150 aufrechterhalten werden: Dabei spielt das Vokative, im Fall der beleidigenden Wörter, eine wichtige Rolle, die in den Bildern nicht zu finden ist. An welchen sozial-diskursiven Konflikt lehnen sich die Schockbilder Winklers an? In erster Linie an jenen, der die Grenze des Privaten und des Öffentlichen in Bezug auf die Sexualität betrifft – eine Grenze, die in den schwulen Bewegungen nach Stonewall zur selben Zeit massiv in Frage gestellt wird: Sexualität wird hier als öffentliche politische Angelegenheit betrachtet.151 In Das

|| not only as causes and provocations but as combatants, victims, and provocateurs“ (Mitchell, 2005, S. 128). 149 Mitchell hebt die Materialität der beleidigenden Statue hervor: „The image is offensive, then, both for what it seems to say (‘I am God’) and for what it is – the crass, vulgar materiality of Egyptian gold“ (2005, S. 135). 150 Siehe Mitchell, 2005, S. 140. 151 Exemplarisch für diesen Diskurs ist die historische Analyse Michel Foucaults in Histoire de la sexualité und insbesondere seine Herausarbeitung der biopolitischen Macht im letzten Kapitel seines ersten Bandes La volonté de savoir: Foucault versteht im biopolitischen Dispositiv der Sexualität und des Sexes eine Regulierungstechnik des Lebens in der Gesellschaft: „Der Sex ist das spekulativste, das idealste, das innerlichste Element in einem Sexualitätsdispositiv, das die Macht in ihren Zugriffen auf die Körper, ihre Materialität, ihre Kräfte, ihre Energien, ihre Empfindungen, ihre Lüste reguliert“ ([1976] 1983, S. 185). Das durch die Dispositive der Macht eingeführte Innere bzw. Private wird somit zum öffentlichsten aller Aspekte des Politischen. Dies korreliert zugleich mit der in der queeren Kunst evidenten Strategie, das anscheinend Apolitisch-Private zur politisch-öffentlichen Angelegenheit zu deklarieren.

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wilde Kärnten können viele Bilder als pornographisch bezeichnet werden, die sowohl hetero- als auch homosexueller Natur sind. Im Kontext der katholischen Gemeinschaft Kamerings ist die folgende Darstellung von Analverkehr mit der Hand, bereits auf den ersten Seiten von Menschenkind, als Provokation zu verstehen: Der Zeigefinger fährt vom Halsrücken über die sich leicht biegende, mit vielen Höckern eines Kamels besetzte Wirbelsäule bis zum After. Mein Finger fährt weiter, bohrt sich ins Bronzeauge, weitet es aus, bis zwei, drei Finger darin parken können. Sein steifes Glied tötet den Nabel meiner Mutter, während meine Hände das Maul dieses Kamels weiten, das den Kopf hin- und herwirft, zu brüllen beginnt, und während die beiden vom Zügel meiner Finger nach vorn getriebenen Arschbacken plötzlich wie grasgrüne Äpfel, gehalten vom Stengel ihres Geschlechts, im Winken der Blätter zusammenwachsen, spielt sich im Inneren unseres Beckens, der fleischgewordenen Erdkugel, nördlich und südlich von zehngliedrigen Händen gehalten, das Leben aller Kontinente ab. […] Das versklavte Geschlecht des jungen Negers strömt an meiner Stirn aus […]. Immer noch Milch ausgießend […], als ob meine Mutter, die Handschale wie ein Becken, die Finger wie ein steifes Glied, einen Krug voll Milch aus dem Euter der schwarzfleckigen Kuh schütten würde. Der Negerjunge aß kannibalisch meinen wie eine Wasserfontäne hochgehenden, wieder stockenden, wieder fontänenartig ausströmenden Samen (MK 15–16)

Die adjektivreiche, beschreibende Sprache überschreitet viele moralische Grenzen in ihrer provokanten bildlichen Beschreibung: die Grenze zwischen Mensch und Tier („Höckern eines Kamels“), jene des Inzests („Sein steifes Glied tötet den Nabel meiner Mutter“), die Grenze zwischen dem Sakralen und dem Profanen bzw. zwischen dem Transzendenten und dem Immanenten („der fleischgewordenen Erdkugel“, „das Leben aller Kontinente“, „die Handschale wie ein Becken“), die Grenze anti-diskriminierender Sprache bzw. der political correctness („Der Negerjunge aß kannibalisch“) und die Trennung zwischen der Öffentlichkeit und dem Privaten („steifes Glied / Krug voll Milch“).152 Das Verwischen verschiedener Grenzen, das zur Veranschaulichung eines erotischen Aktes als Verschmelzung zweier Körper dient, konzeptualisiert bzw. framed das sexuelle Bild in einem Kontext, in dem dieses keiner öffentlichen Alltäglichkeit

|| 152 Peter Sloterdijk betont in seiner Kritik der zynischen Vernunft diese von ihm als kynisch bezeichnete Strategie der „Veröffentlichung des Privaten“ (1983, S. 212), die die „Dialektik der privaten Abspaltung und der öffentlichen Wiederkehr mit exemplarischer Gewalt aufzwingt. Die bürgerliche, realistisch angelegte Kultur kann gar nicht anders, als den Faden der kynischen Kulturrevolution aufzunehmen“ (ebd.). Somit wurde „[d]ie Marktöffentlichkeit […] von der kynischen Offensive elektrisiert“ (ebd. 213), was hier im Falle Winklers zugleich mit der Verschriftlichung des in der katholischen Gesellschaft Verschwiegenen bezweckt wird.

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entspricht. Das Schock-Bild enthüllt somit, im Schreiben über das Leben im Dorf, eine Wahrheit, die durch die Moral verdeckt wurde. Zwei heterogene Kontexte zusammengestellt in einem Bild machen das Schockpotenzial aus: das katholische Dorf mit seiner Moral und das tatsächliche, affektive und sexuelle Leben der Menschen im Dorf. Das Bild wird in das Leben der Dorfgemeinschaft („die Mutter“) und der Welt („alle Kontinente“) eingeführt und somit subversiv in diesem Kontext zelebriert. Diese politisch-künstlerische Strategie schockierender Bilder soll mit jenen Strategien einiger Vorläufer und Zeitgenossen Winklers in Vergleich gesetzt werden, die bereits in den 1980er-Jahren bzw. in den Post-StonewallJahrzehnten eine sehr prominente queere Kunsttradition bildeten. Dabei sind die Photographen Robert Mapplethorpe und David Wojnarowicz von besonderer Bedeutung.153 Mapplethorpes pornographische Photographien der sadomasochistischen New Yorker Underground-Szene dienten als grenzüberschreitende Bilder, in denen die Grenzen des Körpers und der Moral in konfrontativen Schock-Bildern hinterfragt wurden. Exemplarisch dafür steht sein Self-Portrait (1978), für das sich der in Leder gekleidete Künstler selbst mit einem dicken Strick vor der Kamera penetriert, oder die Darstellung eines Fisting-Verkehrs in Helmut and Brooks (1978). Dabei wird ein Blick auf die Sexualität der damals noch expliziter diskriminierten schwulen Gemeinschaft New Yorks eröffnet. Die Darstellungen Mapplethorpes sexueller Praktiken und erotischer Posen werden zugleich explizit in einer der religiösen Ikonographie nahen Art und Weise gefeiert154 – die Faszination für Kruzifixe (wie in Christ [1988], Cross [1983] oder

|| 153 Diedrich Diederichsen betont die Wichtigkeit dieser zwei Künstler im Kulturkrieg der 1980er Jahre in den USA, der einen großen Einfluss auf den moralischen Kampf gegen die sexuelle Diversität in Europa ausübte. Dabei stehen sowohl Wojnarowicz als auch Mapplethorpe exemplarisch für eine Politisierung der Kunst, die sich als Widerstandsform gegen die aus der AIDS-Krise resultierende institutionalisierte Homophobie ergab: „Es war also kein Wunder, daß sich die neue rechte Kulturkampf-Koalition zunächst auf einen Künstler einschoß, der Homosexualität (auch über die Darstellung männlicher homosexueller Praktiken), allgemeine Libertinage und ein gewisses für Exzesse stehendes New Yorker 70er-Jahre-Künstlertum verkörperte und auch noch gerade eben an AIDS verstorben war“ (1996, S. 29). Wojnarowicz wird dann von Diederichsen als Teil jener „Einzelkämpfer“ (ebd. 36) beschrieben, die sich nach dem Tod Mapplethorpes mit ihren Werken vehement gegen den rechten Kulturkrieg einsetzten. 154 Edmund White erinnert an den Einfluss katholischer Ästhetik auf Mapplethorpes (vor allem frühes) Werk, den dieser selbst offenlegte: „Mapplethorpe once said that all his photographs were altars. When he started to work, this adulation was still staged in Catholic terms; only later did he eliminate the element of Catholic kitsch, though what remained was a sense of ceremony, of mystical transformation. He liked to say that S & M stood for ‘sex and magic’ […].

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Red Cross [1983]) und die nackten Körper der katholischen Ikonographie werden dann subversiv in einem homoerotischen Kontext zusammen zelebriert und manchmal mit der Zelebration satanistischer Symbole kombiniert (wie in Black Star [1983] oder Self-Portrait [1983]). Gentlemen (1973) ist ein Beispiel für eine explizite religionskritische und sexuell-profanierende Skulptur, die für die in diesem Buch zu analysierende, queere Religionskritik exemplarisch ist. Die Darstellung von den Körper verletzenden erotischen Praktiken (wie die Einführung eines Messers in die Harnröhre in Untitled [1980]) soll im Kontext der aus Stonewall resultierenden schwulen Bewegung gelesen werden, die auf der Visualisierung divergenter, als „pervers“ bezeichneter Sexpraktiken insistiert, um sich gegen eine rechte Zensur zu dieser Zeit zu wenden. Der Schock und der Tabubruch wurden somit „nicht mehr als symbolisch-künstlerischer Tabubruch rezipiert, sondern als Politik und mußte ausgegrenzt werden“ (Diederichsen, 1996, S. 32). Ein weiteres Beispiel wären die von David Wojnarowicz angefertigten Schock-Bilder seines an Aids verstorbenen Partners Peter Hujar aus dem Jahr 1988. Das Schock-Potenzial dieser Bilder besitzt – zusätzlich zur Visualisierung homosexueller Liebe – einen denunziatorischen Charakter: Sie klagen die staatliche Ignorierung der Epidemie des HI-Virus und die daraus resultierende homophobische Diskriminierung in den 1980er-Jahren an. Die bildliche Konfrontation mit dem Tod erlangt auf diesem Wege eine politische Dimension. Wojnarowicz bezieht sich auch auf explizite Weise auf die Religion, vor allem in seiner Foto-Collage Untitled (Genet after Bassaï) aus dem Jahr 1979, in der die Sakralisierung (Jean Genet mit einem Heiligenschein) und die blasphemische Profanation (Jesus wird als Heroinkonsument dargestellt) in einem ambivalenten Bild zu sehen sind. Das Blasphemische und das Religiöse werden in diesem Sinne als Schock-Mittel einer religionskritischen, queeren Strategie eingesetzt. Im Kontext dieser in den 1980er-Jahren evidenten Emergenz queerer Strategien, Homosexualität auf schockierende Art zu visualisieren, soll auch das Frühwerk Winklers gelesen werden. Die Schock-Bilder tragen aber eine noch weitaus ältere Kunsttradition in sich: Die queere Strategie des Verschmutzens spielt bei Winkler eine wichtige Rolle in der Verwendung von Schock-Bildern. Es gibt verschiedene Beispiele in Das wilde Kärnten, die an eine Art Poetik des Skandals denken lassen. Der Bezug auf die surrealistische Tradition – man denke etwa an Antonin Artauds Pour en finir avec le jugement de Dieu (1947) oder an Luis Buñuels Un chien andalou

|| […] ‘I guess you could say I have a certain Catholic aesthetic’, he confided to his biographer, Patricia Morrisroe […]“ (1995, S. 133).

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(1929) oder an seinen späteren anti-bürgerlichen Film Le fantôme de la liberté (1974), die Winkler selbst als eine Bezugstradition für seine Werke reklamiert,155 – scheint evident zu sein. Außerdem spielt der Film als surrealistische Kunstform par excellence eine tragende Rolle: Die Schock-Wirkung kann Walter Benjamin zufolge als eine für den avantgardistischen Film charakteristische Strategie verstanden werden.156 Eine explizite Referenz auf eine wohl vom Surrealismus geprägte Filmästhetik ist jene auf den esoterischen chilenischen Künstler Alejandro Jodorowskys, der in Bezug auf die Passage mit den „uniformierten Fröschen“ in Muttersprache erwähnt wird.157 Auch für die wiederholte moralische Umwertung – zum Beispiel der Konnotation einiger körperlicher Stellen, Flüssigkeiten oder Praktiken, die mit der Verunreinigung von Moralvorstellungen einhergehen, – findet man bei Winkler einige Beispiele: „Sein After reinigt meine Zunge“ (MK 105). Diese explizit pornographische Beschreibung eines Anilingus wertet eine moralische Grenze um, die den Mund und den Anus als entgegengesetzte, ja hierarchischdichotomische Körperöffnungen kodiert. Der After wird auch in seiner herkömmlichen passiven Rolle des Penetrierbaren zum aktiven Teil im erotischen Bild, was wiederum die moralische Ordnung zwischen Passivität und Aktivität umkehrt. Das Verbinden von dichotomisch Entgegengesetztem in einem Bild findet sich auch auf viel komplexere Weise bei Winkler: So wird zum Beispiel an anderen Stellen Schmerz und Lust im Bild vermischt, wodurch eine besondere Schock-Wirkung erreicht wird, nämlich in der Offenlegung der allgemein tabuisierten sadomasochistischen Verbindung zwischen Leiden und Vergnügen: „Das Geräusch eines schnalzenden Kalbstrickes empfindet das Kind in seinen Ohren wie das taube Ausfließen des Samens aus dem erigierten Geschlecht“ (MK 102); „Dort, wo das Weinen zur bloßen Erektionslust wird“ (MK 103); „Sein Glied peitscht immer schneller ihren Schoß. Zu Tausenden schüttet er die Kalbstricke seiner Samenfäden in ihren Rhombus; auseinanderstiebende Pferde“ (MK 107). Das Bild des Kalbstricks sammelt hier in einer semantischen Linie der ganzen Trilogie eine in sich widersprüchliche Mannigfaltigkeit an Aspekten: SchmerzLust, Geburt-Selbstmord, Befreiung-Versklavung, Erektion-Peitsche, DressurZüchtigung, Mensch-Tier usw. Das Bild wird im Laufe der Trilogie vervollkommnet mit verschiedenen anderen Bildern, die jedoch immer das SchockPotenzial bewahren: als Verbindung des Unterschiedlichen, des nicht Vereinbaren, durch die Betonung des moralisch Verworfenen, des Skatologischen und

|| 155 Vgl. Huber & Winkler, 2013. 156 Siehe Benjamin, [1974] 1991, S. 464. 157 Siehe MS 651.

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Sexuellen. Es geht aber auch um Bilder, in denen sich das Leben mit dem Tod vereint, um eine bildliche Verbindung zwischen Tod und Leben, die in fast allen Büchern von Josef Winkler wiederzufinden ist:158 „Sein Geschlecht, steif wie eine hochgehende Meereswelle, zerschlägt, schäumt ins Becken des Todes“ (MK 115); „Jesus ist am Kreuz geboren worden“ (MK 116); „Ihn interessiert das Leben der Tiere und das Sterben der Menschen“ (MK 175). Das Schreiben über das Sterben der jungen Menschen – über die schockierende Verbindung zwischen Geburt und Tod – kann in diesem Sinne als Schock-Strategie verstanden werden, indem dadurch die nackte Realität mit der bildhaften Sprache konfrontiert wird: Während der Hungersnot sollen manche Familien ihre Kinder regelrecht aufgefressen haben. In einem Heustadel hatte ihre Mutter, als sie noch ein Kind war, den Kopf eines Kindes gefunden. Sie küßte die kalte Stirn des Kindskopfes, verbarg ihn in ihrer Schürze und lief nach Hause. Drei Tage lang hatte sie unter ihrem Bett den Kopf des ermordeten Kindes verborgen. (MS 816)

Das Schockierende wird nicht nur in der Konfrontation mit den von der Dorfgemeinschaft verworfenen sexuellen Praktiken erreicht, sondern auch in der Enthüllung der Handlungen der Dorfgemeinschaft selbst: Die katholische Liebe wird in ihrer Perversion dargestellt („Sie küßte die kalte Stirn des Kindkopfes“) und die ganze Gemeinschaft mit ihren moralisch verwerflichen Praktiken vorgeführt. Die grenzüberschreitende Verbindung von moralisch Entgegengesetztem bringt zusammen, was – in diesem Fall – in der Dorfgemeinschaft nicht zusammengedacht werden soll. Das folgt aus der Collage-, Filmensemble-, mamotreto-artigen Assemblage von Dichotomien.

6.2.4 Ikonographische Bilder Rahel Jaeggi spricht – in Bezug auf die von Theodor Adorno betonte paradoxe Struktur der Ideologien, die zugleich wahr und falsch sind – von einer Notwendigkeit der Falschheit der Ideologien: Die Wahrheit liege, so Jaeggi, in einer gewissen Entsprechung zur ‚Realität‘ (Notwendigkeit), die aber nie in eins mit ihr

|| 158 Die immer wieder auftauchende Verbindung zwischen Leben und Tod, aber auch zwischen Geburt und Tod oder Erotik und Tod findet man explizit in Friedhof der bitteren Orangen oder in Natura morta, aber auch all die anderen Texte von Winkler thematisieren in irgendeiner Weise immer wieder dieses paradoxe Zusammenspiel.

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falle: „Ideologien sind ‚gleichzeitig wahr und falsch‘ sofern sie der ‚Realität‘ gegenüber […] gleichzeitig adäquat wie inadäquat, angemessen wie unangemessen sind“ ([2009] 2013, S. 275). Diese Überlegung lässt sich auf die Poetik des Bildes übertragen: auf die zuvor eingeführte Idee der Überschreibung der Realität im Bild und auf die notwendige Trennung von und Verbindung mit der beschriebenen Realität im Bild, die die (politisch-ideologische) Wirksamkeit der Bilder ausmacht. Das gilt zugleich für die Ikonographie der katholischen Kirche, bei der die Referenz auf die dargestellte Realität als eine zerrissene Schnur zu denken wäre: Das Symbolische entfernt das Bild von seiner Abbildungseigenschaft, behält jedoch gleichzeitig seine Referenz auf die Realität bei. In dieser Hinsicht verfährt Josef Winkler in einer religionskritischen, aber auch mimetischen Art und Weise: Die Poetik des Bildes speist sich aus der ikonographischen Praxis der katholischen Kunstgeschichte, nämlich der Schöpfung wirksamer Bilder, deren Funktion nicht bloß die augenscheinliche Repräsentation oder Abbildung, sondern vielmehr ein symbolischer Eingriff in die Realität ist. Einige Bilder in Winklers Literatur entfalten ihren religionskritischen Gehalt mittels der Anlehnung an das Ikonographische. Dabei geht es um eine Betonung der Symbolhaftigkeit dieser Bilder in einer starren Komposition, wie etwa im folgenden Beispiel: Die Hebamme in weißer Tracht und der dunkelblau oder schwarz gekleidete Priester reichen einander die Hände. Treffen sich ihre Handschalen, zucken an den Handfalten weiße Kruzifixe auf. An den gleißenden Blicken sieht man es: der eine ist dem anderen feind. Die Hebamme verkörpert das Leben im Dorf in Fleisch und Blut. Der Priester, Halbgott und Träger der Autorität der Leiden Christi, hält mit seinem messerscharfen, überkreuzenden Segen das Dorf in der Hand, die auch die Hand Gottes ist. (AK 203–204)

In der ikonographischen Überschreibung Winklers wird die symbolische katholische Ordnung umgewertet: Das Versprechen eines ewigen Lebens (zu verorten in Gott und seiner Kirche) wird zum Inbegriff des Todes („mit seinem messerscharfen […] Segen“), und die profane, arbeitende Frau zum Bild des Lebens („in Fleisch und Blut“). Der Text selbst betont die Entgegensetzung beider Figuren, die jedoch in einem Bild zusammenkommen, in einem katholischen („reichen einander die Hände […] zucken an den Handfalten weiße Kruzifixe auf“). Beide entsprechen einem einzigen Bild, nämlich jenem des Kreuzes, das zuvor zum Geburts- und Todesmoment Jesu erklärt wurde. Zugleich werden beide Figuren zu Verkörperungen einer doppelten, paradoxen Struktur des Lebens im Dorf. Die detailreiche Beschreibung bedient sich einer ikonographischen, emblemartigen Darstellungsweise, um ein nicht real existierendes Bild – ein Vorstellungsbild des fabulierenden Ich-Subjekts – zu evozieren und seinen katholi-

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schen Sinn umzudeuten. In diesem Sinne ließe sich sagen, dass die Bildpoetik Winklers als eine immanente Ideologiekritik zu verstehen ist, bei der durch die Anlehnung oder sogar Aneignung einer ikonographischen Bildpraxis eine Umkehrung ihrer Wertestruktur geleistet wird: Die Religion wird hier im Zitat z.B. als negativer Teil eines Gesamtbildes dargestellt. Diese Aneignung des Ikonographischen wird im dritten Kapitel im Zusammenhang mit der neobarocken Strategie der simulación wieder aufgegriffen. *** Josef Winkler betont in seinen außerliterarischen Aussagen die Bedeutung der Bilder in seiner Schreibpraxis, die sich dann auf der poetologischen und metaliterarischen Bedeutungsebene (der Filmkamerakopf) in Das wilde Kärnten wiederfinden lassen. Die Bildpraxis manifestiert sich im Werk nicht nur in der Herauskristallisierung von für das ganze Werk semantisch bedeutsamen Bildern (die Großmutter, der Kalbstrick, das Feuer), sondern in verschiedenen bildlichen Strategien: in den denunziatorischen Erinnerungsbildern, die im Kontext einer aufkommenden Erinnerungskultur bedeutsam werden, in den fiktionalisierten Bildern, die das fabulierende Subjekt hervorheben, in den avantgardistischen, queeren Schockbildern und in den symbolisch invertierten ikonographischen Bildern. Diese vorläufige Taxonomie der Bilder Winklers ist jedoch nur eine Annäherung an eine Schreibpraxis, die sich aus den Notizen, Zitaten und Tagebucheinträge des Autors generiert und in ihrer Fragmentarität und der Assemblage verschiedener Bilder nach und nach ein sich selbst erschaffendes autobiographisches Ich entstehen lässt: Dabei handelt es sich um die prozesshafte Herausbildung eines Subjekts als eines, das sich in der Differenz bzw. im Dialog mit einem Kontext (Kamering, der hegemonialen Kultur der 1980er-Jahre und der katholischen Kirche) konstituiert.

7 Fernando Vallejos phantasmatische Bilder: Poetik der Abschweifung Die Abschweifung im Werk Vallejos wird hier – ähnlich wie das Bild in Winklers Werk – nicht nur als ein ästhetisch-literarisches, sondern als ein kritisches Instrument zur Infragestellung offizieller Diskurse, insbesondere des Katholizismus, verstanden. Der in der Romanistik prominente Begriff der novela digresiva (abschweifender Roman) ist in dieser Hinsicht zutreffend für Fernando Vallejos Werk. María Paz Oliver analysiert diese Tradition, vor allem das Werk Mario Levreros, mithilfe von Ross Chambers Konzept der Loiterature.159 Dieser Begriff kann auch für die Lektüre von Vallejos Religionskritik produktiv gemacht werden. Denn in Chambers Beitrag ist die Abschweifung zentral, die er als eng verbunden mit dem Begriff des Trivialen versteht. Er betrachtet sie als eine sozialkritische Schreibstrategie („digressive criticism“), die im Kern eine lustvolle Befreiung von Normen und Konventionen bezweckt: Loitering tends to blur the distinctions on which social order depends […]. As Diderot pointed out, the philosopher himself goes whoring in a fashion; and the trivial is a category that breaks down social distinctions and hierarchies of all kinds. […] It blurs categories, and in particular it blurs those of innocent pleasure taking and harmless relaxation and not-so-innocent ‘intent’ – a certain recalcitrance to the laws that maintain ‘good order’. In so doing, it carries an implied social criticism. (1999, S. 8–9)

Die Trivialität, die hier erwähnt wird, bezieht sich auf den Charakter der Loiterature, nämlich das Belanglose den großen Ereignissen vorzuziehen. Wie unten im Falle Vallejos gezeigt wird, greift die Erzählung keine der in der bürgerlichen Gesellschaft als lebensprägend erachteten Kriterien oder Stadien auf (die sogenannten Sakramente, wie die Taufe, die Firmung oder die Ehe, die Geburt oder den Tod), um ein Ereignis gegenüber einem anderen in den Vordergrund zu schieben. Es wird vielmehr bei Vallejo das Große (Morde, Tode usw.) als Kleines und das Kleine (Erinnerung an Luftballons u.a) als Großes präsentiert.160 Diese

|| 159 Siehe Paz Oliver, 2013. 160 Das Große bezieht sich hier auf Lebensereignisse, die entweder im Katholizismus als besonders wichtig hervorgehoben werden (wie die Sakramente, die Geburt und der Tod) oder als Wendepunkte im Leben wahrgenommen werden können (wie der Tod der Mutter, der Lebensortwechsel usw.). Kleine Ereignisse sind hingegen jene, die als belanglos oder trivial erachtet werden (das Betrachten einer Situation, bestimmte Momente des Alltags etc.). Selbstverständhttps://doi.org/10.1515/9783110799965-008

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Umwertung der Ereignisse führt zu einer Desorientierung (Ahmed), die mit dem Abschweifenden der Loiterature eng einhergeht. José Esteban Muñoz bezieht sich auf eine solche Fokalisierung auf den Alltag und auf kleine Ereignisse des Lebens bereits als eine Strategie des asombro (Staunens), die man in der queeren Kunst immer wieder finden kann und die auf eine queere Abschweifung von den Großereignissen hindeutet.161 Impliziert wird durch diese Fokalisierung auf das Belanglose eine Re-Evaluierung der Geschichtsschreibung als Chronik der „großen Erzählungen“162 und zugleich des katholischen Verständnisses des Lebens als Reihe frommer Riten und Phasen (Taufe, Erstkommunion, Firmung und Hochzeit). Chambers geht weiter und hebt einen bestimmten Zweck der Abschweifung hervor: die Lust. „[S]uch pleasure is subversive: it incorporates and enacts […] a criticism of the disciplined and the orderly, the hierarchical and the stable, the methodical and the systematic, showing them to be unpleasurable, that is, alienating“ (ebd. 9). Die Lust an der Abschweifung, die Lust an der disorientation (Ahmed) wird dementsprechend mittels einer subversiven Schreibpraxis und der daraus folgenden abschweifenden Lesererfahrung erzeugt. Die Abschweifung ist Lust (jouissance), lustvolles, jedoch ernstes kritisches Spiel – diese Lust übt zugleich eine Kritik, eine Art Kritik der Kritik:163 Die Normen des kritischen Denkens (criticism), die zur hierarchischen Unterscheidung zwischen Zentrum und || lich hängt diese Bewertung, ob groß oder klein, von einer subjektiven Perspektivierung ab, die aber in Bezug auf grands récits, wie jenem des Katholizismus, nicht relativierbar sind. 161 Vgl. Muñoz, [2009] 2020, S. 36–39. 162 Der Lyotard‘sche Begriff der „großen Erzählungen“ bezieht sich auf das traditionelle Wissen einer Gesellschaft, das in der Form von Narrativen zum Ausdruck kommt. Lyotard beschreibt den Rekurs auf Metaerzählungen, die auch als Großerzählungen bezeichnet werden, in der Wissenschaft als ein „Sprachspiel, das die einen mit den anderen [zersplitterten Erkenntnissen] als Momente im Werden des Geistes verbindet, also in einer Erzählung oder vielmehr einer rationalen Metaerzählung“ (Lyotard, 1986, S. 102). Das Wichtige an diesem Narrativ ist seine implizite Selbstlegitimierung, die zur Institutionalisierung und Vereinheitlichung des Wissens beträgt. Die präskriptive und moralische Vereinheitlichung des Wissens in einer Gesellschaft wird jedoch von Seiten der Postmoderne zersplittert: Der Konsens, der in der offiziellen Erzählung implizit ist, wird durch die Entstehung unterschiedlicher Sprachspiele bzw. „kleiner Erzählungen“ als Versprechen umcodiert: „Der Konsens ist ein Horizont, er wird niemals erworben“ (ebd. 177). Es ist daher – Lyotard zufolge – für die Postmoderne wesentlich, das Ende der Großerzählungen zu repräsentieren: In dieser Hinsicht entstehen verschiedene Subjekte, die verschiedene Erzählungen zu artikulieren beginnen. Jedes Subjekt beginnt von Neuem, seine eigene Geschichte, seine eigene Identität, die Spiele seines eigenen Lebens zu bestimmen. In diesem Kontext der Postmoderne nimmt die Autobiographie bzw. jegliche Form des Selbstzeugnisses und Selbsterzählens eine wichtige Position ein. 163 Vgl. Chambers, 1999, S. 15.

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Peripherie (bzw. zwischen dem Großen und dem Kleinen) dienen, werden in lustvoller Weise außer Kraft gesetzt.164 Dadurch etabliert sich eine Erzählinstanz, die in der Desorientierung auf sich selbst zurückgeworfen wird. Selbst der abschweifende Text Chambers‘ führt immer wieder zurück zur Ich-Instanz des Literaturwissenschaftlers, der orientierungslos das Periphere und das Zentrale vermischt. Auf diesem Weg kommt Chambers in einem zweiten Schritt zum queeren Aspekt der Abschweifung, der bereits in Sara Ahmeds Begriff der desorientation impliziert ist: Anhand von Michel Tourniers Roman Les Météores konzipiert Chambers die Homosexualität als immer vorhandene potentielle und zugleich lustvolle Abschweifung von der Heteronormativität.165 Die aus der Abschweifung resultierende Kritik bleibt notwendigerweise mit dem kritisierten Objekt, von dem abgewichen bzw. abgeschweift wird, in Verbindung: „The critical position is inevitably connected with the position that is criticized because it is sutured, as the two branches of a Y are sutured, to the context of which it is the digressive ‘other’“ (ebd. 18). Es ist aus dem Grund eine ambivalente Abweichung, die nur in ihrer eigenen Abweichung vom ursprünglichen Weg ihr radikales, subversives Kritikpotenzial erhält. Das hier zu analysierende ambivalente Verhältnis zum Katholizismus soll als eine solche Abweichung verstanden werden: Vallejo und Winkler beziehen sich immer wieder auf den Katholizismus, um dann von ihm Abstand zu nehmen. Diese Ambivalenz wurde bereits oben in Bezug auf das Bild in seiner Referenzialität hervorgehoben: Beide, Bild und Abschweifung, werden hier als ambivalente kritische Strategien des Schreibens verstanden. Aus diesem Grund kann man Vallejos Poetik der Abschweifung mit Chambers Begriff der Loiterature als eine poetics of pleasure lesen. Darüber hinaus ist sie die Poetik einer paradoxen Bewegung der Nicht-Bewegung: eine Erzählung, die frenetisch von einem Punkt zum anderen läuft, ohne voranzukommen bzw. ohne ein Ziel zu haben.166 Es geht um ein rein selbstbezügliches Schreiben, das sich dafür zelebriert, keinen Zweck außer dem Schreiben an sich zu haben. Diese Überlegung findet man in den vielen metaliterarischen und selbstreflektierenden Passagen Vallejos: In Entre fantasmas reflektiert der Ich-Erzähler über das volver (Zurückkehren) als physisches Zurückkommen und als sich Erinnern an das Haus seiner Kindheit: „Ahora sé que lo que me está ordenando ese sueño

|| 164 Vgl. Chambers, 1999, S. 9. 165 „[T]he third dog has demonstrated that no context is the whole context, that homosexuality is the excluded ‘other’ of heterosexuality, that digression is the way of pleasure“ (Chambers, 1999, S. 13). 166 Vgl. Chambers, 1999, S. 10.

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es volver a ese cuarto de esa casa a esperar la muerte para que así, después de haber recorrido tanto no haya avanzado un palmo“ (EF 162).167 Auch die Erzählung selbst wird sich letztendlich nicht bewegt haben, da der allerletzte Satz des letzten Buches von Vallejos Autobiographie mit dem allerersten identisch ist. Die Zirkularität dieser Bewegung – die mit der Erzählung und mit der verschriftlichten Lebensform zusammenfällt – steht für die paradoxe oder ambivalente Bewegung einer Nicht-Bewegung, die die Form der Abschweifung (so Chambers) konstituiert. Das Zirkuläre impliziert aber immer eine Veränderung in diesem Sinne – es geht um eine nicht umkehrbare Zeit, die verlorene Vergangenheit der ‚blauen‘ Kindheit bei Vallejo, die dem ersten Band der Autobiographie den Titel gibt. Die zuvor erwähnte immanente Erzählung soll so verstanden werden. Die Bewegung in der Nicht-Bewegung steht für die gegenwartssituierte Perspektive der Abschweifung, die Chambers auch in Bezug auf die durch die Abschweifung geübte Kritik thematisiert.168 Die Vorstellung der Zeit entspricht keiner diachronischen Anordnung der Ereignisse, sondern vielmehr einem immanenten Verständnis des Zeitlichen: Alles geschieht in einer Gegenwart – sowohl Zukunft als auch Vergangenheit sind in ihr impliziert –, in der das Subjekt mittels des Schreibens flaniert. Das erinnernde Subjekt bewegt sich in situ, in einer weiten Gegenwart, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ausgehend von Chambers‘ Konzept der Loiterature befasst sich Samuel Frederick in seiner Monographie Narratives Unsettled mit der Abschweifung im Werk von Robert Walser, Thomas Bernhard und Adalbert Stifter. Bereits am Anfang erkennt Frederick in der Abschweifung eine Infragestellung des Narrativen im Allgemeinen: „To come to terms with narrative digression properly, therefore, is not only to reconceptualize digressivity as a textual feature; it is to reconceptualize narrative itself“ (2012, S. 2). Frederick sieht in der Abschweifung, die oft zu metaliterarischen Abzweigungen des Narrativen führt, eine implizite Selbstkritik der Erzählung in den noch wirkenden „plotcentered conceptions of narrative“ (ebd. 7), die das Narrative als eine teleologische, auf das Ende ausgerichtete Bewegung fassen.169 Die Abschweifung stellt die in der narratologischen Theorie etablierte Identität zwischen Plot und Narration in Frage || 167 „Jetzt verstehe ich, dass mir dieser Traum befiehlt, in dieses Zimmer dieses Hauses zurückzukehren, um auf den Tod zu warten, damit ich, nachdem ich so weit gereist bin, keine Handbreite weitergekommen bin.“ (meine Übersetzung). 168 „To be dilatory is to defer the future, or to express a desire to defer the future, by living the actual moment of time from present to future as if it were an infinite expansion of the present, a dilatation sideways […]“ (Chambers, 1999, S. 16). 169 Vgl. Frederick, 2012, S. 2–3.

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– die Narration als ein einheitsstiftender Moment des Schreibens findet in der Abschweifung eine produktive Seite, die jenseits des Plots zu verorten ist. Im Falle Vallejos – und Winklers – wäre diese Einheit im Ich-Erzähler zu verorten, wobei ihre rhetorische Wirksamkeit im Vordergrund steht. Die Abschweifung als Abzweigung eines narrativen Weges der Nacherzählung nähert sich dem Plot zunächst in einer paradoxen Art und Weise: Es wird etwas erzählt, das aber nicht als Ziel gesetzt wird. Frederick hebt diesen Aspekt in Chambers‘ Konzept der Loiterature hervor: dass die Abschweifung nie den Plot verlassen kann, ohne ihre erzählerische Natur zu verlieren und ohne ein Essay zu werden. Diese Tendenz wäre die radikale Abschweifung (radical digression), die im Werk Vallejos sehr wohl auch zu finden ist.170 Die Betrachtung dieser „non-plot-based modes of narration“ (ebd. 17) im Rahmen autobiographischer Erzählungen führt zu weiteren Annahmen, die diskursrelevante Aspekte betreffen: Die Abschweifung ist eine literarische Strategie, um die Einheitlichkeit der Erzählung an ihre Grenzen zu führen, und dies hat mit der Kritik eines katholisch kodierten Diskurses zu tun, der – im Falle der Lebenserzählung – das Leben als einheitlich und teleologisch gerichtet versteht und all seine Bestandteile in diese Einheit kohärent und organisch eingliedert.171 Die abweichende Lebenserzählung Vallejos entspricht einer anderen prägenden Figur: Mi vida, en un inventario general, aparece como un inmenso error. Y se explica: mi íntima verdad, mi verdadera vocación, lo que quise ser fue pirata. […] Mi instinto aventurero se negaba a llevar la vida barrigona del común mortal. […] Sepan que el rey del mar soy yo, que tengo perturbado el corazón. (DA 47)172

|| 170 Siehe Frederick, 2012, S. 4. 171 Der Katholizismus vereinfacht die kontingenten Erlebnisse des Lebens mittels eines Diskurses der Sünde und des frommen, korrekten Lebens, der dem Leben auch eine Einheit verleiht, wie es oben bereits dargestellt wurde. Die katholische Beichte ist z.B. eine frühere Praktik des Sexualitätsdispositiv im Sinne Michel Foucaults, das eine Ordnung des Subjektes herstellt, indem die „Diskursivierung des Sexes“ die Perversionen (die Abweichungen) des Subjektes regeln: „Es ist ein Imperativ errichtet worden, der fordert, nicht nur die gesetzwidrigen Handlungen zu beichten, sondern aus seinem Begehren, aus seinem gesamten Begehren einen Diskurs zu machen“ ([1976] 1983, S. 26). 172 „Mein Leben scheint in einer allgemeinen Bestandsaufnahme ein riesiger Irrtum zu sein. Und das lässt sich erklären: meine intime Wahrheit, meine wahre Berufung, das, was ich sein wollte, war Pirat. […] Mein abenteuerlicher Instinkt weigerte sich, das dickbäuchige Leben eines gewöhnlichen Sterblichen zu führen. […] Ihr sollt wissen, der König des Meeres bin ich, trage ich doch ein aufgewühltes Herz in mir“ (meine Übersetzung).

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Der dem Werk Vallejos inhärente Lebensbegriff ist der des Piraten: ein Leben auf der Flucht, verbrecherisch, gegen die Normen, nomadisch, fehlerhaft („un inmenso error“). Am Anfang von Vallejos Autobiographie Los días azules findet man folgende Aussage, die die Abschweifung als textuelle Form einer stetigen deterritorialisierenden Bewegung des Lebens charakterisiert, die keine übliche Form („la vida barrigona del común mortal“) annimmt. In Entre fantasmas wird dem Abschweifenden bzw. Piraten eine Glückseligkeit zugesprochen: „[Y] vaya Dios a saber por qué asociación de ideas, de sensaciones, me sentí feliz“ (EF 166).173 Es ist nur die plötzliche und abschweifende Erinnerung an das Blaue der Vergangenheit, seine Erinnerungen an Santa Anita oder an das Haus seiner Großmutter, die mitten in der rasenden Rede Vallejos eine Glückseligkeit spüren lassen: nämlich im Schreiben selbst, in der Aktualisierung einer Vergangenheit in der Gegenwart, die phantasmatisch wieder auftaucht. Diese Idee des Glücks bzw. der Freude entspricht der „euphoria of digressiveness“, die Ross Chambers beschreibt (1999, S. 13). Die Rückkehr zu den „blauen Tagen“ (Los días azules) der Vergangenheit geschieht nur im abschweifenden Schreiben, das mittels der autobiographischen Erzählung die Phantasmen der Vergangenheit dem Vergessen entreißen kann. Die theoretischen Überlegungen zur Loiterature führen zu dem konzeptuellen Verständnis eines Schreibens, das das Herumirren als eine diskurskritische Strategie versteht. Die Abschweifung ist eine Strategie, die eine doppelte kritische Bewegung impliziert: Zusammenhänge im Chaotischen zu bilden und das vermeintlich Einheitliche in seiner Komplexität auszuloten. Das entspricht der Form der mamotretos, nämlich einer chaotischen, aber in ihrer subjektkonstituierenden Leistung zugleich einheitlichen Form: Es ist das rasende, feurige Ich, das spricht und im Sprechakt selbst Form annimmt. Vallejos mamotretos thematisieren diese Strategie selbst im Text, indem einige Bilder geschaffen werden, die der Abschweifung poetische Einheit verleihen. Im Folgenden werden diese Bilder analysiert, um dann die spezifischen narrativen Strategien der Abschweifung in einer vorläufigen Taxonomie herauszuarbeiten.

|| 173 „Weiß Gott aufgrund welcher Verknüpfung von Ideen und Gefühlen ich mich glücklich fühlte“ (meine Übersetzung).

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7.1 Bilder der Abschweifung: Fluss, Feuer, Phantasma Die Texte Vallejos sind voller autoreferenzieller Textpassagen, die das Schreiben selbst thematisieren. Aus diesem Grund bedient sich der Autor wiederholt bestimmter Metaphern, die für die spezifische Form seiner Bücher bzw. seiner mamotretos stehen. Das stark prägende Bild des Flusses,174 das der abschweifenden Form der Erzählung entspricht, wird dann komplettiert durch das Bild des Feuers als Metapher eines Schreibens, das sich als angreifendes Schreiben versteht. Im Bild des Feuers und des Flusses verschlingen sich alle Formen, wobei auch die Grenzen der Gattungen aufgelöst werden – die Bücher werden zu mitreißenden Redeflüssen: mamotretos. Das Wasser und das Feuer dienen als Bilder der Form der Bücher und der Abschweifung: verworrene, nicht einheitliche Bilder eines queeren Subjektes, das mehr aus anorganischen Kräften als aus organischen, kategorial unterschiedenen Teilen besteht.175 Am Ende von Años de indulgencia, als der Ich-Erzähler den von ihm verursachten Brand eines Gebäudes beschreibt, deutet die Erzählung auf diese Verschlingung der Formen hin, die eng mit einer Art paradoxen, subjektivierenden Entsubjektivierung (das Ich-Subjekt wird nur verworren skizziert, immer wieder überwunden und gleichzeitig bestätigt) einhergeht: Tomé el bote y fui regando el sótano y las paredes y la trituradora y la escalera que subía hasta el nivel del suelo, a la acera, a la planta baja del Admiral Jet. Entré a nuestro apartamento a buscar fósforos. Pasé frente al espejo y no me reflejé. ¡Por fin! ¡Por fin! Había perdido la figura… ¡Yoooo! Mi yo sonó como una explosión hueca. Yo el día de mi bautizo en brazos de mi abuela envuelto en infinidad de pañales y ropita de lino blanco; yo de pantalón corto en el colegio salesiano; yo haciendo la primera comunión; yo recibiendo el título de bachiller, de pantalón largo… Viejas fotos de un álbum de familia que un incendio quemará. (AI 150–151).176

|| 174 Der Fluss spielt eine wichtige Rolle nicht nur in Vallejos autobiographischen Schriften (siehe DA 149), sondern auch in seinen späteren Büchern – wie bereits ganz am Anfang von El desbarrancadero: „Se nos habían ido pasando los días, los años, la vida, tan atropelladamente como ese río de Medellín que convirtieron en alcantarilla […]“ (Vallejo, 2001, S. 7). / „Die Tage, die Jahre, das Leben war uns entronnen, so überstürzt wie jener Fluss in Medellín, den sie in einen Abwasserkanal verwandelten […]“ (meine Übersetzung). 175 An diesem Punkt denke ich an Gilles Deleuzes und Félix Guattaris an Nietzsche angelehnten Begriff des „organlosen Körpers“, der von einer moralkritischen Perspektive geprägt wird. Im Kapitel „Wie schafft man sich einen organlosen Körper?“ von Tausend Plateaus wird der organlose Körper der religiös-moralischen Etablierung des Subjektes (1993, S. 218) entgegengestellt. 176 „Ich nahm das Gefäß und besprengte den Keller und die Wände und den Häcksler und die Treppe, die bis zum Erdniveau, zum Bürgersteig, zum Erdgeschoss des Admiral Jets führte. Ich

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Die Episoden des Lebens, die hier durch die Beschreibung der Bilder (die langen Hosen, die weißen Leinen usw.) angedeutet werden, werden dann vom Feuer verschlungen. Die eigene persönliche Geschichte, die hier streng christlich in ihren festgelegten Ritualen bzw. Sakramenten (Taufe, Erste Kommunion, Firmung und Ehe) vor Augen geführt wird, wird als Fotoalbum präsentiert, das in einem befreienden Akt („¡Por fin!“) verbrannt wird. All die Lebensbilder verschmelzen im Feuer, nachdem das Fotoalbum bereits durch die abschweifende Erzählweise in Unordnung gebracht wurde. Das Feuer und das Wasser, die die Bilder des Lebens in einem einzigen Lebensmoment erfassen, zeugen zugleich von der Relevanz des Bildes für die Poetik von Vallejos Autobiographie. Ferner entspricht dieses metaliterarische Bild der Absicht eines abweichenden, queeren Subjektentwurfes, der in den Autobiographien Vallejos und Winklers zu finden ist: In der Verschlingung der Formen durch die feurige Abschweifung im ganzen Werk wird ein Subjektbild vor Augen geführt, das als flüchtig (nicht organisch oder strukturiert) dargestellt wird. Daher kann die Entsubjektivierung („Había perdido la figura“) als eine queere Subjektivierung verstanden werden. In Vallejos späterem Roman La virgen de los sicarios (1994) finden die Leser*innen eine explizite Verbindung der Fluss-Metapher mit der Strategie der Abschweifung: „Pero estoy anticipando, rompiendo el orden cronológico e introduciendo el desorden. ¡Cuánta agua de alcantarilla no arrastró el río antes de subir a las comunas! […] Ese río es como yo: siempre el mismo en su permanencia yéndose“ ([1994] 2008, S. 35).177 Die Metaphorik des Flusses versinnbildlicht die Form der Abschweifung bei Vallejo, die eng mit dem von der Autobiographie intendierten Bild seines Ichs einhergeht: ein Subjekt, das sich immer lustvoll verliert („yéndose“), aber trotzdem ein konstantes „Ich“ behauptet („siempre el mismo“). Das bereits erwähnte Bild des Phantasmas entspricht zugleich einer wichtigen semantischen Linie in den fünf autobiographischen Büchern Vallejos, die im Einklang mit der Form der mamotretos steht: „mi vago yo, fugaz fantasma“

|| ging in unsere Wohnung, um Streichhölzer zu suchen. Ich lief am Spiegel vorbei und spiegelte mich nicht darin. Endlich! Endlich! Ich hatte meine Figur verloren… Iiiiiich! Mein Ich klang wie eine hohle Explosion. Ich am Tag meiner Taufe in den Armen meiner Großmutter, eingewickelt in eine Unendlichkeit aus Windeln und Kleidchen aus weißen Leinen; ich, in kurzen Hosen, in der salesianischen Schule; ich bei meiner Erstkommunion; ich bei der Erlangung meiner Hochschulreife, in langen Hosen… Alte Bilder eines Familienalbums, das ein Feuer verbrennen wird“ (meine Übersetzung). 177 „Aber ich greife vor, breche die chronologische Ordnung auf und führe die Unordnung ein. Wie viel Abwasser hat der Fluss nicht mitgerissen, bevor er in die Kommunen emporfloss! […] Dieser Fluss ist wie ich: immer der gleiche, beharrlich im Fortgehen“ (meine Übersetzung).

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(DA 9) / (EF 256).178 Dieser Satz steht sowohl am Anfang als auch am Ende der Pentalogie. Darin steckt bereits die Flüchtigkeit des Subjektbildes, die in der Feuer- und Fluss-Metaphorik implizit ist. Gleichzeitig steckt in der Formel eine intertextuelle Abschweifung, die es hier zu verfolgen gilt: In Logoi ist die Aufforderung an die Literaturwissenschaft zu finden, auf der syntaktischen Ebene des Satzes eines literarischen Textes systematisch nach Echos von Vorläufern dieser literarischen Sprache zu suchen. Die in diesem kurzen Satz enthaltene intertextuelle Referenz auf einen Brief Petrarcas belegt die Grundthese der literaturwissenschaftlichen Praxis Vallejos, dass die literarische Sprache eine bewusste oder unbewusste Intertextualität sowohl auf grammatikalischer als auch inhaltlicher Ebene mit sich bringt. Im Folgenden beziehe ich mich auf den phantasmatischen implizierten Prätext, in dem die Kernaussage des Satzes Vallejos zu finden ist: Francesco Petrarca verfasste am 21. Dezember 1336 einen Brief an seinen Freund Giacomo Colonna, Bischof von Lombez. In dem Brief rechtfertigt sich der italienische Humanist angesichts der spöttischen Anschuldigungen des Freundes: Colonna behauptete, Petrarca hätte sich vom katholischen Glauben und der theologischen (augustinischen) Wahrheit durch die Hinwendung zur Philosophie und Dichtung entfernt. Petrarca erwiderte, dass ihm nicht die „Worte von Augustinus wie Wahnideen“ vorkämen, sondern dass vielmehr „mein eigenes Leben für nichts als leeren Wahn und allerflüchtiges Blendwerk“ (Petrarca, 2005, S. 102 – „mihi vitam meam nichil videri aliud quam leve somnium fugacissimumque fantasma“ (Petrarca, 2002, S. 210 / meine Hervorhebung) – stünde. In dieser Konfrontation zwischen dem profanen flüchtigen Leben und dem ewigen Sakralen artikuliert sich in nuce das grundlegende Spannungsverhältnis im verschriftlichten Leben Vallejos. Das im Spanischen mit dem Komma markierte Asyndeton („mi vago yo, fugaz fantasma“) wird im Lateinischen zu einem Superlativ („leve somnium fugacissimumque fantasma“) verstärkt. Der Traum wird bei Vallejo zum Ich, es bleiben trotzdem all die anderen Wörter in eindeutiger, zitatartiger Entsprechung bestehen. Dieses verschleierte Zitat, das den oder die Leser*in zu einer abschweifenden Recherche führt, fügt den Text Vallejos nicht nur thematisch in die religionskritische und lebensphilosophische Diskussion zwischen Petrarca und Giacomo Colonna ein, sondern unterstreicht auch Vallejos „wilde Lektüre“ (Loy) und damit die oben besprochene spielerisch-ernste Absicht hinter seinem Schreiben: Es geht um ein Leben, das

|| 178 „[…] mein vages Ich, flüchtiges Phantasma“ (meine Übersetzung). Dieses Bild kommt erneut in Vallejos letztem Buch Memorias de un hijueputa vor (2019, S. 9) und erlaubt die Hypothese aufzustellen, es handelt sich hier um eine werkübergreifende poetologische Metapher des eigenen Selbst.

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hier in einen Gegensatz zum christlichen Leben gerät, nämlich in Einklang mit einem Schreiben einer bestimmten literarischen Tradition: Petrarcas Brief beginnt mit einer Infragestellung der Klassifikationen der christlichen Moral und der Schwierigkeiten dieser Klassifikation.179 Die in der Literaturwissenschaft eher wenig besprochene literarische Strategie der Abschweifung wird von Alexis Grohmann in Bezug auf Javier Marías hervorgehoben: Marías rekurriert auf die Abschweifung als eine creative errancy in einer ähnlichen Art und Weise wie Vallejo, als ein Schreiben, das den ursprünglichen kreativen Impuls immer wieder in der Kontingenz des Schaffens abweichen lässt.180 Die Merkmale eines Subjektes, das wiederholt als ‚vage‘ und ‚flüchtig‘ bezeichnet wird, korrespondieren mit der Ambivalenz, die den mamotretos zugeschrieben wird: Es geht um jene phantasmatische Figur eines anwesenden Abwesenden, eines Subjekts, das sich nur ‚vage‘ konturiert und das zugleich lebendig und tot ist bzw. nach dem Tod noch lebendig bleibt. Die mamotretos als Autobiographien entwerfen trotz ihrer chaotischen Form ein Ich, das spricht und in Erscheinung tritt, das aber immer wieder seine Konturen verliert. Daher nimmt die Biographie Barba Jacobs auch eine phantasmatische Gestalt an: Das Leben wird bei Vallejo als ein Nicht-Fassbares verstanden, das erst in der Kontingenz des Geschehenen und des Geschriebenen an Form gewinnt. Es ist das Schreiben selbst, das mit dem Leben eng einhergeht;181 die Vergangenheit bleibt nur ein Phantasma im Sinne (1) ihrer ambivalenten, wirksamen Präsenz

|| 179 „Maskiert sind die Laster; als entsetzliche Monstren verstecken sie sich in prachtvollen Pelzen; und begleitet werden sie von einer Schar Gelüste, die […] immer zum vornherein am Fliehen und Vergehen sind. Der Ehrgeiz verspricht Ruhm, Beifall und öffentliches Ansehen. Die Abschweifung [luxuria] wiederum verspricht vielfältige sinnliche Vergnügen, der Mammon aber Besitztümer zum Vergeuden. […] Auch die menschliche Begierlichkeit reiht sich an, vorschnell, kopflos, rasch getäuscht und der Hinterlist ausgeliefert“ (Petrarca, 2005, S. 99). 180 Siehe Grohmann, 2011. 181 An diesem Punkt sind die literaturästhetischen Schriften Giorgio Agambens für meine Lektüre von Relevanz, in denen meistens das Leben mit dem poetischen Schreiben zusammengedacht wird. In seinem letzten Buch Creazione e anarchia (2017) führt Agamben in einer ähnlichen Art und Weise wie in Bartleby o della contingenza (1993) die Frage nach der Poiesis im Rahmen des Denkens über die Kontingenz des Kreativen und seine inhärente Spannung zwischen Potenz und Impotenz ein: Das Schreiben und die Kunst im Allgemeinen speisen sich aus der Möglichkeit des Könnens und des Nicht-Könnens: „Si tratta – io credo – di una inoperosità interna […]. La vita, che contempla la propria potenza di agire e di non agire, si rende inoperosa in tutte le sui operazioni, vive soltanto la sua vivibilità“ (2017, S. 50). / „Es handelt sich – so glaube ich – um eine innere Untätigkeit […]. Das Leben, das die eigene Potenz des Handelns und Nicht-Handelns in Betracht zieht, wird in allen seinen Handlungen untätig, es lebt lediglich seine Lebensfähigkeit“ (meine Übersetzung).

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(da bzw. nicht da zu sein) und (2) ihrer Fiktionalität. In Entre fantasmas fügt Vallejo den Aspekten des Phantasmatischen des Gedächtnisses den Traum hinzu, wodurch das Fiktionale bzw. Irreale des Erzählten noch stärker hervorgehoben wird: „[Y] soñando soñando, en sueños volví a Medellín […]. Las calles surgían del fondo del fondo del fondo del olvido por virtud del sueño” (EF 161)182. Das Phantasmatische des Lebens ist Teil der Ambivalenz, die man im Werk Vallejos immer wieder findet: Es geht nicht nur um das anwesende Abwesende, sondern um eine Verbindung zwischen Leben und Tod, etwa im Untoten bzw. im Zombie. Das letzte Buch seiner autobiographischen Schriften Entre fantasmas ist bereits, wie im Titel angekündigt wird, ein mamotreto von Todesgeschichten aus der Sicht eines bereits oder bald Verstorbenen.183 Diese „libreta de los muertos“ (EF 39 / „Heft der Toten“) oder „este libro cuentavidas, deslenguado e hijueputa“ (EF 110 / „dieses lebenserzählende Buch, klatschhaft und hurensohnmäßig“) von Entre fantasmas legt den ersten Stein für Vallejos nächsten Roman La virgen de los sicarios, in dem der Ich-Erzähler Fernando Vallejo von seinen Liebesgeschichten mit den Auftragsmördern Alexis und Wílmer erzählt und dabei eine Vielzahl von Todes- und Mordfällen beschreibt, vergleichbar mit Josef Winkler in seinem Roman Wenn es soweit ist. Die Figur der Untoten bzw. der Phantasmen impliziert zugleich eine Kritik am kolumbianischen Staat, in dem das Leben bereits von Beginn an im Zeichen des Todes steht.184 Diese Thematik des Todes wird auch das ganze Werk Josef Winklers beschäftigen. Sie impliziert zugleich die AIDS-Krise und die lange Liste an verstorbenen Körpern, die angesichts der Mitschuld des Staates an ihrem Tod wie Phantasmen das Schreiben vorantreiben.185

|| 182 „[Und] träumend, träumend, in meinen Träumen kehrte ich nach Medellín zurück […]. Die Straßen tauchten kraft des Traumes aus der Tiefe der Tiefe der Tiefe des Vergessens auf“ (meine Übersetzung). 183 „Ah sí, Javier Betancur murió en Medellín como yo. Como yo voy a morir, quiero decir, porque yo, por convención literaria, aún no muero“ (EF 36). / „Ach ja, Javier Betancur starb in Medellín, genau wie ich. Wie ich sterben werde, wollte ich sagen, weil ich gemäß der literarischen Konvention noch nicht sterbe“ (meine Übersetzung). 184 „En mi Colombia querida la muerte se nos volvió una enfermedad contagiosa. […] Cuánto hace que se murieron los viejos, que se mataron de jóvenes, unos con otros a machete, sin alcanzarle a ver tampoco la cara cuartiada a la vejez“ (Vallejo, [1994] 2008, S. 96–97). / „In meinem geliebten Kolumbien ist der Tod für uns zu einer ansteckenden Krankheit geworden. […] Wie lang schon ist es her, dass die Alten starben, die sich in der Jugend gegenseitig mit einer Machete ermordet haben, ohne es geschafft zu haben, das zerstückelte Antlitz des Alters zu sehen“ (meine Übersetzung). 185 So versteht sich z.B. Paul B. Preciados Buch Testo Yonqui (2000) als eine Reaktion auf einen spezifischen Tod, jenen Guillaume Dustans an den Folgen der HIV-Erkrankung. Die Figur Dustans ist im ganzen Text als Phantasma und Motivation für ein Schreiben präsent, das

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Die Ansprache eines Dus, die in vielen Texten Vallejos vorkommt, und die wiederholte Hinwendung zu seiner bereits verstorbenen Hündin Bruja heben die narrations-strukturierende Metapher des Phantasmas hervor. Als abschweifende Erinnerungen werden die Figuren (die Großmutter, die Hündin, die Freunde usw.) nicht nur aus der Vergangenheit heraufbeschworen, sondern zugleich zu Untoten, zu Phantasmen gemacht, die das Leben dieses erzählerischen Ichs konstituieren.

7.2 Taxonomie der Abschweifungen Vallejos 7.2.1 Sprachliche Abschweifungen Die hier genannten sprachlichen Abschweifungen basieren auf der Annahme der Kontingenz des flüchtigen, phantasmatischen Lebens, die in der Kontingenz des Geschriebenen ausgedrückt wird. Das Schreiben stolpert über grammatikalische, phonetische oder allgemein sprachliche Phänomene, womit der Erzählfluss aus den Fugen gerät: Dies führt zur Hervorhebung der Sprache selbst, die in ihrer Materialität sichtbar wird. Bei diesen Abschweifungen wird die Erzählinstanz in den Vordergrund geschoben, indem die Materialität und die Rhetorik (die Wortwahl, der Stil usw.) zu Konstituierungsmomenten der abschweifenden Erzählung werden. Durch die Wahl der Wörter und ihre phonetischen Ähnlichkeiten erzeugt Vallejo die Abschweifungen in der Erzählung – in Entre fantasmas findet man folgendes Beispiel: El médico no cura, el tiempo cura por él. O los antibióticos, que hacen los hongos, que él no inventó, pero que receta a diestra y siniestra, a la loca. Ellos hacen el trabajo y él cobra. Cobra, cobra, cobra. Es una cobra, una serpiente ponzoñosa, un aspid, un crótalo. (EF 113–114 / meine Hervorhebung)186

Die Abschweifung, die hier zugleich als Mittel der Beleidigung genutzt wird, hebt die Materialität des Gesagten hervor: Es ist das Zusammenfallen zweier Bedeutungen in einem einzigen phonetischen Zeichen, was hier die Abschweifung generiert.

|| Klarheit über diesen Mord/Todesfall schaffen möchte: eine Analyse der pharmapornographischen Gesellschaft. Die Phantasmen der queeren Verstorbenen sind somit als wichtige Figuren eines queeren Schreibens noch am Ende des 20. Jahrhunderts präsent. 186 „Der Arzt heilt nicht, die Zeit heilt für ihn. Oder die Antibiotika, die Pilze produzieren, die er nicht erfunden hat, aber die er kreuz und quer verschreibt, wie ein Wahnsinniger. Sie machen die Arbeit und er kassiert [cobra]. Er kassiert, kassiert, kassiert. Er ist eine Kobra [cobra], eine verderbliche Schlange, eine Aspisviper, eine Klapperschlange“ (meine Übersetzung und Hervorhebung).

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Die sprachlichen Abschweifungen manifestieren sich zugleich in Form von unvermittelt eingefügten rhythmischen und onomatopoetischen Ausdrücken, wie nicht-sprachlichen Geräuschen oder den Rhythmen oder dem Text eines Liedes: ¿Sí te acordás? Ahora tocan ‚Boquita salá‘ en el bailadero de Mandinga […] y se me salen las lágrimas […] porque te recuerdo y me siento en Colombia de la que jamás me he ausentado y en la que voy a morir. Tarata-ta-ta-tá, tarata-ta-ta-tá, tarata-ta-ta-tá, tan tan tan taaan… (EF 42)187

In Años de indulgencia findet man folgende musikalische Abschweifung: Le pregunto que de dónde es. – De Medellín. – ¿De qué barrio? La re fa la la, fa lá, fa lá … La re fa la la, la si sol… Mi si la sol… Mi si la sol… Ese si que digo es si bemol porque mi recuerdo canta en re menor, obsesivamente. (AI 123)188

Die sprachliche Wiedergabe von Partituren findet man bereits am Anfang der Autobiographie, in Los días azules,189 wo auch onomatopoetische Abschweifungen zu finden sind: „Virgencita linda, ¿por qué vas así de triste? ¿Qué te pasó? ¡Bum! ¡Bum! ¡Bum! hacía el bombo con su voz luctuosa, fúnebre, velada de violeta, e iba la tuba dando ayes profundos de dolor“ (DA 68).190 Hier erzeugt das onomatopoetische „¡Bum!“ eine Alliteration zu „bombo“. Das Onomatopoetische eröffnet zugleich das ganze autobiographische Projekt in Form eines plötzlichen, rasenden Anfangs in medias res: „¡Bum! ¡Bum! ¡Bum! La cabeza del niño, mi cabeza, rebotaba contra el embaldosado duro y frío del patio, contra la vasta tierra,

|| 187 „Erinnerst du dich? Jetzt spielen sie ‚Boquita salá‘ in der Diskothek von Mandinga […] und die Tränen laufen mir übers Gesicht […], weil ich mich an dich erinnere und ich mich in Kolumbien fühle, von dem ich mich nie entfernt habe und wo ich sterben werde. Tarata-ta-ta-tá, tarata-ta-ta-tá, tarata-ta-ta-tá, tan tan tan taaaan“ (meine Übersetzung). 188 „Ich frage ihn, woher er kommt. / – Aus Medellín / – Aus welchem Stadtteil? / La re fa la la, fa lá, fa lá… La re fa la la, la si sol… Mi si la sol… Mi si la sol… Das ‚si‘, das ich sage, ist bMoll, weil mein Gedächtnis wie besessen in d-Moll singt“ (meine Übersetzung). 189 „Quería tocar el ‘Chiribiribín‘: Do si si la dooo, la sol, fa dooo, fa sol, fa dooo, la sol, fa siiiii…“ (DA 39). / „Ich wollte das ‚Chiribiribín‘ spielen: Do si si la dooo, la sol, fa dooo, fa sol, fa dooo, la sol, fa siiiii“ (meine Übersetzung). 190 „Liebliche Jungfrau [Maria], warum bist Du so traurig? Was ist mit dir passiert? Bum! Bum! Bum! machte die große Trommel mit ihrer traurigen, düsteren, violett verschleierten Stimme, und die Tuba stieß tiefe „Ai“-Laute des Schmerzes aus“ (meine Übersetzung).

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el mundo, inmensa caja de resonancia de mi furia“ (DA 9).191 Im selben Buch findet man eine Abschweifung, die sich mit der oben besprochenen phonetischen Assoziation überlappt: „Da las horas como una campanita que dice: ¡Tin! ¡Tan! ¡Tin! ¡Tan! Sí, Tin Tan, como el actor de cine cómico, ídolo de los camajanes, que tiene un yate veloz impulsado por motor de coca y marihuana“ (DA 185).192 In diesem Fall vermischen sich unterschiedliche Arten von Abschweifungen, die allesamt durch das Geschriebene selbst ausgelöst werden und somit dieses in seiner Materialität hervorheben. Die Sprache selbst in ihrer Materialität, die meistens vom Ich-Erzähler betont wird („Sí, Tin Tan“), dient als Anhaltspunkt, um den Fluss der Erzählung zu unterbrechen: Die Abschweifung führt von der Thematisierung der Zeit zu einem zusammenhangslosen Kommentar über einen Komiker. In Entre fantasmas findet man eine andere Strategie der sprachlichen Abschweifung, die die Sprache als solche zu zelebrieren versucht: die Liste.193 Y ahora toma aire Peñaranda, contén la respiración, ármate de paciencia, papel y lápiz y ábrete párrafo aparte que te voy a dictar un chorizo, lo que este libro al terminar ha de ser, cuando adquiera su prístino genio y figura, cuando acabe, cuando acabe. Un libro así: chocarrero, burletero, puñetero, altanero, arrogante, denigrante, delirante, desafiante, insultante, colérico, impúdico, irónico, ilógico, rítmico […], luciferino, hereje, iconoclasta, blasfemo, ciego […], feliz, falaz, revelador, olvidadizo, espontáneo, inmoral […] y como dijimos antes de empezar y para que no se te vaya a olvidar, cuentavidas, deslenguado e hijueputa. (EF 110–111)194

|| 191 „Bum! Bum! Bum! Der Kopf des Kindes, mein Kopf, prallte gegen den harten und kalten Fliesenboden des Hofes, gegen die weite Erde, die Welt, den immensen Resonanzkörper meines Zornes“ (meine Übersetzung). 192 „Es schlägt die Stunden wie ein Glöckchen, das sagt: Tin! Tan! Tin! Tan! Ja, Tin Tan wie der komische Kinoschauspieler, Idol der Machos, der eine schnelle Jacht besitzt, die von Kokain und Marihuana angetrieben wird“ (meine Übersetzung). 193 Interessanterweise wird diese ausschweifende Strategie der Liste dann bei Valentín Díaz den stilistischen Mitteln des Neobarocks zugerechnet (2010, S. 41), die dann im dritten Kapitel dieses Buchs ausführlich diskutiert werden. 194 „Und jetzt atme tief ein, Peñaranda, halte die Luft an, bewaffne dich mit Geduld, Papier und Bleistift und beginne einen neuen Absatz, da ich dir eine Wurst [chorizo] diktieren werde, was dieses Buch am Ende werden soll, wenn es sein ursprüngliches Genie und seine ursprüngliche Gestalt annimmt, wenn es zu Ende geht, wenn es zu Ende geht. Ein Buch dieser Art: derb, spöttisch, nervig, überheblich, arrogant, erniedrigend, wahnsinnig, herausfordernd, beleidigend, cholerisch, schamlos, unlogisch, rhythmisch […], luziferisch, häretisch, ikonoklastisch, blasphemisch, blind […], glücklich, trügerisch, enthüllend, vergesslich, spontan, amoralisch […] und wie wir vor dem Anfang gesagt haben, damit du es nicht vergisst, lebenserzählend, klatschhaft und hurensohnmäßig“ (meine Übersetzung).

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Die für die Kohärenz nicht nötige Ansammlung von Adjektiven, die hier in der Lektüre als Zumutung empfunden werden kann, löst für ein paar Seiten die Argumentation auf, um sich der abschweifenden, sprachlichen Zelebration der Adjektivierung hinzugeben. Eine solche Auflistung, die auch die spätere Abrechnung Vallejos mit der katholischen Kirche in La puta de Babilonia (2007) eröffnen wird, gehört zugleich zu den unten beschriebenen metaliterarischen Abschweifungen: Es geht in erster Linie um eine formale und inhaltliche Wiedergabe dessen, was Vallejo in seinem autobiographischen Werk beabsichtigt, eine teuflische, inkohärente, amoralische Liste seines Lebens. Auf der sprachlichen Ebene offenbart sich zudem, was dem ganzen Werk zugrunde liegt, nämlich ein rhythmischer und musikalischer Kern: Die Worte reihen sich durch den Reim und die Wiederholung der letzten Silben aneinander. Die Liste setzt sich durch einen poetischen Impuls des Rhythmus fort und wächst auf exzessive barocke Weise zu einer Aufzählung von 126 Adjektiven an. Dieses ExzessivWerden der Sprache entspricht der Strategie der Abschweifung als Überschreitung der Linearität jeglicher Narration: ein Fluss, der ausufert. Ein weiteres Beispiel sprachlicher Abschweifung in der Autobiographie Vallejos ist die Mehrsprachigkeit, die sich vor allem in Los caminos a Roma manifestiert.195 In diesem pluri-phonen Werk schweift die spanische Erzählung in weitere Sprachen (Italienisch, Ladinisch, Französisch und Latein) ab. Diese verschiedensprachigen Abschweifungen bleiben jedoch ohne Übersetzung und sind somit auch Teil eines sich wiederholenden intellektuellen Gestus‘ Vallejos, der aber auch die Lektüre abschweifen lässt und verkompliziert. Besonders bemerkenswert ist die Verwendung der ladinischen Sprache, die als ein Echo innerhalb des Spanischen wiedergegeben wird: Lo que oigo es el eco. – ¿Antioquia dixistes? Antioquia, trocádose ha el acento. Dexando portiellos y feniestras bajo fuertes cerrojos se fue la judería de Toledo llevándose consigo nada. […] Dexan los judíos las sus casas e cortijos, vánse por todos los rumbos como espigas que vola el viento. (CR 51–52)196

|| 195 Die italienische und französische Sprache kommen auch in anderen Büchern Vallejos vor, in Los caminos a Roma tritt die Mehrsprachigkeit jedoch am deutlichsten zutage. In Años de indulgencia steht z.B.: „Levanta la corteza del árbol y lee en silencio mi nombre: ‘Eliphás Levi Del‘. C’est moi, le diable“ (AI 12). / „Hebe die Rinde des Baums an und lies im Stillen meinen Namen: ‚Eliphás Levi Del‘. C‘est moi, le diable“ (meine Übersetzung). 196 Die folgende Übersetzung gibt den Inhalt, nicht aber den ladinischen Sprachgebrauch wieder: „Was ich höre ist das Echo. / – Antioquia hast du gesagt? / Antioquia, so wechselt der

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Los caminos a Roma enthält ganze Seiten, die nur auf Italienisch geschrieben sind. Die Abschweifung erreicht somit eine Grenze des Verständlichen, die jedoch wieder die Erzählinstanz als Sprechinstanz eines lebendigen Ichs hervorhebt. Einige Abschnitte verbinden auch verschiedene Sprachen in einem einzigen Erzählfluss: „No, non lo sapeva. Y si no me levantaba rápido, presto, me quedaba sin desayuno“ (CR 17),197 oder „Da scalino a scalino, de grada en grada voy subiendo, deteniéndome en las terrazas para recobrar aliento“ (CR 19).198 Somit verliert die Erzählung den Faden und schweift in andere Sprachen ab. Die sprachlichen Abschweifungen bei Vallejo heben nicht nur die Instanz des Ich-Erzählers hervor, sondern erfüllen die poetische Funktion einer Betonung der sprachlichen Materialität. Es ist ein Ich, das spricht und die Wahl der Wörter trifft, und diese wird nach ihrem poetischen, aber auch herumirrenden Lustpotenzial getroffen. Die sprachlichen musikalischen Abschweifungen und jene der Mehrsprachigkeit entsprechen zugleich Stolpermomenten, die aus einer rezeptionsästhetischen Perspektive dem oder der Leser*in die Eigenart der Sprache und die Willkürlichkeit des von der Ich-Instanz Erzählten vor Augen führen. Es ist jedoch vor allem die Etablierung einer poetischen Ich-Stimme, die sich ermächtigt, ihren Sprachgebrauch frei zu vollziehen.

7.2.2 Zeitliche und örtliche Abschweifungen Die Abschweifung wird zugleich zum Ausdruck eines Zeitverständnisses Vallejos,199 das mit der Linearität und der Lebenschronologie brechen möchte. So

|| Akzent. Die Pforten und Fenster hinter festen Riegeln verschlossen, zogen die Juden aus Toledo weg, ohne irgendwas mitzunehmen. So lassen die Juden ihre Häuser und Landgüter zurück und gehen in alle Richtungen fort wie die Ähren, die im Wind wehen“ (meine Übersetzung). 197 „Nein, non lo sapeva. Und wenn ich nicht presto aufgestanden wäre, hätte ich kein Frühstück bekommen“ (meine Übersetzung). 198 „Da scalino a scalino, Stufe für Stufe gehe ich hinauf, mit Pausen auf den Terrassen, um Luft zu holen“ (meine Übersetzung). 199 Andrés Alfredo Castrillón analysiert mit Bezug auf philosophische Quellen die für ihn „komplexe“ Struktur der Zeit und der Erzählung in Vallejos El río del tiempo. Die Schlüsse des Artikels sind aber evident: Es ist nicht möglich, bei der Lektüre von Vallejos Werk die Ebenen von histoire und discours zu unterscheiden, da alles Erzählte nur im Dienste des discours erzählt wird (2011, S. 62). Castrillón konstatiert somit, dass Vallejos Erzählung immer nur aus der Perspektive des Erzählers zu verstehen ist, aus der sich gerade das „autofiktionale“ Ich durch die anachronistischen Bezüge auf die Vergangenheit „rekonstituiert“. Es lässt sich somit keine zeitliche Rekonstruktion des in der Autobiographie Erzählten vornehmen. Dafür rekurriert Vallejo m.E. auf die Abschweifung, um diese komplexe Zeitstruktur zum Ausdruck zu bringen.

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findet man z.B. in einer selbstreflexiven Passage in Años de indulgencia eine explizite Reflexion über zeitliche Abschweifungen: „¿En dónde iba? ¿En Nueva York? Qué más da, todo está en todo. Y en cada instante los demás. Dado lo cual, de la cajita del pasado saco el presente, y del presente el futuro, como desenrollando un cordel“ (AI 56).200 Die Betrachtung der Untoten oder Phantasmen wird bedeutsam im Zusammenhang mit diesem immanenten Zeitverständnis (die Präsenz der Phantasmen der Vergangenheit und des zukünftigen Todes in der Gegenwart), und diese Auffassung von Zeit entspringt einer philosophischen Grundannahme Vallejos, die die abschweifenden Sprünge in der erzählten Zeit begleitet: In Los caminos a Roma wird die Erzählung, die von den Filmstudienjahren Vallejos in Cinecittà in Rom handelt, durchgehend von Kindheitserinnerungen unterbrochen. Im folgenden Absatz kann man den nicht kohärenten Wechsel von der formalen Ansprache in der dritten Person Singular („usted“), die sich an den oder die Leser*in richtet, zur zweiten Person Singular beobachten, die mit Bruja, seiner Hündin, identifiziert wird. Auf diese Weise wird die Erzählung direkt vom Rom der Gegenwart in die Kindheitsvergangenheit zurückversetzt: Mire usted, fíjese allá desde la azotea a la que hemos subido a quemar papeles. Advierta el filtro ceniza al sur, al norte, al centro, por los veinte rumbos velándolo todo. […] Bajo el cielo límpido de antaño la muerte era otra cosa, un perderse para siempre los matices del azul. ¿Ahora qué? Por eso Bruja, niña, hoy enciendo esta fogata; pongo en ella lo que tengo, mi granito de arena, o sea mi hilito de humo, de smog: cartas, fotos, pasaportes viejos, mi pasado pues. (CR 27)201

Sobald die Erzählung ein spezifisches Wort findet (diesmal das Wort azul, die Farbe Blau, die im ersten Band der Autobiographie Los días azules mit der verlorenen Glückseligkeit der Kindheit assoziiert wird), wechselt der Erzähler den Adressaten: Er folgt den affektiven Impulsen der Erinnerung und dies wird || 200 „Wo war ich nochmal? In New York? Es ist egal, alles ist überall. Und in jedem Augenblick alle anderen Augenblicke. Daher nehme ich aus der Kiste der Vergangenheit die Gegenwart heraus und aus der Gegenwart die Zukunft, wie beim Entwickeln einer Schnur“ (meine Übersetzung). 201 „Schauen Sie, schauen Sie dorthin, von der Dachterrasse aus, auf die wir gestiegen sind, um Papiere zu verbrennen. Beachten Sie den Aschefilter im Süden, im Norden, im Zentrum, in den zwanzig Richtungen, der alles verschleiert. […] Unter dem klaren Himmel von früher war der Tod etwas anderes, ein Verlust der Blautöne für immer. Was nun? Deshalb, Bruja, Mädchen, entzünde ich heute dieses Lagerfeuer; ich werfe hinein, was ich habe, meinen Beitrag, d.h. mein Rauchfädchen, mein Smogfädchen: Briefe, Bilder, alte Pässe, meine Vergangenheit also“ (meine Übersetzung).

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durch den Wechsel der rhetorischen Zielrichtung markiert. Die abrupte Nostalgie („¿Ahora qué?“) macht die Tatsache evident, dass die Erzählung keiner Vorlage der Ereignisse, sondern dem Fluss des Erzählens und des Erinnerns folgt. Die Ansprache der Öffentlichkeit wechselt hinüber zu einer Intimität, die sich im pathetischen Ton der Erzählung („niña“, „mi pasado pues“) manifestiert. So drückt sich der Text als subjektive, souveräne Praxis der Selbstkonstitution aus, indem er auf die zeitliche Abschweifung rekurriert: Regeln der Nachvollziehbarkeit des Diskurses werden nicht respektiert, vielmehr drückt sich ein souveränes Ich aus, das sich in der Zeit hin und her bewegt und auf seine eigene Art und Weise die Fäden seines Lebens rekonstruiert. Auch auf einer inhaltlichen und bildlichen Ebene ist diese Stelle besonders interessant: Die Vergangenheit wird vom Ich-Erzähler auf einer Terrasse in Rom angehäuft (wie in seinen Büchern allgemein), um dann angezündet zu werden (wie es in seinen Büchern durch die rasende Stimme und das Verschlingen aller Zeiten und Orte geschieht). Die zuvor schon behandelte Metapher des Feuers korrespondiert an dieser Stelle unmittelbar mit der Form der zeitlichen, aber auch örtlichen Abschweifung: Die Vergangenheit und die Gegenwart, das Hier und das Dort verschmelzen in der Ich-Instanz. Was daraus folgt, ist ein Feuer, ein Logos in Flammen, die rasende, allverschlingende Erzählung des Textes.202 Der Ort spielt zugleich eine wesentliche Rolle in der Autobiographie Vallejos: Der Ich-Erzähler spricht aus dem Ausland, hauptsächlich aus dem Exil in Mexiko, von wo aus er die Orte und die Zeiten seiner Vergangenheit bereist. Der Standort des Erzählens wird immer wieder in den Fokus gestellt und der Raum Kolumbien – vor allem der locus amoenus und locus terribilis der Kindheit in Medellín – wird nur aus dieser Perspektive als ersehnter Ort ersichtlich. Am Anfang von El fuego secreto, nachdem einige Erinnerungen aus der Adoleszenz Vallejos erwähnt werden, erwacht der Erzähler aus seinen träumerischen Abschweifungen: „En un tiempo ajeno de un país distante me despierto sobresaltado porque me llaman. Desde las encrucijadas del recuerdo me llaman. Son los mismos susurros gangosos de siempre, un parloteo confuso de irrecuperables fantasmas“ (FS 15)203. Das Zurückführen auf die Instanz des Erinnerns verdeutlicht die Flüchtigkeit des Erzählten und betont ihre phantasmatische Form. Das || 202 Diese ausschweifende Synchronizität von Vergangenheit und Gegenwart und die simultane Darstellung verschiedener Räume werden von Valentin Díaz im Rahmen der Tradition des Neobarocks besprochen, die im dritten Kapitel ausführlich behandelt wird (2010, S. 46–48). 203 „In einer fremden Zeit in einem fernen Land wache ich erschrocken auf, weil ich gerufen werde. Von der Kreuzung der Erinnerung rufen sie mich. Es sind die immer gleichen, näselnden Flüsterstimmen, ein konfuses Geplapper von unwiederbringlichen Phantasmen“ (meine Übersetzung).

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Ich versteht sich als durch Erinnerungen konstituiert: „Puesto que el yo no es otra cosa que recuerdos […]“ (FS 233)204. Die Abschweifung in Raum und Zeit entsubjektiviert und subjektiviert zugleich das Ich, das sich selbst erzählt: ‘Dónde estoy’ es una pregunta espléndida, de película, pero en este caso encerraba otra: la que no lograba formular. Por calles desconocidas de una ciudad desconocida, deambulando en la cotidianidad de sus transeúntes irreales iba tratando de precisar la verdadera pregunta, la detestable pregunta que pesaba con la enormidad del mundo: ‘¿Quién soy?’ Lo que pregunté en cambio fue otra cosa: – ¿Cómo se llama esta ciudad? (FS 232)205

Die Verortung des Subjektes hat – wie im Begriff des inhabiting bei Sara Ahmed206 – eine identitätskonstituierende Wirkung. Besonders offensichtlich ist die Frage nach dem Ort und, damit zusammenhängend, im Falle eines Migranten nach einer Identität.207 Es handelt sich um die Stimme eines (Selbst)Vertriebenen, eines Außenseiters, der sich bewusst aus einer externen Perspektive mit dem Ort seiner angeblichen Heimat auseinandersetzt. Auch Josef Winkler schreibt seine Erstlingstrilogie aus der Perspektive eines Verreisten: Die Erzählinstanz positioniert sich immer wieder in einem Außenraum, daher spielen Orte wie Klagenfurt,208 Venedig209 oder Berlin210 eine wichtige Rolle (und dies kann als Folge der Werkgenese aus den zuvor genannten Notizbüchern erklärt werden). Dagegen ist das spätere Werk Winklers Der Leibeigene die Geschichte der Rückkehr eines Sohnes

|| 204 „Da das Ich nichts anderes als die Erinnerungen ist […]“ (meine Übersetzung). 205 „‚Wo bin ich?‘ ist eine wunderbare Frage, wie aus einem Film, aber in diesem Fall enthielt sie eine andere: die, die ich nicht formulieren konnte. Durch fremde Straßen einer fremden Stadt, im Alltag ihrer irrealen Fußgänger umherstreifend, versuchte ich, die wahre Frage zu präzisieren, die verabscheuungswürdige Frage, die schwer wie die Ungeheuerlichkeit der Welt wog: ‚Wer bin ich?‘ Was ich stattdessen fragte, war etwas anderes: / – Wie heißt diese Stadt?“ (Meine Übersetzung). 206 Siehe Ahmed, 2006, S. 7. 207 „Reflecting on lived experiences of migration might allow us to pose again the very question of orientation. Migration could be described as a process of disorientation and reorientation: as bodies ‘move away’ as well as ‘arrive’, as they reinhabit spaces“ (Ahmed, 2006, S. 9). 208 „Ein saugendes Geräusch, die Bewegungen des Zuges nach Klagenfurt beschleunigen sich, 20.05 Uhr“ (MK 178). 209 „Die Hand des Gondoliere umgreift den Holm des Ruders wie einen Geigenhals“ (MK 176). 210 „[D]aß dieses Ohr eines Selbstmörders die herankommende und wegfahrende und wieder herankommende und wieder wegfahrende Berliner S-Bahn hört, und ich kann nicht mehr schlafen“ (MS 752–753).

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in die Heimat.211 Sich von der Heimat zu befreien, ist eine subjektkonstituierende Handlung, die sich in der örtlichen und zeitlichen Abschweifung ausdrückt. So findet man folgende selbstreflektierende Passage in Muttersprache, die in dieser Hinsicht verstanden werden soll: „Es ist besser in einem Gefängnis zu landen, als sich irgendwo zu Hause zu fühlen, denn wenn ich mich wohl fühle, habe ich keine Lust zu schreiben“ (MS 784).

7.2.3 Essayistische Abschweifungen Die meisten Abschweifungen im Werk Vallejos sind essayistischer Art und dienen größtenteils zur Beleidigung oder Verspottung politischer oder religiöser Figuren. Diese eingefügten Kommentare oder Exkurse, die abrupt die Lektüre von einer narrativen in eine argumentative Richtung verschieben, heben somit die Erzählinstanz eines Ich hervor, das seine durchaus persönliche Meinung zum Ausdruck bringt. Diese Abschweifungen verlieren den Punkt der Abzweigung der Erzählung und können dadurch als radikale Abschweifungen (Fredderick) verstanden werden. Die essayistische Abschweifung erweitert die literarische Erzählung um Reflexionen, in denen die Ich-Instanz spekulierend über diverse Aspekte des Lebens nachsinnt. Als essayistisch wird hier das Verfahren der spekulativen, argumentativen Auseinandersetzung mit bestimmten Themen verstanden, die plötzlich in der Erzählung auftauchen und das Literarische mit anderen Bereichen (Wissenschaft, Politik, Philosophie) verknüpfen. Das Ich vollbringt damit eine experimentelle, selbstreflexive Leistung.212 Im Gegensatz zu den bereits dargestellten Abschweifungsformen führt diese in ein Jenseits des Erzählten – daher ihre radikale Funktion.

|| 211 „Ich werde eine Rückkehr des verlorenen Sohnes schreiben, dachte ich, ich werde dem Ackermann eine Zeitlang auf Schritt und Tritt folgen, mir seine Vergangenheit erzählen lassen […]. Um wieder schreiben zu können, muß ich in die Hölle zurückkehren, aus der ich mich befreit glaubte“ (Winkler, [1987] 1990, S. 76). 212 Birgit Nübel bestimmt die Gattung des Essays als eine „hybride Form […], die sich zwischen den Gattungen und zwischen den gesellschaftlichen Diskursbereichen bewegt. Mehr als bei jeder anderen literarischen Gattung ist beim Essay als einer Erkenntnis- und Darstellungsform, die sich in der Schnittmenge von literarischen, wissenschaftlichen und kulturellen (Diskurs-)Feldern befindet, die Annahme einer gattungsimmanenten Genealogie infrage zu stellen“ (2018, S. 56). Wolfgang Müller-Funks Monographie zum Essay Erfahrung und Experiment (1995) betont im Titel bereits die experimentelle Natur des Essays, in der das Ich als wichtige Instanz im Zentrum selbstreflektierend die Welt- und Selbsterfahrung thematisiert.

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In Entre fantasmas z.B. führt die spaßhafte Redewendung „Que le dé casita el Padre García Herreros“ (EF 147) zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit der realen Person García Herreros und einer politischen Kritik an dem kolumbianischen Geistlichen: „Este padre García Herreros que mencionó Glorita es un curita loco que anda suelto en Colombia, al que le dio por ‘darles casita a los pobres‘ limosneándoles a los ricos“ (EF 147).213 Über mehr als zwei Seiten hinweg schweift die Erzählung, die sich eigentlich der Schwester des IchErzählers (Glorita) widmet, in den bissigen Kommentar über García Herreros ab, um dann diese Abschweifung selbst explizit zu markieren: „Pero ¿por qué estoy hablando de esto? Ah sí, porque el Padre García Herreros me hizo desviar de Glorita“ (EF 150).214 Gegen Ende von Los días azules, mitten in der Erzählung über Armando, den Sohn Teresas, der Schwester der Großmutter des Ich-Erzählers Vallejos, kommt der Erzähler vom Thema des Koreakrieges und der angeblichen Beteiligung dieses Verwandten ab und widmet sich Simón Bolívar. Anlass der Abschweifung ist das Thema des Heldentums: No sé si Armando Arango, barón von Battenberg de pacotilla, espectro de radionovela, luchó o no en la guerra de Corea. Ni me interesa. Los héroes de fusil y granada me causan horror. Frente a la catedral de Medellín, instalado sobre su caballo, sigue el héroe máximo de América: bañado en una siempre renovada lluvia de porquería que desde el cielo, día por día, le dejan caer las palomas. Era un hombrecito bajito, de una ambición desatada, que cuajó en bronce. Lo llaman el Libertador, si bien con el pasar de los años yo sigo sin entender de qué tanto nos liberó. ¿De España? España no es un nombre vacío: es un fanatismo de clérigos y tinterillos, una cerrazón del alma. […] Somos un país de puesteros legalistas y de lambecuras irredentos. (DA 177–178 / meine Hervorhebungen)215

|| 213 „Dieser Pfarrer García Herreros, den Glorita erwähnte, ist ein verrücktes Priesterchen, das frei in Kolumbien herumläuft und den Einfall hatte, ‚den Armen Obdach zu geben‘, indem es die Reichen anbettelt“ (meine Übersetzung). 214 „Aber warum spreche ich jetzt darüber? Ah ja, weil der Pfarrer García Herreros mich von Glorita abgelenkt hat“ (meine Übersetzung). 215 „Ich weiß nicht, ob Armando Arango, zweitklassiger Baron von Battenberg [im Original auf Deutsch], das Phantasma einer Radioseifenoper, im Koreakrieg gekämpft hat oder nicht. Es interessiert mich nicht einmal. Vor den Helden mit Gewehr und Handgranate schaudert es mir. Vor der Kathedrale in Medellín sitzt der größte Held Amerikas immer noch fest im Sattel: gebadet in einem wiederkehrenden Regen aus Dreck, den die Tauben Tag für Tag aus dem Himmel auf ihn fallen lassen. Er war ein kleines Männchen mit ungebremstem Ehrgeiz, das in Bronze geronnen ist. Er wird der Libertador genannt, wobei ich nach all den Jahren immer noch nicht verstehe, wovon er uns befreit hat. Von Spanien? Spanien ist kein leerer Name: Es ist ein Fana-

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In diesem Zitat vermischen sich die Beleidigungen des Staates und der Kirche. Die Erzählung ergeht sich in verschiedenen Abschweifungen, die durch das Auftauchen verschiedener Begriffe zustande kommen (siehe die Hervorhebungen im Zitat oben): Von der Familie („Armando Aragón“) kommt der IchErzähler zum Krieg („guerra de Corea“), um dann über das Heldentum („héroes“) und die damit zusammenhängende Monumentalität der vermeintlichen Helden Kolumbiens („catedral de Medellín“, „bronce“) zu reflektieren. Dann kommt er zum Thema der Unabhängigkeit bzw. der Befreiung („Libertador“), die über Spanien („España“) und die dort herrschende Religiosität und Gesetzesbesessenheit („clérigos y tinterillos“) zu einem Kommentar zur eigenen kolumbianischen Kultur führt („país de puesteros legalistas y de lambecuras irredentos“). Von Medellín nach Korea und über Spanien zurück nach Medellín: Diese narrative Bewegung in Zeit und Raum erlaubt dem Erzähler nicht nur seine Meinung zum Ausdruck zu bringen, sondern in einem essayistischen Gestus Zusammenhänge in der Geschichte herzustellen. Die essayistischen Abschweifungen werden auch öfter – wie oben beschrieben – selbst im Text thematisiert: Beispielsweise findet man in Los caminos a Roma eine Textstelle, in der – nachdem die Erzählung sich ein paar Seiten lang im Kommentar über den liberalen, kolumbianischen Expräsidenten Alfonso López Michelsen (hier spöttisch als „López Eme“ bezeichnet) verliert – plötzlich die Frage auftaucht: „Bueno, ¿pero qué tiene qué [sic] ver el doctor López Eme con Andalucía? Es que en Andalucía pienso en él …“ (CA 80).216 Das Betonen der Willkürlichkeit der Abschweifung ist eine Hervorhebung der Freiheit des Erzählers, in der die subversive Kraft des Abschweifens zum Vorschein kommt. Der Ich-Erzähler betont die Freiheit, in seiner eigenen Lebenserzählung andere Wege zu nehmen als die der Chronologie oder eines argumentativen Zusammenhangs: Es geht um das Thematisieren einer rebellischen Wut, mit der die Autobiographie beginnt217 und die über die gesamte eigene Lebenserzählung hinweg eine wichtige Rolle spielt. Das Abschweifen ist ein konstitutiver Teil der Lebenserzählung eines Subjektes, das sich als empörter Außenseiter inszeniert und dessen Lebensbegriff nur so an Form gewinnen kann. || tismus aus Klerikern und Winkeladvokaten, eine Borniertheit der Seele. […] Wir sind ein Land von gesetzestreuen Markthändlern und unerlösten Priesterleckern“ (meine Übersetzung / meine Hervorhebungen) 216 „Na gut, aber was hat Doktor López Eme mit Andalusien zu tun? Nun, in Andalusien denke ich an ihn …“ (meine Übersetzung). 217 „La cabeza del niño, mi cabeza […], contra la vasta tierra, el mundo, inmensa caja de resonancia de mi furia“ (DA 9). / „Der Kinderkopf, mein Kopf […] gegen die weite Erde, die Welt, riesige Resonanzschachtel meines Zornes“ (meine Übersetzung).

140 | Fernando Vallejos phantasmatische Bilder: Poetik der Abschweifung

Die essayistischen Abschweifungen betreffen jedoch nicht nur die Bereiche der Politik und der Religion, sondern auch viele andere, die hier jedoch nicht einzeln analysiert werden können. Ein letztes Beispiel wäre die Medizin, die im späteren Roman El desbarrancadero (2001), der die AIDS-Thematik behandelt, ausführlicher kritisiert wird und die in Entre fantasmas eine besondere Rolle spielt: Innerhalb Vallejos langer Liste der „seres más malos“ (EF 112 / „bösesten Wesen“) findet man häufiger die Ärzte, die für die Hauptthematik dieses letzten Buches seiner Autobiographie (nämlich des Tods und des Alterns) eine wichtige Rolle spielen: „Y ahora sí, ¡suéltenme la jauría de médicos a ver si alcanzan mi trineo! El médico no cura, el tiempo cura por él. O los antibióticos, que hacen los hongos, que él no inventó, pero que receta a diestra y siniestra“ (EF 113–114).218 Die in den essayistischen Passagen zum Ausdruck gebrachte Skepsis gegenüber der Medizin und der Religion wird auch in der fiktionalen Selbstinszenierung als Priester oder Arzt (Psychiater)219 hervorgehoben. Die Medizin und die Religion stellen zwei Bereiche dar, die das Leben betreffen und daher hier in der eigenen, selbstermächtigenden Lebenserzählung auch in die Sphäre des Subjektiven vertrieben werden. Auf diese Weise öffnen sich in der Erzählung zwei ‚Abwege‘ in gesellschaftliche Bereiche, in denen sich Vallejo wiederum zum Außenseiter erklärt. All diese Themen, die bereits essayistisch in der Pentalogie besprochen werden, werden dann im Gesamtwerk Vallejos in selbstständigen Publikationen als Essays ausführlich behandelt: die Religion in La puta de Babilonia, die Medizin und die Biologie in La tautología darwinista und die Politik in Peroratas. Im engeren, etymologischen Sinn des Wortes haben die essayistischen Abschweifungen den Charakter eines Versuches (sp. „ensayo“), der zu der nächsten Art der metaliterarischen Abschweifungen führt: Die Selbstkorrekturen und die Widersprüche, die in den Texten Vallejos zahlreich zu finden sind, entsprechen einem Schreiben, das sich selbst als Denken (in Versuchen, Hypothesen, Schlüssen, Widerlegungen usw.) ausstellt. In Entre fantasmas findet man folgende Selbstkorrektur, die den experimentellen Charakter des Essays veranschaulicht:220

|| 218 „Und nun lassen Sie – endlich! – die Meute von Ärzten frei, um zu sehen, ob sie meinen Schlitten erreichen! Der Arzt heilt nicht, die Zeit heilt für ihn. Oder die Antibiotika, die Pilze produzieren, die er nicht erfunden hat, aber die er kreuz und quer verschreibt“ (meine Übersetzung). 219 Im folgenden Zitat findet man explizit sowohl die Selbstbezeichnung als Priester als auch als Psychiater: „Y no sólo he requerido de psiquiatra sino que he ejercido la profesión: de sustituto del doctor Flores Tapia […]. [E]l propio doctor Flores Tapia venía a confesarse conmigo por los lados, camuflado“ (EF 59–60). / „Und ich habe nicht nur einen Psychiater gebraucht, sondern ich habe den Beruf auch ausgeübt: als Vertretung für Doktor Flores Tapia […]. [D]oktor Flores Tapia selbst kam zu mir, um mir getarnt von der Seite zu beichten“ (meine Übersetzung). 220 Zum experimentellen Charakter des Essays siehe Müller-Funk 1995, S. 15.

Taxonomie der Abschweifungen Vallejos | 141

Señorita: es falso lo que le dicté hace un ratico, que la felicidad sólo existe en el recuerdo. Falso y falsísimo. La felicidad también existe en el presente, en el aquí y en el ahora del efímero momento que se va volando rápido, sin dar tiempo siquiera a ponerse uno la mano en el corazón para sentir que sí, que así es, que se es feliz. (EF 23)221

Hier wird wiederum das Subjektive des Erzählten betont, indem die Unzuverlässigkeit der Erzählung herausgestellt wird. Die Erzählung reflektiert über das bereits Gesagte, um aus diesem eine weitere Abschweifung folgen zu lassen, die als essayistisch im engsten Sinne zu verstehen ist: als Versuch und Selbstkorrektur des Experiments namens Essay. In dieser Hinsicht sollen die zunächst zu analysierenden Abschweifungen mit diesen essayistischen zusammen gedacht werden: Vallejo praktiziert eine selbstreflektierende und -korrigierende Schreibweise, die den essayistischen Aspekt der mamotretos zum Vorschein bringt.

7.2.4 Metaliterarische Abschweifungen Michaela Holdenried versucht in ihrer weit ausholenden Monographie zur Autobiographie einige „innovative Strukturmerkmale“ (2000, S. 44) im autobiographischen Schreiben seit den 1980er-Jahren zu rekonstruieren. Darunter ist insbesondere ein Merkmal zu nennen, das man in markanter und symptomatischer Art und Weise bei Vallejo wiederfinden kann und das hier bereits angedeutet wurde: „die innertextuelle Distanzposition“ einer „metanarrativen Ebene“, womit das „Arbeiten mit Gattungsironie, intertextuellen Verweisen, Reflexion der Schreib- oder Erinnerungstätigkeit, Sprachreflexion, Kommentaren“ (ebd. 47) gemeint ist. Es ist folglich nicht nur der Erinnerungsfluss oder die Sprache, sondern vielmehr die Selbstreferenzialität des Textes, die die Narration aus den Fugen geraten lässt.222 Eine wiederkehrende Art der metaliterarischen Abschweifungen ist die Reflexion über die Auslassungen, die die Abschweifung selbst hinterlässt: Das || 221 „Fräulein: es ist falsch, was ich Ihnen zuvor diktiert habe, dass das Glück nur in der Erinnerung existiert. Falsch, mehr als falsch. Das Glück existiert auch in der Gegenwart, im Hier und Jetzt des flüchtigen Momentes, der schnell vorbeifliegt, ohne Zeit zu lassen, sich die Hand aufs Herz zu legen, um zu spüren, dass man, ja dass es so ist, dass man glücklich ist“ (meine Übersetzung). 222 Diese Selbstreflexivität des Textes ist nicht nur ein Merkmal der postmodernen Autobiographie, sondern auch der Tradition der novela digresiva, wie Alexis Grohmann (2011) bereits in Bezug auf Javier Marías herausgearbeitet hat.

142 | Fernando Vallejos phantasmatische Bilder: Poetik der Abschweifung

Abzweigen von der Erzählung von einem narrativen Punkt zu einem anderen, der sich nicht kausal aus der Linearität der Narration erschließt, impliziert die Thematik des Vergessens, das Vergessen einer Richtung der Erzählung: Antes de que sucumba al mal del Alzheimer y se me olvide lo que les iba a decir, ¿qué es lo que les iba a decir? Ah sí, que Javier Betancur murió en Medellín como yo. Como yo voy a morir, quiero decir, porque yo, por convención literaria, aún no muero. Les he acabado de contar así, en este libro de los finales, el final de Procinal por dos razones: una, porque no me gusta dejar historias ni libros inconclusos, como coitus interruptus; dos, porque sí. Y adelante señor don José María de Pereda de Peñas Arriba y La Buchera con el recuento de esta pobre, ilusa vida mía, una tormenta de fuego en una bañera. (EF 36)223

Viele Aspekte der metaliterarischen Abschweifung werden hier explizit: erstens, die zuvor genannte Thematisierung des Vergessens und des Erinnerns („Alzheimer“); zweitens, die Selbstkorrektur („voy a morir, quiero decir“); drittens, der ironische Selbstbezug auf das Werk („no me gusta dejar historias ni libros inconclusos“), der in diesem Fall z.B. durch den Vergleich mit einem „coitus interruptus“ evident wird. Die Narration schweift in eine Metaebene ab; sie betrachtet sich selbst und erklärt sich in einem ironischen Akt – der bereits im Begriff mamotreto impliziert ist – zu etwas Unfertigem, Werdenden, Abschweifenden. Eine weitere Strategie metaliterarischen Abschweifens ist das Ansprechen einer rezeptiven Instanz. In Años de indulgencia findet man folgende Aufforderung an den oder die Leser*in: „A mí que no me juzguen por lo que digo sino por cómo lo digo, por lo que filmo sino por cómo lo filmo, por lo que hago sino por cómo lo hago. Me da lo mismo el amor que el odio. Y no me exijan verdad que la verdad es inestable, escurridiza, evasiva“ (AI 99).224 Es handelt sich hier um eine Betonung der Form, des Wie des Geschriebenen, d.h. um einen autoreferentiellen Hinweis auf die Form des Textes, der hier als semantischer Schwer-

|| 223 „Bevor ich dem Übel des Alzheimers erliege und ich vergesse, was ich Euch sagen wollte, was wollte ich Euch sagen? Ah ja, dass Javier Betancur in Medellín starb, genau wie ich. Wie ich sterben werde, wollte ich sagen, weil ich gemäß der literarischen Konvention noch nicht sterbe. Ich habe euch somit gerade in diesem Buch der Enden das Ende von Procinal aus zwei Gründen erzählt: erstens, weil ich es nicht mag, Geschichten oder Bücher unvollendet zu lassen wie bei einem coitus interruptus; zweitens, einfach so. Und fahren Sie fort, Herr Don José María de Pereda de Peñas Arriba y La Buchera mit der Nacherzählung dieses meines armen, naiven Lebens, ein Feuersturm in einer Badewanne“ (meine Übersetzung). 224 „Beurteilt mich nicht danach, was ich sage, sondern wie ich es sage, nicht danach, was ich filme, sondern wie ich es filme, nicht danach, was ich mache, sondern wie ich es mache. Die Liebe und der Hass sind mir gleich. Und verlangt von mir keine Wahrheit, weil die Wahrheit instabil, schlüpfrig, flüchtig ist“ (meine Übersetzung).

Taxonomie der Abschweifungen Vallejos | 143

punkt der Lektüre markiert wird. Dies geschieht jedoch nur im Rahmen eines Textes, dessen politisch inkorrekte Aussagen eine Art Rechtfertigung durch ihre Form erlangen – etwa auf der rhetorischen Ebene der Provokation und der poetischen des Klangs. Die Adressierung eines Dus wird am Ende erneut hervorgehoben, indem das Erzählen selbst in seinem Aufhören thematisiert wird. In Los caminos a Roma kulminiert die ganze Erzählung in der glücklichen, rückblickenden Erinnerung an Vallejos Großmutter, und die Absicht eines Happy Ends wird explizit gemacht: „[…] apoyando en ella [la abuela] mi cabeza sobre su corazón humilde de paloma para acabar, sin que corra el día, sin que siga el libro, sin que caiga la tarde, en el sosiego añorado de la dicha, con un final feliz“ (CR 186)225. Diese wohl rhetorische Thematisierung des Aufhörens, als Schließung eines Aktes des Zuhörens, findet einen Höhepunkt im späteren Roman La virgen de los sicarios, in dem der Ich-Erzähler sich von dem Leser („parcero“) verabschiedet.226 In Años de indulgencia wird am Ende auch ein produktionsästhetischer Aspekt thematisiert, nämlich jener der Absicht hinter dem Text: Quería escribir un libro sobre Nueva York, mi estancia en Nueva York, con unidad de espacio, tiempo y acción, con triple fuerza. Pero una cosa es lo que uno quiere y otra lo que uno puede, la vida es así. O por lo menos así es la mía y así este libro, proyecto disparatado. […] En fin, olvidándome pues de un orden para lo que no lo tiene porque no lo puede tener […], en el aire, en vilo, desocupado, por fuera del presupuesto y de toda lógica, con el lápiz atrancado y con el alma a la deriva, […] cristiano que se muere ahí voy, no me pierdo entierro. (AI 119)227

|| 225 „[…] meinen Kopf an sie [die Großmutter] anlehnend, auf ihrem bescheidenen Taubenherz liegend, um zu enden, ohne dass der Tag abläuft, ohne das Buch fortzusetzen, ohne dass der Abend hereinbricht, in der ersehnten Gelassenheit der Freude, mit einem glücklichen Ende“ (meine Übersetzung). Javier Guerrero deutet diese Rückkehr in die Heimat und das Happy End als Ausdruck einer unmöglichen Rückkehr, die im nostalgischen Erzählen stecken bleibt (2014, S. 223). Wichtig in der Perspektive Guerreros ist die Deutung dieses Motivs der Rückkehr im Rahmen eines queeren Schreibens. 226 „Bueno parcero, aquí nos separamos, hasta aquí me acompaña usted. Muchas gracias por su compañía y tome usted, por su lado, su camino que yo me sigo en cualquiera de estos buses para donde vaya, para donde sea“ (Vallejo, [1994] 2008, S. 140). / „Na gut, Kumpel, hier trennen wir uns, bis hierher begleiten Sie mich. Vielen Dank für Ihre Gesellschaft, folgen Sie Ihrem Weg, ich werde irgendeinen von diesen Bussen nehmen, egal wohin er fährt, egal wohin“ (meine Übersetzung). 227 „Ich wollte ein Buch über New York, über meinen Aufenthalt in New York, mit einer Einheit von Raum, Zeit und Handlung schreiben, mit dreifacher Kraft. Aber eine Sache ist, was

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Hier wird die lebensphilosophische Tiefe der Abschweifungsstrategie explizit: Das Leben kann nur eine solche chaotische verschriftlichte Form eines mamotretos annehmen. Das Ansprechen der klassischen, aristotelischen Einheit von Zeit, Raum und Handlung und die Erklärung der Unmöglichkeit von dieser Einheit in seinem Text zeugen von einem absichtlichen Bruch mit einer linearen, kohärenten und organischen Form. Auch Josef Winklers Autobiographie referiert an verschiedenen Punkten auf sich selbst, und zwar in ähnlicher Weise wie Vallejos. Während jedoch bei Vallejo die Erzählung durch einen Überfluss an Wörtern allmählich aus den Fugen gerät und somit glatt und zusammenhängend erscheint, sind die Abschweifungen bei Winkler in einer sprunghaften Art und Weise eingefügt und verleihen somit den Texten eine gebrochene Form. Die metaliterarischen Abschweifungen sind vor allem im dritten Teil (Muttersprache) in zahlreicher Form zu finden, genau in dem Teil, wo das Erzählen eine sichtbarere Kohäsion erlangt: Ich blicke jetzt aus dem Fenster, als suchte ich ein Kind, dem ich tatsächlich und nicht einer Puppe Nadeln in den Kopf stechen will, aber da ich überhaupt keine Geschichten zu Ende erzählen möchte und schon gar kein Geschichtenerzähler bin, sehe ich wieder die Großmutter vor mir, von der ich eher gelesen als gehört habe, die winzige Nadeln in den Kopf eines Kindes gesteckt hat, während ich aus dem gläsernen Mutterbauch blicke und sehe, wie die Enznoma vor dem Spiegel steht […]. (MS 730)

An dieser Stelle thematisiert die metaliterarische Abschweifung (von „aber da ich“ bis „kein Geschichtenerzähler bin“) den Bruch des Erzählens bzw. des Beschreibens der Bilder selbst (vom Wunsch, einem Kind in den Kopf zu stechen, bis zu seiner Großmutter vor dem Spiegel). Ausgehend von der Gegenüberstellung der zwei Arten von Abschweifung können wir von einer gleitenden Abschweifungsform (bei Vallejo) und einer sprunghaften (bei Winkler) sprechen. Dies ergibt sich vermutlich aus der unterschiedlichen Setzung des Schwerpunktes, der bei Winkler auf der Poetik des Bildes und bei Vallejo auf der Poetik der Abschweifung liegt. Bei Ersterem geht es um eine betont mosaikartige Schreibweise und beim Zweiten um eine Betonung des ausufernden Schreibflusses.

|| man möchte, und die andere, was man kann, so ist das Leben. Oder zumindest ist meines so und auch dieses Buch, ein wahnsinniges Projekt. […] Nun ja, im Vergessen einer Ordnung dessen, was keine Ordnung hat, weil es keine haben kann […], in der Luft, in der Schwebe, ohne Beschäftigung, ohne Budget und ohne Logik, mit gehemmtem Bleistift und abdriftender Seele, […] ein Christ, der stirbt, da komme ich, ich verpasse keine Beerdigung“ (meine Übersetzung).

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*** Die Abschweifung nimmt im Werk Vallejos verschiedene Formen an, die hier in einer vorläufigen Taxonomie systematisiert wurden, um ihren (religions)kritischen Gehalt besser vor Augen zu führen. Genau wie Winkler bedient sich Vallejo einiger Bilder, die in seinen autobiographischen Erzählungen die Strategie der Abschweifung in metaphorischer Art und Weise vor Augen führen. Es wurde zugleich gezeigt, wie die in diesen Bildern inhärenten intertextuellen Referenzen als mögliche Abschweifungen der Lektüre agieren. Zunächst wurden die verschiedenen Formen der Abschweifung Vallejos auf fünf Beispiele beschränkt: Die sprachlichen Abschweifungen dienen als Markierung nicht nur der Souveränität des Ich-Erzählers in seinem Sprachgebrauch, sondern einer stark literarisierten Sprache, die hier gegenüber den zu erzählenden Lebensereignissen in den Vordergrund gestellt wird. Die zeitlich-örtlichen Abschweifungen stehen sinnbildlich für ein eigenes Zeitverständnis Vallejos, das mit einem Lebensverständnis und einer ganz bestimmten (Un)Ordnung einhergeht. Somit wird nicht nur die Ich-Instanz als Erinnerungsinstanz in der Gegenwart und an einem bestimmten Ort markiert, sondern zugleich die Souveränität dieses Ichs in Bezug auf seine eigene Lebenserzählung hervorgehoben. Die essayistischen Abschweifungen betonen die Meinung des Ich-Erzählers und lassen die Rekonstruktion scheinbar objektiver Ereignisse als rein subjektiv gefärbt erkennbar werden – das Erzählen folgt somit rein Ich-bezogenen, affektiven Motiven und zelebriert die Lebenserzählung als eine intime Angelegenheit. Die metaliterarischen Abschweifungen schließlich dienen dazu, die Abschweifung selbst als selbstgewählte Strategie zu betonen. All diese Abschweifungsarten finden einen Rahmen in der religionskritischen Auseinandersetzung Vallejos, die einem anderen, queeren Lebensverständnis Form verleiht.

8 Fazit: Flammende mamotretos als religionskritische literarische Form Wenn es hier um die Skizzierung der poetologischen Strategie queerer Lebenserzählungen in Form eines fragmentarischen, ausufernden, feurigen Erzählflusses ging, dann im Sinne einer Erzählung eines Lebens, das sich als Verlaufen versteht und sich in diesem beabsichtigten Verlaufen zelebriert. Somit wird das eigene Leben kontrastiv gefeiert, nämlich als ein ungeordnetes, desorientiertes, in Opposition zu organischen, moralisch geordneten Lebensweisen. Als Lebenserzählung ähneln die Texte, die hier als mamotretos verstanden werden, in ihrer Form einem Selbstporträt. Das Resultat ist ein fragmentarisches, kraftvolles, flammendes Selbstbild: Das Bild reflektiert ein Gesicht, obwohl dieses (wie das Feuer) keine klaren Konturen hat. Dieser Charakter des Portraits korreliert mit dem spiegelartigen mise en abyme am Ende der beiden autobiographischen Projekte, wo eine Art Buch-Werden der beiden Autoren zu finden ist. Vallejo beschreibt in Entre fantasmas gegen Ende die Begegnung mit sich selbst nach seiner Rückkehr nach Medellín: Er betrachtet eine Weihnachtskrippe, die dann verschwindet und der Gestalt eines älteren Mannes mit seiner Hündin Platz macht.228 Somit verschiebt sich am Ende mittels der Spiegelung die Fokalisierung vom Ich auf ein Er. Auch bei Winkler wechselt am Ende die Lebenserzählung von der ersten zur dritten Person, der Erzähler sieht sich zwar nicht wie Vallejo in einem Spiegel, er drückt jedoch sein Buch-Werden, sein mamotretoWerden, mittels der Erzählung eines Traumes aus: „Gestern träumte ich, daß ich nur mehr ein Buch bin, in dem ich im Bett liegend lese, aber keinen Körper mehr habe, kein Fleisch und kein Blut“ (MS 842). Die Absicht, ein Porträt zu schaffen, wird somit explizit, aber mit dem ironischen Twist, dass kein eindeutiges Gesicht darin festgehalten wird – ergo ein ambivalentes Bild eines formlosen Subjektes gezeichnet wird. Die Strategie der mamotreto-Form ist demzufolge die Schöpfung eines Selbstbildes, obwohl dieses Bild verworren, porös, abschweifend zum Ausdruck || 228 „Entonces, como por milagro […], de sopetón el cuarto se vació de pesebre y vi en su lugar, escribiendo en un escritorio negro, a un viejo. Y una perra negra a su lado, esbelta, grande, hermosa, cuidándolo. Y el niño que desde afuera se veía adentro viejo musitó el nombre: ‘Bruja‘. Eso, Bruja, eres tú“ (EF 254). / „Dann, wie durch ein Wunder […], entleerte sich das Zimmer der Krippe auf einen Schlag und ich sah an ihrer Stelle, an einem schwarzen Schreibtisch schreibend, einen alten Mann. Und neben ihm eine schwarze Hündin, dünn, groß, wunderschön, die ihn beschützt. Und der Junge, der von draußen sich drinnen in alt sah, flüsterte den Namen: ‚Bruja‘. Das, Bruja, bist du“ (meine Übersetzung). https://doi.org/10.1515/9783110799965-009

Fazit: Flammende mamotretos als religionskritische literarische Form | 147

kommt: Das queere Bild des Lebens kann in diesem Sinne als Korrektur und Verkehrung eines starren katholischen Bildes des Lebens gelesen werden. Es geht um ein Bild, das sich im Kontext und im Verhältnis bzw. in affektiver Differenz mit den Anderen (Kolumbien, Kamering, die Oma, Jakob und Robert etc.) herauskristallisiert. Dafür rekurrieren beide Autoren auf das Bildliche und auf das Abschweifende als Strategien des Autobiographischen, aber auch als Strategien der Konfrontation und der Kritik. Das Selbstbild bildet sich konfrontativ als Gegenbild zu einem starren vorgegebenen Bild des Katholizismus, das es hier zu zersplittern gilt und das dynamisch wird, das aber auch Grundlage für die Subjektbildung ist. Daher funktioniert diese queere Desorientierung des einen Weges Jesu als eine ambivalente Kritik, die immer der Entgegensetzung bedarf, um Konturen zu erlangen: Das mamotreto bezieht sich auf das katholische Bild und entstellt es zugleich. Die religionskritische, subjektkonstituierende Konfrontation wird jedoch mittels anderer Strategien erreicht: Das offensichtlichste konfrontative Mittel ist die Beleidigung, die im nächsten Kapitel ausführlich behandelt wird.

| Teil 2: Monstren: Zoo- und Beleidigungspoetik als religionskritische Strategie

1 Einleitung: Monstren Man muß der Menschheit überlegen sein durch Kraft, durch Höhe der Seele – durch Verachtung … Friedrich Nietzsche1

Thomas Bernhard bezieht sich in seinem in der Anthologie Hans-Geert Falkenbergs enthaltenen Text auf den Zorn als eine philosophische Grundkategorie in Form einer produktiven Bewegungsenergie2, in deren Kern das Ambivalente steht: Der Zorn ist Licht und Flamme,3 Wille zur Wahrheit und zur Lüge,4 Kraft der Schöpfung und der Zerstörung,5 und somit eine Grundkraft allen Lebens. Die epistemologisch ambivalente Natur des Zornes, zugleich Täuschung und Wahrheit zu sein, äußert sich im Zorn als Grundmoment des Kritischen, indem er zur Enthüllung eines immanenten Seins des (physischen und psychischen) Lebens beiträgt: „Was für ein ungeheuerer [sic!] Wahrheitsfinder er immer ist, erlernen wir aus dem Durchblättern der fürchterlich süß aber zum Großteil übelriechenden Akten, im Studieren der außerordentlichsten aller Personenbeschreibungen“ (1965, S. 160). Der Zorn eröffnet und beendet, und er kann – wie im oben dargestellten Bild des Reinbohrens bei Winkler – Wahrheiten zur Oberfläche bringen: „Der Zorn ist der Zuschläger, der die verstopften Ohren aufreißt“ (ebd. 162). Somit ist der Zorn auch Veränderung und bewegt sich immer jenseits der Kategorien, der Gesetze und der Moral.6 Der Zorn wird u.a. zu einer anthropologischen, exzessiven Kraft im Text

|| 1 1986, S. 10. 2 Bernhards Text kommt an einer entscheidenden Stelle in Johannes Lehmanns Geschichte des Zornes in der Literatur vor (2012, S. 20). Dies ist auch der Grund dafür, dass ich meine Auseinandersetzung mit dem ‚zornigen Schreiben‘ Vallejos und Winklers mit seinem Text beginne: In Bernhards Text findet man all jene Aspekte zusammengefasst, die im Folgenden dargelegt werden. 3 „Der Zorn ist Hebung und Senkung der ungeheueren [sic!] Harmonie des Menschen, er ist die dauernde Inthronisation aller Ursprünge. Der Zorn ist Flamme und Licht und er ist die Dunkelheiten und die ‚ewigen‘ Finsternisse“ (Bernhard, 1965, S. 159). 4 „Der Zorn verfinstert immer wieder alle Systeme um nichts als der Lüge willen, wie er sie zu gewissen Zeiten mit der ganzen Vehemenz der Gestirne aufklären lässt für die Wahrheit“ (Bernhard, 1965, S. 160). 5 „Aus dem Zorn sind die Kontinente aufgetaucht, vom Zorn werden sie einmal zertrümmert werden […]. Der Zorn ist eine Folge der immer noch zu hohen Temperaturen der Schöpfung“ (Bernhard, 1965, S. 160–161). 6 „Immer hat der Zorn […] die Geschichte verändert, ganze Staaten als unreine Geistesgebilde weggewischt […]. […] Nicht mehr zu zählen, wie oft er unter allen Bevölkerungen die Ruhe entruhigt [sic!] hat und die krankhafte Lethargie vertrieben und die fade gewordenen Gesetze zertrümmert“ (Bernhard, 1965, S. 159–160). https://doi.org/10.1515/9783110799965-010

152 | Einleitung: Monstren

Bernhards, der sowohl als ‚gut‘ als auch ‚schlecht‘, sowohl als dem Teufel als auch Gott angehörig betrachtet wird.7 Der Zorn wird somit zur Lebenskraft jenseits des Menschen selbst, zur geologischen, biologischen und ontologischen Kraft schlechthin: „Das Leben ist eine immer dichter werdende Folge von Finsternissen (von Widerständen), die aus dem Zorn sind. […] Selbst hinter Zucht und Weisheit ist es der Zorn, in welcher Form immer, welcher uns Kraft gibt“ (ebd. 163). In Bezug auf die Sprache scheint der Zorn für Bernhard somit – in Anbetracht seines zornigen Schreibens, etwa in Auslöschung oder in seinen autobiographischen Romanen – einen poetischen Wert zu besitzen: „Wie er allein unsere Sprache immer wieder bis auf die totale und auf die noch kortikale Aphasie herunter vernichtet und durch die gewaltsame Transfusion seiner selbst gerettet hat!“ (ebd. 161). Eine Form der aphasischen und sodann geretteten zornigen Sprache wird in diesem Kapitel analysiert: die Beleidigung. In dieser Apologie des Zornigen8 ist ein immanentes Lebensverständnis implizit, das in einer Poetik des Zornes in Form der Beleidigung zum Ausdruck kommt.9 Bernhards Auffassung bleibt stets ambivalent, weil die zornige Sprache selbst die Werke der schon immer durch Zorn geprägten Sprache ‚zerstört‘ und ‚rettet‘ – in dieser Ambivalenz scheint die poetische Kraft des Zornes zu stecken. Bernhard markiert einen Unterschied zwischen Oberfläche und Tiefe, insofern der Zorn nur oberflächlich – oder moralisch, wie es unten dargelegt wird –, also scheinbar schlecht sei: „Oberflächlich betrachtet ist er eines der größten Menschheitsübel von jeher, in Wirklichkeit aber der große Verhinderer aller nur denkbaren Stagnationen, Stauungen unserer Wirtschaft, unserer Gedanken, unseres Blutes“ (ebd. 164). Der Zorn ist somit ein natürlicher (innerer) Exzess und daher führt er zugleich manchmal zu fürchterlichen (oberflächlichen) Folgen. Der Zorn eröffnet somit – weil jenseits der Moral und des Menschen – eine misanthropische, posthumane Perspektive:10 „Der Zorn ist nur eine christliche || 7 „[D]ie aus vielen Milliarden von Welten bestehende Maschine, die von den Göttern und von den Urgöttern und von den Teufeln und von den Unterteufeln besessen ist“ (Bernhard, 1965, S. 160). 8 „Ohne Zorn und in der Unfähigkeit des Zorns ist die Welt voller Ekel und das Schicksal der Welt und das Schicksal der Menschen ein ekelhaftes, bodenlos abgewertet“ (Bernhard, 1965, S. 163). 9 In dieser Hinsicht kann man in der Metapher der „Blume meines Zorns“ in Bernhards berühmtem Gedicht eine Versinnbildlichung dieser Poetik finden, die im Gedicht – und in der ganzen Gedichtsammlung – selbst bereits in Konfrontation mit einem Himmel, mit einer religiösen Instanz steht. Das Gedicht und der ganze Gedichtband In Hora Mortis fängt folgendermaßen an: „Wild wächst die Blume meines Zorns / und jeder sieht den Dorn / der in den Himmel sticht / daß Blut aus meiner Sonne tropft / es wächst die Blume meiner Bitternis / aus diesem Gras / das meine Füße wäscht / mein Brot / o Herr“ ([1958] 2015, S. 165). 10 Hier wird nicht die Rede vom „Posthumanen“ sein, sondern vom literaturwissenschaftlichen Begriff des „Zoopoetischen“, da es hier primär um die poetischen Strategien und nicht um die philosophische Begriffsbildung des Posthumanen geht. Beide hängen aber zusammen, da es, wie

Einleitung: Monstren | 153

Todsünde, aber keine Todsünde in der Natur. Das Leben aus der Natur […] hält sich auf seine ihm von Natur aus, nicht von den Menschen aus entsprechende Art in Gang“ (ebd. 164). Der moralische Zorn, als menschliche Todsünde verstanden, leugnet den Zorn-Affekt als Teil des Natürlichen, indem dieser als ein Laster bezeichnet wird, d.h. als etwas, das der Natur des Menschen unnatürlich ist. Dagegen schreit Winklers Ich-Erzähler: „Haß werde ich gebären und ein Kind dazu“ (MK 30) und betont somit im Sinne Bernhards die Produktivität moralisch negativer Affekte. Eine Betrachtung des Zornes jenseits der anthropozentrischen, moralischen Betrachtung eröffnet eine andere poetische Perspektive auf das Leben, die unten in Verbindung mit der Zoopoetik gedacht wird. Die hier dargestellte Auseinandersetzung Bernhards mit dem Zorn dient als Einleitung zu einer ethisch-literarischen Beschäftigung mit Affekten, die in der Mainstreamkultur als Sünde, d.h. moralisch böse, verstanden werden, und hier in ihrer ästhetischen Produktivität provokant zelebriert und bejaht werden. Dies ist eine kritische Wendung, die mit der Moralkritik Vallejos und Winklers in Einklang steht. „Ungeheuer“ ist Bernhard diese zornige Sprache bereits: eine die Grenzen überschreitet und in dieser Überschreitung Kritik leistet. Als Abweichung von der organischen Lebensform ist ein mamotreto, wie bereits dargelegt, eine ungeheuerliche Buchform. Das anti-narrative, abschweifende Schreiben, das diese Form zum Ausdruck bringt, korrespondiert im Falle der Lebenserzählungen mit der auto-poietischen Subjektkonstitution eines homosexuellen Außenseiters, der sich selbst als abweichend in der Gesellschaft zelebriert. Das mamotreto wurde als Ausdruck des absichtlichen Abweichens von einer narrativen Moral verstanden, die das Christentum diskursiv mittels eines eigenen Lebensverständnisses etabliert hat. Darauf antworten Fernando Vallejo und Josef Winkler mit einem dezidiert anti-moralischen Schreiben, das hier als || gezeigt wird, um dieselbe neue Perspektivierung des Menschen als etwas Tierischem geht: „El poshumanismo lleva a repensar los modos de autopercepción y afectividad del homo sapiens, recontextualizándolos en términos del sensorium de otros seres vivientes y de su propio modo de vivir en el mundo, modos que son parte de nuestra evolución. El poshumanismo es, en síntesis, un nuevo modo de pensar que surge luego de una toma de conciencia de las represiones culturales y de las fantasías propias del humanismo, un modo de autoconciencia histórica que relativiza la presunción de soberanía humana sobre todo lo viviente“ (Subercaseaux, 2014, S. 34–35). / „Der Posthumanismus führt dazu, die Modi der Selbstwahrnehmung und Affektivität des Homo Sapiens neu zu denken, indem sie im Rahmen des Sensoriums der anderen Lebewesen und seiner eigenen Lebensweise auf der Welt neu kontextualisiert werden, im Rahmen der Modi, die Teil unserer Evolution sind. Der Posthumanismus ist, zusammengefasst, ein neuer Modus des Denkens, der aus dem Bewusstsein der kulturellen Unterdrückungen und der dem Humanismus eigenen Fantasien entstanden ist, ein Modus eines historischen Selbstverständnisses, das die Annahme einer menschlichen Souveränität über alles Lebendige relativiert“ (meine Übersetzung).

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ethisches Schreiben verstanden wird.11 Diese Ethik korrespondiert im Werk Vallejos und Winklers mit einer Zoopoetik, die als Kritik der Biopolitik und somit des biopolitischen Lebensverständnisses gelesen werden soll. Die Beleidigung ist eine evidente rhetorische Strategie dieses ethischen Schreibens beider Autoren und geht mit der Blasphemie in ihrer religionskritischen Form einher. Diese in der Literaturwissenschaft oft ignorierte Form der Kritik hat einen theoretischen Apparat in der Philosophie und Kulturwissenschaft mit sich gebracht, der es erlaubt, die Beleidigung jenseits der Moral und als Mittel der Moralkritik zu verstehen. Die Beleidigung ist aber nicht bloß eine rhetorische Strategie der Moralkritik, sondern eine, die an einer religiösen Rede teilhat. Die Beleidigung ist daher auch Teil einer ambivalenten Kritik, die nicht nur als Widerlegung, sondern auch als Zelebration des Kritisierten gelesen werden kann. In der Literaturgeschichte sowohl Kolumbiens als auch Österreichs finden sich einige Vorläufer dieser Beleidigungspoetik, die einen klaren Einfluss auf das Werk beider Autoren ausgeübt haben. Ziel des folgenden Kapitels ist es, die literarische und queere Strategie der Beleidigung in ihrem religionskritischen Potenzial im Frühwerk Vallejos und Winklers zu analysieren. Die Beleidigung scheint direkt in den Bereich queerer Literatur zu führen. Dies hängt womöglich damit zusammen, dass die Perspektive der Beleidigung der Startpunkt einer sozialen Ausdifferenzierung ist,12 die in der Beleidigungspoetik umgekehrt, jedoch in ihrem Rekurs auf die Hassrede aufrechterhalten wird: Die „Schwuchtel“ tritt in ihrer interpellierenden Beziehung mit der heteronormativen Gesellschaft in Dialog und ergreift somit das Wort. In der Selbstermächtigung des Diskurses, die gleichzeitig den Zugang zu ihm erlaubt, wird er in seiner perspektivischen Umkehrung außer Kraft gesetzt.

|| 11 Maria Irod fasst den Charakter von Winklers Literatur mit folgenden Attributen zusammen: „Narzissmus, provokatorische Authenzität [sic!], Ästhetik des Fragmentarischen, Immanenz (im Sinne Sartres), Metaphorisierung und ständige Verletzung des Tabus“ (2018, S. 29). Die „Ästhetik des Fragmentarischen“, der behauptete „Narzissmus“, und die „Metaphorisierung“ wurden bereits im ersten Kapitel in Zusammenhang mit dem Begriff des mamotreto erläutert; das „Provokatorische“, „Verletzende“ und „Immanente“ wird hier exemplarisch in der Strategie der Beleidigung synthetisiert. Die Liste Irods zeugt von der von ihr selbst bezeichneten Schwierigkeit einer Klassifizierung des Werkes Winklers, für die ich die Begriffe des Monströsen und des mamotreto als mögliche Konzeptualisierungen vorschlage. 12 Diese Perspektive verdanken die Queer Studies Didier Eribons Sur la question gay: „I think, for example, that one dramatically and decisively shifts the kind of analysis one offers when the starting place becomes one of insult in the lives of gay men and lesbians, something that is never taken into account by psycoanalysis or by philosophies of communication or communicative action – for these are only the expression of the dominant point of view regarding the social life of language […]“ (2004, S. 18).

2 Ethik und Moral: Ontologie, Tiere und Monstren 2.1 Einführung: Deleuze und Spinoza Die folgende ethische Lektüre der Literatur korrespondiert mit dem sogenannten „ethical turn“, der in Zusammenhang mit dem hier relevanten Kontext der 1980er-Jahre von Robert Eaglestone und Rosi Braidotti hervorgehoben wurde.13 Das hier dargelegte Verständnis der Moralkritik als Ethik entstammt insbesondere einer Lektüre Gilles Deleuzes von Spinozas Ethik. Allgemein philosophisch betrachtet, versteht man die Ethik als eine philosophische Disziplin, die die Moral reflektiert, d.h. die sich kritisch mit der Moral bzw. ihren Geboten auseinandersetzt.14 Ferner wird als ethisches Verhalten ein solches verstanden, das sich kritisch und reflektierend zur Sittlichkeit einer Gemeinschaft positioniert. Die Moral wird dagegen verstanden als die Summe der Sitten oder Gebote einer Gemeinschaft, die als unreflektierte Gesetze angenommen werden (entsprechend können als der Inbegriff der jüdisch-christlichen Moral die zehn Gebote gelten).15 Ethik ist in dieser Hinsicht – der aktiven Infragestellung und Widerle-

|| 13 Siehe Braidotti, 2010, S. 5 und Eaglestone, 2010, S. 203. Eaglestone versteht diese „ethische Wende“ als eine kontextbedingte Antwort des Denkens der Zeit auf eine schwierige historische Konjunktur. In dieser Hinsicht antworten die hier zu analysierenden Texte auch direkt auf einen Kontext aus der Perspektive eines queeren, ethischen Schreibens. 14 Im Philosophischen Wörterbuch von Walter Brugger und Harald Schöndorf bestimmt Friedo Ricken die Aufgabe der Ethik seit Aristoteles darin, „Moral zu reflektieren, d.h. nach ihrer Begründung zu fragen“ (2010, S. 123). Die Frage der Ethik ist die „nach Geltung und Begründung“ (ebd. 123) der Moral. Im älteren Philosophischen Wörterbuch von Max Apel wird der epistemologische Charakter der Ethik hervorgehoben, in der Definition „Wissenschaft vom Sittlichen, von sittlichen Werten“ (1948, S. 74). In Der kleinen Routledge Enzyklopädie der Philosophie von Edward Craig wird interessanterweise diese Bedeutung nur insofern hervorgehoben, als es um die Ethik als Disziplin der Philosophie geht; die anderen Bedeutungen verwischen die Trennung zwischen Moral und Ethik, indem sie die etymologische Bedeutung von ethos hervorheben. Die kritische Auseinandersetzung mit der Moral wird hier jedoch nicht bloß als Disziplin der Philosophie verstanden, sondern als eine Handlung oder Lebensweise, die in ihrer kritischen Haltung zur Moral als ethisch bezeichnet werden kann. Auf ähnliche Weise wird Ethik im Wörterbuch der philosophischen Begriffe von Friedrich Kirchner, Carl Michaëlis und Johannes Hoffmeister als „die Fähigkeit zur Handlung und sittlicher Beurteilung des Einzelnen“ (1998, S. 204) definiert. 15 Moral wird im Wörterbuch der philosophischen Begriffe mit Sittlichkeit, sittlichem Verhalten oder Sittenlehre gleichgesetzt (siehe Kirchner et al., 1998, S. 429). Eine ähnliche Definition findet man in Apels philosophischem Wörterbuch. In Der kleinen Routledge Enzyklopädie der Philosophie wird Moral mit dem „normativen Denken über Handlungen und Gefühle“ (Band 2, S. 615) gleichgestellt. In der Annahme, dass es sich bei der Moral um eine wiederholende Praxis https://doi.org/10.1515/9783110799965-011

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gung von Moral – das Gegenteil von Moral. So definiert Gilles Deleuze in seiner Vorlesung zu Spinoza an der Université Vincennes die Ethik in negativer Art und Weise: „une éthique c'est quelque chose qui n'a rien à voir avec une morale“ (Deleuze, 1980). Die Gegenüberstellung von Moral und Ethik wird explizit in der Opposition zwischen den moralischen Kategorien von Gut und Böse und jenen ethischen von gut und schlecht16: Diese Opposition begründet Deleuze mit dem spinozistischen Modell des Körpers. Ein Körper – definiert durch sein kinetischintensives, inneres Verhältnis17 – kann von einem anderen Körper, der für den ersten entweder gut oder schlecht sein kann, gefördert oder gehemmt, beschleunigt oder gebremst werden: Ersteres ist eine Entsprechung und Zusammensetzung und letzteres eine Zersetzung des inneren Verhältnisses des Körpers: Es gibt weder Gut noch Böse, aber es gibt Gutes und Schlechtes. Jenseits von Gut und Böse… dies heißt zumindest nicht ‚Jenseits von Gut und Schlecht‘. Gut – das ist, wenn ein Körper sein Verhältnis direkt mit dem unseren zusammensetzt, und mit seinem ganzen oder mit dem Teil seines Vermögens das unsrige vergrößert. Schlecht – das ist für uns, wenn ein Körper das Verhältnis des unsrigen zersetzt, obwohl er sich noch mit unseren Teilen zusammensetzt, doch in anderen Verhältnissen als jenen, die unserem Wesen entsprechen: so ein Gift, das das Blut zersetzt. (Deleuze, 1988, S. 33)

Die moralischen, transzendenten Werte von Gut und Böse werden durch ein ethisches, materialistisches Verständnis affektiver Beziehungen zwischen Körpern ersetzt.18 Das Ethische führt das Transzendente zurück zur Immanenz der

|| einer Gesellschaft (Sitte) handelt, gehe ich hier davon aus, dass der Moment der Reflexion in diesem Begriff nicht beinhaltet ist. 16 So werden zugleich bei Spinoza „bonum“ (gut) und „malum“ (schlecht) – und nicht „improbus“ (böse) – definiert: „Unter gut verstehe ich das, von dem wir gewiß wissen, daß es uns nützlich ist“ (Def. 1, Teil III), „Unter schlecht aber verstehe ich das, von dem wir gewiß wissen, daß es uns hindert, ein Gutes zu erlangen“ (Def. 2, Teil III) ([1977] 1990, S. 443). Insofern ist das Negative bei Spinoza nur ein Mangel an Positivem, und das, was man Böse nennt, inexistent. Die Moral verliert somit ihr Fundament und es vollzieht sich eine radikale ethische Kritik. 17 „Alle Körper sind entweder in Bewegung oder in Ruhe“ (Axiom 1, Lehrs. 13, Teil II), „Jeder Körper bewegt sich bald langsamer, bald schneller“ (Axiom 2, Lehrs. 13, Teil II), (Spinoza, [1977] 1990, S. 145). 18 Fernando González, der vielleicht prominenteste Philosoph Kolumbiens der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dessen Heimat dieselbe wie Vallejos war, nämlich Antioquia, und der auf das Werk Vallejos unleugbaren Einfluss ausgeübt hat, definiert in seinem Buch Viaje a pie den Menschen auf folgende spinozistische Art und Weise : „Por el ritmo podrían calificarse los

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Beziehungen zwischen Körpern: „Man sieht also, wie die Ethik, d.h. eine Typologie immanenter Existenzweisen, die Moral ersetzt, die die Existenz immer mit transzendenten Werten verknüpft. Die Moral ist das Gottes-Urteil, das UrteilsSystem. Die Ethik aber kehrt das Urteils-System um“ (ebd. 34). Für Deleuze ist ein ethisches Verhalten jenes, das notwendigerweise die moralische Ordnung in Frage stellt. Eine queere Desorientierung, wie sie oben anhand von Sara Ahmed dargestellt wurde, kann als eine solche Infragestellung verstanden werden: Sie hinterfragt nämlich das Transzendente des einen Weges des christlichen Lebens und zersplittert den Weg in eine Fläche unendlicher, potentieller anderer Wege. Das ethisch Gute ist das, was den Körper oder das Individuum aus seiner Perspektive in einen größeren Zusammenhang mit den anderen und zu einem Verharren in seiner Existenz (im Sinne von conatus)19 führt: Dies geschieht durch den positiven, handelnden, guten Affekt der „Lust“ (laetitia) im Gegensatz zum negativen, leidenden, schlechten Affekt der „Unlust“ (tristitia). Das daraus resultierende handelnde, lustvolle, ethische Leben ergibt sich aus der Erkenntnis in der Auseinandersetzung mit der Differenz der Individuen (in der Erkenntnis dessen, was den Körper fördert und/oder hemmt) und auch in der Differenz zur Moral als verallgemeinertes, transzendentes Gesetz selbst. In dieser Hinsicht ist das, was das Ethische vom Moralischen unterscheidet, dasselbe wie das, was das Reale vom Irrealen, oder das (immanente) Sein vom Transzendenten trennt: Une morale nous rappelle à l'essence, c'est à dire à notre essence, et qui nous y rappelle par les valeurs. Ce n'est pas le point de vue de l'être. Je ne crois pas qu'une morale puisse se faire du point de vue d'une ontologie. Pourquoi? Parce que la morale ça implique toujours quelque chose de supérieur à l'être. (Deleuze, 1980)

Die Moral entfremdet, distanziert vom Leben, nämlich in der Etablierung von Werten, die außerhalb des Lebens zu verorten sind. Eine ethische Kritik führt in dieser Hinsicht zurück zu einer Immanenz der Seienden, in der diese Seienden durch die Affizierungen konstituiert werden und das „Gute“ und „Schlechte“ der aus den Affizierungen resultierenden Affekte sich perspektivisch ausdifferenzieren müssen. Diese ethische Haltung aus der Sicht eines queeren Men-

|| hombres…“ ([1929] 2016, S. 39) / „Nach dem Rhythmus könnte man die Menschen klassifizieren…“, meine Übersetzung). González’ Bejahung des Körpers im Gegensatz zur Prüderie der Kleriker könnte für Vallejo als Zugang zum spinozistischen Denken gedient haben. 19 „Jedes Ding strebt (conatur), soviel an ihm liegt, in seinem Sein zu verharren“ (Lehrs. 6, Teil III), (Spinoza, [1977] 1990, S. 273).

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schen, dessen Erfahrung des Begehrens offensichtlich nicht der Moral entsprechen kann, ist evident. Der queere Körper kann dem moralischen Modell nicht entsprechen, da er anders begehrt – das moralische Wesen des Menschen soll nämlich im Menschen realisiert werden, dies passiert aber nicht immer: C'est bien connu, l'essence de l'homme c'est d'être animal raisonnable. Aristote: L'homme est un animal raisonnable. […] C'est que l'essence de l'homme, en tant que telle, n'est pas nécessairement réalisée. Pourquoi? Parce que l'homme n'est pas raison pure, alors il y a des accidents, il ne cesse pas d'être détourné. (ebd.)

Die moralische Idee der Aufteilung der Welt in Wesen klassifiziert somit die Körper (in Tiere und Menschen, Pflanzen und Menschen, Männer und Frauen, Kinder und Erwachsene, Hetero- und Homosexuelle etc.) nicht in der Art und Weise, wie sie untereinander in der gegenseitigen Affizierung stehen, sondern wie sie sein sollen: Diese Oberflächenwirkungen des Transzendenten werden aus ethischer Sicht einer Kritik untergezogen und als Phantasmen bzw. Trugbilder erkannt.20 Die Phantasmen der Moral stellen eine Regel der Essenz auf und mit ihr eine Wertung – die Hierarchie zwischen dem Menschen und dem Tier beispielsweise –, die sie zu einem Gesetz proklamieren: Das Wesen des Menschen soll sich vom Wesen zum Akt realisieren, nämlich als ‚vernünftiges‘ Wesen. Das Gesetz wird zum zu realisierenden Phantasma, das seine Realisierung einfordert, und hier kommen wir zurück zu Vallejo, der gerade diesem stets flüchtigen Phantasmatischen im Ich poetisch Ausdruck verliehen hat („Mi vago yo, fugaz fantasma“): Vallejos Ich ist aber ungreifbar, flüchtig, inkonsistent. Daraus folgt, dass die ethische Praxis in einer Erkenntnis im aufklärerischen Sinne besteht, nämlich in der Kritik an der Irrealität der Moral, die sich zum universalen Gesetz und zur Ordnung erklärt: „Das Gesetz ist immer die transzendente Instanz, die den Gegensatz der Werte Gut-Böse bestimmt, doch die Erkenntnis ist das immanente Vermögen, das den qualitativen Unterschied der Existenzweisen Gut-Schlecht bestimmt“ (Deleuze, 1988, S. 36). Diese Erkenntnis erlaubt erstmal das Anders-

|| 20 Dies wird in Deleuze‘ Logik des Sinns als die ethisch-stoische Erkenntnis in der Kritik des Platonismus verstanden: dass das Ideelle als oberflächliche Wirkung und nicht mehr als unbegrenzte Tiefe verstanden wird: „Das Ideelle, das Unkörperliche können nur noch eine ‚Wirkung‘ sein. […] Das Unbegrenzte steigt wieder auf. Das Verrückt-Werden, das Unbegrenzt-Werden ist kein dröhnender Grund mehr, es steigt an die Oberfläche der Dinge und wird unerschütterlich. […] Die Trugbilder sind nicht länger diese unterirdischen Rebellen, sie bringen ihre Wirkung zur Geltung (was wir unabhängig von der stoizistischen Terminologie ‚Phantasmen‘ nennen könnten). Das Versteckteste ist das Offensichtlichste geworden […]“ ([1969] 1993, S. 23).

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Werden – und nicht bloß das Mensch-Werden – der Subjekte, indem die Grenzen der Formen, in denen das Subjekt durch die Moral gefesselt wird, porös werden: Die Abweichung wird somit initiiert. Der queere Gehalt dieses Verständnisses der Ethik wird dabei offensichtlich.21 In Anlehnung an Verena Andermatt Conley sehe ich in der deleuzianisch(-guattarischen) Perspektive auf die Homosexualität eine radikale Verqueerung: Sie fügt der Frage der Sexualität eine ontologische des Werdens hinzu und ermöglicht „becomings that go beyond normative [moralistic] couplings to invent new connections be it with humans, animals, vegetals or machines“ (2009, S. 25).22 In dieser Hinsicht ist das deuleuzianische Denken eher queer als homosexuell: „Homosexual struggles are associated with the margins and a becoming-minoritarian“ (ebd.). Die Identität verbleibt auf der moralischen Oberfläche und das, was sich ‚unterhalb‘ ereignet, ist ontologisch ein Werden des Subjektes, das diese oberflächlichen Ausdifferenzierungen als Effekte produziert und verschiebt.23 Wie im Bild des Flusses bei Vallejo oder jenes des Feuers bei Winkler drückt sich das Homosexuelle im deleuzianischen Denken vielmehr als minoritäre, queere und durchaus politische Schöpfungskraft24 aus, und genau darin besteht ihre ethischkritische Seite:

|| 21 Analog dazu kommt Jacques Derrida gegen Ende seines Aufsatzes La loi du genre (Das Gesetz der Gattung), in dem der Philosoph sich gerade mit diesem Gesetz der Ordnung der Arten auseinandersetzt, zu einer queeren Betrachtung dessen, was die ethische Erkenntnis der Affirmation eines Ichs zu einer Überschreitung der Gattungsgrenzen und somit zu einem Geschlechterwechsel führt. Diese Überschreitung wird als Zeugung, Schöpfung verstanden. In Bezug auf Maurice Blanchots La folie du jour bemerkt Derrida: „‚Ich‘ hält sich also die Möglichkeit offen, Frau zu werden oder das Geschlecht zu wechseln. Die Trans-Sexualität erlaubt es mir – und zwar in einem mehr als nur metaphorischen oder übertragenen Sinn – zu zeugen. ‚Ich‘ vermag Leben zu geben […]“ (1994, S. 276). 22 Verena Andermatt Conley hebt somit nicht nur die Relevanz Deleuzes und Guattaris in der Queer Theory, sondern auch die Betonung des queeren Monströsen hervor, die hier in meiner Analyse eine besondere Aufmerksamkeit erhält (V. A. Conley, 2009, S. 24). 23 „To become gay has to do first and foremost not with identity but with desire. […] He – in the case of Hocquengehm – is both gay and not gay. He is in a constant becoming that goes through desire“ (V. A. Conley, 2009, S. 26). 24 In Bezug auf Guy Hocquenghem schreibt Deleuze: „Hocquenghem begnügt sich damit, die Spezifizität und Irreduzibilität eines homosexuellen Wunsches [Begehrens] festzustellen, ein Sturm ohne Ziel noch Ursprung, eine Sache des Experimentierens und nicht der Interpretation. Homosexuell ist man nie in Funktion seiner Vergangenheit, sondern seiner Gegenwart, nachdem feststeht, daß die Kindheit bereits Gegenwart war, die auf keine Vergangenheit verwies. Denn der Wunsch [das Begehren] repräsentiert nie etwas, er verweist nicht auf etwas anderes im Hintergrund, auf eine familiale oder private Szene. Der Wunsch [das Begehren] arrangiert, er machiniert [sic!], er stellt Verbindungen her“ (Deleuze, [2002] 2003, S. 413).

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Weit davon entfernt, sich über ‚Demselben‘ zu schließen, wird sich die Homosexualität allen nur möglichen neuen Beziehungen öffnen, mikrologischen oder mikropsychischen, durchaus umkehrbaren, transversalen Beziehungen, mit ebenso vielen Geschlechtern, wie es Konstellationen gibt, die nicht einmal neue Beziehungen zwischen Männern und Frauen ausschließen […]. (Deleuze, [2002] 2003, S. 416)

Die radikale ethische Haltung des Homosexuellen ist dann das Queere an ihr: neue politisch-sexuelle Verbindungen in der (spinozistischen) Natur, auch mit den Tieren, herzustellen.25 Dies hängt mit einer deleuzianischen Idee zusammen, die seit dem Anfang seines Denkens in Nietzsche et la philosophie als grundlegend gilt: Die ethische Kritik ist schöpferisch, nicht reaktionär-passiv, sondern handelnd, daher ist es Ziel dieses Kapitels, genau die positive Seite der zornigen Religionskritik jenseits der Rache und des Ressentiments herauszulesen, nämlich in ihrer poetischen, d.h. poietischen Kraft.26 Besonders wichtig für das deleuzianische Verständnis der Ethik ist gerade die Bedeutung, die ihr als Ethologie bei Spinoza zukommt. Die Ethologie hat mit einem posthumanen Verständnis des Ethischen zu tun, d.h. mit dem Denken der Gemeinschaft der Seienden und nicht nur der Menschen. Sie wendet sich also gegen die Ethik als anthropozentrische Disziplin, indem sie sich in einem biologischen Feld verortet. Dabei bestätigt sich gerade die These Deleuzes, dass jedes philosophische Denken oppositionell sei, d.h. dass es sich immer gegen ein anderes Denken wendet,27 wie etwa das Ethische gegen die Moral oder auch

|| 25 Wenn man Susan Sontags Notes on ‘Camp‘ als eine Herausarbeitung queerer Ästhetik versteht, dann kann man diese Tradition des Camp als eine denken, die sich von einer moralistischen Empfindlichkeit verabschiedet: „The first sensibility, that of high culture, is basically moralistic. The second sensibility, that of extreme states of feeling, represented in much contemporary ‘avant-garde’ art, gains power by a tension between moral and aesthetic passion. The third, Camp, is wholly aesthetic“ ([1961] 2018, S. 24) und später: „Homosexuals have pinned their integration into society on promoting the aesthetic sense. Camp is a solvent of morality. It neutralizes moral indignation, sponsors playfulness“ (ebd. 31). 26 „L’élément différentiel n’est pas critique de la valeur des valeurs, sans être aussi l’élément positif d’une creation. C’est pourquoi la critique n’est jamais conçue par Nietzsche comme réaction, mais comme une action. Nietzsche oppose l’activité de la critique à la vengeance, à la rancune ou au ressentiment“ (Deleuze, 1970, S. 24). 27 Man kann Gilles Deleuzes Denken nicht ohne die antiplatonische Position seiner Philosophie verstehen. Dabei sind vielleicht auch andere Denker wichtig (wie Wittgenstein oder Hegel), gegen die er sich wendet. Deleuze bezieht sich aber auf diese Gegenbewegung des Denkens bereits in seiner frühen Schrift in Bezug auf Nietzsche: „C’est l’ensemble de la philosophie de Nietzsche qui reste abstraite et peu compréhensible, si l’on ne découvre pas contre qui elle est dirigée. Or, la question ‘contre qui‘ fait elle-même appel à plusieurs réponses. […] L’anti-

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das Tierische gegen das Anthropozentrische. Die Ethologie stammt ursprünglich aus dem Bereich der Biologie und ihrer Auseinandersetzung mit allen Lebewesen und befasst sich mit dem Vermögen oder Nicht-Vermögen eines Körpers, diesen zu definieren: Derartige Studien, die die Körper, Tiere und Menschen durch Affekte, deren sie fähig sind, definieren, haben das begründet, was man heute Ethologie nennt. […] Spinozas Ethik hat nichts zu tun mit einer Moral, er begreift sie als Ethologie, d.h. als eine Zusammensetzung von Schnelligkeiten und Langsamkeiten, Vermögen zu affizieren und affiziert zu werden, nach diesem Immanenzplan. (Deleuze, 1988, S. 162)

In dieser Hinsicht bewegt sich das ethische Denken jenseits eines humanistischen Verständnisses der Gemeinschaft und versteht den Menschen als Teil eines größeren Zusammenhangs: der Natur bzw. der Substanz. Dieses Denken begreift alle kategorialen und gattungsspezifischen Unterscheidungen als Effekte an der Oberfläche, Phantasmen, die zur Reaktion (Achtung des moralischen, anthropozentrischen Gesetzes) und nicht zur kreativen, reflexiven Aktion der Ethik führen. Nicht umsonst wird gerade die Kunst von Gilles Deleuze und Félix Guattari als Nicht-Mensch-Werden verstanden, da diese am ethischen Denken teilnimmt.28 Félix Guattari hat in seinem Buch Les trois écologies (1989) das ethische Denken mit der Ausformulierung eines neuen Subjektivitätsverständnisses weiterentwickelt, das im Kontext des ökologischen Denkens der 1980er Jahre

|| hegélianisme tarverse l’œuvre de Nietzsche, comme le fil de l’agressivité. Nous pouvons le suivre déjà dans la théorie des forces“ (1970, S. 9). Es geht um eine Grundannahme immanentistischer Philosophie, die Philosophie durch den Affekt- und Kraft-Begriff als Seiendes und daher als Differenzielles zu verstehen: Sein Denken versteht sich ebenfalls bereits, wie bei Spinoza und Nietzsche, als Kampf gegen das religiöse Denken. 28 In der guattarisch-deleuzianischen Erfassung der Kunst mit den zwei Begriffen des „Affektes“ und des „Perzeptes“ im Buch Was ist Philosophie? geht es um ein Kunstverständnis jenseits des Menschen: „Sie [die Affekte und Perzepte] sind, so könnte man sagen, in der Abwesenheit des Menschen, weil der Mensch, so wie er im Stein, auf der Leinwand oder im Verlauf der Wörter gefaßt wird, selbst eine Zusammensetzung, ein Komplex aus Perzepten und Affekten ist. […] Die Affekte sind genau jenes Nicht-menschlich-Werden des Menschen, wie die Perzepte (einschließlich der Stadt) die nicht-menschlichen Landschaften der Natur sind. […] Man ist nicht in der Welt, man wird mit der Welt, man wird in ihrer Betrachtung. Alles ist Schauen, Werden. Man wird Universum. Tier-Werden, Pflanze-Werden, Molekular-Werden, Null werden“ (Deleuze & Guattari, [1991] 2000, S. 192–199).

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eine wichtige Rolle spielte.29 Bei Guattari geht es um eine „ethisch-politische Zielrichtung“ ([1989] 1994, S. 22) gegen den „Implosionsvorgang“ (ebd. 12) der neoliberalen Gesellschaft der Zeit, die sowohl einer sozialen als auch einer mentalen Ökosophie bedürfe. Damit ist eine „Neufindung von Lebensweisen“ (ebd. 22) und eine Neuauffassung der „Mysterien von Leben und Tod“ (ebd. 23) gemeint. Wichtig bei meiner Analyse ist die Betonung der grundlegenden Beziehung zwischen Politik, Denken und Leben, die im Rahmen queeren Schreibens eine besondere Wirkung erhält:30 Guattari plädiert für eine Re-Evaluierung der in der Vergangenheit begründeten, neoliberalen Paradigmen und eine in einer „Verpflichtung in Richtung auf die Zukunft“ (ebd. 28) stehenden, neuen ökologisch-ethischen Denkweise. Die Ausrichtung auf die Zukunft – die unten in Bezug auf die Beleidigung näher thematisiert wird – ist in der guattarischethischen Auffassung des Menschen als kosmischer Körper zu lesen, der in einem notwendigen Kosmos-Werden verstanden werden soll: Damit meine ich die Entfaltung oder, wenn man so will, die Auseinanderfaltung von animalischem Werden, von pflanzlichem und kosmischem wie auch von maschinenhaftem Werden, als Korrelate zur Beschleunigung in den technologischen und informatischen Revolutionen. (ebd. 29)

Ausgehend von dieser philosophisch-ethischen Perspektive kann man in der Zoopoetik Josef Winklers und Fernando Vallejos eine ethische Praxis wiederfinden, die im nächsten Unterkapitel behandelt wird.31

|| 29 Rosi Braidotti versteht die 1980er-Jahre als Ursprungskontext ihrer „posthuman sensibility“, der mit einem sogenannten „ethical turn“ einhergeht: „Reflections on humanism – Western and non-Western – on posthumanism and post-anthropocentrism increased not only within philosophy, contributing to the so-called ‘ethical turn’, but also in trans-disciplinary areas, or studies, like gender, queer, transnational, postcolonial and environmental studies. […] The relational ontology of the neo-materialist branch of poststructuralism, notably the creative neo-Spinozism of Deleuze, triggers and sustains the posthuman elements of our contemporary condition“ (Braidotti, 2018, S. 27). 30 Bei Guattari geht es um die Herausarbeitung von neuen „ethisch-ästhetisch inspirierte[n] Paradigmen“ ([1989] 1994, S. 26), in der die Rolle des Literarischen hervorgehoben wird. 31 Genau in dieser Konfrontation mit dem Anthropozentrismus ist die planetarische Perspektive wichtig, die in der Thematisierung der Globalisierung vor allem im späten Werk Winklers implizit ist: Daffner versucht in ihrem Artikel die „questions of ethical imperatives of self and other“ (2011, S. 37) in der Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Kulturen im Werk Winklers zu analysieren. Die zoopoetische Erweiterung des Anthropozentrismus ist, wie die Erweiterung der Perspektive einer nationalen Kultur, Teil einer solchen konfrontativen ethischen Poetik.

Einführung: Deleuze und Spinoza | 163

Das ethische Denken als ein Denken gegen die Moral ist genau jene Position, die ich hier im Frühwerk Vallejos und Winklers herauslese, und dies in vielfacher Hinsicht: in ihrer oppositionellen, kritischen Haltung zum Katholizismus, aber auch in ihrer impliziten Zoopoetik bzw. Kritik des Anthropozentrismus und der Biopolitik. Darüber hinaus äußert sich diese ethische Kritik in einer sprachlichen Praxis der Beleidigung, die zum Einsatz kommt, um das Oppositionell-Affektive der Sprache, aber auch das Differenzieren32 zu verstärken.33 Das Differenzieren bzw. Nicht-Differenzieren, das Differenz-Denken kategorialer Unterscheidungen wie „schön“ und „hässlich“, aber auch „gut“ und „böse“ bzw. „moralisch“ und „unmoralisch“ spielt in der Betrachtung monströser Formen eine sehr wichtige Rolle.34

|| 32 Gianluca Rizo bezieht sich auf eine literarische Strategie der Beleidigung, die er als Divisiveness bezeichnet (2016, S. 12–13), somit lässt er ihren produktiven Moment außer Acht, der unten dargestellt wird. 33 Anke Birkenmaier hat bereits die verblüffende Nähe zwischen dem Denken Vallejos und Friedrich Nietzsches hervorgehoben (2010, S. 167ff), und Juanita Cristina Aristizábal (2012) sieht diese Nähe in Vallejos produktiver Rezeption des kolumbianischen Schriftstellers José María Vargas Vila aus dem 19. Jahrhundert. In der Tat ist Nietzsches Denken eine Zwischenstufe im immanentistischen Denken zwischen Spinoza und Deleuze: Friedrich Nietzsches Der Antichrist. Versuch einer Kritik des Christentums (1895) scheint in dieser Hinsicht paradigmatisch zu bleiben. Seine ethische Kritik an der Religion und ihrer Moral steht einer Zoo- und einer Beleidigungspoetik nahe und wird hier im Rahmen meiner Analyse als misanthropischer, ethischer Wegweiser verstanden: „Wir leiten den Menschen nicht mehr vom ‚Geist‘, von der ‚Gottheit‘ ab, wir haben ihn unter die Tiere zurückgestellt. Er gilt uns als das stärkste Tier, weil er das listigste ist: eine Folge davon ist seine Geistigkeit. […] [D]er Mensch ist, relativ genommen, das mißratenste Tier, das krankhafteste, das von seinen Instinkten am gefährlichsten abgeirrte – freilich, mit alle dem, auch das interessanteste – […]“ (1986, S. 26). Nietzsche kritisiert am Christentum seinen impliziten, trügerischen Anthropozentrismus: „Weder die Moral noch die Religion berührt sich im Christentume mit irgendeinem Punkte der Wirklichkeit. […] [E]ine imaginäre Naturwissenschaft (anthropozentrisch; völliger Mangel des Begriffs der natürlichen Ursachen) […] – jede ganze Fiktions-Welt hat ihre Wurzel im Haß gegen das Natürliche (– die Wirklichkeit! –), sie ist der Ausdruck eines tiefen Mißbehagens am Wirklichen …“ (ebd. 28). In der Auflistung des Imaginären der Moral und ihrer Vertuschungen des Wirklichen und des Lebens bereitete Nietzsche den Weg für eine diskursanalytische Auseinandersetzung mit der Religion, die später in den genealogischen Analysen Foucaults zur Herausarbeitung einer Biopolitik der christlichen Zivilisation führte ([1977] 1983, S. 131ff). Die lustvolle Aufhebung der biopolitischen Moral findet sich bereits bei Nietzsche in einer Zoopoetik, die im 20. Jahrhundert eine lange und bis heute anhaltende Tradition entfaltete. 34 „Von daher ist die Rede über monströse Körper auf einen nicht unbedingt nur ästhetischen, auf jeden Fall aber differenzbildenden Gegenpol angewiesen, d.h. sie muss stets in solchen Oppositionspaaren wie ‚schön‘ versus ‚hässlich‘, ‚natürlich‘ versus ‚unnatürlich‘, ‚menschlich‘

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Der Bezug auf das Ethische im spinozistischen Sinne erlaubt eine Perspektive, die das Affektive und Körperliche (ausgehend vom Parallelismus Spinozas) als Teil des Denkens hervorhebt. Diese ethische Betrachtung jenseits von Gut und Böse zielt auf eine ausgewogene Produktivität und nicht Unterdrückung des Affektiven als unleugbaren Teil des Menschen. Insofern liegt es auf der Hand, dass die poetische Auseinandersetzung mit dem Tierischen des Menschen im Rahmen dieses Ethikverständnisses gedacht werden kann, vor allem im Kontext emergenter ökologischer Diskurse. Der Begriff der Zoopoetik, der im nächsten Unterkapitel behandelt wird und nicht direkt von Deleuze stammt, weist viele Ähnlichkeiten mit dem Ethik-Verständnis des französischen Philosophen auf.

2.2 Zoopoetik: Kritik der Biopolitik Sowohl im Spanischen als auch im Deutschen wird in der Umgangssprache häufig die Bezeichnung eines Menschen als Tier als Beleidigung genutzt (z.B. „Du Schwein!“, „Dumme Kuh!“, „¡Perra!“, „¡Rata!“, etc.). Somit stützt sich die Beleidigung auf die Behauptung einer nicht sauberen Grenzziehung in der Naturgattung des Beleidigten, nämlich jene zwischen zwei Arten, Mensch und Tier. Diese Beleidigung gründet auf der behaupteten, perversen Auflösung der Gattungsgrenzen oder auf der nicht-identifizierbaren Gattung des Beleidigten, in der Behauptung seiner monströsen Natur bzw. seines Verhaltens: Der Beleidigte wird als Tier bezeichnet. In der Poetik der Beleidigungen Vallejos und Winklers wird diese triviale Art der Beleidigung nicht praktiziert, sie greift jedoch darauf zurück und wertet sie um: Die Beleidigungspoetik wird als ethische Kritik wirksam, indem sie mit einer queeren Zoopoetik der Autoren korreliert, die die Grenze zwischen Mensch und Tier in Frage stellt. Somit zielt sie darauf, eine andere Instanz zu beleidigen bzw. zu verletzen: die Biopolitik, ihre Klassifikation von Lebensarten und ihre Verteilung moralischer Wertigkeit zwischen diesen. Die Nutzung der Tiere als Mittel der Beleidigung in unserer Kultur wird von den Autoren in Bezug zum moralischen Minderwert der Tiere gesetzt, so dass sich die Beleidigung in ihrer Verkehrung am Ende gegen den Menschen im Allgemeinen richtet. In Vallejos Rede anlässlich der Verleihung des RómuloGallego-Preises kritisiert der Autor die beleidigende Sprache gegen die Tiere in

|| versus ‚tierisch‘, ‚moralisch‘ versus ‚unmoralisch‘, ‚dämonisch‘ versus ‚heilig‘ oder ‚gesetzlich‘ versus ‚nicht-gesetzlich‘ verhandelt werden“ (Parr, 2015, S. 20).

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der Bibel, indem er genau diese Sprache mit den Taten gegen die Tiere in Verbindung setzt: A mí los que me duelen son los animales. A ver, ¿cuántos hay en los Evangelios? Hay una piara de cerdos donde dizque se metió el demonio. Un camello que no pasará por el ojo de una aguja. Una culebra símbolo del mal. Y un burrito, en el que venía Cristo montado el domingo de ramos cuando entró en triunfo a Jerusalén. […] ¡Cómo va a estar metido el demonio en un cerdo, que es un animal inocente! A los cerdos, en Colombia, en Navidad, los acuchillamos para celebrar el nacimiento del Niño Dios. Todavía me siguen resonando en los oídos sus aullidos de dolor que oí de niño. El demonio sólo cabe en el alma del hombre. ¿No se dio cuenta Cristo de que él tenía dos ojos como los cerdos, como los camellos, como las culebras y como los burros? Pues detrás de esos dos ojos de los cerdos, de los camellos, de las culebras y de los burros también hay un alma ([2013] 2015, S. 60)35

Die missachtende und abwertende Rede über die Tiere geht, gemäß Vallejo, einher mit einer mörderischen Maschinerie der Vernichtung der Tiere und legitimiert diese. Die Bedeutung der Tiere im Werke Vallejos und Winklers wurde bereits in der Sekundärliteratur festgestellt, wenn auch nicht ausführlich behandelt.36 Hier soll gezeigt werden, dass mittels des Bezuges auf die Tiere im Werk beider Autoren eine antimoralische, ethische Monstrosität in Szene gesetzt wird, die eine andere Form der Kritik bedeutet: Sie versucht, die differenzierenden Pro-

|| 35 „Es sind die Tiere, die mir wehtun. Schauen wir mal, wie viele Tiere es in den Evangelien gibt. Es gibt eine Schweineherde, in die sich angeblich der Teufel mischte. Ein Kamel, das nicht durch ein Nadelöhr passen wird. Eine Schlange, Symbol des Bösen. Und ein Eselchen, auf dem Jesus am Palmsonntag triumphierend in Jerusalem einzog. […] Wie kann der Teufel in einem Schwein stecken, das ein unschuldiges Tier ist! Die Schweine werden von uns in Kolumbien zu Weihnachten erstochen, um die Geburt des Gotteskindes zu feiern. Das Schmerzgeheul, das ich als Kind hörte, hallt in meinen Ohren weiter nach. Der Teufel passt nur in die Seele des Menschen. Merkte Jesus nicht, dass er auch zwei Augen hatte wie die Schweine, wie die Kamele, wie die Schlangen und wie die Esel? Denn hinter diesen zwei Augen der Schweine, der Kamele, der Schlangen und der Esel verbirgt sich auch eine Seele“ (meine Übersetzung). 36 In Bezug auf Winkler wurden diesem Thema nur wenige Texte gewidmet: etwa Irod 2018 oder Lange & Lessmann 2014, wo die Symbolik des Vogels in den Motiven der Literaturtradition und ihr theoretischer, psychoanalytischer Gehalt analysiert wird. Noch weniger ausführlich wurde dieser Frage bis jetzt in der Vallejo-Forschung nachgegangen: Megumi Andrade hat in ihrem Artikel zur Figur des Hundes die ethische Verteidigung des Tierischen im Werk des Autors zusammengefasst, die hier bezüglich des Vallejo‘schen Begriffs des Prójimo besprochen wird (2014).

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zesse des Ein- und Ausschließens der Biopolitik (Agamben)37 und ihre Klassifizierung in ein wertvolles und wertloses Leben (Giorgi) zu hinterfragen. Mit dem in der Literatur intendierten Tier-Werden (Deleuze/Guattari) wird eine Erweiterung des Lebensbegriffes bezweckt, in dessen Rahmen die misanthropischen Aussagen, eine Ästhetik des Zornes und die Rhetorik der Beleidigung zu situieren sind:38 Das Leben wird nicht bloß als anthropologisches, sondern als Leben im weitesten, spinozistischen Sinne, als Körperleben verstanden. In erster Linie geht es aber bei Vallejo und Winkler um eine ethische Kritik des Anthropozentrismus in Form einer Misanthropie39, die den Menschen aus dem Zentrum entfernt und somit „das Unmenschliche oder das Anhumane, die Enden des Menschen […], das heißt das Überschreiten der Grenzen“ (Derrida, 2010, S. 32) poetisch mittels der grenzüberschreitenden, ja gewalttätigen Beleidigung zu enthüllen versucht. Der Mensch wird nicht als subjektiviertes Individuum in

|| 37 Diese Techniken der Aus- und Einschließung werden bei Giorgio Agamben im Begriff des Paradoxons der Souveränität gefasst: „Tatsächlich ist der Verbannte ja nicht einfach außerhalb des Gesetzes gestellt und von diesem unbeachtet gelassen, sondern von ihm verlassen [abbandonato], das heißt ausgestellt und ausgesetzt auf der Schwelle, wo Leben und Recht, Außen und Innen verschwimmen. […] Deshalb kann auch das Paradox der Souveränität die Form annehmen: ‚Es gibt kein Außerhalb des Gesetzes‘. Die originäre Beziehung des Gesetzes mit dem Leben ist nicht die Anwendung, sondern die Verlassenheit [l’Abbandono]“ ([1995] 2002, S. 39). Für Agamben ist das Menschliche nur in dieser Ausschließung des Tierischen denkbar, es kommt nur in der Opposition bzw. in der Unterdrückung des inneren Tieres eine Menschheit zum Ausdruck, als grundlegendes politisches Problem der westlichen Gesellschaft: „Nur weil so etwas wie das animalische Leben im Innern des Menschen abgetrennt worden ist, nur weil Distanz und Nähe zum Tier im Innersten und Unmittelbarsten ermessen und erkannt worden ist, ist es möglich, den Menschen den anderen Lebewesen entgegenzusetzen und zugleich die komplexe – und nicht immer erbauliche – Ökonomie der Beziehungen zwischen Menschen und Tieren zu organisieren. […] Diese Teilungen zu untersuchen, sich zu fragen, auf welche Weise der Mensch – im Menschen – vom Nichtmenschen und das Animalische vom Humanen abgetrennt worden ist, drängt mehr, als zu den großen Fragen, den sogenannten menschlichen Werten und Menschenrechten, Stellung zu beziehen. Und womöglich hängt auch die lichtvollste Sphäre der Beziehungen mit dem Göttlichen in irgendeiner Weise von jener Sphäre – der dunkelsten – ab, die uns vom Tier trennt“ (Agamben, [2002] 2003, S. 26). Das Zoopoetische setzt genau an dieser Stelle, an diesem Zwiespalt des Menschen an, um diese Trennung zu reevaluieren und zu problematisieren. 38 Johannes Lehmann ist hier von Interesse, da er sich auf das Affektive des Zornes innerhalb eines Diskurses der Verwandlungen in Tiere oder der Analogie mit der Bestialität bezieht (2012, S. 24–25). Der Zorn als grundlegender Affekt des oder der Beleidigenden steht gemäß dieser Lektüre kulturhistorisch in Verbindung mit der Zoopoetik. 39 Gemäß Manuel Alberca tendiert das neue autobiographische Subjekt der Postmoderne zur Misanthropie. Jenseits einer Heldenfigur ist das autobiographische Subjekt eine elende, einsame Gestalt, die seine Intimität narzisstisch darstellt (2007, S. 24).

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seinem von Gott gegebenen freien Willen gefasst, sondern als ein Leben im spinozistischen Sinne, das im differenzialen Gefüge einer ganzen Natur gedacht wird. Der Begriff „Zoopoetik“ wird Jacques Derrida zugeschrieben: In seinem Buch L’animal que donc je suis (2006) führt er diesen Begriff in Bezug auf Kafkas „immense Zoopoetik“ ein (2010, S. 23). Wichtig für meine Untersuchung ist, dass dieser Begriff im Rahmen der Thematisierung eines „Instinkt[s] des autobiographischen Tiers“ (ebd. 18) verwendet wird. Die ethische Überlegung zur autobiographischen Frage „Wer bin ich?“, die eine Entblößung oder ein Nackt-Werden impliziert, scheint zur zoopoetischen Annahme des Tierischen des Selbst, der Überschreitung einer Grenze der menschlichen Moral zu führen.40 Die Entblößung des Tierischen im Menschen beinhaltet bei Derrida auch einen Moment der Anti-Moral: Die Nacktheit der Tiere hat mit einer fehlenden Moral, d.h. den fehlenden Werten des Guten und des Bösen zu tun.41 Die Kritik der Moral, die die Zoopoetik präsentiert, führt zurück zum eigenen Körper und somit zur (autobiographischen) Selbstreflexion oder -betrachtung. Sie wendet sich jedoch auch gegen eine rationalistische Tradition der Wissenschaft und der Philosophie, die „aus dem Tier ein Theorem machten“ (ebd. 36), ja gegen eine argumentative Rhetorik (die nicht jene der Beleidigung ist), die das Tier als „etwas Gesehenes und nicht Sehendes“ (ebd. 36) begreift. Es geht um jenen anthropozentrischen Diskurs, der nicht zur autoreflexiven, autobiographischen Frage führt, die aus der Konfrontation mit dem vom Tier (dem absolut Anderen und Nächsten) ausgehenden Blick folgt: „Wer bin ich?“. Die escrituras del yo, die hier untersucht werden, stellen sich genau dieser Frage. Gabriel Giorgi, der sich explizit auf Vallejo bezieht, verortet die „escrituras del yo“ (Schreiben des Ichs) – eine Kritikform, die in der Gegenwartskultur am produktivsten sei – im Rahmen dieses kritischen Denkens, das sich auf die Biopolitik richtet und das Tierische als eine kritische Praxis „de lo íntimo y lo autobiográfico en las prácticas estéticas“ (2014, S. 37) einsetzt.42

|| 40 „Indem ich die Grenzen oder die Ende/Ziele/Zwecke des Menschen überschreite, begebe ich mich zum/ ergebe ich mich dem Tier […]: zum/dem Tier an sich […], dem Tier in mir […] und dem Tier, das um sich selbst verlegen ist […], jenem Menschen, von dem Nietzsche […] ungefähr sagte, daß er noch ein unbestimmtes Tier sei, ein Tier, dem es an sich selbst mangelt“ (Derrida, 2010, S. 20). 41 „[D]as Eigene der Tiere [besteht] […] darin […], nackt zu sein, ohne es zu wissen. Also nicht nackt zu sein, kein Wissen von ihrer Nacktheit, im Grunde genommen kein Bewusstsein von Gut und Böse […] zu haben“ (Derrida, 2010, S. 22). 42 „[…] des Intimen und des Autobiographischen in den ästhetischen Praktiken“ (meine Übersetzung). Mit Giorgio Agamben gedacht, macht gerade die biopolitische Strategie der

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Giorgi diagnostiziert eine Änderung in der zuvor peripheren Platzierung des Tierischen in den neueren ästhetischen Ausdrucksformen Lateinamerikas, zu denen die o.g. escrituras del yo gerechnet werden sollen.43 Das Tier ist nicht mehr in einem Außen, sondern es wird in den intimen Raum (wie jenen der Nacktheit) gerückt. In derselben Denklinie Giorgio Agambens wird die Trennung von bíos und zōé somit problematisiert,44 und darin liegt die politische Kraft dieser Mensch-Tier-Annäherung bzw. dieses menschlichen Tier-Werdens. Der „mecanismo organizador de cuerpos y de sentidos“ (ebd. 12)45 wird in Unordnung gebracht, und damit die „ornamientos de cuerpos, territorios, sentidos y gramáticas de lo visible y de lo sensible que se jugaron al rededor de la oposición entre animal/humano“ (ebd. 12)46. Die klassische lateinamerikanische diskursive Trennung zwischen „civilización y barbarie“ (Sarmiento) wird porös und lässt somit den Menschen zu „el salvaje, el bárbaro y el indisciplinado“ (ebd. 11)47 werden. Die „zona de interrogación ética“ (ebd. 12)48, die hier in der Zoopoetik eröffnet wird, hat daher mit einer Re-Evaluierung zu tun, die der ethisch-kritischen Praxis zugerechnet werden soll: Es handelt sich um eine undisziplinierte, rebellische, subversive Praxis, das Leben der Tiere zum radikalen, intimen Anderen, dem ‚Nächsten‘ zu erklären, und somit den epistemologischen Raum des Lebens zu erweitern. Giorgi versteht auch diese zoopoetische Strategie als eine, die den „signo de lo queer“ (ebd. 12 / „Queerzeichen“) trägt, vor allem in Bezug auf den bereits kanonischen queeren Roman El beso de la

|| Ausdifferenzierung zwischen Leben und nacktem (animalischen) Leben den Menschen sowohl zum Opferungs- als auch Schutzobjekt, ja zu einem verletzlichen Wesen, indem er verlassen bzw. ausgeschlossen wird. Der politische Bezug auf dieses Leben konstituiert somit die moderne Politik: „Foucault zufolge liegt die ‚biologische Modernitätsschwelle einer Gesellschaft‘ dort, wo die Gattung und das Individuum als einfacher lebender Körper zum Einsatz ihrer politischen Strategie werden. […] Daraus ergibt sich eine gewisse Animalisierung des Menschen, die durch die ausgeklügelsten politischen Techniken ins Werk gesetzt wird. Gleichzeitig mit der Ausbreitung der Möglichkeiten der Human- und Sozialwissenschaften entsteht nun auch die Möglichkeit, das Leben sowohl zu schützen wie auch seinen Holocaust zu autorisieren“ (Agamben [1995] 2002, S. 13). 43 Siehe Giorgi, 2014, S. 12. 44 Siehe Agamben, [1995] 2002, S. 11ff. 45 „[…] regulierender Mechanismus der Sinne und Körper“ (meine Übersetzung). 46 „Ornamente von Körpern, Territorien, Sinngebungen und Grammatiken des Sichtbaren und des Fühlbaren, die um die Tier/Mensch-Opposition herum ins Spiel kommen“ (meine Übersetzung). 47 „[…] dem Wilden, dem Barbaren, dem Undisziplinierten“ (meine Übersetzung). 48 „Zone der ethischen Infragestellung“ (meine Übersetzung).

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mujer araña (1976) von Manuel Puig:49 Das Monströse als queere Figur – in einer Ununterscheidbarkeitszone zwischen Mensch und Tier („die Spinnenfrau“) – ist bereits im Titel von Puigs Roman enthalten.50 In der Ambivalenz der literarischen Figuren zwischen Tier und Mensch, mit denen Giorgi sich beschäftigt, wird in erster Linie die Biopolitik und die Art und Weise kritisiert, „[en la que] nuestras sociedades trazan distinciones entre vidas a proteger y vidas a abandonar“ (ebd. 15)51. Bei der zoopoetischen Bejahung des Tierischen wird zugleich ein ökologischer Gestus evident: Es geht um die Kritik einer anthropozentrischen Moral, deren Ursprung Vallejo und Winkler explizit im Katholizismus verorten. Der ökologische Gestus äußert sich auch in der Erkenntnis einer Verletzlichkeit („vulnerability“), die Anat Pick ins Zentrum ihrer bereits als Referenz anerkannten, zoopoetischen Überlegungen stellt.52 Es geht bei Pick um eine ethische Erweiterung („extensionism“) der moralischen Konventionen, die sich aus der Re-Evaluierung der Unterscheidung zwischen Mensch und Tier ergibt. Für Pick, die von einer Lektüre Simone Weils ausgeht, ruft das verletzliche Wesen nach einer ontologisch-affektiven, notwendigen Liebe („love“) oder Aufmerksamkeit („attention“) des Anderen.53 Diese Aufmerksamkeit resultiert vor allem aus der prekären Verletzlichkeit der Tiere oder nicht-menschlichen Wesen, wie sie heute real ist: eine Beschäftigung mit der anderen Seite der Menschheit und ihrer Moral, die bei Vallejos Begriff des ‚Nächsten‘ eine wesentliche Rolle spielt: „To speak of animals‘ vulnerability in this context is to draw attention to their outstanding position in the judicial, political, and moral orders“ (2011, S. 15). Diese andere ethische Lage – die meistens in den Künsten oder creaturely poetics zum Ausdruck kommt – steht universalistischontologisch jenseits der kategorialen Unterscheidungen der Gattungen und insofern nah an der spinozistischen Prämisse des Ethischen. In der ReEvaluierung der Grenze zwischen Tier und Mensch wird eine religiöse Prämisse in Frage gestellt, da die zoopoetische kritisch-ethische Perspektive, so Pick,

|| 49 Siehe Giorgi, 2014, S. 14. 50 Gleich im ersten Satz des Romans wird das queere Element eingeführt: „A ella se le ve que algo raro tiene […]“ (Puig 1986, 10, meine Hervorhebung) / „Ihr sieht man an, dass sie etwas Komisches hat […]“ (meine Übersetzung). Das Komische bzw. Queere am Anfang bezieht sich auf eine Mischung zwischen Tier und Mensch. 51 „[…] auf die unsere Gesellschaften Unterschiede zwischen schützenswertem Leben und aussetzbarem Leben markieren“ (meine Übersetzung). 52 „[S]ince the relationship between vulnerability, existence, and beauty necessarily applies across the species divide and so delivers us beyond the domain of the human“ (Pick, 2011, S. 3). 53 Vgl. Pick, 2011, S. 5.

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postsäkular sei: „The materialist perspective I have been proposing […] carries within it (as inflection, as horizon) an opening unto a religious vocabulary of creation and created, and so attempts a rapprochement between the material and the sacred“ (ebd. 17). Ausgehend von den von Agamben herausgearbeiteten Ein- und Ausschließungstechniken der Biopolitik zwischen bare life und life, endet ihre Betrachtung über die creaturely poetics mit den Begriffen von martyrdom and animal saintliness: Die Tiere als nacktes Leben in den Fokus zu nehmen, bedeutet eine materialistisch-immanente und ethische Betrachtung der Realität jenseits einer vertikalen transzendenten Wertskala der menschlichreligiösen Moral vorzunehmen. Diese ethische Aufmerksamkeit auf das ausgeschlossene Leben ist eine ontologische, die alle Körper in Betracht zieht, in einem spinozistischen Sinne: A creaturely ethics‘ […] source lies in the recognition of the materiality and vulnerability of all living bodies, whether human or not, and in the absolute primacy of obligations over rights […], [it] does not ask, What are the limits of rights? but, What are the limits of attention? (ebd. 193)

Die wichtigste subversive, zoopoetische Umkehrung der christlichen Moral bei Vallejo ist jene, die den Begriff des Nächsten („prójimo“) betrifft: Wiederholt verteidigt Vallejo in seiner Autobiographie, aber auch in seinem ganzen Werk, die These, dass der christliche Begriff des zu liebenden Nächsten semantisch viel weniger als sein persönlicher Begriff des Nächsten umfasst. In Peroratas findet man folgende Äußerung: Porque mi prójimo es mucho más amplio que el que creyó Cristo. Mi prójimo es todo el que tiene un sistema para sentir y sufrir, camine o no camine en dos patas. Todo el que nazca condenado al dolor, al espanto sin sentido de la vida: los perros, los caballos, las ballenas, los delfines, las vacas, las ratas… Mis hermanos los perros, mis hermanos los caballos, mis hermanas las ballenas, mis hermanos los delfines, mis hermanas las vacas, mis hermanas las ratas. Esos seres inocentes que llamamos animales y a los que esta Iglesia loca de Cristo les quiere negar el alma ([2013] 2015, S. 21–22)54

|| 54 „Weil mein Nächster viel weiter gefasst ist als derjenige, an den Christus glaubte. Mein Nächster ist alles, was ein System hat, um zu fühlen und leiden, egal ob es auf zwei Beinen geht oder nicht. Alles, was zum Schmerz, zur sinnlosen Angst des Lebens verdammt auf die Welt kommt: die Hunde, die Pferde, die Wale, die Delphine, die Kühe, die Ratten. Meine Brüder die Hunde, meine Brüder die Pferde, meine Brüder die Wale, meine Brüder die Delphine, meine Schwestern die Kühe, meine Schwestern die Ratten. Jene unschuldigen Wesen, die wir Tiere

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In der Verteidigung einer breiteren, umfassenderen Liebe, einer zoopoetischen Liebe, untergräbt Vallejo Jesus‘ Autorität, indem er hier eine Korrektur der christlichen Liebeslehre beansprucht. Dies wird explizit, indem sich Vallejo als Prophet eines weit gefassten Begriffs von Liebe versteht. Sein Liebesbegriff ist aber eine materialistische Umformulierung des christlichen (in der Betonung des Körperlichen, des Leidens), d.h. er behält eine Referenz auf den Katholizismus (die Liebeslehre) bei und bleibt daher ambivalent, zwischen Bejahung und Verneinung: Yo lo único que sé del amor es que está ahí, como la luz, como la gravedad, como una infinidad de fenómenos y cosas que me rodean y no entiendo. […] Pero en fin, entre tantas maldiciones lo que a mí me salva es que quiero a los animales. Por eso digo y repito a donde voy que, como dijo cierto loco [Jesús], quien los quiere está conmigo y quien no los quiere está contra mí. (ebd. 22)55

|| nennen, und denen diese verrückte Kirche von Christus die Seele absprechen möchte“ (meine Übersetzung). Interessant an diesem Punkt ist die Position Vallejos zum heiligen Franz von Assisi, der als Freund der Naturwesen im ganzen Heiligenkanon bekannt ist: In der späteren Schrift gegen und über den Katholizismus, La puta de Babilonia, bezieht sich Vallejo auf Franziskus, indem er dem Heiligen einen guten Willen zugesteht, jedoch die Verschriftlichung seiner Idee der Brüderlichkeit aller Lebewesen als gescheitert bezeichnet: „En su Cántico de las creaturas, que escribió en 1225, llama ‘hermanos‘ a los gorriones, los asnos, los lobos y otros animales, pero resulta que en su Cántico al hermano Sol, escrito poco antes, llama también ‘hermanos y hermanas‘ al Sol, la Luna, el viento, el agua y el fuego. Considerar hermanos nuestros a los animales habría sido toda una revolución en la limitada y mezquina religión de Cristo, […] si Francisco no hubiera extendido la hermandad a los seres inanimados, que no siente, e incluso a las enfermedades y a la muerte. ¡Cómo va a ser la Luna, un planeta inerte, nuestra hermana! Eso ya no es una nueva moral sino verborrea melosa de hippie marihuano“ ([2007] 2016, S. 291). / „In seinen Laudes Creaturarum, die er im Jahr 1225 schrieb, nennt er die Spatzen, die Esel, die Wölfe und andere Tiere ‚Brüder‘, es ist jedoch so, dass er in seinem Sonnengesang, den er kurz davor schrieb, die Sonne, den Mond, den Wind, das Wasser und das Feuer ebenfalls ‚Brüder und Schwestern‘ nennt. Die Tiere als unsere Brüder zu betrachten, wäre eine wahre Revolution in der begrenzten und böswilligen Religion Christi gewesen, […] wenn nur Franziskus die Bruderschaft nicht auf die leblosen Wesen, die nichts fühlen, und sogar auf die Krankheiten und auf den Tod ausgedehnt hätte. Wie kann der Mond, ein lebloser Planet, unser Bruder sein! Das ist nicht mehr eine neue Moral, sondern aufdringliche Geschwätzigkeit eines Marihuanahippies“ (meine Übersetzung). 55 „Das Einzige, was ich über die Liebe weiß, ist, dass sie da ist, wie das Licht, wie die Schwerkraft, wie eine Unendlichkeit an Phänomenen und Dingen, die mich umgeben und die ich nicht verstehe. […] Aber am Ende rettet mich unter so vielen Flüchen, dass ich die Tiere liebe. Daher sage und wiederhole ich, wohin ich auch gehe, dass, wie ein gewisser Verrückter [Jesus] sagte, wer sie liebt, mit mir ist, wer sie nicht liebt, gegen mich ist“ (meine Übersetzung).

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Die Liebe als physikalische, materielle Kraft hat Vallejo zufolge nichts mit der Unterscheidung zwischen Tier und Mensch zu tun; daher ist die zoopoetische Position Vallejos eine glückliche („lo que a mí me salva“) trotz dessen misanthropischer Natur – es geht um eine Bejahung der Liebe, aber nicht in ihrer anthropozentrischen christlichen Version:56 „La materia es feliz, fluye en paz consigo misma en sus átomos, girando entorno al núcleo los electrones. Y no le importa un comino el infinito. ¿Por qué cargarla entonces de vida efímera con ansias de eternidad?“ (ebd. 24–25)57. Somit greift Vallejo mit seiner zoopoetischen Annahme in das Herz des Christentums ein. Auf die Frage nach dem höchsten christlichen Gebot antwortet Jesus im Markusevangelium mit zwei zusammenhängenden Geboten: Das höchste Gebot ist das: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft“. Das andere ist dies: „Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst“. Es ist kein anderes Gebot größer als diese (Mk 12:29–31)

In der Erkenntnis der eigenen Teilhabe an einem weiter gefassten Lebensbegriff, in den auch die Tiere und die ganze Welt miteinbezogen ist, ist das ‚Gebot‘ Vallejos anders zu verstehen: Das Tier, das ich also bin, ist mein Nächster und daher werde ich dieses behandeln, wie mich selbst. In dieser Hinsicht verfährt Vallejo wiederum in ambivalenter Art und Weise: Er deutet den Begriff um, lässt seinen Kern aber intakt, nämlich die regula aurea der ethischen Verallgemeinerung der Handlungen („wie dich selbst“). Aber es geht zusätzlich um eine Erweiterung des Gebotes, und die liegt in der Festlegung eines Lebensbegriffes, der im Werk Vallejos ganz anders als üblich definiert wird: Leben ist alles, was sich bewegt,58 im Rahmen der Moral und der Ethik alles, was fühlt. || 56 Siehe unten die Ähnlichkeiten zwischen Vallejo und Raúl Gómez Jattin. 57 „Die Materie ist glücklich, sie fließt im Frieden mit sich selbst in ihren Atomen, die Elektronen um den Kern kreisend. Und die Unendlichkeit ist ihr scheißegal. Wieso sie dann mit ephemerem, nach Ewigkeit strebenden Leben belasten?“ (Meine Übersetzung). 58 In einem späteren Essayband Vallejos, La tautología darwinista y otros ensayos de biología (1998), definiert er seinen Lebensbegriff aber viel breiter als seinen Begriff des Nächsten. Ähnlich wie bei Spinoza, bestreitet Vallejo dabei den Dualismus zwischen Seele und Körper, indem das Leben nicht mehr als Beseelung betrachtet wird, sondern als ein planetarisches, kontingentes Phänomen gedacht wird: „Si la materia es algo es energía y el alma es cuerpo y están tan vivos los 26 electrones de un átomo de hierro girando en torno a su núcleo como Júpiter en torno al Sol. Todo lo que se mueve está vivo, y como todo se mueve, así sea en el plano atómico, todo vive. Hay que cambiar de vicios mentales y empenzar a pensar así. ¿Qué es entonces la vida? La vida es tanto de oxígeno, tanto de hidrógeno, tanto de carbono, tanto de nitrógeno, de

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Die Veränderung des Gebotes Jesu könnte als eine Beleidigung des Menschen als Tier, des Bürgers als sozialen Tieres verstanden werden, die aber von Vallejo selbst nicht als beleidigend wahrgenommen wird: „De Cristo arbitrario […], ¿qué decíamos? Que quien jamás tuvo una palabra de amor por los animales, en un arrebato de ira, como cualquier animal, expulsó a los mercaderes del templo […]“ ([1993] 2005, S. 169)59. Nur in der Durchbrechung der hierarchischen Trennung zwischen Mensch und Tier entfaltet sich das subversive Potenzial der Umdeutung, daher bedingen sich Regel und Verstoß gegenseitig. Aber erst dieser (zoopoetische) Verstoß macht die Trennung zwischen Mensch und Tier bewusst, explizit und kritisierbar.60 Die zoopoetische Kritik stellt die Verbindung mit einer natürlichen, ontologisch übergeordneten Gemeinschaft, eine affektive Beziehung her, die Derrida auch in seinem Text andeutet. Es geht um die politische queere Frage der Gemeinschaft mit der absoluten Alterität, die die Ein- und Ausschließungsstrategien der Macht in Frage stellt: In welchem Sinne des ‚Nächsten‘ (der nicht unbedingt der einer biblischen oder griechisch-lateinischen Tradition ist) sollte ich sagen, daß ich dem Tier nahe bin […] und daß ich es bin/ihm folge […] und in welcher Art des Drucks? Mit-ihm-sein als Ihm-nahe-sein? Bei-ihm-sein? Nach-ihm-sein? […] Der Blickpunkt des absolut Anderen, und nie wird mir diese absolute Andersheit des Nachbarn oder des Nächsten je so zu denken gegeben worden sein als in jenem Moment, in denen ich mich im Blick einer Katze nackt erblickt sehe. (Derrida, 2010, S. 30)

|| fósforo, azufre, calcio, potasio, sodio, cloro, magnesio, con una pizca de hierro, cobre, zinc, molibdeno y otras yerbas que le dan sabor a la receta, y tocar el clavecín lo más fácil: basta pulsar, como observó tan atinadamente Bach, la nota justa en el momento justo y con la intensidad justa“ ([1998] 2015, S. 12). / „Wenn die Materie etwas ist, dann Energie, und die Seele ist Körper und sie sind genauso lebendig wie die 26 Elektronen eines Eisenatoms, die um seinen Kern kreisen wie Jupiter um die Sonne. Alles, was sich bewegt, ist lebendig und, da alles sich bewegt, auch auf der atomaren Ebene, lebt alles. Man soll die mentalen Laster ändern und anfangen, so zu denken. Was ist dann das Leben? Das Leben ist ein bisschen Sauerstoff, ein bisschen Wasserstoff, ein bisschen Kohlenstoff, ein bisschen Stickstoff, Phosphor, Schwefel, Kalzium, Kalium, Natrium, Chlor, Magnesium und eine Prise Eisen, Kupfer, Zink, Molybdän und andere Gewürze, die dem Rezept Geschmack verleihen, und man muss das Clavicembalo so einfach wie möglich spielen: Es genügt, wie Bach sehr treffend beobachtete, die richtige Note im richtigen Moment und mit der richtigen Intensität zu spielen“ (meine Übersetzung). 59 „Über Christus den Willkürlichen […], was sagten wir? Dass derjenige, der nie ein Wort der Liebe für die Tiere übrighatte, in einem Anfall von Zorn, wie jedes Tier, die Händler vom Tempel vertrieben hat […]“ (meine Übersetzung). 60 Dieses Verfahren wird unten mit Robert Pfallers Begriff der „schwarzen Wahrheit“ erklärt.

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Die gesteigerte Alterität des tierischen Blickes macht aus einer ethischen Einfühlung in den Nächsten eine gewichtigere Handlung. In Años de indulgencia bezieht sich der Ich-Erzähler Vallejos auf die Kreuzigung von Jesus, die ihn nicht auf eine ethische Art rührt wie die verhungernden Hunde: Quiero llorar y no puedo. Un perro callejero que escarba en los botes de basura me causa más compasión. Si el protagonista de esa faramalla antigua, ese hombre necio, injusto, arbitrario, alcahueta, es el paradigma del hombre, yo amo a los perros. Los perros son mi prójimo. (AI 80)61

Das Lasterhafte wird im Menschen („necio, injusto, arbitrario, alcahueta“) ausgemacht, und dadurch wird der Mensch beleidigt und das Tier moralisch höhergestellt. Gleich danach wird diese Umdeutung des Nächstenbegriffes mit der ethischen queeren Verschmutzung konnotiert.62 Somit hängt die Umdeutung des christlichen Gebotes mit einer misanthropischen Kritik an der christlichen Hierarchie zusammen, die den Menschen über die Natur stellt.63 Es ist die Infragestellung des Menschen in der Infragestellung des Menschenparadigmas in der Gestalt Jesus‘, bzw. einer neuen Zeitrechnung und eines neuen Verständnisses

|| 61 „Ich möchte weinen und kann nicht. Mit einem Straßenhund, der in den Mülltonnen herumwühlt, empfinde ich mehr Mitleid. Wenn die Hauptfigur [Jesus] jener antiken Schwindelei, dieser freche, ungerechte, willkürliche, kuppelnde Mann das Paradigma des Menschen ist, dann liebe ich Hunde. Die Hunde sind meine Nächsten“ (meine Übersetzung). 62 Es lassen sich einige Parallelen zwischen Vallejos Erzähler und dem Kyniker Diogenes Laertius finden, der von Sloterdijk als großer Denker des Kynismus verstanden wird: Sloterdijk erzählt wie Diogenes angeblich in einem „Fass“ in der Stadt gelebt habe und deshalb als Hund beschimpft wurde: „Die Athener (oder Korinther) haben ihm dafür den Schimpfnamen Hund gegeben, denn bis auf den Lebensstandard eines Haustiers hatte Diogenes seine Ansprüche heruntergeschraubt. Damit hatte er sich von der Kette der Zivilisationsbedürfnisse losgemacht. So drehte er auch den Athenern ihren Spottruf im Munde herum und akzeptierte die Beschimpfung als Namen seiner philosophischen Richtung“ (Sloterdijk 1983, S. 311). In Vallejos Años de indulgencia wird ausdrücklich der Wunsch geäußert, ein hündisches Leben zu führen, um sich somit der Gesellschaft der Menschen entziehen zu können: „Dormiré bajo sus puentes [de Colombia], entre su mugre, cubriéndome con sus periódicos pero sin leer, no se me vaya a envenenar el alma. O sea, quiero decir, mejor dicho: no se me acabe de envenenar“ (AI 81). / „Ich werde unter seinen [Kolumbiens] Brücken schlafen, mitten in seinem Schmutz, und werde mich mit seinen Zeitungen zudecken, aber ohne sie zu lesen, nicht dass meine Seele vergiftet wird. Oder, ich möchte sagen, besser gesagt: nicht, dass meine Seele ganz und gar vergiftet wird“ (meine Übersetzung). 63 Das Tierische im Werk Vallejos wird auch bei Megumi Andrade im Rahmen seiner Religionskritik gelesen ( 2014, S. 247).

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des Menschen, der als Wesen aber eigentlich einer viel längeren Naturgeschichte angehört: ¿Mas qué son dos mil años en la cuenta de las edades? ¿Qué son comparados no digo con la eternidad sobrecogedora sino con los cien mil años cuando menos en que el hombre es el hombre, esta bestia sucia, este infame animal? […] ¿Cómo va a ser paradigma de lo humano quien no conoció mujer por delante ni hombre por detrás? ¿Quién no cargó con las miserias de la enfermedad ni con el cáncer de la vejez? De ese fantasma [Jesús] lo único humano es el susodicho arrebato de ira, y nada más. (EF 170–171)64

Der Mensch wird beleidigt („bestia sucia“, „infame animal“), indem er in der langen Geschichte des Lebens auf Erden resituiert und somit reduziert und nichtig gemacht wird. Der Zornanfall („arrebato de ira“) macht aber den Menschen zum Menschen, gerade in der tierischen Natur dieses Zornes. Und da ist wiederum das Ambivalente zu finden, nämlich darin, dass Vallejo sich den Zorn Jesu aneignet, der aber hier anders codiert wird: Als positiver Ausdruck des Tierischen des Menschen und als Teil der langen Naturgeschichte. Die Poetik der Beleidigung als Poetik des Zornes ist somit Teil der zoopoetischen Infragestellung der Unterscheidung zwischen Tier und Mensch. Es ist die Beleidigung, die hier den poetischen Teil im Begriff des Zoopoetischen besetzt. Die wichtige Rolle der Tiere im Werk Vallejos ist aber auf verschiedensten Ebenen zu finden: Die Kritik an dem christlichen Nächstenbegriff ist vielleicht die expliziteste, aber nicht die einzige.65 Bruja, die Hündin des autobiographischen Erzählers Fernando Vallejo, trägt im Namen zugleich zoopoetische als auch Beleidigungs-poetische Aspekte.

|| 64 „Aber was sind zweitausend Jahre bei der Zählung der Zeitalter? Was sind sie verglichen nicht mit der überwältigenden Ewigkeit, sondern mit den mindestens hunderttausend Jahren, in denen der Mensch der Mensch gewesen ist, diese schmutzige Bestie, dieses infame Tier? […] Wie kann jemand das Paradigma des Menschen sein, der keine Frau von vorne und keinen Mann von hinten kannte? Wer hat noch nicht das Elend der Krankheit und den Krebs des Alterns ertragen? An diesem Phantasma [Jesus] ist das einzig Menschliche der obengenannte Anfall von Zorn, und sonst nichts“ (meine Übersetzung). 65 Obwohl im Werk Vallejos viele explizite Aussagen des Autors immer unter Vorbehalt der Selbstironie zu verstehen sind, wie Brigitte Adriansen (2011) gut herausgearbeitet hat, ist diese radikale Verteidigung der Tiere gegenüber dem Menschen ernst zu nehmen, eben weil sie, wie hier angenommen wird, auf einer ganzen Zoopoetik beruht. Im Gegensatz dazu behauptet Adriansen, die Hundeliebe in La virgen de los sicarios sei als „sensiblería“ („Gefühlsduselei“) einzustufen (2011, S. 56). Dieser Annahme stehen jedoch alle Thesen des Autors entgegen, die er in nicht-literarischen Texten aufgestellt hat (wie in seinen Essays und Vorträgen in La puta de Babilonia, La tautología darwinista oder Peroratas), und auch seine Poetik.

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Als wichtigste Gesprächspartnerin des Ich-Erzählers übernimmt die Figur der Hündin eine zentrale Rolle in der Umdeutung der christlichen Moral: In diesem Sinne deutet Vallejo die menschliche Vernunft um, um eine Art hündische, ethische Vernunft zu postulieren, die mit einer „zynischen“, und in diesem Falle „kynischen Vernunft“ einhergeht (wie unten in Bezug auf den Zynismus bei Peter Sloterdijk thematisiert wird). Der Name Bruja ist nicht nur eine Beleidigung in der spanischen Alltagsprache, die vor allem gegen Frauen benutzt wird, sondern bedeutet auf einer wörtlichen Ebene im Spanischen „Hexe“. Die damit evozierte Hexenverfolgung ist nicht nur Teil der Geschichte der Misogynie in den christlichen Ländern, sondern auch ein wichtiger Teil der heterodoxen, religionskritischen Tradition. Vallejo zelebriert somit das Ausgeschlossene in subversiver Art und Weise: Die zum Zeitpunkt der Erzählung bereits verstorbene Hündin Bruja ist zugleich eine der wenigen Figuren in der ganzen Autobiographie Vallejos, die in einem positiven Licht dargestellt wird. Im misanthropischen Diskurs Vallejos spielt die Hündin die Rolle einer menschenfressenden Gestalt, die nicht nur mit der heterodoxen Tradition der Hexerei einhergeht, sondern auch mit der interkulturellen Konnotation des Kannibalismus, wie Carla Freccero hervorhebt.66 Ein klares Beispiel dafür findet man in Entre fantasmas: Brujita cambuja, hoy te voy a dar tu jarajuja, tu sopita de niño tierno. De este niño qué prefieres: ¿la médula, o los ojos? ¡Mala! ¡Te saboreas! Y te los tengo que dar en pincitas, de a poquito, o te los tragas de un zampazo. ¡Comelona! ¡Tragona! Ya sé que no escasean, pero ¿no ves lo difícil que es conseguirlos, quitárselos a sus mamás? Y el proveedor me cobra un ojo de la cara. De la mía. Cómetelo de a poquito, salivando, degustando, no de un tirón que son bucato de cardinale. (EF 112)67

Die Hündin wird zur Begleiterin und Mittäterin in der misanthropischen Revolte Vallejos. Die Beleidigung wird verkehrt und das Außenseitertum dieser Hexen-

|| 66 Vgl. Freccero, 2010, S. 47–50. Für Freccero impliziert die Figur des Hundes in ihrer „hybrid and borderland ferocity“ (ebd. 61) zugleich eine postkoloniale Perspektive. 67 „Dunkelhäutiges Hexchen, heute gebe ich dir dein Jarajuja, dein Süppchen aus zartem Kind. Was magst Du lieber von diesem Kind: sein Knochenmark oder seine Augen? Böse! Du genießt es! Und ich muss sie dir mit Pinzetten geben, Stück für Stück, sonst verschlingst du sie auf einen Schlag. Gierschlund! Vielfraß! Ich weiß, dass sie nicht wenige sind, aber siehst du nicht, wie schwierig es ist, sie zu bekommen, sie den Müttern wegzunehmen? Und der Lieferant verlangt von mir ein Auge [=ein Vermögen]. Aus meinem Gesicht. Iss langsam, mit viel Speichel, schmeckend, nicht mit einem Happs, es ist ja bucato di cardinale“ (meine Übersetzung).

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und Tiergestalt gefeiert, eine Gemeinschaft in der Freundschaft angedeutet. Años de indulgencia beginnt mit der Selbstbezeichnung des Ich-Erzählers als Teufel, d.h. als Liebhaber der Hexen:68 „Levanten sus culos al aire, viejas del aquelarre: yo soy el Diablo. Soy y soy y soy y siempre he sido“ (AI 9)69. Diese „viejas del aquelarre“ sind keine anderen als die Hexen, die dann explizit einige Seiten lang in einer Rede der Teufelsanbetung zelebriert werden. Bei diesem Anfang kommen aber nicht nur Hexen vor, sondern auch Tiere, die sich, in einem eindeutigen deleuzianischen Tier-Werden, mit der Ich-Instanz vermischen: z.B. die Eule („Bubo bubo, búho bufo, búho bujo, búho bújaro, color rojo y negro calzado de plumas […]“ [AI 9]70), die Maus („Un ratón llevo en el pico, en mi pico corto, corvo, ensangrentado“ [AI 11]71) oder die Fledermaus („Soy yo, mi alma, un murciélago“ [AI 12]72). Es geht in diesen Metamorphosen um ein zoopoetisches, religionskritisches Tier-Werden als Welt-Werden: Mi voz, mis voces, mis múltiples voces de acentos varios, suaves, ásperos, confusos, engañosos. Espíritu cambiante, escurridizo, inasible en mi camuflaje de sombras. Levanta la corteza del árbol y lee en silencio mi nombre: ”Eliphás Levi Del”. C’est moi, le diable. (AI 12)73

Die oben hervorgehobene Phantasmenfigur wird hier zum „wechselhaften Geist“ („espíritu cambiante“), der zu einer Entgrenzung der Arten führt und dabei sogar || 68 Daniel Díaz Ruiz bezeichnet Vallejo genau aufgrund dieser Selbstverortung des Autors auf Seiten des Bösen als „escritor maldito“. In diesem Bösen sieht Díaz Ruiz eine wichtige politische Funktion als Ausdruck einer minoritären Stimme (2007, S. 233). Díaz Ruiz‘ Analyse basiert auf einem bestimmten Begriff des Bösen (nämlich jenem Baudrillards, der das Böse als das Residuale des Guten versteht), der nicht mit der spinozistisch-ethischen Perspektive einhergeht. Was hier hervorgehoben wird, ist die ethische Verkehrung des Moralischen und die daraus folgende Überwindung der moralischen Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Für Díaz Ruiz bleibt Vallejo ein ‚Böser‘, somit missdeutet er aber gerade die Moralkritik Vallejos: Es geht bei Vallejo vielmehr um eine Perspektive jenseits von Gut und Böse, die diese moralischen Kategorien außer Kraft setzt. 69 „Hebt eure Ärsche hoch, alte Weiber des Hexensabbats: ich bin der Teufel. Ich bin und bin und bin und ich war es schon immer gewesen“ (meine Übersetzung). 70 „Eube eube, Eule eufe, Eule euje, Eule euliger, rote und schwarze Farbe mit Federn als Schuhen […]“ (meine Übersetzung). 71 „Eine Maus trage ich im Schnabel, in meinem kurzen, krummen, mit Blut befleckten Schnabel“ (meine Übersetzung). 72 „Ich bin, meine Seele, eine Fledermaus“ (meine Übersetzung). 73 „Meine Stimme, meine Stimmen, meine vielfältigen Stimmen verschiedener weicher, rauer, verwirrender, täuschender Akzente. Wechselhafter, rutschiger, ungreifbarer Geist in meiner Schattentarnung. Hebe die Rinde des Baumes an und lies in Stille meinen Namen vor: ‚Eliphás Levi Del‘. C’est moi le Diable“ (meine Übersetzung).

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die ganze Welt (die Pflanzen, „el árbol“) miteinbezieht. Die Wiederholung von „soy“ („ich bin“) und von „eres“ („du bist“) in dieser langen satanischen Passage verdeutlicht dieses Tier-Werden zwischen einem Ich und einer Alterität und zelebriert diese ekstatische Verbindung in einer Gemeinschaft. Die Rede changiert nicht nur zwischen der ersten und der zweiten Person sondern zwischen Singular und Plural („Con esperanza y firmeza te evocamos“ [AI 15]74) und zwischen der männlichen und weiblichen Form („Hereja soy, ay sí, y apóstata y experta en la evocación de demonios“ [AI 15]75). Somit wird die Entgrenzung der Arten, Geschlechter und Gattungen explizit und die Regeln der Sprache, der Gattungen und der Geschlechter werden in eine Krise gebracht: Aquí, en este valle de Guipúzcoa, catedral del vicio donde la continencia es pecado, violamos como pueden ver las leyes naturales y el idioma, y pecando y galicando por partida doble, por la vía lícita y per angostam viam nos empreñamos doblemente con dos hijos cada una de Satán. (AI 19)76

Die Hexerei wird zum Ausdruck eines immanenten Denkens über das Leben, das hier in Opposition zum Katholizismus steht. Diese Opposition wird augenscheinlich in der Einbettung katholischer Inhalte in heterodoxe Rituale: katholische Gebete, eingebaut in satanische Rituale, ein Altar der Mutter Maria aus Knochen, Arznei mit Augen des Christkindes u.a.77 Was aber in dieser Passage

|| 74 „Mit Hoffnung und Entschlossenheit beschwören wir Dich“ (meine Übersetzung). Diese Pluralform wird traditionellerweise dem Teufel zugeschrieben: „Und er [Jesus] fragte ihn: Wie heißt Du? Und er sprach zu ihm: Legion heiße ich; denn wir sind viele“ (Mk 5:9). 75 „Häretikerin bin ich, eine Abtrünnige und eine Expertin in der Teufelsbeschwörung“ (meine Übersetzung). 76 „Hier, in diesem Tal von Giupúzcoa, Kathedrale des Lasters, in der die Keuschheit Sünde ist, verstoßen wir, wie ihr sehen könnt, gegen die Naturgesetze und die Sprache, und sündigend und syphilisierend, in zweierlei Hinsicht, auf erlaubtem Wege und per angostam viam, haben wir uns gegenseitig zweimal, mit zwei Kindern, beide von Satan, geschwängert“ (meine Übersetzung). 77 „[E]res el búho real, el búho huraño, mi constante amigo, mi doliente hermano, criatura de la noche, bubónica prueba de la existencia de Dios, ¿digo mal?“ (AI 9 / meine Hervorhebung). / „Du bist die echte Eule, die mürrische Eule, mein stetiger Freund, mein verletzter Bruder, Kreatur der Nacht, Beulenbeweis der Existenz Gottes, liege ich falsch?“ (meine Übersetzung und Hervorhebung); „Virgencita azul de las flores de mayo, te voy a hacer un altar, un altar de huesos: de huesos fosforescentes que alumbren tus noches con luz propia“ (AI 13). / „Blaues Jungfräulein Maria der Maiblumen, ich werde Dir einen Altar errichten, einen Altar aus Knochen: aus phosphoreszierenden Knochen, die Deine Nächte mit eigenem Licht erleuchten“ (meine Übersetzung); „Ajos, hiel, vinagre, azufre, y ojitos tiernos, dulces, azulitos, verdecitos

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am deutlichsten zum Ausdruck kommt, ist die Positionierung des Ich-Erzählers jenseits der Moral, an der Seite der Hündin Bruja: Als Teufel ist bereits das erzählende Ich antimoralisch, auf der anderen Seite, der des Bösen. Die einzige Möglichkeit, diese Stimme zu fassen, ist nicht an der Oberfläche ihrer Immoralität sondern differenziell in der ethischen Auseinandersetzung, in der Hervorhebung einer Gemeinschaft des Lebens: An der Seite des Bösen zelebriert Vallejo die Liebe. Somit positioniert sich das erzählende Ich zugleich an der Seite des Bösen und zelebriert den ‚bösen Willen‘ des Homosexuellen, im Sinne von Hegels und Kants Auffassung des Bösen der Homosexualität, die Dirk Link hervorhebt.78 Obwohl eine solche politische Verteidigung der Zoopoetik nicht in derselben expliziten Art und Weise bei Josef Winkler zu finden ist, kann man im Fall des österreichischen Autors wohl auch von einer offensichtlichen zoopoetischen, ethischen Kritik sprechen: Das wilde Kärnten als Trilogie über das Leben in der katholischen Gemeinschaft Kamering in Kärnten beinhaltet auch eine Thematisierung der Tiere als Teil der Dorfgemeinschaft, vor allem im Rahmen der autobiographischen Erzählung der Kindheit auf dem Bauernhof des Vaters.79 Die Sekundärliteratur hat die Bedeutung der Tiere in Winklers Werk bereits erkannt, vor allem in ihrem symbolischen Gehalt.80 Im Zentrum Winklers poetischer Auseinandersetzung mit den Tieren steht ein Denken über die Verletzlichkeit (vulnerability im Sinne Judith Butlers)81 jenes fragilen Lebens, das vom Katholizismus – in der Gestalt des Lebens, das getötet werden darf – als grundlegendes Element der Gesellschaft verstanden wird: Es geht in dieser Hinsicht um das „heilige Leben“ Agambens, in der politischen Figur des Homo sacer, der jenes Leben verkörpert, das nicht geopfert, jedoch getötet werden darf.82 Daher hängt das Nachdenken über das Leben mit dem Nachdenken über den Tod zusammen, letzteres spielt in Bezug auf die Biopolitik und auf die Zoopoetik eine entscheidende Rolle, wie Maria Irod in ihrer Dissertation hervor-

|| de Niño Jesús“ (AI 13). / „Knoblauch, Galle, Essig, Schwefel und zarte, süße, bläuliche, grünliche Äugelein des Jesuskindes“ (meine Übersetzung). 78 „Anders als etwa in der französischen, schied in der deutschen Ästhetik homosexuelle Praxis – als zur Kategorie des ‚Ekelhaften‘ gehörend – dauerhaft aus dem Kanon des künstlerisch Zulässigen aus“ (Linck, 1993, S. 21). 79 „Frühzeitig soll er von den Tieren lernen, ich war auf meines Vaters Hof die Kuhmagd, ich habe gelernt mit Tieren umzugehen und kann jetzt Menschen führen“ (MS 682). 80 Siehe Lange & Lessmann, 2014. 81 Hier mit beziehe ich mich insbesondere auf den Begriff der vulnerability in Judith Butlers Buch Precarious Life (2006). 82 Siehe Agamben, [1995] 2002, S. 82–83.

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hebt: „Winklers Todesbegriff ist nicht anthropozentrisch“ (2018, S. 49), sondern zoopoetisch. Im Rahmen seiner Zoo- und Todespoetik ist daher eine Hervorhebung des Körperlichen wichtig, wie in den folgenden Zitaten offensichtlich wird. Reinhard Kacianka verortet das Werk daher in der Nähe des Wiener Aktionismus.83 Genau aus dieser sozialkritischen Skandal-Poetik des Wiener Aktionismus ergibt sich das Bindeglied zwischen Zoopoetik und Beleidigung – die Betonung des Körperlichen:84 [A]ls ob sein Vater wie eine Krähe auf seinen Schulterblättern hockte und sein Kind dazu antriebe, so viele Kinder zu zeugen, wie er selber, so viele billige Knechte herzustellen, damit der Hof in die Höhe schwirrt und das Geld an die Pforten des Himmels anklopft. Wie oft stand unsere sechsfache Mutter vor einem geschlachteten Hahn und weinte? (AK 324–325)

Die Produktion von Leben als sakrale Praxis wird hier in ihrer ökomischen und politischen Natur offengelegt, um sie dann im Rahmen eines breiteren Lebensbegriffes zu problematisieren. Winkler versteht die Figur Jesu als Urszene dieser Opferungspolitik, die mit den Figuren Robert und Jakob zusammengedacht wird: „Aus katholischer Überzeugung für jeden Herzschlag ein Sündenopfer bringen, die leblosen Freunde Jesus unters Kreuz legen und ihm die Füße küssen“ (MK 80). Die hier gemeinten Sündenopfer sind natürlich nicht nur Jakob, Robert und Jesus, sondern die systematisch vollbrachten Opferungen, die auch die Tiere einschließen und durch die sich die Gemeinschaft auf perverse Art politisch etabliert. In dieser Hinsicht geht es in der Zoopoetik Winklers um ein Hinterfragen der Grenze zwischen Tier und Mensch: „In unserer Humanität erkennen wir Menschen uns selbst nicht mehr als Tiere“ (MK 81). Im Folgenden werde ich mich ausführlicher mit den zoopoetischen Aspekten in Menschenkind befassen, die aber in den zwei weiteren Bänden der Trilogie auch in wiederholter, jedoch veränderter Form zu finden sind. Das Tier bringt wie der verletzliche und verletzte Ich-Erzähler eine Klage vor:85 Es geht um ein Zur-Sprache-Bringen einer zum Schweigen verurteilten Stimme der Tiere, wie jener der Mutter.86 Dieses Schweigen korreliert in seiner

|| 83 Vgl. Kacianka, 2004, S. 11. 84 William Christopher Burwick nimmt in seiner Dissertation gerade diese Betonung des Körperlichen im Werk Winklers zur Grundlage. Dabei betont er die herausragende Bedeutung dieses Aspektes in Bezug auf die Leichen und den Tod im Frühwerk Winklers (siehe 2015, S. 16). 85 Die Klage entspricht, wie unten ausführlicher dargestellt, einer Rhetorik der Beleidigung. 86 Eins der zentralen Themen der Trilogie ist das Schweigen der Mutter, über das der IchErzähler schreibt: „Die Sprache ist heilig. Ich glaube an sie. Im Namen meines Vaters, der sie

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queeren Dimension mit dem grundlegenden Schweigen des anderen Begehrens, das aufgrund psychiatrischer, religiöser oder moralischer Unterdrückung nicht zu Wort kommen kann.87 Insofern hängt die Sprache der Mütter bzw. Frauen, der Homosexuellen und die der Tiere zusammen. Die collageartige Erzählung in Menschenkind lässt gewisse poetische Linien erkennen, die sich ausführlich mit der Mensch-Tier-Beziehung im bäuerlichen Kamering befassen. Dabei ist zunächst die Rede von der Menschlichkeit im Allgemeinen: Der Erzähler schreit mitten in der Erzählung „Ich bin menschenleer!“ (MK 53) und später bekennt er sich als menschenmüde: „Einer, der einfach keine Lust zur Menschlichkeit hat“ (MK 157). Diese Klage korrespondiert mit einem Naturverständnis, das einem spinozistischen Lebensbegriff nahesteht: Das Leben wird nicht als menschlich, sondern grundsätzlich als biologisches Leben im Allgemeinen verstanden, zwischen den Lebewesen werden also keine qualitativ-substanziellen sondern bloß quantitativ-materielle Unterschiede behauptet. Dies wird vor allem in der Rede über „winzige Tiere“ deutlich: „Ob die kleinen Tiere, die in mir leben, den Drang verspüren, an die Weltöffentlichkeit zu kommen?“ (MK 30) oder „Winzige Tiere leben im Menschen. Ob in den Tieren auch winzige Menschen leben?“ (MK 31). Dieses Bild der „winzigen Tiere“ verbindet die Animalität mit einer Konnotation der Verletzlichkeit, die zu einer expliziten Verteidigung der Tiere führt. Dies äußert sich in der offensichtlichen Misanthropie Winklers, in seinem ironischen Ton und der Hervorhebung der Brutalität des Menschen, die die Humanität verleugnet, aber zugleich bejaht. Dies vollzieht sich in ambivalenter Art und Weise: „Meine Bösartigkeiten sind Sympathiekundgebungen mit umgekehrten Vorzeichen“ (MK 191) und kurz danach: „Wie sehr ich diesen Menschen verehre, ich habe das Gefühl, nur mehr Tränen urinieren zu können“ (MK 191). Die Misanthropie äußert sich nicht nur als Hass, sondern auch als Schamgefühl darüber, Mensch zu sein: „Einmal wich ich einem sterbenden Tier im Hof aus, lief zur Toilette, entblößte meinen Unterkörper und beweinte mein Geschlecht“ (MK 81). Die Kritik am Menschengeschlecht impliziert zugleich eine Kritik an der patriarchalen Gewalt, die im Zitat durch die Genitalien versinnbildlicht wird – die patriarchale Gewalt, die auch bei der Schlachtung, der Züchtigung und dem Selbstmord des Menschengeschlechts als Naturgattung durch den bereits be-

|| mir weggenommen hat und im Namen meiner Mutter, die schweigsam wie eine Stumme war. Aus dem Schweigen meiner Mutter und aus dem Tod von Jakob und Robert habe ich mehr gelernt, als ich in den Hörsälen für mein Leben lernen konnte“ (AK 326). 87 Dirk Linck thematisiert diesen Punkt des Unterschiedes zwischen „homosexueller Erfahrung“ und Subjektivierung in seiner Dissertation zu Winkler (1993, S. 22–23).

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sprochenen Kalbstrick symbolisiert wird. Diese Perspektive hat mit der impliziten Annahme zu tun, auf der die ganze Kritik an der Dorfgemeinschaft und ihre Verantwortung für den (Selbst)Mord an Jakob und Robert gründet: „Das größte Gift ist der menschliche Samen, denn wir wissen, daß daraus Kinder entstehen, die uns vergewaltigen, wie sie von ihren Eltern vergewaltigt worden sind“ (MS 487). Der Mensch sei nur Mensch in unserer katholischen Gesellschaft, in der er ein hassendes und mörderisches Tier sei: Solange man keinen Menschen getötet hat, kann man nach unseren humanen Vorstellungen überhaupt als Mensch bezeichnet werden? Es geht mir jedesmal kalt über den Rücken, wenn jemand mit einem Fingerzeig auf mich deutet und denkt […] „Mensch?“ Soll er mich doch umbringen (MK 32)

Winkler problematisiert somit auch die Unterscheidung zweier Bedeutungen des Menschenbegriffs: erstens als „human“ (zivilisiert, moralisch usw.) und zweitens als „menschlich“ (als Gattung im Gegensatz zum Tier). Dass ein Mörder auch ein Mensch sei, führt die Behauptung, dass das „Menschliche“ per se moralisch gut sei, mittels der Hervorhebung seiner Grausamkeit in eine Krise: Der Begriff „Mensch“ wird in seiner Paradoxie kritisiert. Winklers Misanthropie äußert sich auch in der Thematisierung des Fleischessens,88 die in Beziehung zur Eucharistie gelesen werden soll: „Argument eines Mörders: Morden, zur Wiederbelebung des eigenen Fleisches. […] Wie könnte ich, ohne an meinen Tod zu denken, Tierfleisch essen?“ (MK 81). In dieser Kritik des Fleischessens ist eine grundlegende ethische Haltung impliziert, der kategorische Imperativ, der zum Verallgemeinerungsgebot jeder Handlung führen soll; hier ruft der IchErzähler dazu auf, die Tiere als Mitglieder einer Lebensgemeinschaft zu sehen, in der der ethische Imperativ auch in Bezug auf die Tiere gelten soll: „Tierfleisch essen, um die Menschlichkeit zu füttern“ (MK 153) oder „Sie schmückt ihren verkrüppelten Leib mit den besten Fleischspeisen“ (MK 159). Der Rekurs auf bestimmte Wörter („füttern“, „Leib“), die eine Betrachtung des Menschen als

|| 88 Maria Irod beschränkt die Rolle des Tierischen im Werk Winklers auf „drei Hypostasen“ (2018, S. 50): die Schlacht, die Jagd und der Fleischmarkt. Dabei übersieht Irod einen grundlegenderen Aspekt der Bedeutung der Tiere (wie hier gezeigt wird), der als paradigmatisch für diese drei „Hypostasen“ verstanden werden kann, und in dem der Grund für das ReligiösSakrale des Tierischen und die Religionskritik am Katholizismus steckt: das Fleischessen. Obwohl die Argumentation Irods in diese Richtung zielt („Im Zentrum der portraitierten Welt der Kunden, Händler und Waren [in Natura morta] steht der Ideenkomplex Nahrung-MachtTod“ [2018, S. 53]), greift ihre Analyse im Hinblick auf die politischen Folgen eines biopolitischen Lebensverständnisses, das in Winklers Werk ausgelotet wird, zu kurz.

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ein Lebewesen unter vielen erlauben, stellt bereits auf einer sprachlichen Ebene Mensch und Tier in eine ethische Äquivalenz. Das Tierfleischessen wird somit zu einer kannibalischen Praxis deklariert. Deutlicher wird das, wenn das Fleischessen als kannibalischer und sogar selbstverzehrender Akt auf den Bereich der Eucharistie übertragen wird: „Im Hinausgehen werde ich Jesus mit einem Stück Menschenfleisch, indem ich meine Hand an seinen Mund halte, füttern. Ob er zubeißt? Etwas später in einem Restaurant“ (MK 172). Das Fleischessen bleibt jedoch in seiner Thematisierung ambivalent, es verdeutlicht zugleich die implizite Paradoxie, Fleisch der Mitlebenden zu essen, um zu überleben: „Während ich den toten Fisch über meine Lippen in den Mund gehen laslasse, merke ich, daß ich sein Fleisch, sein totes Fleisch geküßt habe“ (MK 180). Diese Ambivalenz geht an dieser Stelle mit der Natura-Morta-Faszination einher und mit der Ästhetisierung des Todes und des Mordes in Winklers Werk, die auch die Form einer Klage als Zelebration, ja als jubelnde Trauer annehmen. Dieser positive, bejahende Teil der misanthropischen Kritik an den Fleischessern hat wiederum mit der gemeinschaftsstiftenden Seite der Opferung in einer Gesellschaft zu tun, die von Winkler in der Eucharistie als ästhetische Feier des Todes, ja der Opferung und des Fleischessens Jesu, zelebriert wird: „Für ein paar Tage sprach der Tod das Dorf wieder heilig. Kalbfleisch, Hühner- und Schaffleisch kamen auf den Tisch“ (MK 86). Damit einher geht die Absicht, das Bild der Humanität, wie es von Jesus verkörpert wird, zu beschmutzen: Als Menschensohn wird das Heilige des Ebenbildes Gottes profaniert, indem der Mensch als Tier in Erscheinung tritt. Im Tier findet der Ich-Erzähler eine verletzliche Instanz, die auf eine Gemeinschaft allen Lebens hinführt: „Ihn interessiert das Leben der Tiere und Sterben der Menschen“ (MK 175). Diese Gemeinschaft äußert sich am deutlichsten in der symbolischen Nähe zwischen der Figur des Kalbs und der des Kindes: Die Finger des Kindes trippeln über die Knöpfe der Harmonika. In seinen Achseln weidet eine Kalbsherde der Angst, mit der Mistgabel oder mit dem Kalbstrick wird der Vater heute, morgen oder übermorgen nach ihm schlagen. Aus Angst vor den Schmerzen wird sein Glied steif, es bricht das Harmonikaspiel ab, läuft in den nahen Wald und wälzt sich bis zur Erschöpfung im nassen Moos. (MK 82)

Im spinozistischen Verständnis des Mannigfaltigen des Körpers als von ‚winzigen Tieren‘ bevölkert äußert sich die erste metaphorische Ähnlichkeit zum Tier – es ist jedoch das Prekäre bzw. die Verletzlichkeit des Kindes und des Tieres, die sie dann zur Lusterfahrung einer mannigfaltigen Tier-Mensch-Verbindung führt: Das Kind wird dann tatsächlich am Ende im Wald zum Tier. Das Kind wird jedoch in seiner Opferung, im Ausdruck seiner Verletzlichkeit zum Tier –

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daher bezieht sich der Erzähler an einer Stelle ironisch auf das Kind als wäre es kein Mensch: „Ein Kind in Menschengestalt“ (MK 155). Die Oberfläche, die Maskierung als Mensch wird hier zur Verhüllung einer zugrundeliegenden tierischen Natur – eine Vorstellung, die der ethischen Kritik im Sinne Deleuzes nahesteht. In der zoopoetischen Ambivalenz wird das Leben als allgemeines wiederentdeckt, als Ununterscheidbarkeit zwischen Tier und Mensch, das bloße Leben als Konstituierungsinstanz des Politischen. Im vorletzten Zitat kommt nicht umsonst eine Herde vor, eine Lebenskraft, die sich in der Gemeinschaft etabliert. Diese (Über)Lebenskraft (conatus) im zoopoetischen Bild des KindKalbes wird explizit an einer anderen Stelle mit der Metapher des Flusses versinnbildlicht: Der reißende Fluß wird ihm zu einem Mensch und Tier bedrohenden Lebewesen. Aussichtslos, ohne zu schreien, mit schwerem Gekeuche schwimmen Kälber darin, bis sie, von den Wirbeln der Stromschnellen gerädert, untertauchen und als Tote wieder an die Oberfläche kommen. Menschen liegen am Ufer mit ausgestreckten Armen und offenem Mund […]. Dort lag auch das Dorfkind mit nassen Windeln, ohne zu schreien. (MK 102–103)

Mit dem Fluss, der das ganze Leben – Menschen und Tiere – verschlingt, wird bildlich eine mörderische Kraft vor Augen geführt. Dieser tödliche Strom ist aber auch das gemeinsame Leben, das alle Lebewesen verbindet. Die Gemeinschaft der bedrohten Ausgeschlossenen, die Tiere und die Kinder, treffen sich jedoch nicht nur in einer strömenden Gemeinschaft des Lebens, sondern in der des Todes: der Welt der Menschen.89 Während der Vater das Kind schlug, kam ihm mit dem Zug der ausholenden Hand einmal die Notwendigkeit, ein Kalb zu schlachten. Zwei Tage später war es so weit, das Kind konnte zusehen, wie ein Kalb geschlagen wurde, und es konnte seine Seele am Blut des Tieres wieder reinigen. (MK 144)

Das Sterben und das Morden werden bei Winkler ambivalent als Horror und Jubel gezeichnet, daher soll auch diese tödliche bzw. schmerzhafte Beziehung auch als eine lustvolle oder erotische verstanden werden. Die Verbindung zwischen Schmerz und Lust versinnbildlicht an sich bereits diese erotische Seite.90 Daher findet man auch im Text den Ausdruck des Wunsches, im Tod ein Tier, und zwar ein verletzliches, winziges Tier zu werden: „Wenn ich tot bin, was ist

|| 89 „Für diese Welt ist der Mensch wie geschaffen“ (MK 103). 90 Siehe das Zitat oben: „Die Finger des Kindes trippeln…“ (MK 82).

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dann? Bin ich noch ein Mensch oder darf ich, bitte, ein Tier sein, klein und niedlich, gezähmt vom Tod?“ (MK 113). Die Tiere übernehmen eine symbolische Funktion bei Winkler, da es nicht nur darum geht, sie als tatsächliche, materielle Wesen zu verstehen, sondern auch ihre Rolle in der symbolischen Tiefe des Unbewussten der Dorfgemeinschaft zu enthüllen: Dabei stehen das Pferd und das Kalb als zoopoetische Bilder in einer antagonistischen Beziehung. Als erotisches Gegenstück zum Bild des verletzlichen Kalbes steht das Pferd, das im Laufe des Romans immer wieder als Vatersymbol in Erscheinung tritt: „Der Pferdekopf des Vaters schlägt wild im Strohbett um sich, wo in einzelnen Halmröhren das Gebärblut meiner Mutter stockt […]“ (MK 136). Hier wird keine psychoanalytische Lektüre der Vaterfigur als subjektstiftender Instanz vorgenommen, sondern die Tiere werden als Bestandteil des Unbewussten der Dorfgemeinschaft thematisiert. Die Ununterscheidbarkeitszone zwischen Mensch und Tier, die sich hier in der Überlappung von tierischen und menschlichen Symbolen vollzieht, verdeutlicht die zoopoetische Feier des Tierischen im Menschen. Dabei äußert sich eine Kritik an der biopolitischen Trennung zwischen Mensch und Tier und der daraus folgenden Hierarchie der Lebensarten: Das Tier als Nicht-Anerkanntes, Ausgeschlossenes wird im Zentrum, im Kern der Gesellschaft, in der Familie nicht nur zur für das Überleben notwendigen Quelle der Nahrung, sondern zur symbolischen Konstituierungsinstanz der Gesellschaft selbst: „Humanität können wir auch von den Tieren nicht mehr lernen“ (MK 153). Kurz, die Tiere sind das Außen, das das Innen des Menschen konstituiert. Da die Trauer (um den Tod der Großmutter oder um jenen von Jakob und Robert) eine wichtige Rolle in der gesamten Trilogie spielt, wird ihre Gegenüberstellung mit der fehlenden Trauer bei Tiermorden zur Kritik des Biopolitischen: Judith Butler erkennt in der politischen Allokation der Trauer um das verlorene Leben eine grundlegende Praxis der biopolitischen Machtstrukturen.91 Das im ersten Kapitel beschriebene Bild des Kalbstricks steht für eine biopolitische, bioökonomische Dorfstruktur, in der die Tiere als besondere Bestandteile nicht nur des Bauernlebens, sondern auch des bewussten und unbewussten Lebens dargestellt werden.92 Der Alltag mit den Tieren im Bauernhof wird nicht nur in seiner Struktur der Tierausbeutung präsentiert, sondern auch

|| 91 Siehe Butler, [2004] 2006, S. 19ff. 92 „Mit der Einbeziehung von Tieren in die Darstellung von Verderblichkeit und physischer Vernichtung beabsichtigen Winklers Texte eine totale Entlarvung der lebensfeindlichen Herrschaftsmechanismen“ (Irod, 2018, S. 50).

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in seiner sinnbildlichen Bedeutung im Fotoalbum ausgestellt. Bereits am Anfang des Buches wird fast jede Bewegung im Dorf von einem Tier begleitet: […] geschnitzter Pferdekopf am Giebel, Eingang des Bauerntheaters, […] zur symbolischen Reinigung von Krankheiten treibt er das Hofvieh durch ein Feuer… […] Tiere lecken aus der Hand des Vaters geweihtes Salz… […] charakteristische Geräusche von Schwalben, Spatzen, Totenvögeln, Bienen; […] laubfressende Ziegen heben die Köpfe, ihre Bärte wehen im Ostwind, der neuerlich Regen ankündigt […]. (MK 9–10)

In dieser Anfangslitanei mit der wiederholten Bitte „… helf Gott…“ werden alle kleinen Satzbilder, die mit einem Semikolon getrennt werden, in einem einzigen, von Tieren bevölkerten Bild zusammengefügt, an dem der Erzähler selbst teilhaben wird: „der Erzähler fügt sich ins Bild“ (MK 11). Aber nicht nur die Menschen werden in diesem Bild zusammengeführt, sondern auch die ganze Lebensgemeinschaft mit den Tieren, die den Schauplatz der Ausgangstragödie ausmacht: „mit einem Hanfstrick um den Hals geht ein Kind in den Stall und brüllt ein Kalb an“ (MK 10). Die christliche Opferung der Eucharistie, die dann auf der nächsten Seite sinnbildlich mit dem Lamm Christi dargestellt wird, wird hier an Kind und Kalb durchgeführt. Es geht um die Denunziation der gegen die Schwächsten und Ausgeschlossenen ausgeübten Gewalt. Dabei sind aber andere Tiere wichtig, die eher auf der Seite der Macht, des Vaters stehen: das bereits erwähnte Pferd und der Hahn. Der Hahn ist zunächst eine interessante Tierfigur, ein schwer zu entzifferndes Bild, das jedoch immer in Verbindung mit dem Dorfleben steht und sich als eine semantische Linie durch das ganze Werk Winklers zieht:93 Ganz so wie der Mesner dem Leichenzug vorangehend mit dem Kruzifix die bäuerliche, gelbe bis hellgrüne, an manchen Stellen sonnenverbrannte, braune Landschaft bedrohte, bedrohte der rote Hahn seinen Todfeind. Er streckte seinen Hals im Stolz des Todes hoch […], stürzte […] in einer die Schallmauer durchbrechenden Geschwindigkeit durch die atemlose Stille auf den weißen Hahn zu, placierte ihm seinen Schnabel bis ans Heft ins Herz und grüßte dabei den Gott meiner Kindheit, den Herrscher über Mensch und Tier im Dorf. (MK 22)

|| 93 Nach einer langen Analyse des Symbols, des Motivs und der Metapher des Hahns, folgern Lange und Lessman (2014, S. 149), dass dieses Tier für eine Enthauptung zu stehen scheint (eine Kastration?), die jedoch bis zum Ende nicht explizit wird. Dies lässt sie zu dem Schluss kommen, in der spezifischen Funktion der Vögel in Winklers Werk manifestiert sich eine postmoderne Schreibweise, eine These, die meinen Hinweis auf Derridas Zoopoetik stützt.

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Die Komplexität dieses Bildes ist evident: Die phallischen, bedrohlichen Symbole (Kruzifix, Hals, Schnabel) setzen den religiösen Inhalt (Mesner, Gott meiner Kindheit) mit sexuell-erotischen und gewalttätigen Aspekten („durchbrechende Geschwindigkeit, placierte ihm seinen Schnabel“) in Beziehung. Die Tiere sind dann nicht nur das Geopferte, sondern werden in das Imaginarium, ja in die bildliche Darstellung des Dorfes eingefügt – sie nehmen daher nicht nur faktisch am Leben des Dorfes, sondern an der bildlichen Konstituierung dieses Lebens teil: Sie gehören sowohl der materiell-realen als auch der symbolischen Ebene der Dorfgemeinschaft an. Die Misanthropie bei Winkler mündet im Laufe der Trilogie immer klarer in den Wunsch, sich der menschlichen Natur zu entledigen, diese gar als unwürdig anzuerkennen, und dies bedeutet, gegen sich selbst schreiben zu müssen, sich selbst zu entblößen. Gegen Ende wird „Menscher“ als Schimpfwort in Muttersprache hervorgehoben: Meine größten Feinde sind inzwischen meine eigenen Sätze geworden. Ich streiche sie durch und unterstreiche sie. Ich lösche sie aus und hebe sie hervor. […] Du brauchst ja nur statt roter Tinte Menschenblut in die Füllfeder zu füllen, wenn du mit Blut Jesus Faktor Negativ schreiben willst. Menscher ist auch ein Schimpfwort für Menschen. Unsere Magd, die Pine, nannten sie oft Menscher. […] Vor nichts habe ich mich mehr geekelt als vor meinem eigenen Namen. Da ist mir doch lieber, man nennt mich den Menscher. Wissen Sie? fragte ich eine wildfremde Frau auf der Straße. Was? Wissen Sie, wie mein afrikanischer Graupapagei heißt? Wie denn? Unmensch, nenne ich ihn. Unmensch! (MS 784–785)

Dieser Selbsthass mündet dann in die Selbstentfremdung – in Form der Erzählung in dritter Person über den Transvestiten Jakow Menschikow am Ende der Trilogie, von dem im dritten Kapitel die Rede sein wird. Das obige Zitat markiert die Front, an der sich die Zoopoetik Winklers positioniert: gegen den Anthropozentrismus und die damit zusammenhängende Biopolitik. *** Die autobiographische Kritik an der katholischen Biopolitik, die hier in Form der Zoopoetik in Vallejos und Winklers Werk zum Tragen kommt, dient als Interpretationsrahmen für die Strategie einer Rhetorik der Beleidigung. Aus der Perspektive der Verletzten eignet sich der Ich-Erzähler einen Zorn an, um seine Klage über die Macht zu formulieren. Die Verbindung zwischen diesen zwei kritischen Positionierungen (der Zoopoetik und der Beleidigungspoetik) wird zunächst ausführlich behandelt.

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2.2.1 Kleiner Exkurs in die lateinamerikanische queere Zoopoetik des 20. Und 21. Jahrhunderts Um abschließend einige intertextuelle Echoräume94 zumindest ansatzweise zu skizzieren, muss man hier das poetische Werk des queeren kolumbianischen Dichters Raúl Gómez Jattin und das Prosawerk des mexikanischen Autors Mario Bellatin anführen, die neben dem bereits erwähnten Manuel Puig exemplarisch für eine lateinamerikanische queere Zoopoetik stehen. Gómez Jattin verfasste bereits in den 1980er-Jahren sein lyrisches Hauptwerk, Bellatins literarische Karriere begann hingegen erst in den 1990er-Jahren nach der Veröffentlichung seines prominenten Romans Salón de belleza (1994). Beide gehören jedoch Literaturtraditionen an, die sich gegen den Mainstream wendeten: Gómez Jattin verfasste als bekannter poet maudit sein oft skandalöses Werk am Rande der Literaturlandschaft Kolumbiens; Bellatin wandte sich seinerseits in seinem Werk Themen zu, die in der vergangenen Boom-Literaturgeneration eher wenig Platz hatten (das urbane Leben, die Homosexualität, die Tiere, die Krankheit, körperliche Diversität u.a.), und daher kann er der Generation des Post-Booms bzw. der neueren lateinamerikanischen Literatur des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts zugerechnet werden.95 Das lyrische Werk Raúl Gómez Jattins verdeutlicht seine autobiographischen Bezüge, indem das lyrische Ich sich öfter als Raúl präsentiert. Hervorzuheben sind die Gedichte aus der Zeit zwischen 1982 und 1987 seines Bandes Del amor. In diesen Texten findet man nicht nur Reflexionen über seine Homosexualität, die er selbst als in der Kunst erstarkende Weiblichkeit („una feminidad fortalecida en el arte“ [2006, S. 99]) stilisiert, sondern auch über seine zoophilischen Phantasien: Im Gedicht „La gran metafísica del Amor“ postuliert das lyrische Ich eine grundlegendere Metaphysik der Erotik und der Liebe – so kommt das lyrische Ich, nach der Beschreibung des sexuellen Verkehrs zwischen einem weiblichen Esel und einem Freund, zu folgendem Schluss: La gran religión es la metafísica del sexo La arbitrariedad perfecta de su amor El amor que la origina La gran metafísica es el Amor creador de Amistad y Arte

|| 94 Siehe Einleitung. 95 Jorge Volpi bezeichnet Mario Bellatín im Kapitel zur Post-Boom-Literatur seines diagnostischen Buchs El insomnio de Bolívar als „uno de los casos […] más influyentes de las nuevas letras latinoamericanas“ (2009, S. 194) / „einen der einflussreichsten Fälle […] des neuen lateinamerikanischen Schreibens“ (meine Übersetzung).

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Eso no me preparó para someter a la mujer sino para andar con un amigo. (ebd. 100)96

Hier klingt eine These an, die man in Oscar Wildes De profundis findet und die in Winklers Muttersprache von großer Relevanz ist, nämlich Jesus über seine Liebeslehre zum Künstler zu erklären. Der profanierende Gestus Gómez Jattins zielt eindeutig auf das Liebesdogma des Christentums, hier nicht nur in eine Verteidigung der Homosexualität, sondern in eine „Metaphysik der Liebe“ umcodiert, die an die zuvor als spinozistisch charakterisierte Zoopoetik erinnert, nämlich eine Liebe mit dem Weltganzen. Nach der Auflistung der Tiere, die sich für das lyrische Ich ‚besser‘ für den sexuellen Verkehr eignen, gelangt man letztlich wiederum zum metaphysischen Schluss: Todo ese sexo límpio y puro como el amor entre el mundo y sí mismo Ese culear con todo lo hermosamente penetrable Ese metérselo hasta a una mata de plátano Lo hace a uno Gran culeador del Universo todo culeado Recordando a Walt Whitman Hasta que termina uno por dárselo a otro varón Por amor Uno que lo tiene más chiquito que el palomo. (ebd. 102)97

Somit bringt der Dichter die zoopoetischen Implikationen bis an die Grenzen der Ontologie: Die Erotik als eine Position innerhalb des Universums ohne jegliche Moral, zugleich eine Ethik, die das Schöne („hermosamente penetrable“) der Welt feiert. Dafür reklamiert Gómez Jattin diese „perverse“ Liebe als die saubere und reine („sexo límpio y puro“), genau jene, die innerhalb der katholischen Gemeinschaft als das Abstoßendste und Schmutzigste betrachtet wird. Gómez Jattin übertreibt – eine Strategie, die auch bei Vallejo zu finden ist –, um

|| 96 „Die große Religion ist die Metaphysik des Sexes / Die perfekte Willkürlichkeit seiner Liebe Die Liebe, / die sie erschafft Die große Metaphysik ist die Liebe / Schöpfer von Freundschaft und Kunst / Das hat mich nicht darauf vorbereitet, die Frau zu unterwerfen / sondern mit einem Freund zu gehen“ (meine Übersetzung). 97 „All dieser saubere Sex rein wie die Liebe / zwischen der Welt und sich selbst Dieses Ficken mit / allem, was wunderschön penetrierbar ist Dieses Reinstecken / sogar in eine Bananenpflanze Macht einen zum / Großficker des völlig gefickten Universums / In Erinnerung an Walt Whitman / Bis man es am Ende einem anderen Mann besorgt / Aus Liebe Einem, der einen Kleineren hat als eine Taube“ (meine Übersetzung).

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die Moral aufzurufen und zu zerstören, mit einer ähnlichen Geste der Beleidigung, um durch die Skandalisierung die Wirkung des Textes zu verstärken. Unter den zahlreichen Publikationen Mario Bellatins möchte ich hier zwei Romane hervorheben, die in Bezug auf eine zoopoetisch-kritische Schreibweise von Interesse sein können: Zunächst sein Roman Salón de belleza, in dem die Fische eines Aquariums im Zusammenleben mit den menschlichen Figuren des Romans in eine nicht nur symbolische, sondern selbstreflexive Beziehung treten: Die Fische werden zum Spiegel einer tragischen, unausweichlichen Situation.98 Es geht im Roman um einen queer-politisch wichtigen Moment in der Geschichte, nämlich um die HIV-Epidemie, die hier in Bezug auf das Aquariengeschäft thematisiert wird. Im Roman Perros héroes (2003) mit dem aussagekräftigen Untertitel Tratado sobre el futuro de América Latina visto a través de un hombre inmóvil y sus treinta Pastor Belga Malinois (2003)99 befasst sich Bellatin mit der Geschichte eines gehbehinderten Mannes und seiner Hunde, in der die mit den Tieren geteilte prekäre Lage mit der Gesamtsituation des lateinamerikanischen Kontinentes in Verbindung gebracht wird. Der geschlossene Raum, der Käfig des Menschen, geteilt mit den Tieren, führt zu einer zoopoetischen Reflexion über die Folgen einer Biopolitik der Aus- und Eingrenzung des Lebens.

2.3 Moralische Monstren und Lästermäuler: von der Zoo- zur Beleidigungspoetik Si la vérité est trop forte, on la vomit. Julien Green100

Aus dem zuvor Dargestellten lässt sich schließen, dass die ultimative Beleidigung in Winklers und Vallejos Werk gegen die Menschheit gerichtet ist. Das Monströse ist das Nicht-Klassifizierbare, genau das, was eine kritische Auflösung der Gattungsgrenzen im weiten Sinne für sich beansprucht – kritisch, weil sie eine Infragestellung der moralischen Klassifikation impliziert.

|| 98 „En todos estos años el único afectado con la mortandad en los acuarios he sido yo. […] La única reacción que tienen ciertos peces ante la muerte es comerse al pez sin vida“ (Bellatín, [1994] 2017, S. 80). „In all diesen Jahren war ich der Einzige, der vom Massensterben in den Aquarien betroffen war. […] Die einzige Reaktion, die bestimmte Fische vor dem Tod zeigen, ist, die leblosen Fische zu fressen“ (meine Übersetzung). 99 „Traktat über die Zukunft Lateinamerikas aus der Perspektive eines unbeweglichen Mannes und seiner dreißig Belgischen Schäferhunde Malinois“ (meine Übersetzung). 100 1963, S. 83.

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Eine Mischung aus Menschen und Tier hat etwas Monströses an sich. Die Auflösung der Gattungsgrenzen bringt zugleich eine Schock-Wirkung mit sich, eine gewisse Unannehmlichkeit der Betrachtung, die phänomenologische Enttäuschung der Erwartung, die sich z.B. auch in den Kostümen des Faschings oder Halloweens manifestiert: Es wird mit dem Monströsen eine gewisse Lust am Schrecken, an der Enttäuschung der Pragmatik der Wahrnehmung bezweckt. Das queere Subjekt entzieht sich als unlesbares, unmoralisches Subjekt der Sittlichkeit und wird somit zum Monstrum. Fast gegen Ende der autobiographischen Projekte Vallejos und Winklers, in einer Art Fazit der queeren Zoopoetik, aber auch der Betonung des Monströsen, wird das Fehlerhafte der göttlichen Schöpfung ironisch zelebriert: Estipula la segunda Ley de la Termodinámica que el orden de los seres vivos sólo se puede dar a costa de más desorden en el Universo. Cosa que me confirma la necedad del Creador: ¿qué es eso de ordenar desordenando? […] Dueño y Señor del Caos Dios teje las trama [sic!] de este mundo a la chambona, con sus caóticas manos. (EF 240)101

Das Leben ist, so Vallejo, als chaotisch, nicht klassifizierbar zu verstehen: Das Monströse gehört zur Natur, zum Leben. Wenn es, so Vallejo, eine transzendentale Ordnung gibt, dann nur eine, die die Unordnung stiftet. Im allerletzten Absatz der Autobiographie Winklers zitiert der Ich-Erzähler einen vom Transvestiten Jakow Menschikow im ‚Gipfelkreuzbuch‘ eingravierten Satz: „Ich danke Gott für die Fehler in seiner Schöpfung“ (MS 849). Das Fehlerhafte wird zelebriert – ein Aspekt, der in der queeren Theorie bereits als Teil eines queeren Denkens mitgedacht wurde.102 Hans Mayer definiert diese Art von ‚moralischen Monstren‘ folgendermaßen: „Ihnen leuchtet nicht das Licht des kategorischen Imperativs, denn ihr Tun kann nicht zur Maxime einer allgemeinen Gesetzlichkeit gemacht werden. Eben darum jedoch muß sich Aufklärung vor ihnen bewähren“ (1975, S. 11). Der Erkenntnis- und Ethikgehalt eines solchen monströsen Außenseiters ist evident: Gerade die Abweichung von jeglichem Gesetz ist der Ort einer besonderen Aufmerksamkeit, die mit jener der Zoopoetik einhergeht. Das Zelebrieren des Feh|| 101 „Das zweite Gesetz der Thermodynamik besagt, dass die Ordnung der Lebewesen nur um den Preis von mehr Unordnung im Universum gestiftet werden kann. Etwas, dass die Torheit des Schöpfers bestätigt: Was ist das, die Unordnung zu ordnen? […] Besitzer und Herr des Chaos, webt Gott die Intrigen dieser Welt in seiner Schlampigkeit, mit seinen chaotischen Händen“ (meine Übersetzung). 102 Das Fehlerhafte wird im Sinne des Scheiterns oder Versagens (Halberstam 2011) oder des Monströsen selbst (Mayer 1975) thematisiert.

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lerhaften, Nicht-Klassifizierbaren, des Schmutzigen geschieht zugleich auf der Ebene der Sprache, nämlich im bissigen, bösartigen Sprechen, in der Beleidigung. Gerade am Beispiel literarischen Schreibens drückt sich auf der Ebene der Rhetorik diese Erweiterung des guten, erlaubten Sprechens aus: in Form der Beleidigung. Mayer unterscheidet zwei Arten von Monstren, die intentionalen und die existenziellen, von denen die ersten als die moralischen verstanden werden. Mayer deutet die moralische Ungeheuerlichkeit dabei besonders aus der Perspektive des Christentums: Alles wird reduziert auf ein Innen und ein Außen in Bezug auf die Welt des Corpus christianum. Innerhalb dieser Gemeinschaft ist allein das intentionale Außenseitertum denkbar. Monstren durch ihre Taten und Meinungen sind sündhafte Menschen. (ebd. 15)

Jesus als Menschenparadigma (Menschensohn), und daher als Exemplum des Menschengeschlechts, wird auf der ethischen Ebene in Frage gestellt und somit wird eine Infragestellung der Gattungsgrenzen vollzogen. In der intentionalen Abweichung von der Regel drückt sich eine Monstrosität aus, die hier – genau wie oben bei der disorientation – als lustvoll betrachtet werden soll. Im Zusammenhang mit diesen intentionalen Außenseitern hebt Mayer die Misanthropie hervor, die mit einer Hassrhetorik der Beleidigung einhergeht: die absichtliche melancholische Isolation des Misanthropen, „die vom Menschenfeind angestrebte totale Absonderung“ (ebd. 24). Die Kritik ist Erkenntnis, indem diese die Reduktion der Wirklichkeit auf moralische Klassifikationsmuster durchbricht, und dies betrifft nicht nur die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, sondern auch einen Lebensbegriff, der breiter als jener im Kontext aufkommender, ökologischer Bewegungen der 1980er-Jahre gefasst werden soll: Monstren also, aber Monstren des ethischen Denkens. Hier wird nicht behauptet, dass die Zoopoetik bei Vallejo und Winkler in einer tierischen Schreibweise resultiert,103

|| 103 Im von Franco Volpi zusammengestellten Buch Arthur Schopenhauers, Die Kunst zu beleidigen, findet man eine ähnliche Beobachtung, die die Beleidigung in die Nähe des Tierischen rückt. Volpi zitiert Schopenhauer: „Wenn man merkt, daß der Gegner überlegen ist und man Unrecht behalten wird, so werde man persönlich, beleidigend, grob. […] Es ist eine Appellation von den Kräften des Geistes an die des Leibes, oder an die Tierheit“ ([2002] 2016, S. 5–6), oder „Jede Grobheit ist eigentlich eine Appellation an die Tierheit“ (ebd. 10). Die These, dass die zornige Sprache zur Entblößung des Körpers von der Vernunft führt, ruft unmittelbar Derridas zoopoetische Idee einer Kritik an der Menschheit durch den tierischen Blick auf. Schopenhauer steht der Kunst des Beleidigens eher negativ gegenüber, was sich vielleicht aus dem Kontext des Deutschen Idealismus und der Romantik erklärt. In der vorliegenden Untersu-

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sondern dass sowohl die Zoopoetik als auch die Poetik der Beleidigung als eine ethische Praxis der beiden Autoren verstanden werden soll, die das Ausgeschlossene zum Ausdruck zu bringen und die Reduktion der christlichen Moral auf das Menschlich-Korrekte zu sprengen beabsichtigt. Dies geschieht, indem der Lebensbegriff im Fall der Zoopoetik und die Sprache im Fall der Poetik der Beleidigung erweitert werden. Die Tiere korrespondieren jedoch auch mit einer Erweiterung und Umkehrung der moralischen Wertungen der Sprache, indem sie nicht mehr als Beleidigung – „Du Schwein!“ – fungieren, sondern vielmehr das Menschliche zur Beleidigung wird: Die Werteskala innerhalb des biopolitischen Lebensverständnisses (das Menschliche über dem Tierischen) und des Sprachgebrauchs (das ‚gute‘ über dem ‚böswilligen‘ Sprechen) wird umgekehrt. Wie sich ein Schreiben als Ausdruck eines solchen Außenseitertums verstehen lässt, zeigt eine Betrachtung der hier zu skizzierenden Poetik der Beleidigung. Juan Álvarez bezieht sich in seiner Studie zur Beleidigung in der Geschichte Kolumbiens, Insulto. Breve historia de la ofensa en Colombia (2018), auf die Beleidigung als eine diskreditierte, ja diskriminierte Sprechweise, die in Kolumbien mit der Frage der Klasse verbunden ist:104 „[E]l insulto como testimonio de la vulgaridad del pueblo; el insulto como extravío del incapaz mantenerse a la altura del argumento racional; el insulto como expresión de incultura“ (Álvarez, 2018, S. 18)105. Das Außenseitertum äußert sich, so Álvarez, dann in der beleidigenden Rede nicht nur auf der Ebene der Klassenfrage, sondern auch auf der einer Moral des Sprechens: Es geht um einen unzulässigen Sprechakt. Die beleidigende Rede ist zugleich eine gewaltsame im Sinne einer Grenzüberschreitung zwischen einem Ich und einem Du, die plötzlich diese zwei Instanzen in eine intim affirmierende, aber auch aggressiv-verletzende Beziehung treten lässt; sie ist daher, so Álvarez, eine Sprechweise, die aber juridisch und moralisch für unzulässig erklärt wird. Trotz der Unzulässigkeit wird die Beleidigung als Teil einer Politik der Sprache wirksam, die immer in der Geschichte (Kolumbiens) wesentlich war: Álvarez hebt die verändernde, revolutionäre Gewalt hervor, die die Beleidigung in der politischen Rhetorik und Geschichte

|| chung werden die Beleidigung und die darin ausgedrückte tierische Leiblichkeit hingegen in einem positiven Sinn als ethische Kritik verstanden. 104 Diese Idee, dass die Sprache der Beleidigung nicht berücksichtigt wird, findet man bereits im zuvor zitierten Text Thomas Bernhards in Bezug auf den Zorn: „Der Zorn ist gefürchtet, die einzelnen fürchten ihn von der Masse und die Masse fürchtet ihn von den einzelnen. Er ist eine Finsternis für den Kliniker. Er ist eine Finsternis für den Wissenschaftler“ (1965, S. 163). 105 „[D]ie Beleidigung als Zeugnis der Vulgarität des Volkes; die Beleidigung als Abirrung des Unfähigen, sich auf der Höhe des rationalen Argumentes zu bewegen; die Beleidigung als Ausdruck der Unbildung“ (meine Übersetzung).

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Kolumbiens hervorgerufen hat, nämlich als Moment der Krise der offiziellen, argumentativen Diskurse, als Erwärmung der Sprache: El objetivo es así encontrar, para la polémica, espacio dentro del marco ampliado de la argumentación como escenario donde la violencia verbal puede ocurrir, y ser eficiente […]. Cuando el insulto hace su presencia espantosa, lo que tácitamente es puesto en entredicho es el monopolio entero sobre el lenguaje que ciertas virtudes retóricas ostentan. (ebd. 16)106

Álvarez hebt hier die ethische, moralkritische Funktion der Beleidigung hervor, die genau die Zuordnung des ‚guten‘ („virtudes retóricas“) und des ‚böswilligen‘ Sprechens in Frage stellt und somit das real Politische gegenüber der institutionellen Politik denkbar macht: „Pensar el insulto debe ser entrar en dichas mecánicas de relegación y poder que porfían en su existencia residual como síntoma de fracaso“ (ebd. 19)107. Die Beleidigung wird nicht nur neu bewertet, sondern in ihrer Funktionalität hervorgehoben. Álvarez‘ Ziel ist, den ‚Exzess‘ der beleidigenden Rede in ihrer politischen Kraft sprach- und literaturwissenschaftlich zu analysieren. In diesem Sinne beendet er seine Dissertation mit dem Beispiel Vallejos, anhand dessen er die scheinbar paradoxe Verbindung zwischen Denken und Beleidigung zu analysieren versucht.108 Álvarez beschäftigt sich hier mit Vallejos Beleidigungspoetik als Teil einer Essayistik, in der der Exzess und die Ausuferung – die er beide im Rahmen einer neobarocken Ästhetik betrachtet – zu wesentlichen Bestandteilen des Denkens erhoben werden. In dieser Hinsicht agiert die Kritik Vallejos ideologiekritisch gegenüber ihrem Objekt, d.h. in der Form einer Aneignung und Revolte in einem Diskurs, der an seine Grenzen geführt wird:

|| 106 „Das Ziel ist es somit, für die Polemik Platz zu finden innerhalb des ausgedehnten Rahmens der Argumentation als Szenario, in dem verbale Gewalt auftreten und effektiv sein kann […]. Wenn die Beleidigung ihre furchtbare Präsenz zeigt, wird stillschweigend das ganze Sprachmonopol in Frage gestellt, das einige rhetorische Tugenden zur Schau stellt“ (meine Übersetzung). 107 „Die Beleidigung zu denken, muss heißen, in diese Mechanismen von Verbannung und Macht einzudringen, die auf ihrer Restexistenz als Symptom des Scheiterns beharren“ (meine Übersetzung). 108 Die Frage impliziert bereits den spinozistischen Parallelismus (kein Körper ohne Geist, kein Geist ohne Körper). „En su prosa de ensayo [de Vallejo] – torbellinos hechos de materia científica y religiosa –, ¿cómo leer la convivencia de operaciones habitualmente irreconciliadas como el insulto y el razionamiento?“ (Álvarez, 2018, S. 233) / „Wie kann man in seiner [Vallejos] Prosa – Wirbel aus wissenschaftlicher und religiöser Materie – das Zusammenleben zweier üblicherweise als unversöhnbar verstandener Handlungen wie die der Beleidigung und des Denkens lesen?“ (Meine Übersetzung).

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Por eso Vallejo no se ocupa de la ciencia para hacer ciencia; ni siquiera para criticarla. Expande la prosa a partir del insulto para confrontar sus límites – su campo de saber – y tratarla o ejecutarla en códigos barrocos: sustrayéndose de cualquier lógica de negociación o adaptación; apelando a los valores formales del barroco como vías retóricas de excesso (Calabrese). (ebd. 238)109

Die Thesen, die hier in Vallejos Essays zu naturwissenschaftlichen Themen (La tautología darwinista y otros ensayos de biología, Manualito de imposturología física und Las bolas de Cavendish) aufgestellt werden, lassen sich zugleich auf seine Beschäftigung mit dem Katholizismus übertragen, auf die auch Álvarez eingeht: Es geht um eine Kritik, die in Form einer Übertreibung des Diskurses als Sprachkritik geäußert wird. Im exzessiven Monster-Werden der Sprache wird diese Sprachkritik geleistet. In dieser Weise wird die rhetorische Kraft der Sprache als Handlung hervorgehoben, und dies bedeutet „reclamar la legitimidad de la temperatura verbal de sus operaciones de pensamiento“ (ebd. 259)110. Gerade in der Religionskritik von La puta de Babilonia hat sich Vallejo selbst, so Álvarez, den moralischen Diskurs des Katholizismus angeeignet, um ein Urteil zu sprechen, dadurch mit der Kirche abzurechnen und sich so einen Platz im Diskurs zu verschaffen: El mecanismo del insulto, llevado al extremo de la omnipresencia en La puta de Babilonia […], obra menos la agresión al creyente y más la ampliación de la ofensa como posibilidad de irrupción en el discurso público, interpelación que sacude e incomoda porque enjuicia, condena y castiga en una única pirueta verbal recurrente y cerrada […]. (ebd. 260)111

|| 109 „Daher beschäftigt sich Vallejo nicht mit der Wissenschaft, um Wissenschaft zu betreiben; nicht mal, um sie zu kritisieren. Er erweitert die Prosa anhand der Beleidigung, um ihre Grenzen – ihr Wissensgebiet – zu konfrontieren und sie in barocken Codes zu behandeln und auszuüben: indem er sich jeglicher Verhandlungs- oder Anpassungslogik entzieht; indem er an die formalen Werte des Barocks als rhetorische Wege des Exzesses (Calabrese) appelliert“ (meine Übersetzung). 110 „[…] die Legitimität der sprachlichen Temperatur seiner Denkhandlungen zu reklamieren“ (meine Übersetzung). 111 „Der Mechanismus der Beschimpfung, der in seiner Allgegenwart in La puta de Babilonia auf die Spitze getrieben wird […], agiert weniger als Aggression gegen den Gläubigen, denn vielmehr als Erweiterung der Beleidigung, die es ermöglicht, in den öffentlichen Diskurs einzudringen, eine Interpellation, die erschüttert und missfällt, weil sie richtet, verurteilt und in einer einzigen wiederholenden und geschlossenen sprachlichen Pirouette bestraft“ (meine Übersetzung).

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Der Hauptbegriff in Álvarez‘ Analyse ist die Erweiterung („ampliación“) eines Diskurses, der in seinem argumentativen Scheitern eine Öffnung zu einem neuen Konsens erreichen kann. Diese Öffnung geschieht durch das Eintreten eines Ichs in den Diskurs, das durch die Beleidigung erstens die Grenzen des Sagbaren in Frage stellt und zweitens als interpellierender Bruch einen erneuernden, religiösen oder wissenschaftlichen Pakt ermöglicht. Im Vokativ der Aggression geht es um eine Bestätigung, die mittels der Verletzlichkeit beider Sprechinstanzen zur Schau gestellt wird. Die Beleidigung als Hassrede verbindet, durch die offengelegte Verletzlichkeit (vulnerability) des Sprechenden, zwei Instanzen im Hinblick auf eine neu zu konstituierende Gemeinschaft, also im Hinblick auf eine Öffnung auf die Zukunft hin. Diese kreative Öffnung ist der ethische Moment im Monströsen der Beleidigung, der eher eine Hinwendung zur Zukunft als eine zur Vergangenheit (Konventionen, Traditionen) ermöglicht. Um diese theoretische Auffassung zu fundieren, beziehe ich mich im Folgenden auf weitere theoretische Perspektivierungen der Beleidigung: In der Beleidigung kommt eine Art Sprache ins Spiel, die einer unmittelbaren Affektivität nähersteht als die argumentierende Sprache, die ins (transzendente) Abstrakte tendieren würde: Es geht um die Form des Vokativs. Diese Art des Vokativs, die Ansprechsituation, affiziert in wirksamer Art und Weise die Instanzen des Sprechenden und des Angesprochenen. Dabei relativiert sich auf der semantischen Ebene der Wahrheitsanspruch des Sprechaktes, genau wie Giorgio Agamben es in Bezug auf die nicht apophantischen Ausdrücke erklärt: In Creazione e anarchia (2018) beschäftigt sich Agamben unter anderem mit dem Sprechakt des comando (Befehls)112, der die Diskussion über das Apophantische in den Bereich der Performativität der Sprache und der Sprechakte (Austin) und des religiösen Sprechaktes verschiebt. Dieser Sprechakt entspricht einer anderen, jedoch aber immer im westlichen Denken vorhandenen Ontologie, die – im Gegensatz zum rationalistischen Denken der Wissenschaft – der Religion, der Magie und dem Recht nahesteht.113 Hier setze ich also die reli-

|| 112 Agamben beschäftigt sich mit der Frage „Che cos’è un comando?“ im vierten Essay seines letzten Buches Creazione e anarchia (2017, S. 91ff). 113 „Ciò significa che l’ontologia occidentale è, in realtà, una macchina doppia o bipolare, in cui il polo del comando, rimasto per secoli nell’età classica all’ombra dell’ontologua apofantica, a partire dall’età cristiana comincia ad aquisire progressivamente una rilevanza sempre più decisiva“ (Agamben, 2017, S. 104). / „Dies bedeutet, dass die westliche Ontologie in Wirklichkeit eine doppelte oder bipolare Maschine ist, bei der die Seite des Befehls über Jahrzehnte im Schatten der apophantischen Ontologie des klassischen Zeitalters geblieben ist, die Seite, die seit dem christlichen Zeitalter allmählich immer mehr Bedeutsamkeit zu gewinnen beginnt“ (meine Übersetzung).

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gionskritische Beleidigung in Relation zu dieser anderen Ontologie, die die Unterscheidung zwischen Sophistik und Philosophie bzw. zwischen Rhetorik und Wahrheitssuche oder zwischen ontologia del comando und ontologia dell‘asserzione mit bedingt.114 Diese nicht apophantische Sprache stellt eine direkte Relation zwischen Sprache und Welt her, wie Agamben mit Bezug auf Austins Sprechakttheorie argumentiert. Genau diese Perspektive, die die Performativität der Sprache hervorhebt und die beabsichtigte Kritik verstärkt, wird auch in die aktuellen Konzeptionen der Beleidigung von Juan Álvarez, Judith Butler, Robert Pfaller und Carolina Sanín eingebracht und für die Auseinandersetzung mit der Beleidigung produktiv gemacht. Judith Butler basiert ihre bereits klassisch gewordene Theorie der Beleidigung in ihrem Text Excitable Speech. A Politics of the Performative (1997) auf Austins Sprechakttheorie und legt somit den Schwerpunkt auf die Performativität der Beleidigung. Dies bedeutet, dass die Beleidigung in ihrem Kontext als Sprechakt, der mit bestimmten Konventionen verbunden ist oder nicht, aber auch in ihrer rituellen und zeremoniellen („ritual and ceremonial“) Natur betrachtet werden soll. Wichtig in Butlers Auffassung ist die Problematik, die speziell die Beleidigung („offensive speech”) prägt, nämlich eine gewisse Desorientierung bei der Verortung oder Kontextualisierung eines solchen Sprechaktes: „To be addressed injuriously is not only to be opened to an unknown future, but not to know the time and place of injury, and to suffer the disorientation of one’s situation as the effect of such speech“ (1997, S. 4). Die Beleidigung eröffnet einen Raum der kausalen Effekte, d.h. sie eröffnet in einer kritischen Art und Weise eine zeitliche Konfrontation, die aufgrund einer Desorientierung durch die fehlende argumentative, apophantische, logische Rede verursacht wird: Die Folge der Beleidigung ist unberechenbar. Es handelt sich dann um einen Sprechakt – mit seiner ganzen performativen Kraft („agency“) –, dessen Effekte aber verschoben sind und somit einen künftigen Handlungsraum möglicher Reaktionen eröffnen. Was somit erreicht wird, ist eine Situation der Verletzlichkeit („vulnerability“), sprich einer Verletzlichkeit aufgrund der Möglichkeit, dass die Beleidigung ineffizient bleibt und somit scheitert; eine Verletzlichkeit, die im Sinne Butlers als ein politisch konstituierender Moment gedacht wird115. Hierauf bezieht sich Álvarez in seiner Analyse der

|| 114 Vgl. Agamben, 2017, S. 105. 115 Anlässlich der Ereignisse am 11.09.2001 in New York befasst sich Judith Butler in Precarious Life mit der Frage nach der grundlegenden Verletzlichkeit und der Rolle der Trauer im Politischen: „This means that each of us is constituted politically in part by virtue of the social vulnerability of our bodies – as a site of desire and physical vulnerability, as a site of a publici-

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politischen, gemeinschaftskonstituierenden Funktion der Beleidigung in der kolumbianischen Geschichte.116 Weil es sich hier um einen Sprechakt handelt, der direkt zum Thema der sexuellen Minderheiten führen kann, beginnt Didier Eribons Sur la question gay mit einer Betrachtung der Beleidigung, nämlich mit jenem Sprechakt, in dem das schwule Subjekt in seiner Verletzlichkeit konstituiert wird.117 Gemeint ist auch die subjektkonstituierende Funktion dieses Sprechaktes, die zwei Subjekte in ihrer Verletzlichkeit in Konfrontation stellt. Butler betont diesen Punkt, wenn sie sich auf Althusser bezieht und behauptet: „Hate speech exposes a prior vulnerability to language, one that we have by virtue of being interpellated kinds of beings, dependent on the address of the Other in order to be“ (ebd. 26). Dieser These begegnet man auch bei Carolina Saníns, deren Konzept der Beleidigung unten behandelt wird: Die Beleidigung führt zur affektiven, konstituierenden, spinozistisch-ontologischen Lage der Seienden in ihrer differenziellen Konfrontation zurück. Butlers Thesen basieren auf der Annahme einer Autonomie der Sprache, wonach der Beleidigende nur in der Zitierung dieses besonderen Sprechaktes als verantwortlich angesehen wird.118 Als autonomem Sprechakt kommt der Hassrede auch eine gewisse Komik zu, nämlich in der infelicity of hate speech. Die Nicht-Kontrollierbarkeit des Aktes der Beleidigung liegt darin begründet, dass das Gelingen nicht durch die Einhaltung bestimmter Konventionen garantiert || ty at once assertive and exposed. Loss and vulnerability seem to follow from our being socially constituted bodies, attached to others, at risk of losing those attachments, exposed to others, at risk of violence by virtue of that exposure“ ([2004] 2006, S. 20). 116 „Such speech is, however, vulnerable to failure, and it is that vulnerability that must be exploited to counter the threat“ (Butler, 1997, S. 12). 117 „It all begins with an insult. The insult that any gay man or lesbian can hear at any moment of his or her life, the sign of his or her social and psychological vulnerability. […] One of the consequences of insult is to shape the relation one has to others and to the world and thereby to shape the personality, the subjectivity, the very being of the individual in question. […] The insult lets me know that I am not like others, not normal. I am queer: strange, bizarre, sick, abnormal“ (Eribon, 2004, S. 15). 118 „The speaker assumes responsibility precisely through the citational character of speech. The speaker renews the linguistic tokens of a community, reissuing and reinvigorating such speech. Responsibility is thus linked with speech as repetition, not as origination“ (Butler, 1997, S. 39). Gianluca Rizo bezieht sich auf diese ambivalente Struktur der Beleidigungspoetik zwischen Neuigkeit und Wiederholung, indem er festhält: „This double constraint (creativity and transparency) produces an endless quantity of variations, and is the real engine of that verbal inventiveness we see at play […]“ (2016, S. 11). In derselben Art und Weise bezieht sich Thomas Conley auf eine Grundstruktur der Beleidigung, die die Zitierbarkeit Butlers gewährleistet: „identification“ oder Einverständnis einer beleidigenden Semantik und Pragmatik eines Ausdruckes (2016, S. 67).

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ist – anders als bei anderen performativen Sprechakten, z.B. dem formelhafte „Ja“ der Ehepartner vor dem Traualtar:119 Vallejos vorletztes Buch Memorias de un hijueputa (2019) ist ein klares Beispiel hierfür, da der Ich-Erzähler Vallejo sich der Souveränität eines Diktators ermächtigt, um mittels Sprachgewalt eine Verurteilung, ja eine Auslöschung Kolumbiens zu vollziehen, die aufgrund ihres notwendigen Scheiterns ins Komische umkippt. Die wegen der Impotenz überspitzte Hassrede tendiert somit ins Komische. Diese Komik basiert auf einer Grundunterscheidung Austins, nämlich zwischen prelocutionary und illocutionary act: „Whereas illocutionary acts proceed by way of conventions […], perlocutionary acts proceed by way of consequences“ (ebd. 17). Dies macht die Beleidigung zu einer zukunftsoffenen Sprachform, die man als eine Poetik verstehen kann: Die affektive Zielgerichtetheit der Beleidigung eröffnet verschiedene Wege der poetischen Ausformulierung – nicht nur einen. Daraus ergibt sich die iterative Natur der Beleidigung, die man in extenso im ganzen Werk Vallejo wiederfindet:120 „As an invocation, hate speech is an act that recalls prior acts, requiring a future repetition to endure“ (ebd. 20). Ist es nicht die Eigenart aller konventionellen Beleidigungen, auf die Iteration zu rekurrieren, um ihr Unvermögen, physische Gewalt auszuüben, zu kompensieren? Hat das iterative Beleidigen Vallejos und Winklers – und auch Bernhards – nicht an diesem Aspekt der Beleidigungspoetik teil? Die rhetorische, performative, aber impotente Kraft der Beleidigung ist somit von Butler theoretisch erklärt, sie kann aber auch im Rahmen queerer Politiken, wie in unserem Fall, wirksam werden, nämlich in der Kritik der in der Justiz missachteten wichtigen Unterscheidung zwischen Handeln („conduct“) und Sprechen („speech“), womit Beleidigung – oder Hassrede, aber auch Klage – illokutiv verstanden werden soll: [I]t seems clear that legal precedents for the curtailment of ‘speech’, broadly construed, are supported by the use of the illocutionary model of hate speech. The firmer the link is made between speech and conduct, however, and the more fully occluded the distinction between felicitous and infelicitous acts, the stronger the grounds for claiming that speech not only produces injury as one of its consequences, but constitutes an injury itself, thus becoming an unequivocal form of conduct. The collapse of speech into conduct, and the concomitant occlusion of the gap between them, tends to support the case for state inter-

|| 119 „[W]hen I say ‘I condemn you’, but I’m not in a position to have my words considered as binding, then I may well have uttered a speech act, but the act is, in Austin’s sense, unhappy or infelicitous: you escape unscathed. […] Indeed, many of them are comic in this regard“ (Butler, 1997, S. 17). 120 Ein Beispiel wären die in Vallejos Gesamtwerk wiederholten Beleidigungen von Octavio Paz oder von Wojtyla (Johannes Paul II.). Siehe Kapitel 2.3.4.

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vention, for its ‘speech’ in any of the above cases can be fully subsumed under conduct, then the first Amendment is circumvented. To insist on the gap between speech and conduct, however, is to lend support for the role of nonjuridical forms of opposition, ways of restaging and resignifying speech in contexts that exceed those determined by the courts. Strategies devised on the part of progressive legal and social movements thus run the risk of being turned against those very movements by virtue of extending state power, specifically legal power, over the issues in question. (ebd. 23–24)

Die Beleidigung gehört somit, in der Denklinie Butlers und Austins, einem amoralischen Bereich jenseits des Gesetzes an, ja sogar einem Bereich, der vom Gesetz selbst als unzulässig erkannt wird, wenn das Gesetz zwischen Verhalten und Sprechen nicht unterscheidet. Es ist nämlich dem Gesetz bzw. der Gesetzeskraft wesentlich, das Gesagte in seiner illokutiven Natur als Handlung zu verstehen (z.B. im Vertrag, Verleumdung usw.). Die Überspitzung der perlokutiven Natur der Beleidigung – die Öffnung auf eine Zukunft der Effekte – ist ein Teil der Poetik und Politik der Beleidigung, die gerade auf der Unterscheidung zwischen Tun und Sagen insistiert. Die Beleidigungspoetik kann im Rahmen der postmodernen Gesellschaft, in der eine zunehmende Kultur der political correctness zum Tragen kommt, als skandalös wahrgenommen werden: Der Begriff der „schwarzen Wahrheiten“ des österreichischen Philosophen Robert Pfaller in seinem Buch Erwachsenensprache: Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur (2018) kann in dieser Hinsicht einleuchtend sein. Pfallers entwickelt sein Konzept der „schwarzen Wahrheit“ im Kontext seines Plädoyers zur Rettung einer verschwindenden Erwachsenensprache, für deren Wiedererlangung „wir […] manchmal in Kauf nehmen müssen, ein wenig böse zu sprechen […]“ (2018, S. 11). Pfallers Plädoyer für eine Erwachsenensprache steht daher sehr nah an einer Apologie der zornigen Sprache, die – wie im Falle der „schwarzen Wahrheiten“ – „bestimmte Zustände (mehr, als es irgendjemand wirklich kann) [bestätigen], um ihnen den schützenden Überbau zu entziehen und sie dadurch unmöglich zu machen“ (ebd. 94). Der schützende Überbau ist jener der Moral, der die ‚grelle‘ Bejahung der Zustände verdeckt. Vallejos Beleidigungen sind Teil dieses schwarzen Humors, der – so Pfaller – weitgehend aus der medialen Öffentlichkeit verschwunden sei,121 der aber, „eine notwendige Voraussetzung für eine kritische Theorie darstellt“ (ebd. 93). Ähnlich wie es bei Bernhard in Bezug auf den Zorn hervorgehoben wurde, richtet sich die Beleidigung gegen eine Erstarrung und die

|| 121 Siehe Pfaller, 2018, S. 91.

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Tabuisierung eines Teils der Sprache und Kultur, der aber notwendig für die Kritik sei: Was sie [die schwarze Wahrheit] sagt, mag ganz vernünftig sein, nur ist es schlechthin skandalös, es überhaupt zu sagen. Die Behauptungen der schwarzen Wahrheit erscheinen von einem „unmöglichen Standpunkt“ aus vorgetragen. […] Ihr Standpunkt erlaubt keine Identifizierung. Niemand unter den Anwesenden kann der schwarzen Wahrheit zustimmen oder ihr seine Stimme leihen, um sie auszusprechen. Man könnte darum sagen: Die schwarze Wahrheit ist das, was die Lage selbst zu ihrer Rechtfertigung vorbringen würde, wenn sie denn sprechen könnte. Sie ist, um es in den Begriffen der klassischen Rhetorik zu sagen, die „Prosopopoia“ der objektiven Situation. (ebd. 93–94)

Die „schwarze Wahrheit“ ist „unverdaulich“,122 weil sie sich dem Rahmen des Moralischen und der Höflichkeit entzieht:123 Sie ist unerträglich, aber Teil einer notwendigen kritischen Haltung, die mit ihren „absichtlichen Regelverletzungen“ eine „Befreiung“ (vom moralischen Überbau) mit sich bringt.124 Diese Haltung wird nur erträglich, so Pfaller, „unter der Bedingung, dass diese im Ton der Empörung vorgetragen wird“ (ebd. 95). Diesen Standpunkt einzunehmen, bedeutet die Ich-Perspektive zu betonen, das Körperliche in den Vordergrund zu stellen, ein subjektives Ausgeklammertes zu retten. Die „befreiende Brüskierung“ (ebd. 99) durch „schwarze Wahrheiten“ ist eine mimetische Aufdeckung schlechter politisch-sozialer Sachverhalte. „Schwarze Wahrheiten“ haben sich somit „als mächtige Waffen gegen Situationen erwiesen, in denen schlechte Verhältnisse sich gerade durch Überbauten aus schwarzen Lügen gestützt zeigten. In solchen Momenten legten sie schonungslos […] die Struktur dieser Verhältnisse offen […]“ (ebd. 109). Sie nutzen eine Sprachgewalt gegen tatsächliche, sozio-politische, körperliche Gewalt, indem sie diese verunmöglichen, indem ihr die euphemistische, moralische Bedeckung („schwarze Lüge“) weggezogen wird. Die meist verdeckte Realität wieder in ihrer Drastik zu enthüllen und dabei euphemistische Politiken auszuklammern, ist auch die Intention der Beleidigungen der Mutterschaft bei Vallejo oder der Rede über die Heiligkeit Hitlers bei Winkler, die unten beschrieben werden. Ich möchte diese Vorstellung der Befreiung oder Entblößung (Derrida) einer zuvor ausgeschlossenen zornigen Rede im Rahmen der Zoopoetik deuten, und

|| 122 Vgl. Pfaller, 2018, S. 94. 123 Selbst Pfaller bezieht sich auf die Figur der „Bestie“ oder des „Primitiven“, wenn der kritische Aspekt dieses Zeigens der schwarzen Wahrheit nicht erkannt wird und bloß als Skandalon aufgenommen wird (2018, S. 102). 124 Vgl. Pfaller, 2018, S. 99–98.

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zwar als eine ökologische Haltung gegen die moralische Erstarrung und Verdeckung der Sprache und des kritischen Denkens. Diese These entspricht der Position Carolina Saníns in Bezug auf die beleidigende Sprache bei Vallejo.125 Gerade auf die notwendige Annahme, dass Sprache juridisch nicht gleich als Gewaltakt zu verstehen sei, gründet Carolina Saníns Apologie der Beleidigung, die sich mit ihrer Theorie auf Vallejos Werk und auf die besondere Situation Kolumbiens bezieht: Sanín versucht dabei, die pazifistische Funktion der Beleidigung, die Sprachgewalt – oder mit Álvarez Spracherwärmung und -erweiterung – als politische Kraft in ihrer Opposition zur körperlichen, faktischen Kriegsgewalt zu verstehen.126 Im Vortrag „Imprecación y saludo amoroso“ (2017) entwickelt die kolumbianische Autorin und Literaturwissenschaftlerin Carolina Sanín eine mystische Theorie der Beleidigung anhand von Vallejos Werk, die im Inneren eine Apologie der Beleidigung darstellt. Die These Saníns soll in Verbindung mit ihrer Kolumne vom 24. Januar 2017 im Kulturmagazin Arcadia „Sobre el insulto ‚parido por el ano‘“ („Über die Beleidigung ‚Arschgeburt‘“) gelesen werden: In die-

|| 125 Félix Guattaris Les trois écologies beginnt mit der Annahme eines „Implosionsvorgangs und einer regressiven Infantilisierung“ ([1989] 1994, S. 12) in der Welt der 1980er-Jahre. Diese Annahme hängt nicht nur mit jener Bernhards in seinem Text „Der Zorn“ zusammen, sondern auch mit der Diagnose Pfallers, dass die Erwachsenensprache verschwinde, und schließlich mit einer ethischen kritischen Praxis, die hier konsequenterweise bei Vallejo und Winkler zu finden ist. 126 In Bezug auf den Kynismus, laut Peter Sloterdijk die Urform des modernen Zynismus, spricht der deutsche Philosoph über die gleichzeitige negative Überspitzung der Menschenverachtung und die pragmatische Menschenachtung oder -liebe: „In seiner Überspitzung hat es eine misanthropische Seite, ebenso wie es in seiner praktischen Wirkung ausgleichend und humanisierend wirken kann. Diese Ambivalenz ist theoretisch nicht zu lösen, […] ob Diogenes als Person mehr Misanthrop als Philanthrop war […]“ (1983, S. 308). Auf der Oberfläche kann man Vallejos Literatur als eine Hassäußerung gegen Kolumbien verstehen. Die Lektüre Saníns erlaubt nun, diesen oberflächigen Hass als eine politisch aktive, von der Liebe gesteuerte Sprachpolitik zu verstehen, die im Dienste Kolumbiens gelesen werden kann: Die Gewalt und der Hass wird von der physischen in die sprachliche, poetische Gewalt verwandelt. Demgemäß erklärt Vallejo in seiner Rede im Rahmen des Schriftstellerkongresses in Bogotá im Jahr 1998 seine Motivation und den Grund seines Schreibens mit dem Land Kolumbien selbst. Er schreibe, so Vallejo, für Kolumbien: „En medio de su dolor y tragedia Colombia es alucinante, deslumbrante, única. Por ella existo, por ella soy escritor. Porque Colombia con sus ambiciones, con sus ilusiones, con sus sueños, con sus locuras, con sus desmesuras me encendió el alma y me empujó a escribir“ (Vallejo, [2013] 2015, S. 50)./ „Inmitten seines Schmerzes und seiner Tragödie ist Kolumbien wundervoll, beindruckend, einzigartig. Dafür existiere ich, dafür bin ich Schriftsteller. Weil Kolumbien mit seinen Ambitionen, mit seinen Illusionen, mit seinen Träumen, mit seinem Wahnsinn, mit seiner Maßlosigkeit meine Seele entfacht und mich zum Schreiben gedrängt hat“ (meine Übersetzung). Das Gewalttätige, das Maßlose im gewalttätigen Geist Kolumbiens wird gerade im Schreiben produktiv genutzt.

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ser Kolumne bezieht sich die Autorin auf die polemische Verwendung der Beleidigung „parido por el ano“ („Arschgeburt“) in den Medien, indem sie zuerst die Beleidigung als genuinen Teil der Sprache versteht und daher dafür plädiert, diese nicht aus einer moralischen Perspektive zu betrachten. Danach bezieht sich die Autorin auf die komisch-absurde Semantik der Beleidigung „Arschgeburt“ (der Vergleich mit der Verstopfung) und auf die humorvolle Klangähnlichkeit zwischen dem Fötalen und dem Fäkalen. Aber das Wichtigste, das Sanín an dieser Beleidung hervorhebt, sind ihre von der Autorin als feministisch verstandenen, aber auch marxistisch motivierten Folgen: Anstatt der gängigen Beleidigung „malparido“ (Missgeburt), die auf eine Unfähigkeit der Mutter hindeutet, bleibt in der absurden Behauptung, durch den Anus geboren zu werden, die Frage der Geschlechter offen, indem auch ein Mann an der Geburt beteiligt sein könnte; darüber hinaus geht es um die Verwendung einer Sprache, die näher am „Pöbel“ („vulgo“) steht und daher einer politisch-linken Fraktion zuzurechnen wäre. In dieser Hinsicht geht es bei Sanín weniger um eine Verteidigung der spezifischen Beleidigung als eine der Poiesis und der Nutzung der beleidigenden Sprache als Teil der Sprache allgemein, und insofern jenseits der vom Sexismus und von der Biopolitik kodierten gängigen Beleidigungen.127 Die Argumentation Saníns mündet in eine Verteidigung der Beleidigung im Sinne einer literarischen und politischen Praxis, die Vallejo sehr nahesteht, deren Tradition jedoch viel weiter gefasst wird (Dante, Cervantes): Soy vulgar como lo era Dante y como lo fueron los poetas del Siglo de Oro español. Uso la lengua del vulgo, es decir, la de todos. […] Eso me alienta, ya que fui parida por una vagina —y a veces reparida por el culo del diablo, como Dante, cuando sale del Infierno — con el principal propósito de conocer, amar, inventar y usar mi lengua: toda mi lengua y todas sus palabras, pues todas son bellas y cada una tiene su nobleza. (Sanín, 2017b)128

|| 127 „Mi insulto, pues, hace que cambien las cargas de género de los ya consabidos, desgastados y un poco aburridores insultos genéricos —en el sentido de ‘comunes‘, y también de ‘referentes al género‘ (hago la aclaración habiéndome resignado a que en este país hay que explicar toda ironía)— “ (Sanín, 2017b) / „Meine Beleidigung verdreht also die geschlechtlichen Aufladungen der bereits bekannten, abgenutzten und ein wenig langweiligen generischen Beleidigungen – im Sinne von ‚üblichen‘ aber auch im Sinne von ‚auf das Geschlecht bezogen‘ (ich erkläre das, da ich mich damit abgefunden habe, dass man in diesem Land jede Ironie erklären muss) –“ (meine Übersetzung). 128 „Ich bin vulgär wie Dante, und wie es die Dichter des Siglo de Oro waren. Ich verwende die Sprache des Pöbels, das heißt, die Sprache von uns allen. […] Das ernährt mich, da ich von einer Vagina geboren wurde – und manchmal wiedergeboren vom Arsch des Teufels, wie Dante, wenn er aus der Hölle kommt –, mit dem Hauptzweck, meine Sprache kennen zu lernen, zu lieben, zu erfinden und zu benutzen: meine ganze Sprache und all ihre Wörter, da sie

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In der Beleidigung steckt ein emanzipatorisches Potenzial, das wie bei Vallejo in einer intellektuellen Geste, hier jedoch als feministisches Mittel zelebriert wird: Vean a una mujer que quiere adueñarse de su idioma. Y si esto los hace sentirse castrados, señores, y si esto las hace resentir los límites que les han impuesto y que ustedes han aceptado, señoras, eso es problema de ustedes. Solucionen su problema. Conozcan y usen su lengua; aprovéchenla, retuérzanla, aféenla, hermoséenla, incluidas las “malas palabras”, si acaso sienten la inclinación. (ebd.)129

Auf diese Weise rechtfertigt Sanín die Beleidigung als literarisch-schöpferisches Feld der Sprache, das sie in ihrem Vortrag „Imprecación y saludo amoroso“ mit der Analyse dieser ontologisch anders kodierten Sprache bei Vallejo ausführlicher behandelt, und zwar in Verbindung mit der Sprache der Liebe. Implizit ist bereits die Butler’sche Behauptung einer grundlegenden subjektkonstituierenden Interpellation der Sprache, in der wir als Subjekte – bewusst bzw. meist unbewusst – schon Teil dieser grundlegenden Konstituierung sind,130 und Daniel Balderston sieht sogar in dieser Interpellation den Grund für das Skandalon von Vallejos Werk.131 Sanín bezieht sich schon im ersten Zitat auf das Thema der Liebe und findet dieses auch in Vallejos Praxis des iterativen Beleidigens wieder. Ihr Vortrag

|| alle schön und jedes einzelne seine Würde hat“ (meine Übersetzung). Es ist bemerkenswert, dass Sanín sich hier auf das Siglo de Oro bezieht, genau jene Epoche, in der die Beleidigung als literarische Rhetorik am meisten aus einer literaturhistorischen Perspektive erforscht wurde. Siehe Pérez-Salazar, Tabernero, & Usunáriz, 2013, oder Albuixech, 2001 – Studien, die in der Regel eine Klassifikation der Arten und Formen der Beleidigung lieferten, ohne die poetische und/oder politische Funktion der Beleidigung zu untersuchen. 129 „Sehen Sie hier eine Frau, die sich ihrer Sprache bemächtigen möchte. Und wenn Sie sich dadurch entmannt fühlen, meine Herren, und wenn Sie sich deshalb über die verletzten Grenzen ärgern, die Ihnen auferlegt wurden und die Sie akzeptiert haben, meine Damen, dann ist das Ihr Problem. Lösen Sie Ihr Problem selbst. Kennen und benutzen Sie Ihre Sprache; nutzen Sie sie aus, verdrehen Sie sie, verunstalten Sie sie, verschönern Sie sie, inklusive der ‚bösen Wörter‘, falls Sie die Neigung dazu verspüren“ (meine Übersetzung). 130 Vgl. Butler, 1997, S. 30. 131 „Uno de los logros de la primera persona que maneja Vallejo es que entabla un diálogo con su lector. Por eso mismo ha despertado reacciones tan fuertes en algunos lectores, porque se sienten interpelados de modo vehemente por su voz“ (Balderston, 2010, S. 261). / „Eine der Errungenschaften der Verwendung der ersten Person Singular, die Vallejo benutzt, besteht darin, dass er einen Dialog mit dem Leser beginnt. Aus dem Grund hat er bei manchen Lesern so starke Reaktionen hervorgerufen, weil sie sich in heftiger Art und Weise durch seine Stimme interpelliert fühlen“ (meine Übersetzung).

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über den Zusammenhang zwischen der Liebes- und Hassrede fängt so an: „Vallejo es un imprecador constante“ (Sanín, 2017a / „Vallejo ist ein ständig Fluchender“). Auf den ersten Blick ist das Beleidigen eine destruktive Kraft, die jedoch – verbunden mit der Blasphemie – eine Bejahung mit sich bringt: „E insulta, también, como quien quisiera blasfemar. En su escalada imprecadora e increpante, busca o construye lo sagrado para, más allá de lanzar un grito rabioso, realizar un sacrilegio. En esa medida, el insulto que reduce también magnifica“ (ebd.)132. In der Vergrößerung („magnificencia“) – Álvarez‘ Erweiterung – geschieht „una dedicación concentrada a la segunda persona“ (ebd.)133: Es ist das Objekt des Vokativs, das Du, das in der Beleidigungsrede zelebriert wird.134 Diese „Art der Hingabe“ („manera de devoción“) lässt zu, dass die Hassund die Liebesrede ununterscheidbar werden, was Sanín in der Idee der Liebe unter Auftragsmördern in Vallejos La virgen de los sicarios bestätigt sieht. Vallejos Idee der Liebe habe, so Sanín, mit einem Moment der Zerstörung zu tun, das an Mystik grenzt: En esa articulación doble, tendría lugar la experiencia espiritual de interiorización de Dios negado y adorado, y, más allá, de identificación con él. La imprecación blasfema se presenta como un camino espiritual, un camino hacia la experiencia de Dios; no del Dios de la religión, sino del de la mística: del Dios que es la Nada. (ebd.)135

Im absoluten Nihilismus erfährt, so Sanín, der Katholizismus eine ultimative Bejahung. Daher behauptet sie, dass die Beleidigung bei Vallejo immer im Zeichen eines Gebets stehe, das durch die Intensität, die Zielgerichtetheit und die

|| 132 „Und er beleidigt auch wie jemand, der gerne blasphemieren will. In seiner beleidigenden und fluchenden Eskalation sucht oder baut er das Heilige, um, mehr als einen zornigen Schrei auszustoßen, ein Sakrileg zu begehen. Die Beleidigung, die reduziert, verherrlicht in dieser Hinsicht auch“ (meine Übersetzung). 133 „[…] eine konzentrierte Hingabe an die zweite Person“ (meine Übersetzung). 134 Diana Diaconu betont, wie wichtig diese Adressierung im Werk Vallejos gerade in Bezug auf seinen zynischen Gehalt ist: Das Werk Vallejos ist, so Diaconu, an ein spezielles Publikum gerichtet, das durch dessen im Text antizipierte Lektüre einen wesentlichen Bestandteil des Werkes ausmacht (2010, S. 227). 135 „In dieser doppelten Artikulation fände die spirituelle Erfahrung der Verinnerlichung des negierten und bejahten Gottes und darüber hinaus der Identifikation mit diesem statt. Der blasphemische Fluch präsentiert sich als spiritueller Weg, ein Weg zur Erfahrung Gottes; nicht des Gottes der Religion, sondern desjenigen der Mystik: des Gottes, der das Nichts ist“ (meine Übersetzung).

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Wiederholung als solches rhetorisch kodiert werde.136 Das Gebet an das Nichts macht aus der Ich-Rede, so Sanín, paradoxerweise einen Wunsch nach einer Negation des Ichs: „El insulto — esa concentración en la segunda persona — se vuelve una borradura de sí. Una negación del ego“ (ebd.)137. In dieser Hinsicht, als mystisches Gebet des Nichts und als Auflösung des Ichs,138 ist die Beleidigung bei Vallejo für Sanín die Evokation einer kommenden Gemeinschaft, eine Liebeserklärung an ein Du, an den oder die Leser*in: „El autor del insulto se entrega al otro, se pone en sus manos y pone en la voluntad del otro todo afecto y afección que podría recibir. La imprecación es un llamado urgente y unívoco de atención, un clamor amoroso y abandonado“ (ebd.)139. Die Klage kommt hier wiederum in Verbindung mit der Beleidigung vor, eine Klage der Verletzlichkeit, die hier auf eine künftige Gemeinschaft hinzielt: La imprecación es, de nada a Nada, una salutación mística, un ave. El saludo inspirador y entregado —la bendición, el reconocimiento amoroso de la fe— surge de su presentación inicial como antisaludo de odio: como maldición. La blasfemia y la comunión son dos momentos de un mismo movimiento indagador y devoto. (ebd.)140

|| 136 „El insulto, totalmente enfocado en el otro, entregado al otro, es entonces una intensa oración, un rezo religioso, cuyo efecto y cuyo sentido no están en su significado, sino en su intención, en su intensidad, en su dirección y en su repetición“ (Sanín, 2017a) / „Die Beleidigung, vollständig auf den Anderen gerichtet, dem Anderen hingegeben, ist daher ein intensives Gebet, ein religiöses Gebet, dessen Wirkung und dessen Sinn nicht in seiner Bedeutung, sondern in seiner Intention, seiner Intensität, seiner Richtung und seiner Wiederholung liegen“ (meine Übersetzung). 137 „Die Beleidigung – diese Konzentration auf die zweite Person – wird zu einer Auslöschung des Selbst. Eine Negation des Egos“ (meine Übersetzung). 138 In dieser Hinsicht wäre die ultimative Beleidigung eine, die alles verneint und somit alles umfasst. Dies wäre die mystische Seite der Beleidigung, die eine gewisse Art negative Theologie mit sich bringt. Eine solche borgianische Idee einer beleidigenden Rede, in der dann konsequenterweise alles ex negativo impliziert ist, wäre der berühmte Fall von „Ernulphu’s anathema“ in Laurence Sternes Tristam Shandy (vgl. Rizo, 2016, S. 9–10). 139 „Der Autor der Beleidigung gibt sich dem Anderen hin, begibt sich in dessen Hände und legt jeden Affekt und jede Affizierung, die er empfangen könnte, in den Willen des Anderen. Die Beleidigung ist ein dringender und univoker Ruf nach Aufmerksamkeit, eine liebevolle und verlassene Klage“ (meine Übersetzung). 140 „Die Beleidigung ist, aus dem Nichts zum Nichts, eine mystische Begrüßung, ein ave. Der inspirierende und hingebungsvolle Gruß – der Segensspruch, die liebende Anerkennung des Glaubens – entsteht durch seine anfängliche Präsentation als Anti-Gruß des Hasses: als Fluch. Die Blasphemie und die Kommunion sind zwei Momente derselben suchenden und frommen Bewegung“ (meine Übersetzung).

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In dieser Hinsicht ist das Ich, das im Zentrum der Texte spricht, ein Ich nur in seiner Auflösung, um einen neuen sozialen Pakt mittels der Sprachgewalt zu ermöglichen. Diese paradoxale Verbindung zwischen Gewalt und sozialem Pakt ist der Kern der Apologie der Hassrede Saníns: Nur in der Erwärmung, durch die affektiven Reibungen der Sprache, erweitert sich der Horizont der Möglichkeiten für einen neuen Pakt in einem Land im Krieg. Die Beleidigung agiert somit als das Verbindende, was Michel Serres als Metapher für die Definition des Religiösen nutzt.141 Die politische Funktion der Beleidigung als Erwärmung der Sprache (Álvarez), die ontologische Wirksamkeit nicht apophantischer Sprache (Agamben), die Eröffnung einer Zukunft bzw. die Zielgerichtetheit einer rasenden Rede hin auf eine neue Möglichkeit (Butler), die kritisch-ethische Wirksamkeit der „schwarzen Wahrheiten“ (Pfaller) und die religiös-poetisch-politische Funktion der Beleidigung (Sanín) sind theoretische Konzeptionen der Beleidigung, die zu einer Poetik der Beleidigung führen, und die es ermöglichen, einen Blick auf sie als literarisches Phänomen jenseits moralischer Vorannahmen zu werfen. Es geht um das, was Tho mas Conley als insult appreciation nennt, nämlich wenn „we’d care to notice that insult is not simply a means of encouraging enmity and disdain, we’d be able to regard it as an interesting and important aspect of human relations […]. There is, in short, a benign as well as a malign side to insults“ (2016, S. 71). Es geht, wie in der Zoopoetik, um eine Erweiterung des Sprachverständnisses um die als unzulässig verworfenen Bestandteile der Sprache. Darüber hinaus ist die sprachliche Erweiterung der Beleidigung eine, aus dem Privaten hindurchbricht in das Öffentliche: Das Leben, ja das Leben als private, ausgeschlossene Angelegenheit wird zornig gegen die öffentliche Sache, bestärkt im Rahmen einer Gesellschaft der 1980er-Jahre, die die Formierung neuer politischer Bewegungen erlebte.142 Als kritische Praxis ermöglicht die Beleidigung eine Gelegenheit zum Ausweg aus einer moralischen Erstarrung, zur Ankündigung neuer Möglichkeiten durch eine neue Art von Fremdsprache:

|| 141 Siehe Serres 2021. 142 Johannes Lehmanns Kulturgeschichte des Zornes hebt diesen Aspekt der Diskursivierung des Affektes hervor: „Der Affekt des Zornes wird […] [im 17. Jahrhundert] familiarisiert und privatisiert, er wird herausgelöst aus der Sphäre des Staats. […] Statt um den Zorn des Fürsten und die Probleme der Begrenzung seiner Gewalt kreisen Literatur und Wissenschaft seit Ende des 18. Jahrhunderts um die Wut ‚von unten‘, sei es die des Einzelnen […] oder die der Gruppe […]. Und hier wird die Wut dann auch wieder eminent politisch“ (2012, S. 37).

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Indeed, as we think about worlds that might one day become thinkable, sayable, legible, the opening up of the foreclosed and the saying of the unspeakable become part of the very ‘offense’ that must be committed in order to expand the domain of linguistic survival. The resignification of speech requires opening new contexts, speaking in ways that have never yet been legitimated, and hence producing legitimation in new and future forms. (Butler, 1997, S. 41)

3 Poetik der Beleidigung Michael Rössner erwähnt Fernando Vallejo in seiner Lateinamerikanischen Literaturgeschichte143 im Rahmen der Thematisierung des literarischen Zynismus in Lateinamerika. Peter Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft erlaubt sowohl Vallejo als auch Winkler und ihre Beleidigungspoetiken in diese Tradition einzuordnen: „[D]er moralische Skandal der Kritik“ (1983, S. 17), der diesem Denken zugrunde liegt, steht – im Gegensatz zur Vernunft – in Verbindung mit einer Betonung des Sinnlichen und des Körperlichen, die wohl mit der Zoopoetik einhergeht.144 Das „Schmerz-Apriori“ (ebd. 19) bzw. der apriorische „Weltschmerz“ (ebd. 20) dieses Denkens, das bei Nietzsche seinen Höhepunkt in der Moderne erreichte, ist der grundlegende Standpunkt dieser „anderen“ Kritik, die auf dem Leben, genauer auf dem Überleben145 (conatus) und dem Affektiven (affectus) gründet: „Politisch und nervlich gründet die ästhetische, die ‚empfindliche‘ Theorie in einer aus Leid, Verachtung und Wut gemischten Vorwurfshaltung gegen alles, was Macht hat“ (ebd. 22). Es geht um ein Denken, begründet in einer „kritischen ‚Stimmung‘“ (ebd. 24), für die Sloterdijk bemerkenswerterweise ein Beispiel in Pier Paolo Pasolinis schwulem Korsaren-Denken findet, nämlich in einer „Effeminierung der Kritik“ (ebd. 25). Sloterdijk geht weiter und sieht in dieser sinnlichen Kritik eine Entblößung –„das Motiv der Demaskierung, der Bloßstellung, des Nacktzeigens“ (ebd. 55) –, die Pfallers Begriff der „schwarzen Wahrheiten“ und Derridas Überlegungen zum selbstreflexiven Nacktwerden nahesteht, nämlich in der „Grundlegung guter Illusionslosigkeit“ (ebd. 26), die eine Bejahung, eine „‚affirmative Gesinnung“ (ebd. 26) beansprucht. „[D]ie Gewalt des Nackten“ führt das zynische Denken dazu, „nackte Wahrheiten […], die in der Art, wie sie vorgebracht werden, etwas Unwahres haben“ (ebd. 27), zu enthüllen. Die Hervorhebung der ‚Sache‘, eine Art Realismus („zur Sache kommen“ ebd. 28) dieses zynischen Denkens führt dazu, „Recht und Unrecht, Wah|| 143 Siehe Rössner 2002, S. 500. 144 Diana Diaconu hat den Zynismus bzw. den Kynismus in Vallejos Werk als Grund für die Autofiktion gelesen. Dabei hat sie das zynische Schreiben als eine wichtige Tradition der Antike aufgefasst, die zu der autobiographischen Schöpfung einer eigenen, transgressiven Stimme im Werk Vallejos geführt hat (2013, S. 223). Das Thema der Autofiktion führt jedoch in ein Forschungsgebiet jenseits der Zielsetzung der vorliegenden Untersuchung. Es ist aber interessant, inwiefern diese Tradition des Zynismus zur Autoreflexivität des Derrida‘schen „autobiographischen Tiers“ führt. 145 „Tatsächlich rührt die Frage des ‚Überlebens‘, der Selbsterhaltung und Selbstbehauptung, auf die ja alle Zynismen Antworten entwerfen, an das Kernproblem der Bestandsverteidigung und Zukunftsplanung in modernen Nationalstaaten“ (Sloterdijk, 1983, S. 42). https://doi.org/10.1515/9783110799965-012

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res und Unwahres“ (ebd. 27) vermischt zum Ausdruck zu bringen. Dabei entblößt diese Kritik die Wahrheit vom Kostüm der Moral – das bei Pfaller und auch bei Sloterdijk als Überbau bezeichnet wird146 – durch die dem Zynismus charakteristische „Kostümkritik“ (Sloterdijk, 1983, S. 24). Auf diese Weise kommen wir, mitten in der Diskussion über eine rasende ethische Haltung, zur Entblößung des Lebens, inmitten eines misanthropischen oder menschenkritischen Diskurses, zur zoopoetischen Entkleidung Derridas zurück. Hier ist jedoch die ursprüngliche Form dieses modernen Zynismus relevant, nämlich der Kynismus, der die wahre Revolte gegen die Macht von unten (vom Körper, vom verletzenden, machtlosen Körper, vom Tierischen) anstiftet: Der moderne Herrenzynismus wird dann „eine Frechheit, die die Seite gewechselt hat“ (ebd. 222). Die kynische Entblößung, die Urform des zynischen Denkens, stiftet noch eine lachende, heitere, lebens- und körperorientierte Kritik, die „von unten“ kommt:147 „Die Kunst schreit nach Leben, sobald der kynische Impuls in ihr wirksam ist“ (ebd. 218). Die von Sloterdijk zugleich behandelte antike Tradition des ‚frechen‘ Kynismus, der Ursprung des modernen Zynismus, deutet bereits auf die dargestellte Zoopoetik und ihre Entblößungsstrategien der Kritik hin: „Der griechische Kynismus entdeckt den animalischen Menschenkörper und seine Gesten als Argumente“ (ebd. 207). Die kynische Frechheit, für die Sloterdijk Diogenes Laertes, der „ein Hund [ist], der beißt, wenn er Lust hat“ (ebd. 296), als Beispiel heranzieht, erlaubt eine „plebejische Reflexion“, die sich der Körperlichkeit und der Animalität annähert: „zu sagen, was er lebt“ (ebd. 204). In der Hervorhebung des Lebens des Denkers (eine Aufhebung des Unterschieds zwischen Theorie und Praxis) führt der Kyniker den Kampf in der Betonung seines Körpers, seiner Animalität: „Der Kyniker furzt, scheißt, pißt, masturbiert auf offener Straße, vor den Augen des athenischen Marktes“ (ebd. 208). Die Revolte kommt „von unten“ (vom Körper) und bedient sich einer anderen Logik als der der transzendenten Vernunft, indem sie in der Rettung eines gewissen Materialismus auf Witze, Körperflüssigkeiten, Wut usw. rekurriert.148 Das Leben, und

|| 146 Siehe Sloterdijk 1983, S. 312. 147 Die zoopoetische Kritik ist Teil dessen, was Sloterdijk mit dem Kynismus meint; man findet jedoch Beispiele in Vallejos Werken, wo er auf einen intellektuellen Gestus (Grammatikkorrekturen, Lateinzitate, usw.) rekurriert, der näher am Herrenzynismus als am Kynismus steht. Die Oszillation zwischen diesen zwei Modi zynischen Denkens (dem Gelehrten und dem Hund- und Mörderliebhaber) zieht sich durch sein ganzes Werk. 148 „Wo nur geredet wird, fühlt sich ein existentieller Materialismus von vornherein nicht verstanden. […] Die Animalitäten sind beim Kyniker ein Teil seiner Selbststilisierung, jedoch auch eine Form des Argumentierens. Ihr Kern ist Existentialismus. Der Kyniker, als dialektischer Mate-

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nicht externe (transzendente) moralische Werte, sollen in der Sprache ausgedrückt werden. Der im Begriff „Kynismus“ enthaltene „Hund“ (altgriechisch kúwv) wird im Werk Vallejos durch die Begleiterin Bruja verkörpert: Die Umkehrung der christlichen Moral von Seiten eines Menschen, der sich den Hunden näher als den anderen Menschen fühlt, kann somit durch die Hervorhebung des Hündischen der Figur Brujas als eine Umkehrung der moralischen Gebote im Zeichen einer kynischen Vernunft verstanden werden: Es ist gerade der vom Menschenparadigma entblößte Blick auf die Realität, der eine neue Moral, eine neue ethische Perspektive auf die Realität erlaubt, eine, die dem Körperlichen, dem Animalischen, dem Hündischen zugeschrieben wird.149 Wichtig in der Betrachtung Sloterdijks ist die Hervorhebung des Humors („wahrheitshaltiges Gelächter“ ebd. 214) in dieser aufklärerischen Kritik des Kynismus wie im Falle Diogenes,150 der bei Vallejo eine wesentliche Rolle spielt: In der Entblößung des Ernstes der Schrift und der Autorität, in der Betonung der Grenzen der Selbsterfahrung (hèn oîda hóti oidèn oîda), bleiben „[d]iese Signale des heiligen Unernstes […] einer der sicheren indices von Wahrheit […], [und daher] wollen wir [sie] als Wegweiser zur Kritik der zynischen Vernunft benutzen“ (ebd. 59). Ausgehend von der von Sloterdijk analysierten langen Tradition des Zynismus ordnen Lionel Souquet und Camila Segura Bonnett Vallejos Literatur bereits in diese spezifische Tradition des Kynismus ein, deren markanteste rhetorische Strategien im Bereich der Ironie, des Humors und der Invektive zu finden sind.151 In diesem Sinne ist auch die Beleidigung zu verstehen, nicht als explizite Praxis in der institutionalisierten Politik, sondern als jene, die am Politischen der Sprache teilnimmt: als aufklärerische, lachende Strategie. Die beleidigende Sprache ist Teil der Sprache, wie die Tiere Teil des Lebens sind,152 beide gehören zur affektiven Grundstruktur der beiden Sphären. Die || rialist, muß die Öffentlichkeit herausfordern, weil sie der einzige Raum ist, in dem die Überwindung der idealistischen Arroganz sinnvoll vorgeführt werden kann“ (Sloterdijk 1983, S. 209–210). 149 Sloterdijk behauptet, einen historisch geprägten und impliziten „kynischen Impuls“ in der bürgerlichen Literatur der Moderne zu sehen: „wenn sie ‚Natur‘ sagen und Genie, Wahrheit, Leben, Ausdruck, etc. – dann ist der kynische Impuls im Spiel“ (Sloterdijk 1983, S. 215). Diese Tradition des „Neokynismus“ korreliert mit der Entstehung des modernen Zynismus: Der Neokynismus „sprengt alles, was bloße Moral ist, indem [er] sich auf den großen Amoralismus der Natur beruft“ (ebd. 216). 150 „Seine Waffe ist nicht so sehr die Analyse als das Gelächter. […] Es ist eine Linie des Philosophierens, die den esprit de sérieux aufhebt“ (Sloterdijk 1983, S. 303). 151 Vgl. Souquet, 2012, S. 81 und Segura Bonnett, 2004. 152 Johannes Lehmanns stellt in seiner Kulturgeschichte des Zorns und insbesondere der „modernen Wut“ die These auf, dass damit eine ausführlichere Beschäftigung mit dem Leben und moderner Wut um 1800 ihren Anfang nimmt (2012, S. 41). Daher überrascht es nicht, eine

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Poetik der Beleidigung, die einer eher ausgeschlossenen, missachteten Redeweise entspricht (Álvarez), gehört zu einer Stimme, die dem Instinktiven nahesteht. Die Beleidigung ist eine affektive Rede, die näher am Biologischen als am Intellektuell-Argumentativen steht. In dieser Hinsicht ist eine Poetik der Beleidigung Teil der Zoopoetik: Así como hay un sistema digestivo, un sistema nervioso, un sistema inmune, en el organismo humano hay también un sistema iracundo que va acumulando día a día, hora a hora, minuto a minuto, rabias, hasta que se cruza un umbral y ocurre el asesinato. […] El hombre por toda la superficie de la tierra lleva adentro, contenida, una bestia asesina. (EF 197–198)153

Dieser mörderische, bestialische Impuls im Menschen wird jedoch in der Literatur, in seiner Befreiung, zum Gegenteil, zur pazifistischen Beleidigung.154 Die Moral „verkleidet“ (Derrida) das Tierische bzw. Bestialische des Menschen, das bei Vallejo und Winkler selbst in der Dorfgemeinschaft, in der kolumbianischen Gesellschaft und in der katholischen Kultur allgemein durchgehend präsent bleibt: „Die Brutalität des Dorfes, verkleidet in einen Krampus, der den schönen Nikolaus mit den weißen Engeln begleitete, stand vor uns in der Mitte der Küche, während sich über meinem Kopf der Uhrzeiger drehte“ (MS 743). Die antimoralische Bejahung dieses Tierischen und Zornigen entspricht einer Verschiebung der Gewalt von der physischen auf die symbolische Ebene, von den Waffen zur Sprache. Im Impetus, anti-moralisch, jedoch ethisch zu schreiben, und in einer Tradition zynisch-kynischer Kritik gelesen, die sich gemäß Sloterdijk nie des Objektes der Kritik entledigen kann und stets ambivalent bleibt,155 steht nicht nur das

|| Beleidigungspoetik im Rahmen eines lebensbejahenden Schreibens, wie es bei Winkler und Vallejo der Fall ist, zu finden. 153 „So wie es ein Verdauungs-, ein Nerven-, ein Immunsystem gibt, gibt es im menschlichen Organismus ein Zornsystem, das Tag für Tag, Stunde für Stunde, Minute für Minute Rasereien ansammelt, bis eine Schwelle überschritten wird und der Mord geschieht. […] Überall auf der Erdoberfläche trägt der Mensch eine mörderische Bestie in sich eingeschlossen“ (meine Übersetzung). 154 Diese These findet man auch im Interview Hubert Fichtes mit Jean Genet. Als der deutsche Autor Genet fragt, warum er keinen Mord begangen habe, antwortet Genet: „Wahrscheinlich, weil ich meine Bücher geschrieben habe“ (2002, S. 32), und kurz danach erklärt es Genet ausführlicher: „Ich würde sagen, daß meine Mordimpulse abgeleitet wurden zugunsten dichterischer Impulse“ (ebd. 32). 155 „Die Aufklärung überrascht die Religion, indem sie sie im Ethos ernster nimmt als diese sich selbst. So funkeln die Parolen der Französischen Revolution am Beginn der Moderne als die allerchristlichste Abschaffung des Christentums. […] Die Tiefenpsychologien haben klar-

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Monströse im Zentrum, sondern ein Motiv, das man sowohl bei Vallejo als auch bei Winkler finden kann: der Impetus, Teufel zu werden bzw. sich als Teufel zu bezeichnen. Der Teufel gehört wiederum zur Bilderwelt des Katholizismus und wird hier bei beiden Autoren zu einem sinnbildlichen Träger des kritischen Schreibens: Oben wurden bereits die teuflischen, heterodoxen Figuren (die Hündin Bruja und der Ich-Erzähler) im Rahmen der Zoopoetik analysiert – bei Winkler findet man in Analogie zu Vallejos „C’est moi, le diable“ (AI 12) Folgendes: Wenn du sagst, daß ich ein Teufel bin, so kann es tatsächlich sein, daß aus mir ein Teufel wird, damit dein Wunsch, daß ich engelsbrav sein soll, nicht in Erfüllung geht. Ich hole die Tiere des Vaters und brat sie in meiner Hölle. […] Ich hole alle Kruzifixe aus dem Dorf und nehme sie mit in die Hölle, brat sie. Brate die Hostien und schütte Meßwein drüber, damit es zischt. […] Oft stelle ich mir vor, daß ich dieser Engel bin, der später von Gott bestraft, zum Luzifer verwandelt wird. (MS 741)

In diesem Zitat wird das ‚Herholen‘ des Motivs des Teufels aus der christlichen Moral selbst verdeutlicht: Die böse Rolle, die subversiv angenommen wird, stammt aus demselben Imaginarium der Moral, der transzendenten Trennung zwischen dem Guten und dem Bösen, der Hölle und dem Himmel. Dabei etabliert sich ein Spiel, das dem erotischen Spiel von Annäherung und Entfernung ähnelt. Die Positionierung Winklers in dieser Trennung bleibt stets ambivalent: „Nein, der Teufel wird mich nicht holen, ich möchte bei dir bleiben, Mame, ich werde mich bessern, ich möchte beim Tate bleiben […]“ (MS 742). Die Beziehung ist eine ambivalente, weil die moralische Definition des Teufels nicht eindeutig ist – die Dorfgemeinschaft übernimmt nicht die gute Seite, sondern nimmt an diesem Spiel der moralischen Entgrenzungen teil: Die Moral etabliert dann eine verquickende, dialektische Definition des Guten und des Bösen, die im Schreiben selbst zum Ausdruck gebracht bzw. zynisch enthüllt wird. Durch die Positionierung jenseits vom Guten wird die Moral selbst in der Sprache verhandelt und somit veränderbar: „Jetzt ist dasselbe freche Maul, das mir während der Kindheit gestopft wurde, wieder aufgebrochen, und jetzt bin ich noch frecher als früher. Mit dem geschwollenen Mund ging ich zur Tür hinaus“ (MS 713). Das Katholische ist auch das katholisch Böse und daran nehmen Winkler und Valle-

|| gemacht, daß nicht nur in religiösen Wunschvorstellungen Illusion am Werk ist, sondern auch am Nein zur Religion überhaupt. Religion könnte unter jene ‚Illusionen‘ rechnen, die eine Zukunft an der Seite der Aufklärung haben, weil keine bloße negative Kritik und keine Enttäuschung ihnen ganz gerecht wird“ (Sloterdijk, 1983, S. 83).

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jo teil. Es ist eine ambivalente Verführung des Katholizismus, die sich dann konsequenterweise in Blasphemie und Beleidigung verwandelt.

3.1 Die kolumbianische und österreichische Literaturgeschichte der Beleidigung Sowohl in der kolumbianischen als auch in der österreichischen Literaturgeschichte vor Vallejos und Winklers erster Schaffenszeit finden sich verschiedene Beispiele rasender Schreibweisen, die sich der Beleidigung bedienten, um eine eigene Tradition der zornigen Literatur zu etablieren. Besonders interessant ist die markante Vorliebe für diesen gewalttätigen Sprachgebrauch in den Künsten der 1980er-Jahre, die jedoch bereits Vorläufer in der Spät-Avantgarde der 1950er bis in die 1970er hatte. Die schwulen und anderen identitätspolitischen Bewegungen, die innerhalb dieser Dekaden zum Ausdruck kamen, eigneten sich einen wütenden Diskursmodus zur Emanzipierung verschiedenster Minderheiten in der Gesellschaft an. Ich möchte daher davon ausgehen, dass die Beleidigungspoetiken Vallejos und Winklers als von diesen Traditionen beeinflusst verstanden werden können. In den folgenden Unterkapiteln wird versucht, einige Beispiele herauszuarbeiten, die zur historischen Kontextualisierung der zu analysierenden Werke dienen sollen. Damit soll ein breiterer komparatistischer Rahmen abgesteckt werden, in dem die Lektüre der ethischen Kritik der Beleidigungspoetik Vallejos und Winklers vorgenommen werden soll.

3.1.1 Nadaísmo oder die kolumbianische zornige Avantgarde Pablo Montoya behauptet in seiner harschen Kritik, dass der von ihm als „cantaleta“156 bezeichnete Schreibstil Vallejos der Literaturtradition des kolumbianischen Bundeslandes Antioquia entstammt, genauer der im Jahr 1958 in Medellín gegründeten Bewegung des Nadaísmo, und insbesondere vom kolumbianischen Philosophen Fernando González (1895–1964) beeinflusst ist.157 Auch Carolina || 156 Dieser regionale Begriff lässt sich schwer übersetzen: Eine „cantaleta“ ist eine jammernde, schimpfende Rede, die in einer herausfordernden Art und Weise an eine Instanz gerichtet wird. Das Wort hat eine klare negative Konnotation. Die Real Academia Española definiert das Wort als „regañina reiterada“ („wiederholende Beschimpfung“). 157 Vgl. Montoya, 2008, S. 160. Montoya bleibt m.E. auf der oberflächlichen Ebene des skandalösen Inhalts der Aussagen Vallejos, indem er die Verwendung der Umgangssprache und die elaborierte Poetik der Beleidigung unterschätzt und nicht näher analysiert.

Die kolumbianische und österreichische Literaturgeschichte der Beleidigung | 215

Sanín bezieht sich in ihrem Text zu Vallejo auf das Werk Fernando González’, der als Wegbereiter der literarischen Bewegung des Nadaísmo in den 1950erJahren in Kolumbien gilt. 158 Dieser Autor wird in Vallejos Werk auch immer in einem positiven Licht dargestellt. Vallejo vergleicht sich etwa in Los días azules explizit mit der Figur González’: „[…] Fernando González, el filósofo, un iconoclasta, quemador de curas y de santos, como yo“ (DA 143)159. González ist nach Vallejo der prominenteste Autor des Bundeslandes Antioquia, der für seinen schwarzen Humor und zynisch-bissigen Kommentare nicht nur berühmt, sondern kontrovers diskutiert wurde; González gilt somit als Wegbereiter der nadaistischen Bewegung in Kolumbien. Zur Tradition des Nadaísmo kann auch der bereits erwähnte Raúl Gómez Jattin gerechtet werden, dessen skandalöse Gedichte nur im Rahmen dieser gesellschafts- und religionskritischen Bewegung in Kolumbien gelesen werden können.160 Gonzalo Arango, prominentester Autor und Gründer der Bewegung des Nadaísmo, schreibt im 1971 ein Vorwort zu González’ bekanntestem Werk Viaje a pie (1929), in dem er interessanterweise die Relevanz des Körpers, der Erlebnisse des Denkers in Opposition zu einer Suche nach Objektivität hervorhebt: Das Denken González’ sei, so Arango, durchaus autobiographisch motiviert. Dabei spielt das Schreiben in erster Person Singular – sowohl bei González als auch bei Arango – eine wichtige Rolle. Der Ausdruck einer Lebenskraft, die immer mit einer Aggressivität in Verbindung gebracht wird, wird von Arango als Teil eines Zeitgeistes Kolumbiens verstanden, nämlich des nadaistischen: Su obra refleja este siglo, nos afecta, nos compromete, nos turba, nos acusa, nos libera. Constituye, por su rebeldía y sinceridad, por su desnudez y agresivo lenguaje, uno de los testimonios humanos más vivos y beligerantes de nuestra literatura. […] La literatura significó en su vida una hoguera en la que arde, sufre, goza y se purifica. Suplicio a la vez

|| 158 Eduardo Escobar, Mitglied der nadaistischen Bewegung, vertritt eine Gegenposition und sieht Vallejo eher an der Seite von Vargas Vila und nicht von Fernando González. Dabei versucht Escobar Vallejos Werk hierarchisch wertend unterhalb von jenem von González zu situieren (2006). 159 „Fernando González, der Philosoph, ein Ikonoklast, Priester- und Heiligenverbrenner wie ich“ (meine Übersetzung). In El fuego secreto bezieht sich der Ich-Erzähler auf González als „maestro“ (FS 217). 160 Carlos Monsiváis analysiert die verschiedenen Literaturtraditionen im Werk Gómez Jattins und erwähnt vor allem den Bezug des Nadaisten Jaime Jaramillo Escobar auf den Dichter als „heredero de la radicalidad de su movimiento, el nadaísmo“ (Monsiváis, 2006, S. 20) / „Erbe der Radikalität seiner Bewegung, des Nadaísmo“ (meine Übersetzung). Die Bedeutung des Skandals in der nadaistischen Bewegung hebt Daniel Llano Parra hervor (2015, S. 143ff).

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que redención. La palabra es su instrumento mágico; en ella ama y comprende; le brinda la posibilidad de resolverse y salvarse; de reconciliarse con su destino humano y con Dios. (Arango [1967] 2016, S. 20)161

Arango bezieht sich nicht nur auf das Feuer – eine grundlegende Metapher bei Vallejo –, sondern auch auf Gott als etwas Positives. Das Feuer war bereits Teil des Gründungsmoments der nadaistischen Bewegung: 1958 hat Arango mit einer Gruppe von Sympathisanten eine Bücherverbrennung veranstaltet, die von einer rebellischen Kundgebung als Ausdruck ihres Zornes begleitet wurde.162 Für Arango ist zudem González’ blasphemisches Schreiben „un rito de linaje religioso. […] En su obra palpita, con una furia religiosa, el carácter sagrado de la vida“ (ebd. 20)163. Das Religiöse ist in der Bejahung des Lebens in González’ Werk zu finden, die Arango als „fervor religioso y panteísta“ (ebd. 23)164 bezeichnet – sein zorniges Schreiben grenze an die verzweifelte, impotente Liebe,165 und sein Werk sei weniger atheistisch als vielmehr „existencialista religioso“ (ebd. 24)166. Interessanterweise findet man hier in einem Text von 1971 die überraschende Wende des Atheisten und Nadaisten Arango zum katholischen Glauben. Darin liegt die Schwäche von Arangos Text, der mehr

|| 161 „Sein Werk spiegelt dieses Jahrhundert wider, es betrifft uns, es kompromittiert uns, es stört uns, es beschuldigt uns, es befreit uns. Es stellt durch seine Aufsässigkeit und Ehrlichkeit, durch seine Nacktheit und aggressive Sprache eines der lebendigsten und kriegerischsten menschlichen Zeugnisse unserer Literatur dar. […] Die Literatur bedeutete in seinem Leben ein Lagerfeuer, in dem er brennt, leidet, sich erfreut und geläutert wird. Qual und Erlösung zugleich. Das Wort ist sein magisches Instrument; in ihm liebt und versteht er; es gibt ihm die Möglichkeit, sich zu lösen und zu erlösen; sich mit seinem menschlichen Schicksal und mit Gott zu versöhnen“ (meine Übersetzung). 162 Elmo Valencia zitiert Arangos Worte vor der Bücherverbrennung: „Como descendiente directo de Atila, Nerón, Eróstrato, Hitler, y todos los pirómanos de la historia, los invito a quemar nuestros libros para probarle al mundo que desdeñamos el saber hereditario, pues ya no hay nada en qué creer, ni siquiera en nosotros mismos“ (Arango, 2010, S. 33). / „Als direkte Nachfahren von Attila, Neron, Erostrates, Hitler und allen Pyromanen der Geschichte, lade ich euch ein, unsere Bücher zu verbrennen, um der Welt zu zeigen, dass wir das ererbte Wissen verschmähen, da es nichts mehr gibt, woran man glauben kann, nicht mal an uns selbst“ (meine Übersetzung). 163 „Ritual der religiösen Abstammung. […] In seinem Werk pulsiert mit religiösem Zorn der heilige Charakter des Lebens“ (meine Übersetzung). 164 „[…] pantheistischer und religiöser Eifer“ (meine Übersetzung). 165 „Odió, claro que sí, pero su odio era una forma desesperada de amor impotente“ (Arango in Fernando González, [1929] 2016, S. 22). / „Er hasste, natürlich, aber sein Hass war eine verzweifelte Art der impotenten Liebe“ (meine Übersetzung). 166 „[…] existentialistisch religiös“ (meine Übersetzung).

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über sein eigenes Werk als über González zu sprechen vermag.167 Nichtdestotrotz ist die von Arango selbst repräsentierte Ambivalenz zwischen dem häretischen und dem frommen Schreiben Teil dieser Beleidigungs- bzw. Blasphemiepoetik, die in González’ Werk bereits in nuce zu finden ist. Fernando González hat seine literarische Karriere Anfang des 20. Jahrhunderts begonnen, und die Themen, die er im Laufe seines Werkes immer wieder behandelte, überlappen sich mit jenen Vallejos. Die größte Gegnerin seines Denkens war die Kirche und, in engster Verbindung mit ihr, der ganze Staat Kolumbiens.168 Viaje a pie beginnt bereits mit der mamotreto-Form, die hier an Winkler erinnert: Die Motivation zum Schreiben wird in der Stimmungslage eines Tagebuchs („clima interior“; „innerliches Klima“) verortet.169 Somit ist die Sphäre des schriftstellerischen Ausdrucks bereits eine individuelle, ein innere, und diese Innerlichkeit wird zugleich mit einer tierischen Art des Seins in Verbindung gebracht: „Nuestras células son zoófitos marinos, nadan en soluciones salobres. […] [L]as selvas deben tener un silencio religioso en estos mediodías

|| 167 In dieser Hinsicht ist der Text Arangos voller Inkongruenzen: Wenn er den pantheistischen und post-humanen Gehalt von González’ Werk hervorhebt, verbindet er diesen Aspekt mit dem Katholizismus, ohne tatsächlich argumentativ zu überzeugen. 168 Eduardo Escobar bezieht sich explizit im Prolog zur Neuauflage von González’ Viaje a pie auf die empörte Reaktion der Kirche auf González’ Buch: „A propósito de Viaje a pie, el arzobispo de Medellín emitió una pastoral para advertir perentoriamente que habiéndolo sometido a examen había decidido prohibirlo ‘a iure‘, porque atacaba las buenas costumbres y los fundamentos de la religión y la moral con ideas evolucionistas, hacía burlas de la fe, blasfemaba con sarcasmos volterianos que pretendían ridiculizar a las personas y las cosas santas y porque trataba de asuntos lascivos. Los católicos que lo leyeran incurrían en pecado mortal, según el arzobispo. Y se hacían merecedores del infierno en el terrible caso de que los sorprendiera la muerte sin confesión después de leerlo“ (Escobar, 2016, S. 8). / „Bezüglich Viaje a pie warnte der Erzbischof Medellíns in einem langen Brief eindringlich davor, dass er sich, nach dem er das Buch geprüft habe, entschieden habe, es ‚a iure‘ zu verbieten, da es die guten Sitten und die Grundsätze der Religion und der Moral mit evolutionistischen Ideen angreife, sich über den Glauben lustig mache, mit Voltaire’schen Sarkasmen, die die heiligen Personen und Dinge lächerlich machten, blasphemiere, und weil es sich um laszive Angelegenheiten handele. Die Katholiken, die es lesen würden, begingen somit eine Todsünde, so der Erzbischof. Und somit hätten sie in dem fürchterlichen Fall, dass sie nach der Lektüre ohne Beichte tot aufgefunden würden, die Hölle verdient“ (meine Übersetzung). Escobar bezieht sich ebenfalls auf eine philosophische Tradition, die hier auch genannt wurde, nämlich auf Spinoza und Nietzsche. 169 Vgl. Fernando González, [1929] 2016, S. 31.

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[…]. Nos sentimos el animal perfectamente egoísta“ ([1929] 2016, S. 31)170. Dieser Innerlichkeit, die dann mit der Metapher eines „Gefangenen im geschlossenen Haus“ („prisionero en casa cerrada“ ebd. 39) versinnbildlicht wird, steht ein Außen gegenüber, das in der ganzen Erzählung seiner Reise zu Fuß mit der Innerlichkeit in einen gespannten Dialog tritt. Die totale Einsamkeit inmitten der „religiösen Stille“ („silencio religioso“) ist die Ausgangslage des Schreibens, die Grundmotivation von González’ Werk, wobei dieses Religiöse nicht mit dem Katholizismus gleichgestellt werden soll. Das ausgeschlossene Individuum steht in zorniger Reibung mit einem sozialen Umfeld, das immer wieder mit der Beleidigung adressiert und somit charakterisiert wird. Bald nach dem Anfang richtet das essayistische Ich abwechselnd beleidigende Worte an den Staat und an die Kirche, die als Machtinstanzen nicht getrennt werden – Worte, die aber immer in eine philosophische Reflexion eingebettet werden: „A los colombianos, a este pueblo sacerdotal, lo enloquece y lo mata el desnudo […]“ (ebd. 36)171, „Es cierto que hay un estado de alma enfermizo, el estado colombiano, que consiste en estar obnubilado, metido en una idea como en una concha, en una idea religiosa“ (ebd. 49)172, „Sócrates, feo y frío, lógico como un serrucho, tolerante y descreído, apareció cuando se acabó el ánimo griego. Surgió la moral, ese chorro inicuo de frases que sale de las bocas sin dientes“ (ebd. 50)173, „¡Y qué sería del hombre si no fuera por estos semidioses que lo sugestionan y lo obligan por momentos a inhibir, no los instintos de la fiera, sino del animal sucio que es!“ (ebd. 92)174. Die Ähnlichkeiten mit Vallejos Ton sind evident und scheinen Montoyas These zu rechtfertigen, dass dieser der Literaturtradition Antioquias zuzurechnen sei. Der Einfluss González’ auf Vallejo lässt sich auf verschiedensten Ebenen feststellen: im Rekurs auf die Form der Predigt, in der Mehrsprachigkeit (vor || 170 „Unsere Zellen sind Meereszoophyten, sie schwimmen in salzigen Lösungen. […] [D]ie Regenwälder müssen in diesen Mittagsstunden eine religiöse Stille haben. […] Wir fühlen uns wie das vollkommen egoistische Tier“ (meine Übersetzung). 171 „Die Kolumbianer, dieses klerikale Volk, werden von dem Nackten verrückt gemacht und getötet […]“ (meine Übersetzung). 172 „Es ist wahr, dass es einen krankhaften Seelenzustand gibt, den kolumbianischen Zustand, der darin besteht, vernebelt zu sein, in einer Idee zu stecken, in einer religiösen Idee, wie in einer Muschel“ (meine Übersetzung). 173 „Sokrates, hässlich und kalt, logisch wie eine Handsäge, tolerant und ungläubig, tauchte auf, als der griechische Esprit am Ende war. Die Moral entstand, dieser gemeine Strahl aus Sätzen, der aus einem zahnlosen Mund herauskommt“ (meine Übersetzung). 174 „Und was wäre aus dem Menschen geworden, wenn es diese Halbgötter nicht gäbe, die ihn beeinflussen und ihn zuweilen dazu zwingen, nicht die Instinkte der Bestie zu unterdrücken, sondern die des schmutzigen Tieres, das er ist!“ (Meine Übersetzung).

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allem in der Verwendung des Lateins), in der Abschweifung, aber vor allem in einem expliziten Willen zur literarisch gesteigerten Beleidigung: Die Beleidigung ist das literarische Mittel gegen den Erzfeind dieser beiden Autoren, die Moral, wobei sowohl die Kirche als auch der Staat als moralische Dispositive präsentiert werden. Die verbreitete Angst und der Hass auf das Altern entstammen, so González, einer durch die Moral produzierten Erstarrung einer der Jugend eigentlich zugrundeliegenden Vitalität.175 Aus dieser Perspektive lassen sich auch González’ zoopoetische Annahmen verstehen, wonach das Handeln als das Primäre und die Erstarrung, das Nachdenken und die moralischen Werte als eine Form des Leidens zu betrachten sei176 – ein Leiden, das nur beim Menschen und nicht im Bereich des Tierischen vorkommt: Únicamente el hombre es animal pródigo, desordenado, saltarín y, al mismo tiempo, animal triste. […] La casa del hombre es el lugar del pecado. Toda la vida cósmica es ordenada, metódica y alegre. El mono, el perro, el caballo, han sido corrompidos en la casa del hombre. […] Verdadera tristeza no hay sino en el hombre […]. (ebd. 87)177

Dabei wird eine gewisse ‚nervöse‘ Kraft hervorgehoben, die jedoch methodisch nutzbar gemacht werden soll178 – in diesem Unbehagen der pessimistischen Phi-

|| 175 „La vejez […] no es sino agotamiento de esa energía que causa todo el fenómeno variado de la vida. […] A medida que crece nuestra pobreza vital, aumenta nuestra moralidad y nuestro apego a los prejuicios y al valle en donde el Negro Cano comercia con las ideas generales“ (Fernando González, [1929] 2016, S. 49–50) / „Das Altern […] ist nichts anderes als die Erschöpfung jener Energie, die all die vielfältigen Phänomene des Lebens verursacht. […] So wie unsere vitale Armut zunimmt, wächst auch unsere Moralität und unsere Zuneigung zu Vorurteilen und zum Tal, in dem der Schwarze Cano mit allgemeinen Ideen handelt“ (meine Übersetzung). Siehe auch an dieser Stelle den Anfang von Vallejos Entre fantasmas. 176 „[L]a Biblia afirma que el hombre después del coito es un animal triste. […] La vida nuestra es automática, instintiva; la parte de la voluntad y conciencia es mínima“ (Fernando González, [1929] 2016, S. 55–57) / „[D]ie Bibel behauptet, dass der Mensch nach dem Koitus ein trauriges Tier sei. […] Unser Leben ist automatisch, instinktiv; der Anteil unseres Willens und unseres Bewusstseins ist minimal“ (meine Übersetzung) 177 „Allein der Mensch ist ein verschwenderisches, unordentliches, sprunghaftes und gleichzeitig ein trauriges Tier. […] Das Haus des Menschen ist der Ort der Sünde. Alles kosmische Leben ist geordnet, methodisch und fröhlich. Der Affe, der Hund, das Pferd wurden im Haus des Menschen verdorben. […] Echte Traurigkeit gibt es nur im Menschen […]“ (meine Übersetzung). 178 „La fuerza nerviosa es una cantidad determinada en cada uno y hay que gastarla con método. Educar la voluntad no es otra cosa que crear llaves de contención para los nervios […]“ (Fernando González, [1929] 2016, S. 60) / „Die nervöse Kraft ist in einer bestimmten Menge in uns allen vorhanden und man muss sie methodisch aufbrauchen. Den Willen zu erziehen, ist

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losophie, das an Zorn grenzt, steckt ein Teil Vitalismus, der zu retten ist. Der Rekurs auf die Beleidigung versteht sich somit als stilistischer Ausdruck dieser vitalistischen, antimoralischen, ethischen und zoopoetischen Schreibweise. González sieht im Unbehagen der Existenz, wie Bernhard im Zorn, eine dem Leben wesentliche Ambivalenz zwischen Gut und Schlecht, deren Beherrschung zur Glückseligkeit („alegría“)179 jenseits der Mauern einer moralistischen Erstarrung führen kann. Dies muss mittels einer Methode des Widerstands gegen die Willkür des Affektes erreicht werden und als solche dient die Poetisierung der Beleidigung: Durch die Beherrschung des Zornes und nicht durch die Hingabe an ihn lässt sich die Lust des aktiven Menschen („hombre en acción“) erreichen. Diese ethische, spinozistische Betrachtung jenseits von Gut und Böse zielt auf eine ausgewogene Nutzung und nicht Unterdrückung des Affektiven als unleugbarem Teil des Menschen. Dafür nimmt González eine Ästhetisierung der Beleidigung vor, die im Text selbst metaliterarisch ausgedrückt wird: „¡Qué antiestético es todo lo petrificado!“ (ebd. 68)180. Die misanthropische Bezeichnung des Menschen als ein fehlerhaftes Tier impliziert zugleich die zoopoetische Bejahung des Tierischen im Menschen und die gegen ihn gerichtete Beleidigung, nur ein bösartiges, trauriges Tier zu sein. In dieser Ambivalenz zwischen Bejahung und Beleidigung wird der Mensch zugleich zelebriert und verdammt,181 und es ist diese Ambivalenz der Bejahung und Verneinung, einer Positionierung innerhalb und außerhalb der Gemein-

|| nichts anderes als die Schlüssel der Mäßigung für die Nerven zu erschaffen […]“ (meine Übersetzung). 179 „Sí; porque el hombre de acción, a pesar de que se contiene por sistema, es un ansioso; a pesar de que va paso a paso, por sistema, es un desesperado; a pesar de que sostiene el valor de la tranquilidad, es un intranquilo“ (Fernando González, [1929] 2016, S. 66) / „Ja, weil der Mann der Tat, obwohl er sich wegen des Systems mäßigt, ein ängstlicher Mensch ist; obwohl er Schritt für Schritt geht, wegen des Systems, ein Verzweifelter ist; obwohl er auf dem Wert der Gelassenheit beharrt, ein Unruhiger ist“ (meine Übersetzung). 180 „Wie antiästhetisch ist all das Versteinerte!“ (meine Übersetzung). 181 „[L]os hombres biografados, los que han concretado su pensamiento y su vida, son pobres hombres, despreciables como todo hombre. […] El hombre es un animal que suda, que digiere, que elimina toxinas, que desea la mujer ajena y todo lo ajeno, y que apenas por instantes piensa“ (Fernando González, [1929] 2016, S. 92) / „[D]ie biographierten Menschen, die ihr Denken und Leben konkretisiert haben, sind arme Menschen, verachtenswert wie jeder Mensch. […] Der Mensch ist ein Tier, das schwitzt, das verdaut, das Toxine abbaut, das die fremde Frau und alles Fremde begehrt und das nur für wenige Augenblicke denkt“ (meine Übersetzung).

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schaft, die im Kern der Beleidigungspoetik von González steht: „[S]olo el nacional puede hablar mal de su país. ¡Qué gran verdad esta!“ (ebd. 69)182. Ich werde hier nicht ausführlich auf die Strömung des Nadaísmo nach Fernando González eingehen, da im Rahmen dieses Buchs in erster Linie der – von Vallejo explizit zu erkennen gegebene – Einfluss des Philosophen aus Antioquia relevant ist und weniger die zahlreichen anderen Texte und verschiedenen Register dieser Bewegung. Man muss jedoch betonen, dass sich der Nadaísmo von Anfang an gegen die katholische Religion gewandt hat. Gonzalo Arango betont im Primer manifiesto nadaísta (1958) bereits im ersten Absatz die Absicht einer Revolution „[del] orden espiritual imperante en Colombia“ ([1958] 2013, S. 23)183. Die Kritik richtet sich explizit nicht gegen ein religiöses Bekenntnis, sondern gegen den Katholizismus als Religionskultur, die in Kolumbien den Geist („espíritu“) geprägt hat. Später formuliert Arango ein ethisches Projekt der Bewegung, das eine Ästhetisierung der Verstöße gegen die Moral anstrebt: „Reclamamos para nosotros el privilegio de los delitos extraordinarios […]. Algún día seremos juzgados, si es que vamos a pecar, por los códigos de la nueva ética Nadaísta“ (ebd. 43)184. Mit dieser Aussicht auf eine ethische Erneuerung der nadaistischen Bewegung schließt Arango das Manifest mit einer Kritik der Ideologien als Glauben – es handelt sich um ein aufklärerisches Projekt, das jeglichen Glauben zerstören und das Revolutionäre retten muss: [L]a misión es ésta: No dejar una fe intacta, ni un ídolo en su sitio. Todo lo que está consagrado como adorable por el orden imperante en Colombia, será examinado y revisado. Se conservará solamente lo que esté orientado hacia la revolución […]. Lo demás será removido y destruido. (ebd. 52)185

Der Hass auf den Katholizismus und der Rekurs auf harsche, zornige und beleidigende Strategien in der Literaturtradition haben eine längere Geschichte, an der Vallejo teilhat. González und Arango spielen eine wesentliche Rolle in der

|| 182 „Nur der Staatsangehörige kann schlecht über sein Land sprechen. Was für eine große Wahrheit ist das!“ (Meine Übersetzung). 183 „[…der] herrschenden geistlichen Ordnung in Kolumbien“ (meine Übersetzung). 184 „Wir beanspruchen für uns das Privileg außerordentlicher Delikte […]. Eines Tages werden wir, wenn wir überhaupt sündigen, nach den Gesetzbüchern der neuen nadaistischen Ethik gerichtet werden“ (meine Übersetzung). 185 „[D]ie Mission ist folgende: keinen Glauben intakt, kein Idol an seiner Stelle zu lassen. Alles, was von der herrschenden Ordnung in Kolumbien der Anbetung geweiht ist, wird überprüft und revidiert werden. Man wird nur das, was auf die Revolution ausgerichtet ist, erhalten […]. Der Rest wird entfernt und zerstört“ (meine Übersetzung).

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Kristallisierung dieser zornigen Literaturgeschichte Kolumbiens, die im Zeichen religionskritischer Wut entstanden ist.186

3.1.2 Thomas Bernhards und Peter Handkes Beschimpfungskunst Zwei Autoren, die im Hinblick auf Winklers Beleidigungspoetik als dessen Vorläufer in der österreichischen Literaturgeschichte gelten können und deren großer Einfluss auf sein Werk explizit vom Autor selbst betont wurde,187 sind Thomas Bernhard und Peter Handke.188 Auf die Sprache Thomas Bernhards, mit

|| 186 Juanita Cristina Aristizábal (2012) verbindet die Beleidigungspoetik Vallejos mit einer früheren Tradition kolumbianischer Literatur, die auf Jose María Vargas Vila zurückgeht. Der Anti-Klerikalismus, die dekadente Stimmung und der Einfluss Nietzsches in Vargas Vilas Werk hatte sicherlich einen wichtigen Einfluss auf das Werk Vallejos. Ähnliches wurde auch von Fernando Díaz Ruiz (2012) in Anlehnung an andere Literaturwissenschaftler*innen (Luz Mari Giraldo, Oscar Collazos, Eduardo Escobar und Kevin G. Guerrieri) behauptet, die das Werk Vallejos als Fortsetzung von Vargas Vilas literarischem Werk gelesen haben. Ich habe mich in diesem Unterkapitel auf den Nadaísmo beschränkt, da diese Tradition historisch näher an Vallejo steht. Eine wichtige Frage wäre, inwiefern Vargas Vila für diese spätavantgardistische Bewegung ein Vorbild war. Diese Frage führt jedoch über das Forschungsvorhaben dieses Buches hinaus. 187 Josef Winkler bezieht sich an verschiedenen Stellen auf Handkes und Bernhards Werk. Zu Handke äußerte sich Winkler in den Medien etwa mit exaltierter Hochachtung: „Also, gegenüber Peter Handke bin ich ein Analphabet […]“ (Friedl & Winkler, 2010). In einem anderen Interview findet man folgende Äußerung zu Handke: „Erst mit der Form eines Satzes entsteht etwas. Ein wirklicher Dichter hat vielleicht einen sehr eingeschränkten Themenkreis, den man aber unendlich variieren kann. Peter Handke ist ein Meister dieser unendlichen Variationen, die mehr zum Vorschein bringen als alle neue erzählende Literatur“ (Jandl & Winkler, 2008). Und in einem anderen Interview: „Für mich ist Peter Handke der größte europäische Schriftsteller. Ich wüsste keinen, der in solcher Vielfalt mit der Sprache umgehen kann“ (Reif & Winkler, 2012, S. 83). Thomas Bernhard spielt erst seit seiner ‚Entdeckung‘ nach dem Verfassen von Menschenkind und Der Ackermann aus Kärnten eine besondere Rolle: „Erst bei meinem dritten Buch Muttersprache, als meine Schreibarbeit etwas gestockt hat, habe ich mich an Thomas Bernhard herangewagt. Ich war damals in Berlin und in der Autorenbuchhandling habe ich zum ersten Mal etwas länger in seine Bücher hineingeschaut. Es wurden gerade die ersten autobiographischen Schriften veröffentlicht, Die Ursache, Der Keller. Die begann ich zu lesen und das hat mir beim Weiterschreiben sehr geholfen“ (Reif & Winkler, 2012, S. 86). 188 Hier könnte man ebenso Elfriede Jelineks Bücher zu dieser Tradition des zornigen Schreibens (etwa Die Klavierspielerin [1983] oder Die Ausgesperrten [1980]) hinzurechnen. Es gibt jedoch keine Beweise dafür, dass Winklers Werk eine so explizite, produktive Rezeption ihres Werkes aufweist, wie von jenem Bernhards und Handkes. Daher beschränke ich mich im Folgenden auf diese zwei Autoren.

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der Winkler offensichtlich in eine intertextuelle Beziehung tritt, wurde bereits in der Einleitung dieses Kapitels anhand des Textes „Zorn“ exemplarisch eingegangen. Die Parallelen zwischen Bernhards und Winklers autobiographischen Schriften, besonders in Bezug auf die im ersten Kapitel erwähnte Thematisierung der NS-Geschichte, sind besonders wichtig. In der (Anti)Heimatliteratur scheint die Beleidigung eine der Strategien zu sein, um sich dem Thema der ‚Heimat‘ in der österreichischen Literatur der Zeit anzunähern: Auslöschung. Ein Zerfall (1985) kann hier als explizites Beispiel dafür gelten, und ein früherer Text wäre Die Ursache. Eine Andeutung (1975). In diesem autobiographischen Roman beschäftigt sich Bernhard mit der Vergangenheit seiner ‚Heimat‘ Salzburg, eine Auseinandersetzung, die eher als Ausdruck des Widerstandes als der Melancholie zu verstehen ist. Dafür steht exemplarisch die anfängliche Thematisierung der systematisch verursachten, massiven Selbstmordfälle in der Stadt: Die Stadt führe die verletzlichen Subjekte in der tödlichen Umgebung zu einem Ungleichgewicht zwischen Außen- und Innenwelt und somit zum Selbstmord.189 Bernhards Beleidigung fungiert als Kritik, indem sie diese Realität enthüllt und exponiert, die hinter der schönen Kulisse Salzburgs heuchlerisch verdeckt wurde.190 Diese Praxis der rasenden Entblößung der vermeintlich tödlichen inneren Struktur der kleinbürgerlichen, salzburgischen Gesellschaft wendet sich etwa gegen die verbreitete Idee, Salzburg sei eine Kultur- und Musikhauptstadt: „Meine Heimatstadt ist in Wirklichkeit eine Todeskrankheit“ ([1975] 2009, S. 12). Es geht um die Denunziation einer Täuschung, die mittels der Kontrastierung der Oberfläche der „weltberühmten Schönheit“ Salzburgs mit seiner tödlichen Tiefe erfolgt. Gegen diese Täuschung schreibt Bernhard an und in Anbetracht dieser Täuschung stellt er die Diagnose, die Stadt sei dem Tode geweiht.191 Bernhards beleidigende Kritik ist eine Denunziation der Lüge, Heuchelei und || 189 „Wenn einer auf einmal in einem Schwächezustand der furchtbaren Last seiner Innenwelt wie seiner Umwelt, weil er das Gleichgewicht dieser beiden ihn fortwährend bedrückenden Gewichte verloren hatte, nicht mehr standhalten konnte, und dann plötzlich, von einem bestimmten Zeitpunkt an, alles in ihm und an ihm auf Selbstmord deutete, sein Entschluß, Selbstmord zu machen, an seinem ganzen Wesen zu bemerken und bald mit erschreckender Deutlichkeit abzulesen gewesen war, waren wir immer vorbereitet gewesen auf das uns nicht überraschende Fürchterliche als Tatsache […]“ (Bernhard, [1975] 2009, S. 21). 190 „Alles in dieser Stadt ist gegen das Schöpferische, und wird auch das Gegenteil immer mehr und mit immer größerer Vehemenz behauptet, die Heuchelei ist ihr Fundament“ (Bernhard, [1975] 2009, S. 12). 191 „Die Schönheit dieses Ortes und dieser Landschaft, von welcher alle Welt spricht, und zwar fortwährend und immer nur auf die gedankenlose Weise und in tatsächlich unerlaubtem Tone, ist genau jenes tödliche Element auf diesem tödlichen Boden, hier werden die Menschen […] fortwährend von dieser weltberühmten Schönheit erdrückt“ (Bernhard, [1975] 2009, S. 52).

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der täuschenden Oberfläche der österreichischen Gesellschaft.192 In der Betonung der Moral als Lüge193 wird gerade eine Unterscheidung zwischen Oberfläche und Tiefe vorgenommen, die besonders dem ethisch-spinozistischen Denken entspricht. Es ist die damalige Unterdrückung der Affekte unter der Oberfläche, die dieses zornige Schreiben zur Explosion bringt.194 Die Erforschung der Ursache195 der Affekte des autobiographischen Subjekts (die der Titel des Romans anspricht) ist die kritische Aufgabe, die im Text bearbeitet wird. Die Ausarbeitung des – bei Bernhard als „Gemüt“ oder „Gefühl“ charakterisierten – Affektes im Schreiben ist genau das, was die innere Kraft der Beleidigung und der Klage ausmacht. Die beleidigende Klage Bernhards ist wie bei Winkler aus der Perspektive eines Verletzten, eines Opfers formuliert. Er spricht nicht nur aus der Perspektive eines, sondern mehrerer Opfer, wie im Fall des Architektensohnes „Krüppel“ und des Geographieprofessors Pittioni:196 „In einer solchen Gemeinschaft und in einem solchen Hause wird auch immer sofort ein Opfer gesucht und es wird auch immer gefunden, und wenn es nicht schon Opfer ist von vornherein, auf alle Fälle zu einem solchen Opfer gemacht […]“ (ebd. 114). Gerade die Perspektive einer Ich-Erzählung, die die klagendenden und beleidigenden Aspekte zusammenfügt, findet sich auch in Winklers Schreiben wieder. Handkes theoretische Überlegungen in seinem metatheatralen Stück Publikumsbeschimpfung (1966) führen zu den zuvor dargelegten Theorien der Be|| 192 „Der Geist dieser Stadt ist also das ganze Jahr über ein katholisch-nationalsozialistischer Ungeist, und alles andere Lüge. Im Sommer wird unter dem Namen Salzburger Festspiele in dieser Stadt Universalität geheuchelt, und das Mittel der sogenannten Weltkunst ist nur ein Mittel, über diesen Ungeist als Perversität wegzutäuschen, wie alles in den Sommern hier nur ein Wegtäuschen und ein Wegheucheln und ein Wegmusizieren und ein Wegspielen ist […]“ (Bernhard, [1975] 2009, S. 86). 193 „[D]ie Moral ist eine Lüge“ (Bernhard, [1975] 2009, S. 116). 194 „[I]ch [habe] selbst mein Unglück immer unter der Oberfläche verstecken können, es unsichtbar machen können, und je unglücklicher ich gewesen bin, desto weniger von diesem Unglück war an mir und an (und in) meinem Wesen zu bemerken gewesen […]“ (Bernhard, [1975] 2009, S. 120). 195 „[M]it einer alles in mir verletzenden barometrischen Fallheftigkeit auch noch nach zwanzig Jahren, frage ich mich nach der Ursache dieses Geistes- und Gefühlszustands, besser Geistes- und Gemütszustands“ (Bernhard, [1975] 2009, S. 109). 196 „An dem einen (Krüppel) wie an dem anderen (Pittioni) habe ich ununterbrochen in dieser Schule die tagtäglichen neuen Erfindungen von Grausamkeit an diesen beiden der Gesellschaft als Schulgemeinschaft studieren können, gleichzeitig die Hilflosigkeit dieser beiden in jedem Falle immer und mit der Zeit immer noch katastrophaler Geschädigten, den Prozeß ihrer schon weit fortgeschrittenen Zerstörung und Vernichtung mit jedem Schultage furchtbarer“ (Bernhard, [1975] 2009, S. 112).

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leidigung zurück. Es ist nicht nur die Bildpoetik Handkes, die bereits im ersten Kapitel ausführlich in Beziehung zur Bildpoetik Winklers gelesen wurde, sondern der provozierende Geist Handkes in seinem frühen Stück, der Winkler beeinflusste. In Publikumsbeschimpfung wird das Vokative des Beleidigens szenisch vorgeführt und explizit angesprochen: Das Beleidigen wird zum Thema, um über die Situation des Theaters zu reflektieren, daher bezeichnen die vier Darsteller das Stück gleich nach der Begrüßung als eine „Vorrede“ ([1965] 1969, S. 183). Somit wird das Stück als Handlung nie stattfinden („Sie werden kein Schauspiel sehen“ [ebd. 184]), die Handlung besteht aber gerade in der Thematisierung einer Theatergemeinschaft, die sich durch die vokative Kraft des Ansprechens und Angesprochen-Werdens konstituiert: „Sie schauen uns an. Sie werden angeschaut. […] Auf diese Weise bilden wir und Sie allmählich eine Einheit“ (ebd. 185). Es ist gerade die politische Wirksamkeit der Sprache, die auf der Bühne in ihrer expliziten Thematisierung an die Oberfläche tritt: Die Sprache als Bindeglied der Gemeinschaft wird als Ereignis betont,197 nämlich als verbindendes Ereignis, das die Zeit des Publikums und der Bühne vereinheitlicht.198 Dabei wird wiederholt das Körperliche des Publikums angesprochen und unterstrichen.199 Dies geschieht gerade durch die Thematisierung einer Beschimpfung, die erst am Ende des Stückes tatsächlich stattfindet und die die perlokutive Natur und die physischen Folgen der beleidigenden Sprache zum Vorschein bringt. Mittels der Hervorhebung dieser Gemeinschaft im Theater wird das konkrete, physische Leben der Zuschauer*innen in den Vordergrund gestellt: Es ist die Vorrede zu Ihren Sitten und Gebräuchen. Es ist die Vorrede zu Ihren Handlungen. Es ist die Vorrede zu Ihrer Tatenlosigkeit. Es ist die Vorrede zu Ihrem Liegen, zu Ihrem Sitzen, zu Ihrem Stehen, zu Ihrem Gehen. Es ist die Vorrede zu den Spielen und zum Ernst des Lebens. Es ist auch die Vorrede zu Ihren künftigen Theaterbesuchen. Es ist auch die Vorrede zu allen anderen Vorreden. Dieses Stück ist Welttheater. (ebd. 206)

|| 197 „Ihre Gesichter zeigen in eine Richtung. Sie sind ausgerichtet. Sie sind ein Ereignis. Sie sind das Ereignis“ (Handke, [1965] 1969, S. 189). 198 „Ihre Zeit, die Zeit der Zuschauer und Zuhörer, und unsere Zeit, die Zeit der Sprecher, bilden eine Einheit, indem hier keine andere Zeit als die Ihre abläuft“ (Handke, [1965] 1969, S. 197). 199 „Versuchen Sie nicht mit den Wimpern zu zucken. Versuchen Sie nicht mehr zu schlucken. […] Schlucken Sie. Sammeln Sie Speichel. Blinzeln Sie. Hören Sie. Atmen Sie. / Sie sind sich jetzt Ihrer Gegenwart bewußt“ (Handke, [1965] 1969, S. 198–199).

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Als Vorrede ist die gesamte Rede der Darsteller auf eine unklare Zukunft ausgerichtet – die Sätze versuchen eine Effektivität der Wörter zu sichern, die trotzdem im Unklaren bleibt, womit die Wirksamkeit des Gesagten selbst in Frage gestellt wird. Das Vokative, das das ganze Stück ausmacht, wird bis zu den letzten ästhetischen Konsequenzen getrieben. Was das Stück an sich m.E. vor allem vor Augen führt, ist gerade die politische Wirksamkeit der Kunst und der Sprache. Während Bernhard und Winkler mit ihren Beleidigungen inhaltliche Aspekte ansprechen (das Nazitum, der Katholizismus etc.), werden diese bei Handke auf einer abstrakteren Ebene thematisiert. In diesem Sinne ist aber die Abstraktion die „wirkliche Wirklichkeit“, wie Handke es in seinem poetologischen Essay „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms“ betont.200 Die „Beschränkung der theatralischen Handlungen auf Wörter“ (ebd. 271) versucht die Wirklichkeit und Wirksamkeit der Sprache zu erforschen bzw. in Szene zu setzen, wofür Handke auf das Mittel der Beleidigung rekurriert: Es ist, wie gezeigt, gerade diese rasende Rhetorik, die die sprachtheoretischen Aspekte der Sprechakte an die Oberfläche bringt. Am Ende des Stückes wird eine lange, Vallejoähnliche Liste von Beleidigungen ausgesprochen, die jedoch davor mit einer Warnung eingeleitet wird: Sie werden beschimpft werden, weil auch das Beschimpfen eine Art ist, mit Ihnen zu reden. Indem wir beschimpfen, können wir unmittelbar werden. […] Wir können den Spielraum zerstören. Wir können eine Wand niederreißen. Wir können Sie beachten. […] Weil schon das Duwort eine Beschimpfung darstellt, werden wir von du zu du sprechen können. Ihr seid das Thema unserer Beschimpfung. Ihr werdet uns anhören, ihr Glotzaugen. (ebd. 207–208)

Der Text hebt die Beschimpfung als eine, wenn auch unangebrachte, so doch wirksame Art des Sprechens und Adressierens hervor, die mit einer neuen Nähe

|| 200 In diesem Essay wendet sich Handke gegen die Fiktion als eskapistische Praxis, indem er eine eigene „Methode“, eine Methode der Aufmerksamkeit bespricht: „Ich habe keine Themen, über die ich schreiben möchte, ich habe nur ein Thema: Über mich selbst klar, klarer zu werden, mich kennenzulernen oder nicht kennenzulernen, zu lernen, was ich falsch mache, was ich falsch denke, was ich unbedacht denke, was ich unbedacht spreche, was ich automatisch spreche, was auch andere unbedacht tun, denken, sprechen: aufmerksam zu werden und aufmerksam zu machen: sensibler, empfindlicher, genauer zu machen und zu werden, damit ich und andere auch genauer und sensibler existieren können, damit ich mich mit anderen besser verständigen und mit ihnen besser umgehen kann“ (Handke, [1967] 1969, S. 270). Es handelt sich um jene selbstreflexive ethische Handlung, die selbst im Schreiben umgesetzt werden soll.

Die kolumbianische und österreichische Literaturgeschichte der Beleidigung | 227

einhergeht, wie die zweite Person Singular verdeutlicht. Diese Nähe, die durch die Beschimpfung ermöglicht wird („eine Wand niederreißen“), eröffnet jenseits der Illusion des Theaters („den Spielraum zerstören“) eine künftige Gemeinschaft. Bernhards autobiographische Schriften stehen thematisch in einer engeren Beziehung zum Werk Winklers, da sich bereits bei ihm die Beleidigungen gegen den Katholizismus und Österreich richten. Dabei spielt Handke eine wichtige Rolle, da sein frühes Stück Publikumsbeschimpfung wichtige theoretische Aspekte der beleidigenden Rede anspricht und diese somit in die Tradition österreichischer Literatur einführt.

4 Josef Winklers zornige Kobrasprache Die Beleidigung in Das wilde Kärnten wird an einigen Stellen explizit als rhetorisch-literarische Strategie angewendet und performativ eingesetzt, ist aber nicht im selben Ausmaß präsent wie bei Vallejo. Winkler thematisiert jedoch im Roman – metaliterarisch und selbstreflexiv – das freche Schreiben und Beleidigen als Mittel der Denunziation und als Teil der damit zusammenhängenden Zoopoetik: Das ganze Projekt von Das wilde Kärnten als Exposition einer mörderischen katholischen Struktur muss bereits als Beleidigung gelesen werden, die auch als solche innerhalb des Dorfes wahrgenommen wurde.201 Die Beleidigung taucht bei Winkler auch in Form der Blasphemie auf, die bei Vallejo direkt und in einem ausgeprägteren, iterativen Ausmaß zu finden ist. Dass die Trilogie selbst als eine einzige Beleidigung gelesen werden kann, zudem als eine zynische Entblößung der katholischen Gemeinschaft, wird selbst im Text thematisiert und reflektiert. Zunächst wird der Thematisierung dieser frechen, denunziatorischen Sprache nachgegangen, um die expliziten Textstellen dann in Bezug auf diese Thematisierung zu interpretieren. Am Anfang von Der Ackermann aus Kärnten findet man eine einleitende Passage, in der sich die zuvor besprochenen Aspekte der Zoo- und der Beleidigungspoetik gleichermaßen finden lassen: Ich nehme vor dem Ackermann Aufstellung, ich umkreise ihn, starre ihn an, aus der Vogelperspektive, und schaue aus der Luke einer Wurzel auf seine Fußsohlen. Manchmal bläht sich mein Hals, der Zorn einer Kobra grollt in mir, und meine Augen starren in die Finsternis. Habe ich getötet, lege ich mich ins Bett zurück und häute mich mit blutunterlaufenden Augen. Verwundet liege ich im Bett und denke an die jungen Toten meines Heimatdorfes. Ich rolle mich zusammen und schlinge die Füße um meinen Bauch. Meine Hände ringle ich um den Oberkörper und meinen Oberkörper drücke ich an meine Hüften. Langsam arbeitet sich ein Kopf hervor. Die Augen starren. Die Zunge lispelt. An der Stirn stehen die Tropfen der Anstrengung, ein Tier werden zu wollen. (AK 197)

|| 201 Die negative, empörte Rezeption der Trilogie im Dorf Kamering wird in seinen späteren Werken immer wieder ein Thema sein: In Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär erzählt Winkler in extenso von der Wut und dem Hass gegen ihn, die durch seine Bücher verursacht wurden: „‚Schau nicht links und schau nicht rechts!‘ Wir wußten, daß die Dorfbauern an den Fenstern stehen und mich verfluchen würden in ihren Küchen, denn öfter schon waren mir ihre Worte zugetragen worden: ‚Der schämt sich vor überhaupt nichts und geht auch noch ins Dorf, das er kaputtgeschrieben hat!‘“ (2011a, S. 139). https://doi.org/10.1515/9783110799965-013

Josef Winklers zornige Kobrasprache | 229

Die wichtige Position dieser Passage im Text – nach den Epigraphen und als Anfang ohne Seitenanzahl – hebt ihren Inhalt hervor: Die Zusammenführung von Zorn und Tierwelt („der Zorn einer Kobra grollt in mir“) legt am Anfang dieses Buches eine Art poetologischen Rahmen fest. Die Zoopoetik, bei der die Tiere als konstitutiver Teil der Dorfgemeinschaft verstanden werden, ist ein wichtiger Bestandteil der Sprache des Romans und des autobiographischen Inhaltes, vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Vater, mit dem Patriarchen.202 Die anatomische Verwandlung in eine Schlange (Inbegriff und Motiv des Bösen, vor allem im Falle der Erbsünde) mündet in den ausgesprochenen Wunsch, Tier werden zu wollen.203 Die Anstrengung Tier zu werden, ist ein rebellischer Wille, der gegen den Vater als ethisch-kritische Leistung vollzogen werden möchte. Und er vollzieht sich durch die Überbetonung des Körperlichen (Fußsohlen, Hals, Augen, Füße, Bauch, Hände, Oberkörper, Hüften, Kopf, Zunge, Stirn) im Zitat, die in das Wort „Tier“ als Steigerung kulminiert. Es fängt bereits mit der Perspektive des Tieres („Vogelperspektive“) an, die dann im TierWerden expliziter wird. Die Figur der Schlange steht dann in Muttersprache in Verbindung mit der Figur des Teufels, die oben besprochen wurde und zusammen mit der Figur des Krampusses, des Kärntner-Monsters, gelesen werden soll.204 Die Beleidigung bei Winkler kann allgemein als eine Beleidigung der

|| 202 Friedbert Aspetsberger sieht gerade in der Kritik am Vater und am Patriarchalischen eine Hauptlinie in Winklers Werk, die er im Vergleich mit Thomas Bernhards Werk herausarbeitet. Ferner beobachtet Aspetsberger, dass es dabei um einen impliziten Besitzanspruch des Patriarchen auf die Erde, bzw. das Land gehe. Somit sei in Winklers Anti-Heimatliteratur die Kritik an der Religion und an Österreich in der Kritik am Vater enthalten (1997, S. 197). In der queeren Kritik der Männlichkeit und der damit zusammenhängenden Kritik des Patriarchalischen liest Aspetsberger die Provokation Winklers: „Literarische Homosexualität ist also ein funktionell-temporäres Gegenmodell zur bestehenden väterlichen Wirklichkeit“ (ebd. 200). Dies stützt meine Behauptung, dass der Rahmen dieser Kritik breiter zu fassen ist und die ganze Religionskultur einschließt. 203 Der Neobarock, das Thema des nächsten Kapitels, taucht in der Figur der Schlange hier bereits auf. Severo Sarduy betont in Barroco die Bedeutung der Schlange, die in Verbindung mit dem Zorn gelesen wird: „Furia de las figuras: ascenso que las tuerce forzándolas a organizarse, a encajar en un riguroso ornamento que contrapone sus ademanes, hélices“ (1999a, S. 1228) / „Zorn der Figuren: Emporhebung, die sie verdreht und sie dabei zwingt, sich zu organisieren, sich in ein rigoroses Ornament einzufügen, das sich ihren Gebärden entgegensetzt, Helices“ (meine Übersetzung). Maria Cristina Chaves Carvalho betont diesen Aspekt des Neobarocks ebenfalls (2017, S. 5). 204 Die kultursemantische Verbindung zwischen der Schlange, dem Teufel und dem Bösen hat eine lange Geschichte, genauso wie die Schlange als Tiermotiv in der Literatur eine lange Geschichte hat. Martin Thomas Pesl bezieht sich in seinen Streifzügen durch das Tierische in der Weltliteratur ausschließlich auf die Episode im Buch Genesis – die Schlange als Inbegriff der Versuchung und des Bösen (2017, S. 43). Diese Konnotationen sind im Werk Vallejos und

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Dorfgemeinschaft und der österreichischen Gesellschaft gelesen werden, da diese sich auf verschiedensten Ebenen äußert, auf denen die katholische Religion als Religionskultur eine konstitutive Rolle spielt. Beleidigt zu werden ist gemäß Didier Eribon eine grundlegende Erfahrung des Homosexuellen in der Gesellschaft, eine Situation, die dann in der Beleidigungspoetik Winklers aufgenommen und umgekehrt wird: „Wenn du sagst, daß ich ein Teufel bin, so kann es tatsächlich sein, daß aus mir ein Teufel wird, damit dein Wunsch, daß ich engelsbrav sein soll, nicht in Erfüllung geht“ (MS 741). Winkler entwirft eine antimoralische Sprache, die in der Entgegensetzung zur moralischen Drohung artikuliert wird. Die an den verletzlichen Homosexuellen gerichtete Beleidigung, ein Teufel zu sein, speist sich bei Winkler aus dem heteronormativen Diskurs, er solle „als Mann“ und somit „gut“ handeln.205 Das Selbstbekenntnis als Teufel wird somit gleichzeitig mit der intendierten Effeminierung seines Selbst in Beziehung gebracht. Dies kommt am Ende von Muttersprache in der kurz nach dem folgenden Zitat eingeführten Figur des Transvestiten (MS 748) am Deutlichsten zum Vorschein, wird aber schon im Laufe des Schreibens mittels kontradiktorischer und ironischer Wendungen thematisiert: Oft hat der Vater zu mir gesagt, wenn ich nicht arbeite, wird mich der Teufel holen, dann macht er mich zu seiner Braut. Nein, der Teufel wird mich nicht holen, ich möchte bei dir bleiben, Mame, ich werde mich bessern, ich möchte beim Tate bleiben, ich werde ihm nicht mehr aus dem Weg gehen, ich werde im Stall und auf dem Feld arbeiten […]. Ich fahre lieber meinen kleinen Bruder im Kinderwagen das Dorfkruzifix auf und ab, ich stecke ihm den Zutz oder meine Brust in den Mund, wenn er schreit, ich kehre lieber alle Zimmer

|| Winklers auch vorhanden, sie beziehen sich zwangsläufig auf den christlich-jüdischen Gehalt der Figur der Schlange und die von ihr verursachte Vertreibung aus dem Paradies. Das Tier, das Adam und Eva in Versuchung führt, kommt in der Luther‘schen Bibelübersetzung als Schlange vor: „Und die Schlange war listiger als alle auf dem Felde […]“ (Mose 1. 3:1). Die Darstellung des Teufels in der westlichen Kulturtradition lässt sich wohl nicht auf ein Schlangenbild reduzieren, sie steht eher in der Tradition der Darstellung monströser Wesen (siehe Rainer, 2007, S. 87ff). Bemerkenswert ist die Tatsache, dass in der Kulturgeschichte der Teufel in Verbindung mit der Nacktheit (siehe oben Derrida) und dem Tierischen konnotiert wird: „Aus der Nudität wurde eine Nacktheit, die gleichbedeutend war mit Degradation und Entwürdigung, das Zeichen eines Ausgestoßenseins, wie es einem Verrückten oder einem Tier, dem man ungestraft Recht oder Wasser verweigern konnte, widerfuhr“ (L. Link, 1997, S. 66) 205 Diesbezüglich bringt Friedbert Aspetsberger den Begriff des Feldes ins Spiel, um die Ambivalenz der Kritik Winklers zu betonen: „Der Sohn redet zwar auf seinem Feld, aber er redet über das Feld des Vaters, dessen ‚Bedeutungen‘ insofern immer auch noch seine ‚Bedeutungen‘ sind – Bedeutungen des Patriarchats. In ihnen bewegen sich Vater und Sohn widerstreitend und machen die Literatur“ (1997, S. 205). Insofern werden hier gerade die Wörter des Feindes genutzt (die Drohung, die Beleidigung) und zurückgeworfen.

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sauber, bette auf, säubere das Geschirr, lasse mich lieber zu einem Mädchen erziehen, als daß ich das Kind des Teufels auf meinen Schoß nehme und ihm ein Einschlaflied singe. Der Krampus hatte ein feuerrotes Gesicht […]. Die Brutalität des Dorfes, verkleidet in einen Krampus, der den schönen Nikolaus mit den weißen Engeln begleitete, stand vor uns in der Mitte der Küche […]. (MS 742–743)

Die flehende Bitte nach Barmherzigkeit wird jedoch im kontradiktorischen Erzählfluss ironisiert: Der Erzähler möchte erstmal wie ein Mann „im Stall und auf dem Feld“ arbeiten, ändert jedoch seinen Wunsch lieber, sich mittels der Effeminierung („lasse mich lieber zu einem Mädchen erziehen“) dem Vatergebot zu entziehen. Dabei entsteht eine unzuverlässige Erzählung, die die Problematik eines Subjektes zum Ausdruck bringt, das sich in der Theatralität der Gemeinschaft (siehe unten die Masken) nicht einleben bzw. orientieren (Ahmed) kann. Winklers Schreiben reproduziert somit diese kontradiktorische Logik der katholischen Religionskultur, die sowohl Hass als auch Liebe, sowohl Blasphemie als auch Buße, sowohl Leben als auch Tod stiftet. Diese Ambivalenz äußert sich in der Erinnerung an eine Kindheit, die sich mitten in dieses Rollen- bzw. Maskenspiel einzuordnen versucht. Das moralisch Böse des Teufels und des Krampusses entstammt der christlichen Gesellschaft selbst und ist die Ursache für körperliche Verletzungen: Wenn ich diesen Verletzungen, die mir und meinen Geschwistern während der Kindheit widerfahren sind, nachforsche und auf immer mehr und schlimmere Verletzungen stoße, wundert es mich, warum nicht einer von uns zum Mörder oder Selbstmörder geworden ist, aber noch stehen uns alle Türen offen. […] Ich weiß nicht, ob ich mir die Lebendmaske oder die Totenmaske aufsetzen soll. Manchmal trage ich beide zugleich, die Lebendmaske über der Totenmaske oder die Totenmaske über der Lebendmaske. (MS 745–746)

Hier wird evident, dass bei Winkler die moralischen Gebote als biopolitische Strategien verstanden werden: Die Gesellschaft gibt den Individuen bestimmte Rollen (Masken), die das Leben und den Tod in der Gemeinschaft strukturieren. In der Bloßlegung dieses Spieles der Oberflächen wird die Gemeinschaft selbst als heuchlerisch beleidigt. Mittels der Maske transvestiert sich ein Körper als Teufel bzw. Krampus und als Engel, als Leben (Lebendmaske) und als Tod (Todesmaske). In der Betonung des Tierischen und des Körperlichen vollzieht sich dann die entgegengesetzte Bewegung, jene der Entblößung der Rollen, die Enthüllung einer zugrundeliegenden körperlichen Verletzlichkeit. Mitten im Spiel der Masken wird das verletzte Subjekt zum Ende seines Lebens geführt, zur Todesfrage, und stellt sich – wie Jakob und Robert – somit den Selbstmord als möglichen Ausgang vor.

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Das „Böse“ entsteht in der Bedrohung durch die Gesellschaft, gerade als Maske.206 Der Angriff auf das verletzte Subjekt (die Angst vor dem Krampus, vor seiner Drohung) wird aber in der Beleidigungspoetik umgekehrt, in der zornigen Kobrasprache des Textes selbst, nämlich in der Anheimgabe an das Böse, an das freche Schreiben. Die Quälerei des Fürchterlichen bei Winkler wird somit auch zur Lust, und dies bringt die Widersprüchlichkeit der sozialen Theatralität der Masken zum Ausdruck. Somit schafft sich das erzählende Subjekt einem Lebensrahmen, eine andere Maskerade, indem das Schreiben zur Überlebensstrategie wird: „So erschreibt sich ein Autor wie Josef Winkler dauernd seine Besonderheitsexistenz. Der Lebensraum wird als ein Sprach- oder Schreibraum abgesteckt“ (Schmidt-Dengler, 2012, S. 249). Die ganze Trilogie in ihrer Bloßlegung der inneren, katholisch-ideologischen Mördermaschinerie des Dorfes ist nicht nur produktionsästhetisch als Angriff intendiert, sondern auch rezeptionsgeschichtlich als Beleidigung und ‚Netzbeschmutzung‘ wahrgenommen worden. In der zur Schau gestellten Verletzlichkeit des Körpers bei Winkler wird die Beleidigung das Mittel zum Überleben.207 Die Sprache ist das Umfeld, in dem das Subjekt selbst seine besondere Existenz zum Ausdruck bringt. Und der Höhepunkt des Ausdruckes der Verletzung des Lebens der Mitglieder der katholischen Gemeinschaft ist der (Selbst)Mord der Homosexuellen Jakob und Robert, der zum Zündungsmoment der Hasstirade Winklers wird: [J]a, das ganze Dorf wollte ich nach Jakobs Tod auslöschen. Alle und alles haßte ich. Das Wasser des Dorfbaches bedrohte mich, als wäre es Blut, das von den Bergen kommt und in die Drau fließt. Auf den Blumen saßen neugeborene Totenvögel. Alle im Dorf waschen ihre Hände in Unschuld, und sie werden zu Pfingsten wieder ihre Altäre vor den Häusern aufstellen, unzählige Pfingstrosen und Lilien dem angebeteten Knochengerüst am Kreuz opfern […]. (MS 715)

Die Parallelisierung von Dorf und Körper betont die zugrundeliegende körperverletzende, lebensfeindliche Struktur des Dorfes, die in der Architektonik des Dorfes in seiner Kruzifix-Form verdeutlicht wird: „Die geographische Anatomie

|| 206 Hier beziehe ich mich auf die Position Georges Batailles, der die Maske in ihrer ambivalenten Rolle als fürchterliche und befreiende Figur in Bezug auf den Teufel versteht: die Maske als verhüllendes und enthüllendes Mittel der Natur und des Chaos (Bataille, 2012, S. 74). 207 „Es ist immer der Körper, der spricht, Winkler hat so eine Art Grammatik des Körpers mit allen seinen Organen, den Sinnesorganen wie den Geschlechtsorganen entwickelt, ein Organisches, das stets in ein Künstlerisches überführt wird. […] Bei Winkler werden die Körper, ob tot oder lebendig, von Zeile zu Zeile in höchster Anschaulichkeit präsent“ (Schmidt-Dengler, 2012, S. 249–252)

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unseres Dorfes läßt sich mit einem Kruzifix vergleichen. […] Überall dort, wo die Wundmale des Gekreuzigten eingraviert sind, starb jemand eines ungewöhnlichen Todes“ (AK 200–201). Die Denunziation, die Beleidigung liegt in der Enthüllung des Dorfes als todbringende Gemeinschaft. Das Dorf ist der Ort der Opferung im Namen Gottes. In der Betonung des Körperlichen spielen dann die Tiere eine Rolle, und diese beiden Aspekte sollen in Beziehung gesetzt werden.208 Der „Gott meiner Kindheit“ wird durch die Personifizierung zum Angriffsziel der Beleidigung: „Mit einem in den Tod galoppierenden Zugpferd werde ich den Gott meiner Kindheit einholen, vor dessen Aufbäumen er sein Gesicht wird schützen müssen, wie sich die Menschen vor der Sonne schützen“ (MK 73). So lässt sich etwa folgende Aussage verstehen, in der die biopolitische Anordnung von Tod und Leben das Leben an sich bestimmt: „Ob Tier oder Mensch, wer im Dorf stirbt, ist egal, wichtig ist der Tod, der einem am Leben hält“ (AK 355). Durch die Verletzlichkeit der Körper im Dorf schreitet das Leben fort: „Ich werde wieder eine Untat vollbringen, damit ich so heftig geschlagen werde, daß meine Nase blutet. Du wolltest gekreuzigt und ich wollte immer geschlagen werden, so haben wir beide überlebt“ (AK 356). In dieser Hinsicht wird Winklers kritische Haltung Teil dessen, was er kritisiert: Das Leben als Schmerz ergibt sich aus einem katholischen Diskurs (wie hier in Bezug auf Jesus). Opfer und Täter vermischen sich in einer Religionskultur, in der das Leben durch Schmerz gestiftet wird. Schmerz und Lust, Leben und Tod, Mann und Frau, Mensch und Tier, Frömmigkeit und Blasphemie, Unterwerfung und Subversion: All diese Kategorien werden in Winklers Schreiben porös, in ihren dialektischen Gegenbestimmungen dekonstruiert und an ihre Grenzen geführt. Dabei zeigt sich das Monströse als wichtige poetische Instanz, als Entgrenzung der Gattungen und Kategorien: Das katholisch moralische Dorf wird zur Stiftungsinstanz des Bösen selbst. Dass es sich bei der Figur des Krampusses um eine katholische Gestalt, als Teil des Krampustages vor dem Fest des heiligen Nikolaus, handelt, ist nicht irrelevant: Wie bei Vallejo, speist sich die Beleidigung bei Winkler aus der Blasphemie und deren autoritätskritischer Funktion. Die religiösen Figuren (wie Jesus, der Priester, die Ministranten usw.) werden von den anderen Figuren bei Winkler ununterscheidbar. Alle Figuren sind Teil der katholischen Mordmaschinerie, die Winkler zu denunzieren versucht. Jesus wird in einer expliziten Blasphemie/Beleidigung an verschiedenen Stellen in einer iterativen Form vor-

|| 208 Dabei ist die Natura-Morta-Obsession Winklers, die Mario Irod (2018) ausführlich analysiert, ein gutes Beispiel dafür, dass die Tiere in Verbindung mit dem Tod und mit dem Leben gelesen werden sollen.

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geführt, die im Kontrast zu einer positiven Jesusfigur steht – Jesus ist zugleich die Hauptfigur der mörderischen christlichen Religionskultur und ein Opfer der Gesellschaft selbst, wie Jakob und Robert:209 Dreizehn oder vierzehn Jahre war ich alt, als ich hundertmal sagen mußte, Jesus, du Schwein, Jesus, du Schwein, Jesus, du Schwein, um überhaupt einschlafen zu können. Aber bevor ich einschlief, fielen die Worte, nein, das darf ich nicht sagen, nein, das darf ich nicht sagen, Jesus, du Schwein, von den Lippen, genausooft. (AK 308)

Die Blasphemie ist mit der Reue verbunden wie die Masken des Bösen mit denen des Guten, die des Lebens mit denen des Todes. Diese Aspekte werden kontradiktorisch vorgeführt, dabei aber aus einer erinnernden, einfühlenden Perspektive auf die distanzierte Darstellung des vergangenen, kindlichen Zustandes zwei kontradiktorische Standpunkte vor Augen geführt: die Wiedergabe der Erlebnisse des Kindes und die kritisch-ethische Erinnerung daran. Daher ist die Perspektive der Erinnerung hier sehr wichtig („dreizehn oder vierzehn Jahre war ich alt“), die in der späteren Ich-Perspektive der Erzählung den Aspekt der Reue in Frage stellt: „In Angstzuständen rief ich damals Gott an, Herrgott hilf mir. Während ich jetzt schreibe und mich in meine Kindheit versetze, rufe ich ihn wieder an, Herrgott hilf mir, um meine damaligen Hilferufe rückgängig machen zu können“ (AK 309). Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit führt die Widersprüchlichkeit dieses vergangenen Zustandes im Schreiben vor Augen, und somit wird im Text selbst die Paradoxie zwischen Sünde und Reue der katholischen Kulturgemeinschaft verhandelt.210 Das Schreiben Winklers als Befreiungs-211 und Überlebensstrategie (Schmidt-Dengler) nach einer erstickenden Kindheit führt zwangsläufig zur Inversion der jüdisch-christlichen Moral: Du sollst stehlen, wenn du kein Geld, aber Hunger hast. Du sollst den Namen Gottes verunehren, wenn du acht Jahre lang seine hölzernen Füße geküßt hast. Du sollst Vater und

|| 209 Etwa im Zitat von Oscar Wilde am Anfang von Muttersprache oder im selben Roman, wo der Erzähler die Rolle Jesu spielen möchte (vgl. MS 549). 210 Hier verweise ich auf Carola Daffners Perspektive: „I trace Winkler’s attempt to think of writing as a space of communication and negotiation, where, inspired by postcolonial discourses of displacement, seemingly divergent ideas appear simultaneously, influencing, confronting and exposing each other“ (2011, S. 38). 211 Winkler thematisiert in seinem Buch Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär die Sprache als eine Befreiung vom Dorf, das gerade das Sprechen und die Sprache selbst zum Verstummen gebracht hat: „Mit diesem Wort ahnten wir schon, daß wir den Sprung über den dörflichen Misthaufen doch schaffen, daß wir der sprachlosen Enge des katholischen Bauerndorfes entfliehen würden“ (2011a, S. 136).

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Mutter verunehren, wenn sie dir nicht jeden Abend und jeden Morgen statt des Abendund Morgengebets zeigen, daß du ein Mensch bist wie sie. Du sollst Unzucht treiben, wenn dir ein Junge lieber als ein Mädchen ist, du sollst den Jungen lieben wie dich selbst. Du sollst töten, wenigstens ein Tier töten, wenn dich dein Vater schlägt. (MS 616)

Die Gebote werden mit einem Zusatz ethisch, d.h. moral-kritisch begründet. Ihre Begründung basiert auf einer körperlichen Not: der Hunger, der Zwang zum Kult, der Zwang zur Mimesis des Lebens der Anderen, das verbotene Begehren und die körperliche Verletzung. Die in der erinnernden Perspektive ausgedrückte Klage geht dann mit der Verteidigung des vergangenen Kindes einher und konvergiert in einer zornigen beleidigenden Sprache, die noch expliziter wird: „O Herr, ich bin nicht würdig, deinen Leib zu empfangen. Im Grunde genommen ist er nicht würdig, auf unsere menschliche Zunge gelegt, geschluckt und in unser menschliches Fleisch und Blut gebunden zu werden“ (MS 616), und: „Die Hostie ist die größte Prostituierte Österreichs“ (MS 617). In der Betonung der biopolitischen Aspekte verwandelt sich die Blasphemie in eine Beleidigung der Gesellschaft selbst und des österreichischen Staates. Es geht um die Perspektive auf den Katholizismus als Religionskultur, die zwischen Bekenntnis und Diskurs nicht unterscheidet, sondern in ihm eine Machtinstanz erkennt. Die Kritik an den Machtstrukturen bezieht sich somit nicht bloß auf die Religionskultur, sondern auf die Macht an sich, auf den herrschenden Diskurs – dies macht Winklers Anteil an der in der Sekundärliteratur oft besprochenen „AntiHeimatliteratur“ aus. In diesem Sinne lässt sich folgende Aussage in Der Ackermann aus Kärnten verstehen: Das Unglück ist nicht in mir, ich bin Unglück, und ohne Unglück kann ich nicht leben. Ich weine, weil mir im Augenblick des Glücks mein Unglück deutlich wird. Im Corpus dieses Dorfkruzifix bin ich aufgewachsen. […] Hier in diesem Buch lege ich testamentarisch fest, daß ich in diesem Dorf nicht begraben sein möchte. Weder als Lebender noch als Toter kehre ich zurück. (AK 206)

Die katholische Gemeinschaft wird hier von der Gesellschaft der ‚Seligen‘212 in die Gemeinschaft der Unglücksseligen verkehrt. Winkler enthüllt somit hinter || 212 Im Matthäusevangelium findet man die sogenannten „Seligpreisungen“, wo Jesus den Gläubigen und Frommen die Seligkeit zuspricht (Mt. 5: 3–11). Im Versprechen der Glückseligkeit nach dem Tod wird das christliche Leben bereits als selig bezeichnet: Der Glaube an ein kommendes Glück ist bereits im irdischen Leben der Grund für das irdische Glück – Jesus sagt daher am Ende seiner Rede folgenden Satz: „Seid fröhlich und jubelt; es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden“ (Mt. 5: 12).

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der Fassade einer religiösen Gemeinschaft der Liebe und der Glückseligkeit ihr konstitutives Gegenteil in der Darstellung des Unglücks und des Todes im Dorf. Daher werden die Paradoxien (zwischen Leben und Tod, Lust und Schmerz u.a.) immer wieder vorgeführt – als dekonstruktives Schreiben einer in sich selbst kontradiktorischen Gesellschaft. Am Ende der Trilogie erreicht Winklers Beleidigung ihren Höhepunkt, nämlich im Tabubruch und in der Denunziation der nicht vorhandenen Entnazifizierung und der Weiterführung eines Nationalsozialismus in Österreich, die in den kulturellen Gedächtnispolitiken der 1980er-Jahre eine besondere Bedeutung hatten (siehe Einleitung): Hitler war tot, aber sein Geist lebte in unseren Familien, im Reich des Bauernhofes weiter. […] Vater und Onkel beschworen immer wieder den Führer. […] Hitlers Scheiße im Emaileimer, den die Cousine, im Gehen auf die Holzräder des Wagens starrend, weinend zum Kanister trug. (AK 235)

Die Beleidigung, Österreich als Nazi-Land zu bezeichnen, kann in diesem Kontext als skandalöse Behauptung gelesen werden: Es geht um die Widerlegung des Opfermythos, der bis dahin noch paradigmatische Geltung beanspruchte. Die beleidigende Behauptung einer Ununterscheidbarkeit zwischen Religion und nationalsozialistischer Politik speist sich aus der Vermischung des Unterschiedlichen, aber zugleich aus der Denunziation einer Kultur, die auf allen Ebenen, auch auf der religiösen, vom Nationalsozialismus durchdrungen war.213 Der Vater selbst wird als eine faschistoide Autoritätsfigur wahrgenommen, die in einer synkretistischen Verbindung mit dem Katholizismus attackiert wird: Der Ackermann trägt einen Hitlerbart. Tiere und Kinder bilden sein Volk, das jedem Befehl gehorcht. Die Scharen des Pfluges salutieren, wenn er die strammliegenden Ackerschollen entlangschreitet. Millionen von reifen Weizenähren jubeln ihm zu. Heil Ackermann! Er wird den Bauernkrieg anführen, den die Kinderseelen austragen werden. Auf seinem rechten Oberarm trägt er ein aus Getreideähren geschmiedetes Hakenkreuz. Er folgt der Fahne des Windes. Er sagt, daß Gott lebt und Hitler sterben mußte. (AK 221)

Die patriarchalen, faschistischen und religiösen Gewaltinstanzen werden als Einheit angegriffen, als miteinander verwobene Diskurse, die auf einmal kon-

|| 213 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Geschichte der katholischen Kirche kann man in Vallejos Buch La puta de Babilonia finden ([2007] 2016, S. 68–80).

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frontiert werden müssen. Die ausführliche Beschreibung bekräftigt den sarkastischen Ton der Beleidigung, die hier zugleich eine Denunziation ist. Die Anschuldigung, Kinder und Tiere zu verletzen, wird im beleidigenden Verspotten der Autoritätsfigur („ein aus Getreideähren geschmiedetes Hakenkreuz“) erhoben und damit diese Autoritätsfigur erniedrigt: Ihre Opfer sind bloß jene, die am Schwächsten sind. Der intertextuelle Bezug auf Thomas Bernhards Die Ursache wird in der Denunziation der Kontinuität des Nationalsozialismus im katholischen Bildungssystem evident214 – Bernhard bezieht sich auch wiederholt auf die katholische Vernichtungs-215 und Quälmaschine216, die sich gegen alle Menschen der Gesellschaft richtet, aber vor allem gegen jene verletzlichen Menschen (Kinder und Jungen), die dann als Opfer dienen. Die beleidigende Kritik wird hier auf verschiedenen Ebenen wirksam und kulminiert im vorletzten Absatz der Trilogie Winklers in der Beleidigung von Jesus, der sakral-politischen Instanz der Gemeinschaft überhaupt, in der Überlappung vom Katholizismus und Nationalsozialismus: „Als er am waagrechten Querbalken des Gipfelkreuzes die Aufschrift, ‚Bleib unserer schönen Heimat treu‘ las, schrie er, Hitler von Nazareth, König der Juden“ (MS 849). Der höchst blasphemische Ausdruck „Hitler von Nazareth“ wird in iterativer Form bei Winkler in Der Leibeigene bekräftigt: „Mit ausgestreckter, zum Gruß erhobener Hand erschien Hitler von Nazareth, der König der Juden, am Kirchentor“ ([1987] 1990, S. 10). In der Mischfigur eines Antisemiten (Hitler) und eines Juden (Jesus) verschmelzen beide Figuren || 214 „[W]o jetzt das Kreuz hing, war noch der auf der grauen Wandfläche auffallend weiß gebliebene Fleck zu sehen, auf welchem jahrelang das Hitlerbild hing“ (Bernhard, [1975] 2009, S. 76); oder: „Das Internat hat mir dieses katholischnationalsozialistische Wesen tagtäglich mit der Eindringlichkeit des Authentischen vorgeführt, geistig eingeklemmt zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus sind wir aufgewachsen und schließlich zerquetscht worden zwischen Hitler und Jesus Christus als volksverdummenden Abziehbildern“ (ebd. 87). 215 „[A]ls eine der größten Vernichterinnen, übernimmt die Kirche (übernehmen die Religionen) die Vernichtung der Seele dieses neuen Menschen, und die Schulen begehen im Auftrag und auf Befehl der Regierungen in allen Staaten der Welt an diesen neuen jungen Menschen den Geistesmord“ (Bernhard, [1975] 2009, S. 74); oder: „Völlig mechanisch und in dem ja berühmten professoralen Stumpfsinn zerstören sie mit ihrer Lehre, die nichts anderes gewesen war als die ihnen von der staatlichen Obrigkeit vorgeschriebene Zersetzung und Zerstörung und, in böswilliger Konsequenz, Vernichtung, die ihnen anvertrauten jungen Menschen als Schüler“ (ebd. 107). 216 „Jeder Auftritt des Pittioni in der Frühe im Gymnasium ist der Beginn einer bei seinem Erscheinen sofort mit aller Rücksichtslosigkeit einsetzenden Quälmaschine gegen Pittioni gewesen […]. [W]o er gewohnt hat, war es für ihn doch nur das Entkommen aus dieser Quälmaschine, die sich Gymnasium nannte, gewesen, um zuhause wiederum in eine Quälmaschine einzutreten, denn sein Zuhause ist, wie ich weiß, auch nichts anderes für den Pittioni gewesen als eine Fürchterlichkeit […]“ (Bernhard, [1975] 2009, S. 116–117).

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– eine Ähnlichkeit verbindet sie aber und macht aus der Beleidigung eine Denunziation: Sowohl im Namen Jesu als im Namen Hitlers sind viele Unschuldige (etwa Jakob und Robert) gestorben. Die biopolitischen Folgen der Verteilung der Wertigkeit des Lebens und dadurch des Todes sind gerade das, was beide Diskurse zusammenbringt: Jesus und Hitler werden zu Masken, die sich in der Dorfgemeinschaft vermischen, genauso wie die Todes- und Lebensmasken. Dabei agiert die Beleidigung als eine zynische Bloßlegung, eine kritische Betrachtung, die eine zukünftige Re-Evaluierung gewisser Politiken ermöglicht – indem das Unaussprechbare ausgesprochen wird, indem das scheinbar Ruhige gestört wird: „[I]mmer und überall werde ich Unruhe stiften. Was ich schreibe und denke soll ebenfalls Unruhe stiften. Die Unruhe soll mein ganzes Leben lang in mir wühlen und mich aufrechthalten“ (MS 630). Der Vergleich zwischen den zwei Autoren erhellt an dieser Stelle die strategische Bedeutung dieser Provokation: Fernando Vallejo rekurriert seinerseits auf eine ähnliche Skandalisierungsstrategie wie Josef Winkler, nur dass der Kontext ein anderer ist und daher das Skandalöse der Aussage andere Konsequenzen mit sich bringt: „¡Ay san Adolfo Hitler mártir, santo, levántate de las cenizas de tu búnker!“ (EF 20)217, und „¡Ay san Adolfo Hitler, mártir y santo, dónde estarás! ¿En el cielo? Algún lugarcito te habrá agenciado Pío Doce. Ni la Bruja ha mordido ni yo he matado. O sea, quiero decir, no en la medida en que debe ser dada la inmensa población del mundo“ (EF 195)218. Sowohl bei Winkler als auch bei Vallejo lässt sich eine kritische Funktion des exzessiven Tabubruchs und der Blasphemie erkennen: Vallejo betont nicht nur die Nähe zwischen dem damaligen Vatikan (Pius XII) und dem Dritten Reich, sondern übertreibt und überspitzt seine Misanthropie mit der Behauptung der Heiligkeit Hitlers. Da die Heiligkeit selbst im Rahmen des Schreibens Vallejos entleert wird, werden sowohl Hitler als auch die katholische Religion in einem Zug verspottet. Die damit verbundene Zumutung der beleidigenden Aussage enthüllt auf zynische Weise eine politische Wahrheit, die als „schwarze Wahrheit“ (Pfaller) wirken möchte.219 Dabei werden die moralischen Regeln des Sagbaren über-

|| 217 „Oh, Heiliger Adolf Hitler Märtyrer, Heiliger, erhebe dich aus der Asche deines Bunkers!“ (Meine Übersetzung). 218 „Oh, Heiliger Adolf Hitler, Märtyrer und Heiliger, wo bist du nur! Im Himmel? Irgendein Eckchen hat Pius XII sicherlich für dich bestimmt. Weder hat Bruja gebissen, noch habe ich getötet. Beziehungsweise, ich meine, nicht in dem Maße, das für die riesige Bevölkerung der Welt gegeben sein muss“ (meine Übersetzung). 219 Peter Sloterdijk bezieht sich in seiner Abhandlung über den Zynismus auf die „Faschismusgefahr“ im „modernen reflexiven Zynismus“ (1983, S. 42). Eine weiterführende Frage wäre jene nach der Nähe dieser zornigen zynischen Kritik zur faschistischen Rhetorik, die aber den

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schritten, die Bequemlichkeit der Moral gestört, um einen Denkanreiz zu schaffen: Wie soll man dieses Unangebrachte lesen? Es ist eine ethische Aufmerksamkeit für das kritisierte Objekt, die drastische Offenlegung einer verhüllten Struktur, die im Akt der Sprache selbst (ohne rationale Argumentation) vollzogen wird.

|| Rahmen dieses Forschungsvorhabens sprengen würde. Die Rede von der Heiligkeit Hitlers deutet aber bereits auf diese Gefahr im Diskurs der beiden Autoren hin.

5 Fernando Vallejos entsakralisierende Hundssprache Megumi Andrade hat bereits die Bedeutung der Figur des Hundes in Vallejos Werk als Teil einer Strategie der Machtkritik hervorgehoben: Demnach bezieht sich Vallejo auf eine „pureza perruna“, die als moralisches Vorbild der ‚Reinheit‘ im Kontrast zum Menschen eingeführt wird:220 Daraus speist sich eine Poetik der Beleidigung, eine misanthropische Umkehrung des Moralischen, indem das Tier in seiner grundlegenden Unschuld als Bezugspunkt der Moral erkannt wird. In letzter Konsequenz ist Vallejos Beleidigung an den Menschen und an einen im Katholizismus implizierten Humanismus gerichtet, der im Schreiben Vallejos als unrein oder pervers beschimpft wird. Fernando Vallejos Poetik der Beleidigung erfährt in einem späteren Werk, La puta de Babilonia, ihren Höhepunkt.221 Nicht bloß, weil der Titel bereits eine offensichtliche Beleidigung („puta“, „Hure“) enthält, sondern weil die Praxis des Beleidigens in diesem fast 400-seitigen mamotreto ein hohes Maß an Filigranität erreicht. Es geht um eine wissenschaftlich fundierte Abrechnung mit der katholischen Kirche (die im Buch nur als die „Puta“ / „Hure“ bezeichnet

|| 220 „[L]a pureza del perro excede a cualquier otro ámbito u orden de cosas; incluso supera a aquellos sujetos que más alejados se encuentran de lo que el narrador considera la ’basura humana‘. Son ellos, los perros, los únicos inocentes dentro de este infierno en vida que es Medellín, que es Colombia, que es el mundo entero“ (Andrade, 2014, S. 258–259) / „Die Reinheit des Hundes übersteigt jeden anderen Bereich oder jede andere Ordnung der Dinge; sie übertrifft sogar jene Subjekte, die am weitesten von dem entfernt sind, was der Erzähler als ‚menschlichen Abfall‘ bezeichnet. Es sind sie, die Hunde, die einzigen Unschuldigen innerhalb dieser Hölle des Lebens, die Medellín, Kolumbien und die ganze Welt ist“ (meine Übersetzung). 221 Juan Álvarez sieht ebenfalls in diesem Werk den Höhepunkt seiner Beleidigungspoetik, oder -logik: „La puta de Babilonia es la agudización de la lógica injuriadora vallejiana porque es la intensificación de la gama variada de maltratos y la desparición del margen de presencia del discurso enfrentado. […] [E]l sermón que predica la doctrina […], o el rezo que eleva alabanzas y peticiones de culto, no tienen oportunidad de presentarse porque la escenificación de su juicio es al tiempo la enunciación de su condena“ (2018, S. 255) / „La puta de Babilonia ist die Verschärfung von Vallejos beleidigender Logik, weil das Buch die Intensivierung des breiten Spektrums an Misshandlungen und das Verschwinden der Grenzen der Anwesenheit des konfrontierten Diskurses bedeutet. […] [D]er Sermon, der die Doktrin predigt […] oder das Gebet, das das Lob und die kultischen Bitten vorbringt, haben keine Gelegenheit mehr sich zu präsentieren, weil die Inszenierung ihres Gerichts gleichzeitig die Verkündung ihrer Verurteilung bedeutet“ (meine Übersetzung). https://doi.org/10.1515/9783110799965-014

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wird)222, eingerahmt durch die gleich im ersten Absatz erfolgende Absichtsverkündung, eine offene Rechnung zu begleichen. Das Buch beginnt mit einer Liste von 110 Beleidigungen an den Katholizismus und der darauffolgenden Erklärung: „la impune bimilenaria tiene cuentas pendientes conmigo desde mi infancia y aquí se las voy a cobrar“ ([2007] 2016, S. 10)223. Die historisch, kirchenhistorisch, theologisch, literarisch, kulturwissenschaftlich, religionshistorisch und -wissenschaftlich etc. fundierten Kritiken Vallejos für seine Invektive gegen die Kirche und die katholische Religion im Allgemeinen zeugen nicht bloß von einem persönlichen Zorn, dessen Ursprung in der Kindheit zu verorten ist, sondern von der Faszination, die er für den Katholizismus hegt. Die lange Recherche, die sich in dieser Publikation niederschlägt, ist Zeichen der ambivalenten Beziehung zu einem Forschungsobjekt, das sein Leben nicht nur affektivnegativ, sondern auch -positiv geprägt hat. Die absolute Verneinung wird zwangsläufig zur Bejahung oder – Sanín zufolge – seine Hassrede zur Liebesrede. Diese Liebe wird in manchen Passagen deutlich, in denen Vallejo von der Faszination spricht, die einige Aspekte des Katholizismus in ihm wecken.224 Die Hasssprache Vallejos und seine Beleidigungen müssen dementsprechend in der Ambivalenz der Zerstörung und Zelebration des Katholizismus betrachtet werden. Ein Mittel dafür, das Daniel Balderston als rein literarisches versteht, ist der Einsatz der Ich-Perspektive in Vallejos Eingriffen in die Geschichte und in die Dialoge der Theologie und der Kirchengeschichte, womit zum einen mit dem Ernst der Diskussion gebrochen und diese zum anderen gleichzeitig weitergeführt wird.225 Die Abrechnung mit der katholischen Reli-

|| 222 Daniel Balderston weist darauf hin, dass Vallejo, wenn auch keine Bibliographie, so doch Erklärungen bezüglich der Nutzung und des Zugangs zu den Quellen eingefügt hat – ein Vorgehen, das wohl als eine wissenschaftliche Praxis verstanden werden kann (2010, S. 260). 223 „[…] die zweitausendjährige Unbestrafte hat seit meiner Kindheit noch eine offene Rechnung mit mir und hier werde ich sie nun begleichen“ (meine Übersetzung). 224 „He aquí unas cuantas citas tomadas de esos engendros que la Puta llama ‘epístolas paulinas’ […]. Y esta que me encanta: […]“ (Vallejo, [2007] 2016, S. 163). / „Hier ein paar Zitate aus diesen Auswüchsen, die die Hure ‚Paulinische Briefe‘ nennt […]. Und dieses, das mich entzückt: […]“ (meine Übersetzung). 225 „[L]a cita de Orígenes sirve para armar un diálogo entre Celso y Orígenes […] y también para que Vallejo interpele a Orígenes. Arma conversaciones con base de los textos teológicos, y entra en esas conversaciones, lo cual rompe por completo con la aparente seriedad de los debates teológicos; esto es, los noveliza, los usa para la literatura“ (Balderston, 2010, S. 261). / „[D]as Zitat Origenes‘ dient dazu, einen Dialog zwischen Kelsos und Origenes zu etablieren […] und auch dazu, dass Vallejo Origenes befragen kann. Er baut Gespräche auf Basis theologischer Texte auf und beteiligt sich an Diskussionen, was mit der scheinbaren Ernsthaftigkeit der

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gionskultur beginnt schon in seinem Frühwerk, in El río del tiempo. In der Pentalogie finden sich bereits die verschiedenen Strategien der Beleidigung, die im Folgenden diskutiert werden: die klaren drei Fronten seines Schreibens (die Literatur, der Katholizismus und Kolumbien), der humorvolle, zynische und ironische Einsatz der Beleidigung und die Intellektualisierung der Invektive. Diese Aspekte sind meistens miteinander verwoben und durchmischt und werden zunächst anhand verschiedener Zitate gleichzeitig beleuchtet. Vorweg einige grundlegende Überlegungen zum zornigen Schreiben Vallejos: Im Gegensatz zu Winkler findet man bei Vallejo eine viel durchdachtere Strategie der Beleidigung, die mannigfaltigere Formen als im Fall des österreichischen Autors aufweist. Die Beleidigung ist Bestandteil der bereits erwähnten Poetik des Zornes, die hier im Rahmen einer autobiographischen Erzählung als Leitfaden der Konstituierung einer zornigen Ich-Stimme in Vallejos Pentalogie gelesen wird. Versinnbildlicht wird dieser Affekt des Zorns – und damit bildet er als Anfangs- und Schlussbild einen poetischen Rahmen der ganzen Pentalogie oder vielleicht des ganzen Werkes – mit dem Bild des „niño rabioso“ (EF 197 / „zornigen Kindes“), das wütend seinen Kopf gegen die Welt stößt: ¡Bum! ¡Bum! ¡Bum! La cabeza del niño, mi cabeza, rebotaba contra el embaldosado duro y frío del patio, contra la vasta tierra, el mundo, inmensa caja de resonancia de mi furia. ¿Tenía tres años? ¿Cuatro? No logro precisarlo. Lo que perdura en cambio, vívido, en mi recuerdo, es que el niño era yo, mi vago yo, fugaz fantasma que cruza de mi niñez a mi juventud, a mi vejez, camino de la muerte, y la dura frialdad del patio. (DA 9)226

Die Erzählung fängt – wie mit einer Art Bing Bang des Zornes – mit einem onomatopoetischen Ausdruck des rasenden Widerstandes des autobiographischen Subjektes gegen die ganze ‚kalte und harte‘ Welt, mit der klanglichen Wut eines Ich-Erzählers, die ihm eine Einheit in diesem Affekt verleiht („Lo que perdura en cambio […] en mi recuerdo, es que el niño era yo“). Der Affekt nimmt aber die Form eines Phantasmas an – ein Phantasma, das das ganze Leben durchquert und vorantreibt: Das Vage des Ichs erhält Konsistenz im Zorn, in der Entgegen-

|| theologischen Debatten bricht; das ist es, er fiktionalisiert sie, er benutzt sie für die Literatur“ (meine Übersetzung). 226 „Bum! Bum! Bum! Der Kopf des Kindes, mein Kopf, prallte gegen den harten und kalten Fliesenboden des Hofes, gegen die weite Erde, die Welt, den immensen Resonanzkörper meines Zornes. War ich drei Jahre alt? Vier? Ich kann es nicht genau sagen. Was stattdessen in meiner Erinnerung lebendig bleibt, ist, dass ich das Kind war, mein vages Ich, flüchtiges Phantasma, das von meiner Kindheit bis zu meiner Jugend, bis zu meinem Alter, auf dem Weg zum Tod wandert, und die harte Kälte des Hofes“ (meine Übersetzung).

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setzung zur Welt. Diese Rahmung in Form einer Poetik des Zorns findet sich auf ähnliche Weise in der oben dargestellten Einleitung in Winklers Der Ackermann aus Kärnten. Diese Urszene der gesamten autobiographischen Erzählung Vallejos, in der die Welt als Resonanzkörper des zornigen Ichs präsentiert wird, wird im letzten Band Entre fantasmas eine wichtige Rolle spielen, nicht nur in ihrer buchstäblichen Wiederholung ganz am Ende des Buches, sondern aufgrund der expliziten Thematisierung ihrer Relevanz: En la ciudad de Medellín, en una casa de la calle Ricaurte, en el patio, arrodillado como en plegaria musulmana un niño se da de topetazos contra el piso con su tierna cabecita de tiernos años insuflado por el espíritu de la rabia. ¿Rabia? ¡Qué rabia! La ira más iracunda. Las baldosas del piso son rojas y amarillas en alegre tablero de ajedrez, y ya rajé una de un cabezazo. Como corcel fogoso partió el recuerdo de muy lejos, de mi pasado remoto; ahora avanza de traspié en traspié como mulita vieja y cansada, viene a alcanzarme. (EF 196)227

Aus diesem ursprünglichen Zorn als Urkraft speist sich das ganze Werk Vallejos, obwohl dieser hier aus der fernen Vergangenheit zurückzukommen scheint. Es geht um den „zornigsten Zorn“ („La ira más iracunda“), der das autobiographische Subjekt konstituiert, nämlich im rasenden, wütenden Niederschreiben seines Lebens und seines Ichs. Dafür rekurriert das autobiographische Ich auf eine sprachliche Ausdrucksform des Zornes, die Beleidigung. Man findet in diesen Bildern eine metaliterarische, aber auch metaphorische Reflexion über die zugrundeliegenden affektiven Kräfte, über das zugrundeliegende „zornige System“ des Schreibens selbst.228

|| 227 „In der Stadt Medellin, in einem Haus in der Straße Ricaurte, im Hof, kniend wie bei einem muslimischen Gebet, stößt ein Kind mit seinem zarten Köpfchen von zarten Jahren gegen den Boden, angestachelt vom Geist der Wut. Wut? Welche Wut! Der zornigste Zorn. Die Bodenfliesen sind rot und gelb wie auf einem fröhlichen Schachbrett, und eine davon habe ich schon mit einem Kopfschlag aufgespalten. Wie ein feuriges Ross brach die Erinnerung aus der Ferne, meiner fernen Vergangenheit, auf; jetzt stolpert sie vorwärts wie ein alter und müder Maulesel und kommt näher, um mich einzuholen“ (meine Übersetzung). 228 Hiermit beziehe ich mich auf die bereits oben zitierte Textstelle: „Así como hay un sistema digestivo, un sistema nervioso, un sistema inmune, en el organismo humano hay también un sistema iracundo que va acumulando día a día, hora a hora, minuto a minuto, rabias, hasta que se cruza un umbral y ocurre el asesinato. […] El hombre por toda la superficie de la tierra lleva adentro, contenida, una bestia asesina“ (EF 197–198) „So wie es ein Verdauungs-, ein Nerven-, ein Immunsystem gibt, gibt es im menschlichen Organismus ein Zornsystem, das Tag für Tag, Stunde für Stunde, Minute für Minute Rasereien ansammelt, bis eine Schwelle überschritten wird und der Mord geschieht. […] Überall auf der Erdoberfläche trägt der Mensch eine mörderische Bestie, eingeschlossen, in sich“ (meine Übersetzung). Durch die Betonung des

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Vallejos Ich-Erzähler möchte sich, wie bei Winkler, explizit seiner Menschlichkeit entledigen, genauer gesagt, ein Hund werden bzw. zumindest seine Sprache sprechen: „Porque desde hace años rompí mi pasaporte humano y soy un perro: alzo la pata y me orino en la estatua de Bolívar, la Catedral primada, el hemiciclo de Juárez… Psssss…“ (EF 13)229. Dabei leugnet Vallejo die tierische Natur des Menschen nicht, sondern sieht im Menschen eine Art pervertiertes Tier: „El hombre, animal viejo de viejas mañas, se repite creyendo que se renueva. No hay tal: es siempre el mismo viejo y mañoso animal“ (FS 214)230. Da hier kein Mord begangen wird, wird diese affektive Kraft des tierischen Zornes als poetisches Mittel eingesetzt, als kritische Kraft genutzt: „Cada palabra mía ardía en un infierno de ira…“ (DA 100)231. Dieser Zorn wird aber gleichzeitig als Ausdruck der Verletzlichkeit, der verletzten Unschuld der Tiere und der Kinder verstanden – als ein spontaner Ausdruck des Außenseiters, des Verletzten: ¿Y sí te acuerdas, niñita, de que te daba leche en un biberón? ¿Y de esa noche en que te atropelló un carro por el parque y te pusiste a chillar, y los perritos callejeros a ladrar en coro? Y yo, que entiendo el lenguaje de los animales, entendí al punto lo que estaban diciendo: estaban hijueputeando al chofer. Creí que te morías, creí que me moría […]. (EF 212–213)232

Die Hündin Bruja wird hier mit einem Kind verglichen und somit ihre Verletzlichkeit hervorgehoben, die Beleidigung wird zu einem Ausdruck der Klage über die Verletzung. Hier äußert sich ein desillusioniertes Subjekt, das in einem existentiellen ‚Schwindel‘ die Existenz beleidigt.233 Als solch eine beleidigende,

|| Körperlichen, aber auch des Animalischen („bestia asesina“) soll die natürliche affektive Lage des Menschen zynisch hervorgehoben werden. 229 „Weil ich vor Jahren meinen menschlichen Pass zerriss und seitdem ein Hund bin: Ich hebe meine Pfote und uriniere auf die Statue von Bolívar, die Kathedrale der Unbefleckten Empfängnis, den Halbkreis für Juárez … Pssss…“ (meine Übersetzung). 230 „Der Mensch, altes Tier alter Gewohnheiten, glaubt immer wieder, sich erneuern zu können. So etwas gibt es nicht: Er ist immer dasselbe alte und verwöhnte Tier“ (meine Übersetzung). 231 „Jedes meiner Worte brannte in einer Hölle aus Zorn…“ (meine Übersetzung). 232 „Erinnerst du dich, Mädchen, dass ich dir Milch in einer Flasche gab? Und in jener Nacht, in der dich ein Auto im Park überfahren hat und du anfingst, zu jaulen und die streunenden Hündchen im Chor zu bellen? Und ich, der ich die Sprache der Tiere verstehe, verstand genau, was sie sagten: Sie haben den Fahrer als Arschloch beschimpft. Ich dachte, du stirbst, ich dachte, dass ich sterbe […]“ (meine Übersetzung). 233 „Esta vez salí a la calle a maldecir, a maldecir de los árboles, a maldecir de los carros, a maldecir de la gente, a maldecir de los pájaros, a sentir como nunca más desde entonces lo he sentido, con tan desmesurada intensidad, el vértigo de la vomitiva existencia“ (EF 144) /

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zornige Hundssprache versinnbildlicht sich Vallejos Invektive gegen die katholische Religionskultur und die ganze Gesellschaft. In der Betonung des Körperlichen lässt sich auch eine zynische bzw. kynische Strategie wiedererkennen: Brigitte Adriansen verweist in Bezug auf diese Thematik auf die bereits von Sloterdijk hervorgehobene, etymologische Abstammung vom Zynismus aus Kynismus, von „kúon“ (griechisch für ‚Hund‘), die auf eine niedere, tierische Sprechart hindeutet.234 Aus der Gewalt des Zornes (wie der des Feuers) entwickelt Vallejo eine Strategie der Kritik, die explizit und metaliterarisch im Werk selbst angesprochen wird. Sie betrifft die Gewalt der Geschichte Kolumbiens, die in den 1980erJahren, inmitten des Kriegs der Kartelle, noch fühlbarer war: Pero convencerme a mí de algo era como convencer a mi abuelo, una tapia, una de esas tapias del caserío que pensaba construir y quemar y que construí y quemé porque por algo era nieto de mi abuelo. ¡Qué incendio! ¡Qué esplendor! Su fuego enfurecido aún arde en mi alma, quemándome hasta el recuerdo. Sobre la pantalla luminosa, en la oscuridad de la sala, pasa la Violencia colombiana arrasando ciudades, decapitando pueblos. Paso yo. […] Si yo hubiera sido un campesino y nacido en el Tolima, vamos a suponer, habría sido Sangre Negra. Como no lo soy ni nací no lo fui. Soy un director de cine que hace correr ríos de sangre Mac Factor. […] Sangre Negra, Alma Negra, Tirofijo, Capitán Veneno, posesiónense de mi alma, bandoleros, vengan a mí. (EF 31–32)235

|| „Diesmal ging ich raus auf die Straße, um zu fluchen, um die Bäume zu verfluchen, um die Autos zu verfluchen, um die Leute zu verfluchen, um die Vögel zu verfluchen, um wie seitdem niemals mehr in so einer maßlosen Intensität den Schwindel der ekelhaften Existenz zu fühlen“ (meine Übersetzung). 234 Vgl. Adriaensen, 2011, S. 57 und Sloterdijk 1983, S. 311. 235 „Aber mich von etwas zu überzeugen, war dasselbe, wie meinen Opa, eine Mauer, zu überzeugen, eine von jenen Mauern der Häuser, die er bauen und verbrennen wollte, das ich gebaut und verbrannt habe, weil ich nicht umsonst sein Enkel bin. Was für einen Brand! Was für eine Pracht!Sein wütendes Feuer brennt noch immer in meiner Seele und verbrennt sogar meine Erinnerung. Über den leuchtenden Bildschirm, in der Dunkelheit des Wohnzimmers, zieht die kolumbianische Violencia [wörtl. Gewalt], Städte niederreißend, Völker enthauptend. Auch ich ziehe vorüber. […] Wäre ich ein Bauer gewesen und in Tolima geboren, nehmen wir an, wäre ich jetzt Sangre Negra [wörtl. Schwarzes Blut]. Da ich es nicht bin und nicht geboren wurde, bin ich es nicht. Ich bin ein Filmregisseur, der Flüsse von Mac-Factor-Blut fließen lässt. […] Sangre Negra, Alma Negra [wörtl. Schwarze Seele], Tirofijo [wörtl. Fixer Schuss], Capitán Veneno [wörtl. Kapitän Gift], nehmt Besitz von meiner Seele, Straßenräuber, kommt zu mir“ (meine Übersetzung). „Violencia“ großgeschrieben bezieht sich auf die Periode des ZweiParteien-Krieges der 1950er Jahre in Kolumbien. „Sangre Negra“ und „Alma Negra“ sind Pseudonyme des liberalen Guerrillero der Violencia, Jacinto Cruz Usma; „Tirofijo“ ist das Pseudo-

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Die Brandstiftung an dieser Stelle führt unmittelbar zurück zum vom Erzähler verursachten Brand des Gebäudes am Ende von Años de indulgencia: Die offene Verteidigung seiner Gewalttat (hier mit expliziten Bezug auf die Verbrecher Kolumbiens), die an Jean Genets Ästhetisierung des Verbrechens (etwa in Journal du vouleur oder Querelle de Brest) erinnert, deutet auf eine poetische Aneignung des Zerstörerischen und der Umdeutung der Gewalt, die als Variation der Invektive und Beleidigung gelesen werden kann. Die Beleidigung ist ein poetisches und kritisches Mittel, das „un nuevo tipo de literatura de denuncia“ (Balderston, 2010, S. 260 / „einen neuen Typus von Denunziationsliteratur“, meine Übersetzung) ergeben hat.236 Diese neue „Denunziationsliteratur“ Lateinamerikas wendet sich gegen bestimmte, sich wiederholende Obsessionsobjekte: Eine dieser Obsessionen sind, neben dem Katholizismus und Kolumbien, der literarische Kanon. Man findet im Laufe von Vallejos Pentalogie an verschiedenen Stellen Beleidigungen gegen Octavio Paz, aber auch gegen die Tradition des Romans (vor allem gegen Honoré de Balzac und Victor Hugo). Octavio Paz ist, seit Porfirio Barba Jacobs Biographie (die vor der Pentalogie erschienen ist)237, eines der beliebtesten Ziele der Beleidigungen Vallejos. Sie stehen im Zeichen einer Revolte gegen den offiziellen Dichter Mexikos im 20. Jahrhunderts als Vertreter des Kanons und einer Rache für Paz’ Missachtung des Werkes Barba Jacobs:

|| nym des FARC-Guerrilleros Pedro Antonio Marín Marín; „Capitán Veneno“ ist das Pseudonym des liberalen Kämpfers aus dem Flachland (Llanos Orientales) Kolumbiens, Plinio Murillo. 236 Dieses Verständnis der Literatur als Denunziation, das hier in Bezug auf Vallejo besprochen wird, wird zugleich von Winkler in seinem poetologischen Buch Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär anhand eines Zitats von Alexander Solschenizyn, das dem Autor „nie mehr aus dem Kopf gegangen ist“, angedeutet: „Eine Literatur, die nicht den Schmerz und die Unrast der Gesellschaft wiedergeben kann, die nicht rechtzeitig vor den moralischen und sozialen Gefahren warnen kann, verdient den Namen Literatur nicht“ (2011a, S. 33). 237 Die Beleidigungen gegen Paz in Barba Jacob el mensajero sind zahlreich. Als Beispiel kann folgende Stelle dienen: „Hay en este país un loco, un loco pretencioso, que ha dicho, escrito, que el único que desafinaba en la segunda edición de Laurel, antología de la poesía moderna en lengua española editada en México era Barba Jacob. Ese loco pretencioso es un poetilla soso de nombre insulso […]. […] Se llama Paz, dizque Octavio Paz. […] Y no te digo más, hombre Paz, léete todo el poema a ver si eres tú o él el que desafina“ ([1991] 2017, S. 90). / „Es gibt in diesem Land einen Wahnsinnigen, einen angeberischen Wahnsinnigen, der gesagt, geschrieben hat, dass das einzige Unstimmige der zweiten, in Mexiko herausgegebenen Ausgabe von Laurel, antología de la poesía moderna en la lengua española Barba Jacob war. […] Er heißt Paz, angeblich Octavio Paz. […] Und ich sage dir nichts mehr, Mensch Paz, lies das ganze Gedicht und schau, ob du oder er es ist, der hier nicht stimmt“ (meine Übersetzung).

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Anoche, continuando con la serie de verdades vividas o pesadillas que estoy teniendo, volví a soñar con el poeta Paz, Octavio Paz. Pe, a, zeta: ¡Paz! El bardo, el aeda, el portaliras, el nombre excelso. Mas pese al nombre el pobre Paz no tiene paz. Buscándola para los demás la ha perdido. (AI 110)238

Im Rahmen einer Serie von Albträumen („pesadillas“), aber auch als Enthüllung einer Wahrheit („verdades vividas“), träumt der Ich-Erzähler Vallejos von Paz. Dabei nutzt er eine Reihe von Archaismen, die der Verspottung des Poeten dienen. „Bardo“ ist z.B. doppeldeutig: Das nicht geläufige Wort steht für eine alte Bezeichnung eines heroischen Poeten, aber zugleich auch für Schlamm – mittels einer solch erhabenen Wortwahl wird die Beleidigung gleichzeitig stilisiert. Vallejo versucht in seiner Kritik, Paz in seiner Funktion als elitäre, offizielle Dichterfigur zu verschmutzen – Vallejo greift gerade die hierarchische Positionierung Paz als Bewertungsinstanz der Dichtung, als eine Art Priester des Literarischen an, und zelebriert dagegen jene Figuren (wie Barba Jacob), die sich als minoritäre Dichter verstanden: Somit ergreift er Partei und eröffnet einen Kampf zwischen zwei gegnerischen Parteien, die er in seinen Texten mittels der Beleidigung poetisch-produktiv nutzt. So wird die Übertreibung der Pose von Paz in der ironischen Lobpreisung und intellektualisierten Benennung ins Lächerliche getrieben. Dies wird noch deutlicher in Los caminos a Roma, wo Paz dreimal im Laufe der Erzählung erwähnt wird und dabei vom Ich-Erzähler immer eine andere Identität verliehen bekommt: „En cuanto a la televisión colombiana, es irremediablemente boba y sosa, como el escritor guatemalteco Octavio Paz“ (CR 101)239; „El lago es hondo y profundo, profundo y hondo como el poeta hondureño Octavio Paz“ (CR 106)240, „Bruja niña, aprende, convive, civilízate que lo primero es la paz como dijo Octavio Paz (pseudónimo de Fortino Guerra Durazo). Y tiene toda la razón el escritor salvadoreño, sin paz no hay nada, sin paz hay guerra“ (CR 113–114)241. Der Mangel an Ehrerbietung, der sich

|| 238 „Gestern Nacht träumte ich, als Fortsetzung der Serie erlebter Wahrheiten oder Albträume, die ich in letzter Zeit habe, wieder vom Dichter Paz, Octavio Paz. Pe, A, Zet: Paz! Der Barde, der Aöde, der Lyriker, der eminente Name. Trotz des Namens hat der arme Paz [=Frieden] keinen Frieden. Auf der Suche danach für die anderen, hat er ihn verloren“ (meine Übersetzung). 239 „Was das kolumbianische Fernsehen angeht, so ist es hoffnungslos dumm und doof wie der guatemaltekische Schriftsteller Octavio Paz“ (meine Übersetzung). 240 „Der See ist tief und profund, profund und tief wie der honduranische Dichter Octavio Paz“ (meine Übersetzung). 241 „Bruja, Mädchen, lerne, lebe in Gemeinschaft, zivilisiere dich, denn das Erste ist der Frieden [=Paz], wie Octavio Paz (Pseudonym von Fortino Guerra Durazo) sagte. Und er hat

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in diesen Beleidigungen ausdrückt, korreliert mit einem Versuch der Entsakralisierung, in diesem Fall des literarischen Kanons.242 Diese Entsakralisierung, vor allem in Bezug auf Paz, ist charakteristisch für die Literatur am Ende des 20. Jahrhunderts, wie jene Roberto Bolaños,243 und ist zugleich ein expliziter Ausdruck der Überwindung einer elitären Literatur ‚geweihter‘ Dichter, wie jener kleinen, von Octavio Paz geführten Gruppe rund um die Zeitschrift Vuelta. Im letzten Zitat wird diese Entsakralisierung evidenter, indem die eingeführte Tautologie („ohne Frieden [=Paz] gibt es Krieg“ / „sin paz hay guerra“) den offiziellen Dichter als angeblich stabilisierende Instanz ironisch verhöhnt. Der zuvor erwähnte Albtraum in Años de indulgencia wird bereits in Los caminos a Roma eingeführt: Tres veces van con la de anoche que sueño con el poeta Paz, especies de pesadillas. Las dos primeras las he olvidado; la última me levanto bañado de sudor a anotarla. ¿Para qué? se me dirá. A ver si en alguna encrucijada de esos sueños encuentro la clave de mí mismo. El pobre poeta Paz, ya viejo y traquetiado y lleno de agua, va por una carretera sombría, bajo un cielo de ceniza, hacia la próxima curva empujando una carretilla. –¿Adónde vas, Octavio? –le pregunto–. ¿Qué llevas en esa carreta? Hombre de mal talante y cansado de todo y todos no me responde. Y no sé para qué pregunto si ya lo sé: en la próxima curva empieza la muerte y acaba la fiesta. En cuanto a la carretilla, lleva versos: una carretada de versos. Al dejar este mundo tan contaminado quiere vaciarlos en el basurero de la eternidad. No es para tanto, hombre, a lo mejor sirven de abono. No. Que lo que no ha de conservar el recuerdo que se pierda. (CR 119)244

|| vollkommen Recht, der salvadorianische Schriftsteller, ohne Frieden gibt es nichts, ohne Frieden gibt es Krieg“ (meine Übersetzung). 242 Hier kann man an die von Sloterdijk erwähnte und im Zynismus implizierte Gefahr des Faschismus erinnern, da die Strategie Vallejos an die Diffamierungen des Namens im Nazideutschland erinnert. 243 Besonders wichtig ist die Figur Paz in Bolaños Roman Los detectives salvajes (1998), in der der mexikanische Dichter als Kontrastfolie einer jungen, sich als „Infrarrealisten“ bezeichnenden Generation dient. 244 „Mit dem von gestern ist es jetzt schon das dritte Mal passiert, dass ich vom Dichter Paz träumte, eine Art Albträume. Die ersten beiden habe ich vergessen; beim letzten Mal stehe ich schweißgebadet auf, um es aufzuschreiben. Wozu? wird man mir sagen. Um zu sehen, ob ich an irgendeinem Scheideweg dieser Träume den Schlüssel zu mir selbst finde. Der arme Dichter Paz, jetzt alt und klapprig und voller Wasser, läuft eine düstere Straße entlang, unter einem Himmel aus Asche, zur nächsten Kurve und schiebt eine Karre: – Wohin gehst du, Octavio? – frage ich ihn – Was hast du in der Schubkarre? Übellaunig und müde von allem und allen, wie der Mann ist, antwortet er mir nicht. Und ich weiß nicht, warum ich frage, wenn ich es schon weiß: In der nächsten Kurve fängt der Tod an und die Party endet. Was die Karre angeht, sind

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Der Albtraum zeugt von Vallejos Obsession mit Paz: Das beleidigte Subjekt wird zum Spiegel des Beleidigers, der an verschiedenen Stellen seiner Schriften selbst von seinem langsamen Sterben und von der Nutzlosigkeit seines Schreibens spricht. Die Beleidigung von Paz als altem Mann, als Dichter unwichtiger Verse wird in extenso fortgeführt, als Zeichen einer Aufmerksamkeit, einer Faszination. Paz dient aber auch als Aufhänger für die Betonung der Nutzlosigkeit der Literatur und der Dichtung aus der Perspektive eines desillusionierten Subjektes. Die Entsakralisierung des Literarischen wird auch in der Beleidigung von Balzac oder Victor Hugo – weitere kanonische Autoren – evident und impliziert dabei eine Kritik am religiösen Denken: Sie richtet sich gegen eine in dritter Person verfasste Literatur vor allem in der Gattung des realistischen Romans, die eine Außenperspektive und damit eine Perspektive der Transzendenz beinhaltet: No pertenezco yo al gremio de los sabelotodo soberbios que entran y salen por las mentes ajenas como Pedro por su casa, como cura por su iglesia, husmeando hasta los rincones más oscuros, olisqueando, olfateando y para acabar nos escupen un monólogo interior. ¿Cómo puede un señor de dos manos y dos pies, o cuatro patas, saber lo que piensan cinco o diez o veinte personas, así las llame personajes […]? A ver, dígame usted… ¿O es que acaso se siente el desdichado Dios Padre Nuestro Señor? Se siente sí porque el lector, desprevenido y crédulo, se deja llevar como burro vendado jalado de la testuz. […] ¡Al diablo con el gobierno y con la novela! (FS 169)245

In der Kritik des allwissenden Erzählers im Roman steckt bereits ein religionskritischer, zynischer Hinweis auf die Beschränkung des Subjektes.246 Das ganze

|| Verse darin: eine Karre voller Verse. Beim Verlassen dieser so verschmutzten Welt möchte er sie auf der Müllhalde der Ewigkeit entsorgen. Das ist keine große Sache, Alter, vielleicht dienen sie als Dung. Nein. Das, was die Erinnerung nicht aufbewahren soll, soll verloren gehen“ (meine Übersetzung). 245 „Ich gehöre nicht zur Zunft der hochmütigen Alleswisser, die in fremden Köpfen ein- und ausgehen, wie ein Priester in seiner Kirche, die in den dunkelsten Ecken herumschnüffeln, schnuppern, wittern und schließlich einen inneren Monolog ausspucken. Wie kann ein Herr mit zwei Händen und zwei Füßen oder vier Pfoten wissen, was fünf oder zehn oder zwanzig Menschen denken, auch wenn er sie Figuren nennt? […] Also, sagen Sie doch mal… Oder ist es vielleicht so, dass der Unglückliche sich wie Gott Vater Unser Herr fühlt? Er fühlt sich so, ja, weil sich der Leser, ahnungslos und leichtgläubig, mitreißen lässt, wie ein Esel mit verbundenen Augen am Kopf gezogen wird. […] Zum Teufel mit der Regierung und dem Roman!“ (Meine Übersetzung).

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Werk Vallejos wird in der Ich-Perspektive geschrieben und dabei die Gründe dafür, wie hier, dargelegt: Es gibt keine Gewissheit für den Ich-Erzähler, dass eine göttliche, transzendente Außenperspektive möglich ist, deshalb sei der literarische Rekurs auf einen allwissenden Erzähler als religionsähnlicher Betrug zu verstehen (aus dem Grund wird hier am Ende auch die Politik Kolumbiens verflucht). Hier sind die Invektiven an alle gegnerischen Instanzen gerichtet (Literatur, Staat und Religion), deren gemeinsame Nenner die Moral und die Berufung auf eine übergeordnete, allwissende Instanz sind. Dabei beleidigt Vallejo aber in seinen Schriften nicht nur die Autoren als kulturelle Machtinstanzen, es finden sich auch metaliterarische Thematisierungen einer imaginierten Leserschaft, die (ähnlich wie in Handkes „Publikumsbeschimpfung“) mit beleidigenden Attributen versehen wird: [E]l lector es voluble, caprichoso, olvidadizo, y hay que estarle recordando constantemente las cosas. No registra, y lo poco que registra lo olvida al instante. Más de tres o cuatro personajes se le enredan y apuesto a que no sabe latín. El lector es simplista, incompetente, morboso: quiere que le cuenten cómo entra detalladamente el pene en la vagina. Y traicionero además, cambia de autor. No me merece el menor respeto. (EF 219)247

Die Beleidigung des Lesers knüpft an jene der Romanautoren an, die oben dargestellt wurde: Der Leser wird beleidigt, in dem er als neugierig auf pornographische, intime Details („que le cuenten cómo entra detalladamente el pene en

|| 246 Ganz am Ende eines Artikels, den Vallejo in der Zeitschrift Soho in Form eines offenen Briefes an Gabriel García Márquez veröffentlichte, wird die religionskritische, aber auch Politik-kritische Absicht seiner Verurteilung der Gattung des Romans mit einem allwissenden Erzähler explizit: „Ya no te cuento más, no tiene caso, vos sos novelista omnisciente y de la Seguridad del Estado y todo lo sabés y lo ves, como veía la Santa Inquisición a los amantes copulando per angostam viam en la cama: los veía la susodicha en el lecho desde el techo por un huequito“ (Vallejo, [2013] 2015, S. 41) / „Ich erzähle dir nichts mehr, es ist sinnlos, du bist ein allwissender Romancier und von der Staatssicherheit und du weißt alles und siehst alles, wie die Heilige Inquisition den Liebenden beim Kopulieren per angostam viam im Bett zusah: und die zuvor Genannte sah sie im Bett durch ein kleines Loch in der Decke“ (meine Übersetzung). Daran sieht man, dass die Beleidigung der Romantradition im Rahmen einer Macht- und Religionskritik zu lesen ist. 247 „[D]er Leser ist unbeständig, launenhaft, vergesslich, und er muss ständig an die Dinge erinnert werden. Er registriert nicht und das Wenige, was er registriert, vergisst er augenblicklich. Mehr als drei oder vier Figuren bringt er durcheinander, und ich wette, er kann kein Latein. Der Leser ist einfach gestrickt, inkompetent, sensationsgeil: Er möchte, dass ihm detailreich erzählt wird, wie der Penis in die Vagina eindringt. Und noch dazu ein Betrüger, er wechselt den Autor. Er verdient von mir gar keinen Respekt“ (meine Übersetzung).

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la vagina“), als vergesslich, inkompetent und ungebildet beschrieben wird und ihm unterstellt wird, dass seine kognitive Leistung auf die Lektüre von realistischen, in dritter Person verfassten Romanen beschränkt bleibt. Dabei legitimiert der Ich-Erzähler selbst seinen Rekurs auf Wiederholungen, auf die Invektive als Betonungsstrategie des Gesagten gegen das Vergessen. Es ist gerade wegen der Wertschätzung der Leserinstanz, dass er sich an den Leser wendet, um seine Rolle zu bekräftigen, ihn in seiner Passivität zu stören. Dies hängt mit der bereits in der Sekundärliteratur mehrfach betonten Schwierigkeit der Lektüre von Vallejos Werk („un évident problème de réception“ [2012, S. 47], wie Thomas Barège es nennt) zusammen: Die Zumutung, die durch die Beleidigung des Lesers verschärft wird, stellt ein Problem der Lektüre dar, das ich mit der ethisch-spinozistischen Praxis einer Lektüre jenseits der Moral aufzuheben versuche. Vallejo führt über die Grenzen des Korrekten, der Moral hinaus und reizt somit zum Denken an. Der Hass auf den Leser mündet in eine Art Mordphantasie, wobei der Leser zum Repräsentanten der verhassten Religionskultur gemacht wird: Día a día, de arenita en arenita como se suman las playas del mar inmenso, se me ha ido envenenando con el tiempo el corazón, y hoy quiero matar. Con este cuchillo que traigo en la bolsa, que afilo con amor para mañana. Con él amanezco, con él anochezco y no me desampara ni de noche ni de día. Con él. Hoy. Aquí. Ahora. A un salesiano. A usted. (EF 136)248

Die zuvor angesprochene Verschiebung der Gewalt von der physischen auf die sprachliche Ebene wird hier evident. Was der Mensch sich nicht physisch erlaubt, wird im Schreiben ermöglicht und somit wird die Unterscheidung zwischen Sprache und Tat bekräftigt. Zur Verhandlung der Affekte in der Sprache, so Álvarez, übt sich Vallejo als Dichter der Invektive und Sprachgewalt, und schließt den Leser durch die gewalttätige Adressierung ein und aus. Im Gewand eines Kindergebets („ni de noche ni de día“) an den Schutzengel („Ángel de la Guarda“) ist diese Gewaltphantasie zugleich eine Blasphemie, indem Zorn und Hass hier als Schutzengel in einem von Gewalt gebeutelten Land zynisch angebetet werden.

|| 248 „Tag für Tag, Sandkorn für Sandkorn, wie sich die Strände des weiten Meeres anhäufen, hat sich mein Herz mit der Zeit vergiftet, und heute möchte ich töten. Mit diesem Messer, das ich in der Tasche trage, das ich mit Liebe für morgen schärfe. Mit ihm wache ich auf, mit ihm gehe ich schlafen, und es lässt mich weder tags noch nachts im Stich. Mit ihm. Heute. Hier. Jetzt. Einen Salesianer. Dich“ (meine Übersetzung).

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Die Beleidigungen des Katholizismus entsprechen Vallejos Vorliebe für das Blasphemieren, wie der Autor selbst in seinem letzten öffentlichen Interview mit Mario Jursich auf der Buchmesse in Bogotá im Jahr 2019 explizit erklärt hat.249 In Los días azules bezieht sich der Ich-Erzähler auf sich selbst als „el místico blasfemador“ („den mystischen Blasphemierer“ DA 101). Das Blasphemische wird in übertriebener Form inszeniert, wie hier in der Bezeichnung Gottes als Monster: Por donde mire veo la obra chambona del Creador: sus criaturas comiéndose unas a otras. A eso se reduce la Divina Providencia. Al lado del Monstruo, Satanás es un Santo. Y estas ansias irredentas de irme al cielo para no encontrarme con Pío Doce en los infiernos… No sé por qué, pero le tengo pavor a ese señor. (EF 218)250

Diese Art theologischer Beleidigungen des Katholizismus, bei denen Gott vor allem wegen seiner Schöpfung entweder als Monster beschimpft oder als atheistische Erfindung geleugnet wird, findet man in zahlreicher Form: „Dios es una entelequia tremebunda y la Ley una puta […]“ (EF 51)251; „Dios no existe, y para eso lo llamé, lo convoqué, para que oiga de mi propia boca mi gran verdad de todos los tiempos: ontológicamente, metafísicamente, moralmente es imposible un ser tan malo. No puede existir. No puede haber un Ser de tanta perversidad en el Universo. […] Dios no es amor: Dios es odio. […] Dios es una furia meteorológica, el trueno ciego con el relámpago en la mano“ (EF 55)252; „[…] Dios lo mató. No existe el libre albedrío. Dios guió su mano, Dios jaló el gatillo. Somos unos payasitos de cuerda, peleles al arbitrio de Dios el Monstruo“ (EF 144)253; „[L]a hijueputa eternidad de Dios. Que no existe. Qué [sic!] jamás ha existido ni

|| 249 Siehe Video in Jursich & Vallejo, 2019. 250 „Wohin ich auch schaue, überall sehe ich das schlampige Werk des Schöpfers: seine Geschöpfe, die sich gegenseitig fressen. Darauf beschränkt sich die Göttliche Vorsehung. Neben dem Monster ist Satan ein Heiliger. Und dieser extreme Eifer, in den Himmel zu kommen, um Pius XII nicht in der Hölle zu treffen… Ich weiß nicht warum, aber dieser Herr erfüllt mich mit Schrecken“ (meine Übersetzung). 251 „Gott ist eine fürchterliche Entelechie und das Gesetz eine Hure“ (meine Übersetzung). 252 „Gott existiert nicht, und daher rief ich ihn, beschwor ihn, damit er aus meinem eigenen Mund meine große Wahrheit aller Zeiten höre: Ontologisch, metaphysisch, moralisch ist ein so böses Wesen unmöglich. Es kann nicht existieren. Es kann kein Wesen von solcher Perversität im Universum geben. […] Gott ist nicht Liebe: Gott ist Hass. […] Gott ist ein meteorologischer Zorn, der blinde Donner mit dem Blitz in der Hand“ (meine Übersetzung). 253 „[…] Gott brachte ihn um. Es gibt keinen freien Willen. Gott führte seine Hand, Gott drückte die Waffe ab. Wir sind Clownsfigürchen auf einem Seil, Marionetten der Willkür Gottes, des Monsters“ (meine Übersetzung).

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tampoco la montaña de diamante, si bien ésta en principio sí pudiera existir porque no hay en contra nada para ello. Pero Él no: no por imposibilidad moral, ética, lógica, ontológica, metafísica, póngale el chorizo que quiera de adjetivos“ (EF 77)254. Dabei wird die moralische Unterscheidung zwischen dem Bösen und dem Guten verwischt. Diese Verwischung bleibt aber ambivalent, da das Böse trotzdem bejaht wird. In der direkten Rede über eine ‚nicht-existierende‘ Gestalt Gottes gewinnt diese Figur gleichzeitig an Gestalt und Präsenz („lo convoqué“). Vallejo wendet sich vor allem gegen die Vorstellung Gottes als eines Guten, indem er durchgehend auf das Böse dieser Welt verweist und so an die alte Theodizee-Frage erinnert: Wie könnte Gotte die Welt schöpfen, wenn diese so böse bzw. mangelhaft ist? Dabei zeigt sich aber die atheistische Blasphemie als ambivalent: Er bejaht die monströse Imperfektion der Welt, an der der IchErzähler und der von ihm vorgestellte Gott auch teilhaben. Der Vergleich als rhetorische Figur fungiert an verschiedenen Stellen als abschweifende Überleitung zur Blasphemie bzw. Beleidigung des Sakralen – dabei werden des Blasphemierens wegen Anekdoten in die Erzählung eingefügt: Mi tío de sangre Argemiro padecía de ejaculatio praecox. Precocísima pero eficacísima: veía a su mujer en camisón y la preñaba. Obraba pues a distancia como el Espíritu Santo. Veintinosecuantos hijos tuvieron por ese método, en camadas de dos y tres y cuatro y cinco y seis y con la bendición del Papa, que les mandó un diplomita. ¡Claro, como esta abeja reina no alimenta a nadie sino que a ella la alimentan! (EF 194)255

Das Blasphemische an der Verspottung einer ‚Methode‘ des Erzengels Gabriel – die vorzeitige Ejakulation – verbindet sich mit der grundlegenden Kritik an einer vermeintlichen Ideologie der massenhaften Fortpflanzung im Katholizismus. Dies alles geschieht in einer hochstilisierten, rhetorischen Sprache, die aber paradoxerweise die Wahrheit und nicht die sophistische, der Rhetorik zugerech-

|| 254 „[D]ie Hurensohnewigkeit Gottes. Die nicht existiert. Die wie der Diamantenberg niemals existiert hat, obwohl dieser grundsätzlich existieren könnte, da nichts dagegenspricht. Aber Er nicht: wegen einer moralischen, ethischen, ontologischen, metaphysischen Unmöglichkeit und fügen Sie der Wurst die Adjektive, die Sie wollen, hinzu“ (meine Übersetzung). 255 „Mein Blutsonkel Argermiro litt an Ejaculatio Praecox. Höchst vorzeitig, aber höchst erfolgreich: Er sah seine Frau in Unterwäsche und befruchtete sie. Er wirkte also aus der Distanz wie der Heilige Geist. Zwanzig-was-weiß-ich-wie-viele Kinder hatten sie mit dieser Methode, in Würfen von zwei und drei und vier und fünf und sechs und mit der Segnung des Papstes, der ihnen ein kleines Diplom schickte. Natürlich, da diese Bienenkönigin niemanden ernährt, sondern gefüttert wird!“ (Meine Übersetzung).

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nete Illusion zu retten versucht: Bei dieser Aneignung der illusorischen Rhetorik des Religiösen wird diese übertrieben und somit unterlaufen.256 Die humorvolle Blasphemie offenbart die sexistische, biopolitische Struktur einer Religionskultur, die nicht nur jegliches sexuelles Begehren der Frau leugnet, sondern auch ihre Nutzung als ‚Fortpflanzungsmaschine‘ rechtfertigt: Der Papst als „Königin der Bienen“ schickt dem Onkel ein Diplom für seinen Zeugungseifer. Hier wird klar, dass die Kritik Vallejos nicht nur theologische, sondern religionskulturelle, institutionelle und politische Aspekte betrifft. Vallejos Invektiven wenden sich explizit gegen das Klerikale. Dies wird unten im dritten Kapitel in Bezug auf die Figur des Transvestiten noch ausführlicher behandelt. Der größte Feind des Ich-Erzählers in Vallejos gesamten Werk ist sicherlich der Papst und insbesondere Johannes Paulus II oder Wojtyla, wie er wiederholt mit seinem Geburtsnamen genannt wird.257 Der Ich-Erzähler bezieht sich in der Pentalogie auf den Papst mit der klaren Absicht der Verspottung und Entsakralisierung: El Papa es el Vicario de Cristo aquí en la tierra travestido, y el Vicario de Satanás en el Valle del Cabrón en pelota. Espía doble, hoy oficia en el Vaticano, mañana en Zugarramurdi. ¿No lo he visto yo en Zugarramurdi, en pleno país vasco, por el mar Cantábrico, una noche de aquelarre con unas brujas de Garmendia amigas mías, postrarse ante el buco de retro, y darle „equidac ipordian pot“, que traduzco del vascuense como un beso en el trasero? Te he visto, no te hagas el hermético: desnudo con tus carnes flácidas moteadas de manchitas moradas, luctuosas, el sarcoma de Kaposi. Y escurriéndosete por entre los dientes de tu sonrisa hipócrita, de falsía verdiamarilla, las espiroquetas de la lúes de la perfidia que te corroe el alma. Te he visto, y Teresita de Jesús es testigo. Y en tu ojo izquierdo, encima del negro ojo, la señal de la mano del sapo. Ojo a tus treponemas y a lo que haces, lacayo, no vayas a contagiar per angostam viam a tu Señor. ”Ubi per diabolum se cognosci carnaliter per indebitum sexum, posteriori, per anum, pecatum sodomiticum commisit, et hoc est verum“. Claro que es verdad. Amés de tactos y ósculos libidinosos, salesianos. […] [A] bendecir a Nuestro Señor Satanás, señor del horco, y a renegar de Dios el Monstruo que nos ha encartado con la existencia. Fornicaciones, sodomías, adulterios, réplica y contrarréplica. Y mastico y escupo la oblea ridícula de pan ázimo. Y predico el Evangelio y practico el estupro. Al Padre Eterno le cortaremos las barbas; al Hijo (hijo del doctor Masoch) lo bajaremos de la cruz y a lo Vlad el empalizador lo empalizaremos en una estaca per anum;

|| 256 So liest Thomas Barège die Kritik Vallejos, die mittels der ikonoklastischen Rhetorik artikuliert wird (Vgl. 2012, S. 60–61). 257 Dies kommt erst später in El desbarrancadero expliziter zum Ausdruck. Dort findet man mehrfach Aussagen wie diese: „Detesto la samba. La samba es lo más feo que parió la tierra después de Wojtyla, el cura Papa, esta alimaña, gusano blanco viscoso, tortuoso, engañoso“ (2001, S. 52) / „Ich verabscheue Samba. Samba ist das Hässlichste, was die Erde nach Wojtyla, dem Priester-Papst, jenem Ungeziefer, jenem weißen, klebrigen, krummen, betrügerischen Wurm geschaffen hat“ (meine Übersetzung).

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y con el Espíritu Santo haremos caldo de paloma, “mismo“, como dicen aquí, que condimentaremos con: ajo, cebolla y perejil, más una que otra yerbita del herbolarium diabolicum. (EF 92–95)258

Die abschweifende, übertriebene Blasphemie dieser Passage, die sich wie in Años de indulgencia explizit auf die heterodoxe Tradition der Hexerei bezieht, drückt die Hassobsession dem Katholizismus gegenüber aus, die in ihrer Ausführlichkeit und im Hyperbolischen zur Feier, ja zur Liebesobsession wird. Die Beleidigung wird mit einem intellektuellen Gestus stilisiert: Vallejo rekurriert auf die Sprache der Theologie selbst, um sich somit direkt am Diskurs des Katholizismus zu beteiligen. All das, was den queeren Subjekten von Seiten der Kirche und der katholischen Gemeinschaft im Allgemeinen vorgeworfen wird, wird in diesem Sinne auf den Katholizismus projiziert: der Transvestismus, der Analverkehr und HIV/AIDS. Der Miteinbezug des Feindes in die Feier der Hexerei überwindet die Distanz zwischen beiden Seiten (Beleidigender und Beleidigter) in einer ekstatischen, weltlichen Feier, die sich auf der Ebene der Sprache in der übertriebenen Beleidigung manifestiert. Es geht in dieser Entsakralisierung und Verweltlichung um einen zynischen Hinweis auf das Körperliche, das Sexuelle,

|| 258 „Der Papst ist der Vikar Christi hier auf Erden, transvestiert, und der Vikar Satans nackt im Tal des Ziegenbocks. Als Doppelspion arbeitet er heute im Büro im Vatikan, morgen in Zugarramurdi. Habe ich ihn nicht schon einmal in Zugarramurdi gesehen, mitten im Baskenland, am kantabrischen Meer, in einer Nacht des Hexensabbats mit den Hexen aus Garmendia, meinen Freundinnen, als er sich vor das Loch warf und ein ‚equidac ipordian pot‘ gab, was ich aus dem Baskischen als Kuss auf den Hintern übersetze? Ich habe dich gesehen, mach dich nicht zum Hermetiker: nackt mit deinem schlaffen Fleisch gesprenkelt mit traurigen violetten Fleckchen, dem Kaposi-Sarkom. Und durch die Zähne deines heuchlerischen Lächelns, der gelbgrünen Falschheit, entglitten die Spirochaeten der Lues der Niedertracht, die deine Seele zerfrisst. Ich habe dich gesehen und Teresita de Jesús ist eine Zeugin. Und im linken Auge, über dem schwarzen Auge, das Zeichen der Froschhand. Pass auf deine Treponemen auf und darauf, was du tust, Lakai, damit du nicht deinen Herren per angostam viam ansteckst. ‚Ubi per diabolum se cognosci carnaliter per indebitum sexum, posteriori, per anum, pecatum sodomiticum commisit, et hoc est verum‘. Klar ist das wahr. Neben den lüsternen, salesanischen Berührungen und Küssen. […] [G]elobt sei Satan, Unser Herr, Herr des Knoblauchs, und geleugnet sei Gott das Monster, der uns die Existenz aufgehalst hat. Geschlechtsverkehr, Sodomie, Ehebrüche, Widerrede und Gegen-Widerrede. Und ich kaue und spucke die lächerliche Oblate aus gesäuertem Brot aus. Und ich predige das Evangelium und praktiziere die Vergewaltigung. Dem Ewigen Vater werden wir seinen Bart abschneiden; den Sohn (Sohn des Doktors Masoch) werden wir vom Kreuz nehmen und ihn, nach Vlad dem Pfähler, per anum auf einen Pfahl setzen; und mit dem Heiligen Geist werden wir Taubensuppe zubereiten, ‚mismo‘, wie sie hier genannt wird, die wir mit Knoblauch, Zwiebel und Petersilie würzen werden, und noch dazu einige Kräuterchen aus dem Herbolarium Diabolicum“ (meine Übersetzung).

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und somit wird gegen die katholische Prüderie angekämpft: An anderer Stelle in Los caminos a Roma findet man die Aussage, dass die Blasphemie in diesem Sinne ‚humanisiert‘ und mithilfe der Verweltlichung bzw. Entsakralisierung des Transzendenten zurück zum Menschen führt.259 In diesem Sinne geht es zugleich um die kynisch-zynische Strategie des Humors: „Die religiöse Frechheit, die Blasphemie, schließlich läßt den frommen Ernst auffliegen, wenn die physiologisch unwiderstehliche Energie des Gelächters ihn attackiert“ (Sloterdijk 1983, S. 202). Die Strategie beruht auch auf der Aneignung intellektueller, theologischer Sprache – hier explizit auf Lateinisch eingefügt –, die für die Invektive und den Ausdruck des Profanen und des Körperlichen als entsakralisierendes, humorvolles rhetorisches Mittel genutzt wird. Da es sich dabei um eine Machtkritik handelt, überlappt sich die Blasphemie mit der Strategie der politischen Beleidigung und Verspottung: Pues he aquí que no bien ha empezado a hablar el primer mandatario [de México, Ernesto Zedillo Ponce de León], habiendo leído apenas el mero encabezamiento del discurso que habíanle preparado […], hácelo a un lado, y en un gesto de esos que caracterízanle, conmovedor por lo espontáneo, explota en fuegos artificiales, en una verdadera fiesta de crepitus ventris per anum, en una salva, producto de la combustión interna de los alimentos ingeridos y los desarreglos de su conciencia. ¡Pum! ¡Pam! ¡Pas! ¡Pan! ¡Pan! ¡Pan! ¡Plas! Fue la única vez que dijo la verdad y así lo registra la Historia alborozada. (EF 80–81)260

Die beschriebene Szene der Blähungen des mexikanischen Präsidenten während seiner Rede zu Octavio Paz’ Beerdigung ist nicht nur eine humorvolle Pa-

|| 259 „–No haga caso de los cuentos de la Santa– me dijo cuando se quedó en la paz de Dios–. Aquí no hay Santa. Nunca ha habido. Ésta es la ciudad más pecadora de España. / –Y la más fría –agregué yo. / –Sí. / Ese sí, el primero que oía en ese país blasfemo de contradictores, me hizo volver a sentir humano y me dormí“ (CR 75–76). 7 „– Beachten Sie die Erzählungen der Heilige nicht – sagte er mir, als er in Gottes Frieden war – Hier gibt es keine Heilige. Es gab sie noch nie. Dies ist die sündhafteste Stadt Spaniens. / – Und die Kälteste – fügte ich hinzu. / – Ja. / Dieser, ja, der Erste, den ich in diesem blasphemischen Land von Widersprechern hörte, gab mir das Gefühl, wieder menschlich zu sein, und ich schlief ein“ (meine Übersetzung). 260 „Nun passierte es, dass der regierende Präsident [Mexikos, Ernesto Zedillo Ponce de León], kurz nachdem er zu sprechen begann und bloß die Kopfzeile der Rede, die ihm vorbereitet worden war, vorgelesen hatte […], sie zur Seite legte, und, mit einer ihm charakteristischen Geste, rührend weil spontan, in einem Feuerwerk explodierte, in einem wahren Fest des crepitus ventris per anum, in einem Salvenfeuer, dem Produkt der inneren Verbrennung der verzehrten Nahrungsmittel und der Unordnung seines Gewissens. Pum! Pam! Pas! Pan! Pan! Pan! Plas! Es war das einzige Mal, dass er die Wahrheit sagte, und so wird es in die freudvolle Geschichte eingehen“ (meine Übersetzung).

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rodie des Präsidenten, sondern ein Beispiel der Verwendung des Lateins, um die Beleidigung zu intellektualisieren. Diesen Rekurs auf eine intellektuelle Sprache kann man, Juan Álvarez zufolge, als eine bewusste Einschreibung Vallejos in eine höhere Sphäre der Macht deuten, in der die Kirche und der Staat – im Rechtswesen – diese Sprache benutzen. Damit vollzieht sich zudem eine drastische humorvolle Verbindung der elitären Sprache mit einem populären Duktus des Beleidigens. Somit wird die elitäre Sprache entsakralisiert und mit dem Bezug auf physiologische Prozesse verschmutzt. Die intellektuelle Sprache wird gleichzeitig ambivalent bekräftigt und „barbarisiert“. Lionel Souquet versteht diese Strategie der Barbarisierung – im Sinne einer Animalisierung oder Vulgarisierung – der Sprache Vallejos sogar im etymologischen Sinne: [P]ortavoz de los bárbaros, en el sentido etimológico de la palabra: para los griegos de la antigüedad el bárbaro es “el que balbucea”, el que no habla griego y cuya lengua suena como un balbuceo incomprensible u onomatopeya (bar-bar- similar a bla-bla-). Al quitarles la palabra, los “dominantes” […] los rebajan al nivel del animal o de los objetos. […] Los sicarios son ignorantes pero conocedores o, por lo menos, reveladores de lo escencial: ¡el valor de la vida! Vallejo sugiere que ahora escuchemos a los “salvajes”, a los “bárbaros”, para integrarlos en vez de domesticarlos. (2012, S. 79)261

Insofern schließt sich der Kreis zwischen Beleidigungs- und Zoopoetik: Die Nutzung der elitären Sprache des Lateins, um Physiologisches oder Körperliches zum Ausdruck zu bringen, verweist auf zynische Weise auf eine lebendige, körperliche Sprache, die dem Volk und am Körper nahesteht. Der Zynismus ist, so Sloterdijk, immer eine Kritik der Machtstrukturen, und aus dem Grund ist die Entsakralisierung, die sich in den Beleidigungen gegen Paz, Gott oder das Klerikale richtet, Teil eines Angriffes auf die oberen Machtinstanzen.262 Das Zynische

|| 261 „[A]ls Sprecher der Barbaren, im etymologischen Sinn des Wortes: für die Griechen der Antike, ist der Barbare ‚der, der stammelt‘, der kein Griechisch spricht und dessen Sprache wie ein unverständliches Gestammel oder eine Onomatopöie (bar-bar- ähnlich wie bla-bla-) klingt. Indem ihnen das Wort genommen wird, setzen die ‚Dominanten‘ […] sie auf die Ebene des Tiers oder der Objekte herab. […] Die Auftragsmörder sind Ignoranten, aber Kenner oder zumindest Enthüller des Wesentlichen: des Wertes des Lebens! Vallejo schlägt vor, dass wir jetzt den ‚Wilden‘, den ‚Barbaren‘ zuhören, um sie zu integrieren, statt sie zu domestizieren“ (meine Übersetzung). 262 Die vertikale Struktur der Machtinstanzen findet sich somit bekräftigt, aber auch in Frage gestellt, dies ist die paradoxe Struktur der Machtkritik der Beleidigung, die Conley anspricht: „[T]here is a vertical dimension to insults. Often overlooked, however, is the fact that that dimension works both downward and upward. Some insulting behavior seems designed to maintain established hierarchies […]. Insults can be a vehicle for upward social mobility […].

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drückt sich in der ironischen Zurschaustellung einer Struktur aus, die zum Lächerlichen, zum Komischen tendiert.263 Dabei spielt der Humor eine wesentliche Rolle, wie man an den zuvor präsentierten Beispielen sehen konnte: Die Beleidigung und die Blasphemie bei Vallejo manifestieren sich in der Form humorvoller, entsakralisierender, zynischer Verspottung, die zur Annäherung an den oder die Leser*in dient.264 Somit weist die humorvolle Beleidigung eine paradoxe Struktur auf: Einerseits destruiert sie das beleidigte Objekt und stellt anderseits eine Verbindung zum Publikum her, an das sich die ausgesprochene Wahrheit richtet: This paradox may be resolved if we bear in mind who the audiences are for this sort of tactical use of insults. […] All of this tells us that insults […] have two audiences: the insultee and the community of witnesses […] who identify with the insulter. And that, in turn, reveals another paradox: that, like jokes and irony, insults […] are both divisive and aggregative. This suggests that the dynamics of a harmonious society may be shaped not by politeness but by the rejection of it […]. Insults can be seen, in short, as an engine of community cohesion, and thus as a crucial component of human relations. (T. Conley, 2016, S. 71)

Dies wäre die politische Seite der Beleidigung, die Ansprache eines Rezipienten oder einer Rezipientin und damit die Evokation einer zukünftigen Reaktion (Butler). Der obsessive Zorn auf Kolumbien in der Pentalogie lässt sich in derselben Linie verstehen: Es ist von Bedeutung, dass dieser Hass auf Kolumbien in einer ambivalenten Art und Weise in Verbindung mit einem nostalgischen Ton artikuliert wird, der kontextuell in den ‚Jahrzehnten des Terrors‘ als Ausdruck

|| […] There is a sense in which the insults meant to maintain hierarchy may be instances also of insults interrogating hierarchy“ (2016, S. 69). Judith Butler spricht auch über die Ambivalenz der hate speech, die durch die Aneignung der Sprache der Macht selbst Widerstand gegen diese leistet (1997, S. 40). 263 Brigitte Adriansen unterscheidet zwischen zwei Strategien des Zynischen in Vallejos Werk: das direkte, angreifende Kynische und das ironische, indirekte Zynische. Beide Instanzen kommen aber ambivalent vor und führen zu einer Selbstironie: „[i]mplícitamente los insultos van dirigidos hacia sí mismo“ (2011, S. 55) / „implizit wenden sich die Beleidigungen gegen sich selbst“ (meine Übersetzung). Die kynische Invektive tendiert jedoch zur Karikatur ihres Zornes (ebd. 54). 264 „La carcajada es compartida. La expresión jovial evidencia que sus imprecaciones son un divertimento, una manera de distensionar el ambiente, de entrar un poco en confianza con su audiencia“ (Hernández & Castro, 2010, S. 26). / „Das Gelächter wird geteilt. Der heitere Ausdruck beweist, dass seine Beleidigungen ein Vergnügen sind, eine Art, die Atmosphäre zu entspannen, ein wenig Vertrauen zu seinem Publikum aufzubauen“ (meine Übersetzung).

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einer zeittypischen Desillusionierung gelesen werden soll.265 In den Beleidigungen von Kolumbien wird das Land personifiziert – als ein Subjekt, das beleidigt, bemitleidet und gleichzeitig geliebt wird: Retomamos el camino y seguimos viendo vallas. Con estos hijos de puta, sus hijos, me recibía Colombia. Colombia la irredenta que cambiaba y no cambiaba, que se transformaba pero que seguía igual. Los países somos como los cristianos, aferrados a nosotros mismos no cambiamos, y nos arrastra hacia el hueco, de culos, el ancestro. Pobre Colombia, mi Colombia. Y aquí sigo en este carromato bajando de curva en curva a Medellín, cargando con mi pasado siempre presente. ¿Cuánto lleva la humanidad creyendo que se puede regresar? ¿Desde Ulises? Es un viejo y necio error, no se puede regresar. (EF 248)266

Die „Hurensöhne“ sind die Politiker, die mit den Reklametafeln den IchErzähler in Kolumbien willkommen heißen. Das personifizierte Land wird in Bezug auf die Sphären der Macht, wenn es um den Hass geht, und auf das verletzte Land („Pobre Colombia, mi Colombia“), wenn es um die Liebe geht, anders adressiert. Diese Unterscheidung wird im gesamten Werk Vallejos gemacht, zwischen einem ersehnten, vermissten und einem verhassten Kolumbien, die beide zusammen die Obsession des Ich-Erzählers mit dem Land ausmachen: Es ist gerade die Hass-Liebe, die zur ausführlichen poetischen Auseinandersetzung mit dem verhassten und geliebten Objekt anhand der Beleidigung und der Klage führt: Colombia, Colombina, Colombita, pobrecita, asolada por los curas, los conservadores, los liberales, la roya del café y la roña de la burocracia más los capos, los secuestradores, los

|| 265 In dem späteren Roman Mi hermano el alcalde drückt Vallejo diese ambivalente Liebe zu Kolumbien expliziter als in der autobiographischen Pentalogie aus. In diesem späteren Werk geht es um eine Zelebration der Natur Kolumbiens mitten in einer Denunziation der korrupten politischen Landschaft des Landes. Ganz am Ende des Buches wird diese Ambivalenz in drei kurzen Sätzen evident: „Si hay cielo en el mundo, el cielo está aquí. Como ésta no hay otra. ¡Se la vendo!“ (Vallejo, 2018, S. 151). / „Wenn es einen Himmel auf dieser Welt gibt, dann ist der Himmel hier. Wie dieses [Haus] gibt es kein anderes. Ich verkaufe es Ihnen!“ (Meine Übersetzung). 266 „Wir sind zurück auf der Straße und sehen immer weiter Reklametafeln. Mit diesen Hurensöhnen, ihren Söhnen, empfing mich Kolumbien. Kolumbien, das Unerlöste, das sich veränderte und nicht veränderte, das sich wandelte, aber gleich blieb. Wir Länder sind wie die Christen, wir klammern uns an uns selbst und ändern uns nicht, und vom Vorfahren werden wir zum Loch, zum Arschloch gezerrt. Armes Kolumbien, mein Kolumbien. Und hier bin ich also in dieser Karre und fahre von Kurve zu Kurve Richtung Medellín hinunter, beladen mit meiner immer anwesenden Vergangenheit. Wie lange glaubt die Menschheit schon, dass man zurückkehren kann? Seit Odysseus? Es ist ein alter und törichter Irrtum, man kann nicht zurückkehren“ (meine Übersetzung).

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atracadores, los comunistas, los ciclistas. ¡Qué herencia la de la madre España! A veces, cuando se me va el sueño, me pregunto: ¡Qué! ¿No nos podía dejar un hueso más sustancioso? Y yo mismo me respondo: nadie da lo que no tiene. Curas y tinterillos es lo que nos heredó, un alma ensotanada de burocracia. Y esas ansias de figurar, de salir en el periódico, más apremiantes que un cólico a media noche. Que el candidato aseveró, que el presidente conminó, que su puta madre declaró… (EF 246)267

Winklers Angriff auf die Gemeinschaft als Ort des (Selbst)Mordes ist gerade auch das Ziel Vallejos: Die Religionskultur, die mit einer elitären, vertikalen politischen Struktur einhergeht, wird hier als Erbe einer europäischen katholischen Tradition angegriffen. Das affektvolle Ansprechen des Problems korreliert mit der zynischen Kritik, die die „Wahrheit“ durch Wiederholung humorvoll etablieren möchte: „Por encima de lo trasnochadas que ya le resultan al lector sus diatribas, con su dandy Vallejo sigue poniéndole un espejo a Colombia, obligando a los colombianos a confrontarse con sus imposturas, cobrándoles el pecado del escándalo“ (Aristizábal, 2015, S. 296)268. Es geht um eine wiederholende Verpflichtung, so Aristizábal, zur Konfrontation mit dem Tragischen und seinem Ursprung. Die drei Angriffsfronten Vallejos (die kanonische Literatur, die Kirche und der Staat) sind Teil eines Diskurses, den Vallejo einer Kritik unterzieht – der der moralisch vertikalen, sakralisierten Instanz der Macht. Diese Macht wird mittels humorvoller Beleidigungen entsakralisiert. Die Religionskritik wird, begleitet von der Kritik am Staat und an der literarischen Tradition, zur allgemeinen zynischen Kritik an der Macht. Sie zielt auf eine Konfrontation, durch die eine Veränderung ermöglicht wird: Die physische Gewalt wird in der Sprachgewalt der Beleidigung angeeignet, um die Probleme der Gesellschaft selbst in der Sprache zu verhandeln. || 267 „Kolumbien, Kolumbilein, Kolumbichen, armes Ding, verwüstet von den Priestern, von den Konservativen, von den Liberalen, vom Kaffeerost und vom Schmutz der Bürokratie, zudem von den Drogenbaronen, den Entführern, den Straßenräubern, den Kommunisten, den Radfahrern. Was für ein Erbe von Mutter Spanien! Manchmal, wenn ich nicht schlafen kann, frage ich mich: Was! Hätte sie uns nicht einen substantielleren Knochen hinterlassen können? Und ich selber antworte mir: Niemand gibt, was er selber nicht hat. Priester und Winkeladvokaten waren unser Erbe, eine Seele der Bürokratie in Soutane. Und dieser Wunsch bekannt zu werden, in der Zeitung zu erscheinen, dringender als Magenschmerzen zu Mitternacht. Dass der Kandidat behauptete, dass der Präsident bedrohte, dass seine Scheißmutter erklärte…“ (meine Übersetzung). 268 „Über die Tatsache hinaus, dass seine Diatriben für den Leser schon überholt sind, hält Vallejo mit seinem Dandytum Kolumbien weiterhin einen Spiegel vor, indem er die Kolumbianer dazu zwingt, sich ihren Betrügereien zu stellen, und indem er mit ihrer Sünde des Skandals abrechnet“ (meine Übersetzung).

6 Fazit: Zoo- und Beleidigungspoetik als religionskritische Strategien Dieses Kapitel hatte die Interpretation einer spezifischen religionskritischen Strategie in Vallejos und Winklers Werk zum Ziel: die Beleidigung. Diese wurde zuerst im Rahmen eines zoopoetischen Schreibens gelesen, das immer auf den Affekt des Zornes im Werk von Winkler und Vallejo zurückführt. Der Komplex Zoo- und Beleidigungspoetik wurde dann unter sprachtheoretischen Gesichtspunkten beleuchtet. Die Beleidigung erhält im Werk der beiden Autoren unterschiedliche Prägungen: Während sie bei Winkler im Rahmen eines Schreibens, das sich die Denunziation der mörderischen Maschinerie der katholischen Gemeinschaft als Ziel setzt, vor allem reflektiert und thematisiert wird, findet sie bei Vallejo verschiedene Ausformungen, die viel komplexer auszudifferenzieren sind. Bei Vallejo findet man eine Ästhetisierung, Intellektualisierung und Humorisierung der Invektive, die bei Winkler vor allem als Denunziationsmittel der Verquickung zwischen Politik und Religion und in der Form der Blasphemie zu finden ist. Die Werke beider Autoren sind aber Exempla eines zornigen Schreibens, das sich selbst in Figuren des Tierischen versinnbildlicht (Kobraund Hundssprache) und als zynisch-kynische Enthüllung des Körperlichen genutzt wird. Dieses zornige Schreiben ist im Rahmen der autobiographischen Texte Ausdruck eines andersartigen Lebens und Teil einer monströsen ethischen Schreibweise, die ich hier als queer verstehen möchte. Die Ausgrenzung des queeren Subjektes ist der Nährboden des hier artikulierten Zorns, und aus diesem speist sich die poetische Kraft der Beleidigung, mit der die Machtinstanzen attackiert werden. Diese Attacke geht mit einer Aneignung der attackierten Symbolik einher, die sich dann expliziter in der neobarocken Ästhetik der Texte ausdrückt. Sie steht im Zentrum des nächsten Kapitels.

https://doi.org/10.1515/9783110799965-015

| Teil 3: Heilige Tunten: Religionsaneignung im neobarocken Schreiben

1 Einleitung: Heilige Tunten Neobarroco: reflejo necesariamente pulverizado de un saber que sabe que ya no está apaciblemente cerrado sobre sí mismo. Arte del destronamiento y la discusión. Severo Sarduy1

Bisher war die Rede von zoopoetischen Monstren, und mit dem Thema dieses Kapitels, dem des Neobarocks, verlassen wir keineswegs das Gebiet queerer Deformierungen. Die Dezentrierung, die, wie bisher dargestellt, der Mensch durch die Zoopoetik erfährt und die Sprache durch die Beleidigungspoetik, wird hier als Teil einer neobarocken Tradition gelesen. Das zuvor Dargestellte – die mamotreto-Form (Kapitel 1), die rasende Kritik (Kapitel 2) – lässt sich in einem Begriff zusammenfassen, der bei beiden Autoren eine Rolle spielt: der Exzess.2 Sowohl die mamotreto-Form, die ungeheure Form des Buches und der Gattungen (mit ihren Collagen aus Bildern und ihren Erzählflüssen aus Abschweifungen), als auch die Poetik des Zornes und die Beleidigung als grenzüberschreitende, rasende Strategie der Kritik lassen sich in die ästhetische Tradition des Neobarroco einordnen, der durch einen exzessiven Stil charakterisiert ist. Somit wird der eher auf die lateinamerikanische Literaturtradition angewandte Begriff des Neobarocks in ein Jenseits der nationalphilologischen Grenzen überführt. Den Exzess findet man konzeptualisiert in der Gründungspoetik des Neobarocks des kubanischen Autors Severo Sarduy, auf die hier primär Bezug genommen wird. Diese Tradition des Neobarocks hat in unserem Fall eine besondere Relevanz, die nicht bloß in der Form des Schreibens von Winkler und Vallejo begründet ist, sondern in der Engführung zweier Gebiete, die unvereinbar zu sein scheinen, aber hier in ihren wechselseitigen Resonanzen gelesen werden: die Religion und das Queere. Diese Engführung wird vor allem in Bezug auf die wichtige Figur des Transvestiten vor Augen geführt. Im Kontext der 1980er Jahre in Lateinamerika war die von Sarduy ausformulierte Ästhetik des Neobarocks sehr einflussreich und wurde vor allem in den Werken queerer Autoren stark rezipiert (J. Lezama Lima, J. Donoso, N. Perlongher, P. Lemebel u.a.). Die damalige theoretische Faszination des Barocks wurde dann mit Gilles Deleuzes berühmter Abhandlung zum Barock, Le pli (1988), bekräftigt.3

|| 1 1999a, S. 1252 / „Neobarock: notwendig pulverisierte Widerspiegelung eines Wissens, das weiß, dass es nicht mehr friedlich in sich eingeschlossen ist. Kunst der Entthronung und der Diskussion“ (meine Übersetzung). 2 Das Adjektiv „exzessiv“ wurde bereits in Bezug auf Winkler genutzt (siehe Fischer, 1999, S. 482). 3 Diedrich Diederichsen bezieht sich in seiner Analyse der Kultur der 1970er- und 1980er-Jahre in seinem Buch Sexbeat. 1972 bis heute (1985) auf den Barock: „Nein, was wirklich, wirklich https://doi.org/10.1515/9783110799965-016

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Im Folgenden beziehe ich mich primär auf den kubanischen Autor Severo Sarduy, der als erste Referenz in der Konzeptualisierung des Neobarocks gilt,4 und insbesondere auf seine essayistischen Bücher Escrito sobre un cuerpo (1964), Barroco (1974) und La simulación (1980). Der Begriff „neobarock“ wird bei Sarduy aus einer Definition des Barocks abgeleitet: [S]er barroco hoy significa amenazar, juzgar y parodiar la economía burguesa, basada en la administración tacaña de los bienes, en su centro y fundamento mismo: el espacio de los signos, el lenguaje, soporte simbólico de la sociedad, garantía de su funcionamiento, de su comunicación. Malgastar, dilapidar, derrochar lenguaje únicamente en función del placer […]. El barroco subvierte el orden supuestamente normal de las cosas, como la elipse – ese suplemento de valor – subvierte y deforma el trazo, que la tradición idealista supone perfecto entre todos, del círculo. […] [E]l barroco actual, el neobarroco, refleja estructuralmente la inarmonía, la ruptura de la homogeneidad, del logos en tanto que absoluto, la carencia que constituye nuestro fundamento epistémico. (1999a, S. 1250–1253)5

|| zählte, war der Umstand, daß Kunst plötzlich wieder nach langen Jahren ein akzeptabelglamouröser Lebensentwurf für Teenies wurde. Daß Teenies Künstler bewundern, daß hübsch angezogene, hübsch aussehende junge Mädchen zu Eröffnungen kommen, daß Künstler den Lebemann raushängen lassen, barock und sinnlich gurren und grunzen und sich die Nächte um die Ohren hauen, sich mit großem Ernst stylen wie kaum ein Pop-Star“ (1985, S. 87). Das Beispiel Diederichsens ist dann David Bowie, eine Figur, in der man eine Barock- bzw. DragStilisierung wiederfinden kann, die exemplarisch für diesen Zeitgeist steht. 4 Der alleinige Bezug auf Severo Sarduy bezweckt eine kontextbezogene Analyse der Werke Vallejos und Winklers. Die vorliegende Annahme, dass das Werk Vallejos und Winklers im Kontext poststrukturalistischen Denkens zu lesen ist, rechtfertigt diesen Bezug. Die Konzeptualisierung des neobarroco bei Sarduy geht in einer eklektizistischen Art und Weise auf die poststrukturalistischen Schriften (vor allem Roland Barthes, Jaques Derrida, Julia Kristeva und Jaques Lacan), das Werk José Lezama Limas und Virgilio Piñeras, sowie auf psychoanalytische Denkmuster (vor allem Lacan) zurück, wie Nina Preyer bereits in ihrer ausführlichen Analyse von Sarduys Theorie des Neobarocks dargelegt hat (2013). Das vorliegende Buch greift auf Sarduys ausformulierte Analyse der neobarocken Ästhetik zurück, um den Textkorpus im allgemeinen Verständnis des Neobarocks fassen zu können. Die Kanonizität der Theorie Sarduys dient zunächst als Rahmen, der in einer weiterführenden Analyse mit Bezug auf divergente Positionierungen ergänzt werden könnte. Die lateinamerikanische Theoriebildung soll dabei als Bezugsrahmen für europäische Texte herangezogen werden und damit auch das postkoloniale Bedeutungspotential einer solchen Lektüre aktiviert werden. 5 „[B]arock zu sein, bedeutet heute die Bedrohung, Beurteilung und Parodie der bürgerlichen Ökonomie, die auf einer geizigen Verwaltung ihrer Güter basiert, in ihrem Zentrum und Fundament: dem Raum der Zeichen, der Sprache, des symbolischen Gerüstes der Gesellschaft, der Garantie ihres Funktionierens, ihrer Kommunikation. Verprassen, vergeuden, verschwenden der Sprache allein um der Lust willen […]. Der Barock untergräbt die vermeintlich normale

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Somit verdeutlicht Sarduy, dass das Wort „Barock“ nicht bloß auf eine Epoche oder einen Stil, sondern vielmehr auf eine ethische Praxis der Kritik hindeutet, die eine eigene Ästhetik impliziert und eine Anwendung des Begriffs jenseits der historischen, geographischen und kulturellen Grenzen erlaubt: Der (Neo)Barock ist kämpferisch, gegnerisch, aber auch humorvoll („amenazar, juzgar y parodiar“) in seiner parodisierenden und verformenden Kritik, die eine Ordnung zu untergraben versucht („subvierte el orden“). Die Ordnung ist jene bereits besprochene Ordnung der Oberflächen (Masken), der Eitelkeit des Bürgertums, die die Geschlechterrollen bestimmt. Die neobarocke Kritik überbietet wiederum diese Oberflächlichkeit und enthüllt damit durch den Exzess dieser Überbietung diese Oberflächen als leer. Mit Gilles Deleuze gedacht, ist der Barock eher eine Funktion oder ein Charakteristikum als eine Epoche,6 und hier wird er als eine Funktion einer bestimmten queeren Kritik verstanden. Es geht um die Lust, sich zu verlaufen (siehe Kapitel 1), eine lustvolle Kritik an der Tradition, der bürgerlichen Moral und dem kapitalistischen System („derrochar lenguaje“). Daher spricht Maria Cristina Chaves Carvalho über den Neobarock als „Eros da linguagem“ („Eros der Sprache“) und betont damit genau ein Schreiben ohne Grenzen, „uma escritura sem limites“ (2017). In der Deformierung der Perfektionsvorstellungen übertreibt, verschwendet und entgrenzt der Neobarock die Formen und jegliche Funktionalisierung der Formen, der Sprache und der Körper – das neobarocke Schreiben ist exzessiv.7 Die Leistung des Neobarocks ist aber eine der Kritik: die Widerspiegelung des strukturellen Nicht-Harmonischen („refleja estructuralmente la inarmonía“) im vermeintlich moralisch Harmonischen der Natur. Der Exzess wird im Bereich der Sprache, der als Handlungsraum der bürgerlichen Ökonomie dient, als eine spezifische literarische Strategie verstanden: die der Herausarbeitung des partiellen Objektes, des Restes, des Signifikanten ohne Signifikat, des reinen Ornaments.8 Es erfolgt ein Bruch mit der Funktionalität der Sprache, um diese in ihrer Überbietung zu zelebrieren. Es geht um das ‚ernste

|| Ordnung der Dinge, wie die Ellipse den Strich des Kreises, der von der idealistischen Tradition als der perfekteste von allen verstanden wird, untergräbt und verformt. […] [D]er aktuelle Barock, der Neobarock, spiegelt strukturell das Nicht-Harmonische wider, den Bruch mit der Homogenität, mit dem Logos, und in absoluter Form, den Mangel, der unser epistemologisches Fundament ausmacht“ (meine Übersetzung). 6 Vgl. Deleuze, [1988] 2000, S. 11. 7 Der Begriff „Exzess“ ist vor allem im Begriff der superabundancia (Über-Fülle) und des desperdicio (Verschwendung) zu lesen (vgl. Sarduy, 1999a, S. 1250). In Sarduys La simulación wird dieser Prozess als „excesivo“ bezeichnet: „la excesiva compacidad de los objetos“ (1999c, S. 1283) / „die exzessive Kompaktheit der Objekte“ (meine Übersetzung). 8 Vgl. Sarduy, 1999a, S. 1251.

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Spiel‘ der Sprache – das oben in Bezug auf Vallejo thematisiert wurde –, das die Funktionalität der Kommunikation aussetzt, und deshalb spielen die Lust und die Erotik eine wichtige Rolle in der neobarocken Poetik.9 Das Spiel ist auch eines der Übertreibung: der Übertreibung des Traditionellen und seiner gleichzeitigen Verdrängung, und dies geschieht in einem ständigen Versuch, der in der unendlichen Verdoppelung (Widerspiegelung) des Textes in Gang bleibt.10 Der Exzess wird bei Sarduy am deutlichsten im Begriff der escritura sin límites ausgedrückt,11 der auf einen queeren literarischen Text über einen Transvestiten referiert, nämlich auf José Donosos El lugar sin límites (1966). Dieses endlose Schreiben lässt einen Text entstehen, „[que] se repite, que se cita sin límites, que se plagia a sí mismo; tapiz que se desteje para hilar otros signos, estroma que varía al infinito sus motivos y cuyo único sentido es ese entrecruzamiento“ (Sarduy, 1999b, S. 1164)12. Ein Teppich aus unendlichen Zitaten, Selbstzitaten und Wiederholungen, dessen einziger Zweck die Überschneidung heterogener Texte ist, macht den neobarocken Text aus. Diese Überschneidung oder dieser Teppich des Neobarocks wird hinsichtlich der Subjektkonstitution hervorgehoben: Sarduy bezieht sich diesbezüglich auf eine breite Tradition, die er selbst explizit als homosexuelle ansieht, die sich aber nicht bloß auf die Tradition der Thematisierung der Homosexualität beschränkt (Cervantes, Calderón, Rilke, Claudel etc.).13 Das Wort „Barock“ bezieht sich in dieser Hinsicht nicht mehr auf eine historische Epoche, sondern auf ein Schreib- und Leseprinzip des Exzesses oder des Grenzüberganges, das die Position des Homosexuellen und Lateinamerikaners als einen „punto de vista des-orbitado“ (Díaz, 2010, S. 57) entwirft.14 Diese queere, andere, minoritäre Außenseiter-Sicht des ausländischen

|| 9 Vgl. Sarduy, 1999a, S. 1251. 10 Vgl. Sarduy, 1999a, S. 1252. 11 Interessanterweise wird die Freiheit mit Blick auf die Einheit und die Grenzen des Kunstwerks von Heinrich Wölfflin in Bezug auf die Epoche des Barocks thematisiert, was an den zuvor vorgeschlagenen Begriff des mamotretos erinnert: „Innerhalb dieser Zeit entwickelt sich aber der Stil in einer Weise, die es schwer macht, ihn als einen einheitlichen zu fassen“ (1968, S. 3). 12 „[…] sich wiederholt, sich grenzenlos zitiert, sich selber plagiiert; Wandteppich, der sich auftrennt, um andere Zeichen zu weben; Stroma, das seine Motive bis ins Unendliche variiert und dessen einziger Sinn diese Überschneidung ist“ (meine Übersetzung). 13 Vgl. Sarduy, 1999b, S. 1164. 14 Der Exzess (Übertreibung) und der Bruch und ihre unendliche Wiederholung sind auch im Bild unendlicher Verfaltungen impliziert, das am Anfang der Monographie zum Barock von Gilles Deleuze entworfen wird: „[E]r [der Barock] krümmt die Falten um und um, treibt sie ins Unendliche, Falte auf Falte, Falte nach Falte. Die ins Unendliche gehende Falte ist das Charakteristikum des Barock“ ([1988] 2000, S. 11).

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Homosexuellen drückt sich in diesem Exzess, in dieser Transgression des Barocks aus. Im Exzess spielen auch die „Anhäufung“ („acumulación“) oder Simultanität verschiedener semantischer Register in einem Teppich-Bild eine wichtige Rolle, und daher versteht Sarduy Kuba (oder Lateinamerika) als eine Überlagerung („superposición“) verschiedener Kulturtraditionen.15 Somit ist der Neobarock auch eine „superposición“ des europäischen Barocks: Der Neobarock Lateinamerikas verdoppelt, spiegelt gleichzeitig den europäischen Barock wider und schafft somit eine neue Anhäufung, Dezentrierung und Widerspiegelung, die dem Barock bereits wesentlich war.16 Das Außenseitertum vermag im Text somit eine Verbindung verschiedener Sphären (Gattungen, Epochen, Geschlechter, Räume etc.) zu kreieren, die dann im Textil (Sarduy / Teppich) vereinigt werden. Das Zitieren, die Überfülle an Referenzen und Adjektivierungen, die Redundanzen und Iterationen machen aus dem Text einen ‚grenzenlosen‘ Teppich, der sich mehr räumlich als linear – also jenseits der traditionellen Kohärenz der Erzählung – konstruiert. Dabei scheint die Fülle als quantitatives Merkmal eine wichtige Rolle zu spielen, die bei Heinrich Wölfflin17 als die „breite, schwere Massenhaftigkeit“ des Barocks bezeichnet wurde18 und die man exemplarisch in den exzessiven, umfangreichen Listen bei Vallejo wiederfindet. Dazu kommt auch ein anderes, vom Kunsthistoriker Wölfflin aufgelistetes Merkmal des Barocks, das die Eigenartigkeit des barocken Teppichs noch verkompliziert: die „Unfassbarkeit“, die hier mit dem Begriff des mamotreto in Verbindung steht.19

|| 15 „[L]o cubano […] aparece descifrado, leído a través de todas las culturas: definido como superposición de estas“ (Sarduy, 1999b, S. 1166). / „[D]as Kubanische […] erscheint als dechiffriert, durch all die Kulturen gelesen: definiert als eine Überlagerung [superposición] mit diesen“ (meine Übersetzung). 16 „Esta incompletud de todo barroco a nivel de la sincronía no impide […] a la diversidad de los estilos barrocos funcionar como reflejo significante de cierta diacronía: así el barroco europeo y el primer barroco latinoamericano se dan como imágenes de un universo móvil y descentrado, pero aún armónico […]“ (Sarduy, 1999a, S. 1252). / „Diese Unvollkommenheit auf der Ebene der Synchronie des gesamten Barocks verhindert nicht, […] dass die Diversität der barocken Stilarten als signifikante Widerspiegelungen einer gewissen Diachronie funktionieren: So erscheinen der europäische Barock und der erste lateinamerikanische Barock als Bilder eines beweglichen und dezentrierten, aber dennoch harmonischen Universums“ (meine Übersetzung). 17 Heinrich Wöfflin dient als Referenz sowohl bei Sarduy als auch bei Deleuze und in der gesamten Literatur zum Barock. 18 Siehe Wölfflin, 1968, S. 30. 19 Diese Unfassbarkeit wird bei Sarduy mit der Emergenz der barocken Städte nach der kopernikanischen Wende erklärt: Die Stadt ist nicht mehr Ausdruck einer mangelnden geozentri-

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Der Begriff der Dezentrierung hat jedoch in diesem ganzen theoretischen Komplex eine besondere Wirksamkeit, da auf ihm zugleich die unfassbare Massenhaftigkeit des Barocken gründet. In dieser Dezentrierung drückt sich gleichzeitig eine religionskritische Praxis aus, wie Nina Preyer betonte.20 Das Barocke impliziert einen Bruch in der Tradition – das Beispiel Sarduys für diesen barocken Bruch ist die Keplersche Wende, die Wende des klassischen Zirkels zur barocken Ellipse – die mit der dezentrierten Perspektive eines Außenseiters einhergeht. Das Barocke ist, so Sarduy, nicht bloß eine Epoche der Kunstgeschichte, sondern eine hervorbrechende Kraft, die sich vor und nach der damit bezeichneten Epoche wiederfinden lässt: eine subversive Kraft gegen den strengen Stil21 und somit gegen die moralische Strenge.22 Dabei spielt die Figur des Irrtums im Denken und im Schreiben eine wichtige poetologische Rolle23; dieser Irrtum bezieht sich vor allem auf die Darstellung der Sprachzeichen (Signifikanten) und ihre Entfernung vom Dargestellten (Signifikat). Das Barocke führt zur exzessiven Befreiung der Sprache jenseits ihrer Verankerung in der Darstellung.24 Die Sprache wird dadurch von ihrer Referenzialität „befreit“ und ihre

|| schen Ordnung, sondern eine von außen strukturierte und messbare Formation – dadurch erfährt die Stadt eine Vervielfachung der Formen, geometrisch freier Formen ( 1999a, S. 1212– 1213). Diese Dezentrierung spielt eine wichtige Rolle in der ganzen neobarocken Poetik und hat mit einem Prozess der Verweltlichung des Transzendenten zu tun. 20 Siehe Preyer, 2013, S. 64. 21 Heinrich Wölfflins bereits klassische Texte zum Barockstil identifizieren den Bruch als Grundmerkmal des Barocks: „Der gesamte Prozess […] ist der Uebergang vom Strengen zum ‚Freien und Malerischen‘, vom Geformten zum Formlosen. […] Eine parallele Erscheinung bietet dagegen die Geschichte der antiken Kunst, wo denn auch der Name barock sich allmählich einzustellen beginnt“ (1968, S. 1). 22 „[E]l barroco será extravagancia y artificio, perversión de un orden natural y equilibrado: moral“ (Sarduy, 1999a, S. 1216) / „[D]er Barock wird Extravaganz und Kunstwerk, Perversion einer natürlichen und ausgeglichenen Ordnung sein: der Moral“ (meine Übersetzung). 23 „Aquí el distanciamiento entre significante y significado, la falla que se abre entre las faces de la metáfora, la amplitud del COMO […] es máxima […]“ (Sarduy, 1999b, S. 1162). / „Die Entfernung zwischen Signifikanten und Signifikat, die Verwerfung, die sich zwischen den Phasen der Metapher eröffnet, die Breite des WIE […] ist hier maximal“ (meine Übersetzung). / „[E]ste estallido que provoca una verdadera falla en el pensamiento“ (Díaz, 2010, S. 47). / „Diese Explosion, die eine echte Verwerfung im Denken produziert“ (meine Übersetzung). 24 Dies wurde bereits oben in der Besprechung von Handkes und Winklers Bildbegriff dargestellt (siehe Kap. 1.6). Sarduys Theorie der neobarocken Sprache stammt möglicherweise von einer Rezeption von Octavio Paz‘ Bildtheorie der poetischen Sprache, mit der sie viele Ähnlichkeiten aufweist. Das poetische Bild bei Paz ist eine Folge der Befreiung der Sprache von ihrer Darstellungsfunktion. Das Buch Barroco wird Paz gewidmet und markiert somit eine intertextuelle Beziehung, die hier nicht in extenso dargelegt werden kann. Zum Bild-Begriff siehe das

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Materialität (das Signifikante) wird hervorgehoben. Dabei spielt das Künstliche und Willkürliche eine Rolle – wie bei den fiktionalen Bildern Winklers oder den essayistischen Abschweifungen Vallejos.25 In der Entfernung vom Dargestellten übermalt die barocke Sprache die Realität und vollzieht dabei eine Veränderung, eine Öffnung zu alternativen Ordnungen: „La imagen ilumina la unicidad histórica – porque el tiempo occidental es lineal y uno – con la multiplicidad de sus realidades en potencia“ (Sarduy, 1999b, S. 1179)26. Auf diese Weise vollzieht sich eine Entgleisung oder Dezentrierung des vermeintlich einzigen Sinnes der Realität und ihrer sprachlichen Darstellung im poetischen Ausdruck des vielfältig Verschiedenen, ähnlich der im ersten Kapitel dargestellten Opposition zwischen Weg und Wüste.27 Das Bild steht somit, gemäß der Theorie Sarduys, im Zentrum der (neo)barocken Ästhetik – ein Aspekt, der bereits von Heinrich Wölfflin mit dem Adjektiv malerisch erfasst wurde. Malerisch ist aber auch das, was in Bewegung ist, freie Linien (Abschweifungen), Kontraste und eine weite Ausdehnung aufweist.28 Das barocke Bild erweitert, verändert, übermalt die Realität. Somit entlehnt Sarduys Bildtheorie des Neobarocks aus der barocken Tradition ihren politisch-ethischen und daher kritischen Wert, genauso wie Valentín Díaz es erklärt: [L]o imaginario coincide punto por punto con la postulación de una ética y permite comprender por qué en Sarduy la cosmología es un espacio relevante, en la medida en que lleva ese principio a un nivel máximo de análisis: ‘dime cómo imaginas y te diré en qué orden te incluyes, a qué sentido perteneces’. (2010, S. 55)29

|| Kapitel „La imagen“ in Paz (1986) bzw. eine zusammenfassende Beschreibung des Bildbegriffes in Del Valle Lattanzio, 2018, S. 98–99. 25 Dies wird anhand von Michelangelos Werk bei Heinrich Wölfflin besprochen (1968, S. 66). 26 „Das Bild beleuchtet die historische Einzigartigkeit – da die westliche Zeit linear und eins ist – mit der Vielfalt ihrer potenziellen Realitäten“ (meine Übersetzung). 27 Dies wird explizit in Sarduys Darlegung von der barocken Stadt als dezentrierter Ort, oder vielmehr im Verständnis der modernen Stadt als Ort des Anderen, als dezentrierter Ort des Selben (1999b, S. 1183). 28 „Übereinstimmend wird von den Geschichtsschreibern der Kunst als wesentliches Merkmal der Barockarchitektur der malerische Charakter beschrieben. […] Einfach ist es zunächst zu sagen: malerisch sei das, was ein Bild abgebe, was ohne weitere Zutat ein Vorwurf für den Maler sei. […] Das Malerische gründet sich auf den Eindruck von Bewegung“ (Wölfflin, 1968, S. 15). 29 „[D]as Imaginäre koinzidiert Punkt für Punkt mit der Behauptung einer Ethik und erlaubt zu verstehen, warum bei Sarduy die Kosmologie ein relevanter Raum ist, insofern er dieses Prinzip auf die höchste Analyseebene überführt: ‚Sag mir, wie deine Imagination ist, und ich

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Gegen die Moral agiert das Neobarocke als eine Vervielfachung des Bildlichen, die eine Abweichung oder Anomalie impliziert.30 Die Welt wird als Bild verstanden, und im imaginären Überschuss dieser Bilder wird die Möglichkeit einer Veränderung, einer Darstellbarkeit der Welt mitgedacht: „la potencia de la simulación en tanto recuperación de lo imaginario hace posible no sólo la propia reinvención, sino también la de los otros“ (ebd. 54)31. Valentín Díaz betont diesen Aspekt des Neobarocks, indem er sich auf eine „Ethik des Imaginären“ bezieht.32 Das Bild als Zeichen ohne Bezeichnetes zu konzipieren,33 ist die große Rebellion des Neobarocks: Die Materialität des Bildhaften tritt in den Vordergrund und entledigt sich einer strukturalistisch gesicherten Bedeutung. Dabei bedient sich der neobarocke Text der Aneignungen und Zitate, die dann aus ihrem ursprünglichen Bezugsrahmen enthoben werden und eine „presencia total, su estar ahí absoluto, sin más referente que la página misma“ (Sarduy, 1999b, S. 1188)34 erlangen. Wenn das angeeignete Material ein sakrales ist, dann kann man dieses Verfahren als profanierend oder sakrilegisch verstehen. Diese Strategie der verändernden Aneignung, aber auch der Ableitung, wie die der Ellipse vom Kreis,35 korreliert mit der bildlichen Fragmentarik des Narrativen im mamotreto. In der Loslösung des Bildes von seinem ursprünglichen Rahmen entsteht eine Verdunkelung (Caravaggio), womit das Bild als Signifikant ohne Signifikat in unendlichen Reihen selbstreferenzieller Bilder gefeiert wird.36 Dadurch ge|| werde dir sagen, in welche Ordnung du dich einfügst, welchem Sinn du angehörst‘“ (meine Übersetzung). 30 „A la historia del barroco podríamos añadir, como un reflejo puntual e inseparable, la de su represión moral, ley que, manifiesta o no, lo señala como desviación o anomalía de una forma precedente, equilibrada y pura, representada por lo clásico“ (Sarduy, 1999a, S. 1200). / „Der Geschichte des Barocks könnte man, als eine punktuelle und untrennbare Widerspiegelung, diejenige ihrer moralischen Unterdrückung hinzufügen, das Gesetz, das, explizit oder nicht, den Barock als Abweichung oder Anomalie einer vorhergehenden, ausgeglichenen und reinen Form, die von der Klassik vertreten wird, kennzeichnet“ (meine Übersetzung). 31 „[…] die Kraft der Simulation, als Wiedergewinnung des Imaginären, ermöglicht nicht nur die eigene Neuerfindung, sondern auch die der anderen“ (meine Übersetzung). 32 Vgl. Díaz, 2010, S. 50. 33 „[…] la ausencia absoluta de toda imagen como referencia, como pérdida definitiva de la cosa nombrada, figurada“ (Sarduy, 1999b, S. 1188) / „[…] die absolute Abwesenheit jeden Bildes als Referenz, im Sinne eines definitiven Verlustes der bezeichneten, figurierten Sache“ (meine Übersetzung). 34 „[…] totale Präsenz, ihr absolutes Dasein ohne andere Referenten als die Seite selbst“ (meine Übersetzung). 35 Vgl. Sarduy, 1999a, S. 1230. 36 Vgl. Sarduy, 1999a, S. 1232.

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schieht eine Verdrängung des Signifikats,37 des Sakralen im Falle eines Kultbildes. Das neobarocke Zitat reißt Bilder aus verschiedensten Kontexten heraus, um sie dann als Bild ohne Bedeutungsrahmen zu zelebrieren, auch wenn es um den Katholizismus geht.38 Die Hervorhebung des Signifikanten gegenüber dem Signifikat wird bei Sarduy in Verbindung mit der Thematik des Leblosen, des Todes und des Statischen gedacht: „la dominación de lo vivo por lo inanimado y la repetición“ (1999c, S. 1292)39. Somit kann man die Bedeutung des Todesthemas der zu analysierenden Texte verstehen: Der Tod ist nicht nur ein Hauptthema der barocken Kunst (natura morta), sondern das Hauptthema des Gesamtwerkes Vallejos und Winklers.40 Das Thema führt direkt in die wohl religiös bestimmten Debatten des Lebens nach dem Tode (Transzendenz und Eschatologie), es erlangt aber in der neobarocken Strategie der Verdoppelung, der Zitation und der Wiederholung eine besondere Rolle. Es ist nicht bloß die Verdoppelung, sondern ein Extrapolieren bzw. das „hipertélico“, wie es Sarduy nennt.41 Das Bild als Ornament löst sich von der Realität ab und wird in seiner Künstlichkeit als totes gefeiert. Das Thematisieren des Todes hat gleichzeitig mit einer Rückkehr zum Körper zu tun, der für Sarduy aus unserer christlichen Kultur vertrieben wurde: „Más que la simulación de la enfermedad, de la corrupción, del miserabilismo, se llega aquí a fingir la anulación total: la extinción, la muerte. El cuerpo regre-

|| 37 Vgl. Sarduy, 1999a, S. 1235. 38 Diedrich Diederichsen bezieht sich auf diese Kultur der Zitation der 1970er- und 1980erJahre als eine Kultur der Aneignung des Vergangenen durch eine „Generation, die ja wohl offensichtlich dazu verdammt schien, anderer Leute Formen übernehmen zu müssen“ (1985, S. 90). 39 „[…] die Beherrschung des Lebendigen durch das Leblose und das Iterative“ (meine Übersetzung). 40 Winklers Trilogie entsteht als Reaktion auf den Doppelselbstmord Robert und Jakobs, das zweite Buch fasst verschiedene Todesfälle im Dorf zusammen usw. Bei Vallejo kommt der IchErzähler immer wieder auf das Thema des Todes zurück, indem die Rede über die Vergänglichkeit immer wieder und bereits im Titel die ganze Erzählung bestimmt. Dies macht den Anfang des letzten Romans der Pentalogie aus: „Vejez hijueputa que pesas más que teta caída de vieja, a las siete y veinte se desató el terremoto“ (EF 7) / „Hurensohnartiges Altern, das mehr als die hängende Titte einer Alten wiegt, um sieben Uhr zwanzig begann das Erdbeben“ (meine Übersetzung). Das Thema des Todes wird jedoch bei Winkler am explizitesten in Wenn es soweit ist und bei Vallejo in El desbarrancadero behandelt. 41 „[…] una pulsión letal de suplemento, de simulacro y de fasto“ (Sarduy, 1999c, S. 1293) / „[…] eine tödlicher Trieb der Ergänzung, des Simulakrums und des Prunks“ (meine Übersetzung).

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sa en el momento de la crítica […]“ (ebd. 1303)42. Dies wird unten in Bezug auf Winklers Todesdarstellungen ausführlicher behandelt. Hinsichtlich der neuesten Form des Barocks, des Neobarocks, bezieht sich Sarduy auf einen Begriff, der zur im zweiten Kapitel dargestellten Poetik der Beleidigung zurückführt: der „barroco furioso“ (der „wütende Barock“).43 Diese Tradition wird von Sarduy als eine genuine Form des amerikanischen Kontinents verstanden,44 die an sich kritisch und aggressiv ist. Die Kritik entstammt der peripheren Perspektive des Kontinents, die das Licht des europäischen Barocks noch einmal dezentriert.45 Der neue Barock führt die Kritik der Künstlichkeit der Bilder weiter, die Rebellion des ersten Barocks gegen die Darstellung wird noch stärker vollzogen, und zwar gegen die realistische Darstellung.46 Der neue Barock wird von Sarduy als eine Bewegung mit explizit politischer Funktion verstanden, die „barroco ideológico“ genannt wird. Trotzdem bleibt die Filiation zur ersten Phase des Barocks erhalten, die Sarduy mit einem kurzen Verweis auf die katholische Gemeinschaft der Jesuiten thematisiert: „Barroco ideológico que, aunque activado por otra urgencia y por otra subversión, no contradice – aunque sea sin saberlo – la acción jesuita de ayer“ (ebd. 1310)47. Zusammenfassend kann man folgende, von Severo Sarduy erarbeiteten Aspekte des (Neo)Barocks auflisten, die für die anschließende Lektüre der Texte relevant sind: der mittels Humor, Parodie, Verschwendung und Übertreibung geführte Kampf gegen die moralische Strenge, die kritische und verformende Widerspiegelung traditioneller Formen, das Herausarbeiten partieller Objekte – des Signifikanten –, die Grenzenlosigkeit und Unfassbarkeit des Werkes, ein Lese- und Schreibprinzip aus einem punto de vista desorbitado, die Strategie der superposición durch Verdoppelungen, der implizite Irrtum, die Willkür und Künstlichkeit, die Bildlichkeit oder das Malerische als Strategie der Veränderung, das Zitieren als Ableitung und die unendlichen Reihen von Wiederholungen und Selbstzitaten, die Todesthematik und, im Falle des neuesten Barocks,

|| 42 „Mehr als für die Simulation der Krankheit, der Korruption, des Miserablen, kommt man hierher, um die totale Annullierung vorzutäuschen: die Auslöschung, der Tod. Der Körper kehrt im Moment der Kritik zurück […]“ (meine Übersetzung). 43 Siehe Sarduy, 1999c, S. 1307ff. 44 Die vorliegende Untersuchung versucht diesen fixen regionalen Bezug in der Anwendung des Begriffes des Neobarock auf das Werk Winklers aufzulösen. 45 Vgl. Sarduy, 1999c, S. 1308. 46 Vgl. Sarduy, 1999c, S. 1308. 47 „Ideologischer Barock, der, obwohl durch andere Dringlichkeiten und andere Subversionen aktiviert, der jesuitischen Praxis von gestern – wenn auch unwissentlich – nicht widerspricht“ (meine Übersetzung).

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ein impliziter Zorn. All diese Aspekte weisen auf einen Exzess hin, der sich als absichtliche Rebellion versteht. Der Neobarock als Rebellion gegen die strenge Semantik versucht somit im Feld dieser zu kritisierenden Semantik zu agieren: in der subversiven und entleerenden Aneignung des Feindes – des Katholizismus in unserem Fall –, einer Transzendenz der Bedeutung. Die Nähe des Neobarocks zur katholischen Ästhetik – wie sie im nächsten Unterkapitel diskutiert wird – resultiert aus dieser Sinnentleerung des Sakralen. Das queere, neobarocke Fest des Religiösen ist dann in seiner jubelnden Affirmation auch als ambivalent zu verstehen: Es wird die Negation der Religion in ihrer exzessiven Verdoppelung gefeiert.

2 Das Katholische am Neobarock Heinrich Wölfflin bespricht ein weiteres Merkmal des Barocks, das in Verbindung mit dem zuvor dargestellten zornigen Schreiben gelesen werden kann: „Es giebt [sic!] kein glückliches Sein, sondern ein Werden, ein Geschehen: nicht das Befriedigte, sondern das Unbefriedigte und Ruhelose. Man fühlt sich nicht erlöst, sondern in die Spannung eines leidenschaftlichen Zustandes hineingezogen“ (1968, S. 25). Dieses Gefühl der Unzufriedenheit wird bei Sarduy in der Idee des ‚Versuches‘ zum Ausdruck gebracht: Das Barocke agiert unaufhörlich, ruhelos. Die Poetiken Vallejos und Winklers entstammen, wie bereits gezeigt wurde, einem Entsetzen, einer Empörung, aus der sich die beleidigende, blasphemische Sprache herauskristallisiert. In dieser Hinsicht lassen sich die zuvor dargelegten Strategien im Rahmen des Neobarocks aus einer ethisch-kritischen Perspektive betrachten: Die Abschweifung und das Bild, die als die zwei Hauptmerkmale der Form der mamotretos bei Winkler und Vallejo dargestellt wurden, können zugleich im Rahmen dieser ästhetischen Tradition gelesen werden. Ihre enge Beziehung zum Katholizismus wurde bereits dargelegt. Die zornige Kritik dieses Schreibens vollzieht sich in der Verformung: Laut Sarduy ist für den Barock das verformende Zitat charakteristisch. Wir stellen dann die Frage, inwieweit es sich dabei um eine zitierende Aneignung katholischen Materials handelt. Inwiefern ist der (Neo)Barock – trotz negativer, verformender Bezugnahme – Teil einer katholischen Ästhetik, Teil einer katholischen Religionskultur? Es soll gezeigt werden, dass die neobarocke Ästhetik der katholischen insofern nahesteht, als sie ein kritisches Verhältnis zum religiösen Bilderkult herstellt. Im Werk Sarduys findet man den Einfluss des Katholizismus in expliziter Art und Weise, nicht nur in seinem Buch El Cristo de la rue Jacob (ein Text mit homoerotischen und katholischen Elementen), sondern in all seinen Texten. Der Bezug auf die katholische Religion ist eine Konstante in seinem Werk und konstituiert seine Poetik des Neobarocks. Dabei spielt die Figur der Jungfrau Maria, so Sarduy, eine wesentliche Rolle in der Poetik.48 Die Darstellungen der Jungfrau Maria werden als Teil jenes Ereignisses der barocken retombée, bzw.

|| 48 „Si el lenguaje en majestad – subrayo la connotación católica (la Virgen) del término – testimonia de la presencia de la madre, la respiración como angustia sería un significante de la ausencia del padre“ (Sarduy, 1999b, S. 1176) / „Wenn die Sprache in Majestät – ich unterstreiche die katholische Konnotation des Begriffes (die Jungfrau) – die Anwesenheit der Mutter bezeugt, wäre das Atmen als Angst ein Signifikant der Abwesenheit des Vaters“ (meine Übersetzung). https://doi.org/10.1515/9783110799965-017

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des barocken Bruches verstanden, das den Barock in Gang setzt, nämlich durch die Überlagerung oder superposición des profanen Wissenschaftlichen und des sakralen Ikonographischen Marias, die Sarduy parallel zum barocken Übergang vom Kreis in die Ellipse liest.49 Die Überlappung des Profanen mit dem Sakralen wäre die neobarocke Verformung des Religiösen. Zusätzlich dazu ist die Jungfrau Maria, in der devoción marianista oder dem marianismo, eine katholische Figur, die in der Kultur Lateinamerikas eine diskursprägende Relevanz hatte.50 Dies wäre jedoch nur eine oberflächliche Verbindung zwischen Neobarock und Katholizismus, die Ähnlichkeiten erstrecken sich aber bis auf die neobarocken ästhetischen Grundannahmen. Der Marianismo impliziert eine tiefere Filiation zwischen dem Neobarock und dem Katholizismus, nämlich im Begriff des Körpers und im Bilderkult. Gegen die Körperfeindlichkeit des Katholizismus und ihre Tradition richtet sich die Emphase des Körperlichen bei Sarduy und in der neobarocken Tradition – ein Aspekt, der auch im zweiten Kapitel in Bezug auf die Zoopoetik betont wurde: Y es que la civilización – y sobre todo el pensamiento cristiano – ha destinado el cuerpo al olvido, al sacrificio. […] En él, y a partir de un lugar privilegiado para ello, es decir, un cuerpo, la escultura, se destruye la noción del arte como una referencia a algo que no es su propio físico […]. (Sarduy, 1999b, S. 1186)51

|| 49 Vgl. Sarduy, 1999a, S. 1216. 50 Analysen des Marianismo in Lateinamerika sind zahlreich zu finden, vor allem in den feministischen Studien zu dieser sehr prägenden Bewegung und ihrem Einfluss auf die Konsolidierung eines impliziten Sexismus in der lateinamerikanischen Kultur. Die Tatsache, dass der Marianismo zugleich im Neobarock wichtig zu sein scheint, betont die queere, geschlechterkritische Perspektive dieser Bewegung: Die barocke Rebellion geschieht auch auf der Ebene der Geschlechterunterschiede. Der Einfluss der Jungfrau Maria, wie Giovana Suárez Ortiz in ihrer Dissertation Mujeres colombianas en los años veinte: pensamiento, asistencia, trabajo y lucha (Universität Leipzig 2020) dargelegt hat, bestimmte die Kultur und die Rolle der Frau in der Gesellschaft Kolumbiens am Anfang des 20. Jahrhunderts. Besonders wichtig in Suárez‘ Analyse ist die These der subversiven Aneignung des Marianismo von Seiten der Frauenbewegungen, um sich von diesem zu emanzipieren. Der Einfluss dieser Figur auf die sexistische und homophobe Kultur Lateinamerikas wurde zugleich von Barbara Potthast in ihrer Studie zur Weiblichkeit in der Geschichte des Kontinents erläutert (2010, S. 358ff). 51 „Und zwar, weil die Zivilisation – und vor allem das christliche Denken – den Körper zum Vergessen, zum Opfer bestimmt hat. […] In ihm und von einem dafür privilegierten Ort aus, d.h. einem Körper, einer Skulptur, wird das Verständnis der Kunst als Referenz auf etwas, das nicht seine eigene Körperlichkeit ist, zerstört […]“ (meine Übersetzung).

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Das Christentum setzt eine Negation des Körperlichen in Gang, um das Körperliche in den Dienst des Nicht-Körperlichen, des Transzendenten der Seele zu stellen. Daher versteht Mario Perniola das Katholische als ein „sentire esteriore“ (Außengefühl), das die Welt als Mysterium und Wunder zur Wahrnehmung bringt.52 Die Eucharistie verbindet auf diese Art das Transzendente und Immanente in einem Bild des Mysteriums, wo der Körper im Seelischen aufgehoben wird. Das Körperliche wird dadurch beseelt, negiert, aber paradoxerweise gleichzeitig hervorgehoben: als Oberfläche. Die katholischen Kirchen sind überfüllt von Körpern; und die Feier dieser Körper befreit von der Transzendenz, das soll das Barocke leisten.53 Im Buch Barroco bezieht sich Sarduy als Beispiel für die theoretische „Architektur des Barocks“ auf die Kirche: „La armazón de la capilla es sutil: no se limita a la relación ingenua soporte/motivo, sino que […] nos presenta a la vez su realización literal y, repitiéndola, su metáfora de mármol“ (1999a, S. 1202)54. Die katholische, negative Hervorhebung des Körperlichen stellt ein Problem dar, sie eröffnet die Möglichkeit zur Profanierung im Materiellen. Daher interessiert sich Sarduy für die barocke Kirchenarchitektonik nicht nur wegen des Zusammenkommens von Transzendenz und Immanenz in einem architektonischen Bild, sondern aufgrund der Tatsache, dass dieser barocke Architekturstil Objekt der Kritik und des Spottes war: Was das Barocke an sich zustande bringt, ist eine Zelebration des katholischen Scheins, der Oberfläche, der Form und somit des Körperlichen (“su función más superficial y más abstracta“ [ebd. 1203] / „seine oberflächlichste und abstrakteste Funktion“,

|| 52 „Si potrebbe compendiare questa sensibilità [cattolica] in una sola frase che suona: ’Nulla mi disinganna. Il mondo mi ha stregato!‘“ (Perniola, 2001, S. 23) / „Man könnte diese [katholische] Sensibilität in einem einzigen Satz zusammenfassen, der so lautet: ‚Nichts enttäuscht mich. Die Welt hat mich verzaubert‘“ (meine Übersetzung). 53 In Navid Kermanis Ungläubiges Staunen. Über das Christentum geht es, wie im Titel bereits angekündigt, um ein Staunen, das hier in enger Beziehung mit Perniolas katholischem Gefühl gelesen werden kann: „An Wunder glauben viele, wenn nicht die meisten Konfessionen, aber nur der Katholizismus, weil er sich so vernünftig, geordnet, wissenschaftlich gibt, erzeugt in mir jenes ungläubige Staunen, das Caravaggio dem Thomas ins Gesicht schreibt“ ([2015] 2017, S. 212). Kermani versteht das Christentum und den Katholizismus als Religionskultur. Seine Essays zur christlichen Kunst stellen aus der Perspektive eines Moslems und Islamwissenschaftlers einige Aspekte dar, die dem Bilderkult des Katholizismus wesentlich sind. „Das Kunstwerk sollte nicht einfach gefallen oder erotisch stimulieren: es sollte die Schönheit Gottes erfahrbar machen“ (ebd. 48). Besonders bemerkenswert in Kermanis Darstellungen ist die Emphase des Pornographischen und Erotischen der christlichen Kunst. 54 „Das Tragwerk der Kapelle ist subtil: Es ist nicht begrenzt auf die naive Beziehung Stütze/Motiv, sondern […] es präsentiert uns sowohl seine buchstäbliche Realisierung als auch, indem es sie wiederholt, seine Marmormetapher“ (meine Übersetzung).

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meine Übersetzung). In diesem Sinne lässt sich die von Josef Winkler immer wieder betonte Entdeckung in der Kindheit deuten, dass die Engel, die das Leben jedes Menschen protokollieren sollen, in der Kirche tatsächlich hohle Figuren sind.55 Die Entdeckung der spektakulären, moralisierenden Oberflächeneffekte (Deleuze) der katholischen Ästhetik ist genau die moralkritische, ethische Perspektive, die Winkler zum Schreiben bringt: die Aufdeckung der Maskerade, der fälschenden Fassade, der Lüge.56 Dies ist die politische, machtkritische Seite der neobarocken Ästhetik in ihrer Aneignung einer katholischen Feier der Oberfläche.57 Daher bezieht sich Sarduy auf den „vaciado: en la poesía barroca, las palabras que designan los materiales canónicos de la orfebrería no funcionan como signos plenos, sino, en un sistema formalizado de oposiciones binarias – la antítesis es la figura central del barroco“ (ebd. 1203)58. Das Antithetische, aber auch das Ambivalente, konstituiert somit das Zentrum der neobarocken Ästhetik und zugleich ihre Beziehung zur Religion. Gilles Deleuze überspitzt diese

|| 55 Dies wird an verschiedenen Stellen des Gesamtwerkes Winklers immer wieder betont. Ein Beispiel wäre folgender Auszug aus seinem Buch Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär: „[Ich] ging nach dem feierlichen Gottesdienst, als der Pfarrer im schwarzen Beichtstuhl mit dem violetten Vorhang auf reumütige Sünder wartete, hinter den Hauptaltar und sah, daß die großen, vergoldeten Engel hohl waren, keine Eingeweide, kein Herz und kein Hirn hatten, daß […] der hohle Engel ohne Herz und ohne Hirn gar kein Buch über meine guten und schlechten Taten, Gedanken und Träume schreiben könnte“ (2011a, S. 11). 56 „Ich glaube, ich schreibe deswegen, weil mir in der Kirche, speziell in der langen Zeit als Ministrant, wir waren ja ganz nah beim Altar und sind auch hinten herumgegangen, diese Heiligenfiguren und Engel so unheimlich waren. Von der Vorderseite waren sie schön geschmückt und vergoldet. Und ich habe mir die Heiligenfiguren von hinten angeschaut und da waren sie ausgehöhlt. Die Hinterseite war nicht ausgeführt. Die war hohl. Vorne das Gesicht, die Maske, und hinten nicht fertig geschnitzt. Das Gegenteil sogar: Ausgehöhlt, damit die Figur nicht so schwer wird, damit man sie leichter tragen kann“ (Niedermeier & Winkler, 2007). 57 In einem Interview bezieht sich Winkler auf den „Heiligenschein“ Jörg Haiders, um diesen zu kritisieren: „Er hat sein Leben vor allem im Dienst seines eigenen Heiligenscheins verbracht. Jahrzehntelang hat er auf die eigene Selbstbeweihräucherung hingearbeitet. Wie der Herr von Nazareth ist er mit der Hand drübergefahren und hat Wasser in Wein verwandelt. Doch Haider war kein dummer Mensch, er hat begriffen, was er angestellt hat und was auf ihn zukommen wird. In seinem narzisstischen Wahn hätte er nicht verkraftet, dass ihn das Volk verlässt, er war ja der König, der Kaiser von Kärnten, den das Volk bekniet hat“ (N. Mayer & Winkler, 2009). 58 „Entleerung: in der barocken Dichtung funktionieren die Wörter, die die kanonischen Materialien der Goldschmiedekunst bezeichnen, nicht wie volle Zeichen, sondern in einem formalisierten System binärer Oppositionen – die Antithese ist die Hauptfigur des Barocks“ (meine Übersetzung).

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Hypothese mit seiner Definition der barocken Linie als Faltung zu zwei Etagen, die in einer ambivalenten Beziehung der Ein- und Ausschließung, der Spaltung und Spannung stehen – das Beispiel ist die Fassade und das Innere, die sich ausgrenzen und gleichzeitig ins Unendliche bestimmen.59 Etwa die Technik des Chiaroscuro Caravaggios, seine Profanierung des Sakralen in der realistischen Repräsentation des Körperlichen und die Sakralisierung des Profanen durch den Bezug auf das Biblische, gehört zu diesen ambivalenten Strategien des Barocken. In der Sinnentleerung („vaciado“) des Sakralen entsteht eine neobarocke Religionskritik genau mittels der Aneignung des katholischen Bildkultes. In Los caminos a Roma findet man eine Passage, in der Vallejo die Kunst Caravaggios als eine Profanierung des Sakralen hervorhebt, der Ich-Erzähler die profane Seite (die homosexuelle Lust am sakralen Ort) zelebriert und gleichzeitig das Transzendente des Bildes („ascendiendo del mundo del subsuelo a su mundo de luz“) ambivalent bejaht: No sé, yo lo recuerdo con otro título, con un desierto y en una iglesia. Al niño le cae un rizo sobre la frente y otro rizo sobre la oreja, y me he enamorado de él. No hay otro como el Michelangelo llamado il Caravaggio, el prodigioso. Su luz intensa y despiadada desmiente los valores ideales, mentirosos, subvierte la moral pública. Hoy como es domingo hemos ascendido del mundo del subsuelo a su mundo de luz. El niño me mira, entre risueño y malicioso, por sobre cuatrocientos años, desde el imposible amor. (CR 109)60

Der Bezug Vallejos auf die barocke Malerei ist bedeutsam: Auf diese Passage folgt später im Roman eine harsche Kritik am italienischen Neorealismus und

|| 59 „Die ‚Doppelung‘ der Falte reproduziert sich notwendigerweise auf beiden durch sie unterschiedenen Seiten, die sie aber aufeinander bezieht, indem sie sie unterscheidet: Spaltung, bei der jeder Ausdruck den anderen auslöst, Spannung, bei der jede Falte in der anderen gespannt ist“ (Deleuze, [1988] 2000, S. 54). „Für uns ist in der Tat das Kriterium oder der operative Begriff des Barocks die Falte, in ihrem ganzen Inhalt und ihrer ganzen Extension: pli selon pli. […] Es gibt also eine barocke Linie, die genau der Falte gemäß verläuft […]. […] Baltrusaitis definiert die Falte im Allgemeinen durch die Spaltung, aber eine Spaltung, bei der jeder der beiden aufgespaltenen Terme den anderen auslöst“ (ebd. 60). 60 „Ich weiß nicht, ich erinnere mich daran mit einem anderen Titel, mit einer Wüste und in einer Kirche. Dem Jüngling fällt eine Locke auf die Stirn und eine andere Locke über das Ohr, und ich habe mich in ihn verliebt. Es gibt keinen besseren als Michelangelo, genannt il Caravaggio, der Wunderbare. Sein kräftiges und genadeloses Licht verleugnet die idealen, verlogenen Werte, untergräbt die öffentliche Moral. Da heute Sonntag ist, sind wir aus der Welt des Untergrundes in seine Welt des Lichtes emporgegangen. Der Jüngling schaut mich an, zwischen heiter und arglistig, seit über vierhundert Jahren, aus der unmöglichen Liebe heraus“ (meine Übersetzung).

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eine Verteidigung des literarischen artificio. Im zuvor zitierten Text gibt es viele Aspekte, die die Ambivalenz im und zum katholischen Bild zum Ausdruck bringen: Der schöne Jüngling wird in der Ambivalenz zwischen dem Sakralem (dem Licht, seiner Schönheit) und dem Profanen (der Liebe) dargestellt. Alles kulminiert aber in der „unmöglichen Liebe“, die auch eine ambivalente Seite impliziert: Es geht nicht nur um die Liebe zum Jüngling von Seiten des Ich-Erzählers, sondern auch um die Liebe des dargestellten Jünglings zum Lamm im Bild San Giovanni nel deserto von Caravaggio. In dem zitierten Bild treffen verschiedene semantische Linien im Werk Vallejos (Zoopoetik, Homoerotik, Religionskritik) zusammen, die im Text selbst durch verschiedene Strategien des Neobarocks zum Ausdruck gebracht werden (das Zitat, die übertriebene Rede, die überfüllten Sätze, die verschiedenen Perspektiven). Im Bild wird aber von Vallejo vor allem der Körper des Jünglings als subversive Gestalt hervorgehoben: der Körper, der seit über vierhundert Jahren noch in der emotiven Szene präsent bleibt. Das neobarocke Schreiben zelebriert nicht dasjenige, was sich transzendent außerhalb oder jenseits des Schreibens ankündigt, sondern sich immanent im Material und im Körper vollzieht: durch die Betonung des Körperlichen und Materiellen. Damit vollzieht sich gleichzeitig eine Dezentrierung: „Descentramiento y caída teológicos: los santos se encarnan en la plebe romana, la escena del milagro es una cantina, de modelo al cuerpo inánime de la virgen sirve el cadáver de una hidrópica“ (Sarduy, 1999a, S. 1225)61. In diesem Sinne lässt sich Vallejos Abneigung gegen die dritte Person als Erzählperspektive des Romans verstehen: keine transzendente, sondern eine immanente Perspektive des Ichs. Die exzessive Profanation des Neobarocken drückt zugleich ein religiöses Jubeln aus, dessen Mitte oder Referenzpunkt nichts anderes als die Leere ist.62 Wenn die katholische Kunsttradition voller Körper ist, die auf negative Art als Kerker, aus dem die Seele sich befreien soll, zelebriert werden,63 annulliert die neobarocke

|| 61 „Theologische Dezentrierung und Verfall: Die Heiligen verkörpern sich im romanischen Pöbel, die Szene des Wunders ist eine Kantine, als Vorbild für den leblosen Körper der Jungfrau Maria dient die Leiche einer Wassersüchtigen“ (meine Übersetzung). 62 Zur Leere als innerer Instanz bei Sarduy siehe 1999b, S. 55f. Valentín Díaz‘ Verständnis des Neobarocks als „matriz interpretativa“ („interpretative Matrix“) der Moderne lässt sich aus der Idee der Leere ableiten. 63 Diesbezüglich ist auf den Diskurs über das Fleisch im Christentum hinzuweisen. In Rom 7:5 bezieht sich Paulus explizit auf diesen Begriff, der die dualistische Opposition zwischen Seele und Körper hervorhebt. Die moralische Werthierarchie zwischen Körper und Seele macht aus letzterer eine übergeordnete Instanz. Diese Problematik wird auch im homoerotischen Roman des kubanischen Autors Virgilio Piñera verhandelt.

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Kunst den Dualismus zwischen Körper und Seele, um in der Aneignung des katholischen Körperkultes die Bejahung des Diesseitigen zu vollziehen. Die katholische Kunst war immer eine figurale, malerische und bildhafte, im Gegensatz zu den jüdischen64 und protestantischen65 Kunsttraditionen, in denen sich das Kultbildverbot verbreitet hat. Der Bilderkult war ein klassisches Streitthema des Christentums, bei dem entweder die Richtigkeit der Darstellung oder der Kult an sich in Frage stand. Der Symbolcharakter war als Traditionsbeweis wichtig für die institutionelle Machtlegitimation der katholischen Kirche.66 Aus dem Grund wurde der blasphemische Umgang mit Bildern als eine direkte politische Machtkritik an der Kirche, dem Staat bzw. der gesamten sozialen Sittenordnung empfunden.67 In dieser Weise wurde das Verletzen des Bildkultes als Beschmutzung einer Tradition empfunden, die durch die Kultbilder überhaupt erst ermöglicht wurde: Die Bilder – ob von Gott, Jesus oder den Heiligen – schaffen aus deren transzendenter Abwesenheit eine materielle Präsenz, die der Anbetung dient.68 So könnte man behaupten, dass die Bilder in einer unendlichen Zitation bereits vorhandener Erzählungen (z.B. biblischer Art) und künstlerischer Vorgänger reproduziert werden, um eine Tradition zu etablieren bzw. sicherzustellen. Hier hakt die neobarocke Tradition ein, mit der zitierenden Wiedergabe der exzessiven Überfülle an Bildern, die in ihrer Übertreibung bloß Bild werden und die Transzendenz in der Materialität der Bilder auflösen. Dies korreliert mit der seit der Frühen Neuzeit doppelgesichtigen bzw. ambivalenten Art der katholischen Bilder, profan-künstlerisch und religiös-kultisch zu sein.69 Wenn die neobarocke Tradition hier ansetzt, nimmt sie an einer katholischen

|| 64 Das Thema des Kultbildverbots in den alttestamentarischen Schriften, das vor allem das Judentum und den Protestantismus betrifft, wird ausführlich von Rolf Rendtorff (1999) behandelt. Er geht von einer exegetischen und etymologischen Betrachtung des Wortes „Bild“ aus, um herauszuarbeiten, dass die Problematik im Verbot des Kultes anderer Götter und im Streit der Darstellbarkeit und der Darstellung der göttlichen Attribute gründet. 65 Hans Belting widmet dem christlichen Bilderstreit einen großen Teil seiner Analyse in Bild und Kult, in der er Luthers Versuch, „an die Vernunft seiner Zeitgenossen [zu appellieren] und sie von der vermeintlichen Macht der Bilder [zu] befreien“ (1990, S. 510) nachzeichnet. Die Reform vertreibt die Kultbilder aus der Kirche als Institution und bestätigt somit die Zugehörigkeit des Bildes zum Arbeitsbereich der Künste. Somit etabliert sich eine klare Differenz zwischen dem Umgang mit Bildern im Protestantismus und im Katholizismus. 66 Siehe Belting, 1990, S. 11–12. 67 „Aber auch der Staat verband sich als Sachwalter der Religion mit ihnen und ihrem Kult. So meinten die Revolutionäre, die 1918 die Mariensäule in Prag stürzten, eher die habsburgische Macht, die sie mit ihr identifizieren, als die Religion selbst“ (Belting, 1990, S. 12). 68 Siehe Belting, 1990, S. 20. 69 Zum „zweierlei Gesicht“ der Bilder der frühen Neuzeit siehe Belting, 1990, S. 510–511.

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Tradition teil: in Form einer kritischen Aneignung. Gilles Deleuze definiert das Charakteristikum des Barock aus dem Geiste Leibnizes als „[d]ie ins Unendliche gehende Falte“ ([1988] 2000, S. 11). Diese Faltung zu zwei Etagen hat mit einer barocken Strategie der Verdoppelung, der Widerspiegelung zu tun, die die Welt schlussendlich in sich selbst verdoppelt einfaltet: in Seele und Körper.70 Diese Verdoppelung, die sich als immanent versteht und sich in der diesseitigen Welt vollzieht,71 reproduziert eine Form der Transzendenz, die dem Religiösen wesentlich ist: Für Deleuze besteht hier eine Spaltung und Spannung der Falte zwischen einem geschlossenen Unzugänglichen (der Monade/der Seele) und einem durch die Sinne bis ins Unendliche geöffneten Körper. Genau in dieser Weise definiert Johann E. Hafner das Religiöse in einem Text.72 Die Strenge der Trennung zwischen den zwei Etagen im Religiösen wird im Neobarocken aufgehoben73 bzw. porös, ambivalent: Im Zusammenspiel der Trennung beschmutzen sich beide Seiten gegenseitig, indem sie aufeinander referieren (Spannung) und sich gegenseitig ausschließen (Spaltung). „Das ist das Charakteristikum des Barock: ein Äußeres immer außen, ein Inneres immer innen“ (Deleuze, [1988] 2000, S. 62). Dies unterscheidet den Barock zum Beispiel vom Neoplatonismus, der eine katholische, moralische Hierarchie zwischen den zwei Etagen aufrechterhält: die neoplatonische Treppe. Beim Barock geht es hingegen um eine Umhüllung und ein Zusammenspiel zweier Dimensionen: semantisches Spiel, Kippfigur. Das Außen und das Innen korrelieren mit zwei Vektoren, die den Barock konstituieren: „Die Fassade-Materie geht nach unten, während die Zimmer-Seele aufsteigt“ (ebd. 62). Der Barock greift, so Deleuze, ins religiöse Denken ein, nimmt am Religiösen teil und unterminiert seine Ordnung: im Simultanen der Faltung vom Unterschiedlichen, von Leben und Tod, Diesseits und Jenseits, Profanem und Sakralem etc. In der simultanen Spannung dieser zwei Vektoren drückt sich der Barock aus: als ambivalente Figur, wie jene des

|| 70 „Die Welt aber aus nur zwei Etagen, getrennt durch die Falte, welche sich auf beiden Seiten in unterschiedlicher Weise auswirkt, das ist der barocke Beitrag par excellence“ (Deleuze, [1988] 2000, S. 53). 71 „[…] wobei die beiden Etagen von ein und derselben Welt sind (die Universumslinie)“ (Deleuze, [1988] 2000, S. 62). 72 „Religiöse Texte zeichnen sich genau dadurch aus, dass sie diesen Unterschied selbst noch einmal formulieren, indem sie mit der Differenz zwischen Zugänglichem von Unzugänglichem spielen, egal wie sie denominiert wird: Diesseits/Jenseits, Leere/Fülle, Natur/Übernatur, Erde/Himmel, Geschichte/messianische Zeit oder Immanenz/Transzendenz“ (Hafner, 2016, S. 7). 73 „Es sind diese zwei Ordnungen, die beiden Etagen Dubuffets, zusammen mit der Entdeckung ihrer Harmonie, welche bis zur Ununterscheidbarkeit gehen muß: ist es eine Textur oder eine Falte der Seele, des Gedankens?“ (Deleuze, [1988] 2000, S. 63).

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Heiligen Sebastian bei Guido Reni, die in der Einleitung dieses Buchs beschrieben wurde. Die durch das Bild etablierte Erinnerung ist aber die Erinnerung an Personen, an Körper; das Kultbild muss eine greifbare, körperliche Gestalt zum Ausdruck bringen – dabei rückt die Erzählung (des Lebens Jesu, der Heiligen usw.) in den Hintergrund und die symbolische Magie der ikonischen Bilder in den Vordergrund.74 In dieser Hinsicht spielen die Körperdarstellungen eine wichtige Rolle, die dann im barocken Stil eine deutliche Präsenz zeigen.75 Die Erinnerung und der Körper, im Kultbild vereint, verleihen dem Bild eine magische, ‚halluzinatorische‘ Qualität,76 die selbst von der neobarocken Tradition übernommen wird: „La metáfora como conjuro“ (Sarduy, 1999b, S. 1163)77. In der neobarocken Veränderung durch die Übermalung und Zitation dieser Kultbilder treten bekannte Gesichter wieder auf, diesmal werden sie aber ohne sakrale Bedeutung, sondern stets als Bilder zelebriert – das am Anfang dieses Buchs präsentierte Beispiel der queeren Darstellungen des Heiligen Sebastian ist diesbezüglich sehr einleuchtend. Neben dem Bilderkult sollen auch die biblischen Gleichnisse als malerische, katholische Rhetorik verstanden werden, da sie Bilder der Alltäglichkeit für die Darstellung des Transzendenten aktivieren.78 Die Parabel und die Hyperbel sind daher die rhetorischen Figuren, die, so Sarduy, im Zentrum der neobarocken Ästhetik stehen.79 Das Bild, das vermeintlich eine tiefere Bedeutung verbirgt, ist || 74 „Heilige wurden ja nicht nur mit ihrer Legende, sondern auch in ihrem Bildnis in den Blick gerückt. Nur das Bildnis kann man verehren. Nur das Bildnis hat die dazu erforderliche Präsenz, während die Erzählung bloß in der Vergangenheit liegt. Auch ist der Heilige nicht nur ein ethisches Modell, sondern auch eine himmlische Instanz, die man in irdischen Nöten um Hilfe anruft“ (Belting, 1990, S. 20). 75 Sowohl Wölfflin als auch Sarduy betonen den Begriff des Körperlichen als wichtigen Bestandteil des Barockstils (Wölfflin, 1968, S. 62ff). 76 Relevant in dieser Hinsicht ist Thomas Machos Studie zum Gesicht und zum Bild des Gesichtes als sozialstiftendem Moment in der Geschichte. Macho unterstreicht die Bedeutung der Gesichtsbilder in der Entwicklung einer sozialen Kohäsion (2011). Der Kritik am Bilderkult ist also auch eine Machtkritik inhärent. 77 „Die Metapher als Beschwörung“ (meine Übersetzung). 78 Zu den Gleichnissen als bildhaftes Sprechen sagt Link: „Gleichnisse sind Modelle des Redens von Gott, genauer: sie bieten uns Modelle an, den Glauben an diesen Gott jenseits aller überlieferten religiösen Symbolsysteme lebensweltlich plausibel zu artikulieren“ (C. Link, 1999, S. 149). 79 „[L]a metáfora es el traslado, la mudada retórica por excelencia, el paso de un significante, inalterable, desde su cadena ‘original‘ hasta otra, mediata, y de cuya inserción surge el nuevo sentido“ (Sarduy, 1999a, S. 1222). / „Die Metapher ist die Verschiebung, die Veränderung der Rhetorik par excellence, der Übergang von einem unabänderlichen Signifikanten aus seiner bis

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Teil der „verdad barroca de la anamorfisis“ (Sarduy, 1999c, S. 1275), und eben diese wird durch die barocke Lektüre entleert.80 Das barocke Schreiben simuliert die scheinbare Durchsichtigkeit der Bilder oder der Parabel in Bezug auf ihre Bedeutung, bringt diese aber nur als obskur, als Oberfläche zum Ausdruck. Dies wird bei Sarduy als Effekt des Bösen verstanden, der im Sinne einer Religionskritik als teuflisch gelesen werden kann.81 Die Bilder fallen vom Himmel herab. Das Faszinosum des Mysteriums bewohnt wiederum das Barocke als Oberfläche, als Rätsel ohne Bedeutung. Fernando Vallejo thematisiert explizit die Verwendung von Parabeln und Periphrasen und drückt ironisch seine Absicht aus, sich diese Praxis anzueignen und seine Erzählungen zu verschlüsseln: Tenso el arco se disparó por fin la flecha, roto el cordel se fue al cielo la cometa. ¿Ven qué malabarismos obliga Victor Hugo por no haber llevado a cabalidad la revolución romántica? A seguir hablando en perífrasis como cualquier Racine de peluca empolvada. Nada de que al pan pan y al vino vino y a la vaca vaca. No: la lactífera consorte del toro. Y ya que empecé hablando en perífrasis paso a hablar en parábolas. Y que entienda el entendedor y adivine quien adivine. Algo más que un recuerdo impreciso me dejó el ángel de ensoñadores ojos, y ello se fue poniendo de manifiesto al cabo de una semana, justamente cuando ya creía el héroe haberse librado de la locura. (FS 129)82

|| dahin ‚ursprünglichen‘ Kette in eine andere, mittelbare, aus dessen Einfügung sein neuer Sinn hervorgeht“ (meine Übersetzung). 80 Siehe Sarduy, 1999c, S. 1277–1278. 81 „[U]na simulación de transparencia que sólo está en función de una densidad subyacente, y ésta, por su hermetismo, no puede ser figurada más que por la evidencia meridiana de ciertos emblemas o bajo la representación, sospechosa por excesivamente gráfica, de la fantasía“ (Sarduy, 1999c, S. 1278) /„Eine Simulation von Durchsichtigkeit, die nur in der Funktion einer darunterliegenden Dichte steht, und diese kann wegen ihres Hermetismus nur durch die klare Offenkundigkeit gewisser Embleme oder die verdächtige, weil exzessiv graphische Repräsentation der Fantasie figuriert werden“ (meine Übersetzung). 82 „Gespannt schoss der Bogen endlich den Pfeil ab, die Schnur gerissen, flog der Drachen in den Himmel. Seht ihr, zu was für Gauklereien Victor Hugo sich gezwungen sah, weil er die romantische Revolution nicht vollzogen hat? Weiter in Periphrasen zu sprechen wie irgendein Racine mit eingepuderter Perücke. Nicht die Dinge beim Namen nennen. Nein: die Milchgattin des Stiers. Und, da ich schon begann, in Periphrasen zu sprechen, werde ich jetzt in Parabeln sprechen. Und soll mich der Kenner verstehen und raten, wer rate. Etwas mehr als eine unscharfe Erinnerung hinterließ mir der Engel mit den verträumten Augen, und dies wurde nach einer Woche deutlich, gerade als ich schon dachte, der Held habe sich vom Wahnsinn befreit“ (meine Übersetzung).

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Die Periphrase als bildhafte Übermalung einer Bedeutung wird kritisiert und zugleich auf ambivalente Weise adaptiert. Mit der Kritik an Victor Hugo stellt Vallejo ein weiteres Mal die transzendente Erzählperspektive in Frage, die er mit einer Literatur in der dritten Person verbindet und die es zu dezentrieren gilt. Der in der neobarocken Theorie diskutierte Fetischismus der partiellen Objekte kann zugleich als Teil einer katholischen Ästhetik betrachtet werden: die Eucharistie als Fest voller Kultbilder und ihre Fokussierung auf partielle Objekte (die Hostie, das Kreuz usw.). Diese Konzentration auf Teile und Objekte wird als Teil der neobarocken Ästhetik von Sarduy in Anspruch genommen: [P]royección brutal de la luz […] que se concentra en una parte del cuerpo, o en una de sus metonimias: rostro, mano que golpea, turbante, pies callosos, porosos, harapos. […] La tortura y el tatuaje pertenecen a ese mismo registro del desmembramiento de la fragmentación facticia. […] Sólo el fragmento cubierto por el tatuaje […], realzado por la tinta minuciosa, o sometido a la torción, al dolor, tiene acceso al endurecimiento, a la erección notoria, a golpear con su tensión. […] O, si se quiere: todo el cuerpo es un objeto parcial. (1999c, S. 1295)83

Die Folter und die Tätowierungen werden als Teil der Fetischisierung verstanden, beide Praktiken haben gemeinsam, dass sie durch den Schmerz eine Fetischisierung der Teile des Körpers erreichen – eine gewalttätige Ornamentik also, die zwischen Lust und Schmerz changiert. Ein Beispiel dafür sind auch die im ersten Kapitel dargestellten Ambivalenzen zwischen Lust und Schmerz bei Josef Winkler. Die Überfülle an leidenden, gefolterten Körpern in der katholischen Kunst und ihre prominenten Beispiele kommen hier ins Spiel: Jesus am Kreuz, der heilige Sebastian, die heilige Barbara, die heilige Katharina, der heilige Bartholomäus u.v.a.84 Was bei den modernen Tätowierungen aber ge-

|| 83 „Brutale Lichtprojektion […], die sich auf ein Körperteil oder auf eine seiner Metonymien konzentriert: das Gesicht, die schlagende Hand, der Turban, die schwieligen, porösen Füße, die Lumpen. […] Die Folter und die Tätowierungen gehören zu demselben Register der Abtrennung der künstlichen Fragmentierung. […] Nur das durch die Tätowierung bedeckte Fragment […], das durch die minuziöse Tinte hervorgehoben oder der Torsion, dem Schmerz unterworfen ist, hat Zugang zur Versteifung, zur notorischen Erektion, zum Schlagen mit seiner Spannung. […] Oder, wenn man möchte: der ganze Körper ist ein partielles Objekt“ (meine Übersetzung). 84 Hier wäre ein Exkurs über La carne de René, dem homoerotischen Roman Virgilio Piñeras (2000), naheliegend: In diesem Roman wird die Folter an einem jungen hübschen Mann beschrieben, die eng mit einer religiös-katholischen Ästhetisierung des Körpers in Zusammenhang gebracht wird. Dabei spielen die Figuren Jesu am Kreuz und des heiligen Sebastian eine wichtige Rolle. Die lange Tradition queerer Kunst, die von Darstellungen sadomasochistischer Praktiken durchzogen ist, nimmt an dieser Folterfaszination teil, die auch in der katholischen Kunst zu finden ist: Robert Mapplethorpe, David Wojnarowicz, Tom of Finland u.a. Einen

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schieht, ist eine „proliferación y vaciamiento“: Vermehrung der Ornamentik des Körpers und Sinnentleerung des sakral rituellen Inhaltes.85 Dieser exzessive Fetischismus führt normalerweise zugleich zu einer extravaganten Ornamentik, die die Objekte kultisch aufladen. Dies findet man explizit in der Tradition queerer und neobarocker Ästhetik, die sich, so Óscar Montero, in der Figur des Transvestiten bei Sarduy ausdrückt: „Queer writing and performance create a fetish, in the etymological sense of the word: ‘del portugués fetico, lo hecho, el hacer que se ve‘“ ([1998] 1999, S. 1790). Die fragmentarischen, künstlichen Bilder, die dann zu einer neobarocken Kette von Wiederholungen aneinandergereiht werden, rufen verschiedene Objekte auf, die der Katholizismus heiligspricht: das heilige Schweißtuch, die Stolpersteine in der via dolorosa in Jerusalem, der Rosenkranz, der Tabernakel u.v.a. Die Ritualisierung ist eine Form der Iteration, die für das Christentum und vielleicht alle Religionen wesentlich ist.86 Der Sonntag als Tag der Messe, die wiederholten Gebete vor dem Essen, vor dem Schlafen, nach dem Aufstehen usw. strukturieren in iterativer Weise den Alltag des Menschen und verleihen ihm eine sakrale immer wieder aktualisierte Bedeutung. Die von Sarduy hervorgehobene iterative Form des Neobarocks nähert sich dieser Ästhetik der religiösen Wiederholung: „Descentramiento: repetición. Que nada perturbe la insistencia, la uniformidad de las fachadas y ornamentos huyendo, rectos, como en la perspectiva de los paisajistas […]“ (1999a, S. 1226)87. Das Gebet als iterative Form und vor allem die Litanei, der Bittgesang, kommen explizit im Schreiben Josef Winklers vor, wie bereits Brigitte Schwens-Harrant gezeigt hat. In Winklers und Vallejos gesamtem Werk wiederholen sich auf exzessive Art dieselben Inhalte, indem die Bilder und Erzählungen immer wieder aufgegriffen werden und ihre Bedeutungen verschiedene Aktualisierungen erfahren. Die Aneignung der katholischen Ästhetik durch Winkler und Vallejo steht im Zentrum der (neo)barocken Tradition: die Anlehnung an vergangene Bilder, Texte und Materialien und ihre Transformation finden sich bereits im collage-

|| klaren Bezug zu dieser Tradition findet man bereits in Sarduys Text, hier als die sogenannte „dialéctica del terror“ (Terrordialektik) beschrieben (1999c, S. 1338). 85 Vgl. Sarduy, 1999c, S. 1302. 86 Mircea Eleade hat in verschiedenen seiner Schriften die konstitutive Bedeutung des Rituellen im Religiösen analysiert, etwa in Le Mythe de l’éternel retour (1949). 87 „Dezentrierung: Wiederholung. Nichts soll den Nachdruck, die Uniformität der Fassaden und die wie aus der Perspektive eines Landschaftsmalers geradewegs fliehenden Ornamente stören“ (meine Übersetzung).

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artigen, zitatüberfüllten Schreiben Sarduys ausdrückt.88 Das Wiederholen einer Struktur ist für den Neobarock charakteristisch. Aus einer Dialektik zwischen Negation (Profanierung und Löschung der Transzendenz) und Affirmation (Aneignung der Körperfaszination) speist sich die Bild- und Zitatpraxis neobarocken Schreibens. Die hier hervorgehobenen Ähnlichkeiten zwischen Neobarock und Katholizismus hinsichtlich des Inhalts, der Bildpoetik, der iterativen Form und des Rituals bekräftigen die These, dass der Neobarock im Kontext einer katholischen Ästhetik gelesen werden muss.

|| 88 „[C]ita: yuxtaposición de diversas texturas, de vetas opuestas; contornos precisos, sin relieves: mímesis barroca“ (Sarduy, 1999a, S. 1221) / „[Z]itat: Juxtaposition diverser Texturen, entgegengesetzter Adern; scharfe Umrisse ohne Reliefs: barocke Mimesis“ (meine Übersetzung).

3 Der Neobarock als queere Kritik: La simulación Wir werden die Verrückten spielen, da ihr es so wollt. Wir werden eure Fallen übertrumpfen. Wir werden euch beim Wort nehmen. Gilles Deleuze89

Im Vorwort zur ersten Ausgabe des Buches L’Après-Mai des faunes (1974) des queeren Theoretikers Guy Hocquenghem hebt Gilles Deleuze die politische Bedeutung des Stils hervor und bezieht sich dabei auf den homosexuellen und queeren Stil, der sich stets immer als minoritär und marginal dem Nutzen eines kapitalistischen Systems entzieht. Der ‚homosexuelle Stil‘ sei nämlich jener, der mit der Reproduktion der Tradition bricht: Es liegt auf der Hand, daß Hocquenghem nicht wie Gide spricht, auch nicht wie Proust, noch weniger wie Peyrefitte: aber der Stil ist Politik – und die Generationsunterschiede ebenso, auch die Arten, ‚ich‘ zu sagen […]. Ein anderer Stil, eine andere Politik: die Bedeutung von Tony Duvert heute, ein neuer Ton. Aus der Tiefe eines neuen Stils produziert Homosexualität heute Aussagen, die sich nicht auf Homosexualität selbst beziehen und nicht beziehen dürfen. […] Aber die marginale Position des Homosexuellen macht es möglich und notwendig, daß er etwas über das, was die Homosexualität nicht ist, zu sagen hat: ‚Mit den Homosexuellenbewegungen sind alle sexuellen Probleme der Menschen zum Vorschein gekommen‘. ([2002] 2003, S. 414)

Im Anschluss an die zitierte Textstelle unterstreicht Deleuze die notwendige, subversive Nutzlosigkeit des Homosexuellen und bezieht sich dabei implizit auch auf eine Befreiung aus den Reproduktionszwängen der heteronormativen Gesellschaft. Wenn es einen homosexuellen Stil gibt, dann ist dieser immer anders, ein Bruch mit der Tradition bzw. eine Tradition des Bruches. Der Stil des Neobarocks lässt sich unbestreitbar auf eine ästhetisch-queere Strategie zurückführen, die gerade die Produktion von exaltierten Stilarten in Gang setzte und dabei etwas simulierte und somit veränderte.90 Der queere Twist enthüllt somit || 89 [2002] 2003, S. 416. 90 Unter Berücksichtigung des Kontextes des zu analysierenden Textkorpuses, die 1980erJahre, wäre die Frage relevant, ob der hier von Sarduy entworfene Begriff der simulación mit jenem in der Zeit sehr prominenten Konzept der Simulation bei Jean Baudrillard zusammenzudenken ist. Jürgen Oberschelp (1991) liest diesen Begriff im Rahmen einer Popästhetik des Recyclings bzw. des Zitierens in den 1980er-Jahren, die sich wohl mit der Ästhetik des Neobarocks bei Sarduy in Verbindung bringen lässt. Diese Frage sprengt jedoch den Rahmen meiner Untersuchung. https://doi.org/10.1515/9783110799965-018

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die Imperfektion (Ellipse) des scheinbar Perfekten (Kreis). Die zuvor thematisierte Entsakralisierung religiöser Bilder kann zugleich als Bruch mit der Funktionalisierung dieser Bilder gedeutet werden: Sie werden der Lust wegen gefeiert. Die erste wichtige queere Annahme Sarduys, die in der neobarocken Ästhetik das Zentrum markiert, ist jene des Textes als artificio (Kunst/Trugbild), der einen Körper, ein Individuum und seine Identität schöpft: „identity is gesture not destiny“ (Montero, [1998] 1999, S. 1783). Insofern spielt die Performativität des Geschlechts und der Sexualität (Butler)91 als queerer Denkhorizont in der neobarocken Ästhetik eine wichtige Rolle: Die Identität wird Schrift und somit auch Maske, Verformung, Neuschöpfung. Was der Neobarock in diesem Bereich zum Vorschein bringt, ist die Ambiguität der Geschlechter,92 das Potenzial der identitätsstiftenden Schrift, die Möglichkeit der Veränderung („Barroco de la Revolución“) durch die Verschiebung der semantischen Implikationen der Bilder.93 Die Rolle der Figur des Transvestiten in dieser Theorie ist von großer Bedeutung.94 Der Transvestit spielt eine wesentliche Rolle als Übermalung und Transformation der Welt. In der Betonung der angenommenen Verformung agiert das queere Subjekt als verformender Spiegel des „Normalen“ – das queere Subjekt als Schöpfer ungeheuerlicher Gestalten seiner selbst.95 In dieser Aneignung von geschlechtskonformen zugeschriebenen Eigenschaften zelebriert das queere Subjekt die Veränderung des schon Gegebenen.96 Diese Veränderung geschieht durch die simulación, die vom Transvestiten, so Sarduy, in den Exzess getrieben wird.97 Daher ist die Simulation des Transvestiten bei Sarduy keine Nachah-

|| 91 „For Sarduy, gender is simulacra. […] Sarduy’s queer theories work by making a spectacle of the self“ (Montero, [1998] 1999, S. 1783). 92 Zur Ambiguität der Geschlechter bei Sarduy siehe Montero, [1998] 1999, S. 1785. 93 „[B]arroco que recusa toda instauración, que metaforiza al orden discutido, al dios juzgado, a la ley transgredida. Barroco de la Revolución“ (Sarduy, 1999a, S. 1253) / „[B]arock, der jegliches Etablieren zurückweist, der die diskutierte Ordnung, den verurteilten Gott, das überschrittene Gesetz in Metaphern umwandelt. Barock der Revolution“ (meine Übersetzung). 94 So fängt der Artikel Óscar Monteros zu „The Queer Theories of Severo Sarduy“ (1999) mit der Figur des Transvestiten an. Das legt schon nahe, dass der Neobarock als queere Zusammenfügung des nicht Kompatiblen, der drastisch unterschiedlichen Texte zu verstehen ist. 95 „Risen from the scientist’s slab, like Dr. Frankenstein’s famous creation, homosexuality was destined to become the distorted mirror for heterosexuality’s hold on the normal“ (Montero, [1998] 1999, S. 1785). 96 Vgl. Montero, [1998] 1999, S. 1785. 97 „For Sarduy, drag is less about disguise than about excess“ (Montero, [1998] 1999).

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mung der Frau, sondern Übertreibung der Nachahmung selbst.98 Wenn es hier um die Aneignung katholischer ästhetischer Aspekte geht, dann im Sinne von Sarduys simulación, die er anhand des Transvestiten exemplarisch darstellt – der Transvestit ist somit ein Beispiel der neobarocken Ästhetik: El travesti no imita a la mujer. Para él, à la limite, no hay mujer, sabe […] que ella es una apariencia que su reino y la fuerza de su fetiche encubren un defecto. […] La erección cosmética del travesti, la agresión esplendente de sus párpados temblorosos y metalizados como alas de insectos voraces, […] su propio sexo, más presente entre más castrado, solo sirven para la reproducción obstinada de ese icono [sic!] […]: la madre que la tiene parada y que el travesti dobla, aunque sólo sea para simbolizar que la erección es una apariencia. […] El travesti no copia: simula […]: es más bien la inexistencia del ser mimado lo que constituye el espacio, la región o el soporte de esa simulación, de esa impostura concertada […]. (1999c, S. 1267)99

Es gibt verschiedene Aspekte in diesem Zitat, die hervorgehoben werden müssen: Das Exzessive der Erektion („erección cosmética“) betont den Schein des Sexuellen und des Geschlechtlichen („una apariencia que es su reino“). Wenn die Identität Schein ist, eröffnet sich die Möglichkeit zur Veränderung und somit zum Anders-Werden, daher ist der Vergleich mit den Insekten („como alas de insectos voraces“) und der damit geschaffene Bezug auf das Zoopoetische relevant: Damit erweitert sich der Möglichkeitsraum des Werdens des Individuums. Die Übertreibung des Transvestiten führt zu einer Denaturalisierung der Bilder, die fetischisiert werden („fuerza de su fetiche“), und daher ist diese Übertreibung aggressiv („agresión esplendente“), indem das Natürliche als Schein enthüllt wird. Diese exzessive Mimesis ist eine aggressive und verändernde: In der Kastration des Bildes als Scheinbild wird aber das Bildliche noch bekräftigt („su propio sexo, más presente entre más castrado“), indem der Grund der Scheinhaftigkeit dekonstruiert wird. Daher geht es nicht um eine

|| 98 „¿[Q]ué se simula? La simulación“ (Sarduy, 1999c, S. 1266) /„Was wird simuliert? Die Simulation“ (meine Übersetzung). 99 „Der Transvestit ahmt die Frau nicht nach. Für ihn, à la limite, gibt es keine Frau, er weiß […], dass sie Schein ist, dass ihr Reich und die Kraft ihres Fetisches einen Defekt verhüllen. […] Die kosmetische Erektion des Transvestiten, die glänzende Aggression seiner zitternden und metallischen Augenlider wie Flügel heißhungriger Insekten, […] sein eigenes Geschlecht umso präsenter je mehr kastriert, dienen nur der hartnäckigen Reproduktion jener Ikone […]: Die Mutter, die einen Steifen hat, den der Transvestit verdoppelt, und sei es nur, um zu symbolisieren, dass die Erektion ein Schein ist. […] Der Transvestit kopiert nicht: er simuliert […]: Es geht vielmehr um die Inexistenz des verwöhnten Wesens, was den Raum, die Region bzw. die Stütze der Simulation jenes konzertierten Betrugs konstituiert“ (meine Übersetzung).

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Kopie, sondern um die Simulation des Scheins, die Oberfläche selbst. Der Rekurs auf das Wort „ícono“ ist bedeutsam, insofern es sich vor allem auf Bilder mit sozialpolitischem Gehalt bezieht – das Objekt der Kritik ist hier die Machtstruktur, das Geschlecht und das Sexuelle, das Religiöse und das Natürliche. Das Nachgeahmte ist die Bildlichkeit bzw. die Fantasie der Bildlichkeit selbst. In diesem Sinne soll das Queere des Neobarocks verstanden werden: in der subversiven kritischen Aneignung aus der Perspektive eines Außenseiters, als verändernde, manchmal parodistische Mimesis. Der Anteil an Lust, der hier auch immer mitgedacht werden soll, ist sehr wichtig in Bezug auf die queere Mimesis des Transvestismus: „el travesti no señala más que la yuxtaposición de los signos distintivos de los dos sexos y apela más a nuestro deseo que a nuestra credulidad: su simulación es difusa, su mimetismo simbólico“ (ebd. 1302)100. Sarduy geht weiter in seiner Darstellung des Transvestiten, indem er die Verfahren seiner Maskierung mit den tarnenden Färbungstechniken der Insekten vergleicht, die diese auf gleiche Weise zum Verschwinden bringen: „El animal-travesti no busca una apariencia amable para atraer […], sino una incorporación de la fijeza para desaparecer“ (ebd. 1269)101. Das Verschwinden hat zugleich mit der Übertreibung, Überfüllung zu tun: die Verschwendung („despilfarro“ [ebd. 1269]) des Bildes, die zur Auslöschung der Referenz führt. Die Widerspiegelung des Kontextes, nur um die Bildlichkeit kritisch in ihrem Schein zu enthüllen, führt zwangsläufig zu einem Sich-Verlieren im Feld verschiedener Identitätsmerkmale. Die diffuse Symbolik, die hervorgehoben wird, liegt in der Juxtaposition von Verschiedenem, nicht Gleichartigem. Dies wurde anhand der fragmentarischen Form von Vallejos und Winklers mamotretos gezeigt und geht mit der Behauptung Carolina Saníns zum Werk Vallejos einher, es gehe darin nur darum, das Ich zu verlieren.102 Dieses Verschwinden des Ichs findet man zugleich im in dritter Person verfassten Ende über den Transvestiten von Das wilde Kärnten, in dem das Ich nicht mehr zu finden ist. Bei Vallejo findet sich eine explizite Rede über den glücklichen Verlust seines Selbst in der Passage über den Brand des Gebäudes in New York, als der Ich-Erzähler sagt: „¡Por fin! ¡Por fin! Había perdido la figura… ¡Yoooo! Mi yo sonó como una expresión hue-

|| 100 „[…] der Transvestit verweist nur auf die Juxtaposition der Unterscheidungsmerkmale der beiden Geschlechter und appelliert eher an unser Begehren als an unsere Leichtgläubigkeit: seine Simulation ist diffus, seine Mimesis symbolisch“ (meine Übersetzung). 101 „Das Transvestiten-Tier sucht nicht nach dem liebenswerten Schein, um anziehend zu wirken […], sondern nach einer Einverleibung der Beharrlichkeit, um zu verschwinden“ (meine Übersetzung). 102 Siehe Sanín, 2017a.

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ca“ (AI 150)103. Im Spiel der scheinbaren Identitäten verliert sich das Ich unter vielen Masken. Die daraus resultierende Kritik der Trugbilder ist eine ethische Kritik, die im zweiten Kapitel dargelegt wurde: Sarduys Bezug auf Gilles Deleuze104 deutet bereits auf eine Platonismuskritik hin, die mit einer Kritik des transzendenten Denkens in Verbindung steht. Wenn oben die Rede von der Kritik an den „Oberflächenwirkungen“ der Moral war,105 wird hier bei Sarduy mit dem Begriff der simulación eine konkrete kritische, ästhetische Praxis erfasst: „los fenómenos a que nos interesamos […] parecen empecinados en la producción de su efecto. De allí la intensidad de su subversión – captar la superficie, la piel, lo envolvente, sin pasar por lo central y fundador, la Idea – […]“ (1999c, S. 1270–1271)106. Die Oberflächeneffekte der Kategorien, Ideen, Identitäten, Gattungen usw. werden bis ins Unendliche simuliert, indem ihre Künstlichkeit, ihr artificio vor Augen geführt wird: Ihre Verschiebung und Veränderung werden somit erst ermöglicht. Das einzige Ziel des Transvestiten ist die „Repräsentation der Fantasie“ („representación de la fantasía“ [ebd. 1299]), die Repräsentation der Möglichkeit des Scheins. Dies wird nicht nur in der Rolle des Transvestiten selbst in den Werken Vallejos und Winklers evident, sondern auch in der zentralen Figur der Maske im Werk des letzteren.107 Für Sarduy hat die Simulation des Transvestiten die Repräsentation des Verschwindens zum Ziel: „[L]a mariposa travestida ha logrado || 103 „Endlich! Endlich! Ich hatte meine Figur verloren… Iiiiiich! Mein Ich klang wie ein hohler Ausdruck“ (meine Übersetzung). 104 Siehe Sarduy, 1999c, S. 1270. 105 Der Begriff der „Oberflächenwirkungen“ ist aus Gilles Deleuzes‘ Logik des Sinns entnommen, der dort in Bezug auf die „Umkehrung des Platonismus“ betont wird ([1969] 1993, S. 19ff), und hier auf die Moralkritik des Neobarocks angewandt wird: Indem Deleuze betont, dass „[d]as Ideelle, das Unkörperliche […] nur noch eine ‚Wirkung‘ sein [könne]“ (ebd. 23), degradiert er die Idee als transzendente Wahrheit zum bloßen, oberflächlichen Phänomen im Diesseitigen der Immanenz. Etwas Ähnliches geschieht auch im Falle des Neobarocks: Der Signifikant ohne Signifikat wird bis ins Unendliche verdoppelt, wiederholt, wobei seine Wirksamkeit ersichtlich wird. Dabei werden im Falle des Transvestismus auch die Geschlechterunterschiede als Oberfläche simuliert, wie es unten dargestellt wird, und somit ihre vermeintliche Natürlichkeit als falsch entlarvt. Die ideelle und moralische Ordnung der Dinge wird nicht mehr als Wirklichkeit, sondern als Wirkung an der Oberfläche der materiellen Wirklichkeit der Körper verstanden. 106 „[…] die Phänomene, für die wir uns interessieren […], scheinen in der Produktion ihres Effektes zu verharren. Daher die Intensität ihrer Subversion – die Oberfläche, die Haut, das Umhüllende zu fassen, ohne das Zentrum und das Grundlegende, die Idee zu passieren – […]“ (meine Übersetzung). 107 Der Begriff der Maske bei Winkler wurde bereits im Kapitel 2 besprochen.

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su teatro: representación de la invisibilidad“ (ebd. 1298)108. Das Barocke führt die Maskerade in den Exzess – es geht um ein Übertreiben der Nachahmung der Formen, um eine Verschwendung. Dies macht die neobarocke Kunst des Transvestismus aus der Perspektive Sarduys aus: Su búsqueda, su compulsión de ornamento, su exigencia de lujo, va más lejos. La mujer no es el límite donde se detiene la simulación. Son hipertélicos: van más allá de su fin, hacia el absoluto de una imagen abstracta, religiosa incluso, icónica en todo caso, mortal. Las mujeres […] los imitan. (ebd. 1298)109

Die bloße Maske würde einfach das Subjekt anonymisieren, in diesem Fall wird aber das Subjekt als Einheit überwunden, wird zum Bild als solches („el absoluto de una imagen abstracta“), und am Ende dieser erzwungenen Hinführung wird es zum kultischen, religiösen Objekt. Der Transvestit bewegt sich zwischen Verschwinden und Auftauchen, dies wäre die innere barocke Ambivalenz der Maske.110 Der Transvestit ist eine zentrale queere Figur in der Poetik des Neobarocks, an ihm zeigt sich beispielhaft der kritische Angriff dieser Tradition auf die ästhetischen Effekte der Machtstrukturen und die subversive Aneignung dieser Macht der bildlichen Oberflächen. Dies macht das Queere an der Theorie des Neobarocks aus. Es gilt jetzt, diese Figur in den Werken Vallejos und Winklers zu analysieren; sie lässt sich jedoch auf ein früheres Beispiel zurückführen, das in derselben Literaturtradition des queeren Schreibens zu verorten ist: Jean Genet. Genets Transvestiten oder Tunten bringen einen Begriff der Pose bzw. der Geste ins Spiel, der in der Lektüre der queeren Religionskritik von Winkler und Vallejo produktiv genutzt wird.

|| 108 „[D]em transvestierten Schmetterling ist sein Theater gelungen: die Repräsentation der Unsichtbarkeit“ (meine Übersetzung). 109 „Ihr Streben, ihr Zwang zum Ornament, ihr Verlangen nach Luxus reicht weiter. Die Frau ist nicht die Grenze, an der die Simulation endet. Sie sind hyperthelisch: Sie gehen über ihre Ziele hinaus, hin zum Absoluten eines abstrakten, sogar religiösen, in jedem Fall ikonischen, sterblichen Bildes. Die Frauen […] imitieren sie“ (meine Übersetzung). 110 „El mimetismo borra los contornos, disuelve el cuerpo en el espacio que lo rodea […]; la escritura corporal, al contrario, lo marca, lo señala, lo destaca como objeto cifrado […]“ (Sarduy, 1999c, S. 1299) / „Der Mimetismus verwischt die Konturen, löst den Körper in dem ihn umgebenden Raum auf […]; dahingegen markiert, zeigt, betont das körperliche Schreiben ihn als chiffriertes Objekt“ (meine Übersetzung).

4 Befreiende Geste der Simulation: Vallejo, Winkler und Genet Drag you. Travestirme en ti. Hacerte volver a la vida a través de esa imagen. […] Reencárnate en mí, posée mi lengua, mis brazos, mis sexos, mis dildos, mi sangre, mis moléculas, posée a mi chica, mi perra, habítame, vive en mí. Paul B. Preciado111

Der Transvestismus spielt eine wesentliche Rolle in Sarduys Theorie des Neobarocks, da er der zentrale Ausgangspunkt für eine Problematisierung der Darstellbarkeit der Realität und eine Hervorhebung des Imaginativen gegenüber der Realität ist. Die Texte, die hier analysiert werden, erweisen sich als besonders komplex, wenn man sie als autobiographisch und neobarock betrachtet. Die Frage, ob man Winklers Text als autobiographisch bezeichnen könne, hat bereits Dirk Linck in seiner ausführlichen Studie zu Das wilde Kärnten behandelt.112 Wichtig für Linck ist das Ende der Trilogie, an dem, wie bereits erwähnt, die Erzählung von der ersten in die dritte Person wechselt und das Leben des Transvestiten Jakow Menschikows erzählt wird, das dem Leben des Autors ähnelt: „In seinen Romanen verwandelt Josef die Wirklichkeit ins Imaginäre und liefert zugleich ein Werkstattprotokoll dieser Verwandlung. […] Der neue Leib trägt den Namen Jakow Menschikow“ (1993, S. 311). Linck liest diese Verdoppelung Josefs im Sinne des Sartre’schen Verständnisses der Homosexualität als „befreiende Antwort auf das Destruktive der Norm“ (ebd. 313), als ein befreiendes Masken-Spiel, das die zuvor vorgenommene weibliche Maskierung zu einer halbweiblichen Maske führt,113 nämlich zum Transvestiten: „Das Halbweib wird zum Transvestiten, der zugleich Mann und Frau ist. Die Engel und Puppen wa-

|| 111 Preciado, [2008] 2020, S. 21. /„Drag you. Mich in dir transvestieren. Dich zurück ins Leben mittels jenes Bildes holen. […] Reinkarniere dich in mir, besetze meine Zunge, meine Arme, meine Geschlechter, meine Dildos, mein Blut, meine Moleküle, besitze mein Mädel, meine Schlampe, bewohn mich, wohn in mir“ (meine Übersetzung). 112 Siehe Linck, 1993, S. 302. 113 „Die Rückkehr in den Mutterleib konnte nicht wirklich gelingen, also wechselt der Erzähler die Richtung: aus der Wiedervereinigung wird eine Verdoppelung. Der Transvestit macht beide Geschlechter irreal, er ist die renovierte Einheit und Ganzheit, die vor der Spaltung in Männliches und Weibliches existierte. […] Der Diskurs über den Homosexuellen hat immer dafür gesorgt, dass die Kategorien recht behielten. […] Heterosexuelle Literaturwissenschaftler haben den schwulen Helden entsprechend häufig als Topos der Dekadenz interpretiert: Karikatur der Frau, weibische Erscheinung. Für den Schwulen ist er die Karikatur des Mannes […]“ (Linck, 1993, S. 317–318). https://doi.org/10.1515/9783110799965-019

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ren imaginäre Figuren der realen Möglichkeit. […] Sie waren noch nicht die entscheidende neue Figur der Wünsche“ (ebd. 315). Ziel der Maskierung war es daher niemals, die Frau zu repräsentieren – dies sei, so Sarduy, nicht der Zweck des Transvestismus –, sondern die Maskierung selbst zu performieren: die Möglichkeit der verschiedenen Rollenspiele, der Maskenspiele und die Befreiung aus moralisch festgelegten Rollen.114 Die dritte Person dient dann als Übermalung der Realität; eine transvestierte Schreibart, die den Möglichkeitsraum zur Veränderung von Josefs Leben eröffnet. Dieser Prozess lässt sich eindeutig mit jenem von Sarduys simulación vergleichen. Das Schreiben Winklers zeigt in der letzten Episode von Das wilde Kärnten das „Werkstattprotokoll“ seines ganzen Schreibens – als Übermalung der Realität, um sich gerade als Homosexueller von seiner Vergangenheit zu befreien: „Erst der Transvestit entspricht der erzählerischen Strategie und dem Vorsatz, das Kind, das man war, zu ermorden“ (ebd. 322). Lincks Begriff für diesen Prozess ist jener der Irrealisierung bzw. das Irrealmachen des realen Geschlechtes115 – in der Befreiung durch das Imaginäre steckt das ganze Projekt Winklers. Ist es nicht gerade das, was im Zentrum von Jean Genets Notre-Dame-des-Fleurs (1951) geschieht? Aus Genets Roman lässt sich ein Begriff der „Geste“ (manchmal im Begriff der „Pose“ enthalten)116 herausarbeiten, der bei der Lektüre der neobarocken Maskierungen im Werk Winklers und Vallejos als ein Schlüssel dienen kann. Aus der vergleichenden Lektüre mit Genet, einem Autor, der auf das Werk beider Autoren großen Ein-

|| 114 Ganz anders liest Ernst Fischer die Figur Menschikows: „Seine Überführung in die Kunstfigur eines Transvestiten – ein erzählsymbolischer Akt der Selbstdistanzierung – zeigt gleichsam von außen den Prozess der gleichgeschlechtlichen Sexualisierung“ (1999, S. 482). Ganz im Gegenteil einer „Selbstdistanzierung“ erforscht das Schreiben Winklers die Logik einer Identitätskonstitution mitten im Maskenspiel der Gesellschaft: Erst im Transvestit-Werden erreicht der Ich-Erzähler seine anvisierte Transformation. Fischer scheint in seinem Kommentar die Unterscheidung zwischen Sexualität und Gender nicht zu beachten; womöglich liegt darin der Grund seiner m.E. Fehleinschätzung des Zweckes der dritten Person. 115 Vgl. Linck, 1993, S. 319. 116 Sylvia Molloy widmet der Thematik der Pose als queer-ästhetischem und -politischem Begriff ihren Artikel „The Politics of Posing“, in dem sie direkt zum Thema der Simulation, nicht als bloße Nachahmung oder Imitation, hinführt: „The faggot, one might argue, does not pretend to be what he is not […] but what in a sense he is – effeminacy, afeminamiento, the exhibition of the feminine. Posing, in this case, is not a compensatory gesture […]; it is a way of highlighting a performance, rendering it more visible. […] Emptied out of meaning, emptied out of bodies, those Latin American poses hang in the closet of representation, not to mention the closet of criticism. It is time to return to them, if only ephemerally, the dashing visibility they once had“ (1998, S. 153–158). Molloy hebt den Begriff der Pose in seiner politischen Wirksamkeit hervor, was gerade hier anhand von Genets Roman dargelegt wird.

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fluss ausübte, versuche ich, Sarduys Konzeptualisierung des Neobarocks zu versinnbildlichen. Die Ausgangslage des Romans Notre-Dames-des-Fleurs ist eine Verdoppelung: Der Ich-Erzähler des Buches des im Gefängnis sitzenden Jean Genet ist selbst ein Häftling.117 Der Häftling Jean erzählt aus seiner Zelle eine Geschichte verschiedener „Tunten“ („tantes“), die er bei der Betrachtung einer Collage an der Wand konstruiert – eine Collage, die er aus verschiedenen Büchern entnommenen Bildern angefertigt hat. Dass die Erzählung von Transvestiten bzw. Tunten handelt, ist bedeutsam: Das explizite Interesse Genets für Außenseiter entspricht dem punto de vista desorbitado Sarduys – eine Außenseiterperspektive, die er selbst in Journal du voleur (1949) als Dieb einnimmt oder in Querelle de Brest (1953) die Mörder-Matrosen einnehmen lässt.118 Andererseits wird diese Figur der Tunte auch als Teil einer barocken Ästhetik wahrgenommen. Nathalie Fredette hat Notre-Dame-des-Fleurs in ihrer Analyse des Barocken im Werk Genets bereits eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt; dabei betont sie die Figur Divines, eine der verschiedenen Tunten im Roman – jene Figur „dont tous les gestes excessifs, garant de son propre trouble, bouleversent encore son entourage“ (2001, S. 31). Genau in diesem Gestischen lässt sich die neobarocke Strategie der simulación wiederfinden und eine gewisse Vorliebe für die „ligne courbe“ (ebd. 31) des Transvestiten nachweisen.119

|| 117 Der Grund für den Bezug auf Jean Genet liegt auf der Hand: Es gibt kaum einen anderen Autor, der einen so markanten Einfluss auf das Werk Winklers ausgeübt hat. Franz Haas hebt dies hervor, indem er vor allem die Rolle Genets als Paradigma der ersten Kristallisierung einer schwulen Stimme in der Literatur betont: „Infine arrivò Genet, il mostruoso prodigio, il piccolo delinquente e grande autore, il futuro parametro per tutti i poeti che cantano la propria diversità. Josef Winkler […] legge Jean Genet per la prima volta all’età di ventidue anni […]. È il suo big-bang letterario. […] Più tardi giungono altri santi, Oscar Wilde, Pierpaolo Pasolini, Hubert Fichte: nessuno però sarà un modello così immediato come quel francese osceno e poetico“ (2000, S. 188) / „Schließlich kam Genet, das Wundermonster, der kleine Verbrecher und großer Autor, der künftige Parameter für all jene Dichter, die ihre eigene Diversität besingen. Josef Winkler […] liest zum ersten Mal Jean Genet im Alter von zweiundzwanzig Jahren […]. Es ist sein literarischer Bing-Bang. […] Später kamen andere Heilige hinzu, Oscar Wilde, Pierpaolo Pasolini, Hubert Fichte: Keiner von diesen wird jedoch ein so unmittelbares Vorbild sein wie jener obszöne und poetische Franzose“ (meine Übersetzung). 118 In Notre-Dame-des-Fleurs findet sich eine explizite Reflexion, die die verschiedenen Figuren des Häftlings, Schwulen und Matrosen zusammenbringt (Genet, [1951] 1998, S. 240). 119 Fredette liest somit, à la Sarduy und mit explizitem Bezug auf den kubanischen Autor, eine queere mit einer barocken Ästhetik zusammen: „L’attrait pour la ligne courbe, qui rejoint cet excès caractérisant le style ‘folle‘ ou la sensibilité dite ‘camp‘, révèle ici un désir de stylisation déjà exprimé dans le baroque et dans l’art nouveau […]“ (2001, S. 31–32).

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Die Erzählung im Roman Genets wird sich auf die Figuren Culafroy und Divine konzentrieren, die in der Imagination des Häftlings an Kontur gewinnen: „Niemand weiß, ob ich hier rauskomme – und falls ich rauskomme, wann das sein wird. / Mit Hilfe meiner unbekannten Geliebten werde ich also eine Geschichte schreiben“ ([1951] 1998, S. 12). Der Häftling befreit sich in seiner Imagination von seiner eigenen Lage, um sich im Gefängnis einen Raum der Freiheit zu schaffen, indem er die Realität übermalt: Auch ihre Köpfe und Beine [der anderen Gefangenen] will ich mit meinen Freunden an der Wand vereinen, um damit dieser Kindergeschichte eine Gestalt zu geben. Und um auf meine Weise und zur Verzauberung meiner Zelle die Geschichte von Divine, die ich so wenig kannte, die Geschichte von Notre-Dame und gewiß auch meine eigene Geschichte neu zu schreiben. (ebd. 13)

In der dritten Person wird eine Transvestierung des Ich-Erzählers vollzogen, die bereits in der fiktionalen Figur Jeans zu einer doppelten Verdoppelung führt. Die Vorliebe für die Veränderung des Realen durch Schminke und Verkleidung ist ein wesentlicher Bestandteil der Ästhetik des Transvestismus – eine Ästhetik der Pose, des artificio und des Simulierens, die einer religiösen Ästhetik des Rituals nahesteht, nämlich in der Zusammenfügung des Unterschiedlichen (männlich-weiblich, arm-reich, göttlich-profan usw.): Notre-Dame, in seinem blaßblauen Taftkleid mit der weißen Bordüre aus Valenciennesspitze, war nicht nur er selbst, er war er selbst und seine Ergänzung. Ich bin vernarrt in Transvestiten. Die Phantasiegeliebten meiner Häftlingsnächte sind manchmal ein Prinz – aber ich zwinge ihn, die Lumpen eines Bettlers zu tragen – und manchmal ein Strolch, dem ich königliche Gewänder leihe. […] Ich liebe den Betrug. (ebd. 209)

Die Ästhetik des Transvestismus als Maskerade, Betrugskunst zur Befreiung aus einer stabilen, strengen Ordnung der Gesellschaft wird explizit bei Genet gefeiert. Dafür eignet sich der Transvestit eine Ästhetik der Macht, des religiösen Ornaments an, um aus der aufgezwungenen Hölle in den imaginären Himmel zu steigen und somit die Differenz zwischen dem Diesseits und dem Jenseits aufzulösen: „Lange habe ich geglaubt, ein dichterisches Werk gestalte Konflikte: es setzt sie außer Kraft“ (ebd. 242). Dies ist die tatsächliche Strategie der Perversion des Moralischen, die Geir Uvsløkk in seiner Studie zu den Perversionsarten im Werk Genets hervorhebt: „Car il y a toujours chez Genet un deuxième mouvement, une deuxième stratégie, plus subtile et plus difficile à déceler, qui consiste en la dissolution […] du système binaire établi“ (2011, S. 27). Es ist die ambivalente queere Religionskritik, die zwischen Himmel und Hölle die

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Transzendenz zerstören möchte, nämlich in der Zusammenfügung der Dichotomien. Die Moral als Unterscheidung wird im ‚schwulen Heiligtum‘ annulliert. Bei zahlreichen Bezügen auf die Tunten bzw. den Transvestiten in Genets Buch werden Vergleiche zu religiös-katholischen Bildern gezogen, die dem Begriff der Tunte somit eine gewisse ‚schwule Heiligkeit‘ verleihen: „Divine starb gestern in einer Lache von so rotem erbrochenen Blut […] – so wie ein Jesus auf den vergoldeten Schanker deutet, in dem sein Geheiligtes Herz brennt. Das war die göttliche Seite ihres Todes. […] Divine starb als Heilige und ermordet (durch die Schwindsucht)“ ([1951] 1998, S. 13); „Mimosa nimmt das Photo [von Notre Dame des Fleurs], legt es auf ihre ausgestreckte Zunge, verschluckt es. ‚Ich bete sie an, deine Notre Dame. Ich verschlinge ihren Leib‘“ (ebd. 189); „Der Dorfpfarrer hörte um sich herum den Namen von Notre-Dame-des-Fleurs schwirren und – ohne von der Diözese dazu ermuntert zu sein – forderte eines Sonntags von der Kanzel herab zu Gebeten auf und empfahl diesen neuen Kult der besonderen Andacht der Gläubigen. […] Es fanden noch andere Wunder statt, aber ich habe keine Zeit, die zu berichten“ (ebd. 260). Die Tatsache, dass es das Weibliche ist, was bei Genet sakralisiert wird, deutet nicht nur auf die Bedeutung der Jungfrau Maria in der katholischen Kunst, sondern degradiert zugleich das Anbeten des Heiligen als männlich:120 Das Frau-Werden wird explizit als religiöse Einweihung und gleichzeitig als poetisches Mittel dargestellt.121 Es ist das Poetische der Imagination, ein Willensakt des Werdens: Immer wartete Culafroy darauf, in ihren Zweigen eine wundertätige Mutter Gottes zu entdecken (aus eingefärbtem Gips, damit das Wunder vollständig wäre). Er brauchte diese Hoffnung, um die Natur zu ertragen. Hassenswerte Natur, unpoetisch, gefräßig, alles Geistige verschlingend! Poesie ist eine Vision der Welt, die man gewinnt durch eine manchmal erschöpfende Anstrengung des angespannten Willens. Poesie ist ein Willensakt – keine Selbstaufgabe, kein freier, kostenloser Eintritt durch die Sinne […]. (ebd. 214)

|| 120 Die Dissertation Giovana Suárez Ortiz analysiert gerade die Aneignung des Marianismo durch die Frauenbewegungen in Kolumbien, um somit auf ambivalente Weise eine Emanzipation zu vollziehen: Als Unterdrückungsdiskurs ermöglicht der Marianismo zugleich eine Möglichkeit der Hervorhebung des Weiblichen im herrschenden, sexistischen, katholischen Diskurs (Suárez Ortiz 2020). 121 „Und alle ‚weiblichen‘ Urteile, die sie fällte, waren in Wirklichkeit poetische Schlüsse. Also war Divine nur dort echt. Es wäre interessant zu wissen, was Frauen in Divines Vorstellung und vor allem in ihrem Leben bedeuteten. Gewiß, sie war keine Frau […]; sie war es nur in Bezug auf die Unterwerfung unter den schönen Mann, der sie beherrschte, und für Ernestine, die ihre Mutter – und ebenfalls keine Frau war“ (Genet, [1951] 1998, S. 213).

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Dieser Willensakt macht die Kunst des Transvestiten aus, die Vorliebe für das Künstliche und Exzessive, die das ‚Natürliche‘ überwindet: der Neobarock. Das Wunderbare der katholischen Kunst und die Vorliebe für Mysterien nehmen an diesem Verständnis des Poetischen teil. Die Ästhetik des Transvestismus eignet sich das Ornamentale und die Repräsentationsmacht der Ikonographie an und unterzieht somit ihre Macht einer Kritik – die Macht wird als Folge des Phänomens des Spektakulären verstanden und, wenn Culafroy zur Tunte Divine wird, geschieht dies in einer Art Initiation in der Nachahmung heiliger und wirkungsmächtiger Posen: Der Adel ist glanzvoll. […] Die Titel sind heilig. Das Heilige umgibt uns, versklavt uns. Es ist die Unterwerfung des Fleisches unter das Fleisch. Die Kirche ist heilig. Ihre langsamen Rituale, beschwert von Gold, wie spanische Galeonen, von antiker Bedeutung, von Vergeistigung weit entfernt, verleihen ihr irdische Herrschaft – wie die der Schönheit und die des Adels. […] Er [der Adel] verzauberte das Kind [Culafroy]. (ebd. 177–178)

Somit bezieht sich der Erzähler explizit auf die zuvor besprochene Macht der Bilder, des Bildkultes. Kurz vor diesem Exkurs in die Vergangenheit Divines wird die wirkungsvolle Macht der Tunte hervorgehoben, die sie sich aus der Bilderwelt des Adels und der Kirche angeeignet hat: Plötzlich liegen in der Kneipe alle Tunten auf den Knien. Nur die Kerle richten sich steif auf. Da stößt Divine ihr kreischendes Kaskaden-Lachen aus. Alle horchen auf: ihr Signal. Aus dem geöffneten Mund […] schreit [sie] […]: „Scheiße, meine Damen, Königin bin ich trotzdem“. (ebd. 177)

Mit dem Lachen vollzieht sich eine befreiende Geste gegenüber den sakralen Bildern. Die Initiierung Culafroys als Divine wird als eine Art hagiographische Erzählung einer religiösen Berufung der Tunte dargestellt: Er neigte den Kopf tiefer, sein Schritt verlangsamte sich noch, er war ganz in dieser Haltung der Inbrunst, der Anrufung, und – dachte nicht – sprach vielmehr in einem gemurmelten Schrei: „Herr, ich bin einer deiner Auserwählten.“ Einige Schritte lang zog Gott ihn zu seinem Thron empor. (ebd. 183)

Aber erst am Ende des Romans, in der Erzählung über den Prozess gegen die Tunte Notre Dame des Fleurs, münden die Überlegungen zum schwulen Heiligtum – und die damit zusammenhängende Verformung des Heiligen in der Figur eines Mörders – in eine Überlagerung religiöser Ikonen: Es wird klar, dass sich im Begriff der Pose bzw. im Gestischen – in der Lust zur Geste („plaisir du ges-

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te“) – die Macht der Bilder enthüllt. Das Heilige ist nicht mehr transzendente oder tiefe Wahrheit, sondern reine Oberfläche, Spiel des Scheins: Es ist ein Augenblick des Glücks, ermöglicht durch die bewundernswerte Einfachheit, mit der Mignon das ist, was seine Pose ausdrückt, die somit das Wesen seines wahren Lebens zum Leben erweckt. […] Noch unter den kläglichsten Umständen [postures] erinnert sich Mignon daran, daß auch einer seiner Götter sich in solchen Umständen [postures] befunden hat […], und die Umstände [postures] werden geheiligt und dadurch mehr als erträglich. (ebd. 247)122

Die Heiligkeit als „posture“ oder „geste“ befreit das Sakrale von einer tieferen Bedeutung und feiert es somit auch als impostura: Divines Heiligtum. / Im Gegensatz zu den meisten Heiligen war sie sich ihrer bewußt. Das ist nicht erstaunlich, denn die Heiligkeit war ihr Blick auf Gott, höher noch, ihre Vereinigung mit ihm. […] Um ihre Position zu halten, machte sie, was ihr gut schien: Gesten. […] Manche ihrer Gesten drückten qualvolle Verzweiflung aus, andere waren ein schüchternes, schwankendes Suchen nach einem Weg; sie klammerte sich an die Erde, um nicht in den Himmel zu fahren. […] Keiner ahnte, was geschah, die tragischen Augenblicke, in denen Divine gegen Gott kämpfte. (ebd. 294)

Das ambivalente Schreiben über eine Heiligkeit drückt sich zwischen Immanenz und Transzendenz, gegen und mit Gott aus. Die Pose spiegelt den Anschein einer Heiligkeit wider, vollzieht aber an der Oberfläche eine Profanierung des Heiligen (durch den ständigen Bezug auf das Menschliche, die Misere und das Böse) und eine Sakralisierung des Profanen (durch die Ornamentik). Das Heilige wird bei Genet in der Pose123 der Armut und im Bösen, im Menschlichen, im Irdischen durch die Ornamentik zelebriert: „Ich war märchenhaft blank.“ / Da man das Wort „märchenhaft“ gebraucht, um ein Vermögen zu bezeichnen, schien es nicht unmöglich, es auch auf die Not anzuwenden. Dieses märchenhafte Blanksein hob Notre-Dame auf einen Wolkensockel: er war wunderbar glorreich wie der Körper Christi, der in den sonnigen Mittagshimmel aufstieg und dort einsam, reglos verweilte. (ebd. 272)

|| 122 „Posture“ steht im Original und bedeutet in diesem Fall „Haltung“ oder „Pose“ und nicht „Umstand“, wie die deutsche Ausgabe das Wort übersetzt. „Posture“ steht in enger Verbindung zu den Begriffen „geste“ und „pose“, die selbst in dem Absatz auftauchen. 123 „‚Ich habe einen Alten umgebracht.‘“ (Genet, [1951] 1998, S. 258).

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Der Prozess gegen Notre Dame wird mit jenem gegen Jesus Christus verglichen, unter ständiger Bezugnahme auf die Geschichte und katholische Ornamentik.124 Der Transvestismus drückt sich in der Erzählung in der dritten Person, in den verschiedenen Maskeraden aus: Es ist ein anderer Jean, hier, der mir seine Geschichte erzählt. Ich bin nicht mehr allein, aber dadurch bin ich mehr allein als je zuvor. Ich will sagen, daß die Einsamkeit des Gefängnisses mir die Freiheit gab, mit den hundert Jean Genets zu sein, […] denn ich bin wie Mignon. (ebd. 249)

Die ganze Erzählung als Fabulation oder Verzauberung der Gefängnisrealität zu einer „wunderbaren“ Welt wird am Ende des Romans als Befreiungstaktik des Erzählers Jean erklärt, und gleichzeitig als eine Strategie, die am Religiösen in Form einer Buße teilnimmt: Und wenn ich verurteilt werde? Dann ziehe ich die Kutte wieder an und das rosafarbene Gewand wird mir augenblicklich die mönchische Geste abverlangen: meine Hände in meinen Ärmeln verbergen… […]. Ich werde mich demütig und glorreich fühlen, und unter meinen Decken […] ersinne ich zur Verzauberung meiner Zelle für Mignon, Divine, NotreDame und Gabriel wundervolle neue Leben. (ebd. 305–306)

Dies entspricht der Lektüre Lincks von Winklers Verfahren der Maskierung und des Transvestismus von Josef in Jakow Menschikow. Die Literatur als Fabulation allgemein wird zum Transvestismus, indem sie als Reflexion, Widerspiegelung und gleichzeitig Befreiung eines Ichs agiert: Das barocke Spiel der Literatur wird zur Spiegelkammer verschiedenster gestisch generierter Gestalten.125 Jakow Menschikow ist nicht nur als Transvestit ein Außenseiter, ihre slawische Abstammung, ihre Fremdbestimmung in der Konstellation des Dorfes wird bereits im Namen markiert.126 Die Geschichte Menschikows beginnt mit einer

|| 124 Siehe Genet, [1951] 1998, S. 258ff. 125 „Dans ‘la chambre aux miroirs’, expression qui s’impose pour désigner le lieu même de l’œuvre, l’écrivain n’a de cesse de se réfléchir par le biais de différents gémeaux et alter ego“ (Fredette, 2001, S. 137). 126 Anna Babka sieht in dieser doppelten Kodierung Menschikows als sexuellen und kulturellen Außenseiters einen wesentlichen Aspekt von Winklers „queere[m] postkoloniale[m] Schreiben“ (2011, S. 419–420). Das Postkoloniale scheint mir nicht so evident in dieser Hinsicht und somit eine Überinterpretation des Textes zu sein. Dass die Frage rund um die kulturelle Fremdheit in Winklers Werk eine Rolle spielt, ist offensichtlich; dass diese Thematisierung der Fremdheit als Kolonialismus-Kritik zu deuten ist, legt der Text nicht eindeutig nahe.

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fragmentarischen Darstellung der grauenhaften Erlebnisse von Ausländer*innen am Ende des Zweiten Weltkrieges in Kärnten.127 Damit wird der politische Rahmen festgelegt, in den sich die Figur des Ich-Erzählers einschreiben wird. Diesen punto de vista desorbitado und die damit verbundene Befreiung von den Zwängen des Dorfes erreicht der Ich-Erzähler nicht bloß durch die Verqueerung seines Ichs, sondern durch sein Fremd-Werden, Ausländer-Werden. Die Außenperspektive, die für die kritische Stellungnahme zur Religionsgemeinschaft nötig zu sein scheint, ist bereits in der Gemeinschaft eingeschlossen: im Schwulen, im Ausländer, im Weiblichen, im ‚Perversen‘, im Transvestiten. Vom Josef zu Jakow transvestiert sich der Autor bereits im Namen – die Literatur, vor allem die autobiographische, wird somit zum Maskenspiel, zum Transvestismus:128 „Sprache und Schminke sind Imitations- und Initiationshandlungen der Tunten, die die Sprache und Gesten der Väter-Welt verraten“ (Linck, 1993, S. 320). In dieser Hinsicht bezieht sich Valentín Díaz nicht nur auf den Transvestiten als wichtigste Figur des Neobarocks im Sinne Sarduys, sondern auf das Autobiographische als ein wichtiges Moment dieser Ästhetik, indem das neobarocke Subjekt inmitten von Bildern und Zitaten verschiedener Ursprünge als verstreute Identität dargestellt wird.129 Somit wird das Ich denaturalisiert und einer Kritik unterzogen. In dieser Hinsicht sieht Dirk Linck im Transvestismus eine religionskritische Funktion, die in der Krise „natürlicher“ Formen zu verorten wäre: Das können nur Gott sehen und der Leser. Jakow schminkt sich unter dem Heiligenbild, im Angesicht des Heiligen. […] Weil der Transvestit kein Naturwesen ist, gehört die Transvestition, die ein säkularisierter Ritus ist, zu den Verteidigungen des Schwulen gegen den Tod. […] Nach dem Josef ganz im Imaginären gefallen ist, wird er als Jakow auch selbst eine imaginäre Gestalt; das Gemachte gewinnt den Vorrang vor dem unmöglichen ‚Selbst‘. (ebd. 320)

Das Religionskritische dieser Transvestitenfigur erreicht seinen Höhepunkt in der Gleichstellung des Transvestiten mit dem Opfer: „Das blasphemische Programm Winklers, als Homosexueller in die Passionsgeschichte einzutreten, findet seinen Hohepunkt in diesem Bild des geopferten Transvestiten, der das Dorf, also das väterliche Territorium, heimsucht“ (ebd. 323). Somit werden Jakow und die zwei jungen Selbstmörder in einem einzigen Bild zusammenge-

|| 127 Siehe MS 814ff. 128 Paul de Mans Überlegungen zur Autobiographik (1993) haben viel Resonanz in diesem Gedanken, vor allem in seiner Idee des Maskenspiels. 129 Vgl. Díaz, 2010, S. 52–53.

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dacht: dem der Opferung, die an der christlichen Passionsgeschichte teilnimmt. In diesem Sinne sind auch die Selbstmordfantasien Jakows zu verstehen,130 die wie eine Performance anmuten: Es sind die Pose und die Oberfläche des Selbstmords, die hier gemeint sind. Der Bezug auf Roman Polanskis Mieter, bevor Jakow in die Erzählung eintritt, ist daher von großer Bedeutung: Der spektakuläre Selbstmord eines Transvestiten wird mit der Passionsgeschichte Jesu in Verbindung gesetzt und bekommt damit eine subversive Bedeutung.131 Dabei steht die Form und die Art der Darstellung im Zentrum, wie in Genets Begriff der Pose, indem – Linck zufolge – Wort und Schminke zusammengedacht werden: „Wenn man von mir spricht, dann von meinem Leichnam und nicht von meiner Leiche. Leichnam ist das schönere Wort als Leiche“ (MS 841). Hier wird daher die Art und Weise des Bezugs, die Oberfläche der Bezeichnung hervorgehoben. Der Transvestismus wird sowohl bei Winkler als auch bei Vallejo und Genet als Strategie der Offenlegung des Oberflächenspektakels des Katholizismus benutzt: Bei Winkler anhand der Thematisierung der Maskerade und bei Vallejo im ständigen Bezug auf die Priester als Transvestiten. Der Transvestismus als Verkleidung impliziert eine Kritik an der Kirche und ihrer Kultbilder des Heiligen und entlarvt sie als Oberfläche: In Innertaichen bei Arriach, erzählte Nikolai, verkleidete sich ein Pfarrer als Teufel und erschreckte ungläubige Leute, die er beim Sonntagsgottesdienst vermißte. Einer von ihnen zog erschrocken ein Messer und sagte, Bist du der Teufel, bin ich hin, bist du nicht der Teufel, bist du hin, und stach den Priester nieder. (MS 820)

Die Oberfläche scheint das Heilige zu bestimmen, und mitten im Spiel der Maskerade wird dadurch der Tod und der Hass provoziert. Das Oberflächenspiel der Verkleidungen hat tödliche Folgen. Diese tödlichen Maskeraden werden aber auch im Text gefeiert, nämlich im Sinne eines Karnevals, bei dem das Andere zum Ausdruck kommen kann. Jakow Menschikow scheint daher von dieser opulenten Scheinhaftigkeit des Kirchlichen angezogen zu sein: „In einer Kirche möchte ich wohnen und schreiben, meine Manuskripte auf den Altar legen und nach getaner Arbeit in den Tabernakel geben“ (MS 828). Dabei vollzieht sich eine Sexualisierung der Religion, die explizit gefeiert wird:

|| 130 Siehe MS 833. 131 Siehe MS 588.

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Das war ein Zeichen, dachte er, als er das ausgestellte Bein des Jungen sah. Am Ufer der Drau, im Dickicht, breitete der Junge seine Hände aus, während der Transvestit seinen Rock auszog, vor seine Beine legte, wie vor dem Altar niederkniete und den Knopf am Hosenschlitz des Jungen aus der Öse löste. (MS 833)

Die Transvestierung Jakows wird in der Erzählung anhand dieses Zitates und des Endes der Trilogie („Ich danke Gott für die Fehler in seiner Schöpfung“ MS 849) religiös gerahmt. Kurz nach der eben zitierten Textstelle wird diese Transvestierung folgendermaßen beschrieben: Die Zehennägel rot streichen, besonders den einen, der kaputt ist! Die Fingernägel schwarz und die Lippen blau, das Gesicht weiß und das Haar brünett, die Ohrläppchen rot, das weiße Seidenkleid, den weißen und den schwarzen Nylonstrumpf anziehen, der schwarze ist mein Teufelsfuß. So geht er unzählige Male in seinem Zimmer auf und ab, schiebt den Vorhang einen Spalt zur Seite, blickt auf sein Heimatdorf, während die Zehenspitzen seines linken Fußes über das Schienbein seines rechten, mit schwarzem Nylon eingefaßten Fußes gleiten. (MS 829–830)

Der Blick Jakows auf sein ‚Heimatdorf‘ (Josef Winklers Heimatdorf) stellt die Identität des Transvestiten in Äquivalenz zum Ich-Erzähler und Autor. Diese Rückkehr in die Heimat, die jedoch mit der Distanzierung vom Haus Warwara Wassiljewnas, wo die Hauptfigur Jakow sich am Rande des Dorfes zurückzieht, und von der Transvestierung selbst einhergeht, ist das Thema eines späteren Romans Winklers, Die Verschleppung. Die Transvestierung führt in diesem Zitat zu einer Konfrontation mit dem Heimatdorf, und somit mit der Vergangenheit des Ich-Erzählers, und kann als Rückkehr und gleichzeitig Rückzug gelesen werden. Die Transvestierung durch Schminke und Worte wird als Befreiung durch die Konfrontation mit Kamering, der Vergangenheit und der Familie vollzogen. Dazu kommt die implizite Konfrontation mit der Religion: Mit schwarzen Nylonstrümpfen auf dem Bett sitzend cremte er seinen Körper mit einer moisturizing hand and body lotion unter dem Heiligenbild. Es war ihm, als balsamiere er sich bei lebendigem Leibe ein. […] Er betrachtete sein im Verhältnis zu seinem schmalen Leib breites, weibliches Becken und dachte daran, wie ihm seine Mutter, als er ein Kind war, mit der Hand auf den Hintern klopfte und sagte, Was du für einen Arsch hast. Als Kind schon faschte er mit einer Mullbinde seinen Unterleib ein. Er mumifizierte seine Männlichkeit. Er dachte daran, wie er oft […] einen Spiegel ins Wasser legte und seinen scheidenartigen After betrachtete. (MS 832)

Die „Mumifizierung der Männlichkeit“, die hier angesprochen wird, wird vor der Verwandlung in Jakow Menschikow erstmalig durch die Sexpuppe am An-

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fang von Muttersprache eingeführt. Die Muttersprache als Sprache der Mutter, aber auch als Sprache der Frauen, kommt erst in der tatsächlichen Transvestierung und in der Wendung zur dritten Person zum Ausdruck. Der Spiegel dient auch dazu, die Transvestierung zunächst auf seinen Körper zu projizieren: in der Betonung des weiblichen Leibes und in der Umkodierung des Anus als Scheide. Das Mumifizieren verbindet in einem Bild zwei entgegengesetzte Verfahren, die bei Winkler zusammengedacht werden: das Sterben und die opulente, effeminierte Todesverkleidung. Die Plastik, die in Sarduys Theorie des Neobarocks eine große Rolle spielt, ist ein wichtiges Thema in der Darstellung der Figur Jakows. Jakow wird als Bildhauer dargestellt, obwohl er explizit der Schriftsteller Josef ist: „Wie ein Bildhauer kommst du mir vor, sagte Warwara Wassiljewna, als sie sein monatelanges Klopfen auf der elektrischen Schreibmaschine hörte“ (MS 828). Die Selbstdarstellung als Künstler bzw. Künstlerin korreliert mit der Bedeutung des Bildlichen im neobarocken Schreiben, aber auch mit einer weiteren Transvestierung des autobiographischen Ichs in der Maske des Malers: „In den verbotenen Wäldern habe ich am liebsten gemalt“ (MS 840).132 Als Maler und Bildhauer, als Ausländer, als Halbweib bzw. Effeminierter, als Transvestit transvestiert in Muttersprache das schreibende Ich die Sprache selbst, um das Projekt der durch das Schreiben zu erlangenden Befreiung von der Vergangenheit in seinem Heimatdorf zu vollziehen. Dabei wird das Gestische, in seiner Metapher als Maske, zur Aneignungsstrategie der Scheinheiligkeit des Bildkultes in der katholischen Gemeinschaft. Die Figur des Transvestiten bei Fernando Vallejo spielt nicht eine so unmittelbar wichtige Rolle wie die Figur Jakows in Winklers Muttersprache, sie ist aber zugleich Teil der religionskritischen Strategien Vallejos. Der Transvestismus kommt zumindest in dreierlei Formen in der Pentalogie vor: erstens als Figur am Anfang von El fuego secreto, zweitens als Beleidigung der Priester und drittens als Teil der Erinnerung an die frühe Kindheit in Los días azules. Am Anfang von El fuego secreto ist die Rede von der Transvestitenfigur La Marquesa, die für den Ich-Erzähler „el personaje más extraordinario que había visto en

|| 132 Die Relevanz des Malers Chaim Soutine für das Werk Winklers, die erstmal in seinem Buch Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär oder Die Wutausbrüche der Engel (2011a, S. 100ff) kundgetan wird, ist mit dem Einfluss Genets auf Winkler zu vergleichen. Dem Malerischen wird somit im Rahmen des intermedialen und intertextuellen Gefüges im Werk Winklers ein wichtiger Platz eingeräumt. Das Leben des Außenseiters Soutine wird zum Bezugspunkt für das eigene Leben, indem der Maler zum Vorbild für eine religionskritische, selbstaffirmierende Einstellung wird.

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mi vida“ (FS 7)133 war. Diese Figur wird mit einer positiven Konnotation eingeführt, da sie dem Ich-Erzähler die wichtigere Figur Chucho Lopera (den besten Freund aus Jugendtagen) vorstellt. La Marquesa ist wie der Transvestit bei Winkler und Genet eine zum Tod bestimmte Figur, sie begeht – verliebt in einen jungen schönen Mann (Lucas) – schließlich Selbstmord: „En San Andrés, la isla, mientras Lucas soñaba en la arena a la deriva en la placidez de la tarde, abrumado por la belleza del amor y la fealdad de los números la Marquesa le puso fin a su cuento: se cortó las venas y se adentró al mar“ (FS 8)134. Diese Figur spielt keine weitere Rolle in der Erzählung und bleibt eine bloße Anekdote, stellt aber die Figur des Transvestiten in ein positives Licht, das im Schreiben Vallejos eher selten zu finden ist. Besonders interessant an dieser eher unwichtigen Figur in El fuego secreto ist die verformende, parodierende Zitierung einer anderen literarischen Figur der kolumbianischen Literaturgeschichte (La Marquesa de Yolombó [1928] von Tomás Carrasquilla), wie Diana Diaconu erkannt hat.135 Die in Carrasquillas Roman als zivilisierte Frau dargestellte Figur erfährt bei der verformenden Zitierung Vallejos in der Figur eines Transvestiten eine kritische Umkehrung: „A la ingenuidad y a la castidad encarnadas por la Marquesa de Carrasquilla, la Marquesa vallejiana les opone la sensualidad del amor carnal, desnudo del ropaje idealizante“ (Diaconu, 2010, s. 234)136. Eine Kritik der Oberfläche („ropaje idealizante“), der Pose der weiblichen Keuschheit in der Figur des Transvestiten wird gerade durch die Zitierung der bekannten Figur im Werk Vallejos vollzogen. Der Transvestismus wird bei Vallejo auch auf das Klerikale projiziert, indem er die Verkleidung der Priester als Transvestierung bezeichnet. Obwohl der Bezug auf die Priester als Transvestiten sein gesamtes Werk durchzieht, findet man in Los caminos a Roma eine explizite Beschreibung des Papstes als Transvestiten, die sehr gut als Beispiel dienen kann – der Ich-Erzähler beschreibt den sonntäglichen Auftritt des Papstes um 11 Uhr am Petersplatz folgendermaßen:

|| 133 „[…] die wunderbarste Figur, die ich in meinem Leben gesehen habe“ (meine Übersetzung). 134 „Auf San Andrés, der Insel, setzte La Marquesa, während Lucas sich auf dem Sand in der Gemütlichkeit des Nachmittags treiben ließ, bedrückt von der Schönheit der Liebe und der Hässlichkeit der Zahlen, ihrer Erzählung ein Ende: sie schnitt sich die Venen auf und ging ins Meer“ (meine Übersetzung). 135 Vgl. Diaconu, 2010, S. 233–234. 136 „Der von Carrasquillas Marquesa verkörperten Naivität und Keuschheit setzt Vallejos Marquesa die Sinnlichkeit der körperlichen Liebe, vom idealisierenden Gewand entkleidet, entgegen“ (meine Übersetzung).

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Y salió: por una ventanita del ala izquierda, o un balconcito de la derecha, ya no recuerdo, de blanco y púrpura, con bata y tiara y manto, travestido, la papisa Pabla o la papisa Juana, a bendecir al aire con la mano suelta, urbi et orbi. Alta, enorme, ante su servidor arrobado, se alzaba la cúpula de San Pedro coronando la basílica, la plaza, los jardines, los museos, las capillas, la ciudadela suprema que erigiera sobre la humildad de Cristo la soberbia de los papas. (CR 29–30)137

Die Transvestierung dient als Bild der Denunziation einer barocken Verformung der Lehre Jesu, die in Widerspruch zu dieser Opulenz steht. Die opulente Oberfläche transvestiert und verändert somit das Innere, die eigentliche Bescheidenheit Jesu als Gott der Armen. In der Hervorhebung des Transvestierens als Teil einer opulenten klerikalen Ästhetik wird die Kirche zugleich mit einer homosexuellen Bedeutung versehen, subvertiert und zelebriert. Die Auflistung der Gebäude, die mit der Kleidung des Papstes in Verbindung steht, verdeutlicht die barocke, exzessive Ästhetik des Klerikalen, die aber von Vallejo selbst in seinem Schreibstil reproduziert wird. Vallejo hebt somit die Pose der Priester und die Künstlichkeit des Klerikalen hervor und eignet sich diese an, um selbst im Text diese opulente Künstlichkeit im neobarocken Schreiben weiterzuführen. Dabei wird aber die Opulenz zugleich denunziert und die innere Paradoxie einer opulenten Institution für die Armen enthüllt. Die Verbindung zwischen Klerikern und Transvestiten findet man bereits am Anfang der Pentalogie Vallejos in der Episode, in der der Ich-Erzähler von seiner Transvestierung im Alter von zwei oder drei Jahren berichtet. Diese wird zunächst folgendermaßen beschrieben: De día, parado en la ventana mágica, empazaba mi show travesti. He aquí una descripción sucinta del personaje, subiendo de pies a cabeza: zapatos rojos de tacón alto en punta, medias caladas, falda rojo encendido, cinturón rojo, cartera roja, guantes rojos, collar rojo de perlas, sombrero de velo rojo. (DA 18)138

|| 137 „Und er kam heraus: durch ein Fensterchen am linken Rand oder einen kleinen Balkon am rechten Rand, ich kann mich nicht mehr erinnern, in Weiß und Purpur, mit Kittel, Tiara und Schleier, transvestiert, die Päpstin Paula oder die Päpstin Johanna, um die Luft mit der losen Hand zu segnen, urbi et orbi. Hoch, riesig, vor ihrem entzückten Diener, erhob sich die Kuppel des Petersdoms, die die Basilika, den Platz, die Gärten, die Museen, die Kapellen, die oberste Zitadelle krönt, die die Überheblichkeit der Päpste auf der Bescheidenheit Christi errichtet hatte“ (meine Übersetzung). 138 „Tagsüber, vor dem magischen Fenster stehend, begann meine Transvestit-Show. Hier eine knappe Beschreibung der Figur, von den Füßen hoch zum Kopf: rote, hohe Stöckelschu-

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Die rote Farbe spielt eine wichtige Rolle in der Darstellung und bezieht sich auf die Soutane der Kardinäle im Vatikan, die fast ausschließlich in Rot gehalten ist. Dass sich der Ich-Erzähler im Alter von zwei bis drei Jahren als Kardinal ‚transvestiert‘, ist als Verspottung des Klerikalen, aber auch als Zelebration dieser katholischen Ästhetik zu lesen. Eindeutig handelt es sich hier aber nicht um eine Soutane, sondern um die Kleidungsstücke seiner Mutter, die somit auch die Soutane verqueeren („tacón alto“, „collar rojo de perlas“). Die Beschreibung wird weitergeführt und die Show zu einem tatsächlichen Akt der Transgression: Y vestido, digo, con la ropa de mamá, corría a la ventana mágica. Los vendedores ambulantes que venden naranjas, los choferes que manejan camiones, las beatas que vuelven de misa […], todos en la calle todos me miraban incrédulos, pasmados de estupor. Cierro los ojos y vuelvo […] a mirar al niño vestido de rojo en su ventana. Y se esboza una tenue sonrisa en mi memoria por lo que el niño hace: se levanta la falda roja y orina despreocupado por entre las rejas de la ventana. (DA 19)139

Das Kind transvestiert sich und konfrontiert ein Publikum, das ungläubig („incrédulos“) das Bild eines verqueerten Kindes wahrnimmt. Das Unnatürliche, Künstliche des Transvestiten kommt plötzlich am „magischen Fenster“ zum Vorschein. Alles vollzieht sich in der Erzählung als Erinnerung, aber auch als Rettung jener Erinnerungen, die dem Ich-Erzähler bereits seine transgressive Macht vor Augen führen („una tenue sonrisa en mi memoria“), im Gedächtnis des urinierenden Transvestiten, der einen effeminierten Priester repräsentiert. Das wird aber erst danach klarer, wenn die Episode durch die Gleichsetzung des Transvestiten mit dem Priester als explizite Religionskritik gelesen werden kann. Im Dialog mit einem nicht zu identifizierenden Gesprächspartner wird diese eindeutige Referenz auf das Klerikale eingestreut: – Ajá, a los dos años vestido de mujer, y sin embargo dice usted que no fue travesti. – No doctor, ni tampoco fui cura.

|| he, gemusterte Strümpfe, feuerroter Rock, roter Gürtel, rote Handtasche, rote Handschuhe, rote Perlenkette, roter Schleierhut“ (meine Übersetzung). 139 „Und angezogen, ich meine, in Mamas Kleidung, rannte ich zum magischen Fenster. Die Straßenhändler, die Orangen verkaufen, die Fahrer, die Lastwagen fahren, die Betschwestern, die aus der Messe zurückkehren […], alle auf der Straße schauten mich ungläubig und fassungslos an. Ich schließe meine Augen und blicke wieder […] zu dem rot gekleideten Kind an seinem Fenster. Und ein sanftes Lächeln zeichnet sich in meinem Geiste ab, aufgrund dessen, was das Kind tut: es hebt seinen roten Rock hoch und uriniert unbekümmert durch die Gitterstäbe des Fensters“ (meine Übersetzung).

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Porque debo decir que con mis dos hermanos […], obsesionados por la magia del ritual, por la pompa del culto, vestidos con largas batas de baño que trocaba nuestra imaginación en sotanas, […] celebrábamos solemne misa de tres padres. […] – Travesti o cura, doctor, me obsesionaba la dignidad del culto. Mea culpa. Mi soberbia arrepentida confiesa ahora que cura para mí era otra cosa: lo que quería en realidad ser era obispo, de mitra y báculo, o cardenal o papa. (DA 19)140

Von der Beschreibung der Transvestierung geht die Erzählung zur Nachahmung der Messe über und stellt so die Verbindung zwischen Priester und Transvestit her. Die Antworten des Ich-Erzählers bleiben aber ambivalent: im Zitat wird dem ersten Satz („No doctor…“) genau mit dem letzten („Travesti o cura …“) widersprochen. Dann wird explizit den Grund der zwei Performances (der tatsächlichen Transvestierung und der Nachahmung der Messe) genannt – es geht um die „Würde des Kultes“ („la dignidad del culto“), um die Faszination für das Opulente, für die Pracht („pompa“) des katholischen Kultes und für die Künstlichkeit der „Magie“ dieser Show der Messe. Dabei entpuppt sich dieses Ritualhafte als Oberfläche, als Performance, in die das queere Kind sich einzuüben versucht. Die vorherige Anspielung auf das Kardinalgewand wird dann hier explizit gemacht („Lo que quería en realidad ser …“), indem der Ich-Erzähler den tatsächlichen Wunsch des Kindes nach höheren Stufen der Kirchenhierarchie betont. Dies verstärkt die Subversion klerikaler Ästhetik in der Transvestierung des queeren Kindes. Vallejo bezieht sich auf die klerikale Ästhetik, um sie als Spektakel der Oberfläche zu entlarven: Es geht ähnlich wie bei der Genet‘schen Pose um die Verkleidung als Element der Scheinheiligkeit des Katholizismus. Somit wird diese Ästhetik auf ambivalente Art gefeiert und auch kritisiert. Das Neobarocke drückt sich also am explizitesten in der Figur des Transvestiten bei Genet, Winkler und Vallejo aus. Es geht um die unterminierende Zitation einer katholischen Ästhetik, die in Form einer Verqueerung zu eigen gemacht wird, um diese dann in einem neuen Rahmen zu zelebrieren. Eine ähnliche Überlegung findet man in José Esteban Muñoz‘ Begriff des Queeren,

|| 140 „– Ach so, mit zwei Jahren als Frau verkleidet, und trotzdem sagen Sie, dass Sie kein Transvestit waren. / – Nein, Herr Doktor, und Priester war ich auch nicht. / Denn ich muss sagen, dass ich zusammen mit meinen beiden Brüdern, besessen von der Magie des Rituals und von der Pracht des Kultes, gekleidet in Bademänteln, die in unserer Vorstellung Soutanen waren, […] die heilige Messe der drei Priester feierte. […] / – Transvestit oder Priester, Herr Doktor, ich war von der Würde des Kultes besessen. / Mea culpa. Meine reuige Überheblichkeit gibt nun zu, dass ein Priester für mich etwas anderes war: Was ich wirklich sein wollte, war Bischof, mit Mitra und Stab, oder Kardinal oder Papst“ (meine Übersetzung).

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der die Möglichkeit einer Transformation des bereits Gegebenen beinhaltet, die sich mittels der Zitierung vollzieht und eine andere Realität sichtbar und möglich machen kann:141 Die Transformation ist die Verqueerung der Aneignung. Die Pose (Genet), die Maske (Winkler) und die Verkleidung (Vallejo) sind Aspekte einer Ästhetik der Oberfläche, die den Katholizismus und den Neobarock zusammenbringen. Diese Figur korreliert zugleich mit anderen Strategien neobarocken Schreibens bei Winkler und Vallejo, die mit dem Katholizismus in eine ambivalente Beziehung treten und im Folgenden dargelegt werden.

|| 141 Vgl. Muñoz, [2009] 2020, S. 41–42.

5 Josef Winklers Maskenfantasien: Evangelium, Tod, Gebet Der barocke Rahmen eines Aufbahrungszimmers im Bauernhaus läßt nichts zu wünschen übrig. Josef Winkler142

Die Lektüre des Werkes Winklers im Rahmen einer neobarocken Tradition ist nicht neu. Das Barockartige wurde bereits in Bezug auf sein am meisten zelebriertes Werk Natura morta journalistisch erwähnt.143 Dieses Buch führt in der Tat direkt ins Zentrum des barocken Imaginariums: Die wichtige Darstellung des Todes in Form der natura morta und die exzessive Beschreibung des Marktes in Rom deuten bereits auf einen barocken Stil hin.144 Eine Selbstzuschreibung zur barocken Tradition in Verbindung mit dem Tod findet man zudem in Das wilde Kärnten: „Mein barocker Todeseifer!“ (MK 104). Das ganze Werk Winklers in der Tradition des lateinamerikanischen Neobarocks zu lesen, ist aber ein neuer Vorschlag, der hier durch den Vergleich ermöglicht wird. In Winklers Werk wird das Barocke selbst direkt mit der Todesthematik in Verbindung gesetzt, und gerade bei dieser Thematisierung scheint die Einordnung des Werkes in die neobarocke Tradition einleuchtend: Die zentrale Thematik von Jakobs und Roberts (Selbst)Mord, die Verbindung zwischen Jugend und Tod exemplifizieren die barocke Exaltation des Gegensätzlichen, des Antithetischen. Das Leben im Dorf Kamering wird durch die Linse des Todes wahrgenommen, eine Technik des Chiaroscuros (das lichte Leben mitten vor dem dunklen Hintergrund des Todes), die die Hervorhebung des Unnatürlichen (der junge Tod) gegenüber der Natur ermöglicht: „Ich bin endlich dem Tod, der weit von mir entfernt ist, ganz nahe gekommen“ (MK 106). Dieses paradoxale Bild positioniert sich über der Realität, es hört auf, eine transparente Darstellung zu sein und behält gleichzeitig seinen Bezug auf die Realität. Dabei wird das Unsichtbare im Sichtbaren gezeigt bzw. kritisch offenbart.145 Die Behauptung und Anklage, dass junge Menschen in der katholischen Gemeinschaft bereits vor der Geburt zum Tode verurteilt werden, resultiert aus einem katholischen Wider-

|| 142 MS 600. 143 Siehe Ujma, 2002. 144 Severo Sarduy bezieht sich auch auf die Bedeutung des Todes in der neobarocken Tradition im Sinne eines „Bestattungsornaments des Barocks“ (1999a, S. 1236 / meine Übersetzung). 145 Die Simulation Sarduys wird bei Valentín Díaz als Darstellung des Unsichtbaren verstanden, indem das neobarocke Bild die Leere hinter den Bildern enthüllt (2010, S. 53–54). https://doi.org/10.1515/9783110799965-020

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spruch – Religion des Lebens und des Todes zu sein –, der hier in Winklers Bildern herausgearbeitet wird. Das barocke Bild verformt (Maskerade/Faltung) und enthüllt (Beleuchtung/Spannung) die Realität: Es ist die kritische Leistung des Bildes, das sich ambivalent zwischen Künstlichkeit und Realität bewegt. Dieses ambivalente Verhältnis zur Realität im neobarocken Bild äußert sich auch in der Beziehung Winklers zum Katholizismus selbst: Brigitte SchwensHarrant und Antonio Fian haben bereits diese Ambivalenz herausgearbeitet, die sich als rote Linie durch sein gesamtes Werk zieht.146 Sie bildet somit das Zentrum seiner Poetik, die in der vorliegenden Studie als Teil einer breiteren queeren Religionskritik verstanden wird.147 Dieses ambivalente Verhältnis führte in Winklers Werk zu klaren Verformungen der katholischen Ästhetik, die eng mit einer Verqueerung einhergehen. Wenn zuvor die eher harsche, blasphemische Bezugnahme Winklers auf den Katholizismus dargestellt wurde, werden hier nun jene Aspekte herausgearbeitet, die zeigen, inwiefern „bei Winkler eine umgepolte, aber immer noch wache Leidenschaft für Religion“ (Haas, 2004, S. 64) zu finden ist.148 In Das wilde Kärn-

|| 146 „Dieses Zitat macht jene Spannung deutlich, die sich durch Winklers Werke zieht: starke Faszination und starke Abneigung prägen nämlich sein Verhältnis zur katholischen Kirche“ (Schwens-Harrant, 2009, S. 71). Antonio Fian spricht zugleich folgendermaßen von dieser Ambivalenz: „[S]ie [die Literaturinteressierten] wissen, dass sie es zu tun haben mit einem Blasphemiker, der zugleich ein katholischer Dichter ist, einem Messias vom Dorfe, der zugleich sein eigener Evangelist ist, seine Verwandtschaft mit Vittorini und Faulkner ist ihnen ebenso wenig entgangen wie die mit Hamsun und Pavese […]. Geprägt von dem strengen, ländlichen Katholizismus seiner Kindheit, imitiert und variiert Winkler häufig katholische Sprechrituale, Gebete, Litaneien […], und die Sturmflut der Bilder, die er mit Hilfe dieser Sprache erzeugt, ist – ähnlich wie bei manchen Barockdichtern – die Nachtseite katholischen Prunks“ (2004, S. 33). 147 Im Gespräch rund um das Werk Hubert Fichtes beschreibt Winkler den Einfluss des Katholizismus in seinem Werk als zentral: „Ich bin in dieser katholischen Welt in Kärnten auf dem Land aufgewachsen. Acht Jahre lang war ich dort Ministrant. Ich kenne die katholischen Rituale in der Kirche genau. Und in diesem Buch von Hubert Fichte […] habe ich diese, meine katholische Welt auch […] wiedergefunden, und das hat mir damals […] doch sehr geholfen beim Entwerfen meiner eigenen Erlebnisse, meiner eigenen Bilder, meiner eigenen Welt aus diesem katholischen Bereich“ (Winkler in Fisch, 2005, S. 12). 148 In einem anderen Aufsatz bezieht sich Franz Haas auf die Ambivalenz bei Winkler, indem er sie nicht bloß im Rahmen einer „negativen Heimatliteratur“ deutet, sondern als eine Folge einer ästhetischen, religionsartigen Praxis – bzw. als Aneignung einer katholischen Ästhetik – versteht. Es geht um das artificio der neobarocken Ästhetik, die eine künstliche Natur als Rettung darzustellen versucht. Im folgenden Kommentar von Haas wird trotz fehlender Bezugnahme auf den Barock evident, dass diese Ästhetisierung dem Religiösen nahesteht: „Ma Josef Winkler non descrive solo ciò che viene taciuto nel regno della chiesa paesana, né parla soltanto di strazi vissuti e di corpi senza vita, delle crudeltà e delle ottusità del padre e della patria.

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ten wird die Kirche nicht nur negativ besetzt, sondern als wichtiger Ort der Erfahrung des jungen Ich-Erzählers dargestellt, der auch Geborgenheit und Faszination bedeutete.149 Richtung Realität und gleichzeitig jenseits davon – die zwei von Deleuze hervorgehobenen Vektoren des Barocks150 – wird im ersten Unterkapitel die Aneignung des katholischen Schreibens in Das wilde Kärnten thematisiert. Dann wird die Todesthematik als religiöses, aber auch queeres und vor allem neobarockes Problem dargestellt, um schließlich im letzten Unterkapitel die verschiedenen Formen katholischer Rhetorik in der Trilogie aufzeigen zu können, die dann in Winklers Werk ‚simuliert‘ werden.

|| Non si limita alla ‘negative Heimatliteratur’, a quella letteratura paesana d’impronta realistica e critica, un tempo così di moda in Austria. Il realismo crítico, nei suoi libri, è solo un effetto secundario. In origine la sua scrittura aveva uno scopo catartico e salvifico, serviva a fuggire le pene dell’anima. Presto però dev’essersi accorto che il risultato di questa fuga non era soltanto liberatorio, ma anche ’terribilmente bello‘, come l’angelo di Rilke: una vita paralela fatta di parole, un’opera d’arte di propria produzione che sostituisce il terreno perdutto“ (2000, S. 189)/ „Aber Winkler beschreibt nicht nur das, was in der Dorfkirche verschwiegen wurde, die erlebten Qualen und die leblosen Körper, die Grausamkeit und die Abgestumpftheit des Vaters und des Vaterlandes. Er beschränkt sich nicht auf die ‚negative Heimatliteratur‘, auf die realistisch und kritisch geprägte bäuerliche Literatur, die in Österreich Mode war. Der kritische Realismus in seinen Büchern ist nur ein sekundärer Effekt. Ursprünglich hatte sein Schreiben ein kathartisches und befreiendes Ziel, es diente zur Flucht vor den Seelenqualen. Schon bald aber muss er bemerkt haben, dass das Ergebnis dieser Flucht nicht nur befreiend, sondern auch ‚fürchterlich schön‘ war, wie Rilkes Engel: ein paralleles Leben aus Wörtern zu schaffen, ein selbsterschaffenes Kunstwerk, das den verlorenen Boden ersetzen soll“ (meine Übersetzung). 149 „Ich war in der Kirche, in der Sakristei, im Pfarrhof, nie wagte es der Vater, mich von diesen heiligen Stätten zu holen. Nur der Priester“ (AK 307–308). In Bezug auf die Faszination gibt es zahlreiche Äußerungen des Autors dazu in Interviews: „Nur der Muff in den Sakristeien interessiert mich“ (N. Mayer & Winkler, 2009). In diesem Fall wird die ambivalente Faszination evident. Es geht um ein ästhetisches, sinnliches Interesse am Religiösen, jedoch in Form eines muffigen Geruches. In einem anderen Interview bezieht sich Winkler auf seine Entscheidung, nach Rom zu fahren, um dort „im katholischen Milieu“ seinen Schreibstoff zu finden (vgl. Huber & Winkler, 2013). 150 Siehe Deleuze, [1988] 2000, S. 52.

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5.1 Evangelium zweier Schwuler: Tod und Heiligsprechung Im zweiten Band der Trilogie, in Der Ackermann aus Kärnten, legt der IchErzähler explizit die Grundmotivation des Textes dar: Über dem Dachfirst des Dorfknotenpunktes wechseln sich zur Mittagszeit, wenn die Sonne am höchsten steht, die pendelnden Füße Jesu Christi und die Füße der beiden Erhängten ab. Langsam senken sich die Füße und lasten auf den Köpfen aller Mitschuldigen, auf meinem auch. Es war nicht nur ihre Liebe, die bis in den Tod ging. Es war auch Haß dabei, der den Tod für sie schöner machte als das Leben. Ein Blick des Feindes, der eine Sense in der Hand hält, den rechten Fuß zu einem schneidigen Schritt ausgestreckt, läßt die beiden Menschen wie Strohhalme zusammenknicken. Langsam richten sie sich wieder auf, aber die Falte vom Knick bleibt. Die Religion des Hasses und der Liebe in diesem Dorf zwingt mich dazu, die beiden Selbstmörder in einer sprachlichen Zelebration heilig zu sprechen. (AK 234)

Kurz bevor die Erzählung Haus für Haus das kreuzförmige Dorf porträtieren wird, wird genau an dieser Stelle, am Knotenpunkt des Dorfes, das Zentrum nicht nur der Gemeinschaft (Jesus, der Kirche), sondern des Schreibens selbst entworfen: die Heiligsprechung der zwei schwulen jungen Selbstmörder. Die Verdoppelung Jesu in einer doppelten Figur der Selbstmörder („wechseln … ab“) ist das erste Verfahren der Simulation, das in der Gegenüberstellung, Abwechslung und Verschiebung der Bedeutung der Opferung Jesu realisiert wird: die Verformung und Entfaltung der Erzähllinie der Opferung Jesu in der Opferung der beiden schwulen Jungen. Das Opferungs-Narrativ wird übernommen und dadurch noch verkompliziert: Die Gemeinschaft hat wieder ein Opfer dargeboten, diesmal aber hat die katholische Gemeinschaft die Liebe selbst geopfert („lasten auf den Köpfen der Mitschuldigen, auf meinem auch“). Jesus wurde durch denselben Hass ans Kreuz gebracht, der gerade Jakob und Robert gemeinsam in den Selbstmord trieb, als Resultat der Verfolgung der (homosexuellen) Liebe. Jakob und Robert werden bildlich in Analogie zu Jesus dargestellt, und dies wird an einer anderen Stelle auch explizit: „Hinter den Laternenträgern gehen die […] Mädchen, die nun nicht mehr die Bräute Christi, sondern die Bräute des in eine Hostie verwandelten Leichnams Jakobs sind“ (MS 717). Es geht aber zugleich um eine queere Einschreibung des schwulen Opfers in den Mythos Jesu, um somit Teil des offiziellen Diskurses und in diesem sichtbar zu werden: Das christologische Programm eines Teils der homosexuellen Literatur interessiert mich, weil es eine Möglichkeit darstellt, homosexuelle Erfahrung zu inszenieren, weil es im kreativen Rückgriff auf ein kulturell bereitstehendes Bild diese Erfahrung sichtbar macht. (Linck, 1993, S. 325)

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Das Katholische wird zurück zu seinem Gründungsmythos geführt, nämlich zur Kreuzigung, die Jesus seinen jüdischen und römischen Gegnern vorwerfen würde: „Wenn euch die Welt hasst, so wisst, dass sie mich vor euch gehasst hat. […] Haben sie mich verfolgt, so werden sie euch auch verfolgen […]“ (Joh 15: 18 u. 20). Das Zitat stammt aus einem Kapitel im Johannesevangelium, betitelt „Der Hass der Welt“, das in dialektischer Weise dem Kapitel mit dem Titel „Das Gebot der Liebe“ folgt. In Winklers Text wird dieser Hass als Voraussetzung für die christliche Liebe verstanden, als schwarzer Untergrund für das Licht wie im Chiaroscuro. Die Widersprüchlichkeit dieser Struktur, in der das Katholische sich hier zu etablieren versucht, wird entlarvt: Das Bildhafte führt die helldunkle Realität der katholischen Gemeinschaft vor Augen.151 Es ist gerade die Religion („die Religion des Hasses und der Liebe in diesem Dorf zwingt mich dazu“), die die Opferung verursacht hat und gleichzeitig zur Heiligsprechung der Opferung auffordert. Mittels der Aneignung religiöser Rede – nämlich im Zeugnis vom Tod bzw. in der Form des Evangeliums – unterzieht Winkler hier die Religion selbst einer Kritik. Die Verschiebung des Bildes zerstört das Religiöse (in der Bloßlegung des Widerspruchs) und affirmiert es gleichzeitig (in der Zelebration der Liebe). Auf diese Weise stellt Winkler das Katholische auf die Probe: Indem er das Paradoxe an ihm enthüllt, entwirft er dabei die Phantasie einer Verkehrung der Rollen beim Jüngsten Gericht: „Will haben, daß Gott käme und sich endlich dem Menschengericht stellte“ (MS 601). Es werden jedoch nicht nur Robert und Jakob heiliggesprochen: Auch sich selbst setzt der Ich-Erzähler in eine Parallele zur Figur Jesu. Dies geschieht sowohl bei Winkler als auch bei Vallejo – beide versuchen aus der Perspektive eines autobiographischen Erzählers sich selbst als Jesusfiguren darzustellen. Der Ich-Erzähler in Muttersprache erinnert sich an die Osterfeier im Dorf, wo nur ich es war, der davon träumte, als Jesus verkleidet über die Dorfstraße zu gehen. […] [D]er Gurstl soll der Pilatus sein, er wird mich auspeitschen, er haßt und verachtet mich ohnehin […]. Ans Kreuz mit ihm, ruft das Volk des Dorfes, Ans Kreuz mit ihm, er hat der Oma vom Totenbett weg Geld gestohlen, um Winnetous Erben lesen zu können. (MS 549)

Die Fantasien, wie Jesus geopfert zu werden, werden auch im Schauspiel der Passionsgeschichte realisiert, das der Erzähler mit seinen Brüdern inszeniert, und damit werden die Oberflächen- und Wirklichkeitseffekte des Kultes und

|| 151 Dies zeigt sich zugleich im Johannesevangelium in der Behauptung Jesu, er sei das Licht, das in die Finsternis tritt: „Ich bin in die Welt gekommen als ein Licht, damit, wer an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe“ (Joh 12: 46).

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auch des Wortes offenbart. Die Simulation aktualisiert selbst die reale Tragödie, als Außenseiter geopfert werden zu müssen: „[U]nd wieder glaube ich das Aufzucken der Peitsche zu spüren, aber es war nicht die Peitsche, die über meinen Nacken zuckte, es waren die Worte, Ans Kreuz mit ihm, ans Kreuz mit ihm, aus meinem eigenen Kindermund“ (MS 694). Später in der Erzählung taucht ein ähnlicher Wunsch auf, der direkt auf die unten thematisierte Tradition der Imitatio Christi hindeutet: „Habe die Hoffnung, daß man mich auf den Golgathahügel hinaufführt und daß das Volk des Dorfes mir herschreitet und im Chor, Ans Kreuz mit ihm, ans Kreuz mit ihm, ruft“ (MS 692–693). Die auffällige Wiederholung des Rufes des Volkes („Ans Kreuz mit ihm!“) hebt die Wirkungsmacht dieses Sprechaktes hervor, in dem die ganze Ausgangssituation enthalten ist: Obwohl Jakob und Robert nicht explizit geopfert bzw. gekreuzigt wurden, ist es das Ziel des Schreibens Winklers, die implizite Verurteilung durch die homophobe Gesellschaft, ja ihren Mord, vor Augen zu führen. Dafür dient die Passion Jesu als Folie für die Denunziation. Das Evangelium als Heiligsprechung Jesu, als ‚frohe Botschaft‘ seiner Lehre, hebt das Opfer im Katholizismus auf – es ist die Schrift, die als Botschaft die Ermordung Jesu wiedergutmacht, indem sie Jesus ewiges und sakrales Leben verleiht. Bei Winkler wird die Heiligsprechung nicht nur als Sicherung des Respekts vor den Ermordeten, sondern auch als Befreiung im Schreiben selbst – durch die Unterminierung des Katholizismus – vollzogen. Dirk Linck sieht in der Opferung Jesu auch Winklers Verständnis vom Schreiben als Befreiung seines Selbst repräsentiert: „Wer sich opfert, erhält als Gegengabe Respekt und imaginäre Dauer. Dahinter steht bei Winkler immer das Vorbild Christi. SelbstOpfer im Text und/oder durch Zerstörung des Leibes […]“ (1993, S. 324). Dies findet man explizit im folgenden Zitat: „Mit jedem Satz kommt er einen Schritt näher. Ich werde für diesen Menschen sterben, damit mein Leben in Erfüllung gehen kann“ (MK 130). Es ist dann gerade durch die Schrift bzw. durch die Literatur, dass das Leben an Kontur gewinnt – die Literatur als Überwindung des Todes, als Überlebensstrategie, als Verewigung des Lebens, wie im Falle der ‚frohen Botschaft‘ Jesu. Den Verweis auf Jesus findet man bereits im Titel Menschenkind (Jesus bezeichnet sich selbst im Neuen Testament als „Menschensohn“).152 Als Sohn der

|| 152 Der Begriff wird bei Johannes mit dem vom Himmel Herabgekommenen (=Jesus) identifiziert (Joh 3:13) und dann Jesus selbst in den Mund gelegt, als eine Form der Selbsterklärung (Joh 8:28 u 9:36–38).

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Menschheit mangelt es Jesus eigentlich an einer Familie153 und indem der autobiographische Ich-Erzähler sich mit ihm identifziert, entledigt er sich einer Genealogie. Dieser Aspekt wird von Dirk Linck direkt mit der queeren Jesusfigur bei Winkler assoziiert: Der tiefste Grund für die Affinität Homosexueller zur Christusfigur scheint mir in ihrer wunderbaren Herkunft zu liegen. […] Christi Geschichte unterstreicht schon durch seine Jungfrauengeburt das Fehlen eines familiären Rückhalts, und Sepps Mutter trägt den Namen Maria […]. (1993, S. 326)

Für Linck geht es hier um eine Absage an die heteropatriarchale Ordnung, um einen Eingriff in die eigene Vergangenheit des autobiographischen IchErzählers und die Schöpfung eines neuen Lebens, eine Befreiung, um ein erneutes Outing vollziehen zu können: „Schwule Stilisierung versucht auch etwas Neues gegen den Austritt aus der Genealogie zu setzen: Sie opfert den alten Körper in Übergangsriten und stellt ein neues Selbst her“ (ebd. 327). Linck sieht jedoch an dieser Stelle nicht, dass diese „schwule Stilisierung“ Teil einer neobarocken Strategie ist. Die Selbststilisierung als Jesus bedeutet somit eine emanzipatorische Praxis der Aneignung religiösen Materials, die selbst eine Verschiebung im Sinne neobarocker Simulation impliziert: Zuerst blickt man aufs größte Kruzifix in der Altarmitte, schließt beim Herannahen des Priesters die Augenlider, empfängt ihn, den Leib Christi, und senkt andächtig den Kopf, während das Mehlblatt auf der Zunge liegt. Ich versuchte die Dornenkrone von seinem Kopf zu nehmen, um mein eigenes Haupt zu krönen. Anstatt der Vaterlippen legte ich meine Lippen auf den Mund des Gekreuzigten. Ich streckte die Hände, und aus meinen Fingerspitzen fuhren die Leiden Christi. (AK 324)

Die barocke Faltung wird in der Inflexion (Deleuze) von der Präsenzform in die Vergangenheitsform und von der dritten in die erste Person explizit. Die Textstelle zeigt, inwiefern sich die Vergangenheit in der Gegenwart als spontane Erinnerung für den Ich-Erzähler aktualisiert. Mit dem ‚Versuch‘, sich in die Geschichte Jesu einzuschreiben („ich versuchte“), eignet sich der Erzähler somit das Ritual der Eucharistie an, um es umzukehren, indem das Opfer Jesu und seine Geschichte jetzt in der Instanz des Ichs zu finden sind: Das Fleisch Jesu

|| 153 Dies wird deutlich in Mk 3: 31–35, wo Jesus den Familienbegriff umdeutet und all die Gläubigen als seine Familie anerkennt; oder in Lk 2: 48–49, wo Jesus dem göttlichen Vater einen Vorrang gegenüber seinen leiblichen Eltern einräumt.

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auf der Zunge wird zum eigenen Fleisch. Dies wird aber lustvoll beschrieben, als Folge eines Willens- oder Befreiungsaktes, der Passion, das Leiden Jesu am eigenen Leib miterleben zu wollen. Es geht um die Vermischung von Schmerz und Lust, die hier vorher bereits betont wurde: „Dein Körper, den ich esse, ist in mir aufgebahrt, solange ich lebe. Soll ich, wenn ich sterbe, zusehen, daß auch mich jemand ißt und wir beide, du in meinem und ich in seinem Körper weiterleben?“ (AK 445). Den Akzent legt Winkler jedoch auf die Parallelisierung des Leidens Jesu mit dem Leiden des Ich-Erzählers: „Das Kruzifix bekam auch Schläge, wenn ich unter dem Herrgottswinkel hockte und die Rute der Mutter auf mich eindrang. Sie war so lang, daß sie hin und wieder auch den Gekreuzigten traf. So bekamen wir beide Schläge, Jesus und ich“ (MS 590). Das Kruzifix wird personifiziert und somit wird die Macht der Bilder hervorgehoben, die jetzt auf den Körper des Ich-Erzählers projiziert werden: Seppl transvestiert sich somit als Jesus. Zusätzlich zur expliziten Selbststilisierung weist diese Szene auf eine lange Tradition religiöser Kunst und Praxis der Imitatio Christi hin:154 Der berühmteste Text dieser Tradition, Thomas von Kempens De Imitatione Christi (1418), versucht, das christliche Leben als Nachahmung (imitatio) des Lebens Jesu zu postulieren. Interessanterweise ist die Homoerotik, die in Winklers Textstelle zu finden ist, im Text Kempens bereits implizit.155 An diesen Aspekt des impliziten Homoerotischen der Imitatio Christi knüpft Winklers Text an: „Lieber Gott, ich habe dir oft gesagt, daß ich dich mehr liebe als meine Mutter und meinen Vater. Ich küßte doch deine hölzernen Füße und versuchte, das Blut deiner Wunden aus deinem Körper zu saugen, als müßte ich dich vom Gift einer Schlange befreien“ (AK 361–362). Das Spiegelbild des Erzählers in Jesus wird durch die Erotik ununterscheidbar von diesem und diese erotische Komponente im Diskurs des Jesuskultes tritt deutlich hervor. Es ist aber nicht nur die Zuneigung zum Körper Jesu, sondern die tatsächliche Identifikation mit ihm, die im Zentrum der Imitatio Christi praktiziert wird. Dies geschieht bei Winkler in ambivalenter Form:

|| 154 Aspetsberger versteht die Imitatio Christi in Winklers Werk als eine negative Form dieser Tradition (1993, S. 50). Hier wird stattdessen diese Bezugnahme als ambivalent verstanden und als neobarock gelesen. 155 Das 14. Kapitel des Buches trägt den Titel „Von der besonderen Sehnsucht einiger Christen nach dem Leib des Herrns“. In ihm ist die Rede von der „glühenden Empfindung“ einiger Gläubiger, die der Erzähler als „zuverlässige[n] Beweis deiner heiligen Gegenwart“ (von Kempen, [1418] 1967, S. 222) wahrnimmt.

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Ich will mein gekreuzigtes Ich nicht sehen, rufe ich im Mutterbauch, ich will nicht sehen, was aus mir werden wird […], Ich will diesen Leidenden dort vorne mit der Dornenkrone auf dem Haupt nicht sehen, schafft ihn mir aus den Augen, er trägt die Larve meines zukünftigen Gesichtes. (MS 696)

Die Lust, die sich in der Zuneigung und der Identifikation des Ich-Erzählers mit Jesus zeigt,156 vermischt sich an dieser Stelle auch mit Affekten des Grauens und der eindeutigen Unlust. Diese paradoxe Struktur der Angst, die das Objekt sowohl bejaht als auch ablehnt, liegt dem ganzen Text zugrunde und entspricht einer neobarocken Ästhetik des Helldunklen. Dies wird an einer anderen Stelle klar, in der die Parallelisierung mit der Passionsgeschichte mit einer homoerotischen Konnotation versehen wird: Noch während der Soldat mit der Lanze den Brustkorb Jesu aufbricht, reißt er im Traum meine Augen auf. Erschrocken blicke ich auf die Lanze in meiner Brust, ein Freund will sie herausziehen, aber bösartig blicke ich ihn an, sage, daß ich ihn liebe, umklammere mit der rechten Hand die Schneide der Lanze, spüre keine Schmerzen mehr, wie einen Fisch, der mit einer venezianischen Fischerhand aufgeschlitzt wird, öffnet die Schneide die Innenfläche meiner Hand […] und mit meiner letzten Kraft stoße ich die Schneide tiefer in die Brust. Wenn du mir das Leben rettest, um dich in mir zu lieben, laß mich bitte sterben, falte deine Hände und blick mir ins bleierne Gesicht. (MS 506–507)

Die Einfühlung in die Passionsgeschichte Jesu wird im Jesussymbol des Fisches weitergeführt und in der Geschichte einer homoerotischen Penetration resituiert. Diese Verformung und Verqueerung der Passionsgeschichte drückt die Ambivalenz des Schmerzens und der Lust aus, die in der schwulen Kunstgeschichte – der heilige Sebastian ist ein klares Beispiel dafür – immer wieder thematisiert wird. Das paradoxale Zusammenkommen von Liebe und Gewalt in einem einzigen Bild ist nicht nur Teil dieser schwulen Ästhetik, sondern entspricht der Absicht Winklers, ein Kernelement des Katholizismus innerhalb seines Diskurses zu kritisieren: das Weiterleben Jesu nach der Passion und die durch den Hass befeuerte Liebe. Das in vier Teile gegliederte Buch Kempens enthält einige Dialoge zwischen Gott („dem Herrn“) und „dem Menschen“, in denen eine Lehrer-LehrlingBeziehung dargestellt wird. Die Sehnsucht nach dem Leben Jesu ist der Motor

|| 156 „Habe die Hoffnung, dass ich mit den Kalbstricken meines Heimatdorfes gefesselt werde, daß die Lederpeitschen wie graue Blitze an meinen Schulterblättern aufzucken“ (MS 692).

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dieser Exerzitien, bei denen zugleich die Schmerzen und das Leiden Jesu mit Freude empfangen werden sollen: Lieber Herr Jesus Christus, voll Leiden war dein Leben und die Welt verachtete dich und dein Leben. Lehre mich, die Welt verachten und deinem Leben nachleben. […] Mein ganzes Leben sei nichts als eine Übung nach dem Muster deines Lebens; denn darin finde ich Heil und Heilung. […] Angenommen, angenommen habe ich das Kreuz aus deiner Hand; ich will es nun auch tragen bis zum Tode, wie du es auf meine Schulter gelegt hast. […] Wohlan, Brüder! […] Um Jesu willen haben wir das Kreuz auf unsere Schulter genommen; um Jesu willen wollen wir es auch tragen bis ans Ende. Der unser Führer ist und uns vorangeht, der wird auch unser Helfer sein. ([1418] 1967, S. 182–183)

Die selbstauferlegte Aufgabe, das Leben und Leiden Jesu als Vorbild für das eigene Leben zu nehmen, ist das Zentrum der Imitatio Christi. Winkler eignet sich diese Tradition an, indem er das Leben seines Ich-Erzählers dem Leben Jesu parallel setzt, aber auch mittels einer Erotisierung des Kultes. Somit produziert er den Effekt einer Simulation im neobarocken Sinne: mittels der Verqueerung des Kultes und der Relativierung der Opferung Jesu durch den Vergleich mit Jakob und Robert. Anders als im Text Kempens bringt der Ich-Erzähler bei Winkler zusätzlich eine Anklage vor, die zwei verschiedene Diskurse innerhalb des Katholizismus in Resonanz bringt: Die schon im Titel von Der Ackermann aus Kärnten angedeutete Referenz auf Johannes von Tepls Der Ackermann aus Böhmen deutet auf eine queere ‚Umschreibung‘ (Aspetsberger) bzw. Verformung christlicher Inhalte hin, wie bereits Robert Walter-Jochum betonte.157 Tepls Dialog, ausgehend von der Klage des Ackermanns über den Tod der geliebten Frau, wird im zweiten Band von Winklers Trilogie zum Rahmen einer Anklage gegen den Vater (dem Ackermann), deren Motivation der Tod der zwei Homosexuellen ist. Die Faszination für die Imitatio Christi wird hier, mithilfe der neobarocken Anhäufung verschiedener religiöser Intertexte, über die religiöse Form der Klage mit Tepls Text in Verbindung gebracht. Die Klage des Ackermanns bei Tepl weist viele Ähnlichkeiten zu der Form von Hiobs Klage auf, nur dass hier die angeklagte Instanz nicht Gott, sondern der Tod ist: In beiden Fällen handelt es sich um einen Dialog, in dem einerseits die Klage lyrisch gesteigert wird und andererseits die Antwort zur Besonnenheit aufruft. Es gibt drei Instanzen in Tepls Buch – der Ackermann, der Tod und Gott –, zwischen denen die Frage der Schuld am Tod der geliebten Frau des Acker-

|| 157 Vgl. hierzu die Fussnote in Walter-Jochum, 2015, S. 383.

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manns verhandelt wird. Der ganze Text kreist um die Ratlosigkeit des Ackermanns über den ethischen Grund des Todes seiner Geliebten.158 Die Dialog- und Klageform dieses Textes findet sich als zentrales Element im Frühwerk Winklers wieder. Sein Schreiben fragt in Analogie zu Tepls Text nach dem Warum des frühzeitigen Sterbens der zwei homosexuellen Jugendlichen und setzt diese in Bezug zur dichotomischen, helldunklen, barocken Bildstruktur: „Wußtest Du’s nicht, so wisse jetzt: Sobald ein Menschenkind geboren ist, sogleich hat es den Kontrakt besiegelt, daß es sterben muß“ (von Tepl, [1460] 2017, S. 43), sagt der Tod im mittelalterlichen Text. Diese selbstverständliche, jedoch paradoxe Aussage steht mit dem christlichen Versprechen des ewigen Lebens159 in Verbindung und wird in diesem Rahmen von Winkler bekräftigt: Der Widerspruch ist das Problem, das Winklers Schreiben voranbringt. In Der Ackermann aus Kärnten wechselt sich die Stimme des Ich-Erzählers mit jener des Vaters ab, die auf die Klage des Sohnes antwortet. Der Dialog wurde bereits in der Anfangspassage des Romans als Rahmen der ganzen Erzählung charakterisiert (siehe Unterkapitel 2.3.). Auch bei Winkler sind – mit einigen Modifizierungen – drei Instan-

|| 158 Obwohl Gott sich in Tepls Text nur gegen Ende zu Wort meldet, wird er durchgehend angesprochen, indem er des Todes der Frau beschuldigt wird ([1460] 2017, S. 27). Der Ackermann Tepls unterscheidet zwischen dem Tod und Gott und hütet sich davor, Gott zu beleidigen und somit Hiobs Fehler zu begehen: „Herr, in Deiner Schöpfung ist nichts Gräßlicheres, nichts Schrecklicheres, nichts Bitteres, nichts Ungerechteres als der Tod. Er trübt und stört Dir Deine ganze irdische Herrschaft. […] Richte, Herr, richte über den falschen Richter!“ (ebd. 31). Aber der Tod ist selbst Teil der göttlichen Ordnung und darin liegt der Fehler des Ackermanns: „Wir sind Gottes Hand, Herr Tod, ein gerechter, tätiger Schnitter; unsere Sense geht ihren Gang […]. […] Du fragst, woher wir wären. Wir sind vom irdischen Paradies. Da setzte uns Gott ein und nannte uns bei unserm rechten Namen, als er sagte: ‚Am Tag, da ihr von der Frucht eßt, werdet ihr den Tod erleiden‘“ (ebd. 33–35). Am Ende erklärt Gott, dass beide den Fehler begehen, ihre Endlichkeit zu verkennen: Alles sei in Gott inbegriffen und daher auch gerecht (ebd. 75). Ähnlich wie bei Hiob artikuliert sich jedoch die Klage des Ackermanns als eine Frage nach dem Warum und den letzten Gründen des Unglücks, die unvermeidbar bis zur letzten Instanz (Gott) führen und die mit dem Affekt des Zornes verbunden sind. Im Verweis auf den Zorn diskreditiert der Tod die Klage des Ackermanns: „Ein zorniger Mann kann über einen anderen nicht urteilen“ (ebd. 41). 159 Im Psalm 118:17 findet man bereits eine Andeutung, die dann in der Figur Jesu noch ausdrücklicher wird: „Ich werde nicht sterben, sondern leben und des Herrn Werke verkündigen“. Im Neuen Testament wird dieses ewige Leben durch Jesus versprochen: „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Joh 3:16); „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer glaubt, der hat das ewige Leben“ (Joh 6:47); „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am Jüngsten Tage auferwecken“ (Joh 6:54).

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zen beteiligt. Der Vater (der Ackermann) wendet sich an Gott, während der Sohn sich sowohl an Gott als auch an den Vater wendet: Vor dem Stalltor stehend, rief der Ackermann Gott an und flehte, laß nicht zu, daß der Hagel die Ernte zerstört, laß den Roggen, den Weizen und den Hafer weiterwachsen, den Kukuruz auch. […] Zwei große Überschwemmungen waren Strafe genug. Laß jetzt alles blühen und gedeihen, wir bitten dich darum. Aus dem Klofenster auf den Ackermann blickend bete ich flüsternd das Unglück an. […] Komm Blitz und schlage. Komm aus deinem Ufern, liebe, böse Mutter Drau, und laß die Felder zu einem einzigen grauen See werden […]. (AK 360)

Der Ton ist derselbe in Winklers und Tepls Text: Es geht um die Bitte, die Nachfrage und die Klage gegenüber einer übergeordneten Instanz. In dieser Passage werden jedoch zwei entgegengesetzte Bitten und Anflehungen parallel an verschiedenen Instanzen gerichtet: Der Ackermann spricht zu Gott, während der Sohn sich der Natur als weiblicher Instanz („böse Mutter Drau“) zuwendet. Diese Hinwendung zur Natur (hier in der personifizierten Form des Flusses) verändert leicht den Ton gegenüber Tepls und Kempens Texten, die sich allein an geistlich übergeordnete Instanzen wenden. Diese Verschiebung lässt sich auch mit der These einer Zoopoetik bei Winkler erklären, sie lässt sich aber zugleich als neobarocke Überschreibung der Quelltexte Tepls und Kempens verstehen. Die Vielstimmigkeit dieser Passage, die Anhäufung und Überlagerung der Sprache, deutet bereits auf einen gefalteten, barocken Stil hin: Was hier aber widergespiegelt und verformt wird, ist die Dreieckstruktur von Tepls Text. Der Sohn übernimmt nämlich in Winklers Text den Platz des Ackermanns und der Vater jenen des Todes: Verkleide den Vater Ackermann als Tod. Gib ihm die Sense, hörst du, er schmiede sie scharf, er wird ins tiefe grüne Gras ziehen, der Vater, mit der Sense, er ist mager, mein Vater, und hat ein knochiges Gesicht, er ist unberechenbar wie der Tod. […] Er ist alles in einem, Tier und Mensch zugleich. Er kann lieben und hassen. (AK 361)

Diesmal fleht der Ich-Erzähler Gott an und wendet sich, in umgekehrter Ordnung als bei Tepl, nicht gegen die Instanz des Todes, sondern versucht die Instanz des Todes, des Vaters, zu stärken. Die Klage vermischt sich paradoxerweise mit der Bitte und wird von dieser ununterscheidbar. In der Vermischung der – im Text Tepls gegensätzlichen – Figuren entlarvt Winkler die Ununterscheidbarkeit moralischer Positionierungen in der katholischen Kultur, und damit jener zwischen Täter und Opfer, genau wie im Falle Roberts und Jakobs: Zuerst waren die Christen Opfer im Fall der Kreuzigung Jesu und dann agieren sie als

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Täter in den Auswirkungen ihrer katholischen Ideologie. Der Vater wird zur Mischfigur: Kläger, Tod, Gebärender, Opfer und Täter. Die neobarocken, verzerrenden Widerspiegelungen des Prätextes von Tepl ermöglichen somit, eine tiefere Struktur des katholischen Diskurses freizulegen: seine grundlegende paradoxe Struktur von Leben und Tod, Hass und Liebe. Dies wird ausführlich in Tepls Text behandelt: „Alles irdische Glück muß zu Unglück werden. Unglück ist des Glückes Ende, der Freude Ende ist Trauer, nach Lust muß Unlust kommen, des Wollens Ende ist Widerwille“ ([1460] 2017, S. 25). Der katholische Diskurs des Todes ist voller Widersprüche und gerade seiner Position wird dann von der Instanz Gottes der Sieg im Dialogstreit zugesprochen. Winkler führt diese Widersprüchlichkeit des katholischen Diskurses weiter und entwirft daraus seine Bilder, um sie mittels der Reproduktion dieser Bilder in ihrer Paradoxie zu kritisieren. Der Streitdialog zwischen Vater und Sohn bei Winkler wird fortgeführt, indem die Stimmen alternierend den Ton der Klagetexte Tepls wiedergeben. Nur werden bei Winkler keine klaren Argumentationslinien vorgeführt und der Text, der an einer früheren Stelle Gott zelebrierte, zieht dann dieses Lob zurück: „Warum liebtest du den Gekreuzigten mehr als den Menschen. Wieviel Menschen wurden im Namen Christi umgebracht, mein Vater, heidnische Kinder in Chile im 17. Jahrhundert, nur um ein Beispiel zu erwähnen“ (AK 376). Die fehlende Argumentationslogik von Winklers Text spiegelt die dichotomische Struktur des katholischen Diskurses selbst wider, dessen Vorlage Tepls Text ist. Dies geschieht z.B., als die Stimme des Vaters Rechenschaft bezüglich der Anklage des Sohnes ablegt, indem er die Todes-Rolle auf den Sohn verschiebt: Der Tod, das ist dein Thema. Mein Thema ist das Leben, das Brot, die Milch und die Butter, der Kukuruz und das Getreide. […] Der Gedanke an den Tod ist es, der dich am Leben hält. […] Du bist der lebende, über den Tod schreibende Leichnam. […] Junge Vatermörder erotisieren dich. Im Krieg habe ich feindliche Soldaten getötet. […] Ich habe töten müssen. Hätte ich nicht getötet, wäre ich getötet worden. Du hast Judas geküßt und wolltest Jesus entkreuzigen. […] Der Haß hat uns vereinigt, die Liebe wird uns trennen. (AK 389–397)

Der Vater beschuldigt den Sohn, paradox zu handeln, obwohl er auch selbst seinen Diskurs mit Oxymora („Der Haß hat uns vereinigt, die Liebe wird uns trennen“) einleitet. Die durch die Dialogform ermöglichte Selbstreflexivität des Textes legt eine Strategie offen, nämlich im Text selbst den angeeigneten Diskurs des Katholizismus in seiner Bedeutung auszuloten. Dabei werden widersprüchliche Aussagen produziert, indem Täter und Opfer, Tod und Leben, Vater und Sohn vermischt werden. Dies steht im Zeichen der Maskerade des neobarocken Schreibens, die es ermöglicht, durch Simulation das Simulierte kritisch

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widerzuspiegeln; Neobarock ist auch die Vorliebe für helldunkle Bilder, die dem Barock selbst entstammt. Die Trilogie Winklers eignet sich einige katholische Schriftquellen an, um diese für die Autobiographie eines Außenseiters zu nutzen und dabei zu verqueeren und barockisieren. Sowohl das Evangelium als Bezugnahme auf das Leben Roberts, Jakobs und des autobiographischen Subjekts, die Tradition der Imitatio Christi als auch das berühmte mittelalterliche Buch Tepls dienen als Vorlagen, die dann in Winklers Schreiben entfaltet und verändert werden.

5.2 Todesfaszinosum Die neobarocke Unfassbarkeit äußert sich auch in einer exzessiven Detailliertheit der Bildlichkeit, die sich durch einen Prozess der Verdoppelung ergibt: „Duplicar la realidad de la imagen, llegando a veces hasta lo hipertrófico de la precisión, a la simulación milimétrica, o al despilfarro de los detalles […]“ (Sarduy, 1999c, S. 1287)160. Die exzessive Detailliertheit verleiht dem Bild eine gewisse Künstlichkeit, die das Bild von der Realität entfernt. Winkler verwendet in seinem Werk Bilder, die so detailliert dargestellt werden, dass die Realität künstlich und gleichzeitig transparent erscheint: In der Konfrontation und Koinzidenz zwischen Bild und Abbild wird, so Sarduy, die Realitätsabbildung zugunsten des Bildes abgeschafft.161 Die Bilder konstituieren und verändern die Realität durch die Lust des Abbildens selbst. So wird das Leblose (das Bild) gegenüber dem Leben (das reale Modell) hervorgehoben, und in diesem Sinne

|| 160 „Die Realität des Bildes duplizieren, um manchmal bis zum Hypertrophen der Präzision, zur millimetergenauen Simulation oder zur Verschwendung der Details zu gelangen […]“ (meine Übersetzung). 161 „La coincidencia o confrontación entre la copia y el modelo […] no siempre subraya el artificio de la duplicación para privilegiar así el elemento vivo de la pareja: también suele suceder que, al contrario, lo que ‘actúe‘, lo dotado de energía en ese par de idénticos formales y opuestos substanciales sea no el hombre, sino su símili, aun si esta energía no se explica más que en la simulación de la mirada“ (Sarduy, 1999c, S. 1289) / „Die Koinzidenz oder Konfrontation zwischen der Kopie und dem Modell […] unterstreicht nicht immer den Kunstgriff [artificio] der Verdoppelung, um so den lebendigen Teil des Paares zu privilegieren: Es kann auch passieren, dass stattdessen das, was ‚handelt‘, was in jenem Paar formal identischer und substantiell gegensätzlicher Elemente mit Energie aufgeladen ist, nicht der Mensch, sondern sein Simili ist, auch wenn diese Energie sich nur in der Simulation des Blickes erklären lässt“ (meine Übersetzung).

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kann man die Natura-Morta-Faszination Winklers verstehen.162 Es geht um den Tod als Verbildlichung der Realität, die Materialität des Bildes als Tod der tieferen Bedeutung als Referenz. Daher tendiert das neobarocke Schreiben zur exzessiven Verwendung von Adjektiven und Vergleichen in der Darstellung des Realen. Die Verdoppelung der Realität im Bild korreliert mit einer Symbolisierung der Realität, die die Semantik erweitert: Die Bedeutungen werden vervielfacht. Die Überfülle an Details eröffnet gleichzeitig verschiedene semantische Linien, die die Realität somit verkomplizieren: Der Priester kniet vor dem Altar, wie die Mutter vor ihrem toten Sohn kniet. Der Priester hantiert mit Kelch, Hostien und Wein und mischt Gebete, lateinisch und deutsch, dazwischen. Die Mutter hantiert mit den Füßen, Hüften und Lippen des Erhängten und schreit, wie der Hahn frühmorgens die Dorfleute zum Gebet und zur Arbeit mahnt. Der Priester atmet inmitten des Kerzen- und Weihrauchgeruches. Die Mutter spürt im Atem den verwesenden Leib ihres Kindes. Der Priester inspiziert die Askese der Statuen. Die Gläubigen folgen seinen Bewegungen am Altar. Kerzen flimmern und breiten den Totengeruch in den Seelen der Betenden aus. Die Mutter beobachtet ihre eigenen, hilfesuchenden Bewegungen mit den Augen des toten Jakob. Der Herrgott hat wieder ein Kruzifix ins Dorf geworfen. Dorfkinder wollen in die Mutterschöße zurück flüchten. (MK 122)

Die Parallelisierung zweier Bilder der Realität (die schreiende Mutter und der arbeitende Priester) geschieht durch sprachliche Wiederholungen (gleicher Satzbau mit dem beginnenden Subjekt, die Iteration der Verben und Substantive). Beide Bilder, die in der Aneinanderreihung zu einem einzigen Bild werden, werden detailliert dargestellt, wobei auch Vergleiche hergestellt werden, die neue semantische Linien ins Bild einfügen: Der Vergleich zwischen dem Schrei der Mutter und dem des Hahnes versinnbildlicht die Alltäglichkeit nicht nur des Gottesdienstes, sondern auch der Trauer um die toten Kinder im bäuerlichen Dorf. Die Trauer der Messe um den Tod Jesu – die Liturgie wiederholt das letzte

|| 162 „[I]nscripción, en lo vivo, de lo inerte. […] Gilbert and Georges han anulado al modelo […], lo han excluido de la representación pero como para in-corporarlo, para interiorizarlo físicamente convirtiéndolo en naturaleza, muerte casi insignificante que denuncian sin embargo la rigidez de los animales, la palidez de los rostros, enfermos de neón, la eficacia ramplona de los cuerpos, menos aptos para vivir que para exhibir el corte inglés de los trajes“ (Sarduy, 1999c, S. 1291) / „[E]inschreibung, in das Lebendige, des Leblosen. […] Gilbert und Georges haben das Modell annulliert […], sie haben es aus der Repräsentation ausgeschlossen, aber wie um es einzufügen [zu in-korporieren], um es physikalisch zu verinnerlichen, indem sie es in Natur verwandeln, ein fast bedeutungsloser Tod, den sie trotzdem anprangern, die Starrheit der Tiere, die Blässe der neonkranken Gesichter, die unfeine Effizienz der Körper, die unfähiger sind, zu leben, als den englischen Schnitt der Anzüge auszustellen“ (meine Übersetzung).

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Abendmahl, das eine Trauerveranstaltung war – wird in der deskriptiven Anhäufung mit dem Bild der den Tod Jakobs betrauernden Mutter in Verbindung gesetzt. Somit erlangt das Bild Winklers eine eigene Wirkungskraft, die sich von der Realität entfernt, obwohl das Beschriebene durch und durch simulierend auf diese Realität referiert. Das Thema des Todes bleibt als Bild im Bild dieser Szene konstitutiv und verkompliziert den Text auch noch weiter in seiner Semantik: Es geht um die leblosen Bilder der Kirche (die Statuen) und des Leichnams Jakobs (die Mutter wird von der Leiche, von den „Augen des toten Jakob“ beobachtet, die hier auch im Bild zu finden sind). Auch das Detail des „Totengeruchs“ verbindet die beiden Szenen im Bild: Der Geruch verbreitet sich wie der „Kerzenund Weihrauchgeruch“ der Messe, aber auch wie jener der Leiche Jakobs („verwesender Leib ihres Kindes“). Wenn man von der besonderen Bedeutung der Maske bei Winkler ausgeht, die Dirk Linck in seiner Dissertation herausgearbeitet hat, und von der politischen Bedeutsamkeit dieser Maske, die Thomas Macho in seiner Studie zum Gesicht als politischem Medium analysiert hat, ist der Stellenwert der Totenmaske in dieser Hinsicht nicht zu übersehen: Wenn ich abends durch die Stadt gehe, weiß niemand, daß an meiner nackten Brust mit vier roten Gazestreifen das lächelnde Gesicht der Totenmaske der Else Lasker-Schüler klebt. […] Ich öffne meinen Mantel, ziehe den Pullover hoch, knöpfe das Hemd auf, ziehe das Unterleibchen hoch und taste das lächelnde Gesicht dieser Totenmaske ab. Die Totenmaske zittert, da mein Herz schneller schlägt. Wenn man mich doch ins Krankenhaus brächte! […] Seit drei oder vier Monaten trage ich Totenmasken unter meiner Gesichtshaut. Die Totenmaske des Vaters eines Kunstmalers und ehemaligen Lehrers an der Handelsschule von mir probiere ich auf. […] Georg Rudesch ist Landschaftsmaler. Er liebt die Menschen, aber malt sie selten. Also gehe ich mit der Totenmaske seines Vaters durch die Landschaften, die er auf Ölbildern fixiert hat. Die Totenmaske schälte er, als ich ihn besuchte, aus einem knisternden Seidenpapier. Es war die erste wirkliche Totenmaske, die ich sah. […] Krumm die Nase, fast geschwollene Lippen, Stirnfalten, die von meinen Fingerspitzen ängstlich berührt wurden. Ich drehte sie um und blickte in die ausgebuchtete Rückseite. […] Mit einem Male verzogen sich die Gesichter aller Faschingslarven, die ich auf den Straßen und in den Schaufenstern gesehen hatte, in mir. Er hat seinen Vater geliebt […]. Vaterliebe! Welch ein Wort. […] Als ich in kindlicher Spielerei die Totenmaske seines Vaters wie eine Faschingslarve an mein Gesicht maß und hinter der Maske ein leises Kichern hören ließ, begann er zu weinen. Ich gab ihm die Totenmaske zurück […]. Ich blickte in sein bleich gewordenes Gesicht und sah seine Totenmaske. […] Ich bin seiner Menschlichkeit nicht gewachsen. Falls er vor mir sterben sollte, werde ich seine Totenmaske abnehmen. Falls ich vor ihm sterben sollte, wird er mein Gesicht einsalben und Gips drüberlöffeln. Ich sehe, wie er hinter mir steht, mein Kopf liegt in einer Schale, er hebt das Kinn an, um bequemer mit den Gesten einer Kosmetikerin seine Handinnenflächen über mein Gesicht zu streichen. […] Aus dem Spiegelbild meiner Eitelkeit trete ich und helfe dem Maler bei der Verschönerung meines Leichnams. (MS 490–493)

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Die Vielschichtigkeit der Bilder in dieser Passage wird nach dieser zitierten Stelle noch weiter verkompliziert, in Form einiger Abschweifungen zu Todesreflexionen, die über die Thematik der Totenmasken hinausführen. Diese Ästhetisierung des Todes wird hier explizit fortgeführt: Es handelt sich um die Oberfläche der Totenmaske, die eine affektive Wirksamkeit in der Gemeinschaft entfaltet („begann er zu weinen“). Thomas Macho spricht über die Funktion des Gesichtes und der Maske – die historisch nah beieinander liegen – als gemeinschaftsstiftende Elemente, die einen politischen und normierenden transzendentalen Bezug auf die Vorfahren herstellen und diese somit in die Gegenwart holen.163 Die Todesmaske als Abziehbild des Gesichtes erlangt somit eine wichtige diskursive Macht, die der Ich-Erzähler zu untergraben versucht. Die Vaterliebe als traditionsstiftende Instanz wird bereits im Schreiben Winklers in Frage gestellt, jedoch vom Landschaftsmaler Rudesch nicht mit kritischer Distanz betrachtet. Der Ich-Erzähler ist fasziniert von der Macht dieser toten Bilder, in der die ganze Problematik der konservativen Gesellschaft liegt; er versucht, sich diese Macht anzueignen bzw. an dieser Macht teilzuhaben, und wünscht sich dementsprechend die Herstellung einer eigenen Maske, die Linck zufolge im Schreiben selbst geschieht. Aus der Realität und dem Leben Bilder zu schöpfen, verbindet somit den Text mit der Totenmaskenbildnerei. Es geht um die Simulation (der Bezug auf das Schminken ist von großer Relevanz, da das dann am Ende des Romans in der Figur des Transvestiten verkörpert wird), bzw. darum, die neobarocke Verdoppelung des Realen, die Macht der Bilder hervorzuheben. Die Tatsache, dass Rudesch Maler ist, verweist auf diese Bildarbeit, die der IchErzähler selbst und später Jakow im Schreiben vollziehen. Wenn die Rede vom Tod des Realen im Bild ist, dann meint dies eine paradoxe Struktur: Es geht wie im Zitat um die Wirksamkeit der Bilder des Todes und das damit zusammenhängende paradoxe Weiterleben der Bilder. Diese Paradoxie kann man auch im Motiv des Stilllebens bei Winkler finden, das bereits im Bild des Selbstmords von Jakob und Robert impliziert ist: Stillleben und Natura morta als Begriffe enthalten bereits diese Paradoxie. In Winklers Text verortet sich diese Faszination für das Stillleben gerade im Bereich des Religiösen; es sind die Kruzifixe – ein Kruzifix bildet, wie bereits erwähnt, obendrein die Baustruktur des Dorfes –, die als wiederkehrendes Motiv die ganze Trilogie vereinheitlichen und die gerade diese paradoxe Verbindung zwischen Leben und Tod versinnbildlichen: „Ein mit Menschenfleisch und Menschenblut ausgestopftes Kruzifix mag im Herrgottswinkel stehen“ (AK 308) oder „Das Kruzifix war mit ihm und in ihm aufgewachsen. Der Körper des Gekreuzigten reckte sich in || 163 Vgl. Macho, 2011, S. 27ff.

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die ausgewachsene Länge des Knechts“ (MK 131–132). Jesus stirbt am Kreuz, um die Menschheit von der Erbsünde zu erlösen, gerade durch sein Versprechen des ewigen Lebens, hier im Bild des geschlachteten Mannes dargestellt. Die Detailarbeit am Bild soll im Rahmen dieser Todesfaszination gelesen werden: Das Bild als Rest einer Realität, das dann einen eigenen Wert erlangt. Das Bild als Todesmaske hebt zugleich die Wirksamkeit des Bildlichen durch die Aneignung einer Bildkultur und -politik hervor, in die Winklers Schreiben als Totenmaskenbildnerei eingreift.

5.3 Litaneien: Literarische Ritualisierungen Josef Winkler hat in verschiedenen Texten die Gebetsbücher und Litaneien als seinen ersten Zugang zur literarischen Welt bezeichnet.164 Damit beginnt Winkler seine Dankesrede für den ihm 2008 verliehenen Büchnerpreis.165 Diese Einführung in die Literatur durch katholische Textformen verweist auf die Entdeckung einer ästhetisch-politischen Wirksamkeit der Sprache, die Winkler sich für sein Schaffen aneignet. Seine Werke sind gute Beispiele dafür, da sie auf

|| 164 Ganz am Anfang eines späteren autobiographischen und poetologischen Buch Winklers, betitelt Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär oder Die Wutausbrüche der Engel, bezieht sich der Autor auf diese Einführung in die Literatur durch die kirchlichen Texte: „Es gab in diesem […] Kärntner Dorf Kamering, in dem ich geboren wurde […], keine Romane zu lesen, keine Kinderbücher, keine Bibel, nur Gebetsbücher mit Litaneien. Das Gebetsbuch meiner gläubigen Großmutter väterlicherseits mit dem reliefartig eingepreßten, vergoldeten Kreuz auf dem harten schwarzen Umschlagdeckel, einen ‚Trostreichen Himmelsschlüssel zum Gebrauche im Jammerthale des Lebens, und zum Nutzen an der Pforte der Ewigkeit – Ein katholisches Gebetsbuch für Christen aller Stände‘, habe ich aufbewahrt und immer wieder in meinen Büchern daraus zitiert“ (2011a, S. 9). 165 Diese Rede, die denselben Titel wie das zuvor in der letzten Fußnote zitierte Buch trägt, beginnt fast genauso: „Es gab in diesem, im Winter tiefverschneiten, kreuzförmig gebauten Kärntner Dorf Kamering, in dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin und das im Jahre 1897 an einem windigen Spätsommertag nach der Heuernte von zündelnden Kindern zur Gänze eingeäschert und danach wieder kreuzförmig aufgebaut worden war, keine Romane zu lesen, keine Bibel, nur Gebetsbücher mit Litaneien. Das Gebetsbuch meiner gläubigen Großmutter väterlicherseits mit dem tief eingepressten goldenen Kreuz auf dem harten schwarzen Umschlagdeckel, einen ‚Trostreichen Himmelsschlüssel zum Gebrauche im Jammerthale des Lebens, und zum Nutzen an der Pforte der Ewigkeit. Ein katholisches Gebetsbuch für Christen aller Stände‘, habe ich aufbewahrt und immer wieder in meinen Büchern daraus zitiert“ (2008a).

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einer rhetorischen Ebene diesen Einfluss kirchlicher Texte zu erkennen geben.166 Das Litaneihafte kommt in zweierlei Formen vor, erstens in der Zitierung der Form dieser kirchlichen Textart und zweitens in der direkten Wiedergabe dieser Texte – beide werden auf neobarocke Art verformt, neu kontextualisiert und verändert. Mit der blasphemierenden Weiterführung des Rituellen der Sprache führt Winkler seine Attacke fort:167 Ich freute mich auf die religiösen Riten am Karfreitag und Karsamstag, und diese Riten führt meine Prosa fort. Wurde ein Lamm in der Osterwoche geschlachtet, ging ich zum Dorfkruzifix, kniete nieder und erzählte Jesus von der Blasphemie. Ich werde wieder eine Untat vollbringen, damit ich so heftig geschlagen werde, daß meine Nase blutet. Du wolltest gekreuzigt und ich wollte immer geschlagen werden, so haben wir beide überlebt. (AK 356)

Die Dialektik zwischen Religion und Religionskritik bzw. zwischen dem Sakralen und dem Blasphemisch-Profanen spiegelt sich in diesem Zitat wider: Um in der Weiterführung der Riten ein Teil des Religiösen zu werden, wird in seinem Schreiben eine Umkehrung des Frommen ins Blasphemische vollzogen. Somit wird die Blasphemie als Weiterführung des Gebets umcodiert. Daher dient diese neobarocke Verformung des Zitats als religionskritische, aber dennoch religionsförmige Strategie. Seit der sogenannten „Liturgiebewegung“ im 19. Jahrhundert, die mit der Bildung der Liturgie als „liturgisches ‚Gesamtkunstwerk‘“ gegen eine vermeintliche Säkularisierung der sich modernisierenden Gesellschaft vorgehen wollte, versuchte man das katholische Ritual und besonders die Messe als „gemeinschaftsbildende sakramentale Feier, als gemeinsame[r] Vollzug des Mysteriums gegen die eher individualisierenden Frömmigkeitspraktiken aufzuwerten“ (Braungart, 2012, S. 57). Diese „Verbindung sozialer, religiöser und ästhetischer Praxis“ (ebd. 54) führte zu einer „sinnlich-präsentativen Symbolik“ (ebd. 57), die nicht primär auf die Lehre, sondern auf die ästhetische und politische Wirk-

|| 166 Juliane Vogel sieht in der Liturgie (und dabei auch in den in diesem Ritual relevanten Textsorten) die Struktur, die im Zentrum des Schreibens Winklers steht: „In Winkler sono sopratutto gli elementi della liturgia che penetrano nel testo, anche se in un rovesciamento blasfemo“ (1995, S. 44) / „Es sind vor allem die Elemente der Liturgie bei Winkler jene, die den Text durchdringen, wenngleich dies in einer blasphemischen Umkehrung geschieht“ (meine Übersetzung). 167 Wendelin Schmidt-Dengler betont die Relevanz des Rituellen als Sprache der römischkatholischen Liturgie in Winklers Werk, und zwar in seinem gesamten Werk. Dabei sieht er diese Struktur in der wiederholenden Thematisierung des Selbstmordes, die als Zeremonie immer wieder auftaucht (2012, S. 247).

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samkeit katholischer Rituale abzielte. Diese Bewegung resultierte dann im Zweiten Vatikanischen Konzil, das sich in den 1980er-Jahren als gescheiterter Versuch der Popularisierung und Modernisierung des Katholizismus erwies. Es ist die Form, die gerade die Kirche als politische Institution wirksam machte, und genau da setzt Winklers queere Religionskritik an, bei der Literaturästhetik des Katholizismus und ihren Textformen: Die Sprache ist heilig. Ich glaube an sie. Im Namen meines Vaters, der sie mir weggenommen hat und im Namen meiner Mutter, die schweigsam wie eine Stumme war. Aus dem Schweigen meiner Mutter und aus dem Tod von Jakob und Robert habe ich mehr gelernt, als ich in den Hörsälen für mein Leben lernen könnte. (AK 326)

Die Wegnahme der Sprache durch den Patriarchen deutet die Ausschließung queerer Subjekte an, die in einer negativen Weise selbst zur Sprache gebracht wird. Aus dem Schweigen zu sprechen, bedeutet somit, sich in einem Diskurs zu positionieren. Zu diesem Zweck simuliert Winkler diese Sprache im Sinne einer neobarocken Verformung. Es handelt sich aber um dieselbe Sprache, die diskursstiftende Sprache der Religionskultur im katholischen Dorf Kamering, die dann einen Twist erfährt: Wer anders spricht, wer Künstlichkeit ausstellt, kann zeigen, daß die gegebene Sprache und durch sie konstituierte Wirklichkeit nicht ‚gegeben‘ sind. Er geht auf Distanz. Von dort aus kann er diese Sprache zitieren oder manieristisch kommentieren. Erst der Angriff auf die semantischen Normen der kulturell akzeptierten Sprache setzt psychische Energie frei, die es erlaubt, Sprache in der Phantasie als besetzungsfähiges Objekt zu erleben. Sie hört dann auf, dem Wissen und der Realität zu dienen. (Linck, 1993, S. 30)

Der Eingriff auf der semantischen Ebene der Sprache vollzieht sich in dieser manieristischen Art der Kommentierung, die durch die Zitation der diskursstiftenden Formen katholischer Texte vollzogen wird. Die von Linck genannte „Künstlichkeit“ führt direkt in die Diskussion über das Neobarocke. Das Interesse Winklers für die katholische Textästhetik beruht vor allem auf seiner Faszination für ihre Form, ihre iterativen Strukturen, die Litaneien, die sogar, so der Autor, seine späteren Schriften über andere Kulturen (vor allem Indien) geprägt hat.168 Die iterative Performativität dieser religiösen Sprache ist gerade das, was

|| 168 „Da kann man schreiben, so lange man will. Zehn Jahre nach Domra also ist mir aufgefallen, dass ich diese hinduistischen Einäscherungsrituale im Klang der katholischen Litanei beschrieben habe. Also: Ich habe nicht über mich und über die katholische Kirche und übers

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ihre Heiligkeit ausmacht: die Wiederholung des ‚Wortes Gottes‘ als immer wiederkehrende Sprache und das Gebet. Das Litaneihafte, das bereits von SchwensHarrant in extenso behandelt wurde, ist gerade das, was Winklers Werk am explizitesten der katholischen Ästhetik zuordnet. Wahrscheinlich ist diese Ästhetik der Litanei am ausdrücklichsten in einem späteren Roman Winklers, Wenn es soweit ist, zu finden, in dem sie durchgängig artikuliert wird (bis zur Seite 164, auf der die Erzählung eine Wende nimmt).169 Der Katholizismus bestimmt in diesem Roman die Struktur der ganzen Erzählung, die sich aus litaneihaften Wiederholungen, direkten Zitaten von Gebeten und der expliziten Thematisierung der katholischen Rituale und Gebräuche zusammensetzt. Es handelt sich um eine fragmentarische Erzählung, die durch die Wiederholung desselben Satzanfangs eine Anhäufung von Todesfällen im Dorf Kamering schildert. Alles dreht sich um Winklers Alter Ego, die Figur des Knochensammlers Maximilian, die durch die ganze Erzählung symbolisch die Überreste der Verunglückten in einem „Tonkrug“ sammelt (in ähnlicher Weise sammelt der Ich-Erzähler in Vallejos Entre fantasmas verschiedene Todeserzählungen). Diesen Krug versteckt er dann auf Seite 164 und damit endet gleichzeitig die Litanei. Der wiederholte Satzanfang, der sich jeweils unterschiedlich weiterentwickelt, steht bereits am Anfang des Romans: Im Tonkrug, in dem aus den Gebeinen geschlachteter Tiere nach Verwesung riechender Knochensud gewonnen, der den Pferden zum Schutz vor Fliegen, Bremsen und Mücken mit einer Krähenfeder um die Augen, auf die Ohren, die Nüstern und auf den Bauch gepinselt wurde, […]. (Winkler, [1998] 2002, S. 9)

Dieser Anfang – mit an manchen Stellen minimalen Variationen – kommt dann im gesamten Roman immer wieder vor: auf Seite 11, 15, 24, 26, 41, 52, 61, 62, 69, 73, 77, 91, 93–94, 96, 102, 110, 110, 133, 136, 152, 158, 163. Die exzessive Wiederholung, die als Schicksalsmarkierung die Mitglieder der Gemeinschaft mit ihren Todesfällen verbindet, erinnert an eine Litanei, die allmählich mit anderen verschiedenen Erzählungen verknüpft wird. Obwohl der wiederholte Satz keinen explizit religiösen Inhalt hat, steht er als Beispiel für eine religiöse Sprachform, die sich Winkler für sein Schreiben zu eigen gemacht hat. Auf der Ebene

|| Dorf geschrieben. Aber formal, im Klang, im Stil hat mich die katholische Kirche am Ufer des Ganges wieder geschnappt“ (Winkler & Rathjen, 2013, S. 290–291). 169 Hier wird ein kleiner Exkurs zu diesem späteren Roman Winklers vorgenommen, um somit kontrastiv die Strategie der Aneignung des Litaneihaften in Das wilde Kärnten besser zeigen zu können.

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der Sprache äußert sich zugleich sowohl Winklers Faszination für das Katholische als auch dessen neobarocke Verdrehung. Diese Verdrehung des Zitierten geschieht einerseits bei der Zitation der Form und andererseits bei der direkten Wiedergabe des Gebets oder der Litanei als solcher. Ein Bespiel für ein Zitat der Form der Litanei findet sich in Der Ackermann aus Kärnten in Kombination mit dem Zitat eines Lieds der Beatles. Dies hat eine besondere Bedeutung, wenn man den Text in einem Kontext emergenter PopDiskurse der 1980er-Jahre liest. Gemäß Valentín Díaz steht der Neobarock dem Phänomen des Pop nahe, insbesondere aufgrund seiner Verfahren der Verbindung heterogener Bereiche in einem Bild.170 Dies wird durch die Zitation ermöglicht. In der folgenden Szene, in der vom Tod der Großmutter berichtet wird, zitiert man kein Gebet, sondern betrauert die Verstorbenen mit dem Lied der Beatles: Der Zehen zuckt, er hat Angst vor deinen starren Füßen, die du im Todeskampf von dir gestreckt hast. Streck sie nocheinmal von dir … Hey Jude … streck sie, sag ich dir, streck … Hey Jude … streck sie, laß den Pfeil des Krampfes an die Spitzen deiner Zehen explodieren … Hey Jude … ich lege meine warmen auf deine kalten, geschlossenen Hände … Hey Jude … meine Hand macht Anstalten zurückzuzucken, aber ich laß sie schwer auf den deinen liegen, ich klammere mich an deinen Tod, ich öffne dir die Hände und sprenge das Gebet im Zerreißen des Rosenkranzes auseinander … Hey Jude … Jesus soll für dich beten … Hey Jude … dein Sarg sieht aus wie eine blumenverzierte Gitarre … im Hohlraum … Hey Jude … liegst du, und mit deinen zu Saiten gespannten weißen Haaren spielen sie … Hey Jude … nach Mitternacht, wenn die Klageweiber nach Hause gehen und sich in ihre Strohmulde legen […]. (AK 222–223)

Die Weigerung, hier im Kontext der Trauer nach dem Tod der Großmutter auf Gebete zu rekurrieren („Jesus soll für dich beten“), wird durch den Einsatz profaner Lieder kompensiert. Der Liedtext spricht jedoch auch gegen die Trauer, die zuvor zitiert wurde („Hey Jude don’t make it bad, take a sad song and make it better“ AK 222): Der Tod soll somit in ein „Totenfest“ (AK 223) verwandelt werden, und dies entspricht genau dem Zweck des Textes, nämlich die Toten Jakob und Robert heiligzusprechen bzw. trauend zu feiern. Dem blasphemischen Ersatz, seiner Großmutter ein Pop-Lied anstatt eines Gebets vorzutragen, wird jedoch durch die Wiederholung eine musikalische religiöse Struktur verliehen. Eine weitere semantische Ebene lässt sich an dieser Stelle erkennen: die der Erinnerung an den Nationalsozialismus bzw. die Widerlegung des ‚Opfermythos‘ Österreichs, die oben als ein zentraler Kontext von Winklers Texten beschrieben wurde. Durch das Beatles-Zitat wird die Trauer um den Tod der || 170 Vgl. Díaz, 2010, S. 52.

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Großmutter zur Trauer über die im Holocaust ermordeten Juden: Der englische Name „Jude“ verwandelt sich bei dieser Lesart im Deutschen in den „Juden“. Der ursprüngliche Text bezieht sich nicht auf den Holocaust, sondern wurde von Paul McCartney als Trostlied für John Lennons Sohn geschrieben, erst in Winklers Text erhält das Lied diese weitere Bedeutungsdimension in der deutschen Sprache: als Trauer um den Holocaust. Die Polysemie dieser Textstelle wird durch die neobarocke Überlagerung verschiedener Register und Zitate erreicht, die das im Text angelegte Litaneihafte erweitert und somit verformt. Die Zitierung der Form von Litaneien findet man gelegentlich nur in der Wiederholung eines Satzanfanges, in einer ähnlichen Art und Weise wie in Wenn es soweit ist: Vorbei ist die Zeit, als du mit deinem Bruder über die Dorfstraße liefst und ihm ein Bein stelltest, wann immer du wolltest. Die Zeit der Fledermäuse, die wie reife Pflaumen an den Wasserleitungen im Stall hängen und Mensch und Tier ängstigen, ist vorbei. Vorbei ist die Zeit der schwarzen Schwalben, die ihre Mäuler aufreißen, in die Pyramiden ihrer roten Rachen blicken lassen und Insekten auf ihren Zungen kleben haben. Vorbei ist die Zeit, als du am eisigen Rand des Plumpsklos gesessen hast […]. Vorbei ist die Zeit, als du in den Kirchenkorpus gingst […]. Vorbei ist die Zeit, als du die Rute mit dem roten Band vom Kleiderhaken genommen und in den Stall hinausgegangen bist […]. Vorbei ist die Zeit, als du gestikulierend durch ein reifes Weizenfeld gegangen bist […]. Vorbei ist die Zeit, und sie entsteht in dir wieder, als du dich selber zeugen und gebären wolltest. (MS 624)

Der wiederholte Satzanfang („Vorbei ist die Zeit…“) fährt fort und mündet in einer direkten Ansprache Gottes, was die Identifikation dieses „Dus“ verkompliziert. Das „Du“ schwankt wohl zwischen den Bedeutungen der Selbstansprache des Ich-Erzählers und der Ansprache eines Gegenübers (Gott): Die Erfahrung, auf dem Plumpsklo zu sitzen, wird nämlich häufiger als Erinnerung des IchErzählers markiert. Es wird jedoch nicht deutlich, wer genau gemeint ist, wenn die Rede dann an Gott gerichtet wird: „Du sättigst die Satten und läßt die Abgemagerten verhungern. Du hast dich, lieber Gott, zeitlebens auf die Seite der Stärkeren geworfen“ (MS 625). Der Ton bleibt jedoch einer Rhetorik der Predigt verhaftet, die in der litaneiartigen Wiederholung derselben ihre Kraft gewinnt. Für die direkte Zitierung von Gebeten oder Litaneien findet man einige Beispiele in Das wilde Kärnten, wobei diese Strategie häufiger in späteren Schriften des Autors zu finden ist.171 Ein Beispiel taucht am Anfang der Trilogie auf, diesmal aber mit der direkten Zitation der Anrufung „helf Gott“:

|| 171 Sehr markante direkte Zitate findet man in Wenn es soweit ist oder in Friedhof der bitteren Orangen und in seinem letzten Roman Laß dich heimgeigen, Vater, in dem jedes Kapitel mit

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Tiere lecken aus der Hand des Vaters geweihtes Salz … helf Gott … ; am Pfosten der Stalltüre die Heiligen Zeichen, die drei Kreuze mit dem Buchstaben C. M. B. … helf Gott …; charakteristische Geräusche von Schwalben, Totenvögeln, Bienen; in der Mitte der Bühne stehend ißt der Vater ein Ei und streut Eierschalen auf den frisch besäten Acker … helf Gott … ; deutlich tritt das Mystische in symbolischen Handlungen hervor, Saatkörner besprengt er jetzt mit Weihwasser … helf Gott … und vergräbt ein mit Milch geknetetes Brot in der Erde … helf Gott … ; […]. (MK 9–10)

Die gesamte Beschreibung des bäuerlich-christlichen Dorfes am Anfang der Trilogie wird mit der religionsförmigen Textform eines Gebets eingeleitet. In Form dieser Anrufung Gottes werden dann verschiedene Bilder in der Einheit des Gebets zusammengefügt, wobei die Verwendung normaler Schrift unter der Kursivschrift an dieser Stelle möglicherweise als Markierung direkter Rede verstanden werden kann. Eine solche Änderung des Schriftschnitts findet sich im ersten Buch immer wieder auch an anderen Stellen, ohne dass damit eine klar erkennbare semantische Unterscheidung verbunden zu sein scheint. In diesem Fall scheint die normale Typographie zusammen mit der mündlichen Form von „helf“ die direkte Rede anzuzeigen. Abgesehen vom Gebet findet man bei Winkler Zukunftsformen, die an einen prophezeienden Ton bzw. an eine Rede Gottes erinnern und als Mahnung und/oder Vorhersagen fungieren: „Schau auf die Erde, denn in dieser Erde wirst du kehren, denke daran, daß diese Erde einmal deinen Mund bedecken wird, zugeschraubt wird diese Erde auf deinen Lidern sein wie der Deckel des Sarges“ (AK 214). Manche dieser prophezeienden Aussagen referieren auf einen biblischen Text. So nimmt das obige Zitat implizit auf den berühmt gewordenen Bibelvers 1. Mose 3: 19 Bezug („Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden“). Der Rekurs auf die zweite Person in verschiedenen Passagen kann im Rahmen dieser religionskritischen Strategie der Aneignung gelesen werden. Dabei wird allerdings das Religiöse nicht bloß kritisiert, sondern als poetisches Mittel produktiv genutzt. Der Ich-Erzähler betont die Wirksamkeit der Sprache im Einsatz gegen die Dorfgemeinschaft, dies lässt an eine Sakralisierung der Sprache bzw. an eine Sprachmagie denken: [A]ber morgen will ich noch meinen Freund sehen, ich möchte ihm den Schweiß von der Stirn wischen, wie du [Mutter] es jetzt tust, ich möchte meinen Mund auf seine feuchten

|| einem Gebet beginnt, das sich bis zum Ende vervollständigt. In diesen Texten wird die kursive Typographie immer als Markierung des Zitats der Gebete benutzt.

336 | Josef Winklers Maskenfantasien: Evangelium, Tod, Gebet

Haare legen und weinen, alle Dorfleute sollen sich versammeln, und ich werde hinausschreien über den Hof, über den Anger, über die Felder und Wiesen, tief in die Auen hinein, bis zum Draufluß hinunter, auf den Grund des Flusses, und meine Worte werden sich in die Tiefe des Sandes bohren, bis sie im Erdinnern von einer heißen Glut verbrannt werden, ich werde schreien, und meine Liebe wird die Erde durchbohren, schnelle, flüchtige Pfeile werden sich in die Erde bohren und auf der anderen Seite des Erdballs auf den Lippen eines Negerkindes wiederkehren: Ich liebe dich, heißen diese Worte, die mich ein Leben lang gequält haben und nun vor einem einsamen Tod in Schutz nehmen sollen. (AK 420–421)

Die Rede in Futur und die Beschwörung der Kraft der Sprache nehmen eine katholische Rede der Liebe auf, eine Liebe, die sich jedoch an die Außenseiter („auf den Lippen eines Negerkindes“) wendet. Die langen Sätze voller Adjektive weisen zum einen deutliche Ähnlichkeiten zu neobarocken Stilformen auf, zum anderen findet hier offensichtlich eine verformende Aneignung prophetischer Redeweisen statt. Diese prophetische Beschwörung wird aber hier zugleich mit der Thematik der Homoerotik in Verbindung gesetzt: Die Liebe als allgemeines christliches Prinzip wird in ihrer Radikalität gefeiert, nämlich in all ihren Formen, auch in der der homosexuellen Liebe. Die Emphase auf die materielle Wirksamkeit der Sprache (Draufluss, Grund des Flusses, Erdinnern etc.) deutet auf diese Sprachmagie, die mit der Prophezeiung korreliert. *** Josef Winkler eignet sich verschiedene katholische Textformen an, um diese dann in einer dem Neobarock charakteristischen Simulation zu verändern. Die Texte Winklers schreiben sich in eine katholische Tradition ein, um im Innern des Diskurses eine Rebellion zu vollziehen. Hier wurden einige von Winklers Strategien dargelegt: die Evangeliumsform als Heiligsprechung nach dem Tod, die Referenz auf kanonische katholische Klagetexte und auf die Tradition der Imitatio Christi, die Faszination für das Weiterleben der Bilder in Form des Stilllebens und die formale Simulation und direkte Zitation katholischer Kirchentexte. Die katholische Todesklage, die die ganze Trilogie vorantreibt, wird auch durch die Zitierung der Form der Litanei umgedeutet: Es geht nicht mehr um die Trauer über den Tod der erwachsenen Christen, sondern um den Tod der in der katholischen Gesellschaft unterdrückten, minoritären Subjekte (wie der Kinder und der Juden). Ähnliche, aber auch andere Strategien lassen sich bei Vallejo wiederfinden und werden im Folgenden präsentiert.

6 Fernando Vallejos religiöses Sprachspiel: Lachen, Priester, Feier Die Verfahren der Aneignung der katholischen Ästhetik sind im Fall Fernando Vallejos überwiegend andere: Die Litanei findet man nicht in seiner Pentalogie, aber eine häufige Verwendung des klerikalen Lateins. Das Evangelium als Folie spielt in seinem autobiographischen Projekt keine Rolle, aber die Hagiographie schon. Schließlich wird der Tod in seinem Werk meistens in Form einer humorvollen Personifikation thematisiert. Bei beiden Autoren findet man eine verformende Aneignung der katholischen Ästhetik, die jedoch verschiedenen Strategien folgt. Bei beiden Autoren ist die Sprache nicht von der katholischen Religionskultur zu trennen – ihr Wortschatz und ihre Rhetorik sind durchgehend vom Katholizismus geprägt. Vallejo scheint das Religiöse bereits im Zentrum seiner Muttersprache zu finden. Der autobiographische Ich-Erzähler bezieht sich wiederholend auf die spanische Sprache als auf eine ‚klerikale Sprache‘: „Si estas pobres palabras mías de este idioma clerical sirvieran para algo…“ (CR 173)172. Der negative Bezug auf die Sprache widerspricht in diesem Fall gleichzeitig der immer wieder betonten Selbstbezeichnung als Grammatiker: Vallejos Texte zeigen eine Faszination und eine Abneigung, die beide, die Religion und die Sprache, betreffen. Diese widersprüchliche Faszination wird vom Ich-Erzähler selbst angesprochen: De las religiones que aquí tratamos la católica es la más excitante, la que estimula mejor el orgasmo. Le siguen, en su orden, la judía y la protestante, que es más bien frígida. De la musulmana poco sé. Sé que no sirve. Mahoma el lujurioso y putañero la inhabilitó, le quitó sabor picante. Porque has de saber Peñaranda que la religión, que prohibe todo, es la fuente número uno del placer. No hay placer sin pecado ni pecado sin prohibición, y no te lo digo yo, Peñaranda, que soy un cero a la izquierda: habla la Facultad. Marx, que anduvo en todo errado, dijo que la religión era el opio del pueblo. También erró: es su afrodisíaco. No hay que confundir un excitante con un estupefaciente, ni la quinta de un psiquiatra con un psiquiatra de quinta. (EF 73)173

|| 172 „Wenn meine armen Worte dieser klerikalen Sprache für irgendwas nützlich wären…“ (meine Übersetzung). 173 „Von den Religionen, über die wir hier sprechen, ist die katholische die erregendste, die den Orgasmus am besten stimuliert. Nach ihr kommen, in dieser Reihenfolge, die jüdische und die protestantische, die eher frigide ist. Von der muslimischen weiß ich wenig. Ich weiß, dass sie nicht funktioniert. Mohamed, der Lüstling und Hurenbock, hemmte sie, nahm ihr die Würze. https://doi.org/10.1515/9783110799965-021

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Der negative Zugang zur Religion erlaubt ihm, in seinem Schreiben eine spielerische Lust zu gewinnen, die der Religion in dieser Hinsicht zu verdanken sei. Vallejos Obsession mit der Religion liegt in der Möglichkeit ihrer Verdrehung, die er dann durch die Aneignung ihrer Sprachformen vollzieht. Dies geschieht durch die humorvolle Inversion katholischer Formen und Inhalte und durch die bewusste, inopportune Zitation der Sprache der katholischen Religionskultur. Zunächst werden drei neobarocke Aspekte im Werk Vallejos hervorgehoben, die im Einklang mit der zuvor dargestellten Theorie des Neobarocks von Sarduy stehen: die humorvollen Entstellungen des Klerikalen, die jubelnde Sprache und die Zitate klerikaler Texte. Dabei wird immer versucht, diese Aspekte als Teil einer Strategie der Aneignung der katholischen Ästhetik zu lesen, die aber stets verschiedene ambivalente Formen annimmt.

6.1 Humorvolle Entstellungen Im Unterschied zu Winkler spielt der Humor eine wesentliche Rolle im religionskritischen Schreiben Vallejos.174 Vallejos Komik soll als eine Form des kynischzynischen, bissigen, schwarzen Humors verstanden werden, die sich verschiedener stilistischer Verfahren bedient. Dabei ist die bereits beschriebene Darstellung der Priester als Transvestiten eine Art humorvoller Hohn über das Klerikale und eine Strategie der Verschmutzung und Verweltlichung des Sakralen. Die Attacke vollzieht sich in dieser Strategie des Humors durch das Zitat einer Religionsform, die im Schreiben Vallejos entleert wird – somit lässt sich diese Strategie im Sinne einer neobarocken Ästhetik verstehen, als verformende Entleerung einer Oberfläche von ihrem Inhalt. Ich lese diese humorvollen Verdrehungen als Teil der neobarocken Simulation, die jedoch das Religiöse nicht nur nicht mehr ernst nimmt, sondern zu einer reinen Fassade werden lässt und damit ihre Wirk|| Weil du, Peñaranda, wissen solltest, dass die Religion, die alles verbietet, die erste Quelle der Lust ist. Es gibt weder Lust ohne Sünde noch Sünde ohne Verbot, und das sage nicht ich dir, ich bin ja ein Null: Hier spricht die Fakultät. Marx, der immer irrte, sagte, dass die Religion das Opium des Volkes sei. Da hat er sich auch geirrt: Sie ist ein Aphrodisiakum. Man soll weder ein Anregungsmittel mit einem Betäubungsmittel noch die Scheiße eines Psychiaters mit einem Scheißpsychiater verwechseln“ (meine Übersetzung. Im letzten Satz habe ich versucht, den Sinn des Satzes zu übersetzen; die wörtliche Übersetzung wäre in diesem Sinne irreführend). 174 Obwohl Alexander Honold über den Humor in Winklers Werk schreibt und diesen vor allem in seinen späteren Büchern, die sich ausdrücklicher mit der Thematik des Reisens beschäftigen, identifiziert, bleibt in seinem Artikel unklar, inwiefern die Parallelisierung der Todesarten eine Komik impliziert (siehe 2014). Meines Erachtens ermangeln Winklers Texte jeglichen Humors, da sie vor allem Affekten der Grausamkeit und der Traurigkeit gewidmet sind.

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samkeit aufhebt. Eine humorvolle Umkehrung des Klerikalen findet sich in der Selbstbezeichnung des Ich-Erzählers als Heiliger, und dies nicht nur, indem er seine Texte als „Autohagiographien“ bezeichnet (siehe oben Kapitel 1): Los negros y los puertorriqueños son heroinómanos, morfinómanos; mi hermano y yo santos. Santos, santos, santos de esos que ya no hay si es que alguna vez hubo. Derechito en globo aerostático nos iremos al cielo, eternamente, sempiternamente a descansar, en una reclinomátic mullida de nubes, pulsando arpas celestiales los serafines, cantándonos bambucos los querubines. (AI 36)175

Die humorvollen Elemente dieser autohagiographischen Selbstkanonisierung sind evident: „cantándonos bambucos los querubines“, „en globo aerostático“, „reclinomátic mullida en nubes“ etc. Die Wiederholung des Wortes „santo“ als Überspitzung ihrer angeblichen Heiligkeit betont zugleich den ironischen Ton der Aussage.176 Das Augenmerk liegt auf der Hervorhebung des Spektakulären des Heiligtums, womit sich Vallejo selbst als Heiliger transvestiert. In der Betonung der Himmelfahrt und der Wolken als Liegesitze werden diese Vorstellungen nicht nur verhöhnt, sondern als neobarocke Stilisierung inszeniert. In Los días azules findet man eine andere Stelle, in der diese sich selbst zugeschriebene Heiligkeit mit einem klaren neobarocken, übertriebenen Gestus versehen wird: El camión partió del colegio y de la iglesia del Sufragio con su cuadro celestial en el techo rumbo a la Basílica Metropolitana, en el centro. Lenta, ceremoniosamente. Al lado y lado de la calle, abierta de acera a acera, la multitud reverente nos veía pasar. Un ángel-niño, móvil, les iba lanzando nardos y azucenas que sacaba de un cesto, desde nuestro camión. ¡Qué preciosidad de cuadro! ¡Qué orgullo para los salesianos! ¡Qué paz para todo el mundo! ¡Qué placer para mí la santidad! Un haz de luz celeste me iluminaba a mí solo con un aura beatífica, un resplandor. Cuadras y cuadras avanzamos por entre la ciudad extasiada, en tanto otros carros alegóricos se iban sumando al nuestro, camino de la catedral. Se derretía la multitud de calor y fervor. Cuando llegamos al parque de Bolívar, ante la basíli-

|| 175 „Die Schwarzen und die Puerto-Ricaner sind Heroinabhängige, Morphiumabhängige; mein Bruder und ich Heilige. Heilige, Heilige, Heilige wie jene, die es nicht mehr gibt, wenn es sie überhaupt jemals gab. In einem Heißluftballon werden wir geradewegs ewig, immerwährend, in den Himmel fahren, um zu ruhen, auf einem weichen Reclinomátic [= Liegesitz] aus Wolken, während Engel himmlische Harfen spielen und Cherubinen uns Bambucos [kolumbianische populäre Musikgattung] singen“ (meine Übersetzung). 176 María A. Semilla Durán (2012) sieht diese Art der Iterationen als Ausdruck des Ritualhaften in Vallejos Schreiben, das sie im Rahmen der Autobiographie als subjektkonstituierende Strategie versteht. Ich lese das Iterative bei Vallejo, im Gegensatz zu Winkler, nicht so sehr als Zitierung des Litaneihaften der katholischen Sprache, sondern eher als Ausdruck des Exzesses in seiner Prosa.

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ca […], punto de confluencia de otros ríos de religiosidad y principio de la gran ceremonia, mis ojos entornados bajaron de la corte celestial a la tierra, al techo de mi camión, un instante, para descansar y vieron a la monjita misionera mirándome. Y me enamoré. ¿Se imaginan ustedes un padre misionero enamorado de una monja misionera? ¡Qué horror! (DA 63)177

Die hier beschriebene Parade, die für den Heiligen Johannes Bosco (Don Bosco) veranstaltet wird, betont die travestierte Heiligkeit des kindlichen Ich-Erzählers („un ángel-niño“) in exzessiver Weise („un aurea beatífica, un resplandor“). Im Text wird über die Schönheit des Bildes („preciosidad de cuadro“) der Parade gejubelt, die in das absurde und als ‚grauenhaft‘ beschriebene Verliebt-Sein des Kindes (transvestiert als Missionar) in eine Nonne mündet. Die ganze Beschreibung enthält hier und dort ironische Äußerungen, die die Ambivalenz zwischen Zelebration und Destruktion betonen: die Übertreibung der Entzückungsrufe und der Witz am Ende. Der ganze Absatz, der die vom Erzähler selbst gefeierte politische Wirksamkeit („calor y fervor“, „ríos de religiosidad“, „ciudad extasiada“, „gran ceremonia“) der opulenten katholischen Ästhetik der Parade wiedergibt, endet schließlich mit einem Ausruf des Schreckens („¡Qué horror!“), der das ganze wieder zerstört. Die Erzählung wird für einen Absatz weitergeführt und dabei das Bild aufgelöst und dekomponiert: „El cuadro celestial se relajó, se descompuso, y los inditos empezaron a jugar y el chofer a correr“ (DA 63)178. Vallejo betont somit das Ephemere bzw. Flüchtige dieser Entelechie der opulenten religiösen Rituale, indem sich plötzlich die Desillusionierung durchsetzt – das Engelskind verliert seine geliebte Nonne aus den Augen und die Statue von Don Bosco bricht zusammen: „Don Bosco tropezó con la cabeza

|| 177 „Der Lastwagen fuhr von der Schule und der Sufragio-Kirche weg mit seinem himmlischen Bild auf dem Dach in Richtung der Kathedralkirche, ins Zentrum. Langsam, zeremoniell. Auf beiden Seiten der Straße, offen von Gehsteig zu Gehsteig, betrachtete uns die ehrfürchtige Menschenmenge. Ein Engelskind, beweglich, warf ihnen Tuberosen und Lilien aus einem Korb von unserem Wagen aus zu. Welch wunderschönes Bild! Welch ein Stolz für die Salesianer! Was für ein Frieden für die Welt! Was für ein Vergnügen für mich die Heiligkeit! Ein Strahl himmlischen Lichtes beleuchtete nur mich mit einer seligen Aura, einem Glanz. Block für Block zogen wir durch die verzückte Stadt, während andere allegorische Wagen sich unserem Weg zur Kathedrale anschlossen. Die Menschenmenge schmolz vor Hitze und Eifer dahin. Als wir im Park Bolívars ankamen, vor der Basilika […], Punkt des Zusammenflusses anderer Flüsse der Religiosität und Beginn der großen Zeremonie, fielen meine halboffenen Augen vom himmlischen Hof auf die Erde, auf das Dach des Wagens, für einen Moment, um zu ruhen, und sahen die kleine Missionarsschwester, die mich anschaute. Und ich verliebte mich. Könnt ihr euch einen Missionarsvater vorstellen, der sich in eine Missionarsschwester verliebt? Wie grauenhaft!“ (Meine Übersetzung). 178 „Das himmlische Bild entspannte sich, zersetzte sich, und die kleinen Indios fingen an zu spielen und der Fahrer zu rennen“ (meine Übersetzung)

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contra un alambre de la luz, y pasando sobre la mía describió una parábola veloz y fue a dar contra el pavimento“ (DA 64)179. Die Parabel, hier zunächst als Fallkurve der Heiligenfigur verstanden, wird zu einem Gleichnis für das Ende der Illusionen, die Kehrseite des Religiösen, die Sinnentleerung der Kultbilder. Zusätzlich dazu erfährt die Zerstörung der Illusion eine Verstärkung in der humorvollen Erzählung einer unmöglichen, ja verbotenen Liebe zu einer Nonne, die hier das ganze Bild seiner Ernsthaftigkeit beraubt. Vallejo bedient sich somit parodisierend der Form der religiösen Parabel, um seine eigenen antikatholischen Bilder einzuführen: „Quedó Don Bosco más flaco, más pálido, más demacrado, como si acabara de salir de un paludismo. Ni me pude acostumbrar al nuevo santo, ni volví a ver a la monjita misionera“ (DA 64)180. Kaum ist das Sakrale des Bildes brüchig, löst sich die Illusion des Religiösen auf, gerade in der Hervorhebung des Bildes als Parabel, die jetzt nur noch auf eine Leere hinweist, die Abwesenheit des Religiösen. In dieser Textstelle wird die Verformung des Religiösen bis hin zu seiner Umkehrung evident: vom opulenten Jubel der Parade zu seiner Aneignung und Zerstörung im Bild des beschädigten Heiligen. In der Betonung des Religionsförmigen durch den Humor und die verformende Bezugnahme wird die Religion als Fassade kritisiert. In der Pentalogie ist die Rede von einer gewissen Vallejo eigenen katholischen Religion, die nur als Fassade benutzt wird, um eine amoralische, „anti-christliche Religion“ zu postulieren:181 ¿Y cómo es ese evangelio suyo? Para qué me lo preguntas, Brujita, si bien lo sabes. Cabe en un solo precepto doble que reza así: “Ama a los perros como a ti mismo, y a tu prójimo envenénalo”. ¿Y el temor a Dios? ¿Y a la ley? ¡Cuál Dios, cuál Ley! Dios es una entelequia tremebunda y la Ley una puta y además no se puede basar una moral noble en temores. (EF 51)182

|| 179 „Don Bosco stieß mit seinem Kopf an einen Lichtdraht, und als er fiel, vorbei an meinem Kopf, vollführte er eine schnelle Parabel und endete auf dem Straßenpflaster“ (meine Übersetzung). 180 „Don Bosco wurde schmaler, blasser, ausgemergelter, als wäre er an Malaria erkrankt gewesen. Weder konnte ich mich an den neuen Heiligen gewöhnen, noch sah ich die kleine Missionarsschwester wieder“ (meine Übersetzung). 181 Juanita Aristízabal bezieht sich auf eine sogenannte „literarische Theologie“, deren Ursprung sie in der Tradition des Modernismo verortet. Vargas-Vila als wichtige Referenz soll, so Aristízabal, in dieser Hinsicht als Vorgänger dieser Tradition literarischer Theologie betrachtet werden (2015, S. 26). 182 „Und wie ist dieses Evangelium von ihnen? Wozu fragst du mich das, Brujita, wenn du es weißt. Es passt in ein einziges, doppeltes Gebot, das lautet: „Du sollst die Hunde lieben wie dich selbst, und den Nächsten vergiften.“ Und die Furcht vor Gott? Und vor dem Gesetz? Welcher Gott, welches Gesetz! Gott ist eine fürchterliche Entelechie und das Gesetz eine Hure und außerdem kann eine edle Moral nicht auf Furcht gründen“ (meine Übersetzung).

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Die Tatsache, dass die Formulierung seiner eigenen religiösen Dogmatik an die Hündin Bruja gerichtet ist, hebt bereits das Parodische der Passage und die zoopoetische, kynische Ethik hervor. Der allgemeine katholische Grundsatz der Nächstenliebe wird in einer zoopoetischen Neuformulierung invertiert. Dafür rekurriert Vallejo auf die Form des berühmten Satzes Gottes zu Mose in 3. Mose 19:18: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der Herr“. Vallejos Absatz endet hingegen mit einer ernsten Kritik, nämlich an der opportunistischen Verwendung der katholischen Gebote („la Ley una puta“) und an den auf Angst beruhenden Moralgeboten („no se puede basar una moral noble en temores“). Vallejos humorvolle Umkehrung dieses Gebotes zielt nicht bloß auf eine simple Verhöhnung, sondern sie bewirkt durch die Aneignung eines religiösen Verfahrens (wie der Dogmatisierung) eine tiefere Kritik am Ursprung des Gebotes. Die Fassade des Gebotes, seine Oberfläche, wird nachgeahmt, um es zu entleeren: Das Gebot soll keine verbindliche Autorität beanspruchen, sondern eine tatsächliche Liebe des Menschen als Teil der Natur proklamieren. Dies führt uns zurück zu Vallejos ethischer Praxis in seiner Zoopoetik. Die Oberfläche wird entstellt, weil der Heiligenschein die Wirklichkeit verdeckt: „La llamaban [a Medellín] ‘la ciudad de la eterna primavera’, y a mí ‘el niño Jesús’: el niño Jesús resultó un demonio, y su Medellín […] un infierno en verano“ (DA 166)183. In der Selbststilisierung als Heiliger und in der Proklamation einer anderen Religion, die als Anti-Katholizismus verstanden werden soll, transvestiert sich der Ich-Erzähler auf humorvolle Art, indem er sich die Gestalt eines Propheten oder eines Heiligen aneignet. Diese Verfahren bewirkt eine Einschreibung in die Fundamente der katholischen Religionskultur, die sich dann weiterer literarischer Strategien bedient.

6.2 Exzessive, opulente Sprache: Religiöses Jubeln Die Sprache Vallejos tendiert zum Kitsch, zum Exzessiven, Ornamentalen, zu übertrieben langen Sätzen mit vielen Nebensätzen, die als ‚neobarock‘ bezeichnet werden können.184 Die Übercodierung einfacher Ereignisse löst somit die Sprache von ihrer unmittelbaren Referenz auf die Realität. Angesichts der Ten|| 183 „Sie [Medellín] wurde ‚die Stadt des ewigen Frühlings‘ und ich ‚Christkind‘ genannt: Das Christkind wurde ein Teufel, und sein Medellín […] eine sommerliche Hölle“ (meine Übersetzung). 184 Severo Sarduy bezieht sich auf diese Strategie des verlängerten Satzbaus und der mehrfachen Einfügung von Nebensätzen als auf ein „artificio sin límites de la subordinación“ (Sarduy, 1999a, S. 1253) / „grenzenlose Kunst der Subordinierung“ (meine Übersetzung).

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denz der katholischen Kunsttradition zu einer sinnlichen ornamentalen Ästhetik – vor allem im Bilderkult – kann man diesen Drang zum Kitsch bei Vallejo als Teil seiner Strategien der Aneignung der katholischen Ästhetik verstehen. In der Beschreibung der kolumbianischen Krippe zu Weihnachten, die man in Vallejos Pentalogie wiederfindet, betont der Autor diesen Kitsch einer populären katholischen Ästhetik, die viele Ähnlichkeiten mit der neobarocken Juxtapositionierung heterogener Aspekte und der exzessiven Anhäufung von unterschiedlichen Themen und Bildern aufweist: Por la carretera de Santa Anita a Sabaneta, en las caminatas de las noches de diciembre se sentía palpitar el Universo. Las estrellas fulgían en la oscuridad del cielo nítidas, pesando sin atenuaciones sobre los destinos humanos. Solíamos salir a ver pesebres. […] Pues los pesebres se hacían en Antioquia con papel encerado para que pegara el musgo, y en pendiente pues Antioquia es en pendiente, con cien pueblos encaramados en las montañas, y arribita, arribita en los más alto de la montaña se pone la pesebrera para que nazca el Niño Dios. Había pesebres tan grandes que ocupaban los dos cuartos de la casa, de la humilde casita campesina, los dos enteros. Se saldrían sus moradores a dormir a la intemperie con las vacas para que cupiera el pesebre, y en el pesebre tantas ovejas y carritos y pastores y hasta un león, como lo oyen, un león en Galilea, y una plaza con su iglesia y casas, y un lago que era un cristal que era un espejo en el que nadaban los patos quietos. Y las casas de la plaza iluminadas con foquitos de colores por dentro, tan alumbradas como en las noches está alumbrada Antioquia a la que le sobran electricidad y cascadas, despeñándose juguetonas sobre los cien pueblos. (EF 253–254)185

Der Absatz beginnt bereits mit einer Übertreibung, die die Erinnerung an die Abende des Besuches der Krippen in der Umgebung Sabanetas exaltiert. Es geht

|| 185 „Auf der Straße von Santa Anita nach Sabaneta spürte man bei den Spaziergängen in den Dezembernächten das Universum pulsieren. Die Sterne strahlten hell in der Dunkelheit des Himmels und lasteten ohne Milde schwer auf den Schicksalen der Menschen. Früher sind wir immer hinausgegangen, um uns Krippen anzusehen. […] Denn in Antioquia wurden die Krippen aus Wachspapier gefertigt, damit das Moos klebte, und am Hang, da Antioquia am Hang liegt, mit hundert Dörfern auf den Bergen, und oben, oben am höchsten Punkt des Berges wird die Krippe aufgestellt, damit das Gotteskind auf die Welt kommen kann. Es gab große Krippen, die so groß waren, dass sie die zwei Räume des Hauses, des armen bäuerlichen Häuschens, komplett ausfüllten. Die Bewohner mussten draußen im Freien mit den Kühen schlafen, damit die Krippe Platz hätte, und in der Krippe so viele Schafe und kleine Wagen und Schäfer und sogar ein Löwe, wie man hört, ein Löwe in Galiläa, und ein Platz mit seiner Kirche und Häusern, und ein See, der aus Kristall war, das ein Spiegel war, auf dem die Enten unbeweglich schwammen. Und die Häuser des Platzes von innen mit bunten Scheinwerferchen erhellt, so beleuchtet wie in den Nächten Antioquia beleuchtet ist, das zu viel Elektrizität und Wasserfälle hat, die spielerisch auf die hundert Dörfer herabstürzten“ (meine Übersetzung).

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um ein Universum, das auf das Leben der Figuren eine starke Wirkung zu haben scheint: ein überfüllter Raum, der dann in der Krippe eine Widerspiegelung erfährt. Die Widerspiegelung wird bis zum Exzess getrieben, so dass am Ende nicht klar ist, ob sich die Elektrizität und die Wasserfälle auf der Krippe oder in Antioquia befinden. Die Simultaneität verschiedener Zeiten und Orte (die Kirchen sind gleichzeitig in der Inszenierung der Geburt Jesu präsent), derselben statischen Zeit und desselben begrenzten Ortes, steht sinnbildlich für eine Ästhetik des Neobarocks, die wiederum die Sprache widerspiegelt. Die populäre Tradition der Krippe präsentiert sich als feierliche Widerspiegelung und Verformung der Realität, genauso wie das Schreiben Vallejos die Realität verformt, feiert und widerspiegelt. Es geht um neobarocke Verdoppelungen in dieser Szene („en pendiente pues Antioquia es en pendiente“, „alumbradas como en las noches está alumbrada Antioquia“), die dann am Ende des Absatzes mit einer Begegnung des Autors mit sich selbst endet, d.h. in der expliziten Einfügung des Spiegels als Motiv: Entonces, como por milagro de san Nicolás de Tolentino o de la lámpara de Aladino, de sopetón el cuarto se vació de pesebre y vi en su lugar, escribiendo en un escritorio negro, a un viejo. Y una perra negra a su lado, esbelta, grande, hermosa, cuidándolo. Y el niño que desde afuera se veía adentro viejo musitó el nombre: „Bruja“. Eso, Bruja, eres tú. (EF 254)186

Die Sprache als Verdoppelung (Faltung), auch in der Erinnerung an die Kindheit selbst, und die Veränderung dieser Vergangenheit, spiegelt sich in der Krippe wider. Die Simultaneität der Zeiten und Orte korreliert mit dem sprachlichen Zelebrieren, das diesmal in einem pathosgeladenen Ton endet. Bruja, die Hündin, ist die Figur, die als Spiegel der Gegenwart in der Vergangenheit dient: Somit wird wiederum das Tier, der Hund bzw. die Hündin, als Punkt der Überlagerung der verschiedenen Zeiten hervorgehoben; und die Sprache löst sich von ihrer Referenzialität: Die Sprache wird artificio, Imagination. Dies geschieht in ähnlicher Art und Weise mit einer anderen Erinnerung, nämlich mit dem Bild des Luftballons, das häufiger im Werk Vallejos auftaucht: Y la furia del perro y el garrote, blandido en círculos enceguecidos dispersan a los chinches, mientras el globo viene cayendo hacia mí con la candelija aún prendida, cayendo,

|| 186 „Dann, wie durch ein Wunder des Heiligen Nikolaus von Tolentino oder der Aladinlampe, verschwand auf einen Schlag die Krippe aus dem Zimmer, und ich sah an ihrer Stelle, am schwarzen Schreibtisch schreibend, einen alten Mann. Und neben ihm eine schwarze Hündin, dünn, groß, wunderschön, die ihn beschützt. Und der Junge, der sich von draußen drinnen in alt sah, flüsterte ihren Namen: ‚Bruja‘. Das, Bruja, bist du“ (meine Übersetzung).

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cayendo, don de Dios del cielo azul, viniendo dulcemente a mis manos. Lo recibí como quien logra un prodigio ensayando muchos años, y soplé: la llama moribunda se apagó. En la tarde lo elevamos: con la ayuda de todos frente al corredor delantero lo elevé. […] Yo, de rodillas en el piso, encendí la candelija; el humo negro lo fue inflando, dilatando, y cuando empezó a tirar, ávido de inmensidades, soltaron todos de las puntas y entonces me levanté, y solo lo fui guiando, lo fui llevando hacia un espacio despejado donde no fuera a enredarse en los penachos de las palmas ni en los ramajes de los árboles, y despidiéndolo con un impulso de adiós lo dejé partir. Se fue yendo hacia lo alto, rumbo a la vastedad azul sin límites, rojo él y palpitando, encendido su rojo corazón. (DA 202)187

So endet der erste Roman der Pentalogie mit einem Bild, das zwei entgegengesetzte Bewegungen präsentiert und diese in einer helldunklen, neobarocken Struktur vereinheitlicht: das Herabfallen und das Emporsteigen. Es wird an dieser Stelle, in der nostalgischen Zelebration der Erinnerung, Bezug auf das Religiöse genommen, aber in Verbindung mit dem Blauen, mit dem locus amoenus der Vergangenheit („don de Dios del cielo azul“). Die Farbe Blau wiederholt sich in dieser Passage und fügt das Bild des Himmels als grenzenlose Weite („vastedad“) in den Rahmen der nostalgischen Erzählung der Vergangenheit ein: Das Blaue des Himmels steht für eine Grenzenlosigkeit, für eine unerreichbare Weite, in der sich die ‚Seele‘ des Ich-Erzählers glühend wie Feuer aufspannt.188 Die Themen des Zornes, der Flüchtigkeit des Lebens (Vanitas) und des

|| 187 „Und der Zorn des Hundes und der Knüppel, in blinden Kreisen geschwungen, zerstreuten die Wanzen, während der Luftballon mit der noch brennenden Kerze auf mich herabfällt, fällt, fällt und, Gottes Gabe aus dem blauen Himmel, süß in meine Hände kam. Ich empfing ihn wie einer, der nach vielen Jahren der Übung ein Wunder vollbringt, und ich blies: die sterbende Flame erlosch. / Am Nachmittag ließen wir ihn steigen: mit der Hilfe aller ließ ich ihn vor dem Eingangsflur steigen. […] Ich, auf den Knien am Boden, zündete die Kerze an; der schwarze Rauch fing an, ihn aufzublasen, auszudehnen, und als er zu ziehen begann, gierig nach Unermesslichkeiten, ließen alle an den Ecken los und dann stand ich auf, und alleine lenkte ich ihn, führte ihn zu einer freien Stelle, wo er sich weder an den Büschen der Palmen noch am Geäst der Bäume verfangen konnte, und mit einem Impuls des Lebewohl, Abschied nehmend, ließ ich ihn los. Er stieg in die Höhe empor, in Richtung der blauen Weite ohne Grenzen, rot war er und pulsierend, mit seinem entzündeten roten Herz“ (meine Übersetzung). 188 Diese weite Extension des Raumes wird an einer anderen Stelle mit der Abwesenheit Gottes in Verbindung gebracht. Diese ‚Leere‘ Gottes wird aber zugleich religiös in der Beschreibung eines Fluges der Seele durch den nun leeren Raum gefeiert: „Entonces me desdoblé y me fui yendo hacia arriba, hacia las altas bóvedas de las anchas naves por el vasto ámbito, hasta que me pude ver y dominar la catedral entera, llena del vacío inmenso de Dios“ (EF 252) / „Da entfaltete ich mich und begann, emporzusteigen, in die hohen Gewölbe der breiten Kirchenschiffe durch den weiten Raum, bis ich mich selbst sehen und die ganze Kathedrale – voll der unermesslichen Leere Gottes – beherrschen konnte“ (meine Übersetzung).

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Todes verbinden sich in diesem einen aufgeladenen Bild. Dass es sich um eine Symbolisierung der Seele handelt, sieht man nicht nur an der religiösen eschatologischen Bewegung des Emporsteigens und dem Herabfallen aus dem Himmel (Luzifer spielt ja eine wichtige Rolle in der Pentalogie), sondern auch im Vergleich mit einer ähnlichen Szene, die ganz am Anfang von Vallejos späterem Roman La virgen de los sicarios steht: „El humo es como quien dice su alma, y la candileja el corazón. Cuando se llenan de humo y empiezan a jalar, los que los están elevando sueltan, soltamos, y el globo se va yendo, yendo al cielo con el corazón encendido, palpitando, como el Corazón de Jesús“ ([1994] 2008, S. 7)189. Anhand der Gegenüberstellung dieser zwei ähnlichen Passagen kann man die symbolische Aufladung dieses Bildes verstehen: Die Seele als schwarzer Rauch und das Herz als glühender Kern entsprechen genau dem Bild des rasenden Ichs, das am Anfang von Los días azules als Ausgangspunkt dargestellt wurde. Das Bild wird somit durch die Farben (das Blaue des Unbegrenzten und Unfassbaren und das Rote des Wütenden) mit einer Symbolik aufgeladen, gerade durch die detaillierte und scheinbar banale Beschreibung einer nostalgischen Erinnerung. Die Symbolik des Bildes (der Tod, die Nostalgie, Luzifer, der Zorn, das Eschatologische, die schwarze Seele usw.) ist überkomplex und verliert somit ihre Referenz auf die Realität und auf eine bestimmte Bedeutung. Das Bild wird exzessiv aufgeladen und somit der Akt dieser Ornamentalisierung in der Sprache hervorgehoben. Es ist außerdem bedeutsam, dass an beiden Textstellen auf den Katholizismus als Vergleich Bezug genommen wird – gerade dadurch wird der Hinweis auf das eschatologische Narrativ evident. Die Relevanz dieser erinnerten Szene wird in Form einer rituellen Wiederholung am Ende der Pentalogie in Entre fantasmas unterstrichen, wo eine jubelnde Sprache auch an die Oberfläche drängt – hier gleich nach einem Verweis auf den Ku-Klux-Klan: La cruz enorme ardió en la oscuridad del cielo, como en homenaje al Ku-klux-klan… Y recordando, recordando en el vacío frente al hueco, llegamos al globo más grande que ojos humanos hubieran visto, de ciento veinte pliegos y con una candelija del tamaño de un balón, que se tragó no sé cuántos mechones de humo hasta que lo elevamos: desde el muro que daba a la carretera lo elevamos. Empezó a jalar, a jalar, y si no soltamos se va p’arriba con todos nosotros: veinte o más que se necesitaron. Y girando el rombo inmenso, enloquecido, como un trompo, se fue, se fue, se fue por el cielo abierto lanzándonos bocanadas de humo de despedida. Kilómetros y kilómetros lo seguimos, en dos carros, hasta que en el tope del mundo se nos acabó la carretera, en Sabaneta, por donde éste empieza

|| 189 „Der Rauch ist, wie man sagt, ihre Seele, und die Flamme das Herz. Wenn sie [die Luftballons] sich mit Rauch füllen und zu ziehen beginnen, lassen diejenigen, die sie steigen lassen, los, wir lassen los und der Luftballon steigt empor, empor in den Himmel mit entzündetem, pulsierendem Herzen wie dem Herzen Christi“ (meine Übersetzung).

Exzessive, opulente Sprache: Religiöses Jubeln | 347

a bajar dando la vuelta. […] Lo vimos perderse en la inmensidad del cielo, seguro que rumbo a Marte pasando la estratosfera. (EF 242)190

Die Beschreibung enthält viele Bestandteile, die bereits in Los días azules zu finden waren (die Weite des Himmels, die Flamme im Inneren, das Ziehen des Luftballons etc.), wird aber hier exzessiv um Hyperbeln erweitert: Plötzlich ist alles größer oder das Größte, sogar jenseits der Stratosphäre. Die Wiederholungen werden auffälliger und markieren einen Rhythmus, der zur Betonung des Bildlichen und der Materialität der Sprache dient. Die paradoxe Struktur des Emporsteigens und Herabfallens ist hier ebenfalls ein impliziter Hinweis auf die Erinnerung: Sabaneta ist der nostalgische Ort der Vergangenheit, in den der Erzähler paradoxerweise wie in die Hölle hinabsteigt, während der Luftballon in die unerreichbare Weite emporsteigt, die mit dem Erinnern des Ich-Erzählers assoziiert ist. Gen Himmel und gen Hölle sind die beiden dichotomischen Bewegungen, die im Bild des Luftballons zusammenkommen. Hier soll die helldunkle, paradoxe Struktur der Anhäufung heterogener Aspekte (das Emporsteigen und Herabfallen) als neobarocke Strategie hervorgehoben werden. Sie steht im Zusammenhang mit der Vermischung von Himmel und Hölle, vom Guten und Bösen, vom Satanischen und Göttlichen. Damit wird eine Ambivalenz verdeutlicht, die zugleich mit einer Nostalgie und einer Enttäuschung, der Zuneigung zu und der Abneigung gegen Kolumbien, korreliert. All dies überlädt das dargestellte Bild: Brujita: Te prometí llevarte un día a Medellín a conocer el cielo, pero con los años el cielo se me ha ido juntando con los infiernos, y en esta barahúnda ya no distingo a Dios del Diablo. ¡Y qué, lo mismo da que sean peras o manzanas! Son teologías, demonologías, arterías jesuíticas. Arriba entre coros celestiales o abajo al lado de Sartre […]. Tal vez no he

|| 190 „Das riesige Kreuz brannte in der Dunkelheit des Himmels, wie eine Hommage an den KuKlux-Klan… Und erinnernd, erinnernd in der Leere vor dem Loch, gelangen wir zum größten Luftballon, den menschliche Augen jemals gesehen haben, aus hundertzwanzig Bogen Papier und mit einer Flamme groß wie ein Fußball, der, was weiß ich wie viele, Rauchschwaden schluckte bis wir ihn emporsteigen ließen: Von der Mauer aus, die zur Straße gewandt war, ließen wir ihn steigen. Er fing an zu ziehen, zu ziehen, und, hätten wir nicht losgelassen, wäre er mit uns allen gen Himmel geflogen: zwanzig oder mehr von uns, die nötig waren. Indem die riesige Raute sich verrückt wie ein Brummkreisel drehte, flog er weg, flog er weg, flog er weg durch den offenen Himmel und warf uns zum Abschied Rauchschwaden entgegen. Kilometer um Kilometer folgten wir ihm in zwei Autos, bis am Rande der Welt die Autobahn zu Ende ging, in Sabaneta, wo die Welt eine Kurve macht und hinunterführt. […] Wir sahen, wie er sich in der Weite des Himmels verlor, sicherlich in Richtung Mars durch die Stratosphäre“ (meine Übersetzung).

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puesto de mi parte o no ha puesto un poquito de su parte el mundo, pero este negocio, padre, no funcionó. Empieza uno perdiendo la fe y acaba perdiendo la esperanza. (EF 248)191

In der Ununterscheidbarkeit des Teufels von Gott betont der Ich-Erzähler das artificio bzw. die arterías, das Imaginative dieser Vorstellungen. Die Hinwendung zur Hündin Bruja wird dann zu einer Ansprache des Priesters („padre“), indem sich die Rede in eine Art Beichte verwandelt. Die Rede verbindet damit nicht nur entgegengesetzte theologische Bereiche, sondern die Sprache selbst changiert zwischen profaner Rede (zu Bruja) und religiöser Rede (zum Priester). Der immer wiederkehrende Vergleich gewisser Bilder, der häufiger mit einem Komma, bisweilen aber auch mit dem Wort „como“ („wie“) markiert wird und der gewisse Redundanzen, die schlicht der sprachlichen Zelebration und der Hervorhebung des Bildes dienen, erzeugt, ist eine Strategie, die in Vallejos gesamtem Werk zu finden ist. Diese Vergleiche oder besser Parallelisierungen ähnlicher Bilder oder Reihung von Synonymen werden immer mit mehreren Adjektiven aufgeladen: „El barrio estaba en un hoyo cósmico, agujero negro del Universo por el cual corría una quebrada ruidosa y sucia como su alma“ (DA 58)192, „Desde el fondo del olvido una voz vuelve, noche a noche, sobre los surcos rayados, como un eco herrumbroso con su timbre de alambre. Gira el disco, Gardel canta, y en mi reloj la rueda del tiempo“ (FS 32)193, „En un tiempo ajeno de un país distante me despierto sobresaltado porque me llaman. Desde las encrucijadas del recuerdo me llaman. Son los mismos susurros gangosos de siempre, un parloteo confuso de irrecuperables fantasmas. Torno a dormirme arrullado por ellos, zumbido de abejas o rumores del mar“ (FS 15)194, || 191 „Brujita: Ich versprach dir, dich eines Tages nach Medellín mitzunehmen, um den Himmel kennenzulernen, aber mit den Jahren hat sich mir der Himmel mit den Höllen vermischt, und in diesem Tumult schaffe ich es nicht mehr, zwischen Gott und dem Teufel zu unterscheiden. Und es ist ja egal, ob es sich um Birnen oder Äpfel handelt! Es sind Theologien, Dämonologien, jesuitische Kunstartefakte. Oben inmitten himmlischer Chöre oder unten neben Sartre […]. Vielleicht habe ich mir keine Mühe gegeben oder die Welt hat sich kein bisschen Mühe gegeben, aber dieses Geschäft, Vater, hat nicht funktioniert. Man beginnt mit dem Verlust des Glaubens und verliert schließlich die Hoffnung“ (meine Übersetzung). 192 „Das Viertel war in einer kosmischen Grube, einem schwarzen Loch des Universums, durch das ein lauter und schmutziger Bach wie seine Seele floss“ (meine Übersetzung). 193 „Aus der Tiefe des Vergessens kehrt eine Stimme zurück, Nacht für Nacht, über die zerkratzten Furchen wie ein rostiges Echo mit seiner Drahtklingel. Es dreht sich die Schallplatte, Gardel singt, und in meiner Uhr das Rad der Zeit“ (meine Übersetzung). 194 „In einer fremden Zeit in einem fernen Land wache ich erschrocken auf, weil sie mich rufen. Von den Kreuzwegen der Erinnerung rufen sie mich. Es sind die immer gleichen, näselnden Flüsterstimmen, ein konfuses Geplapper von unwiederbringlichen Phantasmen. Ich

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„[H]ombres, niños, viejos, mujeres, camino todos de la muerte y de repente, entre el gentío, un muchacho, una belleza, como un diamante en un basurero. No hay otra razón para la humanidad: sólo ese brillo fugaz, fulgor de la llama“ (CR 163)195, „Digo el amor, el rencor, el odio, y ante mis ojos alucinados se revientan las abstracciones como pompas de jabón“ (AI 87)196, „Se prodiga en llamas que se empinan desde abajo, de la acera, tartando de subir a mí, como lenguas de fuego más largas que las del Espíritu Santo. Lenguas viles, lisonjeras, no me vengan a decir ahora que soy yo el incendiador de Nueva York […]“ (AI 152)197, „La madeja enmarañada de tus fobias, de tus obsesiones, de tus subterfugios, de tus culpas, tu telaraña, la desenredo y la vuelvo hilito largo, liso, finito, y cuando menos te lo esperas ¡pum! lo corto“ (EF 75)198. In manchen von diesen Passagen wird eine Beschreibung wie ein solcher Faden exzessiv weitergeführt und das beschriebene Bild wird damit detaillierter und löst sich durch Assoziationsketten von der Darstellung des Realen ab. Somit wird die Materialität der Sprache hervorgehoben, die hier mit einem religiösen Jubeln vergleichbar wird. Die langen Sätze, die aufgefächert werden und eine iterative Syntax aufweisen, findet man an verschiedenen Stellen der Bibel, sie sind aber auch in Litaneien und in Gotteslobtexten üblich: Die Einleitung und der Beginn von Paulus Römerbrief sind ein gutes Beispiel für die exzessive Auffächerung durch Kommas, die verschiedene Aspekte zusammen in exzessiv langen Sätzen verbindet.199 In den Psalmen findet man wiederholt verschiedene Vergleiche und || wende mich, eingelullt von ihnen, dem Schlaf zu, Bienensummen oder Meeresbrausen“ (meine Übersetzung). 195 „Männer, Kinder, Alte, Frauen, alle auf dem Weg in den Tod und plötzlich, mitten im Gedränge, ein Junge, eine Schönheit, wie ein Diamant in der Müllhalde. Es gibt keinen anderen Grund für die Menschheit: nur diesen flüchtigen Glanz, Funkeln der Flamme“ (meine Übersetzung). 196 „Ich sage die Liebe, der Groll, der Hass und vor meinen halluzinierenden Augen zerplatzen die Abstraktionen wie Seifenblasen“ (meine Übersetzung). 197 „Sie produzieren Flammen, die sich von unten emporheben, aus dem Gehsteig, beim Versuch zu mir zu kommen, wie Feuerzungen länger als jene des Heiligen Geistes. Böse, schmeichelnde Zunge, komm jetzt nicht, um mir zu sagen, dass ich der Brandstifter von New York bin […]“ (meine Übersetzung). 198 „Das verworrene Knäuel deiner Phobien, deiner Obsessionen, deiner Ausflüchte, deiner Schuld, deines Spinnennetzes, ich entwirre es und verwandele es in ein langes, glattes, feines Fädchen, und wenn du es am wenigsten erwartest, Pum!, schneide ich es ab“ (meine Übersetzung). 199 „Paulus, ein Knecht Christi, berufen zum Apostel, ausgesondert, um das Evangelium Gottes zu predigen, das er zuvor durch seine Propheten in der Heiligen Schrift verheißen hat, von seinem Sohn Jesus Christus, unserm Herrn, der geboren ist, aus dem Geschlecht Davids nach dem Fleisch, und nach dem Geist, der heiligt, […]“ (Röm 1: 1–4).

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Redundanzen, die einen Rhythmus etablieren, der auch bei Vallejo zum Ausdruck kommt.200 Die Lobrede am Anfang von Aurelius Augustinus‘ Confessiones steht exemplarisch für die Aneinanderreihung von Superlativen, die Wiederholung von syntaktischen Einheiten und die Nutzung von Kommas zur Reihung, die für das hier besprochene, religiöse, exzessive, sprachliche Jubeln stehen;201 die populären Gebete auf Spanisch besitzen ebenso diese Form langer anhäufender Sätze wie „Dios te salve María, llena eres de gracia, el Señor es contigo, bendita tú eres entre todas las mujeres, bendito es el futo de tu vientre, Jesús“. Die verschiedenen Variationen desselben Inhaltes dienen zur Ornamentalisierung einer religiösen Sprache, die sich Vallejo aneignet. Diese exzessive Anhäufung von Adjektiven und Substantiven in den Passagen, in denen das Religiöse, vor allem in Bezug auf Satan und nicht auf Gott, explizit thematisiert wird, tendiert zu einem augenfälligen Jubeln, das plötzlich nicht mehr mit dem höhnischen, humorvollen Ton aufgeladen ist: „En el vaso de cuatro picos, cruz, crucíbolus, crisol de Satanás, tienes ahora almagre y hollín, metales calcinados. Sobre mi caos escencial agrega cuanto quieras: mi nombre y mi apellido, lo superfluo, las aleatorias contingencias“ (FS 33)202, „Humildemente, fervientemente, devotamente, con devoción encorvada voy recogiendo hojas, tallos, flores, raíces: el eneldo, la manzanilla, la hierbabuena, la mejorana, yerbas buenas para la mala leche que me llevo a mi casa a mixturarlas“ (AI 10)203, „En mi lugar ilímite, mi vasto imperio sin medidas ni confines hago lo que se me da la gana. Mi sortilegio, mi potencia mágica, mi poder de azufre los detento“ (AI

|| 200 „Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, / der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, / und seine Blätter verwelken nicht“ (Ps 1:3), „So seid nun verständig, ihr Könige, und lasst euch warnen, ihr Richter auf Erden!“ (Ps 2:10), „Herr, höre meine Worte, merke auf mein Reden! / Vernimm mein Schreien, mein König und mein Gott; / denn ich will zu dir reden!“ (Ps 5:2–3). 201 „Groß bist du, Herr, und höchsten Lobes würdig. Groß ist deine Macht, und deine Weisheit hat keine Grenzen. Und dich will loben ein Mensch, irgend so ein Stück deiner Schöpfung, ein Mensch, der seine Sterblichkeit mit sich herumschleppt, das Zeugnis seiner Sünde und das Zeugnis, dass du den Überheblichen widerstehst. […] Suchen will ich dich, Herr, und dich dabei anflehen. Anrufen will ich dich und dabei an dich glauben“ (Augustinus, 2016, S. 35). 202 „In dem vierzackigen Becher, Kreuz, Crusibulus, Schmelztiegel Satans, hast du jetzt Ocker und Ruß, ausglühende Metalle. Füge meinem essenziellen Chaos hinzu, was auch immer du willst: meinen Vor- und meinen Nachnamen, das Überflüssige, die aleatorischen Kontingenzen“ (meine Übersetzung). 203 „Bescheiden, eifrig, fromm, mit gekrümmter Frömmigkeit sammle ich Blätter, Stängel, Blumen, Wurzeln: den Dill, die Kamille, die Pfefferminze, den Majoran, gute Gewürze für die schlechte Milch [auch: schlechte Laune] die ich mit nach Hause nehme, um sie zu vermischen“ (meine Übersetzung).

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9)204, „[C]hupo niños de teta al amanecer. Y les saco, si se me antoja, los ojos tiernos, ¡soy muy capaza [sic!]! Pongo cruces patas arriba, comulgo en pecado mortal, enciendo cirios negros, fumo cabos de tabaco viejo, mis iniquidades no tienen cuento“ (AI 16)205. Diese hier gelesenen sprachlichen Zelebrationen weisen viele Ähnlichkeiten mit den zuvor nicht explizit religiösen Passagen auf und erlauben es, die Hypothese aufzustellen, dass diese Art der Anhäufung von Substantiven, Adjektiven und langen Sätzen als Teil einer religionskritischen Aneignung der katholischen Ästhetik zu verstehen sind. Die Verformung wird dabei mitten im Religiösen vollzogen: durch die satanische Widerspiegelung der frommen religiösen Rede. Hier liegt der Akzent auf der Umkehrung und der Einschreibung Vallejos in die theologischen, intellektuellen Debatten selbst: das Religiöse aus der Perspektive des Unteren, Satans (wie am Anfang von Años de indulgencia), aber auch einer heterodoxen und aufklärerischen Tradition: Al llegar a casa sobre la mesa del comedor abrí mis cuadernos, mojé la pluma en el tintero y en uno de ellos, formando la primera letra con mil adornos como iluminista de un códice medieval, con mi encabador escribí: „Dios es un cerdo y hoy me quiso atropellar“. (DA 129)206

Das Blasphemische und das Aufklärerische („como iluminista“), gerahmt in einem opulenten und anachronistischen Setting eines alten Kodex, werden hier in dem neuen Kontext der modernen Welt („me quiso atropellar“) aktualisiert. Die Anhäufung verschiedenster Gebiete und Texte (Heterodoxie, Aufklärung, Kolumbien, das urbane Leben etc.) deutet auf einen neobarocken, kontrastvollen Stil, der zugleich religiös und blasphemisch ist: Das profane blasphemische Schreiben kodiert in einem Kodex das Religiöse um. Die Liste wurde bereits als eine Form der Abschweifung in der Poetik Vallejos dargestellt – sie ist aber zugleich eine neobarocke, exzessive Art der Übertreibung von Signifikantenketten. Man findet solche Listen in der Pentalogie auffällig oft:

|| 204 „An meinem grenzenlosen Ort, meinem weiten Reich ohne Maß und ohne Grenzen, mache ich, was ich möchte. Meine Zauberei, meine magische Kraft, meine Schwefelmacht besitze ich unrechtmäßig“ (meine Übersetzung). 205 „[I]ch sauge Säuglinge im Morgengrauen. Und ich ziehe ihnen, wenn ich Lust habe, ihre zarten Augen heraus, ich bin sehr fähig! Ich stelle Kreuze auf den Kopf, empfange die Kommunion in Todsünde, zünde schwarze Altarkerzen an, rauche alte Tabakstummel, meine Gemeinheiten sind unzählbar“ (meine Übersetzung). 206 „Als ich nach Hause kam, öffnete ich auf dem Esstisch meine Hefte, tunkte die Feder in das Tintenfass und schrieb in eines von ihnen, wobei ich den ersten Buchstaben mit tausend Verzierungen wie ein Aufklärer eines mittelalterlichen Kodex gestaltete: ‚Gott ist ein Schwein und heute wollte er mich überfahren‘“ (meine Übersetzung).

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Quien metiera la punta de un dedo en las aguas inmundas de la quebrada La Toma moría de tifo; en cada milímetro cúbico de líquido mortal había cinco millones de corynebacterium diphteriae y ricketsias: Olivio las contó. Amén de yersinias pestis destrozadoras de ganglios, pasteurellas multocidas acuchilladoras de pieles, shigellas dysenteriae perforadoras de intestinos, pseudomonas rompedoras de oídos, listerias monocytogenes, vibriones coléricos, francisellas tularensis, bordetellas pertussis, erysipelothrix insidiosas, mil quinientos tipos de salmonellas, un escuadrón de proteus vulgaris y putrefactosos, brucellas, klebsiellas, veillonellas, treponomenas. ¿Para qué seguir? Preferible dejarme caer en el abismo. (DA 58)207

Die sinnlose Abschweifung als Auflistung verschiedenster Mikroorganismen, die im verschmutzten Wasser des Bachs La Toma enthalten sind, ist eher Ausdruck von Vallejos Grammatiker- und Biologengestus, hier mittels der ornamentalen Einfügung von für ein breites Publikum unbekannten Fremdwörtern, die mit den Adjektiven ein kriegerisches, bedrohliches Bild („acuchilladoras“, „perforadoras“, „un escuadrón“) entwerfen. Das Fremdartige der lateinischen Bezeichnungen deutet hier, im durch die exzessive Auflistung generierten Sprachbild, auf eine Kontamination hin, die auf der Ebene der Sprache evident wird. Dabei entfernt sich das Sprachbild vom Modell oder vom Referenzrahmen und wird bloße Sprache ohne Bedeutung, Sprache ohne Referenz, Partialobjekt, Rest. Die Liste entleert die Wörter ihres Signifikats, indem der oder die Leser*in nicht mehr fähig ist, das Konkrete des Bezeichneten zu erfassen. In Los días azules gibt es eine Stelle, in der viele von den zuvor besprochenen Aspekten exzessiven, zornigen, aber auch neobarocken Schreibens versammelt sind. Dabei wird gleichzeitig auf die Form der Litanei rekurriert, diese jedoch vom frommen Inhalt gelöst und mittels einer heterodoxen, verweltlichten, zelebrierenden Sprache degradiert: Y arrastrado por el elán del ritmo, mi torvo corazón […] iba diciendo: Rosa de los Vientos: ruega por nosotros. Mar de los Sargazos: ruega por nosotros. Lobreguez de la Tarde: ruega por nosotros. Tumba del Día: ruega por nosotros. Túnel de la Noche: ruega por nosotros. Sombra de las Sombras: ruega por nosotros. Puerta del Infierno: ruega por nosotros. Sen-

|| 207 „Wer die Fingerspitze in die grauslichen Gewässer des Baches La Toma eintauchen würde, würde an Typhus sterben; in jedem Kubikmillimeter dieser tödlichen Flüssigkeit waren fünf Millionen von Corynebacterium Diphtheriae und Rickettsiales: Olivio hat sie gezählt. Neben den Ganglien zerstörenden Yersinias Pestis, den Haut zerstechenden Pasteurellas multocidas, den Darm bohrenden Shigellas dysentariae, den Francisellas tularensis, den Bordetellas pertusis, den hinterlistigen Erysidepelothrix, waren eintausendfünfhundert Arten von Salmonellen, ein Schwadron Proteus vulgaris und Fauligen, Brucellen, Klebsiellas, Veillonellas, Treponemas. Wozu weiter machen? Lieber lasse ich mich in den Abgrund fallen“ (meine Übersetzung).

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da del Vicio: ruega por nosotros. Caverna del Ocio: ruega por nosotros. Luz de Saturno: ruega por nosotros. Fuego de Sodoma: ruega por nosotros. Copa de Urano: ruega por nosotros. Caída de los Ángeles: ruega por nosotros. Carro de Fuego: ruega por nosotros. Sepulcro de los Vivos: ruega por nosotros. Paso de la Muerte: ruega por nosotros. Sello Infernal: ruega por nosotros. Esperma del Averno: ruega por nosotros. Barca de Caronte: ruega por nosotros. Bruma del Orco: ruega por nosotros… Cada palabra mía ardía en un infierno de ira… (DA 99–100)208

An dieser Stelle wird deutlich, dass die blasphemierende Litanei aus sowohl einer rhythmisch-sprachlichen Aneignung der Litaneiform als auch einer affektiven Motivation entsteht. Die Aneignung der rhythmisch-sprachlichen Zelebration erlaubt gerade die katholische Folie zu verformen. Die Litanei wird angeeignet, verformt und somit bejaht – sie wird jedoch gleichzeitig durch die Blasphemie umgedreht, zerstört und parodisiert. Die Feier der religionsförmigen Sprache wird affirmiert und subversiv anders verwendet, neu kontextualisiert und verortet. Da der Zorn an dieser Stelle eine wichtige Rolle spielt, lässt sich die Feier als eine des Zornes verstehen. Somit konvergiert die Litanei mit einer zornigen Sprache, die die Ambivalenz zwischen Religionsbejahung und verneinung zum Ausdruck bringt. Das hier erwähnte Jubeln der Sprache korreliert mit der neobarocken Auflösung der Darstellung vom Realen und kann im Rahmen der Faszination für den Katholizismus in seiner ästhetischen Dimension verstanden werden.

6.3 „Diese meine klerikale Sprache“ Vallejos Grammatiker-Gestus, der von María Ospina Pizano und von Juanita C. Arístizabal große Aufmerksamkeit erhielt,209 spielt in seiner Religionsaneignung eine wichtige Rolle. Dies zeigt sich, wie schon bemerkt, vor allem in der Verwendung des Lateins, das in der spanischen Sprache vor allem auf den Kontext || 208 „Und vom Elan des Rhythmus mitgerissen, mein wildes Herz […] sagte ich fortwährend: Kompassrose: bitte für uns. Sargasso-See: bitte für uns. Dunkelheit des Nachmittags: bitte für uns. Grab des Tages: bitte für uns. Tunnel der Nacht: bitte für uns. Schatten der Schatten: bitte für uns. Tür der Hölle: bitte für uns. Weg der Sünde: bitte für uns. Höhle der Muße: bitte für uns. Saturns Licht: bitte für uns. Feuer Sodoms: bitte für uns. Kelch des Uranus: bitte für uns. Fall der Engel: bitte für uns. Wagen des Feuers: bitte für uns. Grabstätte der Lebendigen: bitte für uns. Schritt des Todes: bitte für uns. Höllischer Stempel: bitte für uns. Sperma der Unterwelt: bitte für uns. Barke des Charon: bitte für uns. Nebel des Orkus: bitte für uns… Jedes meiner Worte brannte in einer Hölle des Zornes…“ (meine Übersetzung). 209 Siehe Ospina (2015), Ospina Pizano (2019) und Aristizábal (2015).

354 | Fernando Vallejos religiöses Sprachspiel: Lachen, Priester, Feier

des Klerikalen, der intellektuellen Kreise und des Juridischen zurückgeht.210 Einige Beispiele wurden oben im Unterkapitel 1.7.2 bereits analysiert. Ein weiteres Beispiel findet man in El fuego secreto: –No es cuestión – volví a terciar yo iracundo – de lo que sea o no sea la señorita […], es cuestión de la Carta Magna y los Derechos del Hombre. –¡Cuál hombre! – dice el maldito cabo. –El que vea o no vea aquí. Y se restaura el statu quo ipso facto y se les devuelve a estos ciudadanos las garantías conculcadas, o se incendia el país. Introibo ad altare Dei, ad Deum qui laetificat juventutem meam (FS 124).211

Die Einfügung des Lateins führt ironischerweise zwei Gebiete zusammen, die im laizistischen Land Kolumbien separat betrachtet werden sollten: die Religion und das Rechtswesen. Die Sprache tendiert dann zum Latein, wenn es um die Gesetzgebung geht, in diesem Fall die Menschenrechte. Der parodisierende Ton dieser Passage drückt zugleich den Gestus des Intellektuellen aus, den man oft in Vallejos Texten findet, der aber hier auch als selbstironisch zu verstehen ist: Es geht gerade um die Stimme eines Misanthropen, die hier die klerikale, lateinische Sprache in ihrer Funktion der Verteidigung des Menschen zitiert, um diese zu verformen, zu parodieren. Es ist aber zugleich der Gestus eines Philologen, der auch diese Zitierung alter Sprachen (Ladinisch, Griechisch und Latein)

|| 210 Die bereits kanonisch gewordene Studie José Manuel Rivas Sacconis El latín en Colombia. Bosquejo histórico del humanismo colombiano geht der historischen Rolle der lateinischen Sprache im Rahmen einer humanistischen Tradition nach, zu der Rufino José Cuervo und Miguel Antonio Caro gerechnet werden und die für Vallejo laut der Forschung María Ospina Pizanos eine wesentliche Rolle gespielt hat. Rivas Sacconi, der die Geschichte des Lateins mit der Geschichte des Humanismus in Kolumbien gleichsetzt ([1949] 1993, S. xxi), macht in seiner Skizze („bosquejo“) deutlich, dass die Tradition des Lateins in Kolumbien innerhalb eines kleinen intellektuellen Kreises gepflegt wurde, der durchaus als katholisch-klerikal geprägt gelten kann: Darin spielen Miguel Antonio Caro und der Monsignore Rafael María Carrasquilla eine wesentliche Rolle, die beide sehr explizit katholische Themen behandelten. Aus der Analyse von Rivas Sacconis geht aber auch hervor, dass das Latein nicht nur in einem klerikalen Kontext, sondern auch in einer elitären Sphäre der intellektuellen Macht genutzt wurde. Vallejo antwortet auf diese Tradition, indem er sie in Form von lateinischen Einschüben zitiert, dabei aber umkehrt, mit der Umgangssprache vermischt, mit Witzen profaniert und für antihumanistische, zoopoetische Zwecke nutzt. 211 „– Es geht nicht darum – wandte ich zornig ein –, was das Fräulein ist oder nicht ist, […] es geht um die Magna Carta, die Menschenrechte [hier auch Männerrechte]. / – Welcher Mann/Mensch! – sagt der verfluchte Gefreite / – Den man hier sieht oder nicht. Und der status quo wird ipso facto wiederhergestellt, und diesen Bürgern sollen ihre übertretenen Garantien zurückgegeben werden, sonst brennt das Land. Introibo ad altare Dei, ad Deum qui laetificat juventum meam“ (meine Übersetzung).

„Diese meine klerikale Sprache“ | 355

im Rahmen der Gegenwartsliteratur anachronistisch poetisch funktionalisiert. Es gibt andere Beispiele, in denen die klerikale Sprache genutzt wird, ohne das Latein als Zitat zu markieren: – Señor, infinitas gracias os doy por ser quien soy y ni un ápice de más ni de menos, pero ¿por qué no hiciste el resto bien y para el amor no basta uno solo sino que hacen falta dos, o tres, y así me pones a caminar y me sacas de la paz de mi casa? (CR 22–23)212

Die religiöse Form dieser Passage ist evident: die Verwendung von „vosotros“, die in Lateinamerika fast ausschließlich in religiösen Kontexten auftaucht, die explizite Hinwendung zu Gott und das Zitat eines Gebetanfangs („Señor, infinitas gracias…“) gehören eindeutig zu einer religiösen Rede. Diese berühmte Gebetszeile, die hier plötzlich eingefügt ist, leitet einen Witz ein, der zynisch die Realität widerspiegelt: Wenn die Liebe ein Geschenk Gottes ist, dann fragt der Ich-Erzähler nach dem Grund seiner Einsamkeit bzw. der Schwierigkeit, die Liebe zu finden. Das verletzte, einsame Subjekt, das hier im Werk Vallejos spricht, verhöhnt die Dankbarkeit gegenüber Gott in ihrer angeblichen Absurdität bei der Wiedergabe dieses Dankgebets: Der Ich-Erzähler bedankt sich für etwas, das er nicht bekommt. Die Zitate von berühmten Passagen aus dem katholischen Textkanon kommen häufig ohne konkreten Hinweis vor. Die klerikale, populäre Sprache wird in ihrer Spontanität zum Ausdruck gebracht und in einem neuen Kontext von ihrer ursprünglichen sakralen Semantik befreit: Don Vicente Miranda, inventor del caldo tlalpeño y fundador de El Retiro, el cabaret más elegante que tuvo México, murió de un infarto de esfuerzo: fue a darle el pésame por la muerte de don Pedro Cocuera a su hermano, que vivía en el decimoquinto piso de un edificio de quince en Reforma y Bucareli: encontró descompuesto el elevador y empezó a subir por la escalera; no llegó, lo bajaron muerto. Moraleja: No hay que dar pésames. Que los muertos entierren a sus muertos. (EF 127)213

|| 212 „– Mein Herr, unendlich dankbar bin ich Dir für das, was ich bin und keinen Zollbreit mehr oder weniger, aber warum hast Du den Rest nicht gut gemacht und für die Liebe braucht man nicht nur einen, sondern zwei oder drei, und so bringst Du mich auf die Beine und holst mich aus dem Frieden meines Hauses?“ (Meine Übersetzung). Die Nutzung der zweiten Person Plural als Anrede Gottes, die in Lateinamerika vor allem in kirchlichen Texten zu finden ist, kann hier nicht ins Deutsche übertragen werden. 213 „Don Vicente Miranda, Erfinder der tlalpenischen Brühe und Gründer von El Retiro, dem elegantesten Bordell, das Mexiko jemals hatte, starb durch einen Anstrengungsinfarkt: Er ging

356 | Fernando Vallejos religiöses Sprachspiel: Lachen, Priester, Feier

Diese Erzählung ist einer der zahlreichen Todesfälle, die in Entre fantasmas dargestellt werden: Sie dient einzig zur Darstellung dessen, was am Ende des Zitats angesprochen wird. Der Absatz endet mit der Wiedergabe einer Bibelstelle, die im Rahmen einer ähnlichen Erzählung im Neuen Testament vorkommt: „Und ein anderer unter den Jüngern sprach zu ihm: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Aber Jesus spricht zu ihm: Folge du mir und lass die Toten ihre Toten begraben!“ (Mt 8:21–22). Diese Stelle steht in Verbindung mit folgender Aussage im Matthäusevangelium: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert“ (Mt 10:37). Das Gebot, die Liebe zu Gott über die zu anderen Menschen zu stellen, wird in dieser Passage aufgerufen und verspottet. Durch Vallejos Umkehrung wird die „Moral“ folgendermaßen humorvoll zelebriert: Man soll niemanden betrauern oder begraben, da dies den Tod bedeuten könnte. Diese Schlussfolgerung ist ein humorvoller Kommentar zu der Bibelstelle, die hier nur verschleiert aufgerufen wird. Es gibt aber einen Moment der Affirmation in dieser Textstelle: Das obskure Gebot Jesu wird im misanthropischen Schreiben Vallejos aufgerufen, aus seinem religiösen Rahmen gelöst und somit verformt: Die Elternlosigkeit des queeren Subjekts, von dem Dirk Linck in Bezug auf die schwule Jesusfaszination spricht, wird hier mit dem Bibelzitat bekräftigt. Die Bibel und die katholischen Texte werden bei Vallejo als Folien zur neobarocken Verformung manchmal explizit markiert, an anderen Stellen nur in der „klerikalen Sprache“ Vallejos spontan wiedergegeben. Die Spontanität gründet in der Annahme Vallejos, dass die spanische Sprache per se eine klerikale sei. Somit schreibt sich Vallejo mit seinen Texten in die katholische, alltägliche Religionskultur ein und produziert durch die Parodie und den Humor eine Außenperspektive, die die Ambivalenz zur Sprache etabliert.

|| seinem Bruder sein Beileid für den Tod von Don Pedro Cocueras aussprechen, der im fünfzehnten Stockwerk eines fünfstöckigen Gebäudes an der Reforma und Bucarelli lebte: Er fand den Fahrstuhl außer Betrieb und begann, die Treppe hinaufzusteigen; er kam nicht an, er wurde tot hinuntergebracht. Moral: Man soll kein Beileid aussprechen. Lass die Toten ihre Toten begraben“ (meine Übersetzung).

7 Fazit: Exzessive Ornamentik einer katholischen Oberfläche Der bejahende Aspekt der zu analysierenden ‚queeren Religionskritik‘ wurde oben am Neobarocken des Frühwerks von Winkler und Vallejo aufgezeigt. Ausgehend von Severo Sarduys Theorie des Neobarocks wurden die profanierenden, parodierenden und verformenden Strategien der Aneignung der katholischen Religionsästhetik dargestellt. Dabei spielte der Begriff der simulación eine zentrale Rolle, die vor allem in der Figur des Transvestiten im Werk offensichtlich wird. Zunächst wurde das Werk vergleichend mit einem berühmten frühen Roman der queeren Literaturtradition gelesen: Jean Genets Notre-Dame-desFleurs. Genets Begriff der Pose bzw. posture verweist auf eine Ästhetik des Transvestismus, die eine von einem Inneren oder transzendenten Außen entleerte Oberfläche hervorhebt. Damit lässt sich die zuvor dargestellte neobarocke Strategie der simulación identifizieren, die so eine queere und religionskritische Rahmung erhält: Die kritische Dimension der Figuren der Transvestiten in den Werken der drei Autoren kommt durch die subversive Aneignung einer Wirkungsmacht der Bilder (bzw. der Oberfläche) zustande, deren Grund im Bilderkult des Katholizismus zu finden ist. Jakow Menschikow als Transvestit, aber auch als Fremder, dient als Figur der Befreiung des Ich-Erzählers von der katholischen Dorfgemeinschaft im Sinne einer Zuflucht in die Maskerade, als Befreiung im Anders-Werden durch die Oberfläche und als Strategie der Übermalung bzw. der Überschreibung der Realität mit dem artificio der Literatur. Gerade die Maskerade als wirkungsmächtige Oberfläche im Dorf wird dadurch in Winklers Schreiben einer Kritik untergezogen. Der Transvestit als Figur nimmt bei Vallejo andere Formen an: als positive Figur in Los camino a Roma, als Beleidigung der Priester und als Bejahung des Kultischen des Katholizismus in seiner queeren Verformung. Die neobarocken Verformungen wurden dann in Winklers Das wilde Kärnten in ihren verschiedenen Strategien nachgezeichnet. Es wurde gezeigt, wie Winkler auf traditionelle, katholische kanonische Texte und Textformen rekurriert (das Evangelium als Zeugnis des Lebens des Opfers, die Tradition der Imitatio Christi vor allem in Kempens gleichnamigen Buch und das berühmte Streitgespräch in Tepls Der Ackermann aus Böhmen), um diese dann zu verformen und somit die grundlegende, in diesen Texten offengelegte Paradoxie des Katholizismus zu enthüllen, die auf einem Widerspruch zwischen dem Leben und dem Tod, dem Schmerz und der Lust beruht. Dann wurde die Bildpoetik Winklers in Verbindung mit seiner neobarocken Faszination für den Tod ge-

https://doi.org/10.1515/9783110799965-022

358 | Fazit: Exzessive Ornamentik einer katholischen Oberfläche

lesen: Das Hyperbolische in der Beschreibung der Bilder macht aus diesen eine Art Totenmaske der abgebildeten Realität. Somit wurde das Thema des Todes mit einer formalen Eigenschaft der Texte in Verbindung gebracht. Die direkte und indirekte Zitierung der Litanei und ihrer Form in Winklers Werk wurde im Rahmen der verformenden Zitatpraxis des Neobarocks gedeutet – dabei wurde auch die Aneignung der katholischen Rhetorik der Prophezeiung zur Hervorhebung der Macht der Sprache bei Winkler nachgezeichnet. Die neobarocke Schreibweise Vallejos setzt andere Strategien ein, die aber auch auf das Mittel der Verformung der katholischen Ästhetik zurückgreifen: Der Einsatz des Humors wurde anhand der Selbststilisierung des Ich-Erzählers als Heiliger oder Engel aufgezeigt. Dann wurde ein Schwerpunkt auf die ornamentale Sprache Vallejos gelegt, die durch ihre Wiederholungen, Übertreibungen und Redundanzen das Kultische der katholischen Rhetorik zum Ausdruck bringt. Schließlich wurde die direkte und indirekte Zitierung klerikaler Sprache als verformende und verspottende Strategie der Aneignung religiöser Redeformen dargestellt, die zur Umkehrung und Umformulierung moralischer katholischer Gebote dient. Mittels der exzessiven neobarocken Ornamentalisierung der Sprache und der transvestierenden Überschreibung der Realität und der Religion durch Winklers und Vallejos literarische Projekte selbst wird nicht nur eine Befreiung durch die Maskerade ermöglicht, sondern eine exaltierte Feier des Lebens der Minderheiten und der Verletzlichen. In dieser neobarocken Feier wird die Literatur selbst zum existenziellen Projekt, zur Überlebensstrategie, die auf der Zelebration und der Konfrontation mit dem Katholizismus beruht. Die verschiedenen Herangehensweisen von Vallejo und Winkler an das Thema des Todes sind ein Beispiel für diese Überlebensstrategien: Während Vallejo mithilfe des Humors den Tod banalisieren möchte, denunziert Winkler mit dem Thema des Todes eine mörderische Maschinerie des katholischen, nationalsozialistisch geprägten Diskurses in Kamering. In dieser humorvollen oder konfrontativanklagenden Thematisierung des Todes zeigt sich, dass diese bei beiden Autoren nicht nur eine ästhetische Funktion erfüllt, sondern eine existentielle und eine politische Dimension impliziert. All diese Strategien der beiden Autoren weisen viele Ähnlichkeiten mit neobarocken Schreibweisen auf, indem sie beispielhaft das Religionsförmige des Neobarocks an die Oberfläche bringen. Die Faszination für die katholische Ästhetik bleibt jedoch im Großen und Ganzen ambivalent, und dies wird gerade im Zentrum der queeren Religionskritik als poetisches Moment produktiv genutzt.

Schluss: Die Ambivalenzen der queeren Religionskritik For queerness can never define an identity; it can only ever disturb one. Lee Edelman1

Fernando Vallejos und Josef Winklers obsessiver Angriff auf die katholische Religionskultur scheint zu keinem Ende gekommen zu sein. Der Angriff nimmt gerade durch seine Ambivalenzen die Form einer erotischen Annäherung an das verhasste und geliebte Kritikobjekt des Katholizismus an. Somit bewegt sich diese Erotik zwischen Destruktion und Zelebration, als ein Versuch im Umgang mit dem kritisierten Objekt. Der ständige Versuch einer endgültigen Abrechnung mit der gesamten ideologischen Maschinerie des Katholizismus, einer Abrechnung mit ihrer Schuld, die Verletzlichen der Gesellschaft (die Tiere und die Kinder) zum Tode zu verurteilen, bleibt in Wiederholungen stecken: Bis zu den letzten Veröffentlichungen der Autoren lässt sich dieser Kampf noch nachzeichnen – somit ist die Obsession mit dem Katholizismus eine Lebensobsession geworden. Gegen und mit der katholischen Religionskultur erhebt sich eine kontinuierlich kritische Stimme von zwei Außenseitern, die sich genau aus der ambivalenten, erotischen und obsessiven Auseinandersetzung mit dem Katholizismus herauskristallisiert hat. Friedbert Aspetsberger spricht aus dem Grund in Bezug auf Winklers Wiederholungen über einen Automatismus „ein[es] ständige[n] Sich-selbst-Herstellen[s], Sich-Zeugen[s] und -Gebären[s]“ (1997, S. 213). Die ständig ambivalente Beziehung zum Katholizismus und ihre NichtAbschließbarkeit deutet auf den Verzicht, einen Kompromiss mit dem herrschenden heteronormativen Diskurs einzugehen, den einige queere Bewegungen in den 1990er-Jahren eingegangen sind.2 Die ambivalente und immer kon-

|| 1 Edelman, 2004, S. 17. 2 Der argentinische Queer-Theoretiker Mariano López Soane bezieht sich auf diese Tendenz in der LGBTIQ-Community als ihre „vertiente mercantil“ („kaufmännische Denklinie“), die sich vor allem in der Reproduktion der nuklearen Familie von Seiten der queeren Subjekte gezeigt hat (2020, S. 17). Dies hänge mit dem von Lisa Duggan geprägten Begriff der „homonormativity“ zusammen, die einen pragmatischen Pakt mit der Heteronormativität eingeht. Dagegen entstand, so López Soane, eine andere „vertiente punk“ („punkige Denklinie“), die die Zukunfts- und Lebensvorstellungen vehement verneint, und deren Ursprung Soane López in Jean Genet sieht (ebd. 18). Vallejo und Winkler sollen, vor allem unter Berücksichtigung ihrer Misanthropie, zu dieser zweiten gerechnet werden, die eine „negatividad de lo queer“ (ebd. 19) vertritt. Dies würde die These der Einleitung bekräftigen, dass es sich hier um eine queere und nicht um eine schwule Religionskritik handelt. https://doi.org/10.1515/9783110799965-023

360 | Schluss: Die Ambivalenzen der queeren Religionskritik

frontative, antinormative Kritik macht eine homophobe Maschinerie der Einund Ausschließung sichtbar und zeigt damit die Mechanismen der Selbstkonstitution queerer Subjekte auf – insofern ist der Kampf ein unendlicher, der gerade in der Ambivalenz das literarische Schreiben vorantreibt. In der Ambivalenz konstruiert und dekonstruiert sich das queere Subjekt unaufhörlich, und deshalb habe ich versucht, diesen Paradoxien der Liebe und des Hasses, der Konstruktion und Destruktion nachzugehen. Das vorliegende Buch hatte zum Ziel, die Strategien religionskritischen Schreibens im Werk zweier Autoren zu analysieren. Dies wurde anhand von drei Hauptaspekten der Frühwerke Fernando Vallejos und Josef Winklers durchgeführt, in denen die hier postulierte queere Religionskritik zu lesen ist. Im Resultat lässt sich eine doppelte Bewegung dieser queeren Religionskritik feststellen, die in den Werken der beiden Autoren produktiv genutzt wird. Diese Ambivalenz steht im Zentrum der Poetiken der beiden Autoren. Die literarische Komplexität der Werke wird gerade durch die daraus resultierende Spannung geschaffen. Die drei Aspekte – die anti-narrative Form, die Beleidigungs- und Zoopoetik und die neobarocke Ästhetik – reagieren auf die katholische Religionskultur in einer ambivalenten Art und Weise: Sie vollführen eine Bewegung zwischen Destruktion und Zelebration, zwischen Widerlegung und Aneignung, zwischen Negation und Bejahung. Dafür wurden exemplarische Textstellen angeführt, die jedoch immer in einem breiteren theoretischen und literaturhistorischen Kontext gelesen wurden. Als Zusammenfassung der dargelegten Analyse und Interpretation lassen sich folgende Ergebnisse formulieren: Die die Lektüre herausfordernde, schwierige Form der Texte, die ich mit dem von Vallejo selbst entlehnten Begriff des mamotreto bezeichnet habe, resultiert aus einer produktionsästhetischen Absicht, innerhalb der eigenen Lebenserzählung mit einer Linearität zu brechen, die im Katholizismus auf moralischen Mustern des guten Lebens gründet. Die Heilige Schrift und die Hagiographien, die Lehre des einen Weges und die Sakramente weisen narrative Muster der katholischen Moral auf, die Winkler und Vallejo in ihrem queeren Schreiben hinter sich lassen. Sara Ahmeds Begriff der disorientation erlaubte es, diesen Lebensbegriff im Rahmen des queeren Lebens zu verstehen. Das Schreiben dieses anderen Lebens versucht somit das Kontingente und NichtKontrollierbare in Worte zu fassen, und daraus resultiert die anti-narrative Form der Texte. Die zwei narrativen Strategien, die in den Fokus genommen wurden, waren die Abschweifung und das Bild. Beide findet man in den Werken beider Autoren, obwohl die erste bei Vallejo und die zweite bei Winkler in einem deutlich ausgeprägteren Maße zu finden ist. Diese Strategien, die in Form einiger metaliterarischer Motive (das Feuer, der Kalbstrick, die Großmutter, der Fluss

Schluss: Die Ambivalenzen der queeren Religionskritik | 361

und das Phantasma) in den jeweiligen Werken thematisiert werden, wurden in verschiedene Teilstrategien aufgegliedert: Bei Winkler wurden die fiktionalisierten Bilder (die zu einer Hervorhebung der Ich-Instanz in der Betonung der Willkür des Erzählens führen), die Schockbilder (die aus einer Konfrontation mit dem Amoralischen erfolgen) und die ikonographischen Bilder (die eine Verdrehung der religiösen Bilder beanspruchen) analysiert. Bei Vallejo wurden die sprachlichen Abschweifungen (durch welche die Ich-Instanz die poetische Absicht des Niederschreibens betont), die zeitlichen und örtlichen Abschweifungen (in denen ein anderes Zeitverständnis Vallejos zum Ausdruck kommt, das mit der Linearität der Zeit bricht), die essayistischen Abschweifungen (bei denen sich die Ich-Instanz als experimentierendes und denkendes Subjekt positioniert) und die metaliterarischen Abschweifungen (in welchen der Text selbst den Faden verliert, um selbstreflektierend zu werden) herausgearbeitet. Sowohl die Bilder, die eine collageartige Struktur aufweisen, als auch die Abschweifungen, die die Narration ständig ausufern lassen, konstituieren das, was mit dem Begriff des mamotreto erfasst werden sollte: Eine Literaturform, die gerade im autobiographischen Schreiben dem Leben jenseits eines moralischen Narrativs eine schriftliche Form verleiht. Im zweiten Kapitel wurde die scheinbar ‚destruktive‘ Bezugnahme auf den Katholizismus analysiert. Dabei wurde erstens diese Bezugnahme als eine ethische im Sinne einer moralkritischen definiert. Dafür wurde der Begriff des Ethischen in der deleuzianischen Lektüre Spinozas als theoretischer Rahmen entworfen, der eine affektive Re-Evaluierung der moralischen Gebote ermöglicht, die das Körperliche und Materialistische gegenüber dem Abstrakten des moralischen Gesetzes betont. Die ethische Kritik nimmt die Form zweier konkreter poetischer Strategien im Schreiben Vallejos und Winklers an: die Zoo- und die Beleidigungspoetik. Es erfolgte eine Analyse der zoopoetischen Aspekte im Frühwerk Vallejos (der Rolle der Tiere in seiner Autobiographie und Vallejos neuer Definition vom christlichen Begriff des Nächsten) und Winklers (der Symbolik der Tiere in seiner Trilogie und des Fleischessens als Kritik der Eucharistie) auf der theoretischen Basis einiger prominenter Referenztexte (Derrida, Giorgi und Pick), um dann einen Bogen zur Beleidigungspoetik zu schlagen. Zunächst wurden der theoretisch-philosophische Interpretationsrahmen meiner Lektüre anhand der Theorien von Juan Álvarez (die Beleidigung als wirksame politische Rhetorik der ‚Spracherwärmung‘ in Kolumbien), Judith Butlers (die Eröffnung einer Zukunft im perlokutiven Sprechakt der Beleidigung), Robert Pfallers (die „schwarze Wahrheit“ des bissigen Sprechens als notwendiger Bestandteil der Kritik) und Carolina Saníns (die mystische und pazifistische Funktion des Vokativs der Beleidigung als Ermöglichung einer zukünftigen Gemein-

362 | Schluss: Die Ambivalenzen der queeren Religionskritik

schaft) festgelegt. Die von der Forschungsliteratur in Bezug auf Vallejos Werk hervorgehobene Tradition des Zynismus und ihre ursprüngliche Form des Kynismus dienten in meiner Analyse als Übergangsthese, um die Zoo- und Beleidigungspoetik zusammenzudenken: Bei Vallejo findet man eine Umformulierung katholisch-moralischer Gebote im Zeichen einer ‚hündischen Vernunft‘, einer kynischen Umkehrung, die hier als ethische Strategie gelesen wurde. Die Beleidigungspoetik wurde zunächst in einem literaturhistorischen Rahmen Kolumbiens und Österreichs kontextualisiert. Dafür wurde ein Exkurs in die kolumbianische Literaturbewegung des Nadaísmo unternommen und vor allem das Werk Gonzalo Arangos und des Vallejo nahestehenden Philosophen Fernando González skizziert, um die Vorläufer von Vallejos zornigem Schreiben zu präsentieren. Im Falle Winklers wurden zwei prominente Werke, die zu einer Konsolidierung einer Beleidigungspoetik in der österreichischen Literatur dienten, thematisiert: Thomas Bernhards Die Ursache und Peter Handkes Publikumsbeschimpfung. Im letzten Teil des Kapitels wurde diese Tradition der Beleidigung mit exemplarischen Textstellen der Literatur Vallejos und Winklers in Beziehung gesetzt: Winkler rekurriert an einigen Stellen explizit auf die Rhetorik der Beleidigung, um mit seiner Kritik die biopolitische Struktur der Dorfgemeinschaft zu entlarven und somit anzugreifen. Man findet jedoch bei Winkler eine viel explizitere Thematisierung des frechen Schreibens selbst, wie in Bezug auf das Verfahren der Maskerade und das Thema der Blasphemie dargelegt wurde. Die Denunziation einer anhaltenden latenten Nazi-Ideologie in Österreich bekräftigt die Beleidigung, die in Winklers Text an den ganzen Staat gerichtet wird. Im Gegensatz zu Winkler findet man bei Vallejo eine viel größere Variationsbreite an Beleidigungsformen, die alle als Mittel einer Machtkritik genutzt werden: Dabei wird die Macht – mittels der Aneignung ihres Sprachgebrauchs und der humorvollen, verspottenden Beleidigung – entsakralisiert. Dafür wurden zahlreiche Stellen im Werk Vallejos angeführt, mittels derer ich die verschiedenen Strategien der Beleidigung nachgezeichnet habe, die auf eine für eine zukünftige Veränderung offene Gemeinschaft hinzielten. Bei beiden Autoren sind die Figuren der Tiere, als Sinnbilder für eine Barbarisierung der Sprache, als metaliterarische Figuren präsent, die durch eine Kobrasprache Winklers und eine Hundssprache Vallejos sprechen. Der harschen Kritik am Katholizismus wurde dann im dritten Kapitel die religionsförmige, neobarocke Ästhetik der Texte entgegengestellt. Ausgehend von Severo Sarduys Theorie des Neobarocks, aber vor allem von seinem Begriff der simulación wurde eine Ästhetik des Transvestismus skizziert, die zusammen mit Jean Genets Begriff der posture gelesen wurde: Eine neobarocke Lesart ermöglicht es, die subversive und kritische Aneignung einer – für den Katholizismus

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charakteristischen – opulenten Ästhetik der Oberfläche aufzuzeigen. Gerade diese Ästhetik führt die Ambivalenz der queeren Religionskritik vor Augen. Bei der neobarocken, verformenden Zitation der katholischen Ästhetik wird die Heiligkeit als oberflächlicher Schein entlarvt. Diesem Aspekt wurde dann direkt in den Texten Winklers und Vallejos nachgegangen: Winklers Aneignung verschiedener Textsorten des katholischen Kanons (des Evangeliums, der Tradition der Imitatio Christi und des Streitdialogs in Der Ackermann aus Böhmen) dient als kritische Strategie, um Paradoxien des Katholizismus zu enthüllen. Dann wurde Winklers Todesfaszination in Verbindung mit seiner Bildpoetik gelesen, indem über das ‚Nachleben‘ und die Wirkung lebloser Bilder reflektiert wurde. Die Maske und vor allem die Totenmaske wurden in ihrer metaliterarischen Metaphorik als Zeichen für eine neobarocke Bildästhetik gelesen. Schließlich wurden bei Winkler zwei konkrete Beispiele der Aneignung von katholischen Rhetoriken analysiert: die Litanei und die Prophezeiung. Bei Vallejo wurde dem neobarocken Schreiben anhand anderer Strategien nachgegangen: Der Humor und die Parodie des Heiligen in der Selbststilisierung als Heiliger wurden als Verformungsstrategien des Katholischen analysiert. Dies markiert m.E. einen großen Unterschied zu Winkler: Humor ist eine zentrale Strategie Vallejos, die bei Winkler nicht zu finden ist. Die markanteste neobarocke Eigenschaft von Vallejos Schreiben äußert sich jedoch in seiner jubelnden, ornamentalen Sprache, die viele Ähnlichkeiten mit kultischen, sakralen Redeformen im Katholizismus aufweist. Dabei verschiebt Vallejo diese opulente Rhetorik des Katholizismus, indem er sie in Bezug auf Profanes, aber auch auf die Tradition der Heterodoxie anwendet. Schließlich wurden direkte und indirekte Zitate katholischer Textsorten bei Vallejo aufgezeigt, die eine spontane Aneignung klerikaler Sprache zum Ausdruck bringen. Beide Autoren zeigen gerade in ihrem neobarocken Stil eine Faszination für das Katholische, die jedoch zu ihrer Umkodierung und Verformung genutzt wird. Obwohl bei der Analyse eine Opposition zwischen einer destruktiven oder aggressiven, und einer jubelnden oder re-konstruktiven Religionskritik eingeführt wurde, implizieren doch beide Formen eine ambivalente Positionierung zum Katholizismus, in der sich die hier postulierte Doppeldeutigkeit der queeren Religionskritik zeigt: Die Beleidigung ist nicht nur eine zielgerichtete, destruktive Kritik des Katholizismus, sie greift selbst auf eine katholische Rhetorik des Vokativs zurück und auf einen Gestus der Klage, der religiöse Färbungen besitzt. Dabei ist die Beleidigung auch Zeichen einer Wertschätzung ihres Objektes, einer Hingabe (Sanín) an das beleidigte Objekt. Das Neobarocke seinerseits ist zugleich nicht nur eine aneignende, sich ihrem Objekt annähernde Kritikform, sondern auch eine verformende, die an verschiedenen Stellen mit

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Strategien der Verqueerung einhergeht. Gerade in dieser doppelten Bezugnahme findet man den poetisch produktiven Teil der queeren Religionskritik: Im Zusammendenken, im Verbinden verschiedener Sphären, das in diesem Fall eine Position der Ein- und Ausgrenzung des queeren Subjektes in der Gesellschaft zum Ausdruck bringt. Zwischen Destruktion und Aneignung artikulieren sich somit die verschiedenen Ebenen der queeren Religionskritik, die sich aber nicht in den hier präsentierten Aspekten erschöpfen. Die Analyse bleibt daher offen und lässt weiterführende Fragen zu, über die das vorliegende Buch an ein breiteres Forschungsgebiet anknüpfen würde: Erstens: Eine Überprüfung der Anwendbarkeit und Verallgemeinerung der konkreten Strategien dieser Religionskritik, die in der Beschäftigung mit der queeren Literatur skizziert wurden, ist vielleicht eine Aufgabe, die jede Begriffsprägung mit sich bringt. In diesem Sinne würde eine vergleichende Analyse der Resultate meiner Lektüre mit den Werken z.B. Pier Paolo Pasolinis, Jean Genets, Juan Gil-Alberts, Hubert Fichtes, Reinaldo Arenas, James Baldwins, Pedro Lemebel und Jean Cocteaus, die ursprünglich in das Forschungsprojekt miteinbezogen werden sollten, meine Thesen bekräftigen. Zweitens: Die Frage nach den konkreten Unterschieden und möglichen Ähnlichkeiten zwischen der protestantischen und katholischen Religionskritik würde die Analyse bereichern: Ähnliche religionskritische Strategien, die sich auf die protestantische Religionskultur beziehen, lassen sich z.B. in Hubert Fichtes Werk finden, der mit Winkler die Rezeption von Jean Genets Werk gemeinsam hat. Ein anderes Beispiel wäre James Baldwins Auseinandersetzung mit dem homosexuellen Begehren in der evangelischen Gemeinschaft der USA – etwa in Go Tell It To The Mountain (1952). Drittens: Die Untersuchung queerer Texte, die jedoch nicht einer männlichen Autorschaft entstammen, im Hinblick auf die hier herausgearbeiteten Strategien würde zeigen, dass diese über die rein schwule Literaturtradition hinaus relevant sind. Die Auseinandersetzung mit einer transgeschlechtlichen, lesbischen, non-binären Literaturtradition würde somit die Hypothese bekräftigen, dass es sich hier um ein nicht ausschließlich schwules, sondern queeres Phänomen handelt. Dies zeigt beispielhaft Camila Sosa Villadas Las malas (2019), die in der Erzählung ihrer transgeschlechtlichen Erinnerungen eine queere Religionskritik artikuliert. Viertens: Eine damit zusammenhängende Analyse aus der Perspektive der Theologie und der Religionswissenschaft über die Beziehung der katholischen Religion zum queeren Schreiben würde das hier skizzierte Bild vervollkommnen: Wenn das queere Schreiben eine ambivalente Beziehung zum Katholizismus aufweist, wie ließe sich die Beziehung aus der Perspektive des Katholizis-

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mus (vor allem mit Bezugnahme auf die neuen Traditionen der Queer und Feminist Theology) verstehen bzw. lesen? Mit diesen Punkten wird deutlich, dass das vorliegende Buch auf die Initiierung einer weiterführenden Analyse mit zahlreicheren Beispielen angelegt ist. Die Untersuchung erfolgte aus meiner Perspektive auf queeres Schreiben, das ich als eine politische und kulturelle Handlung verstehe, anhand derer man die Kämpfe queerer Subjekte im 20. Jahrhundert nachzeichnen kann. Im emanzipatorischen Kampf um eine eigene Stimme divers-sexueller Subjekte ergaben sich im Laufe des vergangenen Jahrhunderts bis in unsere Tage spezifische Strategien des Widerstandes, die in meinen Augen eine Ambivalenz erkennen lassen. Ferner habe ich versucht, in diesem Buch interdisziplinär zwei Autoren vergleichend in Dialog treten zu lassen und sie dabei innerhalb der akademischen Diskussion positiv zu beleuchten: Beide Autoren wurden komparatistisch im Rahmen eines internationalen Kanons gelesen, jenseits einer verkürzten Lektüre ihrer Werke innerhalb der kolumbianischen bzw. österreichischen Literaturgeschichte. Vor allem war die Wertung des Werkes Vallejos bis jetzt eine umstrittene Angelegenheit – der oft zitierte, berühmte Artikel Pablo Montoyas über das Reaktionäre bei Vallejo ist ein klares Beispiel dafür.3 Indem ich Vallejos Werk innerhalb eines politisch-ethischen Schreibens queerer Subjekte gelesen habe, habe ich versucht, die poetische und politische Bedeutung seines Werkes innerhalb der neuesten Literaturgeschichte hervorzuheben.

|| 3 Vgl. Montoya, 2008.

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Personenregister Adorno, Theodor 115 Agamben, Giorgio 127, 166–168, 170, 179, 196–197, 207 Ahmed, Sara 19, 21, 48, 85–87, 89–90, 119– 120, 136, 157, 231, 360 Aichinger, Ilse 30 Alighieri, Dante 59, 84, 203 Almodóvar, Pedro 13 Althusser, Louis 95, 198 Álvarez, Juan 19, 39, 193–197, 202, 205, 212, 240, 251, 257, 261 Arango, Gonzalo 215–217, 221, 361 Arenas, Reinaldo 364 Artaud, Antonin 113 Assisi, Franz von 171 Augustinus 126, 350 Ávila, Santa Teresa 17 Azorín 59 Bach, Johann Sebastian 173 Bacon, Francis 6 Bakunin, Michail A. 38 Baldwin, James 14, 18, 364 Balzac, Honoré de 246, 249 Barba Jacob, Porfirio 20, 54, 59, 69–74, 127, 246–247, 276 Bataille, Georges 17, 232 Baudrillard, Jean 33, 177, 289 Bellatin, Mario 188, 190 Belting, Hans 282, 284 Bernhard, Thomas 30–31, 35, 62, 100, 104– 106, 121, 151–153, 193, 199, 200, 202, 220, 222–224, 226–227, 229, 237, 362 Bioy Casares, Adolfo 59 Blanchart, Gilles 4 Blanchot, Maurice 159 Blasco Ibañez, Vicente 59 Bolaño, Roberto 45, 248 Bolívar, Simón 138, 244 Bosco, Johannes 340–341 Braidotti, Rosi 25, 34–35, 155, 162 Brancati, Vitaliano 59 Bruegel, Pieter 65 Buñuel, Luis 113

https://doi.org/10.1515/9783110799965-025

Butler, Judith 179, 185, 197–200, 204, 207– 208, 258, 290, 361 Cabrera, Sergio 29 Caicedo, Andrés 29 Calderón de la Barca, Pedro 268 Camus, Albert 20, 93 Canetti, Elias 36 Caravaggio, Michelangelo Merisi da 272, 278, 280–281 Carrasquilla, Tomás 307 Caro, Miguel Antonio 354 Castellanos, Rosario 29 Cervantes, Miguel de 59, 203, 268 Chateaubriand, François-René de 57 Cioran, Emil 36, 377 Cixous, Hélène 34 Claudel, Paul 268 Cocteau, Jean 14, 364 Colette 59 Collazos, Óscar 222 Colonna, Giacomo 126 Commoy, Pierre 4 Cortázar, Julio 29 Cuervo, Rufino José 20, 54, 69, 354 D’Annunzio, Gabriele 57, 59 D’Halmar, Augusto 13 de la Cruz, San Juan 17 Deleuze, Gilles 21, 38–39, 49, 78, 82, 124, 155–166, 184, 265, 267–269, 279–280, 283, 289, 292, 314, 318 Derrida, Jacques 46, 92, 159, 166–167, 173, 186, 201, 209–210, 212, 230, 266, 361 Diederichsen, Diedrich 25, 33–34, 112–113, 265–266, 273 Doderer, Heimito von 30, 57, 105 Donoso, José 29, 265, 268 Dor, Milo 30 Dustan, Guillaume 128 Eagleton, Terry 155 Edelman, Lee 16, 89, 359 Eliade, Mircea 80

384 | Personenregister

Eribon, Didier 13, 76, 154, 198, 230 Escobar, Eduardo 215, 217, 222 Fichte, Hubert 14, 18, 36, 48, 64, 93, 212, 297, 313, 364 Foucault, Michel 8, 21–23, 110, 122, 163, 168 Fuentes, Carlos 29 Galán, Luis Carlos 28 García Márquez, Gabriel 29, 57, 250 Garro, Elena 29 Gaviria, Víctor 29 George, Stefan 1, 14, 17 Genet, Jean 3, 8, 14, 17, 20, 21, 64, 74–76, 93, 113, 212, 246, 294, 295–311, 357, 359, 362, 364 Gide, André 48, 289, 326, 337 Gil-Albert, Juan 17, 364 Goethe, Wolfgang von 59, Gómez Jattin, Raúl 29, 172, 188–189, 215 González, Fernando 156–157, 214–221, 362 Grass, Günther 36 Green, Julien 93, 190 Greiner, Ulrich 32, 68 Guattari, Félix 38, 78, 124, 159, 161–162, 166, 202 Guicciardini, Francesco 24 Haider, Jörg 32, 279 Handke, Peter 65–66, 97–98, 222, 224– 227, 250, 270, 362 Hamsun, Knut 313 Haslinger, Josef 31, 105 Hebbel, Friedrich 93 Hiob 321–322 Hirschfeld, Magnus 2, 6 Hitler, Adolf 106, 201, 216, 236–239 Hocquenghem, Guy 159, 289 Homer 55 Hoppe, Felicitas 36 Hosoe, Eikoh 2 Hugo, Victor 246, 249, 285–286 Innerhofer, Franz 36, 50 Irigaray, Luce 34 Jaeggi, Rahel 46, 115

Jahnn, Hans Henny 14, 21, 75 Jaramillo Escobar, Jaime 215 Jelinek, Elfriede 105, 222, Jesus Christus 3, 5, 9, 24, 32, 77–82, 88–89, 94, 102–103, 106, 108, 113, 115–116, 147, 165, 171–175, 178–180, 183, 186– 187, 189, 192, 233–235, 237–238, 254– 255, 274, 282, 284, 286, 299, 301–302, 304, 308, 315–325, 326, 329–330, 333, 336, 342, 344, 346–350, 356–357, 363 Jodorowsky, Alejandro 114 Judas 77, 81, 324 Jonke, Gerhard 65 Kafka, Franz 93, 167 Kempen, Thomas von 319–321, 323, 357 Kermani, Navid 278 Kirby, Matthew J. 6 Kosofsky Sedgwick, Eve 7, 87 Kracht, Christian 36 Kreisky, Bruno 31 Kristeva, Julia 34, 266 Lacan, Jacques 266 Laertius, Diogenes 174, 202, 210–211 Larra, Mariano José de 59 Latour, Bruno 20 Lemebel, Pedro 14, 29, 265 Lennon, John 32, 334 Levrero, Mario 118 Lezama Lima, José 265–266 Lispector, Clarice 29 López Michelsen, Alfonso 139 Loyola, Ignacio 24 Luther, Martin 81, 230, 282 Lyotard, Jean-François 83, 119 Macho, Thomas 284, 327–328 Man, Paul de 303 Magris, Claudio 32, 105 Mann, Thomas 1–2 Mapplethorpe, Robert 112, 286 Marías, Javier 127, 141 Martel, Frédéric 13 May, Karl 20, 75, 93 McCartney, Paul 334 Mishima, Yukio 1–5, 14

Personenregister | 385

Mitchell, W. J. T. 95–96, 109–110 Molloy, Sylvia 40, 67, 107, 296 Montoya, Pablo 39, 214, 218, 365 Monsiváis, Carlos 215 Moses 81 Mujica Láinez, Manuel 57, 59 Muñoz, José Esteban 16, 19, 85, 89, 119, 310, 311 Nietzsche, Friedrich 124, 151, 160–161, 163, 167, 209, 217, 222 Nizan, Paul 93 Norden, Francisco 29 Pasolini, Pier Paolo 209, 297, 364 Pavese, Cesare 313 Paz, Octavio 70, 73, 199, 246–248, 256, 270 Peri Rossi, Cristina 29 Perlongher, Néstor 29, 265 Perniola, Mario 24, 278 Petrarca, Francesco 126–127 Paulus 78, 81, 281, 349 Petrus 82 Pfaller, Robert 173, 197, 200–202, 207–210, 361 Piñera, Virgilio 4–5, 266, 281, 286 Pius XII 238, 252 Polansky, Roman 304 Preciado, Paul B. 16, 128, 295 Proust, Marcel 48, 57, 289 Puig, Manuel 169, 188 Reni, Guido 1–2, 4, 284 Rilke, Rainer Maria 268, 314 Saer, Juan José 29 Sanín, Carolina 197–198, 202–207, 215, 241, 292, 361, 363 Sarduy, Severo 3, 14, 21, 39, 49, 229, 265– 274, 276–279, 281, 284–297, 303, 306, 312, 325–326, 338, 342, 357, 362 Saura, Antonio 3 Serres, Michel 207 Schopenhauer, Arthur 192 Shakespeare, William 59 Silva, José Asunción 20, 54, 69

Sloterdijk, Peter 19, 33, 111, 174, 176, 202, 209–213, 238, 245, 248, 256–257 Sokrates 17, 218 Sontag, Susan 12, 160 Sosa Villada, Camila 14, 364 Soutine, Chaim 306 Spinoza, Baruch von 21–22, 155–161, 163– 164, 172, 217, 361 Sterne, Laurence 206 Stifter, Adalbert 121 Tepl, Johannes von 321–325, 357 Tom of Finland 286 Tournier, Michel 120 Vallejo, Fernando 8–13, 19–20, 22, 24, 27, 29, 33, 35–36, 38–41, 45–78, 80–82, 84, 87–93, 100, 103–104, 118–146, 151, 153–154, 156–159, 162–166, 169–177, 187, 189–192, 194–195, 199–206, 209– 219, 221–222, 226, 228–229, 233, 236, 238, 240, 241–261, 265–266, 268–269, 271, 273, 276, 280–281, 285–287, 292, 294–311, 316, 332, 336–344, 346, 348, 350–363, 365 Vargas Llosa, Mario 29, 57 Vargas Vila, José María 163, 215, 222, 314 Volpi, Jorge 29, 188 Voragine, Jacobus de 5 Waldheim, Kurt 31 Walser, Robert 121 Weil, Simone 169 Weiss, Peter 20, 65, 75, 93 White, Edmund 112 Wilde, Oscar 8, 14, 21, 48, 189, 234, 297 Winkler, Josef 4–5, 7–10, 13, 16, 19–21, 24, 30–38, 41, 45–80, 82, 84, 87–88, 92– 118, 120, 122, 125, 128, 136–137, 144– 146, 151, 153–154, 159, 162, 163–166, 169, 179, 180–192, 199, 201–202, 209, 212–214, 217, 222–239, 242–244, 246, 260–261, 265–266, 270–271, 273–274, 276, 279, 286–287, 292–314, 316–336, 338–339, 357–364 Wittgenstein, Ludwig 58, 160 Wojnarowicz, David 112–113, 286

386 | Personenregister

Wojtyla, Karol Józef/Johannes Paul II 87, 199, 253–255, 307–308 Wölfflin, Heinrich 268–271, 276, 284 Yourcenar, Marguerite 14 Zedillo Ponce de León, Ernesto 256