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German Pages 580 Year 2020
Anna Kallabis Katholizismus im Umbruch
Ancien Régime Aufklärung und Revolution
Herausgegeben von Rolf Reichardt und Hans-Ulrich Thamer
Band 46
Anna Kallabis
Katholizismus im Umbruch Diskurse der Elite im (Erz-)Bistum Trier zwischen Aufklärung und französischer Herrschaft
Diss. phil. Universität Trier, Fachbereich III 2018 Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf.
ISBN 978-3-11-067447-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-067454-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-067456-9 ISSN 2190-295X Library of Congress Control Number: 2020933842 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Ausschnitt eines Stichs der Stadt Trier von Matthäus Merian, Topographia Archiepiscopatuum Moguntinensis, Trevirensis, et Coloniensis, [Frankfurt a. M.], 1646 Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde im Oktober 2018 vom Fachbereich III der Universität Trier als Dissertation im Fach Geschichte angenommen und für die Drucklegung geringfügig überarbeitet. An dieser Stelle möchte ich nun denjenigen danken, die mich bei meinem Vorhaben unterstützt und begleitet haben: Zuallererst gilt mein herzlicher Dank Frau Prof. Dr. Helga Schnabel-Schüle, die mein Interesse an der Frühen Neuzeit und speziell an der Aufklärung schon im Studium weckte. Von Anfang an begleitete sie meine Dissertation mit kritischem Wohlwollen, vielen Anregungen und Zuspruch und war für alle Fragen und Gesprächsbedürfnisse eine verlässliche Ansprechpartnerin. Ihr Vertrauen in das Gelingen der Arbeit und die Freiheit, die sie mir für die Bearbeitung ließ, waren von unschätzbarem Wert! Bedanken möchte ich mich auch bei Herrn Prof. Dr. Christian Jansen, der großen Anteil an der Anfangsphase meiner Dissertation hatte und mir zu zahlreichen Anregungen und Einsichten – auch über die Grenzen des Themas hinaus – verhalf. Für Hinweise und seine Bereitschaft, als Prüfer an der Verteidigung teilzunehmen, danke ich Herrn Prof. Dr. Stephan Laux sowie Herrn Prof. Dr. Lutz Raphael. Herr Prof. Dr. Horst Carl (Uni Gießen) übernahm dankenswerterweise die Erstellung eines Drittgutachtens. Für die Aufnahme der Studie in die Reihe Ancien Régime, Aufklärung und Revolution gilt mein Dank den beiden Herausgebern, Herrn Prof. Dr. Rolf Reichardt und Herrn Prof. Dr. Hans-Ulrich Thamer. Von Seiten des De Gruyter Oldenbourg-Verlags begleitete Frau Dr. Elise Wintz freundlich und kompetent die Veröffentlichung. Hilfe und Unterstützung boten mir darüber hinaus die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Landeshauptarchivs Koblenz, der Stadtbibliothek und des Stadtarchivs Trier, des Bistumsarchivs Trier und der Bibliothek des Priesterseminars Trier. Namentlich gedankt sei vor allem Herrn Stefan Nicolay (Bistumsarchiv Trier), Herrn Tobias Teyke (Stadtarchiv Trier) und Frau Dr. Anja Ostrowitzki (Landeshauptarchiv Koblenz). Finanziell gefördert wurde mein Vorhaben durch ein Stipendium der Gerda Henkel Stiftung, die mir ebenfalls eine Druckkostenbeihilfe gewährte. Schließlich gilt mein Dank meinen Eltern, die mich mit großer Zuversicht immer „haben machen lassen“. Für das Korrekturlesen meiner Arbeit danke ich meiner Mutter ganz besonders. Kritischer Erstleser war dabei stets Maximilian Lässig, dessen Rückhalt, Geduld und Diskussionsfreude ich nie missen will. Trier, im Januar 2020
https://doi.org/10.1515/9783110674545-202
Inhalt Danksagung | V 1 1.1 1.2 1.3
Einleitung | 1 Fragestellung und methodisches Vorgehen | 5 Forschungsüberblick | 10 Quellen | 18
2
2.2 2.3
Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit | 24 Erzbistum und Kurfürstentum Trier im ausgehenden 18. Jahrhundert | 24 Die (katholische) Aufklärung im Überblick | 39 Kirchen- und Religionspolitik in französischer Zeit | 71
3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.2 3.3 3.4
Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an | 107 Klöster und Mönchtum in der Diskussion | 111 Die Briefe über das Mönchswesen | 116 Die Klosterreform im Erzstift Trier in der Diskussion | 190 Die Bekämpfung des Aberglaubens: Der Priester als Aufklärer | 214 Wie soll der „trierische Knabe“ gebildet werden? | 260 Zwischenfazit | 283
4 4.1 4.1.1
4.2.1 4.2.2 4.2.3
Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? | 285 Reaktionen auf den politischen Umbruch | 286 Herrschaftswechsel: Wahrnehmung der Folgen für Religion und Kirche | 286 Die Diskussion um den Priestereid | 331 Die Jahre nach 1801/02 – „Wiederherstellung“ der Religion? | 361 Zwischenfazit | 415 Innerkonfessionelle Debatten: Im Widerstreit zwischen Reform und Orthodoxie | 419 Streitfall Priesterbild und Mönchtum | 419 Was zeichnet die ‚wahre‘ Religion aus? | 466 Die Aufklärung – Chance oder Gefahr für die Religion? | 505
5
Schlussbemerkung | 528
2.1
4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.2
VIII | Inhalt Anhang: Kurzbiografischer Überblick | 535 Quellen- und Literaturverzeichnis | 541 Quellenverzeichnis | 541 Forschungsliteratur | 547 Personenverzeichnis | 567
1 Einleitung Im Jahr 1799 veröffentlichte Johann Nikolaus Becker (1773–1809), der als freier Schriftsteller in Koblenz lebte, eine Beschreibung seiner Reise durch die vier neuen rheinischen Departements, deren Entwicklung er in den folgenden, polemischen Worten zusammenfasste: Der Verfasser dieser Briefe ist in dem Lande gebohren, durch welches diese Reise geht. Er bekennt sich schon seit der Zeit, da er selbstständig denken gelernt hat, zu der Parthei, deren Sache er in diesen Briefen führt. Mit dem Ablaufe dieses Jahrhunderts hat sein Vaterland eine Revolution erlitten, die jetzt schon alle geistliche und weltliche Despotie verschlingt, und künftige Dinge erwarten lässt, die der kühnste Geist noch vor 9 Jahren nicht ein Mahl ahnen konnte. Der Katolizismus und seine Diener sind dahin, Ungeheuer, die seit Jahrhunderte an dem Mark der wackern Menschen nagten, die die Ufer des Rheins bewohnen, – Beförderer des Betrugs, des Aberglaubens, der Falschheit, des Meuchelmords und der Giftmischerei […]. Drei Ober-Mönche liegen im Staube und ihnen stürzt das ganze Gebäude nach […].¹
Als überzeugtem Anhänger der Revolution mangelt es Beckers Bericht zwar an Objektivität, doch seine Worte lassen erkennen, wie ereignisreich sich die Zeit im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert für ihn und seine Zeitgenossen darstellte.² Nicht umsonst gilt die Zeitspanne zwischen 1750 und 1850 – die sogenannte Sattelzeit³ – in der Geschichtswissenschaft als Phase vielfältiger Herausforderungen und Umbrüche, denen sich die Menschen des Heiligen Römischen Reiches und seiner Nachfolgestaaten stellen mussten. Obwohl diese Aussage insbesondere auf die linksrheinischen Territorien wie das Kurfürstentum Trier zutrifft, existiert bislang zur Wahrnehmung dieser Umbrüche durch Teile der Bevölkerung keine Untersuchung. Dabei blieb gerade für diese Gebiete die Französische Revolution nicht folgenlos, worauf Becker im obigen Zitat anspielt: Vielmehr wirkten sich die ab 1792 ein1 Johann Nikolaus Becker: Beschreibung meiner Reise in den Departementern vom Donnersbergem vom Rhein und von der Mosel in sechsten Jahr der Französischen Republik. In Briefen an einen Freund in Paris, Berlin 1799, S. III–IV. 2 Ich verzichte an dieser Stelle auf eine ausführliche Erörterung zur Quellenproblematik von Reiseberichten, siehe dazu Michael Maurer: Reiseberichte, in: ders. [Hrsg.]: Aufriß der historischen Wissenschaften. Bd. 4: Quellen, Stuttgart 2002, S. 325–348. Weiterführende Literatur zum Thema Reiseberichte findet sich bei: Christoph Nebgen: Konfessionelle Differenzerfahrungen. Reiseberichte vom Rhein (1648–1815), München 2014. 3 Mit der Problematik des auf Reinhart Koselleck zurückgehenden Begriffs Sattelzeit setzt sich auseinander: Daniel Fulda: Sattelzeit. Karriere und Problematik eines kulturwissenschaftlichen Zentralbegriffs, in: Elisabeth Décultot/Daniel Fulda [Hrsg.]: Sattelzeit. Historiographiegeschichtliche Revisionen, Berlin/Boston 2016, S. 1–16. https://doi.org/10.1515/9783110674545-001
2 | 1 Einleitung setzenden Revolutionskriege auf den „gesamte[n] nordwesteuropäische[n] Raum“⁴ aus. Doch schon vor diesen Kriegshandlungen war es in verschiedenen Städten zu Unruhen gekommen und insbesondere das Kurfürstentum Trier war durch die hohe Zahl französischer Emigranten, die sich in Koblenz und Trier niederließen, von der Revolution betroffen.⁵ Zwar erzielten die Koalitionstruppen anfangs noch einige Erfolge – die Stadt Mainz konnte etwa 1793 durch die Preußen wieder rückerobert werden, was das Ende der Mainzer Republik bedeutete –, aber davon abgesehen, war ab Herbst 1794 der gesamte linksrheinische Raum französisch besetzt. Die nun folgende Phase der Okkupation war durch Chaos, Korruption und Willkür geprägt.⁶ Einen Einschnitt stellte das Jahr 1798 dar: Nach Abschluss des Friedens von Campo Formio organisierten die Besatzer die linksrheinische Verwaltung sowie 4 Horst Carl: „Strafe Gottes“. Krise und Beharrung religiöser Deutungsmuster in der Niederlage gegen die Französische Revolution, in: ders. [Hrsg.]: Kriegsniederlagen. Erfahrungen und Erinnerungen, Berlin 2004, S. 281–295, hier S. 281. 5 Zu Unruhen im Linksrheinischen vgl. die knappen Ausführungen bei Matthias Schnettger: Politische Ereignisse von der Reformation bis zur Französischen Revolution, in: Lukas Clemens/ Franz J. Felten/Matthias Schnettger [Hrsg.]: Kreuz, Rad, Löwe. Rheinland-Pfalz – ein Land und seine Geschichte. Band 1: Von den Anfängen der Erdgeschichte bis zum Ende des Alten Reichs, Mainz 2012, S. 505–536, hier S. 529 f. Zu Trier ausführlicher: Günter Birtsch: Soziale Unruhen, ständische Gesellschaft und politische Repräsentation. Trier in der Zeit der Französischen Revolution 1781–1794, in: Mentalitäten und Lebensverhältnisse. Beispiele aus der Sozialgeschichte der Neuzeit. Rudolf Vierhaus zum 60. Geburtstag, Göttingen 1982, S. 143–159. Inwiefern es sich dabei nur um einen „sozial-konservativen Aufruhr im Schatten der großen Französischen Revolution“ (S. 150) handelte, bliebe noch zu klären, vgl. Jort Blazejewski/Stephan Laux: Trier, Luxemburg und die Émigrés der Französischen Revolution seit 1789. Tendenzen und Perspektiven der Forschung, in: Kurtrierisches Jahrbuch 54 (2014), S. 211–242, hier S. 220 sowie ebd. zu Emigranten in Trier. Zur Problematik in Koblenz vgl. Christian Henke: Coblentz: Symbol für die Gegenrevolution. Die französische Emigration nach Koblenz und Kurtrier 1789–1792 und die politische Diskussion des revolutionären Frankreichs 1791–1794, Stuttgart 2000. 6 Im Juni 1794 fielen die Österreichischen Niederlande wieder an Frankreich; Aachen (23. September), Köln (6. Oktober) und Koblenz (23. Oktober) wurden durch die Sambre-Maas-Armee erobert sowie Trier (9. August) und der Hunsrück bis Bingen (23. Oktober) durch die Rhein-MoselArmee. Vgl. den Überblick bei Wolfgang Hans Stein: Die französischen Bestände des Stadtarchivs Trier 1794–1814/1816. Provenienzverzeichnis, Koblenz 2013, S. 4 sowie Josef Smets: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Vom rheinischen Untertan zum französischen Citoyen, in: Koblenzer Beiträge zur Geschichte und Kultur 5 (1995), S. 11–31, hier S. 22–23; Schnettger: Ereignisse (wie Anm. 5), S. 534; Carl: Strafe (wie Anm. 4), S. 281. Ausführlich stellt den Kriegsverlauf und die Positionen Frankreichs zur Rheingrenze dar: Hansgeorg Molitor: Vom Untertan zum Administré. Studien zur französischen Herrschaft und zum Verhalten der Bevölkerung im Rhein-Mosel-Raum von den Revolutionskriegen bis zum Ende der napoleonischen Zeit, Wiesbaden 1980, S. 12–27. Zur Mainzer Republik vgl. Franz Dumont: Die Mainzer Republik 1792/93. Französischer Revolutionsexport und deutscher Demokratieversuch. Bearbeitet von Stefan Dumont und Ferdinand Scherf, Mainz 2013, S. 19–66.
1 Einleitung
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das Justizwesen nach französischem Vorbild und teilten das Gebiet in vier Departements ein: Es entstanden das Saar-, das Rhein-Mosel-, das Rur- und das Donnersberg-Departement mit den jeweiligen Hauptstädten Trier, Koblenz, Aachen und Mainz. Auch wenn die Annexion völkerrechtlich erst 1801 durch den Frieden von Lunéville anerkannt wurde, führte sie faktisch zur Aufhebung der zahlreichen alten Herrschaften.⁷ Linksrheinisch kam damit das Ende für die geistlichen Staaten bereits vor dem Reichsdeputationshauptschluss (1803) und der einhergehenden Säkularisation⁸ im Rechtsrheinischen. Auf diesen Umbruch verweist Becker, wenn er 1799 den Sturz der „[d]rei Ober-Mönche“ bejubelt. Grundlage für die Säkularisation sowie die folgende Umgestaltung der Diözesanstruktur bildete im Rheinland das 1801 zwischen Papst Pius VII. und Napoleon geschlossene Konkordat. Doch schon in den Jahren zuvor griffen die Franzosen mit verschiedenen Maßnahmen in das gewohnte kirchlich-religiöse Leben der Bevölkerung ein.⁹ Beckers Freude über die vermeintliche Abschaffung des „Katolizismus und seiner Diener“, die Überwindung des „Aberglaubens“ sowie die Betonung des selbstständigen Denkens verweisen indirekt auf einen weiteren, ideellen Umbruch: die Aufklärung. Dieser Prozess beschränkte sich keineswegs nur auf die protestantischen Territorien des Alten Reiches, was lange Zeit die dominierende Forschungsmeinung darstellte.¹⁰ Vielmehr gab es auch in den katholischen Ländern zahlreiche Rezipienten aufklärerischer Ideen. Gemeinsam war den Vertretern der Aufklärung die Bereitschaft, Traditionen und althergebrachte, religiöse Welterklärungsmodell in Zweifel zu ziehen. Die bestehenden Verhältnisse sahen sie nicht mehr zwangsläufig als gottgegeben, sondern als veränderbar an. Gerade die katholische 7 Vgl. Jürgen Müller: 1798. Das Jahr des Umbruchs im Rheinland, in: Rheinische Vierteljahresblätter 62 (1998), S. 205–237, hier S. 208–210 und S. 215–217; Gabriele Clemens/Lukas Clemens: Geschichte der Stadt Trier, München 2007, S. 126 und Carl: Strafe (wie Anm. 4), S. 282. 8 Der Begriff Säkularisation verweist einerseits auf den Aspekt der Herrschaftssäkularisation als Aufhebung der Territorialhoheit der geistlichen Reichsstände des Alten Reichs. Andererseits meint er die Vermögenssäkularisation als Enteignung von Kirchengut durch den Staat. Vgl. dazu u. a. Wolfgang Schieder: Die Säkularisationspolitik Napoleons in den vier rheinischen Departements, in: Irene Crusius [Hrsg.]: Zur Säkularisation geistlicher Institutionen im 16. und im 18./19. Jahrhundert, Göttingen 1996, S. 84–101, hier S. 84. 9 Vgl. Joachim Oepen: Die Säkularisation von 1802 in den vier rheinischen Departements, in: Harm Klueting [Hrsg.]: 200 Jahre Reichsdeputationshauptschluss. Säkularisation, Mediatisierung und Modernisierung zwischen Altem Reich und neuer Staatlichkeit, Münster 2005, S. 87–114, hier bes. 87–98; Michael Müller: Säkularisation und Grundbesitz. Zur Sozialgeschichte des Saar-MoselRaumes 1794–1813, Boppard 1980, S. 68 und Elisabeth Wagner: Die Säkualrisation, in: Martin Persch/Bernhard Schneider [Hrsg.]: Geschichte des Bistums Trier. Band 4: Auf dem Weg in die Moderne 1802–1880, Trier 2000, S. 37–40, hier S. 37–40. Ausführlicher zur französischen Kirchenund Religionspolitik siehe Kapitel 2.3. 10 Siehe dazu auch den Forschungsüberblick Kapitel 1.2.
4 | 1 Einleitung Kirche wurde nun oft mit dem Vorwurf des Dogmatismus und der Rückständigkeit konfrontiert. Unter dem Einfluss der Aufklärung und aufgrund wachsender Bildung verloren Kirche und Religion daher zusehends ihren alleinigen Anspruch auf vermeintlich letztgültige Wahrheiten. Für sie stellte der Prozess der Aufklärung potentiell eine Herausforderung dar.¹¹ Auch unter dem Eindruck von Revolution und Säkularisation unterlag die traditionelle (kirchliche) Religiosität einem Wandel; ihr Stellenwert in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft veränderte sich.¹² Lange Zeit dominierte in der historischen Forschung die Annahme, gesellschaftliche Modernisierung ginge zwangsläufig mit dem Prozess einer stetig fortschreitenden Säkularisierung einher. Das Weiterbestehen bzw. die Intensivierung religiöser Vorstellungen wurde zwar ebenfalls wahrgenommen, Kirche und Religion erschienen aber oft als „rückwärtsgewandte Kräfte im gesellschaftlichen Entwicklungsprozess“¹³. Der Wandel, dem Kirche und Religion am Übergang vom
11 Vgl. Andreas Holzem: Christentum in Deutschland 1550–1850: Konfessionalisierung – Aufklärung – Pluralisierung, Paderborn 2015, S. 726–727 sowie ausführlicher zur (katholischen) Aufklärung in Kapitel 2.2. 12 Vgl. hierzu vor allem Rudolf Schlögl: Alter Glaube und moderne Welt. Europäisches Christentum im Umbruch 1750–1850, Frankfurt a. M. 2013. Ausgehend vom „tiefgreifende[n] Umbruch“, der zwischen 1750 und 1850 die „Gesellschaften Mittel- und Westeuropas“ erfasste, untersucht Schlögl den Wandel, der auch das europäische Christentum betraf sowie die daraus resultierende „Umgestaltung der sozialen Form des europäischen Christentums“ (jeweils S. 9). Den Wandel des Katholizismus „zwischen barocker Frömmigkeit und beginnender konfessionell-politischer Massenmobilisierung“ (S. 12) in den Städten Münster, Aachen und Köln zu beschreiben und als Bestandteil eines allgemeinen Säkularisierungsprozesses darzustellen, war Ziel seiner Habilitationsschrift: ders.: Glaube und Religion in der Säkularisierung. Die katholische Stadt – Köln, Aachen, Münster – 1700–1840, München 1995. Zweifel an diesem Befund äußert Antonius Liedhegener: Religion und Kirchen vor den Herausforderungen der Urbanisierung in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Werner Freitag [Hrsg.]: Die Pfarre in der Stadt. Siedlungskern, Bürgerkirche, urbanes Zentrum, Köln 2011, S. 175–210, hier S. 191. So sei nur ein kleiner Teil der städtischen Elite von Säkularisierungstendenzen betroffen gewesen. 13 Monika Neugebauer-Wölk: Zur Konstituierung historischer Religionsforschung 1974 bis 2004, in: Zeitenblicke 5.1 (2006), url: http://www.zeitenblicke.de/2006/1/Einleitung, Abs. 3. Vgl. auch Benjamin Ziemann: Sozialgeschichte der Religion, Frankfurt a. M. 2009, bes. S. 16–25; Horst Carl: Revolution und Rechristianisierung. Soziale und religiöse Umbruchserfahrungen im Rheinland bis zum Konkordat von 1801, in: Walter G. Rödel [Hrsg.]: Zerfall und Wiederbeginn. Vom Erzbistum zum Bistum Mainz (1792/97–1830). Ein Vergleich. Festschrift für Friedhelm Jürgensmeier, Würzburg 2002, S. 87–102, S. 90. Zur Kritik am ‚Säkularisierungs-Dogma’ vgl. auch Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter: Religion in der modernen Kultur, München 2007, S. 17–18. Für Schlögl hingegen entspringt der Säkularisierungs-Begriff der zeitgenössischen Beobachterperspektive: Rudolf Schlögl: Der Glaube Alteuropas und die moderne Welt. Zum Verhältnis von Säkularisation und Säkularisierung, in: Rödel [Hrsg.]: Zerfall (wie Anm. 13), S. 63–82, hier S. 65.
1.1 Fragestellung und methodisches Vorgehen |
5
18. zum 19. Jahrhundert unterlagen, bedeutete jedoch nicht ihren Niedergang. Zwar geriet die Konfessionszugehörigkeit immer mehr zur individuellen, freiwilligen Entscheidung und beruhte nicht mehr automatisch auf „Tradition und Herrschaftsverhältnissen“¹⁴. Religiöse Ereignisse sollten diese Entscheidung jedoch erleichtern, was sich bereits bei der Trierer Rock-Wallfahrt 1810 abzuzeichnen begann. Dabei knüpfte die kirchliche Elite an Muster barocker Frömmigkeit an und schuf gleichzeitig etwas Neues. Insbesondere der Katholizismus als Sozialform ging aus den vielfältigen Umbrüchen dieser Zeit gestärkt hervor, sodass er – anders strukturiert – im Verlauf des 19. Jahrhunderts an Einfluss gewinnen konnte.
1.1 Fragestellung und methodisches Vorgehen Diese knapp skizzierten Ereignisse und Entwicklungen, die zwischen 1770 und 1815 insbesondere die linksrheinischen, katholischen Gebiete des Reiches betrafen, wirkten sich auf das politische, aber auch auf das religiös-kirchliche Leben der Zeitgenossen aus. Für das Erzbistum Trier und seine Elite waren diese Umbrüche potenziell bestands- und existenzgefährdender als für die restliche Bevölkerung, da sie nicht nur die Stellung einzelner Akteure, sondern auch bisherige Glaubensvorstellungen sowie kirchliche Institutionen und Strukturen bedrohten. Gleichwohl spielte Religion als Sinnstruktur und Sozialform¹⁵ für die Bewältigung der Umbrüche weiterhin eine wesentliche Rolle, war sie doch noch immer zentraler Bestandteil des Alltags und Denkens vieler Menschen. Auch wenn Johann Nikolaus Becker in seinem Reisebericht schon den Untergang des Katholizismus feiert, verwiesen andere Zeitgenossen auf die „fortdauernde[…] Vitalität“¹⁶ der christlichen Religion während der Revolutionszeit im Rheinland. Vor diesem Hintergrund wird in der vorliegenden Untersuchung der Frage nachgegangen, wie die katholische Elite im (Erz-)Bistum Trier die Umbrüche und Herausforderungen der Jahre zwischen 1770 und 1815 wahrnahm und wie sie auf diese reagierte. Ausgehend von der Wahrnehmung der Akteure werden ihre
14 Ders.: Alter Glaube (wie Anm. 12), 152 sowie auch S. 229–231. 15 Damit lehne ich mich an die Definition von Thomas Luckmann an, vgl.Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion, Frankfurt a. M. 1991. Vgl. dazu auch Kaspar van Greyerz: Religion und Kultur. Europa 1500–1800, Göttingen 2000, S. 11–13. Greyerz betont u.a., dass Religion „als kulturelles Phänomen in ihren Ursprüngen immer eingebettet [ist] in einen bestimmten sozialen Kontext. Religion ohne Gesellschaft ist nicht denkbar.“ (S. 11). 16 Carl: Revolution (wie Anm. 13), S. 87. Zu Kriegserfahrung und Religion allgemein vgl. ders.: Kriegserfahrung und Religion in der Neuzeit, in: Max Kerner [Hrsg.]: Eine Welt – Eine Geschichte? 43. Deutscher Historikertag in Aachen 26. bis 29. September 2000, München 2001, S. 295–298.
6 | 1 Einleitung Deutungsmuster sowie ihre Selbst- und Fremdbeschreibungen, die angesichts der Umbrüche von Aufklärung und französischer Herrschaft zum Tragen kamen und sprachlich artikuliert wurden, untersucht. Die Fragestellung lässt sich daher weiter spezifizieren: – Welche Ideen und Vorstellungen von Bedrohung, Herausforderung, aber auch Bestandserhaltung existierten und wurden innerhalb der katholischen Elite des (Erz-)Bistums Trier verhandelt? Was wurde als Umbruch wahrgenommen? – Welche Diskurse spielten sich als Reaktion auf die Umbrüche ab? Wie wirkte sich das Spannungsfeld von Aufklärung und französischer Herrschaft, in dem sich die katholische Elite befand, auf diese Debatten aus? Was waren dabei die zentralen Ideen und Argumente, die die Auseinandersetzungen bestimmten? Die dabei ermittelten Vorstellungen, Argumente und Schlagworte werden im Sinne einer neuen Ideen- und Kulturgeschichte sowohl an den sozialgeschichtlichen Kontext, in dem sie verhaftet waren, als auch an die jeweiligen Akteure rückgebunden.¹⁷ Sie werden mithin auf ihren Bedeutungsgehalt im Kontext der Zeit untersucht. An dieser Stelle geht es daher auch darum zu fragen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt für die Vertreter der katholischen Elite sagbar war und was nicht, über welchen kommunikativen Spielraum sie also verfügten.¹⁸ Untersucht werden auch die kommunikativen Strategien der Akteure und die damit verbundenen Machtver-
17 Vgl. Lutz Raphael: „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit“: Bemerkungen zur Bilanz eines DFG-Schwerpunktprogramms, in: Lutz Raphael/Heinz-Elmar Tenorth [Hrsg.]: Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte, München 2006, S. 11–27, hier S. 23. – So können Ideen nie die handelnden Subjekte der Geschichte sein, da nur „eine Geschichte geschrieben werden kann, die sich auf verschiedene Akteure, die diese Idee[n] verwendet haben und auf deren unterschiedliche Situationen und Absichten bei der Verwendung“ (Quentin Skinner: Bedeutung und Verstehen in der Ideengeschichte, in: Martin Mulsow/Andreas Mahler [Hrsg.]: Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte, Berlin 2010, S. 21–87, hier S. 68), konzentriert. 18 Die Arbeit lehnt sich damit an die Historische Semantik an, unter der sich zahlreiche Ansätze subsumieren lassen, die sich methodisch mit sprachlichen Äußerungen befassen. Historische Semantik kann daher als Oberbegriff „für die verschiedenen Spielarten von Begriffs- und Diskursgeschichte“ (Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, 5. durchgesehene und aktualisierte Auflage, 2006, S. 347) verwendet werden. Vgl. auch Ernst Müller/ Falko Schmieder: Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium, Berlin 2016, S. 18–21, zu Gemeinsamkeiten zwischen historischer Semantik und Diskursanalyse: Kathrin Kollmeier: Begriffsgeschichte und Historische Semantik, in: Docupedia-Zeitgeschichte 29.10.12, url: http://docupedia.de/zg/kollmeier_begriffsgeschichte_v2_de_2012, S. 2 [abgerufen am 20.4.2017] sowie zur historischen Diskursanalyse: Achim Landwehr: Historische Diskursanalyse, 2. Auflage, Frankfurt a. Main 2009.
1.1 Fragestellung und methodisches Vorgehen |
7
hältnisse, was sich etwa anhand von Begriffszuschreibungen, -umdeutungen oder Begriffsaneignungen darstellen lässt. Dem Begriff der katholischen Elite liegt in der vorliegenden Arbeit eine weit gefasste Definition zugrunde: Zur Elite werden sowohl kirchliche als auch öffentliche Funktionsträger gezählt, aber auch gebildete Privatpersonen, sofern sie Stellung zu den Umbrüchen nahmen.¹⁹ So fallen unter die kirchlichen Funktionsträger auch ‚einfache‘, aber gebildete Pfarrer. Die öffentlichen Funktionsträger standen meist in kurfürstlichen oder später in französischen Diensten. In dem konfessionell weitgehend homogenen Gebiet meldeten sie sich gleichermaßen zu Wort, um beispielsweise die Auswirkungen der Umbrüche auf den Katholizismus oder Reformvorhaben zu diskutieren.²⁰ Hinsichtlich der Bewältigung der Umbrüche stellt sich daher auch die Frage, ob und inwiefern Stellung und Funktion der Vertreter der katholischen Elite Auswirkungen auf die geäußerten Meinungen hatten. Durch die Wahl des (Erz-)Bistums Trier als räumlichen Bezugspunkt der Untersuchung steht dezidiert die religiös-kirchliche Perspektive auf die Umbrüche im Vordergrund. Das Erzbistum Trier, das im Vergleich zum weltlichen Herrschaftsbereich des Erzstifts wesentlich größer war, erstreckte sich im Südwesten bis in französischsprachige Gebiete und reichte rechtsrheinisch bis Wetzlar. Zur Kirchenprovinz zählten ebenfalls die drei Suffraganbistümer Metz, Toul und Verdun.²¹
19 Damit lehne ich mich an die Arbeiten von Heinz Duchhardt und anderer an, die im Rahmen eines Forschungsprojekts den Wandel von Eliten sowie deren Erfahrungen in der ‚Sattelzeit‘ untersuchten. Vgl. Heinz Duchhardt/Anja Hartmann [Hrsg.]: Forschungsprojekt: Kontinuitäten oder revolutionärer Bruch. Eliten im Übergang vom Ancien Régime zur Moderne (1750–1850) gefördert durch die Gerda Henkel Stiftung Düsseldorf 1996–2000, Mainz 2000, S. 48. 20 Natürlich konnten sich Protestanten auch für ‚katholische Belange‘ interessieren, wie etwa Friedrich Karl von Moser (1723–1798) bei der Beantwortung der Bibra’schen Preisfrage nach den Mängeln der geistlichen Staaten zeigt. Das Erzstift Trier blieb aber nach gescheiterten Reformationsversuchen ein geschlossenes katholisches Territorium: „Protestantischer Adel wurde vom Hof und von der Verwaltung ausgeschlossen, das Bürgerrecht an den Katholizismus gebunden“ (Helga Schnabel-Schüle: Kirche und Konfession, in: Clemens/Felten/Schnettger [Hrsg.]: Kreuz (wie Anm. 5, S. 2), S. 695–754, hier S. 728). Auch das 1784 kurzzeitig eingeführte sogenannte Toleranzedikt änderte wenig am Anteil der Protestanten, der in Koblenz erst in französischer Zeit stetig anwuchs. Vgl. Gunther Franz: Morgenglanz der Toleranz. Clemens Wenzeslaus und die Toleranz im Herzogtum Luxemburg und im Trierer Kurstaat, in: Michael Embach/Reinhold Bohlen [Hrsg.]: Der Trierer Erzbischof und Kurfürst Clemens Wenzeslaus (1739–1812) – Eine historische Bilanz nach 200 Jahren, Mainz 2014, S. 97–135, hier S. 97, 131; Jens Fachbach: Trier und Koblenz/Ehrenbreitstein, in: Wolfgang Adam/Siegfried Westphal [Hrsg.]: Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit. Städte und Residenzen im alten deutschen Sprachraum, Bd. 3, Berlin 2012, S. 1919–1962, hier S. 1927–1929, zu den jüdischen Gemeinden S. 1929 f. 21 1777 wurden vom Bistum Toul die Bistümer Nancy und St. Dié abgetrennt, über die der Erzbischof ebenfalls die Metropolitanrechte inne hatte, vgl. dazu Emil Zenz: Trier im 18. Jahrhundert.
8 | 1 Einleitung Nach Abschluss des Konkordats von 1801 wurden jedoch die Erz- und Bistümer im Linksrheinischen neu organisiert. Dies hatte zur Folge, dass das frühere Erzbistum Trier nun ein Bistum war, das – stark verkleinert – weitgehend dem Gebiet des Saardepartements entsprach. Zumindest für einen Teil der Katholiken blieb dadurch die Zuordnung und Orientierung hin zum nunmehrigen Bistum Trier weiterhin bestehen. Auch auf Seiten der kirchlichen Funktionsträger gab es eine hohe Kontinuität.²² Um diese Veränderung im Untersuchungszeitraum jedoch deutlich zu machen, wird die Bezeichnung (Erz-)Bistum gewählt. Der Untersuchungszeitraum setzt kurz nach Beginn der Amtszeit des letzten Trierer Kurfürst-Erzbischofs Clemens Wenzeslaus von Sachsen (1739–1812) ein, in der einerseits verstärkt aufklärerische Reformen durchgeführt wurden, sich aber andererseits bereits gegenläufige Tendenzen bemerkbar machten. Auch über das Kurfürstentum Trier hinaus setzte ab 1770 eine Popularisierung aufklärerischer Ideen ein. Das Ende der französischen Herrschaft 1814/15 markiert wiederum den zeitlichen Schlusspunkt der Untersuchung. Im religiösen Feld des Katholizismus rangen in dieser Zeit unterschiedliche Strömungen und Akteure um Einfluss und Deutungshoheit. In diesem Geflecht von Beziehungen versuchten die Akteure in symbolischen Kämpfen ihre Position zu wahren oder zu verbessern und ihre Weltdeutungen durchzusetzen.²³ Im Untersuchungszeitraum lassen sich vor allem zwei Strömungen im Katholizismus mit ihren Akteuren und variierenden Argumentationen ausmachen: Zum einen war dies der orthodoxe Katholizismus, dessen Vertreter auf den barocken Frömmigkeitsvorstellungen möglichst zu beharren suchten und die Aufklärung ablehnten.²⁴ Der aufgeklärte Katholizismus andererseits war Reformen gegenüber aufgeschlossen und seine Anhänger versuchten mittels dieser den Glauben widerstandsfähiger gegenüber Gefährdungen zu machen.²⁵ Gleichwohl ist diese Unterscheidung idealtypisch: Nicht immer lassen sich die Akteure und ihre Argumentationsweise einer Strömung eindeutig zuordnen. Unter dem Eindruck der Franzosenzeit wandten sich einige der aufgeklärten Katholiken auch deistischen Positionen zu 1700–1794, Trier 1981, S. 53. Das Erzbistum gliederte sich in fünf Archidiakonate, zu deren Grenzverlauf vgl. Helmut Rönz: Der Trierer Diözesanklerus im 19. Jahrhundert. Herkunft – Ausbildung – Identität, Köln 2006, S. 31–32. 22 Vgl. dazu ausführlicher Kapitel 2.3. 23 Der Begriff des religiösen Feldes geht zurück auf die religionssoziologischen Studien Pierre Bourdieus, die dieser in kritischer Auseinandersetzung mit Max Weber entwickelt hat: Pierre Bourdieu: Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz 2000. Siehe dazu auch Graf: Wiederkehr (wie Anm. 13, S. 4), S. 50–52. 24 Der Begriff orthodox wird auch im zeitgenössischen Kontext verwendet, um besonders strenggläubige Katholiken zu charakterisieren. 25 Zur (katholischen) Aufklärung und ihren Gegnern siehe Kapitel 2.2.
1.1 Fragestellung und methodisches Vorgehen |
9
und radikalisierten sich. Ähnliches lässt sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts für den orthodoxen Katholizismus konstatieren: Hier sorgten die napoleonischen Kriege und die weiterbestehende Ablehnung von Aufklärung und Französischen Revolution in der Folge für eine Radikalisierung. Unter dem Eindruck der Romantik und einer teilweise einhergehenden Idealisierung des Katholizismus entwickelte er sich zu einer neo-orthodoxen Strömung.²⁶ Dass insbesondere die Aufklärung einen zentralen Umbruch für die katholische Elite darstellte, wesentlicher Dreh- und Angelpunkt zeitgenössischer Diskussionen war und damit die weitere Entwicklung des Katholizismus als Sozialform bestimmte, ist daher die grundlegende These der Untersuchung. Um die Ergebnisse des Analyseteils einordnen zu können, wird zunächst der historische Kontext erläutert.²⁷ Dabei wird sowohl der Untersuchungsraum im Übergang vom Alten Reich zur französischen Zeit beschrieben als auch ein Überblick über zentrale Akteure sowie die französische Kirchen- und Religionspolitik gegeben. Ebenfalls wird darauf eingegangen, was unter (katholischer) Aufklärung zu verstehen ist, wer ihre Träger und was ihre wichtigsten Themen waren. Der Chronologie folgend, wird anschließend im ersten Hauptkapitel das Zusammenspiel bzw. das Aufeinandertreffen von Katholizismus und Aufklärung im Erzbistum Trier beleuchtet. Dies erfolgt anhand exemplarischer Quellen, die um die diskursbestimmenden Themen Mönchtum, Priestertum und Bildung kreisten. Hier soll auch gezeigt werden, dass im Verständnis der Aufklärer Katholizismus und Aufklärung durchaus vereinbar waren. Ein knappes Zwischenfazit hält erste Ergebnisse fest. Im vierten Kapitel stehen zunächst die Reaktionen auf den Umbruch der Franzosenzeit im Vordergrund. Franzosenzeit ist hier keineswegs pejorativ gemeint, sondern soll vielmehr veranschaulichen, dass sich der vollständige Herrschaftswechsel erst allmählich vollzog und insgesamt nur eine begrenzte, wenn auch prägende Zeitspanne umfasste. Diese eklatante äußere Bedrohung forderte spe-
26 Diese speiste sich einerseits weiterhin aus barocken Frömmigkeitsformen, andererseits nutzten ihre Anhänger moderne zeitgenössische Medien und Versammlungsformen wie Zirkel und ‚Kreise‘. Der Begriff neo-orthodox verdeutlicht die Verwandtschaft zum orthodoxen Katholizismus und ist darum analytisch schärfer als der ‚Kampfbegriff‘ ultramontan. Da der neo-orthodoxe Katholizismus erst im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts an Einfluss gewann, spielt er in der Arbeit eine untergeordnete Rolle. Zur Geschichte des Begriffs ultramontan vgl. Heribert Raab: Zur Geschichte und Bedeutung des Schlagwortes „Ultramontan“ im 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Historische Jahrbuch 81 (1962), S. 159–173. 27 Zur Gliederung der Arbeit siehe auch die Erläuterung zu den verwendeten Quellen in Kapitel 1.3.
10 | 1 Einleitung zifische Reaktionen von den kirchlichen und öffentlichen Funktionsträgern. Die Wahrnehmung der Folgen für Religion und Kirche werden hier genauso beschrieben, wie die Diskussion, die sich um den Priestereid entspannte. Wie die Jahre nach 1801/02 – einschließlich der Säkularisation – von der katholischen Elite wahrgenommen wurden, thematisiert das dritte Kapitel des ersten Themenblocks. Auch hier werden am Ende erste Ergebnisse in einem Zwischenfazit zusammengefasst. Dass die Diskussion über die Aufklärung durch den Umbruch der Franzosenzeit weiter an Fahrt gewann, thematisiert das nächste Hauptkapitel. Nach diesem Umbruch konnte man sich als Teil der katholischen Elite einer Positionierung zu Fragen wie dem Vernunftglauben kaum mehr entziehen. Die Diskussionen drehten sich dabei um das Priesterbild und die Haltung zum Mönchtum sowie die Frage, was ‚wahre‘ Religion überhaupt auszeichnet. Maßgeblich für den dabei eingenommenen Standpunkt der Akteure war ihr Verständnis von Aufklärung. Das dritte Kapitel dieses zweiten Themenblocks bildet damit gleichzeitig ein Fazit der beiden vorangegangenen. Exemplarisch wird so der ‚Katholizismus im Umbruch‘ in der Untersuchung nachvollzogen.
1.2 Forschungsüberblick In den letzten Jahren rückte das Thema Religion verstärkt in den Fokus der Geschichtswissenschaft.²⁸ Mit den Arbeiten von Rudolf Schlögl²⁹ und Andreas Holzem³⁰ sind gleich zwei Monographien erschienen, die sich mit der Geschichte des Christentums beschäftigen – wenn auch mit je unterschiedlichen Schwerpunkten. Zielt Schlögl darauf ab, aus systemtheoretischer Sicht den Wandel und die Säkularisierung des europäischen Christentums zwischen 1750 und 1850 zu beschreiben, steht für den Kirchenhistoriker Holzem die Kontinuität im Vordergrund: Mit Blick auf das Christentum in Deutschland begreift er die Jahre zwischen 1550 und 1850 als Zeitalter der Konfessionalisierung. Gleichwohl bestreitet er nicht, dass es um 1800 28 Ziemann: Sozialgeschichte (wie Anm. 13, S. 4), S. 7. Auf einen Überblick zum Stand der Religionsforschung wird verzichtet. Vgl. dazu ebd. sowie Neugebauer-Wölk: Konstituierung (wie Anm. 13, S. 4) und den im Anschluss an den Historikertag veröffentlichten Beitrag von Katharina Stornig: Historikertag 2016: Religionsgeschichte, in: H-Soz-Kult, 20. Dez. 2016, url: www.hsozkult. de / debate / id / diskussionen - 3981 [abgerufen am 5.5.2017]. Stornig macht vor allem drei Forschungsrichtungen der Religionsgeschichte aus: Erstens würden zentrale Kategorien wie etwa die Säkularisierungsthese stärker hinterfragt, zweitens wüchse das Interesse an der Beschäftigung mit religiösem Wissen und drittens sei eine Beeinflussung globalgeschichtlicher Fragestellungen auf die Religionsgeschichte zu beobachten. 29 Schlögl: Alter Glaube (wie Anm. 12, S. 4). 30 Holzem: Christentum (wie Anm. 11, S. 4).
1.2 Forschungsüberblick | 11
eine „Wandlungsdynamik“ gab, die allerdings „nicht automatisch auf die Kriterien zulaufen musste, die wir nach der Sattelzeit […] der europäischen Moderne zuschreiben“³¹. Er merkt daher an, dass Zäsurdaten für die Religionsgeschichte meist aus der politischen Geschichte übertragen und darum zu relativieren seien.³² Beide Zugänge geben der Forschung zur europäischen Religions- und Kirchengeschichte im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert wichtige Impulse. Dezidiert wendet sich Peter Hersche in seiner zweibändigen Überblicksdarstellung dem Katholizismus zu.³³ Für die Zeit zwischen 1600 bis etwa 1770 plädiert er für den Epochenbegriff des Barockzeitalters, um damit die Eigenständigkeit des katholischen Europas zu markieren, dessen Lebenswirklichkeit er leitmotivisch durch ‚Muße und Verschwendung‘ geprägt sieht. Gerade hinsichtlich spezifisch katholischer Kulturausprägungen ist das Handbuch höchst informativ. Ähnlich Hersches früherer These der „intendierten Rückständigkeit“³⁴, die die geistlichen Staaten ausgezeichnet habe, ist aber für die katholischen Territorien des Alten Reichs fraglich, ob ihre Entwicklung tatsächlich so viel anders verlief als die vergleichbarer weltlicher Staaten.³⁵ Doch obwohl die geistlichen Staaten in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der geschichtswissenschaftlichen Forschung rückten, scheint die Frage nach ihrer Reformfähigkeit oder Rückständigkeit immer noch nicht abschließend geklärt zu sein.³⁶ Dabei ist das Bild der vermeintlich
31 Jeweils ebd., S. 16. 32 Vgl. ebd., S. 20, 25. Holzems Aussage, „Fragen der Periodisierung [seien] immer auch solche der Perspektivierung“ (S. 20), lässt sich auch umgekehrt formulieren. 33 Peter Hersche: Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter. 2 Bde, Freiburg u.a. 2006. 34 Ders.: Intendierte Rückständigkeit: Zur Charakteristik des geistlichen Staates im Alten Reich, in: Georg Schmidt [Hrsg.]: Stände und Gesellschaft im Alten Reich, Stuttgart 1989, S. 133–149. 35 Vgl. auch Bettina Braun: „Princeps et episcopus“. Studien zur Funktion und zum Selbstverständnis der nordwestdeutschen Fürstbischöfe nach dem Westfälischen Frieden, Göttingen 2013, S. 9– 10, die aber ebenso auf einen „fundamentale[n] Unterschied“ (S. 10) zwischen weltlichen und geistlichen Staaten hinweist, der sich aus der Doppelfunktion der Fürstbischöfe als weltliche und geistliche Herrscher ergebe. Bislang habe die Forschung die Bischöfe aber vor allem in ihrer Rolle als Landesherren untersucht, weshalb sich Braun in ihrer Habilitation explizit „der geistlichen Seite des fürstbischöflichen Doppelamtes“ (S. 50) zuwendet. – Kritisch mit Hersche setzt sich ebenfalls auseinander: Holzem: Christentum (wie Anm. 11, S. 4), S. 14–17. 36 Neben Braun: Princeps (wie Anm. 35), S. 12–47 zur Forschung und Historiografiegeschichte findet sich ein ausführlicher Überblick zum Forschungsstand und -tendenzen hinsichtlich der geistlichen Staaten bei Bettina Braun/Frank Göttmann: Der geistliche Staat der Frühen Neuzeit. Einblicke in Stand und Tendenzen der Forschung, in: Bettina Braun/Frank Göttmann/Michael Ströhmer [Hrsg.]: Geistliche Staaten im Nordwesten des Alten Reiches. Forschungen zum Problem frühmoderner Staatlichkeit, Köln 2003, S. 59–86. Vgl. ebenso Kurt Andermann: Die geistlichen Staaten am Ende des Alten Reiches, in: Historische Zeitschrift 271 (2000), S. 593–619 und Sascha
12 | 1 Einleitung rückständigen geistlichen Territorien wesentlich dem Urteil der Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts geschuldet und wurde dankbar zur Legitimierung der Säkularisation 1802/03 aufgegriffen.³⁷ Dass insbesondere die katholische Kirche nicht mit einer wie auch immer gearteten Moderne vereinbar gewesen sei, bestimmte aber lange – wie an anderer Stelle bereits erwähnt – die historische Lehrmeinung, „sodass Staaten mit einem katholischen Geistlichen an der Spitze von vornherein kaum eine Chance [hatten], als ein lohnendes Objekt der Forschung zu gelten.“³⁸ Für die vorliegende Arbeit spielt der Aspekt der Reformfähigkeit dahingehend eine Rolle, dass die in den geistlichen Staaten durchaus angestoßenen Veränderungen neben dem Bildungswesen vor allem den religiös-kirchlichen Bereich betrafen.³⁹ Diese Reformen standen in der Regel im Kontext der katholischen Aufklärung, deren Träger die geistlichen und weltlichen Eliten waren; mithin also diejenigen, die in unterschiedlichen Funktionen in die weltliche und kirchliche Verwaltung eingebunden waren. Ähnlich wie bei den geistlichen Staaten tat sich die Forschung mit der katholischen Aufklärung lange Zeit schwer. Katholische Frömmigkeit und aufgeklärte Prinzipien galten – ganz im Sinne zeitgenössischer Vorurteile – als von vornherein unvereinbar.⁴⁰ Erst in den letzten Jahren wird verstärkt zu diesem Themenkomplex gearbeitet. Gerade im angloamerikanischen Raum ist das InteresWeber: Katholische Aufklärung? Reformpolitik in Kurmainz unter Kurfürst-Erzbischof Emmerich Joseph von Breidbach-Bürresheim (1763–1774), Mainz 2013, S. 13–16. Bezogen auf das Beispiel des Fürstbistums Augsburg und darüber hinausgehend, hat sich umfassend Wolfgang Wüst mit Herrschaftsformen, Administration und Hofhaltung geistlicher Territorialstaaten beschäftigt: Wolfgang Wüst: Geistlicher Staat und Altes Reich: Frühneuzeitliche Herrschaftsformen, Administration und Hofhaltung im Augsburger Fürstbistum, München 2001. 37 Zur zeitgenössischen Diskussion immer noch: Peter Wende: Die geistlichen Staaten und ihre Auflösung im Urteil der zeitgenössischen Publizistik, Lübeck 1966. Zur Legitimierung vgl. Matthias Schnettger: Im Schatten der Mediatisierung. Zur Reform(un)fähigkeit deutscher und italienischer Kleinstaaten in der frühen Neuzeit, in: Historisches Jahrbuch 128 (2008), S. 25–54, hier S. 25–26: Das negative Urteil über die geistlichen Staaten stünde nicht nur „in einer langen Tradition […] der borussisch-kleindeutschen, sondern auch der ‚offiziösen‘ Landesgeschichtsschreibung insbesondere Bayerns, Badens und Württembergs. Für sie besaß die Herabsetzung der süddeutschen Kleinstaaten insbesondere im 19. Jahrhundert eine wichtige legitimatorische Funktion, wurden doch damit die umfangreichen Säkularisierungen und Mediatisierungen der Jahre 1802 bis 1806, denen die süddeutschen Mittelstaaten ihre Existenz wesentlich verdankten, über die positivrechtlichen Legitimationen durch Reichsdeputationshauptschluß und völkerrechtliche Verträge hinaus auch sachlich gerechtfertigt und ‚partikularistische‘ Strömungen in den neu erworbenen Gebieten konterkariert“. 38 Braun: Princeps (wie Anm. 35, S. 11), S. 16. 39 Vgl. Schnettger: Schatten (wie Anm. 37), S. 47 und Winfried Müller: Die Aufklärung, München 2002, S. 80. 40 Jürgen Overhoff: Die Katholische Aufklärung als bleibende Forschungsaufgabe: Grundlagen, neue Fragestellungen, globale Perspektiven, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 41.1 (2017), S. 11–
1.2 Forschungsüberblick | 13
se an der katholischen Aufklärung groß: Neben ihrer Ausprägung im Alten Reich, wird das Phänomen in europäischer als auch globaler Perspektive beleuchtet.⁴¹ In der deutschsprachigen Forschung dominierten lange Zeit Untersuchungen zur konkreten Reformtätigkeit in den geistlichen Staaten.⁴² Mittlerweile kommen Arbeiten hinzu, die stärker die Inhalte der katholischen Aufklärung in den Blick nehmen, wie etwa die damals diskutierte Frage nach den Grenzen der Vernunft im Bereich der Religion.⁴³ Zu Recht weist Jürgen Overhoff darauf hin, dass gerade auch die Beschäftigung mit der katholischen Aufklärung zu einem besseren Verständnis dieses komplexen Verhältnisses im 18. Jahrhundert beitragen kann.⁴⁴ Auch in der vorliegenden Arbeit steht die inhaltliche Auseinandersetzung der katholischen Elite mit Themen der Aufklärung im Vordergrund und weniger die administrative Umsetzung von Reformen im Bistum. Um die „historische Aufklärungsbewegung“ als ein „vielschichtiges und vielfältiges Phänomen“⁴⁵ beschreiben und erfassen zu können, ist die Erforschung ihrer unterschiedlichen regionalen Ausprägungen unerlässlich. Es liegt keine aktuelle Studie vor, die sich grundlegend mit der Aufklärung im Erzbistum Trier beschäftigt. Neben einer Studie zum Trierer Geistesleben von Gudio Groß aus den 1950er Jahren bietet der Katalogband von Gunther Franz einen allgemeinen, wenn auch knappen Zugriff zum Thema.⁴⁶ Einzig zur Trierer Uni27, hier S. 11, 14. Overhoff weist ausdrücklich darauf hin, dass nicht nur Protestanten wie Joachim Heinrich Campe (1746–1818) dem Katholizismus Rückständigkeit attestierten, sondern auch „fortschrittsorientierte[…] Katholiken“ (S. 13) diese Auffassung teilten. 41 Vgl. etwa. Michael Printy: Enlightenment and the Creation of German Catholicism, Camebridge 2009; Ulrich L. Lehner/Michael Printy [Hrsg.]: A Companion to the Catholic Enlightenment in Europe, Leiden 2010; Ulrich L. Lehner: Enlightened Monks. The German Benedictines 1740–1803, Oxford 2011 und ders.: The Catholic Enlightenment: The Forgotten History of a Global Movement, New York, NY 2016. Zur globalen Dimension der katholischen Aufklärung vgl. auch Overhoff: Katholische Aufklärung (wie Anm. 40), S. 24–27. 42 Vgl. für Münster beispielsweise Werner Freitag: Das Fürstbistum Münster in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Handlungsfelder Katholischer Aufklärung, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 139/140 (2003–2004), S. 27–44 sowie kürzlich zu Mainz: Weber: Aufklärung (wie Anm. 36, S. 11). Hier findet sich auch eine knappe Übersicht des Forschungsstandes (S. 17–23); siehe dazu auch Overhoff: Katholische Aufklärung (wie Anm. 40), S. 15–27. 43 Vgl. Christian Handschuh: Die wahre Aufklärung durch Jesum Christum: religiöse Welt- und Gegenwartskonstruktion in der Katholischen Spätaufklärung, Stuttgart 2014, S. 33; Jochen Krenz: Konturen einer oberdeutschen kirchlichen Kommunikationslandschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Bremen 2012. Als Quellengrundlage dienen den beiden Kirchenhistorikern jeweils katholische Zeitschriften. 44 Overhoff: Katholische Aufklärung (wie Anm. 40), S. 22–23. 45 Jeweils ebd., S. 22. 46 Gunther Franz [Hrsg.]: Aufklärung und Tradition. Kurfürstentum und Stadt Trier im 18. Jahrhundert, Trier 1988; Guido Groß: Trierer Geistesleben unter dem Einfluß von Aufklärung und Romantik
14 | 1 Einleitung versität und den Versuchen, diese im 18. Jahrhundert zu reformieren⁴⁷ sowie zu den Lesegesellschaften in Trier und Koblenz⁴⁸ liegen Monographien vor. Daneben finden sich Hinweise zu einzelnen Aufklärern und ihren Kritikern in den Beiträgen von Michael Embach zur aktuellen Trierer Bistumsgeschichte sowie in seiner Trierer Literaturgeschichte zur Neuzeit.⁴⁹ Die Bistumsgeschichte gibt darüber hinaus einen Einblick in Frömmigkeitsvorstellungen, die sich teilweise unter dem Einfluss der Aufklärung wandelten oder an denen im Gegenteil festgehalten wurde.⁵⁰ Auch der jüngst erschienene Sammelband⁵¹ zur Regierungszeit des letzten Kurfürst-Erzbischof, Clemens Wenzeslaus von Sachsen, verweist auf die immer noch bestehenden Forschungslücken insbesondere zum Ende des 18. Jahrhunderts.
(1750–1850), Trier 1956. Als Kurzfassung: Guido Groß: Trierer Geistesleben um 1800: Das politische und geistige Umfeld der Gründung der Gesellschaft für nützliche Forschungen, in: Kurtrierisches Jahrbuch 40 (2000), S. 31–43. 47 Michael Trauth: Eine Begegnung von Wissenschaft und Aufklärung. Die Universität Trier im 18. Jahrhundert, Trier 2000. Laut Trauth konnte eine Reform der Universität nach aufgeklärten Idealen nur unzureichend umgesetzt werden; nur wenige Professoren könnten als Aufklärer bezeichnet werden. Allerdings erscheint es wenig sinnvoll, die Reformversuche der Trierer Universität ausgerechnet mit den beiden Reformuniversitäten Halle und Göttingen zu vergleichen, statt mit kleineren (katholischen) Universitäten, die möglicherweise vor ganz ähnlichen Schwierigkeiten gestanden hatten. 48 Hilmar Tilgner: Lesegesellschaften an Mosel und Mittelrhein im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus, Stuttgart 2001. Tilgner sucht die Lesegesellschaft „als Bewegungszentrum und Kristallisationspunkt der Aufklärung ‚vor Ort‘ zu fassen“ (S. 5) und kann u.a. die zentrale Rolle der Domkapitulare belegen. Die gute Überlieferung für die Trierer Lesegesellschaft – deren Analyse den Schwerpunkt bildet – ermöglicht ihm sowohl auf personelle Verflechtungen als auch auf Bibliotheksbestand und Ausleihverhalten einzugehen. 49 Michael Embach: Literarische Entwicklungen 1472/73-1794, in: Martin Persch/Bernhard Schneider [Hrsg.]: Geschichte des Bistums Trier. Band 3: Kirchenreform und Konfessionsstaat 1500–1801, Trier 2010, S. 551–600, hier S. 551–600; ders.: Literarische und publizistische Entwicklungen, in: Persch/Schneider [Hrsg.]: Bistum Trier Bd. 4 (wie Anm. 9, S. 3), S. 482–502, hier S. 482–502 sowie ders.: Trierer Literaturgeschichte. Die Neuzeit, Trier 2015. – Auf Aufsätze, die sich mit einzelnen Akteuren beschäftigen, wird im Hauptteil verwiesen. 50 Vgl. dazu auch die weiteren Arbeiten der Kirchenhistoriker Bernhard Schneider und Andreas Heinz. Verwiesen sei hier auf Bernhard Schneider: Wallfahrtskritik im Spätmittelalter und in der „Katholischen Aufklärung“ – Beobachtungen zu Kontinuität und Wandel, in: ders. [Hrsg.]: Wallfahrt und Kommunikation – Kommunikation über Wallfahrt, Mainz 2004, S. 281–316 und Andreas Heinz: Liturgie und Frömmigkeit. Beiträge zur Gottesdienst- und Frömmigkeitsgeschichte des (Erz-)Bistums Trier und Luxemburgs zwischen Tridentinum und Vatikanuum II, Trier 2008. 51 Reinhold Bohlen/Michael Embach [Hrsg.]: Der Trierer Erzbischof und Kurfürst Clemens Wenzeslaus (1739–1812). Eine historische Bilanz nach 200 Jahren, Mainz 2014. Zu Clemens Wenzeslaus existiert lediglich eine unvollendet gebliebene Biographie von Heribert Raab: Clemens Wenzeslaus und seine Zeit (1739–1812). Bd. 1: Dynastie, Kirche und Reich im 18. Jahrhundert, Freiburg u.a. 1962.
1.2 Forschungsüberblick | 15
Dass die Umbrüche im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert in der Wahrnehmung vieler Zeitgenossen „zur Vorstellung eines Kontinuitätsbruchs“⁵² führten, obwohl ein solcher aus heutiger Perspektive vielleicht gar nicht vorlag, konstatierte Christof Dipper. Es seien diese Wahrnehmungen und Erfahrungen gewesen, die die Handlungen der Akteure in der Folge bestimmt hätten. Um derartige handlungsleitende Momente aufzuzeigen, liegt der Fokus der vorliegenden Untersuchung auf den Deutungsmustern der katholischen Elite. Ob die Säkularisation einen Bruch dargestellt und „Auswirkungen im Hinblick auf das Bewusstsein einer Bewahrung und Gefährdung der eigenen konfessionellen Identität“⁵³ gehabt habe, fragt auch Klaus Fitschen in seinem knappen Beitrag zur Untersuchung konfessioneller Mentalitäten. Diese Herangehensweise sucht die bisherige Forschung zur Säkularisation zu erweitern. Im Mittelpunkt steht dabei der „Katholizismus als die am meisten von den Veränderungen betroffene Konfession“⁵⁴, wobei das Jahr 1803 nicht isoliert betrachtet werden dürfe, sondern nur unter Berücksichtigung einer longue durée. Erste Ansätze zur Untersuchung von Deutungsmustern katholischer Akteure im Rheinland während der Revolutionszeit finden sich bei Horst Carl. Er plädiert in diesem Zusammenhang für eine erfahrungsgeschichtliche Perspektive auf den nachrevolutionären Katholizismus, da eine solche „die Ressourcen einer lebensweltlichen Behauptung der christlichen Religion – und auch deren Grenzen – eher offenlegen [dürfte] als ein auf Theologie- und Institutionengeschichte fokussierter methodischer Zugang.“⁵⁵ Über die Krise hinausgehend, in der sich Kirche und Religion befanden, stelle sich „die Frage nach Wandel und Beharrung kirchlicher Prägungen und Deutungsmuster“⁵⁶, um die Reaktionen der Akteure in ihrer Vielfalt erfassen zu können. Einen Einblick in das Verhalten der Bevölke52 Christof Dipper: Die historische Schwelle um 1800. Eine Skizze, in: GWU 64.9/10 (2013), S. 600– 611, hier S. 609. 53 Klaus Fitschen: Konfessionelle Mentalitäten: Abgrenzungen und Grenzüberschreitungen im Zuge der Säkularisation, in: Rolf Decot [Hrsg.]: Kontinuität und Innovation um 1803. Säkularisation als Transformationsprozeß – Kirche, Theologie, Kultur, Staat, Mainz 2005, S. 257–266, hier S. 258. 54 Ebd., S. 257. 55 Carl: Revolution (wie Anm. 13, S. 4), S. 88. Siehe dazu auch ders.: Strafe (wie Anm. 4, S. 2). Carls Arbeiten sind im Rahmen des ehemaligen Tübinger Sonderforschungsbereichs „Kriegserfahrungen“ entstanden. Zu dessen theoretischem Konzept vgl. Nikolaus Buschmann/Horst Carl: Zugänge zur Erfahrungsgeschichte des Krieges. Forschung, Theorie, Fragestellung, in: ders. [Hrsg.]: Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn u.a. 2001, S. 11–26. 56 Carl: Revolution (wie Anm. 13, S. 4), S. 90. Allgemeine Anregungen zum Wandel religiöser Semantik bzw. zu religiösen Deutungsmustern in Kriegszeiten bieten Lucian Hölscher: Religiöse Begriffsgeschichte. Zum Wandel der religiösen Semantik in Deutschland seit der Aufklärung, in: Hans Gerhard Kippenberg [Hrsg.]: Europäische Religionsgeschichte, Bd. 2, Göttingen 2009, S. 723– 746 sowie Werner K. Blessing: Kirchen und Krieg. Zur religiösen Deutung und Bewältigung außerge-
16 | 1 Einleitung rung und den esprit public im Rhein-Mosel-Departement gibt darüber hinaus die Habilitationsschrift von Hansgeorg Molitor.⁵⁷ Bewusst wurde für die vorliegende Arbeit ein über die üblichen Epochengrenzen hinaus gehender Untersuchungszeitraum gewählt; die Jahre zwischen 1770 und 1815 werden hier als eine Phase des Umbruchs beschrieben. In der Forschung zum linksrheinischen Raum ist das bislang nur bei angelsächsischen Studien der Fall. Kontinuitäten und Diskontinuitäten lassen sich aber nur auf diese Weise erfassen.⁵⁸ Die Trierer Bistumsgeschichte betrachtet beispielsweise Aufklärung und französische Zeit nicht als Einheit. Zwar thematisiert der dritte Band das Ende des Kurfürstentums, klammert aber die Franzosenzeit – trotz der im Titel bis 1801 reichenden Zeitspanne – weitgehend aus. Auffällig ist auch, dass in der Forschung häufig die Anfangsjahre der französischen Zeit ausgespart werden – wohl, weil gerade zwischen 1794 und 1798 die Kirchen- und Religionspolitik unübersichtlich und häufig nicht von langer Dauer war. Ebenfalls dürfte die Fokussierung auf Napoleon eine Ursache dafür sein. So setzt auch der vierter Band der Bistumsgeschichte erst mit der Säkularisation unter Napoleon ein. Der generell noch bestehende Forschungsbedarf für das Rheinland in französischer Zeit liegt auch darin begründet, dass sich die Forschung erst seit den 1970er Jahren „vorurteilsfrei[…]“⁵⁹ mit der einst als ‚Fremdherrschaft‘ gebrandmarkten Phase beschäftigt. Die französische Zeit und ihre Auswirkungen auf die katholische Kirche werden auch in den Stadtgeschichten zu Trier nur kursorisch gestreift.⁶⁰ Aufschlussreicher ist der Katalogband, der anlässlich des 200-jährigen Jubiläums des Napoleon-Besuchs in Trier entstanden ist und auch die Anfänge der französischen Herrschaft
wöhnlicher Zeit von der konfessionellen zur nationalen Epoche, in: Frank-Lothar Kroll [Hrsg.]: Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag, Paderborn u.a. 1996, S. 151–172. 57 Molitor: Untertan (wie Anm. 6, S. 2), S. 131–210. 58 Für die angelsächsische Forschung vgl. etwa Michael Rowe: From Reich to State: The Rhineland in the Revolutionary Age, 1780-1830, Camebridge 2003. Vgl. auch Stephan Laux: Deutschlands Westen – Frankreichs Osten. Überlegungen zur Histographie und zu den Perspektiven der rheinischen Landesgeschichte in der Frühen Neuzeit, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 79 (2015), S. 143–163. Laux betont, „dass eine einheitliche Problembehandlung der Spätphase der Frühen Neuzeit mit der französischen Herrschaft unbedingt wünschenswert wäre“ (S. 161). So könnte die „politische[…] und soziale[…] Dynamik im Rheinland in der unmittelbar vorrevolutionären Zeit und dann in Parallelentwicklung zur Revolution“ (ebd.) erfasst werden. Diese Aussage trifft genauso auf den kirchlich-religiösen Bereich zu. 59 Ebd., S. 159. 60 Kurt Düwell/Franz Irsigler [Hrsg.]: 2000 Jahre Trier. Band 3: Trier in der Neuzeit, Trier 1988; Zenz: Trier 18. Jahrhundert (wie Anm. 21, S. 7); ders.: Geschichte der Stadt Trier im 19. Jahrhundert, Trier 1979.
1.2 Forschungsüberblick | 17
behandelt.⁶¹ Dieser sowie die Bistums- und die neuere Stadtgeschichte dienen der sozialgeschichtlichen Einordnung der Ideen und Deutungsmuster der katholischen Elite zwischen Aufklärung und französischer Zeit. Neben den Arbeiten von Carl geben einen verlässlichen und grundlegenden Überblick über die Religionsund Kirchenpolitik – gerade, was die Anfangszeit betrifft – Thomas R. Kraus und Alfred Minke.⁶² Einen allgemeinen Zugriff bietet auch Michael Müller in seiner sozialgeschichtlichen Darstellung der Säkularisation im Saardepartement.⁶³ Speziell zum Bistum Trier in französischer Zeit gibt es immerhin einige Aufsätze, die vor allem die Verwaltung bzw. die Umstrukturierung des Bistums und der Pfarreien betreffen.⁶⁴ Zum Trierer Diözesanklerus im 19. Jahrhundert liegt von Helmut Rönz eine umfangreiche sozial- und milieugeschichtliche Dissertation vor. Die Arbeit umfasst den „Weltklerus der Diözese Trier im 19. Jahrhundert, also alle Priester, die zwischen 1802 und 1901 im Bereich der Diözese auf irgendeine Weise in den pastoralen Dienst eingebunden waren“⁶⁵ und wertet statistisch deren soziale Herkunft und Werdegang aus. Der Untersuchungszeitraum beginnt zwar 1802, die französische Zeit macht zusammen mit dem Rückblick auf das Kurfürstentum jedoch nur einen kleinen Teil aus. Die Frage, inwieweit der Säkularklerus durch „die aktuellen geistigen Strömungen berührt wurde“⁶⁶, wird für diese Zeitspan61 Elisabeth Dühr [Hrsg.]: Unter der Trikolore: Trier in Frankreich – Napoleon in Trier; 1794–1814, Trier 2004. 62 Bei beiden steht vor allem das Bistum Aachen im Mittelpunkt: Thomas R. Kraus: Auf dem Weg in die Moderne – Aachen in französischer Zeit: 1792/93, 1794–1814, Aachen 1994; ders.: Die französische Kirchenpolitik und das katholische Rheinland, in: Veit Veltzke [Hrsg.]: Napoleon. Trikolore und Kaiseradler über Rhein und Weser, Köln 2007, S. 269–290 und Alfred Minke: Zwischen Lüttich und Aachen: Die katholische Kirche und ihre Priester im Zeitalter der französischen Revolution (1789–1799), in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 100 (1996), S. 289–326. Minke geht auch auf die ‚belgischen Gebiete‘ ein. 63 Müller: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3). Müllers Arbeiten sind im weiteren Rahmen der Edition der Nationalgüter durch Wolfgang Schieder entstanden, Wolfgang Schieder: Säkularisation und Mediatisierung in den vier rheinischen Departements: 1803–1813, 5 Bände, Boppard 1991. 64 Alois Thomas: Die Verwaltung des linksrheinischen Bistums Trier von der Zeit der französischen Besetzung 1794 bis zur Einführung des Bischofs Charles Mannay 1802, in: Kurtrierisches Jahrbuch 21 (1981), S. 210–223; ders.: Das Bistum Trier unter Bischof Karl Mannay (1802–1816) und unter dem Apostolischen Vikar Anton Cordel (1816–1824), in: Kurtrierisches Jahrbuch 22 (1982), S. 163–183; Wolfgang Seibrich: Die Neugestaltung des Bistums Trier, in: Rödel [Hrsg.]: Zerfall (wie Anm. 13, S. 4), S. 165–176; Elisabeth Wagner: Tradition und Innovation. Das Pfarrsystem in Trier an der Wende zum 19. Jahrhundert, in: Kurtrierisches Jahrbuch 33 (1993), S. 217–244. 65 Rönz: Diözesanklerus (wie Anm. 21, S. 8), S. 10. Sehr nützlich sind die beiliegenden ausführlichen tabellarischen Statistiken zum Diözesanklerus. Zur protestantischen Geistlichkeit im Roerdepartement: Andreas Becker: Napoleonische Elitenpolitik im Rheinland. Die protestantische Geistlichkeit im Roerdepartement 1802–1814, Köln u.a. 2011. 66 Rönz: Diözesanklerus (wie Anm. 21, S. 8), S. 19.
18 | 1 Einleitung ne ebenfalls nur am Rande betrachtet. Einblick in die Reaktion von Klerus und Laien auf den Versuch der Franzosen, im Linksrheinischen einen Staatskult zu etablieren, bietet Christoph Buchholz, der auch den Umgang der neuen Regierung mit widerständigem Verhalten seitens der Bevölkerung behandelt. Inwiefern sich aber pauschal urteilen lässt, die Gesamtheit der Rheinländer habe sich „nach der Kirche als Ordnungsmacht“ und „dem Regiment ihrer alten Herren“⁶⁷ gesehnt, darf bezweifelt werden. Wie andere Untersuchungen zeigen, passten sich im weltlichen Bereich viele der linksrheinischen Beamten an die neuen Herren an.⁶⁸ Die Wahrnehmung und Bewältigung der Umbrüche durch die katholische Elite im religiöskirchlichen Bereich stellt hingegen bislang ein Desiderat dar. Ingesamt besteht sowohl für das Erzbistum als auch das Kurfürstentum Trier im Übergang von 18. zum 19. Jahrhundert noch großer Forschungsbedarf.
1.3 Quellen Das Quellenkorpus setzt sich sowohl aus Druckschriften der kirchlichen und öffentlichen Funktionsträger als auch aus Archivalien zusammen. Um die zentralen Argumente und Schlagworte in den Auseinandersetzungen der katholischen Elite zu ermitteln, war eine genaue inhaltliche Analyse der Quellen – und damit eine Auswahl aussagekräftiger Beispiele – wichtig. Die Diskurse der katholischen Elite beschränkten sich nicht auf einzelne Äußerungsformen, sondern schlugen
67 Jeweils Christopher Buchholz: Französischer Staatskult 1792–1813 im linksrheinischen Deutschland. Mit Vergleichen zu den Nachbardepartements der habsburgischen Niederlande, Franfurt a. M. 1997, S. 149. Nicht immer wird klar zwischen der Gesetzgebung in Frankreich und der im Linksrheinischen unterschieden, die lange erheblich voneinander abwichen. Vgl. dazu auch die Kritik bei Wolfgang Hans Stein: Revolutionskalender, Dekadi und Justiz im annektierten Rheinland, 1798–1801, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 27 (2000 (2001)), S. 139–175, hier S. 140, Anm. 6. 68 Vgl. u. a. Gabriele B. Clemens: Diener dreier Herren – Die Beamtenschaft in den linksrheinischen Gebieten vom ‚Ancien Régime‘ bis zur Restauration, in: Helga Schnabel-Schüle/Andreas Gestrich [Hrsg.]: Fremde Herrscher – fremdes Volk- Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa, Frankfurt a. M. 2006, S. 73–102, hier S. 99; dies.: Beamte im napoleonischen Rheinland, in: Christof Dipper/Wolfgang Schieder/Reiner Schulze [Hrsg.]: Napoleonische Herrschaft in Deutschland und Italien – Verwaltung und Justiz, Berlin 1995, S. 141–155; Jürgen Müller: Städtische Führungsschichten im Wandel. Die kommunalen Eliten in Speyer und Koblenz vom Ancien Regime zur napoleonischen Zeit, in: Karl Otmar von Aretin [Hrsg.]: Revolution und konservatives Beharren. Das Alte Reich und die Französische Revolution, Mainz 1990; ders.: Personeller Umbruch im Rheinland. Die linksrheinischen Kommunalverwaltungen in der Revolutionszeit (1792–1799), in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 24.2 (1997), S. 121–136.
1.3 Quellen
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sich in ganz unterschiedlichen Textsorten nieder.⁶⁹ Entsprechend groß ist das Spektrum der analysierten Quellen: Neben Korrespondenzen, Bittschriften und Selbstzeugnissen wie Tagebüchern oder Lebensbeschreibungen, wurden genauso literarisches Texte, Zeitschriftenartikel, Streitschriften oder Predigten herangezogen. Die meisten der zeitgenössisch veröffentlichten Texte werden in der Forschung zwar erwähnt, aber nicht näher behandelt. Dies entspricht gleichwohl nicht ihrem Stellenwert, den man ihnen hinsichtlich einer Diskussion um den ‚Katholizismus im Umbruch’ im (Erz-)Bistum Trier beimessen kann. Gerade die neue Ideengeschichte plädiert dafür, sich von der Fokussierung auf die Höhenkammliteratur zu lösen.⁷⁰ Will man außerdem das facettenreiche Bild der (katholischen) Aufklärung erweitern, müssen insbesondere die regional rezipierten Werke und schriftlich überlieferten Debattenbeiträge berücksichtigt werden. Daneben wurden für diese Arbeit verschiedentlich Schriften herangezogen, deren Autoren nicht (mehr) dem Kontext der katholischen Elite des (Erz-)Bistums Trier entstammen. Sie sollen das Bild abrunden. Da die Konzentration auf Deutungsmuster und Selbstbeschreibungen der katholischen Elite die Auswahl der Quellen bestimmte, wurde Verwaltungsschriftgut nur herangezogen, sofern es über diese Punkte Aufschluss geben konnte. Es entspringt in der Regel der Provenienz kirchlicher administrativer Stellen, da die Reaktionen ‚deutscher‘ Funktionsträger auf die Umbrüche im Mittelpunkt stehen. Meist handelt es sich um Vorgänge des Generalvikariats Trier, mitunter aber auch um Korrespondenz des Erzbischofs mit seinem Weihbischof. Dabei geht es sowohl um Angelegenheiten, die sich aus den Umbrüchen ergaben als auch um Reformmaßnahmen wie etwa die der Klöster.⁷¹ 69 „Der Diskurs als historisches Phänomen lässt sich in seiner Gesamtheit als die Menge all jener textlichen, audiovisuellen, materiellen und praktischen Hervorbringungen beschreiben, die das Thema des Diskurse in irgendeiner Weise behandeln oder auch nur nebenher streifen.“ Landwehr: Historische Diskursanalyse (wie Anm. 18, S. 6), S. 102. 70 Barbara Stollberg-Rilinger: Einleitung, in: dies. [Hrsg.]: Ideengeschichte, Stuttgart 2010, S. 7–42, hier S. 7–8. 71 Verordnungen, die das Erzbistum und -stift sowie das spätere Bistum betreffen, finden sich in der Sammlung von Blattau: Johann Jakob Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia, ordinationes et mandata Archidioecesis Trevirensis, 9 Bde., Trier 1844–1859. Immer noch eine der wichtigsten Quelleneditionen für den Untersuchungszeitraum sind die Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der Französischen Revolution von Joseph Hansen, die in vier Bänden die Jahre zwischen 1780 bis 1801 abdecken: Joseph Hansen [Hrsg.]: Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der Französischen Revolution: 1780–1801, 4 Bde., Bonn 1931–1938. Der ehemalige Kölner Stadtarchivar versammelt darin in großem Umfang eine Vielzahl unterschiedlicher Schriftstücke, die z. B. neben Regierungsakten, auch Flugschriften, Zeitungsartikel sowie Auszüge aus Tagebüchern umfassen. Allerdings sind Auslassungen oder Bemerkungen des Editors nicht immer eindeutig als solche erkennbar.
20 | 1 Einleitung Das religions- und kirchenpolitische Agieren der französischen staatlichen Stellen ist hingegen bereits durch die Forschungsliteratur weitgehend abgedeckt. Partiell wurden jedoch auch Verwaltungsakten aus französischer Zeit herangezogen, die sich mit kirchlichen Angelegenheiten beschäftigten. Neben dem Stadtarchiv Trier, das eine relativ reichhaltige Überlieferung aus französischer Zeit besitzt, sind dies die Bestände des Landeshauptarchivs Koblenz zu den Akten der französischen Besatzungsverwaltung sowie der Präfektur des Saardepartements in Trier. Häufig stehen die selbstständigen Schriften einzelner Akteure im Zusammenhang mit einer Kontroverse oder lösten eine solche nicht selten aus. Interessant ist, dass für den Untersuchungsraum des (Erz-)Bistum Triers anlässlich bestimmter Streitthemen aufeinander Bezug nehmende Texte erhalten sind, deren Autoren jeweils entgegengesetzte Positionen vertraten. Allerdings überwiegen insgesamt die öffentlichen Äußerungen katholischer Aufklärer, da diese in französischer Zeit freier agieren konnten. In Kapitel 3.1.1 steht zunächst die Analyse der Briefe über das Mönchswesen im Vordergrund, eines 1771 von Georg Michael Frank von La Roche (1720–1788) veröffentlichten Briefromans.⁷² Gerade literarische Texte boten den zeitgenössischen Akteuren die Möglichkeit, sich mit den Mitteln der Fiktion kontroversen Themen zu nähern. Da der Text eine repräsentative Zusammenfassung der Kernanliegen und -themen der katholischen Aufklärung bietet, nimmt die Analyse breiten Raum ein. Darüber hinaus wird in Kapitel 3.1.2 die Frage nach der Reformfähigkeit der Klöster im Allgemeinen und der kurfürstlich-erzbischöflichen Klosterpolitik im Speziellen durch zwei unmittelbar aufeinander Bezug nehmende Streitschriften zweier anonymer Autoren beleuchtet. Die Rolle des Priesters als Aufklärer wird in Kapitel 3.2 sowohl anhand eines ediert vorliegenden Berichts des Pfarrers Johann Wilhelm Castello (1758–1830) über die Hindernisse der Aufklärung⁷³ im ländlichen Raum des Erzbistums dargestellt als auch anhand einer ‚Werbeschrift’ für eine Brandversicherung des Trierer Pfarrers Ludwig Bertrand Prestinary (1749–1823).⁷⁴ Castellos Bericht war nicht zur Veröf-
72 Neben den Angaben im Fließtext oder in den Fußnoten findet sich im Anhang dieser Arbeit eine biographische Kurzübersicht über die wichtigsten Mitglieder der katholischen Elite des (Erz-)Bistums Trier. 73 Johann Wilhelm Castello: Hindernisse der Aufklärung (= Johann Wilhelm Castello und die Aufklärung im Erzstift Trier. Eine Studie Castellos aus dem Jahr 1787), hrsg. v. Eduard Lichter, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 21 (1969), S. 179–227. 74 Bertrand Ludwig Prestinary: Pflicht der Nächstenliebe in Hinsicht auf die BrandversicherungsGesellschaft nebst Bemerkung der Vortheile, die mit dieser so gemeinnützigen Anstalt verbunden sind, Trier 1794.
1.3 Quellen
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fentlichung gedacht, wandte sich gleichwohl jedoch an das größere Publikum der geistlichen Verwaltung. Prestinarys ursprünglich als Predigt gehaltenes Plädoyer sollte hingegen in gedruckter Form einem größeren Adressatenkreis zugänglich gemacht werden. In Kapitel 3.3 stehen drei Streitschriften im Vordergrund, die sich mit dem Für und Wider einer an der Aufklärung orientierten Bildung auseinandersetzten.⁷⁵ Im Unterkapitel 4.1, das sich mit den Reaktionen auf den politischen Umbruch der französischen Zeit befasst, liegt der Fokus in den Teilen 4.1.1 und 4.1.3 auf Selbstzeugnissen verschiedener Akteure. Einige dieser zeitgenössisch noch unveröffentlicht gebliebenen Quellen wurden in jüngerer Zeit herausgegeben und so einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Hierzu zählen neben Tagebüchern⁷⁶ auch Berichte der Trierer Rock-Wallfahrt von 1810⁷⁷ oder anderer biographischer Zeugnisse.⁷⁸ Aufschlussreich für diese Zeit ist vor allem das umfangreiche Tagebuch von Ludwig Müller, das sowohl eine Chronik der Ereignisse dieser Jahre darstellt als auch Einblicke in das religiöse Leben der Welt- und Klostergeistlichen sowie der Laien gibt.⁷⁹ Darüber hinaus liefert das Manuskript Die Schicksale der Gottes-Häuser in, und nahe bei Trier. Seithero der feindlichen Ankunft der Franzosen 75 Michael Franz Joseph Müller: Geschichte des von Kaßpar Olewian im Jahr 1559 zu Trier erweckten Religions-Aufstandes, ein Geschenk für einen trierischen Knaben, Mainz 1788; Johann Jakob Stammel: Verdienet der Jugendfreund, der Volksaufklärer jene erniedrigende Verachtung, welche der Verfasser einer Schmähschrift gegen die Zuschrift des Geschenkes für den trierischen Knaben geäusert hat?, Trier 1792; [Beatus Itzstein]: Etwas über die Zuschrift des Geschenkes für einen trierischen Knaben, Trier 1792. 76 Vgl. etwa Alexander Minola: Die Franzosen in Koblenz 1794 bis 1797 (= Die Franzosen in Coblenz 1794 bis 1797. Aufzeichnungen des Coblenzer Professors Minola), hrsg. v. Hermann Cardauns, Koblenz 1916; Johann Friedrich Lintz: Tagebuch waehrend der franzs. Republik von 1794–1797 (= Johann Friedrich Lintz und sein Tagebuch 1794–1799 aus der Trierer Franzosenzeit), hrsg. v. Hubert Schiel, in: Kurtrierisches Jahrbuch 10 (1970), S. 106–141. 77 Anton Cordel: Diarium der Augsburgischen Reise 1810 zur Abnahme des Hl. Rockes (= Die Rückkehr des Hl. Rocks aus Augsburg im Jahre 1810), hrsg. v. Eduard Lichter, in: Kurtrierisches Jahrbuch 8 (1968), S. 241–255; ders.: Diarium der Augsburgischen Reise 1810 zur Abnahme des Hl. Rockes (= Die Rückkehr des Hl. Rocks aus Augsburg im Jahre 1810. 2. Teil: Merzig-Trier und anschließende Ausstellung in Trier), hrsg. v. Eduard Lichter, in: Kurtrierisches Jahrbuch 9 (1969), S. 160–176; Franz Tobias Müller: Aufzeichnungen zur Geschichte der Pfarrei Longuich von Franz Tobias Müller (1795–1823, 1827) (= Ein neu entdeckter Bericht über die Wallfahrt zum Heiligen Rock im Jahre 1810 von Franz Tobias Müller), hrsg. v. Mario Simmer, in: Kurtrierisches Jahrbuch 53 (2013), S. 271–274. 78 Anton Varain: Lebensbeschreibung des Herrn Anton Varain, gewesenen Pastoris von Born und Mompach, von ihm selbst geschrieben, hrsg. v. Heinrich Milz, in: Hémecht 42.3 (1936), S. 1–46. 79 LHA Ko Best. 700, 062 Nr. 28: Trierisches Tagebuch von Louis Müller, 1792–1802, 1811. Das Tagebuch ist sehr sorgfältig aufgebaut und verzeichnet u.a. auch Witterungsverhältnisse, landwirtschaftliche Erträge, Preisentwicklungen, Festtage usw.
22 | 1 Einleitung im Jahre 1794, sammt den Vorfällen mit der damaligen Geistlichkeit; beschrieben mit Zusätzen aus den vorigen Zeiten, für die ihrem Gott und seiner katholischen Religion treu gebliebenen Bürger⁸⁰ des Longuicher Pfarrers Franz Tobias Müller (1752–1827) nicht nur einen Überblick über den baulichen Zustand der Trier Kirchen und Stifte vor und während der französischen Zeit, sondern auch über persönliche Einschätzungen zum Zustand der Religion. Obwohl es sich um sehr subjektive Einschätzungen handelt, geben diese Quellen neben verzweifelten Bittschriften an den Kurfürst-Erzbischof⁸¹ oder Gutachten des Generalvikariats zu Streitfällen,⁸² die den ‚Umständen der Zeit‘ geschuldet waren, Aufschluss über die unterschiedlichen Reaktionen der katholischen Elite und der Bevölkerung auf die Umbrüche. Auch im Depositum Kesselstatt finden sich im Nachlass des Grafen Edmund von Kesselstatt (1765–1840) Schriften und Korrespondenzen, die etwa die finanzielle Situation der Geistlichen sowie die allgemeine Verfassung von Religion und Kirchendienern behandeln. Insbesondere diese und andere aus dem Rückblick auf die französische Zeit verfasste Quellen⁸³ geben Aufschluss über Deutungsmuster der Umbrüche. Dem Kapitel 4.1.2 liegen wiederum verschiedene Druckschriften zugrunde, die um die Frage nach der Zulässigkeit oder der Unzulässigkeit des Priestereides kreisen. Dabei handelt es sich um Schriften, die entweder in Trier veröffentlicht oder dort rezipiert wurden. Ausgehend von Johann Jakob Stammels (1771–1845) geschichtlicher Abhandlung Trierische Kronik fü r den Bü rger und Landmann entzündete sich ein vehementer Konflikt um das Verhältnis von Aufklärung und Religion, der im Vordergrund des Kapitels 4.2 steht und an dem sich exemplarisch die innerkirchlichen Auseinandersetzungen der Zeit nachvollziehen lassen. Neben den veröffentlichten Schriften anderer, am Streit beteiligter Autoren wurden auch Artikel aus zwei Periodika herangezogen, die sich mit Fragen der Religion in französischer Zeit beschäftigten:
80 Das Original der Handschrift findet sich im BATr Abt. 95 Nr. 342. Im Stadtarchiv Trier findet sich eine Abschrift (Hs 1406/125 2°) sowie in der Bibliothek des Priesterseminars eine Kopie der Abschrift. In seinem Vorwort (ohne Seitenzählung) schreibt Müller zu seinem Vorhaben: „Was also damit vom Jahre 1794 dem 10ten im August bis zu dem Jahre 1808, durch die französische Gewalt sich besonders ergeben, will ich in der Folge mit wenigem anführen. Weil es aber wohlgefällt bei mancher Sache ihrem Ende, darum auch den Anfang zu erfahren: und wiederum unter verdrießlichen Berichten hiehat, so habe ich die Mühe übernommen, und glaub würdigen Vergeichungen auch das ältere von unsern ehrwürdigen Kirchen und deren Klerisein, beizufügen“. 81 Pfarrer Joseph Anton Haas an Kurfürst-Erzbischof Clemens Wenzeslaus: BATr Abt. 49 Nr. 13. 82 StadtAr Tr Fz 680. 83 Viktor Joseph Dewora: Rückblick auf die Jahre der Zertrümmerung und Ausblick auf die bessere Zukunft. Eine Predigt im Jahr 1814, am feierlichen Dankfeste für die Befreiung des heiligen Vaters Pius des Siebenten aus der fünfjährigen Gefangenschaft, Hadamar 1815; ders.: Trauer-Rede auf den Tod des hochwürdigsten Herrn Carl Mannay, Koblenz 1825.
1.3 Quellen
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das Journal für das Saardepartement sowie die Patriotischen Beiträgen. Herausgeber des ersten Blattes, das zwischen April 1798 bis März 1799 zunächst dreimal in der Dekade erschien, war der ehemalige Universitätsprofessor Johann Jakob Haan (1754–1819). Die Monatszeitung Patriotische Beiträge verantwortete der Verleger Johann Baptist Michael Hetzrodt (1751–1830), der sie von Oktober 1798 bis März 1799 herausgab.⁸⁴ Beide Blätter fallen mit ihrem Erscheinen in einen religions- und kirchenpolitisch sehr bewegten Zeitraum der französischen Herrschaft. Das heterogene Quellenkorpus ermöglicht damit eine umfassende Beantwortung der Leitfrage, wie die katholische Elite des (Erz-)Bistums Trier die Umbrüche bewältigte und welche Ideen und Deutungsmuster dabei eine Rolle spielten.
84 Vgl. Emil Zenz: Trierische Zeitungen. Ein Beitrag zur Trierer Zeitungsgeschichte, Trier 1952, S. 19–21, 23–24.
2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit Das folgende Kapitel gibt einen Einblick in Aufbau und Verwaltung sowohl des Erzbistums als auch des Kurfürstentums Trier als regionalem Ausgangspunkt der Untersuchung. Es wird veranschaulicht, in welches institutionelle Gefüge die weltlichen und geistlichen Funktionsträger eingebunden waren und vor welchem strukturellen Hintergrund sich die Debatten abspielten. Die Umbrüche, die der Einfluss der Aufklärung sowie die französische Besatzung für Elite und Bevölkerung im (Erz-)Bistum darstellten, werden anschließend in ihren Grundzügen erläutert: Was zeichnete die Epoche der Aufklärung – vor allem im katholischen Raum – aus und wie gestaltete sich die kirchlich-religiöse Gesetzgebung der Franzosen im Rheinland?
2.1 Erzbistum und Kurfürstentum Trier im ausgehenden 18. Jahrhundert Als geistliche Amtsträger übten die Erzbischöfe und Bischöfe des Alten Reichs in ihren jeweiligen Bistümern die geistliche Jurisdiktionsgewalt aus, verwalteten das Vermögen und stellten die Seelsorge sicher. In der kirchlichen Hierarchie unterstanden ihnen die Pfarrer, die in ihren Gemeinden die Messe lasen und den Gläubigen die Sakramente spendeten. Ihre eindeutige Unterordnung unter die bischöfliche Gewalt ging auf Dekrete des Konzils von Trient zurück. Das Konzil, das in drei Sitzungsperioden zwischen 1545 und 1563 tagte, diente einerseits der Abgrenzung der katholischen Glaubenslehre vom Protestantismus. Andererseits wurden als Reaktion auf die kirchlichen Missstände Reformen formuliert, die mitunter vortridentinische Bestrebungen fortsetzten. Neben der Stärkung ihres Amtes wurden die Bischöfe etwa zu regelmäßigen Visitationen und der Einrichtung von Priesterseminaren verpflichtet. Die konkrete Umsetzung der Reformbeschlüsse vor Ort zog sich allerdings teilweise bis ins 18. Jahrhundert oder blieb ganz aus. Über den Bischöfen stand wiederum der Papst, der für sich die alleinige Entscheidungsgewalt „in geistlichen und weltlichen Angelegenheiten der Kirche in Anspruch nahm“¹. Zugleich waren die geistlichen Würdenträger des Reiches, die Bischöfe
1 Schlögl: Alter Glaube (wie Anm. 12, S. 4), S. 31. Vgl. ebenso Schnabel-Schüle: Kirche und Konfession (wie Anm. 20, S. 7), S. 695 und S. 717–719; Greyerz: Religion (wie Anm. 15, S. 5), S. 55–65 und Hersche: Muße (wie Anm. 33, S. 11), S. 152–211. Hersche hebt hervor, dass hinsichtlich der https://doi.org/10.1515/9783110674545-002
2.1 Erzbistum und Kurfürstentum Trier im ausgehenden 18. Jahrhundert |
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und Erzbischöfe, auch weltliche Herrscher. Dass kirchliche Amtsträger ebenso weltliche Macht ausübten, ging auf das sogenannte ottonisch-salische Reichskirchensystem zurück und war – bis auf den Kirchenstaat – in Europa beispiellos. Der weltliche Herrschaftsbereich, das Hoch- oder Erzstift, war in der Regel viel kleiner als das Bistum, in dem der Bischof oder Erzbischof nur über die geistlichen Obrigkeitsrechte verfügte. Das heißt, dass die Diözesangrenzen auch in andere Landesherrschaften hineinragten, was zu Konflikten führen konnte. Das Erzbistum Trier umfasste beispielsweise Teile Frankreichs, der Österreichischen Niederlande, der nassauischen Fürstentümer sowie der Kurpfalz.² Insgesamt erstreckte es sich in einem etwa 390 km langen, zwischen 30 bis 100 km breiten Streifen von Frankreich im Westen entlang der Mosel über den Westerwald bis ins heutige Hessen. Es befand sich damit zwischen den Erzbistümern Köln und Mainz gelegen. Der kleinere weltliche Herrschaftsbereich des Kurfürst-Erzbischofs, das Erzstift oder Kurfürstentum, war relativ geschlossen. Es umfasste beiderseits der unteren und oberen Mosel Hunsrück und Eifel sowie rechtsrheinisch einen kleinen Teil des Westerwalds. Limburg an der Lahn „bildete den äußersten östlichen Vorposten“³ des Kurstaates. Abgesehen von einigen Orten in der Eifel, die zum Erzbistum Köln gehörten, lag das gesamte Kurfürstentum damit im Bereich des Erzbistums. Wesentliche Gebietserweiterungen gelangen den Kurfürsten im 16. bzw. 17. Jahrhundert durch die Inkorporation der beiden benediktinischen Reichsabteien Prüm und St. Maximin.⁴ Reformumsetzung fast überall „konziliärer Anspruch und kirchliche Wirklichkeit auseinander klafften“ (S. 153). 2 Westlich grenzte das Erzbistum Trier damit an Gebiete, die während der Reformation unangefochten katholisch blieben. Vor allem benachbarte rechtsrheinische Landesherren wandten sich allerdings dem Protestantismus zu. Vornehmlich dort, aber auch im Hunsrück und an der Saar verlor das Erzbistum damit Einfluss auf einige Gebiete, sodass „der reformationsbedingte Verlust im Erzbistum Trier bis 1571 aus 276, d. h. einem guten Viertel sämtlicher Pfarreien“ (Bernhard Schneider: Erzbistum Trier (ecclesia Trevirensis), in: Erwin Gatz [Hrsg.]: Die Bistümer des Heiligen Römischen Reichs von ihren Anfängen bis zur Säkularisation, Freiburg 2003, S. 747–768, hier S. 758) bestand. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden einige Pfarreien rekatholisiert oder die Gotteshäuser wurden gemeinsam genutzt. Auch konvertierten einige Landesherren wieder, sodass es vereinzelt erneute Zugewinne gab, vgl. ebd., S. 760–761. Vgl. ausführlich zu den Auswirkungen der Reformation auf das Erzbistum: Gunther Franz: Reformatorische Bestrebungen, Reformation und Rekatholisierung im Kurfürstentum und im Erzbistum Trier, in: Persch/Schneider [Hrsg.]: Bistum Trier Bd. 3 (wie Anm. 49, S. 14), S. 602–677, S. 602–677. 3 Matthias Schnettger: Die Territorien im Überblick, in: Clemens/Felten/Schnettger [Hrsg.]: Kreuz (wie Anm. 5, S. 2), S. 537–573, hier S. 540. 4 Vgl. Schneider: Erzbistum (wie Anm. 2); Hansgeorg Molitor: Kurtrier, in: Anton Schindling/ Walter Ziegler [Hrsg.]: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und der Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650. Bd. 5: Der Südwesten, Münster 1993, S. 50–71;
26 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit Als Angehörige des Reichsfürstenstandes waren die Bischöfe und Erzbischöfe fest in das Gefüge des Reichs eingebunden und mit Sitz und Stimme auf dem Reichstag vertreten. Die Bedeutung, die die geistlichen Staaten insgesamt für das Funktionieren und Bestehen des Reichssystems, aber auch für den kaiserlichen Hof hatten, sollte sie auch vor den stets drohenden Säkularisationsabsichten der weltlichen Fürsten schützen.⁵ Der letzte Trierer Kurfürst Clemens Wenzeslaus von Sachsen war ein enger Verwandter der Habsburger und gelangte mit ihrer Hilfe zur Kurwürde. Daneben war er außerdem Fürstbischof von Augsburg und seit 1787 Fürstpropst von Ellwangen, was ihn im Reich zu einem wichtigen Machtfaktor machte.⁶ Adel und Domkapitel Die Reichskirche war im Wesentlichen eine Adelskirche. Sowohl die Bischöfe als auch die Domkapitulare entstammten mehrheitlich dem Adelsstand, dem ebenfalls viele andere gut dotierte Pfründen vorbehalten waren. Der Adel konnte so die Rita Voltmer: Kurtrier zwischen Konsolidierung und Auflösung (16.–18. Jahrhundert), in: Persch/ Schneider [Hrsg.]: Bistum Trier Bd. 3 (wie Anm. 49, S. 14), S. 38–54, S. 20–21, S. 39; Hansgeorg Molitor: Kirchliche Reformversuche der Kurfürsten und Erzbischöfe von Trier im Zeitalter der Gegenreformation, Wiesbaden 1967, S. 3–10 und Michael Müller: Die Entwicklung des Kurrheinischen Kreises in seiner Verbindung mit dem Oberrheinischen Kreis im 18. Jahrhundert, Franfurt a. M. 2008, S. 83 f. Zu Maximin vgl. ganz aktuell Bertram Resmini: Das Erzbistum Trier 13: Die Benediktinerabtei St. Maximin vor Trier, 2016. Die Angaben zu den Bevölkerungszahlen im Kurfürstentum schwanken naturgemäß: Schnettger: Die Territorien im Überblick (wie Anm. 3, S. 25) gibt die Fläche des Kurstaates im 18. Jahrhundert mit 151 Quadratmeilen an und nennt eine Einwohnerzahl von 280.000. Müller: Entwicklung (wie Anm. 4), S. 83 hingegen spricht für 1795 von 231.000 Einwohnern im Erzstift. Letztlich zählten laut Press die drei geistlichen Kurfürstentümern aber zu den „großen bedeutenden Flächenstaaten“ (Volker Press: Fürstentümer, Geistliche. II. Neuzeit, in: Gerhard Krause/Gerhard Müller [Hrsg.]: Theologische Realenzyklopädie, Band XI, Berlin/New York 1983, S. 715–719, hier S. 716). Dass die weltlichen Herrschaftsbereiche der geistlichen Staaten von höchst unterschiedlicher Größe waren, kennzeichnete die territoriale Struktur des Reiches insgesamt. 5 Vgl. Anton Schindling: Das Ende der Reichskirche – Verlust und Neuanfang, in: Rolf Decot [Hrsg.]: Kontinuität und Innovation um 1803. Säkularisation als Transformationsprozeß – Kirche, Theologie, Kultur, Staat, Mainz 2005, S. 69–92, hier S. 75–77. Das Ende des Reichs 1806 resultierte damit zwar nicht zwingend aus der Säkularisation, kam aber in der Folge wenig überraschend, vgl. Braun/Göttmann: Staat (wie Anm. 36, S. 11), S. 78. 1792 gab es noch drei geistliche Kurfürsten, zwei Erzbischöfe, 22 Bischöfe, den Deutsch- und Johannitermeister sowie acht gefürstete Prälaten im Reich, vgl. Press: Fürstentümer (wie Anm. 4), hier S. 715. 6 Zu Clemens Wenzeslaus vgl. Gabriele B. Clemens: Clemens Wenzeslaus: Trierer Kurfürst im europäischen Kontext, in: Bohlen/Embach [Hrsg.]: Erzbischof (wie Anm. 51, S. 14), S. 3–20, hier S. 6. Seine Mutter war eine Tochter Kaiser Josephs I. und seine Schwester Maria Josepha von Sachsen (1731–1767) heiratete den französischen Dauphin. Aus der Ehe ging der spätere König Ludwig XVI. (1754–1793) hervor.
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Versorgung seiner nachgeborenen Söhne (und Töchter) sichern. In Trier kamen die Domkapitulare seit dem 17. Jahrhundert aus der Reichsritterschaft sowie dem westfälischen und niederrheinischen Adel. Ab dieser Zeit musste die Stiftsfähigkeit durch den Nachweis von 16 adligen Vorfahren, der sogenannten Ahnenprobe, erbracht werden. Insgesamt setzte sich das Trierer Domkapitel aus 40 Mitgliedern zusammen, wovon 16 die eigentlichen Kapitulare ausmachten. Die restlichen 24 waren Domizellare und damit Anwärter auf einen Sitz im Kapitel.⁷ Die Domkapitel wählten seit dem Mittelalter die Fürstbischöfe, deren Verpflichtungen in Wahlkapitulationen festgehalten wurden. Bei Sedisvakanz übte das Kapitel die Verwaltung aus. Das Recht auf Mitwirkung an der Regierung behaupteten die Trierer Domkapitulare bis ans Ende des 18. Jahrhunderts.⁸ Keinesfalls sollten daher die Domkapitel „als reine Versorgungsanstalten fehlinterpretiert“⁹ werden, da der katholische Reichsadel durch sie an beschränkter, aber wesentlicher politischer Teilhabe gewann. Einheimische Trierer Adelsgeschlechter wie die von Kesselstatt, von Walderdorff oder von Dalberg versuchten darum, im Domkapitel bepfründet zu sein sowie in weltliche Regierungsämter zu gelangen: Es ging darum, „die politischen Schaltstellen sowohl in der kirchlichen wie der weltlichen Verwaltung und Regierung, bei Hof und beim Militär“¹⁰ zu besetzen. Mit diesen Beziehungsgeflechten gewannen sie an Macht und Einfluss und trugen so zur Stärkung der familiären Eigenherrschaften bei.¹¹ Für die Ämtervergabe innerhalb der Reichskirche waren Bildung und Eignung damit lange Zeit wenig entscheidend. „Erst im 18. Jahrhundert waren Domherren und Bischöfe in der Regel geweihte Priester und 7 Die Aufschwörung zum Domizellar war an ein Mindestalter von sieben Jahren sowie die Tonsur geknüpft. Nach Erledigung einer Präbende, etwa durch Tod oder Resignation eines Domherren, rückte in der Regel der Domizellar mit der längsten Anwartschaft nach. Dazu musste er mindestens 22 Jahre alt sein, die Diakonatsweihe empfangen und ein mindestens zweijähriges Studium absolviert haben, vgl. Peter Hersche: Die deutschen Domkapitel im 17. und 18. Jahrhundert. Bd. 1: Einleitung und Namenslisten, Bern 1984, S. 180 und Sophie-Mathilde Gräfin zu Dohna: Die ständischen Verhältnisse am Domkapitel von Trier, Trier 1960, S. 20–22. – Ausführlich mit der Geschichte des Domkapitels beschäftigt sich auch der jüngst erschienene Band: Werner Rössel [Hrsg.]: Das Domkapitel Trier im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Beiträge zu seiner Geschichte und Funktion, Mainz 2018, der jedoch nicht mehr berücksichtigt werden konnte. 8 Vgl. Martin Persch: Die Bistumsverwaltung, in: Persch/Schneider [Hrsg.]: Bistum Trier Bd. 3 (wie Anm. 49, S. 14), S. 102–130, hier S. 117–118. Allgemein zur Rolle der Domkapitel und ihrer Mitwirkung an der Regierung vgl. Günter Christ: Selbstverständnis und Rolle der Domkapitel in den geistlichen Territorien des alten deutschen Reiches in der Frühneuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 16 (1989), S. 257–328. 9 Karl Otmar von Aretin: Das Alte Reich 1648–1806. Band 1: Förderalische oder hierarchische Ordnung (1648–1648), Stuttgart 1993, S. 46. 10 Voltmer: Kurtrier (wie Anm. 4), S. 53. 11 Ebd., S. 39 und 53.
28 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit hatten an einer Universität studiert.“¹² Bei diesen, auf das Konzil von Trient zurückgehenden Bestimmungen, nahm das Erzbistum Trier eine Vorreiterrolle ein: Schon im 16. und 17. Jahrhundert hatten die Erzbischöfe hier mehrheitlich die Priesterund Bischofsweihe empfangen.¹³ Der höhere Bildungsgrad der Domherren – auch wenn sie ihr Studium mit unterschiedlichem Erfolg absolvierten – sorgte dafür, dass die geistliche Elite des Erzbistums und -stifts „im Domkapitel ein nicht zu unterschätzendes Reservoir“¹⁴ besaß. Meist waren die Domkapitulare mehrfach bepfründet, wodurch nicht selten „richtiggehende Bistumssysteme“¹⁵ entstanden. Gerade zwischen den Domkapiteln in Trier, Mainz und Speyer existierten enge personelle Verbindungen. So war beispielsweise der spätere Fürstbischof von Speyer, Philipp Franz Wilderich von Walderdorff (1737–1810), sowohl seit 1769 Domkapitular in Speyer als auch seit 1774 in Trier, wo er zunächst Dekan und schließlich Propst des Domkapitels wurde.¹⁶ Der maßgeblich an der Schulreform im Erzstift beteiligte Domkapitular Johann Friedrich Hugo von Dalberg (1760–1812) war ebenfalls in Speyer bepfründet und außerdem in Worms. Ein besonderer Fall waren hingegen die von Kesselstatt, die 1776 in den Reichsgrafenstand erhoben worden waren: Zunächst beschränkten sich die Aufschwörungen noch weitgehend auf das Mainzer und Trierer Domkapitel. Die meisten Kanonikate wurden frühzeitig wieder aufgegeben, sodass die Familie kaum an Einfluss gewann. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts zwang die hohe Zahl an Söhnen die Kesselstatts jedoch dazu, sich über die Kapitel im gesamten Reich zu verteilen, was mit zahlreichen Mehrfachbepfründungen einherging. Damit stellte
12 Schindling: Ende (wie Anm. 5, S. 26), S. 78. 13 Schneider: Erzbistum (wie Anm. 2, S. 25), S. 760. Darauf weisen auch hin: Press: Fürstentümer (wie Anm. 4, S. 26), S. 717 sowie Molitor: Kurtrier (wie Anm. 4, S. 25), S. 63. Nach Molitor begann die Umsetzung der tridentinischen Kirchenreform unter Kurfürst-Erzbischof Jakob von Eltz (1510–1581) und wurde von seinen beiden Nachfolgern fortgeführt. 14 Persch: Bistumsverwaltung (wie Anm. 8, S. 27), S. 121 sowie Andermann: Staaten (wie Anm. 36, S. 11), S. 605. Zwar mussten die Domizellare den Nachweis erbringen, mindestens zwei Jahre eine Universität besucht zu haben, ein Abschluss war jedoch nicht zwingend, vgl. Dohna: Die ständischen Verhältnisse am Domkapitel von Trier (wie Anm. 7, S. 27), S. 30. 15 Press: Fürstentümer (wie Anm. 4, S. 26), S. 717. 16 Vgl. Kurt Andermann: Geistlicher Reichsfürst in einer Zeit des Umbruchs. Wilderich von Walderdorff, letzter Fürstbischof von Speyer, 1797–1802 (1810), in: Friedhelm Jürgensmeier [Hrsg.]: Die von Walderdorff. Acht Jahrhunderte Wechselbeziehungen zwischen Region – Reich – Kirche und einem rheinischen Adelsgeschlecht, Köln 1998, S. 407–422, hier S. 408 und 410. Insgesamt hatte das Domkapitel in Trier zehn Dignitäten, wovon der Propst „die ranghöchste Autorität und die äußere Repräsentanz“ darstellte. „Dem Dekan oder Dechant stand die eigentliche Leitung zu; er übte die Disziplinargewalt aus.“ (Jeweils Persch: Bistumsverwaltung (wie Anm. 8, S. 27), S. 117).
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die Familie „in den Jahrzehnten vor der Säkularisation wohl den krassesten Fall einer bis zum Exzess getriebenen geistlichen Versorgungspolitik dar.“¹⁷ Landstände Anders als in Köln oder Mainz war das Trierer Domkapitel kein Landstand, sondern galt als Teil der landesherrlichen Regierung. Es verfügte über einen eigenen Herrschaftsbereich, dessen Einwohner seiner Verwaltung und Jurisdiktion unterstanden. Der seit 1729 endgültig als reichsunmittelbar geltende kurtrierische Adel gehörte schließlich ebenfalls nicht mehr dem Landtag an. Die Landstände bestanden somit nur aus einer geistlichen und einer weltlichen Kurie. Ersterer gehörten die Vertreter der Klöster, Stifte und Landkapitel an. Der geistliche Landstand setzte sich damit aus dem höheren und niederen Klerus zusammen. Zur weltlichen Kurie zählten im 18. Jahrhundert nur mehr die beiden Hauptstädte Trier und Koblenz sowie zwölf Nebenstädte. Die Landstände hatten gegenüber dem Kurfürsten das Steuerbewilligungsrecht inne, trieben die Steuern ein und verwalteten sie. Der Kurfürst berief jedoch den Landtag ein, der im 18. Jahrhundert in der Regel einmal jährlich zusammentrat. Die Mitregentschaft des Domkapitels drückte sich u. a. auch dadurch aus, dass es der Einberufung zustimmen musste und zwei Domherren an der Eröffnung teilnahmen.¹⁸ Kurfürst Clemens Wenzeslaus versuchte wiederholt, Einfluss „auf die ständische Steuer- und Finanzverwaltung“¹⁹ zu neh17 Peter Hersche: Die deutschen Domkapitel im 17. und 18. Jahrhundert. Bd. 2: Vergleichende sozialgeschichtliche Untersuchungen, Bern 1984, S. 144 sowie zu Dalberg vgl. die Angaben bei ders.: Domkapitel (wie Anm. 7, S. 27), S. 184. Zur Schulreform und Dalbergs Rolle siehe Kapitel 3.3. 18 Bis ins 17. Jahrhundert waren auch die Landgemeinden auf dem Landtag vertreten, dann setzte sich der weltliche Stand nur noch aus den Städten zusammen. Zu den Nebenstädten zählten: Cochem, Zell, Bernkastel, Wittlich, Saarburg, Pfalzel, Mayen, Münstermaifeld, Boppard, Oberwesel, Montabaur und Limburg. Neben elf Männerklöstern (u. a. St. Maximin, St. Matthias, Himmerod, Sayn) zählten zum geistlichen Stand 14 Stifte (u. a. St. Paulin, St. Simeon, St. Florin, St. Kastor, Pfalzel, Dietkirchen), die Landkapitel, das Hospital zu Kues und das Frauenkloster St. IrminenOeren. Vgl. Wolf-Ulrich Rapp: Stadtverfassung und Territorialstaat. Koblenz und Trier unter Kurfürst Clemens Wenzeslaus (1768–1794), Frankfurt a. M. 1995, S. 225–227, S. 241–242, S. 247; Voltmer: Kurtrier (wie Anm. 4, S. 26), S. 41 sowie Schneider: Erzbistum (wie Anm. 2, S. 25), S. 756. Laut Johannes Dillinger: Demokratie im Kurstaat? Deputierte von Bauern und Bürgern auf den Landtagen des Kurfürstentums Trier, in: Kurtrierisches Jahrbuch 46 (2006), S. 201–216, hier S. 206 zählten die Landdekante ab 1680 auch nicht mehr zur geistlichen Kammer. Rechte und Aufgaben des Domkapitels sowie der Landstände werden ebenfalls eingehend beschrieben bei: Edwin Haxel: Verfassung und Verwaltung des Kurfürstentums Trier im 18. Jahrhundert, in: Trierer Zeitung 5 (1930), S. 47–87, hier S. 55–60 und S. 60–65. Allgemein zur landständischen Verfassung in den geistlichen Territorien siehe auch Christ: Selbstverständnis (wie Anm. 8, S. 27), S. 315–328, speziell zu Trier S. 321–323. 19 Rapp: Stadtverfassung (wie Anm. 18), S. 243.
30 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit men, indem er – sehr zum Missfallen der Landstände – ausbleibende Steuern durch eigene Beamte eintreiben ließ. Selbst wenn hierbei weniger Machtfragen als die Sorge um die finanzielle Stabilität des Staates eine Rolle gespielt haben sollten,²⁰ zeigt das Beispiel, dass die Kurfürsten in ihrer Regierung sowohl durch das Domkapitel als auch die Landstände eingeschränkt waren. – Reformerisches ‚Durchregieren‘ wurde dadurch zumindest erschwert.²¹ Kritik seitens der Landstände schlug dem letzten Kurfürst-Erzbischof nach der Französischen Revolution ebenfalls hinsichtlich seiner Emigrantenpolitik entgegen. Sie bemängelten nicht nur Anzahl und das Verhalten der Emigranten, sondern befürchteten – vor allem nach der französischen Kriegserklärung an Österreich im April 1792 –, dass das bisherige Agieren der kurtrierischen Regierung als Verletzung der Neutralität gewertet werden könnte. Ob jedoch tatsächlich, wie angekündigt, eine gedruckte Verteidigungsschrift der Stände im November 1792 an den französischen Nationalkonvent gesandt wurde, ist unklar. Das Verhältnis zum Kurfürsten war jedenfalls äußerst angespannt, auch wenn das Aufbegehren der Stände letztlich im Sande verlief.²² Verwaltung Die Organisation der kurfürstlichen Verwaltung ging im Wesentlichen auf Erzbischof Balduin von Luxemburg (1285–1354) zurück und bestimmte auch die des Bistums. Unter Balduin war das Erzstift in ein Niedererzstift mit der Hauptstadt Koblenz und einem Obererzstift mit Trier als Mittelpunkt geteilt worden. Auf lokaler Ebene gliederten sich beide Teile jeweils in Oberämter, Ämter und Kellereien. „Diesen Verwaltungseinheiten standen zumeist Adlige oder Domherren als Amtmänner, d.h. Gerichtsherren und Stellvertreter des Landesherrn vor.“²³ Allmählich 20 Vgl. Rapp: Stadtverfassung (wie Anm. 18, S. 29), S. 243. Laut Rapp war die Sorge aufgrund der mangelhaften ständischen Steuerverwaltung berechtigt. Dass es dabei aber auch um die Durchsetzung landesherrlicher Macht ging, erscheint mir plausibel. 21 Der Binger Rezess von 1650, der aufgrund der Auseinandersetzungen zwischen Kurfürst Philipp Christoph von Sötern (1567–1652) und dem Domkapitel geschlossen worden war, hatte „die Ordnung der Gewalt zwischen Landesherr, Domkapitel und Landständen“ (Voltmer: Kurtrier (wie Anm. 4, S. 26), S. 41) festgeschrieben. 22 Vgl. Blazejewski/Laux: Trier (wie Anm. 5, S. 2), S. 234–235 sowie Johannes Dillinger: Die politische Repräsentation der Landbevölkerung. Neuengland und Europa in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2008, S. 69–72. Ausführlich zum Verhältnis zwischen Kurfürst Clemens Wenzeslaus und den Landständen im Umfeld der Revolution vgl. auch die ältere Arbeit von Franz Liesenfeld: Klemens Wenzeslaus, der letzte Kurfürst von Trier, seine Landstände und die französische Revolution (1789–1794), Trier 1912. 23 Müller: Entwicklung (wie Anm. 4, S. 26), S. 85. Laut Schneider: Erzbistum (wie Anm. 2, S. 25), S. 757 waren die Kellner, denen die Finanzverwaltung oblag, Bürgerliche. Dem Trierer Domkapitel
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hatte sich Koblenz als Sitz der kurfürstlichen Verwaltung etabliert. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts verlagerte sich die Residenz der Kurfürsten nach Ehrenbreitstein bzw. Koblenz, wo der Hof ab 1780 endgültig residierte. Trier war, bedingt durch die Nähe zu Frankreich, immer wieder in militärische Konflikte hineingezogen und besetzt worden und galt damit als zu unsicher.²⁴ Zumindest im historischen Gedächtnis der Trierer Stadtbevölkerung war die Erfahrung einer französischen Besatzungsherrschaft noch sehr präsent.²⁵ Anstelle des Kurfürsten erfüllte in Trier ein Statthalter die landesherrlichen Aufgaben. Oblag zuerst dem Propst des Domkapitels diese Aufgabe, fiel sie im Laufe der Zeit dem Domdekan zu. Seine Funktionen als Dekan wie als Statthalter verpflichteten ihn zur ständigen Residenz in Trier, um dort die kurfürstlichen Interessen zu wahren und zu vertreten.²⁶ Bei Clemens Wenzeslaus’ Regierungsantritt 1768 war Franz Karl Ludwig Freiherr von Boos zu Waldeck (1710–1776) Statthalter.
hingegen unterstanden etwa die Ämter Kyllburg und Welschbillig. Insgesamt lässt sich auch für Kurtrier „eine allmähliche administrative Durchdringung des Territoriums“ (Matthias Schnettger: Der frühneuzeitliche Territorialstaat, in: Clemens/Felten/Schnettger [Hrsg.]: Kreuz (wie Anm. 5, S. 2), S. 578–606, hier S. 593) beobachten, da sich die Ämterzahl zwischen 1330 und 1789 von 16 auf 31 nahezu verdoppelt. 24 Vgl. Voltmer: Kurtrier (wie Anm. 4, S. 26), S. 40; Clemens/Clemens: Geschichte (wie Anm. 7, S. 3), S. 188–189; Müller: Entwicklung (wie Anm. 4, S. 26), S. 88. Besonders im Zuge der französischen Reunionspolitik Ludwigs XIV. (1638–1715) und des Pfälzischen Erbfolgekriegs (1688–1697) war Trier stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Obwohl Kurtrier von den Reunionen betroffen war, agierte der damalige Kurfürst-Erzbischof Johann Hugo von Orsbeck (1676–1711) gegenüber Frankreich zurückhaltend, was die kurzzeitige Besetzung Triers 1684 aber nicht verhinderte. Nach Ausbruch des Erbfolgekriegs 1688 besetzten die Franzosen die Stadt erneut. Zwar wurden Teile der Stadtmauer sowie der Römerbrücke zerstört; anders als Heidelberg oder Speyer wurde Trier jedoch nicht niedergebrannt. Allerdings endete die Besetzung erst 1698. Vgl. Düwell/Irsigler [Hrsg.]: Trier (wie Anm. 60, S. 16), S. 29–31. 25 Im Konflikt um die Emigranten erinnerten die Landstände Clemens Wenzeslaus 1791 nicht umsonst daran, dass Trier bereits reichlich Erfahrung mit einfallenden Franzosen sammeln musste, vgl. Joseph Hansen [Hrsg.]: Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der Französischen Revolution 1780–1801, 4 Bde., Bd. 1, Bonn 1931, S. 991. 26 Zurückgehend auf die sogenannte Eltziana, die Trierer Stadtordnung von 1580, saß derStatthalter dem Stadtmagistrat vor und nahm darum auch stets an dessen Sitzungen teil. Innerhalb des Rates verfügte er über ein aufschiebendes Veto. Des Weiteren war er verantwortlich für „die Rechtssicherung, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, die Unterhaltung der städtischen Gebäude einschließlich der Stadtmauer und der Stadttore sowie [für] die städtischen Finanzen.“ Rapp: Stadtverfassung (wie Anm. 18, S. 29), S. 73 f. Vgl. auch Gudrun Schönfeld: Kurfürsten und Führungskräfte: Herkunft, Qualifikation und soziale Verflechtung der kurtrierischen Führungsschicht im 18. Jahrhundert, Marburg 2011, S. 23 und Düwell/Irsigler [Hrsg.]: Trier (wie Anm. 60, S. 16), S. 4–8. Die Eltziana war das Ergebnis der gescheiterten Versuche Triers, die Reichsunmittelbarkeit zu beanspruchen. Sie geht zurück auf Kurfürst Jakob von Eltz.
32 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit Ihm folgte kurzzeitig der spätere Speyrer Fürstbischof Philipp Franz von Walderdorff und schließlich Anselm von Kerpen (1740–1795), der das Amt bis zu seinem Tod 1795 ausübte.²⁷ Die Dominanz des regionalen Adels spiegelte sich auch in der Besetzung der sogenannten Erbämter wider. Diese Ämter, die sowohl an den Höfen der weltlichen als auch der geistlichen Territorien „nach dem Vorbild des Königshofes“²⁸ eingeführt worden waren und in Trier auf das 14. Jahrhundert zurückgehen, waren im 18. Jahrhundert weitgehend funktionslose erbliche Ehrentitel. Wirklicher Hofdienst war damit nur noch selten verbunden.²⁹ Oberste Regierungsbehörde im Erzstift war der Hofrat, der anfangs lediglich eine beratende Funktion hatte, bevor er unter Kurfürst-Erzbischof Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg (1664–1732) als feste Institution verankert und mit klaren Kompetenzen ausgestattet wurde. Von Ehrenbreitstein aus versah der fünfzehnköpfige Hofrat die gesamten Regierungsgeschäfte. Zuständig für die Verwaltung der landesherrlichen Finanzen war die Hofkammer.³⁰ Um den gestiegenen Anforderungen an die Verwaltung im 18. Jahrhundert gerecht und der wachsenden Unübersichtlichkeit Herr zu werden, ordnete Kurfürst Clemens Wenzeslaus dem Hofrat 1768 die Geheime Staatskonferenz über. Fortan bildete sie unter seinem Vorsitz das oberste Regierungsgremium mit eigener Kanzlei und Registratur. Die Geheime Staatskonferenz setzte sich aus vier Fachressorts zusammen; an der Spitze stand der Staats- und Konferenzminister, der der die Staatsgeschäfte führte. Seinem ersten Fachdepartement oblag die Oberaufsicht über das Hof-, Militär- und Finanzwesen sowie die Zuständigkeit für alle auswärtigen Angelegenheiten. Das zweite Departement kümmerte sich um alle geistlichen Vorgänge, die den außerhalb des Erzstifts lebenden Klerus, die Suffraganbistümer Metz, Toul und Verdun sowie die Korrespondenz mit der Nuntiatur in Köln und Rom betrafen. Das dritte Fachdepartement kümmerte sich im Wesentlichen um das Militär- und Justizwesen
27 Vgl. Rapp: Stadtverfassung (wie Anm. 18, S. 29), S. 74–76. 28 Wolfgang Schmid: Heilsgeschichte, Propaganda und Verfassungswirklichkeit. Der letzte Trierer Kurfürst, das Domkapitel und die Landstände im Spiegel eines Wappenkalenders, in: Bohlen/ Embach [Hrsg.]: Erzbischof (wie Anm. 51, S. 14), S. 45–95, hier S. 71. 29 Zur Verteilung der Erbämter unter den Adelsfamilien vgl. ebd., S. 67; Voltmer: Kurtrier (wie Anm. 4, S. 26), S. 53. Zu weiteren Hofämtern vgl. die knappen Erläuterungen bei: Schönfeld: Kurfürsten (wie Anm. 26, S. 31), S. 28–30. In der Frühen Neuzeit waren Hof- und Regierungsämter nicht eindeutig getrennt, vgl. Schnettger: Territorialstaat (wie Anm. 23, S. 31), S. 590. 30 Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg sorgte ebenfalls für eine Trennung von Verwaltung und Justiz und einen klaren Instanzenzug. Vgl. Voltmer: Kurtrier (wie Anm. 4, S. 26), S. 53; Schönfeld: Kurfürsten (wie Anm. 26, S. 31), S. 19–20; Haxel: Verfassung (wie Anm. 18, S. 29), S. 74–79 und Müller: Entwicklung (wie Anm. 4, S. 26), S. 91 f.
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und das vierte um die Finanzen.³¹ Die wachsende Ausdifferenzierung staatlicher Tätigkeit erforderte fähiges Personal, was gerade Bürgerlichen mit akademischer Ausbildung Aufstiegsmöglichkeiten bot: „1785 setzte sich die aus 27 [höheren] Staatsbeamten bestehende Regierung fast zur Hälfte aus bürgerlichen Spezialisten zusammen.“³² Wenngleich der Adel auch weiterhin bei der Ämterbesetzung dominierte, gelangten im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer mehr Bürgerliche an wichtige Stellen innerhalb der kurfürstlichen Verwaltung. Für ihre Verdienste wurden sie anschließend häufig nobilitiert. Georg Michael Frank von La Roche, den Kurfürst Clemens Wenzeslaus 1773 zum Wirklichen Geheimen Rat und 1774 zum Regierungskanzler ernannte, wurde etwa 1775 durch kaiserliche Entschließung in den Adelsstand erhoben.³³ Geistliche Verwaltung, Struktur des Erzbistums Die Zweiteilung in ein Nieder- und ein Obererzstift galt auch für das Erzbistum, wobei Trier hier die „zentralörtliche Funktion als sakral-kultischer Hauptort von Erzstift und Erzbistum“³⁴ einnahm. Als Mittelpunkt der geistlichen Verwaltung waren in Trier sowohl das Domkapitel als auch das Generalvikariat – die oberste Verwaltungsbehörde des Erzbistums mit dem Generalvikar an ihrer Spitze – ansässig. Auch der Weihbischof, der bis 1719 durchgängig das Amt des Generalvikars in Personalunion ausübte, residierte in Trier.³⁵ Er fungierte als eine Art Helfer des Erzbischofs, der diesen bei der Erfüllung der geistlichen Aufgaben in der weitläufigen Diözese unterstützte. Die Erzbischöfe wurden dadurch einerseits entlastet, um ihren landesherrlichen Verpflichtungen nachkommen zu können. Andererseits hatten sie zumindest im Mittelalter oft nicht die höheren Weihen besessen und daher für entsprechende Amtshandlungen Weihbischöfe als Stellvertreter benötigt. 31 Vgl. Schönfeld: Kurfürsten (wie Anm. 26, S. 31), S. 20; Haxel: Verfassung (wie Anm. 18, S. 29), S. 70. 32 Voltmer: Kurtrier (wie Anm. 4, S. 26), S. 53. Vgl. auch Richard Laufner: Adel, Bürgerschaft und Städte. Ihr Verhältnis zueinander und zum geistlichen Landesfürsten in Trier, in: Markus Groß-Morgen [Hrsg.]: Dienst und Herrschaft. Aspekte adligen Lebens am Beispiel der Familie Walderdorff, eine Ausstellung im Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseum, Trier 1998, S. 31–41, hier S. 34. 33 Vgl. Schönfeld: Kurfürsten (wie Anm. 26, S. 31), S. 97–98; Michael Embach: Georg Michael Frank La Roche (1720–1788), in: Klaus Haag/Jürgen Vorderstemann [Hrsg.]: Meine liebe grüne Stube. Die Schriftstellerin Sophie von La Roche in ihrer Speyerer Zeit (1780–1786), Speyer 2006, 2005, S. 45–64, 227–231. La Roche ist allerdings insofern ein schlechtes Beispiel, da er zwar bürgerlicher Herkunft ist, jedoch von Anton Heinrich Friedrich Graf von Stadion zu Thann und Warthausen (1691–1768) großgezogen wurde. Ausführlicher zu La Roche siehe Kapitel 3.1. 34 Voltmer: Kurtrier (wie Anm. 4, S. 26), S. 41. 35 Vgl. Persch: Bistumsverwaltung (wie Anm. 8, S. 27), S. 116 und 121.
34 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit Diese vertraten ihre Vorgesetzten etwa bei der Weihe von Diakonen, Äbten, Kirchen oder Altären sowie bei der Spendung des Firmsakraments. Während seiner Amtszeit nahm Erzbischof Clemens Wenzeslaus aber auch selbst einige Weihen vor. Das Amt des Weihbischofs war mit keiner Pfründe verknüpft, weshalb sie häufig „in ihren Einkünften ganz oder teilweise von ihrem Auftraggeber abhängig“³⁶ waren. Zumeist bemühten sie sich darum um entsprechende Stiftskanonikate in Trier St. Paulin und St. Simeon.³⁷ War das Generalvikariat anfangs aufgrund seiner überschaubaren Tätigkeitsfelder noch recht klein, nahm die Zahl der Beschäftigten im Verlauf des 18. Jahrhunderts stetig zu, sodass es 1794 allein zehn Assessoren zählte. Auch ohne dass der Weihbischof gleichzeitig als Generalvikar fungierte, handelte es sich bei letzterem ebenfalls um einen Vertreter des Erzbischofs mit weitreichenden Machtbefugnissen. Als Bevollmächtigter des Erzbischofs kümmerte er sich um die Verwaltung der geistlichen Angelegenheiten, die neben Ehesachen und Kirchenbauten vor allem die Aufsicht und den Kontakt zu den Pfarrern und Gemeinden beinhaltete. Eventuell zur Entlastung des Trierer Generalvikariats hatte der damalige Kurfürst 1719 ein weiteres in Koblenz zur Verwaltung des Niedererzstiftes einrichten lassen.³⁸ Führte die Trierer Behörde die Bezeichnung Erzbischöfliches Generalvikariat und Consistorium, nannte sich die Koblenzer Erzbischöfliches Offizialats-Kommissariat, dessen Vorsteher im Gegensatz zum Trierer Generalvikar nur ein Beauftragter des Erzbischofs war. Der Aufgabenbereich unterschied sich jedoch kaum.³⁹ Die Namen der jeweiligen Einrichtungen verweisen ebenfalls darauf, dass außerdem sowohl in Trier als auch in Koblenz ein Offizialat existierte. Diese, auch Konsistorien genannten Einrichtungen, waren für das kirchliche Rechtswesen zuständig: die Offiziale, die Leiter der Behörde, „waren von Anfang an Beamte des Erzbischofs, denen vor
36 Molitor: Reformversuche (wie Anm. 4, S. 26), S. 83. 37 Vgl. Persch: Bistumsverwaltung (wie Anm. 8, S. 27), S. 102, 115. Zur Entwicklung des Weihbischofamts von seinen Anfängen bis ins 18. Jahrhundert vgl. auch Wolfgang Seibrich: Die Weihbischöfe des Bistums Trier, Trier 1998, S. 10–11, 20–22, 51–54. Zur Weihetätigkeit von Clemens Wenzeslaus sowie zur Erfüllung seiner priesterlichen Aufgaben vgl. Peter Brommer/Achim Krümmer: Höfisches Leben am Mittelrhein unter Kurfürst Clemens Wenzeslaus von Trier (1739–1812). Zum 200. Todesjahr des letzten Trierer Kurfürsten, Koblenz 2012, S. 175–192. Besonders bedeutsam war das Stift St. Simeon, da es eng mit der Universität verbunden war und ihm die meisten Weihbischöfe angehörten, vgl. Schneider: Erzbistum (wie Anm. 2, S. 25), S. 762. Im Untersuchungszeitraum gab es drei Weihbischöfe: Johann Nikolaus von Hontheim (1701–1790), Jean Marie Cuchot d’Herbain (1727–1801) und Johann Michael von Pidoll (1734–1819). Auf alle drei wird im weiteren Verlauf näher eingegangen. 38 Vgl. Persch: Bistumsverwaltung (wie Anm. 8, S. 27), S. 121–123. 39 Vgl. Thomas: Verwaltung (wie Anm. 64, S. 17), S. 210.
2.1 Erzbistum und Kurfürstentum Trier im ausgehenden 18. Jahrhundert |
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allem die Wahrnehmung der erzbischöflichen Gerichtsbarkeit oblag.“⁴⁰ Das Trierer Offizialat fungierte für das Koblenzer als Appellationsinstanz und umgekehrt. In der Regel hatten die Offiziale eine theologische und juristische Ausbildung.⁴¹ Beide Stellen, Generalvikariat und Offizialat, waren personell eng verknüpft und teilweise mit ähnlichen Aufgaben betraut, sodass sie sich nicht immer sauber unterscheiden lassen.⁴² Hinsichtlich der Pfarreistruktur gliederte sich das Erzbistum seit dem 11. Jahrhundert in fünf Archidiakonate: Longuyon, Tholey, Trier St. Peter, Karden und Dietkirchen. Zum ganz im Westen gelegenen Longuyon gehörten sowohl französischals auch deutschsprachige Teile des Erzbistums und Dietkirchen umfasste die rechtsrheinischen Gebiete im Osten der Diözese.⁴³ Die Archidiakonate gliederten sich wiederum in Landkapitel bzw. -dekante. Diese dienten nicht nur der äußeren Strukturierung des Erzbistums, sondern in ihnen fanden sich alle im jeweiligen Dekanat tätigen Seelsorger zusammen. Jedes dieser Landkapitel verfügte darum über eigene, erzbischöflich bestätigte Statuten, die die „korporative[…] Eigenständigkeit“⁴⁴ markierten und etwa Wahl und Amt des Dechanten, die Zugehörigkeit zum Kapitel sowie die Einheitlichkeit der Gottesdienstfeier und anderer religiöser Gebräuche und Praktiken regelten. Die beanspruchte Eigenständigkeit kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem Vorsteher des Dekanats, dem Dechanten, von erzbischöflicher Seite eine zentrale Rolle bei Aufsicht und Kontrolle der Pfarrer beigemessen wurde. Die Dechanten waren zur Abhaltung regelmäßig stattfindender Visitationen und Kapitelsversammlungen angehalten und sollten sich dort über den Zustand der Pfarreien von den Pfarrern informieren lassen. Sie hatten unter anderem auch darauf zu achten, ob sich „häretische Bücher“⁴⁵ im Besitz der Pfarrer befanden. Im 18. Jahrhundert ordneten die Erzbischöfe die Dechanten
40 Molitor: Reformversuche (wie Anm. 4, S. 26), S. 89. 41 Vgl. ebd., S. 89 und Schönfeld: Kurfürsten (wie Anm. 26, S. 31), S. 18. Trier war ebenso für die Suffraganbistümer zweite Instanz. 42 Vgl. Persch: Bistumsverwaltung (wie Anm. 8, S. 27), S. 125 und 128. Die Überschneidung der Zuständigkeiten lässt sich gut nachvollziehen, wenn man die Prozessgegenstände an den Offizialaten mit den Themen der Generalvikariatskorrespondenzen vergleicht: So beschäftigten sich beide beispielsweise mit Dispensen, Benefizientausch oder den Pfarrvermögen. 43 Die Archidiakone oder Chorherren berief der Erzbischof aus dem Kreis der Domkapitulare, denen nach Propst und Dekan im Kapitel ein besonderer Vorrang zukam. Mit der Einführung des Offizialats und Generalvikariats verlor das Amt im 18. Jahrhundert „erheblich an Relevanz“ (Bernhard Schneider: Strukturen der Seelsorge und der kirchlichen Verwaltung: Archidiakonat, Landkapitel und Pfarrei, in: Persch/Schneider [Hrsg.]: Bistum Trier Bd. 3 (wie Anm. 49, S. 14), S. 131–146, hier S. 134). 44 Ebd., S. 136. 45 Ebd., S. 138.
36 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit noch stärker dem Generalvikariat unter. Wiederholt erinnerten die zuständigen kirchlichen Stellen die Dechanten an die ihnen gegenüber bestehende Berichtspflicht, welche einem vorgeschriebenen Fragenkatalog zu folgen hatte – die nun allgemein bei Visitationen übliche Vorgehensweise. Für die Vikariate in Trier und Koblenz waren die Dechanten die zentralen Ansprechpartner und „ein wichtiges Instrument in der Verwaltung des Erzbistums“⁴⁶; deren Zusammenarbeit war daher maßgeblich für die Umsetzung von Verordnungen. Jedoch befolgten die Dechanten und Landkapitel die Anweisungen nicht immer willig, wie etwa die Mahnungen des Generalvikariats zeigen, die sogenannten Karolinischen Versammlungen, die vor allem der Fortbildung der Pfarrer dienen sollten, abzuhalten.⁴⁷ Pfarrer und Kapläne Das Pfarreiensystem im Erzbistum basierte auf gewachsenen Strukturen, war also nicht planmäßig angelegt worden, sodass die Pfarreien von unterschiedlicher Größe waren. Zahlreiche Pfarreien waren Klöstern oder Stiften eingegliedert, die in diesem Fall die Verwaltung und Verwendung des Pfarrvermögens kontrollierten und die die Verantwortung für die Seelsorge trugen. Daneben hatten zumindest zu Beginn der Frühen Neuzeit auch viele weltliche Herren das Patronatsrecht inne, weshalb der Erzbischof insgesamt nur wenige Pfarrstellen frei besetzen konnte. Lassen sich für das letzte Drittel des 16. Jahrhunderts 718 Pfarreien und 38 freie Kapellen ermitteln, so erhöhte sich die Anzahl ersterer bis 1788 um 58. Dieser Pfarrei-Zuwachs basierte auf der Rekatholisierung von Gemeinden nach der Reformation, der Erhebung von Kapellen zu Pfarreien oder auf der Teilung besonders großer Gemeinden.⁴⁸ Obwohl die Reform der Priesterausbildung ein wichtiges Anliegen des Trienter Konzils gewesen war, war die Ausbildung zum 46 Schneider: Strukturen (wie Anm. 43, S. 35), S. 140. 47 Die Versammlungen waren nach Bischof Karl Borromäus (1538–1584) benannt, dem bedeutendsten Vertreter der nachtridentinischen Reformen. Clemens Wenzeslaus suchte diese Anfang des 18. Jahrhunderts eingeführte Einrichtung wieder aufleben zu lassen und auch die örtlichen Schulen miteinzubeziehen. Letztlich hatte er damit wenig Erfolg. Bereits zwei Jahre nach ihrer Neuordnung 1780 ließ er die zunächst viermal im Jahr stattfindenden Versammlungen auf drei reduzieren und praktisch von Anfang an musste das Generalvikariat an das Einsenden der Versammlungsprotokolle erinnern, vgl. z. B. Johann Jakob Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia, ordinationes et mandata Archidiocesis Trevirensis, 9 Bde., Bd. 5, Trier 1846, S. 217–218, 318. Vgl. ausführlicher zu den Versammlungen sowie zu den ‚normalen‘ Kapitelversammlungen: Schneider: Strukturen (wie Anm. 43, S. 35), S. 140–144. 48 Vgl. ebd., S. 144–146. Schneiders Zahlen basieren auf der Auswertung einer älteren Studie von Eduard Lichter, der die Anzahl der Pfarreien auf Grundlage der Generalvisitation 1569/71 ermittelte. Diese hatte Erzbischof Jakob von Eltz veranlasst, um nach dem Trienter Konzil den Reformbedarf zu ermitteln.
2.1 Erzbistum und Kurfürstentum Trier im ausgehenden 18. Jahrhundert | 37
Weltgeistlichen lange nicht klar geregelt: Noch bis weit ins 18. Jahrhundert gingen die meisten der angehenden Pfarrer bei einem älteren Geistlichen in die ‚Lehre‘. Zwar gab es beispielsweise mit dem Bantus- und dem Lambertinischen Seminar zwei Priesterseminare in Trier, diese verfügten jedoch nur über wenige Plätze und richteten sich hauptsächlich an Adlige. Auch ein Theologiestudium an der Trierer Universität kam nur für wenige in Frage. Erst das Verbot des Jesuitenordens 1773 ermöglichte es Clemens Wenzeslaus ein adäquates Priesterseminar einzurichten, da er auf das Vermögen und die Güter des Ordens zurückgreifen konnte. 1779 gliederte er schließlich die theologische Fakultät dem Priesterseminar an.⁴⁹ Die Pfarrpfründen unterschieden sich von Pfarrei zu Pfarrei erheblich. Allerdings hatten sich die Erzbischöfe seit dem 16. Jahrhundert darum bemüht, die Einkommen durch das Zusammenlegen mehrerer Pfründen zu erhöhen bzw. arme Pfarreien mit zusätzlichem kirchlichen Vermögen auszustatten. Insgesamt setzte sich das Einkommen der Pfarrgeistlichen „aus dem kleinen Zehnten, also Flachs, Kartoffeln oder Linsen, aus dem ‚Wittum‘ (also die dem Pfarrer zugewiesenen Äcker, Wiesen, Weingärten und Gärten) und aus den Stolgebühren, also den Einkünften aus den kirchlichen Amtshandlungen, zusammen.“⁵⁰ Sofern die Pfarrer ihr Land nicht verpachteten, waren sie ebenso Landwirte und unterschieden sich auf dem Land kaum von ihren Gemeindemitgliedern. Höheres Ansehen genossen diejenigen Geistlichen, die beispielsweise einer der fünf Stadtpfarreien Triers vorstanden.⁵¹ In der Hauptsache entstammten die Pfarrer dem (klein-)städtischen Bürgertum. Sozial unterschied sich der niedere Pfarrklerus damit erheblich von der Gruppe der hohen Geistlichkeit.⁵² 49 Vgl. Martin Persch: Der Klerus des Erzbistums, in: Persch/Schneider [Hrsg.]: Bistum Trier Bd. 3 (wie Anm. 49, S. 14), S. 202–239, hier S. 204–206 sowie zum Priesterseminar die einschlägigen Untersuchungen von Franz Rudolf Reichert: Trierer Seminar- und Studienreform im Zeichen der Aufklärung (1780–1785), in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 27 (1975), S. 131–202 und ders.: Das Trierer Priesterseminar zwischen Aufklärung und Revolution (1786–1804), in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 38 (1986), S. 107–144. Zur Reform der Priesterausbildung siehe auch Kapitel 3.2. 50 Persch: Klerus (wie Anm. 49), S. 217 sowie Molitor: Reformversuche (wie Anm. 4, S. 26), S. 148– 149. 51 Zu diesen innerstädtischen Pfarreien zählten im 18. Jahrhundert: Trier-St. Laurentius, Trier-St. Gangolf, Trier-St. Antonius, Trier-St. Paulus und Trier-St. Gervasius. Ausführlich zur Entwicklung der Pfarreien im Burdekanat, dem Stadtdekanat Triers, zu dem auch die Pfarreien im weiteren städtischen Siedlungsgebiet gehörten: Ferdinand Pauly: Siedlung und Pfarrorganisation im alten Erzbistum Trier. Bd. 6: Das Landkapitel Perl und die rechts der Mosel gelegenen Pfarreien des Landkapitels Remich, das Burdekanat Trier, Bonn 1968, S. 195–319. 52 Vgl. Rönz: Diözesanklerus (wie Anm. 21, S. 8), S. 52–53. Ganz allgemein rekrutieren sich die Pfarrer laut Ziemann: Sozialgeschichte (wie Anm. 13, S. 4), S. 99 erst nach der Säkularisation verstärkt aus bäuerlichen Familien.
38 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit Unterstützung bei der Verrichtung ihrer Seelsorgepflichten erhielten die Pfarrer durch Kapläne. Diese waren nicht zwingend ‚Berufsanfänger‘, sondern hatten (noch) keine eigene Pfarrei erhalten. Finanziell schlecht gestellt, übernahmen sie oft die Pfarrschulen oder verdingten sich zusätzlich als Küster, um ihr Auskommen zu sichern. Dass das Verhältnis zwischen den Pfarrern und ihren Kaplänen oft schwierig war, zeigt eine Verfügung des Erzbischofs vom 12. Mai 1783: Mit „höchster Unzufriedenheit“⁵³ habe er wahrnehmen müssen, dass sowohl die Land- als auch die Stadtpfarrer nach Gutdünken Kapläne anstellten und grundlos wieder entließen – in Zukunft dürften Entlassungen nur noch nach vorheriger Absprache und Genehmigung des Generalvikariats erfolgen. Orden und Stifte Ebenso waren bis zu ihrem Verbot die Jesuiten sowie die Kapuziner in der Seelsorge engagiert. Beide Orden sollten die katholische Reform im Sinne des Trienter Konzils unterstützen. Mittels groß angelegter Volksmissionen, entsprechender Andachtsliteratur und ihrer Tätigkeit an Schulen, Universitäten und dem Katechismusunterricht suchten vor allem die Jesuiten den katholischen Glauben zu verteidigen und zu verbreiten. Daneben gab es im Erzbistum Niederlassungen zahlreicher anderer Orden wie der Franziskaner, Augustiner, Dominikaner sowie allen voran der Benediktiner.⁵⁴ Doch nicht nur Klöster prägten das Erzbistum, es war auch seit dem Mittelalter eine „reiche Stiftslandschaft“⁵⁵. Im 18. Jahrhundert existierten noch 18 Stifte. Besonders bedeutsam war Trier St. Simeon, da das Stift eng mit der Universität verbunden war und ihm die meisten Weihbischöfe angehörten.⁵⁶ Da, ähnlich wie bei den Domkapiteln, viele der Stiftsherren mehrere Kanonikate innehatten, belief sich ihre Gesamtzahl im 18. Jahrhundert auf etwa 200 Personen. Hinzu kamen beispielsweise noch die an den Stiften tätigen Vikare, die stets geweihte Priester waren und die Hauptverantwortung für die Seelsorge trugen. Gerade die Stiftsgottesdienste hatten auch noch im 18. Jahrhundert einen hohen Stellenwert für die seelsorgerische Versorgung. Zunehmend besetzten in dieser Zeit Mitglieder des Bürgertums wichtige Führungspositionen in den Stiften, 53 Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia Bd. 5 (wie Anm. 47, S. 36), S. 356. Zum Verhältnis von Pfarrer und Kaplan siehe auch Kapitel 3.2. 54 Vgl. Schneider: Erzbistum (wie Anm. 2, S. 25), S. 764 f.; Schnabel-Schüle: Kirche und Konfession (wie Anm. 20, S. 7), S. 747–751. 55 Persch: Klerus (wie Anm. 49, S. 37), S. 233. 56 Schneider: Erzbistum (wie Anm. 2, S. 25), S. 762. Zu vielen der Stifte – wie auch zu den Klöstern – gibt es entsprechende Veröffentlichungen aus der Reihe der Germania Sacra. Hier sei lediglich verwiesen auf: Franz-Joseph Heyen: Das Erzbistum Trier 9: Das Stift St. Simeon in Trier, Berlin/New York 2002; ders.: Das Erzbistum Trier 1: Das Stift St. Paulin vor Trier, Berlin/New York 1972.
2.2 Die (katholische) Aufklärung im Überblick | 39
die zuvor dem Adel vorbehalten waren. Insgesamt mangelte es dem Erzbistum Trier am Ende des 18. Jahrhunderts nicht an Pfarrern, sodass zumindest von dieser Seite der ausreichenden seelsorgerischen Versorgung nichts entgegenstand.⁵⁷ Kurfürstentum und Erzbistum Trier bildeten jeweils ein komplexes Gefüge mit einem klar organisierten Aufbau. Selbst wenn die geistlichen Staaten „eine alternative Ausprägung frühneuzeitlicher Staatlichkeit“⁵⁸ darstellten, waren gerade die drei Kurfürstentümer darum bemüht, es ihren weltlichen ‚Kollegen‘ gleichzutun, indem sie ihre staatliche Zentralgewalt stärkten und ausdehnten. Die Einrichtung einer Geheimen Staatskonferenz unter Clemens Wenzeslaus sowie seine Streitigkeiten mit den Landständen über die Steuereintreibung können als Versuche in diese Richtung gewertet werden. Auch bei der Verwaltung des Erzbistums waren sowohl er als auch die Vertreter der geistlichen Behörden um eine straffe hierarchische Organisation bemüht. Geistliche und weltliche Regierung vereinten sich jedoch nicht nur in der Person des Kurfürst-Erzbischofs, sondern auch die starke Stellung des Adels führte zu einer engen Verbindung von staatlicher und kirchlicher Administration. Der ansässige Adel sorgte dafür, in beiden Bereichen vertreten zu sein, weshalb er einen erheblichen Machtfaktor darstellte. Doch die Vertreter des entstehenden Bürgertums spielten eine immer größere Rolle: Sie besetzten wichtige Verwaltungspositionen, gelangten verstärkt an Stiftskanonikate und stellten im 18. Jahrhundert das Gros des Weltklerus. Gerade der niedere Pfarrklerus bekam seit der Reformation die Tendenz zu einer immer stärkeren Hierarchisierung zu spüren. Die Dechanten waren die wichtigsten Ansprechpartner des Generalvikariats vor Ort. Um tridentinische Reformideale wie das des pastor bonus, des guten Hirten, zu verwirklichen, sollte schließlich die katholische Aufklärung neue Impulse setzen.
2.2 Die (katholische) Aufklärung im Überblick Dass neben der Französischer Revolution sowie der anschließenden französischen Besatzung die Aufklärung einen entscheidenden Umbruch für die katholische Elite im (Erz-)Bistum Trier markierte und sie schon vor diesen Ereignissen herausforderte, wurde bereits deutlich. Um aber ihren grundlegenden Charakter für die zeitgenössischen Diskussionen – während und über die weiteren politischen Ereignisse hinweg – nachvollziehen zu können, sollen im Folgenden einige Merkmale und Themen des Zeitalters der Aufklärung bestimmt werden. Zwar hat es die
57 Vgl. Persch: Klerus (wie Anm. 49, S. 37), S. 238–239 und S. 202–203. 58 Braun: Princeps (wie Anm. 35, S. 11), S. 15.
40 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit Aufklärung nicht gegeben, da ihre Vertreter von je unterschiedlichen Rahmenbedingungen – die sich fast zwangsläufig aus der föderalen Struktur des Alten Reichs ergaben – geprägt waren. Trotzdem lassen sich Gemeinsamkeiten festmachen, auch und vor allem über die konfessionellen Grenzen hinweg. Daneben existierten spezifische „Eigentraditionen“⁵⁹ der katholischen Aufklärungsbewegung. Aufklärung als Epoche und Bewegung Trotz oder gerade wegen der „Unbestimmtheit“⁶⁰ hat sich der Begriff Aufklärung als Epochenbezeichnung in der Geschichtswissenschaft etabliert und benennt ein weitgehend mit dem 18. Jahrhundert zusammenfallendes Zeitalter. Die Veränderungen, die die Zeitgenossen um sich herum wahrnahmen und denen sie sprachlich mit diesem Begriff Ausdruck verleihen wollten, entsprechen den sich wandelnden gesellschaftlichen und strukturellen Rahmenbedingungen, die die Forschung für diese Zeit konstatiert. Ausnahmsweise handelt es sich daher nicht um eine nachträgliche Epochenbezeichnung der Historiker.⁶¹ Da die Aufklärung ein europäisch-nordamerikanisches Phänomen war – wenn nicht sogar ein globales⁶² –, lassen sich ihr Anfangs- und Endpunkt nur schwer bestimmen. Je nachdem, um welchen alteuropäischen Raum es geht, werden für ihren Beginn entweder politische Ereignisse – für die Niederlande zum Beispiel die Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 oder für England die Glorious Revolution 1688 – angeführt oder geistesgeschichtliche Debatten wie die 1687 ausgelöste querelle des anciens et des modernes in Frankreich.⁶³ Für die Aufklärung im deutschsprachi-
59 Dieter Breuer: Einleitung, in: ders. [Hrsg.]: Die Aufklärung in den deutschsprachigen katholischen Ländern 1750–1800. Kulturelle Ausgleichsprozesse im Spiegel von Bibliotheken in Luzern, Eichstätt und Klosterneuburg, Paderborn 2001, S. 7–48, hier S. 12. 60 Annette Meyer: Die Epoche der Aufklärung, Berlin 2010, S. 11. 61 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Europa im Jahrhundert der Aufklärung, Stuttgart 2006, S. 11–12, Meyer: Epoche (wie Anm. 60), S. 12. In anderen europäischen Sprachen existier(t)en ähnliche, metaphorisch aufgeladene Bezeichnungen. Zwar gab es ein einheitliches europäisches Begriffsverständnis; unter sprachwissenschaftlichen Gesichtspunkten weisen die jeweiligen Begriffsfelder jedoch Unterschiede auf, vgl. dazu Ulrich Ricken: Zum Verhältnis vergleichender Begriffsgeschichte und vergleichender Lexikologie, in: Hans Erich Bödeker [Hrsg.]: Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, Göttingen 2002, S. 51–72. 62 Zur globalen Dimension der Aufklärung insgesamt vgl. Iwan-Michelangelo D’Aprile: Aufklärung global – globale Aufklärungen. Zur Einführung, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 40.2 (2016), S. 159– 164 sowie zur katholischen Aufklärung im Speziellen die Angaben im Forschungsüberblick (Kapitel 1.2). 63 Angela Borgstedt: Das Zeitalter der Aufklärung, Darmstadt 2004, S. 6–7. Im Zuge dieser Debatte, die zwischen der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert öffentlich ausgetragen wurde, sprach Bernard le Bovier de Fontenelle (1657–1757) wahrscheinlich erstmals von einem siècle des lumières.
2.2 Die (katholische) Aufklärung im Überblick | 41
gen Raum wird zumeist als Anfangspunkt die erste 1687 auf deutsch gehaltene Vorlesung des Juristen Christian Thomasius (1655–1728) genannt, der „die Befreiung der Philosophie und Wissenschaft von der Theologie forderte.“⁶⁴ Ebenfalls Zäsuren markierten die Gründung der Reformuniversität Halle (1694) oder der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften (1700), die unter der Leitung von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) stand. Gemeinsam ist all diesen Beispielen, dass sie sich an der Wende des 17. zum 18. Jahrhunderts ereigneten sowie die Tendenz erkennen lassen, sich in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen verstärkt der deutschen Sprache – statt des Lateinischen – zu bedienen. Breiteren Schichten wurde so ein Zugang zum Wissen der damaligen Zeit ermöglicht.⁶⁵ Viele der Themen und Theorien, die die Aufklärer prägten, kamen folglich schon im 17. Jahrhundert auf und wurden von den nachfolgenden Generationen aufgegriffen und weitergedacht. Insbesondere Naturrechtstheoretiker wie Thomas Hobbes (1588–1679), Samuel Pufendorf (1632–1694) oder John Locke (1632–1704) entwickelten bereits früh ihre maßgeblichen Konzepte. Es ging ihnen darum, ausgehend von einem angenommenen Naturzustand die „Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Zusammenlebens“⁶⁶ systematisch zu erfassen. Durch den freiwilligen Abschluss eines Vertrages, der die Rechte und Pflichten des Einzelnen in der Gemeinschaft regelte, wurde dieser Zustand überwunden. Regierung und Regierte galten damit als Vertragspartner – je nach Auslegung konnte das Naturrecht in der Folge Herrschaft legitimieren oder in Frage stellen.⁶⁷ Auch wann die Epoche der Aufklärung ihren Abschluss fand, lässt sich nicht genau bestimmen. Keineswegs fiel dieser mit der Französischen Revolution zusammen. Mag sie auch einen Höhepunkt des Zeitalters dargestellt haben, in dessen Folge viele Reformvorhaben im Alten Reich ein abruptes Ende fanden, so wirkten doch insbesondere im Bereich der Volks- und der katholischen Aufklärung viele Einflüsse weit über die Jahrhundertgrenze fort.⁶⁸
Der Schriftsteller Fontenelle bestritt zusammen mit Gleichgesinnten in der Académie française die Überlegenheit antiker Vorbilder für Kunst und Literatur und betonte den Wert der eigenen Wissenschaften. Vgl. Andreas Pečar/Damien Tricoire: Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne?, Frankfurt/New York 2015, S. 28; Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61), S. 19. 64 Dorinda Outram: Aufbruch in die Moderne. Die Epoche der Aufklärung, Stuttgart 2006, S. 27. 65 Borgstedt: Zeitalter (wie Anm. 63), S. 8; Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61), S. 18–19. 66 Dies.: Europa (wie Anm. 61), S. 200. 67 Vgl. ausführlicher ebd., S. 200–203. Im Detail unterschieden sich die Konzepte der jeweiligen Theoretiker natürlich erheblich. 68 Vgl. Borgstedt: Zeitalter (wie Anm. 63), S. 8 f.; Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61), S. 17 f., für die die Französische Revolution die Epoche beendete. Böning weist hingegen darauf hin, „dass
42 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit Indem die Zeitgenossen von Aufklärung sprachen, um ihrem Jahrhundert einen Namen zu geben, wollten sie es von vorherigen, ‚dunklen‘ Zeiten abgrenzen. Ihr eigenes sollte als ein durch das Licht der Erkenntnis erhelltes, folglich aufgeklärtes, erscheinen.⁶⁹ Außerdem galt Aufklärung im zeitgenössischen Verständnis nicht als Zustand, sondern als fortdauernder Prozess. So stellte bereits Immanuel Kant (1724–1804) in seiner vielzitierten – und meist unvollständig gelesenen – Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?⁷⁰ von 1784 heraus: „Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“⁷¹ Kant war nicht der einzige, der auf diese Frage, die in einem Eherechts-Artikel des Pfarrers Johann Friedrich Zöllner (1753–1804) in der Berlinischen Monatsschrift nur eine ‚ketzerische‘ Fußnote ausmachte, antwortete.⁷² Keinesfalls können diese Antworten jedoch programmatisch oder als allgemeingültige Definitionen aufgefasst werden – auch die von Kant nicht. Denn zum einen warf Zöllner die Frage nach dem Wesen der Aufklärung erst 1783 auf, zu einem Zeitpunkt, als der Prozess längst in Gang war. Zum anderen beweist die Unterschiedlichkeit der Antworten, dass es sich lediglich um die persönliche Meinung eines Autors handelte, es mithin so viele Aufklärungen wie Aufklärer gab.
volksaufklärerisches Engagement auch während der ganzen ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht abbricht“ (Holger Böning: Entgrenzte Aufklärung – Die Entwicklung der Volksaufklärung von der ökonomischen Reform zur Emanzipationsbewegung, in: Holger Böning/Reinhart Siegert/Hanno Schmitt [Hrsg.]: Volksaufklärung: eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts, Bremen 2007, S. 13–50, hier S. 41) und entsprechende Schriften sogar in noch größerer Zahl erschienen seien. Gerade im katholischen Raum habe die Volksaufklärung nach der Jahrhundertwende „einen Höhepunkt erlebt“ (ebd., S. 42). Auch eine für die Reform des Pfarrklerus wichtige Zeitschrift wie das Archiv für Pastoralkonferenzen in den Landkapiteln des Bisthums Konstanz erschien erst zwischen 1801 und 1827, vgl. Handschuh: Wahre Aufklärung (wie Anm. 43, S. 13), S. 28. 69 Vgl. Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61, S. 40), S. 11, Meyer: Epoche (wie Anm. 60, S. 40), S. 12. 70 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift 1784, S. 481–494. In der Regel werden nur die Anfangszeilen des Textes zitiert. Kants – aus heutiger Sicht schwer verständliche und wenig nachvollziehbare – Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Rolle eines Aufklärers, wird nicht zur Kenntnis genommen. 71 Ebd., S. 491. 72 Vgl. dazu die Zusammenstellung bei Ehrhard Bahr [Hrsg.]: Was ist Aufklärung? Kant, Erhard, Hamann, Herder, Lessing, Mendelssohn, Riem, Schiller, Wieland. Thesen und Definitionen, Stuttgart 2008. Hier auch die Erläuterung zur Vorgeschichte (vgl. ebd., S. 3). Antworten reichten nicht nur auch heute noch bekannte Protagonisten der Aufklärung wie Moses Mendelssohn (1729–1786) und Christoph Martin Wieland (1733–1813) ein, sondern auch weniger bekannte Vertreter wie Andreas Riem (1749–1814).
2.2 Die (katholische) Aufklärung im Überblick | 43
Deshalb können die Beiträge vielmehr als Versuche ihrer Verfasser gewertet werden, die metaphorische Unschärfe des Wortes mit Inhalt zu füllen. Auch in ganz anderen Kontexten beschäftigten sich Aufklärer mit der Frage, was Aufklärung ausmacht.⁷³ Dies zeigt, dass viele ihrer Vertreter den Begriff sowie ihr eigenes Selbstverständnis durchaus reflektierten.⁷⁴ Gleichwohl darf nicht außer Acht gelassen werden, dass in gelehrten Kreisen die Selbststilisierung als Aufklärer zum guten Ton gehören konnte, die Einsicht in Mängel oder Unzulänglichkeiten aufklärerischer Ideale längst nicht bei jedem gegeben war. Vielmehr ging es darum, im öffentlich ausgeführten Streit eine „privilegierte[…] Sprecherrolle“ zu beanspruchen, um den eigenen „herausgehobenen Wahrheitsanspruch[…]“⁷⁵ zu legitimieren und sich gegen Andersdenkende abzugrenzen. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, nur diejenigen Akteure als Aufklärer zu bezeichnen, die sich selbst explizit in dieser geistigen und sozialen Bewegung verorteten. Denn nicht jeder Autor – Frauen spielten als Aufklärerinnen kaum eine Rolle⁷⁶ – suchte in gleicher selbstdarstellerischer Absicht die Öffentlichkeit wie etwa Voltaire (1694–1778).⁷⁷ Aufklärung kann daher weniger als ein Bündel fester Inhalte und Themen definiert werden, sondern sie war eine diskursive Bewegung, deren ‚Anhänger‘ die Durchsetzung der Vernunft mit Methoden der Kritik zu ihren leitenden Maßstäben erklärt hatten. Kritik bedeutete in diesem Zusammenhang, Althergebrachtes und Überliefertes systematisch zu hinterfragen, um es vor dem Hintergrund eigener Anschauungen und Erfahrungen – also mit Mitteln der Empirie – neu zu bewer73 So etwa: [Carl Friedrich Bahrdt]: Über Aufklärung und die Beförderungsmittel derselben, unter Mitarb. v. August Gottlieb Weber/Degenhart Pott, Leipzig 1789. 74 Mit Blick auf Mendelssohns Aufklärungs-‚Definition‘ sowie Zöllners Fragen weist Stefanie Stockhorst: Aufklärung – Epoche, Projekt und Forschungsaufgabe, in: dies. [Hrsg.]: Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung, Göttingen 2013, darauf hin, dass auch mancher Zeitgenosse „in selbstkritischen Reflexionen“ die „Aporien der Aufklärung“ (jeweils S. 21) bereits erkennen und benennen konnte. 75 Pečar/Tricoire: Freunde (wie Anm. 63, S. 41), jeweils S. 28. Die aufklärerische Selbstinszenierung, die Pečar und Tricoire hier ansprechen, ist ein wichtiger Aspekt, den die Aufklärungsforschung oft nicht beachtet (vgl. ebd., S. 33–34). 76 Zwar genoßen die Frauen der gebildeteren Stände im 18. Jahrhundert ebenfalls eine bessere Ausbildung, Gleichberechtigung ging damit allerdings nicht einher. Stattdessen sollte die Frau ihrem Ehemann eine gute Gefährtin sein und das dazu notwendige Maß an Bildung erhalten: „Bildung und Tätigkeit der Frauen hörten […] grundsätzlich da auf, wo Professionalisierung und Institutionalisierung anfingen“ (Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61, S. 40), S. 156). Einigen Frauen gelang es jedoch, sich als Salonnière oder Autorin einen Namen zu machen. 77 Ein Aufklärer wie der in Edesheim in der Pfalz geborene Wahl-Franzose Paul Henri Thiry d’Holbach (1723–1789) konnte seine materialistischen Schriften etwa nur anonym veröffentlichen. Auch sahen sich viele Gelehrte in erster Linie als Vertreter ihrer Profession, obwohl sie durch ihre Werke genauso zur Aufklärung beitrugen.
44 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit ten. Dass dabei gerade auch vor Staat und Religion nicht Halt gemacht wurde, ist bereits angeklungen. Es ging jedoch nicht zwangsläufig um das Zerstören bestehender Strukturen oder Ordnungen, sondern darum, die Verhältnisse im Sinne der Vernunft zum Besseren zu verändern.⁷⁸ Der Aufklärungsbewegung war ein Fortschrittsoptimismus inhärent, der viele ihrer Vertreter an die stetige Vervollkommnung des Menschen und aller Lebensbereiche glauben ließ.⁷⁹ An dieser aufgeklärten Grundhaltung änderte die Konfession nichts, die Aufklärer verfuhren nach dem gleichen Prinzip: „Von ihren je eigenen religiösen, sozialen und intellektuellen Vorraussetzungen unterwarfen sie das Bestehende der Kritik, das heißt der Gewinnung, der unterscheidenden Beurteilung und der Verbreitung von Überzeugungen, Erkenntnissen und sozialen Zuständen im Hinblick auf deren Nützlichkeit für Kultur und Zivilisation, für das Individuum und die menschliche Gemeinschaft.“⁸⁰ Katholische Aufklärung Wenn also von katholischer Aufklärung die Rede ist, so bezeichnet dieser Begriff keine neben der ‚restlichen‘ Aufklärung nebenherlaufende, losgelöste Bewegung. Vielmehr setzte sich die Aufklärung aus vielen Facetten zusammen – die katholische Ausprägung war eine davon. Die Gemeinsamkeiten der Aufklärer über konfessionelle Grenzen hinweg werden einerseits dadurch sichtbar, dass die Konzepte protestantischer Philosophen wie Christian Wolff (1679–1754) oder später Kant bereitwillig von Katholiken rezipiert wurden und vieler Orts die Bildungsinstitutionen beeinflussten.⁸¹ Andererseits kritisierten katholische Aufklärer genauso vehement die Vielzahl ihrer Feiertage oder die scheinbare Verkommenheit der Klöster wie es Protestanten taten. Gleichzeitig stellte sich auch für Protestanten die Frage, wie weit Kritik hinsichtlich der Religion gehen durfte oder inwieweit 78 Vgl. Helga Schnabel-Schüle: Der Prozess der Aufklärung: Indizien im Raum des heutigen Rheinland-Pfalz, in: Clemens/Felten/Schnettger [Hrsg.]: Kreuz (wie Anm. 5, S. 2), S. 755–766, hier S. 755; Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61, S. 40), S. 11–12 und Horst Möller: Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, Franfurt a. M. 1986, S. 13–15. Diskursiv ist hier nicht im Sinne Foucaults gemeint, sondern soll einfach die Diskussions- und Debattenfreudigkeit ausdrücken. 79 Diese angenommene Fähigkeit des Menschen, sich zu vervollkommnen, wird auch als Perfektibilität bezeichnet – ein Begriff, der auf Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) zurückgeht. Vgl. Meyer: Epoche (wie Anm. 60, S. 40), S. 209. 80 Holzem: Christentum (wie Anm. 11, S. 4), S. 849. 81 Zur Rezeption Wolffs und Kants vgl. Harm Klueting: „Der Genius der Zeit hat sie unbrauchbar gemacht.“ Zum Thema Katholische Aufklärung – Oder: Aufklärung und Katholizismus im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Eine Einleitung, in: ders. [Hrsg.]: Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland, Hamburg 1993, S. 1–35, hier S. 12–13.
2.2 Die (katholische) Aufklärung im Überblick | 45
sich christlicher Offenbarungsglaube und Vernunft vereinbaren ließen. Der Begriff katholische Aufklärung zielt daher darauf ab zu zeigen, dass die Aufklärer je durch eigene Erfahrungen und Deutungshorizonte geprägt wurden, die ihr konfessioneller Hintergrund maßgeblich beeinflusste. Dies wirkte sich auf ihr Verständnis von Aufklärung aus und bildete den Ausgangspunkt ihres Denkens und (sprachlichen) Handelns. Ein Katholik, der das jesuitisch dominierte Bildungssystem durchlaufen hatte, kritisierte dessen überkommene „spätmittelalterlich-scholastische Ausrichtung“⁸² von einem ganzen anderen Standpunkt aus als ein Protestant. Auch die vehemente Forderung nach einer Reform oder gar einer Auflösung der Klöster zugunsten anderer, meist schulischer Einrichtungen, stellt sich vor diesem Hintergrund ganz anders dar. So wenig wie es die Aufklärung gab, bildeten jedoch auch die katholischen Aufklärer eine homogene Gruppe: Trotz der gemeinsamen Ausgangslage konnte jeder ganz unterschiedliche Positionen vertreten. Prägend für die katholische Aufklärung und ihre Vertreter waren die Reformvorschläge des Konzils von Trient⁸³ sowie der Jansenismus. Diese im 17. Jahrhundert aufkommende Reformbewegung, die auf den niederländischen Theologen Cornelius Jansenius (1585–1638) zurückging, berief sich auf den Kirchenvater Augustinus und postulierte die unbedingte Abhängigkeit des Menschen von Gottes Gnade. Damit stand sie der Meinung der Jesuiten entgegen, die die menschliche Willensfreiheit betonten. Außerdem lehnten die Jansenisten den stark die Sinnlichkeit ansprechenden Barockkatholizismus⁸⁴ ab und plädierten stattdessen für eine verinnerlichte Form der Frömmigkeit.⁸⁵ Aufgrund dieser Anleitung zu einem „religiösen Individualismus“⁸⁶ kann dem Jansenismus dieselbe Bedeutung zugesprochen werden, die der Pietismus anfangs für die protestantische Aufklärung
82 Borgstedt: Zeitalter (wie Anm. 63, S. 40), S. 43. 83 Diese Verbindung betont Ulrich L. Lehner: Introduction. The Many Faces of Catholic Enlightenment, in: Lehner/Printy [Hrsg.]: Companion (wie Anm. 41, S. 13), S. 1–61, hier S. 3. Inwieweit sich tatsächlich eine bruchlose Reformlinie zwischen Trient und Aufklärung ziehen lässt, erscheint jedoch fraglich: So zielte Trient auf Abgrenzung zum Protestantismus und verfolgte damit eine andere Intention als katholische Aufklärer, deren Reformideen meist stärker auf die Überwindung konfessioneller Unterschiede abzielten. 84 Der Begriff dient hier dazu, eine stärker auf das Sicht-, Hör- und Greifbare ausgerichtete religiöse Praxis zu beschreiben. Er konnte einerseits seinen Ausdruck in der üppigen künstlerischen Ausgestaltung der Kirchen finden, andererseits aber auch im Jesuitentheater, den zahlreichen Heiligenbilder, Kreuzwegen und Kapellen, die zur Herausbildung einer katholischen Sakrallandschaft beitrugen. Zum Barock als Epoche vgl. Hersche: Muße (wie Anm. 33, S. 11), S. 924–952. 85 Wolfgang Palaver: Jansenismus, in: Helmut Reinalter [Hrsg.]: Lexikon zum Aufgeklärten Absolutismus in Europa. Herrscher – Denker – Sachbegriffe, Wien 2005, S. 319–322, hier S. 319. Insbesondere auf die katholische Aufklärung in Österreich nahm der Jansenismus Einfluss. 86 Klueting: Genius (wie Anm. 81), S. 10.
46 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit hatte. In eine ähnliche Richtung zielte eine weitere katholische Reformströmung: der Febronianismus. Dessen Vertreter erhofften sich ebenfalls eine Erneuerung der Kirche und hingen – ähnlich den Jansenisten – einem idealisierten Bild der christlichen Frühkirche an. Gerade im Erzbistum Trier war der Febronianismus insofern wirkmächtig, da sein Namensgeber der Trierer Weihbischof Johann Nikolaus von Hontheim war. Er verfasste unter dem Pseudonym Justinus Febronius das 1763 erschienene Werk De statu ecclesiae et legitima potestate Romani pontificis liber singularis, in welchem er unter anderem den päpstlichen Primat bestritt und demgegenüber den bischöflichen Führungsanspruch betonte. Der Febronianismus stand damit in der Tradition des deutschen Episkopalismus, ging aber aufgrund der umfassenderen Reformorientierung über diesen hinaus. Diese bildete wiederum den Schnittpunkt zur Aufklärung. Das Werk schlug über Trier hinaus hohe Wellen, erfuhr zahlreiche Auflagen und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Hontheims Pseudonym wurde jedoch enttarnt und er zum Widerruf gedrängt. Trotz päpstlicher Indizierung beeinflusste das Werk sowohl die Koblenzer Gravamina 1769 als auch den Emser Kongress 1786 – beides Versuche, die erzbischöflichen Rechte gegenüber der Kurie zu stärken.⁸⁷ Die katholische Aufklärungsbewegung vereinte demnach „a multitude of different strands of thought and a variety of projects that attempted to renew and reform Catholicism in the 18th century.“⁸⁸ Die katholischen Aufklärer strebten auf verschiedenen Feldern Erneuerungen an: Sie bemühten sich um die Förderung der Wissenschaften, etwa durch Universitätsreformen und um die Verbesserung der Lehrerbildung sowie der schulischen Ausbildung insgesamt. Theologie und Kirche blieben ebenfalls nicht außen vor; so erhoffte man sich von einer besseren Ausbildung der Pfarrer positive Auswirkungen auf die Seelsorge und propagierte eine stärker nach Innen gerichtete Frömmigkeit, die auf Äußerlichkeiten wie Prozessionen verzichten sollte. Die Reformbemühungen der katholischen Aufklärer sollten folglich die Anschlussfähigkeit des Katholizismus an ‚moderne‘ geistige Strömungen belegen.⁸⁹ Trotz der unterschiedlichen Auffassungen, die die katholischen Aufklärer im Einzelnen vertraten, gab es daher Gemeinsamkeiten. Neben den bereits genannten, zählte dazu die vehemente Ablehnung der Jesuiten. Dem durch
87 In letzter Konsequenz erhoffte sich Hontheim eine Überwindung der konfessionellen Trennung. Vgl. Borgstedt: Zeitalter (wie Anm. 63, S. 40), S. 43 sowie Harm Klueting: Febronianismus, in: Reinalter [Hrsg.]: Lexikon (wie Anm. 85, S. 45), S. 209–213. Ausführlich zu Hontheim vgl. Seibrich: Weihbischöfe (wie Anm. 37, S. 34), S. 140–150. Einen knappen Überblick über den Anlass für die Gravamina sowie den Emser Kongress findet sich bei Schnettger: Ereignisse (wie Anm. 5, S. 2), S. 528 f. 88 Lehner: Introduction (wie Anm. 83, S. 45), S. 2. 89 Vgl. auch ebd., S. 3.
2.2 Die (katholische) Aufklärung im Überblick | 47
sie dominierten Bildungswesen attestierten die Aufklärer Rückständigkeit; jesuitisch beförderte Frömmigkeitsformen sowie die starke Orientierung des Ordens nach Rom erregten ebenso Anstoß. Dass viele wissenschaftliche Leistungen gerade auch von den Jesuiten ausgingen und damit der Aufklärung „originär katholische Impulse“⁹⁰verschafften, ging dabei unter. Träger der Aufklärung, Reformen Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, war die Aufklärung ein Elitenprojekt: Zu den Trägern und Entwicklern aufgeklärter Überzeugungen zählten hauptsächlich Adlige und Angehörige des entstehenden Bildungsbürgertums.⁹¹ Letzteres setzte sich aus Akademikern zusammen, die als Ärzte, Lehrer, Professoren, Pfarrer oder Juristen Ämter im kirchlichen oder weltlichen Bereich bekleideten und das Gros einer wachsenden Beamtenschicht ausmachten. Nicht jeder gelangte jedoch in ein Amt, sodass sich viele als Hauslehrer oder freie Schriftsteller ihren Lebensunterhalt verdienen mussten. Diese Intellektuellen – oder philosophes, wie sich die französischen Aufklärer bezeichneten – bildeten also einen höchst heterogenen Stand. Gemeinsam war ihnen ihr Bildungshintergrund, der ihnen Aufstieg durch Leistung ermöglichte. Da dies auch der eigentlich qua Geburtsstand privilegierten Gruppe der Adligen gefährlich werden konnte, wuchs auch hier der Anteil der Gebildeten.⁹² Insbesondere die Domkapitulare waren in den katholischen Territorien wichtige Vertreter der Aufklärung. Sie waren nicht nur gebildet, sondern verfügten auch über ausreichend Zeit und Vermögen, um sich mit den Werken anderer aufgeklärter Autoren auseinanderzusetzen und entsprechende Ideen zu rezipieren. Dass viele Aufklärer einflussreiche Stellen in der weltlichen oder geistlichen Verwaltung des frühneuzeitlichen Staatswesens besetzten, begünstigte Reformen, die von der Aufklärung inspiriert waren. Die deutsche Aufklärung darum als besonders ‚staatstreu‘ zu charakterisieren, ist jedoch falsch. So versuchte beispielsweise in
90 Müller: Die Aufklärung (wie Anm. 39, S. 12), S. 84. Der ‚Jesuitenhass‘ erscheint auch vor dem Hintergrund teilweise irrational, da es Jesuiten waren, „who defended the most liberal concept of freedom (Molinism) and who argued for a more favorable outcome for deceased unbaptized children (unlike strict Thomism or Augustinianism)“, Lehner: Introduction (wie Anm. 83, S. 45), S. 18. 91 Im 18. Jahrhundert war das Bürgertum nur noch zu einem geringen Teil mit dem traditionellen Stadtbürgertum identisch. Vielmehr beschreibt der Begriff Bürgertum eine sehr heterogene soziale Gruppe, die sich auf vielfältige Weise zusammensetzte und die längst keinen rechtlich einheitlichen Stand mehr darstellte. Vielmehr war diese Schicht geprägt durch ein entstehendes ‚Bildungsund Besitzbürgertum‘. Vgl. Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61, S. 40), S. 88–89. 92 Vgl. ebd., S. 79–80 und 90–93; Meyer: Epoche (wie Anm. 60, S. 40), S. 130–132.
48 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit Frankreich Anne Robert Jacques Turgot (1727–1781) als Finanzminister die Lehre des Physiokratismus umzusetzen. Wie die Physiokraten im Speziellen, erhofften sich auch im Reich viele Aufklärer gerade von einem starken, aber vernünftigen und gerechten Monarchen die Durchsetzung von Verbesserungen. Die Anstöße, reformorientierte Konzepte aufzugreifen, gingen teilweise auch von den Herrschern selbst aus. Angeregt durch aufgeklärte Staatsdiener und bestrebt, ihre Staatsgewalt auszudehnen, die Verwaltung zu straffen und die Staatseinnahmen zu erhöhen, versuchten viele von ihnen, in ihren Ländern Reformen durchzuführen. Diese umfassten dabei finanz- und wirtschaftspolitische Maßnahmen, aber auch das Justizwesen, die Schulen, die Armenpflege und das Kirchenwesen. Der Reformanspruch der Aufklärer und ihrer Landesherren überschnitt sich folglich häufig. Erstere mussten jedoch oft die Erfahrung machen, dass der Eifer ihrer Herrscher schnell nachließ, sobald sie Einschränkungen ihrer Macht befürchteten.⁹³ Einher ging damit ein neues Herrscherideal, das den Herrscher nicht nur für Frieden und Sicherheit seiner Untertanen, sondern auch für deren Wohlstand und Glückseligkeit verantwortlich sah. Auch die geistlichen Fürsten konnten sich dem nicht ganz entziehen, wollten sie die Legitimität ihrer Herrschaft aufrechterhalten.⁹⁴ So betonte auch Kurfürst Clemens Wenzeslaus, dass eine entsprechende Verordnung nur „dem allgemeinen Besten“⁹⁵ diene und er selbst – ganz paternalistisch – aus „Fürst-Väterliche[r] Sorgfalt“⁹⁶ handle. Im Unterschied zu manch weltlichen Herrschern stilisierte er sich gleichwohl nicht als ‚erster Diener seines Staates‘, sondern stellte weiter das Gottesgnadentum heraus: Er war Herrscher des von „Göttlicher Allmacht Uns anvertrauten Erz-Stifts und Churfürstentum“⁹⁷. Aus
93 Vgl. Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61, S. 40), S. 198–199 und 205–209, sowie Werner Schneiders: Das Zeitalter der Aufklärung, 4. Aufl., München 2008, S. 72 f. Der Physiokratismus führte – in Absetzung zur vorherrschenden Lehre des Merkantilismus – den Wohlstand eines Landes auf die Landwirtschaft zurück. Die meisten Physiokraten setzten, was die Umsetzung ihrer Theorien anbelangte, ihre Hoffnung in einen despotisme éclairé. In Bezug auf Joseph II. setzt sich mit diesem Begriff auch auseinander: Wolfgang Schmale: Ist Josephinismus Aufklärung?, in: Stefanie Stockhorst [Hrsg.]: Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung, Göttingen 2013, S. 75–89. 94 Vgl. Klueting: Genius (wie Anm. 81, S. 44), S. 29 sowie Lehner: Introduction (wie Anm. 83, S. 45), S. 27: „However, the increased concern for the welfare of parishes was also a result of more pragmatic and secular approach of the state to spiritual topics. The state was responsible for the pursuit of happiness and for proper worship, the Church for the interior spiritual welfare of the faithful.“ 95 Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia Bd. 5 (wie Anm. 47, S. 36), S. 160. 96 Ebd., S. 125. 97 Ebd., S. 125.
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Sicht eines Fürstbischofs mochte solch eine Begründung plausibler erscheinen.⁹⁸ Gleichwohl bedeutete das von den weltlichen Fürsten unterschiedene Selbstverständnis als Herrscher nicht, dass er sich nicht ebenso um Reformen bemühte. Die geistlichen Fürsten betätigten sich im Wesentlichen auf denselben Reformfeldern, die auch die weltlichen als besonders veränderungsbedürftig ausgemacht hatten. Allerdings überwogen bei Ersteren die Tätigkeitsschwerpunkte der katholischen Aufklärung, die im schulischen, kirchlichen und karitativen Bereich angesiedelt waren. Für sie wirkten die stark auf die Kirche konzentrierten Reformmaßnahmen des österreichischen Kaisers Joseph II. (1741–1790) als Vorbild, die die Kontrolle des Staates über die Kirche gewährleisten sollten.⁹⁹ Entsprechend initiierte auch der Trierer Erzbischof in den genannten Bereichen Reformen. Aufbauen konnte er auf die bereits durch seine Vorgänger angestoßenen Reorganisationen auf rechtlichem und wirtschaftlichem Gebiet.¹⁰⁰ Clemens Wenzeslaus bemühte sich, die wirtschaftliche Situation seines Kurfürstentums zu verbessern. Zu einem besseren Überblick über die Finanzen trug unter anderem seine Aufforderung an die Ämter bei, ihm ausführliche Beschreibungen dieser einzusenden.¹⁰¹ In Übereinstimmung mit den Überzeugungen frühneuzeitlicher Wirtschaftspolitik, die Wirtschaftsleistung eines Staates hänge maßgeblich von der Bevölkerungszahl ab, erließ er im August 1768 ein Auswanderungsverbot. Außerdem bemühte er „sich den Handel zu beleben, kümmerte sich um die Forstwirtschaft und erwies sich als entschiedener Verfechter des Anbaus von Qualitätsweinen.“¹⁰² Die marode und mangelhafte Infrastruktur versuchte
98 Selbstverständlich handelt es sich hier nur um wenige Beispiele; eine valide Untersuchung des Regierungsverständnisses von Clemens Wenzeslaus war nicht Gegenstand dieser Arbeit. 99 Die kirchenpolitischen Reformen unter Joseph II. werden in der Regel unter dem Begriff Josephinismus subsumiert. Bereits seine Mutter Maria Theresia (1717–1780) leitete eine Reform des Herrschaftssystems ein, vgl. Helmut Reinalter: Joseph II. Reformer auf dem Kaiserthron, München 2011, S. 25–32. Zu den Reformen in Kurmainz unter Emmerich Joseph von Breidbach-Bürresheim vgl. Weber: Aufklärung (wie Anm. 36, S. 11). Zu den Reformbemühungen des Salzburger Fürsterzbischofs Hieronymus von Colloredo (1772–1803) vgl. Alfred Stefan Weiss: Josephinismus in Salzburg? Das Beispiel der kirchlichen Reformtätigkeit, in: Wolfgang Schmale/Renate Zedinger/ Jean Mondot [Hrsg.]: Josephinismus – eine Bilanz/Échecs et réussites du Joséphisme (Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 22), Bochum 2008, S. 93–114. 100 Vgl. Richard Laufner: Politische Geschichte, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte 1580–1794, in: Düwell/Irsigler [Hrsg.]: Trier (wie Anm. 60, S. 16), S. 3–60, hier S. 43–51. 101 Eine Edition liegt vor: Peter Brommer: Kurtrier am Ende des Alten Reichs: Edition und Kommentierung der kurtrierischen Amtsbeschreibungen von (1772) 1783 bis ca. 1790, Mainz 2008. 102 Clemens: Clemens Wenzeslaus (wie Anm. 6, S. 26), S. 8.
50 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit er – mit mäßigem Erfolg – durch den Ausbau des Straßennetzes zu beheben.¹⁰³ Dass nur wenige seiner Maßnahmen nachhaltigen Erfolg brachten – eine geplante Verwaltungsreform scheiterte genauso wie die Aufhebung des Zunftwesens –, war nichts Ungewöhnliches. Die meisten Landesherren kämpften mit erheblichen Widerständen, die selbst Musterbeispielen aufgeklärter Monarchen entgegenschlugen.¹⁰⁴ Gerade im kirchlich-religiösen Bereich sah sich Clemens Wenzeslaus mit Schwierigkeiten konfrontiert, die sich aus der besonderen Struktur der geistlichen Staaten ergaben: Die Abschaffung von Feiertagen oder Wallfahrten gelang nur in den Gebieten vergleichsweise einfach, in denen er sowohl die geistliche als auch die weltliche Herrschaft innehatte. In den restlichen Teilen des Erzbistums war er für die Durchsetzung seiner Maßnahmen in der Regel auf das Wohlwollen und die Unterstützung der dortigen Landesherren angewiesen. Selbst wenn diese mit dem Inhalt der Reformen übereinstimmten, verfolgten insbesondere die katholischen Nachbarn das Ziel, ihren Zugriff auf die Kirchenhoheit auszudehnen. Gerade Joseph II. wollte die österreichische Zentralgewalt in den Erblanden – und damit auch in den Österreichischen Niederlanden – ausbauen, was erhebliche Auswirkungen auf die Kirchenpolitik hatte. Das dort seit dem 15. Jahrhundert behauptete Plazetrecht, welches die Veröffentlichung aller kirchlich-geistlichen Verordnungen von der Zustimmung des Landesherren abhängig machte, kam ihm dabei entgegen. Der Trierer Erzbischof konnte weder allein Visitationen durchführen noch die uneingeschränkte geistliche Gerichtsbarkeit ausüben. Durch seine eigenen Reformen im Bereich der Seelsorge, die Joseph II. verbessern wollte und die unter anderem die Errichtung staatlicher Priesterseminare beinhalteten, erhöhte er den Zugriff auf den Klerus weiter.¹⁰⁵ Viele der erzbischöflichen Reformmaßnahmen im kirchlich-religiösen Bereich, die in den folgenden Kapiteln ausführlicher zur Spra103 Eine Liste seiner einzelnen Reformvorhaben findet sich bei: Brommer/Krümmer: Leben (wie Anm. 37, S. 34), S. 21–22. Viele der Maßnahmen im schulischen, kirchlichen und sozial-kulturellen Bereich werden im weiteren Verlauf der vorliegenden Untersuchung erläutert. 104 Clemens: Clemens Wenzeslaus (wie Anm. 6, S. 26), S. 9 und Laufner: Politische Geschichte (wie Anm. 100, S. 49), S. 51. Die Bezeichnung frühneuzeitlicher Regierungsformen als ‚aufgeklärter Absolutismus‘ ist insofern irreführend, da eigentlich kein Herrscher gänzlich die Alleinregierung, ganz ohne Zwischengewalten, für sich beanspruchen konnte. Sie waren mal mehr und mal weniger auf das Mitwirken der Stände angewiesen. Einzig in Preußen konnte deren Einfluss stark zurückgedrängt werden. Selbst in Frankreich, dem absolutistischen Paradebeispiel, kamen dem König die parlements in die Quere, vgl. Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61, S. 40), S. 194–195. Den Absolutismus längst „als Mythos entlarvt“, sieht auch: Dillinger: Demokratie (wie Anm. 18, S. 29), S. 201. 105 Für die Konflikte des Erzbistums mit seinen katholischen Nachbarn vgl. Wolfgang Seibrich: Das Erzbistum Trier als Teil der Gesamtkirche, in: Persch/Schneider [Hrsg.]: Bistum Trier Bd. 3 (wie Anm. 49, S. 14), S. 147–200, hier S. 177–199. Vgl. auch: Bernhard Schneider: Die Frömmigkeitspraxis im frühneuzeitlichen Erzbistum Trier – Das Beispiel der Bruderschaften und der Wallfahrten, in:
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che kommen, galten darum in der Hauptsache nur für das Erzstift. Hier suchten höchstens das Domkapitel und die Landstände die Auseinandersetzung.¹⁰⁶ Kommunikationsformen und Medien Der Austausch von Ideen – auch über (europäische) Ländergrenzen hinweg –, der die Aufklärung prägte, war nur möglich, da sich im 18. Jahrhundert die Kommunikationslandschaft entscheidend veränderte. Die Möglichkeit, sich mit Gleichgesinnten über neue Erkenntnisse der eigenen Forschung und Wahrnehmung beraten zu können, war essentiell für die Aufklärungsbewegung. Eine Gelegenheit dazu bot das Reisen, das im 18. Jahrhundert einen immer höheren Stellenwert gewann. Anlass, das dazu nötige Verkehrsnetz auf- und auszubauen, schuf das Ende des 15. Jahrhunderts aufkommende Postwesen. Durch die strikte Einhaltung fester Beförderungszeiten und -routen sowie dem Pferdewechsel von Station zu Station beschleunigte sich das Postwesen im Laufe der Zeit enorm und gewährleistete einen regelmäßigen Verkehr. Seit dem 16. Jahrhundert konnten berittene Reisende den Postreiter begleiten, was „auf fixen Routen ein sicheres und schnelles Fortkommen“¹⁰⁷ ermöglichte. Durch den zusätzlichen Einsatz von Postkutschen wurde Reisen noch bequemer und im 18. Jahrhundert für immer mehr Menschen erschwinglich. Schon aus „Geschäftsgründen“¹⁰⁸ war die Post an einem breiten ständischen Publikum interessiert. Aus diesem Grund war sie bereits Anfang des 16. Jahrhunderts für den privaten Briefverkehr geöffnet worden, was den Aufklärern auch den brieflichen Austausch untereinander erleichterte. Die Zustellung erfolgte nun relativ schnell und pünktlich, sodass Entfernungen von Berlin nach Paris genauso zu bewältigen waren wie etwa von Trier nach Göttingen. Gerade das Reisen sowie die Briefkultur vernetzten die europäischen Aufklärer, sodass der Einfluss ihrer Werke nicht auf ihr Heimatland beschränkt bleiben musste. Voltaire bemühte sich etwa um die Popularisierung der Werke Isaac Newtons (1642–1726) und John Lockes, die beide grundlegend für die Herausbildung des englisch-schottischen
Thomas Nicklas [Hrsg.]: Glaubensformen zwischen Volk und Eliten. Frühneuzeitliche Praktiken und Diskurse zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich, Halle 2012, S. 64–84, hier S. 65–66. 106 Für deren Stellung vgl. Kapitel 2.1. 107 Wolfgang Behringer: Reisen als Aspekt einer Kommunikationsgeschichte der Frühen Neuzeit, in: Michael Maurer [Hrsg.]: Neue Impulse der Reiseforschung, Berlin 1999, S. 65–95, hier S. 77. 108 Ebd., S. 93. Allgemein zur Bedeutung des Reisens für die Aufklärung: Hans Erich Bödeker: Reisen: Bedeutung und Funktion für die deutsche Aufklärungsgesellschaft, in: Wolfgang Griep/ Hans-Wolfgang Jäger [Hrsg.]: Reisen im 18. Jahrhundert. Neue Untersuchungen, Heidelberg 1986, S. 91–110. Für die ‚Daheimgebliebenen‘ ließen Reiseberichte ‚das Fremde‘ erfahrbar machen. Sie waren im 18. Jahrhundert höchst populär, vgl. Meyer: Epoche (wie Anm. 60, S. 40), S. 40.
52 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit Empirismus waren: Experimentelle Modelle lösten metaphysische Spekulationen ab; Erkenntnisse resultierten aus der eigenen sinnlichen Wahrnehmung.¹⁰⁹ Natürlich waren Briefnetzwerke keine Erfindung des aufgeklärten Zeitalters, sondern bereits die humanistischen Gelehrten hatten einen regen Kontakt gepflegt. Nun war es jedoch leichter, die Verbindungen zu intensivieren und eng verknüpfte, „überregionale Kommunikationsnetze“ zu bilden, die nicht von „ständischkorporativen Beziehungen“¹¹⁰ dominiert waren. Als diskursive Bewegung war der kommunikative Austausch wichtiger Bestandteil der Aufklärung, wozu weitere „Geselligkeitsformen“¹¹¹ wie Kaffeehäuser, Clubs oder Salons beitrugen. Letztere prägten vor allem die französische Aufklärungskultur, waren jedoch auch für die deutsche Aufklärung wichtige Versammlungsorte. In Koblenz-Ehrenbreitstein rief die Schriftstellerin und Ehefrau des kurtrierischen Regierungskanzlers, Sophie von La Roche (1730–1807), einen literarischen Salon ins Leben, in dem sich bis zur Abberufung ihres Mannes 1780 „Hof- und Beamtenkreise mit […] Dichtern, bürgerlichen Aufklärungsschriftstellern, Denkern und Reformern trafen; Norddeutsche mit Süddeutschen, Protestanten mit Katholiken, Männern und Frauen.“¹¹² Gemeinschaftsstiftend wirkten auch die Lesegesellschaften, die zu den wichtigsten Sozietäten im Reich zählten. Diese schafften von den Mitgliedsbeiträgen Bücher an, die sich die Mitglieder reihum ausleihen oder gemeinsam lesen konnten. Die Lesegesellschaften gingen damit oftmals über reine Leihbibliotheken hinaus, da sie auch die Möglichkeit boten, zu diskutieren oder Vorträge zu veranstalten. Ihren Mitgliedern ermöglichten sie den Zugang zu zahlreichen Büchern und Zeitschriften, die sich ein Einzelner in dieser Menge – der Buch- und Zeitschriftenmarkt vergrößerte sich rasant im 18. Jahrhundert – selten hätte leisten können.¹¹³ Vor allem die Zeitschriften machten einen großen Teil des Bestandes aus, da sie Informationen über aktuelle Geschehnisse oder Debatten lieferten. Die Auswertung überlieferter Zeitschriftenverzeichnisse der Lesegesellschaften konnte zeigen, dass der Anteil an Zeitschriften, die sich historisch-politischen Themen widmeten, deutlich überwog. Interesse bestand ebenfalls an literarischen und der Unterhal109 Vgl. Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61, S. 40), S. 118 sowie zu Newton und Locke ausführlicher vgl. ebd., S. 171–174. 110 Jeweils ebd., S. 115. 111 Möller: Vernunft (wie Anm. 78, S. 44), S. 213. 112 Michael Maurer [Hrsg.]: „Ich bin mehr Herz als Kopf“. Sophie von La Roche. Ein Lebensbild in Briefen, München 1983, S. 23. Als Autorin und Herausgeberin der Frauenzeitschrift Pomona für Teutschlands Töchter erlangte von La Roche größere Berühmtheit als ihr Mann und ist Gegenstand vieler, vor allem literaturwissenschaftlicher Untersuchungen. Zu den Gründen der Abberufung ihres Mannes vgl. Kapitel 3.1. 113 Vgl. Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61, S. 40), S. 119–123 sowie Möller: Vernunft (wie Anm. 78, S. 44), S. 261–262.
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tung dienenden Themen.¹¹⁴ Dies korrespondiert mit dem Wandel des Buchmarkts: Im Verlauf des 18. Jahrhunderts nahm der Anteil an Werken lateinischer Sprache sowie an theologischer Literatur ab, wohingegen der Anteil an – deutschsprachigen – philosophischen oder naturkundlichen Neuerscheinungen wuchs. Besonders große Zuwächse verzeichnete allerdings die Belletristik: Der Roman „schälte sich als dominierende Gattung“¹¹⁵ heraus, dessen Veröffentlichungszahlen stetig stiegen. Diese Entwicklung resultierte auch aus der verbesserten Lesefähigkeit breiterer Bevölkerungsschichten, die das Lesepublikum stetig anwachsen und nach Nachschub verlangen ließ. Lesen war nicht mehr nur Gelehrten vorbehalten, sondern stand nun allen Gebildeten – und damit auch Frauen – offen.¹¹⁶ Buch- und Zeitschriftenmarkt in Trier und Koblenz Sowohl in Trier als auch in Koblenz gründeten sich 1783 mit Erlaubnis des Kurfürsten Lesegesellschaften. Dieser erwähnt im Privilegium für Trier ausdrücklich, dass diese Einrichtung sowohl der Aufklärung als auch den Wissenschaften förderlich sei und darum seinen Absichten entspreche.¹¹⁷ Prinzipiell standen die Lesegesellschaften allen Interessierten offen, doch Mitgliedsbeiträge, notwendige Bildung sowie mangelnde Zeit schlossen kleinbürgerliche Handwerker und Bauern weitgehend aus. So setzten sich die Gründungsmitglieder der Trierer Lesegesellschaft im 114 Vgl. die Tabelle bei Hans Erich Bödeker: Zeitschriften und politische Öffentlichkeit. Zur Politisierung der deutschen Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Hans Erich Bödeker/Etienne François [Hrsg.]: Aufklärung/Lumières und Politik. Zur politischen Kultur der deutschen und französischen Aufklärung, Leipzig 1996, S. 209–231, hier S. 220. Bödeker bezieht sich seinerseits auf eine von Marlies Stützel-Prüsener vorgenommene Auswertung von 31 Zeitschriftenverzeichnissen mit 1265 Nennungen von 493 verschiedenen Zeitschriften. Neben Zeitschriften, die sich mit medizinischen oder naturwissenschaftlichen Themen beschäftigten, wurde auch ein geringer Teil theologischer Titel abonniert. 115 Iwan-Michelangelo D’Aprile/Winfried Siebers: Das 18. Jahrhundert. Zeitalter der Aufklärung, Berlin 2008, S. 27. 116 Zur Lesefähigkeit im 18. Jahrhundert vgl. Möller: Vernunft (wie Anm. 78, S. 44), S. 269–270 sowie Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61, S. 40), S. 136–139. Laut François war der Grad der Alphabetisierung in Koblenz Ende des 18. Jahrhunderts vergleichsweise hoch, auch wenn der Wert nicht zwangsläufig etwas über die tatsächliche Lesefähigkeit der Bevölkerung aussagt. François kommt zu dem Schluss, dass das Mittelrheingebiet zu den „am stärksten alphabetisierten Regionen Europas gehörte“. Etienne François: Koblenz im 18. Jahrhundert. Zur Sozial- und Bevölkerungsstruktur einer deutschen Residenzstadt, Göttingen 1982, S. 74. Auch Theuringer konstatiert, dass sich Ende des 18. Jahrhunderts „das Schulwesen im Rheinland […] auf einem hohen Niveau“ (Thomas Theuringer: Liberalismus im Rheinland. Voraussetzungen und Ursprünge im Zeitalter der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1998, S. 120) befand. 117 Vgl. Tilgner: Lesegesellschaften (wie Anm. 48, S. 14), S. 18 f. Der Text findet sich bei Tilgner im Anhang abgedruckt, vgl. ebd., S. 398.
54 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit Jahr „1783/84 zu 31 % aus Adligen, zu 9,5 % aus bürgerlichen Geistlichen und zu 59,5 % bürgerlichen Mitgliedern (ohne geistliche Weihe) zusammen.“¹¹⁸ Bis zu ihrer Auflösung 1793 veränderte sich dieses Bild allerdings dahingehend, dass die Zahl der Adligen zugunsten der beiden anderen Gruppen zurückging. Den größten Anteil machten nun die bürgerlichen Mitglieder aus, die zum Großteil Amtsträger wie Hof- und Regierungsräte, Universitätsprofessoren oder Lehrer waren. Die Gruppe der bürgerlichen Geistlichen bestand neben geistlichen Verwaltungsbeamten auch aus den Professoren des Priesterseminars sowie einem hohen Anteil an Ordensund Klosterangehörigen. Die Mehrheit der Mitglieder hatte damit ein Universitätsstudium absolviert.¹¹⁹ Vorbild für Trier war die Lesegesellschaft in Mainz, die 1782 eröffnet worden war. Die Initiative zur Gründung einer solchen Trierer Gesellschaft ging im Wesentlichen auf einige Domkapitulare zurück, die sowohl im Mainzer als auch im Trierer Kapitel vertreten waren. Für die Sozietäten ergaben sich damit auch personelle Überschneidungen. Die Lesegesellschaft verfügte über eigene Räumlichkeiten sowie eine Satzung, die unter anderem die jährliche Wahl eines Direktors vorschrieb. Außerdem geht aus ihr der Auftrag hervor, die Mitglieder stets mit preiswertem und aktuellem Lesestoff versorgen zu wollen. Zwar sind in der Satzung keine „programmatischen Ausführungen“¹²⁰ zu finden, allerdings reicht der Hinweis auf die Bereitstellung neuester politischer, wissenschaftlicher und ‚schöngeistiger‘ Literatur, ihre aufklärerische Intention unter Beweis zu stellen. Am wichtigsten waren dabei die periodischen Schriften wie Zeitungen und Zeitschriften. Dass hier ausdrücklich auch französische Zeitungen genannt werden, zeigt, dass die Lesegesellschaften gerade während der Französischen Revolution zu „politische[n] Informationszentren“¹²¹ wurden. Es verwundert darum kaum, dass die Lesegesellschaften in Trier und Koblenz vier Jahre nach Ausbruch der Französischen Revolution durch den Kurfürsten aufgehoben wurden. Dass die Mitglieder der Trierer Lesegesellschaft so stark an periodischen Schriften interessiert waren, hing auch damit zusammen, dass im Kurfürstentum selbst nur zwei Zeitungen im Druck erschienen. Das seit 1757 veröffentlichte Trierische Wochenblatt wurde durch den kurtrierischen Hofrat und Professor der Jurisprudenz, Johann Christoph Eschermann (1717–1775), herausgegeben. Es handelte sich dabei um ein reines Anzeigenblatt, das hauptsächlich Verordnungen, Gerichtsurteile 118 Tilgner: Lesegesellschaften (wie Anm. 48, S. 14), S. 32. 119 Vgl. ebd., S. 32–33. 120 Ebd., S. 19, sowie vorher vgl. S. 14–19. Zu den Gründungsmitgliedern zählte u. a. der Trierer Dompropst Philipp Franz von Walderdorff und auch der Domdekan und Statthalter Anselm von Kerpen setzte sich von Anfang an für ihre Einrichtung ein. Für den Satzungsentwurf vgl. ebd., S. 399–400 im Anhang. 121 Schnabel-Schüle: Prozess (wie Anm. 78, S. 44), S. 765.
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und Annoncen enthielt. Wohl aufgrund dieser allgemeinen Ausrichtung konnte es bis 1798 erscheinen. Der Herausgeber betrieb die zum damaligen Zeitpunkt einzige Druckerei in Trier, die Eschermannsche Hof- und Universitätsdruckerei.¹²² Diese druckte daneben auch zahlreiche Dissertationen und erhielt neben Aufträgen von Verwaltungsstellen des Erzstifts und -bistums auch solche der Abteien. Allerdings hatten die Druckerzeugnisse in der Regel nur regionalen Bezug, um auswärtige Druckaufträge schien man sich nicht bemüht zu haben.¹²³ Das Allgemeine Churtrierische Intelligenzblatt, welches unter verschiedenen Namen und wechselnden Herausgebern seit 1760 erschien, war anfangs ebenfalls ein reines Anzeigenblatt. Gedruckt wurde es in der Koblenzer Hofbuchdruckerei Krabben, die daneben auch andere religiös-erbauliche Schriften, den Hofkalender sowie Verordnungen druckte. Als Ende der 1770er Jahre Johann Claudius Lassaulx (1723–1791), Kommissar des Koblenzer Armen- und Arbeitshauses, die Herausgeberschaft des Intelligenzblattes übernahm, suchte er auch politische Nachrichten unterzubringen. Des Weiteren wurden Aufsätze zu Lokal- und Wirtschaftsthemen oder Fragen des Gesundheitswesens veröffentlicht. Diesen Weg setzten auch seine beiden Nachfolger fort. Berichte über politische Unruhen wie die Brabanter Revolution (1787) oder schließlich über die Revolution in Frankreich führten dazu, dass der Erzbischof die Zeitung einer verschärften Zensur unterstellte und sie ab 1790 keinerlei Artikel zur Revolution mehr veröffentlichen durfte. Dass sie die Vorgänge in Frankreich negativ beurteilte, spielte keine Rolle.¹²⁴
122 Vgl. Ulrich Püschel: Vom „Trierischen Wochenblatt“ zum „Journal du Département de la Saare“ – Trierer Zeitungen unter der Trikolore, in: Dühr [Hrsg.]: Trikolore (wie Anm. 61, S. 17), S. 283–305, hier S. 284; Tilgner: Lesegesellschaften (wie Anm. 48, S. 14), S. 167, sowie: Zenz: Zeitungen (wie Anm. 84, S. 23), S. 13–16. 123 Gunther Franz: Geistes- und Kulturgeschichte 1560–1794, in: Düwell/Irsigler [Hrsg.]: Trier (wie Anm. 60, S. 16), S. 203–373, hier S. 277. 124 Tilgner: Lesegesellschaften (wie Anm. 48, S. 14), S. 168 und Ulrich Hagenah: Rheinische Intelligenzblätter des 18. Jahrhunderts, in: Sabine Doerring-Manteuffel/Josef Mancal/Wolfgang Wüst [Hrsg.]: Pressewesen der Aufklärung: Periodische Schriften im Alten Reich, Berlin 2001, S. 245– 268, hier S. 256–257. Auf die Abonnentenzahl hatte die Ausrichtung des Blattes wohl keinen großen Einfluss, denn diese blieb laut Hagenah mit 288 Abonnenten im Jahr 1793 deutlich unter den von den Herausgebern erhofften 2000. Laut Karl d’Ester: Die Presse im Kurfürstentum Trier bis zum Jahre 1813. Ein Beitrag zur öffentlichen Meinung und Kultur unter dem Krummstab und der französischen Herrschaft, in: Trierisches Archiv 17–18 (1911), S. 100–162, hier S. 103, führte ein Bericht Lassaulx’ über den Widerruf des Febronius (siehe dazu weiter unten) zu seiner Abberufung als Herausgeber. Im Zusammenhang mit der Volksaufklärung erwähnt das Intelligenzblatt auch: Holger Böning: Pressewesen und Aufklärung – Intelligenzblätter und Volksaufklärer, in: DoerringManteuffel/Mancal/Wüst [Hrsg.]: Pressewesen (wie Anm. 124), S. 69–119, S. 35, Anm. 117. – Die Lesegesellschaft bezog im Wesentlichen Zeitungen aus Köln (z. B. den an der österreichischen Aufklärung orientierten Kölnischen Staatsboth) und Frankfurt (hier sowohl die katholische Post-
56 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit In diesem Jahr verschärfte sich die Zensur jedoch nicht nur für das Intelligenzblatt: Unter dem Eindruck der Französischen Revolution übertrug der Kurfürst im Dezember 1789 Generalvikariat und Offizialat die Aufsicht und die Kontrolle über das Schul- und Universitätswesen, um die Verbreitung „gefährliche[r] Lehren“¹²⁵ in Wort und Schrift zu verhindern. Lehrbücher bedurften der Genehmigung, Dissertationen und Abhandlungen mussten vor dem Druck den entsprechenden Stellen vorgelegt werden. Generalvikariat und Offizialat hatten auch für die Buchläden „genaue Obsorge zu tragen, daß keine irreligiösen, noch sonsten ärgerliche Bücher öffentlich verkauft“¹²⁶ würden. Ausdrücklich warnte der Erzbischof 1790 vor französischen Druckschriften, die unter seinen Untertanen falsche Vorstellungen von Freiheit verbreiten könnten. Die „gnädigst angeordnete Bücherzensurkommission“ sollten diese, neben ihrer eigentlichen Aufgabe, der „Entdeckung und Aushaltung der gegen das Innere und Aeußere der geheiligten Religion und der Sittlichkeit erscheinenden höchst verderblichen Abhandlungen, Broschüren und Zeitschriften“¹²⁷, ebenfalls ihre Aufmerksamkeit widmen. Gemeinsam mit den beiden anderen geistlichen Kurfürsten versuchte Clemens Wenzeslaus in diesen Jahren auf Reichsebene eine Verschärfung der Zensur durchzusetzen.¹²⁸ Auch die Lesegesellschaft wurde nun harten Zensurmaßnahmen unterworfen. Anstoß erregten vor allem Publikationen, die sich mit der Französischen Revolution auseinandersetzten. Dazu zählte beispielsweise die Zeitschrift Minerva. Ein Journal historischen und politischen Inhalts, die der Schriftsteller und Aufklärer Johann Wilhelm von Archenholz (1743–1812)¹²⁹ seit 1792 in Hamburg herausgab. Archenholz war als glühender Anhänger der Revolution 1791 nach Paris gereist, verurteilte die bald einsetzende Jakobiner-Herrschaft dann allerdings in seinen eigenen Aufsätzen scharf. Trotzdem hielt er weiterhin an seinen freiheitlich-republikanischen Idealen fest. Durch seine Pariser Korrespondenten war Archenholz gut über die Vorgänge im Nachbarland informiert und er veröffentlichte in seiner Minerva anfangs zahlreiche Augenzeugenberichte der Revolution, Flugblätter und Auszüge aus französischen Akten. Gut informiert waren auch die Historischen Amts-Zeitung als auch das evangelische Frankfurter Staatsjournal), vgl. Tilgner: Lesegesellschaften (wie Anm. 48, S. 14), S. 169. 125 Johann Jakob Blattau: Statuta synodalia, ordinationes et mandata Archidioecesis Trevirensis, 9 Bde., Bd. 6, Trier 1847, S. 167. 126 Ebd., S. 167. 127 Jeweils zitiert nach Hansen [Hrsg.]: Quellen Bd. 1 (wie Anm. 25, S. 31), S. 679. 128 Vgl. die Angaben bei Tilgner: Lesegesellschaften (wie Anm. 48, S. 14), S. 247. Zur Bücherzensurkommission, die das Generalvikariat eingesetzt hatte und die aus sieben Personen bestand, vgl. ebd., S. 296–297. 129 Zu Archenholz vgl. das entsprechende Kapitel bei Michael Maurer: Aufklärung und Anglophilie in Deutschland, Göttingen 1987, S. 182–217.
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Nachrichten und Betrachtungen über die französische Revolution, die der Arzt und Chemiker Christoph Girtanner (1760–1800) seit 1791 herausgab und die auf den Eindrücken seines langen Frankreichaufenthalts basierten. Auch er veröffentlichte zahlreiche Originalquellen der Pariser Ereignisse, wobei er der Revolution und ihren Beteiligten kritisch gegenüberstand. Doch nicht nur derartige Zeitschriften, die gutinformiert über die Vorgänge in Frankreich berichteten, erregten den Anstoß der Zensurbehörde. Mit den Schriften von Honoré Gabriel de Riqueti, Comte de Mirabeau (1749–1791) sowie von Jeanne de Saint-Rémy de Valois de Lamotte (1756–1791) wurden auch Werke beanstandet, die – im Falle Mirabeaus – die preußische Monarchie in ein schlechtes Licht rückten oder, wie die Gräfin Lamotte, dem französischen Königshaus im Vorfeld der Revolution Schaden zufügten.¹³⁰ Den Zensurmaßnahmen fiel aber ebenso die Zeitschrift Das graue Ungeheur des Journalisten Wilhelm Ludwig Wekhrlin (1739–1792)¹³¹ zum Opfer. Wekhrlin trat entschieden für aufgeklärte Reformen seitens vernünftiger Herrscher ein und verurteilte religiösen Dogmatismus – gleich welcher Konfession – aufs Schärfste. Letzteres genügte womöglich, um das Graue Ungeheuer den Zensoren in Zeiten des Umbruchs zweifelhaft erscheinen zu lassen.¹³² Da die Lesegesellschaft bis Ende 1789 relativ unbehelligt von der geistlichen und weltlichen Zensurbehörde geblieben war, war die Zensur unter Clemens Wenzeslaus’ Regierungszeit zuvor vermutlich weniger streng gewesen. Trotzdem verhinderte sie die Etablierung eines nennenswerten Zeitungs- oder gar Zeitschriftenwesens, welches sich erst in französischer Zeit ansatzweise herauszubilden begann. 130 Beanstandet wurde von Mirabeau sein zweibändiges, 1789 erschienenes Werk Histoire secrète de la cour de Berlin ou correspondance d’un voyageur françois. Kurz vor und nach dem Tod Friedrichs II. hatte sich Mirabeau am preußischen Hof aufgehalten und im Zuge dessen geheime Berichte für die französische Regierung angefertigt, die er nun veröffentlichte. Außerdem beteiligte er sich aktiv an der Revolution, was seine Schriften noch verdächtiger machte. Vgl. dazu auch Reinhard Markner: Imakoromazypziloniakus. Mirabeau und der Niedergang der Berliner Rosenkreuzerei, in: Markus Meumann/Holger Zaunstöck [Hrsg.]: Sozietäten – Netzwerke – Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung, Tübingen 2003, S. 215–230. Die Gräfin Lamotte war in die sogenannte Halsbandaffäre verwickelt und verfasste anschließend eine Rechtfertigungsschrift – zu Ungunsten der Königin –, deren deutsche Übersetzung zum Bestand der Lesegesellschaft gehörte. 131 Zu Wekhrlin vgl. das entsprechende Kapitel bei Wolfgang Albrecht: Das Angenehme und das Nützliche: Fallstudien zur literarischen Spätaufklärung in Deutschland, Tübingen 1997, S. 147– 184. Ende 1787 bestellte die Lesegesellschaft die Zeitschrift ab – aus Selbstzensur, wie Tilgner vermutet –, allerdings stellte sie ihr Erscheinen in diesem Jahr sowieso ein. Unter dem Titel Das neue graue Ungeheuer führte Georg Friedrich Rebmann (1768-1824) die Zeitschrift ab 1794 kurzzeitig fort. 132 Vgl. sowie weitere Angaben zu den von der Zensur betroffenen Publikationen Tilgner: Lesegesellschaften (wie Anm. 48, S. 14), S. 246–260.
58 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit Der Erzbischof war sich der beeinflussenden Wirkung von Druckerzeugnissen bewusst: Im März 1785 verfügte er ein Verbot auswärtiger Landkalender, welche, da sie „ohne Auswahl in die Hände unserer getreuen Unterthanen gerathen“ seien, „schädliche Folgen“¹³³ für sie haben könnten. Die Aufklärung des ‚Landmannes‘ wollte der Erzbischof lieber seinem eigenen Landkalender überlassen.¹³⁴ Trotz bestehender Zensur – mit der sich die Aufklärer im Übrigen überall in den Reichsterritorien konfrontiert sahen – kann insgesamt für die katholischen Reichsteile sowie Österreich nicht von einer „Rückständigkeit der literarisch-kulturellen Verhältnisse“¹³⁵ gesprochen werden. So rezipierten die katholischen Aufklärer nicht nur ‚protestantische‘ Literatur, sondern insbesondere von Bayern sowie dem restlichen Oberdeutschland ausgehend, regten aufgeklärte Geistliche, Lehrer, Beamte und Adlige mit eigenen Zeitschriften, Lehrbüchern und Zeitungen ihr Publikum zu einer „vertiefte[n] Rezeption der Literatur und der Wissensformen der Aufklärung“¹³⁶ an. Auch der Zeitschriftenbestand der Trierer Lesegesellschaft, der während der Dauer ihres Bestehens aufgebaut wurde, spiegelt diese eigenständige Entwicklung wider. Mit den Göttingschen Anzeigen von gelehrten Sachen, der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, die mit Friedrich Nicolai (1733–1811) einen der bekanntesten Vertreter der Berliner Aufklärung zum Herausgeber hatte sowie der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung bezog die Lesegesellschaft einerseits drei der damals wichtigsten Rezensionsorgane für neuerschienene deutsch- und anderssprachige Literatur. Andererseits verfügte die Lesegesellschaft aber auch über führende katholische Rezensionszeitschriften: Der Oberdeutschen Allgemeinen Literaturzeitung ging es „um die Selbstdarstellung der oberdeutschen katholischen Aufklärung, mit dem Ziel, die wissenschaftliche und literarische Kultur im Sinne einer gemä-
133 Blattau: Statuta synodalia Bd. 6 (wie Anm. 125, S. 56), S. 6. 134 Zur Buch- und Pressezensur im Kurfürstentum Trier gibt es noch keine umfassende Untersuchung, vgl. dazu auch Tilgner: Lesegesellschaften (wie Anm. 48, S. 14), S. 240, Anm. 42. Einzig bei Franz: Geistes- und Kulturgeschichte (wie Anm. 123, S. 55), S. 289–292 finden sich knappe Hinweise. Allgemein zur Zensur im Alten Reich sowie im Besonderen zu Bayern vgl. Wilhelm Haefs: Zensur und Bücherpolizei. Zur Kommunikationskontrolle im Alten Reich und in Frankreich im 18. Jahrhundert, in: Christine Haug/Franziska Mayer/Winfried Schröder [Hrsg.]: Geheimliteratur und Geheimbuchhandel in Europa im 18. Jahrhundert, Wiesbaden 2011. 135 Ders.: „Charfreytagsprocession“, „Sündfluthspiel“ und „Monachologie“. Zur Literatur und Theologie der Katholischen Aufklärung, in: Hans-Edwin Friedrich/Wilhelm Haefs/Christian Soboth [Hrsg.]: Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert. Konfrontationen – Kontroversen – Konkurrenzen, Berlin/New York 2011, S. 32–63, hier S. 37. 136 Ebd., S. 41.
2.2 Die (katholische) Aufklärung im Überblick | 59
ßigten Aufklärung voranzubringen.“¹³⁷Eine „gemäßigte, aber ernsthafte Rezeption der Aufklärung“¹³⁸ wollte auch die zweite katholische Rezensionszeitschrift der Lesegesellschaft, die Litteratur des katholischen Deutschlands, befördern. Die Benediktinerabtei Banz hatte die Zeitschrift ins Leben gerufen, zählten die Benediktiner doch „im 18. Jahrhundert zu den Stützen“¹³⁹ der katholischen Aufklärung. Diese Journale legten den Fokus zwar auf katholische Publikationen, besprachen genauso aber auch die Werke protestantischer Autoren.¹⁴⁰ Des Weiteren hatte die Lesegesellschaft mit der Maynzer Monatschrift für geistliche Sachen sowie den Würzburger gelehrten Anzeigen zwei weitere katholische Zeitschriften abonniert, deren Autoren ebenfalls aufgeklärte Positionen vertraten. Gerade die letztere wurde auch in protestantischen Territorien rezipiert. Seit 1786 wurde auch die Wiener Kirchenzeitung bezogen, die ihr Herausgeber und wichtigster Redakteur, Marx Anton Wittola (1736–1797), zu einem zentralen Medium der Verteidigung josephinischer Kirchenpolitik ausbaute.¹⁴¹ Ebenfalls in Trier vorhanden, war das Journal von und für Deutschland, das Siegmund von Bibra (1750–1803), Domkapitular in Fulda, herausgab und das ein thematisch breitgefächertes Diskussionsmedium darstellte.¹⁴² Neben den Periodika schafften die Mitglieder systematisch auch zahlreiche Monographien an, sodass der Buchbestand der Lesegesellschaft im Laufe ihres Bestehens kontinuierlich anwuchs und am Ende 187 Titel mit 688 Bänden¹⁴³ umfasste. Den überwiegenden Anteil machten dabei die Belletristik, Reisebeschreibungen und historisch-politische Schriften aus. Bei letzteren „konzentrierte sich 137 Ebd., S. 36. Herausgeber der ab 1788 bis 1807 in Salzburg erscheinenden Zeitschrift war anfangs Lorenz Hübner (1751–1807). Der ehemalige Jesuit gab mehrere Zeitschriften heraus. 138 Krenz: Konturen (wie Anm. 43, S. 13), S. 125. Ab 1788 lautete der Titel Auserlesene Litteratur des katholischen Deutschlands. Sie erschien bis 1798, am Ende wohl nur noch sporadisch. 139 Ebd., S. 126. Vgl. dazu auch Lehner: Monks (wie Anm. 41, S. 13), S. 90–93. 140 Vgl. ebd., S. 90, der anmerkt, dass die Forschung die katholischen Journale lange vernachlässigt habe. 141 Vgl. Krenz: Konturen (wie Anm. 43, S. 13), S. 133–147, 106–124 und S. 148–165. Die Herausgeber der bis 1791 veröffentlichten Monatschrift waren mehrere Theologieprofessoren der Mainzer Universität. Sie forderten zunächst vorsichtig aufgeklärte Reformen und gaben auch immer wieder Stimmen Raum, die vor zu schnellen Veränderungen warnten. Die immer offensivere Parteinahme für die Aufklärung bedingte wohl ihre Einstellung 1791. Gründer der Würzburger Zeitschrift war der ehemalige Jesuit und Pädagoge Johann Bonaventura Andreß (1743–1822). 142 Daneben bezog die Lesegesellschaft an historisch-politischen Zeitschriften auch August Ludwig von Schlözers (1735–1809) Staatsanzeigen, aber auch einige naturwissenschaftlich sowie pädagogisch ausgerichtete Periodika. Zu den Zeitschriftenbeständen insgesamt vgl. Tilgner: Lesegesellschaften (wie Anm. 48, S. 14), S. 171–185. 143 Vgl. die Angaben bei ebd., S. 188, die dieser auf der Grundlage mehrerer überlieferter Kataloge ermittelt hat.
60 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit das Interesse vor allem auf die Französische Revolution, die amerikanischen Unabhängigkeitskriege und die Person Friedrichs II.“¹⁴⁴ Auch pädagogische Werke wie die von Christian Gotthilf Salzmann (1744–1811), der als protestantischer Pfarrer und Pädagoge eine philantrophische Erziehungsanstalt bei Gotha gegründet hatte, waren im Bestand vertreten. Den Schwerpunkt machten jedoch insgesamt die ‚Klassiker‘ der deutschsprachigen Aufklärungsliteratur aus: So waren beispielsweise Werke von Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769), Johann Gottfried von Herder (1744–1803), Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), Wieland und Friedrich Schiller (1759–1805) in der Bibliothek vorhanden. Werke von französischen Aufklärern besaß die Lesegesellschaft nicht, hingegen aber englische Autoren wie Alexander Pope (1688–1744), Edward Young (1683–1765) oder John Milton (1608–1674).¹⁴⁵ Sowohl die literarischen ‚Bestseller‘ des 18. Jahrhunderts als auch die Zeitschriften und Zeitungen zeugen von dem Bedürfnis der Mitglieder der Lesegesellschaft, über zentrale Themen und Debatten ihres Zeitalters informiert zu sein, um an ihnen partizipieren zu können. Der hohe Anteil an ‚schöner Literatur‘ spricht keineswegs für weltabgewandtes Interesse an bloßer Unterhaltung. Auch eine Komödie wie Lessings Minna von Barnhelm (1767) enthielt zeitkritische Aspekte, indem sie „das Spannungsverhältnis zwischen dem alten höfischen Normsystem und den neuen aufklärerischen Werten einer ständeübergreifenden Vernunft und Humanität“¹⁴⁶ beschrieb. In Trier gab es neben der Lesegesellschaft ab 1787 drei Leihbibliotheken. Diese zielten auf ein breiteres Publikum ab und „wiesen eine größere soziale Mischung der Mitglieder auf“¹⁴⁷. Diejenigen, die sich aus finanziellen Gründen die Mitgliedschaft in der Lesegesellschaft nicht leisten konnten, wandten sich an die Leihbibliotheken. Entsprechend ihrem Publikum boten sie weniger gelehrte Zeitschriften oder wissenschaftliche Werke an, sondern bedienten mit populären Romanen oder einfachen Sachtexten stärker den ‚Massengeschmack‘. Umfasste die Bibliothek des Buchhändlers Anton Ignatz Fischer 1781 etwa 350 Bänden, zählte die des Buchbinders Johann Anton Schröll 1790 über 5000 Bände.¹⁴⁸ Zwar konnte sich in Koblenz keine Leihbibliothek dauerhaft etablieren, allerdings wurde seit 1779 auf Anregung des Regierungskanzlers La Roche die Errichtung einer ‚öffentlichen Bibliothek‘
144 Tilgner: Lesegesellschaften (wie Anm. 48, S. 14), S. 191. 145 Vgl. für den Bestand ebd., S. 185–203, hier vor allem die Tabelle zum Buchbestand 1793 auf S. 187. 146 D’Aprile/Siebers: 18. Jahrhundert (wie Anm. 115, S. 53), S. 46. 147 Tilgner: Lesegesellschaften (wie Anm. 48, S. 14), S. 11. 148 Vgl. ebd., S. 10–11. Ein Verwandter Fischers, Johann Jakob Fischer, war Hofbuchbinder mit eigener Buchbinderei. Zudem war er als Provisor der Lesegesellschaft verantwortlich für die Buchbestellungen und die Ausleihe. Vgl. ebd., S. 158–161.
2.2 Die (katholische) Aufklärung im Überblick | 61
betrieben. Diese richtete sich allerdings nicht an die Allgemeinheit, sondern an die Beamten des Kurstaates, die dort die für ihre Verwaltungstätigkeit notwendige Literatur bereitgestellt fanden. Der Bestand spiegelte die Ausrichtung der Bibliothek wider; es überwogen juristische und kameralwissenschaftliche Publikationen. Ab den 1780er Jahren betrieb der für die Bibliothek zuständige Hofrat Johann Peter Weckbecker (geb. 1749) verstärkt die Anschaffung zeitgenössischer, aufklärerischer Literatur.¹⁴⁹ In Trier waren sowohl die Bibliothek des Benediktinerkloster St. Maximin als auch die Universitätsbibliothek seit 1766 bzw. 1775 für alle akademisch Gebildeten zugänglich.¹⁵⁰ Geheimgesellschaften Einen (scheinbaren) Widerspruch zum „aufgeklärten Postulat öffentlicher Diskussion“¹⁵¹ stellte die Mitgliedschaft zahlreicher Aufklärer in Geheimgesellschaften wie den Freimaurern dar. Die regelmäßigen und streng ritualisierten Treffen unterlagen strikter Geheimhaltung. Gemäß ihren Idealen der religiösen Toleranz und des Kosmopolitismus zielten die Freimaurer auf die sittliche Verbesserung ihrer Logen-Brüder, von denen „die sittliche Vervollkommnung der ganzen bürgerlichen Gesellschaft“¹⁵² ausgehen sollte. Zwar hatten die Logen eine egalitäre Ausrichtung – die Mitgliedschaft stand allen Ständen und Konfessionen offen –, jedoch versammelte sich auch hier hauptsächlich die weltliche und geistliche Elite. Die Attraktivität dieser Arkanpraxis – schätzungsweise 25.000 Mitglieder hatten die Logen Ende des Jahrhunderts im Reich – resultierte wohl einerseits aus der klar aufklärerischen Zielsetzung der Geheimbünde. Andererseits spiegelte ihre Zusammensetzung zwar nicht die Gesamtheit der ständischen Gesellschaft wider, trotzdem konnten sich in ihnen ganz unterschiedliche Gruppen, die prinzipiell vom reichen Kaufmann bis zum hohen Adligen reichten, treffen.¹⁵³ Kurzzeitig
149 Vgl. ausführlich zur öffentlichen Bibliothek ebd., S. 347–362. Nach 1789 wurde die öffentliche Bibliothek zwar nicht geschlossen, Mittelkürzungen ließen das Projekt aber langsam einschlafen. Im Zuge der französischen Besatzung gingen die Bestände verloren, vgl. ebd., S. 359–362. 150 Vgl. die Aussagen von Guido Groß: Leihbibliotheken im ausgehenden 18. Jahrhundert. Beitrag zur Geschichte des Buchhandels und des Lesens in Trier, in: Kurtrierisches Jahrbuch 30 (1990), S. 133–159, hier S. 138. 151 Möller: Vernunft (wie Anm. 78, S. 44), S. 214. 152 Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61, S. 40), S. 126. 153 Vgl. ebd., S. 128–130, hier auch die Angaben zu den Mitgliederzahlen. Ausführlich mit den Geheimbünden setzt sich auch Möller: Vernunft (wie Anm. 78, S. 44), S. 213–232 auseinander. Nicht alle Geheimbünde verfolgten jedoch aufklärerische Ziele. Die Rosenkreuzer waren z. B. stark alchemistisch-esoterisch geprägt und verstanden sich als gegenaufklärerischer Geheimbund, vgl. ebd., S. 230.
62 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit bestanden auch in Mainz Freimaurerlogen (1766–1767; 1789–1792), denen auch Dom- und Stiftskapitulare angehörten. Größeren Einfluss entfaltete jedoch der Geheimbund der Illuminaten, welcher 1776 in Ingolstadt von dem ehemaligen Jesuitenschüler und nunmehrigen Kirchenrechts-Professor, Adam Weishaupt (1748–1830), gegründet worden war. Die Illuminaten bezweckten „die Befreiung der Menschen von geistlichem und weltlichem Despotismus“, jedoch nicht auf revolutionärem, sondern „auf dem Weg der Errichtung eines Reiches der Tugend und der Aufklärung“¹⁵⁴. Trotz dieser politischen Ausrichtung gründete sich 1784 in Mainz eine Niederlassung, die ebenfalls nach Trier ausstrahlte. Entscheidend waren auch hier wieder die engen Verbindungen zwischen den beiden Domkapiteln: Der ebenso in Mainz bepfründete Trierer Dompropst Philipp Franz von Walderdorff trat 1784 der Mainzer Loge bei und plante, eine solche in Trier zu gründen, was aufgrund des 1785 erfolgten Ordensverbots nicht mehr verwirklicht werden konnte. Unterstützung für seine Pläne fand er bei Johann Friedrich Hugo von Dalberg, der ebenfalls Domkapitular, Freimaurer und Illuminat war. Mit Johann Philipp von Kesselstatt (1754–1828)¹⁵⁵ zählte auch ein enger Vertrauter des Erzbischofs zu den Illuminaten. Dass Walderdorff und Dalberg über das Ordensverbot hinaus versuchten, die Aufklärung im Sinne der Illuminaten im Kurfürstentum zu verankern, vermutet Hilmar Tilgner. Ihre Mitwirkung bei der Trierer Lesegesellschaft sowie bei der kurfürstlichen Bildungsreform hätte ihnen dazu Gelegenheit geboten und dem Vorgehen des Ordens entsprochen.¹⁵⁶ Trotz ihrer Tätigkeit im Geheimen trugen Gemeinschaften wie die Freimaurer oder Illuminaten damit zur Verbreitung aufklärerischer Ideen bei. Zwar führte – anders als schon von ihren zeitgenössischen Gegnern behauptet – keine direkte Linie von der Aufklärungsbewegung zur Revolution. Insgesamt trugen jedoch der wachsende Buch- und Zeitschriftenmarkt, Lesegesellschaften, Salons,
154 Schnabel-Schüle: Prozess (wie Anm. 78, S. 44), S. 764. 155 Kesselstatt war Oberhofrat des Kurfürsten und begleitete diesen zunächst 1794 nach Augsburg. Ebenfalls vertrat er ihn auf dem Rastatter Kongress. Noch 1795 wurde er zum Domdekan gewählt und blieb als kurfürstlicher Statthalter in Ehrenbreitstein, vgl. Eva Jullien: Linksrheinischer Adel in Zeiten des Umbruchs. Die Familie von Kesselstatt in den Jahren 1792–1820, in: Kurtrierisches Jahrbuch 50 (2010), S. 227–254, hier S. 232 und Thomas Hilsheimer/Johannes Hilgart: „Er lebt dermalen in der Stadt Mainz ein ruhiges zufriedenes Leben […]”. Der Lebensweg des letzten Domkapitulars von Mainz, in: Gerhard Kölsch [Hrsg.]: Franz von Kesselstatt 1753–1841. Mainzer Domherr, Diplomat und Dilettant in bewegter Zeit, Mainz 2014, S. 25–41, hier S. 32. 156 Vgl. Tilgner: Lesegesellschaften (wie Anm. 48, S. 14), S. 111–112. Zu den Bildungsreformen siehe Kapitel 3.3 dieser Arbeit.
2.2 Die (katholische) Aufklärung im Überblick | 63
aber auch die Geheimbünde zum Entstehen einer ‚bürgerlichen Öffentlichkeit‘¹⁵⁷ bei. In diesen aufgeklärten Foren hatten die Menschen die Gelegenheit, sich sowohl über die bestehenden Verhältnisse als auch zu aktuellen politischen Ereignissen eine Meinung zu bilden. Diese Möglichkeit bot sich auch der katholischen Elite des Erzbistums Trier. Insgesamt führten diese Entwicklungen dazu, dass sich unter den Aufklärern Vorstellungen von Denk-, Rede- und Pressefreiheit herausbildeten, die entsprechende Forderungen nach sich zogen.¹⁵⁸ Bereits in der Frühaufklärung verknüpften Autoren Freiheit zudem mit dem Gedanken der Rechtssicherheit, worunter die Sicherheit des Eigentums sowie die Möglichkeit zur freien wirtschaftlichen Entfaltung fielen.¹⁵⁹ Die Parole Freiheit war demnach im 18. Jahrhundert in vieler Munde, wenngleich längst nicht alle darunter dasselbe verstanden: Bedeutete er für die einen bereits „die eine, allgemeine, gleiche Freiheit aller Staatsbürger“¹⁶⁰, verbanden die anderen damit die Wahrung ihrer ständischen Privilegien. Dessen ungeachtet lässt sich im Alten Reich in den letzten Jahrzehnten des Aufklärungszeitalters eine „Politisierung der Aufklärung“ beobachten, woraus indes kein „einheitlicher Handlungswille“¹⁶¹ der Aufklärer resultierte. Sowohl in den Naturrechtstheorien als auch in Montesquieus (1689–1755) De l’esprit des loix oder den 157 Der Begriff bürgerliche Öffentlichkeit geht auf Jürgen Habermas zurück. Obwohl sein Konzept in der Folge als nicht differenziert genug kritisiert wurde, ist der Begriff geeignet, sowohl die ab dem 18. Jahrhundert entstehende „neue Sphäre der Kommunikation“ zu beschreiben als auch „die neue Gemeinschaft der Menschen, die daran teilnahmen.“ Jeweils Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61, S. 40), S. 116. Vgl. auch Bödeker: Zeitschriften und politische Öffentlichkeit. Zur Politisierung der deutschen Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 114, S. 53), S. 209, 229. Zur Kritik an Habermas vgl. z. B. Andreas Gestrich: Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994, S. 13–20, 28–33. – Der Begriff Öffentlichkeit „war eine Neubildung der politischen Sprache des ausgehenden 18. Jahrhunderts. [Er] verdankt seine Entstehung dem Kampf der Untertanen gegen die Bevormundung durch die absolutistischen ‚Landesväter‘“ (ebd., S. 11), deren Staatsgewalt – so die zunehmende Auffassung – an öffentliche Kontrolle gebunden sein sollte. 158 Vgl. den sehr zugespitzt formulierten ‚Merkmalskatalog‘ der Aufklärung bei Helmut Reinalter: Aufklärung und Französisiche Revolution, in: Konstantin Broese [Hrsg.]: Vernunft der Aufklärung – Aufklärung der Vernunft, Berlin 2006, S. 77–90, hier S. 78. Vgl. auch Theuringer: Liberalismus (wie Anm. 116, S. 53), S. 211–235. 159 Vgl. Susan Richter/Angela Siebold/Urte Weeber: Was ist Freiheit? Eine historische Perspektive, Frankfurt/New York 2016, S. 32–33, die in ihrem Buch die Vorstellungen von Freiheit im historischen Wandel beschreiben, um die Uneindeutigkeit des Begriffs zu veranschaulichen. Rechtssicherheit als eigenes Wort tauchte erst Ende des 18. Jahrhunderts auf (vgl. ebd.). 160 Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61, S. 40), S. 198. 161 Jeweils Hans Erich Bödeker: Überlegungen zu einer Geschichte der Politisierung der Aufklärung, in: Hans Erich Bödeker/Etienne François [Hrsg.]: Aufklärung/Lumières und Politik. Zur politischen Kultur der deutschen und französischen Aufklärung, Leipzig 1996, S. XI–XVIII, hier S. XIV und S. XVIII.
64 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit Werken Rousseaus steckte jedoch je nach Auslegung politische Sprengkraft. Gerade die Geschehnisse um die Amerikanische Unabhängigkeit und der Formulierung unveräußerlicher Menschenrechte stießen in Europa auf Interesse und wirkten sich auf die geführten Diskussionen aus.¹⁶² Die Ausführungen zur Trierer Lesegesellschaft haben gezeigt, dass es ihren Mitgliedern ebenfalls nach Informationen über zeitgenössische politische Ereignisse verlangte. Allerdings befürworteten die wenigsten Aufklärer die Französische Revolution über die Zeit der terreur hinaus – sieht man von Verlautbarungen im Linksrheinischen aufgrund der dortigen spezifischen Situation einmal ab.¹⁶³ Bildung und Volksaufklärung Neben Freiheit stellten Bildung und Erziehung zentrale Schlagworte der Aufklärungsbewegung dar. Sie waren nicht nur den Illuminaten wichtig, sondern ein generelles Anliegen der Aufklärer. Bildung und Erziehung sollten die Fähigkeit, selbstständig zu denken, befördern. Insofern kann Kants emphatischer Ausruf: „Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, tatsächlich als „Wahlspruch der Aufklärung“¹⁶⁴ betrachtet werden. Entschieden setzten sich die Aufklärer dafür ein, Vorurteile zu überwinden sowie Aberglauben – oder das, was sie dafür hielten – und religiöse Schwärmerei zu bekämpfen. Stattdessen wollten sie durch Bildung und Erziehung die erwünschten Veränderungen und Verbesserungen anstoßen und der Vernunft zum Durchbruch verhelfen. Was genau als vernünftig anzusehen war, unterlag dabei jeweils der subjektiven Auffassung des aufgeklärten Pädagogen. Reformprojekte wie das Philantrophin, das Johann Bernhard Basedow (1724–1790) 1774 als Modellschule in Dessau gründete oder die Erziehungsanstalt des Schweizer Reformpädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) zeugen von dem Bemühen, nicht nur die Erziehungsinhalte zu reformieren, sondern auch die didaktische Vermittlung zu erneuern. Das Lernen sollte nun von der eigenen Anschauung und Reflexion der Schüler bestimmt sein.¹⁶⁵ Prägend wirkten auch hier wiederum Werke anderer europäischer Aufklärer wie John Lockes Essay Some Thoughts concerning Education von 1693 sowie der 1762 erschienene Roman Émile, ou De l’éducation von Jean-Jaques Rousseau.¹⁶⁶ Gemeinsam war den pädagogischen Konzepten der Zeit, dass nicht mehr nur die religiös162 Vgl. Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61, S. 40), S. 233–235. 163 Siehe dazu die Ausführungen ab Kapitel 4. 164 Kant: Beantwortung der Frage (wie Anm. 70, S. 42), S. 481. 165 Vgl. Borgstedt: Zeitalter (wie Anm. 63, S. 40), S. 55–56; Meyer: Epoche (wie Anm. 60, S. 40), S. 190 f. 166 Locke widersprach darin der älteren Auffassung, Kindern seien Begriffe oder Ideen wie Scham, das Wissen um Gut und Böse usw. angeboren. Stattdessen vertrat er die These, ein Kind bilde
2.2 Die (katholische) Aufklärung im Überblick | 65
konfessionelle Bildung im Vordergrund stand, sondern die Menschen sollten in erster Linie zu nützlichen und glücklichen Untertanen ihrer Landesherren erzogen werden.¹⁶⁷ Bildung – im Sinne einer elementaren Beherrschung des Lesens und Schreibens – war in den Augen der Aufklärer, aber auch der meisten Landesherren, nicht mehr ausschließliche Angelegenheit der Kirche, sondern Sache des Staates. Sowohl das Elementarschulwesen als auch die höheren Schulen wurden in der Folge vielerorts reformiert. „Zwar gingen die einzelnen Schulen dabei noch nicht in staatliche Hand über – auf kirchliche und gesellschaftliche Träger konnte man nirgends verzichten –, doch der Staat meldete seine Zuständigkeit für das Schulwesen an und unterwarf es der Vereinheitlichung und Kontrolle.“¹⁶⁸ Die Bildungs- und Erziehungskonzepte, die teilweise auf den Empirismus zurückgingen, hatten auch Konsequenzen für die Universitäten. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse machten die diesseitige Welt verständlicher: Mit den Methoden der Mathematik ließ sich die Natur als gesetzmäßige Ordnung beschreiben; die menschliche Erkenntnis emanzipierte sich zusehends von der göttlichen Offenbarung. Immer drängender stellte sich die Frage nach der Vereinbarkeit von Glauben und Vernunft. Die traditionelle Universitätsgelehrsamkeit erfuhr heftige Kritik durch die Aufklärer, die die überkommene scholastische Methode des Mittelalters ablehnten. Naturwissenschaftliche Forschungen schienen in den festen Fächerkanon, an dessen Spitze noch immer die Theologie stand, nicht hineinzupassen. Vor dem Hintergrund dieser kritischen Stimmen wandelte sich die Universitätslandschaft im 18. Jahrhundert: Einerseits gab es neu gegründete Reformuniversitäten wie in Halle (gegründet 1694) oder in Göttingen (1737), die auch auf die katholischen Territorien ausstrahlten. So schickte der Trierer Landesherr ausgewählte Studenten zum Studieren nach Göttingen.¹⁶⁹ Andererseits wandelten sich auch die ‚alten‘ Universitäten, indem sie sich neuen Theorien oder Disziplinen, wie beispielsweise der Kameralistik, öffneten. Gerade die Kameralwissenschaften, die sich mit der Verwaltung des Staates unter rationalistischen Maßstäben beschäfdiese erst durch seine eigenen Sinneseindrücke heraus, käme folglich als eine tabula rasa auf die Welt. Rousseau beschrieb in seinem Roman, wie wertvoll es für die Entwicklung eines Kindes sei, Erfahrungen auf Grundlage seiner Natur machen zu können, nur gelenkt durch zurückhaltende Eingriffe des Erziehers. Der hohe Stellenwert, den Rousseau der Natur beimaß, drückt sich auch darin aus, dass er in diesem Werk den Glauben an eine natürliche Religion, den Deismus, propagierte. Vgl. dies.: Epoche (wie Anm. 60, S. 40), S. 185–186 sowie Outram: Aufbruch (wie Anm. 64, S. 41), S. 92–101 und 108. 167 Vgl. Helga Schnabel-Schüle: Bildungsoffensiven, in: Clemens/Felten/Schnettger [Hrsg.]: Kreuz (wie Anm. 5, S. 2), S. 767–780, hier S. 767. 168 Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61, S. 40), S. 225. 169 Vgl. Tilgner: Lesegesellschaften (wie Anm. 48, S. 14), S. 66. Zu Trierer Studenten in Göttingen siehe Kapitel 3.2.
66 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit tigten, zeigen, dass die Reform des Universitätswesens oftmals im Interesse der Landesherren lag.¹⁷⁰ Bei aller Veränderung war im 18. Jahrhundert dennoch nicht die Universität der zentrale Ort von Forschung und der Verbreitung von Wissen, sondern die Akademie. Diese entwickelten sich zu einflussreichen, staatlich geförderten Organisationen, deren Mitglieder in eigenen Periodika regelmäßig neue wissenschaftliche Erkenntnisse veröffentlichten. Die Forscher konnten sich so einerseits leichter über eigene Arbeiten austauschen, andererseits wurden ihre Ergebnisse öffentlich und damit – zumindest theoretisch – für Jedermann überprüfbar. Gerade auch die Akademien sorgten damit für eine „Popularisierung“¹⁷¹ von Wissen. So spielte die Verbreitung von Bildung für die Aufklärer auch außerhalb des institutionellen Rahmens von Schule und Universität eine Rolle: Im Zuge der sogenannten Volksaufklärung wandten sie sich dem ‚einfach Volk‘ – in erster Linie den Bauern – zu. Die Mehrheit der Bevölkerung verfolgte die elitären Debatten der Aufklärer nicht, geschweige denn, dass sie deren Ideen je zur Kenntnis nahm. Aufklärung war darum keine ‚Graswurzelbewegung‘, sondern vollzog sich stets von oben nach unten.¹⁷² Gleichwohl bemühten sich die Volksaufklärer mit zahlreichen, für diesen Zweck verfassten Schriften, „bei einfachen Lesern aufklärerisches Gedankengut zu popularisieren“¹⁷³. Bekannt sollten diejenigen Erkenntnisse gemacht werden, die für das alltägliche Leben der Adressaten praktische Relevanz besaßen. Neben ökonomisch-landwirtschaftlichen Themen wurden in den volksaufklärerischen Schriften auch medizinische Fragen, wie etwa die Pockenimpfung, erörtert. Ebenfalls versuchten die Volksaufklärer ihrem Publikum juristische, politische oder pädagogische Kenntnisse zu vermitteln.¹⁷⁴ Autoren dieser Schriften waren hauptsächlich Schriftsteller, Ärzte oder Beamte. Eine zentrale Rolle kam jedoch den Landpfarrern zu, da sie im täglichen Kontakt zu den Bauern standen und als Autoritätspersonen bei diesen erheblichen Einfluss besaßen. Das Bemühen um die ‚richtigen‘ Religionsbegriffe nahm darum innerhalb der Volksaufklärung einen hohen Stellenwert ein.¹⁷⁵ Brachten die Volksaufklärer zu Anfang den Bauern in ihren Werken noch große Wertschätzung entgegen und zielten darauf, diese zum
170 Vgl. Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61, S. 40), S. 98–99, 167–168 und 187–188 sowie Möller: Vernunft (wie Anm. 78, S. 44), S. 232–240. 171 Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61, S. 40), S. 182. 172 Vgl. Schnabel-Schüle: Prozess (wie Anm. 78, S. 44), S. 756. 173 Böning: Aufklärung (wie Anm. 68, S. 42), S. 14. 174 Vgl. ebd., S. 31–32. 175 Vgl. Reinhart Siegert: § 20. Die Volksaufklärung, in: Helmut Holzhey/Vilem Mudroch [Hrsg.]: Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Bd. 5. Halbbd. 1: Heiliges Römisches Reich deutscher Nation, Schweiz, Nord- und Osteuropa, Basel 2014, S. 415–424, hier S. 417–418 sowie Kapitel 3.2.
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Selbstdenken anzuregen, überwog in der späteren Literatur ein „herablassendväterlicher Gestus“¹⁷⁶. Die gebildeten Aufklärer hatten die Erfahrung machen müssen, dass die Bauern die gut gemeinten Ratschläge oft nicht annahmen oder sich nicht dafür interessierten, da sie schlicht an ihren tatsächlichen Lebensumständen vorbeigingen. Die Gebildeten gerierten sich darum zunehmend als alleinige Experten, wobei ‚dem Volk‘ die Rolle des uneinsichtigen Kindes zukam.¹⁷⁷ Verstärkt wurden nun auch Stimmen laut, die im Hinblick auf die einfache Bevölkerung vor einem Zuviel an Aufklärung bzw. Bildung warnten. Manche befürchteten, dies könnte in den niederen Ständen den Wunsch nach sozialem Aufstieg wachrufen. Ungeachtet dessen, dass noch immer zahlreiche Aufklärer ein universelles Aufklärungsverständnis vertraten und durchzusetzen suchten, zeigt sich gerade am Beispiel der Volksaufklärung, dass es den meisten gerade nicht um die grundlegende Veränderung der bestehenden ständischen Verhältnisse ging.¹⁷⁸ Verhältnis von Aufklärung und Religion Um die ständische Ordnung zu legitimieren, bedienten sich nicht nur die Volksaufklärer der Religion. Trotz eines im Wandel begriffenen Regierungsverständnisses der Fürsten galt ihre Herrschaft selbst immer noch als Teil einer religiös begründeten Ordnung. Kritik an der Religion konnte darum den Vorwurf nach sich ziehen, diese nicht anzuerkennen. Gleichwohl führten bei einigen Aufklärern die wissenschaftlichen Errungenschaften und die damit einhergehende Vermehrung ‚säkularen‘ Wissens – was schon die traditionelle Universitätslehre in Bedrängnis gebracht hatte – zu einer wachsenden Skepsis gegenüber der Kirche als Vertreterin eines institutionell verfassten Glaubenssystems sowie gegenüber den Religionen und ihren absoluten Geltungsansprüchen insgesamt. Hinzu kamen die negativen Erfahrungen der Konfessionskriege des 17. Jahrhunderts. Vor diesem Hintergrund forderte bereits John Locke in seinem A Letter concerning Toleration von 1689 die Duldung aller Religionen und postulierte ein individualistisches Religionsverständnis, aus dem der Staat sich herauszuhalten habe. Dass Lockes Forderung Katholiken und Atheisten nicht umfasste, zeigt, dass die Aufklärer Toleranz vor ihrem eigenen historischen Hintergrund definierten. Gerade in den gemischtkon176 Böning: Aufklärung (wie Anm. 68, S. 42), S. 18. 177 Vgl. Siegert: Volksaufklärung (wie Anm. 175), S. 420. 178 Rudolf Zacharias Becker (1752–1822) ist ein gutes Beispiel für den stellenweise vorhandenen emanzipatorischen Charakter der Volksaufklärung. Er lehnte die Rolle des Volkslehrers und eine bloß ständische Bildung ab. Bekannt wurde er mit seinem Noth- und Hilfsbüchlein für Bauersleute, das eine hohe Gesamtauflage erreichte und auch im Trierer Raum bekannt war. Vgl. Böning: Aufklärung (wie Anm. 68, S. 42), S. 24–28 sowie Schnabel-Schüle: Bildungsoffensiven (wie Anm. 167, S. 65), S. 778–79.
68 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit fessionellen Territorien des Alten Reichs erschien allerdings nicht nur zahlreichen Aufklärern religiöse Toleranz erstrebenswert, sondern auch den Herrschern. Sie gewannen derartige Überzeugungen jedoch weniger aufgrund theoretischer Konzepte wie denen Lockes, sondern versprachen sich davon finanziellen Gewinn. So erließ etwa Clemens Wenzeslaus 1784 ein entsprechendes Toleranzdekret, weil er sich von der Ansiedlung von Protestanten einen Handelsaufschwung für sein, in diesem Bereich schwach aufgestelltes, Kurfürstentum erhoffte.¹⁷⁹ Insbesondere die katholische Kirche, die sich nicht nur auf das Schriftprinzip, sondern auch auf die Überlieferung bzw. die kirchliche Tradition berief, bot für aufgeklärte Kritik eine ausgezeichnete Angriffsfläche. Der Kirche wurde vielfach vorgeworfen, mit dem Verweis auf Seelenheil und Jenseits die Gläubigen unter der Kuratel des geistlichen Despotismus ruhig halten zu wollen.¹⁸⁰ Gerade in Frankreich entwickelten darum Aufklärer wie d’Holbach radikale Formen der Religionskritik und lehnten als Konsequenz ihres Materialismus Religion als schädlich für die Moral ab. Da ihre Positionen mit erheblicher Gefahr verbunden waren – der Vorwurf des Atheismus wog schwer –, konnten sie ihre Überzeugungen jedoch nur anonym veröffentlichen. Letztlich zogen daher die wenigstens Aufklärer aus ihrer Kritik einen derart radikalen Schluss. Selbst Voltaire, der mit seinem auf die katholische Kirche bezogenen Ausruf: „Ecrasez l’infâme“, berühmt wurde, beließ es bei kirchenkritischen Äußerungen. Der Religion gestand er zu, letztlich unersetzlich für die Erhaltung der menschlichen Moral und damit nützlich für den Staat zu sein. Trotzdem blieb die Frage nach der Vereinbarkeit von Vernunft und christlichem Offenbarungsglauben weiterhin virulent, wollte man nicht einfach die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis in Glaubensdingen konstatieren,
179 Vgl. dazu ausführlich die Darstellung in Franz: Morgenglanz (wie Anm. 20, S. 7). Vgl. auch Schneiders: Zeitalter (wie Anm. 93, S. 48), S. 27 f. sowie Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61, S. 40), S. 94–97, 167. 180 Dass davon auch der Herrscher profitieren konnte, klingt – bezogen auf alle Religionen – als Vorwurf schon in Texten des 17. Jahrhunderts an: „Die Juden und Christen ziehen es vor, aus diesem unverständlichen Buch Rat zu holen, statt das Gesetz der Natur zu befolgen, das Gott, d.h. die Natur, insofern er das Prinzip aller Dinge ist, den Herzen der Menschen eingeschrieben hat. Alle anderen Gesetze sind bloß menschliche Erfindungen, reine Illusionen, die nicht von Dämonen oder bösen Geistern (denn die existieren nur in der Vorstellung), sondern durch die Politik der Fürsten und Priester ins Leben gerufen worden sind. Die einen wollten dadurch ihrer Autorität mehr Gewicht verleihen, die anderen wollten sich durch den Vertrieb unzähliger Hirngespinste bereichern, die sie den Unwissenden teuer verkaufen“, Anonym: Traktat über die drei Betrüger/Traité des trois imposteurs, hrsg. v. Winfried Schröder, Hamburg 1992. Das Traktat, dessen Verfasser unbekannt ist, besteht hauptsächlich aus der Montage oder Paraphrase mehrerer Texte aus dem 17. Jahrhundert, die im Original teilweise von Hobbes oder Spinoza stammen, vgl. dazu das einleitende Vorwort von Winfried Schröder: ebd., S. XXV–XXIV.
2.2 Die (katholische) Aufklärung im Überblick | 69
was viele Aufklärer taten. Die Vertreter des Deismus gingen weiter und folgerten, Gott sei zwar als Schöpfer der Welt anzusehen, er beeinflusse ihren Lauf jedoch weder durch die Offenbarung noch durch Wunder oder sonstige Lehren. Diese natürliche Vernunftreligion sollte religiöse und konfessionelle Unterschiede überwinden und einzig zum ‚moralisch guten‘ Handeln anleiten; die Vorraussetzungen dazu würde den Menschen innewohnen. Unter diesem Eindruck entwickelten protestantischen Theologen (die sogenannte Neologen) Methoden der historischen Bibelkritik, um beispielsweise die Abweichungen der biblischen Schöpfungsgeschichte von zeitgenössischen Erkenntnissen zum Erdalter zu erklären.¹⁸¹ Auch die katholische Theologie wurde durch die Aufklärung beeinflusst und bemühte sich, den „Glauben rationalistisch zu interpretieren“¹⁸². Die katholischen Theologen suchten im Widerstreit zwischen Vernunft und Glauben zu vermitteln und Widersprüche aufzulösen. Ein sorgfältiges Studium der Bibel sowie eine umfassende kirchenhistorische Ausbildung sollten den Seelsorgern dabei helfen.¹⁸³ Gegner der Aufklärung Gerade die Angriffe auf Religion und Kirche sowie die Reformen in diesen Bereichen forderten schon früh den Widerstand einiger Andersdenkender heraus. Da die Aufklärung keineswegs eine ‚Massenbewegung‘ darstellte, identifizierten sich längst nicht alle Gebildeten mit ihren Ideen. „Die Kluft zwischen Neuerern und Orthodoxen verlief quer durch den Klerus aller Konfessionen und quer durch Adel und Bürgertum.“¹⁸⁴ Zwar zeichnete die diskursive Bewegung schon von Beginn aus, dass sich ihr Grundprinzip, die Kritik, auch gegen eigene Positionen richten konnte. In den 1770er Jahren verschärfte sich die Gegnerschaft jedoch. „Orthodoxe beider christlicher Konfessionen“ traten als „die zentralen Träger gegenaufklärerischer Agitation“¹⁸⁵ auf. Wie ihre Gegner griffen sie auf Zeitschriften oder die Veröffentlichung eigener Schriften zurück, um ihren Positionen Gehör zu verschaffen:
181 Vgl. Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61, S. 40), S. 98–102; Möller: Vernunft (wie Anm. 78, S. 44), S. 71–73 und 79–81 sowie Schneiders: Zeitalter (wie Anm. 93, S. 48), S. 61–63 und 71 f. 182 Möller: Vernunft (wie Anm. 78, S. 44), S. 89; vgl. auch ebd., S. 87–92. 183 Zum Stellenwert des Bibellesens vgl. Ines Weber: Bibellesen im Katholizismus zwischen 1800 und 1830. Katholische Aufklärung als ‚Ent-Entmündigung’, in: Andreas Merkt/Günther Wassilowsky/ Gregor Wurst [Hrsg.]: Reformen in der Kirche: Historische Perspektiven, Freiburg 2014, S. 186– 205, hier S. 193–194, 202 und zu dem der Geschichte Dieter Breuer: Katholische Aufklärung und Theologie, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 23 (2004), S. 75–90, hier S. 79. In den folgenden Kapitel werden diese Themen näher ausgeführt. 184 Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61, S. 40), S. 104. 185 Jeweils Meyer: Epoche (wie Anm. 60, S. 40), S. 177. Wie für die Aufklärung gibt es auch für Gegenaufklärung keine allgemeine Definition. Zu den Schwierigkeiten der Abgrenzung von Ge-
70 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit Aufklärung war für sie nichts als ‚Freygeisterei‘; die kirchlich-religiösen Reformer wurden der Häresie bezichtigt. Auf katholischer Seite taten sich nach dem Verbot ihres Ordens 1773 vor allem ehemalige Jesuiten als Gegenaufklärer hervor. Der Mainzer Exjesuit Hermann Goldhagen (1718–1794) bezog mit seinem Mainzer Religionsjournal (1776–1792) als erster „eine journalistische Kampfstellung“¹⁸⁶ gegen die Aufklärung. Sein Blatt war stark durch die französische Gegenaufklärung geprägt und suchte ein Gegengewicht zu den zahlreichen aufgeklärten Journalen zu bilden. Zu Goldhagens Vorbildern zählte unter anderem der Luxemburger Exjesuit Franz Xaver Feller (1735–1802), der das französischsprachige Journal historique et littéraire herausgab. Gleichzeitig bestanden auch enge Verbindungen nach Augsburg, das „den Aufklärern im ausgehenden 18. Jahrhundert […] als das ‚schwarze Loch Deutschlands, in das die Sonne der Aufklärung“¹⁸⁷ nie schien, galt. Im Umkreis des ehemaligen Jesuiten-Kollegs St. Salvator entstanden um die Herausgeber Joseph Anton Weissenbach (1734–1801) und Alois Merz (1727–1792) weitere einflussreiche, gegenaufklärerische Periodika.¹⁸⁸ Zumindest kurzzeitig stand Erzbischof Clemens Wenzeslaus, der ebenfalls Fürstbischof des Augsburger Hochstifts war, dort unter dem Einfluss seines Beichtvaters und geistlichen Beraters, des Elsässers und Exjesuiten Franz Heinrich Beck (1740–1828). Bis 1782 fungierte dieser zwei Jahre lang als Augsburger Generalvikar und stand den orthodoxen Kreisen sehr nahe. 1780 verfasste der mit Beck bekannte französische Gegenaufklärer Jean Pey (1720–1797) einen entsprechend ausgerichteten Hirtenbrief für Clemens Wenzeslaus. Letztlich unterlag Beck jedoch im Machtkampf mit den aufgeklärten Beratern im Umkreis des Erzbischofs. So beauftragte Clemens Wenzeslaus 1783 wiederum mit Johann Michael Sailer (1751–1832) einen profilierten aufklärerischen Theologen,
genaufklärung, Aufklärungskritik und Frühkonservatismus vgl. Borgstedt: Zeitalter (wie Anm. 63, S. 40), S. 90–95. 186 Krenz: Konturen (wie Anm. 43, S. 13), S. 188. 187 Ebd., S. 194. 188 Dies ist zum einen die Augsburger Kritik über Kritiker (1787–1796), eine gegenaufklärerische Rezensionszeitschrift, die unter dem Titel Journal der Religion, Wahrheit und Litteratur (1797–1801) weitergeführt wurde. Daneben existierte seit 1783 noch die Neueste Sammlung jener Schriften, die vor einigen Jahren her zur Steuer der Wahrheit erschienen sind, eine Zusammenstellung gegenaufklärerischer Monographien, vgl. ebd., S. 196.
2.3 Kirchen- und Religionspolitik in französischer Zeit | 71
für den Augsburger Klerus einen Hirtenbrief¹⁸⁹ über die Pflichten eines Seelsorgers abzufassen.¹⁹⁰ Verschwörungstheorien um Freimaurer und Illuminaten sorgten von Anfang an dafür, dass in diesen Medien nicht nur rein theologische Streitpunkte verhandelt, sondern auch politisch orientierte Debatten geführt wurden. Der erlahmende Reformeifer der Herrscher, der nicht nur im Kurfürstentum Trier zu beobachten war, schien den Gegenaufklärern zunächst Aufwind zu verleihen. Doch die Französische Revolution und ihre revolutionäre Kirchenpolitik verschärften den Antagonismus insbesondere zwischen aufgeklärten und orthodoxen Katholiken weiter.¹⁹¹
2.3 Kirchen- und Religionspolitik in französischer Zeit Obwohl die rheinischen Kurfürsten nach Ausbruch der Französischen Revolution von Anfang an durch verschärfte Zensurmaßnahmen den Informationsfluss beschränken wollten, konnten sie nicht verhindern, dass ihre Untertanen relativ gut über die Vorgänge in Paris unterrichtet waren. Der Tagespresse kam insgesamt eine wichtige Rolle bei der Vermittlung der Geschehnisse in Frankreich zu, da sie viele „parlamentarische und ereignisbezogene französische Texte“¹⁹² in deutscher Übersetzung breiten Schichten zugänglich machte. Statt der meist üblichen Hofberichterstattung wurden nun Revolutionsreportagen veröffentlicht, die entweder auf Pariser Korrespondenten basierten oder französischen Zeitungen aus dem Grenzgebiet entnommen waren. Zumindest in der Anfangszeit überwog dabei ein positives Bild der Revolution. Die „französischen Revolutionsideologien“¹⁹³ 189 Der lateinische Hirtenbrief findet sich in: Joseph Widmer: Johann Michael Sailer’s sämmtliche Werke. Band 40, Sulzbach 1841, S. V–LXIII. Clemens Wenzeslaus berief Sailer 1784 an die Universität Dillingen. Da Sailer verdächtigt wurde Illuminat zu sein, wurde er 1794 entlassen. Zu ihm vgl. Manfred Weitlauff: Priesterbild und Priesterbildung bei Johann Michael Sailer, in: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 35 (2001), S. 254–286. 190 Zu Becks Einfluss auf den Erzbischof vgl. James C. Lees: Clemens Wenzeslaus, Ultramontanismus und die Gegenaufklärung, in: Bohlen/Embach [Hrsg.]: Erzbischof (wie Anm. 51, S. 14), S. 137–162. Einen Überblick über Clemens Wenzeslaus als Fürstbischof in Augsburg gibt: Wolfgang Wüst: Fürstbischöfliche Amts- und Staatsführung im Hochstift Augsburg unter Clemens Wenzeslaus (1768–1803), in: Pankraz Fried [Hrsg.]: Miscellanea Suevica Augustana: Der Stadt Augsburg dargebracht zur 2000-Jahrfeier 1985, Sigmaringen 1985, S. 129–146. 191 Vgl. auch Meyer: Epoche (wie Anm. 60, S. 40), S. 176–177; siehe auch Borgstedt: Zeitalter (wie Anm. 63, S. 40), S. 90–98. 192 Rolf Reichardt: Probleme des kulturellen Transfers der Französischen Revolution in der deutschen Publizistik, in: Holger Böning [Hrsg.]: Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit. Wandlungen in Presse und Alltagskultur, München u.a. 1992, S. 91–146, hier S. 138. 193 Ebd., S. 110.
72 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit vermittelten auch die zahlreichen, im Umlauf befindlichen Flugschriften. Eine ähnlich umfassende Bildpublizistik sorgte dafür, dass außerdem Leseunkundige über die Vorgänge in Paris unterrichtet waren. Daher ist davon auszugehen, dass diese Meldungen und Bilder insgesamt einen großen Kreis an Lesern (und Hörern) erreichten.¹⁹⁴ Am Beispiel der Trierer Lesegesellschaft lässt sich nachvollziehen, wie sehr ihre Mitglieder trotz Zensur darum bemüht waren, auf dem Laufenden zu bleiben.¹⁹⁵ Die Mainzer Zeitung und der Kölnische Staatsboth berichteten im Sommer 1789 beispielsweise über die Aufhebung der Feudalordnung und des kirchlichen Zehnten durch die Nationalversammlung sowie über den Entwurf zur Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte.¹⁹⁶ Auch über weitere Verordnungen der Nationalversammlung im religiös-kirchlichen Bereich informierten die Zeitungen: Die Deklarierung alles Kirchenguts zu Nationaleigentum sowie die Aufhebung der geistlichen Orden und aller Gelübde waren genauso Teil der Berichterstattung, wie der Beschluss der Nationalversammlung Ende 1790, die Bischöfe und Geistlichen den Eid auf die Verfassung leisten zu lassen.¹⁹⁷ Anfangsphase der Revolution: Religion und Kirche Die Französische Revolution richtete sich anfangs nicht gegen Religion und Kirche, vielmehr hatte der französische Klerus im Mai 1789 von sich aus auf das Privileg der Steuerfreiheit und am 4. August 1789 auf den Kirchenzehnt verzichtet.¹⁹⁸ Denn auch dem Kleriker-Stand waren Missstände wie etwa die hohe Staatsverschuldung nicht entgangen, sodass die Mehrheit Reformen zu Beginn mittrug. Dieser erste Schritt zur Gleichheit der Stände spiegelte sich in der Gleichstellung der Konfessionen wider: In der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 fehlte jeglicher Hinweis auf eine bevorzugte Stellung der katholischen Kirche. Als Bestandteil des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Denkungsart gewährte
194 Die Bildflugblätter wurden sowohl durch den Buchhandel als auch durch Frankreich-Reisende verbreitet. Daneben wurden sie aber auch von deutschen Kupferstechern nachgestochen und in Umlauf gebracht. Ausgehend vom Korpus seiner ausgewerteten Texte nimmt Reichardt für die Tagespresse einen Leser- und Hörerkreis von einer Million an. So sei gerade bei der ungebildeten Bevölkerung ein wachsendes Interesse an der Tagespresse belegt, angeregt durch die Französische Revolution. Vgl. Reichardt: Probleme (wie Anm. 192, S. 71), S. 109–110. 195 Tilgner: Lesegesellschaften (wie Anm. 48, S. 14), S. 239–245. 196 Siehe die Angaben bei Hansen [Hrsg.]: Quellen Bd. 1 (wie Anm. 25, S. 31), S. 405, 408. Zur Rezeption der Revolution in der rheinischen Presse vgl. auch Theuringer: Liberalismus (wie Anm. 116, S. 53), S. 235–267. 197 Hansen [Hrsg.]: Quellen Bd. 1 (wie Anm. 25, S. 31), S. 468, 558, 737. 198 Falls nicht anders angegeben vgl. im Folgenden Kraus: Weg (wie Anm. 62, S. 17), S. 286–287.
2.3 Kirchen- und Religionspolitik in französischer Zeit | 73
sie Religionsfreiheit.¹⁹⁹ Den Vorschlag, die Kirchengüter zu verstaatlichen, brachte Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord (1754–1838),²⁰⁰ der Bischof von Autun, in die Nationalversammlung ein, die das entsprechende Gesetz im November 1789 erließ. Mit dem Verkauf des Kirchengutes sollten die Schulden abgebaut werden. Schließlich erfolgte am 13. Februar 1790 die Aufhebung der Orden, Klöster und Stifte beiderlei Geschlechts, wovon vorerst diejenigen ausgenommen waren, die in den Schulen oder der Krankenpflege tätig waren.²⁰¹ Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat begann konfliktträchtiger zu werden, wozu vor allem die Verabschiedung der sogenannten Zivilkonstitution des Klerus am 12. Juli 1790 beitrug: Sie „beendete die politische Macht der Kirche“ endgültig und „beschränkte die Rolle der Geistlichen auf die Seelsorge“²⁰². Für diese Aufgabe zahlte der Staat ihnen ein Gehalt. Genauso wie andere Beamte wurden Bischöfe und Geistliche durch die Bürger ihres Bistums gewählt. Die Bistumsgrenzen stimmten nun mit denen der Departements überein, wodurch sich die Gesamtzahl der Bistümer – und somit auch die Zahl der Bischöfe und die der Pfarreien – verringerte. Die Bischöfe sollten den Papst lediglich über ihre Wahl informieren, dessen Approbation bedurften sich nicht mehr. „Damit wurde die hierarchische Struktur der Kirche und die Vorrangstellung des Papstes de facto beseitigt“²⁰³, weshalb der Papst die Zivilverfassung ablehnte. Um die Unterordnung der Kirche unter den Staat zu besiegeln, sollten alle Bischöfe, Geistliche und sonstige kirchliche
199 So heißt es in Artikel zehn der Déclaration des Droits du l’homme et du citoyen: „Nul ne doit être inquiété pour ses opinions, même religieuses, pourvu que leur manifestation ne trouble pas l’ordre public établi par la Loi.“ Auf die restriktive Formulierung weist hin: Bernard Plongeron: Bekräftigungen und Anfechtungen des christlichen Staatsbürgers (1789–1792), in: ders. [Hrsg.]: Aufklärung, Revolution, Restauration: (1750–1830), Freiburg u.a. 2000, S. 311–368, hier S. 318. 200 Nachdem sich der Dritte Stand am 17. Juni 1789 zur Nationalversammlung, der Assemblée nationale, erklärt hatte, schloss sich Talleyrand dieser freiwillig an. Die Ständeversammlung des Klerus stimmte schließlich mit knapper Mehrheit der Vereinigung mit der Nationalversammlung zu. Talleyrand wurde 1791 durch den Papst exkommuniziert. Während der Jakobinerherrschaft war er in England bzw. in Nordamerika und kehrte erst 1797 nach Frankreich zurück, wo er vom Direktorium zum Außenminister berufen wurde. Vgl. Axel Kuhn: Die Französische Revolution, Stuttgart 2007, S. 62, 73, 97, 151. 201 Zu den beiden Gesetzen siehe den Text bei K. Th. F. Bormann/A. von Daniels [Hrsg.]: Handbuch für die Königl. Preuß. Rheinprovinzen verkündigten Gesetze, Verordnungen und Regierungsbeschlüsse aus der Zeit der Fremdherrschaft, Bd. 1, Köln 1833, S. 126–127, 147. 202 Jeweils Kuhn: Revolution (wie Anm. 200), S. 73. 203 Kraus: Weg (wie Anm. 62, S. 17), S. 286. Bereits die Ende des 17. Jahrhunderts durch ein nationales Konzil beschlossenen ‚gallikanischen Freiheiten‘ hatten die Gewalt des Papstes über die französische Kirche eingeschränkt. Für Plongeron ist es darum paradox, dass ausgerechnet die Revolution zur Ausbildung eines bis dahin unbekannten romtreuen Flügels im französischen Katholizismus führte, vgl. Plongeron: Bekräftigungen (wie Anm. 199), S. 333.
74 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit Amtsträger ab dem 27. November 1790 einen Treueid auf Verfassung, König und Nation schwören. Bei einer Weigerung waren Amtsenthebung und die Anklage, zur öffentlichen Unruhe angestiftet zu haben, die möglichen Folgen. Trotz dieser drohenden Konsequenzen leisteten nur rund die Hälfte der Pfarrer und eine Minderheit der Bischöfe den Eid – die gallikanische Kirche spaltete sich fortan in beeidete und eidverweigernde Geistliche. Von den Letzteren lehnten einige den Treueid jedoch nicht rundheraus ab, sondern ihre Kritik entzündete sich allein an seiner Formulierung.²⁰⁴ Dessen ungeachtet belastete die Spaltung die Pfarreien erheblich und führte vielerorts zu Spannungen. Viele der Eidverweigerer flohen über die Grenze; manche wurden deportiert. Der Widerstand gegen die Eidesleistung begünstigte in der Folge eine massive Verschärfung der französischen Kirchenund Religionsgesetzgebung.²⁰⁵ Die Formierung einer Emigrantenarmee im Linksrheinischen spielte eine wesentliche Rolle für die französische Kriegserklärung an Österreich, die am 20. April 1792 erfolgte und den Beginn der Revolutionskriege markierte.²⁰⁶ Der Druck, den das anfangs erfolgreiche Vorrücken der preußisch-österreichischen Armeen und die verschärfte politische Rhetorik der Abgeordneten der Gesetzgebenden Versammlung erzeugten, entlud sich nach dem Sturz des Königs am 10. August 1792 auch im Inneren: Bei den sogenannten Septembermorden stürmten Frauen und Männer die Pariser Gefängnisse und ermordeten etwa 1000 Insassen. Vieler der Opfer waren eidverweigernde Priester. Aus Sicht der Revolutionäre war es konsequent anzunehmen, dass sie als Konspiranten gemeinsame Sache mit Emigranten und Adel machten. Eigens wurde ein Sondergerichtshof eingerichtet, der unter anderem die Verhaftung der Eidverweigerer betrieb. Viele unterstützten tatsächlich die Gegenrevolution, doch selten gab es stichhaltige Beweise für eine aktive Beteiligung an einer Verschwörung.²⁰⁷ Vermehrt kam es nun zu Vandalismus gegen
204 Unter anderem wurde der Vorschlag gemacht, einen ‚Vorbehalt in geistlichen Angelegenheiten‘ an die Eidesformel hinzuzufügen, was aber die Nationalversammlung ablehnte, vgl. Plongeron: Bekräftigungen (wie Anm. 199, S. 73), S. 337. 205 Vgl. Kuhn: Revolution (wie Anm. 200, S. 73), S. 73. 206 Zum Zusammenhang zwischen Emigrantenfrage und sich verschärfender Kriegsrhetorik in der französischer Nationalversammlung vgl. Christian Henke: Coblence – ein gegenrevolutionäres Symbol, in: Koblenzer Beiträge zur Geschichte und Kultur 5 (1995), S. 69–84. Siehe auch: Clemens: Clemens Wenzeslaus (wie Anm. 6, S. 26), S. 12–17. 207 Nach dem Sturz des Königs sollte selbstverständlich dem König keine Treue mehr versprochen werden; der Eid bezog sich nur noch auf die Nation und das Versprechen, Freiheit und Gleichheit zu schützen. Beweise für Verschwörertum stellten beim hohen Klerus z. B. Briefwechsel mit Familienmitgliedern im Ausland dar, gleich welchen Inhalts. Vgl. ausführlich zu den Septembermorden Plongeron: Bekräftigungen (wie Anm. 199, S. 73), S. 358–363. Vgl. auch Kuhn: Revolution (wie Anm. 200, S. 73), S. 87–89.
2.3 Kirchen- und Religionspolitik in französischer Zeit | 75
kirchliche Gebäude und „die Schließung der letzten Klöster, die Auflösung auch der karitativen religiösen Genossenschaften sowie das Verbot von Prozessionen, religiösen Zeremonien und geistlicher Kleidung in der Öffentlichkeit“²⁰⁸ erfolgte. Dass davon auch Geistliche betroffen waren, die den Eid geleistet hatten, spielte keine Rolle mehr. Die Einführung des Zivilstandes mit der Zivilehe sowie der Möglichkeit zur Ehescheidung im September 1792 drängten den kirchlichen Einfluss in zentralen Lebensbereichen weiter zurück und entzogen sie der ausschließlich christlichen Definition.²⁰⁹ Jakobinerherrschaft: Radikalisierung der Religionspolitik Nach dem preußischen Misserfolg vor Valmy gelang der französischen Armee die Einnahme Brüssels und General Custine (1740–1793) besetzte mit seinen Truppen erstmals weite Teile des Linksrheinischen. Nach der Eroberung von Mainz im Oktober 1792 und dem anschließenden französischen Vormarsch auf Koblenz flüchtete Erzbischof Clemens Wenzeslaus in sein Augsburger Bistum, kehrte aber ein Jahr später noch einmal nach Koblenz zurück. Die Franzosen konnten sich noch nicht dauerhaft im Linksrheinischen behaupten; ein erster Angriff auf Trier im Dezember 1792 wurde abgewehrt.²¹⁰ Frankreich erlitt in der Folge mehrere militärische Niederlagen. Zusammen mit der weiterhin angespannten innenpolitischen Situation – in der Vendée kam es unter Beteiligung eidverweigernder Priester zur offenen Rebellion – führte dies zu einer zunehmenden politischen Radikalisierung, die ab Juni 1793 in der Jakobinerherrschaft unter Maximilien de Robespierre (1758–1794) mündete. Damit verbunden waren teilweise radikale Dechristianisierungsversuche: Den Anfang machte die Einführung des Revolutionskalenders am 5. Oktober 1793, der rückwirkend ab dem 22. September 1792, dem Jahr I der Republik, eine neue Zeitrechnung etablieren sollte. Die alten Monatsnamen wurden durch neue ersetzt und die Dekade mit zehn Wochentagen löste den bisherigen Rhythmus ab. Somit entfielen der Sonntag als christlicher Ruhetag sowie sämtliche christliche Feiertage. Stattdessen wurden Revolutionsfeste eingeführt. In der Theorie der Revolutionäre sollte eine „revolutionäre[…] Staatsphilosophie“ die christliche Religion ersetzen, sodass der Revolutionskalender zweifellos zu „den Kernstü-
208 Kraus: Weg (wie Anm. 62, S. 17), S. 287. 209 Vgl. Plongeron: Bekräftigungen (wie Anm. 199, S. 73), S. 364–365. Da auch die Geistlichen und Ordensleute ‚nur noch‘ Staatsbürger waren, standen ihnen natürlich dieselben Rechte zu, was im Prinzip auch die Möglichkeit einschloss, zu heiraten. Darauf berief sich beispielsweise der Bischof von Évreux, Robert Thomas Lindet (1791–1793). 210 Vgl. Clemens: Clemens Wenzeslaus (wie Anm. 6, S. 26), S. 18; Laufner: Politische Geschichte (wie Anm. 100, S. 49), S. 59 und Zenz: Trier 18. Jahrhundert (wie Anm. 21, S. 7), S. 138–139.
76 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit cken der Dechristianisierung des Jahres II“²¹¹ gezählt werden kann. Eine solche Änderung hatte erhebliche Auswirkungen auf den Alltag der Menschen. Allerdings galt er zunächst nur für die Verwaltung und setzte sich erst in einer nächsten Revolutionsphase nachhaltiger durch. Eng mit der Kalenderreform verbunden war die Umwidmung der Kirchen in Tempel der Vernunft, wo der Göttin der Freiheit gehuldigt wurde. Unter Robespierre galt der Kult ab Juni 1794 dann kurzzeitig dem sogenannten Höchsten Wesen. Die Revolutionäre versuchten, die christlichen Heiligen durch ihre eigenen Märtyrer zu verdrängen. Dass sich diese Regelungen in der breiten Bevölkerung tatsächlich durchsetzten, kann bezweifelt werden. So hatten sowohl der Dekadi, der den Sonntag als Ruhetag ersetzen sollte als auch die Dekadenfeste für den privaten Bereich nur mäßige Bedeutung. Trotzdem wurden Maßnahmen gegen die katholische Kirche und Religion nicht ausschließlich ‚von oben‘ gelenkt und durchgesetzt, sondern Vandalismus und Zerstörungswut gegen die Institutionen gingen auch vom Volk aus.²¹² Bereits die Hinrichtung des Königs im Januar 1793 führte bei einem Großteil der deutschen Beobachter zu einer stark nachlassenden Revolutionsbegeisterung. Die einsetzende terreur tat dazu ihr Übriges. So stellte beispielsweise der Aufklärer und Publizist Andreas Riem, der selbst einen rigorosen Umgang mit Revolutionsgegnern befürwortete, der Jakobinerherrschaft nachträglich ein vernichtendes Urteil aus: „Die Grundsätze der spätern Jakobiner zu den Zeiten der Blutregierung, waren so tief unter der Menschheit, so kannibalisch, daß sie jeder Vernünftige mit Recht verabscheute […]. Sie hatten Gerechtigkeit aus Frankreich verbannt, unermeßliche Uebel über einen blühenden Staat gebracht.“²¹³ Gleichwohl war die terreur kein Bestandteil der jakobinischen Staatstheorie, sondern sollte als Folge der innen- und außenpolitischen Konflikte als „vorübergehende Notmaßnahme zur Sicherung der Republik“²¹⁴ beitragen. Die enge Verbindung zwischen Innen-
211 Jeweils Stein: Revolutionskalender (wie Anm. 67, S. 18), S. 141. 212 Kuhn: Revolution (wie Anm. 200, S. 73), S. 116; Kraus: Weg (wie Anm. 62, S. 17), S. 287 sowie zur Akzeptanz von Dekadi und -festen: Stein: Revolutionskalender (wie Anm. 67, S. 18), S. 142. Robespierres deistischer Kult um das Höchste Wesen (s.o.) zeigt, dass es ihm nicht darum ging, die christliche Religion durch eine atheistische Weltanschauung zu ersetzen. Diese lehnte er als ‚aristokratisch‘ ab, siehe das Robespierre-Zitat bei Holzem: Christentum (wie Anm. 11, S. 4), S. 875. 213 Andreas Riem: Reise durch Frankreich vor und nach der Revolution, Bd. 2 (Reisen durch Deutschland, Frankreich, England und Holland; in verschiedener, besonders politischer Hinsicht. In den Jahren 1785–1797 7), [Leipzig] 1800, S. 199. Für diesen Hinweis danke ich Maximilian Lässig. Vgl. vorher Kuhn: Revolution (wie Anm. 200, S. 73), S. 98 und Smets: Citoyen (wie Anm. 6, S. 2), S. 22. 214 Kuhn: Revolution (wie Anm. 200, S. 73), S. 105. Kuhn, der um eine differenziertere Sicht auf die ‚Schreckensherrschaft‘ bemüht ist, weist darauf hin, dass Jakobinismus auch im Bezug auf Frankreich unterschiedliche Bedeutungen haben konnte: So war die Jakobinerherrschaft „der
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und Außenpolitik erwies sich für die führenden Jakobiner jedoch als fatal: Der in der Schlacht bei Fleurus 1794 errungene Sieg über die Österreicher stellte eine wichtige Wende für den bisherigen Kriegsverlauf dar und bannte die Gefahr an den Außengrenzen Frankreichs. Die Legitimation, die der Wohlfahrtsausschuss für die Aufrechterhaltung seiner Diktatur bislang aus der inneren und äußeren Bedrohung der Republik gezogen hatte, entfiel. Gegen Robespierre und seine Anhänger bildete sich eine Opposition, die im Juli 1794 deren Hinrichtung veranlasste. Auf Grundlage einer neuen Verfassung – der sogenannten Konstitution des Jahres III (22. August 1795) – bildete ein fünfköpfiges Direktorium die neue Regierung. Der wohlhabende bürgerliche Stand konnte damit wieder an Einfluss gewinnen. Er sah sich aber sowohl durch den mittleren und niederen Stand – repräsentiert durch noch verbliebene Jakobiner und Sansculotten²¹⁵ – als auch durch die Royalisten bedroht, die auf die Rückkehr der Monarchie hofften. Die Direktorialregierungen und ihre Unterstützer festigten ihre Macht darum vor allem mit militärischen Mitteln, wobei die weiteren Kriegserfolge Frankreichs halfen. Die Kooperation mit dem Militär begünstigte anschließend den Aufstieg Napoleon Bonapartes (1769–1821), der mit einem Staatsstreich im November 1799 die Regierung des Direktoriums beendete.²¹⁶ Direktorium Das Ende der Jakobinerherrschaft brachte für die katholische Kirche Frankreichs kurzfristig eine Entspannung. Die Ersatzkulte wurden zunächst abgeschafft und die Religionsfreiheit wieder hergestellt. Wer die freie Religionsausübung behinderte, konnte fortan bestraft werden. Außerdem sorgte der Nationalkonvent²¹⁷ 1795 für eine klare juristische Trennung von Staat und Kirche. Das bedeutete allerdings auch, dass die Pfarrer zwar keine Anerkennung durch den Staat mehr benötigten, Versuch, ein soziales Programm (die Gesellschaft der kleinen Eigentümer) und eine demokratische Freiheitslehre im Sinne Rousseaus in einer für Frankreich bedrohlichen Situation mit Gewalt durchzusetzen. Daneben war Jakobinismus in Frankreich vor 1793 und nach 1797 eine in Klubs organisierte Bewegung zur Unterstützung und Vorantreibung der Revolution“ (ebd., S. 194). Solche Klubs wurden auch im Reich, links- wie rechtsrheinisch, vereinzelt gegründet. 215 Als Sansculottes wurden Bauern, Handwerker, Tagelöhner und Arme bezeichnet, die im Unterschied zu Adligen keine Kniebundhosen trugen. 216 Kuhn: Revolution (wie Anm. 200, S. 73), S. 113–120. 217 Nach dem Sturz des Königs am 10. August 1792 sollte ein durch das allgemeine Männerwahlrecht gewählter Nationalkonvent eine neue Verfassung ausarbeiten. Da vor dem Konvent der Prozess gegen den König geführt wurde, die Abgeordneten also auch Richter waren, war die Gewaltenteilung aufgehoben. Aufgrund des Kriegszustandes sollte eine neue Verfassung erst nach einem Friedensschluss in Kraft treten. Der Nationalkonvent blieb bis zum 26. Oktober 1795 bestehen. Vgl. ebd., S. 89–91, 103.
78 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit von diesem jedoch auch kein Gehalt mehr bekamen. Weiterhin blieb die öffentliche Kultausübung untersagt und damit auch das Tragen der Pfarrgewänder in der Öffentlichkeit.²¹⁸ Auch die gesetzliche Möglichkeit, Deportationsstrafen gegen Kleriker zu verhängen, behielt der Konvent bei. Die erste Phase des Direktoriums ab Herbst 1795 kennzeichnete damit lediglich die Gewährung einer „relativen religiösen Freiheit“²¹⁹. Der Staatsstreich des Direktoriums vom 18. Fructidor des Jahres V (4. September 1797)²²⁰, der sich gegen anti-republikanische Kräfte richtete, leitete das zweite Direktorium ein, mit dem eine neojakobinische Wende einherging. Abermals verschärfte die Regierung ihr Vorgehen gegen Religion und Kirche. Nach dem Staatsstreich mussten die Kleriker einen neuen, verschärften Eid leisten, was erneut zahlreiche Deportationen zur Folge hatte. Mit der sogenannten Theophilanthropie gab es außerdem wieder einen Versuch, einen deistischen Religionskult einzuführen. Obwohl dieser Kult auch Anhänger in der Regierung fand, gelang es nicht, ihn langfristig zu etablieren. Gleichzeitig sorgte die neojakobinische Bewegung ab 1797 für ein erneutes Aufleben der Dekadenfeste. Entsprechende Verordnungen des Direktoriums mahnten die Beachtung des Revolutionskalenders sowie des Dekadi an und formulierten Vorschriften für die Feste.²²¹ Beginn der Besetzung Sowohl die Regierung des ersten als auch des zweiten Direktoriums hatte Auswirkungen auf das Rheinland, denn im Herbst 1794 war es den französischen Armeen gelungen, das Linksrheinische bis auf die Stadt Mainz komplett zu besetzen. Bereits vor der Einnahme der Städte Trier (9. August) und Koblenz (23. Oktober) war Erzbischof Clemens Wenzeslaus mit den meisten Mitgliedern seines Hofstaates erneut nach Augsburg geflohen. Mitgenommen wurden sowohl das Archiv des 218 Vgl. Kraus: Weg (wie Anm. 62, S. 17), S. 287. 219 Plongeron: Bekräftigungen (wie Anm. 199, S. 73), S. 432. 220 Nachdem bei den Wahlen im April 1797 die Royalisten gestärkt worden waren und die Gefahr eines royalistischen Umsturzes bestand, verabredeten drei der fünf Direktoren einen Staatsstreich mit Hilfe des Militärs. In der Folge wurden in 49 Departements die Wahlen für ungültig erklärt und 177 Abgeordnete verloren ihr Mandat. Zum Staatsstreich vgl. Kuhn: Revolution (wie Anm. 200, S. 73), S. 132–133. 221 Vgl. Carl: Revolution (wie Anm. 13, S. 4), S. 92; Plongeron: Bekräftigungen (wie Anm. 199, S. 73), S. 432–435 und Stein: Revolutionskalender (wie Anm. 67, S. 18), S. 141. Zur Verschärfung der Eidesleistung vgl. Kapitel 4.1.2. – Um in der Folge das erneute Erstarken der Neojakobiner zu verhindern, erklärte das Direktorium im Nachhinein die im Februar und März 1798 stattfindenden Wahlen in mehreren Departements für ungültig und sicherte den eigenen Anhängern damit die Mehrheit in beiden Parlamentskammern. Staatsstreiche waren für das Direktorium während der gesamten Dauer seiner Herrschaft probate Mittel der Machterhaltung. Vgl. Kuhn: Revolution (wie Anm. 200, S. 73), S. 141–143.
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Domkapitels, das schon 1792 nach Ehrenbreitstein verbracht worden war, als auch sämtliche Papiere der kurfürstlichen Regierungsstellen.²²² Die weltliche Herrschaft des Kurfürsten endete de facto mit der militärischen Besetzung.²²³ Für die verbliebene Bevölkerung schlug sich der „tiefgreifende revolutionäre Umbruch […] wie nirgends sonst in Form von Kriegserfahrungen nieder“²²⁴, die vor allem durch die lange Dauer der Besatzung geprägt waren. Die Bevölkerung sah sich in dieser Zeit mit hohen Kriegslasten konfrontiert, vereinzelt kam es anfangs auch zu Plünderungen durchziehender Soldaten. Die levée an masse, die französischen Massenheere, stellten zudem eine ganze neue Erfahrung dar.²²⁵ Aufgrund der hohen Kriegskosten und der kritischen Haushaltslage ihres Landes waren die neuen französischen Machthaber vor allem an der Versorgung ihrer Armeen interessiert. Militärische und ökonomische Gesichtspunkte bestimmten daher das Handeln der Armeeführung in den besetzten Gebieten. Sie bildeten den Hintergrund, vor dem entschieden wurde, ob und wie in die bestehende Verwaltung eingegriffen werden sollte. So behielt man zunächst die kurfürstliche Ämterorganisation einschließlich des Personals bei. Zuständig für diese Regelungen waren die sogenannten Volksrepräsentanten, die im Gefolge der Armee ins Land kamen und als „Bindeglied zwischen Paris und den militärischen Führern“²²⁶ fungierten. In ihre Zuständigkeit fiel auch der Einzug von Kontributionen und Requisitionen, wobei es hier Überschneidungen mit militärischen Kompetenzbereichen gab. Zur Begleichung der Requisitionen zogen die Volksrepräsentanten vor allem Einrichtungen der Kirche und des Adels heran, da deren Besitzer oftmals geflohen waren. Mobiliar und die Weine der Geistlichkeit wurden im Trierer Dom verkauft; zahlreiche Gebäude für militärische Zwecke genutzt.²²⁷ So ersetzten in der ersten Zeit die Volksrepräsentanten die alten Territorialregierungen; die mitunter unklare Abgrenzung zwischen ziviler und militärischer Kontrolle verursachte allerdings Chaos und begünstigte Korruption. Die Armee bildete hingegen die Ordnungsmacht, die die Zivilbevölkerung überwachte und als einzige Festnahmen durchführen durfte. Gleichzeitig kamen zu der beibehal222 Vgl. Brommer/Krümmer: Leben (wie Anm. 37, S. 34), S. 24–25. 223 Da bis zum Friedensschluss de jure noch nichts entschieden war, ernannte der Erzbischof Anselm von Kerpen zum Landesstatthalter und Vertreter in weltlichen Angelegenheiten. Kerpen nahm seinen Sitz im rechtsrheinischen Limburg, starb aber bereits 1795. Vgl. Thomas: Verwaltung (wie Anm. 64, S. 17), S. 217. 224 Carl: Revolution (wie Anm. 13, S. 4), S. 90 f. 225 Vgl. ebd., S. 91. 226 Molitor: Untertan (wie Anm. 6, S. 2), S. 35. 227 Zu den hohen Kontributionen und der Belastung für die Bevölkerung in Trier vgl. Klaus Gerteis: Trier – Trèves. Die Franzosenzeit in Trier 1794–1814. Ein Überblick, in: Dühr [Hrsg.]: Trikolore (wie Anm. 61, S. 17), S. 59–82, hier S. 69–74.
80 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit tenen alten Verwaltungsorganisation verschiedentlich neue Institutionen hinzu, wodurch die Verhältnisse noch unübersichtlicher wurden. In der Folge versuchten die Franzosen mit rasch wechselnden Umorganisationen das Problem in den Griff zu bekommen, was aber meist das Gegenteil bewirkte. 1795 wurde in Trier eine Generaldirektion eingerichtet, die die Zentrale für zehn Bezirksdirektionen in dem von der Moselarmee besetzten Gebiet bildete und der die alten Verwaltungseinheiten ausdrücklich untergeordnet waren. „Ihre einzige Aufgabe bestand darin, den beweglichen und unbeweglichen Besitz und alle Einnahmen der Republik außer den Requisitionen zu erfassen, auszuwerten und in regelmäßigen Abständen darüber abzurechnen.“²²⁸ Die Bezirksdirektion sollte schließlich in den Gemeinden Gemeindeverwaltungen (municipalités) einrichten und deren Mitglieder ernennen, wodurch erstmals die Möglichkeit bestand, die Behörden- und Personalstruktur zu verändern. In der Praxis war jedoch auch diese Maßnahme nicht effektiv. Darum entschloss sich das Direktorium per Beschluss im Mai 1796 alle bisherigen Ämter und Stellen aufzuheben und stattdessen das Besatzungsgebiet in zwei Generaldirektionen aufzuteilen, deren Direktoren ihre Sitze in Aachen bzw. Koblenz nahmen. Direktor in Koblenz wurde Jean Baptiste Bella. Diese rein zivile Behörde existierte jedoch ebenfalls nicht lange. 1797 wurde dem neuen militärischen Oberbefehlshaber General Lazare Hoche (1768–1797) auch die Verfügungsgewalt im zivilen Bereich übertragen. Dieser richtete eine Mittelkommission, Commission intermédiaire, mit Sitz in Bonn ein und setzte alle Verwaltungsstellen und Gerichte aus kurfürstlicher Zeit unter ihrer Leitung wieder ein. Hoche erhoffte sich davon eine höhere Akzeptanz der Besatzung bei der linksrheinischen Bevölkerung, aber vor allem mehr Effizienz durch die alten Beamten und dadurch eine größere Ausbeute für die Armee.²²⁹ Cisrhenanen-Bewegung Hoche unterstützte die Bestrebungen rheinischer Revolutionsanhänger nach dem Vorbild der Batavischen Republik eine eigene, cisrhenanische Republik zu gründen. Besonders in Bonn und Koblenz gab es viele Befürworter dieser Idee, die eine Rückkehr zu den alten Herrschaftsverhältnissen verhindern wollten. Die rheinischen Republikaner, die seit der Besetzung zwischen dem Wunsch eines Anschlusses an Frankreich oder der Gründung einer eigenen Republik schwankten, gewannen in
228 Molitor: Untertan (wie Anm. 6, S. 2), S. 41. 229 Vgl. die ausführlichere Darstellung bei ebd., S. 42–52 sowie Michael Müller: Die Stadt Trier unter französischer Herrschaft (1794–1814), in: Düwell/Irsigler [Hrsg.]: Trier (wie Anm. 60, S. 16), S. 377–398, hier S. 381–382.
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dem Moment an „politischer Bedeutung“²³⁰, als zwischen dem Präliminarfrieden von Leoben im April 1797 und dem Frieden von Campo Formio im Oktober 1797 der Verbleib des Linksrheinischen offen schien. Zumindest als Druckmittel konnten entsprechende Meinungsbekundungen der rheinischen Bevölkerung nun Gehör finden. Napoleon, der nach seinem erfolgreichen Italienfeldzug Österreich zu Verhandlungen hatte zwingen können, rückte in Leoben von der bisher forcierten Annexion des Linksrheinischen ab und stellte die Räumung der Gebiete bei einem endgültigen Friedensschluss in Aussicht. Mit der Gründung einer cisrhenanischen Republik, die zwar prinzipiell unabhängig gewesen wäre, aber unter Frankreichs Einfluss gestanden hätte, wäre es allerdings möglich gewesen, die mögliche Rückgabe der Gebiete an das Reich zu unterlaufen. Auch innerhalb des Pariser Direktoriums, welches lange uneins gewesen war, ob man für das Linksrheinische die Annexion und damit die Schaffung natürlicher Grenzen entlang des Rheins befürwortete oder die Gründung einer Schwesterrepublik, gewannen nun die Befürworter der letzteren Option die Oberhand.²³¹ Hoche erhielt darum durch das Direktorium den Auftrag, die Gründung einer eigenen Republik zu unterstützen. Die rheinischen Republikaner schlossen sich zusammen, um gemeinsame Aktionen zu planen und etwa durch politische Manifeste die übrige Bevölkerung von der Idee einer eigenen Republik zu überzeugen. Dies bot ihnen auch die Möglichkeit, die Unzulänglichkeiten der bisherigen französischen Besatzung zu thematisieren, die sich kaum an den Werten der Republik orientierte, sondern nach militärischen Maßstäben funktionierte. In Koblenz gingen die Freiheits-Bestrebungen vor allem von den Lehrern und Schülern des dortigen Gymnasiums aus. Gleichzeitig formierten sich die Gegner, die eine Rückkehr zur alten Ordnung erhofften und ihrerseits Aufrufe veröffentlichten. Sie profitierten teilweise von der Wiedereinsetzung der alten Verwaltungen, da sie über diese versuchen konnten, auf die öffentliche Meinung einzuwirken oder andere Gleichgesinnte zu unterstützen. Dessen ungeachtet proklamierten im September 1797 die Cisrhenanen nacheinander in mehreren Städten – darunter auch Koblenz, Trier jedoch nicht – die Republik. Im Anschluss begannen sie damit, die alten Magistrate auszutauschen und mit eigenen Leuten zu besetzen.²³²
230 Molitor: Untertan (wie Anm. 6, S. 2), S. 131. 231 Vgl. ebd., S. 132. 232 Vgl. ebd., S. 131–141 und Kuhn: Revolution (wie Anm. 200, S. 73), S. 191–193.
82 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit Zensur Sowohl die rheinischen Republikaner als auch ihre Gegner profitierten davon, dass die Mittelkommission am 14. August 1797 beschloss, Pressefreiheit in den besetzten Ländern zu gewähren.²³³ Durch den Wegfall der alten Regierungen und einer etwas gelockerten Handhabung der Zensur während der ersten Phase des Direktoriums, hatte sich bereits zuvor „das Spektrum der in der rheinischen Presse geäußerten Meinungen“²³⁴ kurzzeitig erweitern können. Dass es in der Anfangszeit der Besetzung keine genauen Bestimmungen gab, worüber berichtet werden durfte und worüber nicht, erschwerte jedoch die Arbeit der Verleger. Denn gegen unliebsame Meldungen gingen die Besatzer entschieden vor. Maßnahmen wie die Einführung der Stempelgebühr²³⁵ auf jedes einzelne Zeitungsexemplar ab dem 9. Mai 1798 oder Erhöhungen der Postgebühren dienten den französischen Behörden als indirekte Instrumente der Zensur. Die Zeitungsmacher konnten nur versuchen, den Bezug ihrer Erzeugnisse zu verbilligen, etwa durch die Umwandlung von Dekadenblättern in Monatsschriften. Da die alten Zensurregelungen nicht explizit abgeschafft worden waren, wandten sie einige der immer noch oder wieder existierenden Verwaltungsstellen weiterhin an. Auch gab es Beamte und Drucker, die aus eigener Überzeugung handelten und die Verbreitung revolutionsfreundlicher Texte behinderten. Um die Cisrhenanen in ihrem Werben um die Gründung einer eigenen Republik zu unterstützen, verfügte die Mittelkommission darum, dass es jedem Einwohner der durch sie regierten eroberten Länder, frei stünde, „seine Gedanken durch den Druck bekannt zu machen, ohne vorher seine Schriften irgend einer Censur unterwerfen zu müssen.“ Ausdrücklich verurteilte sie auch den Widerstand „gewisser Censoren“, die eigenständig und nicht im behördlichen Auftrag handeln würden. Auch wenn die Mittelkommission betonte, dass „die Verbreitung politischer sowohl als religiöser Meinungen auf keine Weise beschränkt werden“²³⁶ dürfe, galt dies nicht für die Meinung der politisch Andersdenkenden. Sie waren für die französi233 Sofern nicht anders angegeben vgl. im Folgenden Molitor: Untertan (wie Anm. 6, S. 2), S. 80– 104. Molitor stellt die Zensur der französischen Behörden anhand der Presse dar. Selbstständige Druckerzeugnisse werden in ähnlicher Weise von den restriktiven Maßnahmen betroffen gewesen sein. 234 Ebd., S. 97. 235 Dabei handelt es sich um Gebühren, die durch das Abstempeln bestimmter Papiere erhoben werden. Zur Stempelgebühr siehe die entsprechende Verordnung: Recueil Des Règlements et Arrêtés Émanés Du Commissaire Du Gouvernement Dans Les Quatre Nouveaux Départemens de La Rive Gauche Du Rhin, Bd. 1/2, Straßburg 1800, H 2, S. 132–161, besonders S. 138. Sie trat im Mai 1798 in Kraft: Recueil Des Règlements et Arrêtés Émanés Du Commissaire Du Gouvernement Dans Les Quatre Nouveaux Départemens de La Rive Gauche Du Rhin, Bd. 5/6, Straßburg 1800, H 6, S. 14–15. 236 Jeweils StadtAr Tr Fz 100, Nr. 23.
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schen Machthaber Ruhestörer, gegen die vorgegangen werden musste. Auf eine Pressefreiheit konnten sich nur diejenigen erfolgreich berufen, die revolutionsund republikfreundliche Ansichten veröffentlichten. Infolge des Staatsstreichs und der einsetzenden zweiten Phase der Direktorialregierung, verschärfte sich die Zensurpraxis generell. Zur Überwachung der Presse mussten nun die Herausgeber der Zeitungen und Zeitschriften im Rheinland dem zuständigen Regierungskommissar regelmäßig jeweils ein Exemplar zustellen.²³⁷ Später erhielt noch der Polizeiminister ein Exemplar zur Kontrolle. Auch hatten prinzipiell Frankreich-freundliche Blätter in dieser Zeit bei Kritik an Missständen mit einem Verbot zu rechnen. Weitere Verordnungen erschwerten den Bezug ausländischer – also vor allem rechtsrheinischer – Periodika, was die Zeitungsleser jedoch zu unterlaufen versuchten. Die Pressezensur verschärfte sich aber unter der Konsulatsregierung ab 1800 weiter, was auch die linksrheinischen Gebiete betraf: Hier wurden die Gemeinden dazu aufgerufen, „alle in ihrem Bereich erscheinenden Zeitungen zu melden und sie nach Inhalt, Besitzverhältnissen und Gesinnung genau zu beschreiben, die Herausgeber den Treueid auf die neue Verfassung leisten zu lassen und zwei Exemplare jeder Zeitungsnummer zur Kontrolle einzuschicken.“²³⁸ Später unterlagen die Presseerzeugnisse sowohl einer Vor- als auch einer Nachzensur. Insbesondere in der Kaiserzeit versuchten schließlich die zuständigen Kontrollinstanzen das Pressewesen aktiv in die napoleonische Propaganda einzubeziehen, hierfür Unbrauchbares durfte nicht thematisiert werden. Als Informationsmedium verlor die Presse damit an Wert. Annexion des Linksrheinischen Zum Zeitpunkt der Ausrufung einer cisrhenanischen Republik hatte das Direktorium Hoche längst mitgeteilt, den Anschluss des Linksrheinischen anzustreben. Die Befürworter dieser Richtung hatten sich nach dem Staatsstreich vom 18. Fructidor in der Regierung durchgesetzt und der Frieden von Campo Formio im Oktober 1797 schuf günstige Voraussetzungen: Österreich musste unter anderem nicht nur auf die Österreichischen Niederlande verzichten, sondern in einem geheimen Zusatzartikel erkannte es die Abtretung der linksrheinischen Gebiete an. Bereits beim Frieden von Basel hatte Preußen 1795 Frankreich den Verzicht auf die eigenen linksrheinischen Besitzungen zugesichert. Obwohl eine endgültige Regelung einem Friedensschluss mit dem Reich insgesamt vorbehalten blieb, rückte mit Campo Formio daher eine völkerrechtliche Anerkennung der Annexion des Linksrheini237 Siehe Joseph Hansen: Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der Französischen Revolution 1797–1804, 4 Bde., Bd. 4, Bonn 1938, S. 461. 238 Molitor: Untertan (wie Anm. 6, S. 2), S. 101.
84 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit schen durch Frankreich immer näher. Von dieser Richtungsänderung erfuhren die Cisrhenanen verspätet, schwenkten dann aber um, befürworteten den Anschluss und erklärten ihre Souveränität vom Reich. Noch vor einem reichsweiten Friedensschluss schuf das französische Direktorium vollendete Tatsachen und vollzog die administrative Angliederung bereits zu diesem Zeitpunkt: Anfang November 1797 beauftragte das Direktorium den Elsässer François Joseph Rudler (1757–1837) als Regierungskommissar das Linksrheinische der französischen Verwaltung anzugleichen und die passenden französischen Gesetze auszuwählen und zu erlassen. Am 23. Januar 1798 erließ Rudler eine entsprechende Verordnung, die das Gebiet in vier Departements einteilte. Koblenz und Trier wurden je die Hauptorte eines Departements – des Rhein-Mosel- bzw. des Saar-Departments – und Trier im Zuge der Neuordnung des Justizwesens zudem zum Sitz des Revisions- und späteren Appellationsgerichts. Auf der unteren Ebene gliederten sich die Departements in 30 bis 40 Kantone, denen jeweils eine Munizipalverwaltung vorstand. Nicht nur im Vergleich zur Besatzungsherrschaft, sondern auch zur kurfürstlichen Zeit wurde dadurch die Verwaltungsorganisation vereinheitlicht und gestrafft.²³⁹ Im Gegensatz zu Frankreich wurden die erforderlichen Beamten nicht gewählt, sondern vom Regierungskommissar ernannt. Diese Praxis sowie die Einführung des Französischen als Amtssprache begünstigten, dass in der Mehrheit Franzosen die Spitzenfunktionen besetzten.²⁴⁰ Bereits im Dezember 1797 kündigte Rudler die Abschaffung der Feudalrechte an, was er im März 1798 umsetzte. Die Beseitigung der adligen und geistlichen Privilegien zog das Ende der ständischen Ordnung nach sich. Zusätzlich bewirkten die Aufhebung der Zünfte und die Einführung der Gewerbefreiheit große Veränderungen im wirtschaftlichen Bereich. Aufgrund dieser Neuerungen, die in kurzer Zeit alle Lebensbereiche der rheinischen Bevölkerung erfassten, kann das Jahr 1798 durchaus als „Epochenjahr“²⁴¹ bezeichnet werden. Das Verwaltungswesen blieb in seiner Gliederung bis 1800 bestehen. Nachdem durch den Staatsstreich des 18. Brumaire (9. November 1799) die Direktorialverfassung abgeschafft und ab Dezember durch eine Konsulatsverfassung mit Napoleon als erstem Konsul ersetzt worden war, führte dieser im folgenden Jahr ein Präfek-
239 Vgl. Müller: 1798 (wie Anm. 7, S. 3), S. 215–217; Molitor: Untertan (wie Anm. 6, S. 2), S. 55–59, 135 und Kuhn: Revolution (wie Anm. 200, S. 73), S. 192–193. 240 Vgl. dazu ausführlich Clemens: Diener (wie Anm. 68, S. 18), S. 81–93. Die Bevorzugung von Franzosen in bestimmten Bereichen der Verwaltung bedeutete nicht, dass deutschen Beamten von Vornherein eine Karriere im französischen Staatsdienst verwehrt gewesen wäre. So waren im Gegenteil vor allem im Justizwesen mehr deutsche als französische Beamte beschäftigt. 241 Clemens/Clemens: Geschichte (wie Anm. 7, S. 3), S. 126. Vgl. auch Müller: 1798 (wie Anm. 7, S. 3), S. 220–221.
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tursystem in Frankreich ein. Diese Neuordnung betraf auch das Linksrheinische: Den Departements stand nun ein Präfekt vor, die mittlere Ebene bildeten die Arrondissments mit den Unterpräfekten an ihrer Spitze und die Kantone wurden durch Mairien ersetzt. Das Prinzip der Zentralisation wurde damit noch klarer umgesetzt und gerade die Einrichtung der Mairien, „erwies sich als so erfolgreich, daß sie – jetzt unter der eingedeutschten Bezeichnung ‚Bürgermeistereien‘ – in den nach 1815 preußisch gewordenen Teilen des Rheinlandes und auch in Rheinhessen beibehalten wurden.“²⁴² Die Präfekten unterstanden ihrerseits dem Regierungskommissar, der wiederum dem Pariser Justizminister untergeordnet und weisungsgebunden war. Napoleon ernannte sowohl die Präfekten als auch die Unterpräfekten. In der Regel kamen die Präfekten im Rheinland aus Lothringen oder dem Elsass; die Ebene der Mairien wurde hingegen mit Deutschen besetzt. Sie nahmen damit eine Mittlerposition zwischen französischen Verwaltern und der Bevölkerung ein. Erst nach dem Frieden von Lunéville 1801, der nach dem gescheiterten Rastatter Kongress die staatsrechtliche Anerkennung der Annexion brachte, wurde die französische Verfassung am 23. September 1802 vollständig in den vier linksrheinischen Departements in Kraft gesetzt. Damit wurde auch das Amt des Regierungskommissar abgeschafft.²⁴³ Erste Auswirkungen im kirchlichen Bereich Aus der administrativen Angleichung 1798 folgte also nicht, dass in den vier neuen Departements von Anfang an die französische Verfassung galt. Es traten vielmehr bis zu ihrer Einführung immer nur die französischen Gesetze in Kraft, die Rudler und seine Nachfolger auf das Linksrheinische übertrugen. Die Religions- und Kirchenpolitik kann deshalb nicht direkt von Frankreich auf das Rheinland übertragen werden. Entsprechende Gesetze wurden hier verzögert erlassen oder spielten aufgrund der lange ungeklärten völkerrechtlichen Situation überhaupt keine Rolle. Was aber prinzipiell mit der Besetzung zu befürchten war, hatte die geistliche Elite genau vor Augen: Einerseits gelangten viele der eidverweigernden französischen Geistlichen als Emigranten ins Erzbistum und berichteten dort über ihre Erlebnisse. Andererseits beschloss der Nationalkonvent am 1. Oktober 1795 die Vereinigung der Österreichischen Niederlande, die im Wesentlichen das heutige Belgien und
242 Jörg Engelbrecht: Grundzüge der französischen Verwaltungspolitik auf dem linken Rheinufer (1794–1814), in: Christof Dipper/Wolfgang Schieder/Reiner Schulze [Hrsg.]: Napoleonische Herrschaft in Deutschland und Italien – Verwaltung und Justiz, Berlin 1995, S. 79–91, hier S. 84. 243 Vgl. Molitor: Untertan (wie Anm. 6, S. 2), S. 60–61; Müller: Stadt (wie Anm. 229, S. 80), S. 386– 387 und Udo Fleck: Justiz und Verwaltung im Saardepartement (1794–1814), in: Dühr [Hrsg.]: Trikolore (wie Anm. 61, S. 17), S. 367–380, hier S. 371–373.
86 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit Luxemburg umfassten sowie des Fürstbistums Lüttich mit der Republik. Bereits zuvor waren diese Gebiete in neun Departements eingeteilt worden. Seit November 1795 war dann der sogenannte ‚Generalkommissar in den vereinigten belgischen Departements‘ dafür zuständig, die Verwaltungs- und Justizstruktur anzupassen sowie sukzessive die französischen Gesetze einzuführen. Das beinhaltete auch die Übertragung der französischen Religionsgesetzgebung, wobei der Generalkommissar anfangs behutsam vorging. Wie in Innerfrankreich waren sowohl der Weltklerus als auch die Orden betroffen. Letztere wurden mehrheitlich säkularisiert, wohingegen die anderen Maßnahmen darauf abzielten, den Einfluss von Klerus und Kirche strikt auf den religiösen Bereich zu beschränken und aus dem Alltagsleben weitgehend zu verdrängen. Auch in den ‚belgischen Departements‘ bewirkte die geforderte Eidesleistung eine Spaltung des Klerus; eine Situation, die sich nach der neojakobinischen Wende des Direktoriums noch einmal verschärfte. Eidverweigernden Priestern drohte nun ebenfalls die Deportation, wobei die zuständigen Stellen die meisten unbehelligt ließen.²⁴⁴ Die Situation war insofern brisant, weil die Österreichischen Niederlande, die nun im Departement Forêts aufgegangen waren, zum Erzbistum Trier gehörten. Die neue Verwaltungsorganisation hatte sich – anders als in Innerfrankreich – zwar erst einmal nicht auf die Bistumsgrenzen ausgewirkt. Allerdings hatte die Zivilkonstitution des Klerus von 1790 ausländischen Bischöfen oder Metropoliten jedwede geistliche Autorität über französische Kirchenangelegenheiten abgesprochen. Zusammen mit der Neuordnung der Bistümer, wodurch 65 in Frankreich gelegene Trierische Pfarreien wegfielen, verlor der Erzbischof ebenso seine französischen Suffragane, die nun dem Erzbischof von Reims unterstanden.²⁴⁵ Erzbischof Clemens Wenzeslaus protestierte entschieden gegen das Vorgehen Frankreichs, fand aber kaum Gehör. Wenig Wirkung entfalteten auch seine Versuche, mit Hirtenbriefen die französischen Diözesanen und die Geistlichkeit zum
244 Vgl. sowie ausführlicher zur Situation in den ‚belgischen Departements‘: Minke: Lüttich (wie Anm. 62, S. 17), S. 289–291, 297–301 und ders.: Religion, Revolution und Konterrevolution in Belgien und den Rheinlanden, in: Plongeron [Hrsg.]: Aufklärung (wie Anm. 199, S. 73), S. 437– 443. Als es in Teilen Flanderns und der Ardennen in Verbindung mit Truppenaushebungen zu Aufständen kam, machte das Direktorium 8000 eidverweigernde Priester dafür verantwortlich und verhängte Deportationsstrafen. Allerdings konnten nur wenige verhaftet werden (vgl. ebd., S. 442). Trotzdem zeigt sich hieran, wie schnell die Eidverweigerer pauschal als Unruhestifter verdächtigt und verurteilt werden konnten. 245 Vgl. Seibrich: Erzbistum (wie Anm. 105, S. 50), S. 175; Minke: Lüttich (wie Anm. 62, S. 17), S. 291. Die zum Erzbistum gehörenden französischen Pfarreien waren teilweise deutschsprachig: 1777 war das Herzogtum Lothringen von Frankreich erworben worden, wozu etwa Merzig und Perl gehörten, vgl. Seibrich: Neugestaltung (wie Anm. 64, S. 17), S. 165.
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Widerstand gegen die Gesetze der Nationalversammlung zu animieren.²⁴⁶ Dass der Klerus des Wälderdepartements hingegen weiterhin die Jurisdiktionsgewalt des Trierer Erzbischofs und des Generalvikariats anerkannte und die französischen Religionsgesetze ablehnte, zeigt eine entsprechende Erklärung, die er 1796 einstimmig abfasste. Auch von Seiten des Trierer Generalvikariats bestand kein Grund, an der eigenen Zuständigkeit zu zweifeln, zumal das Erzbistum bis zur Neuorganisation der Bistümer im Anschluss an das Konkordat 1801 offiziell weiter bestand. Erst dann fiel auch das Departement Forêts an das Bistum Metz bzw. Namur.²⁴⁷ Geistliche Verwaltung nach der Besetzung Zwar wirkten sich Besetzung und spätere Annexion nicht auf die Grundstruktur des Erzbistums aus, betrafen aber das Funktionieren der Verwaltung. Bereits vor dem Einmarsch der Franzosen konnten unmittelbar nach 1789 nicht mehr alle frei werdenden Verwaltungsstellen neu besetzt werden, da insbesondere viele Domherren davor zurückschreckten, in unruhigen Zeiten Verantwortung zu übernehmen.²⁴⁸ Durch die mit dem Heranrücken der Franzosen einsetzende Fluchtbewegung des hohen Klerus und des Adels verlor die Verwaltung einige weitere hochrangige Mitarbeiter. Bis auf wenige Ausnahmen floh auch das Domkapitel mit dem Erzbischof 246 Darin erinnerte er an die bestehenden Verträge zwischen Frankreich und Kurtrier und sprach zivilen Gewalten das Recht ab, ihm die von Gott verliehene Jurisdiktionsgewalt zu entziehen. Die Reaktion waren Flugblätter, die darauf hinwiesen, ein ausländischer Bischof fordere dazu auf, französische Gesetze zu brechen, vgl. Emil Zenz: Die kirchenpolitischen Beziehungen zwischen dem Erzstift Trier und Frankreich nach Ausbruch der Französischen Revolution, in: Archiv für mittelrheinischen Kirchengeschichte 4 (1952), S. 217–228, hier S. 220–224. Zenz beschreibt außerdem ausführlich das Bemühen des Erzbischofs auf Reichsebene Unterstützung dafür zu erhalten, seine Verfügungsgewalt über den französischen Teil des Erzbistums behalten zu können. In mehreren Memoranden wandte Clemens Wenzeslaus sich in diesem Sinn an den Reichstag, den Papst sowie die beiden anderen geistlichen Kurfürsten. Er legte dar, dass nicht nur die Trierer Kirche betroffen sei, sondern zahlreiche Reichsstände mit ihren Besitzungen im Königreich Frankreich. Um Unterstützung bat er außerdem den 1790 neugewählten Kaiser Leopold II. (1747–1792). Der französische König bot schließlich Entschädigungen an, machte aber deutlich, dass die französischen Bistumsgrenzen nun Bestand hätten. 247 Vgl. Ferdinand Pauly: Eid und Gewissen. Das Gutachten der Theologischen Fakultät der Universität Trier über den von den Priestern geforderten Eid auf die Verfassung des Jahres III (1795) der Französischen Republik und seine Auswirkungen auf das Verhalten des Trierer Generalvikariats und des Klerus, in: Georg Droege/Wolfgang Frühwald/Ferdinand Pauly [Hrsg.]: Verführung zur Geschichte. Festschrift zum 500. Jahrestag der Eröffnung einer Universität in Trier 1473 1973, Trier 1973, S. 302–322, hier S. 310; Seibrich: Erzbistum (wie Anm. 105, S. 50), S. 186. Infolge des geforderten Eides kam es jedoch zu Unstimmigkeiten zwischen Generalvikariat und luxemburgischen Klerus, siehe dazu Kapitel 4.1.2. 248 So vermutet zumindest Thomas: Verwaltung (wie Anm. 64, S. 17), S. 210.
88 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit und seinem Hof nach Augsburg. Die Adligen, die nicht in kirchlichen Diensten standen, zogen sich ebenfalls in ihre rechtsrheinischen Besitzungen zurück, ließ doch die 1790 erfolgte Abschaffung des Adels in Frankreich auch für das Linksrheinische ähnliche Maßnahmen erwarten. Mehrheitlich verließen auch die Klosterangehörigen sowie die übrige Stiftsgeistlichkeit fürs Erste das Kurfürstentum. Diejenigen, die das Rheinland verlassen hatten, wurden von den Franzosen als Emigranten betrachtet. Das hatte zur Folge, dass die Besatzer mit Erlass vom 29. Dezember 1794 anfangs nur den Besitz von Klöstern und Stiften unter die Domänendirektion stellten, deren Mitglieder ganz oder zumindest in großer Zahl geflohen waren.²⁴⁹ Der niedere Klerus blieb hingegen vor Ort und „versorgte über das Jahr 1794[…] hinaus die Gläubigen seelsorglich“²⁵⁰. Die an den Stiften angesiedelten Vikarien, die die seelsorgerische Versorgung ergänzten, wurden ebenfalls weiterhin betreut. Bereits im Verlauf des Jahres 1795 kehrten einige der Geflohenen wieder zurück, da die französischen Besatzer nach der Anfangsphase der Eroberung gemäßigter auftraten und die französischen Kirchengesetze noch nicht zur Anwendung brachten. Hinzu kam, dass den Emigranten unter bestimmten Bedingungen eine Rückkehr möglich war und sie ihr Eigentum zurückerhalten konnten.²⁵¹ Da die immobilen Kirchengüter nicht verkauft worden waren, kamen vor allem viele Klosterangehörige wieder, fanden die Klostergebäude jedoch oftmals beschädigt vor. Um 1802 waren in den 24 Ordensniederlassungen des Saardepartements noch 411 Religiosen ansässig und 131 ehemalige Kanoniker der Kollegiatstifte lebten zu diesem Zeitpunkt noch im Bistum Trier.²⁵² Auch Adlige wagten teilweise ins Linksrheinische zurückzukehren: So kam ein Großteil der Familie Kesselstatt ab 1797 wieder, um der französischen Regierung Kooperationsbereitschaft zu signalisieren und dadurch die Aufhebung des über ihre Güter verhängten Sequester zu erreichen. Die entsprechenden Versuche waren 1798 schließlich erfolgreich. Auch wenn der eigene Besitz damit gesichert war, mit der Abschaffung der Feudalrechte und der Beseitigung aller weiteren Privilegien sowie Titel und Wappen bedeutete 249 Vgl. Rönz: Diözesanklerus (wie Anm. 21, S. 8), S. 240–243; Seibrich: Neugestaltung (wie Anm. 64, S. 17), S. 175; Kraus: Weg (wie Anm. 62, S. 17), S. 287 und Gerteis: Trier (wie Anm. 227, S. 79), S. 72. 250 Rönz: Diözesanklerus (wie Anm. 21, S. 8), S. 46. 251 Sie benötigten u. a. die Erlaubnis der Volksrepräsentanten, ohne die sie nicht zurückkehren durften. Siehe den Text der Verordnung bei K. Th. F. Bormann/A. von Daniels [Hrsg.]: Handbuch der für die Königl. Preuß. Rheinprovinzen verkündigten Gesetze, Verordnungen und Regierungsbeschlüsse aus der Zeit der Fremdherrschaft, Bd. 6, Köln 1841, S. 301–302. 252 Vgl. die Zahlen bei Rönz: Diözesanklerus (wie Anm. 21, S. 8), S. 117, 191. Vgl. auch Müller: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 70. Es gibt noch keine eigene Untersuchung zur Emigration aus dem Linksrheinischen, sodass die Angaben über Geflüchtete und Rückkehrer nur vage bleiben können.
2.3 Kirchen- und Religionspolitik in französischer Zeit | 89
die französische Herrschaft einen massiven Einschnitt für den linksrheinischen Adel.²⁵³ Zwar waren viele Mitarbeiter der geistlichen Verwaltung (zunächst) geflohen, aber sowohl das Trierer Generalvikariat und Offizialat als auch die entsprechenden Koblenzer Behörden bestanden weiter. Die personellen Einschnitte waren anfangs jedoch erheblich: „In Trier verließen vor der Besetzung der Stadt alle Mitglieder des Generalvikariats das linksrheinische Gebiet, nur ein einziger blieb zurück, der Geistliche Rat Johann Jakob Simon.“²⁵⁴ Dieser erhielt die entsprechende Vollmacht, die ihm „gleich nach dem feindlichen Überfall aufgetragene[…] Verwaltung der Vicariatsgeschäfte“ solange fortzuführen, „bis dahin etwa 3 Vicariatsglieder […] sich in Trier wieder einfinden würden“²⁵⁵. Im entsprechenden Schreiben wusste der seit März 1794 amtierende Weihbischof Johann Michael von Pidoll dem Erzbischof auch zu berichten, dass Offizial Peter Joseph von Hontheim (1739–1807), der seit 1792 das Generalvikariat in Trier leitete, plane, „mit einigen Assessoren, sobald sie einen französischen Paß erhalten, die Rückreise nach Trier“²⁵⁶ anzutreten.
253 Zur Familie Kesselstatt in französischer Zeit vgl. Jullien: Adel (wie Anm. 155, S. 62), S. 230–235. Ob adlige Familien die Rückkehr wagten, hing vom Umfang ihres linksrheinischen Besitzes ab. Familien, die auch im rechtsrheinischen umfangreich begütert waren, konnten auf ihre restlichen Güter leichter verzichten. Ehemals adlige Rückkehrer waren nur noch bürgerliche (Groß-)Grundbesitzer, die im französischen Staat auch politische Ämter übernahmen und ihren Besitz durch den Kauf von Nationalgütern im Zuge der Säkularisation zu vergrößern suchten. Vgl. allgemein zum linksrheinischen Adel an der Wende vom 18./19. Jahrhundert: Christof Dipper: Der rheinische Adel zwischen Revolution und Restauration, in: Helmuth Feigl [Hrsg.]: Adel im Wandel. Vorträge und Diskussionen des elften Symposions des Niederösterreichischen Instituts für Landeskunde Horn, 2. – 5. Juli 1990, Wien 1991, S. 91–116. 254 Thomas: Verwaltung (wie Anm. 64, S. 17), S. 218. Johann Jakob Simon (1747–1827) wurde 1772 in Trier zum Priester geweiht und war seit 1786 Professor für klassische Sprachen an der Universität. 1791 erfolgte die Ernennung zum Geistlichen Rat. Von 1794 bis 1798 war er Sekretär des Generalvikariats. Ab 1805 wurde er Ökonom des wieder eröffneten Priesterseminars und war als Professor für Griechisch tätig, vgl. ebd., S. 214, Anm. 17. – Ab 1786 war Simon zudem Mitglied der Lesegesellschaft und fungierte zwischen 1788 und 1790 als deren Sekretär. Vgl. Tilgner: Lesegesellschaften (wie Anm. 48, S. 14), S. 410–411, 432. 255 BATr Abt. 49, Nr. 4, S. 23. Schreiben von Weihbischof Pidoll an Clemens Wenzeslaus, 23. Februar 1795. – Pidoll studierte in Trier Theologie und Rechtswissenschaften. 1756 wurde er zum Priester geweiht. Er war Stiftsherr in St. Paulin und wurde 1770 zum Dekan gewählt, was er bis zur Aufhebung des Stifts blieb. 1794 wurde er Weihbischof von Trier. 1802 wurde er vom Papst zum Bischof von Le Mans ernannt. Vgl. Thomas: Verwaltung (wie Anm. 64, S. 17), S. 212, Anm. 8. 256 Ebd. – Hontheim wurde 1760 an der Trierer Universität zum Doktor beider Rechte promoviert. Seit 1779 war er Dekan von St. Simeon und wurde 1785 Offizial und Wirklicher Geheimer Rat. 1803 wurde er im neuen Bistum Trier Domkapitular und Generalvikar, vgl. ebd., S. 211, Anm. 7. Seit 1783 war er Mitglied der Lesegesellschaft und stand dieser von 1784 bis 1785 als erster Direktor vor. 1789 trat er aus der Gesellschaft aus. Vgl. Tilgner: Lesegesellschaften (wie Anm. 48, S. 14), S. 423.
90 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit Dieses Vorhaben war erfolgreich, sodass im Laufe des Jahres 1795 neben Hontheim die Assessoren Nikolaus Nell (1748–1807) und Hartrad Faber (1749–1822), beides Kanoniker in St. Paulin bzw. St. Simeon, die Besetzung des Generalvikariates wieder vergrößerten. Im Gegensatz dazu nahm die Zahl der Mitarbeiter in Koblenz immer weiter ab, bis 1801 nur noch ein Mitglied des Offizialats-Kommissariats übrig war.²⁵⁷ Trier war damit weiterhin Hauptort der geistlichen Verwaltung des Erzbistums. Über Weihbischof Pidoll hielt der Erzbischof brieflichen Kontakt mit den im Linksrheinischen verbliebenen Mitarbeitern. Pidoll selbst war nach der Flucht des Erzbischofs dessen Vertreter in allen geistlichen Angelegenheiten, hielt sich aber nicht in Trier, sondern zeitweise in Hanau, Frankfurt und Mainz auf, bis er ab 1797 von Ehrenbreitstein aus als Bindeglied zwischen Erzbistum und Erzbischof zu wirken versuchte. Die klassischen Weihbischofsaufgaben – Firmungen und Weihen – konnte er nur im rechtsrheinischen Teil des Erzbistums erfüllen. In Trier wurde Pidoll wiederum von Hontheim sowie dem Pfarrer von Trier-St. Antonius und Dechanten der Stadtpfarreien, Anton Cordel (1760–1826), vertreten. Pidoll ernannte Cordel zum Kommissar über den Klerus der Pfarreien im nunmehrigen Wälderdepartement, wodurch dieser dort die geistliche Verwaltung ausübte.²⁵⁸ Somit konnte das Generalvikariat seine übliche Arbeit nach dem französischen Einmarsch weitgehend wieder aufnehmen und bis zur Neuorganisation des Bistums fortführen, sodass u. a. Erleichterungen im Dispenswesen, die in den Wirren der unmittelbaren Besetzung den Pfarrern erteilt worden waren, zurückgenommen und der übliche Behördenweg erneut einzuhalten war.²⁵⁹ Der privilegierte Rechtsstand der Geistlichkeit und damit der Zuständigkeitsbereich der Offizialate wurde hingegen per Dekret des Regierungskommissars im Januar 1798
257 Weiterhin kehrten nach Trier zurück: Peter Josef Weber (1750–1821), Christian Eugen Kohl (1747–?), Franz Anton Haubs (1745–1826), Georg Philipp Christoph Leuxner (1747–?) und Peter Conrad (1745–1816), dieser aber erst 1796. Der letzte verbliebene Mitarbeiter in Koblenz war Matthias Josef Driesch (1749–1821). Zu den Lebensdaten und jeweiligen Kurzbiographien vgl. Thomas: Verwaltung (wie Anm. 64, S. 17), S. 211–217. Vgl. auch Rönz: Diözesanklerus (wie Anm. 21, S. 8), S. 243–246. 258 Vgl. Thomas: Verwaltung (wie Anm. 64, S. 17), S. 217 und Josef Steinruck: Die Trierer Notablen der Franzosenzeit. Persönlichkeiten aus dem kirchlichen Bereich, in: Dühr [Hrsg.]: Trikolore (wie Anm. 61, S. 17), S. 181–196, hier S. 188, 191. Cordel hatte in Trier Theologie studiert und wurde 1784 zum Pfarrer geweiht. Danach arbeitete er einige Zeit als Hauslehrer der Familie Pidoll. Nachdem Bischof Mannay 1816 sein Bischofsamt niedergelegt hatte, übernahm Cordel als Kapitelsvikar die Leitung des Bistums bis zur Einsetzung eines neuen Bischofs. Bischof Hommer ernannte ihn zum Generalvikar. 259 Siehe den entsprechenden Text der Verordnung vom 28. September 1795 bei Blattau: Statuta synodalia Bd. 6 (wie Anm. 125, S. 56), S. 328.
2.3 Kirchen- und Religionspolitik in französischer Zeit | 91
aufgehoben.²⁶⁰ Dass die weltlichen (französischen) Behörden die Zuständigkeit des Generalvikariats in geistlichen Angelegenheiten überwiegend anerkannten, zeigt sich an der regelmäßigen Übermittlung entsprechender Beschlüsse, die den religiös-kirchlichen Bereich betrafen. Dabei ging es allerdings meist um die Umsetzung verschiedener Restriktionen, etwa gegen Mönche. Das Generalvikariat versuchte aber durchaus, nicht nur willfähriger Befehlsempfänger zu sein und pochte beispielsweise auf die Übermittlung von Abschriften der Verordnungen und Reskripten des Regierungskommissars.²⁶¹ Religionsgesetze im Rheinland Auch wenn bei den geistlichen Behörden über die französische Besetzung und anschließende Annexion hinaus eine relative Kontinuität herrschte, stellte die Religionspolitik der neuen Herren für die geistliche Elite einen harten Einschnitt dar. Anfangs richtete das Direktorium seine Besatzungspolitik an der Trennung von Kirche und Staat aus, wie sie die Verfassung von 1795 in Frankreich festgelegt hatte. Die freie Religionsausübung gewährleisteten die Besatzer daher ausdrücklich. Doch die Eingriffe in das kirchliche Besitzwesen, die unter militärischer Prämisse standen, waren massiv: Bereits unmittelbar nach der Besetzung griffen die Volksrepräsentanten immer wieder auf Einkünfte und Güter der Geistlichen zu. Diese Verfügungen hatten aber nur regionale Bedeutung. Das änderte ein Direktorialerlass vom 17. Mai 1796, „der alle Zehnten, Zinsen und Renten des Adels und der Geistlichkeit zu Nationalgut erklärte und dem Nutzen der Republik zuführte.“²⁶² Begründet wurde die Maßnahme damit, dass man ihnen nicht „die Mittel ihres Unterhalts“ nehmen wolle, aber „der schädliche Ueberfluß […] die ehrenvolle Bestimmung erhalten [sollte], zu den ungeheuren Kosten des für die Menschheit geführten Krieges verwendet zu werden.“²⁶³ Die in der Seelsorge tätigen Geistlichen sollten stattdessen eine Pension erhalten, um die Verrichtung des religiösen Kultus nicht zu behindern.²⁶⁴ Mit Ausnahme der Pfarrhäuser, Kirchen und der in Lehre und Krankenpflege tätigen Institute wurden schließlich alle kirchlichen Güter ab dem 1. September 1796 der staatlichen Verwaltung durch die Nationaldomäne unterstellt. Die Geistlichkeit
260 Vgl. Thomas: Verwaltung (wie Anm. 64, S. 17), S. 219, 221. 261 Siehe StadtA Tr Fz 679, o.P. 262 Kraus: Weg (wie Anm. 62, S. 17), S. 288. 263 StadtAr Tr Fz 812, Nr. 528. Darin werden die „Religiosen, Pfarrer und Schulmeister“ aufgefordert, dem Einnehmer der französischen Verwaltung ein ausführliches Verzeichnis ihrer persönlichen Angaben zuzusenden, damit die Pensionszahlungen erfolgen könnten. 264 Vgl. Kraus: Weg (wie Anm. 62, S. 17), S. 288; Carl: Revolution (wie Anm. 13, S. 4), S. 93.
92 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit hatte die Verfügungsgewalt über das Kircheneigentum und damit wesentliche Einkünfte verloren. Mit Protestschreiben, wie etwa an den Stadtrat von Trier, versuchte sich der Klerus gegen diese Beschlüsse zu wehren, zumal die in Aussicht gestellten Pensionen selten oder nie ausgezahlt wurden.²⁶⁵ Die prekäre finanzielle Situation verbesserte sich erst unter General Hoche. Im Zuge der Wiedereinsetzung der alten weltlichen Verwaltungsorgane erhielt der Klerus am 18. März 1797 die Verfügungsgewalt über das geistliche Eigentum wieder zurück.²⁶⁶ Allerdings durfte er nur ein Drittel der Einnahmen selbst behalten, die restlichen zwei Drittel mussten an staatliche Stellen abgeführt werden. Auch hierbei dominierten militärische Überlegungen: So wie sich Hoche von der Einsetzung der alten Beamten höhere Einnahmen versprach, erhoffte er sich Gleiches von der Rückgabe der Kirchengüter. Da die Geistlichkeit aber (angeblich) ihre Abgaben schuldig blieb, verfügte Hoche nur einen Monat später, alle Einkünfte und Güter unterstünden erneut der Regie des Nationaldomänen-Verwalters Durbach. Das geistliche Drittel würde anschließend „unter die Mitglieder der Clerisey ohne Unterschied, sie seyen Ordens- oder Weltgeistliche, vertheilt werden, doch sind die nichtbegüterten Ordenshäuser hier ausgenommen.“ Diejenigen, die in der Seelsorge, im Schulwesen oder der Krankenpflege beschäftigt waren, erhielt ein Fünftel mehr „als diejenigen, welche sich blos dem beschaulichen Leben gewidmet haben.“²⁶⁷ Dass Missstände unter der Verwaltung Durbachs den General dazu bewogen, im Juni die Geistlichen erneut in ihre Güter einzusetzen, verweist beispielhaft auf die chaotischen Zustände der französischen Besatzungspolitik sowie auf die grassierende Korruption. Nach dem antiroyalistischen Staatsstreich vom 4. September 1797 verschärften die Besatzer auch im Rheinland ihre Religionspolitik. Die Maßnahmen beschränkten sich nun nicht mehr nur auf Eingriffe in die finanzielle Versorgung der Geistlichkeit, sondern richteten sich zunehmend gegen den Kultus selbst. Den Anfang machte ein entschiedenes Vorgehen gegen die Klöster, da gerade unter den Mönchen Unruhestifter vermutet wurden. So schränkte der Regierungskommissar am 31. Dezember 1797 die Freizügigkeit der Ordensgeistlichen ein, indem ihnen verboten wurde, andere Häuser ihres Ordens aufzusuchen. Einzig war ihnen gestattet, freiwillig und dauerhaft ins Rechtsrheinische überzusiedeln. Sollten sie dann
265 Vgl. Müller: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 71–73. 266 In Artikel 6 des Beschlusses heißt es: „Die Mitglieder der geistlichen Gemeinden, zusammen oder einzelnen steht frei, die Verwaltung der Güter der Korporazion wozu sie sonst gehörten, zu übernehmen. Ein Drittel des Ertrags der von ihnen verwalteten Güter soll ihnen für ihren Unterhalt und Verwaltungskosten überlassen, die zwey andern Drittel aber von ihnen den Empfängern der Auflagen abgegeben werden“. StadtAr Tr Fz 110, Nr. 1. 267 Jeweils StadtAr Tr Fz 110, Nr. 5. Vgl. auch Müller: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 74.
2.3 Kirchen- und Religionspolitik in französischer Zeit | 93
jedoch zurückkehren wollen, würden sie als Spione behandelt.²⁶⁸ Am 9. Februar 1798 wurde die Aufnahme von Novizen und das Ablegen von Gelübden untersagt. Diejenigen, die kurz vor diesem Schritt standen, mussten die Klöster innerhalb von zwei Dekaden verlassen. Statt die Klöster komplett aufzuheben, zielte diese Maßnahme auf ihr langsames Aussterben. Rudler begründete den Beschluss allerdings damit, dass es ansonsten „vergeblich seyn würde, die eroberten Völker an den wohlthätigen Gesetzen der Franken Theil nehmen zu lassen, wenn diese Völker nicht zugleich auf die ursprünglichen Naturgesetze zurückgeführt würden, welche die Grundlage jener der Republik ausmachen“²⁶⁹. – Das Ablegen von religiösen Gelübden war unvereinbar mit dem republikanischen Staatsverständnis, weshalb sie schließlich auch nicht mehr erneuert werden durften. Aus einem ähnlichen Grund waren bereits im Januar 1798 die Klostergefängnisse verboten worden: „In Rücksicht, daß es in keiner wohl eingerichteten allgemeinen Gesellschaft besondere Gesellschaften, welche sie immer seyn mögen, geben könne, die, ohne irgend ein, von einer gesetzmäßigen Gerichtsstelle ausgesprochenes Urtheil über die persönliche Freiheit ihrer Mitglieder schalten und walten, und sie nach ihrer Willkür zu ungesunden Gefängnissen und vergifteten Höhlen verurtheilen, wo sie ihren Verstand verlieren und in grausame Krankheiten, worauf oft ein frühzeitiger, obgleich langsamer Tod erfolgt, verfallen können“²⁷⁰, war diese Sonderpraxis fortan untersagt. Nach Berichten über die „verführerischen Predigten“ mehrerer Mönche, insbesondere im Saardepartement, die noch immer nicht aufhörten, „in denselben die geheiligte[n] Grundsätze der Freiheit und Gleichheit anzugreifen“²⁷¹, untersagte die Zentralverwaltung am 27. März 1798 den Mönchen das Predigen. Dieses Verbot hatte unmittelbar Auswirkungen auf die Seelsorge, da die Mönche und Klosterkirchen das Angebot der Pfarrkirchen unterstützten und ergänzten. Die Abschaffung der Feudalabgaben am 26. März 1798 und damit auch des Zehnten machten jegliche Hoffnungen der kirchlichen Institutionen zunichte, diese Rechte, die zwar längst der Staat beanspruchte, zurückzuerhalten. Nur einen Tag später konfiszierte der Regierungskommissar das Vermögen aller geistlichen Korporationen, die nur noch über weniger als die Hälfte ihrer Mitglieder verfügten. Die restlichen Religiosen sollten Unterhalt erhalten. Endgültig umgesetzt wurde 268 Siehe den Text des Beschlusses in Recueil, 1/2 (wie Anm. 235, S. 82), S. 35. 269 Recueil Des Règlements et Arrêtés Émanés Du Commissaire Du Gouvernement Dans Les Quatre Nouveaux Départemens de La Rive Gauche Du Rhin, Bd. 3/4, Straßburg 1800, H 3, S. 3. 270 StadtAr Tr Fz 679, o.P. Das Verbot hatte darüber hinaus einen konkreten Anlass: Im Kerker eines Kapuzinerklosters in Aachen war ein Mönch entdeckt worden, der dort angeblich seit zwei Jahren festsaß und in entsprechend schlechtem Gesundheitszustand war. 271 StadtAr Tr, Fz 812, Nr. 540. Vgl. auch Müller: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 76–77.
94 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit der Beschluss jedoch erst 1800.²⁷² Immer stärker sollten Kirche und Religion nun aus dem öffentlichen Raum verdrängt werden: Religiöse Zeichen wie Kreuze oder Heiligenfiguren mussten ab dem Frühjahr 1798 genauso aus der Öffentlichkeit entfernt werden, wie diejenigen Symbole, die auf Monarchie und Adel verwiesen. Prozessionen durften nicht mehr stattfinden, Priester außerhalb der Kirchen nicht mehr ihre Amtstracht tragen und auch Beerdigungen konnten aufgrund des Verbots öffentlicher Kultausübung nicht mehr wie gewohnt abgehalten werden. Rudler reagierte damit auf Forderungen von untergeordneten Beamten, auf die rheinischen Departements endlich die entsprechenden französischen Gesetze zu übertragen. Sie verdächtigten die Pfarrer und Mönche, die Republikbegeisterung der Bevölkerung zu hemmen. Auch wenn es vereinzelt tatsächlich Pfarrer gegeben haben mag, die selbst im Beichtstuhl zum Widerstand animierten, ging von ihnen keine groß angelegte Rebellion aus. Die Verdächtigungen der Franzosen entbehrten nicht jeder Grundlage, waren aber in ihrer Pauschalität unzutreffend.²⁷³ Ab August 1798 drohten schließlich jedem Geistlichen harte Gefängnisstrafen, wenn er in Wort oder Schrift zur Wiederherstellung der Monarchie in Frankreich sowie der alten Ordnung in den neuen Departements aufrief oder sich in sonst einer Weise gegen die republikanische Verfassung und ihre Vertreter aussprach. Auch unterstanden nun alle Gottesdienste, gleich welcher Religion, der Aufsicht des Staates.²⁷⁴ Die Formulierung ‚gleich welcher Religion‘ verweist darauf, dass die protestantischen Minderheiten – und in weit geringerem Maße auch die Juden – in den rheinischen Departements von der Religionsgesetzgebung insgesamt profitierten, endete doch ihre Benachteiligung gegenüber der katholischen Konfession.²⁷⁵ Auch untersagte das Gesetz Richtern und Verwaltern, andere zur Teilnahme an religiösen Festen zu zwingen, womit (erneut) die freie Religionsausübung bzw. Nicht-Ausübung gesichert wurde. Im Juli 1798 erklärte Rudler die alleinige Gültigkeit des Revolutionskalenders; wer die alte Zeitrechnung weiterhin verwendete, musste mit Sanktionen rechnen.
272 Vgl. Schieder: Säkularisationspolitik (wie Anm. 8, S. 3), S. 88; Kraus: Weg (wie Anm. 62, S. 17), S. 288 und Müller: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 77. 273 Vgl. ebd., S. 78; Carl: Revolution (wie Anm. 13, S. 4), S. 94 und Elisabeth Wagner: Revolution, Religiosität und Kirchen im Rheinland um 1800, in: Hansgeorg Molitor [Hrsg.]: Franzosen und Deutsche am Rhein 1789–1918–1945, Essen 1989, S. 267–288, hier S. 273–274. 274 Recueil Des Règlements et Arrêtés Émanés Du Commissaire Du Gouvernement Des Les Quatre Nouveaux Départemens de La Rive Gauche Du Rhin, Bd. 7/8, Straßburg 1800, S. 269 und StadtAr Tr Fz 812, Nr. 541. Rudler erließ damit weitere Teile des in Frankreich am 29. September 1795 veröffentlichten Gesetzes über L’exercice et la police extérieure des cultes. 275 Bis sich protestantische Gemeinden konstituierten, dauerte es jedoch noch bis 1802/03, vgl. Müller: 1798 (wie Anm. 7, S. 3), S. 222–224.
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Die „Durchdringung des Alltags mit religiös bestimmten Zeitbegriffen“²⁷⁶ sollte damit auch in den linksrheinischen Departements gebrochen werden, was allerdings nicht gelang. Kurzzeitig fanden jedoch auch im Saardepartement ab August 1798 Dekadenfeste statt.²⁷⁷ In Zusammenhang mit der Kalenderreform führte Rudler auch die Zivilstandsgesetze ein: Nicht mehr die Pfarrer verzeichneten Geburten, Heiraten und Todesfälle, sondern staatliche Beamte. Vor ihnen wurde nun auch die Ehe geschlossen, wobei anschließende kirchliche Trauungen weiter möglich waren. Dass nun Scheidungen vollzogen werden konnten, widersprach „eklatant dem religiösen Dogma“²⁷⁸. Gleichwohl etablierten sich diese Regelungen, vermutlich, weil sie den Zeitgenossen tatsächlich mehr Freiheit verhießen. Nur vereinzelt widersetzten sich Pfarrer der Herausgabe der Kirchenbücher, da ansonsten zentrale Lebensereignisse der Gemeindemitglieder nicht mehr ihrer Aufsicht unterlagen. Die Trennung von Staat und Kirche manifestierte sich daher vor allem in diesen Gesetzen: Der kirchliche Einfluss und die Rolle der Pfarrer sollte stärker auf genuin religiöse Angelegenheiten beschränkt werden.²⁷⁹ Mit ihrer Politik erreichten die Machthaber ansonsten aber das genaue Gegenteil des von ihnen Gewollten: Die anvisierte Verdrängung religiöser Symbolik oder Handlungen aus der Öffentlichkeit stieß in der breiten Bevölkerung nicht auf Zustimmung. Die Abschaffung der ständischen Privilegien des Klerus (und des Adels) hatten viele hingegen genauso begrüßt, wie die Eingriffe in das Vermögen der Kirchen und Klöster. Waren hier von vielen wahrgenommene Missstände abgeschafft worden, wurden Verbote von Prozessionen oder traditionellen Beerdigungspraktiken jedoch als Gängelung empfunden. Immer wieder mussten die staatlichen Stellen daher an die entsprechenden Beschlüsse erinnern und auf ihre Umsetzung dringen, da sie einfach ignoriert wurden. So konnten die Revolutionsfeste die kirchlichen Feiertage nicht ersetzen und trotz entsprechender Verbote existierte das Wallfahrtswesen im Rheinland fort. Das Aufbegehren gegen Eingriffe in die religiöse Praxis speiste sich jedoch meist nicht aus einer völligen Ablehnung ‚republikanischer Werte‘, denn die Reaktionen auf die kurfürstlichen Verordnungen gegen das Prozessions- und Feiertagswesen waren ähnlich ablehnend gewesen. Daher verweisen diese Akte des Ungehorsams nicht auf eine breite Widerstandsbewegung in der Bevölkerung oder in der geistlichen Elite. Aktionen 276 Kraus: Weg (wie Anm. 62, S. 17), S. 125. Ausführlich zur Rezeption des Revolutionskalenders im Rheinland: Stein: Revolutionskalender (wie Anm. 67, S. 18), S. 142–154. 277 In Trier diente die Jesuitenkirche als Dekadentempel. Die Teilnehmerzahlen dieser Feste waren wohl nicht sehr hoch, sodass sie eher eine „Art gesellschaftliche Pflichtübung“ (ebd., S. 147) für höhere Beamte darstellten. 278 Müller: 1798 (wie Anm. 7, S. 3), S. 225. 279 Vgl. auch ebd., S. 225.
96 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit Einzelner konnten die französische Staatsgewalt auch nicht ernsthaft gefährden, selbst wenn diese die Situation oft anders interpretierte.²⁸⁰ Bildungswesen und Religion Um die soziale Funktion der Religion und die Autorität der Kirche zu vermindern, maß die französische Regierung dem Schulwesen eine hohe Bedeutung bei. Schulen nach französischem Vorbild „sollten die Schüler und Studenten mit den gesellschaftlichen Veränderungen und neuen Werten vertraut machen“²⁸¹ und sie die französische Sprache lehren. Mit der Einführung eines neuen Schulsystems sollte zudem der bisher große Einfluss der Kirche auf die Bildung gebrochen werden: Gemäß den Ideen aufgeklärter Reformpädagogik sollten in den Schulen vor allem praktische Inhalte vermittelt werden und philosophische Konzepte die Religion ersetzen. Regierungskommissar Rudler strebte in diesem Sinne die Einrichtung von Primär-, Zentral- und Spezialschulen an. Die Zentralschulen sollten die Gymnasien ablösen, die Spezialschulen hingegen an die Stelle der alten Universitäten treten. Dies hatte für die Trierer Universität und das Priesterseminar 1798 die Schließung zur Folge. Bereits zuvor war die Lehre weitgehend zum Erliegen gekommen. Zwar waren viele der zurückgekehrten Stiftsgeistlichen zugleich Professoren der Universität, trotzdem mangelte es kriegsbedingt an Personal und Studenten.²⁸² Im Bereich der Primärschulen änderte sich allerdings unter Rudler zunächst wenig. Sofern sie noch bestanden, durfte der Unterricht in den Pfarr- und Stadtschulen – unter Beachtung „republikanische[r] Grundsätze“²⁸³ – unbehelligt weiter gehen. Die Einsetzung von Kommissionen, die die Lehrer fachlich und ideologisch überprüfen sollten sowie die Unterstellung der Primärschulen unter die Aufsicht der Munizipalitäten, brachte insgesamt keine grundlegenden Veränderungen. Unter der Federführung Johann Hugo Wyttenbachs (1767–1848)²⁸⁴ wurden 280 Vgl. Wagner: Revolution (wie Anm. 273, S. 94), S. 276–284 sowie Carl: Revolution (wie Anm. 13, S. 4), S. 98–102. Carl wertet die Wallfahrten zumindest als „politische[…] Demonstrationen gegen die französische Herrschaft“ (ebd., S. 101). 281 Andrea Fleck: Das Trierer Schulwesen in französischer Zeit (1794–1814), in: Dühr [Hrsg.]: Trikolore (wie Anm. 61, S. 17), S. 461–470, hier S. 461. 282 Nach dem französischen Einmarsch blieben Universität und Priesterseminar zunächst einige Monate geschlossen, bevor im April 1795 die Vorlesungen wieder aufgenommen wurden. Anfangs waren nur drei Professoren vor Ort. Mit Einschränkungen ging der Lehrbetrieb bis zum 12. April 1798 weiter. Per Dekret wurde an diesem Tag der weitere Betrieb untersagt, alle Urkunden, Akten und Siegel mussten abgegeben werden. Im Gegensatz zum Priesterseminar blieb die Universität fortan geschlossen. Vgl. Reichert: Priesterseminar (wie Anm. 49, S. 37), S. 108–123. 283 Molitor: Untertan (wie Anm. 6, S. 2), S. 71. 284 Wyttenbach studierte an der Universität Trier Theologie und trat 1791 der Trierer Lesegesellschaft bei. Er arbeitete zunächst als Hauslehrer der Familie Nell und anschließend bei dem
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zumindest die vier städtischen Pfarrschulen in Trier einer Reform unterzogen; Moral-Unterricht ersetzte den Religionsunterricht. In den vier Universitätsstädten der rheinischen Departements – Trier, Bonn, Mainz und Köln – verschob sich zudem die Eröffnung der Zentralschulen, da die Besoldung der Professoren ungeklärt war. Die Trierer Zentralschule nahm erst im November 1799 den Unterricht auf. Anfangs waren die Schülerzahlen gering, weil die Eltern dem religionslosen Unterricht misstrauten. Da ihren Söhnen jedoch nur eine Karriere in französischen Diensten nach dem Besuch einer „öffentlichen, republikanischen Schule“²⁸⁵ offen stand, änderte sich ihre Einstellung recht schnell. Religionsunterricht war an öffentlichen Schulen erst wieder nach Abschluss des Konkordats 1801 möglich. Mängel am Unterrichtssystem führten dazu, dass die Sekundarschulen 1804 durch die Sekundärschulen, die später die Bezeichnung collèges erhielten, ersetzt wurden. Um die Lehrerausbildung zu verbessern, gründete Viktor Joseph Dewora (1774–1838), Pfarrer von St. Matthias in Trier, 1810 eine Normalschule, für die er schließlich die staatliche Unterstützung durch den Präfekten erhielt.²⁸⁶ Konkordat und Säkularisation Napoleon war nicht an der Fortführung der als religions- und kirchenfeindlich angesehenen Politik des Direktoriums interessiert. Vielmehr strebte er einen Ausgleich mit der katholischen Kirche an: „Nach dem Machtwechsel vom 18. Brumaire VIII sollte die neue, napoleonische Kirchenpolitik zur Stabilisierung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse Frankreichs beitragen und dem neuen
Grafen zu Spaur und Flavon in Wetzlar. 1797 kehrte er nach Trier zurück und wurde Lehrer an der französischen Zentralschule sowie Bibliothekar. Er beteiligte sich ebenfalls an der Reform der Primärschulen. Auch unter der preußischen Herrschaft blieb Wyttenbach Direktor des Trierer Gymnasiums. Vgl. ausführlich Tina Klupsch: Johann Hugo Wyttenbach. Eine Historische Biographie, Trier 2012. 285 Fleck: Schulwesen (wie Anm. 281), S. 462. 286 Abgesehen davon, dass es an den collèges wieder das Fach Religion gab, unterschied sich der Fächerkanon zu dem der Sekundärschulen kaum: Er umfasste mathematisch-naturwissenschaftliche Fächer, Sprachen, Geschichte und Geographie. Vgl. ausführlich: ebd., S. 462–469 sowie Müller: Stadt (wie Anm. 229, S. 80), S. 392–394. – Dewora hatte in Koblenz das Gymnasium besucht. Die Freistelle, die er 1794 am Priesterseminar in Trier antreten sollte, konnte er infolge des französischen Einmarsches nicht wahrnehmen. Er studierte daher zunächst in Mainz Theologie und wechselte anschließend an die Universität Würzburg, die sich seit 1773 zu einem Zentrum der katholischen Aufklärung entwickelt hatte. Nach seiner Priesterweihe trat er im rechtsrheinischen Teil des ehemaligen Trierer Erzbistums Pfarrstellen an und kehrte auf Bitten des neuen Bischofs Mannay 1805 nach Trier zurück. 1806 übernahm er die Pfarrei Trier-St. Matthias. Vgl. Viktor Joseph Dewora: „Ehrendenkmal“. Quellen zur Geschichte der Koalitionskriege 1792–1801, hrsg. v. Michael Embach, Trier 1994, S. XXIX–XXXIX.
98 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit Regime sowohl im Inneren wie auch nach außen Prestige und Akzeptanz verschaffen.“²⁸⁷ Napoleons Handeln zielte folglich nicht darauf ab, Kirche und Religion uneigennützig wieder (mehr) Achtung zu verschaffen, sondern vielmehr suchte er sie seinen eigenen Herrschaftsinteressen dienstbar zu machen. Im Herbst 1800 begannen darum die Verhandlungen zwischen ihm und Papst Pius VII.²⁸⁸ über ein Konkordat, das die Beziehung zwischen französischem Staat und katholischer Kirche regeln und befrieden sollte. Die innerfranzösische Spaltung in geschworene und ungeschworene Priester sollte hierdurch überwunden und die Kirche zur Stütze des französischen Staates werden. Am 15. Juli 1801 wurde das Konkordat schließlich unterzeichnet. Um den Kritikern in der Gesetzgebenden Versammlung entgegenzukommen, fügte Napoleon eigenmächtig die sogenannten Organischen Artikel bei, die die Ausführung des Konkordats zugunsten des französischen Staates regelten. Der Staat sicherte sich mit ihnen zum einen die Kontrolle über Nominierung und Amtsführung der Geistlichen. Zum anderen behielt er den Einfluss auf die Neuumschreibung der Bistums- und Pfarrgrenzen, die denen der weltlichen Verwaltungsgrenzen entsprechen sollten sowie auf die kirchlichen Vermögensverhältnisse.²⁸⁹ Unter Zusatz dieser Artikel wurde das Konkordat am 8. April 1802 in Frankreich als Gesetz publiziert. Im Detail hatte es zur Folge, dass der französische Staat den Katholizismus als Religion der Mehrheit der Franzosen anerkannte und die freie Religionsausübung zusicherte. Im Gegenzug akzeptierte der Papst die in Frankreich bisher erfolgte Säkularisation des Kirchenbesitzes. Außerdem wurde die Neuorganisation der Kirchensprengel vereinbart. Nichtveräußerte Kirchengebäude, die für die Seelsorge benötigt wurden, konnten durch die Bischöfe zurückgefordert werden. Nach ihrer Ernennung durch Napoleon wurden die Bischöfe vom Papst eingesetzt. Mit Genehmigung der Regierung beriefen sie ihrerseits die Pfarrer. Sowohl die Bischöfe als auch die Pfarrer mussten einen Treueid leisten. Domkapitel und Priesterseminar durften die Bischöfe wieder errichten, erhielten dafür jedoch
287 Elisabeth Wagner: Die Kirchenpolitik im napoleonischen Rheinland. Zur Indienstnahme der Geistlichen, in: Christof Dipper/Wolfgang Schieder/Reiner Schulze [Hrsg.]: Napoleonische Herrschaft in Deutschland und Italien – Verwaltung und Justiz, Berlin 1995, S. 201–223, hier S. 203. 288 Luigi Barnaba Chiaramonti (1742–1823) war nach dem Tod seines Vorgängers Pius VI. (1717–1799) der Kompromisskandidat der Franzosen und Österreicher für die Papst-Nachfolge. Da Rom und der Kirchenstaat französisch besetzt waren, fand das Konklave in Venedig statt. Vgl. ebd., S. 203. Zu Pius VII. vgl. auch Volker Reinhardt: Pontifex. Die Geschichte der Päpste: Von Petrus bis Franziskus, München 2017, S. 741–758. 289 Zusammen mit dem Konkordat wurden auch entsprechende Kultusgesetze für die protestantische Kirche verabschiedet. Vgl. Wagner: Kirchenpolitik (wie Anm. 287), S. 203–204; Kraus: Weg (wie Anm. 62, S. 17), S. 290–291.
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keine staatlichen Mittel. Hingegen verpflichtete sich der Staat, für das Gehalt der Bischöfe und Pfarrer aufzukommen.²⁹⁰ „Das Motiv für die Staatsbesoldung lag im Bestreben, die Geistlichkeit vom Staat abhängig zu halten.“²⁹¹ Der Staat behielt auf diese Weise leichter die Kontrolle über den Klerus und konnte ihn für seine Interessen in die Pflicht nehmen. Es war nun Aufgabe der Geistlichen, staatlich veranlassten Neuerungen im religiösen Bereich die notwendige Akzeptanz unter den Pfarrangehörigen zu verschaffen. Dazu zählten beispielsweise die Einschränkung von Feiertagen, Prozessionen oder Wallfahrten, der Besuch von Gottesdiensten zu bestimmten, staatlichen Anlässen, die Einhaltung der Bestattungsregeln oder der Zivilstandsgesetze. Auch rein weltliche Aufgaben, wie das Werben für die Pockenschutzimpfung, fiel ihnen nun zu. Gerade letzteres entsprach schon den unter Volksaufklärern verbreiteten Ideen, sodass die Indienstnahme des Klerus durch Napoleon nichts grundlegend Neues war. Die Besoldung durch den Staat und die daraus entstehende finanzielle Abhängigkeit verschärfte allerdings die Situation der Pfarrer. Einerseits profitierten sie tatsächlich von einer Verbesserung ihres Status, andererseits sahen sie sich mit Einschränkungen in ihrer Amtsführung konfrontiert.²⁹² Der am 9. Februar 1801 geschlossene Friede von Lunéville zwischen Österreich und Frankreich bestätigte die Beschlüsse von Campo Formio. Österreich erkannte – zugleich stellvertretend für das Reich – die linksrheinischen Gebietsabtretungen an Frankreich an, die damit staatsrechtlich legitimiert waren. Die linksrheinischen Departements konnten Frankreich vollständig angegliedert und mit den innerfranzösischen Departements gleichgestellt werden. Damit besaß das Konkordat auch hier Geltung und wurde – zusammen mit den Organischen Artikeln – am 4. Mai 1802 publiziert. Da in den vier rheinischen Departements bislang die Kirchengüter nur unter Sequester gestellt worden waren, sollte ein im Juni 1802 erlassener Konsularbeschluss die Verhältnisse an die innerfranzösischen angleichen. Dieser verfügte „die Aufhebung aller geistlichen Institutionen – mit Ausnahme der gemäß Gesetz vom 8. April 1802 eingerichteten Bistümer, Pfarreien, Domkapitel und Seminare – und die Einziehung des geistlichen Eigentums
290 Die Bischofsstühle wurden nach dem Rücktritt aller bisherigen Bischöfe neu besetzt. Die Ernennung der Bischöfe durch den ersten Konsul und die anschließende Einsetzung durch den Papst folgte dem Grundsatz des Konkordats von Bologna (1516). Vgl. ebd., S. 290–291; Müller: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 80–81 sowie Jochen Krenz: Druckerschwärze statt Schwarzpulver. Wie die Gegenaufklärung die Katholische Aufklärung nach 1789 mundtot machte, Bremen 2016, S. 136–137. 291 Kraus: Weg (wie Anm. 62, S. 17), S. 290. 292 Vgl. auch Wagner: Kirchenpolitik (wie Anm. 287), S. 22.
100 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit zugunsten der Staatsdomänen“²⁹³. Der Ausgleich, auf den Napoleons Kirchenpolitik zielte, hatte nie das Weiterbestehen religiöser Korporationen beinhaltet. Von der Aufhebung ausgenommen waren nur diejenigen Einrichtungen, die sich der Krankenpflege oder der Erziehung widmeten. Als Entschädigung sollten den ehemaligen Kanonikern, Mönchen und Nonnen eine Pension gezahlt werden – sofern sie im Linksrheinischen geboren waren. Im Saardepartement mussten die Mönche und Nonnen am 26. Juli 1802 ihre Einrichtungen endgültig verlassen und weltliche Kleidung anlegen; die Stifte wurden erst im August vollständig geräumt. Viele Mönche des Trierer Bistums wechselten anschließend in die Seelsorge oder in den Schuldienst. Durch die klare rechtliche Regelung war die Säkularisation in den rheinischen Departements im Gegensatz zu der Frankreichs kein gewaltsamer, radikaler Revolutionsakt.²⁹⁴ Der Verkauf der Immobilien begann allerdings erst ab April 1803. Ein Grund für diese Verzögerung war unter anderem, dass im Zuge der Neumschreibung der Bistums- und Pfarrgrenzen entschieden werden musste, welche Einrichtungen für die Seelsorge benötigt wurden. Da sich die Neuorganisation an den weltlichen Verwaltungsbezirken orientierte, entsprachen die Bistumsgrenzen nun denen der Departements und die Pfarreien fielen mit den Kantonen zusammen. Daran hatte sich Papst Pius VII. bei der Einrichtung der neuen Bistümer orientiert, die per Dekret des Kardinallegaten Giovanni Battista Caprara (1733–1810) im April 1802 festgelegt wurden. Trier, Mainz und Köln verloren ihren Rang als Erzbistum; anstelle Kölns wurde Aachen zum Bistum erhoben. Für das nunmehrige Bistum Trier bot die Neustrukturierung trotzdem eine gewisse Kontinuität: Der ehemaligen Einteilung in ein Ober- und ein Niedererzstift entsprach weitgehend die Grenze zwischen dem Saar- und dem Rhein-Mosel-Departement, sodass das ehemalige Obererzstift in Gestalt des Saardepartements weiterhin dem Trierer Bistum zugehörte.²⁹⁵ Als neuen Bischof installierte Napoleon im Juli 1802 Charles Mannay (1745–1824)²⁹⁶, der im September desselben Jahres in sein Amt eingeführt wurde.
293 Kraus: Weg (wie Anm. 62, S. 17), S. 292. 294 Vgl. Müller: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 82–83, wo auf den folgenden Seiten umfassend die Säkularisation im Saardepartement beschrieben wird. Siehe auch Oepen: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 88–95. 295 Vgl. Seibrich: Neugestaltung (wie Anm. 64, S. 17), S. 166–168, Kraus: Weg (wie Anm. 62, S. 17), S. 291. Das Rhein-Mosel-Departement und damit Koblenz fielen nun unter die geistliche Verwaltung des Bistums Aachen. 296 Mannay verweigerte den Eid auf die Zivilkonstitution und ging ins englische Exil. Erst 1801 kehrte er wieder nach Frankreich zurück. Am Priesterseminar war er Lehrer von Talleyrand gewesen. Vgl. Steinruck: Notablen (wie Anm. 258, S. 90), S. 181–187.
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Erzbischof Clemens Wenzeslaus verzichtete daraufhin im linksrheinischen Teil auf sein Amt. Im Rechtsrheinischen blieb seine bischöfliche Jurisdiktion bis zu seinem Tod 1812 bestehen, genauso wie auch die Rechte des Domkapitels dort weiterhin Bestand hatten.²⁹⁷ Innerhalb der neuen Bistumsverwaltung setzte Bischof Mannay auf Kontinuität: So ernannte er Peter Joseph von Hontheim zum ersten Generalvikar und Anton Cordel zum zweiten. Einen Weihbischof gab es in französischer Zeit hingegen nicht mehr. Dem 1803 neugeschaffenen Domkapitel gehörten zehn Domherren an, in der Hauptsache Bürgerliche, die in der Verwaltung des alten Erzbistums tätig gewesen waren. So stieg etwa Nikolaus Nell, einer der Assessoren am Generalvikariat, ins Domkapitel auf. Die acht Ehrenkanonikerstellen besetzten wiederum hauptsächlich Kleriker, die bereits vor 1803 im Umfeld des Domkapitels – etwa als Domvikare – beschäftigt waren. Allerdings waren die Kompetenzen des Domkapitels in französischer Zeit im Vergleich zu vorher stark beschnitten, da es nur noch eine Unterstützungs- und Beratungsfunktion gegenüber dem Bischof hatte und diesen nicht mehr wählen durfte. Auch bei den meisten der 1803 berufenen Geistlichen Räte handelte es sich um Mitglieder der alten Elite. Obwohl aus dem hohen Klerus viele geflohen waren oder aus anderen Gründen, wie etwa einem zu hohem Alter, nicht mehr für ein hohes Kirchenamt in Frage kamen, gab es folglich noch genug Geistliche des alten Erzbistums, die auch jetzt wieder zur Besetzung wichtiger Ämter herangezogen werden konnten. Vor allem aus den ehemaligen Stiftskanonikern rekrutierte sich das Personal. Nur hinsichtlich des Domkapitels kann daher eindeutig „eine Verbürgerlichung“²⁹⁸ konstatiert werden, denn die meisten Mitglieder der ehemals reichsunmittelbaren Adelsgeschlechter traten nicht mehr in kirchliche Dienste ein, sofern sie ins Linksrheinische überhaupt zurückkehrten. In der kirchlichen Verwaltung war die personelle Kontinuität damit insgesamt höher, auch wenn sich die Beamten im weltlichen Bereich ebenfalls mehrheitlich anpassten.²⁹⁹ 297 Ludwig Josef Beck (1738–1816) wurde Generalvikar der verbliebenen 87 Pfarreien. Bereits ab 1794 hatte er die Leitung der geistlichen Verwaltung im Rechtsrheinischen inne gehabt. Ansässig war das Generalvikariat in Limburg. Beck war ein enger Vertrauter des Erzbischofs, der die Verhandlungen beim Emser Kongress (1786) geführt und maßgeblich die Ergebnisse mitbestimmt hatte. Vgl. Seibrich: Neugestaltung (wie Anm. 64, S. 17), S. 176; ausführlich zum rechtsrheinischen Erzbistum: Alois Thomas: Die Verwaltung des rechtsrheinischen Bistums Trier, in: Erwin Gatz [Hrsg.]: Römische Kurie, kirchliche Finanzen, vatikanisches Archiv: Studien zu Ehren von Hermann Hoberg, Rom 1979, S. 913–979. 298 Rönz: Diözesanklerus (wie Anm. 21, S. 8), S. 249. Hier findet sich von S. 246–248 auch eine ausführliche Zusammenstellung derjenigen Personen, die in wichtige Ämter berufen wurden. 299 Gerade für die städtischen Führungsschichten geht Jürgen Müller allerdings von einem personellen Umbruch in den 1790er Jahren aus. Hier wog das ideologische Moment höher: Viele
102 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit Nach der Installation einer neuen Bistumsverwaltung bemühte sich Mannay um die Neuerrichtung des Priesterseminars. Unter Berufung auf die Organischen Artikel und den Konsularbeschluss sowie aufgrund seiner guten Beziehungen zur Regierung gelang es ihm, ausreichende Mittel und Gebäude zu erhalten. In den Räumen des ehemaligen Clementinum begann im November 1805 wieder die Priesterausbildung, womit der sich abzeichnende Priestermangel abgeschwächt werden sollte.³⁰⁰ Obwohl das Priesterseminar dem Bischof unterstand und durch das Bistum finanziert wurde, übte der Staat auch hier seine Kontrolle aus: Die Seminar- und Studienordnungen mussten von der Regierung bestätigt und alle Priesteramtsanwärter genau verzeichnet werden. Die Weihen durften nur nach staatlicher Genehmigung erfolgen. Napoleon zielte mit dieser Politik darauf, einen loyalen Klerus heranzuziehen. Die verbesserte Ausbildung sorgte gleichzeitig für einen Ansehensgewinn der Geistlichen – ein Ziel, das auch die von der Aufklärung geprägten Reformen verfolgt hatten.³⁰¹ Entsprechend den staatlichen Vorgaben kümmerte sich die neue Bistumsleitung unter Mannay des Weiteren um die Pfarrorganisation. Pro Kanton durfte nur eine Pfarrei eingerichtet werden, deren Pfarrer Anspruch auf ein Gehalt hatte. Zwar waren zur Unterstützung Hilfspfarreien, sogenannte Sukkursalen, vorgesehen, deren Pfarrer jedoch kein Staatsgehalt erhielten.³⁰² Die Hilfspfarrer oder Desservanten unterstanden formell den Kantonspfarrern, verrichteten aber in der Praxis ihren Dienst unabhängig von diesen und hatten dieselben Aufgaben. In der Hauptsache sollten pensionsberechtigte Geistliche in den Hilfspfarreien eingesetzt werden. Da ihre Zahl jedoch nicht ausreichte, um den Bedarf langfristig zu decken, erhielt ab 1804 zunächst ein Teil der Desservanten ein Staatsgehalt und ab 1807 schließlich alle.³⁰³ Allerdings fiel ihr Gehalt geringer als das der Kantonspfarrer aus und ihre Anzahl wurde verringert, weshalb eine erneute Pfarrumschreibung
der alten städtischen Beamten standen unter dem Verdacht zu konservativ zu sein. Vgl. Müller: Führungsschichten (wie Anm. 68, S. 18), S. 128–129. 300 Insgesamt war die Zahl der Priester nach 1802 rückläufig. Obwohl ehemalige Mönche oder Kanoniker nach der Säkularisation als Seelsorger zur Verfügung standen, konnten sie die Lücken nicht füllen. Vgl., mit entsprechenden Zahlen: Rönz: Diözesanklerus (wie Anm. 21, S. 8), S. 49–50, 256. Zur Neuerrichtung des Priesterseminars vgl. Alois Thomas: Das Priesterseminar in Trier in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 27 (1972), S. 195–222. 301 Dazu auch Wagner: Kirchenpolitik (wie Anm. 287, S. 98), S. 220–221. 302 Die Kantonspfarrer erhielten zwischen 1000 bis 1500 Franc. Im Bistum Trier gab es nach der ersten Umschreibung 34 Kantonspfarrer und 245 Hilfsgeistliche. Vgl. Rönz: Diözesanklerus (wie Anm. 21, S. 8), S. 47. 303 Pensionsberechtigte Geistliche waren ehemalige Kloster- oder Stiftsgeistliche sowie Geistliche, die im Rahmen der neuen Kirchenorganisation keine Stelle mehr erhielten. Ab 1804/07
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notwendig war. Erst 1808 fand die Neustrukturierung ihren Abschluss. Die Abschaffung der lange bestehenden Pfarreigrenzen sorgte mitunter für Unmut in der Bevölkerung, etwa aufgrund längerer Wege zum nächsten Gottesdienstort oder fehlender Seelsorger. Hinzu kam die Aufhebung und der Wegfall der meisten Kirchen im Zuge der Säkularisation, was „sichtbarer Ausdruck tiefgreifender und weitreichender Veränderungen in der Seelsorgesituation“³⁰⁴ des neuen Bistums war. Gleichzeitig beinhalteten diese Veränderungen die Möglichkeit, dauerhaft die Pfarreien als zentrale Orte gottesdienstlicher Praxis zu stärken. Die Säkularisation hatte die vielen konkurrierenden Gottesdienste an den Stifts- und Klosterkirchen beseitigt und die mehrheitlich inkorporierten Pfarreien aus ihrer Abhängigkeit gelöst. Damit konnte nun auch die aus den verschiedenen Rechts- und Besitzverhältnissen resultierende Zersplitterung der Pfarrgemeinden behoben werden. So sorgte die Neustrukturierung für eine stärkere Vereinheitlichung und machte es außerdem möglich, baufällige Pfarrkirchen durch besser instand gesetzte Klosterund Stiftskirchen zu ersetzen.³⁰⁵ Wie bereits die Ausführungen zur Indienstnahme der Pfarrer gezeigt haben, erstreckte sich die Kontrolle der napoleonischen Kirchen- und Religionspolitik auch auf die religiöse und liturgische Praxis. So galt nach Abschluss des Konkordats eine einheitliche Liturgie in Frankreich; Gebetbücher durften nur noch mit abgedruckter bischöflicher Erlaubnis verbreitet werden. Weiterhin blieb die Religionsausübung außerhalb der Kirchen untersagt, was das Wallfahrts- und Prozessionswesen einschränkte, auch wenn Prozessionen prinzipiell nun wieder gestattet waren. Die gemeinsamen Vorschriften weltlicher und kirchlicher Stellen sahen in der Regel jedoch vor, diese nur innerhalb der Ortsgrenzen zuzulassen und Wallfahrten über Departementsgrenzen entweder streng zu überwachen oder am besten ganz zu verbieten. Oberstes Ziel war die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, was aber nicht zwangsläufig bedeutete, dass die zuständigen Behörden bei Zuwiderhandeln stets einschritten. Auch das Glockengeläut, mit dem nur zum Gottesdienst gerufen werden durfte, unterlag staatlicher Regelung.³⁰⁶
wurde den Hilfspfarrern ein Staatsgehalt von 500 Francs gewährt. Vgl. Wagner: Kirchenpolitik (wie Anm. 287, S. 98), S. 211–212 304 Dies.: Tradition (wie Anm. 64, S. 17), S. 220. 305 Bis zur Säkularisation waren die meisten Pfarreien Klöstern oder Stiften inkorporiert gewesen. Im Erzbistum Köln standen z. B. den 40 Bistumspfarreien 1000 inkorporierte gegenüber, ein Zahlenverhältnis, das Rönz auch für Trier plausibel hält, vgl. Rönz: Diözesanklerus (wie Anm. 21, S. 8), S. 46. Vgl. Wagner: Tradition (wie Anm. 64, S. 17), S. 233–239. 306 Siehe die Vorschrift zum Läuten in: Johann Jakob Blattau: Statuta synodalia, ordinationes et mandata Archidioecesis Trevirensis, 9 Bde., Bd. 7, Trier 1849, S. 165. Für die Prozessionen siehe die jeweiligen Verordnungen in: ders.: Statuta synodalia Bd. 6 (wie Anm. 125, S. 56), S. 357, 358, 359
104 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit 1806 wurde für ganz Frankreich auf Veranlassung Napoleons ein nach ihm benannter, einheitlicher Katechismus eingeführt. Mit ihm sollte gewährleistet sein, dass die Jugend von Beginn an zu Treue und Gehorsam gegenüber dem Staat und der napoleonischen Kaiserdynastie erzogen wurde. Die Begründung der Gehorsamspflicht knüpfte dabei nicht an „revolutionär-republikanische Legitimationsmuster“³⁰⁷ an, sondern an die des Ancien Régime: Der Kaiser war der Stellvertreter Gottes auf Erden, weshalb mit der ihm erbrachten Ehre zugleich Gott gehuldigt wurde. Allerdings fand der Katechismus kaum Anwendung in den Bistümern.³⁰⁸ Auf Drängen Napoleons erließ der Papst im April 1802 eine Verfügung zur Begrenzung der Feiertage, die in Frankreich in ein entsprechendes Gesetz umgewandelt wurde. In seinem ersten Hirtenbrief vom 27. September 1802 kündigte Mannay an, dass neben dem Sonntag fortan nur noch Weihnachten, Christi und Maria Himmelfahrt sowie Allerheiligen gefeiert werden durften.³⁰⁹ Diese Reduzierung war im Vergleich zu allen vorangegangenen Bemühungen ein radikaler Schritt. So hatte die erzbischöfliche Verordnung von 1769, die bereits eine weitreichende Verringerung versuchte, unter anderem noch die Feier von Oster- und Pfingstmontag, Fronleichnam, Dreikönigstag und fünf Marien-Festen vorgesehen.³¹⁰ Dass darum in französischer Zeit gleichermaßen auf die Einhaltung dieser Regel gedrungen werden musste, überrascht kaum.³¹¹ Wie schon in erzbischöflicher Zeit war die Reaktion der Bevölkerung ambivalent: Einerseits hieß mancher Bauer oder Händler aus zeitlichen Gründen oder pekuniären Interessen die Feiertagsreduzierung gut, andererseits beharrten viele Menschen gerade auf der Feier ihrer lokalen Heiligen. Ergänzt wurden die kirchlichen durch staatliche Feiertage zu Ehren Napoleons: Er deklarierte den 15. August und den ersten Sonntag im Dezember zu napoleonischen Festen, die in Form feierlicher Gottesdienste mit Te Deum und entsprechenden Predigten begangen wurden.³¹²
und Blattau: Statuta synodalia Bd. 7 (wie Anm. 306, S. 103), S. 215. – Vgl. Wagner: Revolution (wie Anm. 273, S. 94), S. 283–284; Buchholz: Staatskult (wie Anm. 67, S. 18), S. 263, 270. 307 Ebd., S. 273. 308 Vgl. auch Kraus: Weg (wie Anm. 62, S. 17), S. 299–300. 309 Siehe Blattau: Statuta synodalia Bd. 7 (wie Anm. 306, S. 103), S. 139–146. Zwar wurde der Revolutionskalender erst am 1. Januar 1806 abgeschafft, der Sonntag trat aber bereits zuvor wieder an die Stelle des Dekadi, vgl. Kraus: Weg (wie Anm. 62, S. 17), S. 291. 310 Siehe Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia Bd. 5 (wie Anm. 47, S. 36), S. 158–160. 311 Vgl. z. B. ders.: Statuta synodalia Bd. 7 (wie Anm. 306, S. 103), S. 242; weitere Verweise bei Wagner: Revolution (wie Anm. 273, S. 94), S. 279. 312 Der 15. August war Napoleons Geburtstag, Tag seiner Ernennung zum Konsul auf Lebenszeit sowie der Tag, an dem der Papst dem Konkordat definitiv zustimmte. Am ersten Sonntag im Dezember wurden die Kaiserkrönung und die Schlacht bei Austerlitz gefeiert, vgl. ebd., S. 280, Anm. 61. 1806 verband Napoleon seinen Geburtstag mit dem Fest des Heiligen Napoleon, den es
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Dass nach siegreichen Schlachten Dankgottesdienste gefeiert wurden, war unter Napoleon ebenfalls die Regel.³¹³ Bewusst setzte Napoleon auf die Verknüpfung religiöser und staatlicher Symbolik, um seiner Herrschaft Stabilität und Legitimität zu verleihen. Die Trennung von Staat und Kirche war damit endgültig obsolet. Die Religionsgesetzgebung in Innerfrankreich war aufs Engste verbunden mit dem Fortgang der Revolution. Der katholische Klerus in Frankreich empfand die revolutionäre Gesetzgebung zunächst nicht als religionsfeindlich. Vielmehr verzichtete er anfangs selbst auf einige seiner Privilegien. Erst der geforderte Eid auf die Zivilverfassung führte zu einer Spaltung der Geistlichkeit und zu einer Frontstellung der Eidverweigerer zur Republik. Die Eidverweigerer waren in den Augen der Revolutionäre per se der Gegenrevolution verdächtig, was auf einige tatsächlich zutraf. Die mit Kriegsgefahr und -ausbruch einhergehende innenpolitische Radikalisierung bedingte eine Verschärfung der Religionsgesetzgebung, die schließlich in den Ersatzkulten der Jakobiner und der neuen revolutionären Zeitrechnung kulminierte. Militärische Erfolge beförderten wiederum den Aufstieg des anfangs gemäßigteren Direktoriums. Auch das Vorgehen der Franzosen im Rheinland kann nicht losgelöst von der innerfranzösischen Situation betrachtet werden. Aufgrund der bis 1801 bestehenden linksrheinischen „Sonderrolle“³¹⁴ betrafen einige der Gesetze die Kirche dort nicht. Unter dem ersten Direktorium sahen sich die katholische Elite und ihre Institutionen im Linksrheinischen zunächst ‚nur‘ mit Eingriffen in ihre Vermögensund Besitzverhältnisse konfrontiert. Militärische Motive leiteten das Handeln der neuen Machthaber. Nach dem Staatsstreich griff das zweite Direktorium jedoch zu härteren Maßnahmen: Angefangen bei den Klöstern sollte die religiöse Symbolik und Praxis immer mehr aus dem Alltag der Bevölkerung verdrängt werden. Verglichen mit der Allgegenwart von Kirche und Religion in kurfürstlicher Zeit, markierte diese Entwicklung einen harten Einschnitt. Gleichwohl profitierte die protestantische Minderheit von der Franzosenzeit, da die Vorrangstellung der katholischen Konfession endete. Ähnlich ambivalent waren die Konsequenzen für die geistliche Verwaltung des Trierer Erzbistums: Eingeschränkt durch die Flucht vieler Mitarbeiter und die Gesetze der neuen Herren, konnten die Behörden dennoch weiterarbeiten, die Struktur des Erzbistums blieb vorerst unangetastet. Dies nie gegeben hatte, was auch allen Beteiligten klar war. Vgl. dazu: Stephan Laux: Das Patrozinium „Saint Napoléon“ in Neersen (1803-1856). Ein Beitrag zur Rezeption der napoleonischen Propaganda im Rheinland, in: Jörg Engelbrecht/Stephan Laux [Hrsg.]: Landes- und Reichsgeschichte. Festschrift für Hansgeorg Molitor zum 65. Geburtstag, Bielefeld 2004, S. 351–381. 313 Buchholz: Staatskult (wie Anm. 67, S. 18), S. 275, 278. 314 Carl: Revolution (wie Anm. 13, S. 4), S. 92.
106 | 2 Historischer Überblick: Das (Erz-)Bistum Trier in der Übergangszeit änderte sich mit dem Konkordat und der vollständigen Angliederung an Frankreich: Das neue Bistum Trier entstand. Mit Beginn der napoleonischen Herrschaft zerschlug sich für die geistlichen Korporationen die Hoffnung auf eine Rückkehr zum status quo, ihre Säkularisation erfolgte. Napoleons Religionspolitik stand im Gegensatz zur vorherigen „im Zeichen einer […] rigiden staatskirchlichen Vorgehensweise“³¹⁵, Kirche und Religion fungierten in diesem System als Träger und Stützen der neuen Ordnung. Einerseits wuchs zwar erneut der Einfluss der Pfarrgeistlichen, andererseits standen sie nun im Dienste des Staates. Insgesamt wies die geistliche Elite über die französische Zeit hinaus eine hohe Kontinuität auf, auch wenn der Aufstieg Bürgerlicher begünstigt wurde. Bedingt durch eine mangelnde Alternative, formierte sich keine breite Widerstandsbewegung. Trotzdem stellte die französische Zeit gerade für die katholische Elite eine Herausforderung dar, zu der sie sich in irgendeiner Weise verhalten musste.
315 Horst Carl: Krieg lehrt beten – Kriegserfahrungen und Religion in Nordwesteuropa um 1800, in: Ute Planert [Hrsg.]: Krieg und Umbruch in Mitteleuropa um 1800. Erfahrungsgeschichte(n) auf dem Weg in eine neue Zeit, Paderborn u.a. 2009, S. 201–217, hier S. 203 f.
3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Die Ausführungen in Kapitel 2.2 haben gezeigt, dass die Aufklärung eine diskursive Bewegung war, deren Vertreter Althergebrachtes kritisch hinterfragten und neu bewerteten. Hierbei bot gerade der Katholizismus mit seiner Berufung auf Tradition und in Gestalt barocker Religiosität eine breite Angriffsfläche. Vor allem protestantische Aufklärer prägten mit ihren Berichten, die sie im Anschluss an Reisen in katholische Territorien des Reiches verfassten, das Bild von rückständigen, dem Aberglauben verhafteten Landstrichen und Menschen.¹ Mit dem Begriff Aberglaube wurde von den Aufklärern all das negativ belegt, was der Vernunft oder dem eigenen Fortschrittsoptimismus zu widersprechen schien, was schlichtweg als anders wahrgenommen wurde und von der eigenen Meinung abwich. Er stellte daher einen „zeitgenössische[n] Kampfbegriff“² dar, der – angewandt auf den Katholizismus – dazu diente, Katholiken und ihre Praktiken als finstere Überbleibsel voraufklärerischer Zeiten zu diffamieren. Oftmals kontrastierten die Aufklärer ihre Schilderungen mit denen protestantischer Gebiete, die dabei in der Regel deutlich positiver bewertet wurden.³ Als Beispiele waltender „Finsterniß“⁴ dienten der katholische Wunderglaube und Reliquienkult, aber auch Wallfahrten und Prozessionen, wie etwa die figurierte Karfreitagsprozession in Trier. Bei dieser, wahrscheinlich von den Jesuiten begründeten Schauprozession, stellten kostümierte Teilnehmer von der Schöpfungsgeschichte bis zur Kreuzigung zentrale Szenen aus der Bibel nach. Für den Protestanten Johann Georg Heinzmann (1757–1802) ist angesichts dieser Szenerie
1 Vgl Nebgen: Differenzerfahrungen (wie Anm. 2, S. 1), S. 28–19. Religion stellte in den Reiseberichten eine der zentralen Beobachtungskategorien dar. 2 Uta Piereth: Dem Aberglauben auf der Spur. Notizen zu abergläubischen Phänomenen zwischen Maas und Rhein in Reiseberichten um 1800, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 24 (1998), S. 245–268, hier S. 249. 3 Nicht alle Reiseberichte, die von protestantisch geprägten Aufklärern verfasst wurden, zeichneten sich durch eine derartige „Katholizismuspolemik“ (Nebgen: Differenzerfahrungen (wie Anm. 2, S. 1), S. 28) aus wie beispielsweise Nicolais zwölfbändige Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781. So spricht etwa Georg Forster (1754–1794) ausdrücklich vom „aufgeklärten Mainz“ (Georg Forster: Ansichten vom Niederrhein, hrsg. v. Gerhard Steiner, Franfurt a. M. 1989, S. 58), um die Zustände in diesem katholischen Territorium als lobendes Beispiel hervorzuheben. Forster verurteilte jeglichen Dogmatismus, weshalb er allen Konfessionen Skepsis entgegenbrachte. 4 Johann Georg Heinzmann: Beobachtungen und Anmerkungen auf Reisen durch Deutschland. In Fragmenten und Briefen, Leipzig 1788, S. 421. https://doi.org/10.1515/9783110674545-003
108 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an unverständlich, wie man an einem „Tage der tiefsten Trauer“ ein „so lächerliches Puppenspiel treiben“ könne, statt „die feyerliche stille Andacht“⁵ der Gläubigen anzuregen. 1784, dasselbe Jahr, aus dem auch Heinzmanns Bericht stammt, gelang es Clemens Wenzeslaus ein Verbot dieser Darstellungen bei den Prozessionen im Erzstift durchzusetzen.⁶ Allerdings durften die Karfreitagsprozessionen ab 1790 bis zum französischen Einmarsch wieder in ihrer figurierten Form stattfinden – in Anbetracht der Französischen Revolution schien es dem Erzbischof geraten, den ökonomischen Argumenten der Trierer Bürgerschaft stattzugeben.⁷ Den Vorwurf ‚falscher‘ Andacht erhob auch Joachim Heinrich Campe, der die „ganz mechanische Frömmeley“ der Katholiken im Fürstbistum Paderborn verurteilte, da sie nicht der „simpeln und erhabenen Lehre Jesu“⁸ entspreche. Als Träger des Aberglaubens wurde in den Berichten meist das ‚gemeine Volk‘ bzw. der ‚Pöbel‘, bezeichnet.⁹ In der Beschreibung der „religiösen Leichtglaubigkeit des einfältigen Landmanns“¹⁰ drückte sich das elitäre Selbstverständnis der Aufklärer aus. Der katholischen Elite wurde durchaus zugestanden, um Abschaffung der Missstände bemüht zu sein. So sieht Heinzmann unter Kurfürst Clemens
5 Jeweils Heinzmann: Beobachtungen (wie Anm. 4, S. 107), S. 113. Inwiefern der Autor eigene Erlebnisse wiedergibt, ist unklar, denn im Vorwort schreibt er, es handle sich bei den Beobachtungen um eine Sammlung aus „zerstreuten Quellen“ von „verschiedenen Verfassern“ (ebd., o. S.). Der in Ulm geborene Heinzmann arbeitete in der Haller’schen Buchhandlung in Bern und war ebenfalls als Schriftsteller tätig. In den 1790er Jahren fungierte er als Geschäftsführer der Typographischen Gesellschaft Bern. Vgl. Hans-Georg von Arburg: Heinzmann, Johann Georg, in: Lexikon der Schweiz 2006, url: http://www.hls-dhs-dss.chD11932.php [abgerufen am 18.8.2017]. 6 Siehe die entsprechende Verordnung in Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia Bd. 5 (wie Anm. 47, S. 36), S. 375. 7 Das Trierer Generalvikariat hatte bereits von Anfang an dazu geraten, nur bestehende ‚Missbräuche‘ bei diesen Karfreitagsprozessionen abzustellen, sie aber ansonsten weiter bestehen zu lassen. So sollten finanzielle Einbußen aufgrund ausbleibender Besucher für die Händler der Städte vermieden werden. Neben Trier fanden figurierte Prozessionen auch in Prüm und Cochem statt. Vgl. Andreas Heinz: Das Ende der „figurierten“ Karfreitagsprozessionen im Kurfürstentum Trier unter Erzbischof Clemens Wenzeslaus (1768–1802), in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 44 (1992), S. 177–188. 8 Jeweils Johann Heinrich Campe: Reise des Herausgebers von Braunschweig nach Paris im Heumonat 1789, in: ders. [Hrsg.]: Sammlung interessanter und durchgängig zweckmäßig abgefaßter Reisebeschreibungen für die Jugend, Bd. 8, Reutlingen 1790, S. 27. Campe hatte u. a. in Halle evangelische Theologie studiert und betätigte sich als Pädagoge, Schriftsteller und Verleger, vgl. Gottfried Hausmann: Campe, Joachim Heinrich, in: Neue Deutsche Biographie 3 (1957). Die Zitate stammen aus einem Brief an seine 14-jährige Tochter Lotte während einer Reise durch Westfalen, siehe auch Overhoff: Katholische Aufklärung (wie Anm. 40, S. 12), S. 11. 9 Siehe auch Piereth: Aberglauben (wie Anm. 2, S. 107), S. 259. 10 Heinzmann: Beobachtungen (wie Anm. 4, S. 107), S. 421.
3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an
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Wenzeslaus die „Morgendämmerung“¹¹ heraufziehen und auch Campe setzte in den neuen Fürstbischof von Paderborn große Hoffnungen.¹² Zu den Ambivalenzen dieser Thematik gehört allerdings auch, dass wiederum genau diese Elite von protestantischen Aufklärern verantwortlich für das unvernünftige Verhalten der Bevölkerung gemacht wurde. Ludwig Wilhelm Wekhrlin sah beispielsweise in den „Beamten und Geistlichen“¹³ die Schuldigen für den schlechten Zustand bayerischer Bildungsinstitutionen. Auch Georg Forster veranlasste der Anblick der „Schaaren von zerlumpten Bettlern“ in Köln, „sowohl die weltlichen als die kirchlichen Despoten“¹⁴ für die Unterdrückung der menschlichen Vernunft zu maßregeln. Die Kritik an der katholischen Obrigkeit kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Wahrnehmung katholischer Frömmigkeit und ihrer (Nicht-)Übereinstimmung mit aufgeklärten Maßstäben weitgehende Einigkeit zwischen katholisch bzw. protestantisch geprägten Aufklärern herrschte. Vielmehr tat sich in dieser Beziehung ein Graben „zwischen den aufgeklärten Eliten und dem unaufgeklärten Volk“¹⁵ auf. Gleichwohl lässt sich daraus nicht zwingend eine generelle Dichotomie von Elite- und Volksfrömmigkeit ableiten, da nicht jeder Angehörige der Elite der Aufklärung zuneigte und darum beispielsweise auch im 18. Jahrhundert weiter an Wallfahrten teilnahm oder der Heiligenverehrung anhing.¹⁶ Auch die katholischen Aufklärer kritisierten Missstände und klagten die katholische Kirche an, einen blinden Glauben zu befördern. Ironisch verweist darauf der katholische Staatsrechtler und Direktor der Universität Ingolstadt, Johann Adam von Ickstatt (1702–1776), im Vorwort seiner unter Pseudonym verfassten Untersu11 Ebd., S. 420. 12 „Er wird dem Aberglauben und der Dummheit durch vernünftige Schuleinrichtungen steuern, er wird seine Mönche und Priester zum Anbau ihres eigenen Verstandes und dann zur Verbreitung der dadurch gewonnenen Aufklärung ermuntern“. Campe: Reise (wie Anm. 8), S. 28. 13 Wilhelm Ludwig Wekhrlin: Anselmus Rabiosus. Reise durch Oberdeutschland, hrsg. v. Jean Mondot, München 1988, S. 31. 14 Jeweils Forster: Ansichten vom Niederrhein (wie Anm. 3, S. 107), S. 53 und 56. 15 Schnabel-Schüle: Prozess (wie Anm. 78, S. 44), S. 756. 16 Vgl. Piereth: Aberglauben (wie Anm. 2, S. 107), S. 259–260. Volksfrömmigkeit ist insofern ein problematischer Begriff, da sich das Volk – genau wie die Elite – nicht eindeutig definieren lässt. Vgl. dazu Heribert Smolinsky: Volksfrömmigkeit als Thema der neueren Forschung. Beobachtungen und Aspekte, in: Heribert Smolinsky/Hansgeorg Molitor [Hrsg.]: Volksfrömmigkeit in der frühen Neuzeit, Münster 1994, S. 9–16. Ausführlich mit dem Verhältnis von Volks- und Elitefrömmigkeit im Fürstbistum Münster hat sich Werner Freitag bereits 1991 beschäftigt: Vom 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts habe die Elite „volksfromme Überzeugungen“ (Werner Freitag: Volks- und Elitenfrömmigkeit in der Frühen Neuzeit. Marienwallfahrten im Fürstbistum Münster, Paderborn 1991, S. 360) rezipiert. Unter dem Einfluss der Aufklärung hätten sich beide Gruppen dann stärker abgegrenzt, wobei es immer noch Annäherungen von beiden Seiten gab.
110 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an chung über die Frage: Warum ist der Wohlstand der protestantischen Länder so gar viel größer als der catholischen?: „Als ein gehorsamer Sohn der Kirche glaube ich nur was diese glaubt und verwerfe, was diese verwirft, ohne jemals zu untersuchen, aus was vor Gründen.“¹⁷ An diese vorgeblich demütige Bescheidenheit hielt er sich im Anschluss keineswegs. Stattdessen griff Ickstatt massiv die katholischen Institutionen und Glaubenspraktiken an, die hohe Kosten verursachen würden. Als Beispiele führt er die Vielzahl der Geistlichen, der üppig ausgeschmückten Kirchengebäude und Klöster – denen er insgesamt Schädlichkeit attestierte – sowie der Feiertage, Wallfahrten und Prozessionen an, die vom Arbeiten abhalten und zum Sittenverfall beitragen würden. Stets sei bei den Katholiken die „Dankbarkeit gegen Gott und die Heiligen […] mit Kosten verknüpft.“¹⁸ Darüber hinaus richtete sich seine Kritik auch gegen die vielen „besondern Andachtsübungen“¹⁹ der Katholiken, ihre Furcht vor dem Fegefeuer, gegen die kostspieligen Begräbniszeremonien, den Gespensterglauben und den Zölibat. Diesem Rundumschlag gegen den Katholizismus stellte er die Protestanten gegenüber: Diese brächten der Bildung mehr Wertschätzung entgegen, indem sie „ihre Leute denken, alles selbst erforschen und selbst [zu] beurtheilen“²⁰ lehrten. Generell seien sie arbeitsamer, weshalb sie größeren Wohlstand genössen. Auch auf katholischer Seite entwickelte sich folglich im 18. Jahrhundert eine neue Vorstellung davon, welchem allgemeinen Zweck Religion dienen sollte.²¹ Der katholische Schriftsteller und Aufklärer Johann Kaspar Riesbeck (1754–1786) sah ebenfalls die protestantischen Territorien wirtschaftlich besser aufgestellt, da es dort mehr Gewerbe als in den katholischen Ländern geben würde. Zwar machte er nicht allein die Konfession für diesen Unterschied verantwortlich, maß ihr allerdings großen Einfluss bei: „Die Feyertäge, das häufige Kirchengehn, das Wallfahrten, die Möncherey u.dgl.m. tragen viel, und noch viel mehr die übertriebenen Lehren von Verachtung zeitlicher Dinge, und von Erwartung eines wunderthätigen Unterhaltung von Gott, die Leichtigkeit, in Klöstern und der Kirche Versorgung zu finden, und die Eingeschränktheit der Begriffe, die man zum 17 [Johann Adam von Ickstatt]: Untersuchung über die Frage: Warum ist der Wohlstand der protestantischen Länder so gar viel größer als der catholischen?, veröffentlicht unter dem Pseudonym Christian Friedrich Menschenfreund, Salzburg 1772, S. 3. Ickstatt studierte Mathematik und Philosophie bei Christian Wolff in Marburg, der ihn stark beeinflusste. Als Staatsrechtler erlangte er auch von protestantischer Seite Anerkennung. Außerdem bemühte er sich um die Reform der Ingolstädter Universität, vgl. Ludwig Hammermayer: Ickstatt, Johann Adam Freiherr von, in: Neue Deutsche Biographie 10 (1974), S. 113–115. 18 Ickstatt: Untersuchung (wie Anm. 17), S. 22. 19 Ebd., S. 8. 20 Ebd., S. 8. 21 Vgl. Holzem: Christentum (wie Anm. 11, S. 4), S. 723.
3.1 Klöster und Mönchtum in der Diskussion |
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Behuf seines Glaubens bey einem Katholiken im Vergleich mit dem Protestanten voraussetzen muß, dazu bey.“²² Unisono attestierten Aufklärer gleich welcher Konfession den Katholiken mangelnde Bildung, Müßiggang und wirtschaftliche Rückständigkeit. Sowohl aus den Beispielen der protestantischen als auch der katholischen Autoren geht hervor, dass zudem die Kritik einerseits an kirchlichen Institutionen und ihren Vertretern festgemacht wurde. Die Priester galten als nicht ausreichend gebildet, aber vor allem die Klöster und Mönche schienen nicht mehr in die Zeit zu passen. Andererseits kritisierten die Aufklärer die religiöse Praxis, die mit ihren Prozessionen, Reliquien, Rosenkränzen usw. zu sehr auf Äußerlichkeiten abziele, nur mechanisches Beten statt innerlicher Anteilnahme befördere und noch tief im Aberglauben verhaftet sei. Die wichtigsten Reformfelder, die sich daraus ergaben – Klosterwesen, Theologie und Priesterschaft sowie die Bildung – wurden im 18. Jahrhundert auch innerhalb der geistlichen und weltlichen Elite des Erzbistums Trier teils kontrovers diskutiert. Anhand aussagekräftiger Beispiele werden die wichtigsten Standpunkte im Folgenden herausgearbeitet.
3.1 Klöster und Mönchtum in der Diskussion Im 18. Jahrhundert war die Landschaft des Alten Reichs vor allem im Süden und Westen nach wie vor durch eine hohe Zahl an Klöstern geprägt. Entsprechend vielfältig gestaltete sich das Ordenswesen: Es gab die alten Orden, die zwischen dem sechsten und zwölften Jahrhundert entstanden waren, wozu die kontemplativen Benediktiner- und Zisterzienserorden oder die meist in der Seelsorge tätigen Augustiner-Chorherren und Prämonstratenser zählten. Diese Orden verfügten über reiche Besitzungen, die sie seit dem Mittelalter sukzessive erworben hatten. Im 13. Jahrhundert gründeten sich wiederum mit Franziskanern und Dominikanern Bettel- bzw. Mendikantenorden, die sich anfangs strikter Armut verpflichteten, sodass die Mönche ihren Lebensunterhalt mit Betteln verdienen mussten. Bald begannen die Gemeinschaften jedoch den älteren Orden nachzueifern, „indem sie in etablierten Häusern lebten und Güter besaßen.“²³ Im Umfeld der Reformation
22 Johann Kaspar Riesbeck: Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland an seinen Bruder zu Paris. 2 Bde, [Zürich] 1784, S. 45. Riesbeck verschleiert seine Autorschaft, indem er vorgab, es handle sich um die Übersetzung französischer Briefe. Deren Autor sei ein „encyklopädische[r] Turgotist[…]“ (S. 8), weshalb der deutsche Leser ihm die möglicherweise zu scharfe Kritik nachsehen solle. 23 Derek Beales: Europäische Klöster im Zeitalter der Revolution: 1650–1815, Wien u.a. 2008, S. 23, wo sich auch eine ausführliche Darstellung der verschiedenen Orden findet, die teilweise durch
112 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an entstand schließlich eine Vielzahl weiterer, neuer Orden, darunter die Kapuziner, die sich 1526 vom Franziskanerorden abspalteten oder die Gesellschaft Jesu, die Ignatius von Loyola (1491–1556) 1534 gründete.²⁴ Zwar gelang den großen, reichsunmittelbaren Abteien mitunter noch die Vergrößerung ihrer Territorien, sodass in dieser Beziehung „die Klöster […] um 1780 mächtiger als zu Beginn des 18. Jahrhunderts“²⁵ waren. Allerdings sank bereits zu diesem Zeitpunkt die Zahl der Klöster sowie die ihrer Mitglieder.²⁶ Die Verbindung der Klöster zur umliegenden Bevölkerung war meist sehr eng: Zwar musste Letztere bei Bautätigkeiten oftmals die Hauptlast tragen, gleichzeitig sorgten die Klöster für Verdienstmöglichkeiten, brachten Arbeitsplätze und gewährten Kredite. Im Gegensatz zu den Bischöfen und Stiftsherren waren die Mönche – auch die Äbte – meist keine Adligen. Die Klöster boten den niederen Ständen damit nicht nur die Möglichkeit, nötigenfalls ihre Kinder in deren Obhut versorgt zu wissen, sondern prinzipiell auch die Chance zum sozialen Aufstieg. Da viele Pfarreien Klöstern inkorporiert waren, nahmen diese Einfluss auf die Seelsorge, die oftmals von Ordensgeistlichen wahrgenommen wurde. Dies sorgte allerdings für eine Verdrängung der Weltgeistlichen in Tätigkeitsfelder, „die wenig mit den seelsorgerischen Pflichten eines Gemeindepfarrers zu tun hatten.“²⁷ Zudem förderten die Klöster die Gründung oder Etablierung von Bruderschaften und waren nicht selten Träger der Wallfahrtskirchen, sodass auch auf dieser Ebene die Verbindung zum Volk eng war. Der Einfluss der Klöster machte sie natürlich auch angreifbar. So traten viele Mönche weniger wie demütige Diener Gottes auf, sondern kehrten gegenüber den Laien eine Herrenrolle hervor. Gerade die Äbte der Reichsabteien versuchten, selbst wenn sie bürgerlicher Herkunft waren, dem Bild eines Fürsten zu entsprechen und nicht dem eines Vorstehers einer Mönchsgemeinschaft. Genauso wenig ließen sich
Abspaltungen entstanden. Diese verstanden sich oft als Reformorden, worunter die Rückkehr zur strengen Auslegung der Ordensregeln gemeint war, die die alten Orden angeblich nicht mehr beherzigten, vgl. Hersche: Muße (wie Anm. 33, S. 11), S. 329. 24 In der Regel existierte bei den jeweiligen Orden sowohl ein männlicher als auch ein weiblicher Zweig. Da sich die Debatte im Trierer Erzstift aber im Wesentlichen nur um das Mönchtum drehte – auf das die aufgeklärte Kritik sowieso stärker abzielte (vgl. Hans-Wolf Jäger: Mönchskritik und Klostersatire in der deutschen Spätaufklärung, in: Klueting [Hrsg.]: Aufklärung (wie Anm. 81, S. 44), S. 192–207, hier S. 203) –, liegt der Fokus in dieser Arbeit auf den Männerklöstern und Mönchen. 25 Beales: Klöster (wie Anm. 23, S. 111), S. 82. Die Fürstabteien Fulda und Corvey wurden im 18. Jahrhundert sogar zu Bistümern erhoben, vgl. ebd., S. 64 und Hersche: Muße (wie Anm. 33, S. 11), S. 331. 26 Vgl. die Angaben bei ebd., S. 319. Da es keine verlässlichen Zahlen gibt, können die Einschätzungen der Forschung variieren. 27 Beales: Klöster (wie Anm. 23, S. 111), S. 84, vgl. vorher S. 83.
3.1 Klöster und Mönchtum in der Diskussion
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die prachtvolle Barockbauten mit dem mönchischen Armuts-Ideal in Einklang bringen.²⁸ Es verwundert darum kaum, dass die „publizistische[…] Kritik an Mönchtum und Klosterwesen“²⁹ innerhalb der katholischen Aufklärungsbewegung zu einem wichtigen Thema wurde, das vom Weltgeistlichen bis zum Regierungsbeamten viele Aufklärer umtrieb. Ziel der Angriffe waren vor allem die Bettel- und der Jesuitenorden, aber auch Klöster mit umfangreichem Grundbesitz. Die Kritik war vielfältig, überlagerte oder widersprach sich sogar: So wurde einerseits ein kontemplatives Leben als nicht mehr zeitgemäß empfunden, andererseits die Mönche beschuldigt, einen zu weltlichen Lebensstil zu pflegen, etwa weil sie sich der Aufklärung zuwandten. Zudem spielten ökonomische Argumente eine wichtige Rolle, die vor allem den Säkularisationsabsichten der Fürsten und hohen Verwaltungsbeamten entgegenkamen.³⁰ Die zum Teil polemischen Vorwürfe zielten nicht nur auf den internen Gebrauch in aufgeklärten Zirkeln ab, sondern sollten auch die ‚öffentliche Meinung‘³¹ im gewünschten Sinne beeinflussen. Diese Bemühungen waren nicht immer von Erfolg gekrönt: Trotz des durch die Aufklärer stark propagierten Antijesuitismus erfreuten sich beispielsweise die Jesuiten großer Beliebtheit in der Bevölkerung und ihre Volksmissionen erfuhren auf dem Land weiterhin hohen Zuspruch.³²
28 Vgl. Hersche: Muße (wie Anm. 33, S. 11), S. 331–332. 29 Klueting: Genius (wie Anm. 81, S. 44), S. 26. 30 Vgl. Weber: Aufklärung (wie Anm. 36, S. 11), S. 137–138; Hersche: Muße (wie Anm. 33, S. 11), S. 349–357; Beales: Klöster (wie Anm. 23, S. 111), S. 325–326. Als Besitz der Toten Hand waren die kirchlichen Güter unveräußerlich und darum dem ‚freien Markt‘ entzogen. 31 Der Begriff öffentliche Meinung kam im Deutschen ähnlich wie der Begriff Öffentlichkeit Ende des 18. Jahrhunderts auf und war eine Lehnübersetzung des englischen public opinion bzw. des französischen opinion public. Im Sinne der Aufklärer meinte der Begriff allerdings nicht die ungefilterte Meinung des ganzen Volkes. Vielmehr beruhte für sie die öffentliche Meinung auf der Übereinstimmung eines großen Teils der Bevölkerung, die sich unter dem Gesichtspunkt rationaler Analyse ein Urteil über ein bestimmtes Problem gebildet hatte. Vgl. Gestrich: Absolutismus (wie Anm. 157, S. 63), S. 11, 241, Anm. 3. Zur Öffentlichkeit siehe Kapitel 2.2, Anm. 157. – Unter dem Eindruck einer Politisierung der Aufklärung seit den 1770er Jahren ging es den Aufklärern – insbesondere im Zusammenhang mit dem Pressewesen – immer stärker darum, nicht nur Informationen zu vermitteln, sondern über ihre Kritik und ihre Reformvorschläge eine öffentliche Meinung zu bilden. Da die gebildeten Aufklärer, die die öffentliche Meinung herstellten, oft in staatlichen Diensten standen, ging es ihnen weniger um Opposition zum Fürsten, sondern um das Verbreiten ihrer Reformvorschläge. Vgl. Bödeker: Zeitschriften und politische Öffentlichkeit. Zur Politisierung der deutschen Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 114, S. 53), S. 217, 223, 228–229. 32 Vgl. Weber: Aufklärung (wie Anm. 36, S. 11), S. 157; Schnabel-Schüle: Kirche und Konfession (wie Anm. 20, S. 7), S. 749–750.
114 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Der Antijesuitismus, der etwa seit den 1740er Jahren auch in den katholischen Territorien verbreitet war, war stark durch den Jansenismus geprägt. Die jeweiligen theologischen Lehren von Jesuiten und Jansenisten standen sich diametral gegenüber, was eine erbitterte Feindschaft beförderte. Zwar war der Jansenismus auf Drängen der Jesuiten und des französischen Königs Ludwig XIV. durch die päpstliche Bulle Unigentius im Jahr 1713 verboten worden. Doch seine Lehre fand aufgrund der Anknüpfungspunkte zur Aufklärung weiterhin Anhänger und blieb vor allem in Frankreich einflussreich.³³ Ausschlaggebend für das päpstliche Verbot der Gesellschaft Jesu waren jedoch nicht einzelne jansenistisch geprägte Aufklärer, sondern die beharrliche Agitation der bourbonischen Höfe. Ihr Aufstieg wurde den Jesuiten gleichsam zum Verhängnis: Sie dominierten nicht nur das Bildungswesen, sondern nahmen an vielen europäischen Höfen wichtige Positionen als Berater oder Beichtväter ein und waren überdies in den überseeischen Kolonien engagiert. Papst Clemens XIV. (1705–1774) beugte sich schließlich dem Druck der europäischen Mächte und löste den Orden am 21. Juli 1773 mit dem Breve Dominus ac Redemptor noster auf.³⁴ Die katholischen Aufklärer im Alten Reich werteten diese „spektakuläre römische Entscheidung“³⁵ als Erfolg für die Aufklärung. Begrüßt wurde das Verbot allerdings genauso von anderen Orden, die aus Gründen der Rivalität den Vorgang unterstützten. Obwohl die Jesuiten im Reich weniger in politische Entscheidungen
33 Vgl. Beales: Klöster (wie Anm. 23, S. 111), S. 37–39; Müller: Die Aufklärung (wie Anm. 39, S. 12), S. 84. Zum Jansenismus siehe Kapitel 2.2. Die Verbindung zwischen Aufklärung und Jansenismus wirkte sich noch auf die konstitutionelle Kirche der Revolution aus; mit Abschluss des Konkordats 1801 verlor der Jansenismus aber an Gewicht. Anders als in Österreich, wo er anfangs „eine wichtige Stütze des Aufgeklärten Absolutismus“ (Palaver: Jansenismus (wie Anm. 85, S. 45), S. 321) war, stand er in Frankreich in Opposition zur Regierung. Die Gemeinsamkeiten von Aufklärung und Jansenismus, die sich vor allem auch in Österreich (siehe Kapitel 2.2, Anm. 85) zeigten, konnten letztlich die Widersprüche zwischen beiden Bewegungen nicht überdecken. Gingen die Aufklärer z. B. von einem positiven Menschenbild aus, war das der Jansenisten negativ, da sie ausgehend von Augustinus die menschliche Sündhaftigkeit betonten. 34 Schon zuvor wurden die Jesuiten in Portugal 1759 vertrieben, in Frankreich erfolgte die Schließung der Ordenshäuser 1764 und in Spanien 1767. Der preußische König Friedrich II. und die russische Zarin Katharina II. (1729–1796) widersetzten sich der allgemeinen Aufhebung; der Orden blieb dort vorerst erhalten. Vgl. Winfried Müller: Der Jesuitenorden und die Aufklärung im süddeutsch-österreichischen Raum, in: Klueting [Hrsg.]: Aufklärung (wie Anm. 81, S. 44), S. 225– 245, hier S. 225–227; Rita Haub: „Ich habe euch nie gekannt, weicht alle von mir…“. Die päpstliche Aufhebung des Jesuitenordens 1773, in: Hans Ulrich Rudolf [Hrsg.]: Alte Klöster – Neue Herren. Die Säkularisation im deutschen Südwesten 1803. Erster Teil: Vorgeschichte und Verlauf der Säkularisation, Ostfildern 2003, S. 77–88. 35 Hersche: Muße (wie Anm. 33, S. 11), S. 964. Selbstverständlich sorgte die Entscheidung auch auf protestantischer Seite für Genugtuung, schließlich griff diese die Jesuiten ebenfalls heftig an.
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eingebunden waren, verfingen die Verschwörungstheorien, die die bourbonischen Höfe von Beginn an kolportierten. Die straffe Hierarchie des Ordens – die freilich auch bei Geheimbünden existierte –, seine weltweite Verbreitung und der unbedingte Gehorsam gegenüber dem Papst begünstigten die Legendenbildung.³⁶ Auch stand diese Struktur sowohl den episkopalistischen Tendenzen der kirchlichen Elite als auch den staatskirchlichen der weltlichen Obrigkeiten entgegen. Allerdings entzündete sich die Kritik im Alten Reich vor allem an der jesuitischen Dominanz im Bildungsbereich. War die Ausrichtung an der Ratio studiorium³⁷ von 1599 zum Zeitpunkt ihrer Einführung noch fortschrittlich, erschwerte sie bis zur Ordensaufhebung 1773 eine zeitgemäßere Unterrichtsgestaltung. Aus Sicht aufgeklärter Pädagogen betraf dies das Festhalten am alten Fächerkanon, was die Etablierung neuer Unterrichtsfächer wie (Natur-)Geschichte oder Experimentalphysik verhinderte, das sture Auswendiglernen sowie der geringe Stellenwert des Deutschen im Unterricht. Gleiches galt für die Universitäten. Gerade im Fall der Theologie „wurde das Übergewicht von Scholastik und Kasuistik gegenüber Bibelwissenschaften, Patristik, Kirchengeschichte und Pastoraltheologie angekreidet.“³⁸ Spätestens nach dem Verbot 1773 glaubten die Aufklärer nun den Weg für Reformen frei.³⁹ Die „expressive Gefühlsfrömmigkeit“ und die „überbordende[n] Visualisierungsstrategien“⁴⁰, derer sich die Jesuiten in der Seelsorge bedienten, lehnten die katholischen Aufklärer ab. Am Beispiel der figurierten Karfreitagsprozession konnte bereits gezeigt werden, dass derartige Schauprozessionen, die als Reaktion auf die Reformation geschaffen worden waren, von weltlicher und geistlicher Elite im 18. Jahrhundert zunehmend abgelehnt wurden. Die Verteilung von Bildern 36 Den Jesuiten wurde prinzipielle Illoyalität gegenüber den Fürsten unterstellt, Geldgier, Giftmorde sowie Zustimmung zum Tyrannenmord. Vgl. Holzem: Christentum (wie Anm. 11, S. 4), S. 785–787; Beales: Klöster (wie Anm. 23, S. 111), S. 159–160. Auch nach dem Verbot hielten sich weiter Gerüchte, die Jesuiten schmiedeten ein Komplott gegen die Aufklärung und agierten nun im Verborgenen, vgl. ebd., S. 793. 37 Dabei handelte es sich weniger um ein pädagogisches Konzept, sondern vielmehr um „detailreiche Anweisungen zur Struktur des Lehr- und Lernsystems, zum Lehrplan und zu den Aufgaben des Lehrers.“ Schnabel-Schüle: Kirche und Konfession (wie Anm. 20, S. 7), S. 750. 38 Hersche: Muße (wie Anm. 33, S. 11), S. 207. Die Patristik beschäftigt sich mit der Zeit der Kirchenväter. 39 Sowohl die geistlichen als auch die weltlichen Fürsten setzten das Aufhebungsbreve nur sehr zögerlich um. Im Trierer Erzstift durften sie beispielsweise als Weltgeistliche weiterhin in der Seelsorge oder in der universitären Lehre tätig sein. Grund dieser Verzögerung war meist, dass nicht ohne Weiteres qualifizierte Lehrer als Ersatz für die Jesuiten gefunden werden konnten. Vgl. Michael Trauth: Die Universität Trier im Zeitalter der Aufklärung, in: Franz [Hrsg.]: Aufklärung (wie Anm. 46, S. 13), S. 37–63, hier S. 54; Müller: Jesuitenorden (wie Anm. 34), S. 241–242. 40 Jeweils Holzem: Christentum (wie Anm. 11, S. 4), S. 785.
116 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an der jesuitischen Hauptheiligen⁴¹ oder Wasser, das ihnen geweiht war und gegen allerlei Krankheiten oder andere Übel helfen sollte, bestärkte die Aufklärer zusätzlich in der Annahme, all dies diene nur der Beförderung des Aberglaubens und der Bereicherung des Ordens. Allerdings beschränkte sich diese Förderung einer ‚volksnahen‘ Religiosität keineswegs nur auf die Jesuiten, sondern gehörte ebenso zum Repertoire der übrigen Orden, allen voran der Bettelorden. Sie alle konkurrierten um die Gunst der Gläubigen.⁴² Dass die übrigen Orden das Verbot des Jesuitenordens begrüßten, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie gleichermaßen von der aufgeklärten Kritik betroffen waren. Die sich seit den 1740er Jahren hinziehende Diskussion um die Jesuiten zog unweigerlich auch eine kritische Bewertung der übrigen Orden nach sich. Aus der Rückschau mag darum ihre Annahme, bei der Aufhebung handle es sich um eine „einmalige Aktion“⁴³, naiv erscheinen. Zwar standen nicht alle aufgeklärten Katholiken generell dem Mönchtum feindlich gegenüber, trotzdem kulminierte im Vorgehen gegen die Gesellschaft Jesu die Hoffnung, dies sei nur ein erster Schritt hin zu einer allgemeineren Lösung. Sie behielten insofern Recht, dass in den 1780er Jahren auch katholische Herrscher wie der Mainzer Kurfürst oder Kaiser Joseph II. Klöster säkularisierten.⁴⁴
3.1.1 Die Briefe über das Mönchswesen Abgesehen von diesen hauptsächlich ökonomisch motivierten Säkularisationen, die außerhalb Österreichs nur vereinzelt erfolgten, spielte sich die Kritik am Mönchs- und Klosterwesen vorwiegend literarisch ab. Diese ‚Literaturgattung‘ erreichte im deutschsprachigen Raum ab den 1770er Jahren ihren Höhepunkt. Vorwiegend handelte es sich dabei um belletristische Werke, aber auch um sachliterarische Beiträge oder Übersetzungen französischer Autoren, die sich schon seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit religiösen ‚Enthüllungsromanen‘ hervortaten.⁴⁵ Auch im Erzbistum Trier fand die Debatte um das Mönchswesen lite41 Der Jesuiten-Gründer Ignatius von Loyola wurde 1622 heiliggesprochen. Der ebenfalls 1622 heiliggesprochene Franz Xaver (oder Francisco de Xavier, 1506–1552) war Mitbegründer des Ordens und dessen erster Missionar. 42 Vgl. Hersche: Muße (wie Anm. 33, S. 11), S. 209, 344–345. 43 Beales: Klöster (wie Anm. 23, S. 111), S. 181. 44 Friedrich Karl Joseph von Erthal (1719–1802) hob zugunsten des Universitätsfonds Klöster in Mainz auf und Joseph II. löste im Zuge seiner Kirchenreform nach offiziellen Zahlen etwa 700 Klöster auf, deren Erträge in einen Religionsfonds zur Verbesserung des Pfarrnetzes flossen. Vgl. Weber: Aufklärung (wie Anm. 36, S. 11), S. 357 f.; Beales: Klöster (wie Anm. 23, S. 111), S. 211–213. 45 Vgl. Jäger: Mönchskritik (wie Anm. 24, S. 112), S. 192.
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rarischen Niederschlag: Georg Michael Frank von La Roche, der 1771 als Geheimer Rat an den kurfürstlichen Hof in Trier berufen wurde, veröffentlichte im selben Jahr anonym seine Briefe über das Mönchswesen von einem catholischen Pfarrer an einen Freund.⁴⁶ In diesen übte er in aufgeklärter Manier Kritik an (Bettel-)Mönchen sowie an bestimmten Praktiken und Ritualen der katholischen Kirche. La Roche war nach eigenem Bekunden der Adoptivsohn des Kurmainzer Großhofmeisters Anton Heinrich Graf von Stadion.⁴⁷ Stadion zählte zu den führenden Vertretern der katholischen Aufklärung, war Jansenist, unterstützte den Episkopalismus, verachtete die Jesuiten und war tendenziell antiklerikal eingestellt. Geprägt hatten ihn sowohl der englische Empirismus als auch die französische Aufklärung, hier vor allem die Autoren im Umfeld der Encyclopédie sowie Montesquieu. Mit Voltaire, den er verehrte, war er befreundet.⁴⁸ Vor diesem Hintergrund erfuhr La Roche eine fundierte Ausbildung, wobei über seine Jugend wenig bekannt ist. Er unterstützte Stadion als dessen Sekretär und begleitete ihn auf mehrere diplomatische Reisen. Vermutlich studierte La Roche in Nancy, Lunéville und an der aufgeklärten Reformuniversität in Halle Rechtswissenschaft, Kameralistik und Physik. Auf einer Reise in die Schweiz lernte er ebenfalls Voltaire kennen und einige Jahre später den Schweizer Aufklärer Isaak Iselin (1728–1782), der sich unter anderem mit pädagogischen Fragen auseinandersetzte und mit seinen Philosophischen Mutmaßungen über die Geschichte der Menschheit (1764) zu den Begründern der Geschichtsphilosophie zählt.⁴⁹ Aufgrund seiner Erziehung wurde La Roche zweifellos stark durch die europäische Aufklärung geprägt. Die 1753 erfolgte Heirat mit der Protestantin Sophie Gutermann von Gutershofen⁵⁰ band ihn noch stärker in den Kreis deutschspra46 Georg Michael Frank von La Roche: Briefe über das Mönchswesen. Von einem katholischen Pfarrer an einen Freund, 3. Aufl., [Zürich] 1780. 47 La Roches Herkunft ist nicht mehr genau zu klären. Als Vater gilt der Senator, Chirurg und kurmainzische Rentmeister Johannes Adam Franck (1657–1720). Da er von Kind an in Stadions Haushalt lebte, der ihm auch den Namen La Roche gab, galt er schon den Zeitgenossen als illegitimer Sohn Stadions. La Roche selbst bestritt dies, vgl. die Ausführungen bei Embach: Frank La Roche (wie Anm. 33, S. 33), S. 45–46. 48 Vgl. Weber: Aufklärung (wie Anm. 36, S. 11), S. 36 und Embach: Frank La Roche (wie Anm. 33, S. 33), S. 47. 49 Vgl. ebd., S. 46–47, 52. Zu Iselin vgl. Ulrich Im Hof: Iselin, Isaak, in: Neue Deutsche Biographie 10 (1974), S. 188–189. Den Begriff Geschichtsphilosophie, der die „systematische Theorie vom Wesen und Verlauf der Geschichte“ (Werner Schneiders: Geschichtsphilosophie, in: ders. [Hrsg.]: Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, München 2001, S. 149–151, hier S. 149) meint, prägte Voltaire. 50 Die La Roches hatten insgesamt acht Kinder, von denen fünf das Erwachsenenalter erreichten. Die Tochter Maximiliane (1756–1793) war die Mutter der Schriftstellerin Bettina von Arnim (1785–1859) und des Schriftstellers Clemens Brentano (1778–1842).
118 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an chiger Aufklärer ein. So war Sophie von La Roche eine Kusine Wielands, der den La Roches freundschaftlich verbunden war und neben Johann Wolfgang Goethe (1749–1832), Basedow und Johann Caspar Lavater (1741–1801) zu den Besuchern des literarischen Salons in Koblenz-Ehrenbreitstein zählte. Wieland veröffentlichte Sophie von La Roches ersten Roman, Geschichte des Fräuleins von Sternheim, der ebenfalls 1771 anonym erschien. Anteil an den Veröffentlichungen der La Roches hatte der protestantische Geistliche und Schriftsteller Johann Jakob Brechter (1734–1772), der Diakon in Schwaigern war und sich einige Zeit bei der Familie aufhielt.⁵¹ Außerdem vermittelten entweder er oder Wieland La Roche an den Züricher Verlag Orell, Geßner, Füssli & Cie., der als Verleger der Mönchsbriefe angenommen wird.⁵² Bevor La Roche in kurtrierische Dienste trat, stand er in denen des Mainzer Kurfürsten und verwaltete die Besitzungen des Grafen von Stadion. Wahrscheinlich gelangte er auf Empfehlung des trierischen Staats- und Konferenzministers, Franz Eustach von Hornstein (1729–1805)⁵³, nach Trier. Hier stieg er schnell zum Regierungskanzler (1774) auf und übernahm häufig diplomatische Aufträge für den Kurfürsten. Zudem bemühte er sich um die Verbesserung des Schul- und Bildungs51 Brechter wird darum mitunter als Mit-Autor der Mönchsbriefe angegeben. Vgl. Embach: Frank La Roche (wie Anm. 33, S. 33), S. 52–53. In seinen eigenen beiden Werken setzte er sich kritisch mit der Pädagogik Rousseaus und Basedows auseinander. Die Briefe über den Emil des Herrn Rousseau (1773) und Anmerkungen über das Basedowische Elementarwerk (1772) erschienen allerdings erst nach seinem Tod. Eine zeitgenössische Kurzbiographie findet sich bei: Johann Jakob Brechter, in: Philipp Wilhelm Gottlieb Hausleukner [Hrsg.]: Schwäbisches Archiv, Bd. 1, Stuttgart 1790, S. 425–440. 52 Der Verlag geht u. a. auf den Schweizer Philologen Johann Jakob Bodmer (1698–1783) zurück, der neben Miltons Paradise Lost zahlreiche englische Werke ins Deutsche übersetzte. Verlegt wurden Schriften aufgeklärter Schweizer Protestanten, aber auch viele Emigranten aus den Reichsterritorien fanden beim Verlag ein literarisches Auskommen. Zu ihnen zählten Johann Kaspar Riesbeck sowie der aus einem Benediktinerkloster geflohene Peter Adolph Winkopp (1759–1813) und der ehemalige Novize Johann Pezzl (1756–1823), die in ihren Schriften scharf das Klosterwesen kritisierten. Vgl. Thomas Bürger: Aufklärung in Zürich. Die Verlagsbuchhandlung Orell, Gessner, Füssli & Comp. in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Mit einer Bibliographie der Verlagswerke 1761–1798, Frankfurt a. M. 1997, S. 66–91, der Brechter als La Roches Vermittler an den Verlag angibt. Embach: Frank La Roche (wie Anm. 33, S. 33), S. 58 geht hingegen von Wieland aus. 53 1752 hielt sich Hornstein zu Studienzwecken kurzzeitig am Augustinerchorherrenstift in Polling auf und erhielt noch im selben Jahr ein in Augsburg freigewordenes Kanonikat. Ebenfalls war er Mitglied des Freisinger Domkapitels, wurde dort zum wirklichen geistlichen Regierungsrat und schließlich zum Generalvikar ernannt. Ab 1770 war er als kurtrierischer Konferenzminister u. a. für das Finanzwesen zuständig. Infolge der anhaltenden finanziellen Probleme des Kurstaates wurde Hornstein 1775 aus diesem Amt entlassen, vgl. ausführlicher Heribert Raab: Der Augsburger Domdekan und Kurtrierische Konferenzminister Franz Eustach von Hornstein, in: Historisches Jahrbuch 83 (1964), S. 113–134, hier S. 118–122.
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wesens.⁵⁴ Zusammen mit den Ministern Hornstein und Christoph Philipp Willibald von Hohenfeld (1743–1822)⁵⁵ dominierte er bis zu seiner Abberufung die Politik des Kurfürstentums. Hohenfeld, der durch die Aufklärung geprägt war, bekleidete mehrere Domkanonikate sowie das Amt des Generalvikars von Speyer und war unter dem Ordensnamen ‚Newton‘ Mitglied der Illuminaten. Ambivalenter gestaltete sich die Rolle Hornsteins, auf dessen Betreiben einerseits die Berufung La Roches erfolgte, andererseits aber auch die Franz Heinrich Becks⁵⁶ zum Beichtvater des Erzbischofs Anfang der 1770er Jahre. Beck vertrat einen orthodoxen Katholizismus und war aktiv daran beteiligt, Johann Nikolaus von Hontheim zum Widerruf seines Febronius zu bewegen. Auch bei der Entlassung La Roches spielte Beck eine Rolle, denn er versuchte die orthodoxen Kreise am kurfürstlichen Hof zu stärken und abweichende, aufgeklärte Meinungen zu verdrängen.⁵⁷ Zwar war der erste, von La Roche stammende Band der Mönchsbriefe, ohne Angabe des Verfassers und des Druckortes 1771 erschienen, sehr bald wurde er jedoch als Autor gehandelt. Daraus ergaben sich zunächst keine Probleme für ihn. Sein Sturz hatte folglich mehrere Gründe; die Mönchsbriefe trugen nur dazu bei. Die Beziehung La Roches zum Kurfürsten hatte sich über den Bau des neuen Schlosses in Koblenz verschlechtert. Die Bevölkerung lehnte das Vorhaben großteils ab und 54 Siehe dazu Kapitel 3.3. 55 Hohenfeld absolvierte ein zweijähriges juristisches Studium in Rom und Salzburg. Die Universität Salzburg war stark durch die Aufklärung geprägt, vor allem durch die Methodik Christian Wolffs. Im Anschluss unternahm er mehrere Reisen; 1770 erfolgte der Eintritt ins Speyrer Domkapitel. Er war u. a. bekannt mit Goethe und Lavater, der ihn für einen Deisten hielt und beschäftigte sich nachweislich mit der (empiristischen) Philosophie David Humes (1711–1776). In Kurtrier trat er 1775 Hornsteins Nachfolge als Konferenzminister an. Nach dem Sturz La Roches zog er sich ebenfalls zurück und ließ die Familie in seiner Speyrer Domkurie wohnen, vgl. Hartmut Harthausen: Der Speyrer Domherr Christoph Philipp Willibald von Hohenfeld (1743–1822), in: Haag/Vorderstemann [Hrsg.]: Stube (wie Anm. 33, S. 33), S. 65–84, 232–236. 56 Siehe zu Beck auch Kapitel 2.2. Beck hatte das Jesuitenkolleg in Straßburg besucht und wurde nach dem französischen Verbot des Ordens 1765 Professor für Philosophie und Direktor des Kollegs in Molsheim bei Straßburg, vgl. Lees: Clemens Wenzeslaus (wie Anm. 190, S. 71), S. 139. Beck war befreundet mit Nicolas Maillot de la Treille (1725–1794), Hofkaplan und Bibliothekar des pfälzischen Kurfürsten Karl Theodor (1724–1799). Maillot de la Treille zählte zu den Gegnern des Febronianismus und unterstützte eine starke päpstliche Stellung, vgl. Peter Fuchs: Maillot de la Treille, Nicolas, in: Neue Deutsche Biographie 15 (1987), S. 708–709. 57 Vgl. Embach: Frank La Roche (wie Anm. 33, S. 33), S. 47–56. Zunächst konnte Beck Erfolge verzeichnen: Hontheim wurde 1778 zum Widerruf gezwungen, bereits 1777 erfolgte die Ernennung des orthodoxen d’Herbain zum Koadjutor-Weihbischof und schließlich wurde La Roche entlassen. Dessen Nachfolger Ferdinand von Duminique (1742–1803) stand allerdings bis zur Revolution selbst der Aufklärung nahe und bewirkte darum 1782 Becks Absetzung. Vgl. dazu sowie zum langwierigen Hin und Her um den Widerruf und den späteren ‚Widerruf des Widerrufs‘: Lees: Clemens Wenzeslaus (wie Anm. 190, S. 71), S. 142–149, 157–158.
120 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an die Landstände weigerten sich, eine zusätzliche Abgabe zu entrichten. La Roche teilte die Kritik. Hinzu kam, dass sowohl er als auch Hohenfeld eine frankreichfreundliche Politik verfolgten, was die kaiserlichen Vertreter am Ehrenbreitsteiner Hof nicht guthießen. Als dann der päpstliche Nuntius Carlo Bellisomi (1736–1808) gemeinsam mit dem Trierer Domkapitel La Roches Entlassung forderte, war dieser nicht mehr zu halten. Dass sich das Domkapitel gegen La Roche stellte, obwohl aufgeklärte Kapitulare darin vertreten waren, dürfte an seiner entschiedenen Ablehnung des Mitregierungsanspruchs des Kapitels gelegen haben. Als Ortsfremder verfügte La Roche im Kurfürstentum zudem über kein Netzwerk, das ihn hätte unterstützen können.⁵⁸ Clemens Wenzeslaus entließ seinen Minister im September 1780, der sich daraufhin ins Privatleben zurückzog.⁵⁹ Dass die Mönchsbriefe oftmals – auch von Zeitgenossen – als einzige Ursache für die Entlassung gesehen wurden, hing vermutlich mit der zeitgleich erscheinenden Fortsetzung des Werkes zusammen. Dieser, weitaus schärfer formulierte zweite Band war von Riesbeck 1780 anonym veröffentlicht worden, wurde aber fälschlicherweise La Roche zugeschrieben.⁶⁰ So vermutete auch Beck in einem Brief an den päpstlichen Nuntius am Wiener Hof, Giuseppe Garampi (1725–1792), La Roche sei der Verfasser des zweiten Bandes. Er klagte, der Autor würde sich in beiden Bänden amüsieren „de tout ce que notre Sainte Eglise croit et pratique. Non seulement les ordres religieux, mais encore la primauté de jurisdiction du S. Siège, la confession auriculaire, le célibat des prètres, le purgatoire, la prière pour les morts, les indulgences etc fournissent riche matière à ses sarcasmes.“ – Kurzum, das Buch sei zweifellos „un livre diabolique.“⁶¹ Allerdings wird in der Vorrede des zweiten Bandes gleich zu Anfang darauf aufmerksam gemacht, es handle sich
58 Vgl. Embach: Frank La Roche (wie Anm. 33, S. 33), S. 54–55, 57–59. Siehe zur Rolle des Domkapitels Kapitel 2.1. 59 Der Erzbischof agierte sowohl im Falle La Roches als auch bei Hontheim ähnlich: Obwohl beider Autorschaft früh vermutet worden war, stellte dies zunächst kein Problem für Clemens Wenzeslaus dar. Erst nach Intervention weiterer Akteure wurden die aufklärerischen Werke gegen ihre Verfasser verwandt. Inwiefern dieses Agieren für eine ambivalente Haltung des Erzbischofs gegenüber der katholischen Aufklärung spricht oder ob rein machtpolitische Gründe überwogen, bleibt dahingestellt. 60 La Roche selbst zeigte den anonymen Verfasser bei der kaiserlichen Bücherkommission in Frankfurt an. Deren erster protestantischer Zensor, Johann Conrad Deinet (1735–1797), beschlagnahmte einige Exemplare und sicherte die Ermittlung des Autors zu, vgl. Bürger: Aufklärung (wie Anm. 52, S. 118), S. 85 f. 61 Jeweils Leo Just [Hrsg.]: Der Widerruf des Febronius in der Korrespondenz des Abbé Franz Heinrich Beck mit dem Wiener Nuntius Giuseppe Garampi, Wiesbaden 1960, S. 110. Beck an Garampi, Koblenz, 14. Juli 1780. Maillot de la Treille war ebenfalls mit Garampi befreundet, vgl. Raab: Domdekan (wie Anm. 53, S. 118), S. 125.
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nicht um denselben Herausgeber.⁶² Möglicherweise fassten Beck und andere dies wegen der thematischen Ähnlichkeit – die Beck ja ebenfalls bemerkt – nur als Schutzbehauptung auf, mit der La Roche lediglich seine ‚wahre‘ Autorschaft hätte verschleiern wollen. Nichtsdestotrotz nennt der Beichtvater in seinem Brief wesentliche Themen, die in den Mönchsbriefen angesprochen werden: In der Hauptsache geht es um eine scharfe Auseinandersetzung mit den religiösen Orden, wobei gleichzeitig Themen wie die Beichte oder der Zölibat nicht ausgespart werden.⁶³ Eindeutig diente die Vorrede dem Zweck der Verschleierung: Der Verfasser gibt vor, lediglich der Herausgeber der folgenden 13 Briefe zu sein. Diese seien zudem gar nicht an ihn gerichtet gewesen, sondern durch einen Zufall in sein Haus gelangt. Seine neu eingestellte Köchin, die zuvor für einen Pfarrer arbeitete, habe die Briefe als Packpapier verwendet. Sogleich habe er erkannt, „daß es ein Briefwechsel zweyer Geistlichen in Religionssachen seye“ und diesen mit Interesse zu lesen begonnen, denn: Was kann natürlicher seyn, als daß ein Laie, wenn er von Priestern solche Materien abgehandelt findet, die einen unmittelbaren Einfluß in die Religion haben, und der gegenwärtigen Denkungsart der Grossen angemessen sind, seine Begierde nicht mehr zurückhalten kann, alles zu wissen, was Männer, die es besser verstehen müssen, davon urtheilen?⁶⁴
Der vermeintliche Herausgeber versucht sich auf zweierlei Weise vom Inhalt der Briefe zu distanzieren. Einerseits würden sie nur die Meinung zweier Priester wiedergeben, deren vertraulichen Ton und klare Sprache er beibehalten habe. Auch wenn manchem dies missfalle, wüsste der „Vernünftige“⁶⁵ es gegebenenfalls zu schätzen. Andererseits bezeichnet er sich selbst als Laie und gibt vor, gänzlich unwissend über die behandelten ‚Materien‘ zu sein. Zugleich unterläuft er jedoch diese Distanzierung, indem er sowohl sich als auch den Lesern ein berechtigtes, gleichsam natürliches Interesse an Themen bescheinigt, die ‚unmittelbaren Einfluss‘ auf die eigene Religion haben. Folglich ist er davon überzeugt, dass sich außerhalb gelehrter Zirkel auch Laien mit religiösen bzw. theologischen Fragen auseinandersetzen können und dürfen. Dass die Mönchsbriefe ganz auf dem Höhepunkt
62 Vgl. [Johann Kaspar Riesbeck]: Briefe über das Mönchswesen von einem katholischen Pfarrer an einen Freund. Zweytes Bändchen, [Frankfurt] 1780, S. III. Ausführlich werden in der Vorrede die Unterschiede beider Bände erläutert. La Roches erstem Band folgten drei weitere von Riesbeck. Auf die Aussagen in der Vorrede weist auch hin: Harthausen: Domherr (wie Anm. 55, S. 119), S. 234, Anm. 51. 63 Sie werden darum in die nachfolgende Werkanalyse einbezogen, da ansonsten La Roches Argumentation und Kritik am Mönchswesen nicht verständlich würde. 64 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 16. 65 Ebd., S. 13.
122 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an der Zeit sind, da sie der ‚gegenwärtigen Denkungsart der Grossen‘ entsprechen, verortet sie klar im Diskurs der Aufklärung. Ebenso entsprach ihre Gestaltung als Briefroman einem beliebten Stilmittel aufklärerischer Literatur. Diese Form ermöglichte eine subjektive, auf das Innerliche konzentrierte Betrachtungsweise, die den Leser als eigentlichen Adressaten, etwa über die Verwendung des Personalpronomens ‚Du‘, immer wieder in die Darstellung mit einbezog.⁶⁶ In den Mönchsbriefen schildert der Briefschreiber – ein junger Pfarrer, der seine erste Stelle angetreten hat – seinem Freund die Gespräche, die er mit dem ehemaligen Hofmeister Gutmann über das Mönchswesen und die Verfasstheit des Katholizismus insgesamt führt. Gutmann ist ein gebildeter Mann, dessen aufgeklärte Kritik auch den Pfarrer an bislang Nichthinterfragtem zweifeln lässt. Die Briefform ermöglicht das innere Ringen des Erzählers, wem er Glauben schenken soll – dem weisen alten Hofmeister oder seinen tumben Vorgesetzten und Lehrern –, nachvollziehbar darzustellen. Die Gestaltung als Roman erleichtert so den Lesern insgesamt den Zugang zum Thema.⁶⁷ Die Stoßrichtung seines Werkes macht La Roche von Anfang an durch den Untertitel deutlich: So handelt es sich um „Briefe über das Mönchswesen von einem catholischen Pfarrer. Worinn aus der Kirchengeschichte, den Kirchenversammlungen, den besten cathol. Schriftstellern und eigener Erfahrung dargethan wird: Daß Unwissenheit und Aberglaube ihren Ursprung allein den Mönchen zu verdanken haben.“ Das Mönchtum gilt demnach als hauptsächlicher Hinderungsgrund für die Durchsetzung von Aufklärung. Ziel der ‚literarischen Untersuchung‘ ist es, die Plausibilität dieser Ausgangsthese zu belegen, wozu nicht nur die eigene Erfahrung herangezogen wird. Vielmehr dient die kirchliche Tradition und Geschichte selbst als Beleg. Damit wird der Anspruch erhoben, objektiv den mönchischen Ursprung von Aberglaube und Unwissenheit herzuleiten. Der Gemeinplatz der aufgeklärten Klosterkritik soll folglich nicht zum wiederholten Male aus einer rein subjektiven und daher nicht zu verallgemeinernden Perspektive dargelegt werden. Nur durch die historische Beweisführung kann die Behauptung, die Mönche unterminierten die Verbreitung von Wissen, für jeden scheinbar unzweifelhaft belegt werden. Zu-
66 Die Mönchsbriefe zählen damit zu den ersten Briefromanen, die im deutschsprachigen Raum ab den 1770er Jahren entstanden. Sophie von La Roches Fräulein von Sternheim ist ebenfalls in dieser Weise gestaltet, wobei hier die Geschehnisse sowohl durch die Briefe der weiblichen Hauptfigur als auch durch die anderer Personen wiedergegeben werden. Vgl. D’Aprile/Siebers: 18. Jahrhundert (wie Anm. 115, S. 53), S. 178–179. 67 Dass die Mönchsbriefe bewusst in dieser Form gestaltet sind, um ein größeres Publikum anzusprechen und eine höhere Reichweite zu erzielen, legt die Formulierung nahe: „Einer guten Aufnahme können sie sich also schon versichert halten, denn sie sind nach der Mode gekleidet.“ La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 6.
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gleich stellt La Roche sein Werk der jeweils eigenen Beurteilung des Lesers anheim, was auf das aufgeklärte Grundverständnis, jeder sei zum Selbstdenken befähigt, verweist.⁶⁸ Diese Fähigkeit spricht er den Mönchen jedoch ab, denn vor allem die Bettelmönche, die „fette[n] Ordensbrüder“, seien „zu sehr in die Ruhe verliebt“, als dass sie mit den Briefen, „die sie zu denkenden Wesen machen könnten, Umgang pflegen sollten.“⁶⁹ Gerade die „gezüchtigte[n]“ Religiosen könnten sich folglich ruhig „schmeicheln, so elend nicht zu sein“⁷⁰, da sie letztlich nicht die Adressaten des Werkes sind. Ob der Inhalt der Briefe jedoch generell bei den Lesern auf Zustimmung oder Ablehnung stößt, spielt für La Roche keine Rolle. Ungeachtet des erhobenen Objektivitätsanspruchs geht es um bewusste Provokation, denn er hofft, „dass die Erschütterungen“, die die Mönchsbriefe verursachen würden, „der Wahrheit vorteilhaft sind.“⁷¹ Durch die Schrift sollten die „Vorurtheile“, die wegen der Mönche noch immer „Ansehen […] in unserer Kirche“⁷² genössen, beseitigt werden. Die Vorurteilskritik stellte ein wesentliches Element der Aufklärung dar und war eng mit der Bekämpfung vermeintlichen Aberglaubens verbunden. Der Begriff Vorurteil diente dazu, unliebsame Debattenbeiträge als irrationale, vorgefasste Meinungen zu diskreditieren. Da Vorurteile dem Vernunftgebrauch entgegenstanden und als Ursache von Irrtümern angesehen wurden, war das erklärte Ziel der Aufklärer, sie durch Selbstdenken zu überwinden – worauf La Roche bereits zuvor mit der Betonung der Urteilsfähigkeit seiner Leser anspielte.⁷³ Deshalb soll in den Mönchsbriefen „die eigentliche Lehre der Kirche“ herausgestellt werden, befreit von allem, „was als unnüze Spreuer von dem Korn“ angesehen werden könne. Emphatisch ruft der fiktive Herausgeber aus, „man sehe aus diesen Briefen nur zu deutlich, daß die catholische Religion, und die Religion der Mönche zwey von einander unterschie-
68 Siehe ebd., S. 6. 69 Ebd., S. 10. 70 Jeweils ebd., S. 9. 71 Ebd., S. 9. 72 Jeweils ebd., S. 10. La Roche verweist in Bezug auf die Schädlichkeit von Vorurteilen explizit auf eine Textstelle in Christoph Martin Wieland: Zwölf Moralische Briefe in Versen, Frankfurt; Leipzig 1752, siehe Zweyter Brief, S. 27–28. 73 Vgl. Werner Schneiders: Vorurteil, in: ders. [Hrsg.]: Lexikon (wie Anm. 49, S. 117), S. 438–440. Die Überwindung von Vorurteilen implizierte damit nicht nur eine rein inhaltliche Ebene, sondern beschreibt auch eine Methode. Darauf, dass sich Vorurteilskritik und Aufklärung gegenseitig „bedingen, befördern, beeinflussen katalysieren“, weist hin: Rainer Godel: Vorurteil – Anthropologie – Literatur: Der Vorurteilsdiskurs als Modus der Selbstaufklärung im 18. Jahrhundert, Tübingen 2007, S. 1.
124 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an dene Dinge seyen.“⁷⁴ Der „Endzweck“ der Briefe sei daher, „ein reines von allen eigennüzigen Zusätzen geläutertes Christenthum einzuführen.“⁷⁵ Es geht La Roche mit seiner Schrift also keineswegs nur darum, das Mönchswesen anzuklagen und dessen Verfehlungen aufzuzählen, sondern er möchte einen wahren Glauben befördern. Dieser kommt ohne Mönche und die von ihnen verbreiteten Vorurteile aus, wobei der Autor eine Definition des wahren Glaubens zunächst schuldig bleibt. Dennoch knüpft er erkennbar an die Bemühungen katholischer Aufklärer an, die Glaubensvorstellungen zu rationalisieren und den Barockkatholizismus zu überwinden. Aberglauben galt nach diesem Verständnis nicht mehr als „Abweichung vom Dogma“, wie ihn orthodoxe Kreise definierten, „sondern der Begriff wurde gleichbedeutend mit dem Vorurteil, also der unreflektierten Glaubensüberzeugung und -praxis gefasst.“⁷⁶ Diese sollte überwunden werden. Der Pfarrer als Opfer der mönchischen Erziehung Trotz des Appells an die eigenen Verstandeskräfte der Leser legt ihnen die Vorrede nahe, der alte Hofmeister Gutmann verfüge über die überzeugendsten Argumente.⁷⁷ Er kenne die Materie, sowohl die Geistlichkeit als auch die Kirchenhierarchie seien ihm nicht fremd und zudem handle es sich bei ihm um einen belesenen, welterfahrenen Mann. Dem steht sein unerfahrener und unwissender, namenloser ‚Schüler‘ gegenüber. Die ersten Briefe dieses jungen Pfarrers an seinen Freund, welche auf das Jahr 1770 datiert sind, dienen zunächst dazu, seine miserable Ausgangslange zu beschreiben. So habe er seit dem Antritt der Pfarrstelle „mehr als tausendmal [s]einen geistlichen Stand – [s]eine Pfarrey – und [s]eine Unwissenheit verwünscht.“⁷⁸ Er wurde nicht auf eigenen Wunsch Pfarrer, sondern sein adliger Gönner⁷⁹, in dessen Diensten seine Eltern standen, ermöglichte ihm nach dem Tod des Vaters ein Studium „bey den P. P. Jesuiten zu D***“, womit vermutlich 74 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 11. 75 Ebd., S. 12. 76 Jeweils Freitag: Fürstbistum (wie Anm. 42, S. 13), S. 33. Protestantische und katholische Aufklärer stimmten in einem rationaleren Glaubensverständnis überein. 77 Darauf verweist möglicherweise auch sein Nachname, den man als Verweis auf einen ‚guten Mann‘, einen Mann mit Charakter, lesen könnte. Es gibt auch die Vermutung, La Roche hätte mit Gutmann seinem Schwiegervater, dem Arzt und Dekan der medizinischen Fakultät in Augsburg, Georg Friedrich Gutermann von Gutershofen (1705–1784), ein literarisches Denkmal setzen wollen, so Embach: Frank La Roche (wie Anm. 33, S. 33), S. 48. 78 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 22. 79 Dieser fühlte sich als Landesherr zur Sorge um Witwen und Waisen verpflichtet. Da der Pfarrer ihn mit ‚Baron‘ bezeichnet, handelt es sich um einen Freiherrn. Sowohl die Bezeichnung des Pfarrers als auch die französische Herkunft seiner Mutter lassen vermuten, dass die Herrschaft an Frankreich grenzt.
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die Jesuitenuniversität zu Dillingen gemeint ist. Zwar habe er eigentlich Schneider werden wollen, doch dann geglaubt, „Handwerk für Handwerk, könnte ich, alles zusammen genommen, eben so gut das Studieren als Schneidern […] lernen.“⁸⁰ Nur mit Mühe schaffte er das Studium; nicht ohne Grund habe ihm der Freund vom Studieren abgeraten. Doch da er fromm gewesen sei und „den Canisium so gut wußte“, habe ihm der Präfekt versichert, „[i]ch würde mit ein Bischen Casus und dem Busenbaum recht brav zur Seelsorge taugen.“⁸¹ Nachdem ihm sein Gönner erneut zusicherte, die Pfarrei seines Heimatortes zu erhalten, habe er schließlich knapp das Examen bestanden. Ein Geistlicher Rat, der ihn beglückwünschte, sah in seinen schlechten Leistungen jedoch kein Problem, da er schließlich nur aufs Dorf käme, „wo es nur auf Bauernseelen ankömmt“. Lediglich solle er darauf achten, dass ihm „von den Pfarrgütern, Zehenden und Oblationen nichts abgezwackt, dem Papst und geistlichen Rath nichts zuwider geredet werde, und ich selbst keine gar zu junge Hauserin nehme. – Uebrigens soll ich fromm seyn: Und wer zu meiner Gelehrtheit kein Vertrauen habe, könne sich ja aus der nahen Stadt einen Capuciner holen lassen.“⁸² Mit dieser fiktiven Biographie eines jungen katholischen Pfarrers des 18. Jahrhunderts fächert La Roche von Beginn an zentrale Kritikpunkte der katholischen Aufklärung auf. Zum einen betrafen diese die schlechte Ausbildung und die mangelnde Eignung der Pfarramtskandidaten: So wählte der junge Pfarrer seinen Beruf nicht aus Begabung, sondern weil ihm lebenslange Versorgung sicher schien. Den Ansprüchen eines Studiums wurde er zwar nicht gerecht, aufgrund auswendig gelernter Glaubenssätze und Frömmigkeit schaffte er jedoch das Examen. Desinteressierte Lehrer maßen sowohl einem einfachen Landgeistlichen als auch der Bevölkerung keine Bedeutung bei und marginalisierten die Seelsorge auf dem Land. Ohne es explizit zu erwähnen, können die Ausführungen daher als Kritik an der jesuitischen Schul- und Universitätslehre verstanden werden. Die Bildung, die sie vermittelten, war aus Sicht der Kritiker weder ausreichend an der Praxis orientiert noch wählten die Jesuiten streng genug ihre Schüler aus. So erscheint es aus heutiger Sicht paradox, dass ausgerechnet die Offenheit des jesuitischen Bildungssystems für alle Bevölkerungsschichten bei vielen Aufklärern Anstoß erregte.
80 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 27. 81 Ebd., S. 28. Mit seinem ‚Canisium‘ meint er den Katechismus des Jesuiten Petrus Canisius (1521–1597). Hermann Busenbaum (1600–1668) war ebenfalls Jesuit und Verfasser der Medulla theologiae moralis, eines Standardwerks der damaligen Moraltheologie. Da Busenbaum darin den Tyrannenmord rechtfertigte, waren Teile des Werkes durch den Papst sowie manchen seiner Mitbrüder verurteilt worden. Den Verschwörungstheorien um den Jesuitenorden war dies natürlich höchst zuträglich, vgl. Beales: Klöster (wie Anm. 23, S. 111), S. 160. 82 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 29.
126 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Verwaltungsreformer wie der Österreicher Joseph von Sonnenfels (1733–1817) oder Johann von Ickstatt in Bayern warnten vor einer Zunahme „des unproduktiven Zehrstandes (Verwaltung, Seelsorge, Unterricht etc.) gegenüber dem produktiven Nährstand (Bauern, Handwerker, Kaufleute etc.)“⁸³ und wollten darum ärmere Schüler oder Studenten konsequent vom Zugang zu höherer Bildung ausschließen. Stattdessen schlug Ickstatt streng utilitaristisch argumentierend vor, die Ausbildung der Landbevölkerung ausschließlich standes- und berufsspezifisch zu gestalten.⁸⁴ Die gutgemeinte Empfehlung des Geistlichen Rates, ansonsten könne ein Kapuziner aufgesucht werden, verweist des Weiteren auf die Dominanz aller Orden in der Seelsorge, die zu Lasten der wiederum durch Ordensgeistliche schlecht ausgebildeten Weltgeistlichen ging. Die Schädlichkeit der Orden für die Vermittlung der katholischen Religion ist damit ein weiterer Kritikpunkt der Aufklärer, der hier eingeführt wird. Auch das Patronatsrecht, das auf das mittelalterliche Eigenkirchenwesen zurückging und die Einsetzung eines Pfarrers durch einen weltlichen Herrn erlaubte, wird kritisiert. Schließlich kümmerte auch den Baron die Eignung seines Kandidaten für das Amt wenig.⁸⁵ Die Beschränktheit des jungen Pfarrers zeigt sich darin, dass er die Aussage seines vorgesetzten Dechanten, die Bücher seines Vorgängers seien „von Kezern geschrieben“ worden, „da sie in Frankfurt oder Leipzig, wo der Luther gewohnet, gedrukt seien; mithin lauter Gift unter der Gestalt der Vernunft enthielten“⁸⁶, unbesehen Glauben schenkt. Möglicherweise soll dieses naiv-angstbesetzte LutherVerständnis beim Leser erneut eine Verbindung zur Ausbildung durch die Jesuiten herstellen, da diese mit ihren Kontroverspredigten seit der Reformation ein polemisches Bild des Protestantismus beförderten. So berichtet denn der junge Pfarrer auch stolz, günstig an vier solcher Texte gekommen zu sein, bei denen nur wenige Blätter fehlten, „das Schimpfen und Schmähen“⁸⁷ aber vollständig sei, sodass er bald für die Messe eine auswendig lernen wolle. Diese Predigten waren an den Aufbau einer Streitrede angelehnt und dienten der konfessionellen Festigung
83 Jeweils Müller: Jesuitenorden (wie Anm. 34, S. 114), S. 230. 84 Vgl. ebd., S. 231. Kaiserin Maria Theresia schränkte bereits 1759 das Monopol der Jesuiten auf universitäre Lehrstühle ein, verdrängte sie aus der Zensurkommission sowie sukzessive aus wichtigen Ämtern am Hof. Der Einfluss der Jesuiten sank damit schon vor dem Verbot 1773. Trotzdem verhielt sich Maria Theresia insgesamt abwartend. Ihre eigene, distanzierte Haltung zum Orden dürfte ihrer vermuteten Nähe zum Jansenismus geschuldet gewesen sein. Vgl. Beales: Klöster (wie Anm. 23, S. 111), S. 176–177; Hersche: Muße (wie Anm. 33, S. 11), S. 994–995. 85 Zum Patronatsrecht siehe Kapitel 2.1. Zur Situation der Pfarrer siehe auch Kapitel 3.2. 86 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 36. 87 Ebd., S. 38.
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und Selbstvergewisserung der eigenen Gläubigen bei gleichzeitiger Abgrenzung gegenüber der konfessionellen Gegenseite.⁸⁸ Obwohl ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowohl katholischen als auch protestantischen Akteuren stärker an der Betonung konfessioneller Gemeinsamkeiten gelegen war, erfreuten sich etwa in Augsburg Kontroverspredigten weiterhin großer Beliebtheit. Führende Vertreter auf diesem Gebiet, wie der Jesuit Alois Merz, veröffentlichten ihre Predigten auch im Druck, sodass diese ein noch größeres Publikum erreichten.⁸⁹ Obwohl der junge Pfarrer als naiv und ungebildet dargestellt wird, lässt er doch von Beginn an den Willen erkennen, mehr Kenntnisse zu erwerben, um sein Amt angemessen auszufüllen. Er ist lediglich Opfer eines unzureichenden mönchischdominierten Bildungssystems, das – in der Polemik La Roches – seine Schüler unwissend lässt und sie so der Möglichkeit selbst zu denken, beraubt. Hinzu kommt nun, dass der Baron dem Pfarrer seinen Zehnt-Anteil vorenthält – schließlich habe die Ausbildung des Pfarrers Kosten verursacht –, weshalb sich dieser kaum eigene Bücher anschaffen kann. Neben den Kontroverspredigten gelingt es ihm dennoch, Predigten des Pater Abraham a Santa Clara (1644–1709) zu erwerben.⁹⁰ Der katholische Geistliche war Ordensmitglied der Augustiner-Barfüßer und zählte zu den bekanntesten Predigern des Barockkatholizismus. Sein Werk war aufgrund der unterhaltsamen, derben und volksnahen Gestaltung sehr beliebt.⁹¹ Die Anschaffung ausgerechnet dieser Predigttexte soll erneut die mangelnde (Aus-)Bildung des Pfarrers unterstreichen, wählt er doch barock-volkstümliche Werke, weil er sie selbst auch versteht. Es ist offensichtlich, dass er damit nicht dem Bild eines Pfarrers entspricht, wie ihn sich La Roche und andere Aufklärer wünschten. Statt seine Gemeinde einen wie auch immer gearteten aufgeklärten Glauben nahe zu bringen, setzt er auf affekthaschende Predigten barockkatholischer Autoren, die er auswendig lernt, um sie als seine eigenen auszugeben. La Roche greift damit
88 Allerdings glaubt der Pfarrer nicht, dass seine Bauern die Predigt verstehen. Er will daher bei ihnen den Eindruck erwecken, noch mehr Themen zu beherrschen als „allemal Unzucht oder Zehenden-Betrug predigen“ (ebd., S. 38) zu müssen. 89 Vgl. Christopher Spehr: Aufklärung und Ökumene: Reunionsversuche zwischen Katholiken und Protestanten im deutschsprachigen Raum des späteren 18. Jahrhunderts, Tübingen 2005, S. 313– 317. Die Kontroverspredigten hatten natürlich in Augsburg aufgrund der Bikonfessionalität der Stadt einen ganz anderen Stellenwert. 1786 wurden sie durch Fürstbischof Clemens Wenzeslaus verboten, vgl. Krenz: Konturen (wie Anm. 43, S. 13), S. 195. Zu Merz als Kontroversprediger vgl. auch Michael Schaich: „Religionis defensor accerimus”. Joseph Anton Weissenbach und der Kreis der Augsburger Exjesuiten, in: Christoph Weiß [Hrsg.]: Von ‚Obscuranten’ und ‚Eudomänisten‘. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert, St. Ingbert 1997, S. 77–125, hier S. 85–86. 90 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 36. 91 Vgl. Kurt Vancsa: Abraham a Sancta Clara, in: Neue Deutsche Biographie 1 (1953), S. 21–22.
128 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an den bereits in der Vorrede angedeuteten Antagonismus zwischen barockem und aufgeklärtem Katholizismus auf, ohne ihn explizit benennen zu müssen. Mönchtum und kirchliche Orthodoxie als Hort der Gegenaufklärung Seine anerzogene Autoritätsgläubigkeit lässt den Pfarrer zunächst nicht daran zweifeln, dass es sich bei Gutmann tatsächlich um einen „Freygeist, der sogar über den Portiunculä-Ablaß öffentlich spottete“, handle. Vermutlich sei dieser zudem ein „Freymaurer“, wird ihm von Pater Guardian, dem Oberen eines benachbarten Franziskaner-Konvents, zugetragen, dessen Schlechtigkeit sich darin äussere, dass er „Geistliche nur Pfaffen, die Franciscaner aber Bettelmönche“⁹² nenne. Das Konfliktfeld, in welchem sich der junge Pfarrer bewegt, wird demnach sogleich abgesteckt: Auf der einen Seite finden sich die ihm vorgesetzten Kirchenoberen und die Mönche, welche einen orthodoxen Katholizismus vertreten und aufgeklärten Reformkräften ablehnend gegenüberstehen. Auf der anderen Seite steht der alte Hofmeister Gutmann, der zwar selbst noch nicht in Erscheinung getreten ist, aber sowohl nach den Zuschreibungen seiner Gegner als auch durch die Parteinahme der Vorrede als Aufklärer eingeführt worden ist. La Roche versucht in seinen Mönchsbriefen den Widerstreit zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung abzubilden. Letztere begann sich ab den 1770er Jahren zu formieren und war ähnlich heterogen aufgestellt wie ihr Gegenpart.⁹³ Indem Gutmann als Freigeist und Freimaurer bezeichnet wird, werden typische Zuschreibungen aufgerufen, mit denen die Gegenaufklärer die Aufklärer zu verunglimpfen suchten. Der Begriff Freygeist wurde in diesem Zusammenhang keineswegs positiv gebraucht. Vielmehr galten Freigeister bzw. die häufig synonym verwendeten Freidenker als regellose Menschen, die den Vernunftgebrauch überschätzten und gerade vor Religionsdingen nicht Halt machten, indem sie den Offenbarungsglauben anzweifelten.⁹⁴ So erklärte der evangelische Pfarrer und Theologe Johann Anton Trinius (1722–1784) im Vorwort seines Freydenker-Lexicons, er „begreife aber unter dem Namen der Freydenker, oder Freygeister, Atheisten,
92 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 39. Der Portiunkula-Ablass ist ein vollkommener Ablass, der am 2. August in Kirchen des Franziskanerordens gewährt wird. 93 Vgl. Wolfgang Albrecht/Christoph Weiß: Einleitenden Bemerkung zur Beantwortung der Frage: Was heißt Gegenaufklärung?, in: Weiß [Hrsg.]: Obscuranten (wie Anm. 89, S. 127), S. 7–34, hier S. 15, 16. Zur Gegenaufklärung siehe auch Kapitel 2.2. 94 Vgl. Günther Gawlick: Freidenker, in: Schneiders [Hrsg.]: Lexikon (wie Anm. 49, S. 117), S. 130– 132. Der Begriff Freidenker ist aus dem Englischen entlehnt und geht auf das Werk Discours of FreeThinking (1713) von Anthony Collins (1676–1729) zurück, war hier jedoch positiv besetzt. Vgl. auch Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild, Berlin 2015, S. 562 f.
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Naturalisten, Deisten, grobe Indifferentisten, Sceptiker und dergleichen Leute.“⁹⁵ Kurzum jeden, der nur im Entferntesten in den Verdacht geraten war, die Religion zu kritisieren. Obschon selbst Teil der Aufklärung, widmete auch der Schriftsteller Christian Fürchtegott Gellert, dessen Werke später für die Trierer Lesegesellschaft angeschafft wurden, dem Freigeist 1747 ein Spottgedicht, in welchem dieser auf dem Totenbett kleinlaut zum Christentum zurückkehrt.⁹⁶ Die Beispiele protestantischer Autoren zeigen, dass Vertreter beider Konfessionen die ablehnende Haltung gegenüber denjenigen, die in Religionsfragen angeblich zu weit dachten, teilten und unter dem Begriff Freigeist dieselben Feinde zusammenfassten.⁹⁷ Gleichwohl sahen nicht nur Gegenaufklärer Kirchen- und Religionskritiker als moralisch zweifelhaft an, sondern auch die meisten Aufklärer lehnten ‚Freigeisterei‘ ab. Viele nahmen darum den Offenbarungsglauben von ihrer Kritik aus, doch bereits wohlmeinende Veränderungsvorschläge konnten mit derartigen Verunglimpfungen ganz einfach abgeschmettert werden. Der gefährliche Einfluss, der von Gutmann insbesondere bei der Religion ausgehe, versucht der Dechant späterhin dadurch zu untermauern, dass er dem jungen Pfarrer offenbart, die ketzerischen Bücher des Vorgängers stammten vom alten Hofmeister. Er bezeichnet Gutmann direkt als „Atheisten“, dem er „100. Juden“ im Dorf vorziehe, denn: „Aber so ein heilloser Gutmann, der sich auf Vernunft verläßt, der die halbe Welt durchwandert, und mit seinem bisgen Lesen gescheider
95 Johann Anton Trinius: Freydenker-Lexicon oder Einleitung in die Geschichte der neuern Freygeister, ihrer Schriften und deren Widerlegungen. Nebst einem Bey- und Nachtrage zu des seligen Herrn Johann Albert Fabricius, Leipzig 1759, Vorerinnerung des Verfassers, o. S. 96 C. F. Gellerts sämmtliche Schriften. Erster Theil, Leipzig 1839, S. 174–176. Ironisch endet das Gedicht mit dem Ausruf: „So stark sind eines Freygeists Lehren!“ Gellert zählte im 18. Jahrhundert zu einem der meistgelesenen Autoren, dessen Werk ständeübergreifend geschätzt wurde. Neben Romanen und Lustspielen verfasste er vor allem geistliche Gedichte. Zwar vertrat er eine „christliche[…] Moral im Sinne der lutherischen Orthodoxie“ (Martus: Aufklärung (wie Anm. 94), S. 559 sowie 558–663), die Verbindung von moralischer Aufklärung und Offenbarung machten ihn aber auf katholischer Seite anschlussfähig. 97 So war der Kampf gegen die Freigeisterei wesentlicher Zweck des Religionsjournals, das der Exjesuit Goldhagen ab 1776 herausgab. Auch er definierte Freigeister als Atheisten bzw. Materialisten, Deisten und Indifferentisten bzw. Naturalisten, wobei die beiden letzten Gruppen seine Hauptgegner darstellten, vgl. Franz Dumont: ,Wider die Freygeister, Protestanten und Glaubensfeger“. Hermann Goldhagen und sein ,Religions-Journal‘, in: Weiß [Hrsg.]: Obscuranten (wie Anm. 89, S. 127), S. 35–76, hier S. 42. Goldhagen studierte in Mainz und Würzburg Theologie und trat der Gesellschaft Jesu bei. Nach einigen Jahren als Professor an der Mainzer Universität wurde er 1766 Provinzial der Oberrheinischen Provinz und leitete 1772/73 das Mainzer Noviziat. Nach der Ordensaufhebung kam er erst 1778 wieder als Professor an die Theologische Fakultät, war dort aber weitgehend isoliert. Vor Einmarsch der Franzosen in Mainz 1792 verließ er die Stadt und lebte bei seinem Bruder in München. Vgl. ausführlicher ebd., S. 36–38.
130 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an seyn will, als unser einer, so einen Kerl sollte man in einem Christcatholischen Gebiet nicht leiden.“⁹⁸ Selbst der Papst dulde Juden in Rom, aber keine Ketzer. Dieser Vergleich dient zur Veranschaulichung der tiefen Abneigung der orthodoxen Katholiken gegenüber ihren aufgeklärten Glaubensgenossen. Zwar sieht der Dechant in den Juden „Feinde[…] Christi“⁹⁹, diese kann er aber nach eigener Aussage wenigstens finanziell auspressen – ein Aufklärer nützt ihm hingegen gar nichts. Vielmehr verheißt dieser nur Probleme, da er sich aufgrund seiner Bildung Überlegenheit anmaße und sich nicht ausnutzen lässt.¹⁰⁰ Indem der Dechant von einem ‚bisgen Lesen‘ spricht, wird außerdem deutlich, wie wenig er von Bildung hält. Dass La Roche ihn letztlich als Karikatur eines Landdechanten zeichnet, der ja immerhin die Verantwortung für die Geistlichen seines Landkapitels trug,¹⁰¹ wird offensichtlich, wenn er ihn ausrufen lässt: „Und wenn man so Bücher lesen müßte, wo wollte man die Zeit hernehmen das Brevier zu beten, Messe zu lesen, ein Spielgen mitzumachen, und mit guten Freunden ein Glas Wein zu trinken?“ Es verwundert darum kaum, dass er dem Pfarrer rät, Gutmann zu meiden und zu glauben, „was er gelernet; lehre er auch das und nicht mehr seine Bauern. Selig sind die Armen im Geist.“¹⁰² Mit dem letzten Satz spielt der Dechant auf ein Zitat aus dem Matthäus-Evangelium an, dass er als Plädoyer für Unwissenheit interpretiert. In den Augen vieler Gegenaufklärer gefährdete Bildung den demütigen Glauben der Menschen, der auf der Erkenntnis der eigenen Unvollkommenheit und der
98 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 62. Der Begriff Atheismus wurde im 18. Jahrhundert relativ unscharf gebraucht: Anders als nach heutigen Verständnis wurden Atheisten meist nicht als Ungläubige betrachtet, da sie getauft waren und die Taufe sowohl bei Katholiken als auch bei Protestanten als „unauslöschliche[s] Sakrament[…]“ (Jürgen Weitzel: Der „Ungläubige“ im Recht des 18. Jahrhunderts, in: Andreas Deutsch/Ulrich Kronauer [Hrsg.]: Der „Ungläubige“ in der Rechts- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts, Heidelberg 2015, S. 27–45, hier S. 30) galt. Da ihnen List und Heimtücke unterstellt wurden, galten bereits harmlose Meinungsabweichungen schnell als Atheismus, vgl. Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus: Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts (Quaestiones 11), Stuttgart, Bad Cannstatt 1998, S. 25–26. 99 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 62. 100 An dieser Stelle wird auch die Haltung der katholischen Kirche zum Judentum als scheinheilig entlarvt: Obwohl sie als ‚Feinde‘ gesehen werden, macht man mit ihnen Geschäfte, natürlich zu ihrem Nachteil. 101 Zu den Landkapiteln sowie den Aufgaben und der Stellung der Dechanten siehe Kapitel 2.1. 102 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 64. Aufgrund der starken Typisierung des Dechanten ist es folgerichtig, dass sich der fiktive Herausgeber weigert, dessen wahre Identität zu lüften. Jeglichen Versuchen seiner Leser, in diese Richtung Vermutungen anzustellen, verbittet er sich, gibt am Ende aber dennoch einige kryptische Hinweise in einer Anmerkung, siehe ebd., S. 57–59.
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Unterwerfung unter die göttliche Vorsehung fußte.¹⁰³ Auch der Dechant ermahnt den Pfarrer mit seinen Worten, sich getreu an die Lehre der Kirche zu halten und sich nicht durch Bücher und eigenes Denken davon abbringen zu lassen. Um wie Gutmann als Atheist und Abtrünniger gebrandmarkt zu werden, genügte die Beschäftigung mit protestantischen bzw. nicht-katholischen Autoren oder Werken, die den ‚falschen‘ Druckort hatten. Vielen nicht-aufgeklärten Katholiken erschien dies als unverzeihlicher „Tabubruch“¹⁰⁴, durch den man sich der Ketzerei, dem Abweichen von kirchlichen Dogmen und Lehren, verdächtig machte: So fand der Dechant beim Vorgänger des Pfarrers eine „Oetingsche Lotterie-Bibel, die zu Nürnberg gedruckt war, wo der ganze Magistrat […] Lutherisch seyn soll“, „[d]eutsche Predigten von einem gewissen Tillotson aus Engelland, wo der Pabst als Antichrist behandelt wird“¹⁰⁵ sowie ein mit „Muschenbroek Philosophie“ betiteltes Werk, dessen Kapitel mit „Vernunftlehre, Geisterlehre etc“ überschrieben gewesen seien und „allerley in Kupfer gestochene Cirkel mit Buchstaben, Sonnen, Dreyeck und andere gewisse Merkmale, daß es zur Hexerei, Gott segne uns! gehören müsse“¹⁰⁶, enthalten habe.
103 Vgl. beispielsweise die Einstellung Goldhagens, der in seinen Artikeln offen um die Rückkehr von Unwissenheit, Unschuld und Armut bittet, vgl. Dumont: Freygeister (wie Anm. 97, S. 129), S. 41, 50. 104 Krenz: Konturen (wie Anm. 43, S. 13), S. 294. Auch Hermann Goldhagen warnte in seinem Religionsjournal „vor einer Zusammenarbeit in theologischen […] Fragen mit der anderen Konfession: Katholiken, die protestantische Literatur zu Rate zögen, setzte er Heiden gleich.“ ebd., S. 182. Der Kirchenrechtler Vitus Pichler (1670–1736) formulierte „Verbote, die im Umgang mit Häretikern und Häresien [wozu er andere Konfessionen zählte, Anm. A. K.] aus kanonistischer Perspektive zu beachten“ (Matthias J. Fritsch: Religiöse Toleranz im Zeitalter der Aufklärung: naturrechtliche Begründung – konfessionelle Differenzen, Hamburg 2004, S. 243) seien: Untersagt waren demnach u. a. die Drucklegung, der Besitz und vor allem die Lektüre häretischer Schriften, zu denen nicht nur theologische, sondern auch Werke aus anderen Bereichen zählen konnten. 105 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 62. 106 Ebd., S. 63. Vermutlich wird hier auf Werke des lutherischen Theologen und Pietisten, Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782), des anglikanischen Bischofs von Canterbury, John Tillotson (1630–1694) und des niederländischen Naturwissenschaftlers Pieter van Musschenbroek (1692–1761), angespielt. Von letzterem lagen dessen Grundlehren der Naturwissenschaft in einer 1747 erschienenen Übersetzung Johann Christoph Gottscheds (1700–1766) vor: Bestandteil der Weltweisheit, die eine Wissenschaft „aller göttlichen und menschlichen Dinge, ihrer Eigenschaften, Wirkungen und Ursachen“ (Johann Christoph Gottsched: Hrn Peters von Muschenbroek, M. D. der Weltw. und Mathem. ordentlichen Lehrers zu Leyden, Grundlehren der Naturwissenschaft, Nach der zweyten lateinischen Ausgabe, nebst einigen neuen Zusätzen des Verfassers, ins Deutsche übersetzt, Leipzig 1747, S. 3) sei, sind neben der Naturlehre und der Lehre von den Absichten auch die Vernunft- und die Geisterlehre. Letztere bezieht sich wohl auf chemische Prozesse. Laut Embach: Frank La Roche (wie Anm. 33, S. 33), S. 46–47 hatte sich La Roche eingehend mit der
132 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Dass der Dechant Bildung nicht nur verachtet, sondern selbst nicht besitzt, zeigt sich an dieser vorurteilsbehafteten Einschätzung der aufgefundenen Werke. Hinzu kommt, dass er nicht über ausreichende Lateinkenntnisse verfügt, um sich einen Überblick über den Inhalt der Werke in lateinischer Sprache zu verschaffen. Auch wird er als abergläubisch dargestellt, weil er annimmt, Gott habe den vorherigen Pfarrer mit Krankheit für die Lektüre ‚ketzerischer‘ Bücher bestraft, was letztlich dessen frühen Tod zur Folge gehabt habe.¹⁰⁷ Diese Darstellung wird noch dadurch untermauert, dass der Dechant die mathematischen Symbole aufgrund seiner Unwissenheit als Hexerei ansieht. Er macht außerdem die Reden des Hofmeisters gegen den Ablass der Franziskaner, die er jedoch nur von diesen und damit nur durch Hörensagen kennt, dafür verantwortlich, dass man im Dorf des Pfarrers „zwey Mißjahre auf einander gehabt“¹⁰⁸ habe. Deutlich wird hier, dass der Dechant dem Bild eines strafenden und sich aktiv einmischenden Gottes anhängt, der menschliches Fehlverhalten nicht ignoriert. Gleich, ob es sich um das Vergehen eines Einzelnen oder mehrerer handelt, verhängt Gott nach dieser Vorstellung unmittelbar erzieherische Maßnahmen, die sich auf die gesamte Gemeinschaft auswirken. An seine persönliche Rechenschaftspflicht gegenüber Gott in Bezug auf Gutmann, erinnert den jungen Pfarrer hingegen Pater Guardian: Als Pfarrer obliege ihm die letztendliche Verantwortung für die Seelen seiner Pfarrmitglieder, zu denen auch der Hofmeister zähle und da „Gott von mir dereinst über alle Seelen meiner Pfarrey, ausschließlich unserer vierzehen Juden-Haushaltungen, Rechenschaft fordern würde, so sey es meine Schuldigkeit, ihn als Seelsorger entweder zu bekehren, oder doch, wenn er meinen Ermahnungen kein Gehör geben wolle, ihm die Hölle recht heiß zu machen.“¹⁰⁹ Der Gedanke an das eigene Seelenheil und das seiner Gemeinde soll den Pfarrer gefügig machen – ein Denkmuster, das Aufklärer immer wieder kritisierten, auch, weil es abergläubische Vorstellungen begünstigte. Wie empfänglich der Pfarrer selbst für den Aberglauben ist, zeigt sich daran, dass er glaubt, sein Vorgänger spuke durch das Pfarrhaus. Die Ursache liegt für ihn in den ketzerischen Büchern. Um dem Vorgänger zu seinem Seelenfrieden zu
englischen Sprache und Literatur beschäftigt – sich als Jugendlicher möglicherweise sogar einige Jahre dort aufgehalten –, sodass ihm Tillotsons Predigten bekannt waren. 107 Raunend prophezeit er dem jungen Pfarrer ein ähnliches Schicksal, wenn dieser engen Kontakt zu Gutmann pflege, vgl. La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 62. 108 Ebd., S. 61. 109 Ebd., S. 39.
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verhelfen, stiftete er ihm sein „Jubiläum“¹¹⁰ und hofft, dieser könne nun „Ruhe“¹¹¹ finden, da ihm seine Sünden durch die Geste des Pfarrers vergeben werden. Indem der Ablass mit dem Aberglauben des Pfarrers verbunden wird, wird diese Praxis indirekt ad absurdum geführt. Es ist naheliegend, dass La Roche Gutmann sich diesem Prozedere verweigern lässt. Dieser macht gegenüber dem Pfarrer seine Ablehnung deutlich: Der Ablass hat für ihn keine ausreichende theologische Grundlage, weshalb ihm dessen Gewinn nicht als „Erfüllung einer mit Gottes Wort oder den Geboten einstimmenden Handlung als ein Gesetz“ vorgeschrieben sei. Stattdessen fuße dieser nur auf „übertriebene[m] unwissende[m] Mönchen-Eifer“ oder dem „Hochmuth eines sich unfehlbar glaubenden Theologens“¹¹², womit erstmals in den Mönchsbriefen Kritik am Primatanspruch¹¹³ des Papstes laut wird. Sofern man seine „Pflicht gegen Gott und die Menschen“ erfülle, könne man auch ohne Ablass „selig werden“¹¹⁴, so Gutmann weiter. In seinen Augen dient sowohl den Mönchen als auch dem Papst das Ablasswesen nur dazu, an Macht und Einfluss zu gewinnen: Diese Menschen bestimmen über den Nachlass zeitlicher Sündenstrafen, womit das ‚Selig werden‘ nicht mehr allein in der Verantwortung des Einzelnen gegenüber seinem Gott und dessen Gnade liegt. Auch wenn Gutmann tatsächlich nicht zu Empfang von Ablässen verpflichtet war, wird seine Kritik in den Augen orthodoxer Katholiken einer Missachtung der Bußpraxis und protestantischer Parteinahme gleichgekommen sein.¹¹⁵ Nicht umsonst weisen seine (mönchischen) Gegner wiederholt auf seine angeblich öffentliche Verspottung des PortiunkulaAblasses hin, was ihre Autorität bei den Gläubigen untergräbt.
110 Vermutlich ist das Jubiläum gemeint, das Papst Clemens XIV. anlässlich seines Amtsantritts im Februar 1769 ausrief und bei dem er einen vollständigen Ablass gewährte. Um ihn zu erhalten, mussten die Gläubigen im Erzbistum Trier innerhalb einer 14-tägigen Frist im März 1770 die Trierer Domkirche oder eine andere Pfarrkirche mindestens einmal besuchen, um dort „den göttlichen Beystand zu gesegneter Regierung Ihro Päpstlichen Heiligkeit, Erhöhung der heiligen Kirchen, zu Erhalt- und respective Wiederherstellung Fried und Einigkeit unter Christlichen Potentaten, Ausreutung aller Ketzereyen und Zwiespalt in Religions-Sachen, wie auch Abwendung fernerer bevorstehenden Strafruthen, bey dem erzürnten Gott andächtig“(Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia Bd. 5 (wie Anm. 47, S. 36), S. 167) zu erbitten. Ferner galt es zu fasten, Almosen zu spenden sowie nach erfolgter Beichte die Kommunion zu empfangen. 111 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 36. 112 Jeweils ebd., S. 53. 113 Die Anerkennung des Papstprimats war seit jeher umstritten. Zum Dogma wurde die päpstliche Unfehlbarkeit erst auf dem ersten Vatikanischen Konzil 1870. 114 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 52. 115 Das Konzil von Trient hatte am Ablasswesen festgehalten, auch, um sich vom Protestantismus abzugrenzen. Neue Regeln sollten Missbräuche jedoch verhindern. Vgl. Holzem: Christentum (wie Anm. 11, S. 4), S. 179.
134 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Mit welchen Mitteln versucht wird, die Verbreitung von Ansichten, die der kirchlichen Lehrmeinung zuwiderlaufen könnten zu verhindern, zeigt sich am Beispiel des Dechanten: Nach eigener Aussage verbrannte dieser die Bücher, die er beim ehemaligen Pfarrer vorgefunden hatte, statt Gutmann sein Eigentum zurückzugeben. An dieser Stelle schaltet sich der Herausgeber ein: Dem Dechanten möge man ein solches Handeln noch nachsehen, aber „wenn man auf einer Lutherischen Hohen Schule Geßners Idyllen von einem R. aus heiligem Eifer verbrennen siehet, so muß man über die Barbarey mitten in unsern aufgeklärten Zeiten erstaunen, und solche Urkunden des Unverstandes beweinen.“¹¹⁶ Ob La Roche auf eine tatsächliche Begebenheit anspielte, scheint unter den Zeitgenossen umstritten gewesen zu sein, wie entsprechende Äußerungen des evangelischen Dichters Johann Benjamin Michaelis (1746–1772) an seinen Freund Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803)¹¹⁷ zeigen. Michaelis regte an, herauszufinden, wer der ominöse R. sei, da er eine solche abscheuliche Tat verurteilte. Allerdings ist er auch misstrauisch, ob es sich nicht um eine bloße katholische Verleumdung handle, in welchem Fall er „Unwahrheit mit Unwahrheit“¹¹⁸ vergelten wolle. Trotz Michaelis’ konfessionellem Misstrauen wird an dieser Stelle deutlich, dass sich auch auf protestantischer Seite Akteure finden ließen, die die Aufklärung ablehnten und selbst in harmloser Literatur eine Gefahr für ihren Glauben sahen. Vermutlich wollte La Roche seine protestantisch geprägten Leser mit diesem Beispiel daran erinnern, dass in erster Linie nicht die Konfession das Problem bei
116 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 63. La Roche meinte hier vermutlich den Schweizer Idyllendichter Salomon Gessner (1730–1788), Teilhaber von Orell, Geßner, Füssli & Cie., wo vermutlich die Mönchsbriefe erschienen sind. Gessner, dessen Publikationen insgesamt überschaubar sind, erlangte vor allem mit seinen 1756 erschienenen Idyllen große Bekanntheit im deutschsprachigen Raum. Diese Idyllendichtung wurde „als gegenwartskritischer Fluchtpunkt […] dadurch triftig, dass der in ihnen ausgemalte idyllische Zustand keineswegs im utopischen Nirgendwo, sondern, einer gängigen zeitgenössischen Auffassung entsprechend, in einer zwar längst vergangenen, aber doch historisch lokalisierbaren realen Zeit angesiedelt sein soll.“ Jäger-Gogoll Maximiliane: „...wo noch keines Menschen Fuß-Tritt gewandelt...“ – Synthese und Trangression in Salomon Gessners Der Tod Abels, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 40.1 (2016), S. 47–65, hier S. 48 – Möglicherweise motivierte diese kritische Komponente des Werkes die angebliche Bücherverbrennung. 117 Gleim hatte in Halle studiert und war Domsekretär in Halberstadt. Er profilierte sich als Verfasser anakreonistischer Kurzverse, die sich am griechischen Dichter Anakreon orientierten. Bekanntheit erlangte er ebenfalls mit seinen Preussischen Kriegsliedern anlässlich des Siebenjährigen Krieges (1756–1763). Michaelis zählte zum Freundeskreis um Gleim und wurde von diesem unterstützt. Vgl. Martus: Aufklärung (wie Anm. 94, S. 128), S. 526–531, 649. 118 Johann Benjamin Michaelis: Poetische Werke, Karlsruhe 1783. Es handelt sich um einen Brief an Gleim vom 31. Juli 1771. Zwölfmal, schreibt Michaelis, habe er die Anekdote in den Mönchsbriefen lesen müssen, so ungeheuerlich erscheint ihm dieser Vorgang.
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der Durchsetzung aufgeklärter Ideen darstellte. Vielmehr verlief die Konfliktlinie zwischen Aufklärern und Gegenaufklärern; sowohl bei Katholiken als auch bei Protestanten dominierte anfangs ein vornehmlich „religiöses Gegenaufklärertum“¹¹⁹. Dass diese Gemeinsamkeiten auch lagerübergreifend häufig wahrgenommen wurden, zeigte sich vor allem im journalistischen Bereich. Sowohl pro- als auch gegenaufklärerisch ausgerichtete Journale unterstützten immer wieder Beiträge ihrer andersgläubigen ‚Kollegen‘.¹²⁰ Die Unterstellungen, die die Geistlichen gegenüber Gutmann machen, sind höchst undifferenziert. Ein pauschaler Vorwurf wie der, ein Freigeist zu sein, versucht jede tiefergehende Auseinandersetzung mit den Positionen des so Beschuldigten im Keim zu ersticken. Unterschiede zwischen Deismus, Atheismus und Indifferentismus wurden nivelliert bzw. spielten keine Rolle; „das aufgeklärte Grundprinzip des Selbstdenkens“ wurde im religiösen Bereich „generell mit Religionsspott […] gleichgesetzt“¹²¹ und als aufrührerisch, da herrschaftsgefährdend dargestellt. Auch wenn einige Fürsten im 18. Jahrhundert ihre Herrschaft nicht mehr göttlich legitimierten, galt Religion – auch Aufklärern – dennoch als Stabilitätsfaktor, weil sie unter anderem die Moral sicherte. Der Exjesuit Goldhagen versuchte etwa darzulegen, dass die – speziell in Frankreich in diesem Ausmaß betriebene – Religionskritik „das ganze gesellschaftliche Gefüge“¹²² sukzessive zersetzen würde. Nicht umsonst sieht der Dechant in Gutmann einen Unruhestifter, den er selbst nicht im Dorf hätte haben wollen. Dass Gutmann aufrührerisches ‚Potenzial‘ beigemessen wird, zeigt sich auch daran, dass er zusätzlich der Freimaurerei beschuldigt wird, was in diesem Kontext ebenfalls negativ gemeint ist. In Ansätzen scheint hier die sogenannte Komplottlegende auf, der zufolge die Aufklärer die Weltherrschaft zu erlangen suchten. An Einfluss gewann diese Theorie – das Pendant zur angeblichen Jesuitenverschwörung – zwar erst in den folgenden Jahren und insbesondere im zeitlichen Umfeld der Französischen Revolution, den Grundstein der Legendenbildung legten die Gegenaufklärer allerdings bereits ab 1760. Gerade im süddeutsch-katholischen Raum herrschte in der Folgezeit unter den Gegenaufklärern die Meinung vor, die Freimaurer – und damit die Aufklärer –
119 Albrecht/Weiß: Bemerkung (wie Anm. 93, S. 128), S. 19. 120 In den Rintelner Annalen wurden die katholischen Aufklärer beispielsweise kräftig unterstützt, auch wenn sich in ihren Beiträgen mitunter immer noch weitverbreitete Stereotype über den Katholizismus fanden. Auf der anderen Seite fühlten sich Autoren des Augsburger Journal der Religion, Wahrheit und Litteratur (1797–1801) mit gegenaufklärerisch-protestantischen Zeitschriften wie der Eudämonia (1795–1798) durchaus verbunden, trotz weiterbestehender konfessioneller Vorbehalte. Vgl. Krenz: Konturen (wie Anm. 43, S. 13), S. 224–225, 293–295. 121 Albrecht/Weiß: Bemerkung (wie Anm. 93, S. 128), S. 17. 122 Dumont: Freygeister (wie Anm. 97, S. 129), S. 41.
136 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an hätten die „zunehmenden Spannungen zwischen Staat und Kirche sowie zwischen reformorientiertem und orthodoxem Klerus“¹²³ zu verantworten, als deren Resultat Sittenverfall und wachsender Ungehorsam angesehen wurden. Diese Tragweite des Freimaurer-Vorwurfs ist in Verbindung mit den weiteren Charakterisierungen, die Gutmann zugeschrieben werden, in den Mönchsbriefen bereits in Teilen angelegt. Die Schärfe der Verurteilung Gutmanns zeigt, dass seine Kritiker mit Recht als Gegenaufklärer bezeichnet werden können: Es geht ihnen nicht um die „Überzeugung […] der Andersdenkenden“, sondern darum, deren Positionen „herabzuwürdigen, auszuhöhlen, zu verdrehen“¹²⁴. Konstruktive Kritik an der Aufklärung oder an deren Vertretern ist nicht ihr vorrangiges Ziel, sondern letztlich deren Vernichtung. Gleichwohl sind die Vertreter der Gegenaufklärung, die in den Mönchsbriefen durch die Vorgesetzten und älteren Kollegen des Pfarrers repräsentiert werden, alles andere als ernstzunehmende und argumentativ überzeugende Gegner. La Roche stellt sie als Karikaturen eines orthodoxen Katholizismus dar, die sämtliche Vorurteile bedienen und die selbst einen Naivling wie den jungen Pfarrer an ihnen zweifeln lassen.¹²⁵ Sie werden in erster Linie als Männer präsentiert, die der Wunsch nach Erhalt ihrer Macht beziehungsweise ihrer geistlichen Autorität antreibt, die sich mit ihren Argumenten und Begründungen jedoch nur der Lächerlichkeit und Bigotterie preisgeben. Tatsächlich standen die Vertreter der Gegenaufklärung ihren Antipoden aber in Nichts nach.¹²⁶ Ihre Kritik war zwar destruktiv, aber im Kern oftmals durchaus zutreffend.¹²⁷ Wenn La Roche sie an dieser Stelle als armselig und ungebildet hinstellt, verkennt er ihre Gefährlichkeit. Dies liegt zum einen daran, dass sich zum Entstehungs-Zeitpunkt der Mönchsbriefe die Bewegung erst formierte. Zum anderen unterschätzte La Roche möglicherweise zunächst die Gegner wie so viele andere Aufklärer es in den ersten Jahren auch taten. Diese Geringschätzung
123 Albrecht/Weiß: Bemerkung (wie Anm. 93, S. 128), S. 19, vgl. vorher S. 12 und 17. Indem die Freimaurerei angegriffen wurde, erhielt die bislang vorwiegend auf die Bereiche von Religion und Erziehung bezogene Gegenaufklärung eine stärkere politische Komponente. 124 Ebd., S. 17 und 15. 125 So berichtet der Pfarrer seinem Freund vom Treffen mit dem Dechanten, den er bezüglich des Umgangs mit Gutmann um Rat fragen wollte, dass dieser ihn mit Arroganz und noch im „Schlafrock“ gekleidet empfangen habe, woraufhin der Pfarrer sich im Stillen dachte: „Entweder wird der Mann noch Weihbischof oder ein Narre.“ La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 60. 126 Zu einigen der gegenaufklärerischen Zeitschriftenprojekte siehe Kapitel 2.2. 127 So hatte Goldhagen z. B. ein relativ gutes Gespür dafür, dass viele Reformen, die im Mainzer Kurfürstentum durch aufgeklärte Ideen angestoßen wurden, in der Bevölkerung keinen oder wenig Rückhalt fanden, weil sie sich zu selbstherrlich über Traditionen und alte Überzeugungen hinwegsetzten. Dumont: Freygeister (wie Anm. 97, S. 129), S. 58.
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dürfte nicht nur dem anfänglichen Reformwillen der Fürsten geschuldet gewesen sein¹²⁸, weshalb sich die Aufklärer überlegen fühlten, sondern der Glaube an die Durchsetzung der Vernunft sowie der stetigen Vervollkommnung des Menschen werden ebenfalls das Ihrige dazu beigetragen haben. Für La Roche werden 1770 – am Anfang seiner Karriere als kurtrierischer Beamter – orthodoxe Katholiken als Überreste einer längst überwundenen Zeit gegolten haben, deren überkommene Glaubensvorstellungen jedem halbwegs aufgeklärten Menschen als überholt und schlimmstenfalls abergläubisch erscheinen mussten. Dennoch wird ihm bewusst gewesen sein, dass nicht jeder die Ideen der Aufklärung teilte, weshalb er ‚seine‘ Gegner wie den Dechanten oder Pater Guardian brauchte, um den Aufklärungsprozess des jungen Pfarrers für seine Leser nach-erlebbar zu machen und damit Überzeugungsarbeit zu leisten. Nach dem Gespräch mit dem Dechanten stellt der junge Pfarrer gegenüber seinem Freund ernüchtert fest: „Aber was habe ich daraus lernen oder zu meinem künftigen Verhalten merken sollen? Ich weiß nichts, als daß er und die Mönche den Gutmann nicht leiden können […].“¹²⁹ Nun kennt er zwar die reichlich allgemeinen Vorwürfe, die gegen Gutmann erhoben werden, wie er mit ihm umgehen soll und was er ihm erwidern kann, weiß er aber noch immer nicht. Er ist selbst bereits auf Gutmann getroffen und eigentlich davon überzeugt, dieser erfülle „ganz genau die Schuldigkeiten unserer Religion im äusserlichen“. Doch wenn er die Berichte der übrigen Geistlichen und sogar die seines gnädigen Herrn bedenke, dann könne er nur „ein verstockter Bösewicht und heimlicher Erzketzer“¹³⁰ sein. Der Pfarrer erweist sich in seinem Zwiespalt erstaunlich scharfsinnig: Ihm ist bewusst, dass er die Übereinstimmung Gutmanns mit der katholischen Lehre nur anhand dessen äußerlichen Verhaltens nachvollziehen kann, dessen innere Überzeugungen ihm aber letztlich verborgen bleiben müssen. Ob dieser etwa „desto fleißiger in seinem Zimmer betet“¹³¹, statt täglich die Messe zu besuchen, könne er nicht wissen. Er erkennt aber, dass Gutmann in den Augen seiner Kollegen und der Mönche dennoch nicht nur ein Ketzer, sondern gleich ein Erzketzer ist – ein ‚Titel‘, der in Werken katholischer Autoren sonst den Reformatoren (bzw. Protestanten allgemein) oder
128 So Albrecht/Weiß: Bemerkung (wie Anm. 93, S. 128), S. 8. 129 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 66 f. 130 Jeweils ebd., S. 69. Der Baron hat allerdings aus anderen Gründen als die Geistlichen etwas gegen Gutmann: Zum einen kritisiere dieser das Leben auf dem Schloss, welches nur aus Jagden, Saufgelagen und Müßiggang bestünde und zum anderen müsste der geizige Baron aus dem Erbe seines Bruders dem Hofmeister eine jährliche Rente zahlen. Siehe ebd., S. 48. 131 Ebd., S. 42.
138 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an frühchristlichen Häretikern vorbehalten war.¹³² Die Anwendung auf Gutmann verweist daher auf den sich im 18. Jahrhundert generell wandelnden Gebrauch des Ketzerei-Vorwurfs: Nun wurden „aufgeklärte und freidenkende Einzelpersonen […] die neuen, die eigentlichen Ketzer“¹³³. Auch Atheisten – und als solcher wird Gutmann ja bezeichnet – zählten folglich dazu und galten als besonders gefährliche Ketzer, da es ihnen an Gewissen fehlen würde. Kritik am Beichtwesen Bevor ihm „der P. Guardian […] von dem alten Hofmeister Hrn. Gutmann […] so viel Uebels gesagt, und ihm das Gewissen geschärfet“¹³⁴ hätte, gesteht der Pfarrer seinem Freund, habe er von diesem einen positiven Eindruck gehabt. Dass Gutmann nicht täglich die Messe besuche und auch an Prozessionen nicht teilnehme, habe er auf dessen Kränklichkeit und sein Alter zurückgeführt. Auch, dass Gutmann im vergangenen halben Jahr bei ihm noch nicht zur Beichte gewesen sei, erschien ihm nicht weiter bedenklich. Er habe schlicht vermutet, der Hofmeister suche dazu in der Stadt einen älteren Priester auf, da er ihn, den neuen Pfarrer, als zu jung empfinde.¹³⁵ Der Pfarrer gesteht sogleich ein, sich selbst auf das Beichthören schlecht vorbereitet zu fühlen. Gerade die Sünden der „Herren“, womit er die dörfliche Oberschicht meint, finde er oftmals nicht einmal „im Bussenbaum“¹³⁶, dem jesuitischen Standardwerk zur Moraltheologie. Seine Schilderungen untermauern seine selbst wahrgenommene Inkompetenz und belegen erneut seine unzureichende Ausbildung. Gegenüber seinem Herrn, dem Baron, dessen Verwalter und dem
132 So bezeichnete etwa Goldhagen den protestantischen Theologen Carl Friedrich Bahrdt (1740–1792) als Erzketzer, da dieser mit seiner rationalistischen Theologie auf die Vernichtung des Glaubens ziele und damit schlimmer als Luther sei, vgl. Dumont: Freygeister (wie Anm. 97, S. 129), S. 47–48. Bahrdt erlangte Bekanntheit durch seine Angriffe auf die protestantische Lehrmeinung und galt als enfant terrible. Gerade für die Gegenaufklärung entwickelte er sich zu einer Hassfigur. Vgl. Bruno Sauer: Bahrdt, Carl Friedrich, in: Neue Deutsche Biographie 1 (1953), S. 542–543. Reichsrechtlich durften nach dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 Lutheraner und Reformierte nicht mehr als Ketzer verfolgt werden, womit sich die katholische Seite lange schwer tat. Schließlich unterschieden auch katholische Autoren und Gesetzgeber seit den 1760er Jahren hinsichtlich des Ketzerbegriffs zwischen Reichsrecht und kanonischem Recht, vgl. Weitzel: Ungläubige (wie Anm. 98, S. 130), S. 34–35. 133 Ebd., S. 39 f., S. 30. 134 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 42. 135 Ab dem 17. Jahrhundert wurde die Wahl des Beichtvaters freigestellt, wobei auf dem Land meist wenig Ausweichmöglichkeiten bestanden. Nicht jeder Priester durfte jedoch die Beichte abnehmen, sondern es bedurfte einer bischöflichen Lizenz zur Approbation. Vgl. Hersche: Muße (wie Anm. 33, S. 11), S. 683, 686 f. 136 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 42 und 44.
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Amtmann besitzt er keinerlei Autorität und handelt die auferlegten Bußübungen mit ihnen mehr oder weniger aus. Allerdings lässt sich dieser Bericht auch als Kritik La Roches an der bestehenden Beichtpraxis verstehen, scheint die auferlegte Buße doch der reinen Willkür des Pfarrers zu entspringen, der auf standardisierte Sündenkataloge theologischer Lehrbücher angewiesen ist. La Roche greift das Thema der Beichte zu einem späteren Zeitpunkt erneut auf: In einem Gespräch zwischen dem Pfarrer und Gutmann verweist letzterer auf die Kirchengeschichte des französischen Kirchenhistorikers Claude Fleury (1640–1723), in welcher dieser die historische Entwicklung der Beichtpraxis darlege. Ausdrücklich stellt Gutmann zuvor klar, er wisse, dass er „dem Priester [s]eine Todsünde reumüthig bekennen und offenbaren muß“¹³⁷ – mithin geht es ihm – zumindest vorgeblich – nicht um das Sakrament der Buße, sondern um die Praxis der Beichte. Dass diese nicht zu allen Zeiten gleich war, führt Gutmann bezugnehmend auf Fleury aus: In den ersten Jahrhunderten der Kirche sei niemand zur Beichte gezwungen worden, sondern man habe „dieselbe nur denen heilsamlich angedeyen lassen, die sie verlanget haben“. Dabei sei die Kirche „mit aller Sanftmuth und Liebe zu Werke gegangen, welche sie sogar den Heiden liebenswürdig gemacht habe“, sodass „die Busse als ein Heilungsmittel gegen den ewigen Tod angesehen“¹³⁸ wurde. Erst als Folge nachlassender „Kirchenzucht“ habe die Kirche auf dem IV. Laterankonzil 1215 eine einmal jährlich in der Osterzeit abzulegende Pflichtbeichte „zur Glaubenslehre eingeführet.“¹³⁹ In den „damaligen Zeiten der Unwissenheit“, wo nur Geistliche über Bildung verfügten, sei diese Regelung auch sinnvoll gewesen, betont Gutmann. Der Gläubige hätte so wenigstens einmal im Jahr die Möglichkeit gehabt, sich Rat bei seinem Beichtvater zu suchen und von diesem, „der in Glaubenssachen besser als der unbelehrte Laie bewandert war, einen heilsamen Unterricht zu holen.“ Heute, so Gutmann weiter, sei die Situation „bey ungleich mehr aufgeklärten Zeiten“ jedoch eine völlig andere: Es müsse „einem gestandenen, in Jahren, Studien und Weltkenntniß zur Reife gediehnen Mann“ seltsam vorkommen, sich mit seinen intims-
137 Ebd., S. 140. 138 Jeweils ebd., S. 141. 139 Ebd., S. 142. Die Regelung wurde durch das Trienter Konzil bestätigt: „Die Pflichtbeichte war, wie die ihr folgende Kommunion, jeweils zur Osterzeit, innerhalb einer festgelegten Frist von einigen Wochen, zu erfüllen und zwar bei dem jeweiligen Pfarrer als dem ordentlichen Pfarrer, der darüber Buch zu führen und die Absentisten zu ermahnen bzw. anzuzeigen hatte.“ Hersche: Muße (wie Anm. 33, S. 11), S. 683. Wurde die Beichte bei einem anderen Beichtvater abgelegt, musste dieser den Vorgang mit einem sogenannten Beichtzettel bestätigen, der oftmals auch den Gemeindepfarrer als Kontrollinstrument diente. Für zusätzliche Beichten gab es keine weiteren Reglungen.
140 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an ten Problemen ausgerechnet einem jungen, kaum dem Kindesalter entwachsenen und „mit eben solchen, oder vielleicht noch ärgern Sünden beladenen“¹⁴⁰ Mann offenbaren zu müssen und sich demütig von diesem „verkleideten Bauernbuben“ und „unreifem Gelbschnabel erbärmliche unsäftige Lehrstücke herplaudern“¹⁴¹ lassen zu müssen. Ein Seelsorger, der selbst kaum Lebenserfahrung hat, konnte für einen aufgeklärten und welterfahrenen Mann nicht der richtige Ansprechpartner sein. Damit greift La Roche mit den Worten Gutmanns geschickt die Unzulänglichkeiten auf, die der junge Pfarrer einige Seiten zuvor bereits selbst ausgemacht hatte. Dass die Beichte im Laufe der Zeit ein Kontrollinstrument der Kirche über ihre Gläubigen wurde, verdeutlicht der Hinweis, ihr Pflichtcharakter sei Ergebnis mangelnder Kirchenzucht. Demgegenüber wird die ursprünglich freiwillige Beichte zum Ideal erhoben, das angeblich selbst bei Heiden Gefallen fand. Zwar mussten die Geistlichen, um die Erlaubnis zum Beichthören zu erhalten, in der Regel eine Prüfung ablegen, über die tatsächliche Qualifikation sagte diese aber nur bedingt etwas aus.¹⁴² Schließlich bestand gleichzeitig die Notwendigkeit, ausreichend Geistliche im Bistum zu haben, die die Beichte abnehmen durften, um die Pfarrangehörigen versorgen zu können. Die Pflichtbeichte in der Osterzeit war schon für die Gemeindepfarrer kaum zu bewältigen, weshalb Zeitmangel ein „Grundproblem“¹⁴³ darstellte. Die Geistlichen konnten folglich nicht allein aufgrund ihrer Jugend oder Unwissenheit kein sinnvolles seelsorgerliches Gespräch mit den Beichtenden führen, sondern sie hatten dazu schlicht nicht genügend Zeit, sollten alle Gemeindemitglieder ihrer Pflicht nachkommen können. Die meisten Gläubigen dürfte das jedoch kaum gestört haben. Sie waren froh, die Beichte schnell hinter sich zu bringen, wie die Berichte des Pfarrers ebenfalls vermuten lassen.¹⁴⁴ Damit hatte die „Beichte als schneller ritueller Akt zwar durchaus ihren festen Platz im Glaubenssystem des Einzelnen“¹⁴⁵, ein ernsthaftes Gespräch zur „sanftmüthige[n] Bekehrung des irrenden Sünders“¹⁴⁶ entwickelte sich daraus jedoch 140 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 143. 141 Jeweils ebd., S. 144. 142 So kam es wohl auch vor, dass die Prüfungen teilweise ausgesetzt wurden, wie die Ermahnung des Trierer Erzbischofs, dies wieder strenger zu handhaben, zeigt: Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia Bd. 5 (wie Anm. 47, S. 36), S. 362. 143 Hersche: Muße (wie Anm. 33, S. 11), S. 686. 144 Siehe La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 43–44. Dass die Beichte aber durchaus eine entlastende Funktion haben konnte, die dem seelischen Wohlbefinden der Gläubigen diente, beschreibt Hersche: Muße (wie Anm. 33, S. 11), S. 682 f. Gleichwohl betont auch Hersche, dass die wenigsten Interesse an einem ausführlichen Beichtgespräch hatten (ebd., S. 686–687). 145 Ebd., S. 689. 146 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 143.
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nicht. La Roche macht dafür in erster Linie zwar die mangelnde Lebenserfahrung der Geistlichen verantwortlich. Zugleich beanstandet er das laxe Verfahren der Beichte: Aus den Schilderungen des Pfarrers geht hervor, dass er regelmäßig mit den immer gleichen Vergehen seiner Gemeindemitglieder konfrontiert wird. Die relativ einfach zu erlangende Absolution verhinderte anscheinend ihre dauerhafte ‚Besserung‘, was möglicherweise durch ein tiefergehendes Beichtgespräch mit einem dazu qualifizierten Pfarrer anders wäre.¹⁴⁷ La Roche lässt darum Gutmann den Vergleich äußern, bei der niederen Gerichtsbarkeit setze man schließlich auch auf erfahrene Leute, zumal das Gericht noch mehreren „Oberrichtern“ unterstünde, wiewohl nicht das Seelenheil, sondern nur „zeitliche Güter“¹⁴⁸ verhandelt würden. Gutmann fragt denn auch zweifelnd: „In dem Tribunal des Gewissens aber, wo es um die unschätzbare Seligkeit zu thun ist, soll ein einziger Jüngling, der oft weniger als ein mittelmäßiger Bauer verstehet, allein Rath und Urteil sprechen?“¹⁴⁹ Welches Verfahren ihm, neben einer besseren Pfarrausbildung, stattdessen vorschwebte, lässt La Roche jedoch offen. Obwohl er Gutmann auf das Seelenheil verweisen lässt, spielt – wenn überhaupt – die erzieherische Funktion der Beichte eine größere Rolle als ihre erlösende. Der Hinweis auf ihre frühere Freiwilligkeit, die eindeutig positiv bewertet wird, lässt allerdings vermuten, dass es ihm nicht einfach nur um eine rigorosere Beichte ging.¹⁵⁰ Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen zielte die Darstellung der historischen Entwicklung daher möglicherweise darauf ab, der Ohrenbeichte – ähnlich wie schon beim Ablass – die theologische Grundlage abzusprechen. Dass diese Diskussion von Vertretern der katholischen Aufklärung geführt wurde, zeigt eine einige Jahre später in der Allgemeinen Literatur-Zeitung erschienene Rezension der Beyträge zur Verbesserung des äussern Gottesdienstes in der katholischen Kirche. Als besonders „merkwürdig[…]“ wird der
147 Vgl. dazu auch Hersche: Muße (wie Anm. 33, S. 11), S. 692: ‚Sünden‘ wie Ehebruch hätte die Beichte geradezu begünstigt, da die Gläubigen sich regelmäßig und ganz einfach ihrer Schuld entledigen konnten. So schildert der Pfarrer, bei der Beichte von Knechten und Mägden müsse man „viel Tanzen, Wirtshaus und vom sechsten Gebot verschlucken können.“ La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 43. – Nach Hersches Auffassung zeigt sich daran, dass die Beichte nicht generell eine disziplinierende Funktion hatte, wie dies vielfach im Zusammenhang mit der Konfessionalisierungsthese behauptet worden sei. Zwar hat Hersche Recht, dass Kontrolle und Disziplin nicht immer erreicht wurden, sie waren aber zumindest intendiert, wie die Mönchsbriefe zeigen. 148 Jeweils ebd., S. 144. 149 Ebd., S. 144 f. 150 Laut Hersche: Muße (wie Anm. 33, S. 11), S. 692–693 forderten sowohl katholische Aufklärer als auch Jansenisten oder andere Befürworter einer strengeren (Moral-)Theologie eine stärkeren disziplinierenden Charakter der Beichte, ohne Möglichkeit, sich im Schnellverfahren seiner Sünden zu entledigen.
142 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Artikel eines anonymen Autors über das Beichtwesen in der katholischen Kirche herausgestellt, in dem dieser mittels „Schriftexegese und andere[r] theologische[r] Waffen“¹⁵¹ den göttlichen Ursprung der Ohrenbeichte zu widerlegen suche, um damit Vorstöße anderer aufgeklärter Theologen¹⁵² in diese Richtung zu unterstützen. Anhand des Bibelzitats Joh. 20, 23, das dem Trienter Konzil als Beleg für die Einsetzung der Buße durch Christus¹⁵³ diente, legt der Autor dar, dass sich diese stattdessen auf die Vergebung der Sünden durch die Taufe beziehe, mithin daraus der göttliche Ursprung der Beichte nicht abgeleitet werden könnte.¹⁵⁴ Zwar geht La Roche in den Mönchsbriefen längst nicht soweit, da er sich bezüglich seiner eigenen Meinung bzw. seiner Absichten weniger explizit äußert als der anonyme Autor. Der kurfürstliche Beichtvater Beck allerdings warf ihm in seinem Brief an Garampi vor, sich über die Ohrenbeichte, la confession auriculaire¹⁵⁵, lustig zu machen. Zumindest für Beck müssen die anschließenden Beteuerungen Gutmanns, nicht die Kirchenlehre in Frage stellen zu wollen, sondern sich ihrem Gebot zu unterwerfen und lediglich die Ausführungen Fleurys zu referieren, wenig glaubhaft erschienen sein. La Roche hingegen lässt Gutmann seine Erörterungen über das Beichtwesen versöhnlich schließen: „Es ist nur ein Wunsch dessen, was unsere Religion mehr heiligen könnte.“¹⁵⁶ – Seine Ausführungen sollen also lediglich als Verbesserungsvorschläge verstanden werden. Aus den Andeutungen, die La Roche Gutmann in den Mönchsbriefen in den Mund legt, lässt sich dennoch schließen, dass er den Zwang zur Beichte und die Möglichkeit der Kirche, die Gläubigen dadurch zu kontrollieren, ablehnte. Gegen die Beichte als freiwilliges Instrument zur Gewissenserleichterung scheint er keine prinzipiellen Einwände gehabt zu haben. Da sie aber vor ‚gestandenen
151 Jeweils Allgemeine Literatur-Zeitung, Bd. 3, Jena 1789, S. 603. 152 Verwiesen wird unter anderem auf Josef Valentin Eybel (1741–1805), einem österreichischen Kirchenrechtler, von dem 1784 die Schrift Was enthalten die Urkunden des christlichen Alterthums von der Ohrenbeichte? erschien. Aufgrund seiner aufklärerischen Werke, die sich gegen Lehrsätze der Kirche richteten, wurde er exkommuniziert. Vgl. Gustav Gugitz: Eybel, Josef Valentin Sebastian, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 4, 1959, S. 707–708. 153 Das Trienter Konzil bestand, im Unterschied zum Protestantismus, weiterhin auf der im Mittelalter festgelegten Anzahl von sieben Sakramenten, wozu auch die Buße bzw. die Beichte zählte. Ihren historischen „Bedeutungs- und Gestaltwandel“ (Holzem: Christentum (wie Anm. 11, S. 4), S. 175) erkannte man nicht, stattdessen wurde festgesetzt, dass alle Sakramente durch Christus eingesetzte worden seien. 154 Vgl. Anonym: Ueber das Beichtwesen in der katholischen Kirche, in: Beyträge zur Verbesserung des äussern Gottesdienstes in der katholischen Kirche, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1789, S. 120–166, hier S. 130–131. 155 Siehe Kapitel 3.1.1. 156 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 145.
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Männern‘ abgelegt werden sollte, lässt dies vermuten, dass La Roche eine Art Gesprächstherapie im Sinn hatte, die den Menschen eine Hilfestellung bei der Bewältigung ihrer alltäglichen oder theologischen Probleme geben sollte. Volksaufklärung und Scheinheiligkeit des mönchischen Armutsideals Die Sympathie, die der Pfarrer von Anfang für Gutmann hegt, rührt allerdings nicht von seinem insgeheimen Verständnis für dessen ausbleibende Beichtbesuche. Vielmehr schildert er seinem Freund, dass er bei den ersten Begegnungen mit Gutmann den Eindruck eines freundlichen und großzügigen Menschen gewinnen konnte. So fände sich Gutmann stets bereit, den Bauern bei Rechtsstreitigkeiten mit Rat zur Seite zu stehen, sie notfalls von aussichtslosen Verfahren abzuhalten und ansonsten die für sie notwendigen Schriftstücke anzufertigen. Auch zahle er höhere Beträge in die Armenkasse ein als der Amtmann und unterstütze zusätzlich Notleidende oder Kranke finanziell. Ohne es zu merken, beschreibt der Pfarrer Gutmann als Volksaufklärer: „Er [Gutmann] kauft alle Jahre ein Haufen Strümpfe, Kappen, Handschuh, und so Zeug, das er in der Schule den Kindern, die am besten lernen, austheilen läßt. Den Bauern läßt er um sein eigen Geld allerley Saamen kommen, um unsern Ackerbau zu verbessern, und schwazt ihnen freundlich vom Säen und Erdbau, wie ein ausgelernter Calendermacher.“¹⁵⁷ Gutmann bemühte sich folglich nicht nur, durch kleine Geschenke den Kindern einen Lernanreiz zu geben und ihnen damit ein positives Bild von Bildung und (schulischer) Leistung zu vermitteln, sondern auch das Wohlergehen der Bauern war ihm ein Anliegen. Von Beginn an lag das Hauptaugenmerk der Volksaufklärer auf der Verbesserung der Landwirtschaft. Als „zentraler Sektor einer Volkswirtschaft, deren Nahrungsproduktion ganz und gar von den agrarischen Zuständen abhing“¹⁵⁸, erschien ihnen die Vermittlung und Anwendung besserer Anbaumethoden oder Saatguts dringend geraten, um den Ertrag zu erhöhen. Wenn der Pfarrer Gutmann mit einem ‚Calendermacher‘ vergleicht, spielt er auf ein noch im 18. Jahrhundert sehr wichtiges Informationsmedium an, das praxis- und alltagsbezogenes Wissen an die Landbevölkerung vermittelte. Häufig wurden mit Erlaubnis der Landesherren eigene Landkalender zu diesen Zwecken herausgegeben.¹⁵⁹ Die Kalender waren mitunter der einzige weltliche Lesestoff, der sich in bäuerlichen 157 Ebd., S. 45 f. 158 Böning: Aufklärung (wie Anm. 68, S. 42), S. 16. 159 Clemens Wenzeslaus erneuerte im Mai 1787 sein Verbot, dass auswärtige Landkalender ohne vorherige Erlaubnis des Generalvikariats nicht verkauft werden dürften: Blattau: Statuta synodalia Bd. 6 (wie Anm. 125, S. 56), S. 75. Siehe dazu Kapitel 2.2. Daran zeigt sich, dass die Kalender aufgrund ihrer hohen Verbreitung einer strengen Kontrolle durch die Obrigkeiten unterlagen, vgl. allgemein dazu Stephan Giess: „Merckwürdige Begebenheiten“: Wissensvermittlung im Volks-
144 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Haushalten fand und erreichten daher alle Stände.¹⁶⁰ Sie enthielten neben den üblichen kalendarischen Angaben auch solche zu Markttagen, kirchliche Festtagen, zu Witterungsverhältnissen und zum günstigsten Zeitpunkt für erforderliche Aussaaten. Außerdem beinhalteten sie Nachrichten, aber auch moralische Erzählungen, die unter dem Eindruck der Aufklärung entweder dazu dienten, religiösen Aberglauben und Scharlatanerie zu bekämpfen oder ein redliches und arbeitsames Leben erstrebenswert zu machen. Vor allem enthielten sie nun Ratschläge zur Landwirtschaft, wie etwa zur Verbesserung von Anbautechniken oder zur effektiveren Viehzucht, aber auch Informationen zur Gesundheits- und Krankenpflege. In den Augen des Pfarrers übernimmt Gutmann mit seiner Umtriebigkeit die Funktion der Kalender als Nachschlagewerke für Bauern gleich selbst.¹⁶¹ Gutmann ist, ganz in der Manier der Volksaufklärung¹⁶², davon überzeugt, jeder Mensch wolle seine Kenntnisse vermehren, wozu gute Bücher das beste Mittel seien. Allerdings setzt er klare Grenzen: „Nur sollte sich ein jeder vorzüglich an die Classe halten, die seinem Genie und erlernten Nahrungsgeschäften am angemessensten ist.“¹⁶³ Die Bauern sollten keine weitschweifigen Abhandlungen lesen, sondern knappe, hilfreiche Auszüge daraus, die landwirtschaftliche Themen behandeln. Diese Vorgaben sieht er durch einige Kalender verwirklicht. Wichtig sei, dass sie sich ausschließlich auf die Erfahrungen der Bauern im Land bezögen und es sich nicht um die Übersetzung englischer oder französischer Texte handle. Als Ideal entwirft er das Bild eines Landesherrn, der einen Bauern dafür bezahlt, „in männiglich begreiflichen Ton, Ackerbau und Wirthschafts-Erfahrungen“¹⁶⁴ aufzuschreiben und der diese im Anschluss drucken ließe. Auch wenn Gutmann die kalender des 18. Jahrhunderts, in: Traverse: Zeitschrift für Geschichte 6.3 (1999), S. 35–50, hier S. 40. 160 Böning: Aufklärung (wie Anm. 68, S. 42), S. 23. 161 Die „überragende Dominanz des Kalenders auf dem Lande“ gründete sich auf drei wesentlichen Funktionen: „[E]rstens der sachlichen und ideologisch-sittlichen Orientierung bzw. alltagspraktischen Regulierung, zweitens der astronomisch-astrologischen und später aufklärerischen Information und drittens der allgemeinen Unterhaltung und Bildung.“ Jeweils Werner Faulstich: Die bürgerliche Mediengesellschaft (1700–1830), Göttingen 2002, S. 153 sowie vgl. Heidrun AlzheimerHaller: Handbuch zur narrativen Volksaufklärung: Moralische Geschichten 1780–1848, Berlin 2004, S. 40–43, 54. Inwiefern die volksaufklärerischen Inhalte der Kalender tatsächlich auch rezipiert wurden, ist nicht feststellbar. Die Leser erhofften sich aber wohl vor allem Unterhaltung, vgl. Giess: Wissensvermittlung (wie Anm. 159, S. 143), S. 48. 162 Laut Kuhn verwandte den Begriff Volksaufklärung erstmals der Dessauer Pfarrer Bernhard Siegfried Walther (1759–1826) 1782 in seinem Buch Ueber die Aufklärung des Landvolks. Vgl. Thomas K. Kuhn: Praktische Religion. Der vernünftige Dorfpfarrer als Volksaufklärer, in: Böning/Siegert/ Schmitt [Hrsg.]: Volksaufklärung (wie Anm. 68, S. 42), S. 89–108, hier S. 96. 163 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 124. 164 Ebd., S. 125.
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Aufklärung der Bauern zweckgebunden und im Rahmen der ständischen Verhältnisse sieht, ist ihm dennoch bewusst, dass Belehrungen ‚von oben‘ leicht an der Lebenswirklichkeit der Adressaten vorbeigehen.¹⁶⁵ Diese Schilderungen zeigen zudem, dass Gutmann offensichtlich ein gutes Verhältnis zur Landbevölkerung hat. Für ihn sind sie keine bloßen ‚Bauernseelen‘, für die man nur den erstbesten Pfarrer benötigt, sondern ihm ist sehr an ihrer Aufklärung sowie der ihrer Kinder gelegen. Zwar bedient auch er sich mitunter Vergleichen mit dem Bauernstand, um jemanden als ungebildet zu charakterisieren, generell misst er ihnen jedoch mehr Kenntnisse bei als den meisten Kirchenleuten.¹⁶⁶ Trotz Gutmanns formulierter Einschränkungen für die Aufklärung der Bauern, zeigt La Roche über die Figurenrede im Sinne der Wissensvermittlung ein universelles Aufklärungsverständnis: Der Erwerb nützlichen Wissens sollte nicht auf eine kleine Elite beschränkt bleiben, sondern der ganzen Bevölkerung offen stehen.¹⁶⁷ Gleichwohl fällt den bereits Gebildeten dabei die Rolle der Vermittler zu, die Gutmann gegenüber den Bauern einzunehmen versucht. Hingegen sind diese in den Augen der Geistlichen – den jungen Pfarrer miteingeschlossen – einfach nur dumm. Dass mangelnde (Schul-)Bildung die Ursache sein könnte, kommt ihnen nicht in den Sinn. Stattdessen wird in diesem Zusammenhang immer wieder ihre eigene Beschränktheit ersichtlich, etwa, wenn der Pfarrer nicht daran glaubt, seine Bauern könnten seine erworbenen Predigten verstehen, er selbst aber auch nur in der Lage ist, sie auswendig zu lernen. La Roche versucht durch diese Entgegensetzung immer wieder die Inkompetenz der Geistlichkeit auf ihrem ‚Fachgebiet‘ zu entlarven. Auch deren Bigotterie führt er ein ums andere Mal erbarmungslos vor: Als der Pfarrer, der Gutmanns Mildtätigkeit gegenüber den Armen sehr schätzt, dies dem Dechanten berichtet, erwidert dieser nur kühl: Wann der alte Kezer gutthätig wäre, so gäbe er aus so vielen Nothwendigkeiten doch den armen Capucinern, Franciscanern, Augustinern, Carmeliten oder Dominicanern etwas. Diese sind die wahre freiwillige Arme, die bey ihrer vom Pabst approbirten Armuth dennoch der Kirche gegen die Ketzer beystehen und den Pfarrern aushelfen. Schwerlich wird Gott das, was man an Bauern verschenkt, für ein gutes Werk ansehen. Denn diese sind zur Arbeit geboren, und nicht freywillig, sondern gezwungen arm.¹⁶⁸
165 Seine Vorstellung einer neutralen Wissensvermittlung im Auftrag des Landes- oder Gutsherrn erscheint hingegen utopisch: Die Obrigkeiten erkannten schnell, dass sie die Kalender auch zur Beeinflussung und Lenkung der Bevölkerung nutzen konnten, vgl. Giess: Wissensvermittlung (wie Anm. 159, S. 143), S. 40. 166 So z. B. La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 145. 167 Zur Volksaufklärung allgemein siehe Kapitel 2.2. 168 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 65 f.
146 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Gutmann wird von der übrigen Geistlichkeit verachtet, weil er die aus ihrer Sicht freiwillige und darum wahrhaftige Armut der Bettelorden nicht anerkennt, sie gar ablehnt und ihrem System die Unterstützung verweigert. Erneut wird außerdem die Herablassung, mit der Mönche und Priester auf die Bauern schauen, ersichtlich: Sie sind arm geboren und sollen arm bleiben, da sonst niemand mehr die Arbeit verrichten würde.¹⁶⁹ Es geht La Roche an dieser Stelle jedoch weniger darum, für eine ständelose Gesellschaft zu werben, in der auch Bauern durch Leistung der Aufstieg gelingen kann. Vielmehr überführt er das Armutsverständnis und Almosenwesen der katholischen Kirche, allen voran der Mendikantenorden, als absurd, weil sie sich in seinen Augen nicht um die Bekämpfung realer Armut – etwa durch Volksaufklärung – kümmern, sondern die Menschen ihrem Schicksal überlassen. La Roche ist nicht an einer allgemeinen Auseinandersetzung über Armenfürsorge und Bettelwesen interessiert, sondern seine Kritik zielt tiefergehend: Zum einen sorgte „die heilsökonomische Lehre von den Guten Werken“¹⁷⁰ für einen stetigen Fluß an Almosen, bot sich dem Vermögenden doch so die Möglichkeit, mittels einer kleinen Gabe leichter ins Himmelreich zu gelangen. Zum anderen bewirkte die aus dem Mittelalter überlieferte Vorstellung des pauper Christi, die einerseits Bettlern „geradezu einen Heiligenstatus“¹⁷¹ verlieh und andererseits die Grundlage für das Entstehen der Bettelorden dargestellt hatte, eine Idealisierung der Armut. Mit den Äußerungen des selbstgefälligen und überheblichen Dechanten weist La Roche nach, dass Armut kein gottgewollter und gottgefälliger Zustand ist, sondern die wahren Probleme zulasten der armen Bauern, aber zugunsten der Bettelorden von den Kirchenvertretern verkannt werden. Kirche und Mönchtum wirft er damit Scheinheiligkeit vor.¹⁷² Zu einer ganz anderen Bewertung Gutmanns als aufgeklärtem Katholiken und dessen daraus abgeleiteten Ansichten und Handlungen gelangt unterdessen
169 So die Begründung des Dechanten: „Wann der Bauer was hat, oder geschenkt bekömmt, wird er gleich übermüthig oder faul. Und das gehet gegen seine Bestimmung.“ Ebd., S. 66. 170 Hersche: Muße (wie Anm. 33, S. 11), S. 784. 171 Ebd., S. 786. Zum mittelalterlichen Verständnis im Zuge der Klosterreform vgl. Hans-Werner Goetz: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im hohen Mittelalter, 2. Aufl., Berlin 2008, S. 49–52, besonders S. 51. 172 Der Vorwurf ist natürlich recht plakativ, da sich im 18. Jahrhundert auch in den katholischen Ländern das Verständnis von Armut zu wandeln begann, vgl. Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61, S. 40), S. 219–221 sowie Hersche: Muße (wie Anm. 33, S. 11), S. 770–776. So gab es auch im Trierer Erzstift Versuche, beispielsweise das Fürsorgewesen zu zentralisieren, direkte Armenspenden zu verbieten und stattdessen eine Armenkasse einzuführen. Gerade letzteres stieß in der Bevölkerung auf Ablehnung, was die Langlebigkeit heilsökonomischer Vorstellungen belegt, vgl. Sebastian Schmidt: Caritas: Die Sorge um Arme und Kranke, in: Persch/Schneider [Hrsg.]: Bistum Trier Bd. 3 (wie Anm. 49, S. 14), S. 424–461, hier S. 438–440.
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der Schulmeister des Dorfes. Dieser ist ein entschiedener Unterstützer des alten Hofmeisters und verteidigt ihn eloquent gegen die Angriffe des Dechanten, Pater Guardians und aller anderen Mönche. So kommt der Schulmeister zu dem Schluss, dass Gutmann „mehr vernünftiges cathol. Christenthum in der That“ bisher täglich ausgeübt habe „als fünfzig Mendicanten-Klöster mit allem ihrem kraftlosen Geplärre in einem langen Jahr, zu 365. Tag und Nacht gerechnet, gewiß nicht zusammenbringen können.“ Im Gegensatz zu diesen habe er sich folglich „bey dem allmächtigen Gott“ einen höheren „Verdienst“¹⁷³ erworben. Er weiß Gutmanns aktives Handeln zu schätzen und verurteilt gleichermaßen die hohlen Phrasen der Mönche und der restlichen Kirchenvertreter, die an einer Veränderung bestehender Verhältnisse nicht interessiert sind. Seine Auffassung von Gutmanns ‚Christsein‘ steht der des Dechanten damit diametral entgegen. Entschieden betont er, Gutmann „sei der menschlichen Gesellschaft ein besserer Christ, als sechs und dreißig Franciscaner und vier und zwanzig Dechanten.“¹⁷⁴ Auch er weist damit den Anspruch der Bettelorden, durch ein Leben in Armut die Nachfolge Christi innerhalb der Kirche zu verwirklichen, als anmaßend und falsch zurück. Wer verdient Toleranz? Der Schulmeister stellt vielmehr Gutmann als Inbegriff eines guten Menschen seinen Kritikern gegenüber und führt aus: Das christliche Gesez ist ein Gesez der Liebe. Unser Heiland hat uns diese vor allen andern geboten, und gesagt: In der Liebe Gottes und des Nächsten bestünde das Gesetz und die Propheten. Wer ist nun mein Nächster? Ew. Hochwürden werden vielleicht, mit dem Dominicaner, der lezthin zu A* gepredigt hat, antworten, nur die Mönche und die den catholischen Glauben haben.¹⁷⁵
Letzteres sei jedoch nicht wahr, denn Gott habe die Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen, weshalb auch „ein kranker Kezer mit einer vernünftigen Seele“ Hilfe verdiene, wenn er sie benötige. Nur, weil jemand „an ein oder das andere nicht so wie der Dechant glaube[…]“¹⁷⁶, dürfe man ihn nicht verachten. Der Pfarrer, der mit Bestürzung erleben musste, dass Gutmanns Hilfsbereitschaft weder vor einer Jüdin noch einem calvinistischen Handwerker Halt machte, was ihn „an seinem [Gutmanns] Christenthum“¹⁷⁷ zweifeln ließ, wird nun vom Schulmeister
173 174 175 176 177
Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 73. Ebd., S. 72. Ebd., S. 73 f. Jeweils ebd., S. 74. Ebd., S. 46.
148 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an mit ähnlichen Ansichten konfrontiert. Zu diesen gelangte er durch das Studium antiker Autoren, deren Werke ihm Gutmann auslieh. Dass vernünftige Männer wie Solon, Sokrates oder Cicero nur deshalb verdammenswert sein sollten, „weil sie sich nicht taufen lassen, ehe man noch etwas von der Taufe gewußt hat, und weil sie vor Christi Geburt und Lehre keine Christen geworden sind“¹⁷⁸, erscheint ihm falsch. Schließlich habe Gott, der „alles zum Besten und mit unbeschreiblicher Weisheit gemacht“¹⁷⁹ habe, dies genau so geplant und lasse darum jedem seine Barmherzigkeit zuteilwerden. Aus demselben Grund sieht der Schulmeister auch Lutheraner, Calvinisten, Juden und Türken nicht als Verdammte an. Ingesamt sei der Anteil der Katholiken an der Weltbevölkerung gering, habe ihn der „Gothaische[…] Hofcalender“¹⁸⁰ gelehrt und unmöglich könne es Sinn „der weisen Schöpfung und wahrhaft göttlichen Erlösung“¹⁸¹ sein, die anderen alle dem Teufel anheimfallen zu lassen. Mit Abscheu habe er nach dem Tod des vorherigen Pfarrers die Gespräche des Dechanten und des Kapuziners, der vertretungsweise die Messe las, verfolgt: Unbarmherzig habe der Dechant alle Weltlichen, „welche die Oberherrschaft der Geistlichkeit nicht blind erkennen; die nicht in Brüderschaften eingeschrieben sind; oder nur im geringsten Stück an der Regel des heil. Francisci zweifeln; den Mönchen die Gurgel nicht schwenken, und keine Ablässe gewinnen“, verurteilt und sie aufgrund dieser Sünden „von dem Himmel ausgeschlossen“. Ganz im Sinne der Argumentation Gutmanns bezüglich der Ablässe und der Ohrenbeichte merkt der Schulmeister dazu lapidar an: „Gerade als ob man nicht ohne Beyhülfe dieser Herren [des Dechanten und der Mönche, Anm. A. K.] aufstehen könnte.“¹⁸² Nur, weil vernünftige Männer wie Gutmann „nicht alle, Gott vergeb es mir! von einfältigen
178 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 88. Die Diskussion wurde auch vor dem Hintergrund zeitgenössischer Entdeckungsreisen geführt: So argumentierte der französische Theologe Nicolas-Sylvestre Bergier (1718–1790), die göttliche Gnade würde allen zuteilwerden, „auch den ungetauften ‚Wilden‘ in Ozeanien und Amerika. Da diese keinen klaren Begriff von Gott hätten, sei ihre Zurückweisung des Christentums nicht verschuldet.“ Ulrich L. Lehner: Die katholische Aufklärung. Weltgeschichte einer Reformbewegung, Paderborn 2017, S. 34. Bergier setzte sich kritisch mit französischen Materialisten wie Holbach und Denis Diderot (1713–1784) auseinander. Mit beiden war er bekannt und verkehrten in ihren Salons. 179 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 87. 180 Ebd., S. 90. Bezeichnenderweise blättert der Schulmeister während der Messe in diesem Kalender. Unter dem vollständigen Titel Gothaischer Hof-Kalender zum Nutzen und Vergnügen eingerichtet wurde der Kalender zunächst ab 1763 von Johann Christian Dieterich (1722–1800) in Gotha herausgegeben. Erst im Laufe der Zeit entwickelte er sich zum genealogischen Handbuch und brachte zuvor auch andere Nachrichten. 181 Ebd., S. 92. 182 Jeweils ebd., S. 77.
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Andächtlern aufgebrachte Narrenspossen mitmachen“ würden, sage man gleich, „sie hören die Kirche nicht; und wer die nicht höret wird verdammt“¹⁸³. Dabei würden sie doch alles befolgen, „was unsere heilige Religion vor alten Zeiten zu glauben und zu thun geboten hat“¹⁸⁴. Er für seinen Teil, so der Schulmeister weiter, glaube nicht an die ewige Verdammnis derjenigen, die zwar redlich seien, aber nicht alles, was im Katechismus stünde, befolgten. Der Schulmeister unterscheidet hier klar zwischen dem, was in seinen Augen seit jeher wesentlicher, göttlicher Bestandteil der Religion ist und dem, was im Laufe der Zeit nicht nur durch gewöhnliche Menschen, sondern durch ‚Narren‘ an Albernheiten hinzugefügt worden sei. La Roche lässt den Schulmeister ein umfassendes Verständnis von religiöser Toleranz postulieren: Er bringt diese sowohl anderen Konfessionen und Religionen als auch den eigenen katholischen Zweiflern und (antiken) Heiden entgegen. Keiner von ihnen ist für ihn verdammenswert, sondern jeder Glaube hat seine Berechtigung. Einzig nimmt er Atheisten, die er als Gottesleugner bezeichnet, davon aus. Anders als noch John Locke hat der Schulmeister hinsichtlich der Toleranz keinerlei konfessionelle Berührungsängste,¹⁸⁵ sondern definiert sie im Gegenteil sogar unter Einschluss der Juden und Muslime (‚Türken‘) sehr weitgehend. Trotzdem bleibt er insbesondere mit der Ablehnung des Atheismus in der zeittypischen Auslegung verhaftet.¹⁸⁶ Eng verbunden mit der Toleranz ist auch die Moralvorstellung des Schulmeisters: Diese basiert auf der Idee der christlichen Nächstenliebe, die aber anders als in der Auslegung der Kleriker und Mönche nicht nur auf (ka-
183 Jeweils ebd., S. 77 f. 184 Ebd., S. 76. 185 Locke nahm aus politischen Gründen Katholiken von der Toleranz aus, siehe dazu auch Kapitel 2.2. Dass für La Roche selbst eine unterschiedliche Konfession kein Problem darstellte, zeigt seine Eheschließung mit einer Protestantin. 186 Sowohl in Pufendorfs De habitu religionis christianae ad vitam civilem (1687) als auch in Mendelssohns Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783) erstreckte sich die Toleranz beispielsweise nicht auf den Atheismus, da beide diesen als Gefährdung für den Staat ansahen. Für Mendelssohn umfasste die Toleranz allerdings nicht nur die drei christlichen Konfessionen der Katholiken, Lutheraner und Calvinisten, sondern galt auch für Juden, Heiden, Muslime und Deisten. Mit seinem Traité sur la tolérance von 1763 klagte Voltaire die Intoleranz der katholischen Kirche an und setzte sich für die posthume Rehabilitierung des Calvinisten Jean Calas (1698–1762) ein. Vgl. Simone Zurbuchen: Zur Entwicklung von der Toleranz zur Religionsfreiheit im historischen Kontext Brandenburg-Preußens am Beispiel von Pufendorf und Mendelssohn, in: Ursula Goldbaum/Alexander Košenina [Hrsg.]: Berliner Aufklärung. Kulturwissenschaftliche Studien, Bd. 3, Hannover 2007, S. 7–32, hier S. 7, 11, 24.
150 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an tholische) Christen beschränkt bleibt, sondern ausdrücklich universell verstanden wird.¹⁸⁷ Allgemein setzte eine Toleranzdebatte im katholischen Raum erst sehr viel später ein als im protestantischen. Hier diskutierten bereits Ende des 17. Jahrhunderts Autoren wie Pufendorf das Thema in ihren Werken, was auf katholischer Seite erst ab etwa den 1750er Jahren erfolgte. Bis dahin galten in Bezug auf religiöse Toleranz „im katholischen Teil des Reiches vor allem die Bestimmungen des kanonischen Rechts als maßgebliche Norm.“¹⁸⁸ Dies hing unter anderem mit der ebenfalls verzögerten kirchenrechtlichen Rezeption des Naturrechts zusammen, das eine wesentliche Rolle spielte, um zu begründen, ob und wem Toleranz gewährt werden sollte. Oftmals vermischten sich naturrechtliche und theologische Argumente, etwa wenn Atheisten aufgrund ihres fehlenden Glaubens die Moral abgesprochen und daraus eine Gefahr der staatlichen Stabilität abgeleitet wurde.¹⁸⁹ Implizit spielt auch der Schulmeister auf diese Thematik an, wenn er Ketzer als tugendsame und vernünftige Männer beschreibt, Gottesleugner hingegen mit Bösewichten gleichsetzt, die Übles tun. Ihm geht es jedoch dezidiert nicht um ein juristisches, sondern um ein theologisch-philosophisches Plädoyer für Toleranz. La Roche dürften jedoch die genuin naturrechtlichen Begründungen, die auf das Wohl des Staates rekurrierten, bekannt gewesen sein. Indem er diese jedoch nicht aufgreift, sondern den Schulmeister aus dessen persönlicher religiöser Erfahrung heraus argumentieren lässt, wird dessen Forderung nach Toleranz für einen größeren Leserkreis verständlich und nachvollziehbar gewesen sein. Gleichzeitig zeigt das Aufgreifen dieses „Schlüsselbegriffe[s] der europäischen Aufklärung“¹⁹⁰, dass auf katholischer Seite nicht nur im wissenschaftlich-juristischen Bereich die Diskussion um Toleranz verspätet eingesetzt hatte, sondern auch für eine breitere ‚Öffentlichkeit‘ literarischer Nachholbedarf bestand. Die Gegenüberstellung der elaborierten und an Maßstäben der Vernunft orientierten Argumentation des Schulmeisters mit den vorurteilsbehafteten Äußerungen der Geistlichkeit zeigen, welche Position La Roche selbst vertrat und welche er mit den Mönchsbriefen Gehör verschaffen wollte. Hauptfeinde der Toleranz waren für ihn das Mönchtum als Ganzes und zumindest diejenigen Teile der katholischen
187 Zur alle Menschen umfassenden Nächstenliebe siehe auch die Beispiele bei Handschuh: Wahre Aufklärung (wie Anm. 43, S. 13), S. 194. 188 Fritsch: Toleranz (wie Anm. 104, S. 131), S. 366. 189 Vgl. ebd., S. 364–366. Fritsch betont, dass am Ende des 18. Jahrhunderts trotz intensiver Diskussionen „weder ein einheitlicher Begriff noch eine einheitliche Begründung von Toleranz existierten“ (S. 365). Zur Bedeutung der naturrechtlichen Grundlage für die Entwicklung des Toleranzbegriffs vgl. auch Zurbuchen: Entwicklung (wie Anm. 186, S. 149), S. 8. 190 Ebd., S. 7.
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Kirche, die ähnlich engstirnig dachten und handelten wie die Figur des Dechanten. Dieser steht stellvertretend für die orthodoxen Kräfte innerhalb der Kirche. Ihnen und den Mönchen weist er mit der Rede des Schulmeisters Intoleranz nach. Schließlich lehnen sie nicht nur sowohl die anderen christlichen Konfessionen als auch die übrigen monotheistischen Religionen ab, sondern tolerieren vor allem innerhalb der eigenen Lehre keinerlei Abweichungen oder Veränderungen. Sie sind denn auch Repräsentanten eines blinden Glaubens, der keinen Zweifel zulässt, wie ein weiterer Priestermönch dem Schulmeister unumwunden zu verstehen gibt.¹⁹¹ Aus La Roches Perspektive geht es dabei jedoch nie um die Religion, sondern nur darum, die gegenüber den Laien herausgehobene Position als Vermittler zwischen dem Göttlichen und dem Irdischen aufrechtzuerhalten. Jemand wie der Schulmeister, der sich durch das Bücherstudium zum Selbstdenken anregen ließ und lernte, sich in Glaubensdingen auf seine eigene Einschätzung zu verlassen, hat daher in der Welt des Dechanten und von Mönchen wie Pater Guardian keinen Platz. Der Schulmeister gelangt aufgrund seiner Überlegungen außerdem zu einer komplett anderen Gottesvorstellung als sie beispielsweise der Dechant vertritt: Der Lehrer sieht Gott als einen weisen Schöpfer und nicht als zornigen Richter, der die Menschen für ihre Sünden grausam straft. Stattdessen ist Gott in seiner Deutung der liebende Vater, der sich gegenüber menschlichen Fehlern unendlich barmherzig zeigt. La Roche lässt den Schulmeister mit diesem Gottesbild auf verbreitete Deutungsmuster der katholischen Aufklärung zurückgreifen. Im Versuch, religiösen Glauben und Aufklärung zu vereinen, wurde die göttliche Allmacht nicht bestritten, vielmehr sorgte der Schöpfergott „im Rahmen seines eigenen ‚weisen Plans‘“¹⁹² für das Heil aller Menschen. Anders als der ab den 1780er Jahren publizierende katholische Aufklärer Johann Michael Sailer¹⁹³ verbindet La Roche
191 Dieser Pater Lektor belehrt den Schulmeister, Sokrates sei eindeutig Heide gewesen: „Denn wer vor Christo kein Jud war, und nach Christo kein Catholik ist, der hat zur Seeligkeit kein Recht.“ Die Einwände des Lehrers, er habe vom Glauben nichts wissen können, lässt er nicht gelten: „Gewußt oder nicht. Das verstehet ihr nicht mein lieber Mann. Ihr müsset blind glauben und nicht zweiflen. Die göttliche[n] Gerichte sind ein tiefer Abgrund. Und wir Gelehrte haben das Ding schon so ausgemacht, daß, wann ihr nur den mindesten Anstand an meinen Worte nehmet, so seyd auch ihr verdammt.“ Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 83. 192 Handschuh: Wahre Aufklärung (wie Anm. 43, S. 13), S. 100. Der Wandel des Gottesbildes basierte auf der anthropologischen Wende des 18. Jahrhunderts, wodurch die Religion nun auch stärker vom irdischen Leben des Menschen her gedacht wurde als eschatologisch begründet zu werden. Protestantische Aufklärer argumentierten ähnlich. Vgl. Andreas Holzem: Personen der Überwelt, in: Peter Dinzelsbacher [Hrsg.]: Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum. Bd. 5. 1750–1900, Paderborn u.a. 2007, S. 239–285, hier S. 241–242. 193 Vgl. Matthias J. Fritsch: Sailers Auseinandersetzung mit der Aufklärung im Spiegel seiner „Vernunftlehre für Menschen, wie sie sind“, in: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 35
152 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an den Gedanken der menschlichen Gottesebenbildlichkeit jedoch nicht mit der Verpflichtung zum Vernunftgebrauch, sondern leitet daraus sein Verständnis von Toleranz und Moral ab: Ein Gott, der die Menschen nach seinem Bild erschaffen hat, so der Schulmeister, hat ihnen auch die Pflicht auferlegt, einander zu helfen, gleich welcher Religion oder Konfession sie sind.¹⁹⁴ Gleichwohl nimmt die Vernunft in den schulmeisterlichen Ausführungen einen hohen Stellenwert ein, da dieser durch seine Lektüre erkannt hat, dass auch Nichtchristen zu vernünftigem und beispielgebendem Handeln fähig sind – genau wie der ‚Ketzer‘ Gutmann. Die Ausführungen des Schulmeisters basieren zwar auf einer christlich-theologischen Grundlage und dem entsprechenden Vokabular, formulieren aber einen darüber hinausgehenden tolerant-philosophischen Anspruch: In seiner Vision einer besseren Welt hören die Menschen auf, sich gegenseitig aufgrund abweichender religiöser Vorstellungen zu verdammen, sondern sehen sich alle als „Brüder und Miterben des Himmelsreich“. Entscheidend für die Bewertung eines Menschen sollten allein seine Taten sein „und nicht was er so zu sagen zu glauben gezwungen ist, weil ihn seine Geburt, sein Pfarrer und sein Schulmeister es gelernet; weil seine Eltern das auch geglaubt, die er für vernünftige Leute hält, und weil er in einem Lande sein Haab und Gut, und Nahrung hat, wo man nicht anders glauben darf.“ Wenn dies keine Rolle mehr spiele, wären alle in Liebe miteinander verbunden, „Haß und Verfolgungsgeist“¹⁹⁵ nicht mehr existent. Dem Schulmeister ist bewusst, dass die Religions- bzw. Konfessionszugehörigkeit abhängig von (historischen) Umständen ist und nicht auf die jeweilige Überlegenheit eines religiösen Systems zurückführbar. Sie basiert nicht auf einer privaten Entscheidung, sondern unterliegt stets einem gewissen Zwang. Ansatzweise scheint jedoch die Möglichkeit auf, diesen Zwang eines Tages ebenso wie die verschiedenen Religionen und Konfessionen zu Gunsten einer natürlichen Religion zu überwinden – auch wenn der Schulmeister längst noch keine deistische Position vertritt. Damit klingt in den Mönchsbriefen zaghaft eine Entwicklung an, die – insbesondere unter dem Eindruck der Aufklärung – dazu führte, „Konfessionszugehörigkeit zur Entscheidung
(2001), S. 152–166, hier S. 164 sowie allgemein Handschuh: Wahre Aufklärung (wie Anm. 43, S. 13), S. 47–48. 194 Diese Begründung findet sich ebenfalls noch bei weiteren katholischen Aufklärern, vgl. dazu ebd., S. 124–125. Handschuh bezieht sich an dieser Stelle auf Katechismen des beginnenden 19. Jahrhunderts. 195 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 93.
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bürgerlicher Subjekte“¹⁹⁶ zu machen und sich so sukzessive von den Faktoren zu lösen, die der Schulmeister noch als bestimmend benennt. Wie Gutmann bei seiner Kritik an der Beichte, lässt La Roche auch den Schulmeister am Ende seinen Gehorsam gegenüber der katholischen Kirche beteuern und vorgeben, die zwangsläufigen Einwände des Pfarrers zu akzeptieren „und zufrieden zu seyn, daß meine und ihre Religion die beste sey.“ Ob absichtlich die Rede von Religion ist, um auf das Christentum insgesamt zu verweisen, statt ausschließlich auf den Katholizismus, bleibt dahingestellt. Dass es La Roche mit der Forderung nach Toleranz bzw. dem Vorwurf der Intoleranz gegenüber Mönchtum und kirchlicher Orthodoxie jedoch sehr ernst war, zeigt die nachfolgende Klarstellung des Lehrers: „Aber lassen sie mir nur die Freude, daß es unter den Kezern auch recht viele ehrliche, gutthätige, und rechtschaffene Leute gebe – und daß unser lieber Gott nicht denke wie der Dechant.“¹⁹⁷ – Die als Ketzer gebrandmarkten katholischen Aufklärer sind fähige, ehrliche Männer, an die ihre Gegner nicht heranreichen können. Die Worte dieses „einfältigen Tropfens“ bringen den Pfarrer erstmals ernstlich ins Grübeln. Er gibt vor seinem Briefpartner zu, mit den Gedanken des Schulmeisters zu sympathisieren, nur sein geistliches Amt halte ihn davon ab, sie vollends zu teilen. Gleichsam sich selbst beschwörend fügt er hinzu: „Die Kirche kann nicht fehlen, und was sie gebietet, das muß wahr seyn.“¹⁹⁸ Noch erfüllt er damit die Forderung nach blindem Glauben, die auch der Mönch gegenüber dem Lehrer erhoben hatte. Eigentlich weiß er aus eigener Erfahrung, dass Letzterer mit seinen Argumenten Recht hat. Trotzdem fällt es ihm schwer, sich von den Grundsätzen seiner religiös-konfessionellen Erziehung, die ihm die Mönche vermittelten, zu lösen. Die Figur des Pfarrers fungiert damit innerhalb des Werkes als Bestätigung der aufgeklärten Kritik am mönchisch geprägten Erziehungswesen, das nicht das Selbstdenken seiner Zöglinge fördere, sondern sie nur zu gehorsamen, willfährigen Gliedern der Kirche machen würde. Das Leitmotiv der Mönchsbriefe, Unwissenheit und Aberglaube hätten ihren Ursprung im Mönchtum, wird durch den Pfarrer veranschaulicht. Exemplarisch wird dadurch ebenfalls das Grundproblem der katholischen Aufklärung verhandelt: Inwieweit darf sich jemand des eigenen Ver-
196 Schlögl: Alter Glaube (wie Anm. 12, S. 4), S. 152. Gleichwohl sollte diese Entwicklung nicht darüber hinwegtäuschen, dass der imaginierte Idealzustand des Schulmeisters lange auf sich warten ließ, denn Konfession blieb in Deutschland lange über das 18. Jahrhundert hinaus ein zentrales Distinktionsmerkmal. Vgl. Olaf Blaschke: Der „Dämon des Konfessionalismus”. Einführende Überlegungen, in: ders. [Hrsg.]: Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002, S. 13–69, hier S. 13. 197 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 93 f. 198 Jeweils ebd., S. 94.
154 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an standes in religiösen Angelegenheiten bedienen, ohne mit seiner Kirche in Konflikt zu geraten?¹⁹⁹ Polemisch hat La Roche bereits deutlich gemacht, dass aus Sicht orthodoxer Kräfte wie dem Dechanten und der Mönche die Antwort nur negativ ausfallen kann. So bleibt denn auch der Pfarrer zunächst ganz in seinem kindlich-naiven Glauben verhaftet, versucht jeden durch den Schulmeister aufgeworfenen Zweifel zu verbannen und bittet den Freund beinahe flehend für ihn zu beten, damit „[s]ein Glaube nicht wanke.“²⁰⁰ Sogleich versucht er anhand seines ‚Busenbaums‘ nachzuweisen, dass sein Gesprächspartner eindeutig ein Ketzer sei: Dieser postuliere nicht nur einen Irrtum – nämlich, dass „die göttliche Barmherzigkeit […] über kurz oder lang alle Menschen, die einen Gott glauben und rechtschaffen leben, zu Gnaden aufnehmen“²⁰¹ würde –, sondern halte an diesem auch noch hartnäckig fest, was unzweifelhaft sein Ketzertum belege. Der Pfarrer bedient sich eines Verfahrens, das durch das sogenannte Ketzerrecht, das im kanonischen Recht verankert war, vorgegeben wurde. Um Häretiker scheinbar schlüssig überführen zu können, bezogen sich darauf neben dem jesuitischen Moraltheologen, dessen Auslegung der Pfarrer heranzieht, auch andere katholische Theologen und Kirchenrechtler. Häresie wurde dabei in der Regel definiert als bewusster Irrtum, „an dem ein Getaufter hartnäckig gegen eine Wahrheit des katholischen Glaubens festhält, die geoffenbart und ausreichend bekannt ist.“²⁰² Wesentliche Bedingung um Ketzerei nachweisen zu können, waren folglich die Taufe des Beschuldigten und die Hartnäckigkeit, mit der er an seiner Auffassung festhielt. Folgerichtig fielen für den benediktinischen Kirchenrechtler Franz Schmier (1679–1728) kurzzeitige Glaubenszweifel nicht unter Häresieverdacht.²⁰³ Für den Pfarrer steht das Ketzertum des Schulmeisters unzweifelhaft fest, schließlich beharre dieser darauf, sich seine Überzeugung nicht nehmen zu lassen. Der Einwand seines Brieffreundes, „daß der kein Ketzer sey, der bereit ist seine Meinung der Kirche zu unterwerfen“, kann der Pfarrer daher nicht gelten 199 Zu den Grenzen des Vernunftgebrauchs vgl. Handschuh: Wahre Aufklärung (wie Anm. 43, S. 13), S. 36. 200 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 94. 201 Ebd., S. 96. 202 Die Definition stammt von dem bereits erwähnten Jesuiten Vitus Pichler, der u. a. als Professor für Kirchenrecht in Dillingen und Ingolstadt lehrte. Seine kirchenrechtlichen Lehrbücher waren aufgrund ihrer Praxistauglichkeit weit verbreitet, aber noch ganz in der scholastischen Tradition verhaftet. Vgl. Fritsch: Toleranz (wie Anm. 104, S. 131), S. 236–237, 247. 203 Schmier definierte Ketzerei ähnlich wie Pichler. Schmier hatte in Salzburg zuerst den Lehrstuhl für kanonisches Recht inne und wurde dann Professor für Natur- Völkerrecht. Er war einer der ersten katholischen Juristen, der sich mit zeitgenössischen Naturrechtstheorien auseinandersetzte. Vgl. ebd., S. 247–249, 264–265.
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lassen. Die Begründung liegt für ihn klar auf der Hand: „Ich glaube dieses gienge noch so an, wenn man an Kleinigkeiten z. B. an solchen, die nicht von unsern Theologen, sondern nur aus der heil. Schrift hergenommen sind, zweifelte.“²⁰⁴ Dass der Schulmeister von der Meinung der Theologen – womit der Pfarrer die (un-)mittelbaren Zeitgenossen meint – abweicht, wiegt schwerer als wenn dieser ‚Kleinigkeiten‘ der biblische Offenbarung anzweifeln würde. Der Pfarrer nimmt die Autorität kirchlicher Lehrmeinungen unhinterfragt hin, stellt sie über alles andere und misst Laien gegenüber Geistlichen keinerlei Rechte zu: „Er [der Schulmeister] sündiget für die Ketzer auf die Barmherzigkeit Gottes, und gegen das Ansehen unserer ganzen Geistlichkeit.“²⁰⁵ Die Bibel spielt für den Pfarrer – im Vergleich zum drohenden Ansehensverlust der Geistlichkeit – nur eine untergeordnete Rolle. Die katholischen Aufklärer betonten hingegen den Wert der Bibel als Quelle der Offenbarung, als Zugang zu wesentlichen Glaubensinhalten, weshalb sie „das seit dem Mittelalter nachlassende Interesse katholischer Theologen an der Bibel als eine schwere Fehlentwicklung“²⁰⁶ werteten. Zu dieser Erkenntnis ist der Pfarrer allerdings noch nicht gelangt, da er seine theologischen Positionen nicht aus dem regelmäßigen Studium der Bibel entwickelt, sondern ausschließlich auf die ihm bekannten theologischen Lehrbücher zurückzugreifen we iß, die ihm unantastbar erscheinen. Einzig, dass der Lehrer gegenüber anderen nichts über derlei „Gottlosigkeiten“ verlauten lasse und sich „in der Schule und Christenlehre […] redlich und auferbaulich nach dem Catechismus verhält, und seine Schulkinder nichts lehret, als was vorgeschrieben ist“²⁰⁷, kann der Pfarrer ihm zugutehalten. Die anfängliche Sympathie für dessen Thesen ist nun in Sorge vor einem Zuviel an Barmherzigkeit bzw. an Toleranz umgeschlagen. Der Pfarrer befürchtet wohl, sich selbst der Ketzerei schuldig machen zu können, wenn er den Schulmeister nicht entschieden genug verurteilt. La Roche werden die ablehnenden Positionen, die einige zeitgenössische katholische Theologen in Fragen der Toleranz vertraten, bekannt gewesen sein. Wie beispielsweise der in Wien lehrende Dogmatiker und Dominikanermönch, Petrus Maria Gazzaniga (1722–1799), postulierten sie ein Verständnis von Offenbarung, dass „jedes Abgehen von tradierten Positionen als eine dem Menschen nicht erlaubte Aufgabe von Offenbarungswahrheiten, als Laxismus und
204 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 96 f. Den fiktiven Brieffreund hat La Roche als einen verständigeren Widerpart des Pfarrers angelegt, dessen verbindliche ‚Antworten‘ in den Briefen des Pfarrers immer wieder paraphrasiert werden. 205 Ebd., S. 97. 206 Handschuh: Wahre Aufklärung (wie Anm. 43, S. 13), S. 69. 207 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 97.
156 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Indifferentismus“²⁰⁸ auslegte. Derartige Ansichten, die vor allem dazu beitragen sollten, weiterhin ein konfessionelles Spannungsverhältnis aufrecht zu erhalten, waren natürlich nicht im Sinne eines Toleranzverständnisses, wie es La Roche in den Mönchsbriefen vertrat. Dass ausgerechnet der Pfarrer, der bereits mehrfach seine Unwissenheit unter Beweis gestellt hat, mit pseudo-wissenschaftlicher Akribie den Schulmeister als Ketzer zu überführen versucht, gibt ein solches Denken völlig der Lächerlichkeit preis. Bereits als es um die Kontroverspredigten ging, die der Pfarrer als Grundlage seiner Predigten nutzt, deutete sich La Roches Kritik an derartigem Glaubens-Enthusiasmus an, der sich nicht mit der aufgeklärten Vorstellung einer „friedlich-unpolemisch[en]“²⁰⁹ Auseinandersetzung zwischen den Konfessionen verbinden ließ. Nun, da der Pfarrer glaubt, dem Lehrer ein Abweichen von der katholischen Lehre nachgewiesen zu haben, misstraut er ihm und lehnt ihn vehement ab. Als dieser die Kinder statt aus „des P. Cochems Legende das Leben des Tags-Heiligen“²¹⁰ aus dem „öconomischen Landwirthschafts-Calender, der zu Stuttgart im Luthertum gedrukt ist“²¹¹, lesen lässt, unterbindet er dies direkt, obwohl die Schüler dem Text großes Interesse entgegenbringen. Dass es sich dabei nur um einen harmlosen Versuch zur Volksaufklärung handelt, der den Schülern „etwas nützliches […] zum gemeinen Leben“²¹² vermitteln soll, was Gutmann bei den Bauern versucht und wofür der Pfarrer ihn achtet, spielt keine Rolle mehr. La Roche spitzt die Beschränktheit des Pfarrers an dieser Stelle fast grotesk zu: Auf der einen Seite steht der Geistliche, der seinen Schülern das Werk eines barockkatholischen Erbauungsschriftstellers zu lesen gibt, woran diese keinerlei Gefallen finden und auf der anderen Seite der aufgeklärte Schulmeister, der seinen Unterricht mit Texten der Aufklärung gestaltet und dessen Ziel nicht die Vermittlung besserer Religionskenntnisse, sondern die Vorbereitung seiner Schüler auf ihr späteres Erwerbsleben ist. Damit findet er bei diesen so großen Anklang, dass sie gar nicht mehr mit Lesen aufhören wollen: „Wenn es nicht Nacht worden wäre, sässen wir noch beysammen“²¹³, berichtet einer seiner Schüler dem Pfarrer. Diesen lässt das allerdings kalt; er nimmt dem Lehrer den Kalender ab. Beinahe plump stößt La Roche seine Leser
208 Fritsch: Toleranz (wie Anm. 104, S. 131), S. 359. 209 Lehner: Aufklärung (wie Anm. 178, S. 148), S. 18. Laut Lehner war Enthusiasmus ein Synonym für fanatischen Glaubenseifer. Dass sich die Kritik katholischer Aufklärer an den barockkatholischen Erscheinungsformen insbesondere auch auf einflussreiche Kontroversprediger erstreckte, betont Haefs: Charfreytagsprocession (wie Anm. 135, S. 58), S. 34. 210 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 97. 211 Ebd., S. 97 f. 212 Ebd., S. 98. 213 Ebd., S. 99.
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darauf, dass die Schüler folglich weiterhin durch mönchisches Verschulden in Unwissenheit und Aberglaube gehalten werden: Indem sie statt volksaufklärerischer Werke die des Kapuzinerpaters Martin von Cochem (1634–1712) lesen müssen. Durch die Auseinandersetzung mit dem Schulmeister sieht sich der Pfarrer nun ausreichend gewappnet, auch Gutmann von seinem „Irrweg“²¹⁴ abzubringen. Ihn erfüllt gleichsam missionarischer Eifer: Gelänge es ihm, ihn „auf die gute Seite“ zu bringen, wäre er „stolzer als ein chinesischer Jesuiter-Mißionarius“²¹⁵. Einmal mehr wird damit in den Mönchsbriefen deutlich, dass es der religiösen Gegenaufklärung – zu der der Pfarrer nicht eigentlich zählt, ihr aber an dieser Stelle zuzurechnen ist – nicht um die besseren Argumente ging, sondern sie sich als Sendboten einer absoluten, göttlichen Wahrheit verstanden.²¹⁶ Ironischerweise verweist der Pfarrer gerade auf die jesuitischen Missionare, deren Engagement auf diesem Gebiet dem Orden wenige Jahre nach Erscheinen der Mönchsbriefe zum Verhängnis wurde. Zusammenhang von Bildung, Religion und Aberglaube Das Gespräch zwischen dem Pfarrer und dem Schulmeister hat innerhalb der Mönchsbriefe die Funktion, die eigentliche Auseinandersetzung mit Gutmann vorzubereiten. Gegenüber diesem zeigt sich der Pfarrer erneut lernwillig: Anders als dem Schulmeister, dessen schulische Bildung sich wenig von der des Pfarrers unterscheiden dürfte, ist der alte Hofmeister für den autoritätsgläubigen Geistlichen eine Respektsperson, der er prinzipiell Achtung entgegenbringt. Er leitet das Gespräch ein, indem er sich zu dem Wunsch bekennt, „ein redlicher Mann vor Gott, und ein getreuer Seelsorger bey meiner Gemeinde zu seyn.“ Er ahnt, dass die meisten Geistlichen ihrem Amt nicht vollständig gerecht werden, befürchtet aber, dass sie bei Gutmann generell kein hohes Ansehen genießen. So zumindest hätten es ihn „höhere und vernünftigere von [s]einem Stand“²¹⁷ glauben lassen, womit er den Dechanten und die Mönche meint. Deren Scheinheiligkeit und Dummheit hat La Roche zuvor ausführlich aufgedeckt, sodass ihre Charakterisierung als ‚vernünftig‘ nur ironisch wirken kann. Dieser Eindruck wird durch die gelassene Reaktion Gutmanns verstärkt: Er habe sich den Dechant zum „Feind“ gemacht, weil er „das Unglück habe in keiner Filiation, weder mit den Kindern des H. Francisci noch Dominici zu stehen“ und er diesem bereits „einigemale unverdauliche Wahrheiten
214 Ebd., S. 99. 215 Ebd., S. 100. 216 Selbstverständlich traten die Aufklärer gleichermaßen apodiktisch auf und fühlten sich im Recht. Siehe dazu auch Pečar/Tricoire: Freunde (wie Anm. 63, S. 41), S. 28–33. 217 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 103.
158 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an gesagt habe“²¹⁸. Klar wird allerdings auch, dass Gutmann seinerseits beansprucht, die ‚Wahrheit‘ zu kennen. Er empfindet seine Distanz gegenüber den Bettelorden natürlich keineswegs als ‚Unglück‘; die Bezeichnung der Ordensangehörigen als ‚Kinder‘ ihrer Gründer drückt denn auch eine gewisse Abfälligkeit aus. Obwohl die bereits deutlich gewordene Kritik des durch die Orden dominierten Bildungsund Erziehungswesens vornehmlich auf die Jesuiten abzielte, sind es vor allem die Bettelorden wie Franziskaner und Dominikaner, denen Gutmann ablehnend gegenübersteht. Mit der Gegenüberstellung von Pfarrer und Schulmeister hat La Roche bereits nachdrücklich vorgeführt, dass sich Letzterer durch die gelesenen Bücher zum Selbstdenken animiert fühlte und dies auch auf Religionsdinge anwandte, die er eigentlich unhinterfragt anzunehmen gelernt hat. Für Gutmann, den La Roche als idealtypischen Aufklärer angelegt hat, ist es selbstverständlich ein zentrales Anliegen, seine Umgebung im Gebrauch ihrer eigenen Verstandeskräfte zu unterrichten und sie dazu zu ermutigen. Er bedauert gegenüber dem Pfarrer: „Sie haben bisher das Glück nicht gehabt zum Selbstdenken angeführet zu werden. Was andere gedacht, das haben sie nicht gelesen, und ihre noch junge Jahre haben ihnen unmöglich noch Gelegenheiten genug verschaffen können, Erfahrungen zu sammeln.“²¹⁹ Der Pfarrer war bislang nur in der Lage, die Meinungen anderer nachzuplappern und ihre Lehren stumpfsinnig auswendig zu lernen. Das Ziel der Aufklärung war hingegen den Menschen zu befähigen, sich selbstständig zu bilden. Dies sollte nicht nur auf Basis der Lektüre gelehrten Wissens geschehen, sondern auch die Erfahrungen, die jeder naturgemäß in seinem Leben macht, spielten dabei eine Rolle. Sie waren wichtig, um das Gelernte und Angelesene, kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls neu zu bewerten. Zwar hat der Pfarrer aufgrund seiner Jugend noch einen Mangel an Erfahrungen, die Worte Gutmanns können jedoch als Aufforderung zur Empirie verstanden werden. Da La Roche neben den Werken französischer Aufklärer auch die englische Literatur rezipiert hat²²⁰, dürfte ihm die Philosophie englisch-schottischer Empiristen wie Locke und Hume bekannt gewesen sein, von denen die Figur Gutmann geprägt zu sein scheint. In den folgenden Ausführungen Gutmanns wird sichtbar, welchen hohen Stellenwert La Roche Bildung beimaß und als wie wichtig er sie gerade für die Religion bzw. das religiöse Verständnis der Menschen erachtete. So lässt er zunächst den alten Hofmeister die kindliche Entwicklung erläutern, die an Lockes Vorstellung anknüpft, dass das Bewusstsein des Menschen bei der Geburt einem
218 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 104. 219 Ebd., S. 104. 220 Vgl. Embach: Frank La Roche (wie Anm. 33, S. 33), S. 46.
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unbeschriebenen Blatt Papier ähnle.²²¹ So habe der „noch weiche[…] Körper“ noch „unentwickelte Fähigkeiten, Mangel an allem, was man Begriffe heißt, und an Kenntniß dessen was in und ausser unserm Körper ist.“²²² Die Sinne sind „noch im unentfalteten Keim“ und warten darauf, sich zu entfalten. Dies gelänge ihnen täglich ein Stück weit mehr, da „die durch Gottes unergründliche Weisheit mit einfachen und immer gleichen Gesetzen geleitete Natur bey allen Geschöpfen einen allmählichen Schritt“ macht. Dadurch käme die „Maschine“²²³, der Körper, in Gang, fordere ständig neue Nahrung und schärfe sukzessive die Sinne: Ein wiederholtes Sehen der Objecten, die zu diesen zweyen Bedürfnissen gebraucht werden, geben die ersten Begriffe, die von aussenher in unsere Seele kommen. […] Oeftere Wiederholungen eines und eben desselben Dings gewöhnen die Empfindsamkeit, den Reiz unsere Maschine zum Verlangen, zur Erwartung einer Folge, die unsere körperliche ungedachte Triebe schon mehrmals befriediget hat.²²⁴
Erneut wird die Bedeutung unmittelbarer Erfahrung als Quelle menschlicher Bildung herausgestellt: Nur, indem das Kind die Umwelt sinnlich erfährt, kann es sich einen Begriff von ihr bilden. Wichtig ist dabei das häufige Wiederholen immer gleicher Abläufe oder Tätigkeiten, die so zur Gewohnheit werden. Diese ersten Entwicklungsschritte erfolgen gleichsam von selbst, da der Körper nach der Befriedigung seiner Triebe verlangt. Gleichwohl bleibt die kindliche Welt zu diesem Zeitpunkt noch sehr beschränkt, aber bereits jetzt gewöhnen die Wiederholungen „den Reiz unserer Maschine zum Verlangen, zur Erwartung einer Folge“²²⁵. Die Vorstellung, der Mensch sei nichts anderes als eine Maschine, erinnert an das 1748 anonym veröffentlichte Werk L’homme machine des französischen Arztes Julien Offray de La Mettrie (1709–1751), indem dieser den Körper als ein sich selbst organisierendes System beschreibt. Gutmann stellt – zumindest was die ersten Lebensjahre anbelangt – Mensch und Tier auf eine Stufe, wobei ausdrücklich nur der Mensch über eine Seele verfügt, er aber in den ersten Jahren wie das Tier ausschließlich seinen Instinkten folgt.²²⁶ Er rekurriert deshalb mit der Verwendung des Begriffs Maschine weniger auf materialistische Denkweisen, da er die Unsterblichkeit der Seele ausdrücklich betont. So greift er wahrscheinlich schlicht
221 Zur tabula rasa siehe Kapitel 2.2, Anm. 166. 222 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 105. 223 Jeweils ebd., S. 106. 224 Ebd., S. 106–107. 225 Ebd., S. 107. 226 „Menschenkinder mit einer unsterblichen Seele, und junge Kazen mit dem Instinkt einst Mäuse zu fangen, sind in Wahrheit bei ihrem Eintritt in die Welt ziemlich von gleicher Beschaffenheit.“ Ebd., S. 105.
160 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an auf eine gängige zeitgenössische Metapher für den menschlichen Körper zurück, die gleichwohl durch den ‚Skandalautor‘ La Mettrie weite Verbreitung fand. Auch wenn sich die frühkindliche Entwicklung prinzipiell gleiche, gebe es je nachdem in welchem Teil der Welt man geboren werde oder welche Eltern man habe, doch Unterschiede: „Der Wilde in America, der Hottentote am Vorgebürge hat weniger Kenntnisse, mithin auch weniger Bedürfnisse als der so genannte gesittete Europäer. Der Wilde lernet sein Kind nichts“ anderes, als was es zum Überleben benötige. Doch auch ihm würden die Eindrücke der Natur „das Bild einer Gottheit in die Sinne werfen“. Folglich nehme er ebenso „ein höheres ausser ihm und seinen Sinnen wohnendes Wesen“ an, das er aber aufgrund seiner „an Worten und Begriffen armen Sprache […] nicht ausdrücken kann.“²²⁷ Gutmann knüpft zwar an das Bild des primitiven Wilden an, da diese nach der damaligen Sichtweise angeblich nur über beschränkte sprachliche und handwerkliche Kenntnisse verfügten. Dennoch bringt er ihnen eine gewisse Wertschätzung entgegen, da er die sogenannte sittliche Überlegenheit der Europäer anzweifelt. Ebenso wenig teilt er die auch unter Aufklärern verbreitete Sichtweise, Europa würde der ‚entdeckten‘ Welt Kultur und Zivilisation bringen, womit sich jegliche Ausbeutung rechtfertigen lassen konnte. Hingegen sind für Gutmann auch die außereuropäischen Völker gleichermaßen fähig, das Wirken eines Gottes in der Natur zu erkennen.²²⁸ Er bietet dem Pfarrer Reiseberichte an, damit dieser sich selbst von der Verschiedenheit der menschlichen Gattung überzeugen könne, womit er ihn aber nicht auf „Zweifel oder Irrwege“ führen wollte, sondern im Gegenteil: [S]ie werden dadurch die Größe unseres Schöpfers, die mannigfaltige Verherrlichung seiner Allmacht in Millionen allerley Geschöpfe mehr bewundern, und mit einer empfindsamen Seele erkennen lernen, daß diese Werke des Schöpfers, wie sie mit uns einen gemeinsamen Ursprung haben und nach ihrem Verhältniß gleich Gutthaten geniessen, nicht minder denn wir zu einem noch grössern Grad zur Vollkommenheit berufen seyn müssen.²²⁹
227 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 108. Die indigene Bevölkerung Amerikas sowie die Bewohner der Südsee-Inseln wurden in der Regel als ‚Wilde‘ bezeichnet, die noch im Naturzustand lebten. Das Interesse der Europäer an den afrikanischen Völkern war weitaus geringer. Einzig den sogenannten ‚Hottentoten‘ brachten die Reisenden großes Interesse entgegen, da deren Verhalten als besonders wild wahrgenommen wurde. Bei dem Namen handelte es sich um eine „Sammelbezeichnung für die in Südafrika lebenden Nomadenvölker der Khoikhoi“ (Meyer: Epoche (wie Anm. 60, S. 40), S. 85), die in der Regel abwertend und rassistisch gebraucht wurde. Mit dem ‚Vorgebürge‘ ist das Kap der Guten Hoffnung gemeint. 228 So wurde die Versklavung von Afrikanern teilweise dahingehend rechtfertigt, dass sie Ungläubige seien, „die den wirklichen Zweck natürlicher Religion, den menschlichen Geist zu Gott zu erheben, verloren hätten.“ Lehner: Aufklärung (wie Anm. 178, S. 148), S. 199. 229 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 109.
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Tatsächlich stellten Reiseberichte im 18. Jahrhundert ein wichtiges Informationsmedium über außereuropäische Kulturen dar. Ihr Fokus lag nicht mehr auf der Schilderung von Kuriositäten, sondern auf dem Sammeln geografischer, botanischer und anthropologischer Befunde zu „wissenschaftlichen Zwecken“²³⁰. Durch die Reiseberichte wurden sie einem breiteren Publikum zugänglich und waren nicht nur auf den Kreis weniger Gelehrter beschränkt. Als Ordnungssystem für die gewonnenen Erkenntnisse diente die Naturgeschichte, wobei sich die Forscher vor allem an der Klassifikation des schwedischen Naturforschers Carl von Linné (1707–1778) orientierten, der die Natur in drei Gruppen (Mineralien, Tiere, Pflanzen) einteilte. Entscheidend war, dass er die Menschen den Tieren zuordnete und dadurch ihrer bislang behaupteten Vorrangstellung innerhalb der Schöpfung die Grundlage entzog. Der Mensch war damit ein Forschungsgegenstand wie jedes andere Lebewesen auch, was die zeitgenössische Wahrnehmung der Welt grundlegend veränderte. Der französische Naturforscher Georges-Louis Leclerc de Buffon (1707–1788) ging noch einen Schritt weiter: Ihm ging es nicht um die Systematisierung einzelner Daten, sondern ihn interessierten der Gesamtzusammenhang und damit die Entwicklung der Menschheit. Die Menschheitsgeschichte war für Buffon Teil der Naturgeschichte; wie die Vorgänge in der Natur weisen auch die sozialen Lebensumstände des Menschen, seine Kultur und Moral Gesetzmäßigkeiten auf, die empirisch erklärt werden können.²³¹ Auch Gutmann ist durch naturgeschichtliche Konzepte geprägt: Die Natur unterliegt nicht dem göttlichen, unergründlichen Willen, sondern funktioniert nach „einfachen und immer gleichen Gesetzen“²³², die der Mensch erkennt. Gott ist lediglich der Schöpfer, der in seiner unendlichen Weisheit diese Naturgesetze eingerichtet hat, die nun den Gang der Welt bestimmen. Zum anderen ist der Mensch bei Gutmann ebenso Teil der Natur: Seine Entwicklung vollzieht sich in einer natürlichen Folge immer gleicher Schritte und unterscheidet sich anfänglich nicht von der der Tiere. Darüber hinaus schlägt sich in der Beschreibung der primitiven ‚Wilden‘ und ‚Hottentoten‘ möglicherweise Iselins Geschichte der Menschheit nieder, die La Roche wohl kannte.²³³ So markiert bei Iselin der Zustand der ‚Wildheit‘ den Ausgangspunkt der Entwicklung der Menschheit, in dem der ‚Wilde‘ noch ganz der Herrschaft seiner sinnlichen Triebe unterliegt, es ihm folglich 230 Meyer: Epoche (wie Anm. 60, S. 40), S. 47. 231 Vgl. ebd., S. 44–46. Mit der Natur des Menschen setzte sich vor allem Hume in seinem „richtungsweisenden“ (ebd., S. 46) Treatise of Human Nature (1739/40) auseinander. Der Entstehungsgeschichte der Menschheit ging auch Iselin in seiner Menschheitsgeschichte nach, siehe Kapitel 3.1.1. 232 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 106. 233 Vgl. Embach: Frank La Roche (wie Anm. 33, S. 33), S. 52.
162 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an an geistigen Fähigkeiten und Begriffen mangelt.²³⁴ Auch Gutmann attestiert den Wilden ‚weniger Kenntnisse‘. Anders als in der Geschichte der Menschheit wird diese Aussage jedoch nicht mit Rückschlüssen auf ihren Charakter verknüpft. Für Gutmann ist offensichtlich, dass alle Menschen zu einem höheren Grad der Vollkommenheit berufen sind, schließlich sind sie alle Geschöpfe Gottes mit einem gemeinsamen Ursprung. Iselin vertrat ebenfalls ein naturgeschichtlich begründetes Konzept der sogenannten Monogenese, das sich mit der Tradition der biblischen Schöpfungsgeschichte verbinden ließ.²³⁵ An dieser Stelle zeichnete sich bei Gutmann ein deistischer Gottesglaube ab, da Gott die Eigengesetzlichkeit der Natur eingerichtet hat, sich aber aus dem weiteren Gang der Geschehnisse herauszuhalten scheint. Mittels seiner Vernunft ist der Mensch in der Lage, die Existenz eines göttlichen Wesens in der Weisheit der Schöpfung zu erkennen. Durch die Unfehlbarkeit der göttlichen Allmacht sind folglich alle Menschen – wenn auch nach ‚ihrem Verhältniß‘ – zur stetigen Vervollkommnung fähig. Es ist Gutmanns feste Überzeugung, dass jeder Mensch eine gleichsam natürliche Religion erkennen kann. So wie ‚der Wilde‘ trotz seiner mangelnden Begriffe in der Lage ist, durch die Beobachtungen der Natur auf ein höheres Wesen zu schließen, konnten dies auch die ‚alten Heiden‘: Die Heiden als Mitanfänger der Weltbevölkerung und Kinder der Menschen betrachtet, hatten alle das ihnen von Gott ertheilte grosse Geschenk der natürlichen Vernunft. Sie erkannten im Ursprung einen schöpfenden, einen erhaltenden Gott. Der weite oder kurze Umfang ihres Gesichtskreises bezeichnete ihnen die Werke der Allmacht. Ehe es Gott gefallen durch Mosen eine Geschichte der Schöpfung nach sinnlichen und menschlichen Begriffen für das jüdische Volk aufzuzeichnen, und bis zu unsern Zeiten erhalten zu lassen, waren die Erbsünde durch den Fall der Stammeltern, die Nothwendigkeit einer Erlösung und alle andere darauf fussende 234 Iselin spricht von der „Dürftigkeit an Begriffen und an Einsichten“, Isaak Iselin: Philosophische Muthmaßungen. Über die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Frankfurt, Leipzig 1764, S. 165. Vgl. auch Thomas Nutz: „Varietäten des Menschengeschlechts.“ Die Wissenschaften vom Menschen in der Zeit der Aufklärung, Köln u.a. 2009, S. 152–154. Iselin bediente sich damit einer für das 18. Jahrhundert typischen Konstruktion des ‚Wilden‘. Auch Rousseaus ‚Edler Wilder‘ zeichnete sich nicht durch geistige Überlegenheit aus, sondern lebten glücklich sein bedürfnisloses Leben. Vgl. Pečar/Tricoire: Freunde (wie Anm. 63, S. 41), S. 132. 235 Naturgeschichtlich versuchte man auch die gegenteilige Annahme, es habe viele verschiedene Ursprünge des Menschen (Polygenese) gegeben, zu untermauern. Beide Konzepte stellten eine Reaktion auf die wahrgenommenen Unterschiede der Menschen dar und ließen sich gleichermaßen heranziehen, um die angebliche Überlegenheit der Weißen zu behaupten, vgl. Lehner: Aufklärung (wie Anm. 178, S. 148), S. 201 sowie allgemein Pečar/Tricoire: Freunde (wie Anm. 63, S. 41), S. 94–101 und Tanja van Hoorn: Dem Leibe abgelesen. Georg Forster im Kontext der physischen Antrophologie des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2004, S. 86–108, die einen Überblick über die sich seit den 1770er Jahren zuspitzende Kontroverse um den Ursprung der Menschen bietet. Zu Iselin vgl. Nutz: Varietäten (wie Anm. 234), S. 146.
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heil. Wahrheiten verborgen. Der vernünftige Heide, der erst noch rohe Philosoph, konnte sich also keinen andern Begriff machen, als daß ein unsichtbares, doch allmächtiges Urwesen die Natur gebildet, und ihr immer gleiche Gesetze vorgeschrieben habe.²³⁶
Gutmann unterscheidet zwischen einer natürlichen, auf der Vernunft gründenden Religion und einer auf ‚sinnlichen und menschlichen Begriffen‘ basierenden. Obgleich er in erster Linie vom Judentum spricht, ist es offensichtlich, dass das Christentum ebenfalls gemeint ist. Dogmen wie die Erbsünde und die daraus resultierende Notwendigkeit der Erlösung sind menschengemachte Vorstellungen, die für den Glauben an ein ‚allmächtiges Urwesen‘ nicht erforderlich sind. Dass die Religion nicht in diesem ‚einfachen‘ Zustand verharrte, hängt wiederum mit der Sinnlichkeit des Menschen, die seine Entwicklung bestimmt, zusammen: „Was das Kind nicht siehet, davon ist für dasselbe kein Begriff in der Welt, und seine ganze Kenntniß bestehet in dem was die Bilder- und Wort-Sprache durch Gesicht und Gehör einstösset.“²³⁷ Derart lernt das Kind seine Umgebung kennen und ahmt die Tätigkeiten seiner Eltern nach. In der Interaktion mit diesen bildet das Kind erste Begriffe von Macht – es muss dem elterlichen Willen gehorchen – und Vertrauen heraus. Beides zusammen „erzeuget das Vorurtheil, alles dasjenige ohne Umstände für wahr anzunehmen, was unsere Eltern eben so angenommen haben“, wozu insbesondere die Religion zählt. Der religiöse Glaube entspringt mithin weniger einer Überzeugung, als der Übernahme von Traditionen: Das Kind sieht seine Eltern täglich beten, wird in die Kirche mitgenommen, bekommt „Gott Vatter als den alten Mann mit dem weissen Bart auf der Weltkugel“ gewiesen, sieht den Altar, die Messhandlungen des Pfarrers und die Reaktionen der Gemeinde: „Dieses alles zusammengenommen […], machet den Urstoff unsers Glaubens aus. Diese Erstlingszüge graben sich unauslöslich tief in unsere Seele. Sie geben die Farbe, den Glanz und den Schein, den unser äusserlicher Religionsanzug bis zum lezten Fetzen behält“²³⁸, sofern nicht Vernunft und Erfahrung daran etwas ändern können.²³⁹ Allerdings wird dieser ‚äusserliche Religionsanzug‘ zunächst durch die Schule gefestigt. Da Lehrer und Pfarrer in der Regel „von dem was eigentlich den Glauben ausmacht, nämlich von Geheimnissen und denen unsern schwachen Verstand 236 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 171–172. 237 Ebd., S. 110. 238 Jeweils ebd., S. 112. 239 Für Gutmann sind die „Vorurtheile unsers Geburtsorts, der Erziehung, und sowol der älterlichen als landesherrlichen Gewalt“ darum „die Materialien […], woraus sich der feste selten bewegliche Thurm unserer Religion bauet.“ Aufgrund dieser starken Prägung ist er überzeugt, dass jeder, der wegen Heirat oder einer Anstellung seine Konfession wechsle, sich selbst „geheime Vorwürfe“ mache, die „maschinenmäßig“ (jeweils ebd., S. 119 f.) immer wiederkehrten.
164 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an übersteigenden grossen Grundwahrheiten“²⁴⁰ selbst nichts wüssten, bestünde die Glaubensunterweisung ausschließlich aus dem Auswendiglernen des Katechismus. Das Gelesene auch zu verstehen, spielt hingegen keine Rolle. Dies hätte zur Folge, dass „die Begriffe […] besonders über das unbegreifliche Wesen der Gottheit an körperlichen Bildern angeheftet“ blieben. Der Bauernjunge stelle sich das zentrale christliche Glaubensgeheimnis, die Lehre von der Trinität Gottes, anhand realer Personen vor und den Himmel als „festes Gewölbe“²⁴¹, in dem sowohl Gott als auch die Heiligen prächtige Wohnungen besitzen würden. Ihm bliebe gar nichts anderes übrig, denn anstatt der Bevölkerung die theologischen Grundlagen verständlich näher zu bringen, könne sich der Bauer nur auf die Legenden der Heiligen stützten, in denen der „P. Cochem mit lauter sinnlichen Bildern himmlische Häuser, Gärten, Spaziergänge, Gastereyen, und Gesellschaften beschreibet.“²⁴² Der Anthropomorphismus sei daher nur die logische Folge. Gutmann vertritt zwar ein deistisches Gottesverständnis, dieses ist jedoch christlich konnotiert. Er versucht nicht, für das Christentum zentrale Glaubensgeheimnisse zu widerlegen, kritisiert allerdings deren unzureichende und entstellende Vermittlung. Statt bei den Gläubigen Einsicht und Verständnis zu befördern, würden sie von Geistlichen und Mönchen zu blindem Glauben angehalten. Niemand bemühe sich um eine zeitgemäße und verständliche Einführung in Glaubensdinge durch gelehrte Theologen, sondern es würde auf Erbauungsschriften von Autoren wie dem Kapuzinermönch Martin von Cochem zurückgegriffen, wodurch die abergläubischen Vorstellungen der Bevölkerung festgeschrieben würden. Diese Schriftsteller erfreuten sich bei allen Ständen großer Beliebtheit, da sie sich einer einfachen Sprache bedienten, auf theologische Dispute verzichteten und um größtmögliche Anschaulichkeit bemüht waren. Deshalb lehnten katholische Aufklärer diese Werke ab, transportierten sie doch aus ihrer Sicht eine barockkatholische Glaubens- und Gottesvorstellung, die sie als Aberglaube diskreditierten.²⁴³ Das Bild eines anthropomorphen Gottes, dem menschliche Eigenschaften wie beleidigt oder rachedurstig zu sein, zugeschrieben wurden, wollten sie durch einen transzendenten, weltentrückten, gleichzeitig verlässlichen und gütigen Gott
240 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 114. 241 Ebd., S. 115. 242 Ebd., S. 116. 243 Vgl. Michaela Breil: Erbauung oder Aberglaube? Die Erbauungsliteratur im 18. und 19. Jahrhundert am Beispiel der Schriften des Kapuziners Martin von Cochem, in: Klaus Freckmann [Hrsg.]: Sobernheimer Gespräche IV/V. Das Land an der Mosel und die Eifel – Kultur und Struktur, Bad Sobernheim 2000, S. 49–59, hier S. 50.
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ersetzt wissen.²⁴⁴ La Roche propagiert so erneut ein Gottesbild, das er schon dem Schulmeister in den Mund gelegt hatte. Gutmann bedauert, „daß die tröstlichen Wahrheiten unserer H. Religion unter so unwürdigen Bildern vorgestellt und lächerlich gemacht werden.“²⁴⁵ Er hat darum Verständnis für die Kritik am Katholizismus und fragt provokant: „Haben unsere Glaubensgegner Unrecht, wenn sie uns auslachen?“²⁴⁶ Mit den ‚Glaubensgegnern‘ spielt er sowohl auf protestantische Aufklärer wie Campe oder Heinzmann an, die dem Katholizismus Rückständigkeit und ein Leben in ewiger Finsternis attestierten²⁴⁷ als auch auf gleichlautende Anfeindungen von Aufklärern, die keinem Offenbarungsglauben (mehr) anhingen. Er selbst teilt diese Haltung, da er die Menschen prinzipiell für vorurteilsbehaftet sieht, was die notwendige Voraussetzung für die Herausbildung abergläubischer Vorstellungen und Praktiken sei. Diese könnten durch Bildung und Vernunft, folglich durch mehr Aufklärung, beseitigt werden, jedoch geschehe genau das Gegenteil: Man wird gelehret, daß Selbstdenken nachtheilig, ja höchst schädlich, und eben deswegen verdammt sey. Um diesem sonst befremdenden Gesez ein Ansehen zu geben sagt man: Der leidige Satan ist es, der solche Gedanken eingiebt: Die Kirche stehet nun bald 1890. Jahre: Wer sie nicht höret, ist ein Heid und Zöllner: Unsere Vernunft ist schwach und durch klägliche Erbsünde mehr zum Bösen als zum Guten geneigt: Weil nicht jedermann die Fähigkeit, die Mittel, die Zeit und den Beruf hat nachzudenken, so haben jene für uns gedacht, die der heil. Geist darzu ausersehen hat; haben sie schon keine geschriebene Vollmacht und Beglaubigungsbriefe ihrer Unfehlbarkeit aufzuweisen, so muß doch alles wahr seyn, weil es die cathol. Kirche, deren Glaube nicht abnehmen kann, für wahr annimmt.²⁴⁸
Die katholische Kirche selbst mit all ihren Vereinigungen und Vertretern verhindert aus Gutmanns Sicht die Durchsetzung einer vernünftigen Religionsausübung. Eisern beharrt sie auf der Richtigkeit ihrer Lehre und dem Monopol der Geistlichen, diese zu verkünden. Statt die menschliche Vernunft und die Fähigkeit zum Selbstdenken wertzuschätzen, werden sie verdammt, womit sich die katholische Kirche jedoch angreifbar macht, da sie ihre Kritiker zu bestätigen scheint. In der Figur Gutmanns lässt La Roche einen Vertreter der katholischen Aufklärung zu Wort kommen, der eine Reform des Katholizismus und der Kirche anstrebte, um sie widerstandsfähiger und zeitgemäßer zu machen. Diejenigen unter den Aufklärern, 244 Vgl. Volker Speth: Katholische Aufklärung, Volksfrömmigkeit und ”Religionspolicey”. Das rheinische Wallfahrtswesen von 1816 bis 1826 und die Entstehungsgeschichte des Wallfahrtsverbots von 1826. Ein Beitrag zur aufklärerischen Volksfrömmigkeit, Frankfurt a. M. 2008, S. 33. 245 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 116. 246 Ebd., S. 117. 247 Siehe die Ausführungen in Kapitel 3. 248 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 131 f.
166 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an die sich nicht komplett von den Offenbarungsreligionen lösen wollten, versuchten, „die neuesten Errungenschaften von Philosophie und Naturwissenschaften in sich aufzunehmen, um die wesentlichen Glaubensinhalte des katholischen Christentums in neuer, der Zeit angemessener Sprache vortragen und verteidigen zu können.“²⁴⁹ Dass Gutmann allerdings die Schuld für den bildungsfeindlichen Zustand des Katholizismus nicht nur auf geistlicher, sondern auch auf weltlicher Seite sieht, macht er deutlich: Religion sei für den „Politicus“ ein probates Mittel, um Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten, sodass der Bürger, wolle er nicht Hab und Gut oder sogar sein Leben verlieren, „nichts anderes glauben und thun“ dürfe, was ihm Eltern, Lehrer und der „Kreis der Gesellschaft, darinnen er lebet“²⁵⁰, vorgegeben hätten. La Roche präsentiert Gutmann nicht nur als Reformer, der die Missstände in seiner Kirche zu ihrem eigenen Besten abschaffen will, sondern auch als dezidierten Kirchenkritiker, welcher der Kirche vorwirft, die Menschen aus Eigennutz dumm zu halten. Indem Gutmann diesen Vorwurf jedoch ebenfalls auf ‚Politiker‘ anwendet, erweckt er den Anschein, Religion generell als Zwangsmittel und Hinderungsgrund für ein vernünftiges Leben zu betrachten. Er spitzt die ähnlich lautende Analyse des Schulmeisters, die Konfession sei an die jeweilige Landesherrschaft gebunden und daher nicht freiwillig gewählt, sondern erlernt, noch einmal zu und benennt aus der Perspektive des Deisten Religion deutlich als politisches Herrschaftsinstrument. Als Anhänger einer natürlichen Religion plädiert er nicht für die Abschaffung religiöser Vorstellungen, sondern für einen vernunftbasierten Glauben, der sich jedem Missbrauch durch weltliche oder geistliche Stellen entzieht: „Allein, was bey der Jugend ein ergötzendes Spielwerk und Raritätenkasten abgegeben, sollte nun bey der männlichen Reife unsers Verstandes nicht mehr zu einem unter zeitlicher und ewiger Strafe gebotenen Zwang uns aufgenöthiget werden.“²⁵¹ Mit der ‚männlichen Reife‘ spielt Gutmann auf den Stand der Aufklärung im 18. Jahrhundert an, dem der – aus seiner Sicht – rein auf Äußerlichkeiten beschränkte katholische Glaube nicht mehr gerecht wird. Er strebt darum eine Beseitigung aller „Nebensachen“ und „Mängel“ an, die sich in die „Kirche durch die Länge der Zeit […] und durch die geistliche Uebermacht“²⁵² eingeschlichen hätten. Er gesteht zu, dass auch die anderen Konfessionen nicht frei von Vorurteilen seien; die Katholiken hätten jedoch die größeren Probleme. Gutmanns Angriff auf die katholische Kirche unterscheidet sich 249 Lehner: Aufklärung (wie Anm. 178, S. 148), S. 15. Siehe auch die Ausführungen zur katholischen Aufklärung in Kapitel 2.2. 250 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 133. 251 Ebd., S. 353. 252 Jeweils ebd., S. 132.
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kaum von der Polemik protestantischer Zeitgenossen. Seine Forderung nach konfessioneller Toleranz ist daher konsequent, schließlich hätten beide Seiten mit „Schimpfen und Schmähen gegen die Reformation oder den Pabst […] einen bündigen Beweis“ der eigenen Lehre zu erbringen versucht. Allerdings bringt er den Protestanten mehr Verständnis entgegen, denn „[v]ernünftige, in der Kirchengeschichte bewanderte Catholicen“ kämen nicht umhin zuzugeben, dass tatsächlich eine Reihe von Päpsten, allen voran Gregor VII. (gest. 1085), ein schlechtes Bild abgegeben hätten. Mit der Kritik an den eigenen kirchlichen Institutionen nahm ein Katholik gegenüber einem Protestanten natürlich eine ganz andere Position ein – nicht umsonst wird La Roche die Mönchsbriefe anonym veröffentlicht haben. Auch der bayerische Staatsrechtler Ickstatt wählte ein Pseudonym, um in seiner ein Jahr später erscheinenden Schrift mit dem Katholizismus abzurechnen und den angeblichen Bildungsvorsprung der Protestanten lobend hervorzuheben.²⁵³ Die Verlautbarungen des Menschenfreunds konnte La Roche zwar noch nicht kennen, gleichwohl kannte er die früheren Werke Ickstatts, da er Gutmann dem Pfarrer die 1770 erschienene Akademische Rede von dem Einfluss des Nationalfleisses und der Arbeitsamkeit der Untertanen in die Glückseligkeit der Staaten empfehlen lässt.²⁵⁴ Zweifel am Primat des Papstes Gutmann mag sich zwar der protestantischen Sichtweise, die den Papst als „Antichrist“ betrachtete, nicht anschließen. Es ist allerdings unverkennbar, dass er den päpstlichen Primat nicht anerkennt. Eine distanzierte bis ablehnende Haltung zum Papsttum teilten die meisten katholischen Aufklärer, da die Päpste des 18. Jahrhunderts ihren Ideen wenig Sympathie entgegenbrachten. Stattdessen setzten die Päpste „einige der wichtigsten Werke der Aufklärung“, wie beispielsweise Montesquieus De l’esprit des loix, auf den Index, da sie fürchteten, „dass die Lektüre dieser Bücher Katholiken verwirren könnte, besonders jene, die keinen soliden Glauben hatten, und sie vielleicht ermutige, vom Glauben abzufallen.“²⁵⁵ Strenggenommen durften katholische Gebildete diese Bücher nur noch mit einer besonderen Erlaubnis lesen, weshalb Gutmann auch davon spricht, dem Pfarrer in Rom eine Lizenz für das Studium indizierter Bücher kaufen zu wollen.²⁵⁶ Gutmann bemängelt, der Papst fürchte, dass in Zukunft die Autorität des Heiligen Stuhls untergraben werden könnte, weshalb er sich taub gegenüber den „Staats- und Kir-
253 Zu Ickstatts Untersuchung über die Frage: Warum ist der Wohlstand der protestantischen Länder so gar viel größer als der catholischen? siehe Kapitel 3. 254 Siehe La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 335. 255 Jeweils Lehner: Aufklärung (wie Anm. 178, S. 148), S. 81, vgl. vorher S. 18. 256 Siehe La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 335.
168 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an chenverbesserungen“ der weltlichen Fürsten stellen würde, obwohl er wisse, dass die „Grundsätze des dogmatischen Theils unserer Religion nicht angegriffen“²⁵⁷, sondern nur verbessert werden sollten. Seine Wertschätzung gegenüber (staatlich) initiierten Prozessen der Kirchenreform, die auch den Einfluss Roms beschränken sollten, geht bei Gutmann sowohl auf die zeitgenössische Diskussion des Febronianismus als auch auf die des Staatskirchentums zurück. Argumentativ bezieht er sich ausdrücklich auf den „gelehrte[n] Febronius“²⁵⁸ und erwähnt ebenso dessen Mitstreiter, den trierischen Kirchenrechtler Georg Christoph Neller (1709–1783).²⁵⁹ Hontheim räumte dem Papst lediglich einen Ehrenvorsitz ein, da auch die Bischöfe in der Nachfolge der Apostel stünden. Nicht der Papst sei unfehlbar, sondern ausschließlich die durch ein Konzil repräsentierte Gesamtheit der Kirche.²⁶⁰ Gutmann teilt augenscheinlich diese Auffassung, denn er verweist mehrmals auf die Beschlüsse des Konzils von Trient, um seine Aussagen zu belegen. Allerdings hält er nicht alle Positionen für noch aktuell, sondern hofft stattdessen auf ein neues Konzil.²⁶¹ Gleichzeitig verweist er neben Ickstatt auf weitere bayerische Staatskirchenrechtler wie etwa Peter von Osterwald (1718–1778), der in seinen Schriften u. a. „für eine umfassende Neuordnung der Rechtsverhältnisse von Staat und Kirche“²⁶² zugunsten der landesherrlichen Macht plädierte. Auch Gutmanns langfristiges Ziel ist es, „die Gesetze der Kirche, 257 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 346. 258 Ebd., S. 355. Da Hontheim 1764 als Autor des Febronius enttarnt worden ist, wird La Roche seine Identität bekannt gewesen sein. 259 Neller hatte Theologie und Rechtswissenschaft in Würzburg studiert, u. a. bei dem Kirchenrechtler Johann Kaspar Barthel (1697–1771). Dieser war in Rom mit der historisch-kritischen Methode der benediktinischen Reformkongregation der Mauriner in Kontakt gekommen, die auch seine historisch-pragmatische Behandlung des (Reichs-)Kirchenrechts prägte. Neller veröffentlichte 1745 seine Grundsätze des Kirchenrechts und wurde daraufhin auf den entsprechenden Lehrstuhl der Universität Trier berufen. An der Abfassung des ‚Febronius‘ war er beteiligt. Vgl. Heribert Raab: Die „katholische Ideenrevolution“ des 18. Jahrhunderts. Der Einbruch der Geschichte in die Kanonistik und die Auswirkungen in Kirche und Reich bis zum Emser Kongress, in: Klueting [Hrsg.]: Aufklärung (wie Anm. 81, S. 44), S. 104–118, zu Neller S. 111–114, zu Barthel S. 108–111 sowie Fritsch: Toleranz (wie Anm. 104, S. 131), S. 269–271. 260 Vgl. Heribert Raab: Der reichskirchliche Episkopalismus von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, in: Wolfgang Müller [Hrsg.]: Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. 5: Die Kiche im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung, Freiburg u.a. 1970, S. 477–507, hier S. 493; Klueting: Febronianismus (wie Anm. 87, S. 46), S. 210. 261 Siehe La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 316. 262 Manfred Weitlauff: Osterwald, Peter von (Pseudonym Benno Ganser, bayerischer Adel 1758), in: Neue Deutsche Biographie 19 (1999), S. 622–623; siehe La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 335 f. – Verwiesen wird in den Mönchsbriefen auf Osterwalds 1766 verfasste „staatskirchenrechtliche[…] Programmschrift“ (ebd.) Veremunds von Lochstein Gründe sowohl für, als wider die geistliche Immunität in zeitlichen Dingen, hg. u. mit Anmerkungen begleitet von F. L. W. Der von
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mit denen des Staats zu des Leibs und der Seele Wohlfahrt [zu] vereinigen“²⁶³ und die kirchliche Sonderstellung folglich einzuebnen. Einerseits dürfte La Roche als weltlicher Beamter an einer Stärkung der staatlichen Macht gegenüber der Kirche interessiert gewesen sein. Möglicherweise stand er darum den Reformanliegen des Staatskirchentums näher, da die Bestrebungen des Febronianismus – der den „Höhepunkt des deutschen Episkopalismus“ markierte – bei einer erfolgreichen Umsetzung die „Stärkung der Reichskirche zum Nachteil der weltlichen Fürsten“²⁶⁴ zur Folge gehabt hätte. Allerdings argumentiert Hontheim in seinem Febronius durchaus, dass ein Zurückdrängen päpstlicher Macht auch im Interesse des Staates läge. So betonte er die „Superiorität des Staates“ und machte den weltlichen Fürsten Zugeständnisse, die „nach göttlichem Recht […] die geborenen Verteidiger der Kirche“²⁶⁵ seien. Andererseits stand La Roche bis zu seiner Demission zeitlebens im Dienst von Fürstbischöfen, sodass es naheliegend ist, dass er etwa die maßgeblich durch den Febronianismus beeinflussten Koblenzer Gravamina von 1769 unterstützte, mit denen die drei Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier ihre bischöfliche Autorität gegenüber der des Papstes stärken wollten.²⁶⁶
Kurfürst Maximilian III. Joseph (1727–1777) zum weltlichen Direktor des kurfürstlichen Geistlichen Rats berufene Jurist Osterwald war zum Katholizismus konvertiert und hatte sich während seines Studiums in Straßburg mit dem Gallikanismus auseinandergesetzt. Außerdem nennt Gutmann die Briefe eines Baiern, an seinen Freund, über die Macht der Kirche und des Pabstes (1770) des bayerischen Juristen Andreas Dominikus Zaupser (1746–1795). 263 Ebd., S. 336 f. 264 Klueting: Febronianismus (wie Anm. 87, S. 46), S. 210. 265 Jeweils Raab: Episkopalismus (wie Anm. 260), S. 493. – Da der Febronianismus auch „ein Reformversuch zur Beseitigung der mit den Beschlüssen des Konzils von Trient nicht zu vereinbarenden Formen des kirchlichen Lebens war, wozu besonders die Adelsprivilegien (Domkapitelspfründen) und die politisch-kirchliche Doppelstellung der Bischöfe gehörten“ (Klueting: Febronianismus (wie Anm. 87, S. 46), S. 210), hätte eine konsequente Umsetzung der Ideen die Existenz der Reichskirche in ihrer bestehenden Form früher oder später in Frage gestellt. 266 Für das Kurfürstentum Trier verhandelte Hontheim die 31 Gravamina, die dem Kaiser, unter dessen Schutz man sich stellte, vorgelegt werden sollten. Die Beschwerdepunkte stützten sich u. a. auf Beschlüsse der Konzilien von Konstanz und Basel „und bestritten dem Papst grundsätzlich das Recht, in Deutschland Nuntien zu unterhalten, die in die Rechte der Bischöfe eingriffen. Verlangt wurden der Rückzug des Papstes aus der Präbendenvergabe, die Abschaffung der Exemtion von Klöstern von der Aufsicht der Bischöfe […]. Die Weihe- und Dispensgewalt der Bischöfe sollte nicht durch päpstliche Rechte beschränkt werden und päpstliche Verordnungen und Erlasse kurialer Behörden nur mit Genehmigung des Ortsbischofs Geltung erlangen.“ (ebd., S. 211) Kaiser Joseph II. verweigerte jedoch die Unterstützung, da die Gravamina nicht zu seinen eigenen Pläne passten. Vgl. auch Raab: Episkopalismus (wie Anm. 260), S. 500–502.
170 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Indem Gutmann ausdrücklich den mittelalterlichen Papst Gregor VII. als schlechtes Kirchenoberhaupt hervorhebt, spielt er bei seiner Papstkritik auf den gängigen Topos des Hildebrandismus an, mit dem auf „die wirklichen oder vermeintlichen monarchisch-absolutistischen Machtansprüche der Päpste“²⁶⁷ verwiesen werden sollte. Das Pontifikat Gregors VII., der den bürgerlichen Namen Hildebrand trug, war maßgeblich geprägt durch den Gegensatz zwischen Papst und Kaiser und dem entschiedenen Einsatz Gregors, die päpstliche Vorrangstellung zu etablieren. So beschreibt auch Gutmann die römische Kurie als Monarchie, die „nicht so viel durch den H. Geist“ als durch das geschickte Agieren ihrer Minister auf „die höchste Stufe des Despotismus gestiegen“²⁶⁸ sei. Er kritisiert den weltlichen Machtzuwachs von Papst und Geistlichkeit seit dem Mittelalter und beanstandet vor allem den (Grund-)Besitz des Papstes.²⁶⁹ Zum negativen Bild dieses mittelalterlichen Papstes dürfte bei den Aufklärern sicherlich auch beigetragen haben, dass Gregor in Quellen wiederholt als ‚Mönch Hildebrand‘ bezeichnet wurde, obwohl er vermutlich nie einer war.²⁷⁰ Das Ideal der ecclesia primitiva Für die Kirchenreformer des 18. Jahrhunderts trug die Amtszeit Gregors VII. dazu bei, dass sich die Kirche von ihrer ursprünglichen, urchristlichen Verfassung abzuwenden begann.²⁷¹ Auf dieses imaginierte Ideal der ecclesia primitiva verweist Gutmann an verschiedenen Stellen seiner Argumentation, da sich daran auch seine (wieder) angestrebte ‚reine‘ Religion orientiert: „Die Zeiten der ersten Kirche hatten den Glauben, und durch ihn den Weg der Seligkeit. […] Mehr, als Christus und seine Apostel gelehret, muß zur Seligkeit nicht nöthig seyn“²⁷². Diese Deutung der ersten Epoche der Kirchengeschichte als „besonders erfolgreich und nachahmenswert“, teilten religiös geprägte Aufklärer über konfessionelle Grenze hinweg,
267 Raab: Ideenrevolution (wie Anm. 259, S. 168), S. 109. 268 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 344. 269 Siehe ebd., S. 194, 322–323. 270 Vgl. Werner Goez: Kirchenreform und Investiturstreit 910–1122, 2. Aufl., Stuttgart 2008, S. 116. 271 Vgl. Raab: Episkopalismus (wie Anm. 260, S. 168), S. 492. Ebenfalls dafür verantwortlich gemacht wurden die pseudo-isidorischen Dekretalen, einer Fälschung aus dem 9. Jahrhundert. Da mit ihnen die Macht des Papsttums scheinbar belegt werden konnte, gingen sie mit der einsetzenden religiösen Erneuerungsbewegung unter Papst Gregor VII. immer mehr ins Kirchenrecht ein. Vgl. Manfred Heim: Von Ablass bis Zölibat. Kleines Lexikon der Kirchengeschichte, München 2008, S. 341. 272 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 348.
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da in dieser Zeit „die eigentlichen Ziele und Anliegen“²⁷³ der christlichen Lehre verwirklicht worden seien. Da trotz historischer Forschung nur vermutet werden konnte, wie die Lebenswirklichkeit der frühen Christen ausgesehen hatte, handelte es sich bei der ecclesia primitiva um eine reine Idealvorstellung, aus der jeder Aufklärer unterschiedliche Folgerungen und Forderungen ableitete. Für Gutmann zeichnete sich das Christentum zu dieser Zeit noch durch die Einfachheit der Lehre Jesu und seiner Apostel aus. Dieses „nur auf wenige Hauptsäulen gebaute christliche Gesetz“ sei allerdings schon zu Zeiten der Apostel „in Mißdeutungen, Beyschläge und Abbartungen“ geraten, „welche seither tausendfach vervielfältiget worden“ seien. Die Verursacher der schlimmsten Fehlentwicklungen liegen für Gutmann klar auf der Hand: die „beynahe unzählbare[…] Menge von Mönchen, Religiosen und Regularen“²⁷⁴. Ohne sie, versichert er dem Pfarrer, wäre „unser Gottesdienst reiner, der Begriff von einer majestätischen Gottheit viel herrlicher, der Abscheu vor Laster und Sünden stärker, die Trennungen von den wahren Glaubenssätzen in Occident seltener, und unser Vaterland im Innern glücklicher gewesen.“²⁷⁵ Zwar sieht er auch bei den Weltgeistlichen problematische Entwicklungen: Deren Ausbildungsgrad sei in den „ersten tausend Jahren unsers Kirchenalters“²⁷⁶ höher gewesen und man sei „mittelst seiner Verdiensten und Erfahrung zu der Priesterwürde“²⁷⁷ gelangt. Allerdings hätten die Pfarrer es damals auch noch leichter gehabt, da längst noch nicht so „viele Sophistereyen“²⁷⁸ erdacht gewesen seien. Mit den Sophistereien spielt Gutmann jedoch nicht wie die Gegenaufklärer auf die Philosophie der Aufklärung an, sondern auf die theologischen Lehren, die die Einfachheit des urkirchlichen Glaubens zerstört hätten. So hätte Christus einzig den in Matthäus 7,12 formulierten „Grundstein des natürlichen Gesetzes zur Hauptregel vorgeschrieben: ‚Darum, alles, was ihr wollet das euch die Leute thun sollen, das thut ihnen auch; denn das ist das Gesetz und die Propheten.‘“²⁷⁹ Jesus erscheint als Vorbild und „Lehrer“²⁸⁰, der mit seiner Botschaft den Menschen den Weg zur Glückseligkeit vorgegeben hat. Gutmann deutet das Bibelzitat aber nicht christlich-religiös, sondern erhebt es zu einem ‚natürlichen Gesetz‘ und damit
273 Jeweils Handschuh: Wahre Aufklärung (wie Anm. 43, S. 13), S. 83. 274 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 182. 275 Ebd., S. 182 f. 276 Ebd., S. 145. 277 Ebd., S. 146. 278 Ebd., S. 147. 279 Ebd., S. 185 f. 280 Ebd., S. 188.
172 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an zu einer auf Vernunft und Klugheit basierenden allgemeinen Moral.²⁸¹ Im Gegensatz zum Barockkatholizismus propagierten die katholischen Aufklärer keinen sinnlichen und emotionalen, sondern „einen vernünftigen, auf Verständnis und Überzeugung beruhenden Zugang zum Glauben und eine in die Religion integrierte Alltagsmoral, die die Selbstverantwortung des Menschen hervorhob.“²⁸² Dieses einfache Gesetz habe auch bei Heiden und Juden Anklang gefunden, so ist sich Gutmann sicher, wobei Erstere es mühelos mit der griechischen Philosophie hätten verbinden können. Darüber hinaus hätte es unter den ersten Christen kaum andere Vorschriften gegeben; Fastenzeiten oder ähnliches wären „nur angepriesen“²⁸³ und nicht erzwungen worden. Dieses Idealbild der urchristlichen Gemeinschaft sieht Gutmann durch den negativen Einfluss der Bettelmönche zerstört: Nie seien die guten Werke damals so „streng[…] und unmenschlich“ gelehrt worden wie es heute ein Franziskaner tun würde, „der vom Geißlen, haariger Kutte und Cilicien prediget, und ohne allen Grund daher schwazt.“ Die Formulierung ‚ohne allen Grund‘ verweist darauf, dass in den Augen Gutmanns einzig Jesus und seine Apostel als Vermittler der „unbegreifliche[n] Geheimnisse“²⁸⁴ gelten können. Von der „Ausartung der Bettelmönche“ In den folgenden Gesprächen mit seinem jungen Zuhörer thematisiert Gutmann ausführlich die „Abartungen der Mönche“²⁸⁵ und legt dar, wie ihre Existenz mit den Missbräuchen, Übeln und dem grassierenden Aberglauben in der katholischen Kirche zusammenhängt. Ausgehend vom Ideal der christlichen Urgemeinde ergibt sich fast zwangsläufig eine Verfallsgeschichte der katholischen Kirche. Gutmanns Beschreibung deckt sich mit der Einschätzung anderer katholischer Aufklärer, die die Jahrhunderte nach Kaiser Konstantin „als eine Zeit graduellen, aber konstanten Verfalls“²⁸⁶ werteten. Voraussetzung für einen solchermaßen historisierenden Blick auf die eigene Religion war einerseits die Erkenntnis, dass alles, „was nicht zum Wesen der Kirche gehört“²⁸⁷, zeitlicher Veränderung unterlag und damit auch reformiert werden konnte. Andererseits war dazu eine verstärkte Hinwendung zur Kirchengeschichte notwendig, die sich sukzessive zu einer der wichtigsten Disziplinen der Theologie entwickelte. Vor diesem Hintergrund ließen sich sowohl 281 Siehe dazu auch Handschuh: Wahre Aufklärung (wie Anm. 43, S. 13), S. 110, 125. 282 Michael Pammer: Milieus. Soziale Basis von Religion, in: Dinzelsbacher [Hrsg.]: Handbuch (wie Anm. 192, S. 151), S. 103–130, hier S. 115. 283 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 187. 284 Jeweils ebd., S. 188. 285 Ebd., S. 340. 286 Handschuh: Wahre Aufklärung (wie Anm. 43, S. 13), S. 88. 287 Raab: Ideenrevolution (wie Anm. 259, S. 168), S. 114.
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die Rechtsbefugnisse des Papstes, die Rolle der Bischöfe und Mönche diskutieren als auch, ob etwa Feiertags- und Fastengebote einen substanziellen Bestandteil des Glaubens darstellten.²⁸⁸ Der Rückbezug auf die Kirchengeschichte diente aber nicht nur dazu, Niedergang und Veränderungsbedarf festzustellen. Mit ihr konnte auch nachgewiesen werden, dass sich die Institutionen und die Lehre der Kirche seit jeher Angriffen ihrer Gegner ausgesetzt sahen, der Untergang jedoch stets erfolgreich abgewehrt werden konnte. Aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit ließen sich daher prinzipiell Bewältigungsstrategien für die Schwierigkeiten der Gegenwart ableiten. Die Vorschläge der katholischen Aufklärer, Kirche und Glauben zeitgemäßer zu gestalten, gewannen so an Legitimation.²⁸⁹ Sowohl bei der Kritik an der bestehenden Praxis der Ohrenbeichte als auch an der Vorrangstellung des Papstes lässt La Roche Gutmann auf die Werke von Kirchenhistorikern oder Kirchenrechtlern, die durch historisch-kritische Methodik geprägt waren, zurückgreifen. Ausgehend von der Geschichte versucht Gutmann seine Argumente gegen das Mönchswesen zu belegen. Ihm geht es jedoch nicht darum, die Standfestigkeit und das Märtyrertum der frühen Kirche als beispielgebend zu loben, sondern mit den Mitteln der Kritik „Notwendiges von rein Äußerlichem zu trennen“²⁹⁰: Durch den historischen Rückgriff möchte er sein Ideal einer aufs Wesentliche reduzierten, natürlichen (christlichen) Religion, die die besonders von den Mönche entstellten Glaubensvorstellungen überwindet, legitimieren. Wie bei seiner Betrachtung über die Beichte stützt er sich vor allem auf die Kirchengeschichte von Claude Fleury, um die Entstehung und die Missbräuche des Mönchswesen darzulegen. Fleurys Histoire ecclésiastique (1691–1720) umfasste in der von ihm erstellten Fassung 20 Bände, reichte allerdings nur bis ins Jahr 1414. Dessen ungeachtet zählte sie zu einer der umfassendsten Werke der Kirchengeschichtsschreibung und fand daher – auch aufgrund ihres verständlichen französischen Stils – große Beachtung. Mitte des 18. Jahrhunderts erfolgten Übersetzungen ins Deutsche und Lateinische. Da ihn seine kirchenhistorischen Werke „als Verfechter des Gallikanismus und Kritiker des päpstlichen Primatanspruchs“²⁹¹ zeigten, stand Fleurys Catéchisme
288 Vgl. ders.: Ideenrevolution (wie Anm. 259, S. 168), S. 115; Handschuh: Wahre Aufklärung (wie Anm. 43, S. 13), S. 79. 289 Vgl. ders.: Wahre Aufklärung (wie Anm. 43, S. 13), S. 80. Handschuh erläutert, dass die Begriffe Zeitgeist und Zeitalter wesentliche Bezugspunkte für die Pfarrer im von ihm untersuchten Diskurs darstellten. Davon ausgehend wurden „Sinn und Zweck aufgeklärt-katholischer Seelsorge“ (ebd., S. 81) verhandelt. 290 Lehner: Aufklärung (wie Anm. 178, S. 148), S. 18. 291 Andreas Urs Sommer: Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativuniversalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant, Basel 2006, S. 87.
174 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an historique seit 1728 auf dem römischen Index. Er verfocht darin den Anspruch, die „richtigen Begriffe vom Christentum“²⁹² vermitteln zu wollen, da allein Wissen die Verbreitung von religiösen Irrtümern verhindern könne. Dieses Wissen war im Wesentlichen historisches Wissen, vermittelt durch die Bibel: Fleury bemühte sich „um den Nachweis, dass die Erzählungen von dem, was geschehen ist, stets das beste Medium religiösen Unterrichts gewesen seien.“²⁹³ Die Beschäftigung mit der Geschichte nahm folglich innerhalb seines Gesamtwerkes breiten Raum ein und spiegelte sich nicht nur in seiner Kirchengeschichte wider, sondern prägte die Schriften zu pädagogischen oder rechtlichen Themen gleichermaßen. Fleury argumentierte stets aus einer historischen Perspektive, auch wenn die Bibel aus heutiger Sicht kein Medium mehr darstellt, das geschichtliche Fakten präsentiert.²⁹⁴ Zwar brachten Aufklärer wie Rousseau und Voltaire Fleurys Histoire ecclésiastique durchaus Wertschätzung entgegen, Letzterer kritisierte allerdings auch die darin enthaltene „naive Wundergläubigkeit vieler Episoden“²⁹⁵. Möglicherweise kannte La Roche derartige Kritikpunkte; seine Erziehung dürfte ihm zumindest Skepsis gegenüber biblischen Wundergeschichten vermittelt haben. Allerdings werden Fleury die Indizierung einzelner seiner Schriften sowie die Verbalattacken
292 Sommer: Sinnstiftung (wie Anm. 291, S. 173), S. 89. An der Unwissenheit der Gläubigen hätten auch die Seelsorger Schuld, denn sie verlören sich zu oft in theologische Spitzfindigkeiten. 293 Ebd., S. 90. Nicht ohne Grund steht darum historique im Titel seines Katechismus: Hier sollten Dogmatik und historische Fakten miteinander verbunden werden (vgl. ebd., S. 92–93). 294 Vgl. dazu Raymond E. Wanner: Claude Fleury (1640–1723) as an Eductional Historiographer and Thinker, Den Haag 1975, S. 83. Auch seine pädagogische Schrift Traité du Choix et de Méthode des Etudes (1686) war geprägt durch einen historischen Standpunkt: „It was Claude Fleury’s belief that, to understand the nature of seventeenth-centry education fully, it was of paramount importance to go its source and become familiar with its evolution over the course of centuries.“ (Ebd., 76). 295 Sommer: Sinnstiftung (wie Anm. 291, S. 173), S. 87. Wanner bezeichnet Fleury als „a Christian rationalist.“ Er habe an den kritischen Verstandesgebrauch geglaubt, aber auch an die göttliche Offenbarung „and a personal God who had intervened in human history, primarily through the history of the Jews, the life of Jesus, an various miraculous happenings.“ Jeweils Wanner: Claude Fleury (wie Anm. 294), S. 85.
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der Augustiner-Eremiten und Karmeliten gegen seine Kirchengeschichte²⁹⁶ ihn in den Augen anderer Aufklärer als einen der ihren geadelt haben. In seinen Mönchsbriefen empfiehlt Gutmann dem Pfarrer Fleurys Kirchengeschichte dementsprechend ohne Einschränkungen: Für seine Argumentation ist die Einsicht in die historische Gewordenheit der Kirche wichtig, was die Histoire ecclésiastique offenbar ausreichend vermittelt. Auch er macht Unwissenheit für ‚falsche‘ Religionsbegriffe verantwortlich. Das Werk des „vernünftige[n] und gründlich untersuchende[n] Fleury“²⁹⁷ scheint ihm geeignet, für eine erste Auf-klärung zu sorgen. So liefere Fleury die Bestätigung für die „Ausartung der Bettelmönche, gleich nach den ersten Zeiten ihrer Erschaffung“, die sich laut Gutmann „zeithero nicht gebessert“²⁹⁸ habe. Bereits von den frühchristlichen Einsiedlermönchen hält er wenig: Mit „vernünftigen catholischen Kirchenlehrern“ sei er sich einig, dass sie „durch Frömmigkeit und gutes Exempel mitten in der Welt mehr Nutzen“²⁹⁹ hätten schaffen können. Das zeigt, dass er dem Mönchtum zu jeder Zeit ablehnend gegenübersteht und auch dessen Frühform nicht als Verwirklichung eines noch reinen christlichen Lebensideals betrachtet, wie es andere katholische Aufklärer taten.³⁰⁰ Einzig dem Benediktiner-Orden bringt Gutmann Wertschätzung entgegen und erkennt dessen wissenschaftliche Leistungen an, die „diese Klöster fast allein in den barbarischen Unwissenheits-Zeiten vom 9ten bis 15ten Jahrhundert“ erbracht hätten. Unleugbar hätte man den Benediktinern eine „Menge geschickter, vernünftiger Leute und wohlgeschriebene Werke zu verdanken.“ Sie wären es gewesen, die „uns historische Nachrichten erhalten, auch zeithero in der Diplomatik
296 Hierzu meldet sich der fiktive Herausgeber in den Mönchsbriefen zu Wort: „Ich weiß wol, daß Fleury, welcher in diesen Briefen oft angeführt wird, von einem Augustiner Balduinus de Rousta und einem ungenannten Carmeliten mit den größten Kezern verglichen worden; allein, er bedarf meiner Vertheidigung nicht, nachdem ein gelehrter Franzos den Ungrund dieser Verläumdung deutlich genug dargethan in seiner Justification des Discours & de l’Hist. Ecclesiast. de M. l’Abbé Fleury.“ (La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), Anm., S. 141). La Roche ist ein Fehler unterlaufen: Bei dem Augustiner-Mönch handelt es sich um Baudouin de Housta, der 1733 seine Schrift gegen Fleurys Kirchengeschichte veröffentlichte. Sowohl er als auch der zweite Kritiker, der Karmeliter Honoré, stammten aus den Österreichischen Niederlanden. Die Verteidigungsschrift erschien 1736 in Nancy und wird Osmont du Sellier zugeschrieben. Siehe dazu die wohlwollende Rezension in: Fortgesetzte Sammlung von alten und neuen Theologischen Sachen, Büchern, Urkunden, Controversien, Veränderungen, Anmerckungen, Vorschlägen in beliebigen Beytrag ertheilet von einigen Dienern des Göttlichen, Leipzig 1738, S. 557–559. 297 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 141. 298 Ebd., S. 170. 299 Ebd., S. 154. 300 Vgl. Handschuh: Wahre Aufklärung (wie Anm. 43, S. 13), S. 87.
176 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an grosses Licht angezündet und noch wirklich hier und da darunter sehr wackere, vernünftige und denkende Männer im Verborgenen stecken“³⁰¹ hätten. Mit seinem Verweis auf die Diplomatik spielt Gutmann auf Jean Mabillon (1623–1707) an, der den sogenannten Maurinern angehörte. Die Mönche dieser 1618 in Paris gegründeten benediktinischen Reformkongregation widmeten sich vor allem dem Bibelstudium und der Wissenschaft, wobei längst nicht alle Gelehrte waren.³⁰² Mit seinem Werk De re diplomatica (1681) begründete Mabillon die Urkundenlehre. Insgesamt entstanden innerhalb des Ordens zahlreiche Werke zur benediktinischen Ordensgeschichte, Editionen der Kirchenväter sowie profangeschichtliche Werke zu Frankreich. Die von den Maurinern entwickelte historischkritische Methode sah die korrekte Auswertung möglichst vieler authentischer Quellen vor. Nur, was ausreichend belegt werden konnte, galt als gegeben, sodass auch eigene Überzeugungen infrage gestellt werden mussten.³⁰³ Die hohe Gelehrsamkeit der Mauriner erfuhr allerdings vonseiten der Vertreter anderer Orden Kritik, die für Mönche nur ein Leben mit Gebet und körperliche Arbeit akzeptabel hielten. Mabillon trat dieser Auffassung mit seiner Streitschrift Traité des études monastiques (1691) entgegen, in der er darlegte, „dass ein ungebildeter Mönch gegen sämtliche Tradition verstoße und einen Widerspruch in sich darstelle.“³⁰⁴ So hielt eigentlich bereits die Regula Benedicti die Mönche zum stetigen Studium an. Dass die Ordensregel aber immer wieder unberücksichtigt blieb, macht Gutmann deutlich: So habe sich Benedikt von Aniane (gest. 821) zwar um die Rückbesinnung auf die ursprüngliche Lebensweise bemüht, blieb aber erfolglos, so „daß man gegen das Ende des 9ten Jahrhunderts in vielen Klöstern kaum einen Mönch finden konnte, der seine Regul zu lesen im Stand gewesen“ sei. Neuerliche Reformbemühungen im 10. Jahrhundert wären von ähnlich kurzer Dauer gewesen: „Reichtum und Müßiggang sind keine Stützen für Frömmigkeit“³⁰⁵. Gutmann spielt damit auf den Reichtum vieler großer Abteien wie die der Benediktiner und Zister301 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 157. 302 Der Name geht auf den Benediktinermönch Maurus (gest. um 584) zurück, der ein Schüler von Benedikt von Nursia (gest. 547) gewesen sein soll. Ihren Hauptsitz hatte die bis 1792 bestehende Kongregation im Kloster Saint-Germain-des-Prés in Paris. Vgl. Gregor Emmenegger: Die Kongregation von Saint-Maur (Mauriner) und ihre Kirchenvätereditionen, in: Europäische Geschichte Online (EGO) 2010, url: http://www.ieg-ego.eu/emmeneggerg-2010-de, Absatz 1–7 [abgerufen am 14.11.2017]; Lehner: Monks (wie Anm. 41, S. 13), S. 13. 303 Aus verschiedenen Textzeugen versuchten die Mauriner einen Mehrheitstext zu extrahieren; an der Textgeschichte selbst waren sie jedoch nicht interessiert. Vgl. Emmenegger: Kongregation (wie Anm. 302), Absatz 8–18 und 32. 304 Ebd., Absatz 14. 305 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 196.
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zienser an, welchen diese sich seit ihren Gründungen hatten aufbauen können.³⁰⁶ Als Beleg zitiert er die bei Fleury wiedergegebene Aussage des „Ordensverbesserer[s]“³⁰⁷ Bernhard von Clairvaux (gest. 1153), wonach die Mönche seiner Zeit zwar äußerlich als solche erkennbar gewesen seien, es ihnen aber aufgrund ihrer vielen Besitztümer an Frömmigkeit und Demut gefehlt habe. Interessant ist, dass Gutmann sich hinsichtlich des bemängelten Wohlstandes der Abteien darum bemüht, diese Entwicklung ausführlich und mit Belegen darzustellen. Das Lob für die wissenschaftlichen Leistungen der Benediktiner ist darum ein sehr eingeschränktes. Ihr Beitrag zur Aufklärung spielt im Vergleich kaum eine Rolle, sieht man von dem Verweis auf die wenigen noch vorhandenen ‚vernünftigen Männer‘ einmal ab. Dass es gerade die französischen Mauriner gewesen waren, die den eigentlich kontemplativen Orden fast schon zu einer „community of scholars and researchers“³⁰⁸ umbauten, geht bei Gutmanns zaghaften Andeutungen unter, obwohl sich deren Einfluss auch im Reich bemerkbar machte.³⁰⁹ Ebenso unerwähnt bleiben Veränderungen im Bildungsbereich, die von Benediktinern angestoßen wurden und beispielsweise halfen, die aufkommenden Naturwissenschaften im Universitätsbetrieb zu verankern: So führten sie ab 1740 an der Universität Salzburg Experimentalphysik als Lehrfach ein und boten „Vorlesungen und Experimente über Hydrostatik, Elektrizität, Mechanik, Pneumatik und Optik“³¹⁰ an. Selbstverständlich öffneten sich nicht alle Benediktinerabteien der Aufklärung und nicht jeder Mönch teilte deren Ideen.³¹¹ Trotzdem begünstigte die Ordensstruktur den zu anderen Gemeinschaften vergleichsweise hohen Anteil an katholischen Aufklärern innerhalb der Reihen der Benediktiner. Die dezentrale Organisation erleichterte es etwa einer Abtei, „to open or close the doors […] to Enlightenment
306 Beales: Klöster (wie Anm. 23, S. 111), S. 4. 307 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 197. 308 Lehner: Monks (wie Anm. 41, S. 13), S. 2 sowie ausführlicher zu ihnen S. 11–15. Lehners Einschätzung mag zwar etwas emphatisch klingen, allerdings ist er längst nicht der einzige, der den Stellenwert der (Benediktiner-)Klöster für die katholische Aufklärung betont, vgl. Müller: Die Aufklärung (wie Anm. 39, S. 12), S. 83–84. 309 Für Lehner stellt das Studium der Geschichte „the root of the monastic Enlightenment“ dar: „Owing to the Benedictines of St. Maur […], historical scholarship reached the German monasteries and transformed not only the way of study in these abbeys but also the monks’ mentality.“ (Jeweils Lehner: Monks (wie Anm. 41, S. 13), S. 226) Das historische Bewusstsein habe auch zu einem relativistischen Verständnis monastischer Traditionen geführt. 310 Ders.: Aufklärung (wie Anm. 178, S. 148), S. 16. 311 So wenig, wie es sich bei Aufklärern und Gegenaufklärern um homogene Gruppen mit gleichlautenden, eindeutig zu identifizierenden Zielen handelte, können auch die Benediktiner nicht einfach der einen oder anderen Seite zugeordnet werden, vgl. ders.: Monks (wie Anm. 41, S. 13), S. 6–10.
178 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an thought.“³¹² Die Äbte mussten sich nicht an eine bestimmte theologische Schule gebunden fühlen und gerade der materielle Wohlstand bot genug Unabhängigkeit, sich wissenschaftlichen Fragen zu widmen. Die hohe Vernetzung innerhalb des Klosterverbandes begünstigte einen intensiven persönlichen oder brieflichen Ideen- und Meinungsaustausch. Derart ‚gefestigt‘, bestanden darüber hinaus wenige Berührungsängste zu den Werken protestantischer Autoren, mit denen ebenfalls korrespondiert wurde.³¹³ Gutmanns Zurückhaltung dürfte nicht an der mangelnden Zahl von Benediktinern im Alten Reich gelegen haben: Zwar gibt es für das 18. Jahrhundert nur Schätzungen, Lehner geht aber für den deutschsprachigen Raum und die Zeit um 1750 von etwa 150 Klöstern mit rund 3500 bis 4000 Benediktiner-Mönchen aus.³¹⁴ Damit waren sie „next to the prince-bishoprics with their cathedral chapters, the most influential factor“³¹⁵ im katholischen Reichsgebiet, auch weil die Abteien häufig ihre Reichsunmittelbarkeit hatten behaupten können oder Benediktiner politische Ämter ausübten. La Roche wird Gutmann wohl deshalb die benediktinischen Aufklärungsbemühungen übergehen haben lassen, weil sie die Zielsetzung des Romans – den Nachweis, dass das Mönchtum Ursache von Unwissenheit und Aberglaube ist – konterkariert hätte. Als weltlicher katholischer Aufklärer, der dem Deismus wohl nicht fern stand, worauf die positive Figurengestaltung Gutmanns verweist, wird La Roche der ‚klösterlichen‘ Aufklärung skeptisch gegenübergestanden haben. Dass neben den Benediktinern auch Ordensleute anderer Gemeinschaften Teil dieser Bewegung waren und einen Beitrag leisteten, wird nicht näher thematisiert.³¹⁶ Die vereinzelten Verweise auf vernünftige Klosterangehörige ändern an dieser Leerstelle nichts.³¹⁷ Waren die ersten Jahrhunderte des Mönchtums noch leidlich für das Christentum zu verkraften, führt Gutmann weiter aus, wendete sich das Blatt mit dem Entstehen 312 Lehner: Monks (wie Anm. 41, S. 13), S. 4. 313 Vgl. ebd., S. 4–5. 314 Ebd., S. 6. Allein vier Benediktinerabteien lagen außerhalb der Trierer Stadtmauern: neben den beiden großen Abteien St. Maximin und St. Matthias noch die kleineren St. Martin und St. Marien, vgl. Franz: Geistes- und Kulturgeschichte (wie Anm. 123, S. 55), S. 314–319. 315 Lehner: Monks (wie Anm. 41, S. 13), S. 5. Vgl. auch Beales: Klöster (wie Anm. 23, S. 111), S. 62– 64. 316 Selbst die Jesuiten standen der Aufklärung nicht so feindlich gegenüber, wie ihre Gegner behaupteten. Gerade im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich taten sich einige von ihnen hervor, auch wenn sich der Orden als Ganzes mit Neuerungen schwer tat, vgl. Müller: Jesuitenorden (wie Anm. 34, S. 114), S. 236–237. 317 Insgesamt waren es natürlich immer nur einzelne Individuen, die durch die Aufklärung beeinflusst waren und nie ganze Ordensgemeinschaften.
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der neuen Bettelorden: „Allein das 13te Jahrhundert heckte ein mixtum Regularium genus, zu deutsch eine Mißgeburt, aus, die dem allmächtigen Gott mit einem theuern Eidschwur geloben mußten, nicht zu arbeiten“.³¹⁸ Bei diesen Mendikanten getauften Gemeinschaften handle es sich um Dominikaner, Franziskaner, Augustiner und Karmeliter. Diese, so merkt Gutmann ironisch an, wurden der „Sage“ eines „P. Chassinus“ nach „jene vier Hauptflüsse, welche aus dem Paradies der römischen Kirche ausgegangen sind, um die ganze Erdkugel mit dem Wasser der H. Wissenschaften und Tugenden zu befeuchten“³¹⁹. Als derartige ‚Flüsse‘ habe sie auch Papst Pius V. (1504–1572) bezeichnet, der selbst Dominikaner gewesen sei und 1568 noch sechs weitere Bettelorden benannt habe, darunter die Trinitarier, die Kapuziner, die Serviten und die „Carmeliter-Barfüsser“³²⁰. Hinsichtlich der Jesuiten, die er ebenfalls zu den Mendikanten zählte, habe er sich jedoch geirrt. Indem er Pater Chassinus’ Äußerung als ‚Sage‘ bezeichnet und die Ordensangehörigkeit des Papstes erwähnt, macht er sie beide unglaubwürdig. So hätten „die anwachsende Ueberschwemmungen“ mit Bettelorden „in Wahrheit“ vielmehr dazu geführt, „unser ganzes so heilig als einfaches Christentum mit einem modernden Schlamm“ zu überziehen, sodass „die geistliche Erndte uns nun gar viel unschmackhafte Körner des Aberglaubens zur Seelenspeise geniessen läßt.“³²¹ Trotz dieses einprägsamen sprachlichen Bildes ist La Roche „um eine nachprüfbare historische Herleitung der Institutionen Mönch und Kloster bemüht.“³²² Es sollte nicht der Eindruck entstehen, er setze sich undifferenziert mit der Thematik auseinander und verurteile rundheraus alle Mönche. So lässt er Gutmann ausführen, es gebe kaum Karmeliter und Augustiner im Reich, dabei hätten diese noch „denn und wenn einen geschickten Mann; [er] selbst kenne deren einige, die [er] hochschätze.“³²³ Mit dem Hinweis auf ihren geringen Verbreitungsgrad nützt es letztlich nichts, dass sich in ihren Reihen fähige Ordensleute finden lassen: Nichts
318 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 158. 319 Jeweils ebd., S. 159. 320 Ebd., S. 159. Bei diesen handelt es sich um eine Abspaltung der Karmeliter. Die Kapuziner bzw. der Orden der Minderen Brüder, wie sie Gutmann nennt, hat sich wiederum von den Franziskanern abgespalten. Gutmann nennt nur fünf weitere Orden. 321 Ebd., S. 159 f. 322 Jäger: Mönchskritik (wie Anm. 24, S. 112), S. 196. 323 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 160. Das Aufgabengebiet der AugustinerEremiten umfasste im 17. und 18. Jahrhundert den Schul- und Bildungsbereich, die Seelsorge und die Mission. Bei den Karmelitern verhielt es sich ähnlich. Vgl. Georg Schwaiger [Hrsg.]: Mönchtum, Orden, Klöster. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ein Lexikon, München 1993, S. 70; Heim: Lexikon (wie Anm. 271, S. 170), S. 217–218. Den kurzzeitig auch bei den beiden Orden angesiedelten Vorschulen für das Gymnasium in Trier beschied das Generalvikariat schlechte Arbeit, vgl. Franz: Geistes- und Kulturgeschichte (wie Anm. 123, S. 55), S. 321 f.
180 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an soll die Leser daran zweifeln lassen, dass es sich insgesamt bei den Mendikanten um ‚Missgeburten‘ handelt. Auch Niederlassungen der Dominikaner gebe es wenige, zudem seien sie aufgrund „ihrer ungeschliffenen, unwissenden und schwelgenden Lebensart nun bey uns in ziemlicher Verachtung.“³²⁴ Umso ausführlicher erläutert Gutmann anschließend die Geschichte der zahlreicheren Franziskaner, um dem Pfarrer die schädlichen Auswirkungen eines „blinden Enthusiasmus“³²⁵, eines fanatischen Religionseifers, vor Augen zu führen: So hätten die Unterstützer dieses Ordens geglaubt, in den Franziskanern „den wahren Weg des Evangeliums“³²⁶ verwirklicht zu sehen, doch längst sei „der Keim des künftigen Hoffarts- und Abänderungengeists“³²⁷ gelegt gewesen. Zum Nachteil der Pfarrer und Bischöfe habe der Papst die Franziskaner mit „unbeschreiblich grossen Freyheiten und Ausnahmen“³²⁸ bedacht, was innerhalb weniger Jahre zu Beschwerden seitens der Geistlichkeit geführt habe. Früh sei zwischen Franziskanern und Dominikanern zudem ein Streit entbrannt, wer das frömmere Leben führe und darum mehr Ansehen genießen sollte. Bei der Darstellung der jüngeren Ordensgeschichte floßen neben Fleury und den Berichten mittelalterlicher Geschichtsschreiber vor allem die Werke des Löwener Kirchenjuristen Zeger Bernhard van Espen (1646–1728) sowie des italienischen Gelehrten und Geistlichen Lodovico Antonio Muratori (1672–1750) ein. Beide Autoren waren durch den Jansenimus beeinflusst bzw. sympathisierten mit dessen Ideen. Insbesondere Muratoris Klage über die „Rivalitäten zwischen den verschiedenen Orden und über deren anmaßende Machtansprüche“³²⁹ decken sich mit Gutmanns Bericht.
324 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 160. Sowohl im Erzstift Mainz – was La Roche beim Abfassen der Mönchsbriefe eher vor Augen gehabt haben dürfte – als auch im Erzstift Trier gab es auch im 18. Jahrhundert noch Dominikaner-Klöster, vgl. Gabriel M. Löhr: Der Dominikanerorden und seine Wirksamkeit im mittelrheinischen Raum, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 4 (1952), S. 120–156. Löhrs Artikel ist recht voreingenommen formuliert. 325 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 161. Für die Bedeutung des Begriffs Enthusiasmus siehe Kapitel 3.1.1, Anm. 209. 326 Ebd., S. 162. 327 Ebd., S. 163. 328 Ebd., S. 164. 329 Beales: Klöster (wie Anm. 23, S. 111), S. 39. Sympathiebekundungen für ‚jansenistische‘ Lehrsätze waren nach der päpstlichen Bulle Unigenitus gefährlich. Zwar gerieten nur die Werke van Espens auf den römischen Index, der schließlich in die Republik der Vereinigten Niederlande fliehen musste, aber auch Muratori sah sich Angriffen ausgesetzt. Der fiktive Herausgeber der Mönchsbriefe verteidigt die Verwendung beider Autoren. Gerade die Verdienste Muratoris finge man erst an, in „unsere[n] Tage[n] zu erkennen“ (La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117),
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Anders als Muratori schätzt Gutmann den Kapuzinerorden jedoch nicht: „[D]ie viele Legionen Franciscaner und Capuciner, welche unser Vaterland wie die Heuschrecken überschwärmen, und den armen Landmann fast auffressen, diese möchte ich vermindert wissen.“³³⁰ Sie seien „in der menschlichen Gesellschaft eben das, was Ratten und Mäuse in der Arche Noe gewesen“³³¹, würden alles verderben und vernichten und lediglich „stinkende Spuren“ zurücklassen. La Roche bedient sich an dieser Stelle sprachlicher Bilder, die häufig in mönchskritischer Literatur des 18. Jahrhunderts zum Tragen kamen: Die Bettelmönche sind Ungeziefer, das über die Menschen herfällt und alles auffrisst. Gerade dieser „Zug des Schmarotzierenden“ bei den Bettelmönchen, „daß sie andere für sich arbeiten lassen und fremde Erträge einstreichen“³³², sollte durch den Vergleich mit Ratten, Mäusen und Heuschrecken ausgedrückt werden. Deutlich geht Gutmann über das Bild des Schmarotzertums aber noch hinaus: Sie lassen nicht nur nichts mehr übrig, sondern hinterlassen ein ‚stinkendes‘ Bild der Verwüstung. Gleichzeitig verbindet man mit diesen Tieren, dass sie in großer Zahl auftreten und eine Plage darstellen. Dementsprechend spricht Gutmann auch von ‚Legionen‘ an Kapuzinern und Franziskanern, gegen deren Orden sich seine Anschuldigungen in der Hauptsache richten. La Roche verbindet seine Mönchskritik mit der am Papsttum, dem er die hohe Zahl der Religiosen anlastet: Aus ihrer Allmacht heraus hätten die Päpste bestimmte Orden aus der bischöflichen Gewalt gelöst und sich so eine „geistliche Armee“ erschaffen, „die durch das Bezwingen der innern Empfindungen, durch Gefangennehmung des Geistes, durch Himmel und Hölle, den unbelehrten Haufen zu blinder Folge zu leiten, und das nun in diese Welt versetzte Reich Christi seinen Statthaltern unterwürfig erhalten könnte.“³³³ Die Mönchsorden fungieren als die-
Anm. S. 225). Zu van Espen vgl. Printy: Enlightenment and the Creation of German Catholicism (wie Anm. 41, S. 13), S. 32–36. 330 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 160. Muratori, der eine „innere Erneuerung der Kirche“ anstrebte, „billigte […] nur solche Orden, die, wie die Kapuziner, ihrer ursprünglichen Gesinnung treu geblieben waren; andersartige Orden konnten seiner Meinung nach ohne Weiteres abgeschafft werden.“ Beales: Klöster (wie Anm. 23, S. 111), S. 39. Bei anderen Autoren kamen die Franziskaner teilweise besser weg; in der Abneigung gegen die Kapuziner scheint unter den Aufklärern große Einigkeit geherrscht zu haben, vgl. Jäger: Mönchskritik (wie Anm. 24, S. 112), S. 200. 331 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 160 f. 332 Jeweils Jäger: Mönchskritik (wie Anm. 24, S. 112), S. 196. Laut Jäger griff Johann Pezzl 1784 in seiner Reise durch den Baierschen Kreis zu einer ähnlichen Formulierung, um den Ort Pfaffenwinkel als mit Mönchen und Nonnen übersät darzustellen: Gleichsam wie Ratten auf der Arche Noah würden diese dort von tüchtigeren Leuten leben. 333 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 206.
182 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an jenigen, die die Gläubigen mit Furcht und Schrecken gefügig machen und die Macht der Kirche – und damit selbstverständlich auch ihre eigene – zu stützen helfen. Die Unwissenheit der Bevölkerung macht sie empfänglich für Konstrukte wie die von Himmel und Hölle. Indem Religion erneut als Mittel aufscheint, mit dem sich prinzipiell Angst verbreiten lässt, vermischen sich die den Mönchsbriefen immanenten kirchenkritischen wiederum mit religionskritischen Tönen. Dass die Bettelorden nicht nur gegenüber der Bevölkerung ihre einflussreiche Stellung missbrauchen, sondern auch gegenüber den Novizen, ist Gutmann wichtig. So seien diese bei Eintritt in den Orden meist sehr jung und kämen aus armen Verhältnissen, womit sie leicht zu beeindrucken seien. Nicht die Berufung zum Mönchsleben lenke ihre Entscheidung, sondern der Wunsch nach einem angenehmeren Leben.³³⁴ Außerdem setzt Gutmann die Mönche mit „unnützen Hummeln“³³⁵ gleich – einer weiteren häufig gebrauchten Metapher der „antimonastischen Polemik“³³⁶. Das Insekt dient La Roche dazu, das Verhalten der Mendikanten als überfallartig und räuberisch zu charakterisieren. Im damaligen Sprachgebrauch hatte der Begriff Hummel zahlreiche negative Konnotationen, die von der untätigen Drohne, über den zudringlichen Buhler, bis zur Bezeichnung für ‚faule und räuberische Leute‘ reichten. Häufig wurde der Hummel die fleißige Biene gegenübergestellt, an deren Honig sich Erstere unrechtmäßig vergreife.³³⁷ Auch La Roche nutzt dieses Bild: Die Hummeln rauben den „arbeitsamen Bienenstock[…]“³³⁸ aus, der in diesem Fall die Gemeinschaft der hart arbeitenden (bäuerlichen) Bevölkerung repräsentiert. So habe die enge Zusammenarbeit von Papst und Bettelmönchen nämlich auch geholfen, schlicht Kosten zu sparen: Müssten die Weltgeistlichen zumindest teilweise durch Kirchenvermögen finanziert werden, wurde der Unterhalt der Mendikanten einfach „der ganzen catholischen Welt zugewiesen, und ihnen das streifende Betteln nicht allein erlaubt, sondern als die größte aller christlichen Vollkommenheiten sub conditione sine qua non geboten.“³³⁹ Hat Gutmann bereits zuvor das mönchische Armutsideal als Heuchelei überführt, unterstreicht er damit die Aussage noch einmal: Nicht nur verkennt dieses Ideal reale Armut, die Begründung des Bettelns basiert – so Gutmann – auf einer profanen Kosten-Nutzen-
334 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 198–200. 335 Ebd., S. 158. 336 Jäger: Mönchskritik (wie Anm. 24, S. 112), S. 197. 337 Vgl. ebd. sowie die Angabe ‚Hummel‘ in der Onlineversion des Deutschen Wörterbuchs von Jacob und Wilhelm Grimm: http://www.woerterbuchnetz.de/ DWB?lemma=hummel [abgerufen am 17.11.2017]. 338 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 158. 339 Ebd., S. 207.
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Rechnung, die mit einer imitatio christi nichts zu tun hat. Die Mönche würden aber „um so eifersüchtiger“ über ihren „Bettelstaat“ wachen und von den Laien fordern, sie zu „vergöttern“: Der Mendikant „pranget mit seiner schmierigen geflikten Kutte, die er als eine unausstehliche Marter auf dem blossen Leib ausgiebt.“³⁴⁰ Die Bettelmönche könnten sich alles erlauben, selbst wenn sie Ungeziefer und Gestank in den Wohnungen der Gläubigen hinterließen, würde dies noch als „Gottgefälligste Sache geheiliget“³⁴¹ werden. Die Naivität der Menschen führe dazu, das behauptete Leid der Mönche anstandslos zu akzeptieren. Dabei sei es ein Leichtes, sich an groben Stoff zu gewöhnen: „Der Arme, der weder Schuhe noch Holz hat, ist viel schlimmer daran, als der Franciscaner und Capuciner der auf Sandalien gehet und im Refectorio den warmen Ofen genießt.“³⁴² Zwar würden die Mönche nicht Geld, sondern Lebensmittel erbetteln, dem Betteln könne sich aber niemand entziehen: „Wer aber nicht Ehre und guten Namen verlieren will, der muß geben; und wer schon auf der Mönche vielvermögendes Vorwort bey Gott und seinen Heiligen zählet, wird ihnen nichts abschlagen. Man giebt also das Beste was man im Hause hat oder bekommen kann.“³⁴³ Das Betteln macht die Mönche zu Hummeln, die den fleißigen Bienen den Honig stehlen, was Gutmann entschieden verurteilt. Er greift neben dem Schmarotzertum damit das Stereotyp mönchischer Faulheit auf, mit dem besonders Franziskaner, Dominikaner und Kapuziner von Aufklärern immer wieder belegt wurden.³⁴⁴ Die „Bethörung des gemeinen Volks durch Aberglauben, Andächtlereyen, Intriguen, Geschwätz, Heyrathsstiftungen und Fuchsschwänzen“³⁴⁵ helfen ihnen, sich zu bereichern. So erbringe das Angebot zahlreicher „Messen eine beträchtliche Baarschaft“ und gerade der Hexenglaube sorge für hohe Einnahmen. Deshalb würden sie mit ihren vielen „Erzählungen und Wundermährlein“ sowie ihrem Auftreten den Aberglauben des Volkes – aber auch den der höheren Stände – aktiv befördern und aufrechterhalten. Die sinnliche Veranlagung des Menschen, die Gutmann bereits als Einfallstor des Aberglaubens ausgemacht hat, sofern es nicht durch Bildung verschlossen wird, kommt den Mönchen dabei entgegen. Für jedes Problem könne der Bauer bei ihnen „Gegengifte“ erhalten: „Der P. Carmeliter hat ihm [dem Bauern] bey dem Termin ein Scapulier gegeben; der Capuziner eine Teufelsgeisel; bey den Dominicanern ist er in der Rosenkranz-Bruderschaft; und der Monica Gürtel, wer will 340 Jeweils ebd., S. 292. 341 Ebd., S. 294. 342 Ebd., S. 293. 343 Ebd., S. 295. 344 Vgl. Jäger: Mönchskritik (wie Anm. 24, S. 112), S. 197. 345 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 287 f.
184 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an den verachten? Und das ist noch nicht einmal alles. Ich, denkt er, beichte auf Portiuncula. Ich bete die Brigittencrone, und dann kann ich alle Teufel auslachen.“³⁴⁶ Die eindringlichen Bilder von Hölle und Fegefeuer verunsicherten die einfache Bevölkerung, sodass sie ihre Angst mittels solcher Devotionalien oder der Mitgliedschaft in Bruderschaften zu bekämpfen suchte. Gutmann verurteilt diese Praxis, mit der sich die Bettelorden auf Kosten der Bauern schadlos halten würden. Die Verbindung aus Aberglaube und pekuniären Interessen der Orden und Pfarreien sorge außerdem dafür, dass das Land „so mit Wallfahrten übersäet“ sei. Allerorten wolle „jedes Kloster oder jede Pfarrey das wunderthätigste Bild haben“, weshalb der Bauer glaube, „schon auf ewig gerettet zu seyn, wenn er neben dem jährlichen Gang nach Einsiedlen noch alle Quartal eine kleinere Wallfahrt besuchet.“³⁴⁷ Die Frömmigkeitsform der Wallfahrt betrachteten bereits mittelalterliche Theologen mit Skepsis: Ihrer Meinung nach „überwogen die Gefahren den möglichen geistlichen Gewinn nicht unerheblich.“³⁴⁸ Die katholischen Aufklärer griffen daher teilweise auf bestehende Kritikpunkte zurück, formulierten diese jedoch schärfer und umfassender. Ihre Angriffe betrafen nicht nur punktuelle Missbräuche, sondern zielten auf das Wallfahrtswesen insgesamt. Ganz in diesem Kontext bewegt sich auch Gutmann, indem er den Vorwurf des Aberglaubens und indirekt den des Betruges erhebt. Es ist offensichtlich, dass er sowohl der „Wunderpropaganda“³⁴⁹ der Mönche als auch der an den Wallfahrtsorten zelebrierten ablehnend gegenübersteht. Für ihn sind all diese „Wunderwerke“ Ausdruck einer „geistliche[n] Charlatanerie“: Man „darf wohl sagen, daß [die Mönche] an dem Fegefeuer die fetteste Suppe kochen.“³⁵⁰ Aberglaube und Unwissenheit sind darum für ihn direkte Folgen des falschen mönchischen Armutsverständnisses, das nur so aufrecht
346 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 118. Beim kleinen Skapulier handelt es sich um zwei Wollstücke, die an einem Band befestigt über Schulter und Brust unter der Kleidung getragen werden. Der Monika-Gürtel geht auf Monika von Tagaste (332–387) zurück, der Mutter des Augustinus von Hippo (354–430), die wie ihr Sohn in der katholischen Kirche als Heilige verehrt wird. Der Legende nach wurde ihr von Maria deren schwarzer Gürtel überreicht, worauf der Gürtel der Augustiner-Ordenstracht verweist. Zur Brigittenkrone zu beten, sollte vor Teufeln schützen. Vgl. Heim: Lexikon (wie Anm. 271, S. 170), S. 382; Hanns Bächtold-Stäubli [Hrsg.]: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Berlin/New York 1987, Bd. 1, Sp. 1578. 347 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 118 f. 348 Schneider: Wallfahrtskritik (wie Anm. 50, S. 14), S. 285. Die Warnung vor Gefahr zielte nicht nur auf die Zumutungen der Pilgerfahrt ab, sondern verwies auch auf die Gefährdung von Sittlichkeit und Moral. Siehe zu diesem Punkt Kapitel 3.2. 349 Ebd., S. 302. 350 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 302. Zum Vorwurf an die Mönche, Beförderer und Nutznießer des Aberglaubens zu sein, vgl. weitere Beispiele bei Jäger: Mönchskritik (wie Anm. 24, S. 112), S. 198–199.
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erhalten werden kann. Letztlich führe das Hausieren der Mönche dazu, dass „die reine, die ächte, die geheiligte, die vernünftige Religion preißge[ge]ben“³⁵¹ wird. Gutmanns Utopie eines verbesserten Mönchswesens Gutmann geht es nicht nur um eine Bereinigung des katholischen Glaubens, sondern er argumentiert auch utilitaristisch: Die Bettelmönche hätten in ihrem jetzigen Zustand weder für die Religion noch für den Staat einen Nutzen. Da „[d]ie Bedeutung des Wortes ‚nützlich‘ fast unendlich variiert werden“³⁵² konnte, wurde dieses Argument in der Diskussion über das Klosterwesen häufig bemüht. Je nachdem konnte damit auf den spirituellen, den ökonomischen und/oder den gesellschaftlichen Nutzen der Orden verwiesen werden. Gutmann strebt ausdrücklich nicht die Abschaffung des Mönchsstandes an: Alles was ich als ein guter catholischer Christ wünsche, besteht nur darinnen: Daß die Zahl der Bettelmönche bis zur richtigen Verhältniß mit dem Staat worinnen sie leben vermindert, das Betteln abgestellt, ihre unnöthige den ächten Grund des Glaubens verunstaltende Andächtlereyen ausgeschaft, und die Medicanten dem Land als geistliche Mitglieder nützlich gemacht würden.³⁵³
Folglich ist sein Ziel die Verminderung der Bettelmönche. Vor diesem Hintergrund entwickelt er seine Utopie eines Mönchswesen, das den größtmöglichen Nutzen für alle bringt und die Wiederherstellung einer reinen, echten und vernünftigen Religion ermöglicht. Zunächst lässt La Roche den Hofmeister jedoch die Frage nach der Zulässigkeit des Zölibats erörtern, die eng mit dem Nützlichkeitsaspekt verknüpft war. Gutmann führt aus, alle Staatslehrer würden „die Glückseligkeit des bürgerlichen Verhältnisses und des Staats“³⁵⁴ als abhängig vom stetigen Bevölkerungswachstum ansehen. Insbesondere die Mönche lehrten aber, „daß die Keuschheit im unverehelichten Stand, mithin die Entvölkerung, die vorzüglich gottgefällige und den Seelen angemessenste Tugend sey.“³⁵⁵ Diese Begründung bezeichnet Gutmann als „mystisch“³⁵⁶, schränkt aber sogleich ein, dass ihm Zweifel nicht zustünden, denn das Konzil von Trient habe die besondere Bedeutung des Zölibats gesetzlich verankert. Konterkariert wird diese Einschränkung einerseits durch seine spöt351 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 303. 352 Beales: Klöster (wie Anm. 23, S. 111), S. 201. 353 Jeweils La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 227. Er betont, kein „Klosterstürmer“ (ebd.) zu sein. 354 Ebd., S. 309. 355 Ebd., S. 312–314. 356 Ebd., S. 314.
186 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an tische Bemerkung, als alter Mann könne er diese Regelung nun nachvollziehen sowie andererseits durch die Spekulation, ein neues Konzil könnte zum Zweck des Bevölkerungsanstiegs andere Verfügungen treffen. Augenscheinlich zweifelt Gutmann an Sinn und Zweck des Zölibats. Ihm scheint es dabei aber weniger um die ‚Entvölkerung‘ zu gehen als um die fehlende theologische Begründung: Kein göttliches Recht schreibt die Ehelosigkeit für Priester, Mönchen und Nonnen vor, sondern ‚Mystik‘.³⁵⁷ Die kritische Haltung zum Zölibat ändert nichts daran, dass Gutmann die radikale Beseitigung aller Klöster für nicht umsetzbar hält, da sich „Enthusiasten“³⁵⁸ nie von ihrem Wahn lösen könnten, nur auf diesem Weg zur Seligkeit zu gelangen. Dementsprechend müsse man die religiösen Eiferer wie Kranke behandeln, sodass das Kloster die Aufgabe eines Spitals erfülle. Für andere „Menschenkinder“, die „mit einer guten Anlage zu Studien, aber mit einem schwächlichen Körper geboren“ wurden, benötige man ebenfalls Verwendungsmöglichkeiten. Da sie als Handwerker oder Soldaten nicht zu gebrauchen seien, wäre es „eine Erleichterung für den arbeitsamen Haufen“³⁵⁹ sie in einem Kloster zu versorgen. Um trotzdem einen Nutzen aus ihnen zu ziehen, will Gutmann mit ihnen „freye Schulen für die Jugend“³⁶⁰ errichten. Da außerdem ein Mangel an Seelsorgern bestünde, sieht Gutmanns Verbesserungs-Konzept weiterhin vor, diese „woldenkende[n]“ Mönche „zu Pfarramtsgehülfen, unter völliger Abhängigkeit des Bischofs und gehorsamer Folge der pfarramtlichen Befehlen“³⁶¹ zu gebrauchen. Dem Hofmeister ist bewusst, dass seine Pläne sonderbar klingen, hat er schließlich zuvor wortreich die Schädlichkeit des Mönchsstandes zu belegen versucht: „Ich spreche immer von der Abstellung des mönchischen Aberglaubens und Nebenlehren, die das Christentum verunstalten; und nun wollte ich den Bock zum Gärtner machen.“³⁶² Er betont daher, dass seine „Mönche ganz umgeschaffen werden“ müssten, damit sein „Traum“³⁶³, aus ihnen nützliche Menschen zu machen, 357 Der Herausgeber wendet sich in einer Anmerkung gegen die Notwendigkeit einer stetig wachsenden Bevölkerung. Möglicherweise wollte sich La Roche durch die widersprüchlichen Aussagen absichern, weder für noch wider dem Zölibat ein Urteil gefällt zu haben. Zur Diskussion um den Zölibat, die besonders ab 1780 verstärkt geführt wurde und sowohl theologische als auch ökonomische Pro- und Kontra-Argumente umfasste, vgl. Lehner: Aufklärung (wie Anm. 178, S. 148), S. 38–40. Vgl. auch Jäger: Mönchskritik (wie Anm. 24, S. 112), S. 202–204. Zur Zölibats-Diskussion siehe auch Kapitel 4.2.1. 358 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 305. 359 Jeweils ebd., S. 307. 360 Ebd., S. 308. 361 Jeweils ebd., S. 319. 362 Ebd., S. 320. 363 Ebd., S. 319.
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wahr werden könnte. Zunächst müssten die Klöster statt der päpstlichen wieder der bischöflichen Gewalt unterstellt werden. So würde endlich der Forderung des Konzils von Trient Genüge getan, den Klöstern die Freiheiten zu nehmen und die Mönche zu Helfern der Pfarrer zu machen. Gutmann greift damit einen „der Hauptkritikpunkte des Febronianismus am Klosterwesen“³⁶⁴ auf. Nur eine begrenzte, genau zu ermittelnde Zahl von Männern dürfe zudem als Novizen aufgenommen werden, die alle an der Landesuniversität Philosophie, alte Sprachen, Theologie, Kirchen- und Landesgeschichte sowie Ökonomie studieren müssten. Diejenigen Müßiggänger, die nur aus Faulheit studieren wollten, würden aussortiert.³⁶⁵ Dabei dürften nur so viele ausgebildet werden, wie das Land versorgen könne, da er seinen Mönchen das Betteln untersage und stattdessen ihren Unterhalt gewährleiste: Und wann ich solchergestalt ihnen die Ursachen des Bettelns benehme; den frommen Betrug, d.i. die Fortpflanzung des Aberglaubens durch Mährlein, und ihre geistliche kurze Waare scharf verbiete; dabey ein recht gutcatholisches Gesetzbuch für Lehre und Wandel durch einsichtliche Geistliche vorschreiben lasse, so wollte ich wetten, daß nach und nach meine Mönche fromm, vernünftig und dem Staat nützlich werden können und müssen.³⁶⁶
Vor dem Hintergrund seiner vorherigen Ausführungen erscheint dieser Gedankengang folgerichtig: Verhindert er das Betteln, kann der Aberglaube eingedämmt werden. Finanzieren will er seine Pfarrer und Mönchs-Gehilfen, indem er das Einkommen aus Äckern, Weinbergen und Zehnten abschafft, um die Güter stattdessen unter den „Bauern gegen jährliche Gülten und Geldzinse“³⁶⁷ zu verteilen. Außerdem sollen ihm die reichen Abteien einen Teil ihrer Pfründen überlassen. Auch die Wallfahrten möchte er keineswegs abschaffen, sondern fünf Prozent Gewinnbeteiligung, die in seinen Unterhaltsfonds fließen sollen. Weiterhin blieben einige zusätzliche Messen den Klöstern vorbehalten und einmal jährlich fände eine ausdrücklich freiwillige Kollekte statt: Der Unterhalt seiner „klösterlichen Enthusiasten, [s]einer Schullehrer und Pfarrgehülfen“³⁶⁸ sei so gesichert. Obwohl Gutmann das Wallfahrtswesen kritisch sieht, lässt ihn La Roche als Pragmatiker auftreten, der ausschließlich zugunsten eines höheren Zwecks – der Finanzierung seiner
364 Weber: Aufklärung (wie Anm. 36, S. 11), S. 136 f. 365 Dieser Plan betrifft natürlich auch die Pfarrer: Die besten Theologiestudenten werden Pfarrer, die anderen gehen in die Klöster und helfen aus. Alle müssen sich auch nach Ende des Studiums jährlich Prüfungen unterziehen. La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 325–327. 366 Ebd., S. 321 f. 367 Ebd., S. 324. 368 Ebd., S. 333.
188 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Reform – handelt.³⁶⁹ Dass er außerdem teilweise auf das Vermögen reicher Abteien zurückgreifen will, ist für das 18. Jahrhundert nicht ungewöhnlich. Die Reformvorschläge, die La Roche Gutmann machen lässt, scheinen denen zu ähneln, die Kaiser Joseph II. in einer 1765 verfassten Denkschrift formulierte. Hierin war noch keine Rede von umfassenden Klostersäkularisationen. Trotzdem spielte bereits der Nutzen eine Rolle: Joseph II. wollte das Alter für die Profess auf 25 Jahre erhöhen – auch Gutmann kritisiert das übliche Professalter von 17 Jahren –, damit nicht so viele begabte Männer dem Staat verloren gingen, weil sie ihre Schritte noch nicht überblicken könnten. Auch wollte er Klöster reformieren und sie für fromme Zwecke verwenden, „qui fussent en même temps utiles á l’etat, nommémment l’éducation des enfants.“³⁷⁰ Inwiefern La Roche diesen Text kannte oder kennen konnte, ist allerdings fraglich. Er wird aber die verschiedentlich bereits bis 1770 in der habsburgischen Monarchie angestoßenen Maßnahmen zur Klosterreform wahrgenommen haben.³⁷¹ Inspirierend wirkte die Klosterpolitik des Mainzer Kurfürsten Emmerich Joseph von Breidbach-Bürresheim (1707–1774), in dessen Diensten La Roche schließlich einige Jahre gestanden hatte. Die klosterpolitischen Maßnahmen des Mainzer Kurfürsten zielten darauf ab, den Klöstern ihr Exemtionsrecht zu nehmen – eine der zentralen Forderungen Gutmanns. Die am 30. Juli 1771 verabschiedete Klosterverordnung – auf die Gutmann ausdrücklich verweist³⁷² – wurde seit 1766 vorbereitet und sollte im Wesentlichen den „eines Ordensgeistlichen unwürdige[n] Lebenswandel, die Missachtung der Klausur und das Almosensammeln der Mendikanten“³⁷³ abstellen. Insgesamt sollte die Zahl der Klosterangehörigen stark reglementiert werden. Gleichwohl lassen sich bei Gutmann Unterschiede feststellen: War die Mainzer Klosterverordnung dadurch motiviert, die Klosterzucht sowie die Einhaltung der jeweiligen Ordensregeln wiederherzustellen, dienen Gutmann derartige Missstän369 Zur ähnlichen Begründung des Trierer Generalvikariats im Fall der Karfreitagsprozession siehe Kapitel 3, Anm. 7. 370 Denkschrift des Kaisers Joseph über den Zustand der österreichsischen Monarchie, in: Alfred Ritter von Arneth [Hrsg.]: Maria Theresia und Joseph II. Ihre Correspondenz sammt Briefen Josephs an seinen Bruder Leopold, Bd. 3: 1778–1780, Wien 1868, S. 335–361, hier S. 350 f. 371 Zu Reformplänen und -maßnahmen in Österreich bis zur beginnenden Alleinregierung Josephs II. 1780 vgl. Beales: Klöster (wie Anm. 23, S. 111), S. 202–209. 372 Er sieht sie als einen ersten Schritt zur Beseitigung der Missstände im Klosterwesen und empfiehlt sie dem Pfarrer zur Lektüre. An ihr könne er sehen, dass die Erzbischöfe ihre Rechte nicht nur kennen, sondern auch umsetzen würden, La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 226. 373 Weber: Aufklärung (wie Anm. 36, S. 11), S. 139. Laut Weber geht der Rohentwurf der Klosterverordnung direkt auf Hontheim zurück (vgl. ebd., S. 142).
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de lediglich als Beweise für die Verkommenheit der Bettelorden. Ihm geht es nicht um die Disziplinierung der Mönche, sondern um die Abschaffung der Mendikanten in ihrer gegenwärtigen Form. Folglich plant er, das Almosensammeln ganz abzuschaffen, wohingegen die Klosterverordnung diese Aufgabe Laien überträgt. Außerdem duldet Gutmann die Mönche weiterhin als Gehilfen der Pfarrer in den Pfarreien, stärkt so aber trotzdem den Weltklerus.³⁷⁴ Wollte der Mainzer Kurfürst das kontemplative Leben der Mönche stärken, ging es La Roche um den Nutzen, den der Mönchsstand für Religion und Staat haben sollte. Obwohl er stark durch den Febronianismus beeinflusst war, orientierte er sich bei den in den Mönchsbriefen dargelegten Plänen zur Reform der Bettelorden an Argumenten, wie sie sich auch im Josephinismus fanden.³⁷⁵ Als weltlichen Beamten werden ihm diese überzeugender erschienen sein. Gutmann ist davon überzeugt, dass seine Pläne zur Beseitigung der „Abartungen“³⁷⁶ der Bettelmönche zum allgemeinen Besten sind: „Die Religion hat den augenscheinlichen Nutzen. Der Staat wird eines Ueberlastes befreyet. Der Eintritt zum geistlichen und Klosterstand bleibet dem Verdienst aller meiner fähigen Landeskinder offen. Mein Gewissen ist einer Sorge befreyet, die mich wegen dem Aber- und Irrglauben meines Volks sehr beunruhiget hat.“³⁷⁷ Durch eine bessere Bildung der Bevölkerung und ein Bettelverbot glaubt er, den Aberglaube erfolgreich bekämpfen zu können. Äußerlichkeiten, die „die fruchtbare Pflanze des wahren Glaubens“³⁷⁸ ersticken, würden wegfallen. Zuversichtlich blickt er in die Zukunft: Er lobt das Bemühen der Erz- und Bischöfe, die „Feyer- oder Faullenzerträge“ zu vermindern sowie die aufgeklärte Denkweise des Kaisers und der weltlichen Fürsten. Allmählich gewönnen „Philosophie“ und „Critik“³⁷⁹ endlich die Oberhand. Obwohl die Mönchsbriefe nach dem 13. Brief einfach abbrechen, gelingt es La Roche, die aus seiner Sicht bestehende Verantwortung des Mönchswesens für Aberglaube und Unwissenheit herauszustellen. Des Weiteren macht er die Mönche und ihre Verteidiger als wesentliche Vertreter einer Gegenaufklärung aus. Indem er seine Hauptfigur jedoch Lösungen formulieren lässt, geht er über die reine MönchsPolemik hinaus. Mit dem abrupten, aber hoffnungsfrohen Ende seines Romans,
374 Dass bei einer vollständigen Entfernung der Ordensgeistlichen die Pfarrversorgung schwer aufrecht zu erhalten war, zeigen die späteren Probleme in Mainz, vgl. ebd., S. 148. 375 Auf die Unterschiede zwischen Josephinismus und Febronianismus weist ebd., S. 142–144 hin. Weber bezieht sich dabei sowohl auf die Politik Maria Theresias als auch Josephs II. 376 La Roche: Mönchswesen (wie Anm. 46, S. 117), S. 340. 377 Ebd., S. 334. 378 Ebd., S. 341. 379 Jeweils ebd., S. 357.
190 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an das eine Entwicklung hin zum Besseren erwarten lässt, erweist sich La Roche als Aufklärer, der von der stetigen Vervollkommnung des Menschen überzeugt ist, solange dieser sich kritisch seines eigenen Verstandes bedient. Deutlich wird außerdem seine Nähe zum Deismus. Diese aufgeklärte Religionsphilosophie war überkonfessionell bzw. -religiös, sodass sie auch für einen katholisch geprägten Beamten anschlussfähig war.
3.1.2 Die Klosterreform im Erzstift Trier in der Diskussion Im Vergleich zum Mainzer Erzbischof Emmerich Joseph verstärkte Clemens Wenzeslaus seine Bemühungen um eine Reform der Klöster seines Erzstifts erst in den 1780er Jahren. Daher kann La Roche beim Abfassen seiner Mönchsbriefe nicht das Trierer Beispiel vor Augen gehabt haben. Gleichwohl lässt sich auch im Trierer Erzstift bereits 1770 der Versuch erkennen, gegen auswärtige Bettelorden vorzugehen: Der Erzbischof befahl im November des Jahres allen Ämtern, Mendikanten, die nicht im Erzstift lebten, bis auf Weiteres das Terminieren im Kurfürstentum Trier zu untersagen. Begründet wurde das Verbot mit der schlechten Versorgungslage der Bevölkerung. Den zuständigen Stellen dürfte bewusst gewesen sein, dass das Almosensammeln eine Belastung für den niederen Stand darstellen konnte.³⁸⁰ Vor allem gegen die (Bettel-)Orden wird sich ebenfalls eine Verordnung vom Juni 1783 gerichtet haben, die die überhand nehmenden Segnungen, die nicht im Rituale enthalten waren, einschränken sollte. Beanstandet wurden zwar neben den Klosterkirchen auch die Segnungen in den Pfarr- und Stiftskirchen, doch gerade die „nicht an den Lauf des Kirchenjahres gebundenen Segnungen wurden mehrheitlich von Ordensleuten vorgenommen“³⁸¹. In diesem Zusammenhang ist auch das späte Aufkommen der Kreuzwegandachten gegen Ende des 18. Jahrhunderts im Erzbistum zu sehen: Die Errichtung und Einsegnung der Kreuzwege sowie die entsprechenden Andachten oblagen den Franziskanern, was Clemens Wenzeslaus missfiel. Zahlreiche Anfragen, diese errichten zu dürfen, wurden darum negativ beschieden. Einzig das Argument einiger Pfarrer, Kreuzwege in den Pfarrkirchen hindere die Gläubigen am sogenannten ‚Auslaufen‘ zu auswärtigen Wegen, fand seine Zustimmung.³⁸² 380 Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia Bd. 5 (wie Anm. 47, S. 36), S. 173. Inwiefern es sich um ein dauerhaftes Verbot handelte, lässt sich nicht nachvollziehen. 381 Hersche: Muße (wie Anm. 33, S. 11), S. 345. Die Verordnung findet sich bei Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia Bd. 5 (wie Anm. 47, S. 36), S. 359. 382 Vgl. Andreas Heinz: Liturgie und Frömmigkeitsleben im Erzbistum Trier unter Erzbischof Clemens Wenzeslaus (1768–1801), in: Bohlen/Embach [Hrsg.]: Erzbischof (wie Anm. 51, S. 14), S. 21–
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Handelte es sich bei diesen Verordnungen noch um Einzelmaßnahmen, deren jeweilige Intention nicht immer klar zu erkennen ist, beginnt sich dies ab 1784 langsam zu ändern. Kurfürst und Verwaltung versuchten nun sukzessive die Eigenständigkeit der Klöster einzuschränken. Im Juni desselben Jahres ermahnte der Kurfürst die Ordensoberen ihn bzw. das Generalvikariat über die Ergebnisse ihrer Visitationen der Klöster zu informieren. Ebenfalls in diesem Monat wies er Generalvikariat und Offizialat an, keinem Religiosen mehr die Verwaltung einer Pfarrei zu übertragen, es sei denn, kein Weltgeistlicher könne dafür gefunden werden. Die Regelung diente dazu, die erzbischöfliche Kontrolle über die Pfarreien zu behalten bzw. auszuweiten, um sie dem möglichen Zugriff eines Ordens zu entziehen.³⁸³ Gleichzeitig verpflichtete Clemens Wenzeslaus alle Religiosen im „öffentlichen Kirchen-Dienst“³⁸⁴ sich bei der Messfeier an die Vorgaben des Missale Romanum zu halten und nicht mehr an ihre eigene Ordensliturgie. Dass die Klöster zukünftig keine Kandidaten mehr ohne erzbischöfliche Erlaubnis aufnehmen durften, griff zusätzlich ihre Selbstständigkeit an. Grund für diese Verordnung vom Oktober 1784 war der angebliche „Verfall hiesiger Abteien und Klöster, sowohl in der Disciplin als Oekonomie“, den Clemens Wenzeslaus kritisierte und wofür er „die willkürliche Annahme der Candidaten“ verantwortlich machte, „wodurch entweder untüchtige Subjecte sich einschleichen, oder die stiftungsmäßige Zahl der geistlichen Glieder überschritten wird.“³⁸⁵ Indem die Klöster nicht mehr frei über die Aufnahme von Postulanten bestimmen konnten, hatte der Erzbischof die Möglichkeit, Einfluss auf den Nachwuchs und damit die Zahl der Mönche insgesamt zu nehmen. Die Verordnung ähnelte der entsprechenden Kurmainzer Verfügung von 1769, Novizen nur nach ausdrücklicher Erlaubnis durch den Erzbischof aufnehmen zu dürfen. Wie in Mainz begründete Clemens Wenzeslaus seine Eingriffe mit dem Verweis auf die mangelnde Disziplin der Mönche, aber auch der schlechten wirtschaftlichen Situation der Abteien.³⁸⁶ 43, hier S. 30–31. Das Generalvikariat wies den Erzbischof darauf hin, dass die Segnung von Kreuzwegen kirchenrechtlich den Franziskanern vorbehalten war. 383 Siehe Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia Bd. 5 (wie Anm. 47, S. 36), S. 250, 251. Über die Besetzung vieler Pfarrstellen hatte der Erzbischof keine Verfügungsgewalt, siehe dazu Kapitel 2.1. 384 Ebd., S. 397. Siehe auch Heinz: Liturgie (wie Anm. 382), S. 29 f.: Anscheinend untersagte er zuerst den Dominikanern und Karmelitern in Anwesenheit von Laien, die Messe nach ihrer Ordensliturgie zu feiern, bevor die Regelung für alle Orden galt. Laut Heinz blieb den Kartäusern ihr eigener Ritus gestattet, weil sie nicht in der Seelsorge tätig waren. 385 Jeweils Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia Bd. 5 (wie Anm. 47, S. 36), S. 386. 386 Die Besitzverhältnisse der Klöster waren im 18. Jahrhundert im Trierer Erzstift sehr unterschiedlich: Neben Einrichtungen mit größerem Güterbesitz verfügten andere nur noch über Besitzreste. Insgesamt verzeichnet Resmini für die größeren Abteien einen stetigen wirtschaftlichen Niedergang, der sich z. B. in einer hohen Verschuldung niederschlug. Vgl. Bertram Resmini: Aufklä-
192 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Inwiefern Unterstellungen, es mangle an der nötigen Klosterzucht, den Tatsachen entsprachen, lässt sich nicht mehr nachvollziehen.³⁸⁷ Oftmals sorgten erst die Eingriffe des Erzbischofs und seiner Verwaltung für Unruhe und Streit unter den Mönchen, was durchaus bezweckt war. Dass Mönche gegen das Keuschheitsgebot verstießen oder sich in den reichen Abteien die Zeit mit Kartenspiel und üppigen Gastmählern vertrieben, kam zwar vor. Die kirchlichen Oberen instrumentalisierten solche Berichte jedoch, um sie gegen die Klöster zu verwenden. Die Klage über Disziplinlosigkeit war daher in der Regel politisch motiviert; die Zustände in den ärmeren Bettelorden interessierten Clemens Wenzeslaus kaum.³⁸⁸ Zusätzlich beeinflusste die Aufklärung das Klosterleben, was sich, wie anderswo auch, vor allem in den Benediktinerabteien des Erzstifts bemerkbar machte. Die monastischen Aufklärer sahen beispielsweise das Stundengebet als Störung ihrer wissenschaftlichen oder privaten Studien an.³⁸⁹ Zudem sorgte der durch die Aufklärung angestoßene „Prozess der Individualisierung“³⁹⁰ dafür, dass sich Mönche von ihren normalen Pflichten dispensieren ließen, sich Haustiere hielten, Musikinstrumente anschafften oder andere Freiheiten beanspruchten. Nicht selten kam es innerhalb der Klostergemeinschaften zu Konflikten, weil sich nicht alle Mönche mit der Aufklärung identifizieren konnten und eine Lockerung der Ordensregel ablehnten.³⁹¹ Doch auch das Gehorsamsgelübde konnte nun nicht mehr verhindern, dass die Mönche gegenüber ihren Äbten eine stärkere Mitbestimmung einforderten.
rung und Säkularisation im Trierer Erzstift, vornehmlich bei den Klostergemeinschaften in der Eifel und in der Stadt Trier, in: Georg Mölich/Joachim Oepen/Wolfgang Rosen [Hrsg.]: Klosterkultur und Säkularisation im Reinland, Essen 2002, S. 81–104, hier S. 81, 87. Zu Mainz vgl. Weber: Aufklärung (wie Anm. 36, S. 11), S. 139. 387 Resmini bezeichnet die Quellenlage für das Erzstift als schwierig, da die Klosterarchive vielfach nicht überliefert sind. Insbesondere Verstöße gegen das Keuschheitsgebot wären aber durch die betroffenen Klöster sowieso nicht aufgezeichnet worden. Vgl. Resmini: Aufklärung (wie Anm. 386, S. 191), S. 81, 85; ders.: Aufklärung und bischöfliches Regiment in den Eifelklöstern, in: Johannes Mötsch/Martin Schoebel [Hrsg.]: Eiflia Sacra. Studien zu einer Klosterlandschaft, 2., erw. Aufl., Mainz 1999, S. 411 sowie allgemein Hersche: Muße (wie Anm. 33, S. 11), S. 355. 388 Resmini: Aufklärung (wie Anm. 386, S. 191), S. 86, 91. Clemens Wenzeslaus’ Ratgeber hätten ihm empfohlen, in Bezug auf die St. Maximiner Mönche sei „das beste Mittel zur Brechung [ihres] Stolzes […], im Kloster Zwietracht zu säen, wodurch der Kurstaat den größten Nutzen gewinnen könnte.“ ders.: St. Maximin (wie Anm. 4, S. 26), S. 351. 389 Vor allem das mitternächtliche Chorgebet wurde als Beeinträchtigung empfunden: „Prayer was no longer the primary vocation and goal of the monk: the diversification of personal life developed simultaneously with a new understanding of time.“ Lehner: Monks (wie Anm. 41, S. 13), S. 30. 390 Meyer: Epoche (wie Anm. 60, S. 40), S. 132. 391 Vgl. Weber: Aufklärung (wie Anm. 36, S. 11), S. 137; Lehner: Monks (wie Anm. 41, S. 13), S. 31. Zu den Konflikten zwischen aufgeklärten Mönchen und Andersdenkenden in St. Maximin vgl.
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Reformen, die im 15. Jahrhundert bei den Benediktinern die Entscheidungsgewalt auf den Abt zentriert hatten, wurden als überholt empfunden.³⁹² Dass die weltlichen Aufklärer trotzdem eine weitgehend negative Haltung gegenüber monastischem Leben vertraten, dürfte die Eingriffe des Erzbischofs in klösterliche Zuständigkeiten erleichtert haben. Ihre Kritik am Grundbesitz der Klöster, der als sogenannter Besitz der ‚toten Hand‘ zum Schaden der Gemeinschaft dem Wirtschaftskreislauf entzogen sei, kam den Plänen des Erzbischofs entgegen. So trugen die Klöster – gezwungenermaßen – mit ihren Abgaben nach 1780 wesentlich zur Finanzierung des Schulfonds bei, der zur Verbesserung des Schulwesens eingerichtet worden war. Aus aufklärerischer Sicht handelte es sich damit um eine äußerst zweckdienliche Verwendung klösterlichen Vermögens, stellte aber für die Einrichtungen oftmals eine erhebliche finanzielle Belastung dar.³⁹³ Clemens Wenzeslaus’ Sorge bestand daher weniger darin, die Mönche könnten Aberglauben und Unwissenheit in seinem Herrschaftsgebiet befördern. Vielmehr agierte er aus seiner Doppelrolle als weltlichem und geistlichem Fürsten heraus und versuchte, die „Sonderstellung“ größerer Abteien zu beenden sowie kleinere Klöster „gänzlich dem Kurstatt dienstbar zu machen. Erstrebt wurde daher zunächst die vermögens- und disziplinarrechtliche Abhängigkeit und Gleichschaltung und auf lange Frist gelegentlich auch die Umwandlung oder auch Aufhebung dieser Klöster.“³⁹⁴ Die ab März 1785 in verschiedenen Klöstern durchgeführten Visitationen, sollten seinen Ansprüchen als Landesherr Geltung verschaffen. Die Abschaffung der Klosterkerker und der eigenständigen klösterlichen Rechtssprechung
Petrus Becker: Gruppierungen im St. Maximiner Konvent zur Zeit der Aufklärung, in: Kurtrierisches Jahrbuch 8 (1968), S. 172–185. 392 Die Reformen des 15. Jahrhunderts gingen auf die Bursfelder Kongregation zurück, ein Zusammenschluss mehrerer Benediktinerklöster, die die Erneuerung des monastischen Lebens anstrebten. Die Reformbewegung hatte ihren Ursprung im Kloster Bursfelde. Vgl. Resmini: Aufklärung (wie Anm. 386, S. 191), S. 86–87. Allgemein zur Bursfelder Kongregation siehe Walter Ziegler: Die Bursfelder Kongregation, in: Ulrich Faust/Franz Quarthal [Hrsg.]: Die Reformverbände und Kongregationen der Benediktiner im deutschen Sprachraum, Ottilien 1999, S. 315–407. 393 Vgl. Resmini: Aufklärung (wie Anm. 386, S. 191), S. 88. Zum Mainzer Amortisationsgesetz vgl. Weber: Aufklärung (wie Anm. 36, S. 11), S. 150–153. – Zur Trierer Schulreform siehe Kapitel 3.3. 394 Jeweils Resmini: Regiment (wie Anm. 387), S. 414. Zu den recht unbestimmten Vorstellungen, was mit den kurtrierischen Nonnenklöstern geschehen sollte, vgl. ders.: Aufklärung (wie Anm. 386, S. 191), S. 97–101: Der Erzbischof habe wohl zu einer Umwandlung in Stifte tendiert, wohingegen einige seiner Mitarbeiter die langfristige Säkularisation der adligen Frauenklöster angestrebt hätten.
194 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an im November 1785 dienten ebenfalls dazu, die bischöfliche und landesherrliche Jurisdiktion gegenüber den Klöstern durchzusetzen.³⁹⁵ Auch wenn Clemens Wenzeslaus letztlich keines der Klöster säkularisierte, stand diese Möglichkeit als Drohung im Raum. Schließlich betrieb Kaiser Joseph II. in den benachbarten Österreichischen Niederlanden die Säkularisation ‚nutzloser‘, kontemplativer Häuser.³⁹⁶ Der Versuch des Trierer Erzbischofs, die vermögende Benediktinerabtei St. Maximin in ein Stift umzuwandeln, scheiterte jedoch, obwohl selbst die Mönche diesen Plan teilweise unterstützten. Die einen taten dies, weil sie als Aufklärer mittlerweile das Klosterleben als Zeitverschwendung betrachteten. Andere versprachen sich durch die Erlangung eines Kanonikats einen finanziellen Gewinn, der auch ihren Familien genutzt hätte. Der Erzbischof, der zunächst nur über die Klostereinkünfte in seinem Erzstift hätte verfügen können, konnte sich jedoch mit Joseph II. nicht über die Verwendung der Maximiner Klosterbesitzungen einigen, die in dessen Herrschaftsgebiet lagen. Da so für den Erzbischof zwei Fünftel der Einkünfte eines künftigen Stifts verloren gewesen wären, scheiterte die Umwandlung.³⁹⁷ In einem Gutachten hatte ihm Pidoll, Dekan von St. Paulin und Beauftragter für die Klostervisitationen³⁹⁸, bestätigt, dass er „aus eigener Ordinariatsgewalt“ befugt sei, „ohne vorherige Bewilligung des römischen Stuhls, ein Kloster in ein Stift zu verwandeln“. Die „Gebrechen“ der Klöster würden, so Pidoll, „bei itzigen Zeiten den Klosterstand so gehässig“ machen, „daß derselben Untergang nicht so gar entfernt“ sein könne, weshalb Pidoll eine „vorbeugende Abänderung“³⁹⁹ ihrer Verfassung angeraten schien. Bei einer Umwandlung in ein Kollegiatstift
395 Siehe Blattau: Statuta synodalia Bd. 6 (wie Anm. 125, S. 56), S. 21 f. Die Abschaffung der Klosterkerker war ein wesentliches Anliegen der Aufklärung. Zur entsprechenden Reglung in Mainz siehe Weber: Aufklärung (wie Anm. 36, S. 11), S. 138–139. 396 Beales: Klöster (wie Anm. 23, S. 111), S. 236. 397 Vgl. ausführlicher zu den Beweggründen aller Beteiligten: Resmini: St. Maximin (wie Anm. 4, S. 26), S. 357–359. 398 Der spätere Weihbischof wurde 1787 zum Geistlichen Geheimen Rat ernannt. Vgl. zu ihm und seiner Rolle bei der Klosterreform Seibrich: Weihbischöfe (wie Anm. 37, S. 34), S. 158–160. 399 Jeweils LHA Ko Best. 1C Nr. 16 436, ohne Paginierung. Dass Pidoll kein Freund der Klöster war, fällt gleich zu Beginn der undatierten Denkschrift auf, wenn er die bei ihnen wahrgenommenen Gebrechen beschreibt: „Die so übel bestellte, in so viele Misbräuche ausgeartete, und der heutigen Denkens art vernünftiger Menschen zuwider laufende Klosterverfassung, die Abweichung vom ursprünglichen Kloster institute der mehresten, nicht aus alt einsiedlerischen Abtötungsgeiste, sondern in Rücksicht einer anständigen Versorgung in die Klöster heutiges Tags trettende Religiosen[,] die schlechte Beobachtung der geschworenen Gelübde, sonderheitlich der mit innerlichem Grame, und zwangvollem Unmuth oft geleisteten Gehorsams […]“, waren nur einige der Probleme, die er nannte.
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könnten die bislang unnützen Glieder des Staates als Weltgeistliche sinnvolleren Betätigungen zugeführt werden.⁴⁰⁰ Ebenfalls aus finanziellen Gründen verfügte der Kurfürst im Dezember 1786, dass auch die Ordensgeistlichen am Trierer Priesterseminar studieren müssten, um später als Pfarrer oder Kaplan tätig zu sein. Nur die Mendikantenklöster, für die die Unterbringung ihrer angehenden Geistlichen im Seminar zu teuer gewesen wäre, durften diese in ihren städtischen Ordensniederlassungen versorgen.⁴⁰¹ Allerdings wäre es zu kurz gedacht, dem Erzbischof ausschließlich finanzielles Kalkül zu unterstellen: So wie es beim Schulfonds darum ging, die Schulbildung der Untertanen zu verbessern, war der Erzbischof um die Hebung der Priesterbildung bemüht, egal, ob es sich dabei um Welt- oder Ordensgeistliche handelte. Die Einkünfte der Klöster waren deshalb so attraktiv, weil Clemens Wenzeslaus kaum andere Möglichkeiten hatte, neue Einnahmequellen für Reformen zu generieren.⁴⁰² Flankiert wurde Clemens Wenzeslaus’ Klosterpolitik in den 1780er Jahren durch die Beschlüsse des Emser Kongresses von 1786. Dessen Anlass war die Errichtung einer Apostolischen Nuntiatur in München im Februar 1785, die die Jurisdiktionsgewalt der vier Erzbischöfe und weiterer Bischöfe tangierte. Auf dem Emser Kongress sollte daher „das Verhältnis zwischen bischöflicher und päpstlicher Gewalt [sowie] die Bestimmung des Zuständigkeitsbereiches der bischöflichen bzw. erzbischöflichen Behörden und Gerichte gegenüber der römischen Kurie“⁴⁰³ erneut geklärt werden. Zu diesem Zweck tagten im Juli 1786 die Deputierten der Erzbischöfe von Trier, Mainz, Köln und Salzburg in Bad Ems, wobei Trier durch den Offizial Ludwig Josef Beck vertreten wurde. Auf dem Kongress wurden zwei Punktationen erarbeitet, wovon die erste als Emser Punktation bezeichnet wird. Sie legte
400 Siehe auch Resmini: Regiment (wie Anm. 387, S. 192), S. 427. 401 Text der Verordnung zum Studium der Klostergeistlichen bei: Blattau: Statuta synodalia Bd. 6 (wie Anm. 125, S. 56), S. 56–58. 402 Die Stifte verfügten zwar über höhere Vermögen als die Klöster; ihre engen Verbindungen mit dem regionalen Adel schützten sie jedoch, vgl. Resmini: Aufklärung (wie Anm. 386, S. 191), S. 87–88. Auch in den Österreichischen Niederlanden waren die Abteien verpflichtet worden, ihre Novizen zur Ausbildung in das von Joseph II. eingerichtete Generalseminar von Löwen zu schicken, vgl. Beales: Klöster (wie Anm. 23, S. 111), S. 238. 403 Josef Steinruck: Bemühungen um die Reform der Reichskirche auf dem Emser Kongreß (1786), in: Remigius Bäumer [Hrsg.]: Reformatio Ecclesiae. Beiträge zu kirchlichen Reformbemühungen von der Alten Kirche bis zur Neuzeit. Festschrift für Erwin Iserloh, Paderborn u.a. 1980, S. 863–882, hier S. 864. Die Errichtung der Nuntiatur hing mit den staatskirchlichen Ambitionen von Kurfürst Karl Theodor zusammen, dessen Plan, ein bayerisches Landesbistum zu errichten, misslang, weshalb der „neue Nuntius in München […] als eigentlicher Jurisdiktionsträger für alle katholischen Untertanen in den wittelsbachischen Territorien fungieren“ (ebd.) sollte.
196 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an die Rechte der Erzbischöfe und Bischöfe und deren Schutz vor Eingriffen durch die Kurie fest; formulierte darüber hinaus aber auch Vorschläge zur Kirchenreform.⁴⁰⁴ Auf der Grundlage von Becks Vorarbeiten entstand die zweite, die sogenannte Disziplinar-Punktation.⁴⁰⁵ Da sie ausschließlich Reformvorschläge für die Reichskirche beinhaltete, sollte sie zunächst geheim gehalten werden. Neben einer Reform des Klerus und der Pfarrseelsorge sowie der Beseitigung von Missständen bei Liturgie und Frömmigkeitsformen, sah Becks Entwurf für den Kongress auch eine Reform der Männer- und Frauenklöster sowie eine Neuregelung der bischöflichen Aufsicht über diese vor.⁴⁰⁶ Gemäß der Forderung in der ersten Punktation, die Exemtion der Orden aufzuheben, legten die Beschlüsse der zweiten fest, auch Verbindungen zu Ordenshäusern außerhalb der eigenen Diözese zu untersagen. Innerhalb der Diözese durften sich die Klöster weiterhin organisieren, die kirchliche Aufsicht sollte aber eindeutig bei den Bischöfen liegen. Aus diesem Grund wurde den Bischöfen zugestanden, auf die Einsetzung der Klosteroberen Einfluss zu nehmen. Die Postulanten sollten sorgfältig auf ihre Eignung für das Klosterleben geprüft werden und alle Mönche eine umfängliche philosophische und theologische Ausbildung an einer Universität erhalten. Viel Wert wurde vor allem auf die Vorbereitung der später in der Seelsorge tätigen Ordensgeistlichen gelegt, die Vorlesungen in Pastoraltheologie hören und an praktischen Übungen teilnehmen mussten. Sowohl in diesem Punkt als auch in der generellen Verfügung an die Klosteroberen, Bibliotheken einzurichten und ihren Untergebenen Freude am Studieren und Lernen zu vermitteln⁴⁰⁷, zeigt sich 404 Die Koblenzer Gravamina von 1769 boten Orientierungshilfe für die Verhandlungen. Die Emser Punktation wurde am 25. August 1786 von den Deputierten unterzeichnet und später an den Kaiser gesandt. Vgl. Steinruck: Bemühungen (wie Anm. 403, S. 195), S. 871, 873 sowie zum Inhalt S. 974–878. 405 Für den Text siehe Matthias Höhler [Hrsg.]: Des kurtrierischen geistlichen Rats Heinrich Aloys Arnoldi Tagebuch über die zu Ems gehaltene Zusammenkunft der vier Erzbischöflichen deutschen Herrn Deputierten, die Beschwerde der deutschen Natzion gegen den Römischen Stuhl und sonstige geistliche Gerechtsame betr. 1786, Mainz 1915, S. 92–106. Arnoldi (1759–1797) hatte als Becks Sekretär am Kongress teilgenommen. Der späterer Herausgeber des Tagebuchs, der Limburger Generalvikar Matthias Höhler (1847–1923), war erklärter Gegner der katholischen Aufklärung (vgl. Vorwort, S. 1). Trotzdem handelt es sich noch immer um die umfänglichste Quellenpublikation zur Geschichte des Emser Kongresses. 406 In seinen Instruktionen für Beck hieß Clemens Wenzeslaus die Beschäftigung mit den entsprechenden Themen ausdrücklich gut. Beck musste über die Ergebnisse regelmäßig an den Erzbischof berichten; einig waren sie nicht in allen Punkten. Vgl. Steinruck: Bemühungen (wie Anm. 403, S. 195), S. 868–869, 872. 407 Siehe Höhler [Hrsg.]: Arnoldi Tagebuch (wie Anm. 405), S. 101. In der Disziplinar-Punktation wurden Reformen vorgeschlagen für Mendikanten-, Männer- und Frauenklöster sowie für die Stifte, vgl. ebd., S. 97–106. Vgl. auch Steinruck: Bemühungen (wie Anm. 403, S. 195), S. 880–881.
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die Beeinflussung der erzbischöflichen Deputierten durch die Aufklärung. Dass den Bischöfen zugebilligt wurde, die Religiosen vom nächtlichen Chorgebet⁴⁰⁸ zu befreien, damit sie tagsüber ausgeruht wichtigeren Aufgaben nachgehen konnten, ist ebenfalls in diesem Zusammenhang zu sehen. Die Beschlüsse zur Klosterpolitik in den beiden Punktationen deckten sich weitgehend mit den Plänen und bereits umgesetzten Maßnahmen des Trierer Erzbischofs. Einerseits ist dies vor dem Hintergrund der maßgeblichen Rolle des Beamten Beck kaum verwunderlich, andererseits entsprachen gerade diese Reformaspekte ganz dem aufgeklärten Zeitgeist. Durch das in der Emser Punktation behauptete Recht, fromme Stiftungen zur Finanzierung von Reformprojekten umwidmen zu können⁴⁰⁹, wird sich Clemens Wenzeslaus genauso bestätigt gesehen haben, wie durch die Forderung nach stärkerer bischöflicher Aufsicht über die Klöster oder einer besseren Ausbildung der Mönche. Zwar wirkten sich die Beschlüsse des Kongresses in der Folge nicht auf die Reichskirche aus.⁴¹⁰ Hinsichtlich der Klöster setzte der Erzbischof seinen eingeschlagenen Weg jedoch zunächst fort und erließ eine einheitliche Ordnung für alle der in seinem Erzstift befindlichen Abteien. Zuvor hatte er durch das Generalvikariat ein „ohn-ziel-gebiges Gutachten […] in betreff einzuführender allenfalsigen Verbesserungs-mittel in Abteyen, und Mendikanten Klöstern“ in Auftrag gegeben. Gleich zu Beginn machte der Gutachter deutlich, dass er den „heilsame[n] Endzweck“ aller Klöster darin bestehen sah, dass sie den Weltgeistlichen in der Seelsorge aushelfen „oder doch wenigstens zum geistlichen Beystand für das Volk sich nützlich gebrauchen lassen“⁴¹¹. Folglich speiste sich für ihn die Berechtigung des Kloster- und Mönchswesen allein aus dem Nutzen der Mönche für die Seelsorge, worin er sowohl der Argumentation Gutmanns in den Mönchsbriefen als auch derjenigen Pidolls ähnelte, der die Umwandlung der Klöster in Stifte für den Staat am nützlichsten hielt. Der Gutachter führte weiter aus, dass die Orden, um ihrer Mitwirkung bei der Seelsorge gerecht werden zu können, „pflichtmäßigen Gehorsam gegen den höchsten Ertz-Bischoff und dessen Vicariaten“ erweisen müssten. Schließlich habe „Gott selbsten alle Schaafe, ohne Ausnahm des Standes, dem ordentlichen Bischof in
408 Siehe Höhler [Hrsg.]: Arnoldi Tagebuch (wie Anm. 405), S. 99. 409 Vgl. Steinruck: Bemühungen (wie Anm. 403, S. 195), S. 877. 410 Erstens verblieb zur Umsetzung von Reformen bis zum Ausbruch der Französischen Revolution und ihrer Auswirkungen auf das Reich wenig Zeit. Zweitens verhinderten die Eigeninteressen der Bischöfe ein dauerhaftes gemeinsames Handeln. Drittens verfolgten die weltlichen Landesherren – einschließlich dem Kaiser – ganz andere Pläne und waren an einer Stärkung des Episkopats nicht interessiert. Vgl. ebd., S. 881–882. 411 Jeweils LAH Ko Best. 1C Nr. 11 278, fol. 229–294, hier fol. 229. Das Gutachten ist nicht datiert.
198 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an seiner Dioeces zu leiten untergeben“⁴¹². Mit dieser Legitimation der Unterordnung der Klöster unter die (erz-)bischöfliche Gewalt, griff er die in der Tradition des Episkopalismus und Febronianismus stehende Argumentation der Emser Punktation auf. Auch die Forderung, die Mönche sollten sich in den Klöstern dem beständigen Studium widmen, wozu man das mitternächtliche Chorgebet abschaffen dürfe, um den Schlaf nicht zu stören, bezog sich auf die Disziplinar-Punktation und stand ganz im Kontext der Aufklärung.⁴¹³ Auf diesen Vorlagen aufbauend, empfahl der Gutachter denn auch, die Statuten der Klöster zu verändern und zu verbessern, „weil man heutigen Tags vom Geist der regel [Gemeint ist die Benediktsregel, Anm. A. K.] sehr weit abgewichen ist und eine diesen aufgeklärten Zeiten angemessene Reform so nothwendig wäre.“⁴¹⁴ Die Einhaltung der neuen Statuten sollten die geistlichen Behörden des Erzstifts überwachen. Diesen Rat griff Clemens Wenzeslaus mit seiner einheitlichen Klosterordnung vom Mai 1789 auf: In 168 Paragraphen reglementierte er das Klosterwesen und unterstellte es der Gerichtsbarkeit des Offizials, verfügte „die Aufhebung aller liturgischen Eigentümlichkeiten in den einzelnen Klöstern, aller für [ihn] unkontrollierbarer Verbindungen zu anderen monastischen und kirchlichen Institutionen und schließlich aller Reservationen und Privilegien.“⁴¹⁵ Sofern der Erzbischof mit diesem Regelwerk tatsächlich bestehende oder auch nur vermutete Missstände im Klosterwesen beseitigen wollte, gelang dies nicht. Die durch die neue Ordnung bedingte Schwächung der Klostervorsteher gegenüber ihren Konventen führte vielmehr zu zunehmenden Disziplinproblemen, wodurch sich die Frontstellung zwischen aufgeklärten und nicht-aufgeklärten Mönchen noch verschärfte. Zudem verschlechterte sich die finanzielle Situation der Abteien durch die nun vorgeschriebenen Mehrausgaben für die Versorgung der Mönche. Die von Resmini ausgewerteten Reaktionen der betroffenen Äbte zeigen, dass viele von ihnen sich um den Fortbestand ihrer Einrichtungen sorgten. Clemens Wenzeslaus dürfte eine derartige Entwicklung bezweckt haben, damit ihm die Abteien früher oder später „as ripe fruit into his lap“⁴¹⁶ gefallen wären. Die späte
412 Jeweils ebd. 413 Zwar hätte der Erzbischof bereits den Besuch des Seminars für alle Religiosen verpflichtend gemacht, diese Studien sollten aber weitergeführt werden, sodass die Kandidaten „theils den guten Grund- und Lehr-Sätzen, die sie daselbsten eingesogen haben, besser nachspüren, und solche thätlich in Ausübung bringen können – theils auch dem Müsigang, aller Fäulung Anfang,“ (ebd., fol. 235) des nachmittags vermeiden würden. 414 Ebd., fol. 247. 415 Resmini: Aufklärung (wie Anm. 386, S. 191), S. 92. Den der Text der Klosterordnung siehe in: Blattau: Statuta synodalia Bd. 6 (wie Anm. 125, S. 56), S. 118–159. 416 Lehner: Monks (wie Anm. 41, S. 13), S. 169.
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Einführung der Klosterordnung verhinderte jedoch derartige Folgen: Unter dem Eindruck der Revolution und der wachsenden Bedrohung durch die französische Armee betrachteten sowohl der Erzbischof als auch seine Beamten die Klöster als notwendige Bollwerke gegenüber den revolutionären Umtrieben, die nicht weiter geschwächt werden sollten.⁴¹⁷ Weihbischof Herbain versuchte nun sogar 1793 in einem Gutachten zu belegen, dass die Klosterordnung nie den eigentlichen Plänen des Kurfürsten entsprochen habe und nur einer „List“ seiner Berater entsprungen sei: Es sei kein Zufall, dass die Ordinaten zu einem Zeitpunkt erschienen seien, „wo Unthätigkeit, Unlust zur Tugend und dem Gottesdienst, […] Modesucht, Egoismus und Unabhängigkeit“ in den Klöstern ihren Höhepunkt erreicht hätten. Entgegen der „unermüdete[n] Sorge des Höchsten Fürsten“ hätte die Klosterordnung daran jedoch nichts geändert, sondern ein absichtlich in ihnen „eingewurzelter Fehler“⁴¹⁸ habe diesen Zustand verstärkt. Herbain kritisiert damit sowohl den Einfluss aufklärerischer Ideen auf die Klosterangehörigen, wodurch die Missstände verursacht worden seien als auch die Beeinflussung der kurfürstlichen Berater durch diese Ideen. So würde die „Philosophie“ die Mönche als überflüssig erachten, sie der Lächerlichkeit preisgeben und nur nach ihrem Nutzen fragen. Auch in den Ordinaten würde darauf gedrängt, „den Mönchsstand nützlich zu machen, und selben nach der Denkungs und Lebensart unserer Zeiten umzustimmen.“⁴¹⁹ Scharf verurteilt er die „Sekte, die sich den Namen des Aufgeklärten“⁴²⁰ angeeignet habe und den Wert eines einsamen Lebens nicht achte. Denn für Herbain lag der wahre „Kloster Geist“⁴²¹ in Kontemplation, Askese und Weltabgewandtheit begründet, die er wiederherstellen wollte.⁴²² Die Ausführungen zur Klosterpolitik des Erzbischofs haben gezeigt, dass dieser wohl bewusst eine Schwächung der Klöster mit seinen Reformen herbeiführen wollte. Herbain blieb allerdings nur die Möglichkeit, die angeblich schlechten Berater seines Fürsten verantwortlich zu machen. Als Vertreter eines orthodoxen 417 Vgl. Resmini: Aufklärung (wie Anm. 386, S. 191), S. 92–94. Die Äbte nutzten diese Chance, um für eine Abschaffung der Klosterordnung zu werben. 418 Jeweils LHA Ko, Best. 1C Nr. 11 278, fol. 319. 419 Jeweils ebd., fol. 320 420 Ebd., fol. 322. 421 Ebd., fol. 320. 422 „Um aus diesen unter Mönchen Kleyde noch lebenden Leuten auch Mönche zu machen, wäre es vor allem nöthig die weite Oefnung an der Absönderungs Mauer, die selbe von der Welt trennet, wieder zu zumauern, mit einer unbarmherzigen Hand alles überflüßige an Nahrung, privat Hausgeräth und belustigungen abzuschneiden, und diese Männer nach aller Strenge fremd in dieser von ihnen verlassenen Welt zu machen.“ (Ebd., fol. 322.) Dadurch würden Zerstreuungen unmöglich, was sich positiv auf die wissenschaftliche Beschäftigung der Mönche auswirke.
200 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Katholizismus hoffte er wahrscheinlich darauf, vier Jahre nach Ausbruch der Revolution endlich seinen eigenen Positionen Geltung zu verschaffen. In den Jahren zuvor war er gegenüber den aufgeklärten Reformern ins Hintertreffen geraten. Denn obwohl er als Weihbischof einer der wichtigsten Helfer des Erzbischofs war, verfügte er im Erzbistum über wenig Rückhalt.⁴²³ Haben unsre Abteyen eine Reforme nöthig, oder nicht? Die Klosterpolitik des Erzbischofs wurde auch öffentlich von den Betroffenen diskutiert. Vor Verabschiedung seiner Klosterordnung hatte Clemens Wenzeslaus zunächst den Anschein erweckt, die Äbte miteinbeziehen zu wollen. Vom 15. bis 22. April 1789 sollten sie und Deputierte ihrer Konvente in Koblenz über eine einheitliche Ordnung beraten. Diese Beratungen endeten jedoch ergebnislos und wirkten sich nicht auf die Klosterordnung aus. Der anonyme Autor der Streitschrift Abdruck eines Mönchsbriefs über die Klosterreforme unsres Vaterlands kannte das Regulativ noch nicht. Er nahm die einberufene Versammlung in Koblenz zum Anlass, sich in Form eines Briefes an einen Freund Gedanken über die Notwendigkeit einer Klosterreform und deren Zielsetzung zu machen.⁴²⁴ Vermutlich handelte es sich bei dem Autor um Sanderad Müller (1748–1819), der Klostergeistlicher in St. Maximin war, einer der vier großen Benediktiner Abteien Triers. Müller übte dort das Amt des Bibliothekars aus und unterrichtete im Kloster Mathematik. Neben mathematischen Problemen beschäftigte er sich auch mit Astronomie und gehörte zur Gruppe derjenigen Mönche, die die Umwandlung in ein Stift unterstützten und zu den Gegnern des damaligen Abtes Willibrord Wittmann (1717–1796) zählten. Müller erhoffte sich als Weltgeistlicher mehr Zeit für seine wissenschaftliche Forschung zu haben. Zu diesem Zeitpunkt stand er der Aufklärung nahe und hielt eine Tätigkeit in Wissenschaft und Lehre für sinnvoll, um aus „verachteten Klostergeistlichen nützlichere Glieder für Kirche und Staat“⁴²⁵ zu machen. Dreh- und Angelpunkt seiner Streitschrift war allerdings kein praktischer Vorschlag zur Verbesserung der Klöster, sondern die Abrechnung mit den „grillen423 Dass er kein Deutsch konnte, wird zumindest seiner Beliebtheit in der Bevölkerung abträglich gewesen sein, vgl. Steinruck: Notablen (wie Anm. 258, S. 90), S. 153–157. 424 Anonym: Abdruck eines Mönchsbriefs über die Klosterreform unsres Vaterlands, o.O. 1789, S. 9: „Zwo Fragen sind es hauptsächlich, von deren Beantwortung ein gewünschter Zug in diesem Reformationsgeschäfte abhängt. Die erste ist diese: Haben unsre Abteyen eine Reforme nöthig, oder nicht? Die andere: Worauf kömmt es bey der Reforme für allem an?“. 425 Guido Groß: Sanderat Müller OSB (1748–1819), in: Kurtrierisches Jahrbuch 16 (1976), S. 43– 61, hier S. 54. Müller entschied 1779 eigenständig nach einer Reise in die Niederlande nicht ins Kloster zurückzukehren, sondern eine Bildungsreise nach Italien anzuschließen. Zu seiner später negativen Haltung gegenüber einigen Entwicklungen seiner Epoche siehe Kapitel 4.2.3.
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haften despotischen Klosterobern“⁴²⁶. Ausgerechnet ein Mönch bediente sich mit dem Vorwurf des Despotismus eines Allgemeinplatzes aufklärerischer Kritik am Katholizismus, dessen Klerus regelmäßig beschuldigt wurde, geistliche Despotie auszuüben.⁴²⁷ Der Begriff Despotismus diente dabei weniger zur Charakterisierung eines individuellen Machthabers als zur Beschreibung einer bestimmten Form politischer Ordnung. Prägend auf das Begriffsverständnis des 18. Jahrhunderts wirkte sich vor allem Montesquieus Auffassung von Despotismus aus. Ihm zufolge basierte die Despotie auf Furcht, die nicht nur das Verhältnis der Untertanen zum Herrscher bestimmte, sondern auch das der Untertanen untereinander. Der Despot stand über allem, von seinen Launen hing das Leben der Untertanen ab, die nichts weiter als Sklaven waren.⁴²⁸ Inwiefern der Autor des Mönchsbriefs über die Klosterreforme sich an Montesquieu orientierte, lässt sich nicht sagen. Augenfällig ist jedoch, dass für ihn ebenfalls Furcht das bestimmende Gefühl in der „Tyranney“⁴²⁹ der Äbte ist. Das Leben der Mönche, die den Launen ihrer Vorsteher unterworfen seien, charakterisiert er als „Sklaverey“⁴³⁰; den Zustand der Klöster als „Barbarey“⁴³¹. Der Despotismus sei deshalb schon immer die „wahre Urquelle alles Klosterübels“⁴³² gewesen, weshalb die Abteien unzweifelhaft einer Reform bedürften: Jeder „brave unbefangen denkende Mann, der auch nur ein wenig ihre gegenwärtige Verfassung mit unpartheyischem Auge durchblinzelt hat“, müsse dies „offenherzig eingestehen“. Der anonyme Autor bedauert, erst kürzlich über seine Heimat das Verdikt gelesen zu haben, Künste und Wissenschaften würden dort noch immer unterdrückt. Eine Einschätzung, die er, was die Klöster betrifft, teilt. So präsentiert er sich als Aufklärer und klagt, die Klostergeistlichen würden „aus was
426 Anonym: Abdruck eines Mönchsbriefs (wie Anm. 424), S. 6. 427 Siehe dazu Kapitel 2.2. 428 Vgl. Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 2010, S. 275–278. Osterhammel bezieht sich auf Montesquieus De l’esprit des lois von 1748 und setzt aus den darin enthaltenen verstreuten Äußerungen zur Despotie einen „Idealtyp“ (S. 277) zusammen. Auch im antiken Griechenland galt Despotie als bei den ‚Barbaren‘ übliche, „illegitime, die Gesetze mißachtende Entartungsform monokratischer Herrschaft“ (S. 275). 429 Anonym: Abdruck eines Mönchsbriefs (wie Anm. 424), S. 35. Viele Mönche müssten sich beispielsweise Mut antrinken, bevor sie dem Abt gegenübertreten könnten (S. 35) und würden aus Furcht vor diesem Missstände in ihren Institutionen gegenüber Außenstehenden verschweigen (S. 12). Auch mit der Solidarität untereinander sei es aufgrund der Angst vor den Vorstehern (18–19) nicht weit her. 430 Ebd., S. 15. 431 Ebd., S. 17. 432 Ebd., S. 31.
202 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an für politischen Absichten […] zu guten Künsten und Wissenschaften unbrauchbar und verdrüßlich“ gemacht und „in der gröbsten Unwissenheit“ gelassen werden, statt brauchbare Männer aus ihnen zu machen. Reform bedeutete folglich für ihn nicht Rückkehr oder Wiederherstellung eines kontemplativen Klosterlebens. Vielmehr kritisierte er das gegenwärtige „Müssigleben“⁴³³ der Mönche und ihre daraus entspringende Nutzlosigkeit sowohl für den Staat als auch für Gott, die sich mit wissenschaftlicher Arbeit überwinden ließe. Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus plausibel, dass Sanderad Müller der Verfasser dieser Schrift war, zumal der Konflikt mit seinem eigenen Abt die harten Vorwürfe gegen alle Äbte erklären könnte.⁴³⁴ Die Klostervorsteher als die ursächlich Verantwortlichen für die Missstände in den Klöstern würden „alle mögliche Mönchspolitik“ anwenden, „um den scheinbaren guten Namen ihrer Klöster auf die listigste Art beyzubehalten.“ Aktiv würden sie den „Austritte der Wahrheit aus den schimmelmoosigen Gewölben der Klausuren“ zu verhindern suchen: So wäre es dem Novizen strikt untersagt, sich mit einem Professen zu unterhalten, um zu vermeiden, dass er vor dem Ablegen der eigenen Gelübde in „Klostergeheimnisse“⁴³⁵ eingeweiht werde, diese verraten und andere so vom Eintritt ins Kloster abhalten könnte. Hätte er hingegen die Möglichkeit, zuvor „einige forschende Blicke in das Mönchsgewirre“⁴³⁶ zu werfen, würde ihn die eigene Anschauung tatsächlich vom Ablegen der ewigen Gelübde bewahren. Wenn auch sehr polemisch formuliert, sind seine Aussagen als Kritik an der bisherigen Praxis des Noviziats zu verstehen, das eine folgenreiche Entscheidung auf unzureichenden Fakten in jungen Jahren verlange. Aus ähnlichen Gründen riet auch der Gutachter des Erzbischofs, zumindest das Alter für das Ablegen der Ordensgelübde bei Männern auf 30 und bei Frauen auf 40 Jahre zu erhöhen. So ließe sich vermeiden, dass sich „Leute in einem allzugrünenden Alter […] zu einer ohnveränderlichen Lebensart“⁴³⁷ entscheiden müssten. Indem der Autor der Mönchsbriefe über die Klosterreforme den Äbten vorwirft, bessere Speisen 433 Jeweils Anonym: Abdruck eines Mönchsbriefs (wie Anm. 424, S. 200), S. 4. 434 Vgl. Groß: Sanderat (wie Anm. 425, S. 200), S. 53. Da die Autorschaft aber nicht endgültig geklärt werden kann, spreche ich im Folgenden weiterhin nur vom Autor oder Verfasser der Mönchsbriefe über das Klosterwesen. 435 Jeweils Anonym: Abdruck eines Mönchsbriefs (wie Anm. 424, S. 200), S. 10. 436 Ebd., S. 11. 437 LHA Ko, Best. 1C Nr. 11 278, fol. 230–231. Die je nach Geschlecht unterschiedliche Altersgrenze begründet der Gutachter damit, dass Männer früher klug würden als Frauen. Entweder ist er noch ganz im christlichen Denken verhaftet und begreift die Frau als defizitäres Wesen oder er ist geprägt durch die Polarisierung und Biologisierung der Geschlechter, die sich in der Aufklärung im späteren Verlauf wieder durchzusetzen begann. Vgl. Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61, S. 40), S. 157, 159–160.
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und Weine als die übrigen Mönche zu genießen sowie zahllose Gäste zu bewirten, greift er einen weiteren Kritikpunkt auf, den auch das Gutachten anführte.⁴³⁸ Gerade um den Despotismus der Äbte einzuschränken, ist dem Mönch an mehr Mitbestimmung innerhalb des Konvents und bei den Reformen gelegen, für die er den Klosteroberen jegliche Kompetenz abspricht. Dass an der Zusammenkunft in Koblenz auch Deputierte des Konvents teilnehmen sollen, um über eine Reform des Klosterwesens zu beraten, bezeichnet er allerdings als scheinheilig. Längst hätten die Äbte alle Entscheidungen unter sich ausgemacht; die Konventualen würden nur dazu dienen, „dem Mönchsrecesse durch mechanische Unterzeichnung mehr Auffallendes anzupflästern.“⁴³⁹ Er verdächtigt die Äbte, die „Religiosen nur empfindlicher a la Mode de Bursfeld zwicken“⁴⁴⁰ zu wollen, sie also nur noch stärker unterordnen zu wollen. Mit ‚Bursfeld‘ spielt er auf die Bursfelder Kongregation an, der er die Mauriner als leuchtende Gegenbewegung entgegenstellt, die nicht die Despotie, dafür aber die Wissenschaften befördert hätten.⁴⁴¹ Auch den erzbischöflichen Reformbemühungen scheint er reserviert gegenüberzustehen: Sarkastisch stellt er an die „allerverehrungswürdigste[n] Herrn Kommissarien, die […] auf fürstlichen gnädigsten Befehl unsre ekelhafte Klausuren durchschlichen“ hätten – womit er auf die 1785 eingerichtete Visitationskommission anspielt –, die rhetorische Frage, ob er etwa mit seiner Kritik am Klosterleben falsch liege, hätten sie doch selbst ganz unvermutete Entdeckungen bei ihrer Überprüfung gemacht. Hämisch bezeichnet er die Kommissare als „exzellirende Zierde unsers Klerus“⁴⁴², die sich durch „unbefleckte Gerechtigkeitsliebe und holdseli-
438 In diesem Fall rät der Gutachter, die Äbte sollten mit gutem Beispiel vorangehen und stets gemeinsam mit ihrem Konvent essen, LHA Ko, Best. 1C Nr. 11 278, fol. 243. Der Autor des Mönchsbriefs über die Klosterreforme verweist auf einen ‚geistlichen Herrn Ratsverwandten‘, der kürzlich „ganz freymüthig sagte, eher würde sich die Ruhe in den Abteyen nicht einstellen, bis man den Aebten die Traktir- und Spendirkräfte würde benommen haben.“ Anonym: Abdruck eines Mönchsbriefs (wie Anm. 424, S. 200), S. 37. 439 Ebd., S. 19. 440 Ebd., S. 20. 441 Resmini weist darauf hin, dass die Klosterordnungen des 18. Jahrhunderts längst nicht mehr mit den Bursfelder Vorschriften übereinstimmten, sondern sich an spätbarocken Vorstellungen orientierten. Diese spätbarocken Ordnungen wiederherzustellen, statt die Regeln des Erzbischofs umzusetzen, sei demnach der Wunsch der Äbte gewesen. St. Maximin war im Übrigen nie Teil der Bursfelder Kongregation. Die starke Stellung der Äbte (siehe Kapitel 3.1.2, Anm. 392) sowie der geringe Stellenwert der Wissenschaften innerhalb der Bursfelder Reform (vgl. Ziegler: Bursfelder (wie Anm. 392, S. 193), S. 344), werden zum abschätzigen Urteil des Anonymus geführt haben. 442 Jeweils Anonym: Abdruck eines Mönchsbriefs (wie Anm. 424, S. 200), S. 12. Mit der Visitation hatte Clemens Wenzeslaus neben Pidoll unter anderem seinen Statthalter und Domdekan Anselm von Kerpen betraut, vgl. Resmini: St. Maximin (wie Anm. 4, S. 26), S. 354.
204 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an ges Betragen“⁴⁴³ unvergesslich gemacht hätten. Damit meint er wahrscheinlich, dass der Erzbischof sein behauptetes und durch seine Kommissare wahrgenommenes Visitationsrecht in der Abtei St. Maximin mit militärische Mitteln durchsetzte. Auch wenn die Mönche letztlich nachgaben, mit den Visitatoren kooperierten und die meisten von ihnen die Umwandlung ihres Klosters in ein Stift befürworteten, werden sich der Kurfürst und seine Vertreter durch ihr Auftreten nicht als wohlmeinende Reformer empfohlen haben.⁴⁴⁴ Nicht zwangsläufig musste sich also der Wunsch eines aufgeklärten Mönches nach Klosterreformen mit den Plänen eines Erzbischofs decken, der vermutlich zu offensichtlich seine finanziellen Beweggründe durch Rekurse auf die Aufklärung bemänteln wollte. Allerdings richteten sich der Sarkasmus und die Ablehnung des Verfassers vor allem gegen die Vertreter des Erzbischofs und weniger gegen diesen selbst. So lobt er mehrmals dessen Fürsorge und zeigt sich überzeugt, dieser sei in die „kaum glaublichen Klostermysterien“⁴⁴⁵ weder eingeweiht noch wisse er, welches Leid seine mönchischen Landeskinder unter den Äbten erdulden müssten. Er greift damit auf den Topos des ‚guten Herrschers‘ zurück, der eigentlich aufgeklärt ist, dessen weise Regierung aber durch falsche Berater oder sonstige Einflüsterer torpediert wird.⁴⁴⁶ Daher erkennt er prinzipiell die Verfügungsgewalt des Kurfürst-Erzbischofs über die Klöster an.⁴⁴⁷ Gleichwohl werden sowohl die Kritik an den kurfürstlichen Visitatoren als auch die harten Anfeindungen gegen
443 Anonym: Abdruck eines Mönchsbriefs (wie Anm. 424, S. 200), S. 13. 444 Abt und Konvent verweigerten zunächst die Visitation, da sie nur dem Papst unterstellt seien. Joseph II. unterstützte Clemens Wenzeslaus’ Vorgehen, vermittelte zwischen ihm und der Kurie und untersagte einen eigenmächtigen Rekurs an die Kölner Nuntiatur, was der Erzbischof auf das Erzstift übertrug. Vor dem Reichskammergericht hatte die Abtei ebenfalls keinen Erfolg. Da die Mönche zu Beginn der Visitation Widerstand leisteten, ließ der Erzbischof die Abtei Anfang Februar 1786 durch Soldaten besetzen, die erst Ende desselben Monats abgezogen wurden. Vgl. Resmini: St. Maximin (wie Anm. 4, S. 26), S. 353–355. 445 Jeweils Anonym: Abdruck eines Mönchsbriefs (wie Anm. 424, S. 200), S. 36. 446 Selbst zu Beginn der Französischen Revolution war die Vorstellung, der König als Vertreter einer Institution könne nichts Böses tun, noch fest in den Köpfen der Akteure verankert, vgl. Pierre Rosanvallon: Die gute Regierung, Hamburg 2016, S. 47. Vgl. dazu auch Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61, S. 40), S. 208. Als lobendes Beispiel eines aufgeklärten Herrschers verweist der Autor auf Kaiser Joseph II.: „Als es Kaiser Joseph dem Andern Ernst ward, das Sittliche seiner Unterthanen durch Abschaffung der Religionsmisbräuche und Andächteleyen aller Art zu verbessern, so fieng der mit seinem Staatsblicke alles umfassende menschenfreundliche Monarch nicht ohne Ursache die Reforme vom Klerus an.“ Anonym: Abdruck eines Mönchsbriefs (wie Anm. 424, S. 200), S. 36. Unter anderen Vorzeichen kritisierte Herbain die Berater des Erzbischofs: Er wollte ihn als Opfer aufgeklärter Einflüsterer darstellen. 447 Das zeigt sich vor allem dann, wenn er kritisiert, die Äbte hätten für sie unangenehme landesherrliche Verordnungen absichtlich falsch interpretiert (ebd., S. 35).
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die Klosteroberen Gründe gewesen sein, weshalb der Autor die Mönchsbriefe über die Klosterreforme anonym veröffentlichte. Auch die offene Parteinahme des Verfassers für die Aufklärung dürfte für die Anonymität eine Rolle gespielt haben. Der Klostergeistliche mag zwar in die erzbischöfliche Reformpolitik wenig Hoffnung gesetzt haben, dass ihm das Kloster jedoch als unmenschlicher Ort erscheint, an dem die Bewohner nur Misshandlungen ausgesetzt seien, macht er unmissverständlich klar. Demnach liege die Messlatte für eine sinnvolle Verbesserung des Klosterstandes hoch, da sie „dem Vaterlande bey aufgeklärten Provinzen zur Ehre und nicht zur Beschämung gereichen“⁴⁴⁸ müsse. Dies sei zu bewerkstelligen, sofern die Reform die „Einführung ächter Religion in den Klöstern, sammt der Absicht, den Klostermann vergnügt und dem gemeinen Wesen nützlich zu machen“, miteinander verbinde. Das „Ziel“ einer „zweckmäßige[n] Reformazion“ könnte daher nur sein, „Religion, wahre Andacht, Künste und Wissenschaften“⁴⁴⁹ zu fördern und konsequent alle Hindernisse auf dem Weg dorthin zu beseitigen. Neben dem Despotismus der Äbte, der ‚Versklavung‘ der Mönche, ungerechtfertigter Bußübungen und weiterer Übel, die aus Sicht des Verfassers das Leben der Mönche erschwerten, zählt er ausdrücklich „abergläubische Mönchsgebräuche“⁴⁵⁰ zu den unbedingt abzuschaffenden Hemmnissen eines der Aufklärung angemessenen Klosterlebens. Auch die Benediktiner des Trierer Erzstifts schienen für ihn zu denjenigen Orden zu zählen, die mit ihren Devotionalien und Praktiken den Aberglauben in der Bevölkerung förderten, um daraus einen Vorteil zu ziehen. Offensichtlich sah er in den Klöstern die ‚echte Religion‘ nicht befolgt. Was diese ausmacht, erläuterte er zwar nicht, warf allerdings den Äbten vor, mit ihrer Forderung nach Wiederherstellung von „Religion, Regel und Disziplin“ einmal mehr allein ihren Despotismus bemänteln zu wollen. Er bezog sich unter anderem auf den Mainzer Philosophen und Theologen Anton Joseph Dorsch (1758–1819)⁴⁵¹, 448 Anonym: Abdruck eines Mönchsbriefs (wie Anm. 424, S. 200), S. 14 f. 449 Jeweils ebd., S. 15. 450 Ebd., S. 15. Er zählt auf: „Dahero müssen weichen Despotismus der Vater, mit seiner kein Pfifferling werthen Familie: Sklaverey, Gemüthsschindereyen, Grobheiten und Beschämungen, abergläubische Mönchsgebräuche, geistliche Kindereyen, Bethschwestereyen, lächerliche Pönitenzen, knechtische und säuische Arbeiten, Schmeicheleyen und alberne Fuchsschwänzereyen, unchristliche Verräthereyen und falsches Antragen, Bruderhaß, Rachsucht, Klosterkabalen und Unruhe mit allem derley Teufelszeug mehr, so der vermaledeyte Despotismus täglich und stündlich zwischen den alle Sonntag frisch geweiheten Klostermauern ungehindert aushecket, und das man allzusammen, wie Jaunergesindel, unter dem Schalle der Armensünderglocke mit Staupenschlägen zum Thore hinausparadiren sollte.“ (Ebd. 15–16). 451 Dorsch hatte an der Mainzer Universität den Lehrstuhl für Philosophie inne. Als katholischer Aufklärer, der sich ab 1788 vor allem mit der Philosophie Kants auseinandersetzte, geriet er
206 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an demzufolge Religion bei „Herrschsüchtigen“ oft ausarte. Auch ein Landsmann des anonymen Autors habe bereits vor möglichem Missbrauch der Religion und ihrer „vortreflichsten Lehren“⁴⁵² gewarnt: Menschen würden sich aus „Nebenabsichten, Herrschsucht und Eigennutz in die geheiligte Larve der Religion“ kleiden, um ihre eigenen Pläne als die Gottes auszugeben, wodurch „Religion in einer Zeit und Gegend Wohlthäterin, in andern Tyrannin der Menschheit“ werden konnte. Beide Äußerungen dienen dem aufgeklärten Klostergeistlichen dazu, auf das Missbrauchspotenzial zu verweisen, das Religion bei blinder Befolgung aus seiner Sicht besaß. Diese Auffassung weist Ähnlichkeiten zu La Roches Mönchsbriefen auf: Anders als dieser beschuldigt der anonyme Autor allerdings nur die Äbte, eine vernünftige Religionsausübung zu verhindern. Deren „vorgeschüzte[…] Afterreligion“ beruhe ausschließlich auf „abergläubischen Mönchsmanöuvres, bethschwesterischen Bücklingen [und] zugeschraubten Augen“. Zu ihrem Vorteil würden sie die untergebenen Mönche in den „blauen Dunst und Nebel“ der Unwissenheit hüllen, was weder der „wahre[n] Religion“⁴⁵³ noch dem aufgeklärten Zeitalter angemessen sei und deshalb abgeschafft gehöre. Um stattdessen ein Mönchtum zu schaffen, dass aufgeklärten Maßstäben gerecht wird, müssten alternative und weniger schädliche Beschäftigungen ermöglicht werden: Als Beispiele nennt der Verfasser tägliche Spaziergänge außerhalb der Klostermauern, die Anschaffung notwendiger Bücher und Instrumente sowie der schriftliche und mündliche Austausch mit anderen Gelehrten und Künstlern. Derart abgelenkt, würden sich die Ausschweifungen der Mönche von selbst erledigen. Zudem fordert er, dass sich die Mönche aktiv in die Gemeinschaft einbringen sollten wie beispielsweise im „Unterrichtungsfache“, wo es noch Gebiete gebe, „deren Urbarmachung uns Mönchen vorbehalten zu seyn scheinet“⁴⁵⁴. Nicht nur an der Bildung seiner Klostergenossen ist ihm gelegen, sondern im Sinne der Aufklärung sollen sich die Religiosen um „die Lehre gemeinnütziger Kenntnisse, welche allen Ständen brauchbar sind“, verdient machen, was auch zu ihrem eigenen Seelenheil beitrage. So könnten die Klöster ihren Nutzen für den Staat schon früh in Konflikt mit orthodoxen Geistlichen, die seine Lehren und Schriften kritisierten. Sie strengten eine Untersuchung an, ob Kant mit der katholischen Religion vereinbar sei. Da Dorsch in dieser Sache vom Mainzer Hof keine Unterstützung mehr erwartete, ging er 1791 ins revolutionäre Straßburg. Hatte er in Straßburg noch ein geistliches Amt inne, übte er nach der französischen Besetzung von Mainz als Präsident der Administration eine staatliche Funktion aus. Nach dem Anschluss des Rheinlandes an Frankreich wurde er Kommissar bei der Zentralverwaltung in Aachen. Vgl. Jörg Schweigard: Die Liebe zur Freiheit ruft uns an den Rhein. Aufklärung, Reform und Revolution in Mainz, Gernsbach 2005, S. 139–146. 452 Jeweils Anonym: Abdruck eines Mönchsbriefs (wie Anm. 424, S. 200), S. 28. 453 Jeweils ebd., S. 29. 454 Ebd., S. 21.
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unter Beweis stellen und ihre Kritiker entkräften: „Denn, wer an der Verbesserung des Zustandes seines Nebenmenschen mitarbeitet, ziehet sich in aufgeklärten Provinzen Achtung zu“. Als Lehrer würden die Mönche außerdem an der menschlichen „Veredelung“⁴⁵⁵ mitarbeiten. Einem rein zurückgezogenen Klosterleben nach strenger Regel, erteilt der Autor damit eine deutliche Absage. Für ihn ergibt sich der Nutzen der Klöster aus ihrer Mitwirkung am ‚Ziel‘ der Aufklärung, der stetigen Vervollkommnung der Menschheit.⁴⁵⁶ Demnach versuchte er dem Umbruch, den die Aufklärung insbesondere für das Kloster- und Mönchswesen bedeutete, dahingehend zu begegnen, dass sich die Klöster aufklärerischen Ideen öffnen und aktiv an ihrer Durchsetzung mitwirken sollten, um ihren Fortbestand zu rechtfertigen und überhaupt zu ermöglichen. Dass es für ein solches Engagement Vorbilder bei den Benediktinern gibt, betont er ausdrücklich. Seine Kritik richtet sich daher ausschließlich gegen die Klostervorsteher des Erzstifts, die in Bezug auf Bildung und Wissenschaft umso vernichtender ausfällt: „Kenner unsrer Gegend“ wüssten, „daß, wenn man alle unsre Aebte zusammenschmiedete, doch nicht ein einziger brauchbarer Wissenschaftsmann, wie Calmet, Gerbert, Felbiger und vielweniger ein Newton herauszubringen sey.“⁴⁵⁷ Statt das Studium ihrer Mönche zu unterstützen, hätten sie „die Musen nach und nach aus den Klöstern verscheuchet“⁴⁵⁸ und Andersdenkende als „falsch aufgeklärte Leute, nichtswürdige Klosterrebellen“⁴⁵⁹ verunglimpft. Ihr Despotismus stünde der wissenschaftlichen Betätigung diametral entgegen. Um eine grundlegende Veränderung zu erzielen, fordert er, sich für eine Ordensregel an aufgeklärten – und protestantischen – Pädagogen wie Campe oder Salzmann zu orientieren. Diese hätten sich gerade nicht auf den Heiligen Geist berufen, sondern auf ihre Vernunft. Wie andere katholische Aufklärer auch, hält er dieses ‚Licht‘
455 Jeweils ebd., S. 22. 456 Angeblich habe schon Newton – auf den er gleich zweimal in seiner kurzen Schrift verweist – geurteilt, die Menschheit werde viele Kenntnisse der Natur erlangen, wenn die „Lust zur Naturkunde selbst in die Klöster“ eindringe und man es dort als Pflicht empfände, „der durch die wunderbaren Natursprodukten erkannten göttlichen Weisheit täglich neue Lobgesänge anzustimmen“ (Jeweils ebd., S. 23). Mit diesem Zitat will der Autor ausdrücken, dass die Erforschung der Natur nicht im Widerspruch zur katholischen Religion steht, sondern für ihn vielmehr die Existenz Gottes und die Großartigkeit seiner Schöpfung belegt. 457 Ebd., S. 23. Augustin Calmet (1672–1757) war ein französischer Abt des Benediktinerordens und Verfasser zahlreicher (kirchen-)historischen Werke und Lexika. Der Benediktiner Martin Gerbert (1720–1793) war Fürstabt in St. Blasien und baute sein Kloster zu einem Zentrum klösterlicher Geschichtsforschung aus. Johann Ignaz Felbiger (1724–1788) war hingegen Abt des AugustinerChorherrenstifts Sagan und ein wichtiger katholischer Schulreformer. 458 Ebd., S. 25. 459 Ebd., S. 33.
208 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an für gottgegeben, weshalb für ihn ein auf den Regeln der Vernunft basierendes Klosterleben gottgefällig ist. Er verweist auf Salzmann und Campe, um durch sie zu belegen, dass der moralische Mensch nur gebildet werden könne, wenn der „physische[…] Mensch[…] der Bildung empfänglich“⁴⁶⁰ gemacht würde. Der Physis des Menschen ist nach seiner Auffassung durch eine sinnvolle tägliche Beschäftigung wahrscheinlich schon geholfen, aber auch durch Spaziergänge, eine gute Ernährung und einem angemessenen Verhalten gegenüber den Mönchen.⁴⁶¹ Obwohl der Klostergeistliche, der den Mönchsbrief über eine Klosterreforme verfasst hatte, kaum praktische Vorschläge zur Verbesserung des Klosterwesen bringt und die Schrift hauptsächlich eine Polemik gegen die Äbte darstellt, ist der Wunsch, die Klöster in angemessene Orte der Aufklärung zu verwandeln, unverkennbar. Dass er seine Schrift in Anspielung auf La Roche als Mönchsbrief betitelte, dürfte darum kein Zufall gewesen sein. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen stand auch bei ihm der größtmögliche Nutzen der Klöster für Staat und Religion, den er dadurch erfüllt sah, dass sich die Mönche den Wissenschaften widmen und den Unterricht unterstützen sollten. Als Mönch war ihm jedoch vor allem am Wohl seiner Brüder gelegen, weshalb sich die Reformen an den Bedürfnissen der Klosterinsassen orientieren sollten und nicht an denen ihrer Vorsteher. Eine solche Schrift musste Widerspruch erzeugen, der ein Jahr später mit der ebenfalls anonymen Streitschrift Gedanken eines Weltmannes über den Abdruk des Mönchsbriefes betreffend die Klosterreforme unsers Vaterlandes erfolgte. Dieser Text stammte – wie der Titel deutlich macht – diesmal nicht von einem direkt betroffenen Klostergeistlichen, sondern ausdrücklich von einem weltlichen Laien aus dem Trierer Erzstift. Bis auf seine Initialen ‚N. Sch.‘ ist hinsichtlich der Identität des Autors weiter nichts bekannt. Nach eigener Aussage ist er ein frommer Mann, der sich geschworen hat, „in Zukunft alle Gesellschaften zu meiden, wo sich Leute ohne Religion“ aufhalten. Bei diesen würde es sich häufig um „besonders junge Leute von einer gewissen Erziehungsgattung“ handeln, die von anderen Leuten
460 Anonym: Abdruck eines Mönchsbriefs (wie Anm. 424, S. 200), S. 31. Die Vernunft habe „Stammvater Adam zur Selbstprüfung seiner Handlungen vom höchsten Wesen“ (ebd.) erhalten. 461 Zwar möchte er für konkrete Reformvorschläge einen gesonderten Plan ausarbeiten, dennoch könne er bereits sagen, „daß nach meinem Erachten alles seinen gewünschten Zug erhalten würde, wenn man alle Schmausereyen und Traktamente einstellete, hingegen den Geistlichen einen täglich ordentlichen Tisch vorschriebe, sie mit allen Nothwendigkeiten versorgte, alsdenn dem ungekränkten äusserlichen Ansehen und Ruhe der Herrn Aebte eine standesmäßige recht gute Kongruam [Kongrua meint ein festes (Mindest-)Einkommen zum Lebensunterhalt aus einer Pfründe, Anm. A. K.] beyfügete, und im Uebrigen die Konventualen vor ihrem Despotismus in Sicherheit brächte.“ Ebd., S. 38.
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auch als „in einem falschen Sinne Aufgeklärte“⁴⁶² bezeichnet würden. Erkennbar steht er den aufklärerischen Ideen seiner Zeit – des endenden 18. Jahrhunderts – reserviert gegenüber, da er sie weitgehend mit Religionskritik gleichsetzt. Den Autor des Mönchsbriefs über eine Klosterreforme sieht er vor allem als Unruhestifter, den er deshalb despektierlich als Pater Inquietus anredet. An dessen aufklärerischen Vorstellungen stört ihn besonders ihr auf radikale Veränderung abzielender Charakter, der sich nicht an Traditionen aufhält: So wirft er ihm vor, „sich mit einem Strome satirischer Uebelredenheit über alles, was die Gewohnheit, was die Verordnungen euerer Väter heiligten, die Bischöfe bestätigten“, zu ergießen. Diese fortgeschrittene „Zügellosigkeit junger Klostergeistliche[r]“ stößt ihn ab und mit „Furcht“ sieht er „jenen Zeiten entgegen, die [er] nicht zu leben wünsche“, wo Geistliche für die Bestrafung des „noch nicht genug aufgeklärten Weltmanne[s]“⁴⁶³ sorgen würden. – Die Gedanken zu einer aufgeklärten Klosterreform, die der Autor des Mönchsbriefs über eine Klosterreforme entwickelt hat, scheinen für ihn regelrecht das erste Aufflackern einer zukünftigen Dystopie zu sein. Dies wirkt vor dem Hintergrund, dass die Reformvorschläge recht harmlos und zeittypisch waren, verwunderlich. Möglicherweise versuchte der Weltmann dem zweifellos bissig-provokativen Stil der Streitschrift mit eigener rhetorischer Zuspitzung zu begegnen. Dafür spricht, dass er ausdrücklich nicht die „Widerlegung“⁴⁶⁴ des Klostergeistlichen anstrebt, sondern nur „eine Beobachtung über [dessen] Unverschämtheit, und das ärgerliche Betragen vieler schlechter besonders junger, und hauptsächlich t[eut]scher Abteimönche.“ Sich selbst bezeichnet er als „gute[n] Krist“, der die geistlichen Ordensstände schätze und die Rechtschaffenheit „vieler Abteipriester“⁴⁶⁵ voraussetze. Gleichwohl teilt er die Einschätzung seines Widerparts, dass eine Reform der Klöster unumgänglich sei. Die Ursache sei jedoch nicht in der mangelnden Aufklärung der Klosterinsassen zu suchen, sondern in der „ungezogene[n] Lebensart vieler Klöster- und besonders Abteipriester“, die „schon längstens das Aug der ganzen vernünftigen Welt auf sich gezogen“ hätten. Mit der ‚vernünftigen Welt‘ spielt er augenscheinlich auf diejenigen an, die nicht ‚verblendet‘ sind durch aufklärerische Ideen und trotzdem offensichtliche Missstände erkennen können. Anscheinend sieht er die Mängel der Klöster auch als Teil eines Generationenkonflikts, da er so häufig auf die Jugend der Unruhestifter verweist. Im Gegensatz zum Autor des Mönchsbriefs über eine Klosterreforme liegt für ihn das Problem 462 Jeweils Anonym: Gedanken eines Weltmannes über den Abdruk des Mönchsbriefes betreffend die Klosterreforme unsers Vaterlandes, o.O. [ca. 1790], S. 3. 463 Jeweils ebd., S. 7. 464 Ebd., S. 7. 465 Jeweils ebd., S. 8.
210 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an nicht so sehr darin, dass „diese Klöster eine Menge müßiger und unbrauchbarer Leute“ zählten, die darum zum Studium angehalten werden müssten. Schwerer wiegen für ihn vielmehr ihre „schändlichsten Ausschweifungen aller Art“, die sich in Völlerei sowie dem Hang zu Luxus und zu Frauen zeigen würden. Die „heiligen Gebäude“, die stets einen Eindruck der Tugend ihrer Stifter gegeben hätten, seien nun genauso verkommen wie die „Klosterdisziplin“⁴⁶⁶ insgesamt. Besonders die Benediktinermönche, die von vier Seiten die Stadt „bloquieren“, sind für ihn „ausgeartete, verkappte Faulenzer“ und „maskirte Brod- und Tagdiebe“, die es sich auf Kosten der „umliegenden armen Gegend“⁴⁶⁷ gutgehen ließen. Die zeitgenössischen Klagen über die Bettelmönche, wie sie bei La Roche sichtbar wurden, teilte er hingegen nicht, sondern hält die Mendikanten den Benediktinern als Beispiele ehrbaren Mönchtums vor. Indem der Weltmann zumindest einigen Klostergeistlichen Faulheit und Ausschweifungen unterstellte, griff er auf gängige Stereotype der aufgeklärten Mönchskritik zurück.⁴⁶⁸ Bei aller Ablehnung der Aufklärung bzw. einiger ihrer Vertreter, scheint er dennoch unbewusst durch derartige Deutungsmuster beeinflusst worden zu sein. Gleichwohl lässt er in seiner Entgegnungsschrift keinen Zweifel daran, dass er die Einflüsse aufklärerischer Ideen in den Klöstern bedenklich und für die Religion als schädlich erachtet. Statt sich mit christlicher Erbauungsliteratur auseinanderzusetzen, wodurch „die Diener der Religion in ihrem vorigen Glanze“ wieder aufblühen könnten, würden die Mönche „Broschüren, Komödien, Romanzen, Monatsschriften, Liebesbriefe lesen“⁴⁶⁹. In der Privatbibliothek eines Mönches habe er etwa kürzlich „das Dictionnaire philosophique von Voltairen mit Zimmermanns Gedanken über die Einsamkeit, samt einer Menge gotteslästerlicher Broschüren, aber kein einziges Geistwerk“⁴⁷⁰ gefunden. Sich statt einer Ordensregel auf die „elenden Stümper Salzmann und Kampe“ zu beziehen, wie es der Autor in seinem Mönchsbrief über eine Klosterreforme forderte, lehnt er darum mehrmals und entschieden ab, denn diese könnten nichts der „gesunden Moral
466 Jeweils Anonym: Gedanken eines Weltmannes (wie Anm. 462, S. 209), S. 10. 467 Jeweils ebd., S. 9. 468 „Es war üblich geworden, Mönche in Karikaturen als müßig, gierig, vollgefressen und hässlich darzustellen.“ Beales: Klöster (wie Anm. 23, S. 111), S. 88. 469 Jeweils Anonym: Gedanken eines Weltmannes (wie Anm. 462, S. 209), S. 22. 470 Ebd., S. 23. Gemeint ist Voltaires religionskritisches Dictionnaire philosophique portatif von 1764 sowie die mehrfach aufgelegten Betrachtungen über die Einsamkeit (1756; erweitert Über die Einsamkeit, 1784/85) des Arztes und Philosophen Johann Georg Zimmermann (1728–1795), in welchen er auch das Klosterleben kritisiert. Lobend verweist der Anonymus hingegen auf den französischen Jesuiten Claude-Adrien Nonnotte (1711–1793), der 1772 mit seinem Dictionnaire philosophique de la religion einen Erwiderung auf Voltaires Werk veröffentlicht hatte (siehe S. 19).
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[der] heiligsten Regelväter“⁴⁷¹ entgegensetzen. Aufgeklärten Reformern wie dem Klostergeistlichen wirft er außerdem einen falschen Begriff von Freiheit vor: Unter dem Deckmantel, den Despotismus in den Klöster beseitigen zu wollen, würden sie einer moralisch zügellosen Lebensweise den Weg bereiten, wollten den Despotismus durch „Libertinismus“⁴⁷² ersetzen. Die aufgeklärten Klosterreformer waren aber für ihn nicht bloß Vertreter einer zweifelhaften moralischen Lehre, sondern er bezeichnete sie zudem als „gottesräuberische Apostaten“⁴⁷³, sprach ihnen folglich ihren christlichen Glauben gleich ganz ab.⁴⁷⁴ Die zerstörerische Wirkung der aufgeklärten Mönche, die er bewusst in die Nähe Luthers rückte, betraf aus seiner Sicht einerseits den katholischen Glauben: Hätten sie 1769 an den Koblenzer Gravamina mitgewirkt, hätte dies zu einem „Evangelium secundum Lutherum, secundum Voltairium“⁴⁷⁵ geführt, mithin die Situation nur verschlechtert. Ironisch schlägt er vor, die Mönche zum Studium doch gleich an die protestantische Universität Halle zu schicken, so könnten sich die Protestanten „recht pharisäisch in die Faust lachen, daß jene ihre Schüler sind, die eine Stunde hernach unsere Lehrer werden, ein schöner Triumph unserer Religion!“⁴⁷⁶ Andererseits sah er von der Rezeption der Aufklärung in den Klöstern auch eine politische Gefährdung ausgehen, da die Religiosen so empfänglicher für die „Einimpfung der Revolutionspocken“⁴⁷⁷ würden. Die Revolution – unbestimmt beschrieben als „Zeit […], wo die ganze Welt empört“ sei –, steigere zudem die Sensibilität der Bevölkerung für ihre eigenen erbärmlichen Lebensumstände im Vergleich zum Leben der Mönche: Nun, wo „jeder Elende fühlt, daß er auch Mensch, und darum kein Stiefkind des allgemeinen Vaters ist, wo man die Ursache des so großen Besitzstandes verschwenderischer Broddiebe wie auch den Zwek der frommen Stifter ein wenig untersucht“⁴⁷⁸, könnten die Mönche sich nicht mehr ungestört ihrer Prasserei und ihren Ausschweifungen hingeben, ohne die Implosion des Staatswesens fürchten zu müssen. Geschickt wendet der Autor der Gedanken Sozialkritik und Revolutionsgefahr zu seinen eigenen argumentativen Gunsten, um die sofortige Behebung der Missstände im Klosterwesen anzumahnen.
471 Jeweils ebd., S. 19. 472 Ebd., S. 11. 473 Ebd., S. 13. 474 Ähnlich wie das Freidenkertum, das Gutmann in La Roches Mönchsbriefen attestiert wird, verweist auch der hier erhobene Vorwurf des Libertinismus nicht nur auf Zügellosigkeit und mangelnde Frömmigkeit, sondern letztlich auf Atheismus. 475 Anonym: Gedanken eines Weltmannes (wie Anm. 462, S. 209), S. 24. 476 Ebd., S. 26. 477 Ebd., S. 26. 478 Ebd., S. 16.
212 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Trotzdem bleibt die Revolution in der Schrift bloß ein fernes Schreckensbild, das keine ernsthafte Bedrohung der eigenen politischen Ordnung darstellte. Die Beiläufigkeit, mit der der Weltmann im Jahr nach Revolutionsausbruch auf dieses politische Ereignis verweist, gründete sich wohl auf dem ungebrochenen Glauben an die weise Regierung und Reformtätigkeit der eigenen Herrscher. Zwar erkannte auch der Autor des Mönchsbrief über eine Klosterreforme die Befugnisse des Erzbischofs, die Klöster zu reformieren, an, er wollte aber die betroffenen Mönche mit eingebunden wissen. Für den Autor der Gedanken liegt die Zuständigkeit hingegen einzig bei den Erzbischöfen und Bischöfen, wobei er lobend auf die bisher getroffenen Maßnahmen in Mainz, Salzburg und Würzburg verweist. Anders als der Klostergeistliche heißt er darum die Reformpolitik des Trierer Erzbischofs uneingeschränkt gut. Dieser habe sich um „ein vollständiges, vernünftiges, dem Geiste der Religion und dem Gefühle der Menschheit, dem Klima, und den Umständen unseres trierischen Landes, wie auch der Urquelle der h. Regelverfasser gleichförmiges Regulativ“⁴⁷⁹ bemüht. Das Resultat einer einheitlichen Klosterordnung habe endlich allen „billigen Beschwerden“⁴⁸⁰ abhelfen können. Doch obwohl man „diesem Werke eines so wachsamen Hirten den Geist der Bescheidenheit, der Milde, der Frömmigkeit, der Gelehrsamkeit“ anmerke und auch einzelne Zugeständnisse an den aufgeklärten Zeitgeist gemacht worden seien⁴⁸¹, führe die Verkommenheit der Mönche zu einer Nichtbeachtung der Regel. Zwar verbesserte die Klosterordnung die Situation der Klöster tatsächlich nicht, inwiefern dies aber dem aktiven Widerstand der Mönche geschuldet war, wie es der Autor schildert, bleibt dahingestellt. Dass der ‚milde und fromme‘ Erzbischof eine gegenteilige Entwicklung möglicherweise bezweckte, scheint für den Weltmann nicht vorstellbar gewesen zu sein. In seinem Vertrauen auf die Reformkraft der Herrscher zeigt er jedoch, dass eine reservierte bis ablehnende Haltung gegenüber aufklärerischen Positionen nicht bedeuten musste, sich Veränderungen komplett zu verweigern. Auch für diesen Autor gab es in den Klöstern Mängel, weil er jedoch Aufklärung mit Religionskritik gleichsetzte, sah er sie als Teil des Problems und nicht als Lösung. Anders als dem Klostergeistlichen erschien ihm ein noch Mehr an Aufklärung kein geeignetes Mittel zu sein, um auf den Umbruch zu reagieren, da für ihn die Klöster weiterhin Orte der Askese, frommen Einkehr
479 Anonym: Gedanken eines Weltmannes (wie Anm. 462, S. 209), S. 18. 480 Ebd., S. 19. 481 „Kein Kuhfleisch ward mehr aufgetragen, alle Nothwendigkeiten bis zum Ueberflusse jeder Gemächlichkeit wurden abgerichtet, die jährliche Vakanzzeit vestgesetzet, die Nachtsmette auf den Anbruch des Tages verlegt, das Officium beatae unterlassen, wöchentlich zweimal Spaziergang erlaubet, so gar den Gliedern der Abtei M. jedem 50 Thaler jährlichen Spielgeldes ausgeworfen.“ ebd., S. 20.
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und Erbauung bleiben bzw. wieder werden sollten. Die Unterstützung für die Pläne des Erzbischofs entband ihn von eigenen Reformvorschlägen, weshalb er am Ende seiner Streitschrift Pater Inquietus und seinen Gesinnungsgenossen nur rät, ihren Tätigkeitsdrang als Pfarrer, Beichtväter und Prediger für die arme Landbevölkerung auszuleben.⁴⁸² Die Kritik an Mönchtum und Klosterwesen zählte zum Grundbestand der (katholischen) Aufklärung. Dadurch bestärkt, war die Reform der Klöster ein zentrales Anliegen der katholischen Landesherren, wobei ihre Maßnahmen vor allem finanzund machtpolitischen Erwägungen geschuldet waren. Auch Clemens Wenzeslaus’ Verordnungen zum Kloster- und Mönchswesen waren durchaus von aufklärerischen Ideen geprägt, sollten aber in der Hauptsache helfen, seinen Einfluss durchzusetzen. Relativ spät umgesetzt, basierten sie genauso wenig auf der ‚reinen aufgeklärten Lehre‘ wie bei anderen Fürsten des 18. Jahrhunderts.⁴⁸³ ‚Nicht-Aufklärern‘ wie dem Verfasser der Gedanken eines Weltmannes konnten die Reformen so immer noch ‚fromm‘ erscheinen. Die unterschiedliche Reaktion der beiden anonymen Autoren verweist daher auf die ambivalente Politik ihres Erzbischofs, wobei der Klostergeistliche die einheitliche Klosterordnung noch nicht kannte. Obwohl der Weltmann der Aufklärung fern stand, sah auch er bei den Klöstern einen erhöhten Reformbedarf. Daher beruhte die Kritik der Aufklärer möglicherweise nicht nur auf einer von ihnen angenommenen Unvereinbarkeit von monastischem Leben und Vernunft, sondern verwies teilweise auf konkrete Mängel. Gleichwohl zeigen sowohl die Streitschriften der beiden Autoren als auch La Roches Werk, dass das, was als Missstand wahrgenommen wurde, der subjektiven Auffassung des Betrachters unterlag: Monierte der Weltmann die schlechte Klosterdisziplin, ereiferte sich der Klostergeistliche über die mangelnde Gelegenheit zu wissenschaftlichen Studien. Für La Roche hingegen verantworteten die Bettelmönche Unwissenheit und Aberglaube in der Bevölkerung. Zwar argumentierte der unmittelbar betroffene Klostergeistliche ebenfalls utilitaristisch, trotzdem war ihm vor allem der persönliche Nutzen für die Mönche wichtig. Als weltlichem Beamten ging es La Roche aber wesentlich stärker um Verbesserungen für Staat und Religion, die der Allgemeinheit zugutekommen sollten. Für ihn ließ sich außerdem die Klosterpolitik nicht getrennt von der übrigen Kirchenpolitik betrachten, weshalb er die Figuren seines Romans Standpunkte vertreten ließ, die tief greifendere Veränderungen bedeutet hätten als sie die Verfasser der beiden anderen, ungleich kürzeren Schriften forderten. Nicht ohne Grund bezog sich der Klostergeistliche
482 Ebd., S. 28–29. 483 Zur landesherrlichen Reformtätigkeit allgemein siehe Kapitel 2.2.
214 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an mit seiner Titelgebung vermutlich auf das als Mönchsbriefe bekannte Werk La Roches, das daher auch zwanzig Jahre nach Erscheinen noch immer einflussreich gewesen sein musste.⁴⁸⁴
3.2 Die Bekämpfung des Aberglaubens: Der Priester als Aufklärer Ähnlich wie La Roche in seinen Mönchsbriefen bei der Beschreibung des Zusammenhangs von Aberglauben und Bettelmönchen nie die Situation der Pfarrer aus den Augen verlor, die bei ausreichender Bildung einen Widerpart zu den Mönchen darstellen konnten, zog auch der Autor einer Schrift über die Hindernisse der Aufklärung⁴⁸⁵ im Trierer Erzstift eine Verbindungslinie zwischen der (mangelhaften) Priesterausbildung, kirchlichen Missbräuchen und vorherrschendem Aberglauben. Bei ihrem Verfasser handelte es sich wahrscheinlich um Johann Wilhelm Castello, der in Trier Theologie studiert hatte und 1782 zum Priester geweiht worden war. Nach einer kurzen Beschäftigung als Kaplan in Hundsangen war er seit 1784 Haushofmeister der Familie von Walderdorff auf Schloss Molsberg, bevor er im Juni 1787 Subregens des Priesterseminars in Trier wurde. Vermutlich beauftragte ihn Joseph Ludwig von Hommer (1760–1836)⁴⁸⁶ Ende 1787 oder Anfang 1788 mit der Abfassung dieser Schrift. Beide hatten sich wahrscheinlich während ihrer Studienzeit am Trierer Priesterseminar kennengelernt. Nunmehr Beamter am Koblenzer Offizialat erhielt Hommer Einblick in die zwischen 1785 bis 1787 im Niedererzstift durchgeführten Visitationen der Pfarreien und die dabei festgestellten Mängel.⁴⁸⁷ Da Castello als Kaplan und Hofmeister selbst im Niedererzstift tätig war, wird Hommer
484 Die Fortsetzung durch Riesbeck wird dazu beigetragen haben. 485 Der erste Teil dieser Darstellung trägt die Überschrift Von den Hindernissen der Aufklärung. Der Text wurde von Eduard Lichter ediert: Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20). Das Original befindet sich im BATr Abt. 49, Nr. 64. 486 Hommer wurde 1824 Bischof des 1821 neu formierten preußischen Bistums Trier. Er war ebenfalls durch die katholische Aufklärung geprägt und legte Wert auf die Bildung des Klerus. Hommer besetzte das Priesterseminar mit Schülern des Bonner Theologen Georg Hermes (1775–1831), der stark durch die Philosophie Kants beeinflusst worden war. Hermes’ Versuch, kritische Philosophie und Glaube zu vereinbaren, brachte ihm viele Feinde ein. Seine Lehren wurden posthum indiziert. Vgl. Rönz: Diözesanklerus (wie Anm. 21, S. 8), S. 483–491. 487 Sowohl für das Ober- als auch für das Niedererzstift war 1784 eine allgemeine erzbischöfliche Visitation angeordnet worden, die durch ein Mitglied des Generalvikariats bzw. Offizialats mit Unterstützung eines Aktuars durchgeführt werden sollte, siehe Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia Bd. 5 (wie Anm. 47, S. 36), S. 409–410.
3.2 Die Bekämpfung des Aberglaubens: Der Priester als Aufklärer | 215
ihn für einen geeigneten Kandidaten gehalten haben, Lösungen für eine stärkere Durchsetzung der Aufklärung in den ländlichen Pfarrbezirken zu entwickeln.⁴⁸⁸ Dass Castello der Aufklärung nahe stand, zeigte sich auch während seiner Zeit als Subregens des Priesterseminars, in der er Vorschläge einbrachte, wie das Seminar weiter verbessert werden könnte, um die angehenden Priester angemessen und an aufklärerischen Maßstäben orientiert auszubilden. Da er sich allerdings ungefragt einmischte und zudem seine Eingaben nicht an den Regens, sondern gleich an höhere Stelle richtete, machte er sich inner- und außerhalb des Seminars Feinde. In der Folgezeit wurde an seiner wissenschaftlichen Qualifikation gezweifelt, er wurde in die Nähe des Protestantismus gerückt und beschuldigt, den Papst zu missachten. Auch auf eigenen Wunsch hin trat er 1792 schließlich eine Pfarrstelle in St. Wendel an.⁴⁸⁹ Castello selbst beklagte in seiner 1791 veröffentlichten Dissertation die Verfolgung wohlmeinender Reformer, „nur weil sie theologische Schulmeinungen anzweifelten“⁴⁹⁰. Ihre Werke würden zensiert, obwohl sie vernünftige Lehrsätze enthielten, wohingegen die Schmähschriften der Feinde der katholischen Aufklärer problemlos gedruckt, rege verbreitet und empfohlen würden. Wie andere Aufklärer auch, führte er die Verfolgungswut gegen seinesgleichen auf ein übertriebenes Festhalten an Althergebrachtem zurück, was aus ihrer Sicht das „größte Hindernis für befreiendes Selbstdenken“⁴⁹¹ darstellte. Dass sich die katholischen Aufklärungsgegner Neuerungen verweigerten, lag für Castello auch an ihrem blinden Glauben an Autoritäten, die das Denken für sie übernahmen. In seiner Dissertation 488 Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 182–186. Lichters Zuordnung der Autorschaft ist allgemein anerkannt. Er begründet sie u. a. mit stilistischen Ähnlichkeiten zu anderen Texten Castellos, vgl. S. 183. 489 Insbesondere der Bezug katholischer Aufklärungszeitschriften wurde von seinen Kritikern missbilligt. So sollen sich unter den Zeitschriften beispielsweise die Freyburger Beiträge zur Beförderung des ältesten Christenthums und der neuesten Philosophie (1788–1793) befunden haben, die u. a. der Jurist Johann Kapar Ruef (1748–1825) verantwortete. Inhaltlich stellten die Beyträge „das kompromissloseste Organ der damaligen aufklärerischen theologischen Publizistik dar“; „Vernunftgebrauch und Freiheit waren für ihre Herausgeber die obersten Leitlinien“ (Krenz: Konturen (wie Anm. 43, S. 13), S. 169). Daneben waren wahrscheinlich auch die Maynzer Monatsschrift sowie die Würzburger gelehrten Anzeigen in der Bibliothek vorhanden. Laut Reichert seien hingegen einflussreiche Zeitschriften der Gegenaufklärung nicht im Bestand des Seminars verzeichnet gewesen. Castellos Kritiker hätten allerdings ihre Informationen häufig nur aus zweiter Hand gehabt. Vgl. Reichert: Priesterseminar (wie Anm. 49, S. 37), S. 125–130. 490 Ulrich L. Lehner: Die Verketzerungssucht der Obskurantisten: die Feinde der katholischen Aufklärung aus der Sicht ihrer Opfer, in: Reimund Haas [Hrsg.]: Fiat voluntas tua. Theologe und Historiker – Priester und Professor. Festschrift zum 65. Geburtstag von Harm Klueting, Münster 2014, S. 415–429, hier S. 416. 491 Jeweils ebd., S. 417.
216 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an führte er diese Autoritätshörigkeit auf die Unkenntnis, Ignoranz und Dummheit der Theologen zurück, die sich sowohl den Erkenntnissen wissenschaftlicher Debatten als auch dem Gebrauch von Hilfswissenschaften verweigern würden und darum in katholischen Aufklärern nur Häretiker sehen könnten. Die Aufklärer trügen allerdings mit ihrem forschen und elitären Auftreten oft selbst dazu bei, dass ihre Versuche, den Aberglauben einzudämmen, scheiterten. Die Suche nach den Ursachen der gegenaufklärerischen „Verketzerungssucht“⁴⁹², als die sie der Rezensent Alois Sandbichler (1751–1820) bezeichnete, war demnach vermutlich Castellos Reaktion auf die eigenen negativen Erfahrungen, die er als Aufklärer hatte machen müssen. Seine Untersuchung über die Hindernisse der Aufklärung ist hingegen noch von der Hoffnung gespeist, mit seinen Verbesserungsvorschlägen tatsächlich Gehör bei den zuständigen Stellen zu finden: So sei endlich der „glückliche[…] Zeitpunkt“ erreicht worden, die „Misbräuche zu rügen, die Hindernissen der Aufklärung laut zu bestreiten, und die Aberglauben auszurotten“, denn nun würden auch „die besten Fürsten Deutschlands“ versuchen, „dieses erhabene Ziel zu erreichen.“⁴⁹³ Für ihn erweise sich die Situation nun doppelt günstig, da er „nicht allein zu dieser Zeit lebe, sondern noch darüber den Befehl erhalten habe, [s]eine Beobachtungen zu sammlen, die Mißbräuche und Aberglauben aufzuzeichnen, die Hindernissen der Aufklärung des Landvolkes anzuzeigen, damit diese weggeräumt, der Aberglauben gestürzt, der Despotismus der Dumheit zernichtet, und reine Sittenlehre, die wahre Aufklärung, unter den Menschen verbreitet“⁴⁹⁴ werden könne. Auf dem Weg dorthin sieht er den Kaplänen und Landgeistlichen eine wichtige Rolle zukommen, weshalb das Augenmerk seiner Untersuchung vor allem auf ihnen liegt. Indem Castello eine ‚von oben‘ erfolgende Aufklärung der Landbevölkerung vorsah, vertrat er eine genuin volksaufklärerische Position. Die den Pfarrern dabei
492 Alois Sandbichler: Wahre Ursachen der vielfältigen, und gräulichen Verketzerungen in unsern Zeiten, in: ders. [Hrsg.]: Revision der Augsburger Kritik über Kritiker, und ähnliche Schriften, Salzburg 1792, S. 281–325, hier S. 284. In seiner Revision der Augsburger Kritik über Kritiker, nebst anderen Schriften ging der Salzburger Theologe Alois Sandbichler ausführlich auf Castellos Dissertation ein, verknüpft mit eigenen Ausführungen zur Gegenaufklärung. Anders als deren Vertreter es darstellten, würden die katholischen Aufklärer nicht den Glauben gefährden, schrieb Sandbichler Bezug nehmend auf Castello. Der „Lärm“, den die „Wächter Zions“ veranstalteten, sei darum unbegründet und einzig das „Werk kurzsichtiger, und boshafter Menschen, der aus Unverstand“ oder „zur Erreichung […] sehr niedriger Absichten erreget“ (ebd., S. 285) werde. Trotzdem zeigte er sich zuversichtlich, dass die jetzt als Ketzer oder Freigeister verunglimpften bald gelobt würden, „daß sie vorzüglich eine gemäßigte Freyheit zu denken uns errungen, und erhalten haben.“ (S. 313). 493 Jeweils Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 188. 494 Ebd., S. 189.
3.2 Die Bekämpfung des Aberglaubens: Der Priester als Aufklärer | 217
zugedachte Vermittlerfunktion resultierte einerseits daraus, dass Castello selbst Geistlicher war und so sein Aufklärungsverständnis mit dem Priesterberuf verband und aus aufklärerischer Sicht aufwerten konnte. Andererseits entsprach seine Position dem ‚Zeitgeist‘, da Pfarrer beider Konfessionen verstärkt seit den späten 1760er Jahren als „Hauptträger der Volksaufklärung“⁴⁹⁵ agierten. Sie bemühten sich beispielsweise um die Verbesserung des Erziehungswesens in ihren Gemeinden, aber vor allem auch um die Vermittlung ökonomischer, landwirtschaftlicher und hygienischer Kenntnisse. Da die Landgeistlichen im Vergleich zu ihren Gemeindemitgliedern überdurchschnittlich gebildet waren, hatten sie Zugang zu diesem Wissen. Sie kannten die Menschen und Verhältnisse vor Ort und konnten deshalb am besten auf sie einwirken.⁴⁹⁶ Die Erweiterung der seelsorgerischen Aufgaben um diese soziale und pädagogische Komponente war eine Reaktion auf die unter dem Eindruck der Aufklärung – zumal auf protestantischer Seite – geführten Diskussionen über den „gesellschaftlichen Nutzen und Wert der Pfarrer.“⁴⁹⁷ In der sich herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft ergab sich ihre Autorität nicht mehr zwangsläufig aus ihrer ständischen Zugehörigkeit, sodass das volksaufklärerische Engagement dazu diente, sowohl dem Amt zusätzliche Legitimation zu verschaffen als es auch an die neuen Zeitumstände anzupassen. Im Unterschied zu ihren protestantischen Kollegen konnten sich die katholischen Pfarrer zwar auf die Sakralität ihres Amtes stützen, die sich aus der Weihe ergab und sie zu alleinigen Heilsvermittlern ihrer Gemeinden machte.⁴⁹⁸ Doch die Rolle des Pfarrers begann sich zu wandeln: Orientiert am Leitbild des pastor bonus galt der Seelsorger im Verständnis aufgeklärter Theologen nun als Vorsteher, Ratgeber, Freund und Vater seiner Gemeinde. Seine Vorrangstellung entsprang folglich nicht mehr seiner Amtsautorität, sondern seiner Vorbildfunktion und seinem intensiven Bemühen, der Erfüllung christlicher Pflichten gerecht zu werden.⁴⁹⁹ Die Fortschritts- und Bildungsorientierung der Aufklärung rechtfertigten zudem ein stärkere Verweltlichung des pastoralen Aufgabenprofils.⁵⁰⁰
495 Kuhn: Praktische Religion (wie Anm. 162, S. 144), S. 93. 496 Vgl. ders.: Praktische Religion (wie Anm. 162, S. 144), S. 97; Götz Warnke: Pfarrer als weltliche „Volkslehrer“. Motive und praktische Projekte, in: Böning/Siegert/Schmitt [Hrsg.]: Volksaufklärung (wie Anm. 68, S. 42), S. 73–88, hier S. 81, 83. 497 Kuhn: Praktische Religion (wie Anm. 162, S. 144), S. 91. 498 Vgl. Hersche: Muße (wie Anm. 33, S. 11), S. 247. 499 Vgl. Holzem: Christentum (wie Anm. 11, S. 4), S. 843; Heinz: Liturgie (wie Anm. 382, S. 190), S. 27. 500 Auch auf katholischer Seite war für die Aufklärer das Streben nach (diesseitiger) Glückseligkeit wichtig, weshalb der Mensch sein Erkenntnisvermögen und seine Beurteilungskraft nutzen
218 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Die Reform der Priesterausbildung im Erzbistum Trier In diesem Kontext sind auch die Bemühungen katholischer Aufklärer und Landesherren zu sehen, Theologiestudium und Priesterausbildung zu reformieren und sie stärker an der lebensweltlichen Praxis auszurichten: Im Sinne der (Volks-)Aufklärung sollten die Priester zu künftigen ‚Volkslehrern‘ ausgebildet werden. Der Schwerpunkt des Studiums lag insbesondere auf der entstehenden Pastoraltheologie mit ihren Teilbereichen Homiletik, Liturgiewissenschaft und Katechetik, die den Studenten eine praktische Anleitung zur Seelsorge bot.⁵⁰¹ Durch Predigt und Katechese sollten den Gläubigen grundlegende Glaubensinhalte sowie eine auf Verinnerlichung abzielende Frömmigkeit vermittelt werden. Gerade die Predigt gewann im aufgeklärten Katholizismus als Instrument des christlichen Unterrichts im Gottesdienst an „zentraler Bedeutung“⁵⁰² und sollte darum auch regelmäßig gehalten werden. Sie fungierte als „Verbindungselement zwischen Klerus und Laien“⁵⁰³ im Gottesdienst und zielte darum nicht auf theologische Fachsimpelei, sondern orientierte sich – im Idealfall – an ihren Zuhörern und deren Lebenswelt. Bräuche und Praktiken, die die aufgeklärten Pastoralreformer als Aberglaube betrachteten, hofften sie auf diese Weise sukzessive zu beseitigen. Damit Belehrung und Erbauung aber im Gottesdienst eine wesentliche Funktion übernehmen konnten, setzten sich die katholischen Aufklärer für eine muttersprachliche Gestaltung ein. Zwar wurde die Messe nicht ‚verdeutscht‘, aber neben der auf Deutsch gehaltenen Predigt, sollten die Teilnehmer mit muttersprachlichen Kirchenliedern die lateinische Messe begleiten.⁵⁰⁴ Auch die Moraltheologie wurde innerhalb des Theologiestudiums gestärkt: Sie war nun nicht mehr nur ein Anhängsel der Dogmatik, die im Gegenzug an Bedeutung verlor, sondern ein eigenständiges Fach, in dem eine aus dem Evangelium abgeleitete Sittenlehre vermittelt wurde. Schließlich sollten die zukünftigen Pfarrer nicht nur lebenspraktische Kenntnisse übermitteln, sondern ihre Gemeinden auch zu einem tugendhaften und sittlichen Lebenswandel anhalten können. Mit der Kritik an der bisher gelehrten Dogmatik ging zudem „eine Förderung der kirchensollte, wozu ihn der Pfarrer wiederum anleiten konnte. Siehe dazu auch: Handschuh: Wahre Aufklärung (wie Anm. 43, S. 13), S. 122; Warnke: Pfarrer (wie Anm. 496, S. 217), S. 80. 501 Vgl. Breuer: Katholische Aufklärung und Theologie (wie Anm. 183, S. 69), S. 79, 83; Holzem: Christentum (wie Anm. 11, S. 4), S. 794; Kuhn: Praktische Religion (wie Anm. 162, S. 144), S. 90, 94. 502 Handschuh: Wahre Aufklärung (wie Anm. 43, S. 13), S. 195. 503 Florian Bock: Gegen die „Bezauberung der Welt“. Katholische Predigten erzählen Aufklärung (1720–1803), in: Frauke Berndt/Daniel Fulda [Hrsg.]: Die Erzählung der Aufklärung. Beiträge zur DGEJ-Jahrestagung 2015 in Halle a. d. Saale, Hamburg 2018, S. 240–253, hier S. 241. 504 Vgl. Heinz: Liturgie (wie Anm. 382, S. 190), S. 32. Clemens Wenzeslaus führte zu diesem Zweck 1786 ein Gesangbuch mit deutschen Liedern im Erzstift ein. In der Bevölkerung gab es allerdings vereinzelt Widerstand, da einige an den gewohnten lateinischen Liedern festhalten wollten.
3.2 Die Bekämpfung des Aberglaubens: Der Priester als Aufklärer | 219
historischen und schriftbezogenen theologischen Teildisziplinen“⁵⁰⁵ einher. Da die intensive Auseinandersetzung mit der Bibel im aufgeklärten Katholizismus einen hohen Stellenwert einnahm, wie bereits bei La Roches Mönchsbriefen deutlich wurde, bildete das Bibelstudium die Grundlage der meisten Reformpläne. Für die historisch-kritische Einordnung der Texte spielte die Kirchengeschichte, die ebenfalls zu einem eigenen Fach wurde, eine große Rolle. Insbesondere die Fokussierung auf die Historiografie bei einigen Benediktinerorden wie den Maurinern sowie deren historisch-kritische Methodik werden darauf Einfluss gehabt haben.⁵⁰⁶ Kurfürst-Erzbischof Clemens Wenzeslaus hatte bereits kurz nach seinem Regierungsantritt 1768 erste Reformordnungen für die Trierer Universität erlassen, die auch die theologische und philosophische Fakultät betrafen. Gleichwohl blieb die Philosophie weiterhin bloß das „Propädeutikum der anderen Wissenschaften“⁵⁰⁷, woran auch die Einführung einiger weniger neuer Fächer oder das Engagement einzelner Professoren nicht viel änderte. Immerhin gelang es, noch vor dem Ordensverbot den Einfluss jesuitischer Lehrer einzudämmen.⁵⁰⁸ Auch die für die theologische Fakultät am 5. November 1768 erlassene Reformordnung änderte an bestehenden Defiziten zunächst wenig, der Schwerpunkt lag stärker auf dem methodischen als dem wissenschaftlichen Zuschnitt des Unterrichts. Allerdings betonte Clemens Wenzeslaus sowohl den hohen Stellenwert der kritischen Lektüre der Bibel und Kirchenväter-Texte als auch den der Kirchengeschichte und verfügte erste Maßnahmen, die jungen Geistlichen praktisch auf das Predigen vorzubereiten.⁵⁰⁹ Zumindest was die Priesterausbildung anbelangte, sorgte die Aufhebung des Jesuitenordens für größere Veränderungen. Zwar hatte es bereits zuvor kleinere Priesterseminare in Trier und Koblenz gegeben; das eingezogene Vermögen des Ordens erlaubte es dem Erzbischof jedoch erst jetzt, ein bistumsweites Seminar
505 Müller: Jesuitenorden (wie Anm. 34, S. 114), S. 235. 506 Breuer: Katholische Aufklärung und Theologie (wie Anm. 183, S. 69), S. 78, 81–82. 507 Trauth: Universität (wie Anm. 39, S. 115), S. 56. 508 In seiner Reformordnung vom 15. Oktober 1768 begrüßte Clemens Wenzeslaus zwar „die Weise Unserer Professoren, die Philosophie nützlich zu lehren“, warnte aber davor, aus „der neuen Philosophie solche Zänkereyen [herzuholen], welche keines mehrern Werths als die ausgemezte alte sind.“ Weiterhin beschrieb er das Fach als „Schlüssel, sich die Thür zu höheren Facultäten zu öffnen“. Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia Bd. 5 (wie Anm. 47, S. 36), S. 121, 122. 509 Vgl. Trauth: Universität (wie Anm. 39, S. 115), S. 53–54. Den entsprechenden Text siehe bei: Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia Bd. 5 (wie Anm. 47, S. 36), S. 146–149. Deutlich wird in der Verordnung auch, dass es Clemens Wenzeslaus nicht mehr darum ging, die jungen Geistlichen auf theologische Kontroversen mit Protestanten vorzubereiten, sondern für ihn zählten Deisten oder Freigeister zu den neuen ‚Feinden‘ der katholischen Religion. Für diese Auseinandersetzungen sollte das Theologiestudium nun das nötige Rüstzeug liefern.
220 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an einzurichten, an dem alle Geistlichen des Erzbistums – so auch Castello – zukünftig ausgebildet wurden. Eine Pfarrstelle erhielten nur noch diejenigen, die mindestens zwei Jahre im Priesterseminar verbracht hatten.⁵¹⁰ Zunächst war das sogenannte Klementinum institutionell von der Universität getrennt, 1779 gingen jedoch die theologische und die philosophische Fakultät im Seminar auf. Da Clemens Wenzeslaus ehemalige Jesuiten als Weltgeistliche unterrichten ließ, war deren Dominanz anfangs ungebrochen.⁵¹¹ Unter dem Einfluss von Ludwig Josef Beck setzten trotzdem erste Versuche ein, das Seminar zu reformieren, was auch zu personellen Veränderungen führte. Beck wurde offiziell 1782 beauftragt, einen Entwurf zur Seminarreform auszuarbeiten, der zwei Jahre später angenommen und unter dem neuen Regens Peter Conrad (1745–1816) nach und nach umgesetzt wurde.⁵¹² Ein Vorbild für Becks Seminar- und Studienreform⁵¹³ war die Priesterausbildung in Wien, die der Benediktinerabt Franz Stephan Rautenstrauch (1734–1785) maßgeblich modifiziert und praxistauglicher gemacht hatte.⁵¹⁴ Auch in Trier wurden die Kirchengeschichte und die von Conrad unterrichtete Pastoraltheologie nun eigenständige Fächer mit entsprechenden Lehrstühlen. Außerdem erhob Beck die Bibelwissenschaft zum Hauptfach, die Johann Gertz (1744–1824) lehrte, der mit kurfürstlicher Unterstützung in Göttingen bei dem Orientalisten Johann David Michaelis (1717–1791) studiert hatte.⁵¹⁵ Im Unterschied zu Rautenstrauchs Wiener Plan, sah Becks Konzept auch die Einrichtung des Fachs Praktische Moral vor, 510 Siehe Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia Bd. 5 (wie Anm. 47, S. 36), S. 182–183: „Wir wollen demnach gnädigst, daß von nun an alle diejenige Clerici, welche ad ordines sacros [Hervorh. i. Orig.] sich melden wollen, wann sie Landeskinder sind, zwey, auch nach unserm Gutbefinden drey Jahre lang bey löblicher Aufführung und Befähigung darin [im Seminar] gestanden seyn müßen[…].“ 511 Vgl. Rönz: Diözesanklerus (wie Anm. 21, S. 8), S. 35–36. Vgl. ebd., S. 32–35 für eine Übersicht zu den Anfängen der Seminarausbildung im Erzbistum. 512 Ausführlich stellt Reichert: Seminarreform (wie Anm. 49, S. 37), S. 146–186 das Hin und Her bis zur endgültigen Genehmigung dar. Beck stand außerdem von 1780 bis 1785 der durch den Kurfürsten ins Leben gerufenen Schulkommission vor. 513 Aufgrund der Zusammenlegung von theologischer Fakultät und Seminar betraf die Reform auch das Theologiestudium. 514 Rautenstrauch hatte 1774 auf Bitten den Wiener Studienkommission den Entwurf einer besseren Einrichtung theologischer Schulen vorgelegt, der Maria Theresias Zustimmung fand und stufenweise umgesetzt wurde. Als Entwurf zur Einrichtung der theologischen Schulen in den k. k. Erblanden erschien der Plan 1782 im Druck. Vgl. Spehr: Aufklärung (wie Anm. 89, S. 127), S. 196; Holzem: Christentum (wie Anm. 11, S. 4), S. 796. 515 Ausführlich zu Gertz: Franz Rudolf Reichert: Johann Gertz (1744–1824). Ein Bibelwissenschaftler der Aufklärung im Spiegel seiner Bibliothek, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 18 (1966), S. 41–104. 1790 wurde ein zweiter Professor für Exegese berufen, der Gertz unterstützen
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in welchem theoretische Fragen der Sittenlehre anhand ihrer Anwendung auf alltägliche Probleme den Studenten näher gebracht werden sollten.⁵¹⁶ Insgesamt sollte das Studium vier Jahre dauern. Nach einer vorherigen Prüfung wurden die Anwärter zum Seminar zugelassen, wobei die Alumnenzahl auf 50 begrenzt war. Damit sollte die bislang übliche Praxis abgestellt werden, dass jeder Pfarrer nach vorgeschriebenem Studium die Priesterweihe erbitten konnte und sich anschließend selbst eine Stelle suchen musste. Die Zulassungsbeschränkung sollte eine am tatsächlichen Bedarf ausgerichtete Ausbildung gewährleisten, um alle Pfarrer im Erzbistum in Zukunft angemessen versorgen zu können.⁵¹⁷ Obwohl Regens Conrad 1785 in einem Brief an Beck die Umsetzung der Reform als gelungen bezeichnete, bedeutete dies nicht, dass alle Kritiker des Plans zum Verstummen gebracht worden waren. Weihbischof Herbain, dem die Aufsicht über das Priesterseminar mit seiner Amtsübernahme 1778 übertragen worden war, bis sie ihm der Erzbischof 1787 entzog, hatte wie schon bei der Klosterreform auch gegen die Neuordnung der Priesterausbildung entschiedenen Widerstand geleistet.⁵¹⁸ Als es Ende der 1780er Jahre zu ersten Beschwerden über angebliche Disziplinarprobleme im Seminar kam, fühlten sowohl er als auch andere Kritiker sich bestätigt. Die bei Clemens Wenzeslaus spätestens seit Ausbruch der Französischen Revolution zu beobachtende Zurückhaltung gegenüber Reformen stärkte Herbains Position, dem 1791 erneut die Aufsicht über das Klementinum übertragen wurde. Castello fand mit seiner Weiterentwicklung der Reform kein Gehör mehr; von ihm angeregte Änderungen wurden rückgängig gemacht.⁵¹⁹ Wie Castellos hoffnungsvoller Verweis auf die generelle Reformbereitschaft der Fürsten in seiner Untersuchung über die Hindernisse der Aufklärung zeigt, glaubte er zu diesem Zeitpunkt allerdings noch fest an den Erfolg seiner eigenen Ideen. Dazu wird beigetragen haben, dass seit Ende der 1780er Jahre in Zeitschriften der katholischen Aufklärung verstärkt über Themen diskutiert wurde, die die sollte. Karl Franz Schwind (1764–1848) hatte ebenfalls in Göttingen studiert und setzte sich 1792 ins revolutionäre Straßburg ab. 516 Die endgültige Fassung des Seminarplans ist nicht überliefert, weshalb Reichert die wesentlichen Neuerungen anhand vorhandener Quellen rekonstruierte: ders.: Seminarreform (wie Anm. 49, S. 37), S. 188–201. 517 Ebd., S. 188, 193, 197. Anders als die Zulassung zum Priesterseminar stand das Theologiestudium jedem offen, vgl. Trauth: Universität (wie Anm. 39, S. 115), S. 55. 518 Abgesehen davon, dass er die Notwendigkeit der Reform generell bezweifelte, wehrte er sich u. a. gegen die Berufung Peter Josef Webers (1750–1821) auf die Professur für Moraltheologie und Praktischer Moral und wollte stattdessen den Exjesuiten Karl Josef Maybaum (1730–1805) im Amt belassen. Vgl. Reichert: Seminarreform (wie Anm. 49, S. 37), S. 184. 519 Vgl. ders.: Seminarreform (wie Anm. 49, S. 37), S. 187; ders.: Priesterseminar (wie Anm. 49, S. 37), S. 111–118.
222 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Aufklärung und Bildung der Pfarrer betrafen. So wandte man beispielsweise in der Litteratur des katholischen Deutschlands „das Augenmerk hinsichtlich der Volksaufklärung zunächst auf die Priesterschaft, bei der alle Verbesserung anzusetzen habe.“⁵²⁰ Auch die Würzburger Gelehrten Anzeigen hatten sich der Verbreitung der Volksaufklärung verschrieben.⁵²¹ Zum einen erreichten sie dies durch ihren Ansatz, den Lesern nach eigener Aussage ‚nützliche‘ Schriften und Ideen näher zu bringen, zum anderen über die Besprechung entsprechender Werke der Volksaufklärung wie Rudolf Zacharias Beckers Versuch über die Aufklärung des Landmannes.⁵²² Der Gründer und erste Herausgeber der Würzburger Gelehrten Anzeigen, der Theologe und Homiletik-Professor Johann Bonaventura Andreß, gab seit 1789 das Magazin für Prediger zur Beförderung des praktischen Christenthumes und der populären Aufklärung heraus, das schon im Titel auf den engen Zusammenhang zwischen Aufklärung und ihrer Vermittlung durch Geistliche verwies. Als Volkslehrer sollten sie auch bei ihm die abergläubischen Vorstellungen und Vorurteile des ‚gemeinen Volkes‘ beseitigen.⁵²³ Im Rahmen dieses Diskurses bewegte sich folglich auch Castello mit seinen eigenen aufklärerischen Ideen. Zwar waren während Castellos eigener Studienzeit am Priesterseminar erste Reformen in die Wege geleitet worden. Dennoch war die personelle und theologische Dominanz der ehemaligen Jesuiten noch zu spüren.⁵²⁴ Zum Abfassungszeitpunkt seiner Untersuchung über die Hindernisse der Aufklärung waren jedoch eine erste tiefergehende Veränderung in der Priesterausbildung abgeschlossen. Allerdings traten die Kapläne, die von der neuen Seminar- und Studienordnung profitierten, erst nach und nach ihren Dienst in den Gemeinden an. Castellos Untersuchung ist darum weniger als Kommentar der Neuordnung zu lesen, sondern als Beschreibung seiner eigenen Erfahrungen. Demütig möchte er nach seinem „gegenwärtigen
520 Jochen Krenz: Der Beitrag der Würzburger theologischen Publizistik zur Volksaufklärung. Eine Skizze der fränkischen publizistischen Landschaft der frühen 1790er Jahre unter besonderer Berücksichtigung von Bonaventura Andreß’ „Magazin für Prediger“, in: Böning/Siegert/Schmitt [Hrsg.]: Volksaufklärung (wie Anm. 68, S. 42), S. 261–299, hier S. 267. Die Rezensionszeitschrift aus Banz bezog auch die Trierer Lesegesellschaft, siehe Kapitel 2.2. Castello trat der Lesegesellschaft Ende 1787 bei, vgl. Tilgner: Lesegesellschaften (wie Anm. 48, S. 14), S. 435. 521 Der Würzburger Fürstbischof Franz Ludwig von Erthal (1730–1795) gewährte der Zeitschrift finanzielle Unterstützung und das Privileg der Zensurfreiheit, Vgl. Krenz: Beitrag (wie Anm. 520), S. 108, 113. Sowohl die Lesegesellschaft (siehe Kapitel 2.2) als auch später das Priesterseminar abonnierten die Würzburger Gelehrten Anzeigen. 522 Siehe Anonym: Rezension: Versuch über die Aufklärung des Landmannes. Nebst Ankündigung eines für ihn bestimmten Handbuches. Von R. Z. Becker. Bey J. Göschen 1785. In: Würzburger Gelehrte Anzeigen 1.4 (Jan. 1786), S. 27–31. 523 Vgl. ausführlicher Krenz: Beitrag (wie Anm. 520), S. 276–296. 524 Vgl. Rönz: Diözesanklerus (wie Anm. 21, S. 8), S. 36–37.
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Vermögen und Kenntnis“ die ihm gestellte Aufgabe erfüllen, um desto kämpferischer hinzuzufügen, seinem „Herzen“ aber „Luft machen“ zu wollen, um sich nicht vorwerfen lassen zu müssen, „daß ich gekonnt, ja gemust und doch nicht gewolt habe.“ Seine Darstellung der Situation auf dem Land zielte daher vor allem darauf ab, die Dringlichkeit der Probleme zu beweisen, weshalb er auch übertrieben haben wird. Die Hindernisse der Aufklärung sollten jedoch endlich „weggeräumt“ und der Aberglaube „gestürzt“⁵²⁵ werden. Castellos Verständnis von Aberglauben Um der Forderung, den Aberglauben zu beseitigen, gerecht werden zu können, nennt Castello konkrete Beispiele für ihm unliebsame Frömmigkeitsformen. Im Gegensatz zu anderen Autoren ist der Begriff Aberglaube bei ihm kein bloßes Pauschalurteil. Ausdrücklich beschränkte er sich dabei auf diejenigen „Aberglauben […], die durch Gesetzgebung gehoben werden können“ und bereits Gegenstand „verschiedener Synoden in Deutschland“⁵²⁶ gewesen seien. Damit gelang es ihm, sich den Anschein eines maßvollen und nach objektiven Kriterien urteilenden Reformers zu geben. Ihm war bewusst, dass die von ihm als Aberglaube wahrgenommenen Bräuche und Vorstellungen bei vielen Gläubigen fest verankert waren und allein durch Verbote wenig erreicht werden konnte. Darum war ihm als Volksaufklärer in erster Linie daran gelegen, durch allmähliche Bildung den Aberglauben in der Bevölkerung zu überwinden. Das schloss allerdings nicht aus, die seiner Ansicht nach schädlichsten Auswüchse durch Verordnungen der Obrigkeit unmittelbar abzustellen. An erster Stelle standen dabei für ihn alle Arten von geweihten Wassern, die von Mönchsorden wie den Jesuiten, Franziskanern oder Dominikanern als Heilmittel angeboten wurden. Das von den Jesuiten bei ihren Volksmissionen gesegnete Wasser würden die Leute noch immer aufbewahren, was ihr „außerordentliches Vertrauen“ in dessen Wirksamkeit beweise. Sie würden diesem größere Kraft zuschreiben „als dem Weyhwasser in den Pfarrkirchen, oder auch jenem, so auf Ostersamstag gesegnet wird“ und glaubten fest, damit Raupen von den Feldern fernhalten zu können. Ob Castello auch die Wirksamkeit des Weih- oder Osterwasser bezweifelte oder diesem einen höheren Stellenwert beimaß, bleibt offen. Offensichtlich störte ihn aber die Beliebtheit der durch die Mönchsorden vermittelten Frömmigkeitsformen, die in Konkurrenz zu den üblichen Sakramentalien der Kirche standen. Allerdings lehnte er vor allem die Heils- und Wunderwirkung, die den verschiedenen Wassern zugesprochen wurde, ab, da sie den Menschen 525 Jeweils Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 189. 526 Jeweils ebd., S. 210. Castello bringt diese Beispiele im dritten Teil seiner Studie.
224 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an nur schade: Nicht nur vom geweihten Wasser der Franziskaner würden sie sich „übertriebene oder falsche Begriffe“ machen, sondern sich auch vom Wasser der Dominikaner eine „übernatürliche Heilung“ versprechen, was bereits einige fast das Leben gekostet hätte. Gebrauch und Anwendung dieser Wasser seien darum Ausdruck des „dümmsten Aberglauben[s]“⁵²⁷. Im Sinne der Volksaufklärung war ihm daran gelegen, den Menschen stattdessen nützliches landwirtschaftliches oder medizinisches Wissen an die Hand zu geben. In diesem Zusammenhang ist auch Castellos Kritik am „Wunderglauben“⁵²⁸ zu sehen, womit er allerdings nicht die überlieferten Wundergeschichten der Bibel oder der Heiligen meinte, sondern die Wunderheiler und das Vertrauen auf deren Künste. Castello wird dabei Fälle wie den des Pater Adam Knörzer vor Augen gehabt haben, der 1783 im Franziskanerkonvent zu Beurig mit angeblichen Wunderheilungen und Exorzismen Aufmerksamkeit erregte und regelrechte Wallfahrten auslöste. Da auch Clemens Wenzeslaus diesen klerikalen Betätigungen im medizinischen Bereich ablehnend gegenüberstand, wurde Knörzer nach seiner Vernehmung durch das Koblenzer Offizialat des Landes verwiesen.⁵²⁹ Auch der protestantische Reisende Georg Heinzmann (1757–1802) thematisierte Knörzer in seinem Reisebericht von 1788, der sich mit seinen Mitbrüdern „von der religiösen Leichtgläubigkeit des einfältigen Landmanns [ge]mästet“⁵³⁰ habe. Ganz ähnlich bewertete auch Castello derartige Fälle, weshalb er alle Wunderheiler, egal, ob Geistliche oder Laien, unter Aufsicht stellen wollte. Generell forderte er, Betrügereien, die unter „der Larve der Heiligkeit“⁵³¹ begangen würden, schärfer zu sanktionieren. Aus einem anderen Grund erregte der Brauch, Fastnachtsfeuer zu entzünden, seinen Anstoß. Zwar empfand er die Vorstellung, die Höhe des Feuers zeige an, wie weit die kommende Ernte von Hagel oder anderen Schäden verschont bliebe,
527 Jeweils Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 211. 528 Ebd., S. 212. 529 Vgl. Trauth: Begegnung (wie Anm. 47, S. 14), S. 163–165; Nils Freytag: Wunderglauben und Aberglauben. Wallfahrten und Prozessionen im Bistum Trier im 18. und 19. Jahrhundert, in: Martin Persch/Michael Embach [Hrsg.]: 500 Jahre Wallfahrtskirche Klausen, Mainz 2003, S. 261–282, hier S. 264–265. Ein wohlwollendes Gutachten über Knörzers Wunderheilungen hatte hingegen der Fiskal und Assessor des Generalvikariats, Anton Oehmbs (1735–1809), verfasst. Oehmbs hatte auch einige Jahre als Professor an der Universität gelehrt. Er zählte zu den orthodoxen Katholiken und lehnte die Aufklärung ab. Er floh allerdings nicht vor dem Einmarsch der Franzosen. 530 Heinzmann: Beobachtungen (wie Anm. 4, S. 107), S. 421. Heinzmann beschreibt das Verfahren ausführlich: Habe der Kranke nach der ‚Behandlung‘ keine Besserung verspürt, sei dies „nie die Schuld des Arztes, noch seiner Kunst, sondern des Kranken, der dann allemal Verweise und Vorwürfe bekam, daß er zu gottloß sey, zu wenig Glauben und Vertrauen auf seine Wunderkraft besitze, und dadurch derselben Wirkung hindere.“ Ebd. 531 Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 213.
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als Aberglauben. Aber der Schaden bestand für ihn vor allem im Ökonomischen, denn das viele Stroh für die Feuer könnte sinnvoller verwendet werden. Auch die Sittlichkeit sah er gefährdet, da die „jungen Pursche[n] aus jedem Ort“⁵³² die Feuer entzünden und „hernach Unfug“⁵³³ trieben. Ganz ähnliche Gründe für ein Verbot dieses Brauches führte eine kurfürstliche Verordnung vom 17. März 1787 an: Da „ihr Herkommen in einem abergläubischen Mißbrauch“ bestehe „und allein den Muthwillen der jungen Purschen zum Grund hat“⁵³⁴, sollten die Feuer in Zukunft unterbleiben. Als Aufklärer stand Castello allerdings besonders „dem Glaube[n] an die permanente Präsenz des Übernatürlichen“⁵³⁵ distanziert gegenüber, den er beim ‚einfachen Volk‘ vorzufinden glaubte. Die genannten Beispiele für Aberglauben dienten aus seiner Sicht Mönchsorden oder Einzelnen nur zur eigenen Bereicherung und hatten mit kirchlich sanktionierten Wundern nichts zu tun.⁵³⁶ Deshalb sollten solche Betrügereien insbesondere zum Wohl der ländlichen Bevölkerung durch entsprechende Gesetze behoben werden. Nach eigener Aussage war Castellos persönliches „Verzeichnis“ des Aberglaubens allerdings viel umfangreicher. Doch in diesen Fällen könnten allein „fortschreitende Aufklärung, verbesserter Unterricht und thätiger Eifer der Volkslehrer“⁵³⁷ mit der Zeit eine Verbesserung bringen. Im Sinne der katholischen Aufklärung strebte auch Castello ein „reines Christentum“⁵³⁸ an, das frei von abergläubischen Frömmigkeitsformen sein sollte. Als ‚Volkslehrer‘ sollten die Pfarrer diese Aufgabe verwirklichen und die „ächten Begriffe, die uns die Religion an die Hand giebt“⁵³⁹, vermitteln. Missbräuche im Frömmigkeitswesen Neben dem Aberglauben hatte Castello jedoch noch weitere Missbräuche im Frömmigkeitswesen entdeckt, die Ersteren teilweise begünstigten und damit ebenfalls
532 Ebd., S. 211. 533 Ebd., S. 212. 534 Blattau: Statuta synodalia Bd. 6 (wie Anm. 125, S. 56), S. 69. Das Verbot bezog sich nicht nur auf die Fastnachtsfeuer, sondern auch auf Hagel-, Johannis- und Martinsfeuer. Dass das Fastnachtsfeuer laut Castello „in hiesiger Gegend noch auf einigen Ortschaften gebräuchlich“ (Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 211) sei, lässt darauf schließen, dass das Verbot sich im Niedererzstift noch nicht durchgesetzt hatte. 535 Freytag: Wunderglauben (wie Anm. 529), S. 265. 536 Vgl. sowie ausführlich zur Geschichte des Wunderglaubens Gabriela Signori: Wunder. Eine historische Einführung, Frankfurt a. M. 2007, S. 38, 45–46. 537 Jeweils Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 210. 538 Ebd., S. 197. 539 Ebd., S. 195.
226 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an die Verbreitung der katholischen Aufklärung auf dem Land verhinderten. Im Vordergrund stand für ihn der Schutz der einfachen Bevölkerung, deren Leichtgläubigkeit und falsch verstandene Frömmigkeit nicht ausgenutzt werden sollten. Wie bei vielen Aufklärern standen die Missbräuche für Castello meist in Zusammenhang mit den Mönchsorden. Er verurteilt „die vielen und leichten Mittel“, die die Mönche den Kranken oder sonstigen Notleidenden anbieten würden. Da die „guten Leute […] so viel Hochachtung vor allem, wo nur Religion oder Gebete benannt werden“⁵⁴⁰, hätten, seien sie leichte Opfer. Bereitwillig und in gutem Glauben würde der Bauer „mit freiwilligen Allmosen“ bezahlen, obwohl er besser „für seine Kinder oder auch Viehe die nöthige Vorsorge“⁵⁴¹ getroffen hätte. Doch statt die Landbevölkerung medizinisch oder agrarökonomisch aufzuklären, würden die Orden sie im Aberglauben bestätigen. Er verfolgt damit eine ähnliche Argumentation wie der fiktive Gutmann in den Mönchsbriefen. Auch von den Ablässen würden sich die Menschen „übertriebene Wirkungen“ versprechen, weshalb er die bestehende Praxis für inakzeptabel hält. Ausdrücklich möchte er das Ablasswesen nicht theologisch diskutieren, die Missbräuche in diesem Bereich seien jedoch offensichtlich: Die „allgemein unter dem Landvolk herrschende Meynung und [der] zum Grundsatz gewordene Glauben“ sei, dass ein Ablass die „Bußwerke, der zur Besserung führenden und Besserung wirkenden Uibungen“, erspare. Der christliche Grundsatz, Buße zu tun, würde durch die Ablässe völlig in Vergessenheit geraten, weshalb Castello „aechte moralische Grundsätze“⁵⁴² bei den meisten Bauern vermisst. Er kritisierte das Ablasswesen allerdings noch aus einem anderen Grund: Da die meisten Ablässe durch die Klöster gewährt wurden, die die Menschen zu diesem Zweck natürlich aufsuchten, wurde aus seiner Sicht das Pfarrprinzip verletzt, auf das die katholische Aufklärung insistierte. Denn die Menschen würden nicht nur ihre Arbeit und den Haushalt an diesen Tagen vernachlässigen, sondern auch den Besuch der Pfarrkirchen. Wenn der Pfarrer die ihm zugedachte Aufgabe, das Wohl seiner Gemeinde zu befördern, erfüllen sollte, musste die Konkurrenz durch andere Gottesdienste eingedämmt und das sogenannte ‚Auslaufen‘ zu anderen Kirchen verhindert werden. Die katho-
540 Jeweils Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 204. 541 Jeweils ebd., S. 205. Castello listet verschiedene dieser Mittel auf. Er nennt beispielsweise das Segnen von Ställen statt diese entsprechend luftdurchlässig zu bauen, das Begießen von Verwundungen mit Weihwasser oder das Glockenläuten bei Gewitter. Letzteres war bereits 1783 verboten worden, siehe: Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia Bd. 5 (wie Anm. 47, S. 36), S. 360. 542 Jeweils Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 200. Auch in der Disziplinar-Punktation wurde gefordert, die Seelsorger sollten dem Volk Begriff und Inhalt der Ablasslehre erläutern, da insbesondere die Religiosen damit noch Missbrauch treiben würden, siehe Höhler [Hrsg.]: Arnoldi Tagebuch (wie Anm. 405, S. 196), S. 97.
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lischen Aufklärer konnten sich in diesem Punkt auch in die Tradition des Trienter Konzils stellen, wo ebenfalls auf die Stärkung der Pfarrgottesdienste gedrungen worden war. Die weiterhin geduldete Ablasspraxis lief aus Castellos Sicht den bereits getroffenen erzbischöflichen Verordnungen zugunsten der Pfarrkirchen und -gottesdienste daher völlig zuwider.⁵⁴³ Ganz ähnlich argumentierte Castello in Bezug auf die Bruderschaften⁵⁴⁴: Auch in diesem Fall würden die Leute glauben, „von allen andern Pflichten“ entbunden zu sein, wenn sie nur ihre Bruderschaftsgebete verrichten und ihre Skapuliere, Amulette und Rosenkränze tragen würden. Deshalb wirft er den Bruderschaften vor, den Aberglauben zu befördern und attestiert ihnen einen ebenso „schädlichen Einfluß auf die Moralität“ wie den Ablässen. Erneut ist jedoch die Verletzung des Pfarrprinzips entscheidend, da die vielen „Nebenandachten“ der Bruderschaften zur „Vernachlässigung des Pfarrdienstes“ und „zum Auslaufen und Schwelgen“ führen würden, genauso, wie sich „die Liebe zur Mutterkirche“⁵⁴⁵ durch sie verringere. Castello missfiel vor allem der Einfluss der (Mendikanten-)Orden auf das Bruderschaftswesen, deren Klöster bzw. Klosterkirchen häufig das Zentrum des bruderschaftlichen Engagements bildeten.⁵⁴⁶ Diese Kritik teilte er mit dem Emser Kongress, der ebenfalls die Abschaffung der an Kloster- oder Nebenkirchen bestehenden Bruderschaften gefordert hatte.⁵⁴⁷
543 Vgl. Handschuh: Wahre Aufklärung (wie Anm. 43, S. 13), S. 185, 194; Andreas Heinz: Das liturgische Leben der Trierischen Kirche zwischen Reformation und Säkularisation, in: Persch/ Schneider [Hrsg.]: Bistum Trier Bd. 3 (wie Anm. 49, S. 14), S. 267–322, hier S. 289; ders.: Liturgie (wie Anm. 382, S. 190), S. 27–28; Schneider: Wallfahrtskritik (wie Anm. 50, S. 14), S. 306. 544 „Bruderschaften gehörten (spätestens) seit dem 15. Jahrhundert zu den verbreiteten Ausdrucksformen des kirchlich-religiösen und allgemein des gesellschaftlichen Lebens. Sie waren vor allem ein städtisches Phänomen und boten als multifunktionaler Organisationstyp den institutionellen Rahmen, um gemeinschaftlich Interessen und Ziele verschiedenster Art in (meist) freier Initiative zu verfolgen: berufliche, gesellige, karitative und religiöse im engeren Sinn.“ ders.: Heilige Zeiten und Frömmigkeitsformen im Spannungsfeld von Norm und Praxis, Wandel und Beharrung, in: Persch/Schneider [Hrsg.]: Bistum Trier Bd. 3 (wie Anm. 49, S. 14), S. 323–387, hier S. 377. 545 Jeweils Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 201. 546 Vgl. Bernhard Schneider: Bruderschaften im Trierer Land. Ihre Geschichte und ihr Gottesdienst zwischen Tridentinum und Säkularisation, Trier 1989, S. 126–132. 547 Siehe die Angaben bei: Höhler [Hrsg.]: Arnoldi Tagebuch (wie Anm. 405, S. 196), S. 95. Vgl. auch Schneider: Bruderschaften (wie Anm. 546), S. 143–144: Obwohl der Trierer Deputierte Beck in Absprache mit dem Erzbischof dieses Anliegen auf dem Kongress vorgebracht hatte, hatte der Beschluss keine Auswirkungen auf das Bruderschaftswesen im Erzbistum. Clemens Wenzeslaus war zwar von deren Nutzen nicht überzeugt, regte allerdings seinerseits die Gründung von Christenlehrbruderschaften an den Pfarrkirchen an.
228 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Wenn Castello bereits in den Besuchen auswärtiger Klosterkirchen eine Gefahr für Sittlichkeit und Arbeitsmoral sah, so tat er dies besonders angesichts der Wallfahrten. Er bediente sich dabei gängiger Argumentationsmuster aufgeklärter Wallfahrtskritik: So sah er in dieser Praxis eine „Gefahr für die öffentliche Moral“⁵⁴⁸ und Ordnung, da sie Gelegenheit zum längeren Beisammensein böten und „ohne alle Aufsicht unter Unbekannten die Schamhaftigkeit und Ehrbarkeit gemindert“ sei. Die „Unschuld“ der Teilnehmer sei bedroht, da Wallfahrten stets Anlass zu „Unfug und Ausschweifungen“⁵⁴⁹ geben würden. Insbesondere wallfahrenden Jugendlichen oder Frauen begegneten die katholischen Aufklärer darum ablehnend, sodass die „Wallfahrtspolitik […] eindeutig im Dienst der Sozialkontrolle im sexuellen Bereich“⁵⁵⁰ stand. Ähnlich wie bei der Reduzierung der katholischen Feiertage, die Clemens Wenzeslaus unmittelbar nach seinem Regierungsantritt angestoßen hatte,⁵⁵¹ beriefen sich die Kritiker des Wallfahrtswesen auch auf merkantilistische bzw. ökonomische Argumente: Mit Wallfahrten zu entfernteren Orten würden die Menschen zu viel Geld der heimischen Wirtschaft entziehen und es außer Landes bringen. Generell entstünden durch ihren Arbeitsausfall erhebliche Verluste. Auch Castello bemängelte die versäumte „Arbeit und Zeit“⁵⁵² sowie das verschwendete Geld. Diese Kritik am Wallfahrtswesen ging einher mit der „Aufwertung der Arbeit“⁵⁵³ durch die katholische Aufklärung: Ein arbeitsames und dem Diesseits zugewandtes Leben galt nun als gottgefälliger und dem Seelenheil zuträglicher als jedwede religiöse Übung oder Verehrung. Statt sich dem Verdacht auszusetzen, nur ein fauler Müßiggänger zu sein, sollten die Gläubigen ihre Pflichten zu Hause
548 Schneider: Wallfahrtskritik (wie Anm. 50, S. 14), S. 308. 549 Jeweils Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 202. 550 Schneider: Wallfahrtskritik (wie Anm. 50, S. 14), S. 308. Ruhe und Ordnung sahen bereits spätmittelalterliche Wallfahrtskritiker bedroht und sorgten sich ebenfalls vor allem um die Sittlichkeit der Frauen, vgl. ebd., S. 294. 551 Viele Berufsstände konnten die Vielzahl der Feiertage mit gebotener Arbeitsruhe und Kirchgang gar nicht einhalten. Allgemein attestierte Clemens Wenzeslaus aber eine nachlassende religiöse Ernsthaftigkeit bei der Begehung der Feiertage. Die verbliebenen, neben den Sonntagen etwa 18 Feiertage, sollten umso andächtiger begangen werden. Neben wirtschaftlichen Erwägungen begründete er seine Maßnahme außerdem mit dem Anstoß, den die vielen Feiertage bei den protestantischen Nachbarn erregten, siehe: Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia Bd. 5 (wie Anm. 47, S. 36), S. 158–160. Trotz dieser Verordnung bestanden Feiertags-Traditionen vor Ort häufig fort, vgl. Schneider: Zeiten (wie Anm. 544, S. 227), S. 327. Die Trierer Feiertagsreduzierung beeinflusste entsprechende Reglungen im Erzbistum Köln sowie im Fürstbistum Münster: Freitag: Volks- und Elitenfrömmigkeit (wie Anm. 16, S. 109), S. 334–335. 552 Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 202. 553 Freitag: Volks- und Elitenfrömmigkeit (wie Anm. 16, S. 109), S. 332. Laut Freitag wies dieses neue Verständnis Ähnlichkeiten zur Ethik des Calvinismus auf.
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und im Beruf erfüllen. Die theologische Argumentation, „wahre Andacht“⁵⁵⁴ sei bei Wallfahrten unmöglich, spielt bei Castello hingegen nur eine randständige Rolle. Gleichwohl waren Ablass-, Bruderschafts- und Wallfahrtswesen für ihn unvereinbar mit dem Leitbild der katholischen Aufklärungstheologie, einer inneren Frömmigkeit und Andacht.⁵⁵⁵ Zwar bemühten sich Erzbischof und Generalvikariat in den 1780er Jahren die Wallfahrten und Prozessionen im Erzbistum Trier zu beschränken, Castellos Untersuchung zeigt jedoch, dass sich die beanstandeten Missbräuche nicht so einfach beheben ließen, sondern „Norm und Praxis“⁵⁵⁶ noch weit auseinanderlagen. Eine im November 1784 getroffene Verordnung sah ein Verbot aller Prozessionen vor, die länger als eine Stunde dauerten. Die erlaubten Bittgänge sollten dabei stets von den Pfarrern begleitet und „mit Singen und Bethen in möglichster Eingezogenheit wechselweis unterhalten“⁵⁵⁷ werden. Private Wallfahrten von Einzelnen oder kleinen Gruppen thematisierte die Verordnung hingegen nicht. Der Klerus scheint mit dieser Regelungen weitgehend einverstanden gewesen zu sein, seitens der Gemeinden regte sich jedoch Widerstand. In diesen Fällen bemühten sich die Gläubigen entweder um Ausnahmen oder hielten an ihrer bestehenden Wallfahrtspraxis einfach fest.⁵⁵⁸ Die Argumente der katholischen Aufklärer überzeugten sie nicht, denen im Übrigen meist jedes Verständnis „für das Herkommen der zumeist in bedrohlichen Notsituationen wie Kriegen oder Seuchen gelobten Bittgänge“⁵⁵⁹ fehlte. Auch bei Castello wird deutlich, dass er der Landbevölkerung zwar Wertschätzung entgegengebrachte, ihre religiösen Vorstellungen oder Praktiken allerdings stets als Aberglaube oder falschverstandene Frömmigkeit negierte. 554 Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 202. 555 Vgl. Schneider: Wallfahrtskritik (wie Anm. 50, S. 14), S. 309–311; Speth: Aufklärung (wie Anm. 244, S. 165), S. 294–296. 556 Bernhard Schneider: Wallfahrten und Wallfahrts-Prozessionen im frühneuzeitlichen Erzbistum Trier, in: Thomas Frank/Michael Matheus/Sabine Reichert [Hrsg.]: Wege zum Heil. Pilger und heilige Orte an Mosel und Rhein, Stuttgart 2009, S. 19–80, hier S. 26. 557 Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia Bd. 5 (wie Anm. 47, S. 36), S. 396. Begründet wurden die Regelungen mit den oben dargestellten Argumenten: Es seien Missbräuche festgestellt worden und dem Vortrag seines Vikariats habe der Erzbischof entnommen, „daß wegen Vielheit derselben, auch willkürlicher Anordnung der Seelsorger mehrere Unterthanen aus übertriebenen Eifer durch dergleichen entfernte Wallfahrten nebst nachtheiligem Zehrungs-Aufwand ihre Haushaltungen acht und mehrere Tage ohne Vorstand verließen, und statt der wahren Andacht und des heiligen Gottesdienstes in der Pfarrkirche ohne Erbauung und jemals zu erwartenden Seelen-Nutzen müßig und schwärmend herumwanderten.“ Ebd. 558 Siehe dazu die entsprechenden Auswertungen der Generalvikariatsprotokolle bei Schneider: Wallfahrten (wie Anm. 556), S. 28–29. 559 Freytag: Wunderglauben (wie Anm. 529, S. 224), S. 264. Ähnlich: Schneider: Wallfahrten (wie Anm. 556), S. 29.
230 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Die „elende Lage“ der Kapläne Für den stockenden Fortgang der Aufklärung auf dem Land machte Castello neben Aberglauben und Missbräuchen noch verschiedene weitere Hindernisse aus. Das Haupthindernis stellte für ihn dabei die „elende Lage“ der Kapläne dar, was seinen eigenen Erfahrungen in diesem Amt geschuldet gewesen sein dürfte.⁵⁶⁰ Er ist sich bewusst, dass anderen diese Einschätzung befremdlich erscheinen könnte; als Aufklärer appelliert er aber an die Leser, ihn anzuhören und sich eine eigene Meinung zu bilden. Dessen ungeachtet beruft er sich allerdings auf die „strengste Wahrheit“⁵⁶¹, die ihm beim Abfassen seines Berichtes geleitet habe – eine allgemein übliche Floskel der Aufklärer und Gegenaufklärer, um Glaubwürdigkeit und Aufrichtigkeit zu suggerieren. Um zu erläutern, warum das Elend der Kapläne aus seiner Sicht die Verbreitung aufklärerischer Ideen verhindert, geht Castello ausführlich auf ihre wirtschaftliche Situation ein. Er rechnet vor, dass das Gehalt der meisten mit 20 bis 30 Reichstalern viel zu gering sei, um sich mit dem Nötigsten versorgen zu können. Auf vieles müssten sie verzichten, so sei Postgeld genauso wenig vorgesehen wie die Anschaffung wenigstens eines Buches.⁵⁶² Vor allem Letzteres empört Castello, da aus seiner Sicht den Kaplänen somit von Vornherein die Möglichkeit genommen wird, sich selbst zu bilden. Der Kaplan habe kaum Gelegenheit, seinen geringen Lohn aufzubessern. In vielen Pfarreien seien kaum Messstipendien zu bekommen oder falls doch, seien sie sehr günstig, sodass dieser zusätzliche Verdienst wegfalle. Auch würden die Bauern die Messe lieber bei ihrem Pfarrer besuchen, schließlich behielten sie diesen „ewig“⁵⁶³. Der Kaplan sei hingegen nur auf begrenzte Zeit in der Pfarrei, da er eigentlich auf eine eigene warte. Sich bei ihm einzuschmeicheln, würde den Bauern darum nichts nutzen. Doch selbst wenn ein Kaplan die Möglichkeit habe, zusätzliche Messen zu lesen, müsse er in der Regel schon „für seinen Pfar560 Bei einem Kaplan handelte es sich nicht zwingend um einen Berufsanfänger. In erster Linie bezeichnet der Begriff den Hilfsgeistlichen eines anderen Pfarrers, der (noch) keine eigene Pfarrei erhalten hat. Einige Kapläne standen sogar nie einer eigenen Pfarrei vor. Vgl. Persch: Klerus (wie Anm. 49, S. 37), S. 205, 209–211. Siehe zu den Pfarrern und Kaplänen im Erzbistum Trier auch Kapitel 2.1. 561 Jeweils Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 189. 562 „Hieraus kann nun jeder leicht sehen, daß alles sehr gering angesetzt sey, daß viele unvermeidliche Ausgaben dabei gar nicht in Anschlag gebracht sind, keine einem jeden Menschen so nöthige Diversion, keiner einem durch Wind, Regen und Schnee fortreisenden Kaplan so nöthigen Überrock, keine Allmosen, kein Barbiergeld, kein Trinkgeld für Mägde, oder jene, so ihm hie und da etwas thun, kein Postgeld oder was immer noch so gewöhnliche Ausgaben sind, wobei sich jeder leicht zu bescheiden weiß. Ja nicht einmal ein Buch!!!“ Ebd., S. 190. 563 Ebd., S. 190.
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rer wöchentlich drei Messen adpliciren“ und niemand könne „täglich seine heil. Messe lesen“. Hinzu komme, dass sich der Bauer aufgrund schlechter Erträge kaum zusätzliche Ausgaben leisten könne. Außerdem stünden die Kapläne noch in Konkurrenz zu den vielen Bettelmönchen, die entweder kaum Geld verlangen oder „Früchte[…] gegen Messen einhandlen“ würden. Ein „guter, rechtschaffener auf seine Pfarre nur eingeschränkter Kaplan“⁵⁶⁴ habe darum letztlich kaum Möglichkeiten, Stipendien zu bekommen, weshalb es – erhalte er keine väterliche Unterstützung – um seine Finanzen schlecht bestellt sei. Dass der Kaplan in der Regel für den Katechismusunterricht in seiner Gemeinde zuständig sei, benachteilige ihn ebenfalls: In dieser Funktion halte er sowohl den „Reichen wie den Armen zur Schule, zur Christenlehre an.“ Strafe er nun den „dummen oder ausgelassenen Reichen, indeß er den gelehrigen und folgsamen Armen lobet oder belohnet“, würde er Ersteren gegen sich aufbringen und hätte folglich von den reicheren Familien auch keine Unterstützung zu erwarten. Aufgrund ihres Einflusses gelinge es ihnen womöglich noch, alle anderen im Ort gegen ihn aufzubringen. Auch wenn Castello eine solche Begebenheit während seiner kurzen Zeit als Kaplan nicht selbst erlebt haben mag, zeigt seine Schilderung, wie gut ihm solche dörflichen Beziehungsgeflechte bekannt waren. Der Kaplan, der dort in der Regel zeitlich begrenzt seinen Dienst versah und fremd war, verfügte über wenig bis keinen Rückhalt in der Gemeinde und stand darum in der Rangordnung – trotz seines Amtes – ganz unten.⁵⁶⁵ Diese prekäre Stellung spiegle sich auch in der Beziehung zum Pfarrer wider, die Castello als Konkurrenzsituation beschreibt. So hätten die Kapläne von den Pfarrern keinerlei Unterstützung zu erwarten, denn „Thatsache“ sei, „daß mancher Pastor aus Eifersucht selbst mithilft, seinen Kaplan, der öfters mehr sieht, aus[zu]höhnen, herab[zu]würdigen, damit er, wie er glaubet, allein oben bleibet.“ Castello äußert denn auch die Befürchtung, die Not des Kaplans schaffe eine zu große Abhängigkeit vom Wohlwollen der Bauern. Zwar sei ein Kaplan zu „Uneigennützigkeit und Rechtschaffenheit“ verpflichtet, aber es stelle eine zu „harte Prüfung vor einen Menschen“⁵⁶⁶ dar, aus diesem Grund Mangel in Kauf nehmen zu müssen und nicht alles daranzusetzen, den eigenen Lebensunterhalt zu sichern. Die Armut der Kapläne stellte für Castello daher keineswegs eine Tugend dar, sondern einen Missstand, dem etwa durch ein höheres Gehalt konkret abgeholfen
564 Jeweils ebd., S. 191. 565 Siehe dazu auch Persch: Klerus (wie Anm. 49, S. 37), S. 209: „Auf der materiell wie rechtlich niedrigsten Stufe der Geistlichkeit standen die Kapläne.“ 566 Jeweils Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 191.
232 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an werden konnte.⁵⁶⁷ Für ihn war offensichtlich, dass ein um seine Finanzen besorgter Kaplan nicht über die Kraft verfügte, zur Verbreitung der Aufklärung beizutragen. Doch nicht nur die materielle Not der Hilfsgeistlichen stellte für Castello in dieser Beziehung einen Hindernisgrund dar, sondern auch das geistige Umfeld, in das die Kapläne nach ihrem Studium gerieten. Ausdrücklich lobte er die nun bestehende Praxis im Erzbistum, alle zukünftigen Geistlichen im Priesterseminar auszubilden und die Kapläne anschließend durch das Generalvikariat an die Pfarreien zu verteilen. Zuvor hatten sich die Pfarrer „unter dem reichen Angebot ihre Kapläne selbst“ ausgesucht, mit ihnen die Anstellungsbedingungen ausgehandelt und sie aus „eigener Machtvollkommenheit“⁵⁶⁸ wieder entlassen, wenn es zu Unstimmigkeiten kam. Daher wurde die Verteilung der Kapläne im Zuge der Seminar- und Studienreform geregelt und zentralisiert.⁵⁶⁹ Trotzdem sieht Castello weiterhin Schwierigkeiten für die Kapläne, denn die jungen Männer kämen anschließend nur mit Glück in den Haushalt eines „munteren“ Pfarrers. Meist handle es sich dagegen um einen „alten, verdrüßlichen, melancholischen Mann“, an den sich der Kaplan anpasse müsse, „wenn er ruhig leben will.“ Die „munteren Gespräche“, die er in „zahlreichen Zirkel[n]“ während seiner Studienzeit führen konnte, seien nun vorbei: „An deren Stelle tritt nun entweder ein trauriges Geheul über die bösen Zeiten, über die Eingriffe der weltlichen Mächte in die Freyheiten der Geistlichkeit, über die vielen Reformen, über die gehäuften Arbeiten, so vom Vicariat befohlen worden, über verdorbene Sitten […] und was dergleichen fade Geschwätze mehr sind.“⁵⁷⁰ Für Castello beruhte die Beziehung zwischen Pfarrer und Kaplan demnach auf einem Generationenkonflikt: Die alten, noch schlecht ausgebildeten Pfarrer beharrten auf der althergebrachten Ordnung und standen den jungen, besser ausgebildeten Kaplänen entgegen, die ihre aufklärerischen Ideen verwirklichen wollten. Für „das Gute, das er wirken könnte und gerne wolte“, erhalte der Kaplan daher leider seitens des Pfarrers keine Unterstützung. Der Pfarrer sei gehemmt durch „dumme[n] Eigensinn“, werde „von Vorutheilen geleitet“ und hasse alle 567 Der Erzbischof und das Generalvikariat waren sich der Problematik durchaus bewusst, wie eine entsprechende Verlautbarung vom 17. Januar 1785 zeigt, dass das „Salarium für einen Kaplan nach den Kräften der Pfarrei und Verhältniß der Arbeit von den Vicariaten immer bestimmt werden“ (Blattau: Statuta synodalia Bd. 6 (wie Anm. 125, S. 56), S. 1) solle. 568 Jeweils Reichert: Seminarreform (wie Anm. 49, S. 37), S. 188. 569 Eine entsprechende Regelung erfolgte bereits 1783. Clemens Wenzeslaus machte deutlich, dass in Zukunft „die Anstellung der Kapläne nicht von der Willkühr der Seelsorger, sondern von der Verfügung des General-Vicariats und respective der über das Clementinische Seminarium ausgesetzten Commission für die Zukunft abhangen solle.“ Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia Bd. 5 (wie Anm. 47, S. 36), S. 366 sowie S. 356. 570 Jeweils Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 192.
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Verbesserungen, „weil sie neu sind, oder weil er zu stolz ist, etwas zu befördern, was seine Erfindung nicht ist.“⁵⁷¹ Ähnlich wie La Roche sah sich auch Castello mit seiner Untersuchung im Kampf gegen Vorurteile befindlich. Dieser Topos diente ihm dazu, den etablierten Pfarrern geistige Rückständigkeit zu attestieren. Castello ging es nicht darum, seinem Auftraggeber eine differenzierte Studie vorzulegen, sondern die überspitzte Darstellung sollte diesen und weitere Leser⁵⁷² für die schwierige Situation der Kapläne sensibilisieren und Aufmerksamkeit verschaffen. Aufgrund eigener Anschauung wird er überzeugt gewesen sein, dass nur von diesen Aufklärung ausgehen konnte, da die übrigen Geistlichen nicht über den nötigen Bildungsstand verfügten. Mit dieser Einschätzung dürfte Castello nicht falsch gelegen haben, schließlich existierte das bistumsweite Priesterseminar erst seit 1773 und damit Ansätze zu einer standardisierten Priesterausbildung. Wie an anderer Stelle beschrieben, war es zuvor meist üblich gewesen, bei einem amtierenden Pfarrer einfach in die ‚Lehre‘ zu gehen.⁵⁷³ Allerdings ging es Castello augenscheinlich auch nur um diejenigen Kapläne, die tatsächlich als Berufsanfänger vom Priesterseminar in die Pfarreien geschickt wurden. Alle anderen, die schon einige Jahre als Kaplan ausharrten, weil sie keine eigene Pfarrei fanden und daher oft ein gewisses Alter erreicht hatten, interessierten ihn nicht. Als Hoffnungsträger taugten sie für ihn nicht mehr. Die zahlreichen Ermahnungen des Generalvikariats an die Geistlichen, geforderte Auskünfte und Berichte endlich zu erbringen, lassen die Klagen, die Castello den alten Pfarrern über zu viel ‚von oben‘ erteilter Arbeit unterstellt, ebenfalls plausibel erscheinen.⁵⁷⁴ Versuche der geistlichen Behörden, den lokalen Klerus stärker zu normieren und zu reglementieren, hatte es schon seit dem Trienter Konzil gegeben und sie intensivierten sich im 18. Jahrhundert. Da der Kurfürst-Erzbischof auch im weltlichen Bereich um die „Stärkung der staatlichen Zentralgewalt“⁵⁷⁵ bemüht war, versuchte er auf geistlichem Gebiet ähnlich zu verfahren. Das Bild, das Castello vom Leben der Kapläne in ihren Pfarreien entwarf, war durchweg negativ. Er verweist auf die „thätigsten Leute“, die er gekannt habe und die, um „Verfolgungen zu entgehen“, ihren Elan gänzlich verloren hätten. Bei
571 Ebd., S. 192. 572 Seine einleitende Lobeshymne auf die „besten Fürsten Deutschlands“ (ebd., S. 188) wird sicherlich mit Blick auf einen größeren Leserkreis entstanden sein. 573 Siehe Kapitel 2.1. 574 Neben den Berichten, die die Pfarrer für die Landdechanten über den Zustand ihrer Pfarreien verfassen mussten, gibt auch das Prozedere um die Zuweisung der Kapläne ein Beispiel davon: Auch hier durften die Pfarrer nicht mehr nach eigenem Ermessen handeln, sondern mussten regelmäßig Rücksprache mit dem Vikariat halten. 575 Stollberg-Rilinger: Europa (wie Anm. 61, S. 40), S. 194.
234 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an denjenigen, die sich „in ihrer besseren Denkungsart aufrecht“ hielten, wisse man nicht, wie lange sie noch durchhalten könnten. Gleich von mehreren Seiten seien sie Angriffen „durch den großen und kleinen Pöbel“⁵⁷⁶ ausgesetzt. Der negativ konnotierte Begriff Pöbel⁵⁷⁷ ist nicht nur auf die „unbiegsamen Bauern“ gemünzt, sondern genauso auf den Pfarrer und die Mönche. Fordert Ersterer den Kaplan mit seinem „Widerspruch“ gegen alle Änderungen heraus, konkurrieren die Mönche mit ihren „Höllenintrigen“⁵⁷⁸ mit dem Kaplan um die Gunst und die Almosen der Gläubigen. Unter diesen Umständen bliebe dem Kaplan nichts anderes übrig, als im Stillen die ungebrauchten „Kräfte[…]seiner Jugend“ zu beweinen und sich „in Langweile [zu] verzehren.“⁵⁷⁹ Für diese gebe es durchaus Abhilfe, die für den Aufklärer Castello natürlich weder im Kartenspiel noch in der Zecherei bestand, sondern im Lesen „gute[r] Bücher“. Dieses „einzige schickliche Unterhaltungsmittel“ ist dem Kaplan aber nicht nur durch seine bescheidenen finanziellen Mittel, die den Erwerb von Büchern nicht zulassen, verwehrt. Er kann auch im Haushalt seines Pfarrers nicht mit einer gut sortierten Bibliothek rechnen: Daß bei den alten Pastores kaum etwas zu geniesendes anzutreffen sey, werden Ewer Hochwürden [der Auftraggeber Hommer, Anm. A. K.] bei der kürzlich geendigten Visitation leider mehr als zuviel gefunden haben. Busenbaum, Voit, Sporer, Leben Christi, Leben der Heiligen von Martin von Kochem, und wo man sich auf Prediger noch etwas einbildet, stehet Hunold ganz oben an.⁵⁸⁰
Geschickt erinnert Castello seinen Auftraggeber an die kürzlich durchgeführte Visitation im Niedererzstift, um seine Aussagen zu belegen. Als katholischem Aufklärer sind ihm die aufgezählten, teils jesuitischen Autoren und die in ihren Werken gepredigte Barockfrömmigkeit und überkommene Moral ein Dorn im Auge.
576 Jeweils Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 192. 577 Der Begriff Pöbel war in der Regel immer negativ konnotiert und diente den Autoren des 18. Jahrhunderts als abwertende Bezeichnung für das ‚einfache Volk‘, vgl. Kay Kufeke: Die Darstellung des »Volkes« in Reicheberichten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts (1780–1810), in: Anne Conrad/Arno Herzig/Franklin Kopitzsch [Hrsg.]: Das Volk im Visier der Aufklärung. Studien zur Popularisierung der Aufklärung im späten 18. Jahrhundert, Hamburg 1998, S. 81–102, hier S. 85. 578 Jeweils Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 192. 579 Ebd., S. 192. 580 Ebd., S. 193. Edmund Voit (1707–1780) war Jesuit und in Würzburg Professor für Moraltheologie. Seine Theologica moralis wurde mehrmals aufgelegt. Auch der Minorit Patritius Sporer (gest. 1714) war Verfasser eines mehrmals nachgedruckten moraltheologischen Werkes. Der Jesuit Franz Hunolt (1691–1746) war ein populärer Prediger, dessen Predigten ebenfalls bis ins 19. Jahrhundert mehrmals wiederaufgelegt wurden. Er war einige Jahre Domprediger in Trier.
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Mit Busenbaum und Martin von Cochem erwähnt er zwei Autoren, die in den Mönchsbriefen als inadäquate Literatur für Geistliche beschrieben worden waren. Alle genannten Autoren hatten jedoch Werke verfasst, die in der Folge mehrfach wiederaufgelegt wurden und noch über das 18. Jahrhundert hinaus weitverbreitet waren.⁵⁸¹ Für Castello ist hingegen klar, dass kein „guter Kopf“ aus diesen Werken einen „Nutzen“⁵⁸² für seine Aufgaben in der Gemeinde ziehen könne. Mit dem Verweis auf die Lektüregewohnheiten der ‚alten‘ Pfarrer bezweckte Castello, erneut sowohl deren Engstirnigkeit und barockfromme Prägung nachzuweisen als auch den Konnex zwischen Bildung und Aufklärung durch die Lektüre ‚guter‘, mithin aufklärerischer Werke, herzustellen. Ausdrücklich stellte er klar, dass die Menge der Bücher, die ein Pfarrer besitzt, noch nichts über die Qualität seiner Bibliothek aussagt. Gleichzeitig verfolgte er das Kalkül, mit dem Lesen eine für Geistliche sinnvolle und angemessene ‚Freizeitbeschäftigung‘ anzupreisen, mit der sich aus seiner Sicht Missstände wie verbotene Wirtshausbesuche oder Kartenspiel leichter und langfristig hätten beheben lassen.⁵⁸³ Für wie bedenklich er die Gebets- und Lesebücher eines Autoren wie Martin von Cochem auch für die Landbevölkerung hielt, führt Castello an einer späteren Stelle aus. Diese Bücher seien „alle so mit Mährchen voll gepfropft“ und würden „so viel Irriges enthalten, daß sie nichts anders als irreführen, unsere heilige Religion herabwürdigen und die schädlichsten Vorurtheile und Aberglauben erzeugen und nähren können.“⁵⁸⁴ Wie bei einigen seiner Meinung nach besonders abträglichen Ausprägungen des Aberglaubens, erscheint ihm nur ein Auflage- und Verkaufsverbot eine Lösung zu sein, um die Verbreitung dieser ‚Märchen‘ einzudämmen.⁵⁸⁵ 581 Bei den Visitationen Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts im Bistum Trier waren Martin von Cochems Werke in den Gemeinden noch vielfach vorhanden, wobei unter der jüngeren Generation wohl auch Autoren der katholischen Aufklärung verbreiteter waren. Vgl. Breil: Erbauung (wie Anm. 243, S. 164), S. 51, 54. 582 Jeweils Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 193. 583 Disziplinprobleme nahmen zwar unter den Geistlichen im Verlauf des 18. Jahrhunderts eher ab, trotzdem rügte Clemens Wenzeslaus unmittelbar nach seinem Amtsantritt noch die unangemessene Kleidung der Weltgeistlichen. Schließlich ginge es darum, durch das Äußere des geistlichen Standes „bey denen weltlichen gebührende Achtung gegen denselben zu erregen.“ Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia Bd. 5 (wie Anm. 47, S. 36), S. 109. Vgl. auch Persch: Klerus (wie Anm. 49, S. 37), S. 222–231. 584 Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 199. 585 Mit dem ‚Salzburger Menschenfreund‘, auf dessen angeblich gleichlautenden Vorschlag sich Castello an dieser Stelle bezieht, meinte er laut Lichter wahrscheinlich den Benediktiner Jakob Danzer (1743–1796). Danzer lehrte an der Universität Salzburg Moraltheologie und geriet dort aufgrund seiner aufgeklärten Positionen immer wieder in Konflikt mit Professoren, die eine orthodoxere Lehre vertraten. 1792 musste er die Universität schließlich verlassen, vgl. Lehner: Monks (wie Anm. 41, S. 13), S. 180–182.
236 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Emphatisch äußert er die Hoffnung, dann eines Tages „herrliche Früchte“⁵⁸⁶ der Aufklärung ernten zu können. Seine Sorge über den Einfluss der Gebets-, Gesangsund Erbauungsbücher war naheliegend, da sie neben den Kalendern meist die einzige Lektüre für den Großteil der Bevölkerung darstellten. Wie Castello schreibt, verkauften in der Regel Hausierer oder wandernde Buchbindergesellen diese Bücher auf Wochen- und Jahrmärkten oder an Wallfahrtsorten; häufig verschenkten sie auch Pfarrer als Preise an fleißige Schüler.⁵⁸⁷ Aufgrund dieses potentiell großen Leserkreises war es für die Aufklärer wichtig, dass solche Gebets- und Lesebücher den ‚richtigen‘ Inhalt enthielten. In Bezug auf die Kapläne gibt Castello im Weiteren jedoch zu, dass sie, selbst wenn sie doch einmal Bücher aufgeklärter Autoren zur Verfügung hätten, keine Zeit und vor allem nicht die nötige Ruhe zum Lesen fänden. Denn oftmals seien die Wohnverhältnisse in den Pfarrhäusern derart beengt, dass es keine Rückzugsmöglichkeit gebe und ein ständiges Kommen und Gehen herrsche, was „das Studiren, Nachdenken, Ordnen etc. unmöglich“⁵⁸⁸ mache und sie daran hindere, ihre Predigten oder die Christenlehre vorzubereiten. Dass viele Pfarrer nebenher noch eine kleine Landwirtschaft betrieben,⁵⁸⁹ um sich versorgen zu können, stellte ein weiteres Problem dar: „Führt der Pastor einen eigenen Ackerbau, so wird im Winter gedroschen, aufgetragen, die Zinsen abgeliefert, kurz alles geschieht in dem Zimmer, wo der Kaplan an Volksaufklärung, an Sittenverbesserung arbeiten soll.“⁵⁹⁰ Auch für Castello spielte demnach die Frage, wie ein Geistlicher seiner Gemeinde „gehörig nutzen könne“⁵⁹¹, eine entscheidende Rolle. Die Amtssakralität allein genügte ihm nicht mehr. Für ihn lag die Antwort in der Volksaufklärung, allerdings bezweifelte er, wie ein Kaplan unter den vorherrschenden Bedingungen jemals seine Kenntnisse erweitern oder gar sinnvoll weitergeben könnte. Sollten sie sich tatsächlich darum kümmern, „Mißbräuchen Einhalt zu thun, Aberglauben auszurotten, gesunden Menschenverstand aufzuwecken, kurz Aufklärung zu befördern“⁵⁹², so müsste ihre ‚elende Lage‘ behoben werden. Den Anstoß dazu wollte er mit seiner Beschreibung geben.
586 Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 199. 587 Vgl. Breil: Erbauung (wie Anm. 243, S. 164), S. 49–50. 588 Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 193. 589 Zu den Einkünften der Pfarrer siehe Kapitel 2.1. Die Pfarrer waren sowohl über den Zehnten als auch ihr sogenanntes Wittum „eng in die agrarische Subsistenzökonomie ihrer zumeist dörflichen Lebenswelt eingebunden“. Ziemann: Sozialgeschichte (wie Anm. 13, S. 4), S. 100. 590 Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 193. Zum Begriff Volksaufklärung und seiner wahrscheinlich erstmaligen Verwendung 1782 siehe Kapitel 3.1.1, Anm. 162. 591 Ebd., S. 194. 592 Ebd., S. 195.
3.2 Die Bekämpfung des Aberglaubens: Der Priester als Aufklärer | 237
Fehlerhaftes Verhalten der Pfarrer und Missstände Dass Castello bei den Pfarrern noch viele Missstände bestehen sah, ist in seiner Analyse der schwierigen Lebensumstände der Kapläne deutlich geworden. So stellt die „Unbescheidenheit mancher Pastoren in ihren Befehlen“ für ihn ein weiteres Hindernis der Aufklärung dar. Selbstherrlich würden diese ihrem Kaplan die Sonntagspredigt erst wenige Tage vorher übertragen, sodass ihm kaum Vorbereitungszeit bliebe. Dass ihr junger Helfer noch keine Übung hätte und die Predigt darum ohne längeren Vorlauf „seicht, mager, superficiel“ ausfiele, kümmere die Pfarrer nicht weiter. Vor diesem Hintergrund äußert Castello die Befürchtung, der Kaplan könnte sich an das Arbeiten unter Zeitdruck gewöhnen und dadurch letztlich „ein Auswendiglerner und leerer Wortmacher“⁵⁹³ werden. Dabei wird Castello an Geistliche wie den fiktiven jungen Pfarrer in den Mönchsbriefen gedacht haben, der die Texte anderer nur kopieren konnte, ohne den Inhalte selbst zu durchdringen. Doch nur, wer in der Lage war, selbst zu denken, bildete über den Stoff seiner Predigten bei den Zuhörern ein kritisches Bewusstsein heraus. Ein bloßer ‚Auswendiglerner‘ lief hingegen Gefahr, den Gottesdienst zu genau dem mechanischen Ritual verkommen zu lassen, das die katholische Aufklärung überwinden wollte. Vielmehr sollte die Liturgie „der Belehrung und Erbauung des Menschen auf Sittlichkeit hin dienen“⁵⁹⁴, mithin die innere Anteilnahme befördern. Der katholischer Aufklärer Castello maß daher der Predigt zentrale Bedeutung zu, da sie geeignet war, einen großen Zuhörerkreis zu erreichen. Von der Kanzel konnte der Pfarrer genauso über falsche Frömmigkeitsbegriffe wie landwirtschaftliche Neuerungen aufklären, „[d]enn nicht nur das gedruckte Wort diente der Ausbreitung aufklärerischer Gedanken. Wichtiger war zweifellos die mündliche Unterweisung in Unterricht, Predigt und Gespräch oder gar im Pfarrgarten.“⁵⁹⁵ Indem die Pfarrer ihren Kaplänen jedoch die notwendige Vorbereitungszeit verwehrten, nahmen sie ihnen aus Castellos Sicht diese Möglichkeit der Einflussnahme. Des Weiteren resultiere aus dem „Müßiggang“ vieler Pfarrer, dass sie die ganze „Last der Pfarrgeschäfte auf ihren Gehilfen“ abladen würden. Dieser wäre in der Folge nicht nur fürs Predigen und die Katechese zuständig, sondern müsste auch „taufen, copuliren, begraben, Kranken versehen“, währenddessen der Pfarrer den
593 Jeweils ebd., S. 194. 594 Vgl. Benedikt Kranemann: Die Liturgie der Aufkläung zwischen Verehrung Gottes und sittlicher Besserung des Menschen, in: Steffen Patzold/Florian Bock [Hrsg.]: Gott handhaben. Religiöses Wissen im Konflikt um Mythisierung und Rationalisierung, Berlin/Boston 2016, S. 365–385, hier S. 372. Belehrung und Erbauung waren laut Kranemann Schlüsselbegriffe der unter dem Eindruck der Aufklärung angestoßenen Liturgiereformen, mit der sich zwischen 1780 bis weit ins 19. Jahrhundert zahlreiche theoretisch-theologische Schriften befassten (vgl., ebd., S. 366; 378). 595 Kuhn: Praktische Religion (wie Anm. 162, S. 144), S. 94.
238 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an eigenen Geschäften nachginge. Den Kaplan überfordere die Fülle seiner Aufgaben aufgrund seiner Unerfahrenheit. Vor allem würden ihm „Kenntnisse der Pfarr, ihrer Sitten, Gebräuche, Laster und Gebrechen“ fehlen. Ohne diese Einblicke gelinge ihm aber weder eine angemessene Ansprache seiner Pfarrkinder im persönlichen Kontakt noch könne er „im oeffentlichen Unterricht den erforderlichen Nutzen stiften“. Dass den Pfarrern durch die Volksaufklärung aber eine so tragende Rolle beigemessen wurde, hing im Wesentlichen mit ihrer Nähe und Kenntnis der Gemeinden zusammen, wodurch sie als geeignete Vermittler neuer Ideen erschienen. Indem der müßiggängerische Pfarrer seine Pfarrgeschäfte im Wesentlichen seinem Kaplan übertrug, wurde aus Castellos Sicht dieser zentrale Gedanke der Volksaufklärung jedoch konterkariert: Ohne die „Ursache“ oder den „Sitz“ der Übels zu kennen, könne der Kaplan es „nicht heilen“⁵⁹⁶. Doch obwohl das Verhalten der Pfarrer in der Konsequenz viel Schaden anrichte, gebe es noch viele Pfarreien, in denen so verfahren würde. Generell kritisierte Castello, dass die Pfarrdienste zu oft vernachlässigt würden. In seiner Untersuchung wirft er einerseits den Pfarrern vor, die Durchsetzung des Pfarrprinzips zu unterlaufen, da sie aus „Nachgiebigkeit oder Eigennutz“ die hohen Festtage nicht wie vorgesehen in der „Mutterkirche“⁵⁹⁷, sondern in Nebenkirchen begehen würden. Auch komme es noch viel zu häufig vor, dass sie bei Kirchweihfesten in der Nachbarschaft „in ihren Kirchen stille Messen ohne Predigt halten und die Leute dann auf den benachbarten Ort hinweisen“ würden, statt den Besuch einer anderen als der eigenen Pfarrkirche zu unterbinden. Ähnlich wie bei den Wallfahrten befürchtete Castello auch in diesen Fällen eine ‚Entheiligung‘ der Sonn-oder Feiertage durch Besuche der Wirtshäuser oder Tanzveranstaltungen in den Nachbarorten.⁵⁹⁸ Außerdem beklagte Castello, dass die Pfarrer „trotz aller unserer deutlichen Verordnungen“ noch immer glaubten, eine „stille Messe“⁵⁹⁹ ohne Predigt und Christenlehre reiche generell sonn- und feiertags aus. Damit handelten sie dem Verständnis der katholischer Aufklärer zuwider, dass der Gottesdienst „die Trias Predigt, Messe und Kirchenmusik“⁶⁰⁰ umfassen müsse und vor allem Ersteres nicht
596 Jeweils Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 194. 597 Jeweils ebd., S. 206. 598 Die Feiertagsverordnung von 1769 hatte die Kirchweihfeste der Pfarreien im Erzbistum eigentlich auf einen gemeinsamen Termin festgesetzt. Diese Regelung wurde jedoch, wenn überhaupt, nur widerwillig von der Bevölkerung angenommen, vgl. Andreas Heinz: Verminderung der gebotenen Feiertage, in: Franz [Hrsg.]: Aufklärung (wie Anm. 46, S. 13), S. 195–199, hier S. 197. 599 Jeweils Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 206. 600 Handschuh: Wahre Aufklärung (wie Anm. 43, S. 13), S. 194. Trotz der Ablehnung gegenüber Äußerlichkeiten, wurde dem Gesang eine hohe Bedeutung beigemessen, da die Teilnehmer so in
3.2 Die Bekämpfung des Aberglaubens: Der Priester als Aufklärer | 239
unterbleiben sollte. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Castello seine Hoffnung in die jungen Kapläne setzte, da der Mehrzahl der etablierten Landgeistlichen die Ideen der katholischen Aufklärung noch fremd waren.⁶⁰¹ Auch die Katechese, deren Besuch für Kinder und unverheiratete junge Leute verpflichtend war, sollte an den Sonn- und Feiertagen nachmittags regelmäßig stattfinden.⁶⁰² Sie stellte neben der Predigt den Ort dar, an dem aufgeklärt-theologische Reformvorstellungen am besten vermittelt und eingeübt werden konnten.⁶⁰³ Gleichwohl lässt sich auf Grundlage von Castellos Untersuchung nicht beurteilen, ob die Vernachlässigung der Katechese möglicherweise auch dem Desinteresse der Bevölkerung entsprang, selbst oder ihre Kinder an diesem zusätzlichen Unterricht teilnehmen zu lassen.⁶⁰⁴ Dem Ideal der gemeindlichen Gottesdienstfeier stand noch ein weiterer Missstand entgegen: ihre willkürlichen Anfangszeiten. Obwohl diese verbindlich vorgegeben seien, würden sie vielerorts von der „Caprice“ der Pfarrer abhängen, was unter den Gemeindemitgliedern Verwirrung stifte. Nicht selten würden sie dann andere Kirchen aufsuchen: „Predigt und anderer Unterricht ist also für diese verlohren.“ Offenkundig sei außerdem ein weiterer „Mißbrauch“ pfarrlicher Pflichten: Viele Pfarrer würden für mehrere Wochen „ohne Erlaubnis eines Vorgesetzten“ ihre Pfarreien verlassen. Dieses Problem sei so „offenbar und landkundig“⁶⁰⁵, dass Castello glaubte, es gar nicht erst beweisen zu müssen. Ob die Pfarrer tatsächlich so zahlreich ihre Residenz vernachlässigten, wie Castello alarmierend feststellt, ist unklar. Sollte der Geistliche allerdings als pastor bonus, als guter Hirte, seiner Vorbildfunktion gerecht werden, hatte er bei seiner Gemeinde zu sein, schließlich trug er für diese die Verantwortung.
das Gottesdienstgeschehen einbezogen werden konnten, vgl. Kranemann: Liturgie (wie Anm. 594, S. 237), S. 379. 601 Größtenteils hatten sie zudem noch nicht von der stärker auf die Praxis ausgerichteten Ausbildung profitiert, weshalb Castello bei den gehaltenen Predigten ihre Überlänge bemängelte: Statt rhetorisch angeregt, würden die Gläubigen durch sie eingeschläfert werden. 602 Vgl. Josey Birsens: Katechese, Katechismen und Predigt im Zeitalter der Konfessionalisierung, in: Persch/Schneider [Hrsg.]: Bistum Trier Bd. 3 (wie Anm. 49, S. 14), S. 388–403, hier S. 395. 603 Um die „Unwissenheit in den[…] nöthigen Religions-Grundsätzen“ (Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia Bd. 5 (wie Anm. 47, S. 36), S. 294) zu beheben, hatte Clemens Wenzeslaus bereits 1779 eine Verordnung zur Christenlehre erlassen. Da zur Teilnahme nur Kinder und Unverheiratete bis 25 Jahre verpflichtet waren, aber nach Meinung des Erzbischofs auch viele Erwachsene nicht über die entsprechenden Kenntnisse verfügten, sollten die Pfarrer am Ende des Gottesdienste zentrale Glaubensinhalte wie die Zehn Gebote oder die Sakramente wiederholen. 604 Darauf weist hin: Hersche: Muße (wie Anm. 33, S. 11), S. 299. 605 Jeweils Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 207.
240 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Bei aller Kritik, die Castello noch immer an den Geistlichen festmachen zu können glaubte, füllte er sich anscheinend zu dem Eingeständnis genötigt, es gebe auch viele „rechtschaffene Männer unter den Seelsorgern“⁶⁰⁶. Da ihm jedoch nicht daran gelegen ist, in seiner Untersuchung eine Sammlung der Positiva aufzustellen, schränkt er sein Lob sogleich mit dem Zusatz ein, es gebe aber „auch solche, die ihren Kopf, alte hergebrachte Vorurtheil und Mißbräuche nur allein als Gesätz ansehen, die die heiligsten Verordnungen nur nach ihren Vorurtheilen bemessen“⁶⁰⁷ und sich über alle Vereinbarungen hinwegsetzten würden. Diese Halsstarrigkeit stifte „Verwirrung und Unordnung“ und man meine, die Pfarreien des Erzbistums seien „jede als eine ganz besondere Republick“ anzusehen. Der Begriff Republik ist für Castello eindeutig negativ besetzt und steht für ihn sinnbildlich für Chaos. Er macht damit deutlich, dass die Pfarreien Stadtstaaten gleich als eigene Gemeinwesen agieren würden, obwohl sie alle „einem gemeinschaftlichem Oberhaupte, ihrem Bischofe“ unterstünden. In einer langen Liste zählt er die abweichenden Gepflogenheiten auf, die von erteilten oder nichterteilten Halssegnungen bis zu verbotenen oder erlaubten „Schwelgereien“⁶⁰⁸ bei Taufen und Hochzeiten reichten. Zwar existierten entsprechende Vorschriften, diese waren jedoch den Pfarrern entweder unbekannt oder – wie Castello böswillig vermutet – aufgrund hergebrachter Vorurteile schlichtweg egal. Dass Castello einen Missstand benannte, der auch der geistlichen Verwaltung nicht entgangen war, zeigt sich an der 1784 erfolgten Aufforderung an die Pfarrer, alle Verordnungen, die ihre Amtsverrichtungen betrafen, zu sammeln.⁶⁰⁹ Castello zufolge, scheint diese Verordnung jedoch selbst nicht befolgt worden zu sein. Die Beichte als Instrument der Aufklärung Stellten für Castello bereits diese Unzulänglichkeiten, die den Landgeistlichen eigen waren, ein erhebliches Erschwernis für die Volksaufklärung dar, so traf dies erst recht auf das Wirken der Mendikantenorden im Erzbistum zu. Seine Kritik an ihrer angeblichen Unterstützung des Aberglaubens durch allerlei ‚Mittelchen‘, Segnungen und dergleichen mehr, wurde an verschiedenen Stellen bereits deutlich. So waren insbesondere die Benediktionen ein „bevorzugtes Reformobjekt“ der katholischen Aufklärung, „weil hier in besonderer Weise Magie und Aberglauben
606 Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 207. 607 Ebd., S. 207 f. 608 Ebd., S. 209. Das Verbot der Halssegnungen war im März 1787 (Blattau: Statuta synodalia Bd. 6 (wie Anm. 125, S. 56), S. 72) erfolgt; der zu große Aufwand bei Taufen und Hochzeiten war 1784 untersagt worden (ders. [Hrsg.]: Statuta synodalia Bd. 5 (wie Anm. 47, S. 36), S. 410–412). 609 Siehe ebd., S. 382.
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drohten.“⁶¹⁰ Auch Castello unterstellt den Mönchen mit derartigen „Unternehmungen“ einzig die „Heiligkeit unserer Religion“ herabzuwürdigen und das durch die Pfarrer aufrechterhaltene „Gebäude“⁶¹¹ der Kirche zu untergraben. Auch deren Bemühen, im Sinne der Volksaufklärung durch ihre Predigten das Volk zu belehren und zu erbauen, würden die Mönche mit ihrem eigenen Sermon hintertreiben, denn dieser sei stets „unrichtig, verworren [und] kraftlos“⁶¹². Viel schwerer wog für ihn jedoch der Einfluss der Mönche auf das Beichtwesen. Nur vordergründig entzündete sich seine Kritik an der „Eile“, mit der die Mönche „50 bis 100“⁶¹³ Pönitenten in der Stunde abfertigen würden. Entscheidender war, dass die Beichte dem Pfarrer eine gute Möglichkeit bot, sich als wahrhafter Volkslehrer zu erweisen, sofern ihm nicht Mönche seine Position als Beichtvater streitig machten. Als Vorsteher ihrer Gemeinde trugen die Priester Verantwortung für diese „und hatten sie in religiösen und sittlichen Belangen zu unterweisen.“⁶¹⁴ Ihre zentrale Aufgabe bestand darin, das moralische Wohl der ihnen anvertrauten Gläubigen zu sichern und die Gemeinde zur „bußfertigen Umkehr“⁶¹⁵ anzuhalten. Neben Predigt und Katechese, die stets an eine größere Gruppe adressiert waren, ermöglichte die Intimität des Beichtstuhls unmittelbarer auf den Beichtenden einzuwirken. Dieser sollte durch die Beichte zur Selbsterkenntnis und dauerhaften Besserung gebracht werden. Deshalb war es nach dem Verständnis katholischer Aufklärungstheologen wichtig, dass der örtliche Pfarrer die Beichte abnahm, da er die Lebensumstände der Beichtenden und den Zustand seiner Gemeinde kannte.⁶¹⁶ So betont Castello, im Beichtstuhl könne der Seelsorger „die Fehler und Laster in dem Ursprunge“ kennenlernen, „kann die besten, besonders passenden Mittel entgegensetzen und öfters durch freundliches oder strenges Zureden aus der Wurzel heilen“. Gleichzeitig gewinne er den für sein Amt notwendigen Einblick in „den inneren Zustand seiner Pfarre.“⁶¹⁷ Die Klostergeistlichen hingegen könnten keine ernsthafte Buße bewirken, da sie „die Sünden ihrer Beichtkinder blos im
610 Kranemann: Liturgie (wie Anm. 594, S. 237), S. 376. Die Vielzahl an Segnungen wurde den Orden zugeschrieben, siehe Kapitel 3.1.2. 611 Jeweils Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 194. 612 Ebd., S. 195. 613 Jeweils ebd., S. 197. 614 Renate Dürr: „... die Macht und Gewalt der Priestern aber ist ohne Schrancken“. Zum Selbstverständnis katholischer Seelsorgegeistlicher im 17. und 18. Jahrhundert, in: Martin Dinges [Hrsg.]: Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und früher Neuzeit, Göttingen 1998, S. 75–99, hier S. 83. 615 Ebd., S. 83. 616 Vgl. Handschuh: Wahre Aufklärung (wie Anm. 43, S. 13), S. 208–209. 617 Jeweils Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 197.
242 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Verhältniß gegen jene aus ihrer Casuistic mitgebrachten Sündentaxe“⁶¹⁸ setzten würden. Das aufgeklärte Bild des Priesters als väterlichem Freund, der sich stets um den Einzelnen bemüht, spiegelte sich in Castellos Verständnis der Beichte wider: Er warf den Mönchen vor, sie „nur als ein richterliches Amt“ zu betrachten und nicht als die „menschenfreundliche Pflicht eines Arztes, eines guten Rathgebers und Weegweisers, kurz eines herzinnigsten Freundes“⁶¹⁹. Damit steht – wie schon in den Mönchsbriefen – auch bei Castello die erzieherische Funktion der Beichte im Vordergrund. Im Selbstverständnis der katholischen Aufklärung war Religion „Unterricht und Erziehung“, waren somit „Schule, Predigt, Einzelbelehrung, Beichte und Krankenbesuch das wesentliche Heilmittel“⁶²⁰ gegen Aberglauben und ‚falsche‘ Religionsbegriffe. Aus diesem Grund wollte Castello die Klostergeistlichen am liebsten vom Beichtstuhl fernhalten, gestand jedoch ein, dass dies aufgrund missbräuchlicher Abwesenheit der Ortspfarrer oder deren Überlastung in der Osterzeit häufig nicht möglich sei. Um trotzdem auf mönchische Aushilfen verzichten zu können, schlägt er vor, die Osterzeit zu verlängern, wodurch sich die Pfarrer benachbarter Orte gegenseitig aushelfen könnten. Die Beichte wäre damit zwar ebenfalls nicht zwingend vor dem Ortspfarrer abgelegt worden. In erster Linie war Castello jedoch bestrebt, „das wieder gut zu machen, was diese Gattung von Leuten in Religionsund Seelsorgegeschäften verdorben“ hätten und folglich mit allen Mitteln den Einfluss der Klostergeistlichen einzuschränken. Möglicherweise als Reaktion auf Castellos Vorschlag wurde die Osterzeit im Februar 1788 tatsächlich auf vier Wochen ausgedehnt.⁶²¹ Inwiefern sich dadurch die Zahl der mönchischen Beichtväter verringerte, ist jedoch fraglich. Vom „Zustande“ der Landgeistlichen Offensichtlich existierten in Castellos Augen bei den Geistlichen noch zahlreiche Missstände, die eine Verbreitung der Aufklärung auch unter der Landbevölkerung behinderten. Die Pfarrer schienen noch weit entfernt vom imaginierten Ideal der katholischen Aufklärung zu sein. Trotzdem ließen ihn „[h]offnungsvolle Aussich-
618 Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 198. 619 Ebd., S. 198. 620 Jeweils Holzem: Christentum (wie Anm. 11, S. 4), S. 843. Zum Beichtwesen in den Mönchsbriefen siehe Kapitel 3.1.1. 621 Siehe Blattau: Statuta synodalia Bd. 6 (wie Anm. 125, S. 56), S. 85. Sowohl unter französischer als auch unter preußischer Herrschaft wurde diese Regelung beibehalten, vgl. Heinz: Leben (wie Anm. 543, S. 227), S. 293.
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ten“⁶²² positiv in die Zukunft blicken. Gleichwohl erschien es ihm notwendig, in seiner Untersuchung den „Zustand“ der Landgeistlichen einer näheren Betrachtung zu unterziehen, damit sie ihrer Aufgabe – als Volkslehrer Multiplikatoren der Aufklärung zu sein – auch wirklich gerecht werden konnten: „Alle Anstalten [zur Aufklärung] werden ihren Endzweck gar nicht oder nur zur Helfte erreichen, wenn diejenige[n] nicht die Stärksten und Mitarbeiter sind, welche die Herzen des Volkes kennen und sozusagen in Händen haben, daß sie es lenken, wie sie wollen.“⁶²³ Er spielt damit auf die Nähe zwischen Pfarrer und Landbevölkerung an, die ihn „jene sozialen Schichten“ erreichen ließ, „denen die besondere Aufmerksamkeit der Volksaufklärung galt“⁶²⁴, um ihnen eine vernünftigere Religion zu vermitteln. Deutlich wird jedoch auch ein starker obrigkeitlicher Zug in Castellos Denkweise, denn ‚das‘ Volk ist in seinen Augen nur die lenkbare Masse des aufgeklärten Priesters, der ihm sagt, was und wie es zu glauben hat. Er ist sich allerdings bewusst, dass die Geistlichen nicht per se zu Volksaufklärern geboren sind, sondern nur derjenige aufklären kann, der es selbst ist.⁶²⁵ Deshalb müsse „nicht darauf gesehen werden, wie er [der geistliche Stand] zahlreicher, sondern wie er in seiner innern Verfassung verbessert wird.“ Die Frage, wie „am leichtesten die Aufklärung unter sie gebracht werden“⁶²⁶ könne, ließe sich demnach nur beantworten, wenn zuerst die – aus Castellos Sicht denkbar schlechten – Lebensverhältnisse der Pfarrer bekannt seien.⁶²⁷ Als pädagogisch versierter Aufklärer beleuchtet er darum zunächst die „erste Erziehung“, die die jungen Männer vor Eintritt in den geistlichen Stand genossen hätten. Er ist davon überzeugt, dass die ersten Lebensjahre entscheidend für das spätere Erwachsenenleben seien: Die „Seele“ nehme in diesen Jahren „eine ge-
622 Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 214. 623 Jeweils ebd., S. 215. 624 Jeweils Kuhn: Praktische Religion (wie Anm. 162, S. 144), S. 94. 625 Ähnlich argumentierte Andreß in einem 1789 in seinem Magazin für Prediger veröffentlichten Beitrag Abhandlung ob und wie der Prediger das gemeine Volk aufklären soll. Er positionierte sich damit vor allem gegenüber der anderslautenden Meinung der Gegenaufklärung, vgl. Krenz: Beitrag (wie Anm. 520, S. 222), S. 286. 626 Jeweils Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 215. 627 Diese wurden auch von anderen katholischen Aufklärern wie z. B. dem Theologen Lorenz Westenrieder (1748–1829) als desolat und elendig beschrieben. In einem von ihm anonym veröffentlichten Nachwort zur Schrift eines Freundes plädierte er für eine Verbesserung des materiellen und sozialen Status der Weltgeistlichen, vgl. Wilhelm Haefs: „Praktisches Christentum“. Reformkatholizismus in den Schriften des altbayerischen Aufklärers Lorenz Westenrieder, in: Klueting [Hrsg.]: Aufklärung (wie Anm. 81, S. 44), S. 271–301, hier S. 292.
244 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an wisse Wendung; bey dieser bleibt sie.“⁶²⁸ Castello zieht daraus jedoch nicht den Schluss, diese ‚Wendung‘ der Seele könne durch entsprechende Erziehung in den ersten Lebensjahren zu einer günstigen Entwicklung geführt werden. Vielmehr möchte er mit seiner Aussage belegen, dass Standesunterschiede ihre Berechtigung haben: So hätten vor 20 Jahren viele ein Studium begonnen, obwohl sie durch Geburt „und ganze Anlag zum Pflug oder zur Werkstatt bestimmt“ waren. Ihre Väter hätten jedoch im geistlichen Stand ein besseres Leben gesehen und ihre „starknervigten“ Söhne „den Musen“ geweiht. Das Studium in der Stadt habe diese endgültig verdorben: Der Mann, durch den zukünftig „ganze Gemeinden gebildet werden sollen“, wüchse zwischen „zottigter [sic] Handwerksburschen und niedrig denkender Menschen auf“ und spiele anschließend „in einem Cirkel von Bauern den Hochgelehrten“. Auch die „Seminarien ersetzen das Uibel nicht“: So wie sich „Gutgesittete“ stets mit ihresgleichen umgeben würden, „suchen die Rohe[n] Rohe aus“. Unter dem Deckmantel der Angepasstheit, könnten sie ihren „innern Karakter“ vor den Oberen verbergen. Diese wären in der Regel auch „zu kurzsichtig, heften sich blos an etwas Äußerliches, können oder wollen nicht die innere Lage des Menschen prüfen“. Folglich bliebe auch im Priesterseminar „der Rohe immer das, was er war.“⁶²⁹ Mit diesen Äußerungen stimmt Castello in die üblichen Klagen der geistlichen Elite ein. So sollte per kurfürstlicher Verordnung schon seit 1768 dafür gesorgt werden, in den niederen Schulen gute und schlechte Schüler frühzeitig zu trennen und klarzustellen, dass Letztere für ein Studium ungeeignet seien.⁶³⁰ Castello scheint auch keinen Widerspruch zwischen seinem Eintreten für die Volksaufklärung und seinem reichlich pauschalen Urteil über die mangelnde Studierfähigkeit der Bauernsöhne gesehen zu haben. Er wird der Meinung gewesen sein, dass die wenigen von ihnen, die über die nötigen Anlagen verfügten, schon entdeckt würden. Das in seiner Untersuchung bereits an einigen Stellen deutlich gewordene hierarchische Verständnis von Aufklärung, tritt nun noch stärker hervor: In seinem Denken geht die Aufklärung stets von der Elite aus und richtet sich ans ‚einfache Volk‘. Diese Elite bestimmt, was und wie viel der Bauer lernen soll. So wollte er zwar die Aufklärung der Landbevölkerung nicht vorenthalten, sie sollte sich aber an den gegebenen Verhältnissen orientieren und diese nicht verändern.⁶³¹ Entscheidend 628 Jeweils Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 215. – Etwas selbstverliebt geht er von seiner eigenen Entwicklung aus: „Ich habe auf mich gemerkt, über meine Seelenlage gedacht und finde halt immer, daß meine ganze Richtung schon in meiner Jugend dahin ging, wo ich noch immer hintrachte.“ Ebd. 629 Jeweils ebd., S. 216. 630 Siehe Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia Bd. 5 (wie Anm. 47, S. 36), S. 136–144. 631 Auf ähnliche Weise argumentierte Andreß, vgl. Krenz: Beitrag (wie Anm. 520, S. 222), S. 285.
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ist für ihn jedoch vor allem, dass nur geeignete Kandidaten zur Priesterausbildung zugelassen werden dürfen, da nur sie der Aufgabe als Volkslehrer gerecht werden können. Im Unterschied zu Castellos Auffassung sollte die bei der Trierer Seminarreform festgelegte Zugangsbeschränkung in erster Linie die Versorgung der künftigen Geistlichen sicherstellen. Die Eignungsprüfung fand aber erst ab 1787 ihre volle Anwendung.⁶³² Dass Castello mit der Seminarausbildung trotz der Reformen noch nicht zufrieden war, macht nicht nur sein harsches Urteil über die pädagogische Eignung mancher Oberen deutlich, sondern auch seine Kritik an der Seminarlektüre. Diese war ihm noch zu stark durch jesuitische Autoren und christliche Mystiker geprägt. Er findet sie als Grundlage für die Ausbildung von Landgeistlichen ungeeignet, denn diese müssten „Menschenkenntniße“ sammeln können. Doch „alle anderen Bücher“, womit er die Werke katholischer Aufklärer gemeint haben wird, würden umgehend „confiscirt“. Castello warnt davor, das Interesse der jungen Männer an „den Wissenschaften“ verkümmern zu lassen, indem sie mit „trocknen Traktätten und schwermerischen Asceten“ gelangweilt würden. Stattdessen plädiert er dafür, in den Priesterseminaren Bibliotheken einzurichten: Ein „einsichtiger Director würde Journalien, Periodische Schriften, Philosophische Werke, gute Dichter, ausgesuchte Comoedien und Romanen anschaffen.“⁶³³ Gerade anhand der letzten beiden Gattungen könnten die angehenden Seelsorger den menschlichen Charakter gewinnbringend studieren. Diesen Vorschlag, die Bibliothek um zeitgenössische Werke zu erweitern, versuchte Castello später als Subregens umzusetzen, was ihm letztlich mit zum Verhängnis wurde. Wie schon die Beschreibung der ‚elenden Lage‘ der Kapläne zeigte, ist ihm bewusst, dass die beste Ausbildung nichts nutzt, wenn die Lebensverhältnisse der künftigen Pfarrer nicht angemessen sind. Er bemängelt die Altersunterschiede, die es bei Antritt der Pfarrstelle unter den Kandidaten gebe und führt diese auf das Patronatsrecht zurück. Dieses sorgt seiner Meinung nach für die „schädlichsten Eingriffe“ ins Kirchenwesen. Das Recht, über die Besetzung von Pfarrstellen zu entscheiden, liegt für ihn eindeutig allein beim Bischof. Er verfolgt damit die Linie des Emser Kongresses, dessen Ziel ebenfalls gewesen war, „den Bischöfen für die Reform des Klerus und für ihre Personalpolitik freiere Hand zu schaffen.“⁶³⁴
632 Vgl. Reichert: Seminarreform (wie Anm. 49, S. 37), S. 189. 633 Jeweils Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 217. 634 Steinruck: Bemühungen (wie Anm. 403, S. 195), S. 878. Lichter merkt an, dass das Patronatsrecht über Hundsangen, wo Castello Kaplan gewesen war, die von Walderdorff ausübten, weshalb er ohne Schwierigkeiten die Stelle als Hofmeister bei ihnen antreten konnte, vgl. Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), Anm. 144, S. 219. Zum Pfarreiensystem im Erzbistum und der Stellenbesetzung siehe Kapitel 2.1.
246 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Auch die divergierenden Einkünfte, die die Pfarrer zu erwarten hatten, waren eng mit der unterschiedlichen Besetzungspolitik der Pfarrstellen verbunden. Nur wenige seien ausreichend versorgt, bemängelt Castello. Ein Problem sieht er auch in der Zusammensetzung der Einkünfte aus dem Zehnt und der eigenen Wirtschaft der Pfarrer: Ersterer führe zu andauernden Streitigkeiten mit den Mitgliedern seiner Gemeinde. Über Letzteres, den Ackerbau und die Viehzucht, habe der Pfarrer schlicht nicht die nötige Kenntnis. Die Auffassung vieler Volksaufklärer, der Pfarrer könne bei neuen Anbaumethoden und dergleichen mehr mit gutem Beispiel seinen Bauern vorangehen, scheint Castello nicht geteilt zu haben. Trotz der ungünstigen finanziellen Verhältnisse müsse man jedoch beobachten, so Castello weiter, dass auch die Geistlichen sich ihre Wohnungen mit immer mehr Luxus einrichten wollten. Diese Eigennützigkeit ließe ihn in der Achtung der Bauern sinken, was weitere Streitigkeiten provoziere. Doch auch in diesem Fall kann Castello eine Lösung für die Probleme präsentieren: „Allen diesen Üblen kann nur dardurch gesteuert werden, wenn jedem Pfarrer ein Gehalt an baarem Gelde von der fürstlichen Kammer gereicht wird, wenn er keinen Feldbau als etwa nur einen Garten zu seiner Beschäftigung hätte, wenn er keine Stohlengebühren mehr nehmen dürfte.“⁶³⁵ Dass ein staatliches Einkommen die finanziellen Schwierigkeiten der Pfarrer oft nicht linderte, sondern vergrößerte, zeigte einige Jahre später die Praxis der französischen Zeit. Castello hingegen erscheint es zu diesem Zeitpunkt zweckmäßiger, die Pfarrer aus ihrer Abhängigkeit zur dörflichen Umgebung herauszulösen. Obwohl oder gerade weil er die Nähe zwischen dem Seelsorger und den Dorfbewohnern zur Beförderung einer vernünftigeren Religion als nützlich und notwendig erachtete, wollte er die Beziehung frei von finanziellen Verbindungen halten. Ähnlich wie bei den Kaplänen beklagte Castello bei den Pfarrern den Mangel an adäquater Gesellschaft auf dem Land. Waren seine Kenntnisse und sein Wissensdrang nicht bereits während seiner Zeit als Kaplan verloren gegangen, so fehlten ihm nun erst recht Gesprächspartner zum Gedankenaustausch. Zwischen den Pfarrern und den weltlichen Beamten, die vom Bildungsstand her anregende Gesellschaft hätten sein können, würden häufig Animositäten herrschen, was meist am „Hochmuth“ der Amtmänner liege: „Weil er den armen Bauern strafen, in den Thurm sperren oder sonst despotisch behandlen kann“, fühle sich der Amtmann als „unumschränkter Herr“ und nicht mehr als „Diener eines Fürsten“, der er bloß sei. Da „Zusammenkünfte[…] auf eine nüchterne und freundschaftliche Unter-
635 Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 220. Zum Einkommen der Pfarrer siehe Kapitel 2.1.
3.2 Die Bekämpfung des Aberglaubens: Der Priester als Aufklärer
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redung[…]“⁶³⁶ noch unbekannt wären, wie Castello ironisch bemerkt, böten auch seltene Treffen mit den Pfarrkollegen dem „Geist nicht ein Quintel Nahrung“⁶³⁷. Womit sich die Landgeistlichen ansonsten in ihrer freien Zeit beschäftigen würden, sei unterschiedlich: Einer versinke in Langweile und Melancholie, ein anderer „beschäftiget sich mit Oekonomie“ und „der 3te mit Bücher[n]; diese sind gut oder nicht gewählt, demnach er mehr oder weniger aufgeklärt ist.“ Ausdrücklich lobt Castello Pfarrer, die in dieser Zeit „Hausbesuche“ bei den Mitgliedern ihrer Gemeinden machen würden. Auf diese Weise lerne er „seine Leute kennen“ und könne ihnen „in einem vertrauten Gespräche die nützlichsten Unterrichte“⁶³⁸ geben. Er bedauert, dass bislang kaum ein Pfarrer davon Gebrauch machen würde. In diesen Besuchen manifestiert sich für ihn das Idealbild des Pfarrers, den er „als den Vater einer zahlreichen Familie“ beschreibt, „die seinen Trost, seine Hilfe, seinen Unterricht bedarf.“ Noch viel zu wenige hätten allerdings diese Amtsauffassung verinnerlicht: Diese würden „nicht zweckmäßig arbeiten“ und all ihre „Verrichtungen nur mechanisch ohne Gefühl der Andacht und der Liebe thun.“⁶³⁹ Der Landdechant, der den Pfarrer dabei unterstützen könnte, seiner neuen Rolle gerecht zu werden, wäre keine Hilfe, bedauert Castello. Auch die jährlichen Zusammenkünfte in den Landkapiteln seien zu einem reinen „Kinderspiel“⁶⁴⁰ verkommen – ein Problem, dessen man sich in der geistlichen Verwaltung bewusst war.⁶⁴¹ „Wie ist die Aufklärung unter die Landgeistlichkeit zu bringen?“ Sowohl die Erziehung der angehenden Geistlichen als auch ihre späteren Lebensumstände wirkten sich aus Castellos Sicht ungünstig auf ihren eigenen Wissensstand sowie auf die ihnen zugedachte Aufgabe, die Bevölkerung aufzuklären, aus. Darum entwickelte Castello im Anschluss konkrete Vorschläge, was getan werden müsste, um die Pfarrer mit aufklärerischen Ideen in Kontakt zu bringen und aus ihnen ihrerseits Volksaufklärer zu machen.
636 Jeweils ebd., S. 221. 637 Ebd., S. 222. 638 Jeweils ebd., S. 222. 639 Jeweils ebd., S. 223. 640 Ebd., S. 223. Besonders negativ beurteilt Castello die Mitglieder des Konsistoriums bzw. des Offizialats: Diese hätten „meistentheils mehr Stolz als Kenntnisse von dem Amt und der Lage eines Pfarrers. Sie sehen deßwegen sehr tief auf ihn herab, behandlen ihn despotisch und verächtlich.“ Ebd. 641 Zu den Aufgaben der Dechanten und den regelmäßig abzuhaltenden Landkapitelversammlungen siehe Kapitel 2.1.
248 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Dazu müsse zunächst einmal verhindert werden, dass sich eine „Unempfindlichkeit gegen Wissenschaften und schöne Künste“⁶⁴² unter den Pfarrern behaupten könne, da nichts schädlicher für die Aufklärung sei. Dieses Desinteresse sei entweder auf eine charakterliche Schwäche des Pfarrers oder dessen ausschweifenden Lebensstil zurückzuführen. Erstere entspringe einer „Trägheit“ des Geistes und bringe tief „eingewurzelte Vorurtheile“ gegenüber unbekannten Dingen hervor. Geselle sich zu diesem trägen, vorurteilsbehafteten Geist noch die „Bigotterie, die Schwester der Dumheit,“ sei der Pfarrer im Grunde verloren, da er nun das „Licht“ der Aufklärung endgültig scheue. Aus Opportunismus gegenüber der „höheren Geistlichkeit“ würde er nur noch deren „kriechender Nachahmer.“⁶⁴³ Im zweiten Fall sei hingegen sein „Hang zu gröberer Sinnlichkeit“ das Problem, denn „wilde Leidenschaften“ hätten immer „die moralische Erschlaffung zu ihrem Gefolge.“ Dadurch würden jedoch „edlere Neigungen“ verkümmern und „der Mangel an Empfindsamkeit […] einen Schleyer über die schönen Kenntniße“ ziehen. Aufgrund des Mangels an guter Gesellschaft, gelehrter Korrespondenz sowie der alltäglichen Sorgen würde schließlich auch hier „ein schwarzes Dunkel“ heraufziehen, das nur noch schwer durch „Strahlen“⁶⁴⁴ der Erkenntnis durchbrochen werden könnte. In beiden Fälle greift Castello auf die übliche Licht-Metaphorik der Aufklärung zurück, um aufzeigen, weshalb ein Interesse an Wissenschaften und Künsten bei den Pfarrern zwingend geweckt bzw. aufrechterhalten werden muss, sollten nicht ganze Landstriche unwiederbringlich in Unwissenheit verhaftet bleiben. Die Dramatik der Darstellung zielt darauf ab, seinen Verbesserungsvorschlägen die nötige Dringlichkeit und Konsequenz zu verleihen. So fordert er, nur diejenigen zu Landdechanten zu ernennen, die in den Wissenschaften bewandert und diesen zugewandt seien, sodass sie für die Pfarrer ihres Kapitels ein entsprechendes Vorbild darstellen können. Auch sollte in den Hauptorten der jeweiligen Landkapitel eine „Bibliothec von periodischen Schriften und Erziehungs- und Schul-Plänen, Oekonomische Bücher, gute Kanzelreden etc. etc.“ angelegt werden. Um einen recht einfachen Zugang zu den angeschafften Schriften zu erhalten, sollten jeden Monat ein oder zwei von ihnen im Kapitel zirkulieren.⁶⁴⁵ Dass es sich dabei weniger um ein wohlmeinendes Angebot als um eine Lektürepflicht handelte, zeigt Castellos
642 Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 223. 643 Jeweils ebd., S. 224. 644 Jeweils ebd., S. 224. 645 Im Zuge seiner Priester- und Seelsorgereform verordnete 1808 der Generalvikar des Bistums Konstanz, Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774–1860), in jedem Landkapitel solle eine Lesegesellschaft gegründet werden. Auch Hommer regte als Bischof die Gründung von Lesegesellschaften in den Dekanaten an. Diese sollten, neben anderen Maßnahmen, den Austausch der Priester untereinander verstärken. Vgl. Bernhard Schneider: Lesegesellschaften des Klerus im frühen 19.
3.2 Die Bekämpfung des Aberglaubens: Der Priester als Aufklärer
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Anregung, der Dechant solle sich bei seinen Visitationen regelmäßig die Exzerpte ihres Lesestoffs von den Pfarrern vorlegen lassen. Zusätzlich sollten die Dechanten mit den Pfarrern ihres Landkapitels eine regelmäßige Korrespondenz unterhalten, „worin über das Gelesene oder auch über andere Gegenstände Erklärung geschehen könnte.“⁶⁴⁶ Castello war sich folglich bewusst, dass zur Verbreitung der Aufklärung ein entsprechendes kommunikatives Umfeld geschaffen werden musste, um einen Ideenaustausch zu ermöglichen und anzuregen. Dass ihm insbesondere der Zugang zu Büchern und Zeitschriften ein Hauptanliegen war, zieht sich durch die ganze Untersuchung. Als Mitglied der Lesegesellschaft konnte er deren Stellenwert gar nicht hoch genug einschätzen. Darum betonte er auch, dass es für die Verwirklichung seiner Vorschläge wichtig sei, dass auch bei geistlichen Verwaltungsstellen wie dem Offizialat Männer beschäftigt seien, „die nicht erst Aufklärung nothwendig hätten, die mithin etwas mehr Einsicht haben, als aus einem schwermerischen Asceten oder trockenen Schul-Compendio zu schöpfen ist.“ Denn ansonsten bestünde die Gefahr, dass diese „ein zu aengstiges Verbot gewisser Bücher“⁶⁴⁷ veranlassen würden, wodurch sowohl die Bibliotheken als auch die Lesezirkel ihren Zweck nicht erfüllen könnten. Dass die Zensur zu restriktiv sei, kritisierte Castello demnach nicht erst in seiner Dissertation, die nach der Zensurverschärfung im Zuge der Revolution erschien.⁶⁴⁸ Ausdrücklich weist er darauf hin, dass insbesondere jenes Vorurteil widerlegt werden müsse, demzufolge „man diejenige[n], die ihre Zeit dem Lesen widmen, als gefährlich“⁶⁴⁹ ansehe. Mit diesem Vorurteil spielte er auf die im 18. Jahrhundert aufkommende Besorgnis an, es könnte sich unter dem Eindruck eines wachsenden Buchmarktes und einer immer größer werdenden Leserschaft eine regelrechte ‚Lesesucht‘ herausbilden, die sich vor allem im Konsum von für die Sittlichkeit und Moral schädlicher Unterhaltungsliteratur niederschlage. Die Kontrolle des Angebots wurde durch die zahlreichen Publikationen und neuen literarischen Gattungen, die auch in katholischen Territorien entstanden, erschwert, wodurch gleichzeitig in den Augen orthodoxer Katholiken der Zugang zu vermeintlich religionsgefährdenden Schriften erleichtert wurde.⁶⁵⁰
Jahrhundert: Ein Beitrag zur historischen Kommunikationsforschung, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 49 (1997), S. 155–177, hier S. 156–159. 646 Jeweils Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 224. 647 Jeweils ebd., S. 224. 648 Zur Zensur im Kurfürstentum Trier siehe Kapitel 2.2. 649 Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 224. 650 Als neue literarischen Gattung nennt Haefs z. B. die Predigtsatire, die sich im katholischen Raum wachsender Beliebtheit erfreute, vgl. Haefs: Charfreytagsprocession (wie Anm. 135, S. 58), S. 42. Siehe auch Kapitel 2.2. Vgl. auch Müller: Die Aufklärung (wie Anm. 39, S. 12), S. 34–35.
250 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Um die Seriosität seiner Vorschläge aufzuzeigen, stellt Castello, ganz als „Kameralist“⁶⁵¹ argumentierend, einen Finanzierungsplan für die Bibliotheken auf. So müsste bei 20 Pfarrern eines Landkapitels jeder jährlich nur 2 Reichstaler zahlen, um genug Einnahmen für erste Anschaffungen zu haben. Jedoch solle man stets nur ungefähr die Hälfte in neue Bücher investieren, um genug für den Boten übrig zu haben, „der alle Monathe neue Stüke bringen und das Gelesene zurückbringen müßte“. Wenn zusätzlich noch jeder Pfarrer bei Amtsantritt sowie im Todesfall eine gewisse Summe einzahle, käme innerhalb von 20 Jahren „die Büchersamllung [sic] zu einem merklichen Anwachs“, ohne jemanden in Unkosten zu stürzen. Im nächsten Schritt könnten für den Anfang „die Kirchenväter, die Concilien, gute Exegeten, Kirchengeschichte, Profangeschichte, gute Kanzelreden, Oekonomische Bücher, Polizey der Dörfer und dergleichen“⁶⁵² angeschafft werden. Im Gegensatz zu seinem Plädoyer, mit Seminaristen auch die zeitgenössische Belletristik zu lesen, nehmen sich an dieser Stelle seine Anschaffungsvorschläge sehr zurückhaltend aus: In erster Linie sollten in den Dekanaten Fachbibliotheken entstehen, deren Erweiterung hin zu anderer Literatur allerdings nicht ausgeschlossen war. Dass auch die intensive Lektüre der Kirchenväter, der Konzilstexte oder der Geschichtsbücher ‚gefährlich‘ sein konnte, weil auf ihrer Grundlage der Primat des Papstes, die Stellung der Mönchsorden oder die bisherige Bußpraxis angezweifelt werden konnten, war den Kreisen orthodoxer Katholiken allerdings nur zu bewusst. Romane wie die Mönchsbriefe gaben davon auch einem breiteren Publikum beredetes Zeugnis ab. Die Konzeption der Dekanats- als Fachbibliotheken ergab sich auch daraus, dass die Pfarrer nicht zum reinen Selbstzweck lesen sollten. Castello wollte es nicht nur dem Zufall überlassen, ob und inwiefern sie ihr angelesenes Wissen auch anderen zur Verfügung stellen und „zu den Studien einen Beitrag thun“ würden. Ihm erscheint es sinnvoll, die Pfarrer zur Unterstützung der Wissenschaft heranzuziehen, da es in diesem Bereich „noch unendlich viele Stücke“ gebe, die bislang nicht bearbeitet, aber gleichwohl von Interesse seien. Die „Gelehrten der Stund“ hätte jedoch entweder zu viel andere Arbeit „oder es gehen ihnen die Materialien ab, die sich nur auf dem Lande darbieten.“⁶⁵³ Mit dieser Bemerkung bringt Castello eine gewisse Wertschätzung für den Wert und den Nutzen eigener Anschauung zum Ausdruck. Forschungsgegenstände, die in irgendeiner Weise die ländliche Umgebung betreffen, sollten nicht vom Lehnstuhl der Gelehrten aus
651 Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 224. Anders als Lichter vermutet, will Castello nur zum Ausdruck bringen, einen soliden Finanzierungshaushalt aufgestellt zu haben. 652 Jeweils ebd., S. 225. 653 Jeweils ebd., S. 225.
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behandelt werden, sondern vor Ort. Nicht ohne Grund verweist er mehrmals in seiner Untersuchung auf seine eigene Empirie. Eine derart zweckdienliche und der Aufklärung dienende Beschäftigung besteht für ihn beispielsweise in einer genauen Darstellung der „Geschichte unseres Vaterlandes“, womit er in erster Linie eine statistische Darstellung zu meinen scheint. Eine solche Aufstellung wünsche man sich schon länger, doch habe niemand als die Pfarrer vor Ort einen Einblick in „die Entstehung einzelner Dörfer und Flecken“, deren Zuwachs sowie „die Zahl der Einwohner und den Nahrungsstand eines jeglichen Orts“. Auch zu welcher Herrschaft ein Dorf gehöre, könne so nachgewiesen werden. Ebenso könnte auf diese Weise ein systematischer Überblick über die jeweilige „Beschaffenheit des Erdbodens“ oder der „Güte einer Frucht an einem Ort vor dem andern“⁶⁵⁴ gewonnen werden. Castello dachte dabei wahrscheinlich auch an eine Hilfestellung für die Bauern, weil eine derartige Systematik ihnen als Grundlage dienen konnte, die Aussaat auf die Qualität ihrer Ackerböden abzustimmen. Auf diese Weise konnten die Pfarrer auch dahingehend der Volksaufklärung dienlich sein, dass sie die „historische Erinnerung“⁶⁵⁵ an alte Verfahren oder Techniken wachhielten, die sonst in Vergessenheit geraten oder nie über den engsten regionalen Rahmen hinaus bekannt geworden wären. Des Weiteren schlägt Castello vor, die Pfarrer könnten sich der „Geschichte jeder Pfarrey“ widmen. Darin sollten sie ihr Alter und den Ursprung, die Einkünfte sowie die Namen und Verdienste ihrer Vorgänger festhalten. Er sah darin wohl einen nützlichen Lerngewinn für die Seelsorger, da sie sich neben der Frage, „wie es mit dem Orte zur Zeit der Reformation stund“⁶⁵⁶, auch damit beschäftigen sollten, „was jeder Pfarrer in seinem Amte besonders erfahren hat.“⁶⁵⁷ Die Beschäftigung mit der Vergangenheit ihrer Pfarrei und der ihrer Vorgänger sollten ihnen Handlungsmöglichkeiten für gegenwärtige Probleme aufzeigen. Indirekt empfiehlt er den Pfarrern, stets ihre eigenen Beobachtungen und „Erfahrungen in ihrem Amte“ aufzuzeichnen, damit kommende Generationen davon profitieren könnten, welche Wege sie eingeschlagen hätten, „einem herrschenden Laster Einhalt zu thun, eine jede Gattung von Menschen zu behandelen in dem Unterrichte, in dem Krankenbette, oder wo es sonst ist.“⁶⁵⁸ Als drittes Beispiel einer sinnvollen wissenschaftlichen Beschäftigung führt Castello die Botanik sowie die Ökonomie an. Diese würden „ansehnliche Vorteile“ daraus ziehen können, wenn die Pfarrer „alle neue[n] Versuche, oder auch 654 655 656 657 658
Jeweils ebd., S. 225. Warnke: Pfarrer (wie Anm. 496, S. 217), S. 86. Jeweils Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 225. Ebd., S. 225 f. Jeweils ebd., S. 226.
252 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an schon verjährte, glückliche Unternehmungen im Ackerbau oder Pflanzung verschiedener Gewächse“ aufzeichnen würden. Castello ist sich sicher, dass „jeder, der auf die Ausbreitung der Wissenschaften denkt, etwas finden [wird], das ihm Stoff giebt, etwas nützliches zu schreiben“, um so seinen jeweils eigenen Beitrag zur Volksaufklärung zu leisten. Für Castello, dem die Sakralität des Amtes nicht mehr ausreichte, um die besondere Stellung der Pfarrer zu rechtfertigen, konnte „das Priesterthum ein weit herrlicheres Ansehen bekommen, wenn es von lauter solchen Männern getragen würde, die durch ihren Stand sowohl als durch ihre Arbeit ehrwürdig wären.“⁶⁵⁹ Der Pfarrer als Volksaufklärer Ludwig Bertrand Prestinary agierte ganz in diesem Sinne, das Ansehen der Pfarrer durch praktisches Handeln zum Wohl der Bevölkerung zu steigern, als er 1794 öffentlich für die Vorteile einer allgemeinen Brandversicherung eintrat. Prestinary hatte in Trier Theologie studiert und war seit 1783 Pfarrer der Stadtpfarrei St. Gangolf. 1785 trat er der Lesegesellschaft bei.⁶⁶⁰ Bereits 1783 hatte Kurfürst Clemens Wenzeslaus die Gründung eines Brandversicherungsinstitutes verordnet, in dem „sämtliche Gebäude versichert werden sollten.“⁶⁶¹ Derartige Brandversicherungen wurden im 18. Jahrhundert immer häufiger durch die Landesherren initiiert und waren erste Vorläufer eines „staatlich geförderte[n] und an die Eigeninitiative sozialer Gruppen appellierende[n]“⁶⁶², modernen Versicherungswesens. Da Brände aufgrund der engen Bebauung und der Verwendung leicht entflammbarer Materialien ein erhebliches Sicherheits- und Armutsrisiko darstellten, sollten die Versicherungen dabei helfen, den sozialen Absturz der Betroffenen im Brandfall zu vermeiden. Die Relevanz des Themas zeigt sich auch an den vielen volksaufklärerischen Schriften, die den richtigen Umgang mit Feuer oder die Vermeidung von Feuersbrünsten lehren sollten.⁶⁶³ Hinzu kam, dass die Versorgung der Armen in
659 Jeweils Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 226. 660 Vgl. Tilgner: Lesegesellschaften (wie Anm. 48, S. 14), S. 426. Er war außerdem Mitglied der philosophischen Fakultät, Präfekt des Priesterseminars und kurzzeitig auch des Gymnasiums gewesen. Laut Reichert wurde er im Zuge der Studien- und Seminarreform für das Amt des Regens vorgeschlagen, konnte jedoch mit seinem Gutachten zur Reform nicht überzeugen, vgl. Reichert: Seminarreform (wie Anm. 49, S. 37), S. 163–164. 661 Birtsch: Unruhen (wie Anm. 5, S. 2), S. 145. 662 Müller: Die Aufklärung (wie Anm. 39, S. 12), S. 60. Konkret hatten die Brandversicherungen ihre Vorläufer in der 1676 gegründeten Hamburger Feuerkasse sowie der Berliner Feuerkasse von 1718. 663 Vgl. Warnke: Pfarrer (wie Anm. 496, S. 217), S. 74–75. So verfasste beispielsweise der Pastor und Lehrer Andreas Jakob Hecker (1746–1819) 1788 das Traktat Grundsätze über die Anwendung
3.2 Die Bekämpfung des Aberglaubens: Der Priester als Aufklärer | 253
der Regel in die Zuständigkeit der Pfarrer fiel, weshalb sich viele von ihnen auch mit Fragen des Versicherungswesens beschäftigten.⁶⁶⁴ Obwohl es auch im Kurfürstentum wiederholt zu großen Schäden durch Brände gekommen war, gab es erheblichen Widerstand gegen eine Brandversicherung. Sowohl der Hofrat, das Domkapitel, die kurfürstlichen Schöffen als auch die Zünfte lehnten die Pläne des Kurfürsten ab und der Trierer Magistrat übergab ihm zahlreiche Eingaben der Bürger, die einen Beitritt zur Versicherung verweigern wollten. Die Gegner argumentierten mit der hohen Abgabenlast auf die Häuser der Bürger, sinkender Einnahmen sowie einer allgemein schlechten wirtschaftlichen Lage der Stadt, was es vielen Bürgern unmöglich machen würde, die Versicherungsbeiträge zu zahlen. Der Konflikt schaukelte sich hoch, doch Clemens Wenzeslaus erneuerte im März 1785 den Befehl, die Gebäude für die Versicherung taxieren zu lassen. Nach „Androhung einer beträchtlichen Geldstrafe sowie militärischer Exekution im Weigerungsfall“⁶⁶⁵ erklärten zwar Hofrat und Magistrat ihren Beitritt zur Versicherung, die Zünfte verweigerten sich allerdings weiterhin. Dabei hatte der Kurfürst mittlerweile einer Versicherung auf freiwilliger Basis zugestimmt. Letztlich konnte die Schätzung der Gebäude ohne Zwischenfälle vorgenommen werden, aber die Brandversicherung blieb im gesamten Kurfürstentum unbeliebt, sodass 1785 weniger als ein Drittel der Gebäude versichert waren. Insbesondere in Trier bestand nach Aussage des Magistrats 1792 die Gefahr, die Versicherung könnte sich aufgrund zu geringer Mitgliederzahlen nicht mehr tragen.⁶⁶⁶ Vor diesem Hintergrund und weil im August 1792 im Bezirk seiner Pfarrei eine Feuersbrunst „schreckbar ausgebrochen“⁶⁶⁷ sei, fühlte sich Prestinary verpflichtet, eine Einrichtung wie die Brandversicherung, die sich in seinen Augen an den Maßstäben der Vernunft orientierte, zu verteidigen. Aus diesem Anlass habe er das Thema zunächst in einer Predigt behandelt, dann aber bald wahrgenommen, „daß man wünschte, dergleichen Belehrung im Druck zu haben; und dies aus der Ursache, jeder würde alsdann in den Stand gesetzet seyn, nicht allein sich, sondern auch andere mit jenem so wohlthätigen Institut genauer bekannt zu machen, wodurch endlich die Stimmung für dasselbe würde ganz allgemein werden.“
und Regierung des Feuers. 1797 veröffentlichte ebenfalls ein protestantischer Pastor, Friedrich Christian Heinrich Küchelbecker (1766–1836), ein Feuerbüchlein oder kurze Anweisung für Bürger und Landleute wie sie sich vor, während und nach einer Feuersbrunst zu verhalten haben. 664 Vgl. ebd., S. 83 f. Trotz der Zentralisierung des Fürsorgewesens „behielten die Pfarreien und die Geistlichkeit […] im Erzbistum Trier für die Almosenverteilung ihre große Bedeutung.“ Schmidt: Caritas (wie Anm. 172, S. 146), S. 455. 665 Birtsch: Unruhen (wie Anm. 5, S. 2), S. 146. 666 Vgl. Rapp: Stadtverfassung (wie Anm. 18, S. 29), Anm. 87, S. 200. 667 Prestinary: Pflicht (wie Anm. 74, S. 20), o. S.
254 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Prestinary hatte sich das Ziel gesetzt, die Bevölkerung von „den mildväterlichen Absichten unsers gnädigsten Landesfürsten“⁶⁶⁸ und den Vorteilen einer solchen Versicherung zu überzeugen. Diese Aufgabe gestaltete sich 1794 nicht einfach, denn in den Jahren zuvor entzündeten sich in der Stadt Trier wiederholt Unruhen an der kurfürstlichen Politik, die vor allem von den Zünften ausgingen.⁶⁶⁹ Ob von Seiten der Regierung an Prestinary die Bitte herangetragen worden war, seine ‚Belehrung‘ drucken zu lassen, um einen größeren Adressatenkreis zu erreichen oder ob sie möglicherweise von seinen Zuhörern kam, lässt er offen. Dass es ihm im wörtlichen Sinne um Volksaufklärung ging, zeigt seine für die Darstellung gewählte Form: „Es ist hauptsächlich eine Lehre fürs Volk, und Volkslehren erfordern die Volkssprache, diesem Zwecke mich zu nähern, wählte ich vorzüglich die katechetische Abfassungsart“⁶⁷⁰. Obwohl auch die Predigten auf Deutsch gehalten wurden, fühlte sich Prestinary anscheinend verpflichtet klarzustellen, dass er keine lateinische Abhandlung über Vor- und Nachteile einer Brandversicherung verfasst habe, sondern einen für jedermann leicht zugänglichen Text. Aus diesem Grund war die Form des ‚verweltlichten‘ Katechismus in der Volksaufklärung beliebt, da so leichter auf die Lesegewohnheiten der einfachen Bevölkerung Rücksicht genommen werden konnte. Neben „Feld- und Ackerbaukatechismen“ wurde eine Vielzahl anderer Themen auf diese Weise behandelt. „In Frage und Antwort, so wie er es aus dem Unterricht von Schulmeister und Pfarrer kannte, sollte dem Bauern die Botschaft der Volksaufklärer nähergebracht werden.“⁶⁷¹ Was dem Bauern das Zuhören oder Lesen erleichterte, half allerdings genauso dem Handwerker oder wohlhabenderen Bürger, weshalb Prestinary bewusst die „gemeinfaßlichste“ Abfassungsart wählte, um möglichst viele zu erreichen. Die Frage-Antwort-Struktur entspreche nicht nur der Gewohnheit, führt Prestinary weiter aus, sondern „lasse den Vortrag immer in solcher Kürze erscheinen“, was ihn sogar „kindlichen Begriffsfähigkeiten“⁶⁷² fassbar mache. Zudem unterstütze die sich stets wiederholende Abfolge die Aufmerksamkeit, was es gerade Ungeübten erleichtere, einem längeren Vortrag zu folgen. Aus der am Katechismus orientierten Form ergibt sich der kleinschrittige Textaufbau, der den klaren didaktischen Impetus des Werkes widerspiegelt und auf leicht verständlich sowohl die Vorteile der Versicherung nennt als auch die vermeintlichen Nachteile entkräftet. Damit seinen Zuhörern und Lesern von Anfang 668 Prestinary: Pflicht (wie Anm. 74, S. 20), S. 59. 669 Vgl. dazu ausführlicher Birtsch: Unruhen (wie Anm. 5, S. 2); Rapp: Stadtverfassung (wie Anm. 18, S. 29), S. 197–217. 670 Prestinary: Pflicht (wie Anm. 74, S. 20), o. S. 671 Jeweils Böning: Aufklärung (wie Anm. 68, S. 42), S. 18. 672 Jeweils Prestinary: Pflicht (wie Anm. 74, S. 20), o. S.
3.2 Die Bekämpfung des Aberglaubens: Der Priester als Aufklärer | 255
klar ist, was sie im Folgenden erwarten wird, definiert Prestinary zunächst den „Endzweck der Brandversicherungs-Gesellschaft“, der darin bestünde, allen darin Versicherten „den an ihren Gebäulichkeiten erlittenen Brandschaden durch einen gemeinschaftlichen Beytrag zu ersetzen, und ihnen im Brandunglücke wiederum zur tröstlichen Aushilfe zu seyn.“⁶⁷³ Prestinary beschränkt sich jedoch nicht darauf, allein mit Vernunft für einen Eintritt in die Versicherung zu werben, sondern verbindet dies mit theologischen Argumenten. Auf diese Weise macht er aus einem rein weltlichen Thema einen Akt religiöser Volkserziehung: Die Brandversicherungsgesellschaft sei „im Grund nichts anders, als Ausübung der Nächstenliebe.“⁶⁷⁴ Deshalb sei ihr Zweck, den Betroffenen mittels eines gemeinschaftlichen Betrages ihren Schaden zu ersetzen, nicht nur „heilsam“, weil den Geschädigten aufgeholfen würde. Er sei vielmehr auch „gottselig, weil diese gemeinschaftliche Hilfleistung eine wahre Ausübung der Nächstenliebe“ sei. Auf die katechetische Frage nach Beweisen für diese Interpretation, beruft sich Prestinary auf das Matthäus-Evangelium (Mt. 7, 12), in dem stünde: „Alles was ihr wollet, daß euch die Menschen thun sollen, das thuet auch ihnen.“⁶⁷⁵ Dieses Gebot der Nächstenliebe sieht er paradigmatisch in der Idee einer Brandversicherung verwirklicht: So, wie man im Brandfall den Schaden „durch den gesellschaftlichen Beytrag“ ersetzt bekomme, unterstütze man mit dem eigenen Anteil einen anderen Betroffenen und lasse ihm dieselbe Hilfe zuteil werden. Der Eintritt in die Versicherungsgesellschaft ist für Prestinary darum die Pflicht eines guten Christen, da diejenigen zeigen würden, „daß sie der eben aus dem Evangelium angerühmten Vorschrift der Nächstenliebe auf eine vollkommene Weise nachzukommen suchen.“⁶⁷⁶ Nicht-Versicherte hingegen würden im Brandfall anderen stets nur insoweit helfen, „als es ihrer willkürlichen Freygebigkeit beliebig“⁶⁷⁷ sei. Obwohl – oder gerade weil – Prestinary Geistlicher war, glaubte er augenscheinlich nicht daran, dass jeder das ‚Gebot‘ bzw. die ‚Vorschrift‘ der Nächstenliebe in ausreichendem Maße befolgte, sofern es nicht in gesetzliche Regeln gegossen war. Er stellt ebenfalls klar, dass es ein Verstoß gegen dieses Prinzip sei, beende man die Mitgliedschaft, nachdem man selbst von ihr profitiert hätte.⁶⁷⁸ Wenn auch unausgesprochen, schwingt dabei deutlich die Drohung mit, in diesem Fall ein schlechter Christ mit allen damit verbundenen Konsequenzen zu sein.
673 674 675 676 677 678
Jeweils ebd., S. 5. Ebd., S. 5. Jeweils ebd., S. 7. Jeweils ebd., S. 8. Ebd., S. 9. Siehe ebd., S. 41.
256 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Deshalb appellierte er auch an die Sorge um das eigene Seelenheil, indem er darauf aufmerksam macht, es sei „eine geoffenbarte Wahrheit“, dass „je vollkommener die Ausübung der Nächstenliebe, desto größter […] auch der Verdienst bey Gott“⁶⁷⁹ sei. Doch Prestinary ist im aufgeklärten Sinne nicht nur am Nutzen für das Jenseits gelegen, sondern er weist seine Zuhörer und Leser ausdrücklich auch auf die Vorteile hin, die eine Mitgliedschaft in der Brandversicherung für sie im Diesseits bereithält: Anders als Nichtversicherte hätten sie im Schadensfall stets die Gewährleistung, dass die Brandversicherungsgesellschaft ihnen so viel beisteuert wie nötig. Indem er ausführt, die Mitglieder würden sich sowohl hinsichtlich ihres „Verdienstes bey Gott“ als auch hinsichtlich ihres „zeitlichen Vortheils“⁶⁸⁰ als klug handelnde Menschen erweisen, verbindet er geschickt religiös-theologische Argumente mit Vernunft und stellt beides als harmonisches Ganzes dar. Er erinnert außerdem daran, dass Brandkollekten, aus denen die Geschädigten zuvor Geld erhalten konnten, seit 1783 bzw. 1784 per Verordnung endgültig verboten worden seien. Prestinary begründet das Verbot mit der lästigen und schädlichen Wirkung der Kollekten und beruft sich dabei auf eine Abhandlung des Salzburger Hofrates Philipp Gäng (1760–1805) zu Versicherungsanstalten bei Feuerschäden.⁶⁸¹ Dieser argumentiere, so Prestinary, dass mit den Brandkollekten stets Bettelei verbunden sei, aber nicht jeder betteln wolle und könne. Zudem seien die Almosen oft viel zu gering und das gesamte System anfällig für Missbrauch, was die Freigebigkeit der Menschen zusätzlich einschränke. Auch Prestinary scheint in Bezug auf das Bettel- und Almosensammeln ein rigideres Vorgehen unterstützt zu haben, wie es in den katholischen Territorien teils unter Einfluss aufklärerischer Ideen vollzogen wurde.⁶⁸² Statt dass Menschen aufgrund eines Brandes schuldlos in Not gerieten und zum Betteln gezwungen wurden, wollte er ihnen praktisch, schnell und umfassend helfen, worin er mit der Brandversicherung ein geeignetes Mittel sah. Als abschreckendes Beispiel verweist er immer wieder auf die Gemeinde Polch nahe Mayen, die der Brandversicherung zunächst beigetreten, dann aber wieder ausgetreten und 1793 durch einen verheerenden Brand in Mitleidenschaft gezogen worden sei, den sie jetzt alleine bewältigen müsse.⁶⁸³ Anhand dieses Beispiels kann der Pfarrer seinen Zuhörern und Lesern konkret vor Augen führen, welches
679 Jeweils Prestinary: Pflicht (wie Anm. 74, S. 20), S. 11. 680 Jeweils ebd., S. 11. 681 Gemeint ist: Philipp Gäng: Von Versicherungsanstalten wider Feuerschäden und ihrem Nutzen im Allgemeinen, Salzburg 1792. 682 Siehe dazu Kapitel 3.1.1, Anm. 172. 683 Prestinary: Pflicht (wie Anm. 74, S. 20), S. 12, 37–40.
3.2 Die Bekämpfung des Aberglaubens: Der Priester als Aufklärer | 257
Schicksal ihnen drohen könnte, ließen sie sich von einem ähnlichen „Irrwahn“⁶⁸⁴ leiten wie die Gemeinde Polch. Prestinary beherzigte damit einen Ratschlag, den Bonaventura Andreß 1789 in seinem Prediger-Magazin gab: Der Prediger solle bei der Verbreitung der Aufklärung klug vorgehen, sich an „der Fassungskraft der Zuhörer“ orientieren und etwa die Vorteile einer genossenschaftlichen Brandversicherung „nicht trocken-theoretisch, sondern besser anhand eines kürzlich geschehenen Brandfalls“⁶⁸⁵ in der Nähe erläutern. Ausführlich legt Prestinary im Folgenden dar, welche ökonomischen Vorteile sich für die Mitglieder der Versicherung ergeben würden. So müssten sie sich im Falle eines Brandes nicht verschulden und der Wert ihres Eigentums würde aufgrund der Versicherung sogar ansteigen.⁶⁸⁶ Eindrücklich führt er Zuhörern und Lesern vor Augen, dass sich niemand restlos vor Feuer schützen könnte, da oftmals ein Blitzschlag ausreiche und auch die besten „Löschanstalten“ kein „sicheres Rettungsmittel“⁶⁸⁷ darstellten. In gewisser Weise sind Brände für ihn zwar schicksalhaft, ihre Ursachen sind jedoch natürlichen Gegebenheiten geschuldet und kein Ausdruck göttlichen Willens. Aufgrund der Bauweise ist ein Feuerausbruch schlicht nicht zu vermeiden. In Prestinarys Augen muss der Gedanke, sein Eigentum trotzdem schützen zu können, fast schon eine Form abergläubischen Denkens dargestellt haben. Nachteile hätte darum niemand bei einem Eintritt in die Versicherung zu befürchten, denn es gebe keinen „vernunftmäßigen“ Grund der gegen sie spreche; alle bisher gemachten Einwände hätten sich schlicht als „anscheinende Bedenklichkeiten“⁶⁸⁸ erwiesen. Prestinary beschränkte sich allerdings nicht darauf, diese lediglich als Irrtümer abzukanzeln, sondern er setzte sich ernsthaft
684 Ebd., S. 39. Auch von Regierungsseite aus scheint das Schicksal von Polch für die Brandversicherung instrumentalisiert worden zu sein, wie Prestinarys Zitate der entsprechenden Verlautbarungen zeigen. 685 Jeweils Krenz: Beitrag (wie Anm. 520, S. 222), S. 286. 686 Prestinary zufolge würden Häuser durch die Versicherung ebenfalls zu einer guten Geldanlage werden, weil die Käufer nicht mehr fürchten müssten, im Falle eines Brandes alles zu verlieren. Die steigende Nachfrage steigere den Wert der Häuser zusätzlich. Ausführlich geht er auch auf Hypotheken ein: wegen der Brandversicherung könnten Häuser höher beliehen werden (Prestinary: Pflicht (wie Anm. 74, S. 20), S. 23–29). Möglicherweise war Prestinary mit Adam Smiths (1723–1790) ökonomischen Theorien vertraut. Dessen 1776 erschienenes Werk An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations wurde verstärkt seit den 1790er Jahren in Deutschland rezipiert, war aber schon zuvor bekannt. Vgl. Karl Ballestrem: Adam Smith, München 2001, S. 185. 687 Jeweils Prestinary: Pflicht (wie Anm. 74, S. 20), S. 18. 688 Ebd., S. 30.
258 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an mit ihnen auseinander und suchte sie etwa durch genaue Musterrechnungen zu widerlegen.⁶⁸⁹ Dem städtischen Publikum waren wahrscheinlich seine Erläuterungen zum Verhältnis der Beiträge zwischen Stadt- und Landbewohnern geschuldet. Er erklärte, dass die höhere Brandgefahr auf dem Land in die Berechnung der Beiträge eingeflossen sei, sodass die Stadtbewohner keine Übervorteilung fürchten müssten. Dass man möglicherweise kein exaktes „Ebenmaß“⁶⁹⁰ herstellen könne, versucht er durch eine erneute theologische Argumentation zu entkräften: Der Stadtbewohner solle sich ein Beispiel am barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37) nehmen, der geholfen habe, ohne zu fragen, was er selbst zurückerhalte. Sollten die Beiträge also tatsächlich höher sein, so würde der Städter „dennoch ohne allen Anstand geneigt seyn, solchen Ueberschuß der Nächstenliebe gern aufzuopfern, die er dem Landbewohner als seinem Nebenmenschen um so werkthätiger schuldig ist“⁶⁹¹, da dieser in der Regel stärker unter einem Brand leide. Stellte der Gedanke der Werkfrömmigkeit in Bezug auf Ablässe oder Wallfahrten für Castello ein Problem dar, taugte er Prestinary im Zusammenhang mit der Aufforderung zur tätigen Nächstenliebe als schlagkräftiges Argument zur Beruhigung der Stadtbewohner: Sie sollten eventuell höhere Lasten einfach als frommes Werk auf dem Weg zum ewigen Heil betrachten. Die reine Lehre der katholischen Aufklärung gab es darum nicht, sondern auch überkommene Vorstellungen konnten unter Umständen nützlich sein, um einen höheren Grad der (Volks-)Aufklärung zu erreichen. Im Übrigen müsse auch der reine „Vernunftschluß“⁶⁹² den Stadtbewohner zu der Erkenntnis führen, dass die höhere und häufigere Brandgefahr auf dem Land seine Unterstützung erfordere. Indem Prestinary die Brandversicherung als höchste Ausdrucksform der Nächstenliebe stilisiert, kann er seine Darstellung geschickt mit einem HerrscherLobpreis beenden: Clemens Wenzeslaus habe absichtlich die Versicherung nur auf Freiwilligkeit und Nächstenliebe gegründet, weil sie kein „Werk landesherrlicher Macht“, sondern „ein Denkmal landesväterlicher Liebe“⁶⁹³ sei. Dass zunächst
689 Siehe das Beispiel: Prestinary: Pflicht (wie Anm. 74, S. 20), S. 33. Die Beiträge seien außerdem nicht hoch, würden nur bei erheblichen Brandschäden anfallen und es entstünden ansonsten keine weiteren Kosten. Auch legte er ausführlich das Vorgehen der Versicherung im Brandfall offen: Der Schaden würde zunächst durch einen „Werk- oder Bauverständigen“ (ebd., S. 34) begutachtet, anschließend strecke die Landeskasse den notwendigen Betrag vor und ließe sich diesen wiederum durch die Versicherung zurückzahlen. 690 Ebd., S. 50. 691 Ebd., S. 52. 692 Ebd., S. 53. 693 Jeweils ebd., S. 58.
3.2 Die Bekämpfung des Aberglaubens: Der Priester als Aufklärer | 259
durchaus eine Versicherungspflicht geplant war und der Verzicht darauf nur den Widerstand schwächen und das Vorhaben retten sollte, kann er so elegant unter den Tisch fallen lassen. Das starre Frage-Antwort-Schema des ‚Brandversicherungs-Katechismus‘ sollte die Zuhörer und Leser nicht zum eigenständigen Denken anregen, sondern sie einerseits von den Vorteilen dieser Einrichtung überzeugen und sie andererseits an ihre „geheiligten Pflichten der Unterthanstreue“⁶⁹⁴ erinnern. Pfarrer Prestinary stellte seinen Einsatz zur Volksaufklärung damit aktiv in den Dienst der kurfürstlichen Regierung. Castello hatte seine Untersuchung zu den Hindernissen der Aufklärung mit dem frommen Wunsch⁶⁹⁵ beendet, ein anderer möge seine Vorschläge zur Aufklärung der Geistlichen umsetzen. Für ihn war dies der erste Schritt, um aus ihnen Volksaufklärer und -lehrer zu machen, die den Aberglauben der ländlichen Bevölkerung beseitigen sollten. Als Aufklärer machte er diesen an den üblichen Frömmigkeitsformen wie Ablässen, Wallfahrten oder den Devotionalien der Mönchsorden fest. Ihm war daran gelegen, ein ‚reines‘ Christentum zu befördern, das derartiger Äußerlichkeiten nicht bedurfte. Die entscheidende Rolle kam dabei den Geistlichen zu, weshalb er bestehende Missbräuche im Pfarrwesen umso heftiger kritisierte. Ihm war jedoch bewusst, dass die schwierigen Lebensverhältnisse der Landgeistlichen ihnen erschwerten, an der Aufklärung teilzuhaben und diese Ideen wiederum zu verbreiten. Seine eigenen Erfahrungen als Kaplan erleichterten ihm die Entwicklung konkreter Reformvorschläge: Die Pfarrer sollten Zugang zu Büchern und damit zu Bildung erhalten und die Möglichkeit haben, sich regelmäßig mit ihren Kollegen auszutauschen. Das sollte sie wiederum befähigen, durch eigenes wissenschaftliches Engagement zur Aufklärung beizutragen und ihren gesellschaftlichen Nutzen so unter Beweis zu stellen. Auch für ihn als Pfarrer reichte das Amtscharisma allein nicht mehr aus, um das ‚Ansehen‘ des geistlichen Standes zu begründen. Der späte Entstehungszeitpunkt seiner Untersuchung unmittelbar vor der Französischen Revolution verhinderte umfassendere Reformen zur Verbesserung der Lebensumstände der Landgeistlichen sowie ihrer systematischen Fort- und Weiterbildung. Erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es unter Bischof Hommer – Castellos mutmaßlichem Auftraggeber – zur Gründung von Lesegesellschaften für die Pfarrer eines Dekanats, was Castellos Plänen sehr nahe kam.⁶⁹⁶ 694 Ebd., S. 59. 695 „Meine Wünsche sind niedergeschrieben. Arbeite, wer immer kann, sie zu ihrer Erfüllung zu bringen.“ Castello: Hindernisse (wie Anm. 73, S. 20), S. 226. 696 Hommer förderte die Gründungen, schrieb sie aber nicht vor. Nach Auswertung von Visitations- und Dekanatsakten verzeichnet Schneider: Lesegesellschaften (wie Anm. 645, S. 248), S. 161 für 22 der damals 26 Dekanate Lesegesellschaften.
260 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Gleichwohl gab es schon zuvor Pfarrer wie Prestinary, die von ihrer Kanzel nicht nur über falsche Frömmigkeitsbegriffe predigten, sondern ihre Gemeinden auch über weltliche Themen aufklärten. Prestinary bemühte sich, die Bevölkerung von der vernünftigen und hilfreichen Einrichtung einer Brandversicherung zu überzeugen. Ihm war bewusst, dass seine Argumente nur Gehör finden konnten, wenn er sich an die Gewohnheiten seiner Zuhörer und Leser anpasste, wozu ihm die klare FrageAntwort-Struktur des Katechismus am geeignetsten erschien. Geschickt verband er theologische und profane Argumente und ließ die Mitgliedschaft in der Brandversicherung als Sinnbild vernünftigen Christentums erscheinen. Ähnlich wie bei Castello zeigt sich auch bei ihm ein obrigkeitliches Aufklärungsverständnis: Nicht zum Selbstzweck sollte die einfache Bevölkerung aufgeklärt werden, sondern um sie zu guten Bürgern zu erziehen. Zumindest bei Castello und Prestinary lässt sich daher nur schwer ein mögliches emanzipatorisches Moment der Volksaufklärung erkennen.
3.3 Wie soll der „trierische Knabe“ gebildet werden? Der hohe Stellenwert, der Bildung und Erziehung im 18. Jahrhundert beigemessen wurde, spiegelte sich nicht nur im Bemühen Einzelner um Volksaufklärung wider, sondern mündete ebenso in eine konkrete Reformpolitik. Gemeinsames Ziel war dabei stets die Heranbildung guter und tüchtiger Bürger, die ihrem Landesherren gegenüber loyal und pflichtbewusst waren.⁶⁹⁷ Im Kurfürstentum Trier wurden daher nicht nur die Priesterausbildung und – wenn auch insgesamt nicht sehr erfolgreich – die Universität⁶⁹⁸ reformiert, sondern vor allem das höhere und niedere Schulwesen. Die Reform des Schulwesens im Trierer Erzstift Die Volksschulen waren in der Regel bei den Pfarreien angesiedelt und unterstanden folglich der Aufsicht der Pfarrer. Mittels leicht verständlicher religiöser Texte und Gebete wurde den Schülern Lesen und Schreiben beigebracht sowie rudimentäre Rechenkenntnisse vermittelt. Nach Möglichkeit sollten Mädchen und Jungen getrennt unterrichtet werden, allerdings existierten auf dem Land, anders als in der
697 Vgl. Schnabel-Schüle: Bildungsoffensiven (wie Anm. 167, S. 65), S. 767. Zur Bildung im 18. Jahrhundert allgemein siehe Kapitel 2.2. 698 Aufgrund der weiterhin schlechten Personalsituation sowie der unzureichenden finanziellen und räumlichen Ausstattung – insbesondere der weltlichen Fakultäten – verliefen die meisten Modernisierungsmaßnahmen im Sand, vgl. Trauth: Begegnung (wie Anm. 47, S. 14), S. 339–350.
3.3 Wie soll der „trierische Knabe“ gebildet werden? | 261
Stadt Trier, keine eigenen Mädchenschulen, weshalb alle Kinder die Pfarrschule besuchten. Als Lehrer fungierte meist der Kaplan oder der Küster der Gemeinde, da die ausreichende Besoldung der Lehrer durchweg ein erhebliches Problem darstellte.⁶⁹⁹ Gerade auf dem Land übernahmen darum im 17. Jahrhundert oftmals auch Handwerker, Tagelöhner oder ältere Jungen den Unterricht. Entsprechend gering war das Ansehen, das der Berufsstand genoss. Auch die Lehrer der Gymnasien oder Lateinschulen, die als Vorbereitungsschulen für die Gymnasialklassen dienten, waren meist auf zusätzliche Einnahmequellen angewiesen.⁷⁰⁰ Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts versuchten Clemens Wenzeslaus’ Vorgänger durch mehrere Verordnungen das niedere Schulwesen zu verbessern, wobei sie aber erfolglos blieben. Die Durchsetzung einer Schulpflicht für alle sechs- bis zehnjährigen Kinder scheiterte etwa daran, dass die Mehrzahl der Kinder zu Hause mithelfen musste. Auch die Qualität der Lehrer sollte besser werden, weshalb neue Lehrer nur noch nach vorheriger Überprüfung durch das Offizialat oder Generalvikariat eingestellt werden durften. Allerdings waren auch universitär Gebildete nicht zwangsläufig gute Volksschullehrer, wenn ihre erworbenen Kenntnisse für den Unterricht ungeeignet waren.⁷⁰¹ Ab 1776 sollten die bestehenden Missstände durch eine Reform des Volksschulwesens behoben werden. Maßgeblich daran beteiligt war La Roche, der dem Kurfürsten nahelegte, die Unterrichtsmethoden, die der Abt des Augustiner-Chorherrenstiftes Sagan, Johann Ignaz Felbiger, entwickelte hatte, auch für das Kurfürstentum Trier zu übernehmen. Felbiger war 1765 von Friedrich II. damit beauftragt worden, für die frisch eroberten schlesischen Gebiete Schullehrerseminare sowie ein Schulreglement zu entwickeln. Anfang der 1770er Jahre beauftragte ihn Maria Theresia mit der Reform des Schulwesens in den österreichischen Erblanden und bereits seit 1767 wurden seine Unterrichtsmethoden auch in den Hochstiften Würzburg und Bamberg angewandt.⁷⁰² Auch für die Schulreform im Kurfürstentum 699 Die Eltern mussten Schulgeld zahlen. Ab Ende des 17. Jahrhunderts waren alle Pfarrangehörigen verpflichtet, für den Lebensunterhalt der Lehrer zu zahlen, auch wenn sie keine eigenen Kinder hatten. Trotzdem reichte das Geld nicht für die Schulen, vgl. Franz: Geistes- und Kulturgeschichte (wie Anm. 123, S. 55), S. 268. 700 Vgl. Andrea Fleck: Das einfache Schulwesen, in: Persch/Schneider [Hrsg.]: Bistum Trier Bd. 3 (wie Anm. 49, S. 14), S. 404–411, hier S. 406–408; Franz: Geistes- und Kulturgeschichte (wie Anm. 123, S. 55), S. 268–269. 701 Vgl. Fleck: Schulwesen (wie Anm. 700), S. 408. 1777 unterrichteten an den insgesamt neun Pfarrschulen der Stadt Trier drei Geistliche, die Mitglied des Augustiner-Eremiten-Ordens waren. Auch die anderen Lehrer hatten zumeist das Gymnasium oder die Universität besucht, vgl. Franz: Geistes- und Kulturgeschichte (wie Anm. 123, S. 55), S. 269. 702 Vgl. Holzem: Christentum (wie Anm. 11, S. 4), S. 799; Schnabel-Schüle: Prozess (wie Anm. 78, S. 44), S. 759. Einige der Trierer Reformen waren bereits zuvor im Fürstbistum Augsburg erprobt
262 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Mainz war Felbiger anfangs Vorbild gewesen, wobei angeregt durch die Reformpädagogik von Rousseau und Basedow im Verlauf auch eigene Akzente gesetzt wurden. So ist es wahrscheinlich, dass sich die mit der Durchführung der Schulreform betrauten Beamten oft eklektisch eines breiten Spektrums pädagogischer Literatur bedienten und sich nicht sklavisch an einzelne Konzepte hielten. Ähnlich wie im Falle der Klosterpolitik wird La Roche auch die Mainzer Reformen im Schulwesen gekannt haben und durch diese ebenfalls beeinflusst gewesen sein.⁷⁰³ Trotz je eigener Akzentuierungen war die Felbigersche Lehrmethode längst „[n]ormgebend“⁷⁰⁴ für die Schulreformen in den meisten katholischen Territorien des Reiches geworden. Orientiert an protestantischen Vorbildern setzte Felbiger auf Methoden, die rein mechanisches Lernen zugunsten einer lebenspraktischeren Ausbildung überwinden helfen sollten. In den Vordergrund trat neben der Beschäftigung mit dem Katechismus und dem Lesen nun Schreiben, Rechnen, „das Verfassen eines Aufsatzes oder Briefes, das Ausstellen von Rechnungen und Quittungen, wo möglich ergänzt durch Agrarökonomie oder Handarbeiten.“⁷⁰⁵ Die Lehrer sollten ihren Unterricht dabei an die Möglichkeiten des Kindes anpassen und stärker zu fragend-entwickelnden Methoden greifen. Auch wenn die Unterrichtsgegenstände deutlich säkularer wurden, blieben die Schulen konfessionell geprägt. Ziel der Volksschule war noch immer, gute Katholiken heranzuziehen, gleichwohl diese nun in Religionsdingen aufgeklärt sein und später brauchbare Bürger werden sollten.⁷⁰⁶ Nachdem die Felbigerschen Lehrmethoden zunächst an Stiftsschulen in Koblenz erprobt worden waren, ordnete der Kurfürst ihre Anwendung im Oktober 1776⁷⁰⁷ für das gesamte Kurfürstentum an. Der Katechismus von Felbiger sollte den bisher gebräuchlichen jesuitischen ersetzen.⁷⁰⁸ Allerdings musste das Generalvikariat, wie so oft, in den nächsten Jahren wiederholt an diese Verordnung erinnern und die Pfarrer ermahnen, nur diese Lehrbücher zu verwenden, um endlich eine „Uniformität der christlichen Lehre und Erziehung“⁷⁰⁹ herzustellen. Im worden, vgl. Michael Embach: Die Schulreform Erzbischof Clemens Wenzeslaus’ unter Johann Friedrich Hugo von Dalberg (1760–1812), in: Bohlen/Embach [Hrsg.]: Erzbischof (wie Anm. 51, S. 14), S. 237–258, hier S. 240–241. 703 Vgl. Weber: Aufklärung (wie Anm. 36, S. 11), S. 187–188. 704 Holzem: Christentum (wie Anm. 11, S. 4), S. 799. 705 Ebd., S. 799. 706 Vgl. Schnabel-Schüle: Prozess (wie Anm. 78, S. 44), S. 759; Holzem: Christentum (wie Anm. 11, S. 4), S. 799. 707 Siehe Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia Bd. 5 (wie Anm. 47, S. 36), S. 219. 708 Vgl. Birsens: Katechese (wie Anm. 602, S. 239), S. 390–394. 709 Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia Bd. 5 (wie Anm. 47, S. 36), S. 293. Im Zuge der 1779 durchgeführten Schulvisitationen war festgestellt worden, dass viele Pfarreien ‚den Felbiger‘ noch nicht
3.3 Wie soll der „trierische Knabe“ gebildet werden? | 263
Zuge der Schulreform sollte auch eine angemessene Besoldung der Lehrer ermöglicht werden sowie „eine bessere Kooperation der staatlichen und kirchlichen Stellen.“⁷¹⁰ Auch nach der Entlassung La Roches wurde die Reform fortgesetzt: Bislang hatten Generalvikariat und Offizialat die Oberaufsicht über das Schulwesen inne gehabt, die aber im November 1780 einer eigens gegründeten Schulkommission übertragen wurde. Diese konnte ab 1786 gänzlich unabhängig vom Generalvikariat agieren, sodass die Schulpolitik eine größere Eigenständigkeit gegenüber der Kirche behaupten konnte. Die Kommission sollte die Schulen nicht nur beaufsichtigen, sondern auch die fachliche Kontrolle ausüben, einen Schulfonds⁷¹¹ zur Verbesserung der finanziellen Verhältnisse einrichten sowie die Gründung eines Instituts zur Lehrerausbildung vorbereiten. In den ersten Jahren stand Joseph Ludwig Beck der Schulkommission vor und unter seiner Ägide wurde 1784 in Koblenz eine sogenannte Normalschule gegründet, an der in Zukunft die Lehrer ausgebildet werden sollten. Nur wer die einjährige Ausbildung absolviert hatte, sollte in Zukunft an einer Schule angestellt werden können. Die Einrichtung von Normalschulen orientierte sich wiederum an Felbiger, in dessen Reformkonzept eine verbesserte und normierte Lehrerbildung eine wesentliche Rolle spielte.⁷¹² 1785 übernahm der Domkapitular Johann Friedrich Hugo von Dalberg⁷¹³ die Leitung der Schulkommission. Er bemühte sich vor allem um eine Reform der Gymnasien in Trier und Koblenz, wozu er einen ausführlichen Lehrplan entwickelte. Der Lehrer sollte sich aus seiner Sicht als väterlicher Freund seiner Schüler erweisen, der nicht nur an ihrer wissenschaftlichen, sondern auch ihrer sittlichen Bildung Anteil nahm und sich stets an ihren natürlichen Anlagen orientierte. Anhand von Geschichten klassischer Schriftsteller und Poeten sollte er seine Schüler
verwendeten. Ob die Pfarrer ihn ablehnten oder es einfach nicht als dringlich empfanden, bisher Bewährtes direkt zu ersetzen, lässt sich daraus nicht ablesen. 710 Embach: Schulreform (wie Anm. 702), S. 240. Siehe für die Verordnung: Blattau [Hrsg.]: Statuta synodalia Bd. 5 (wie Anm. 47, S. 36), S. 215. 711 Zu diesem mussten die begüterten Abteien des Erzstifts auch ihren Beitrag leisten, siehe Kapitel 3.1.2. Zur Lehrerbesoldung, die sich recht positiv entwickelt zu haben scheint, vgl. auch Theuringer: Liberalismus (wie Anm. 116, S. 53), S. 106–108. 712 Die Schulkommission sollte nur geeignete Kandidaten zur Normalschule zulassen. Die zukünftigen Lehrer sollten ein festes Gehalt erhalten, ergänzt durch Naturalien sowie freie Wohnung. Vgl. Embach: Schulreform (wie Anm. 702), S. 241–242, 245; Schnabel-Schüle: Bildungsoffensiven (wie Anm. 167, S. 65), S. 774. 713 Dalberg hatte in Erfurt und Göttingen studiert und war mit Herder befreundet. Er war der jüngere Bruder von Karl Theodor von Dalberg (1744–1817), dem letzten Reichserzkanzler und damaligem Mainzer Statthalter in Erfurt. Vgl. ausführlicher: Michael Embach/Joscelyn Godwin: Johann Friedrich Hugo von Dalberg (1760–1812). Schriftsteller – Musiker – Domherr, Mainz 1998.
264 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an zu einem tugendsamen Leben anhalten. Eine wichtige Rolle kam dabei der Religion zu, die einerseits Trost spende, andererseits die Tugend veredle und so den Weg zu höherer Glückseligkeit ebne. Im Sinne der katholischen Aufklärung sah Dalberg dieses Religionsverständnis vor allem im Neuen Testament und durch Christus als Vorbild verwirklicht. Eine rein mechanische, auf blindem Glauben basierende Frömmigkeit lehnte er ab, da die Religion stattdessen auf innerer Überzeugung gegründet sein und mit den Kräften des Verstandes durchdrungen werden sollte.⁷¹⁴ Im Zuge der 1789 einsetzenden Rückabwicklung der eingeleiteten Reformen im Kurfürstentum unterstellte Clemens Wenzeslaus im Dezember desselben Jahres die Schulkommission wieder dem Generalvikariat, was Dalberg zum Rücktritt veranlasste. Sein Lehrplan für die Gymnasien blieb allerdings offiziell noch bis 1798 in Kraft.⁷¹⁵ Die Verbesserung des Schulwesens stellte damit eines der zentralen Reformprojekte im Kurfürstentum dar, welches inner- und außerhalb des Landes Anerkennung fand. Die lobenden Worte, die der Koblenzer Pfarrer Joseph Gregor Lang (1755–1834) in seinem 1788/89 erschienenen Reisebericht für die Reform des Landschulwesens und die Gründung der Normalschule fand, überraschen zwar nicht, denn Lang zählte zu den Mitbegründern des Lehrerseminars.⁷¹⁶ Aber bereits 1786 hatten die Würzburger Gelehrten Anzeigen⁷¹⁷ die Zukunft des Trierer Schulwesens positiv eingeschätzt und auch der in Würzburg und München lehrende Mediziner Friedrich Albert Klebe (1769–1842) lobte 1802 rückblickend die kurfürstliche Schulreform in seinem Reisebericht.⁷¹⁸ 714 Siehe den Lehrplan in: Johann Friedrich Hugo Dalberg: Neuer Lehrplan für die Gymnasien in Trier und Koblenz, verfaßt von dem Vorsitzenden der Schulkommission, Domherrn Friedrich von Dalberg (1786 September), Trier, in: Hansen [Hrsg.]: Quellen Bd. 1 (wie Anm. 25, S. 31), S. 117–128. Im Fach Geschichte schlägt er vor, der Lehrer solle u. a. auf Herder, Hume und Montesquieu zurückgreifen. Für den Deutschunterricht schätzt er vor allem Gellert. Er stützte sich damit hauptsächlich auf moderate Aufklärer. 715 Vgl. und hier auch ausführlicher zur Rolle Dalbergs im Reformprozess: Embach: Schulreform (wie Anm. 702, S. 262), S. 244–258. Die Schulkommission wurde im August 1793 aufgehoben (einen Monat vor Aufhebung der Lesegesellschaft). 716 Joseph Gregor Lang: Reise auf dem Rhein, Bd. 1, Koblenz 1789, S. 190–193. 717 Nachrichten, in: Würzburger Gelehrte Anzeigen 1.3 (1786), S. 25–26. Siehe auch Embach: Schulreform (wie Anm. 702, S. 262), S. 244. 718 Albert Klebe: Reise auf dem Rhein durch die Deutschen Staaten, von Frankfurt bis zur Grenze der Batavischen Republik und durch die Französischen Departements des Donnerbergs, des Rheins und der Mosel und der Roer im Sommer und Herbst 1800, Bd. 2, Frankfurt 1801, S. 177. Für den Aufklärer Klebe stellte „Volksbildung“ (ebd.) ein zentrales Anliegen dar, um den Aberglauben, den er in den katholischen Gebieten noch vorzufinden meinte, zu beseitigen. Durch die Revolutionskriege sah er allerdings erste Ansätze in diese Richtung wieder zerstört. Zu Klebe vgl. Nebgen: Differenzerfahrungen (wie Anm. 2, S. 1), S. 44, 250.
3.3 Wie soll der „trierische Knabe“ gebildet werden? | 265
Dass Clemens Wenzeslaus unter dem Eindruck der Revolution wieder eine stärkere (geistliche) Kontrolle der Schulen sicherstellen wollte, zeigt, wie hoch die orthodoxen Kräfte das systemgefährdende Potenzial einer ‚falschen‘ Bildung, einem ‚Zuviel‘ an Aufklärung, einschätzten. Vor dem Hintergrund einer sich gegen Ende der 1780er Jahre aufheizenden Atmosphäre löste Michael Franz Joseph Müller (1762–1848) mit seiner Schrift Geschichte des von Kaßpar Olewian im Jahr 1559 zu Trier erweckten Religions-Aufstandes, ein Geschenk für einen trierischen Knaben⁷¹⁹ eine Diskussion darüber aus, inwieweit sich der Unterricht an den Maßstäben der Aufklärung orientieren sollte. „Vaterländische Geschichte“ als Gegenstand eines aufgeklärten Unterrichts Müller – ein jüngerer Bruder des Benediktiners Sanderad Müller – hatte zunächst in Trier Philosophie und Theologie studiert, um anschließend ebendort und in Mainz Jura zu studieren. Nach Abschluss seines Studiums 1788 bot er an, unentgeltlich Vorlesungen zu halten, was der kurfürstliche Hof jedoch ablehnte. Möglicherweise trug sein Erstlingswerk, sein Kaßpar Olewian, zur Ablehnung seines Lehr-Angebots bei. Schließlich ernannte ihn der Abt von Echternach 1791 zum Gerichtsschöffen, nachdem er zuvor vermutlich schon Syndikus der Abtei gewesen war.⁷²⁰ Sein bereits früh entstandenes Interesse an geschichtlichen Themen wird Müller wahrscheinlich zur Abfassung seines Kaßpar Olewian angeregt haben. Die Schrift sollte anscheinend den Auftakt für ein geplantes deutschsprachiges Handbuch zur Trierer Staats- und Kirchengeschichte darstellen, das aber in dieser Form nie veröffentlicht wurde. Wie in der Vorrede deutlich wird, versteht er sein Werk nicht als genuin geschichtliche Abhandlung, sondern als eine Art Lehrbuch, das der Jugend sachlich-knapp Einblick in den „Gang der Menschheit“ geben soll. Ähnlich wie in den Mönchsbriefen, sollte die geschichtsphilosophische Betrachtung dazu dienen, Zusammenhänge sowie die historische Bedingtheit bislang unhinterfragt gebliebener Gegebenheiten aufzuzeigen. Die Auseinandersetzung
719 Müller: Kaßpar Olewian (wie Anm. 75, S. 21). 720 Im darauffolgenden Jahr wurde Müller Deputierter der Stadt Echternach für die Landstände des Herzogtums Luxemburg. Unter französischer Herrschaft wurde er 1795 Friedensrichter des Kantons Echternach. Später war er dort Richter am Appellationsgericht und von 1820 bis 1827 Landgerichtsrat. Zusammen mit Johann Hugo Wyttenbach gab er zwischen 1836 und 1839 die Gesta Treverorum heraus. vgl. Guido Groß: Müller, Michael Franz Joseph, in: Neue Deutsche Biographie 18 (1997), S. 315; Jean-Claude Muller: „Aus dem Leben eines Wendehalses“. Des Trierer MichaelFranz-Joseph Müllers Echternachter Tagebuch (1794–1797), in: Johannes Mötsch [Hrsg.]: Ein Eifler für Rheinland-Pfalz. Bd. Teil 2. Festschrift für Franz-Josef Heyen zum 75. Geburtstag am 2. Mai 2003, Mainz 2003.
266 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an mit Geschichte leistete aus dieser Perspektive einen erheblichen Beitrag zur Aufklärung. Müller verspricht denn auch dem fiktiven „Trierische[n] Knaben“, an den er sich stellvertretend für die (männliche) Jugend des Kurfürstentums in seiner Vorrede wendet, dass der „[s]tufenweise“ Gang durch die Geschichte seines Landes anhand einer „Menge Revolutionen“ ihm ermögliche, „bei jedem Vorfalle sagen [zu] können, das war ehemals schon so, oder das war ehemals nicht so“⁷²¹. Die „Vorurtheile“ und die „Märchen, welche sich über unsere Vaterländische Geschichte verbreitet haben“⁷²², stellen die Geschichte aus seiner Sicht völlig falsch dar. Als Beispiele führt er zum einen die Legende an, die Gründung der Stadt Trier gehe auf den assyrischen Königssohn Trebeta zurück. Zum anderen verweist er auf eine Sage, der zufolge die zur Kirche Sankt Simeon umfunktionierte Porta Nigra ein Bauwerk des Teufels sei. Beides sind für ihn überkommene Erklärungsmuster, die jeglicher Faktengrundlage – die er selbst damit für seine eigene Darstellung beansprucht – entbehren.⁷²³ Sie basieren einzig auf der Unkenntnis geschichtlicher Ereignisse und Zusammenhänge und transportieren damit nichts weiter als Aberglauben. So sind es nicht nur diese Gründungsmythen, die er als „die gefährlichsten Irrwege“ bezeichnet, die sich „bis auf neuere Zeiten, zur Schande der Menschheit fortgerollet“ hätten. Darunter fallen für ihn ebenso all die „misrathenen historischen Katechismen, Leben der HH. und hundert andern Exkrementen der Dummheit und Unwissenheit“, die die Knaben bislang „als wirkliche Grundwahrheiten unserer Religion eingesogen“⁷²⁴ hätten. Wie bei Castello findet sich damit bei Müller die übliche Kritik katholischer Aufklärer an den barockfrommen Erbauungsbüchern und Katechismen, die trotz aller Reformen noch überall verbreitet waren. Auch Lorenz Westenrieder betrachtete sie „als Hindernis für die Verbreitung aufklärerischer Literatur und die Durchsetzung von Reformen“⁷²⁵ in den katholischen Territorien. Ob Müller den Katechismus von Felbiger an dieser Stelle unerwähnt lässt, weil er ihn als unzureichend empfand oder weil trotz zahlreicher Ermahnungen und 721 Jeweils Müller: Kaßpar Olewian (wie Anm. 75, S. 21), Vorrede. 722 Jeweils ebd., Vorrede. 723 Um seine historische Glaubwürdigkeit zu untermaueren, präsentiert Müller in seiner Darstellung eine angeblich bislang unbekannte Quelle Kaspar Olevians, in der sich dieser gegenüber den Zünften verteidigt (ebd., S. 17–18). Mit Geschichte bzw. Geschichtsphilosophie verbanden die Aufklärer nun den Anspruch der Wissenschaftlichkeit und der Präsentation von Tatsachen, vgl. Johannes Rohbeck: Geschichte/Geschichtsphilosophie, in: Heinz Thoma [Hrsg.]: Handbuch Europäische Aufklärung, Suttgart 2015, S. 242–251, hier S. 243. 724 Jeweils Müller: Kaßpar Olewian (wie Anm. 75, S. 21), Vorrede. 725 Haefs: Christentum (wie Anm. 627, S. 243), S. 293. Er empfahl stattdessen neben der Lektüre aufgeklärt-empfindsamer Romane zur moralischen Erbauung Heiligenbiographien zu lesen, die frei von jeglicher Idealisierung und mystischer Überhöhung sein sollten, vgl. ebd., S. 280.
3.3 Wie soll der „trierische Knabe“ gebildet werden? | 267
Verordnungen noch immer die älteren Katechismen im Kurfürstentum in Gebrauch waren, lässt sich nicht sagen. In den Katechismen und Erbauungsbüchern ist aus Müllers Sicht „das wahre durch die vielen Fabeln und Hirngespenster eben so sehr verunstaltet“ wie es in den Kirchen die Marienbilder „durch die angehängten Skapulier und Rosenkränze“ seien. Das alles ist für ihn Ausdruck eines falschen, weil abergläubischen Religionsverständnisses, das die Religion im Grunde nur verspotte und ihre „Grundwahrheiten“ verdecke. Geschichten davon, „wie sich die Altväter manchmal mit den Teufeln herumgebalgt“ hätten, wie sie in Martin von Cochems Legenden der Heiligen zu finden seien, sind für ihn bloß lachhaft. Spitzfindig macht er darauf aufmerksam, dass eben jene Heiligen oftmals staatsgefährdend gehandelt hätten, weshalb man diese Geschichten auch nach ihrer Bereinigung „von allen Fabeln“ nur nach sorgfältiger Auswahl dem „einfältig fromme[n] Mann“⁷²⁶ zur erbaulichen Nachahmung empfehlen könnte. Müller deutet an dieser Stelle an, dass man einige der als Heilige verehrten Männer und Frauen statt als wehrhafte Verteidiger ihres Glaubens genauso gut auch als Aufrührer verstehen könnte, die ihren damaligen Regierungen den schuldigen Gehorsam verweigerten. Damit wäre er über die übliche Kritik der katholischen Aufklärer an der Heiligenverehrung hinausgegangen, da diese in der Regel an ihrer Rolle als Glaubensvorbild festhielten.⁷²⁷ Müller möchte den „Knaben“ aus dieser ihn umgebenden „ewigen Finsterniß“ herausführen und ihn vor derartigen Büchern, die „die stärksten Gegenkräfte wider [seiner] Aufklärung“ seien, beschützen. Emphatisch hat er bereits zu Beginn an den Knaben appelliert: „lerne Klug sein!“, und ihn aufgefordert, die „neuere Welt“ zu erkunden. Diese ist für Müller augenscheinlich eine aufgeklärtere Welt, wobei er zugibt, dass auch in dieser Gefahren lauern könnten, weshalb er den Knaben zur Vorsicht mahnt. Selbstgewiss glaubt er jedoch, ihn mittels seiner Schriften zu Klugheit und Aufklärung führen zu können: „[U]nd ich wette drum, wills Gott, ich brings zu wege, daß es nach 10 Jahren um euch trierische Knaben bessere Aussichten hat als izt.“ Als Gewährsmänner, „daß es falsches Zeugniß gegen Gott, und Sünde sei, erdichtete Mirakel vorzubringen“, verweist er neben Paulus auch auf Fleury und dessen Histoire ecclésiastique sowie auf den Trierer Kirchenrechtler Neller, der derartige Mirakelberichte völlig zu Recht „zum Scheiterhaufen“⁷²⁸ verdammt habe.
726 Jeweils Müller: Kaßpar Olewian (wie Anm. 75, S. 21), Vorrede. 727 Abgelehnt wurde die Vorstellung, die Heiligen seien „wunder- und erlösungsvermittelnde Fürsprecher für menschliche Anliegen bei einem als beeinflussbar gedachten Gott“. Speth: Aufklärung (wie Anm. 244, S. 165), S. 45. Vgl. auch Freitag: Fürstbistum (wie Anm. 42, S. 13), S. 34. 728 Jeweils Müller: Kaßpar Olewian (wie Anm. 75, S. 21), Vorrede.
268 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Um sich von dieser katholischen Tradition der Mirakelberichte größtmöglich abzusetzen, machte Müller folglich bewusst Caspar Olevian (1536–1587) und dessen Versuch, die Reformation nach Trier zu bringen, zum Sujet seiner geschichtlichen Abhandlung. Ihm ging es um die Verbreitung aufklärerischen Gedankenguts durch und mit Geschichte. Seinen Schülern gesicherte Kenntnisse über die Geschichte ihres Landes zu vermitteln, war für ihn ein erster Schritt. Indem sich die katholische Jugend mit dem Protestanten Olevian beschäftigte, sollte ihr durch die sowohl in zeitlicher als auch konfessioneller Hinsicht große Distanz ein kritischer Zugang zur Geschichte erleichtert werden. Zwar bezeichnet Müller Olevian und seine Glaubensgenossen als Aufrührer und meint, der Reformator habe wohl „verschiedene Irrthümer des Luthers und Kalvins“⁷²⁹ eingesogen, trotzdem bemüht er sich um eine relativ sachliche Schilderung der Ereignisse. Doch obwohl er keinen Zweifel daran lässt, auf Seiten der „wackere[n] Katholicken“⁷³⁰ Triers zu stehen, ergibt sich an verschiedenen Stellen der Eindruck, Müller habe durchaus Parallelen zwischen Reformation und katholischer Aufklärung gesehen. So stellt er etwa fest, Olevian sei nach Trier zurückgekehrt, um „seinen Landesleuten den Staar zu stechen; denn er wußte wohl, daß sie ziemlich trübe Augen hätten.“⁷³¹ Damit greift er zu einer Metapher, die der üblichen Lichtmetaphorik der Aufklärung – die sich in seiner Vorrede ebenfalls findet – sehr ähnlich ist: In beiden Fällen geht es darum, andere Menschen Missstände erkennen zu lassen, die für diese bislang im Dunkeln verborgen lagen. Auch seine Zusammenfassung der Predigt, die der ‚Aufrührer‘ Olevian an die Bevölkerung gerichtet habe, ist nüchtern und relativ unspezifisch: Seine Rede sei „gegen das H. Abendmahl, die Verehrung der Bilder, und noch andere katholische Religionsgebräuche geschärft“⁷³² gewesen. Zumindest die Bilderverehrung betrachteten die katholischen Aufklärer ähnlich skeptisch und auch bei ihnen entzündete sich die Kritik außerdem an zahlreichen weiteren Frömmigkeitsformen. Das Anliegen der katholischen Aufklärung, die Glaubensinhalte von Äußerlichkeiten zu bereinigen und stattdessen ihre Verinnerlichung auf der Grundlage von Verständnis und Überzeugung zu befördern, fand Müller darum anscheinend in der Reformation angelegt. Bezeichnenderweise legt er Olevian auf die Frage des kurfürstlichen Gesandten, wer ihn zu diesen öffentlichen Reden angestiftet habe, die Antwort in den Mund: „Die Liebe zu Gott, und einer reineren Religion“⁷³³. Der Wunsch, seinen Landsleuten von möglichst großem Nutzen zu sein, habe ihn veranlasst, in 729 Müller: Kaßpar Olewian (wie Anm. 75, S. 21), S. 12. 730 Ebd., S. 11. 731 Ebd., S. 13. 732 Ebd., S. 15. 733 Ebd., S. 20.
3.3 Wie soll der „trierische Knabe“ gebildet werden? | 269
ihrer Muttersprache „reinere Grundsätze der Religion zu verbreiten.“⁷³⁴ Obwohl es sich bei der Lehre der Reformatoren letztlich bloß um „verschiedne Irrlehren“⁷³⁵ gehandelt habe, sah Müller Gemeinsamkeiten zwischen zeitgenössischen und damaligen Reformforderungen. Er konstatierte denn auch, dass findige „Sitten-Richter“ unter den damaligen Geistlichen genug kritikwürdige „Sächelgen“⁷³⁶ hätten finden können. Damit teilte er die Einschätzung der katholischen Kirchengeschichtsschreibung der Aufklärung, dass „Simonie, Zuchtlosigkeit und Sittenlosigkeit“⁷³⁷ den Klerus des 16. Jahrhunderts gekennzeichnet hätten und die Kirche insgesamt in dieser Zeit an ihrem absoluten Tiefpunkt angelangt sei. In diesem Narrativ wurde die Reformation durchaus als zwingende Folge der gescheiterten Reformfähigkeit der Kirche beschrieben, Luther jedoch als Spalter der christlichen Einheit abgelehnt.⁷³⁸ Letztlich teilte Müller diese Einschätzung, trotz seiner möglichen Sympathien zu Olevians behaupteten Kernanliegen. Dass die katholische Aufklärung die Reformatoren negativ bewertete, hatte im Übrigen keine polemischen Invektive gegenüber den Protestanten zur Folge, da dies dem aufklärerischen Verständnis von Toleranz zuwidergelaufen wäre. Müller stellt denn auch in seiner Abhandlung heraus, dass nicht Olevians Reformationsversuch das Problem gewesen sei, sondern die Aufruhr, die er dadurch in der Bevölkerung ausgelöst und worunter sowohl die städtische als auch die landesherrliche Ordnung gelitten hätten. Dass die Reformation eine derartige Wirkung hatte entfalten können, ist für ihn nicht allein die Schuld der Reformatoren und ihrer Lehren: „[J]eder Schuster, jeder Schneider, lief auf die Kanzel, und wolte da predigen, daß man aber diesen Leuthen andere Prediger entgegen sezte, und sie zulezt mit Schaiterhaufen der Wahrheit überführen wollte, das machte die Sache nur noch schlimmer“⁷³⁹. Die konfessionelle Trennung ist für ihn keine historische Notwendigkeit, sondern das Ergebnis damaliger Fehler.⁷⁴⁰ Indem er kritisiert, von katholischer Seite habe man die Anhänger der Reformation mit Gewalt – mit dem Scheiterhaufen – von der vermeintlichen ‚Wahrheit‘ überzeugen wollen, deutet er an, dass „die religiöse 734 Ebd., S. 21. – Zum Anliegen der katholischen Aufklärung, den Gottesdienst möglichst verständlich zu gestalten und das Lateinische zurückzudrängen, siehe auch Kapitel 3.2. 735 Ebd., S. 14. 736 Jeweils ebd., S. 20. 737 Handschuh: Wahre Aufklärung (wie Anm. 43, S. 13), S. 98. 738 Vgl. ebd., S. 98–99. 739 Müller: Kaßpar Olewian (wie Anm. 75, S. 21), S. 29. 740 Er ist überzeugt, „[h]ätte man Luthers 95 zu Wittemberg angeschlagene Sätze unbeantwortet gelassen, hätte man endlich seine ersteren Handlungen mit einem ganz gleichgültigen Auge angesehen; dann würde vielleicht die Reformation in ihrer Kindheit zu Grabe getragen worden seyn.“ Ebd.
270 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Gewalt des sechzehnten Jahrhunderts [ebenfalls] zu einem großen Teil dem katholischen Fanatismus“⁷⁴¹ anzulasten gewesen sei. Dieser Zusammenhang sollte jungen Lesern wie dem ‚trierischen Knaben‘ bewusst werden. Letztendlich zog Müller weniger die Parallele zwischen Reformation und Aufklärung als vielmehr zwischen der Situation der Kirche im 16. und der im 18. Jahrhundert. Der Anspruch, der damals einige geleitet hätte, die Kirche zu verbessern und zu reformieren, ist – wie er in seiner Vorrede deutlich macht – immer noch nicht befriedigend erfüllt worden. Indem er seinen Lesern die Geschichte des Trierer ‚Religionsaufstandes‘ präsentiert, möchte er sich dafür sensibilisieren, was drohen könnte, sollte erneut eine solche „Religionsschwärmerei“⁷⁴² um sich greifen. Müller beweist an dieser Stelle eine hohe Reflexionsfähigkeit, denn ihm ist bewusst, dass keine Konfession oder Religion für sich die Wahrheit beanspruchen kann, wenn ihr als einziges Argument der Scheiterhaufen bleibt. Da der katholischen Seite jedoch kein anderer, vernünftigerer Umgang mit ihren Kritikern eingefallen sei, habe sich die Situation zwangsläufig zuspitzen müssen. Deshalb hoffte Müller, die männliche Jugend würde aus der Auseinandersetzung mit der Geschichte die Lehre ziehen, dass auf der Grundlage eines aufgeklärten, vernünftigen Religionsverständnisses auf Veränderungen adäquater reagiert und Konflikte vermieden werden könnten. Der „Kaßpar Olewian“ als Irrweg in die Finsternis Mit seiner entschiedenen Verurteilung jeglicher Religionsschwärmerei provozierte Müller zwangsläufig Kritik. Allerdings erschien erst vier Jahre nach Erscheinen seines Kaßpar Olewian eine Gegenschrift, die vermutlich der Trierer Benediktinermönch Beatus Itzstein verfasst hatte.⁷⁴³ Möglicherweise veranlasste die Revolution Itzstein, Müllers Schrift als gedanklich unausgegorenes Pamphlet gegen die katho741 Lehner: Aufklärung (wie Anm. 178, S. 148), S. 74. Auf ähnliche Weise deutete der Prager Theologe und Professor für Kirchengeschichte, Caspar Royko (1744–1819), die Reformation und plädierte für eine undogmatische Sichtweise auf Jan Hus (1370–1415). 742 Müller: Kaßpar Olewian (wie Anm. 75, S. 21), S. 29. Der negativ konnotierte Begriff Schwärmerei geht auf die Religionskontroversen der Reformationszeit zurück. Er diente auch in der Aufklärung als Kampfbegriff und bezeichnete im 18. Jahrhundert alle Arten des Irrationalen. Häufig wurde er synonym zu Fanatismus, aber auch zu Aberglaube und Leichtgläubigkeit gebraucht. Müller wendet ihn auf die Protestanten an, meint damit aber auch fanatische Glaubenseiferer ganz allgemein. Zum Begriff vgl. Winfried Schröder: Schwärmerei, in: Schneiders [Hrsg.]: Lexikon (wie Anm. 49, S. 117), S. 372–373; Piereth: Aberglauben (wie Anm. 2, S. 107), S. 252. 743 Itzstein: Zuschrift (wie Anm. 75, S. 21). Das Werk ist anonym erschienen. Handschriftlich ist auf dem Exemplar in der Stadtbibliothek Trier vermerkt, der Verfasser sei der ursprünglich in Mainz geborene Beatus Itzstein, Benediktinermönch der Abtei St. Marien. Lebensdaten finden sich keine.
3.3 Wie soll der „trierische Knabe“ gebildet werden?
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lische Religion zu desavouieren, das zur Aufklärung – anders als von ihrem Verfasser behauptet – keinen Beitrag leiste. Sein Widerspruch entzündete sich weniger am eigentlichen Gegenstand der Abhandlung – Olevians Reformationsversuch –, sondern vor allem an Müllers Vorrede und der darin enthaltenen Abrechnung mit den Heiligenlegenden. Spitzfindig stellt Itzstein zunächst fest, dass, wenn selbst Müllers neuere Welt Böses enthalte, doch im Umkehrschluss auch die alte Welt ihr Gutes haben müsse. Dass Müller mit diesem Bild im Grunde nur eine gemäßigte, schrittweise Aufklärung empfiehlt, ist für Itzstein schon zu viel des Guten. Für ihn ist Müller ein Aufklärer, der mit seiner Abwertung des Alten jegliche Traditionen verkennt und sie ausnahmslos verwirft. Itzstein scheint zu fürchten, Müller wolle die Grundfesten der katholischen Religion erschüttern. Er beeilt sich darum klarzustellen, dieser würde den trierischen Knaben gar nicht aufklären, denn er würde ihm nicht „das Böse der alten und neuen Welt“ aufzeigen und ihn nicht ermahnen, „sich vor dem Bösen [zu] hüten“, obwohl dies doch „eine der fürnehmsten Regeln der Klugheit“ sei. Stattdessen verliere er sich in nichtssagendem „Wörter-Prunk“⁷⁴⁴. So würde Müller auch vor „Fabeln“ warnen, die „die gefährlichsten Irrwege“ seien, ohne diese jedoch näher zu benennen. Geschickt lässt es Itzstein so aussehen, als ob die Beispiele, die Müller nennt – den Gründungsmythos der Stadt Trier sowie die Sage über den Teufel als Erbauer St. Simeons – aufgrund ihrer Harmlosigkeit kaum einen solchen Irrweg darstellen könnten. Er bestreitet folglich nicht, dass es sinnvoll ist, die Jugend vor ‚gefährlichen Irrwegen‘ zu warnen, sondern versucht, Müllers Aussagen entweder ins Lächerliche zu ziehen oder ihm nachzuweisen, selbst im Irrtum zu sein. Gönnerhaft gesteht er Müller zu, im Falle der Kritik an den Katechismen vermutlich einfach schlecht informiert gewesen zu sein, schließlich habe der Kurfürst bereits 1775 befohlen, in Schulen und Kirchen nur noch den Katechismus von Felbiger zu verwenden. Itzstein merkt süffisant an, Müller habe ihn zumindest wohl nicht gelesen, denn darin hätte er „schöne Klugheitsregeln“ finden können, die er statt seines eigenen „Mischmasch“⁷⁴⁵ der Jugend hätte vermitteln können. Inwiefern Itzstein den ‚Felbiger‘ tatsächlich schätzte oder Müller lediglich der Unkenntnis überführen wollte, bleibt unklar. Offensichtlich ist jedoch, dass er von dem Ansinnen katholischer Aufklärer, die Religion von bloßen Äußerlichkeiten zu bereinigen, nichts hält: „[S]o unverschämt“ wie Müller etwa die Rosenkränze und Skapuliere kritisiere, die die Marienbildnisse in den Kirchen schmückten, habe selbst „Luther dergleichen Sachen noch nicht getadelt“. Schließlich handle es
744 Jeweils ebd., S. 5. 745 Jeweils ebd., S. 8.
272 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an sich dabei um Gegenstände, die „auch Fürsten öffentlich zu tragen, sich nicht schämen, und denen unsere Kirche einen öffentlichen Gottesdienst gewidmet hat“. Dass ihm Müller nicht nur schlimmer als Luther erschien, sondern fast schon als Heide, zeigt seine Vermutung, diesem würden die Kirchen besser gefallen, „wenn selbe mit Gerlanden, Urnen, mit Lorbeeren gekrönten Brustbildern der Cäsarn, und sonstigen antiquen Zeichnungen gleich einem Komödienhaus, statt heiliger Bildnissen, gezieret wären.“⁷⁴⁶ Bewusst rückt Itzstein Müller in die Nähe von Protestantismus und Atheismus, um die Gefährlichkeit des von ihm propagierten aufgeklärten Katholizismus zu belegen. Wie viele gegenaufklärerisch eingestellte Katholiken sah er in den aufgeklärten Glaubensgenossen die größte Bedrohung, weshalb Luther im Vergleich zu Müller noch als harmlos bezeichnet wird. Gleichzeitig erwähnt er den Reformator nicht nur, weil der Kaßpar Olewian dieses Thema aufgreift, sondern er möchte die Kritik und die Reformvorhaben der katholischen Aufklärung gezielt als Protestantismus disqualifizieren. Aus dieser Perspektive waren es schließlich die katholischen Aufklärer, „die durch Verspottung der katholischen Liturgie“ oder anderer Frömmigkeitsformen „die lebendige Volksfrömmigkeit zerstörten und den Katholizismus mittels protestantisch-rationalistischer Elemente pervertierten“⁷⁴⁷. Auch wenn anhand seiner kurzen Gegenschrift nicht eindeutig belegt werden kann, ob Itzstein der katholischen Orthodoxie zuzurechnen ist, gebrauchte er zumindest deren gängige Deutungsmuster. Mit seiner Bemerkung, der trierische Knabe solle sich freuen, „endlich ein Licht gefunden“ zu haben, da Müllers Buch all seine „Finsternissen verscheuchen“⁷⁴⁸ würde, gibt Itzstein ironisch zu verstehen, dass diese Art der Aufklärung aus seiner Sicht die falsche ist. Er wirft Müller vor, selbst nicht zu wissen, was das „Heiligthum unserer Religion“ sei. Dies bestünde nämlich nicht, wie von diesem unterstellt, in Rosenkränzen, Heiligenlegenden oder derartigen anderen Dingen, sondern in dem, wogegen er Olevian anpredigen lasse: „das heil. Abendmahl, die Verehrung der Bilder etc.“⁷⁴⁹ Da Müller aus seiner Sicht die wahren Grundlagen des Glaubens gar nicht kennt, kann er auch keine wahre Aufklärung vermitteln. Itzstein geht es nicht um eine kritische Reflexion der Aufklärung, sondern er möchte die Aussagen
746 747 748 749
Jeweils Itzstein: Zuschrift (wie Anm. 75, S. 21), S. 9. Dumont: Freygeister (wie Anm. 97, S. 129), S. 56. Jeweils Itzstein: Zuschrift (wie Anm. 75, S. 21), S. 10. Jeweils ebd., S. 10.
3.3 Wie soll der „trierische Knabe“ gebildet werden?
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Müllers und anderer katholischer Aufklärer als eigentlichen Irrweg, vor dem der trierische Knabe gewarnt werden müsste, kennzeichnen.⁷⁵⁰ Itzstein lehnte Müllers Kaßpar Olewian daher nicht nur als Lehrwerk für die Jugend ab, sondern auch allgemein als volksaufklärerisches Buch. Schließlich spreche das Evangelium den „einfältig-frommen Mann“ selig, sodass dessen Bildung aus seiner Sicht nicht notwendig, wenn nicht sogar schädlich ist.⁷⁵¹ Sowohl in diesem Punkt als auch bei der Gleichsetzung von katholischer Aufklärung und Protestantismus bedient sich Itzstein einer Argumentation, die in den Mönchsbriefen noch auf Ebene der Fiktion durchgespielt worden war. Gleichwohl sind seine Kritikpunkte nicht in allen Bereichen weit hergeholt, da auch Müller selbst Parallelen zwischen Reformation und Aufklärung gezogen zu haben scheint. Auch wenn Itzstein vorgibt, die Heiligenlegenden seien nicht konstitutiv für den Katholizismus, erregt vor allem die Kritik an diesen seinen Widerspruch. Anklagend fragt er, ob es für den trierischen Knaben tatsächlich besser sei, statt Erbauungsliteratur „Romanzen zu lesen, welche von Fabeln und Lügen strotzen, und deren die mehreste mit Wahrheit Excrementen der Bosheit können genannt werden“⁷⁵². Offenkundig verachtete er die zeitgenössische Literatur und sah sie als Ursache der Sittenverderbnis. Diese Art Kritiker wird Castello bei seinem Plädoyer, angehende Priester auch durch die Lektüre von Romanen auszubilden, vor Augen gehabt haben. Itztsein hingegen kann in der Lektüre der Heiligengeschichten nichts Falsches erkennen; zur Nachahmung und Nachfolge der Heiligen zu animieren, sei deren berechtigtes Ziel. Schon viele seien „durch dieses Lesen von der Sündenstraße abgewichen, und selbst zu Heiligkeit gelanget“⁷⁵³, wodurch der Nutzen dieser Werke zweifellos erwiesen sei. Die vielen Feiertage und die anlässlich dieser gehaltenen Predigten hätten keine andere „Ursach, als die Christen zur Verehrung und Nachfolge der Heiligen anzumahnen“. Auf die Kritik katholischer Aufklärer wie Müller, die Geschichten seien viel zu idealisiert und bar jeder Realität, geht Itzstein nicht ein, da er das Argument bereits durch den Verweis auf die verlogenen modernen Romane widerlegt sieht. Für ihn ist die „treue Nachahmung der
750 Zur Diskussion um wahre oder falsche Aufklärung zwischen Aufklärern und Gegenaufklärern vgl. Werner Schneiders: Die wahre Aufklärung. Zum Selbstverständnis der deutschen Aufklärung, München 1974, S. 82–86. 751 Die Vorbehalte, die Itzstein gegenüber einer Aufklärung des ‚gemeinen Mannes‘ hegte, spiegeln sich auch in seinen bissigen Kommentaren bezüglich Müllers lateinischer Quellenzitate wider, die er diesem hämisch vorhält. Seine Beobachtung, dass Müller seinen eigenen Anspruch damit selbst konterkariert, ist richtig. Für Itzstein ist es aber wohl der Beweis, dass nicht alles auf Deutsch verfasst werden kann. 752 Itzstein: Zuschrift (wie Anm. 75, S. 21), S. 8. 753 Ebd., S. 15.
274 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Tugenden der Heiligen“ vielmehr die Pflicht eines jeden guten Christen, da er nur so Eingang in die „Gemeinschaft der Heiligen“ finden könnte, die schließlich eine der „Hauptwahrheiten der von denen Aposteln verkündigten christlichen Lehre“ sei. Provozierend fragt er, ob Müller etwa auch davon abrate, „die Handlungen des Erlösers“⁷⁵⁴ zu lesen und nachzuahmen, weil auch sie häufig dem Staat schädlich gewesen wären und ein zeitgenössischer Nachahmer sicherlich des Landes verwiesen würde. Geschickt sucht er Müllers spitzfindige Argumentation zu widerlegen und gegen diesen selbst zu wenden. In rhetorischen Fragen unterstellt er ihm denn auch, statt der Heiligen das Leben Olevians zur Nachahmung zu empfehlen, obwohl dessen Handlungen für den Staat ebenfalls nicht „nützlich“⁷⁵⁵ gewesen seien. Dass Itzstein wahrscheinlich unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse glaubte, noch vier Jahre nach Erscheinen des Kaßpar Olewian seine Gegenschrift veröffentlichen zu müssen, zeigt zum einen seine Vermutung, Müllers Werk sei erst 1789 entstanden, womit er es in die Nähe der Revolution rückt. Zum anderen verdächtigt er ihn, nur deshalb Caspar Olevian als Beispiel gewählt zu haben, um selbst Aufruhr auszulösen: Soll der Knabe vielleicht diesen Aufstand mit jenen, welche anjetzo in vielen Ländern entstehen, in Vergleich ziehen? Soll Er, wenn Er erwachsen, selben erneuern? Soll Er seiner Vaterstadt Glück wünschen, daß dessen Einwohner bis hiehin wackere Katholicken verblieben? Oder soll Er bedauern, daß seine Vaterstadt noch würklich unter dem Priester-Joche seufze?⁷⁵⁶
Vor dem Hintergrund der Kirchen- und Religionsgesetzgebung im revolutionären Frankreich und wachsender Kriegsgefahr⁷⁵⁷ scheint sich Itzstein bestätigt gesehen zu haben: Der Jugend aufklärerische Ideen zu vermitteln, hätte über kurz oder lang auch in den deutschen Territorien verderbliche Folgen für Religion und Kirche und würde einen Aufstand auslösen. Er bedient sich damit eines gegenaufklärerischen Deutungsmusters, das allein die Aufklärung für die Revolution verantwortlich machte, ohne nach anderen Ursachen zu fragen.⁷⁵⁸ Für Itzstein erübrigte sich demnach die Frage, wie die Jugend am besten gebildet werden könnte, da er weiterhin an den bislang üblichen Katechismen und Heiligenlegenden festhalten wollte. In anderen Unterrichtsgegenständen, die das Ziel verfolgten, zum Selbstdenken anzuregen, sah er eine Gefahr für die katholi754 755 756 757 758
Jeweils Itzstein: Zuschrift (wie Anm. 75, S. 21), S. 16. Ebd., S. 15. Ebd., S. 19. Zur revolutionären Anfangsphase siehe Kapitel 2.3. Vgl. z. B. die Argumentation Goldhagens: Dumont: Freygeister (wie Anm. 97, S. 129), S. 61–65.
3.3 Wie soll der „trierische Knabe“ gebildet werden?
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sche Religion. Den Beweis für die Berechtigung dieser Sorge lieferte ihm Müllers Kaßpar Olewian, den er als Verspottung dessen wahrnahm, was für ihn selbst die ‚Grundwahrheiten‘ seines Glaubens ausmachte. Der Pädagoge als „Wohlthäter der Menschheit“ Anders als Itzstein begrüßte hingegen Johann Jakob Stammel, ein junger Doktor der Theologie, den Vorstoß Müllers, die Jugend durch zeitgemäße Literatur – zum Beispiel mittels geschichtlicher Abhandlungen – aufzuklären. Da Stammel selbst vor Kurzem erst sein Studium abgeschlossen hatte, fühlte er sich durch die Debatte besonders angesprochen.⁷⁵⁹ Er wollte Itzsteins „Schmähschrift“ mit seiner „Jugendarbeit“⁷⁶⁰ nicht widerlegen – dieses Recht sah er Müller vorbehalten –, sondern wollte eigene Gedanken zum Stellenwert der Bildung für die Aufklärung formulieren. Aus Stammels Sicht dürfe es dem Staat nicht gleichgültig sein, ob er über „offne, biedre, und vom Aberglauben freye Bürger“ verfüge, weshalb „ihm jede Anstalt, welche etwas dazu beiträgt, das Wohl seiner Glieder in dieser Hinsicht zu beförderen, erwünscht, und angenehm seyn“⁷⁶¹ müsse. Da die „Bildung des Mannes, und des Bürgers mit der Bildung des Kleinen“ anfange, habe der „Gesetzgeber“ vor allem auf die Erstellung notwendiger Erziehungspläne sowie auf die Einrichtung von „Anstalten zu einer gehörigen Leitung der Jugend“ zu achten. Jeder „Jugendfreund“, der sich daran beteilige, „Licht und Wahrheit um sich her zu verbreiten“, müsse dem Staat daher willkommen sein. Schließlich sei es der Wille Gottes, dass der Mensch sich seinem „Ebenbild immer näher bringen möchte; er sollte täglich besser, weiser, und vollkommener werden.“⁷⁶² Mit dem Verweis auf die Gottesebenbildlichkeit bedient sich Stammel der üblichen Argumentation katholischer Aufklärer, um den Vernunftgebrauch als christliche Pflicht erscheinen zu lassen und verbindet sie mit dem aufgeklärten Glauben an die stetige Vervollkommnung des Menschen.⁷⁶³
759 Stammel war der Sohn des Buchdruckers und späteren Zeitungsherausgebers Wienand Stammel (geb. um 1745). Johann Jakob studierte an der Trierer Universität Philosophie und Theologie und trat ins Priesterseminar ein. 1791 wurde er Doktor der Theologie; 1794 erfolgte die Ernennung zum Diakon, vgl. Elisabeth Wagner: Stammel, Johann Jakob, in: Traugott Bautz/Friedrich Wilhelm Bautz [Hrsg.]: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 10, Hamm 1995, S. 1142–1144, hier S. 1142. Zu seiner weiteren Biographie siehe auch Kapitel 4.2. 760 Stammel: Jugendfreund (wie Anm. 75, S. 21), Vorrede. 761 Ebd. 762 Jeweils ebd., S. 6. 763 So auch Sailer, für den die „Grundlage aller Aufklärung“ die „Gottesebenbildlichkeit des Menschen“ ist, „aus der sich nicht nur die Freiheit, sondern sogar die moralische Verpflichtung zur
276 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Wenn jedoch jeder Mensch zum Gebrauch der eigenen Vernunft verpflichtet ist, dann liegt für Stammel die Aufgabe des Staates nicht nur darin, Schulen zu errichten und Bildungspläne zu verfassen, sondern auch Bürger wie Müller, die sich um die Aufklärung verdient machen, vor (verbalen) Angriffen zu schützen.⁷⁶⁴ Diese „Kinderfreunde [und] Pädagogen“ sind für ihn die „Wohlthäter der Menschheit“, denn sie würden „die ersten Keime zum Guten und Edlen in den zarten Herzen [ihrer] Zöglinge“ erwecken und endlich auch im Kurfürstentum für die Verbreitung von „Licht und Aufklärung“⁷⁶⁵ sorgen. Ein „verstimmter Erdensohn“ wie Itzstein verstünde von dieser Sache augenscheinlich wenig, weshalb er „diese schönen Absichten“ nur tadeln und sie zum Ziel seiner „kothigen Zotten“⁷⁶⁶ machen könne. Offenkundig ist Stammel von den Vorurteilen der Aufklärung gegenüber dem Mönchtum stark geprägt, da er die Itzstein vorgeworfene Ignoranz auf dessen Leben als Mönch zurückführt. Wäre er nämlich kein Mönch, „dem jede Auslassung seiner gesellschaftlichen Triebe Verbrechen ist“, würde er begreifen, dass es Leute gebe, die versuchten, „der Jugend jeden Tand von abergläubischen Hexen- und Gespenster-Mährgen hinwegzutändelen, und an deren Platz Liebe zum Guten, und Wahren einzuflösen.“⁷⁶⁷ Ein weltabgewandter und für die Gesellschaft nutzloser Klosterinsasse kann aus Stammels Sicht kein Verständnis für einen derartigen Verdienst an der Gemeinschaft haben. Seine eilfertige Beteuerung in der Vorrede, nur die Wünsche eines Jünglings anzubringen und Itzstein nicht widerlegen zu wollen, hindern ihn nicht daran, diesen heftig anzugehen. Stammel war bewusst, dass gegenaufklärerische Stimmen durch die Revolution Auftrieb erhalten hatten und dass die bisher erzielten Verbesserungen im Schulwesen schnell wieder zunichte gemacht werden konnten. Die erneute Unterstellung der Schulkommission unter die Aufsicht des Generalvikariats wird ihm davon einen ersten Eindruck gegeben haben. Stammels Wertschätzung gegenüber der Pädagogik gründete auf dem Einfluss, den er der Erziehung auf die Entwicklung des menschlichen Charakters beimaß. Anders als Castello vertrat er nicht die Auffassung, dass die frühe Erziehung nur Nachahmung Gottes und somit zum Gebrauch der Vernunft ergibt.“ Fritsch: Auseinandersetzung (wie Anm. 193, S. 151), S. 164. Siehe dazu auch Kapitel 3.1.1. Dass der Wunsch zur Vervollkommnung tief im Menschen verankert war, konnte so theologisch begründet werden. Allerdings kam der Gedanke seit Christian Wolff „im akademischen Diskurs auch ohne eine göttliche Instanz aus.“ Siegert: Volksaufklärung (wie Anm. 175, S. 66), S. 418. 764 In der Verantwortung sieht er auch seine Mitmenschen, die die Bemühungen ihres „Bruder[s]“ unterstützen müssten, wollten sie nicht ihre „Bestimmung verkennen.“ Stammel: Jugendfreund (wie Anm. 75, S. 21), S. 6, 7. 765 Jeweils ebd., S. 7. 766 Jeweils ebd., S. 8. 767 Jeweils ebd., S. 9.
3.3 Wie soll der „trierische Knabe“ gebildet werden?
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noch wenig an den angeborenen Anlagen eines Kindes ändern könnte. Er orientierte sich stattdessen an den Ausführungen des protestantischen Göttinger Philosophie-Professors Johann Georg Heinrich Feder (1740–1821), der im zweiten Band seiner Untersuchungen über den menschlichen Willen (1782) zwar betonte, Erziehung vermöge nicht alles, könne aber doch vieles verändern: „D[e]nn sie hat die ersten durchs ganze Leben dauerhaften Eindrücke gröstentheils in ihrer Gewalt.“ Dadurch könne die Erziehung die Neigungen und ‚Kräfte‘ eines Kindes in die gewünschten Bahnen lenken und die weitere Entwicklung entscheidend prägen, was schon vielen „Menschen in der Stunde der Versuchung [ihren] Charakter gerettet“⁷⁶⁸ habe. Daraus zieht Stammel den Schluss, dass „eine unverfälschte, reine, und ganz aufgeklärte Erziehung zu empfangen“ unabdingbar sei, wolle der Staat rechtschaffene und fleißige Bürger haben. Denn sowohl für die Politik eines Landes als auch für den „National-Charakter“ eines Volkes seien die Folgen einer solchen Erziehung unübersehbar, was „der Historiker […] mit unläugbaren Daten“⁷⁶⁹ belege.⁷⁷⁰ Sein überschwängliches Herrscherlob, der Trierer Landesherr habe diese Zusammenhänge begriffen und es sich deshalb zur Pflicht gemacht, auch hinsichtlich des Bildungswesens zum „Verbesserer seines Staates zu werden“⁷⁷¹, muss ebenfalls vor dem Hintergrund gesehen werden, dass Stammel an einer Fortführung der Reformen gelegen war. Indem er unterwürfig von der landesherrlichen „Vatersorge“ sprach und Gott seinen Dank für den Kurfürsten aussprach, wollte er wahrscheinlich jeden Verdacht, die Aufklärung könne für revolutionäre Unruhen verantwortlich sein, zerstreuen. Die ausführliche Begründung seines Erziehungsverständnisses sollte seiner Schrift die notwendige argumentative Schlagkraft verleihen, wodurch er sich ebenso von Itzsteins „bübischen Zotten“ abzuheben
768 Zitiert nach ebd., S. 10. Stammel zitiert Feder sehr exakt, siehe: Johann Georg Heinrich Feder: Untersuchungen über den menschlichen Willen. Zweyter Theil, Lemgo 1782, S. 847–848. 769 Jeweils Stammel: Jugendfreund (wie Anm. 75, S. 21), S. 11. 770 Die Erziehung hat damit für Stammel größere Auswirkungen auf den ‚Nationalcharakter‘ als das Klima. Mit Verweisen auf Herder oder den Reiseschriftsteller Theophil Friedrich Ehrmann (1762–1811) suchte Stammel anschließend nachzuweisen, dass die richtige Erziehung die Menschen nicht nur in Europa, sondern überall auf der Welt „zur höchstmöglichsten Stufe der Humanität“ führen oder „im Gegentheil auch, wenn diese Behandlung verfehlt wird, […] bis zur bewustlosesten Bestie herabwürdigen“ (Jeweils ebd., S. 14) könnte. Gleichwohl hielt er nur die Europäer für gesittet, wobei auch hier die Erziehung für Unterschiede zwischen Franzosen, Deutschen oder Italienern sorge. Zu ‚Nationalcharakter‘-Konzepten in der Aufklärung vgl.: Michael Maurer: „Nationalcharakter“ in der frühen Neuzeit. Ein mentalitätsgeschichtlicher Versuch, in: Reinhard Blomert/Helmut Kuzmics/Annette Treibel [Hrsg.]: Transformation des Wir-Gefühls. Studien zum nationalen Habitus, Frankfurt a. M. 1993, S. 45–81, hier S. 74–81. 771 Stammel: Jugendfreund (wie Anm. 75, S. 21), S. 15.
278 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an versuchte. Schritt für Schritt bemüht er sich nachzuweisen, dass dieser Müller fälschlich verdächtige, an den Grundfesten der Religion oder des Staates rütteln zu wollen und nichts als „Verläumdungen“⁷⁷² anführe. Mitnichten würde Müller etwa den Wert von Traditionen in Frage stellen, sondern diesen vielmehr Achtung entgegenbringen. Allerdings könne selbst „die Allmacht“⁷⁷³ nicht in den Fluß der Zeit eingreifen, was zwangsläufig Veränderungen nach sich ziehe. Auch der Mensch dürfe darum in seiner Entwicklung nicht stehen bleiben, sondern müsse sich weiter entwickeln. Infolgedessen könnte es dem Erzieher nicht gleichgültig sein, „wenn er die Jugend noch im Aberglauben, und in einem tiefen Schlummer des Nichtbewustseyns antrift.“⁷⁷⁴ Anders als Itzstein hält Stammel die „Vorurtheile“ über die eigene Geschichte auch nicht für harmlos, sondern ist überzeugt, „daß jedes Mährgen, jedes fabelhafte Zeug, jeder abergläubische Irrwahn nur zu wichtige Folgen auf den Verstand, und das Herz habe.“ Für jeden „Selbstdenker“ sei offensichtlich, dass sich die „ganze Denkungsart des Menschen, besonders des Kleinen,“ nach diesem „Irrwahn“ bilde. In der Folge sehe das Kind nur noch „Popanzen, Gespenster, und Hexen, wo [es] mit einem freyern Auge nur Trunkenbolde, Katzen-Hader und alte Mütterchen sehen würde.“⁷⁷⁵ Auch wenn es als Heranwachsender mehr Einblick gewinne, würde stets ein Rest Aberglaube und Furcht übrig bleiben und zu einer „Verzagtheit und Unentschlossenheit“⁷⁷⁶ des Charakters führen. Auch für den „Geschichtsforscher“ hätten diese „Volks- und Stadtmährgen über die Geschichte“ konkrete Folgen, denn er sei darauf angewiesen, den exakten „Ursprung einer Menschenrase oder einer gewissen Volksklasse“ zu kennen, um daran „den Faden seiner Geschichte“ anzuknüpfen und „seine Beobachtungen über Kultur und Humanität“⁷⁷⁷ darzulegen. Ansonsten ziehe der Historiker die falschen Schlüsse über den Entwicklungsstand einer Nation. Für Stammel ist Geschichte weit mehr als die bloße Abfolge historischer Ereignisse; geschichtsphilosophisch begreift er sie als auf den Menschen zentrierte Fortschrittsgeschichte, die die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Bereichen wie Kultur, Wissenschaft
772 Jeweils Stammel: Jugendfreund (wie Anm. 75, S. 21), S. 16. 773 Ebd., S. 17. 774 Jeweils ebd., S. 18. 775 Jeweils ebd., S. 20. 776 Ebd., S. 21. Er belegt seine Argumentation mit dem 1787 erschienenen Werk Die Nichtigkeit der Zauberey des katholischen Theologen und Dillinger Professors Joseph von Weber (1753–1831). Außerdem verweist er auf den katholischen Juristen und Archivar Karl von Eckartshausen (1752–1803) und dessen Aufschlüsse zur Magie (1788–91). 777 Jeweils ebd., S. 20.
3.3 Wie soll der „trierische Knabe“ gebildet werden?
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und Politik erläutern soll und ohne theologische Implikationen auskommt.⁷⁷⁸ Wie Müller legte auch er Wert auf sorgfältige Quellenkritik, die über das bloße Sammeln hinausgehen müsse. Über die Irrtümer derart unzureichender Geschichtsschreiber, die den ‚trierischen Knaben‘ nur in seinem Aberglauben bestätigen würden, müsse dieser aufgeklärt werden.⁷⁷⁹ Als Aufklärer schließt sich Stammel daher ebenso Müllers Kritik an den herkömmlichen Katechismen und Erbauungsbüchern an: „[A]n die Stelle einer reinen Gottesverehrung tritt übel verstandene Andächteley; intollerante Ketzer-Verfolgung wird für Religionseifer, heilige Tändeleyen und andächtiges Nichtsthun für wahres Christenthum, und eine menschenscheue Frömmeley für Bruderliebe gehalten.“ Ähnlich wie die älteren Geschichtsschreiber, trägt seiner Meinung nach auch diese Art der Literatur nichts zur Aufklärung bei, sondern verstärkt den Aberglauben. Statt im Sinne der katholischen Aufklärung dem Erwachsenen oder dem Kind „Nahrung für seinen Verstand, und sein Herz“⁷⁸⁰ zu geben, um so eine Verinnerlichung des Glaubens zu befördern, werde nur eine mechanische Frömmigkeit gelehrt. Da in den Katechismen den Kindern die Glaubensinhalte nicht kindgerecht vermittelt würden, werde nicht der Verstand angesprochen, sondern einzig „Auswendiglernerey und bewustloses Herplapperen“⁷⁸¹ erwirkt. Aus dieser Unwissenheit wiederum resultiere Intoleranz gegenüber allem, was den stumpf gelernten Begriffen scheinbar widerspreche. Kokett gibt Stammel zwar vor, aufgrund seiner mangelnden Erfahrung nicht alle der im Kurfürstentum verwendeten Katechismen zu kennen, das ändert jedoch nichts an seinem vernichtenden Urteil über diese christlichen Lehrwerke, wovon er nur die landesherrlich verordneten ausnimmt.⁷⁸² Ausdrücklich weist er darauf hin, dass „der Handwerker, der gemeine Bürgersmann, und der Landmann“⁷⁸³ über keine anderen Bücher verfüge, weshalb die Aufklärung an diesem Punkt ansetzen müsse. 778 Rohbeck: Geschichte (wie Anm. 723, S. 266), S. 242–243. 779 Stammel merkt kritisch an, die Sage von Trebata als Stammvater der Trierer gehe auf die Darstellung zur Geschichte des Trierer Erzstifts zurück, die der Jesuit Christoph Brouwer (1559–1617) begonnen und sein Ordensbruder Jakob Masen (1606–1681) fortgesetzt hatte. Ihrer theologisch geprägten Erzählung zufolge habe sich die angebliche Stadtgründung unmittelbar nach der Sintflut ereignet. Erst Hontheim habe diesen Irrtum widerlegt. 780 Jeweils Stammel: Jugendfreund (wie Anm. 75, S. 21), S. 25. 781 Ebd., S. 26. 782 Dass er den Katechismus von Felbiger nicht ausschließlich positiv bewertete, zeigt seine Klarstellung: „Ob Hr. Abt Felbiger alle diese Fehler vermieden hat, will ich hier nicht untersuchen“ (ebd., S. 27). Die Bemühungen der Fürstbischöfe die Christenlehre zu verbessern, hebt er jedoch ausdrücklich hervor. 783 Ebd., S. 25.
280 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Auf den ersten Blick behandelt er die Heiligenlegenden mit größerer Zurückhaltung, da er ihnen prinzipiell Nützlichkeit attestiert, um den ‚gemeinen Mann‘ emotional an die Religion zu binden. Dass es sich dabei jedoch um bloße Rhetorik handelt, wird deutlich, wenn er im Anschluss fordert, die Texte müssten allerdings nüchtern, sachlich und frei „von allem übertriebenen Wunderbaren, und Zweifelhaften“ sein. Im Unterschied zu Müller formuliert er offensiv, dass in ihnen nichts enthalten sein dürfe, „was der Sittlichkeit, und dem Wohl des Staats in einem Betracht hinderlich, oder nachtheilig seyn könnte.“⁷⁸⁴ Märtyrergeschichten, die durch die Bibel nicht gesichert seien, dürften darum genauso wenig verwendet werden, wie Geschichten über Heilige, deren Existenz nicht zweifelsfrei belegt sei. Damit schließt er sich Müllers Argumentation an und empfiehlt, einzig „einzelne, edle, nachahmungswürdige Züge frommer und tugendhafter Christen“ könnte man als „Muster der Heiligkeit“ zum Lesen geben. Diese Kriterien trafen allerdings aus Stammels Sicht auf die bisherigen Heiligenlegenden mit ihren „Lügen, und Ungereimtheiten“⁷⁸⁵ nicht zu. Zwar rückt er die Geschichte Olevians nicht in die Nähe einer Heiligenlegende, durch die häufige Verwendung des Pronomens ‚unser‘ macht er jedoch deutlich, dass er den gescheiterten Reformationsversuch als Bestandteil der eigenen Geschichte sieht, der nicht einfach verschwiegen werden darf. Aus der gesicherten Überlieferung ließ sich aus seiner Sicht mehr lernen als anhand jeder idealisierten Legende. Stärker als bei Müller tritt bei ihm die Auffassung zutage, dass nur durch ein aufgeklärtes Religionsverständnis „wackre Bürger“ herangebildet werden können, „die ihre Pflichten kennen, und sie ganz zu erfüllen trachten“. Im Sinne der katholischen Aufklärung vertrat Stammel eine klar auf das Diesseits ausgerichtete Haltung: Nicht „unnütze Andächtler“ wolle der Staat, sondern Menschen, die wüssten, dass sie „geschaffen für diese Welt, und ihre Vergnügen“⁷⁸⁶ seien. Aus seiner Sicht kann nur eine an den Maßstäben der Aufklärung ausgerichtete Bildung diese Erkenntnis herbeiführen. Dass sich ein „ächte[s] und reine[s] Christenthume“⁷⁸⁷ nicht ohne Weiteres durchsetzen ließ, war ihm jedoch bewusst, weshalb er sich reflektiert mit der Volksaufklärung auseinandersetzte. Anders als Castello sah er im Verbot der alten Erbauungsliteratur keine Lösung. Vielmehr könne nur derjenige sich „mit dem heiligen Namen eines Volksaufklärers“ schmücken, dem es gelänge, „die Religionswahrheiten für den gemeinen Mann so wichtig und interessant zu machen […], daß er von freyen Stücken seinen Irrwahn und Aberglauben verab-
784 785 786 787
Jeweils Stammel: Jugendfreund (wie Anm. 75, S. 21), S. 28. Jeweils ebd., S. 29. Jeweils ebd., S. 28. Ebd., S. 29.
3.3 Wie soll der „trierische Knabe“ gebildet werden?
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schiede.“⁷⁸⁸ Aus diesem Grund schlug er vor, aufklärerische Bücher so zu gestalten, dass sie in ihrer Aufmachung den Werken altbekannter Autoren ähnelten.⁷⁸⁹ Für die Jugend erachtet er allerdings auch die Werke von Campe, Salzmann oder Friedrich Eberhard von Rochow (1734–1805) als geeigneten Ersatz für Martin von Cochem und anderen Autoren dieser Couleur. Entschieden verwahrt er Müller gegen die Kritik Itzsteins, mit Kaspar Olevian nur einen äußerst schmalen Ausschnitt der Trierer Geschichte zu präsentieren: Aus Sicht des Pädagogen sei ein solches Vorgehen methodisch sinnvoller, da die Kinder nicht mit zu vielen Zusammenhängen und Begebenheiten überfordert würden, sondern langsam lernten, „eine Reihe von Ursachen, und Wirkungen aneinander zu ketten“ und „so mit einem hellern Blick das Gebieth der Geschichte zu durchwandern.“ Aus diesem Grund sei auch der Kaßpar Olevian als „ein Beytrag zur Vervollkommnung des Menschen“⁷⁹⁰ zu werten. Müllers Schrift interpretiert er in dessen Sinne als Warnung vor Religionsschwärmerei und Intoleranz. Stammel bejaht die Frage Itzsteins, ob der ‚trierische Knabe‘ den damaligen Religionsaufstand mit aktuellen Ereignissen vergleichen solle: Daran könne er erkennen, wohin „Religions-Eifer“, „Empörung“ und „niedere Verblendungen“ führen könnten. Da sich der Trierer „ganz glücklich durch weise Landes-Gesetze“ regiert fühle und seine Untertanenpflichten kenne, würde ihn das Beispiel Olevians abschrecken, „ein allgemeiner Ruhestörer zu werden“⁷⁹¹. Auch Stammel vertritt damit die Ansicht, dass die Jugend aus der Geschichte lernen und durch die Beschäftigung mit dem Vergangenen das Gegenwärtige besser verstehen könnte. Er wertet den Kaßpar Olevian folglich nicht als Anstachelung zum revolutionären Umsturz. Die „Fackel der Empörung“ sei an seinem Vaterland vorübergegangen, gleichwohl sie „unter manchen unsrer Brüder, und Nachbaren“ wüte. Indem er von ‚Fackel‘ spricht, macht er deutlich, dass er – zumindest vordergründig – allen revolutionären Umtrieben ablehnend gegenübersteht, weil sie nur Zerstörung bringen.⁷⁹² Zusammen mit der Aussage, im Kurfürstentum seufze niemand unter dem „Priester-Joch“, sondern empfinde es als Segen, dass der 788 Jeweils ebd., S. 30. 789 „Ich meyne solche Bücher, welche noch mit jenen dicken und prallen Holzfiguren aus den 16. Jahrhundert mit jenen altväterischen großen Lettren, und mit einem schwarz rothen Titelblatte versehen, ganz der Erwartung des Landmannes entsprechen. Wie z. B. eine Noth- und HilfsBüchlein.“ Ebd., S. 31. Vgl. zur stärker auf Sinnliches setzenden volksaufklärerischen Literatur: Böning: Aufklärung (wie Anm. 68, S. 42), S. 23. 790 Jeweils Stammel: Jugendfreund (wie Anm. 75, S. 21), S. 36. 791 Ebd., S. 38. 792 Je nachdem, wie der Begriff Fackel gebraucht wurde, konnte er auch ganz im Gegenteil für Aufklärung stehen: Die Redewendung ‚Mit der Fackel der Aufklärung etwas beleuchten‘ nahm Campe beispielsweise in sein Wörterbuch der deutschen Sprache (1811–1817) auf, vgl. Daniel Fulda:
282 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an „Landesvater auch Vater der Kirche ist“, möchte er erneut verdeutlichen, dass nicht jeder Aufklärer automatisch Revolutionär sein muss. Wie für Müller besteht auch für ihn die beste Vorbeugung in einem aufgeklärten Katholizismus, da dieser – anders als der Aberglaube – nicht durch Fanatiker missbraucht werden könne. Als Müller 1788 seinen Kaßpar Olevian verfasste, um ein Beispiel für eine der Aufklärung verpflichtete Lektüre zu geben, war die Reform des Schulwesens im Kurfürstentum Trier längst im Gange. Praktische Fragen nach besser ausgebildeten Lehrern, der Schulpflicht oder ausreichenden Schulgebäuden erschienen nicht mehr dringlich, sehr wohl aber die Frage, inwieweit sich die Unterrichtsgegenstände an der Aufklärung orientieren sollten. Müllers Antwort war der Versuch, aufklärerische Ideen mit und durch Geschichte der Jugend zu vermitteln. Der gescheiterte Reformationsversuch von Kaspar Olevian erschien ihm als geeigneter Anfang, um vor religiöser Schwärmerei und Fanatismus zu warnen und für ein aufgeklärtes Religionsverständnis zu werben. In den Augen des Benediktiners Itzstein machte er sich jedoch mit der Kritik an barockkatholisch geprägter Literatur in Verbindung mit einer Geschichte über die Reformation verdächtig, die Grundfesten von Religion und Staat erschüttern zu wollen. Nicht zufällig ist Itzsteins Erwiderung erst 1792 vor dem Hintergrund einer wachsenden Bedrohung durch das revolutionäre Frankreich entstanden. Die Geschehnisse im Nachbarland bestätigten ihn in seiner Deutung, dass die Aufklärung verantwortlich für die Revolution sei. Eine Bildung des ‚trierischen Knaben‘ im Geiste der Aufklärung betrachtete er darum als Gefahr. Stammel erkannte hingegen, dass die als Bedrohung wahrgenommene Revolution den Argumenten orthodoxer Katholiken Auftrieb verlieh, weswegen er versuchte, jegliche Sorgen über ein angeblich aufrührerisches Potenzial des Kaßpar Olewian oder der Aufklärung allgemein zu zerstreuen. Pädagogisch versiert war ihm daran gelegen, die Bedeutsamkeit einer aufgeklärten Erziehung für das Wohl eines Staates und das seiner Bürger nachzuweisen, weshalb Erzieher für ihn die wahren Wohltäter der Menschheit waren. Die Bekämpfung von (historischen) Vorurteilen und Aberglauben war ihm gemeinsam mit Müller ein zentrales Anliegen katholischer Aufklärung. In der Beschäftigung mit dem Gewesenen sah auch er einen geeigneten Gegenstand, um Erkenntnisse für die Gegenwart zu gewinnen.
„Die Geschichte trägt der Aufklärung die Fackel vor.“ Eine deutsch-französische Bild-Geschichte, Halle (Saale) 2017, S. 16–19.
3.4 Zwischenfazit | 283
3.4 Zwischenfazit Zu den wichtigsten Reformfeldern der katholischen Aufklärung in vorrevolutionärer Zeit zählten das Kloster- und Mönchswesen, die Priesterausbildung sowie das Bildungswesen insgesamt. In allen drei Bereichen leitete Kurfürst Clemens Wenzeslaus – angeregt durch aufgeklärte Mitarbeiter – Reformmaßnahmen ein, die dem von protestantischen und katholischen Aufklärern erhobenen Vorwurf der Rückständigkeit begegnen sollten. Die Reformen waren durch die Aufklärung beeinflusst, zielten aber aus landesherrlicher Sicht darauf ab, den eigenen machtpolitischen Einfluss zu stärken. Flankiert wurden diese mehr oder minder erfolgreichen Reformen von Meinungsbeiträgen der geistlichen und weltlichen Elite, die unterschiedlich auf den Umbruch der Aufklärung reagierten. Die vorangegangenen Kapitel haben gezeigt, dass die katholischen Aufklärer die Meinungsführerschaft zwar für sich beanspruchten. Trotzdem wagten sich auch Akteure nach vorne, die, bezogen auf ihre vorgebrachten Argumente, der Gruppe der orthodoxen Katholiken zugerechnet werden können. Die Autoren, die zu den katholischen Aufklärern zählten, sahen in der Aufklärung keine Bedrohung, sondern die Möglichkeit, ein von barocken Frömmigkeitsformen ‚bereinigtes‘, zeitgemäßes Christentum zu etablieren. Sie alle wähnten sich im Kampf gegen den Aberglauben, setzten dabei jedoch an unterschiedlichen Stellen an: La Roche wollte das Bettelmönchtum in seiner bisherigen Form abschaffen und neu aufstellen, Castello hingegen wollte die Lebensverhältnisse und die (Aus-)Bildung der Geistlichen verbessern. Müller und Stammel setzten wiederum ihre Hoffnungen in die Bildung der Jugend. Als Staatsdiener orientierte sich La Roche bei seinen Vorschlägen am größtmöglichen Nutzen für Staat und Gesellschaft, wohingegen dem anonymen Klostergeistlichen – bei dem es sich möglicherweise um den Benediktiner Sanderad Müller handelte – daran gelegen war, dass die Bedürfnisse seiner aufgeklärten Ordensbrüder stärker in den Mittelpunkt rückten. Gleichwohl wird bei allen eine utilitaristisch gefärbte Argumentation erkennbar: So sollte zum einen die Jugend zu guten und fleißigen Bürgern ausgebildet werden. Zum anderen konnte das Mönchtum seine Berechtigung nicht mehr aus klösterlicher Abgeschiedenheit zur Ehre Gottes ziehen, sondern die Mönche sollten wahlweise als Pfarramtsgehilfen oder in wissenschaftlicher Forschung und Unterricht ihren Nutzen unter Beweis stellen. Auch bei den Pfarrern rechtfertigte das Amtscharisma allein nicht mehr ihre herausgehobene Stellung, sondern sie sollten als Volksaufklärer Ansehen erlangen. Diese Beispiele zeigen, dass die Aufklärung einen Umbruch für die Vertreter klösterlicher und kirchlicher Institutionen sowie für die Glaubenspraxis insgesamt darstellte.
284 | 3 Aufklärung und Katholizismus: Ein Umbruch bahnt sich an Hatte La Roche die gegenaufklärerischen Argumente orthodoxer Katholiken innerhalb seiner Romanfiktion noch selbst, wenn auch sehr polemisch, mitverhandelt, bezogen diese nach Revolutionsausbruch ebenfalls öffentlich Stellung. Sowohl der anonyme Weltmann als auch Itzstein rückten die Positionen der katholischen Aufklärung bewusst in die Nähe Luthers bzw. des Protestantismus, um sie zu diskreditieren. Beide begegneten dem Umbruch der Aufklärung dadurch, dass sie ihren Einfluss auf Kirche und Religion möglichst einzudämmen versuchten, um Bestehendes zu bewahren. Das bedeutete allerdings nicht, dass sie sich Veränderungen zur Beseitigung von Missständen vollständig verweigerten. Allerdings erhoffte sich der Weltmann von der kurfürstlichen Klosterpolitik eine Wiederherstellung der früheren Klosterdisziplin, die er durch die Verbreitung aufklärerischer Ideen zerstört sah.⁷⁹³ Stellte für ihn 1790 die Revolution noch eine abstrakte Gefahr dar, lässt sich an Itzsteins Argumentation ablesen, dass sich die orthodoxen Katholiken unter dem Eindruck wachsender Kriegsgefahr und einer verschärften Kirchen- und Religionsgesetzgebung im revolutionären Frankreich bestätigt sahen, dass die Aufklärung Ursache der Revolution sei. Aufklärer wie Stammel nahmen wahr, dass ihre Deutungshoheit abnahm. Kritische Stimmen wie die von Weihbischof Herbain fanden in der geistlichen Verwaltung des Erzbistums wieder mehr Gehör, sodass die Reformen – wie in anderen Fürstentümern auch – zum Erliegen kamen oder rückgängig gemacht wurden. Allein das Bild des Pfarrers als Volksaufklärer scheint weitgehend unstrittig gewesen zu sein, worauf noch 1794 Prestinarys Engagement für die Brandversicherung hinweist. Sofern die Pfarrer ihre Rolle zur Unterstützung der Obrigkeit nutzten, erregten sie anscheinend auch bei orthodoxen Katholiken keinen Anstoß. Dessen ungeachtet, musste die französische Okkupation des Linksrheinischen den bereits mit Revolutionsausbruch virulent gewordenen Konflikt zwischen aufgeklärten und orthodoxen Katholiken um den Stellenwert der Aufklärung weiter zuspitzen.
793 Itzsteins Einstellung zum ‚Felbiger‘ bleibt unklar. Wahrscheinlich konnte er sich mit diesem arrangieren, solange nicht sämtliche Erbauungsliteratur durch aufklärerisches Schrifttum ausgetauscht werden sollte.
4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? War die Französische Revolution in den Augen vieler Gegenaufklärer das Ergebnis einer „Verschwörung durch Aufklärer und Freigeister“, so feierten Revolutionsbefürworter das Ereignis als „Verwirklichung der Aufklärung.“¹ Anders als von Anhängern und Gegnern der Aufklärung behauptet, waren die Ursachen der Revolution jedoch sehr viel komplexer.² Französische Aufklärer wie Voltaire oder Rousseau, die den deutschen Gegenaufklärern als Schreckensfiguren der französischen Aufklärung galten, waren 1789 längst verstorben – beide starben 1778 – und hatten auf die Ereignisse keinen direkten Einfluss. Vielmehr gewannen die Revolutionäre ihre Inspiration aus Büchern oder Zeitschriften, die eine breitere, populär aufbereitete Zusammenstellung aufklärerischer Ideen bekannter Autoren enthielten. Gleichwohl schuf die Bewegung der Aufklärung mit ihrer kritischen Infragestellung bisheriger Gewissheiten in Verbindung mit neuen Kommunikationsformen und Medien die Voraussetzung, die zeitgenössischen politischen Verhältnisse als veränderbar wahrzunehmen und entsprechend zu handeln.³ Wie das vorangegangene Kapitel allerdings gezeigt hat, war es Anfang der 1790er Jahre und besonders nach Kriegsausbruch im April 1792 für linksrheinische Aufklärer klüger, ihre mögliche Revolutionsbegeisterung zurückzuhalten, wollten sie in ihren Ländern nicht die letzten Reste der Reformprozesse gefährden. Die bis Herbst 1794 erfolgende Einnahme des Linksrheinischen durch die französischen Armeen markierte schließlich für das Kurfürstentum und Erzbistum Trier einen tiefgehenden Umbruch in den sozialen, politischen und religiös-kulturellen Verhältnissen. Obwohl die Besetzung das faktische Ende der kurfürstlichen Landesherrschaft bedeutete, behielten die Besatzer 1794 zunächst sowohl die alte Ämterorganisation als auch das Personal bei. Erst im Laufe der Zeit versuchten sie sich an einer Neuorganisation, was die Zeit der militärischen Besetzung zwischen 1794 und 1798 insgesamt zu einer sehr chaotischen machte. Einen vollständigen Bruch mit der alten Herrschaft markierte das Jahr 1798: Obwohl ein endgültiger Friedensschluss noch ausstand, begannen die Franzosen mit der verwaltungsmäßigen Angliederung der eroberten Gebiete an Frankreich und ihrer Einteilung in Departe-
1 Jeweils Hans-Ulrich Thamer: Die Französische Revolution, München 2004, S. 18. 2 Zu den Ursachen der Revolution vgl. Kuhn: Revolution (wie Anm. 200, S. 73), S. 25–57; Thamer: Revolution (wie Anm. 1), S. 12–28. 3 Vgl. ebd., S. 19. https://doi.org/10.1515/9783110674545-004
286 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? ments. Allerdings galt in den neuen Departements erst ab 1802 die französische Verfassung der Konsulatsregierung Napoleons.⁴ Die Okkupation und spätere Annexion durch die Franzosen änderte die Situation für Gegner und Befürworter der Aufklärung wie der Revolution grundlegend. Hatte es bisher so ausgesehen, als hätten die gegenaufklärerisch eingestellten orthodoxen Katholiken mit der Revolution die Oberhand gewonnen, mussten sie nun befürchten, (wieder) in die Defensive zu geraten. Die Franzosenzeit regte allerdings nicht nur erneute innerkonfessionelle Debatten über Glaubensreform oder -orthodoxie an. Vielmehr schlug sich der Herrschaftswechsel auch in der Wahrnehmung der Folgen für Religion und Kirche nieder. Die Tagebücher oder Berichte aus dieser Zeit beschreiben die Auswirkungen auf die Bevölkerung und die Geistlichkeit, die sich mit zahlreichen Veränderungen konfrontiert sahen. Die französische Annexionspolitik führte dazu, dass auch im Rheinland die Zulässigkeit der sogenannten Priestereide diskutiert wurde. Erst die napoleonische Herrschaft schien Beruhigung für das Verhältnis zwischen Staat und Kirche zu verheißen.
4.1 Reaktionen auf den politischen Umbruch 4.1.1 Herrschaftswechsel: Wahrnehmung der Folgen für Religion und Kirche Die Angst der Fürsten und ihrer Minister, die Revolution könnte auch auf das Alte Reich übergreifen, zumal es auch in ihren Ländern Unruhen gab, war nicht unbegründet. Zu Konflikten war es auch im Kurfürstentum Trier gekommen und nach dem Sturm auf die Bastille im Juli 1789 tauchten einen Monat später in Trier Plakatanschläge auf, auf denen ein Anonymus im Ton der Revolution an den Widerstandsgeist der Bürger appellierte.⁵ Aus diesem Grund wurde wahrscheinlich im kurfürstlichen Landkalender von 1790 ein fiktiver Dialog zwischen einem französischen und einem deutschen Bürger über „die Unruhen in Frankreich und die Folgen einer Rebellion“ abgedruckt. In diesem Gespräch wird die Revolution als fataler Umsturz dargestellt, bei dem zwar Freiheit versprochen werde, aber nur Plünderungen und anarchisches Chaos die Folge seien. Ein redlicher Bürger wie
4 Siehe zur französischen Zeit im Rheinland Kapitel 2.3. 5 Auch in Boppard war ein seit 1786 schwelender Streit zwischen der Bürgerschaft und der kurfürstlichen Regierung über eine Forstverordnung durch die revolutionären Ereignisse im Nachbarland neu befeuert worden, vgl. Rolf Reichardt: Deutsche Volksbewegungen im Zeichen des Pariser Bastillesturms. Ein Beitrag zum sozio-kulturellen Transfer der Französischen Revolution, in: Helmut Berding [Hrsg.]: Soziale Unruhen in Deutschland während der Französischen Revolution, Göttingen 1988, S. 10–27, hier S. 16. Vgl. auch Birtsch: Unruhen (wie Anm. 5, S. 2), S. 149–151.
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der französische Dialogpartner hätte unter dieser falsch verstandenen Freiheit zu leiden und würde ins soziale Elend gestürzt werden.⁶ Der Deutsche, der den klingenden Namen Treulieb trägt, zeigt sich daher erleichtert, dass die Deutschen um die Berechtigung von Standesunterschieden wüssten: „Wir wissen, daß unsere Landesverfassung Leute erfordert, welche die höchste Landesobrigkeit vorstellen, welchen allen Einwohnern befehlen können. – Beamten, welche unsere Streitsachen entscheiden, über die Landesordnungen wachen, und darauf sehen, daß sie befolget werden, Geistlichen, welche uns lehren, predigen, und den Gottesdienst besorgen.“ Er ist darum überzeugt, dass es einen solchen „gottlosen Aufruhr“ in Deutschland nie geben würde, da die „Zahl der redlich gesinnten Deutschen“ viel höher als die desjenigen „Gesindel[s]“⁷ sei, das ähnlich denke wie die revolutionären Franzosen. Ob derartige Artikel zur Beruhigung beitrugen, bleibt dahingestellt. Nach Beginn der Revolutionskriege 1792 notierte der Trierer Ludwig Müller in seinem Tagebuch einen „Geist des Aufruhrs gegen die Kirche“ ausgemacht zu haben, der für ihn an „Fanatismus“⁸ grenzte. Ausgehend von seinen Wahrnehmungen der revolutionären Ereignisse im Nachbarland, konstatierte er für Religion und Kirche die schlimmsten Folgen: Allmähliche Auslöschung des Glaubens, Vergessenheit des künftigen Lebens, Zernichtung der Liebe und christlichen Sittenlehre, Hintansetzung der Sakramente, Verachtung des Wortes Gottes, der Fasten, des Gebeths, und aller Uebungen der Gottseligkeit, Schändung der Kirchen, der dem Allerhöchsten geheiligten Tage, und alles dessen, was zu seiner Verehrung gehört; Geringschätzung der Religion, ihrer Dogmen, ihrer Gebothe, ihrer Räthe.⁹
Inwiefern er diese Zustände im Kurfürstentum schon herrschen oder erst kommen sah, sofern „boshafte Plane der Unabhängigkeit, des Aufstandes, der Anarchie gegen die rechtmäßigen Souveräne“ auch dort verwirklicht würden, bleibt unklar. Seine Kritik an jenen, die „alles Mißbrauch“ nennen würden, „was ihre vorgefaste Meinungen und Einbildungen durchkreuzt“¹⁰, bezog sich aber wahrscheinlich
6 Bei dem Franzosen wird es sich wahrscheinlich nicht ohne Grund um einen Schneider gehandelt haben: Als die Untersuchungskommission, die den Streit zwischen den trierischen Zünften und der Regierung beilegen sollte, ihre Ergebnisse im Oktober 1789 verkünden wollte, kam es zum Aufruhr, der angeblich von einem Schneider angeführt wurde. Vgl. ebd., S. 150. 7 Jeweils Kurfürstlich-Trierischer Land-Kalender 5 (1790), o. S. 8 Jeweils Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1792. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 18v. 9 Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1792. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 18v. 10 Jeweils Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1792. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 18v. – Laut Guido Groß handelte es sich bei Ludwig Müller um den 1750 geborenen Bruder von Sanderad und Michael Franz Joseph Müller. Ludwig soll Privatgelehrter gewesen und 1813 in Trier gestorben sein, vgl.
288 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? nicht nur auf die Franzosen, sondern auch auf deutsche Aufklärer. Dass er zu einem orthodoxen Katholizismus neigte, ist daher anzunehmen. Mit wachsender Kriegsgefahr stieg in der Bevölkerung das Bedürfnis nach möglichst aktuellen und unmittelbaren Informationen über den Kriegsverlauf. Deshalb versuchte ein bei der kaiserlichen Reichspost in Trier beschäftigter Beamter, die Zeitung Kurier von der Mosel und den belgischen und französischen Gränzen zu etablieren. Da er keine behördliche Lizenz zur Herausgabe erhielt, erschien die Zeitung in zwölf Einzelblättern alle drei bis fünf Tage. In einer Ankündigung von Juli 1792 gab der namentlich nicht genannte Verfasser an, die Bevölkerung mit politischen Nachrichten versorgen zu wollen, denn die Stadt werde „in gegenwärtigem Zeitumstände der Centralpunkt, wo die Hauptnachrichten der gegen Frankreich agirenden Armeen zusammen treffen“¹¹. Zwar gab er vor, neutral über die Geschehnisse berichten zu wollen, aber es war in der Folge offensichtlich, dass seine Sympathien eindeutig auf Seiten der Koalitionsarmee lagen. Die Nationalversammlung galt ihm als „erlauchte[…] Versammlung jakobinischer Bösewichter“¹² und ausführlich wurde über Gräueltaten an Geistlichen und Adligen in Paris berichtet. Der Schwerpunkt der Berichterstattung lag jedoch auf der zunächst erfolgreichen Truppenbewegung der Koalitionäre. Immer wieder wurden Gerüchte ausgeräumt, die Franzosen würden auf strategisch entscheidende Orte im Kurfürstentum vorrücken.¹³ Militärische Misserfolge der Koalitionsarmee spielten hingegen kaum eine Rolle, widersprachen sie doch dem Bild der siegreichen und überlegenen Koalitionäre. Erst im letzten Heft wird die Aufgabe Verduns angedeutet, eine Niederlage der deutschen Truppen aber noch immer für unmöglich gehalten.¹⁴ Groß: Sanderat (wie Anm. 425, S. 200). Laut Blazejewski/Laux: Trier (wie Anm. 5, S. 2) war Ludwig Müller hingegen der Onkel der beiden und Buchhändler. Diese Information findet sich auch bei Muller: Leben (wie Anm. 720, S. 265), S. 795, der als Lebensdaten die Jahre 1716 bis 1799 angibt. Das Tagebuch reicht allerdings bis 1802. 11 Nachricht ans Publikum, 19. Juli 1792. Sowohl Franz: Geistes- und Kulturgeschichte (wie Anm. 123, S. 55), S. 280 als auch Zenz: Zeitungen (wie Anm. 84, S. 23), S. 16 geben als Namen des Postbeamten Isaar an; weitere Informationen zu ihm gibt es keine. – Mit Kriegsbeginn 1792 wurde die Stadt Trier zum Aufmarschgebiet der österreichischen und preußischen Truppen sowie der Emigrantenarmee, was aufgrund der notwendigen Versorgung so großer Truppenverbände eine hohe Belastung darstellte. Nach der erfolglose Kanonade von Valmy wurde Trier zur Etappenstadt und musste eine hohe Zahl an Soldaten einquartieren, viele davon krank und verwundet. Vgl. Gerteis: Trier (wie Anm. 227, S. 79), S. 67. 12 Kurier von der Mosel und den belgischen und französischen Gränzen 1 (1792). 13 Vgl. Kurier von der Mosel und den belgischen und französischen Gränzen 6 (1792), o. S. Gerade bei den Nachrichten, die von außerhalb Triers oder der unmittelbaren Umgebung ankamen, kam es zu zeitlichen Verzögerungen von mehreren Tagen. 14 Kurier von der Mosel und den belgischen und französischen Gränzen 12 (1792), o. S. Im gleichen Heft wird auch die Einnahme der Stadt Merzig bestätigt. Die preußische Armee befand sich
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Ab Oktober 1792 durfte die Zeitung nicht mehr erscheinen. In einer Anzeige des Beobachters von der Saar heißt es, der Stadtmagistrat von Trier habe dies aufgrund der „enthaltenen Lästerungen gegen das fränkische Volk und seine Revolution“¹⁵ verfügt. Aufgrund der negativen Einstellung des Kuriers gegenüber den französischen Revolutionären erscheint diese Begründung plausibel, denn die großzügige Aufnahme französischer Emigranten hatte die Beziehung zwischen Frankreich und dem Kurfürstentum bereits erheblich belastet. Da die Frage nach dem Umgang mit den Emigranten für die französische Kriegserklärung eine wesentliche Rolle spielte, ist es naheliegend, dass der Stadtmagistrat, der das vorherige Agieren des Kurfürsten von Anfang an kritisch bewertete, weitere Provokationen vermeiden wollte und den Kurier darum verbot.¹⁶ Die Besetzung des Kurfürstentums konnten derartige Maßnahmen jedoch nicht mehr verhindern. Wahrnehmung der Besetzung Trotz der wiederkehrenden Gerüchte, die Franzosen seien auf dem Vormarsch und hätten bereits diese oder jene Stadt eingenommen, legt der Bericht, welchen der Koblenzer Pfarrer und Gymnasiallehrer Alexander Bertram Joseph Minola (1759–1829)¹⁷ über die ersten Jahre der Besetzung verfasste, nahe, dass die Bürger der Stadt Trier von den Ereignissen im August 1794 überrascht wurden. Zum einen macht er dafür das Versagen der österreichischen Truppen verantwortlich, die die krankheitsbedingt in einem desolaten Zustand und zog sich nach der Kanonade von Valmy aus Frankreich zurück, vgl. Smets: Citoyen (wie Anm. 6, S. 2), S. 22. 15 Der Beobachter an der Saar 9 (1798), o. S. Der Verfasser des Kuriers kündigt in einer letzten Nachricht an seine Leser an, mit der Veröffentlichung aufgrund der „kritischen und bedenklichen Zeitumstände in Rücksicht auf die französische Revolution“ eine Weile aussetzen zu müssen. 16 Vgl. Blazejewski/Laux: Trier (wie Anm. 5, S. 2), S. 233; Clemens: Clemens Wenzeslaus (wie Anm. 6, S. 26), S. 12–17. – Bereits 1791 hatte König Ludwig XVI. dem Kurfürsten ein Ultimatum gestellt, „bis zum 15. Januar des darauffolgenden Jahres alle militärischen Rüstungen und Ansammlungen der Emigranten zu unterbinden“ (Blazejewski/Laux: Trier (wie Anm. 5, S. 2), S. 235). Zwar verschärfte der Kurfürst als Konsequenz die Emigrantengesetzgebung, doch die Bildung einer Armee unter Führung der nach Koblenz geflüchteten königlichen Brüder ging weiter, was Frankreich mit Argwohn beobachtete. 17 Minola studierte Theologie in Trier und wurde 1782 zum Priester geweiht. 1786 berief ihn Clemens Wenzeslaus als Lehrer ans Koblenzer Gymnasium, wo er bis 1804 unterrichtete. Anschließend wurde er Archivar eines westfälischen Adelsgeschlechts. Von 1812 bis 1818 unterrichtete er wieder als Gymnasiallehrer in Bonn. Ab den 1800er Jahren begann er sich mit Geschichte zu beschäftigten und verfasste mehrere historische Untersuchungen. – Minolas Aufzeichnungen wurden gekürzt von Hermann Cardauns herausgegeben; Auslassung sind von ihm als solche gekennzeichnet. Der Bericht umfasst die Jahre zwischen 1794 und 1797, wobei es für 1795 eine größere Überlieferungslücke im Manuskript gibt. In der vorliegenden Form ist der Bericht wahrscheinlich um 1798 entstanden. Vgl. Minola: Franzosen (wie Anm. 76, S. 21), S. 1–11.
290 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Stadt eigentlich hätten schützen sollen. Deren General Ernst von Blankenstein (1733–1816) stellt er als unfähig dar: „Er war, hies es, ein Mann, der gern auf fremde Kösten gut lebte, den Tisch der Domherren und Präläte liebte […]; er spielte gern, und so, daß er, selbst als der Feind heranrückte, die Ordonancen mit Stunden warten lies.“¹⁸ Während der Einnahme der Pellinger Schanzen, der letzten Verteidigungslinie vor Trier, sei dieser sogar „zur Promenade vor die Stadt“ geritten. Minola gibt zwar zu, dass es sich bei dieser Geschichte möglicherweise um einen Racheakt der Trierer handeln könnte, glaubt aber, „daß es Sachen sind, welche die Trierer mit gesunden Augen sehn und mit ihren Ohren hören konnten.“¹⁹ Trotzdem gibt er nicht allein Blankenstein die Schuld daran, dass die Verschanzung nicht gehalten werden konnte, da sein Korps zahlenmäßig den Franzosen ohnehin unterlegen gewesen sei.²⁰ Er deutet allerdings an, dass die preußische Unterstützung absichtlich auf sich habe warten lassen, da längst verabredet worden sei, den Kordon um Frankreich enger zu schließen und Trier dabei auszusparen. Noch bevor „man in einer öffentlichen Zeitung etwas davon gewahr wurde“, habe Staatsminister Duminique bereits veranlasst, die Besitztümer des Hofes zu verpacken und fortbringen zu lassen, was ihm der Adel gleich getan habe. Damit sieht Minola die Schuld für die vermeintlich überraschende Einnahme der Stadt nicht nur bei der schlechten Verteidigung, sondern explizit auch in der ausbleibenden Warnung durch die eigene Regierung. Die Bevölkerung „sah flüchten“, habe aber den Grund nicht gekannt und deshalb geglaubt, es handle sich nur um eine weitere „Donquixodiade“²¹ des Staatsministers. Dieser Irrtum habe dazu geführt, dass zum „Unglück“²² des Priesterseminars und der Abteien nur wenige ihrer Besitztümer hätten gerettet werden können. Inwiefern die Einnahme der Stadt Trier für die Bevölkerung tatsächlich so überraschend kam, ist fraglich, konnten sie doch den ganzen Juli – wie Minola selbst berichtet – beobachten, wie Wertgegenstände abtransportiert wurden. Müller berichtet in seinem Tagebuch, die Klöster hätten alles fortgeschafft und die Schreiner hätten Tag und Nacht arbeiten müssen, um mit dem Bau von Kisten nachzukommen. Auch habe man Ende Juni erfahren, dass die Franzosen bei Saarlouis ständen und es „wirklich wagen woll[t]en“²³ auf die Pellinger Schanzen vorzurücken. Allerdings legt auch der Bericht des Trierer Juristen, Stadtrats und Syndikus mehrerer Klöster, Johann Friedrich Lintz (1749–1829) nahe, dass der Rück18 Minola: Franzosen (wie Anm. 76, S. 21), S. 13. 19 Jeweils ebd., S. 14. 20 Vgl. dazu auch Gerteis: Trier (wie Anm. 227, S. 79), S. 68. 21 Jeweils Minola: Franzosen (wie Anm. 76, S. 21), S. 14. Gemeint ist hier die Donquichotterie. 22 Ebd., S. 15. 23 Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1794. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 6, vorher 7.
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zug der österreichischen Truppen sehr schnell erfolgte, als die nötige Verstärkung ausblieb.²⁴ Dass neben den Adligen insbesondere die Geistlichen und Mönche die Franzosen fürchteten, macht Minola deutlich, wenn er beschreibt, dass sie die Stadt nun fluchtartig verließen. Auch aus den umliegenden Gemeinden des Obererzstifts seien die Welt- und Klostergeistlichen Richtung Koblenz – die Stadt wurde erst im Oktober 1794 eingenommen – geflohen; Pfarrer aus dem Luxemburgischen hätten sich ihnen angeschlossen. Laut Minola sei jedoch nicht nur der Klerus vor den heranrückenden Franzosen geflohen, sondern auch Bauern hätten versucht, sich und ihre Familien mit einigen Habseligkeiten nach Koblenz in Sicherheit zu begeben. Im Augenblick der Flucht seien alle gleich gewesen, betont er, Standesunterschiede hätten keine Rolle mehr gespielt: Der nie einen Begriff vom ersten Naturstande des Menschen hatte, worin jeder dem andern gleich ist, worin jeder für seine Bedürfnisse sorgen muß, der konnte ihn hier sehn. Der Reiche trug hier wie der Arme sein eigenes Gepäck. Ein alter Pfarrer trieb den Esel, dem er seine kleine Habschaft aufgeladen hatte, vor sich her. Nie wird das Bild dieser kleinen Völkerwanderung aus meinem Andenken schwinden.²⁵
Inwiefern Minola aufklärerischen Ideen zuneigte, lässt sich anhand seines Berichts nicht feststellen.²⁶ Doch ähnlich wie bei seinem Vorwurf, die Regierung habe versäumt, die Trierer zu warnen, kritisiert er auch mit Blick auf Koblenz die Fluchtbewegung des Adels zu einem Zeitpunkt, als alle anderen noch ahnungslos gewesen seien: „Die Hauptsache des Adels war zu dieser Zeit, sich selbst zu retten.“²⁷ Auch wenn er die Besetzung durch die Franzosen nicht begrüßte, so sah er die Privilegien des Adels kritisch und bedauerte ihren erzwungenen Fortgang nicht. Anerkennend erwähnt er auch die politischen Diskussionen, die die Franzosen über die Ereignisse in Paris geführt hätten, was in Deutschland, „wo Große nichts weniger als das Raisoniren über Staatssachen leiden können“²⁸, unmöglich sei.
24 Siehe Lintz: Tagebuch (wie Anm. 76, S. 21), S. 127. Das von Hubert Schiel edierte Tagebuch umfasst die Jahre 1794 und 1797. Das Original befindet sich in der Stadtbibliothek. 25 Minola: Franzosen (wie Anm. 76, S. 21), S. 17. 26 Da einige der Lehrer am Koblenzer Gymnasium der Aufklärung nahe standen und Mitglied der Koblenzer Lesegesellschaft waren, war er möglicherweise ebenso von aufklärerischen Ideen beeinflusst. Ob Minola selbst auch Mitglied der Lesegesellschaft war, lässt sich aufgrund des fehlenden Mitgliederverzeichnisses nicht ermitteln; Tilgner konnte lediglich für 29 von insgesamt 129 Mitgliedern die Mitgliedschaft nachweisen, vgl. Tilgner: Lesegesellschaften (wie Anm. 48, S. 14), S. 346. 27 Minola: Franzosen (wie Anm. 76, S. 21), S. 29. 28 Ebd., S. 62.
292 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Dass sich nicht nur Adlige und Kleriker, sondern auch Bauern und einfache Bürger vor dem Heranrücken der Franzosen fürchteten, werden Berichte über plündernde Franzosen veranlasst haben, die seit Kriegsbeginn kursierten. Diese dienten einerseits der antirevolutionären Propaganda, um das Bild der Franzosen als „Königsmörder, Stürmer der Religion [und] sittenlose Räuber“²⁹ zu bekräftigen. Da die französische Religions- und Kirchengesetzgebung durch entsprechende Zeitungsartikel bekannt war, war insbesondere der Verweis auf die Gefährdung der Religion ein gängiges Mittel von Vertretern der kurfürstlichen Regierung oder anderer Antirevolutionäre, um Angst vor den Franzosen zu schüren und linksrheinische Unterstützter der Revolution als Religionsfeinde zu diskreditieren.³⁰ So hatte auch Clemens Wenzeslaus noch im März 1793 ein 40-stündiges Gebet im Erzstift angeordnet, um angesichts der „betrübten Zeitumständen“ göttlichen Beistand „zur Erhaltung der römisch-katholischen Religion“³¹ zu erbitten. Indem die Franzosen nicht nur als Bedrohung der häuslichen, sondern auch der politischen und religiösen Ordnung dargestellt wurden, sollte der Widerstandsgeist der linksrheinischen Bevölkerung geweckt werden. Dass derartige Schreckensbilder bei Teilen der Bevölkerung verfingen, zeigt der oben zitierte Tagebucheintrag von Ludwig Müller. Andererseits waren die Sorgen nicht gänzlich unberechtigt, da Frankreich aufgrund seiner desolaten wirtschaftlichen Lage Schwierigkeiten hatte, seine Soldaten zu versorgen, was Plünderungen begünstigte. Allerdings vermittelten auch die Restitutionen, die die sogenannten Volksrepräsentanten zur Finanzierung und Versorgung der Truppen offiziell eintrieben, der Bevölkerung den Eindruck, ausgeplündert zu werden, obwohl auf ihren eigenen Bedarf geachtet werden sollte.³² Dass die französische „Befreiungsideologie“ längst in „eine pure Eroberungspoli-
29 Dewora: Ehrendenkmal (wie Anm. 286, S. 97), S. 129. Das Zitat stammt aus einem Aufruf an die Salm-Kyrburger Bevölkerung von 1793, sich gegen die heranrückenden Franzosen zur Wehr zu setzen. Der Trierer Stadtdechant und spätere Domkapitular Viktor Joseph Dewora hatte eine Sammlung verschiedenster schriftlicher und mündlicher Zeugnisse über den Verlauf des ersten Koalitionskrieges zusammengestellt, die sein Freund, der Pfarrer Philipp Lichter (1796–1870), nach Deworas Tod vollendete, vgl. das Vorwort ebd., S. XXI–XLII. 30 Der Topos des ‚gottlosen Franzosen‘ war allerdings keine Erfindung der Revolutionszeit, sondern musste lediglich ‚reaktiviert‘ werden: Er gehörte bereits „seit dem Spätmittelalter zum Fundus antifranzösischer Propaganda“ (Carl: Strafe (wie Anm. 4, S. 2), S. 286). 31 Jeweils Blattau: Statuta synodalia Bd. 6 (wie Anm. 125, S. 56), S. 306. 32 Gerteis: Trier (wie Anm. 227, S. 79), S. 68–69. Carl weist darauf hin, „die auch sonst in Okkupationszeiten übliche Ausbeutung der Zivilbevölkerung durch eine siegreiche Armee“ habe „– gesteigert durch die extreme Korruption der Revolutionssoldaten und die Assignateninflation – präzedenzlose Ausmaße“ (Carl: Strafe (wie Anm. 4, S. 2), S. 281) angenommen.
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tik“³³ umgeschlagen war, die sich nicht nur gegen ‚Paläste‘, sondern auch gegen ‚Hütten‘ richtete, konstatierte auch Minola. Er berichtet ausführlich über Plünderungen in den umliegenden Dörfern von Koblenz, die sowohl die Bauern als auch die Dorfgeistlichen betroffen hätten.³⁴ Auch Lintz berichtet von republikanischen Soldaten, die wahllos in Häuser und Klöster eingedrungen seien und „Geld und Uhren erpreßt hätten“³⁵. Er betont jedoch, der französische General Jean Jacques Ambert (1765–1851) habe nach Beschwerden des Stadtmagistrats sogleich den Schutz des Privateigentums versichert, da sich der Krieg ausschließlich „wider die Tyrannen, die Regenten,“³⁶ richte und nicht gegen die normale Bevölkerung. Diese Zusicherung war sicherlich nicht nur dem letzten Rest eines revolutionären „Freiheitspathos“³⁷ geschuldet. Vielmehr konnte dem General nicht daran gelegen sein, dass seine Soldaten für Unruhe und Ärger sorgten, indem sie sich das Eigentum der Einheimischen willkürlich aneigneten und zerstörten. Um möglichst viele Einnahmen aus den besetzten Gebieten generieren zu können, war den Repräsentanten der Republik und den Militärs an einer guten Zusammenarbeit mit der einheimischen Bevölkerung gelegen. Vor diesem Hintergrund ist auch plausibel, dass die Besatzer – laut Lintz’ Angaben – zusicherten, „daß die Geistlichkeit in ihrem Gottesdienst ohngehindert fortfahren könnte.“ Sie wollten den Eindruck, gottlose Feinde zu sein, zerstreuen. Dass dies notwendig war, zeigt Lintz weiterer Bericht, man habe diese Versicherung „der Bürgerschaft bekannt, die dadurch in ihren bangen Erwartungen getröstet ward.“³⁸ Doch auch wenn diese Beteuerungen von offizieller Seite durchaus ernst gemeint gewesen waren, lässt die „Zerstöhrungssucht“³⁹, die Minola den französi-
33 Smets: Citoyen (wie Anm. 6, S. 2), S. 24. Siehe auch Kapitel 2.3. Reichardt weist darauf hin, dass bereits im Dezember 1792 keine Rede mehr von ‚Befreiung‘ oder ‚Selbstbestimmung‘ sein konnte, sondern „Frankreichs Nachbarn im Fall ihrer Besetzung nun eine republikanische Verfassung nach französischem Vorbild und die Finanzierung der Kriegskosten zu erwarten“ (Rolf Reichardt: Das Blut der Freiheit. Französische Revolution und demokratische Kultur, Frankfurt a. M. 1998, S. 259) hatten. 34 „In Kesselheim stürmten sie in das Haus des Pfarrers, erbrachen seinen Keller, soffen sich voll, zerschlugen dann Fenstern und Thüren, Tische, Commode, Stühel, nahmen, was sie fanden, und der Pfarrer, der auf den Glockenthurm sich geflüchtet hatte, mußte mit eigenen Augen diese Ausschweifungen ansehn. […] Wie mancher Landmann mußte schon am ersten Tag stutzen, da er so oft in Zeitungen gelesen oder sonst gehört hatte: Friede den Hütten.“ Minola: Franzosen (wie Anm. 76, S. 21), S. 37, 38. 35 Lintz: Tagebuch (wie Anm. 76, S. 21), S. 128. 36 Ebd., S. 129. 37 Reichardt: Blut (wie Anm. 33), S. 259. 38 Jeweils Lintz: Tagebuch (wie Anm. 76, S. 21), S. 127. 39 Minola: Franzosen (wie Anm. 76, S. 21), S. 65.
294 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? schen Soldaten im Umgang mit Klöstern, Kirchen und Pfarrhäusern stellenweise attestierte, darauf schließen, dass die Aufrechterhaltung der Gottesdienste durchaus erschwert wurde. So hätte beim Vorrücken in jede Stadt oder jedes Dorf „das erste Augenmerk“ der Soldaten stets der Wohnung des Pfarrers gegolten: „auf diese stürmte der Vortrab los und nahm in Eil das Beste weg, und hinterließ das Schlechtere den Nachkommenden.“⁴⁰ Auch aus den Kirchen wäre oftmals alles entfernt worden, was mitgenommen werden konnte. Ludwig Müller beklagte ebenfalls basierend auf Berichten aus Mettlach, Wadgassen und Merzig, dass die „Patriotten“ überall, wohin sie kämen, „sehr schlecht mit den Kirchensachen“ umgingen und oft ein „Geistlicher viel Schmerz ausstehen“⁴¹ müsse. Inwiefern es sich bei diesen Berichten um Tatsachen, Übertreibungen oder Lügen handelte, spielte keine Rolle. Entscheidend für Müller und Minola war, dass sie ihre eigenen Wahrnehmungen und Überzeugungen bestätigt sahen. ‚Einheimisches Raubgesindel‘ Trotzdem scheint für Lintz unmittelbar nach der Besetzung weniger von den Franzosen selbst eine Bedrohung ausgegangen zu sein, als von „einheimische[m] Raubgesindel“, das die Gunst der Stunde genutzt habe, um „Unfug in den umliegenden Abteien“ zu treiben. Er berichtet von der allgemeinen Sorge, das „einheimische Gesindel“ könnte durch das Beispiel einzelner Soldaten „zum Plündern gereizet werden“⁴². Dass die französischen Besatzer das Fehlverhalten der einheimischen Bevölkerung sanktionierten, lässt sie wiederum fast als Bewahrer der Ordnung erscheinen. Lintz dürfte den Einmarsch der Franzosen nicht herbeigesehnt haben, war er doch ein angesehenes Mitglied der Verwaltungselite des Kurfürstentums. Gleichwohl arbeitete er in französischer Zeit mit den neuen Machthabern zusammen, was möglicherweise darauf schließen lässt, dass ihm sehr an der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung gelegen war.⁴³ Ähnlich wie Lintz vorgab, nur der ‚Pöbel‘ habe das Ende der alten Ordnung zur eigenen Bereicherung genutzt, beklagte auch Müller im Juli 1794, „Bettelvolk & schlechte Leute“ hätten „diese Zeit“ mit „Freude“ begrüßt: „Sie hoften nun auf der Franzosen Ankunft, & und verachteten die Klöster sehr“⁴⁴, da sie sie für nutzlos
40 Jeweils Minola: Franzosen (wie Anm. 76, S. 21), S. 63. 41 Jeweils Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1792. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 19v. 42 Jeweils Lintz: Tagebuch (wie Anm. 76, S. 21), S. 128. 43 Vgl. die biographischen Angaben bei ebd., S. 113–120. 44 Jeweils Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1794. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 7r. Bereits im Oktober 1792 berichtete er in seinem Tagebuch: „Das schlechte Volk zu Trier ließe sich öffentlich verlauten: sie wollten das die Patriotten nun bald kämen.“ Jg. 1792, ebd., fol. 24r.
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gehalten hätten. Einige dieser ‚schlechten Leute‘ hätten auch unmittelbar vor Ankunft der Franzosen in der Stadt angekündigt, diesen mitteilen zu wollen, „wo die Herren die was haben wohnten“⁴⁵. Müller unterscheidet ausdrücklich zwischen denjenigen, die sich aus Armut am Kirchen- und Klostereigentum bereicherten und denjenigen, die aus innerer Überzeugung handelten, da sie die Klöster unnötig fanden. Es ist wahrscheinlich, dass Müller dabei klosterkritische Aufklärer vor Augen hatte und diese nur allzu gerne als Plünderer diffamierte. Indem er sie als schlecht charakterisiert, sprach er ihnen jegliche Moralität ab, denn ansonsten hätten sie aus seiner Sicht nie einen solchen Frevel begehen können. Auch hier wird seine deutliche Tendenz zum orthodoxen Katholizismus sichtbar. Auch Minola berichtet, dass Einheimische mitunter ihren Besitz verloren hätten, weil sie nicht sorgfältig genug darauf geachtet hätten, dass niemand ihrer Nachbarn ihr Versteck bemerkte. Selbst Pfarrer, die unter dem Altarstein oder im Beinhaus Dinge verwahrten, wären von den eigenen Gemeindemitgliedern bestohlen worden. Minola zeigt sich denn auch nicht verwundert, dass die ‚einfache‘ Bevölkerung, bei der der „Aberglaube mehr oder weniger noch Statt“ habe, sich von den Franzosen allerlei „wunderbare Dinge“⁴⁶ erzählen würde und ihnen anscheinend alles zutraue. Ihm zufolge gab es auch Geistliche und Mönche, die sich mit den neuen Machthabern gemein machten, was ihm missfiel: „Einen Hof hatte Koblenz nicht mehr, aber ein anderer, wo die Abstufungen noch zahlreicher waren, trat an dessen Stelle. Durchging man das Personale dieser neuen Behörde, so fand man Pfaffen jeder Klasse darunter: Ex-Pfarrer, Ex-Mönche von allen Farben, vom reichen Benediktiner bis zum Kapuziner abwärts, mitunter Juden, welch eine herrliche Gesellschaft!“⁴⁷ Mönche oder Pfarrer, die ihren Stand aufgaben, um die französischen Besatzer zu unterstützten, waren für ihn nichts weiter als ‚Pfaffen‘ – ein Ausdruck, den ansonsten (protestantische) Aufklärer gebrauchten, um Geistliche abwertend darzustellen. Selbst wenn Minola Anhänger der Aufklärung gewesen sein sollte, konnte er ein solches ‚Überlaufen‘ geistlicher Männer zu den Revolutionären nicht unterstützen. Anton Varain (1734–1813), Pfarrer im luxemburgischen Born, schreibt in seinen Lebenserinnerungen ebenfalls erzürnt, dass „das Lumpengesindel“ angesichts der sich im August 1794 nähernden Franzosen gesagt hätte: „Gut ist es, daß sie [die Franzosen] endlich kommen; gut ist es; morgen geht es über die Pfaffen und Perücken [gemeint sind die Adligen, Anm. A. K.] her.“⁴⁸ Auch er verschweigt nicht, 45 Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1794. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 9r. 46 Minola: Franzosen (wie Anm. 76, S. 21), S. 66. 47 Ebd., S. 42 f. 48 Varain wuchs in Trier auf und besuchte dort das Gymnasium und die Universität, wo er Theologie studierte. Beide Einrichtungen unterstanden zu diesem Zeitpunkt noch ganz den Jesuiten.
296 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? dass die Franzosen von einigen durchaus erwartet und begrüßt wurden. Allerdings sind sie auch bei ihm nur Gesindel, das darauf warte, sich selbst zu bereichern. Gleichwohl weisen die Berichte insgesamt darauf hin, dass die Zusammenstöße zwischen kurfürstlicher Regierung und Untertanen, wie sie sich an verschiedenen Orten des Kurfürstentums vor der Revolution ereigneten, nicht bloß ein „sozial-konservativer Aufruhr“⁴⁹ waren, sondern es durchaus revolutionäres Konfliktpotenzial gab. Als Vertreter und Profiteur der alten ständischen Ordnung bekam dies nun – in Ermangelung anderer Möglichkeiten – die Kirche zu spüren, deren üppige materielle Ausstattung nicht mehr als naturwüchsig gegeben hingenommen wurde.⁵⁰ Ein derartiges Aufbegehren wird – ähnlich wie im kurfürstlichen Landkalender – in den Berichten jedoch als eine Verirrung Einzelner abgetan, die bestenfalls aus einer falsch verstandenen Vorstellung von Freiheit oder Gleichheit heraus handelten oder schlimmstenfalls einfach nur auf Zerstörung und Bereicherung aus waren. Wie die Tagebucheinträge und die Lebensbeschreibung – gleichwohl tendenziös – nahelegen, konnten sich die Geistlichen in dieser Situation nicht mehr sicher sein, dass ihre Autorität sie bzw. ihren Besitz stets schützte. Die Besetzung aus Sicht des Pfarrers Varain Gerade Varains aus der Rückschau verfasster Bericht über die Besetzung weist ein hohes Maß an Selbststilisierung auf.⁵¹ Für ihn begannen „[s]eine Verfolgungszeiten“ bereits vor Revolution und Okkupation, weshalb er sie ausdrücklich in den „Aufklärungs- und Revolutionszeiten“⁵² verortet. So habe er sich bereits 1787 einen Rechtsstreit mit einem „revoltierende[n] Bauerndoktor“⁵³ liefern müssen, der gerne anstelle des Pfarrers Amtmann von Born geworden wäre. Rückblickend brachte er diesen Versuch seine Autorität zu beschneiden – wenn auch wohlgemerkt nur die weltliche – in Zusammenhang mit revolutionären Ideen und stellte sie als
1758 erhielt er die Priesterweihe und trat seine Pfarrstelle an. Siehe dazu seine eigenen Angaben in der Lebensbeschreibung: Varain: Lebensbeschreibung (wie Anm. 78, S. 21), S. 1–17. 49 Birtsch: Unruhen (wie Anm. 5, S. 2), S. 150. Dagegen konstatiert Theuringer, dass die Proteste zwar „altständisch und an einer überkommenen Programmatik orientiert“ gewesen seien, trotzdem jedoch über ein „politisch fortschrittliches Wirkungspotenzial“ (Theuringer: Liberalismus (wie Anm. 116, S. 53), S. 334) verfügten. 50 Siehe dazu auch Carl: Revolution (wie Anm. 13, S. 4), S. 94. 51 Laut Heinrich Milz, dem Herausgeber der edierten Handschrift, bricht sie unmittelbar nach einem auf September 1796 datierten Eintrag ab. Sie muss folglich nach diesem Datum verfasst worden sein. Ob die restlichen Blätter fehlen oder Varain seine Lebenserinnerungen danach nicht fortgeführt hat, bleibt unklar. 52 Varain: Lebensbeschreibung (wie Anm. 78, S. 21), S. 29. 53 Ebd., S. 30.
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‚Verfolgung‘ dar, um das eigene Leid zu betonen.⁵⁴ Gleichwohl wird deutlich, dass er der Aufklärung – zumindest zum Abfassungszeitpunkt seiner Erinnerungen – kritisch gegenüberstand, sofern von ihr auch die einfache Bevölkerung profitierte. Ähnlich wie die Bevölkerung der Stadt Trier kamen auch die Luxemburger durch Einquartierungen preußischer und österreichischer Soldaten früh mit den Kriegshandlungen in Kontakt. Nachdem man solange Ungewissheit und militärische Auseinandersetzungen entlang der Grenze habe ertragen müssen, seien im August 1794 endlich „die so lang gefürchteten und repective gewünschten Patrioten in voller Macht und Hungersnot“⁵⁵ angekommen, wie Varain ironisch bemerkt. Doch auch wenn die Soldaten aufgrund der schlechten Versorgung wenig furchteinflößend wirkten, schildert er, wie sehr alle der ungewohnte und nahe Kanonenbeschuss verunsichert hätte. Die Gemeindemitglieder hätten im Pfarrhaus Schutz gesucht und wären überrascht gewesen, dass er nicht geflohen sei. Bereitwillig gibt er die Worte wieder, die er heldenmütig in dieser Situation an seine Pfarrkinder gerichtet haben will: So habe er sich bewusst entschlossen zu bleiben, „wie einem guten Hirten gebühret gemäß dem Evangelio, welches ich ihnen öfters ausgelegt habe. Es sei keine Kunst, in Friedenszeiten die Renten zu genießen; die meinigen seien zwar nicht groß gewesen, ich habe aber davon bis hiehin gelebet. Ich sei zwar eine ziemliche Zeit bei ihnen gewesen, aber jetzt würden sie vielleicht meiner am meisten notwendig haben.“⁵⁶ Mit dieser Versicherung hätte er seine Gemeinde beruhigen können. Varain stilisiert sich an dieser Stelle zum guten Hirten, der in Zeiten der Not nur an die ihm anvertraute Gemeinde dachte und nicht an sein eigenes Wohl. Dieses lag ihm allerdings sehr wohl am Herzen, wie seine Lebenserinnerungen insgesamt nicht verbergen können. Vermutlich wird er nur deshalb nicht geflohen sein, weil er nicht wusste, wohin. Gleichwohl verweisen seine Worte darauf, dass gerade in einer derartigen Notsituation die Religion – verkörpert durch ihn und seine Autorität als Pfarrer – den Menschen Halt geben und Trost spenden konnte und half, die angesichts der Kriegshandlungen empfundene Ohnmacht besser zu bewältigen. Auch die Verlusterfahrungen, die die Ereignisse nach sich ziehen konnten, ließen sich für diejenigen besser bewältigen, die darin noch den Sinn eines Opfers erkennen
54 Er berichtet allerdings auch davon, dass der Kläger mit Komplizen in der Burg, dem Sitz des Amtmannes, Feuer gelegt hätte, siehe ebd., S. 30. Varain scheint nach dem Tod des ursprünglichen Amtmannes – und Kirchenpatrons – diese Aufgabe in Ermangelung eines anderen Kandidaten übernommen zu haben, was ihm eine erhebliche Amtsfülle verschaffte. Dass das zuständige Generalvikariat in Trier nichts dagegen unternahm, lag – wie Heinrich Milz vermutet – wahrscheinlich an dessen fehlendem Einfluss auf die Besetzung dieser Pfarrstelle, vgl. ebd., S. 46. 55 Ebd., S. 33. 56 Ebd., S. 33.
298 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? konnten.⁵⁷ – Zumal dann, wenn ein sendungsbewusster Pfarrer vorgab, bereitwillig alle von ihm verlangten Opfer in Kauf zu nehmen. Gleichzeitig stilisiert sich Varain gegenüber seiner Gemeinde als einer der ihrigen, was er selbst in seinem Bericht konterkariert, wenn er sich erleichtert zeigt, dass die Franzosen ihn nicht mehr in der Burg, dem Sitz des Amtmannes, angetroffen hätten.⁵⁸ Anscheinend rechnete er mit größeren Unannehmlichkeiten, hätten man ihn nicht in seinem weniger repräsentativen Pfarrhaus vorgefunden. Um dem Bild des tapferen, pflichtbewussten Pfarrers vollends gerecht zu werden, gibt er das Gespräch wieder, das er mit dem Sohn des adligen Grundherren kurz vor dessen Flucht geführt haben will. Auch diesem habe er bestätigt, selbst nicht fliehen zu wollen, da er von den Franzosen keine Gefahr erwarte. Den Berichten der Emigranten über die Brutalität der französischen Nation schenke er keinen Glauben, zumal er sich gegen diese keines Verbrechens schuldig gemacht habe. Da es zwischen ihm und der Familie des Grundherren ebenfalls zu Unstimmigkeiten gekommen war, wollte Varain sich möglichst weit von diesen abgrenzen, weshalb er seiner heroischen Selbstbeschreibung das Bild des feigen und verkommenen Adligen gegenüberstellte. Auch gegenüber den Franzosen stellt er sich – seinem Bericht zufolge – beinahe als Märtyrer dar, wenn er sich selbst als ein ‚Soldat Christi‘ bezeichnete.⁵⁹ Indem er betont, er habe sich mit den hochrangigen Militärs gut stellen und dadurch viel Schaden für das Dorf abwenden können, sucht er erneut seine eigene Bedeutung herauszustellen und sich zumindest als verlässlicher Partner der Franzosen zu präsentieren. Da er seine Lebenserinnerungen noch während der französischen Zeit verfasste, wird er allein deshalb auf allzu scharfe Kritik an den Franzosen verzichtet haben, um Risiken zu vermeiden, sollten die Papiere in falsche Hände gelangen. Gerade das Ende seines Berichts lässt allerdings vermuten, dass es ihm langfristig auch ganz gut gelang, sich an die neuen Machthaber anzupassen.⁶⁰ Die rückblickende Heroisierung des eigenen Handelns kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch Varain die französische Besetzung anfänglich als massive Störung der bislang gekannten „Ruhe und Sicherheit“ wahrnahm und er
57 Vgl. auch Carl: Revolution (wie Anm. 13, S. 4), S. 96. 58 „Grace à Dieu, daß mich die Franzosen nicht mehr in der Burg gefunden haben.“ Varain: Lebensbeschreibung (wie Anm. 78, S. 21), S. 31. 59 Auf die Frage eines „Patrioten“, weshalb er nicht emigriert sei, habe er geantwortet: „Comment […] me croyez vous un deserteur? Qu’est ce que vous pensez d’un deserteur? Je suis aussi soldat comme vous, vous le savez, de Jésus Christ, mon général ne m’aura plus reconnu sur un autre poste.“ ebd., S. 41. 60 So stellt es für ihn kein Problem dar, den ‚Eid des Hasses gegen Königtum und Anarchie‘ zu leisten, siehe ebd., S. 45. – Zur Frage der Eidesleistung siehe Kapitel 4.1.2.
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versuchen musste, durch entgegenkommendes Verhalten sein Pfarrhaus vor Plünderungen zu schützen. Wie bei Minola und Lintz sind es auch bei ihm vor allem die einfachen Soldaten, die plünderten. Interessant sind Varains Erinnerungen auch deshalb, weil sie zeigen – sofern er nichts beschönigte –, dass die gottesdienstliche Handlungen in den ersten Tagen der Besetzung zumindest von Seiten der französischen Militärführung keine Einschränkungen erfuhren. Zwar habe man in beständiger Furcht gelebt, überfallen zu werden, jedoch habe er nur an einem einzigen Tag die Kirche nicht aufsuchen „und still Messe halten“⁶¹ können. Indes verzichtete Varain auf Glockengeläut. Unmittelbare Folgen der Besetzung für die Geistlichkeit Auch Minola scheint nicht nur die französischen Revolutionäre für geplünderte Klöster, Pfarrhäuser und Kirchen verantwortlich gemacht zu haben, sondern den Klerus und die Religiosen selbst. So bewertet er kritisch, dass viele von ihnen (zunächst) flüchteten, da sie dadurch den Status von Emigranten erhielten, was die Beschlagnahme ihres Besitzes rechtfertigte. Allem Anschein nach betrachtete er die Verordnung des Kurfürsten, mit der er im Juli 1794 den Religiosen erlaubte, die Klöster „wegen der großen und bevorstehenden Gefahr“⁶² zu verlassen, was von den Mönchen bereitwillig genutzt worden sei, als unnötig: „Robespier war gestürzt, die Schreckensszenen waren in ganz Frankreich verschwunden“⁶³. Aus seiner Sicht bestand damit offensichtlich kein Grund, dass die Klostergeistlichen die heranrückenden Franzosen hätten fürchten müssen, da er mit dem Tod Robespierres die schlimmsten Auswüchse einer radikalisierten Religionspolitik für überwunden hielt. Er zeigt sich denn auch erfreut, dass die „Auswanderungssucht“ unter den Geistlichen des Niedererzstifts „bei weitem nicht so stark wie im obern Erzstifte“ gewesen sei, „wo Pfarrer sogar ihre Heerden im Stich ließen.“⁶⁴ Entgegen seiner Darstellung blieben die Pfarrer – wie Varain – insgesamt mehrheitlich bei ihren Gemeinden.⁶⁵ Aus Lintz’ Aufzeichnungen geht ebenfalls hervor, dass vor allem die Besitztümer derjenigen, die als Emigranten galten, für die Requisitionen herangezogen
61 Jeweils ebd., S. 41. 62 Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1794. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 6v. 63 Minola: Franzosen (wie Anm. 76, S. 21), S. 17. 64 Jeweils ebd., S. 30. 65 Siehe Kapitel 2.3. Möglicherweise wollte Minola etwaigen Rivalitäten zwischen Nieder- und Obererzstift an dieser Stelle Genüge tun. So abschätzig, wie er über die Flucht von Geistlichen urteilt, ist auch nachvollziehbar, weshalb Varain sein eigenes Ausharren derart herausstellt.
300 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? wurden.⁶⁶ Er berichtet, dass das Gesetz, das den Besitz der mehrheitlich verlassenen Klöster und Stifte zum Eigentum der Republik erklärte, für die Länder zwischen Rhein und Maas im März 1795 veröffentlicht worden sei.⁶⁷ Die, die blieben, was meist Alte gewesen seien, wie Minola schildert, erhielten nur das Nötigste, den Rest hätten die Franzosen fortgeschafft.⁶⁸ Lintz’ Verweis auf einen Erlass vom Juni 1795 „wegen der Ausgewanderten, besonders der Wiedereinsatzung der geistlichen Körper in ihre Besitzungen“⁶⁹ betreffend, spielt möglicherweise auf die ursprünglich im Mai 1795 getroffene Verfügung an, die den Emigranten die Rückkehr und Wiederinbesitznahme ihrer Güter unter bestimmten Voraussetzungen gestattete.⁷⁰ Grund für dieses Entgegenkommen wird wahrscheinlich gewesen sein, dass sich die Volksrepräsentanten erhofften, auf diese Weise höhere Erträge aus den Besitzungen ziehen zu können, da sie sich aufgrund der meist fortgeschafften Klosterarchive erst mühsam einen Überblick über den Besitz der jeweiligen Einrichtung verschaffen mussten.⁷¹ Hingegen sollten aus Frankreich emigrierte oder „zur Deportation verdammte“ Priester weiterhin umgehend an die französische Zentralverwaltung für die besetzten Gebiete gemeldet werden. In den Augen der französischen Republik galten sie als Aufrührer, die glaubten, „die durch den Muth der fränkischen Armeen eroberten Länder durch ihre Gegenwart ungestraft verpesten zu dürfen.“⁷² Im nüchternen Stil des Chronisten verzeichnete Lintz minutiös die vielen Arrêtes, die die neuen Machthaber in der Anfangszeit der Besetzung veröffentlichten. Die meisten betrafen Kontributionserhebungen und Requisitionen, für die – wie die Einträge von Lintz zeigen – in der Hauptsache der Adel sowie die reichen Abteien und Stifte herangezogen wurden. So verloren die Angehörigen der adligen Stifte im April 1795 einen Teil ihrer Einkünfte, als „die Aufhebung aller Vorzüge,
66 So seien beispielsweise auch die Glocken der Abtei St. Martin requiriert worden sowie „das kupferne Tor, eiserne Geländer zu St. Simeon.“ Lintz: Tagebuch (wie Anm. 76, S. 21), S. 135. 67 Siehe ders.: Tagebuch waehrend der franzs. Republik von 1794–1797 (= Johann Friedrich Lintz und sein Tagebuch 1794–1799 aus der Trierer Franzosenzeit, Fortsetzung), hrsg. v. Hubert Schiel, in: Kurtrierisches Jahrbuch 11 (1971), S. 69–90, hier S. 79. Um den Personalbestand der Klöster zu ermitteln, sollten „die Häuser, Korporationen, Klöster, Stifter, Abteien, Prioraten, Kollegien und Seminarien, welche im Bezirk der trierischen Verwaltung sich befinden, die Namen derer Mitglieder, wie sie vor und nach dem Eintritte der französischen Heere bestanden, in ein Verzeichnis“ (ebd., S. 84) eintragen. 68 Siehe Minola: Franzosen (wie Anm. 76, S. 21), S. 19–20. 69 Lintz: Tagebuch II (wie Anm. 67), S. 80. 70 Siehe Kapitel 2.3. 71 Vgl. Müller: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 68–70. 72 StadtAr Tr FZ 679 sowie Fz 812 Bd. 12, Nr. 529.
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Ausnahmen [und] Befreiungen“⁷³ des Adels erfolgte „und dessen Heranziehung zur Erfüllung öffentlicher Abgabepflichten verkündet wurde.“⁷⁴ Um trotz der Zahlungsschwierigkeiten der Stifte und Abteien weiterhin Gelder von ihnen erhalten zu können, ermächtigte Volksrepräsentant François Meynard (1756–1828) „alle geistliche[n] Häuser etc. und Eigentümer […], die zur Auszahlung der ihnen auferlegten Kontributionen erforderlichen Summen zu entlehnen“⁷⁵ und als Sicherheit ihre Grundgüter zu verpfänden. Lintz Einträge zeigen, dass die Franzosen in den ersten Jahren keine systematische, gar unter kirchenfeindlichen Vorzeichen stehende Kirchenpolitik im Rheinland verfolgten, sondern situativ und nach dem größtmöglichen finanziellen Nutzen entschieden und handelten. Gleichwohl waren gerade für die geistlichen Korporationen die finanziellen Folgen verheerend und zogen sie in arge Mitleidenschaft. Aus Lintz’ Schilderungen geht hervor, dass sich die verbliebene oder wieder zurückgekehrte Geistlichkeit immer wieder beriet, „wie den vielen fr[anzösischen] Exaktionen, Requisitionen, Kontributionen und Exzessen abzuhelfen sei“⁷⁶ und erwog, eine Deputation nach Paris zu entsenden. Es wird insgesamt deutlich, dass geistlicher Stand und städtischer Magistrat sich regelmäßig besprachen und die gleichen Absichten verfolgten, nämlich die Kontributionszahlungen an die Franzosen so gering wie möglich zu halten. Mit ihren entsprechenden Appellen an die französischen Verwaltungsorgane hatten sie allem Anschein nach jedoch wenig Erfolg, es sollte lediglich zur „Taxierung eines jeden Vermögens eine eigene Kom[mission]“⁷⁷ eingesetzt werden. Während der sachlichen, an den Verfügungen orientierten Schilderung der Ereignisse hält sich Lintz mit persönlichen Kommentaren zurück. Trotzdem ist den Einträgen anzumerken, dass er die Einschätzung, die finanziellen Belastungen für Bevölkerung und Geistlichkeit seien zu hoch, teilte. Er befürchtete aber wohl, dass die Bedrückungen zunehmen könnten, sollten die Besatzer durch zu viel Protest verärgert werden. Angesichts der „dermaligen Crisis“⁷⁸ schien es ihm und anderen Ratsmitgliedern der Stadt Trier angeraten zu sein, den Franzosen – insbesondere der Generalität – soweit als möglich entgegenzukommen. 73 Lintz: Tagebuch II (wie Anm. 67), S. 79. 74 Müller: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 71. 75 Lintz: Tagebuch II (wie Anm. 67), S. 87. Vgl. auch Müller: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 71. 76 Lintz: Tagebuch II (wie Anm. 67), S. 90. 77 Ders.: Tagebuch waehrend der franzs. Republik von 1794–1797 (= Johann Friedrich Lintz und sein Tagebuch 1794–1799 aus der Trierer Franzosenzeit, Schluss), hrsg. v. Hubert Schiel, in: 12 (1972), S. 81–103, hier S. 82. Sofern damit dem Eindruck vorgebeugt werden sollte, die Zahlungsverpflichtungen seien allzu willkürlich getroffen worden, hatte die Verwaltung allerdings keinen Erfolg: Laut Lintz wurden „dann häufige Klage wegen unrichtigen und unverhältnismäßigen Anschlägen der Beträge erhoben“. Ebd., S. 84. 78 Ebd., S. 84.
302 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Dass die Besetzungspolitik zuvörderst pekuniären Interessen unterlag, musste auch diejenigen enttäuschen, die sich aufgrund der revolutionären Parolen beispielsweise die Aufhebung des Zehnten erhofft hatten. Denn anders als erwartet, „verteidigten die vom revolutionären Frankreich eingesetzten Behörden den Fortbestand der alten Rechte“⁷⁹, um die Einnahmen nicht zu verlieren. So berichtet Minola: „Was uns Trierische überhaupt diesmal näher betraf, war eine neue Einrichtung in Betreff der Zehnten. Diese, die im innern Frankreich längst aufgehoben waren, blieben bei uns, mit dem Unterschied, daß die Herren wechselten.“⁸⁰ Mit Erlass des Direktoriums vom 17. Mai 1796 waren die Güter der Geistlichkeit, die Zehnten, Erbzinsen und Renten nicht abgeschafft, sondern als Nationaleigentum beschlagnahmt worden.⁸¹ Anfangs wären die Zehnten versteigert worden, führt Minola weiter aus, allerdings seien diese Versteigerungen direkt wieder annulliert und stattdessen die Gemeinden angewiesen worden, den Zehnten für die Republik einzuziehen. Einerseits wird hier wiederum die anfängliche Wankelmütigkeit der französischen Besetzungspolitik deutlich. Andererseits unterstreicht Minola, dass der Zehnt eben nicht nur eine Angelegenheit der bisherigen Empfänger, der Geistlichkeit, war, die nun auf diese Einnahmen verzichten musste, sondern genauso die Zahler ‚näher betraf‘. Schließlich mussten sie weiterhin Abgaben entrichten, nur gingen diese nun an neue, fremde Herren. Minola kritisiert vor allem, dass sich bei den anfänglichen Versteigerungen so mancher Hofmann schlecht gegenüber seinem (alten) Herrn verhalten habe. Diese sollten nämlich im Auftrag der Stifte den Zehnt für diese ersteigern, ohne, dass das Stift selbst in Erscheinung treten musste. Plötzlich sei aber dem ein oder anderen Hofmann eingefallen, „nach geschehener Versteigerung zu behaupten, er habe für sich und nicht für das Stift gesteigert.“⁸² Minola findet dieses Verhalten schändlich, da in seinen Augen die alten Herrschaftsverhältnisse und Abhängigkeiten trotz der Besetzung weiterhin Bestand hatten. Er schildert, dass der Direktor der Koblenzer Generaldirektion, Jean Baptiste Bella⁸³, die Einziehung der Zehnten zugunsten der Republik damit begründet habe, dass diese „doch nur einer unthätigen und dem Staate schädlichen Menschenklasse zu Theil würden; man wollte deswegen aber auch eben diesen nicht Alles
79 Molitor: Untertan (wie Anm. 6, S. 2), S. 171. Vgl. dazu auch T. C. W. Blanning: The French Revolution in Germany. Occupation and Resitance in the Rhineland 1792–1802, Oxford 1983, S. 210– 211. Verschiedentlich hatten Bauern nach der Besetzung den Zehnt verweigert oder Forstprivilegien nicht mehr beachtet. 80 Minola: Franzosen (wie Anm. 76, S. 21), S. 104. 81 Vgl. Minke: Lüttich (wie Anm. 62, S. 17), S. 298. 82 Minola: Franzosen (wie Anm. 76, S. 21), S. 105. 83 Zur Verwaltung der besetzten Gebiete ab 1796 siehe Kapitel 2.3.
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entziehen, man fordere nur den Ueberfluß, um der leidenden Menschheit zu helfen.“⁸⁴ Scharf verurteilt Minola die Begründung der französischen Verwalter, denn statt die Einnahmen tatsächlich den Bedürftigen zukommen zu lassen, hätten sich „Bella und seines gleichen“⁸⁵ nur selbst bereichert; ein Vorwurf, den er an mehreren Stellen seines Berichts erhebt. Eindrücklich beschreibt Minola die Auswirkungen, die die Beschlagnahme des Kirchenguts auf die Geistlichkeit hatte: Mißlich ward bei dieser neuen Einrichtung die Lage Mancher der Geistlichkeit besonders. Wie viele Stifter, Abteien, Klöster, Schulinstitute, Pfarrer zogen ihre Subsistenz entweder von Zehenten ganz allein oder zum beträchtlichen Theil! Das Stift zum h. Castor verlor schier alle diesseitigen Revenuen, St. Florin ein Beträchtliches, so das hiesige Schulcollegium und jeder Pfarrer. Alle ihre Einnahme war pünktlich aufgenommen und eingethan, ihre Keller und Speicher versiegelt. Maljean als hiesiger Commissair war so scrupulöse dabei, daß er keine Kleinigkeit vergaß, sein Bureau beschäftigte mehrere Personen, und er war es nicht allein, dem diese Arbeit aufgetragen war. Andere Commissairs durchzogen andere Cantons, giengen von Kloster zu Kloster, von einem Pfarrer zum andern. Es konnte nicht fehlen, daß bald die gerechtesten Klagen entstanden. Man nahm Alles, ohne das Geringste dafür zu geben.⁸⁶
Der Wegfall ihrer Einnahmen stellte sowohl die Pfarrer als auch die geistlichen Korporationen, die durch die Kontributionszahlungen bereits stark belastet worden waren, vor erhebliche Probleme. Viele ältere Männer, so Minola, hätten nun erstmals im Leben Armut erleben müssen. Wäre mit den Einnahmen tatsächlich den Armen geholfen worden, hätte sich Minola möglicherweise mit Beschränkungen für die Geistlichkeit abfinden können. Die Darstellung der Kommissare, die die Gelder eintrieben, zeigt jedoch, dass er ihr Vorgehen im Grunde als Diebstahl erachtete. Er stellt es so dar, als sei den Franzosen die Unrechtmäßigkeit ihres Tuns auch bewusst gewesen: Um Proteste⁸⁷ und den Vorwurf zu entkräften, unverhältnismäßig hart gegen die Geistlichkeit vorzugehen und damit letztlich doch die Religionsausübung zu behindern, hätten sie Pensionen entrichtet, „um einstweilen die Geistlichkeit zu befriedigen.“ Dass diese Zahlungen jedoch nicht
84 Minola: Franzosen (wie Anm. 76, S. 21), S. 122. Minola bezieht sich auf entsprechende Proklamationen aus dem Frühsommer 1796, siehe Kapitel 2.3. 85 Ebd., S. 122. 86 Ebd., S. 123. St. Kastor und St. Florin waren die beiden Kollegiatstifte in Koblenz. Maljean war ein französischer Einnehmer in Koblenz im Juni 1796. 87 Lintz berichtet von einer Versammlung der geistlichen und weltlichen Landstände, die gemeinsam mit dem landständischen Syndikus Peter Ernst von Lassaulx (1757–1809) und drei anderer Deputierter aus Koblenz beraten hätten, wie gegen die Sequestrierung der geistlichen Güter vorgegangen werden könnte. Laut Lintz habe Lassaulx eine entsprechende Denkschrift verlesen, deren Überstellung an Bella aber unterblieben sei. Siehe Lintz: Tagebuch III (wie Anm. 77, S. 301), S. 85 f.
304 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? ausreichten, um den Einnahmeverlust zu kompensieren, überdies je nach Kanton unzuverlässig und willkürlich ausbezahlt wurden, bis sie schließlich ganz eingestellt wurden, schildert Minola anschaulich.⁸⁸ Dort, „wo es Commissairs mit Klöstern oder Pfarrern redlich meinten, ward ein Quartal“ gezahlt, anderswo habe man sich mit unklaren Zuständigkeiten herausgeredet: „[M]an erschwärte ihnen auch das Wenige noch, was sie erhalten sollten.“ Daraufhin seien „Hunderte“⁸⁹ bettelnder Geistlicher umhergezogen. Dass sich einige der noch bestehenden Klostergemeinschaften unter dem Druck der finanziellen Einbußen auflösten, berichtet neben Minola auch Ludwig Müller in seinem Tagebuch: „Viele Herren kamen daher [nach Wegfall ihrer Einnahmen, Anm. A. K.] so weit daß sie sich im September schon entschlossen auseinander zu gehen, weilen sie nichts mehr zu leben gehabt, hierunter waren die Maximiner Herren & die Herrn im Collegio St. Trinitatis.“⁹⁰ Er weist auch darauf hin, dass seit Juni 1796 – unmittelbar nachdem der Sequester über die Kirchengüter verhängt worden war – große Unruhe sowohl in den Männer- als auch Frauenklöster geherrscht habe, weil „es hiese es würde ihnen alles weggenommen & die Klöster aufgehoben werden“⁹¹. Obwohl die Franzosen zu diesem Zeitpunkt noch keine planmäßige Säkularisation im Linksrheinischen betrieben und viele der Maßnahmen nur vorläufigen Charakter hatten – wie die schnell wieder beendeten Versteigerungen des Zehnten zeigen – sahen sich insbesondere die Mönche und Nonnen dennoch bedroht. Auch dem Tagebuch von Lintz ist zu entnehmen, dass es Schwierigkeiten mit der Auszahlung der Pensionen gab. Allerdings weigerte er sich, eine entsprechende Beschwerdeschrift, die die Geistlichkeit als Opfer einer Täuschung sah, zu unterzeichnen, da ein wenige Tage zuvor erschienener Erlass Besserung gelobte. Schließlich seien am 25. Oktober 1796 – zumindest im Kanton Trier – die Pensionen des ersten Quartals auch ausgezahlt worden.⁹² Die Proklamation des Generaldirektors Bella, „wodurch der Geistlichkeit ein hinlängliches Gehalt in klingendem Geld, 88 Zur finanziellen Situation der Geistlichkeit siehe auch Kapitel 2.3. 89 Jeweils Minola: Franzosen (wie Anm. 76, S. 21), S. 125. 90 Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1796. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 31r. Minola berichtet dazu: „Wie im untern, so war die Lage der Sachen im obern Erzstift. In Trier waren mehrere Gemeinden auseinandergegangen, weil sie nichts mehr zu leben hatten, einzelne Glieder wanderten zu ihren Anverwandten oder solchen, von deren Mitleid und Güte sie lebten. Einige wurden von Franzosen erhalten, die itzt das mit Dankbarkeit vergalten, was sie in besseren Umständen ehedem von ihnen genossen hatten.“ Ebd., S. 126. 91 Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1796. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 14v. 92 Darauf geht auch Müller ein: „Endlich nach eingelegten Klagen bekam sie [die Geistlichkeit] zu Ende October Geld. […] Ist aber von keiner langen Dauer gewesen.“ Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1796. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 31r.
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den Einwohnern des Landes zwischen Rhein und Mosel freie Ausübung des Gottesdienstes und Erleichterung der Kriegslasten zugesichert“⁹³ wurde, hatte Lintz im Gegensatz zu Minola für glaubhaft gehalten, weshalb er bereit war, abzuwarten. Dass aufgrund fehlender finanzieller Mittel die Pfarrer schließlich in Naturalien bezahlt werden mussten, ist ihm – anders als Minola – dann nur einen knappen Vermerk wert.⁹⁴ Lintz erklärt auch hier seine Zurückhaltung taktisch, da er es für angebracht hielt, in „unserer kritischen Lage“⁹⁵ behutsam vorzugehen. Er war bereit, den neuen Machthabern einen Vertrauensvorschuss einzuräumen. Auch wenn sich Minola mehr als Pädagoge denn als Pfarrer gesehen haben dürfte, war er dennoch Teil des geistlichen Standes, was ihn schärfer über die Maßnahmen der Franzosen urteilen ließ. Gleichwohl lehnte er ein staatliches Gehalt für die Geistlichkeit statt ihrer bisherigen Einkünfte keineswegs ab, hätten doch viele Pfarrer ärmerer Gemeinden davon profitieren können.⁹⁶ Die Wiedereinsetzung des Klerus in seine Güter unter General Hoche im März 1797 fand hingegen in den Tagebüchern nur knappe Erwähnung. Müller und Minola berichten beide davon, gehen allerdings auf das folgende Hin und Her – kurzzeitig wurde die Verwaltung der Güter erneut der Nationaldomäne unterstellt, was dann wieder rückgängig gemacht wurde⁹⁷ – nicht ein.⁹⁸ Insofern er die betreffenden Erlasse verzeichnete, behandelte Lintz diesen Aspekt zwar; der Fokus lag bei ihm allerdings auf der gleichzeitig erfolgenden Wiedereinsetzung der alten Verwaltungsorgane aus kurfürstlicher Zeit. Lintz, der Ämter in der französischen Verwaltung für die linksrheinischen Gebiete – wenn auch nach eigenem Bekunden
93 Lintz: Tagebuch III (wie Anm. 77, S. 301), S. 86. 94 Für Minola siehe Minola: Franzosen (wie Anm. 76, S. 21), S. 125 f.; zu Lintz siehe Lintz: Tagebuch III (wie Anm. 77, S. 301), S. 92. 95 Ebd., S. 89. 96 „Wäre es den Franzosen Ernst gewesen, Jedem das Versprochene zukommen zu lassen, so würde der größte Theil der Klerisei damit zufrieden gewesen sein, ja er hätte einen guten Tausch gethan, denn wie viele Pfarrer – und diese sind doch der beträchtlichste Theil des Klerus – hatten vorher 1200 Livres? Gewiß die wenigsten. Der Canonich hätte überhaupt dabei verloren, das Stift Castor aber hätte gewonnen. Der Bettelmönch wäre mit 600 L. ganz gerne zufrieden gewesen, aber dem reichern Benediktiner aus einer Trierischen Abtei und überhaupt den übrigen würde eine so geringe Summe nicht geholfen haben, ihnen, die an einen kostbaren Tisch und Ueberfluß in Allem gewohnt war.“ Minola: Franzosen (wie Anm. 76, S. 21), S. 126. 97 Siehe Kapitel 2.3 sowie StadtAr Tr Fz 812 Bd. 12, Nr. 528 und 529. 98 Laut Müller sei am 21. März in Trier angeschlagen worden, dass „alle Geistliche wieder in ihre Güter eingesetzt seyen“, sie zwei Drittel ihrer Einnahmen an die Republik abführen müssten, „das ein Drittel aber sollte für sie seyn.“ Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1797. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 14r. Zu Minola siehe Minola: Franzosen (wie Anm. 76, S. 21), S. 147.
306 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? widerstrebend – übernommen hatte, legte diese sogleich nieder, um erneut als Syndikus tätig zu werden.⁹⁹ Die Besatzung als Auslöser von Konflikten Sein Widerstreben, in französische Dienste zu treten, begründet Lintz mit den Verleumdungen, die über ihn im Umlauf seien. In seinem Tagebuch geht er darauf nicht näher ein, doch beschwerte er sich im Oktober 1796 beim Trierer Generalvikariat über den Benediktinerpater Simon Ziegler (1760–1823), Pfarrer zu St. Medard und Angehöriger des Kloster St. Matthias, der ihn „in der Gegenwart einiger anderer würdiger Männer […] mit den ehrenrührigsten Ausdrücken, ich seye ein Schurke, ein schlechter Kerl“ beschimpft hätte. In einem weiteren Schreiben wandte er sich an den Prior und den Konvent des Klosters: Diese seien vor dem Krieg wie so viele andere auf ihre rechtsrheinischen Güter geflohen und hätten viel verloren, was aber nicht zu vergleichen sei mit der Angst, dem Kummer und der Sorge der zurückgebliebenen Einwohner. Obwohl er selbst, so Lintz weiter, einen erheblichen Beitrag zu den Kontributionszahlungen habe leisten müssen und sein ganzes Bestreben trotzdem „keine andere Triebfeder als den Gemeinnutz“ kannte, sehe er sich nun Kritik ausgesetzt, weil der Volksvertreter Neveu seine Anstellung veranlasst habe. „Ehre und Reputation“ seien ihm nun von einem Mitglied ihres Klosters geraubt worden: Einem Priester, „der täglich seine geweihete Hände zu dem Gott des Friedens ausstrecket“ und eigentlich im Sinne der christlichen Lehre Nächstenliebe verkünden sollte, aber stattdessen „durch seine schlangenartige Zunge nur die schmerzlichsten Wunden zu zufügen sich bestrebet“¹⁰⁰ habe. Lintz wird in seiner Einlassung an den Klosterkonvent bewusst darauf angespielt haben, dass sowohl er als auch viele andere ‚normale‘ Bürger im Gegensatz zu den Mönchen nicht vor der heranrückenden französischen Armee flohen und in der Stadt ausharrten. Inwiefern den Mönchen von St. Matthias oder denen anderer Klöster ihre Flucht von Seiten der Bürger angelastet wurde oder ob sie sie verstanden, lässt sich nicht pauschal beurteilen, sondern wird abhängig von der bereits zuvor vertretenen Einstellung gegenüber diesen Einrichtungen gewesen sein. Lintz’ Argumentation weist allerdings darauf hin, dass nicht jeder Verständnis für die Flucht hatte und den Mönchen möglicherweise bewusst war, dass ihr 99 Lintz: Tagebuch III (wie Anm. 77, S. 301), S. 95. 1795 war erstmals der Volksrepräsentant Etienne Neveu (1755–1830) an Lintz herangetreten, um ihn zur Mitarbeit in der Landesadministration zu gewinnen, siehe ders.: Tagebuch II (wie Anm. 67, S. 300), S. 69. So wie Lintz den Vorgang schildert, suchte er sich erfolglos diesem Ansinnen zu entziehen. Bella drängte ihn schließlich 1797, als Nationalagent für das Justizwesen zu fungieren, siehe ders.: Tagebuch III (wie Anm. 77, S. 301), S. 90. 100 Jeweils StadtAr Tr Fz 680, o. P.
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Verhalten auch als Verrat gedeutet werden konnte. Dem ehemaligen Syndikus ist es wichtig, zu betonen, der Abtei stets „gute und treue Dienste“ geleistet zu haben und er will seine Mitarbeit in der französischen Verwaltung als notwendige Anpassungsleistung verstanden wissen, mit der er dem „allgemeinen Wohl“¹⁰¹ diene. Nach Lintz eigenen Angaben konnte er die Abtei von der Haltlosigkeit der Vorwürfe überzeugen. Ziegler selbst – so geht aus seinen Stellungnahmen an das Generalvikariat hervor – sah sich hingegen im Recht. Deutlich ist seiner Rechtfertigung anzumerken, dass der Konflikt zwischen ihm und Lintz wesentlich durch die politischen Ereignisse bestimmt war. Indem er zunächst betonte, dass Vikariat als höchstrichterliche Stelle anzuerkennen, da ihm auch kein anderslautendes Arrêté bekannt sei, spielt er unmittelbar auf den Umbruch an, den die Besetzung markierte und der zumindest im politischen Bereich zu immer wieder wechselnden Zuständigkeiten führte.¹⁰² Um die Unzuverlässigkeit eines weltlichen, für die Franzosen arbeitenden Beamten herauszustellen, deutet er geschickt Zweifel an, ob Lintz nicht plötzlich einfallen könnte, die Zuständigkeit des Vikariats anzuzweifeln, obwohl er es selbst angerufen habe. Außerdem bezeichnet er Lintz durchweg als „Citoyen“, um dessen ungebührliche Nähe zu den Franzosen und seine ihm unterstellten Sympathien für die Republik zu unterstreichen. So wie Lintz andeutet, die Flucht der Mönche könne als Verrat aufgefasst werden, wertet Ziegler dessen Handeln als Kollaboration und damit ebenfalls als Verrat. Obwohl der ‚Citoyen Lintz‘ „irreligiös genug“ sei, ihn „unchristlich zu nennen“¹⁰³, erklärt Ziegler großmütig, dennoch Mitleid mit ihm zu empfinden, da alle Welt über ihn rede und er selbst, Ziegler, nur ausspreche, was jeder dächte. Dass ein ehemaliger Syndikus mehrerer angesehener Klöster und Assessor des St. Peter-Gerichts des Domkapitels nun in französischen Diensten stand, barg offensichtlich hohes Konfliktpotenzial. Wie Lintz es darstellt, instrumentalisierte Ziegler sein Beschäftigungsverhältnis, um ihn öffentlich zu diskreditieren. So habe ihm der Pater nichts weniger unterstellt als „ein Feind der Geistlichkeit“ zu sein, weil er sich beispielsweise nicht bemüht habe, die abteilichen Glocken vor den Franzosen zu retten. Doch nicht nur er sei verunglimpft worden, sondern auch seine Familie sei betroffen: Ziegler unterstelle seiner Ehefrau, dem Pfarrer ins Gesicht gesagt zu haben, „die Mönche hätten lang genug Wein gesoffen, nun könnten sie auch einst Wasser trinken“. Gegen seinen Sohn erhebe er den Vorwurf, auf dem Marktplatz öffentlich verkündet zu haben, „die Revolution hätte das Gute, daß
101 Jeweils StadtAr Tr Fz 680, o. P. 102 Die geistliche Verwaltung konnte hingegen weiterarbeiten, siehe Kapitel 2.3. 103 Jeweils StadtAr Tr Fz 680, o. P.
308 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? man der Mönche dadurch loß würde“¹⁰⁴. Der Vorwurf, ein Freund der Franzosen, aber ein Feind der Mönche und Geistlichen zu sein, wog gerade während der Besatzungszeit schwer, weshalb Lintz Ziegler nicht hat ignorieren wollen und versuchte, seinen Ruf zu retten.¹⁰⁵ Auch unter den Geistlichen löste die Besatzungszeit Streitigkeiten aus, wie der Fall des Kyllburger Stiftkanonikers und Pfarrers von Gindorf¹⁰⁶, Johann Phillip Engel (1747–1809), zeigt. Dieser profitierte von der „unwiederstehliche[n] Furcht“, die die heranrückende französische Armee unter Geist- und Weltlichen überall im Land ausgelöst und die sie „zur Auswanderung blindlings hingerissen“ habe: Zusätzlich zu seiner eigenen konnte er die Pfarrei Kyllburg übernehmen, deren Seelsorger zu den Fliehenden zählte. Allerdings traten anscheinend bald danach immer stärkere Zweifel an seiner charakterlichen Eignung auf – er sei seiner Gemeinde „kein Vorgänger zur Tugend, kein Lehrer oder Meister der Religion“ urteilte der Generalvikariatsverwalter Simon – und da vermieden werden sollte, dass ein Pfarrer zwei Gemeinden vorstand, betrieb Simon 1795 Engels Abberufung aus Kyllburg.¹⁰⁷ Simon argumentierte, ersterer habe die Pfarrstelle in Kyllburg „nur bis auf andere Anordnung“¹⁰⁸ als Stellvertreter besetzen sollen und da mit Peter Daniel Knodt (1749–1828)¹⁰⁹ nun ein geeigneter Ersatz gefunden sei, müsse Engel selbstverständlich seinen Platz räumen. Dieser weigerte sich allerdings, da er sich als rechtmäßiger, durch kanonische Wahl der übrigen Stiftskanoniker bestätigter Pfarrer von Kyllburg betrachtete. Wie dem Bericht zu entnehmen ist, den Simon über diesen Fall für die Gemeindeverwaltung Trier anfertigte, drehte sich der Streit auch um die Frage, ob die Stelle eines emigrierten Pfarrers überhaupt als vakant zu betrachten sei und folglich neu besetzt werden könnte oder nicht. Für den Generalvikariatsverwalter war die Sachlage eindeutig: Er habe „die sogenannten emigrirten Pastorn nicht als ihrer
104 Jeweils StadtAr Tr Fz 680, o. P. 105 Der Streit wurde anscheinend 1797 nach Vermittlung des Generalvikariats beigelegt. 106 Die Pfarrei war dem Stift inkorporiert. Gindorf war damals Teil der Österreichischen Niederlande, vgl. Franz-Joseph Heyen: Das Erzbistum Trier 11: Das St.-Marien-Stift in Kyllburg, Berlin/New York 2007, S. 182. 107 Bereits im Zuge der Visitation des Kyllburger Stifts 1787 habe der Erzbischof Engel die Eignung als Pfarrer abgesprochen, führt Simon aus, der ebenfalls spätestens seit 1792 ein Kanonikat in Kyllburg inne hatte, sich allerdings nur in Trier aufhielt. Engel wird im Zuge einer erneuten Visitation des Stiftes 1789 von den übrigen Kanonikern als streitsüchtiger Querulant beschrieben, der nur selten in Kyllburg sei und sich dann lieber im Wirtshaus aufhalte statt am Chordienst teilzunehmen, vgl. ebd., S. 183–184, 365–366, 371. 108 Jeweils StadtAr Tr Fz 680, o. P. 109 Knodt war Pfarrer in Orsfeld, einer dem Stift Kyllburg inkorporierten Pfarrei. Spätestens seit 1797 wird er als Kanoniker des Stifts angeführt, vgl. Heyen: Stift Kyllburg (wie Anm. 106), S. 373.
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Stellen verlustiget“ angesehen, „gleich wie es auch den Stiftern noch nicht eingefallen ist, die Pfründen der emigrirten Stiftsglieder als erlediget zu behandeln“. Auch weltliche Beamte hätten schließlich bei ihrer Rückkehr ihre Stellen wieder antreten können. Des Weiteren sei es generell nicht die Aufgabe „der Collatorn“ – in diesem Fall des Stiftkapitels – die Pfarrverwalter einzusetzen, sondern bliebe von Rechts wegen dem Generalvikariat vorbehalten. Simon bezweifelt im Übrigen, dass die Wahl tatsächlich nach Maßgaben des kanonischen Rechts abgehalten wurde. Allein die „damalige[…] Crisis“, womit er den Einmarsch und die Besetzung wolkig umschreibt, habe das Generalvikariat bewogen, Engel einstweilen auf dieser Pfarrstelle zu belassen, da „man den eigentlichen Gang der Geistlichen Geschäfte, und die Gränzlinie der Macht von Commissairs und Generale noch nicht kannte“. „Bey mehr Kund gewordenen Gesinnungen in Betref der kirchlichen Angelegenheiten“ habe dann keine „Noth“ mehr bestanden, „einen unwürdigen Mann zur einsweiligen Verwaltung einer Zweiten Pfarrey anzustellen.“¹¹⁰ Simon gibt damit deutlich zu verstehen, dass ohne diese als Krise wahrgenommenen Ereignisse die Probleme mit Engel gar nicht erst hätten auftreten können: So schufen die durch den französischen Einmarsch und die darauffolgende Besetzung verursachten Emigrationen ganz neue rechtliche Fragen, die den Status der nun unbesetzten Pfarreien betrafen.¹¹¹ Doch anders als die Franzosen betrachteten die kirchlichen Stellen die Emigranten nicht als Verräter, denen jede Rückkehr besser verwehrt bleiben müsste. Dass sie ihre Gemeinden eigenmächtig verlassen hatten, wurde nicht ihnen angelastet, sondern auf die äußeren Umstände zurückgeführt und war damit entschuldbar. Zu dieser Haltung wird sicherlich beigetragen haben, dass Simon – als zunächst einziger in Trier verbliebener Mitarbeiter – ansonsten auch seinen Kollegen die Möglichkeit zur Rückkehr und Wiederbesetzung ihrer Stellen hätte nehmen müssen. Neben der personellen Schwächung sah sich die geistliche Verwaltung aber unmittelbar nach der Besetzung auch der Frage ausgesetzt, ob sie überhaupt noch über Entscheidungsbefugnisse in geistlichen Angelegenheiten verfügte. Erst dieses ‚Vakuum‘ verhinderte, dass Engel nicht sofort in seine Schranken verwiesen werden konnte. Engel ist in Simons Augen ein Profiteur dieser speziellen Umstände, der es darauf angelegt hat, „die gegenwärtigen Zeiten“ für sich umso „günstiger“ zu nutzen. Dass Simon ein derartiges Verhalten, das aus seiner Sicht die Notlage der Kirche und ihrer Einrichtungen ausnutzte, verachtete, ist offensichtlich. Konnte er für Emigranten Verständnis aufbringen, sah er durch den ‚Fall Engel‘ den „Beruf die-
110 Jeweils StadtAr Tr Fz 680, o. P. 111 Anders als von Engel suggeriert, blieben 1794 bis auf einen alle Kanoniker vor Ort, vgl. Heyen: St. Paulin (wie Anm. 56, S. 38), S. 192.
310 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? ser hohen Stelle […] zu Handhabung der geistlichen Verfassung und Ordnung“¹¹² gefährdet. Wie die Unterlagen, die Simons Bericht beiliegen, zeigen, versuchte Engel gezielt über die Emigrantenfrage sowohl das Generalvikariat als auch seinen ‚Nachfolger‘ Knodt bei der französischen Besatzungsverwaltung in Gestalt des Volksrepräsentanten Neveu in Verruf zu bringen. Er verwies nicht nur auf die Emigration aller Vikariatsmitglieder, sondern unterstellte auch Knodt, emigriert und erst nach 14(!) Tagen zurückgekehrt zu sein. Diese Anschuldigungen sollten wiederum ihn selbst indirekt als einen gegenüber der französischen Republik zuverlässigen Priester präsentieren, obwohl er nur aus Gründen des eigenen Vorteils geblieben war.¹¹³ Auch wenn das Generalvikariat seine Zuständigkeit für die geistlichen Angelegenheiten behalten hatte, spekulierte er offenkundig darauf, in dieser Umbruchszeit weltliche und geistliche Behörden leicht zu seinen Gunsten gegeneinander ausspielen zu können. Sein Beispiel zeigt, dass es auch Geistliche gab, die die Besetzung und die damit einhergehende Ungewissheit weniger als Bedrohung denn als Chance für sich wahrnahmen. Republikanische Verheißungen An diesem Punkt versuchten auch andere anzusetzen, die der französischen Republik und der Expansion der Revolutionsideen positiv gegenüberstanden und ihren linksrheinischen Mitbürgern angesichts der Requisitionen und Kontributionen die Ängste vor den Besatzern nehmen wollten. Gerade in der Zeit zwischen dem Präliminarfrieden von Leoben im April 1797 und dem Frieden von Campo Formio im Oktober desselben Jahres, als der Verbleib des Linksrheinischen offen und sogar die Gründung einer cisrhenanischen Republik möglich schien, setzten verstärkt propagandistische Bemühungen der rheinischen Republikaner ein, die übrige Bevölkerung von den Nachteilen einer Rückkehr zur alten Ordnung zu überzeugen.¹¹⁴ Um dies zu erreichen, musste jedoch der Vorwurf, die Franzosen und ihre deutschen Unterstützer seien Religionsfeinde, ausgeräumt werden. In verschiedenen Aufrufen, die bei der breiten Bevölkerung dafür warben, sich an die französische Nation anzuschließen, „um mit ihr vereinigt zu werden, oder einen eigenen Freistaat zu bilden“, wurde die Behauptung, den Menschen solle ihr „Gott, [ih-
112 Jeweils StadtAr Tr Fz 680, o. P. 113 Angeblich – so berichtet es sein Kontrahent Knodt – habe Engel in einer Predigt davon gesprochen, die „Pfarr von der Nation“ (ebd.) erhalten zu haben, weshalb er allen Emigranten Verrichtungen in der Pfarrei Kyllburg untersage. 114 Zur Cisrhenanen-Bewegung siehe Kapitel 2.3.
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re] Religion“ genommen werden, als „Betrug“¹¹⁵ und „Lüge“¹¹⁶ zurückgewiesen. Kleriker, die „auf der Kanzel und im Beichtstuhl“¹¹⁷ behaupten würden, die Republikaner „seyen Antichristen, die die Religion umstürzen wollten“¹¹⁸, wurden in den Aufrufen bewusst als „Pfaffen“¹¹⁹ diffamiert, da der Begriff Geistlicher allein redlichen Männern vorbehalten sei. Um ihre Zehnten und Zinsen behalten zu können, würden diese ‚Pfaffen‘ gemeinsam mit den Fürsten die Menschen in der für sie komfortablen „Unterwürfigkeit zu erhalten“¹²⁰ suchen, um sich weiterhin auf deren Kosten ein angenehmes Leben machen zu können. Ihre Sorgen um die Religion seien daher nur vorgeschoben. Auf das Bild eines gerechten Gottes verweisend, betonten die Verfasser der Aufrufe, die Entrichtung der Abgaben sei anders als von Adel und Klerus behauptet, keinesfalls „Schuldigkeit und von Gott eingesetzt“¹²¹. Sowohl mit diesem Gottesbild als auch mit dem Anspruch, die Religion vom „Unrath“ der Pfaffen befreien und sie in den Zustand der „ersten Kirche“¹²² zurückführen zu wollen, knüpften die rheinischen Republikaner an Argumentationsmuster der katholischen Aufklärung 115 Jeweils An die Bewohner des linken Rheinufers, Juli 1797. StadtAr Tr Fz 110, Nr. 21. Als Verfasser dieses im Juli 1797 im gesamten Rheinland veröffentlichten Aufrufs, gilt Mathias Metternich (1747–1825), ein Mathematik-Professor der Universität Mainz, der zu den Gründungsmitgliedern des Mainzer Jakobinerklubs zählte. Vgl. Molitor: Untertan (wie Anm. 6, S. 2), S. 105. – Die Doppelformel ‚Vereinigung oder Freistaat‘ fand solange Gebrauch, wie unklar war, ob die französische Regierung die Gründung einer eigenen Republik unterstützte, vgl. Kuhn: Revolution (wie Anm. 200, S. 73), S. 192. 116 Jeweils Die Freunde des Volkes und der Freiheit an die Landleute des linken Rheinufers, September 1797. StadtAr Tr Fz 110, Nr. 24. Verfasser dieses Aufrufs waren die Anführer der Koblenzer Republikaner, Joseph Görres (1776–1848) und Johann Heinrich Gerhards (1757–1826). Gerhards war Philosophie-Professor am Koblenzer Gymnasium, Görres war sein Schüler gewesen. 1798 trat Gerhards eine Stelle als Zentralverwalter in Trier an. Von 1800–1814 war er Präfekturrat und blieb auch unter preußischer Herrschaft im Staatsdienst, vgl. Gabriele B. Clemens: Die Notabeln der Franzosenzeit, in: Dühr [Hrsg.]: Trikolore (wie Anm. 61, S. 17), S. 105–180, hier S. 130–131. Görres wandte sich hingegen nach einer Parisreise 1798/1799 von der Revolution ab. Ab 1814 gab er den Rheinischen Merkur heraus und wurde mit dieser Zeitschrift „zum Sprachrohr der antifranzösischen deutschen Verfassungsbewegung“ (Kuhn: Revolution (wie Anm. 200, S. 73), S. 164). In den 1820er Jahren begann er sich wieder der katholischen Kirche zuzuwenden und war Mitarbeiter der Zeitschrift Der Katholik. Ab 1827 lehrte er Literaturgeschichte an der Universität München. Ausführlich zu ihm: Monika Fink-Lang: Joseph Görres. Die Biographie, Paderborn 2013. 117 Jeweils StadtAr Tr Fz 110, Nr. 21. 118 StadtAr Tr Fz 110, Nr. 24. 119 StadtAr Tr Fz 110, Nr. 24. 120 StadtAr Tr Fz 110, Nr. 21. 121 StadtAr Tr Fz 110, Nr. 21. 122 Jeweils StadtAr Tr Fz 110, Nr. 24. Zur jeweiligen Propaganda der Gegner und Anhänger der Republik vgl. auch: Molitor: Untertan (wie Anm. 6, S. 2), S. 104–144.
312 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? an. Der Verweis auf das Ideal der christlichen Urkirche sollte die Verkommenheit der zeitgenössische Geistlichkeit belegen und die künftige Abschaffung des Zehnten¹²³ als notwendigen Schritt hin zu einer am Vorbild Jesu’ orientierten Kirche darstellen. Eindringlich warnten die Republikaner vor einer Rückkehr der „vorigen Despoten“ und malten der Bevölkerung blumig die Verheißungen aus, erklärte sie sich für ‚frei‘: „Ihr bekommt dann eine Verfassung, worin der Landmann als die erste arbeitende und erwerbende Klasse des Staates auch den ersten Rang besitzt, wo jeder von Euch, wenn er Talente dazu hat, sich zur höchsten Stelle emporschwingen kann.“¹²⁴ Außerdem wurde die Umverteilung von Land angekündigt, die freie Wahl der Beamten, geringere Abgaben sowie ein gerechtes und gut organisiertes Justizwesen. Doch nicht nur mit Flugblättern, die für eine Neuordnung der politischen Verhältnisse unter der Ägide Frankreichs warben, versuchten rheinische Republikaner der Bevölkerung die Furcht vor den Besatzern zu nehmen. In einem Lustspiel in drei Aufzügen für das Hoftheater in Koblenz stellte der anonyme Verfasser dem geldgierigen (französischen) Adel die aufrechten und freiheitsliebenden Nationalgardisten entgegen. Revolution und Republik waren für ihn ohne Zweifel mit der katholischen Religion vereinbar. Der Inhalt seines Stückes sollte darum hauptsächlich von denen berücksichtigt werden, „die durch heuchlerische Pfaffen irregeführt, in der Furcht schweben, es sei in Frankreich auf Unterdrükung der katholischen Religion abgesehen.“ Auch dieser Autor bezichtigte Adel und Klerus allein aus Eigeninteresse die alte Ordnung aufrechterhalten zu wollen und dazu die Leichtgläubigkeit der Bevölkerung auszunutzen. So sei keinem Priester je das Predigen verboten worden und – auf den Eid anspielend, den der Klerus in Innerfrankreich leisten musste – es sei auch nicht „sündlich von ihnen zu verlangen, der Nazion Treue zu schwören, die sie bezahlt“¹²⁵. In Gestalt des deutschen Dorfschulzen Meiburg wird die französische Republik gegen die Unterstellungen des Paters Hilarius in Schutz genommen. Letzterer sieht angesichts der revolutionären Ereignisse in Frankreich den „jüngste[n] Tag“
123 Dass in den Aufrufen sehr ausführlich die Abgabenlast thematisiert und die Geistlichkeit im Grunde als Schmarotzer dargestellt wird, ist dahingehend interessant, da sich ja unter den Besatzern zunächst nur die Nutznießer geändert hatten. 124 Jeweils StadtAr Tr Fz 110, Nr. 24. 125 Jeweils Anonym: Die Aristokraten in Deutschland. Ein Lustspiel in drei Aufzügen für das Hoftheater in Coblenz, Koblenz, Mainz 1796, o. S. Da die Handlung des Stücks vor Kriegsausbruch angesiedelt ist, kann die Besetzung und deren Auswirkungen auf die Kirche selbstverständlich noch kein Thema sein. Zum Stück vgl. auch Gerhard Steiner: Jakobinerschauspiel und Jakobinertheater, Stuttgart 1973, S. 76–77.
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heraufziehen, da Kirchen entweiht und „die Priester des Herrn“¹²⁶ ihres Eigentums bestohlen würden. Dieser Deutung der Revolution als göttliche Strafe und notwendiges Opfer¹²⁷ setzt der Schultheiß entgegen, dass erst durch den Verlust ihrer Güter die Pfarrer wieder wahre „Diener Gottes“ geworden seien, ganz „nach der Vorschrift des Evangeliums.“¹²⁸ Statt sich wie bisher zu sehr an Äußerlichkeiten aufzuhalten, würden sie sich infolge ihrer staatlichen Besoldung nun wieder am Vorbild der Apostel orientieren. Er argumentiert damit in ähnlich plakativer Weise wie die Koblenzer Republikaner in ihrem Aufruf wenige Jahre später: Sowohl die Aufrufe als auch das Lustspiel waren von vornherein dazu konzipiert worden, einem breiten Publikum die Franzosen als Befreier von Unterdrückung anzupreisen, die eine bessere Zukunft verhießen. Reaktionen auf Friedensschluss und Angliederung Obwohl auch in Trier die Flugblätter der Cisrhenanen-Bewegung Verbreitung fanden, spielte diese dort keine nennenswerte Rolle, wie dem Tagebuch von Lintz zu entnehmen ist. Aufgrund der zu diesem Zeitpunkt äußerst unklaren französischen Verwaltungszuständigkeiten für die besetzten Gebiete, leistete der Trierer Stadtmagistrat der Aufforderung der Commission intermédiaire keine Folge, einen Beschluss bekannt zu machen, demzufolge Gemeinden, „welche sich zu einer eigenen Republik (der Cisrhenanischen) bekennen würden, die Freiheit von allen Feudallasten und Zehenden zugesichert war.“¹²⁹ Minola zufolge zählte die Cisrhenanen-Bewegung in Koblenz nur wenige Anhänger, da es ihnen nicht gelungen sei, eine Mehrheit der Bevölkerung von ihrem Ansinnen zu überzeugen. Stattdessen sei bei den meisten die „Anhänglichkeit an das Alte noch zu groß“¹³⁰ gewesen. Er sieht zwar auch einige der Schriften kritisch, deren Verfasser gegen eine Republik votierten, da in ihnen der Adel vielfach zu positiv dargestellt worden sei. Allerdings attestiert er den Cisrhenanen nicht den richtigen Ton getroffen und zudem zu viele unhaltbare Versprechungen gemacht zu haben.¹³¹ Einvernehmlich berichten Minola, Lintz und Müller, dass die Nachricht über den Frieden von Campo Formio (17. Oktober 1797), der in Koblenz am 27. Oktober und in Trier am 29. Oktober bekannt wurde, von allen freudig und erleichtert aufge-
126 Anonym: Lustspiel (wie Anm. 125), S. 32. 127 Siehe dazu Carl: Revolution (wie Anm. 13, S. 4), S. 97–98. 128 Jeweils Anonym: Lustspiel (wie Anm. 125), S. 42. 129 Lintz: Tagebuch III (wie Anm. 77, S. 301), S. 99. 130 Minola: Franzosen (wie Anm. 76, S. 21), S. 183. 131 Siehe ebd., S. 172–183.
314 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? nommen worden sei.¹³² Die Bevölkerung habe gehofft, endlich von den Kriegslasten befreit zu werden. Allem Anschein nach rechneten die meisten nicht mit einer Abtretung des Linksrheinischen an Frankreich, zumal der österreichische General und Kommandant der Festung Ehrenbreitstein, Johann Sechter von Hermanstein (1739–1815), gemeldet habe, „die Integrität des Reichs […] sei stipulirt.“¹³³ Dass der Friede von Campo Formio eine endgültige Abtretung des Linksrheinischen an Frankreich immer wahrscheinlicher machte, war anfangs den Wenigsten bewusst.¹³⁴ Erst allmählich sickerten Gerüchte über eine entsprechende geheime Zusatzvereinbarung zwischen Österreich und Frankreich durch. Da diesen allerdings zahlreiche offizielle Versicherungen gegenüberstanden, die Reichsintegrität bleibe auf jeden Fall gewahrt, wird es für die Einwohner schwierig gewesen sein, den jeweiligen Wahrheitsgehalt der Aussagen zu beurteilen.¹³⁵ Auch Weihbischof Pidoll ging in einem Schreiben an Erzbischof Clemens Wenzeslaus vom 2. November 1797 von der „gegründeten Hofnung“ aus, „daß das Erzstift bald unter den beglückenden Oberhirten- und Regentenstab [Seiner] Kurfürstl. Durchlt., und in die vorige Ordnung rücktreten dürfte.“ Er selbst „so wie freuntliche getreueste Untertanen“ würden diesem Zeitpunkt mit „dem heftigsten Verlangen“¹³⁶ entgegensehen. Allerdings wurden derartige Hoffnungen bereits Ende des Jahres zerstört, wie Minolas Bericht zeigt: Schon bald nach dem Friedensschluss hätte die Bevölkerung gehört, „daß in Kurzem das Direktorium den Bürger Rudler als Commissair in die eroberten Länder schicken würde, um sie nach französischem Fuß zu organisiren. Unglaublich schien den Meisten die letzte Nachricht. Wie? hieß es, wir sollen französisch werden, da die Reichsintegrität 132 Siehe Lintz: Tagebuch III (wie Anm. 77, S. 301), S. 100; Minola: Franzosen (wie Anm. 76, S. 21), S. 181 sowie Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1797. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 21r. Vgl. dazu allgemein auch Molitor: Untertan (wie Anm. 6, S. 2), S. 184. 133 Minola: Franzosen (wie Anm. 76, S. 21), S. 182. 134 Vgl. Bettina Braun: Das Reich blieb nicht stumm und kalt. Der Untergang des Alten Reiches in der Sicht der Zeitgenossen, in: Christine Roll/Matthias Schnettger [Hrsg.]: Epochenjahr 1806? Das Ende des Alten Reichs in zeitgenössischen Perspektiven und Deutungen, Mainz 2008, S. 7–29, hier S. 21. 135 Zur Informationslage im Linksrheinischen siehe Hansen: Quellen Bd. 4 (wie Anm. 237, S. 83), S. 215, 258, 273. Zum Friedensschluss siehe auch Kapitel 2.3. Strenggenommen betraf der Friedensschluss auch nur Frankreich und Österreich und nicht das Reich. Doch anders als beim Separatfrieden von Basel, der 1795 zwischen Preußen und Frankreich geschlossen worden war und in dem Preußen Frankreich die Überlassung seiner linksrheinischen Besitzungen zugesichert hatte, sprach es natürlich „dem Reichsrecht Hohn“, wenn der Kaiser zu solchen Zugeständnissen bereit war, „auch wenn er formal nur im Namen Österreichs handelte.“ Braun: Reich (wie Anm. 134), S. 21. 136 Brief von Weihbischof Pidoll an Erzbischof Clemens Wenzeslaus, 2. November 1797 (Mainz). BATr Abt. 49 Nr. 4, fol. 75–78.
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stipulirt ist?“¹³⁷ Obwohl viele immer noch den Zusicherungen des Kaisers Glauben geschenkt hätten, habe „der Klügere […] schon von geheimen Artikeln“ gesprochen und den Kongress von Rastatt – bei dem ein endgültiger Friede zwischen Frankreich und dem Reich ausgehandelt werden sollte – nur noch als „pro forma“¹³⁸ wahrgenommen. Ludwig Müller thematisiert in seinem Tagebuch ebenfalls die angekündigte Neuorganisation des Linksrheinischen. Er notierte, dass die am 24. Dezember 1797 „überal“ verbreitete Nachricht, „wir seyn izt französisch erklärt“, die Stadt „in Kummer und Trauer versetzt“ hätte. Auf den wichtigsten Plätzen sei der Aufruf¹³⁹ des Regierungskommissars Rudler verlesen worden, dessen Inhalt Müller auszugsweise, aber in genauem Wortlaut in seinem Tagebuch wiedergibt. Da er die Eingriffe der Franzosen ins Kirchenwesen äußerst kritisch sah, scheint ihm vor allem die darin enthaltene Zusicherung wichtig gewesen zu sein, dass die ‚Bürger der eroberten Lande‘ allein Gott über ihre „Glaubensmeinungen“ Rechenschaft schuldig seien und ihre „bürgerlichen Rechte“ nicht von diesen abhingen: „[J]ene Meinungen mögen seyn, wie sie wollen, so werden sie ohne Unterschied geduldet werden, und gleichen Schutz geniesen.“¹⁴⁰ Dass die französische Regierung versprach, Meinungs- und Religionsfreiheit zu gewähren, beruhigte Müller jedoch nicht. Laut seiner Darstellung, seien die Stadtbewohner weiterhin „immer in Trauer & Bekümmernis“ gewesen, bis plötzlich „von glaubwürdigen Händen“ mehrere Briefe angekommen seien, „die da meldeten das wir wie vorhin teutsch bleiben würden und sollten nur nicht glauben was die vielen clubistische[n]¹⁴¹ Brief[e] meldeten.“ Die Absender dieser Briefe nennt er nicht, konstatiert bloß: „Doch sahe man hernach das auch diese gute[n] Nachrichten all falsch gewesen.“¹⁴² Diejenigen, die wie Minola oder Müller die ersten unsystematischen kirchenpolitischen Maßnahmen der französischen Besatzer sowie die Bedrückungen durch
137 Minola: Franzosen (wie Anm. 76, S. 21), S. 184. 138 Jeweils ebd., S. 187. – Zum Rastatter Kongress vgl. Kuhn: Revolution (wie Anm. 200, S. 73), S. 143–147. Kuhn erläutert, dass die Reichsfriedensdeputation trotz der entsprechenden Vereinbarungen in Basel und Campo Formio zunächst gegen eine Abtretung des linken Rheinufers gewesen sei. In Wirklichkeit sei es den Teilnehmern jedoch nur darum gegangen, angemessene Entschädigungen für die Gebietsverluste zu erhalten. 139 Aufruf Rudlers an die Bürger der eroberten Lande, 11. Dezember 1797 (21. Frimaire 6ten Jahres). StadtAr Tr Fz 110, Nr. 1 beiliegend. In diesem Aufruf kündigte Rudler der Bevölkerung auch ihre baldige Befreiung vom Zehnten an; aufgehoben wurden alle feudalen Rechte dann mit Gesetz vom 26. März 1798. 140 Jeweils Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1797. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 31r. 141 Damit meint er wahrscheinlich Deutsche, die sich nach dem Vorbild Frankreichs in politischen Clubs organisierten. 142 Jeweils Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1797. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 31r.
316 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? die Besatzung insgesamt bereits kritisch gewertet hatten, zeigten sich – trotz der Sehnsucht nach Frieden – über die Angliederung besorgt. Vor allem Müller fühlte sich durch Geschichten, wie die einer Trierer Nonne, die ursprünglich in einem Kloster in Frankreich gelebt, „seither ganz traurig ihr Leben zugebracht“¹⁴³ und sich schließlich selbst getötet habe, bestätigt, dass die Franzosen nicht nur eine abstrakte, sondern eine ganz konkrete physische und psychische Bedrohung darstellten. Deren Versuch, den Herrschaftswechsel durch die Übertragung ausgewählter Gesetze wie etwa die Gewährung von Meinungs- und Religionsfreiheit durch einen „Übergang von traditionaler zu rationaler Herrschaft“¹⁴⁴ zu legitimieren, verfing offenkundig nicht bei allen. Nicht jeder wird allerdings die Aussicht auf einen Anschluss der Rheinlande an Frankreich in diesem Maße bedauert haben. Wie bereits erwähnt, gab es auch im Rheinland eine gleichwohl geringe Anzahl überzeugter Republikaner. Auch weniger politisierte Menschen, die wie Lintz in französischen Diensten standen oder die trotz der Belastungen des Krieges noch an eine bessere Zukunft mit geringeren Abgaben glaubten, werden nicht die Trauer verspürt haben, die Müller, ausgehend von seiner eigenen Wahrnehmung, sämtlichen Stadtbewohnern unterstellte. Gerade weil sich jedoch die „sozial- und rechtspolitischen Innovationen der Franzosen“¹⁴⁵ erst in den kommenden Jahren bemerkbar machten, überwog zu diesem Zeitpunkt in der Bevölkerung gegenüber den neuen Machthabern eine reserviert-abwartende Einstellung. So versuchte das Pariser Direktorium zwar mit
143 Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1797. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, unklare Zählung: „Wie man gehört, so war diese Persohn nicht recht bey Verstand, & hätte immer so stark nach dem Frieden verlanget. Ungefehr vor 3 Wochen hat sie geträumt als wenn unser Churfürst gesagt hatte: es müste noch ein frauen seel absterben als dann würden wir erst Frieden bekommen, worauf sie hinginge uns sich in den Hals geschnitten das Blut ließe sie ihr Nachtgeschirr laufen.“ Müller suggeriert ebenfalls, es habe einen Zusammenhang zwischen vermehrten Todesfällen im März 1797 und den Belastungen durch Soldaten-Einquartierungen gegeben, die er für die Tode verantwortlich macht (ebd., fol. 31r). 144 Helga Schnabel-Schüle: Herrschaftswechsel – zum Potenzial einer Forschungskategorie, in: Helga Schnabel-Schüle/Andreas Gestrich [Hrsg.]: Fremde Herrscher – fremdes Volk- Inklusionsund Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa, Frankfurt a. M. 2006, S. 5–20, hier S. 9. Angelehnt an Max Weber lassen sich drei Formen von Herrschaftstypen unterscheiden, die sich auf je eigene Weise legitimieren: die charismatische, die traditionale und die rationale Herrschaft. Mit der Etablierung erster moderner Verfassungen Ende des 18. Jahrhunderts (Nordamerika, Polen und Frankreich) rückte bei Herrschaftswechseln der Übergang von der traditionalen zur rationalen Herrschaft in den Mittelpunkt (vgl. ebd., S. 8). 145 Carl: Revolution (wie Anm. 13, S. 4), S. 100: „Daß die überwiegende Mehrheit der Rheinländer der Revolution abwartend oder negativ gegenüberstand, ist communis oppinio der Forschung. Selbst statistische Quellen wie etwa die Reunionsadressen sprechen eine eindeutige Sprache, wenn auch mit auffallenden lokalen Unterschieden und Abweichungen.“
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der verwaltungsmäßigen Angleichung des Linksrheinischen an Frankreich für die Friedensverhandlungen vollendete Tatsachen zu schaffen; die französische Verfassung fand allerdings noch keine Anwendung in den neuen Departements. Dass die französische Gesetzgebung weiterhin nur schrittweise und nach Bedarf übertragen wurde, wird die Bevölkerung als Willkür empfunden haben. Der scheinbar vorläufige Charakter dieser Praxis sowie die sich erst im zeitlichen Verlauf bemerkbar machenden umfassenden Veränderungen gerade im Justizoder Verwaltungsbereich¹⁴⁶ erschwerten es, den Herrschaftswechsel als dauerhafte Begründung einer neuen Ordnung zu akzeptieren. Zumal sich Ereignisse wie der Staatsstreich vom 18. Fructidor V durch eine verschärfte Kirchen- und Religionspolitik auch in den linksrheinischen Departements auswirkten.¹⁴⁷ Die „Kontinuitätsgarantie“¹⁴⁸, die die katholische Kirche nach dem Herrschaftswechsel hätte darstellen können, wurde so durch die Politik der zweiten Phase der Direktoriumsregierung unterlaufen. Wie bereits die Verlautbarungen der rheinischen Republikaner gezeigt haben, standen neben Adligen vor allem die Geistlichen und Mönche schnell unter dem Verdacht, gegen die französischen Machthaber zu agitieren und einen Anschluss an die Republik hintertreiben zu wollen. Die Klagen der französischen Beamten beschränkten sich jedoch meist auf einzelne, gleichwohl pauschal als „prêtre fanatique“¹⁴⁹ abgestempelte Männer. Die Jahre nach 1798: Vereinzelter Protest Im Frühjahr 1798 initiierte die französische Regierung in den rheinischen Departements eine „Art Volksbegehren“¹⁵⁰ in der Hoffnung, so auf die Verhandlungen des Rastatter Kongresses einwirken zu können: Mit der Unterzeichnung sogenannter Reunionsadressen sollte die rheinische Bevölkerung ihrem Wunsch, mit dem französischen Mutterland vereinigt zu werden, Ausdruck verleihen. Allerdings war das Ergebnis enttäuschend, da deutlich weniger Unterschriften als erhofft zusammen kamen. Obwohl im Saardepartement vergleichsweise viele die Reunionsadressen
146 Zum Umbruch, den das Jahr 1798 markierte, vgl. Müller: 1798 (wie Anm. 7, S. 3). 147 Zur Gesetzgebung im Detail siehe Kapitel 2.3. 148 Schnabel-Schüle: Herrschaftswechsel (wie Anm. 144), S. 16. 149 Siehe dazu beispielsweise entsprechende Verlautbarungen in den Papieren der Zentralverwaltung des Saardepartements und des Kommissars der Zentralverwaltung, Philippe Joseph Boucqueau (1773–1834): StadtAr Tr Fz 678, o. P. 150 Jeweils Josef Smets: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Untersuchungen zum Verhalten der linksrheinischen Bevölkerung gegenüber der französischen Herrschaft 1794–1801, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 59 (1995), S. 79–122, hier S. 104.
318 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? unterzeichneten, war auch hier der Rücklauf schwächer als erwartet.¹⁵¹ Deshalb forderte der mit der Durchführung betraute Trierer Kantonskommissar Nikolas Lequereux (geb. 1749) im April 1798 auch den städtischen Klerus zur Unterschrift auf, was in der Folge zum Konflikt zwischen dem Trierer Klerus und der Verwaltung führte. Anlass war die Weigerung von Peter Joseph von Hontheim, dem Offizial und Dekan des Stifts St. Simeon, der Aufforderung nachzukommen. Mit Verweis auf die noch laufenden Verhandlungen in Rastatt führte er an, dass es noch keinen „förmlichen Friedensschluß“¹⁵² gebe, mithin die Abtretung längst noch nicht „als unbedingt, und unwiderruflich“¹⁵³ anzusehen sei und er sich darum seiner Untertanenpflicht gegenüber der alten Regierung noch nicht entbunden sehe. Um zu beweisen, dass seine Argumentation mit der französischen Rechtslage übereinstimmte und er nicht zur Unterzeichnung gezwungen werden konnte, berief er sich auf Artikel 1, Absatz 7 der französischen Verfassung, der ausdrücklich besage: „Man kann Niemand zwingen, etwas zu thun, was das Gesetz nicht verordnet.“¹⁵⁴ Hontheim konterkarierte damit den Versuch der Franzosen, einerseits Fakten zu schaffen und andererseits über den vermeintlichen ‚Volkswillen‘ Verhandlungsdruck in Rastatt aufzubauen. Hätte es sich allerdings nur um einen einzelnen renitenten Kleriker gehandelt, wäre die Angelegenheit für die französischen Stellen belanglos gewesen. Hontheim war jedoch nicht irgendein Pfarrer, sondern zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich der ranghöchste Geistliche, der sich in Trier aufhielt. Entsprechendes Gewicht hatte seine Weigerung für die anderen Kleriker, die daraufhin – wie Haan empört berichtet – „theils aus Beharren, theils aus Furcht“¹⁵⁵
151 Zu den genauen Ergebnissen in den Departements vgl. Smets: Freiheit (wie Anm. 150, S. 317), S. 106–122 sowie Molitor: Untertan (wie Anm. 6, S. 2), S. 197–200. – Damit sollte wahrscheinlich auch eine „gemeinsame[…] Geltungsgeschichte“ (Schnabel-Schüle: Herrschaftswechsel (wie Anm. 144, S. 316), S. 18) gestiftet werden. 152 Johann Jakob Haan: Journal für das Saar-Departement, zweites Heft, Trier 1798, S. 26 f. Hontheims Begründung für die Weigerung druckte Johann Jakob Haan in seinem Journal ab, um diese ausführlich zu widerlegen. Der ehemalige Universitätsprofessor Haan fand noch vor Aufhebung der Universität eine Anstellung bei der französischen Verwaltung in Luxemburg. 1798 wurde er Mitglied der Zentralverwaltung in Trier, wurde allerdings bereits ein Jahr später suspendiert, vgl. Hansgeorg Molitor: Johann Jakob Haan. Ein rheinischer Beamter und die Revolution, in: Rheinische Vierteljahresblätter 38 (1974), S. 315–332, hier S. 329–331. – Für den französischen Text von Hontheims Begründung siehe LHA Ko Best. 241,015 Nr. 634, fol. 11–12. 153 Haan: Journal 2 (wie Anm. 152), S. 31. 154 Ebd., S. 34. 155 Ebd., S. 26. Auch Haan verweist darauf, Hontheim habe „die Versammlung mehr durch seine alte Gewalten, als durch seine Gründe dahin bringen wollte, seinem Beyspiel zu folgen“. Ebd.
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die vorgelegte Adresse ebenfalls nicht unterschrieben.¹⁵⁶ Fast zwangsläufig musste der Dechant in den Augen der Franzosen nun als Aufwiegler erscheinen. Daraufhin wurde Hontheim zunächst von Gendarmen verhaftet und später unter Hausarrest gestellt. Die Zentralverwaltung ordnete derweil an, seine Räumlichkeiten und die bei ihm gefundenen Papiere zu versiegeln und sorgfältig zu überprüfen.¹⁵⁷ Davon sollten diejenigen einbehalten werden, die „sentimens ou principes contraire aux Loix de la République française, à son Gouvernement ou à ses autorités constiuéel“¹⁵⁸ beinhalteten. Beschlagnahmt wurden unter anderem Briefe von Pfarrern an das Generalvikariat, die sich angeblich zwecks der Entrichtung des Zehnten oder anderer Einnahmen Maßnahmen zur Einschüchterung ihrer Gemeinden erbaten.¹⁵⁹ Angeklagt wurde Hontheim zwar nicht, blieb aber einige Zeit unter Hausarrest, obwohl er und einige andere Geistliche die Unterschrift schließlich doch leisteten.¹⁶⁰ Auch wenn die übrige Geistlichkeit Hontheims Beispiel Folge geleistet hatte, war sein Vorgehen nicht unumstritten: In einer anonymen Denkschrift¹⁶¹ führte ein Pfarrer die Gründe an, die aus seiner Sicht die Unterzeichnung der Reunionsadresse rechtfertigten. Sofern für die Regierung des Direktoriums die Vereinigung des Linksrheinischen mit Frankreich längst feststünde, könnte die Nichtunterzeichnung einen solchen Schritt nicht mehr verhindern, sehr wohl aber „die Nation mehr verbittern und die Sache schlimmer machen.“ Mit der ‚Sache‘ meint der anonyme Priester die Folgen für die Religion, sollte der Klerus nicht kooperieren: Unweigerlich würden die Geistlichen – wie Hontheim – als „Aufwiegler des Volks“ gelten, „welche mit den republikanischen Grundsätzen sich nicht vertragen“ würden und deshalb des Landes verwiesen werden müssten. In der Folge würde das Verhalten der Priester der Religion zur Last gelegt werden, die „ohnehin mit Aus-
156 Siehe auch Müller: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 78–79. 157 Siehe dazu auch: Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1798. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 25v–26r. 158 Schreiben der Zentralverwaltung des Saardepartements, 24. April 1798. StadtAr Tr FZ 678, o. P. 159 Schreiben der Zentralverwaltung des Saardepartements, 28. April 1798. StadtAr Tr FZ 678, o. P. 160 Siehe Hontheims Bittschrift vom 6. Mai 1798 an den Regierungskommissar, ihn, wenn ihm schon kein Verteidiger gewährt würde, endlich gegen Kaution aus dem Hausarrest zu entlassen: LHA Ko Best. Best. 241,015 Nr. 634, fol. 107–109. Hierzu ebenfalls das Schreiben von Franz Anton Haubs vom 25. April 1798, indem dieser bestätigt, Hontheim habe ihn darum gebeten, „die Geistlichkeit zu versammeln, und es, wo möglich dahin zu bringen, daß die Unterschrift zur Anverlangung der Union mit der fränckischen Republik erfolgen möge; ferner bescheinige ich, daß derselbe zu diesem Ende des andern Tags an die versammelte Geistlichkeit ein Schreiben erlassen habe.“ Ebd., fol. 53. 161 Gründe eines Priesters für die Rechtfertigung. BATr Abt. 49 Nr. 6, fol. 146–155.
320 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? wanderung der Geistlichkeit verfallen muß“, sodass „endlich die Religion selbst zu verbieten und auszutilgen“¹⁶² versucht würde. Auch wenn bei einer Vereinigung mit Frankreich „die Religion ihre vorige Freyheit“ nicht mehr habe, seien die Konsequenzen durch eine Kooperation weniger schlimm und würden nicht den endgültigen „Verfall des Glaubens und der Religion“ bedeuten, „welche doch zu unterhalten die aller-stärkste von Gott aufgelegte Pflicht der Geistlichkeit ist.“¹⁶³ Der Priester argumentierte folglich nicht als überzeugter Anhänger der französischen Republik, sondern einzig die Sorge um die Religion begründete für ihn die Notwendigkeit, gar die seelsorgerliche Pflicht, die Reunionsadresse zu unterschreiben. Aus seiner Sicht handelte es sich keineswegs um eine abstrakte Gefahr: So ließ ihn beispielsweise das im März 1798 erlassene Predigtverbot¹⁶⁴ für die Ordensgeistlichen nicht daran zweifeln, dass ein Verbot für Weltgeistliche, die Beichte zu hören, genauso wahrscheinlich sein könnte, sollten sie der Aufwiegelung verdächtigt werden. Angesichts der seit Rudlers Amtsübernahme in den neuen Departements erlassenen, Kirche und Religion betreffenden Gesetzen, traute er der „ohnehin gegen die Geistlichkeit aufgebrachte[n] so großen Nation“¹⁶⁵ ohne Weiteres den Erlass eines völligen, ganz Frankreich betreffenden „Religionsverbot[s]“¹⁶⁶ zu. Die Aussagen des anonymen Priesters verweisen darauf, dass besonders Mönche von den Franzosen als potenzielle Republikfeinde betrachtet wurden, weshalb sich die Gesetzgebung zu Beginn der Tätigkeit des Regierungskommissars hauptsächlich gegen die Klöster, respektive die Mönche, richtete.¹⁶⁷ Auch Ludwig Müller führt in seiner Übersicht über die „[t]raurige[n] Zeiten & Aussichten unserer Stadt Trier“¹⁶⁸ die Zerstörung der Klostergefängnisse und das Predigtverbot für die Mönche an, von dem in Trier nur ein einziger ausgenommen worden sei. Diesem Verbot waren auch in Trier Predigten vorausgegangen, die von der Zentralverwaltung als aufrührerisch wahrgenommen wurden: Abgesehen von denen des Augustinerpaters Ernst Kronenberger (1764–1814), worauf in Kapitel 4.2 näher eingegangen wird, gerieten vor allem die ehemaligen Jesuiten in Verdacht, „falsche Furcht wegen Nicht-Aufrechterhaltung der freien Uebung des katolischen Cultes einzuflösen“ und der französischen Regierung mittels derartiger Unterstellungen „alle Herzen
162 163 164 165 166 167 168
Jeweils BATr Abt. 49 Nr. 6, fol. 151. Jeweils BATr Abt. 49 Nr. 6, fol. 152. Zum Predigtverbot siehe Kapitel 2.3. Ebd., fol. 153. Ebd., fol. 152. Allgemein zur Religionspolitik ab 1797 siehe Kapitel 2.3 dieser Arbeit. Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1798. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 25r.
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zu entwenden“¹⁶⁹. Besorgt um das Wohlverhalten der Trierer Bürger, mahnte die Zentralverwaltung: „Lernt die Religionsdiener von der Religion selbst unterscheiden, zu deren Sache sie so gern die Ihrige machen; […] es ist der Haß gegen die Republik, welcher sie reitzt jede Gelegenheit zu ergreifen, alle Mittel anzuwenden sie gehässig zu machen“¹⁷⁰. Wie Müller weiter berichtet, hätten die Jesuiten dagegen eine Klageschrift eingereicht, verbunden mit der Frage, ob sie das Land verlassen sollten, was verneint worden sei.¹⁷¹ Die kurze Zeit später für sie ergangene Überwachungsanordnung lässt vermuten, dass die Anschuldigungen für eine Verhaftung und Deportation nicht ausreichten und der Verwaltung eine Kontrolle vor Ort lieber war als sie unbeaufsichtigt ausreisen zu lassen.¹⁷² Ein Karmeliter hingegen, der am „Josephs Tag zu S. Anna heftig gegen herrschenden Unglauben solle gepredigt haben“¹⁷³, habe es vorgezogen, aus der Stadt zu fliehen. Dieses Misstrauen der französischen Regierung gegenüber der Geistlichkeit rührte auch daher, dass es im Sommer 1798 im Wälderdepartement (Département des Forêts), das im Wesentlichen das Gebiet der ehemals Österreichischen Niederlande umfasste, zu religiös motivierten Bauernaufständen gekommen war. Ausgelöst wurden die blutig niedergeschlagenen Aufstände durch das Zusammenfallen von Zwangsrekrutierungen und der als Verfolgung wahrgenommenen Kirchenpolitik der französischen Machthaber. Die französischen Behörden beschuldigten vermutlich zu Recht die eidverweigernden Priester des Departements, die Bevölkerung zum Widerstand angeleitet zu haben. Der anschließende Versuch, diese Geistlichen zu verhaften und zu deportieren, scheiterte weitgehend, da die Bevölkerung die Flüchtlinge deckte.¹⁷⁴ Aus Furcht vor einem Übergreifen des Kon169 Ebd., fol. 20r. Müller gibt an dieser Stelle wortgetreu das Schreiben der Zentralverwaltung des Saardepartements vom 13. August 1798 (26. Thermidor VI) an die Bürger Triers wieder, indem vor der Gesellschaft gewarnt wird, „deren Name (Jesuit) seit dem sie sich denselben angemaßt hat gleichbedeutend wurde mit dem, eines Nichtswürdigen, dessen Hauptkarakterzüge Intrige, Arglist, Schurkerei und Verrath sind.“ 170 Ebd., fol. 20v. 171 Einer der ehemaligen Jesuiten sei nach Saarburg gereist und habe zu „seiner größten Bestürzung“ das Schreiben der Zentralverwaltung „an dasigem Thor angeschlagen“ (ebd., fol. 21v.) vorgefunden. 172 Den Ex-Jesuiten wurde unter anderem in der Überwachungsanordnung vorgeworfen, Fanatismus in die Familien hineinzutragen und für Unruhe unter den Einwohnern der Kommune zu sorgen. In der Folge sollte ihr religiöses und sonstiges Wohlverhalten beaufsichtigt werden. Siehe die Anordnung vom 5. 9. 1798, StadtAr Tr Fz 678, o. P. 173 Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1798. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 25v. Müller weiß von dieser Predigt nur durch Hörensagen, seine Quelle sei jedoch Zeuge der Predigt gewesen. 174 Eine ausführliche Darstellung des sogenannten Klöppelkriegs findet sich bei: Gilbert Trausch: Die Luxemburger Bauernaufstände aus dem Jahre 1798. Der „Klöppelkrieg“, seine Interpretation und
322 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? fliktes, warnte Boucqueau, der Kommissar des benachbarten Saardepartements, eindringlich vor den „prêtres et moines aussi fanatique que sanguinaire“, die im Wälderdepartement mit dem „crucifix à la main“¹⁷⁵ zum Massaker an den Patrioten aufgerufen hätten. Ein vergleichbarer Aufstand blieb allerdings in den rheinischen Departements aus. Dort drohten seit August 1798 jedoch vermeintlich republikfeindlich gesinnten Pfarrern ebenfalls harte Strafen¹⁷⁶, sodass es in der Folge zu vereinzelten Deportationen kam.¹⁷⁷ Einer der Pfarrer, die deportiert werden sollten, war Joseph Anton Haas (1752–1825) aus Sehlem, der in einer auf das Jahr 1800 datierten Bittschrift an Erzbischof Clemens Wenzeslaus die Gründe seiner Bestrafung darlegte. Er gesteht offen ein, gegenüber seiner Pfarrgemeinde öffentlich die französische Politik kritisiert zu haben, die er als gottlos empfand. Seiner Ansicht nach sollten die seit Frühjahr 1798 von Regierungskommissar Rudler eingeführten Gesetze beitragen, „die öfentliche Ausübung des Glaubens in Verachung und Verges zu bringen“. Die gesetzmäßig festgeschriebene „unumschränkte Religions-freiheit“¹⁷⁸ war für ihn reine Makulatur. Seine Angriffe richteten sich sowohl gegen das Verbot von Prozessionen und des üblichen Begräbniskults als auch gegen die Einführung der Zivilehe, der Dekadenfeste oder der Abschaffung des schulischen Religionsunterrichts sowie der Behinderung der sonntäglichen Christenlehre. Pfarrer Haas sah es nach eigener Aussage als seine seelsorgerische Pflicht an, sein Pfarrvolk darüber aufzuklären, dass all diese Verordnungen allein „den Umsturz der catholischen Religion bezweken“¹⁷⁹ würden.
sein Nachleben in der Geschichte des Großherzogtums Luxemburg, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 48 (1984), S. 161–237, vgl. hier vor allem S. 196–201. Vgl. auch Carl: Strafe (wie Anm. 4, S. 2), S. 294; Buchholz: Staatskult (wie Anm. 67, S. 18), S. 137–138. 175 StadtAr TR Fz 678, o. P. Siehe auch ebd., S. 137 f. 176 Siehe zu den Strafen Kapitel 2.3. Rudler reagierte damit unter anderem auf die Forderung des Aachener Kommissars der Zentralverwaltung, Anton Joseph Dorsch, der vehement ein entschiedeneres Vorgehen gegen die Kirche eingefordert hatte, vgl. Minke: Lüttich (wie Anm. 62, S. 17), S. 315–316. 177 Im Dezember 1798 sollte ein Pfarrer des Kantons Saarburg auf die Insel Oléron deportiert werden, weil er, so die übliche Begründung, „die öffentliche Ruhe in seinem Canton stöhre, und der innern Sicherheit der Republik gefährlich werde“. StadtAr Tr Fz 678, o. P. 178 Jeweils BATr Abt. 49 Nr. 13, fol. 3. 179 BATr Abt. 49 Nr. 13, fol. 4. Haas gab an, vom Dorfschultheiß denunziert worden zu sein. Er sollte auf die Insel Oléron deportiert werden, hätte aber mit Hilfe von Freunden in Luxemburg seinen Bewachern entkommen können. Für den Deportationsbefehl vom 24. Februar 1799 siehe StadtAr Tr Fz 678, o. P. – Auch wenn einige seiner Amtskollegen möglicherweise mit Haas übereinstimmten, verhielten sich die meisten Pfarrer ruhig.
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Im Zuge seiner negativ ausfallenden Gesamtschau des Jahres 1798 thematisiert auch Müller den Versuch der französischen Obrigkeit, die religiöse Symbolik aus dem Alltag zu verdrängen: So wäre am 6. April, dem Karfreitag, zunächst angeordnet worden, „das Cruzifix auf der Moselbrück wie auch das Kreutz aufm Markt wie noch einige andern“¹⁸⁰ wegzunehmen, wozu es dann allerdings doch nicht gekommen sei. Hingegen sei die übliche Bittprozession, die am Freitag in der dritten Woche nach Ostern im Erzbistum Trier stattfand und „gewöhnlich viele Bauern Prozessionen mit ihren HH Pastören in die Stadt“ führte, gestört worden: „[E]s wurden die Stadtdiener und andere Leute geschickt die in die Prozessionen gingen den Herrn Pastören anzusagen, das sie die Procesionen gleich auseinander gehen lassen sollten. – Am Neuthor so gar wurde einem geistlichen Herrn der Röckel vom Leibe gerissen.“¹⁸¹ Ähnliches habe sich im Juni bei Prozessionen zu Ehren des als Heiligen verehrten Medardus von Noyon (456–545) ereignet, die ebenfalls auseinander getrieben worden seien. Dass die Priester diesmal alle zum Ablegen ihrer Amtstracht aufgefordert und anschließend verhaftet worden seien, wie Müller berichtet, verweist darauf, dass die Gesetzeslage zu diesem Zeitpunkt eindeutig war und sowohl Prozessionen als auch das Tragen kirchlicher Ornate außerhalb der Kirchen klar untersagt waren.¹⁸² Darauf verweist Müller selbst, wenn er schildert, dass aus diesem Grund „so wohl Arme, als Reiche […] itzt ohne Kreutz & Geistliche“¹⁸³ beerdigt werden mussten und nur noch die Verwandten den Leichenzug bekleideten. Aus der Sicht Müllers ergab sich aus der französischen Religionspolitik die fatale Konsequenz, dass die meisten Bürger ihre religiösen Pflichten vernachlässigten, die heiligen Sakramente seltener empfingen und „immer gleichgültiger, lauer und bedenklicher“ wurden: „So traurig und kummervoll sich alles um die
180 Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1798. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 25v. Von der Maßnahme wurde wohl wieder Abstand genommen, weil die entsprechenden französischen Gesetze im Rheinland noch nicht erlassen worden waren. Diese erließ Rudler erst im Mai, vgl. Minke: Lüttich (wie Anm. 62, S. 17), S. 317. Siehe dazu auch Kapitel 2.3 in dieser Arbeit. Allerdings wurden auch dann noch die meisten Heiligenbilder, Marktkreuze usw. einfach an ihrem Platz belassen, vgl. Blanning: French Revolution (wie Anm. 79, S. 302), S. 235. 181 Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1798. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 26r. – Die Bittprozession wurde als Bannfreitag bezeichnet und hatte als „Lokalfeiertag“ (Andreas Heinz: Vom Wettersegen im Mai zur Marien-Maiandacht, in: ders. [Hrsg.]: Liturgie und Frömmigkeit: Beiträge zur Gottesdienst- und Frömmigkeitsgeschichte des (Erz-)Bistums Trier und Luxemburgs zwischen Tridentinum und Vatikanum II, Trier 2008, S. 225–242, hier S. 227) gerade auf dem Land lange Bestand. 182 Am zuvor gefeierten Fronleichnamstag sei bereits keine Prozession mehr abgehalten worden, so Müller. Siehe ebd. 183 Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1798. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 26r.
324 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? wohldenkende[n] zeigte, so muthwillig, zügellos & oben über waren die übeldenkenden.“¹⁸⁴ Den ‚Wohldenkenden‘, die die Religion weiterhin achteten und zu denen sich Müller selbst zählte, musste aus seiner Sicht die Zukunft düster und prekär erscheinen. Bestätigt sah er sich durch Maßnahmen wie der Umwidmung der Jesuitenkirche zum Dekadentempel, was ihn sehr befremdete.¹⁸⁵ Ihm wird der Kult als Manifestation aufklärerisch-revolutionärem Gedankenguts und eines Umsichgreifen des Religionsverfalls erschienen sein. Er thematisierte damit dieselben Punkte, die auch Pfarrer Haas öffentlich angeprangert hatte und teilte dessen negative Wahrnehmung der französischen Gesetzgebung. Müllers Aufzeichnungen lassen jedoch den Schluss zu, dass die restriktive Gesetzgebung das religiöse Leben nicht gänzlich verdrängen konnte. So zeigen seine Berichte über die Prozessionen, dass das Verbot großteils zwar eingehalten wurden, es aber zahlreiche Versuche gab, es zu unterlaufen.¹⁸⁶ Die Bevölkerung, die in Bezug auf das Prozessions- und Wallfahrtswesen ähnliche Verbote und Reglementierungen aus der kurfürstlichen Zeit kannte,¹⁸⁷ war auch jetzt bereit, sich über die französischen Gesetze hinwegzusetzen. „Gerade bei den Einschränkungen traditioneller Frömmigkeitsformen wie des Wallfahrtswesens sahen die Zeitgenossen die französische Religionspolitik als verschärfte Fortsetzung eines bereits von den aufgeklärten katholischen Landesherren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eingeschlagenen Kurses, populäre Formen der Barockfrömmigkeit zu kontrollieren oder gänzlich abzustellen.“¹⁸⁸ In französischer Zeit scheint es allerdings für viele der Gläubigen bei den Eingriffen in die religiöse Symbolik und Praxis nicht um bloße Äußerlichkeiten 184 Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1798. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 25r. Ähnliches äußert er in einem Eintrag von 1799: „Das Christentum wurde täglich kälter, die HH. Sacramente weniger geehrt; von Fasttägen und Abstinenztägen wusste man schier nichts mehr.“ Jg. 1799. Ebd., fol. 34r. 185 Die dort gehaltenen Reden kommentierte Müller mit dem Ausruf: „– erschröcklich! gar in der Kirchen wo der H. Ignatius verehret wird.“ Ebd., fol. 26v. – Zu den Dekadenfeiern in Trier vgl. Stein: Revolutionskalender (wie Anm. 67, S. 18), S. 144–146. 186 Noch im Mai 1800 beklagte sich die Zentralverwaltung des Saardepartements bei der Trierer Munizipalität, dass das Verbot der öffentlichen Religionsausübung nicht eingehalten und weiterhin die üblichen Beerdigungsriten abgehalten würden. Siehe das Schreiben der Zentralverwaltung an die Munizipalität, 27. Mai 1800. StadtAr Tr Fz 678, o. P. 187 Siehe dazu Kapitel 3.2. 188 Carl: Revolution (wie Anm. 13, S. 4), S. 95. Nicht immer und überall waren die Behörden der französischen Zeit allerdings überhaupt daran interessiert, die Einhaltung der Verbote durchzusetzen, sondern ließen Übertretungen zu, sofern es ihnen für die öffentliche Sicherheit und Ordnung förderlich erschien, vgl. Wagner: Revolution (wie Anm. 273, S. 94), S. 284. Das oben erwähnte Schreiben der Zentralverwaltung deutet möglicherweise auch darauf hin, dass die Trierer Munizipalität im Laufe der Jahre nicht mehr so genau hinschaute. Zur anvisierten Verdrängung religiöser Symbolik siehe auch Kapitel 2.3.
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gegangen zu sein, sondern sie sahen „die Substanz“¹⁸⁹ ihres Glaubens bedroht. Ihrem Festhalten an traditionellen Frömmigkeitsformen haftete damit durchaus etwas widerständiges an. Gleichwohl wird es ihnen dabei weniger um organisierten politischen Aufruhr gegen die französischen ‚Unterdrücker‘ gegangen sein, sondern darum, in einer als krisenhaft wahrgenommenen Zeit, Trost und Gemeinschaft zu finden, wie Müllers Berichte über anscheinend spontan entstandene Versammlungen zum öffentlichen Gebet zeigen: Aufgrund „dringenden Umständen gegenwärtigen betrübten Kriegszeiten“ hätten sich „Abends die Leute hin und wieder auf öffentlichen Gassen vor den Mutter Gottesbildern“ versammelt, um „inständig“¹⁹⁰ zu beten. Anders als die Beschwerden der französischen Behörden über fanatische und aufrührerische Priester vermuten lassen könnten, gingen diese Andachten ausschließlich auf die Initiative von Laien zurück. Die Geistlichkeit habe sich „aus gewissen Besorgnissen“¹⁹¹, so Müller, über die öffentlichen Gebete wenig erfreut gezeigt und etwa die Andachten vor der Laurentiuskirche durch den dortigen Pastor untersagen lassen. Die harten Gefängnisstrafen, die der linksrheinischen Geistlichkeit drohten, sollte sie sich der Republikfeindschaft verdächtigt machen, werden sie davon abgehalten haben, die Konfrontation mit den Behörden zu suchen. Bereits die Kontroverse um die Reunionsadresse zeigte, dass sie aus Selbstschutz und um noch größeren Schaden für die Religion abzuwenden, mehrheitlich kooperierten. So hatte auch Hontheim kein Interesse daran, zum Märtyrer zu werden, sondern zog es vor, die Unterschrift schließlich doch zu leisten.¹⁹² Wie Müllers Formulierung hinsichtlich der öffentlichen Andachten zeigt, hatte er zumindest Verständnis für die Zurückhaltung der Geistlichkeit.¹⁹³ Das laikale Engagement stellte damit in dieser Phase des Umbruchs „eine wesentliche Ressource der religiösen Selbstbehauptung“¹⁹⁴ dar. Denn trotz der mangelnden priesterlichen Unterstützung wurden die Andachten vor dem Muttergottesbild auf dem Zuckerberg fortgeführt, „wo sich alle Abend 3 bis 400 Menschen einfanden und so hart betheten, das mans weit hören konnte.“¹⁹⁵ Selbst wenn 189 Carl: Revolution (wie Anm. 13, S. 4), S. 95. 190 Jeweils Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1798. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 26r. – Zum Versuch, religiöse Symbolik aus dem Alltag zu verdrängen, siehe auch Kapitel 2.3. 191 Jeweils ebd., fol. 26v. 192 Gleichwohl fand „das Bild des stellvertretenden Opfers […] in der Figur des Märtyrers“ durchaus Anwendung, um das Schicksal der eidverweigernden Priester oder das deportierter Priester aus dem Rheinland zu beklagen, vgl. Carl: Strafe (wie Anm. 4, S. 2), S. 284. 193 In einem Eintrag 1799 konstatiert er hinsichtlich der Situation der Pfarrer: „Die Geistlichkeit durfte sich kaum rühren, sie wurde stark gedrückt.“ Jg. 1799. Ebd., fol. 34r. 194 Carl: Revolution (wie Anm. 13, S. 4), S. 101. 195 Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1798. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 26v.
326 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Müller nur die Religionstreue der Trierer, die allen Schikanen trotzte, unter Beweis stellen wollte und mit der Zahl an Teilnehmern übertrieb, scheinen die Andachten gut besucht gewesen zu sein¹⁹⁶ und einem verbreiteten Verlangen, den Eingriffen in die religiöse Lebenswelt etwas entgegenzusetzen, Ausdruck verliehen zu haben. Dass die Behörden einschritten, die öffentlichen Andachten untersagten und die Entfernung des Muttergottesbildes anordneten, ist daher nicht überraschend. Den Bürgern sei es jedoch gelungen, berichtet Müller, das Bild in die Kirche St. Paulin bringen zu lassen, wo sich fortan „alle Abend von 8 bis halb 10 Uhr vieles Volk [getroffen habe], um zu bethen.“ Auch in einer weiteren Kirche in der Stadt hätten sich allabendlich Menschen zum gemeinsamen Gebet versammelt, nachdem diese Kirche von einigen Bürgern ersteigert worden sei. Mitte Juni sei dann sogar von „frommen Leuten auch eine Andacht angestellet“ worden, „die bey verschlossener Thür Tag und ganze Nachten anhielte.“¹⁹⁷ Müllers Schilderungen weisen darauf hin, dass die Behörden diesen Versammlungen kaum etwas entgegensetzen konnten. Sofern sie in der Öffentlichkeit abgehalten wurden, konnten sie sie zwar mit Verweis auf die bestehende Gesetzeslage verbieten, provozierten damit allerdings nur eine Verlagerung in den nicht-öffentlichen, nicht-kontrollierbaren (Kirchen-)Raum. Auch wenn das Bedürfnis nach derartigen Andachten, Gottesdiensten oder Prozessionen nicht dem Wunsch nach politischem Widerstand entsprang, stellte der Rückgriff auf diese religiösen Praktiken in „den Augen der Revolutionäre – und wahrscheinlich auch zahlreicher gläubiger Christen –“¹⁹⁸ eine Form des Protests dar. Als solchen wertete die Zentralverwaltung ausdrücklich die Bittprozessionen, die die Marianische Bürgersodalität – einer auf die Gründung der Jesuiten zurückgehenden Bruderschaft, die über das Ordensverbot hinaus weiterbestand¹⁹⁹ – seit 1796 zunächst mit Erlaubnis des Generalvikariats nach St. Paulin und St. Matthi-
196 In einer Bevölkerungsübersicht des Regierungskommissars aus dem Jahr 1799 wird für die Stadt Trier eine Einwohnerzahl von 8312 angegeben (vgl. Recueil Des Règlements et Arrêtés Émanés Du Commissaire Du Gouvernement Dans Les Quatre Nouveaux Départemens de La Rive Gauche Du Rhin, Bd. 21/22, Straßburg 1800, Heft 22, S. 51), sodass – sofern Müllers Angaben korrekt sind – die Teilnehmerzahl in Relation zur Bevölkerung recht hoch war. 197 Jeweils Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1798. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 26v. 198 Carl: Strafe (wie Anm. 4, S. 2), S. 291. 199 Vgl. Schneider: Bruderschaften (wie Anm. 546, S. 227), S. 114–117, 142–143, 218–219. Über die Jahre hatte es eine Vielzahl jesuitischer Sodalitäten in Trier gegeben, die beispielsweise nach Alter, Geschlecht und Berufsstand differenziert waren. In der Bürger-Sodalität waren fast ausschließlich Bürger der Stadt Trier organisiert. Da nach dem Ordensverbot im Erzbistum Trier die Mehrzahl der Jesuiten als Weltgeistliche weiterhin ihre Tätigkeiten als Lehrer und Professoren verrichten durften, gingen die Sodalitäten auch danach „ihres geistlichen Rückhalts nicht verlustigt. Durch Tod oder Abberufung der ehemaligen Jesuiten mußten diese Sodalitäten seit den 80er Jahren
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as monatlich hatte abhalten dürfen. 1798 wurden diese Bittgänge nun untersagt, wobei das allgemeine Prozessionsverbot nur eine untergeordnete Rolle spielte. Argumentiert wurde vielmehr damit, dass sich „dergleichen Prozessionen gegen die republikanische Regierung“²⁰⁰ richteten und von politisch zweifelhaften Männern verantwortet würden. Die Bittprozessionen waren aus Sicht der Behörden keine religiösen Veranstaltungen, sondern eine politische Manifestation gegen die neue Ordnung. Der Trierer Gastwirt und städtische Brunnenmeister Karl Kaspar Kirn (1746–1803) war einer der Verantwortlichen dieser ‚Protestbewegung‘ und führendes Mitglied der Bürgersodalität.²⁰¹ Müller stilisiert ihn in seinem Tagebuch als unerschrockenen Bürger, der stolz seinen Glauben verteidigt habe: Obwohl man ihm bei einer Vorladung auf die Munizipalität zunächst „sein auf die Brust hangendes Cruzifix abreisen“ wollte, sei er „damit ohne alle Scheu vor die Versammlung getretten“. Da man ihm dort Antworten auf seine Fragen verweigerte, habe er umgekehrt den Anordnungen der Gemeindeverwaltung die Anerkennung verweigert.²⁰²
des 18. Jhs. allerdings mehr und mehr auf die spirituelle Begleitung im Sinne des Jesuitenordens verzichten.“ (S. 143). In französischer Zeit erfolgte kein Bruderschaftsverbot. 200 Johann Jakob Haan: Journal für das Saar-Departement, viertes Heft, Trier 1798, S. 52. Haan hat den entsprechenden Auszug aus den Beschlüssen der Zentralverwaltung des Saardepartements vom 12. April 1798 (23. Germinal VI) abgedruckt. 201 Einer seiner Brüder, Johannes Balthasar Kirn (1741–1815), war Pfarrer in Pfalzel. Karl Kaspar rettete angeblich einige Reliquien und Kultgegenstände vor den einmarschierenden französischen Soldaten aus dem Kloster St. Maximin, wie Franz Tobias Müller in seinen Schicksalen der GottesHäuser berichtet: Er habe „zu St. Maximin, und anders wo, soviel er konnte, die hh. Gebeine und ander- der Religion schätzbares, mit Muth und Fleiße gesammelet; wobei er etliche Male derbe Stöß- und Streiche empfangen.“ Franz Tobias Müller: Die Schicksale der Gottes-Häuser in, und nahe bei Trier. Seithero der feindlichen Ankunft der Franzosen im Jahre 1794, sammt den Vorfällen mit der damaligen Geistlichkeit; beschrieben mit Zusätzen aus den vorigen Zeiten, für die ihrem Gott und seiner katholischen Religion treu gebliebenen Bürger, S. 300. Zum Fundort von Müllers Handschrift siehe Kapitel 1.3, Anm. 80. – Zu Kirn vgl. auch Resmini: St. Maximin (wie Anm. 4, S. 26), S. 632. – Zur Verbindung zwischen Kronenberger, Kirn und der Bürgersodalität siehe Kapitel 4.2. 202 Man habe Kirn bei der Munizipalität ein Blatt zur Unterschrift vorgelegt, „ohne zu sagen, was es seye […]. Worauf er geantwortet: Das, wenn sie ihm auf drey Fragen nicht gehörig antworten würden, so hätten alle Zettel ihre Kraft verlohren… Und als man ihm auf seine Fragen nicht geantwortet, ist er fort gangen ohne sich zu unterschreiben und fande sich nachher niemals mehr ein.“ Jeweils Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1799. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 34v. – Seit August 1798 wurde Kirn durch Anordnung der Zentralverwaltung überwacht und sollte sich täglich zweimal bei der Munizipalverwaltung melden. Er sollte daran gehindert werden, „seine religiöse[n] Mummereien, seine fanatische[n] Gänge und Reden fortzusetzen“ (StadtAr Tr Fz 678 o.P.).
328 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Dass Kirn, wie es Blanning treffend formuliert, „difficult to ignore“²⁰³ gewesen sein muss, lag vor allem an der Inszenierung seines Protests gegen die französische Kirchenpolitik: „Am 27 September Morgens 6 Uhren ginge gesagter Kirn durch die ganze Stadt in einem Mantel mit entblößtem niedergeschlagenem Haupt, mit bloßen Füßen in einer Hand ein Cruzifix, in den anderen Hand den Roßenkranz habend und hat kniend bey vielen Kirchen gebethen.“ In dieser Aufmachung muss Kirn den anderen Gläubigen wie ein Büßer erschienen sein, der die Last der als kirchenfeindlich wahrgenommenen Gesetze auf seine Schultern nahm, um göttliche Vergebung für diese scheinbare Strafe zu erbitten. Auch Müller gesteht, dass dieser Auftritt, dessen Augenzeuge er wurde, ihn bewegt habe und selbst „viele sonst freche […] Leute geweinet“²⁰⁴ hätten. Bei einem ähnlichen Auftritt im Oktober desselben Jahres sei Kirn „in einem schwarzen Kamisol, bloß Kopfs, barfüßig, einem dicken mit Knoten versehenen Strick, um dem Hals, ein Cruzifix in der Hand habend, mit einigen Bürgern, Weibern und Jungfern durch die Stadt bethend gangen.“²⁰⁵ Dass Kirn bei seinen Inszenierungen nun nicht mehr allein war und dadurch noch mehr Aufmerksamkeit erregte, wird die Behörden veranlasst haben, ihn zunächst verhaften und dann unter Hausarrest stellen zu lassen. Kirn ist nicht der einzige, den Müller namentlich als Unruhestifter – als die sie die Franzosen zwangsläufig betrachteten – benennt. Neben ihm habe auch der Wollenweber Ludwig Schillinger zusammen mit anderen Wollenwebern und deren Ehefrauen seinen Protest sichtbar artikuliert. Gemeinsam hätten sie den Unterricht der Primärschule der Pfarrei St. Laurentius gestört, indem sie den Schülern „vieles vom Unglauben Ketzereyen u.d.g.“ mehr erzählten und versuchten, wieder „das Cruzifix in der Schul fest[zu]mache[n]“²⁰⁶, was der Lehrer allerdings verhinderte. Noch am selben Nachmittag habe Frau Vakano mit drei anderen Frauen die St. Antonius-Schule aufgesucht und dort – nun in Abwesenheit von Schülern und Lehrern – ein Kreuz und Heiligenbilder an der Wand befestigt. Die Vorfälle zeigen, dass die unter französischer Herrschaft betriebene Ersetzung des Religions- durch einen areligiösen Moralunterricht, von manchen Bürgern als Sinnbild eines Werteund Sittenverfalls angesehen wurde, der ihr eigenes Wertesystem in Frage stellte und gefährdete. Diese Gläubigen sahen nun Unglauben und Ketzerei auf dem Vormarsch. Ähnlich wie in kurfürstlicher Zeit der Einfluss aufklärerischer Ideen auf den Schulunterricht umstritten war, war somit auch unter den neuen Machthabern 203 Blanning: French Revolution (wie Anm. 79, S. 302), S. 233. 204 Jeweils Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1799. Ebd. 205 Ebd., fol. 26r. Einige Tage zuvor hatte er bereits gemeinsam mit seinen Kindern öffentlich vor einem Muttergottesbild in der Stadt gebetet (34v). 206 Jeweils Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1799. Ebd., fol. 34v. – Siehe zu diesem Vorfall auch das Schreiben von Boucqueau an Lequereux, 4. Dezember 1799. StadtAr Tr Fz 678 o. P.
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das Schulwesen ein umkämpftes Feld zwischen den Vertretern der alten und der neuen Ordnung, wobei letztere klar im Vorteil waren. Die französische Regierung erhoffte sich, über die Schulen den Schülern die gesellschaftlichen Veränderungen vermitteln und sie für die Republik gewinnen zu können.²⁰⁷ Dass Müller die Bestrafung Schillingers unverhältnismäßig findet, da dieser allein „aus Lieb zur Religion! aus Lieb zu Jesu Christo!“²⁰⁸ gehandelt habe, könnte ein Hinweis darauf sein, dass auch andere Bürger diese Aktion als Zeichen gegen die kirchenkritische Politik der Franzosen wahrnahmen und insgeheim begrüßten. Auch wenn Müller die Strafen, die in der Regel aus Kerkerhaft und Geldbußen bestanden, als zu hart empfand, waren sie vergleichsweise milde, denn zweifellos stellten die Vorfälle für die Behörden ein Ärgernis dar.²⁰⁹ Doch bei Kirn waren die Behörden zu der Einschätzung gelangt, er sei „mentally deranged […] an better kept in circulation as a walking advertisement of the dangers of too much religious zeal.“²¹⁰ Diese Beurteilung zeigt, dass den Welt- und Klostergeistlichen ein ungleich höheres Gefährdungspotenzial beigemessen wurde und sich die Behörden bei ihnen im Zweifelsfall lieber für eine Deportation entschieden, wobei dies trotzdem die Ausnahme blieb. Jemand wie Schillinger war als Wollenweber hingegen ein angesehener Teil der städtischen Mittelschicht²¹¹, sodass eine lange Haftstrafe oder eine Ausweisung möglicherweise auch bei weniger „fromm[…]en Menschen“²¹² Unwillen gegen die neue Regierung hätte auslösen können.
207 Zum Bildungswesen in französischer Zeit siehe Kapitel 2.3. 208 Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1800. Ebd., 21r. 209 Nach Müllers Darstellung hat sich die angespannte Atmosphäre im Sommer 1800 sogar gewaltsam entladen: So hätten die Gendarmerie und ein anwesender General auf eine kleine Pfingstprozession und anwesende Zuschauer eingeprügelt. Da jedoch keiner der Bürger zurückgeschlagen habe, sei die Angelegenheit – insbesondere für die Stadt – glimpflich verlaufen. Siehe Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1800. Ebd., fol. 21v–22v. 210 Blanning: French Revolution (wie Anm. 79, S. 302), S. 233. – Siehe zu Kirn und Schillinger aus Sicht der französischen Stellen die entsprechenden Präfekturakten bzw. die Akten des Regierungskommissars: LHA Ko Best. 276 Nr. 595 und Nr. 3999 sowie Best. 241,019 Nr. 960. – Auch Franz Tobias Müller hielt Kirn für „verdrehten Sinnes“ (Müller: Schicksale (wie Anm. 201, S. 327), S. 300). Da er dessen Eifer und Einsatz für die Religion grundsätzlich positiv einschätzte, dürfte er keinen Anlass gehabt haben, Kirn mutwillig als verrückt darzustellen. 211 Vgl. zur vorrevolutionären Verfassungsstruktur Klaus Gerteis: Sozialgeschichte der Stadt Trier 1580–1794, in: Düwell/Irsigler [Hrsg.]: Trier (wie Anm. 60, S. 16), S. 61–97, hier S. 69, 85. Seit März 1798 waren die Zünfte zwar aufgehoben, aber die Sozialstruktur der städtischen Bevölkerung als auch das Ansehen, das ein Bürger aufgrund seines Berufstandes genoß, änderten sich nicht über Nacht. 212 Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1800. Ebd., fol. 21r.
330 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Die Tagebücher und Aufzeichnungen über die Zeit der französischen Besetzung zeigen, dass die im Vorfeld des Einmarschs kursierenden Gerüchte über plündernde Soldaten sowohl bei Vertretern der weltlichen und geistlichen Elite als auch bei der übrigen Bevölkerung für Unruhe sorgten, da sich der Wahrheitsgehalt solcher Aussagen kaum ermitteln ließ. Anders als der Adel, der hohe Klerus oder die Mönche der reichen Abteien, die sich alle auf ihre rechtsrheinischen Besitzungen zurückziehen konnten, harrte der niedere Klerus meist bei seinen Gemeinden aus und musste nicht selten die Plünderung des Pfarrhauses und der -kirche hinnehmen. Auch wenn ein derartiges Vorgehen nicht von der Generalität unterstützt wurde und offiziell der Schutz des Privateigentums sowie der Gottesdienstausübung gewährleistet wurden, wurde beides in Mitleidenschaft gezogen. Aufgrund der hohen Requisitionen und Kontributionszahlungen nahmen Elite und Bevölkerung die Besetzung daher in erster Linie als schwere Last wahr, unabhängig davon, wie sie der französischen Republik gegenüberstanden. Bauern, die sich durch die Ankunft der Franzosen eine Befreiung vom Zehnten erhofft hatten, wurden enttäuscht, denn der klamme französische Staat brauchte dringend Einnahmen. Die tiefgreifenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen, die sich aus der 1798 erfolgenden Angliederung der linksrheinischen Verwaltungsstruktur an Frankreich ergaben, machten sich erst in den darauffolgenden Jahren bemerkbar, weshalb die Tagebücher nahelegen, dass die Mehrheit der Einwohner des Linksrheinischen dem Herrschaftswechsel zunächst skeptisch gegenüberstand. Gleichwohl gab es auch in den eroberten Gebieten überzeugte Republikaner, die eine Rückkehr zur alten Ordnung verhindern wollten und mittels verschiedener Medien bemüht waren, ihre Mitbürger von der Religionstreue der Franzosen zu überzeugen. Revolution und Religion erschienen vor diesem Hintergrund nicht nur als vereinbar, sondern erstere sogar als zwingende Voraussetzung religiöser und kirchlicher Erneuerung. Andere Beteiligte wie Müller oder Minola sahen hingegen die Auswirkungen der Besetzung auf Kirche und Religion kritisch und thematisieren ausführlich die finanzielle Notlage der Geistlichen. Im Zuge der sich 1798 verschärfenden Kirchen- und Religionsgesetze kam vor allem Müller endgültig zu der Einschätzung, allenthalben um sich herum Religionsund Sittenverfall beobachten zu können. Dieser vermeintliche Niedergang zieht sich allerdings leitmotivisch durch sein gesamtes Tagebuch. Insgesamt weisen seine Äußerungen darauf hin, dass er zu den Vertretern eines orthodoxen Katholizismus gerechnet werden kann. Bei Minola lassen sich, wenn überhaupt, höchstens Hinweise auf eine Rezeption der Aufklärung finden. Gleichwohl missbilligte er die französischen Revolutionäre. Die obigen Ausführungen haben gezeigt, dass nicht nur Vertreter der weltlichen Elite wie Lintz sich an die neue politische Situation anpassen konnten, sondern auch Geistliche wie Varain oder der Kyllburger Pfarrer Engel. Suchte letz-
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terer die Gunst der Stunde zu nutzen und die Zuständigkeit des Generalvikariats für sein Anliegen in Zweifel zu ziehen, weil er von dort zu Recht Widerspruch erwartete, erhoffte sich hingegen Lintz von der geistlichen Behörde Hilfe bei der Bewältigung eines Konfliktfalls, der maßgeblich durch die Besetzung ausgelöst worden war. Das Generalvikariat versuchte insgesamt eine Vermittlerfunktion zu übernehmen und war zur Kooperation mit der französischen Regierung bereit. Darüber kann auch Hontheims anfängliche Weigerung, die Reunionsadresse zu unterzeichnen, nicht hinwegtäuschen, zumal er es anscheinend selbst nicht auf eine Konfrontation angelegt hatte. Protest gegen die französische Kirchen- und Religionspolitik in Form von Prozessionen oder öffentlicher Andachten ging daher im städtischen Kontext – abgesehen von Einzelfällen – weniger von Pfarrern oder den geistlichen Behörden, sondern von Laien aus und war Ausdruck ihrer religiösen Selbstbehauptung. Sie blieben jedoch nur eine Minderheit. Wie die Folgen des Herrschaftswechsels für Religion und Kirche wahrgenommen und wie darauf reagiert wurde, lässt sich anhand des sehr subjektiven Quellenmaterials letztlich weder für die Elite noch die übrige Bevölkerung verallgemeinern. Anhand der in diesem Kapitel genannten Beispiele kann jedoch das Spektrum an Möglichkeiten, mit dem Umbruch umzugehen, nachvollzogen werden.
4.1.2 Die Diskussion um den Priestereid In Frankreich hatte der im Zuge der Revolution von den Bischöfen und Priestern abverlangte Eid auf die Zivilverfassung die anfängliche, in Teilen bestehende Übereinkunft zwischen Staat und Kirche schnell schwinden lassen und zu einer Spaltung des Klerus in ein konstitutionelles und ein eidverweigerndes Lager geführt.²¹³ Zwar waren Eide „als allgegenwärtiges religiös-politisch-soziales Bindemittel“²¹⁴ längst akzeptierter Bestandteil der politisch-sozialen Ordnung. Der einige Monate 213 Der niedere Klerus spaltete sich in zwei fast gleich große Lager, wobei es erhebliche regionale Unterschiede gab, vgl. Krenz: Druckerschwärze (wie Anm. 290, S. 99), S. 110. 214 Barbara Stollberg-Rilinger: Rituale, Frankfurt a. M. 2013, S. 104. Paolo Prodi definiert den Eid vereinfacht als „die Anrufung der Gottheit als Zeuge und Garant der Wahrheit einer Aussage oder Behauptung oder eines Versprechens bzw. der Verpflichtung, in Zukunft bestimmte Handlungen zu vollführen (oder ein bestimmtes Verhalten beizubehalten).“ (Paolo Prodi: Der Eid in der europäischen Verfassungsgeschichte. Zur Einführung, in: ders. [Hrsg.]: Glaube und Eid. Treuformeln, Glaubensbekenntnisse und Sozialdisziplinierung zwischen Mittelalter und Neuzeit, unter Mitarb. v. Elisabeth Müller-Luckner, München 1993, S. VII–XXIX, hier S. VIII) Lehnte das frühe Christentum den Eid unter Verweis auf entsprechende Stellen im Neuen Testament (Mt 5, 33–37) noch ab, entwickelte er sich im Frühmittelalter zu einer Art christlichem Sakrament und war Bestandteil des Kanonischen Rechts. Vgl. ausführlicher ebd., S. IX–XXV.
332 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? nach der Verabschiedung der Zivilkonstitution für alle Bischöfe und Priester verpflichtend gewordene Eid brachte jedoch mit seiner Formel die Unterordnung der kirchlichen unter die weltlichen Macht zum Ausdruck und testete gleichsam die Loyalität der kirchlichen Amtsträger zum Staat.²¹⁵ Da ein Meineid eine schwere Sünde darstellte, war die Frage nach der Zulässigkeit eines solche Eides für den Schwörenden von entscheidender Bedeutung. Das daraus entstehende Schisma, das für den katholischen Klerus, wie Horst Carl zu Recht vermutet, wahrscheinlich „das eigentliche Skandalon dieser Revolutionsjahre“²¹⁶ darstellte, war keine ausschließliche Angelegenheit der Kirche, sondern wirkte sich unmittelbar auch auf die Gemeinden aus. Denn die Frage nach der Zulässigkeit des Eides zog weitere Fragen nach sich. So war etwa unklar, ob die von einem beeideten Priester gespendeten Sakramente Gültigkeit besaßen. Immerhin hatte Papst Pius VI. die Zivilkonstitution im Frühjahr 1791 durch zwei Breven öffentlich verurteilt und den Schwur für unerlaubt erklärt.²¹⁷ Damit „sahen sich auch die Laien immer stärker mit Situationen konfrontiert, in denen sie sich entscheiden mußten, sei es in der grundsätzlichen Haltung eines gläubigen Christen zur Revolution, sei es in der Reaktion auf das Schisma zwischen eidleistenden und eidverweigernden Priestern.“²¹⁸
215 Vgl. Krenz: Druckerschwärze (wie Anm. 290, S. 99), S. 104–110; Klaus Fitschen: Die Zivilkonstitution des Klerus von 1790 als revolutionäres Kirchenreformprogramm im Zeichen der Ecclesia primitiva, in: Historisches Jahrbuch 117.2 (1997), S. 378–405, hier S. 380. Zur Eidesformel siehe: Plongeron: Bekräftigungen (wie Anm. 199, S. 73), S. 336. – Anders als der Konflikt um den Eid vermuten lässt, hatte die Zivilkonstitution keine kirchenfeindliche Tendenz. Sie verband vielmehr gallikanische, aufklärerische und revolutionäre Reformansätze miteinander. Beispielsweise sollten ausländische Bischöfe (auch der Papst) in französischen Kirchenangelegenheiten keine Autorität mehr besitzen. Im Sinne der Aufklärung sollten Missbräuche im Niederkirchenwesen abgestellt und die Rolle der Pfarrer gestärkt werden. Die Idee, Pfarrer durch staatliche Wahlkörper wählen zu lassen, war durch die Revolution aufgekommen. Vgl. Krenz: Druckerschwärze (wie Anm. 290, S. 99), S. 97–104. 216 Carl: Revolution (wie Anm. 13, S. 4), S. 98. 217 Wohl aufgrund sorgfältiger Untersuchung und um die Entwicklung in Frankreich besser bewerten zu können, reagierte der Papst erst im Frühjahr 1791. Vgl. Krenz: Druckerschwärze (wie Anm. 290, S. 99), S. 57, Pauly: Eid (wie Anm. 247, S. 87), S. 303 sowie Plongeron: Bekräftigungen (wie Anm. 199, S. 73), S. 338–349. In seinem Breve Quod aliquantum vom 10. März 1791 lehnte der Papst das Recht auf Religionsfreiheit ab und verurteilte scharf das in der Verfassung festgeschriebene Prinzip der Gleichheit aller Menschen. Vgl. Reinhardt: Pontifex (wie Anm. 288, S. 98), S. 730–732. – Der Text des Breves Charitas vom 13. April 1791 findet sich in Blattau: Statuta synodalia Bd. 6 (wie Anm. 125, S. 56), S. 268–290. – Zur Anfangsphase der Revolution und ihrer Auswirkung auf Religion und Kirche in Frankreich siehe auch Kapitel 2.3. 218 Carl: Revolution (wie Anm. 13, S. 4), S. 99.
4.1 Reaktionen auf den politischen Umbruch
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Die Situation entspannte sich in den folgenden Jahren nicht: Seit dem 29. September 1795 schrieb ein Gesetz vor, die Priester müssten fortan schwören, „die Bürger Frankreichs in ihrer Gesamtheit als Souveräne anzuerkennen und sich den Gesetzen der Republik zu unterwerfen.“²¹⁹ Sorgte bereits diese Eidesformel für Diskussionen, verschärfte sich nach dem antiroyalistischen Staatsstreich vom 4. September 1797 der geforderte Eid noch einmal. Das einen Tag später erlassene Gesetz vom 19. Fructidor V (5. September 1798) verlangte von den Priestern, Hass auf Königtum und Anarchie zu versprechen sowie Treue und Anhänglichkeit gegenüber der Republik und der Verfassung des Jahres III, womit die Direktorialverfassung von 1795 gemeint war. Die Geistlichkeit sollte damit ihre unbedingte Loyalität gegenüber der französischen Republik und ihrer Regierung zum Ausdruck bringen.²²⁰ Insbesondere der Begriff Hass stellte für viele Geistliche ein Problem dar, da er in ihren Augen eine unchristliche Forderung aufstellte.²²¹ Da eine offizielle Verurteilung von päpstlicher Seite nicht erfolgte, mussten die lokalen Kirchenoberen sich selbst zum ‚Eid des Hasses‘ positionieren, was die Spaltung fortführte.²²² Sowohl durch die Presseberichterstattung als auch durch Priester, die entweder aus Frankreich selbst oder später aus dem luxemburgischen Teil des Trierer Erzbistums geflohen waren, war man dort sehr genau über die Spaltung des Klerus, zu dem die verschiedenen Eidesleistungen geführt hatten, informiert. So musste sich auch das Trierer Generalvikariat aufgrund der französischen Teile des Erzbistums ab 1791 mit den durch den Eid aufgeworfenen Problemen befassen und etwa entscheiden, wann ein vor einem konstitutionellen Pfarrer abgelegtes Eheversprechen gültig war oder nicht.²²³
219 Kraus: Weg (wie Anm. 62, S. 17), S. 121. 220 Vgl. Minke: Lüttich (wie Anm. 62, S. 17), S. 301. – Mit Anarchie war – trotz neojakobinischer Wende nach dem Staatsstreich – die Jakobinerherrschaft gemeint. 221 Vgl. Kraus: Weg (wie Anm. 62, S. 17), S. 121. 222 Die für die französischen Angelegenheiten zuständige Kardinalskongregation sah den Eid als unerlaubt an; die französische Besetzung Roms und der dadurch notwendige Rückzug des Papstes nach Florenz verhinderten jedoch weitere Schritte. In einer in Florenz abgefassten Erklärung verurteilte Pius VI. den ‚Eid des Hasses‘ erst im Januar 1799: Es sei „unerlaubt […] denselben gradehin und ohne Einschränkung abzulegen“ (BATr Abt. 49 Nr. 6, S. 167). Zuvor war bereits das Ergebnis des Gutachtens der Kongregation bekannt geworden. Vgl. Minke: Lüttich (wie Anm. 62, S. 17), S. 303; Pauly: Eid (wie Anm. 247, S. 87), S. 318. 223 Die Frage wurde pragmatisch gelöst: Sofern der konstitutionelle Pfarrer sein Amt durch einen ungeschworenen Bischof erhalten hatte, war das Gelübde gültig. Ungültig war es hingegen, wenn ein konstitutioneller Geistlicher nach Flucht oder Vertreibung des ursprünglichen Pfarrers durch Wahl der Gemeinde oder durch Einsetzung der Behörden sein Amt erhalten hatte. Erzbischof Cle-
334 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Im September 1795 gab das Generalvikariat ein Gutachten bei der Theologischen Fakultät der Universität Trier über Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit des im selben Jahr verlangten Unterwerfungseids unter die Republik in Auftrag. Die Gutachter gelangten zu dem Ergebnis, dass der geforderte Eid zulässig sei, obwohl der Inhalt der Verfassung nicht immer mit den Grundsätzen des katholischen Glaubens konform gehe. Da die französische Verfassung allerdings die Religions- und Gewissensfreiheit gewähre, mithin der Eid nicht Ausdruck einer tiefen inneren Überzeugung sein müsse und es zudem gelte, größeren Schaden für die Religion abzuwenden, dürfe er abgelegt werden.²²⁴ Damit argumentierten die Gutachter einerseits mit spitzfindigen verfassungstheoretischen Interpretationen, andererseits bemühten sie mit dem Wunsch, Schlimmeres für die Religion verhindern zu wollen, ein Argument, das in ganz ähnlicher Weise wenig später zur Unterzeichnung der Reunionsadresse herangezogen wurde und diese Handlung zur klerikalen Pflicht erklärte.²²⁵ Die Vereinigung der Österreichischen Niederlande mit Frankreich 1795 führte schließlich dazu, dass ab Mai 1797 auch dort die Geistlichkeit zum Ablegen dieses Eides verpflichtet war. Mit Verweis auf das Fakultätsgutachten suchte das Generalvikariat den Klerus zu beruhigen und mahnte, Rücksicht auf die eigene Gemeinde zu nehmen und einen Konflikt mit der neuen Obrigkeit zu vermeiden. Sich ganz dem Schutz von Religion und Kirche verpflichtet glaubend, ließen es die geistlichen Beamten dabei jedoch nicht bewenden, sondern drohten den Pfarrern bei Zuwiderhandeln die Suspension von ihrem Amt an.²²⁶ Dass ausgerechnet eine geistliche Behörde unter Strafandrohung zum Eidschwur aufforderte, blieb weder unkommentiert noch unwidersprochen. Gleichwohl sprach sich nicht allein das Trierer Generalvikariat für die Rechtmäßigkeit des Eides aus, sondern auch die Generalvikariate von Köln und Lüttich.²²⁷ Allerdings hatte der luxemburgische Klerus bereits 1796 seine Treue zum Erzbistum Trier bekundet und eine Übertragung der französischen Kirchengesetze entschieden abgelehnt. Das Gutachten und die Reaktion des Vikariats müssen mens Wenzeslaus hatte bereits im November 1790 die Zivilkonstitution in einem Pastoralschreiben verurteilt. Vgl. Pauly: Eid (wie Anm. 247, S. 87), S. 303–304. 224 Von den Professoren der Fakultät waren zu diesem Zeitpunkt lediglich drei anwesend. Zum Inhalt des Gutachtens vgl. ausführlicher ebd., S. 305–308. Der lateinische Text findet sich ebd. in Anm. 19, S. 306–307 abgedruckt. Eine offizielle Verlautbarung gegenüber dem französischen Klerus des Erzbistums über den Inhalt des Gutachtens unterblieb allerdings. 225 Siehe die Rechtfertigung des anonymen Pfarrers bezüglicher der Reunionsadresse in Kapitel 4.1.1. 226 Den Text der Verordnung siehe bei Blattau: Statuta synodalia Bd. 6 (wie Anm. 125, S. 56), S. 338. Vgl. Pauly: Eid (wie Anm. 247, S. 87), S. 310. 227 Minke: Lüttich (wie Anm. 62, S. 17), S. 299.
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den Geistlichen vor diesem Hintergrund wie Hohn erschienen sein.²²⁸ So erklärte das Generalvikariat auch den ‚Eid des Hasses‘, den der Klerus in den annektierten ‚belgischen‘ Departements ab September 1797 ebenfalls schwören musste, für zulässig, „da er mit dem Bekenntnis zur Republik nur verlange, nichts für die Wiederherstellung der Monarchie zu unternehmen.“²²⁹ Trotzdem verweigerte sich auch jetzt eine Mehrheit der Priester, was die Spaltung, anders als vom Vikariat bezweckt, verschärfte.²³⁰ Als Grund gaben die Eidverweigerer mangelndes Vertrauen in die Erklärung des Generalvikariats an, da einige französische und niederländische Bischöfe in dieser Angelegenheit anders entschieden hätten. Sofern aber vom Papst oder Erzbischof Clemens Wenzeslaus eine entsprechende Anweisung erginge, würden sie dieser sofort Folge leisten. Letzterer zog es allerdings vor, eine Entscheidung des päpstlichen Stuhls abzuwarten. Das eigenmächtige Vorgehen seiner Behörde, von dem er erst im November 1797 in Kenntnis gesetzt wurde, hieß er nicht gut.²³¹ Auch die in die Zuständigkeit des Erzbistums Köln fallenden Kleriker in den annektierten Gebieten waren mit der Entscheidung der geistlichen Behörden nicht einverstanden und verweigerten den Eid. Die Nähe zum Linksrheinischen ermöglichte es ihnen, ihre Amtspflichten ruhen und sie stattdessen von Aachener Ordensgeistlichen ausüben zu lassen, die der Pflicht zur Eidesleistung nicht unterlagen.²³² In einem Brief an seinen Trierer Amtskollegen schilderte der Kölner Erzbischof Maximilian Franz von Österreich (1756–1801), dass sich das Volk von den beeideten Priestern abgewandt habe, sodass nun einerseits die eidverweigernden Priester ihren Dienst nicht mehr verrichten dürften, andererseits die eidleistenden aber
228 Vgl. Pauly: Eid (wie Anm. 247, S. 87), S. 310. 229 Ebd., S. 310. Ein zweites Gutachten zum ‚Eid des Hasses‘ wurde nicht angefertigt, da das Generalvikariat das erste anscheinend auch in diesem Fall als gültig betrachtete. 230 Nach Pauly verweigerten 852 Pfarrer des ehemaligen Herzogtums Luxemburg den Eid, 278 leisteten ihn, vgl. ebd., S. 312. 231 Das Generalvikariat rechtfertigte sich gegenüber dem Erzbischof mit dem Zeitdruck, unter dem es eine Entscheidung fällen musste. Zum Schriftverkehr zwischen dem Erzbischof und Weihbischof Pidoll Ende des Jahres 1797, der den Eid betraf, vgl. ausführlich ebd., S. 311–322 sowie die entsprechenden Akten im BATr Abt. 49 Nr. 7. – Da sich der Erzbischof bisher „aller Höchsten Erklärung über diesen Gegenstand enthalten [habe] und der Reichsfriede in dem wirklich angefangenen Congresse zu Rastat bald erfolgen dörfte“, riet Pidoll abzuwarten, „weil alsdann das Schicksal des Luxemburger Landes definitivè entschieden wird, und itzt noch etwa ein Schimmer der Hofnung vorhanden ist, daß dies Land durch Tausch oder zur Entschädigung an eine andere, als Französische Souveränität, erwünschlicher Maßen gelangen dörfte, in welchem Falle die Fragen wegen dieses Eydes von selbst hinfallen würde.“ BATr Abt. 49 Nr. 7, S. 68. 232 Vgl. Minke: Lüttich (wie Anm. 62, S. 17), S. 299–300.
336 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? keine Gemeinde mehr hätten.²³³ So beklagte die Trierer Zentralverwaltung gegenüber der Munizipalverwaltung, dass trotz anderslautender Rundschreiben und Verfügungen immer wieder Einwohner aus den grenznahen Departements Gottesdienste bei den Priestern im Saardepartement besuchen würden, weil sie diesen nicht bei geschworenen Pfarrern hören wollten.²³⁴ Gleichwohl zeigen Beispiele eigenmächtig durchgeführter Pfarrerwahlen im Linksrheinischen, dass die Bevölkerung nicht prinzipiell fest zu ihren angestammten Seelsorgern stand, sondern von mancher Neuerung mitunter gerne Gebrauch machte.²³⁵ Gerade in den deutschsprachigen Grenzgebieten führte das „Nebeneinander von zwei unterschiedlichen Verwaltungs- und Rechtsräumen“²³⁶ zu rechtlichen wie theologischen Unsicherheiten, eröffnete allerdings sowohl für den Klerus als auch für die Laien Möglichkeiten, die republikanische Gesetzgebung zu umgehen. Denn obwohl sich die Folgen des antiroyalistischen Putsches von September 1797 sowie des sogenannten Klöppelkrieges im Sommer des darauffolgenden Jahres auch in der Religions- und Kirchengesetzgebung der linksrheinischen Gebiete bemerkbar machten, wie das vorangegangene Kapitel gezeigt hat, blieb die „schärfste Zuspitzung antikirchlicher Politik in Gestalt des ‚Eides des Hasses‘ auf Anarchie und Königtum“²³⁷ der rheinischen Geistlichkeit erspart. Trotz aller Repressalien verfügten die Priester über größere Freiräume als ihre Amtskollegen in den annektierten ‚belgischen‘ und luxemburgischen Departements.
233 Schreiben des Kölner Erzbischofs an den Trierer, 21. März 1798. BATr Abt. 49 Nr. 7, S. 72–74. – Ähnliches ist in den Protokollen des Trierer Generalvikariats über die Situation in den Luxemburger Pfarrgemeinden vermerkt: „Die entstandene Spaltung dauere daher noch fort: Spaltung unter Geistlichen und unter den Pfarrkindern. Diese hätten zum Theile einen Abscheu vor ihrem Pastor, der geschworen hat, andere vor dem ihrigen, weil er nicht geschworen hat“. Protokollauszug, 11. Dezember 1797. BATr Abt. 49 Nr. 8, S. 53. 234 Siehe die entsprechenden Schreiben vom Mai 1799: StadtAr Tr Fz 678 o. P. sowie Fz 812 Bd. 12. Nr. 547. 235 Zu Wahlen kam es nach der Besetzung beispielsweise, wenn der Patron durch Emigration seine Patronatsrechte verloren hatte, wobei die französischen Verwaltungsstellen die Gemeinden anfangs nicht immer darin unterstützten, um Unruhe zu vermeiden. Die Wahl der Pfarrer wurde im April 1798 durch die Zentralverwaltung des Saardepartements jeder Gemeinde anheimgestellt; eine spezielle Erlaubnis sei dazu nicht erforderlich (StadtAr Tr Fz 812 Bd. 12, Nr. 542). Zu den linksrheinischen Pfarrerwahlen ausführlich vgl. Wolfgang Seibrich: Linksrheinische (revolutionäre) Pfarrerwahlen 1795–1802, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 43 (1991), S. 211–254. 236 Minke: Lüttich (wie Anm. 62, S. 17), S. 301. 237 Carl: Revolution (wie Anm. 13, S. 4), S. 93.
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Eidesleistung aus Sorge um die Religion Gleichwohl bestand im Linksrheinischen die Sorge, dass trotz des unklaren völkerrechtlichen Status auch hier die Geistlichkeit den ‚Eid des Hasses‘ leisten müsste. Anlass zu dieser Befürchtung gab der Umstand, dass General Charles Pierre François Augereau (1757–1816), der Oberkommandierende der Armée d’Allemagne, nach dem Staatsstreich des 18. Fructidor die Vereidigung der Beamten auf die Republik verlangte, wovon teilweise auch Geistliche betroffen waren.²³⁸ Da er bezüglich des Eides keinerlei Vorgaben machte, fiel er je nach Gemeinde unterschiedlich aus und auch „der Nachdruck, mit dem die Aktion durchgeführt wurde, [war] nicht überall der gleiche.“²³⁹ Sowohl die unsystematische Durchführung als auch die unklare Formulierung unterschieden diesen Schwur daher deutlich von den gesetzlich vorgegebenen Priestereiden, die die Geistlichen in Frankreich sowie in den bereits annektierten Gebieten ablegen mussten. Das Treueversprechen beinhaltete auch nicht die Unterwerfung unter die republikanischen Gesetze. Sofern die Geistlichen den Eid überhaupt leisten mussten, versprachen sie nur, die französische Republik als neue Machthaberin zu akzeptieren, ihren Interessen nicht zuwider zu handeln und das anvertraute Amt gewissenhaft auszuüben. Derartige Entwicklungen nährten trotzdem die Befürchtung, der ‚Eid des Hasses‘ sei auch im Rheinland der nächste Schritt hin zu einer immer restriktiveren französischen Kirchen- und Religionspolitik. Längst hatte sich über diese Eidesformel eine breite publizistische Debatte entfaltet, die sich vor dem Hintergrund der Geschehnisse in den Nachbarländern sowie der einzelnen Erklärungen der Generalvikariate, theologischen Fakultäten und geistlichen Würdenträgern zur (Un-)Zulässigkeit des Eides abspielte. Da der Streit bis in die Pfarrgemeinden hineinreichte, versuchten die beteiligten Akteure in Abgrenzung zu den Argumenten der jeweiligen Gegenseite ihre Position und die ihrer Unterstützer durch Flugschriften öffentlich zu legitimieren und zu verbreiten. Dabei beschuldigte jedes Lager das jeweils andere, die Spaltung der katholischen Gemeinschaft zu verantworten.
238 Für die Stadt Trier berichtet Müller dazu: „Am 10 December Sonntags morgens um 11 Uhren wurden in allen Kirchen die Glocken geleutet, im Dohm so wohl als bey den Capucinern, dann mußten so wohl Welt als Geistliche so nur ein Ammt hatten schwören.“ (Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1797. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, 31r.) Bei der Eidformel handelte es sich laut seiner Aufzeichnungen um einen einfachen Treueid auf die neue Regierung. Auch Pfarrer Raab berichtet in seinem Hirtenbrief, dass Zivilbeamte und Geistliche einen derartigen Eid leisten mussten, siehe unten ab S. 348. Lintz erwähnt nicht explizit die Geistlichen, führt allerdings in der Auflistung der Eidleistenden u. a. auch das Konsistorium (das Offizialat) sowie die Universität an, siehe Lintz: Tagebuch III (wie Anm. 77, S. 301). 239 Molitor: Untertan (wie Anm. 6, S. 2), S. 194. Vgl. auch Kraus: Weg (wie Anm. 62, S. 17), S. 121– 122. Die Zeitangaben bei Pauly: Eid (wie Anm. 247, S. 87), S. 313 sind an dieser Stelle nicht korrekt.
338 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Dass vor allem die Einstellung in Frankreich zum ‚Eid des Hasses‘ eine wichtige Rolle für die Positionierung der linksrheinischen Akteure spielte, zeigt sich an der mit Genehmigung des Trierer Generalvikariats erfolgten Veröffentlichung einer Zusammenstellung von Übersetzungen französischer Texte. Herausgeber dieser Schrift war der Trierer Buchhändler Johann Anton Schröll, der im Vorwort bekundet, „durch Bekanntmachung einiger gründlich geschriebene[r] und zu Paris gedruckte[r] kleinen Schriften [s]ein Scherflein“ beitragen zu wollen, „die irrenden Glieder der katholischen Kirche auf den rechten Weg“ zurückzuführen und „die Rechtdenkenden“²⁴⁰ auf diesem zu halten. Die ‚irrenden Glieder‘ sind für ihn die Eidverweigerer, die mit ihren „Widerstrebungen […] den sanften Grundsätzen der Religion Jesu“ schaden. Schröll unterstellt ihnen keineswegs Absicht, denn ihm ist bewusst, dass die französische Geistlichkeit durch die Revolution „viel Ungemach zu erdulden“²⁴¹ hatte. Allerdings will er die dortige Situation nicht beurteilen, sondern die beobachtete Spaltung des Klerus im Wälderdepartement veranlasste ihn zur Veröffentlichung dieser Texte. Die Rechtfertigung der Eidesleistung durch französische Geistliche bildet die Folie, vor deren Hintergrund den eidwilligen luxemburgischen Geistlichen Argumentationshilfe an die Hand gegeben und Zögerliche überzeugt werden sollten. Es liegt nahe, dass das Generalvikariat die Veröffentlichung nicht nur genehmigte, sondern möglicherweise auch anregte, da – wie Schröll in seinem Vorwort anmerkt – dessen Anweisungen nicht zur Beruhigung hatten beitragen können.²⁴² Ebenso sollte die Schrift den ehemals kurtrierischen Klerus im Sinne des Generalvikariats beeinflussen. Dem Vorwort ist deutlich anzumerken, dass Schröll die Sorge um die Religion antrieb und nicht republikanische Begeisterung. Aufgrund seines möglicherweise durch die Aufklärung inspirierten Pfarrerbildes, das die Priester als Vorbild ihrer Gemeinden begriff, sollten diese jedoch jegliches widersetzliches Verhalten vermeiden und nur „Beyspiele geben, wie man allen Obrigkeiten Folge zu leisten habe“. Für ihn stand offenkundig außer Frage, dass die Franzosen zum gegenwärtigen Zeitpunkt die rechtmäßige Obrigkeit darstellten. Er betont darum auch, dass das Generalvikariat bei seiner Erklärung zur Zulässigkeit des Eides und den entsprechenden Verordnungen stets das „Religionswohl des vormaligen Herzogthums
240 Jeweils Johann Anton Schröll [Hrsg.]: Betrachtungen über die Eidschwüre. Und den der fränkischen Geistlichkeit von der französischen Staatsgewalt unter dem 19ten Fructidor des 5ten Jahres der franz. Rep. (den 5ten Sept. 1797) abgeforderten Eid, Trier 1797, S. 12. 241 Ebd., S. 3. 242 In den Augen des Generalvikariats waren dafür allein die starrsinnigen Eidverweigerer verantwortlich, die „lieber sich und die Kirche unübersehbaren Uebeln schienen auszusetzen zu wollen“. Protokollauszug, 11. Dezember 1797. BATr Abt. 49 Nr. 8, S. 52.
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Luxemburg“²⁴³ im Blick gehabt habe, was aber zur Befriedung des Konflikts leider wenig hätte beitragen können. Deshalb hofft er nun, dass der Friede von Campo Formio, der die Abtretung der Österreichischen Niederlande offiziell bestätigte, „eine der Religion entsprechende Veränderung in den Gesinnungen und dem Betragen des bisher ungehorsamen Theils der Geistlichkeit hervorbringen werde“²⁴⁴. Im ersten der beiden französischen Texte stellt der Verfasser²⁴⁵ zunächst klar, dass im Grunde die Regierungsform keine Rolle spiele, da stets Gott derjenige sei, der regiere. Mit Verweis auf entsprechende Bibelverse untermauert er, dass darum auch alle weltliche Regierungsgewalt von Gott komme und es somit außer Zweifel stünde, dass er die Monarchie durch die Republik ersetzt habe. Zudem sei von Jesus der Spruch überliefert (Mt 6,24), man könne „nicht zweyen Herrn dienen; man wird den einen hassen, den andern lieben“, woraus sich der Schluss ergebe, dass ein jeder Hass auf das Königtum schuldig sei. Dies könne problemlos durch einen Eid wie den geforderten bekundet werden, da die „Pflichten der Religion“ von aller „welt- und zeitlichen Macht unabhängig“²⁴⁶ seien und kein Glaubensartikel dadurch verletzt würde. Auch richte sich der Hass nicht gegen einen Menschen, sondern gegen eine „Abstraction, eine bloße Regierungsart.“²⁴⁷ Nicht die Religion stünde somit dem Eid entgegen, sondern lediglich die „Privatmeinung“²⁴⁸ Einzelner, die stets anfällig für Irrtümer sei. Darüber hinaus solle das Wort Hass lediglich zum Ausdruck bringen, dass man das Königtum verwerfe. Außerdem bedeute die Verweigerung des Eides, dass der Pfarrer nicht mehr den Gottesdienst ausüben dürfe, was ihm aber stets am meisten am Herzen liegen müsse und deshalb nicht riskiert werden dürfe. Damit bedient sich der Verfasser dieser Schrift einer ähnlichen Argumentation wie das Gutachten der theologischen Fakultät. Auch er betont des Weiteren, dass die französische Konstitution „die Freyheit aller Meinungen und vorzüglich jene der Religionsmeinungen, ausdrücklich“²⁴⁹ anerkenne, sodass der Eid nicht die innere Überzeugung widerspiegeln müsse, sondern sie lediglich eine reine Formalität
243 Jeweils Schröll [Hrsg.]: Betrachtungen (wie Anm. 240), S. 8. 244 Ebd., S. 12. 245 Die Formulierungen legen nahe, dass der Autor Geistlicher war. 246 Jeweils Schröll [Hrsg.]: Betrachtungen (wie Anm. 240), S. 17. 247 Ebd., S. 18. Aus diesem Grund würden auch Adlige, sofern sie lehenspflichtig waren und dem König einen Eid leisten mussten, nicht meineidig werden, da sich der Eid nicht auf den Herrscher als Mensch, sondern auf das von Gott verliehene Amt bezöge. Sobald diese höchste Gewalt auf eine Republik übertragen worden sei, die das Königtum ersetze, sei dieser Treue und Unterwerfung zuzugestehen. 248 Ebd., S. 19. 249 Ebd., S. 23.
340 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? anordne. Gänzlich davon überzeugt, „unpartheiisch die Wahrheit“²⁵⁰ belegt zu haben, hofft der Verfasser, dass er sämtliche Vorurteile in dieser Angelegenheit ausräumen konnte. Der zweite französische Text wiederholt im Wesentlichen die oben angesprochenen Gründe, die für den ‚Eid des Hasses‘ sprechen und fasst sie prägnant in acht Punkten zusammen. Im Unterschied zum ersten Text ist es diesem Autor – den der französische Drucker als Privatperson bezeichnet – allerdings wichtig zu betonen, dass der Hass gegen das Königtum sich nicht allgemein auf die Regierungsform beziehe, sondern nur auf die französische Monarchie. Als Beweis führt er die guten Beziehungen, die das republikanische Frankreich zu mehreren europäischen Königen pflege, an. Wichtigstes Argument ist allerdings auch hier, größeren Schaden für die katholische Religion und die Gläubigen abwenden zu wollen. Dass beide Schriften die Argumentation des Trierer Generalvikariats und der Fakultät stützten, wird der Grund gewesen sein, weshalb der Behörde an einer Verbreitung dieser Gedanken gelegen war.²⁵¹ Aachener Gegenstimmen gegen den Eid Ebenfalls im November 1797 – im selben Monat wie die von Schröll herausgegebenen Texte – erschienen in Aachen die Kurzen Anmerkungen über den Neuen Eid, so von der Geistlichkeit in den vereinigten Ländern abgefordert wird. Hinter dem neutralen Titel verbarg sich eine entschiedene Ablehnung des Eid des Hasses. Obwohl die Schrift anonym publiziert wurde, konnte der zuständige Aachener Kommissar als Autoren Paul Dumont (geb. 1762), der bis zur Aufhebung der Abtei Benediktinermönch in Malmedy war, und den Franziskaner Johannes Hungers (geb. 1739) ermitteln und beide verhaften lassen. Da ihr „Werk völlig das Gepräge der Treulosigkeit“ trüge, die „reinsten Absichten der französischen Gesetzgeber“ verleumde und als Sinnbild des „Fanatismus […] den Ungehorsam gegen die Gesetze als ein Werk der Tugend predig[e]“²⁵², erteilte das Direktorium die Anweisung, beide ins Rechtsrheinische auszuweisen und ihnen unter Androhung, sie andernfalls der Spionage zu bezichtigen, die Rückkehr zu untersagen. Eine Verbreitung 250 Schröll [Hrsg.]: Betrachtungen (wie Anm. 240, S. 338), S. 24. 251 Sofern es sich bei den nicht näher bezeichneten Druckschriften, die in einem Auszug aus den Generalvikariatsprotokollen vom 20. Oktober 1797 erwähnt werden, auch um diese Texte handelte, war dem Vikariat daran gelegen, sie „mittels Begünstigung der weltlichen Obrigkeit [gemeint war der Kurfürst, Anm. A. K.] per decanatus bekannt zu machen.“ (BATr Abt. 49 Nr. 7, S. 62) Pidoll plädierte in seinem Brief an Clemens Wenzeslaus hingegen dafür, im Kurfürstentum von einer gezielten Verbreitung abzusehen (ebd., S. 66–70). 252 Beschluss des vollziehenden Direktoriums, 26. Dezember 1797. StadtAr Fz 812 Bd. 12 Nr. 537. – Vgl. zu dem Fall Dumont-Hungers auch Minke: Lüttich (wie Anm. 62, S. 17), S. 311–315.
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der Schrift im Erzbistum Trier lässt sich zwar nicht nachweisen. Da sie aber eine Zusammenfassung der gängigen Argumente gegen den Eid bot, ist es wahrscheinlich, dass sie auch dort bekannt war. Zudem dürfte der in den gesamten eroberten Ländern angeschlagene Deportationsbefehl für entsprechende Aufmerksamkeit gesorgt haben.²⁵³ Auch in diesem Fall beriefen sich die Autoren auf das Paulus-Zitat, dass alle Gewalt von Gott stamme (Röm 23, 1,2). Allerdings diente es ihnen nicht dazu, die Republik zu legitimieren, sondern nachzuweisen, dass kein Christ je einer Regierungsform Hass schwören dürfe, da sie alle von Gott eingesetzt seien. Mit Verweisen auf die Bibel suchen sie zu belegen, dass Gott zudem die Monarchie stets bevorzugt habe. Gerade weil es nicht um die Person des Königs, sondern um die Würde des Amtes gehe, könne ein „ächter Krist“²⁵⁴ nicht Hass auf das Königtum schwören, ohne der „größte[n] Unbilde Gottes“²⁵⁵ anheimzufallen und folglich eine schwere Sünde zu begehen. Sowohl Eidbefürworter als auch Eidgegner beriefen sich auf die Bibel als scheinbar letztgültige Instanz in diesem Streit, den sie unter Zuhilfenahme göttlicher Wahrheit glaubten, für sich entscheiden zu können. Dass sie damit jedoch nur die Auslegefähigkeit der jeweiligen Textstellen bewiesen, spielte keine Rolle, da sich jede Seite selbst im Recht sah. Um die Überlegenheit der Monarchie zu beweisen, beriefen sich die beiden Aachener Mönche allerdings nicht nur auf den Apostel Petrus, sondern auch auf Papst Pius VI. sowie auf den französischen Bischof Jacques Bénigne Bossuet (1627–1704). Dass sie in Verbindung mit dem Papst ausgerechnet auf Bossuet verwiesen, verwundert, denn dieser war maßgeblich an der Abfassung der sogenannten ‚gallikanischen Freiheiten‘ beteiligt gewesen, die die Unabhängigkeit der französischen Kirche vom römischen Stuhl gewährleisten sollten.²⁵⁶ Wahrscheinlich zogen sie ihn absichtlich als Zeugen für die Überlegenheit des Königtums heran, um zu zeigen, dass die gallikanische Kirche traditionell an der Seite der Monarchie stand. Halten die beiden Autoren die Formulierung Hass dem Königtum für unzulässig, wenn sie sich auf das Amt und die Würde des Königs bezieht, so lehnen sie die Formel auch ab, sollte sie die Person des Königs meinen, da Jesus gelehrt habe, seine Feinde zu lieben. So hätten selbst die frühen Christen trotz der Verfolgungen,
253 Insgesamt wurden laut Minke 8000 Abdrucke des Befehls angefertigt, um sie den Munizipalverwaltungen zur weiteren Verbreitung zu übersenden, vgl. ebd., S. 314. 254 Anonym: Kurze Anmerkungen über den Neuen Eid, so von der Geistlichkeit in den vereinigten Ländern abgefordert wird. Herausgegeben von einem Religions-Freunde, [Aachen] 1797, S. 2. 255 Ebd., S. 3. 256 Siehe dazu Kapitel 2.3, Anm. 203. – Der Gallikanismus beeinflusste auch deutsche Episkopalisten und katholische Aufklärer. So findet Bossuet in La Roches Mönchsbriefen wohlwollende Erwähnung durch Gutmann.
342 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? die sie hätten erleiden müssen, nie die Könige gehasst. Da aus Sicht der beiden Autoren die Republik keinerlei Legitimität besaß, fiel ihnen anscheinend nicht auf, dass dieses Argument auch dazu dienen könnte, den Eid zu rechtfertigen. Denn augenscheinlich wähnten sie sich selbst in einer ähnlichen Situation der Unterdrückung, auch wenn diese nicht von einem König, sondern einer Republik ausging. Sie verneinen entschieden, dass sich der Hass möglicherweise nur auf das französische Königtum beschränken könnte, da der Wortlaut allgemein sei und das entsprechende Gesetz jegliche Einschränkungen des Eides verbiete. Sollte er lediglich meinen, „daß man weder mittelbar, noch unmittelbar, zur Herstellung des Königthums etwas beytragen solle“²⁵⁷, so hätte der Wortlaut entsprechend formuliert werden müssen. Damit greifen die beiden Autoren ein viel bemühtes Argument der Gegenseite auf. Dass „der Sinn des Eides unbestimmt, dunkel und zweydeutig seye“²⁵⁸, spricht – neben den rein biblisch-theologischen Argumenten – aus Sicht der Verfasser ebenfalls gegen ihn, da gemäß „allen Gottesgelehrten“²⁵⁹ ein Schwur nur dann geleistet werden dürfe, wenn dies in genauer Kenntnis des Inhalts geschehe. Da aber beispielsweise nicht zweifelsfrei feststünde, ob mit dem Königtum die Würde oder die Person gemeint sei, könne der Schwörende letztlich nicht restlos überzeugt sein, „daß jenes, was er schwöret eine erlaubte Sache seye.“²⁶⁰ Dies war jedoch wichtig, denn der Schwörende hatte schließlich durch diesen Akt „Gott zu seinem Eideshelfer“²⁶¹ gemacht und würde, sollte er den Eid brechen, eine schwere Sünde begehen. Wie sooft in der Diskussion um die Eidesfrage ist auch die weiterhin unklare politische Situation ein wesentlicher Faktor, der die Ablehnung begründet: Die verschiedenen Phasen der Revolution hatten das Vertrauen in die staatliche Stabilität erheblich eingeschränkt, da die Menschen in wenigen Jahren mehr Veränderung erlebten als je zuvor. Dies ließ einen Eid auf eine bestimmte Regierungsform, die sich möglicherweise bald wieder ändern konnte, als Wagnis erscheinen. Da jedoch Anarchie noch schlimmer erschien als eine Republik, sahen die beiden Autoren die Formel Hass auf Anarchie ausdrücklich als erlaubt an, was vor dem Hintergrund ihrer eigenen Präferenz für das Königtum nur konsequent war. War das Gutachten der theologischen Fakultät noch zu dem Schluss gekommen, dass Treue und Anhänglichkeit gegenüber der Republik geschworen werden könnten, obwohl die Verfassung nicht in allen Artikeln mit den Glaubenssätzen 257 Anonym: Anmerkungen (wie Anm. 254, S. 341), S. 7. 258 Ebd., S. 13. 259 Ebd., S. 12. 260 Ebd., S. 13. 261 Stollberg-Rilinger: Rituale (wie Anm. 214, S. 331), S. 104.
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übereinstimme, halten die beiden Mönche es für ausgeschlossen, dass ein „ächt Katholischer“²⁶² unter diesen Vorraussetzungen den Eid leisten könne. Für sie steht die Unvereinbarkeit ‚echten Christentums‘ mit der Verfassung zweifelsfrei fest, da diese „kein anderes Gesätz anerkennet, als den allgemeinen Will, ausgedrückt durch die Mehrheit der Bürger oder ihrer Repräsentanten“. Folglich achte die Verfassung weder die Gesetze des christlichen Glaubens noch „andere sittliche und moralische Gesätze, so gar jene der Natur“ nicht. Es gelte ausschließlich die Obergewalt der Beamten, „jene der Kirche, des Pabstes und der Bischöfe[…]“²⁶³ werde hingegen verworfen. Bei der Frage nach der Zulässigkeit des Eides geht es demnach nicht um theologische Spitzfindigkeiten, sondern aus Sicht der Autoren um die Grundfesten des katholischen Glaubens. Für sie wird der Eid zur Demarkationslinie, an der sich entscheidet, wer ein echter Christ ist. Dass dies für sie einzig die Eidverweigerer sein konnten, zeigt, wie aufgeladen und unsachlich der Streit geführt wurde. Gleichwohl endet die Flugschrift beinahe versöhnlich, indem den Pfarrern prinzipiell die Möglichkeit zugestanden wird, einen Eid zu leisten, der bekunde, „die öffentliche Ruhe und Frieden gänzlich beyzuhalten und allen Gesätzen in so weit sie mit der Religion und Gerechtigkeit nicht streiten, nachzuleben.“²⁶⁴ Daran wird deutlich, dass nicht der Akt des Schwurs das Problem darstellte, sondern lediglich sein Inhalt. Der Eid als Zeichen der Rechtgläubigkeit und des Gehorsams Die Frage, ob die ‚geschworenen‘ oder die ‚ungeschworenen‘ Priester zu den Rechtgläubigen zu zählen seien, wird auch in den Bemerkungen eines alten Lehrers der Theologie in der Lütticher Diözese verhandelt. Diese kurze Schrift stammt vermutlich von Simon Peter Ernst (1744–1817), einem Augustiner-Chorherrn der Abtei Rolduc und Pfarrer von Afden. Er stand an der Spitze derjenigen ‚belgischen‘ Geistlichen, die bereit waren, auch den ‚Eid des Hasses‘ zu leisten und die sich dabei auf das positive Gutachten des Lütticher Generalvikariats beriefen.²⁶⁵ Auch diese aus dem Französischen übersetzte Schrift erschien bei Buchhändler Schröll mit Unterstützung des Trierer Generalvikariats, um die eigene Auslegung des Eides 262 Anonym: Anmerkungen (wie Anm. 254, S. 341), S. 9. 263 Jeweils ebd., S. 8. 264 Ebd., S. 14. 265 Das Gutachten basierte auf einer am 14. September 1797 in Lüttich zusammengetretenen Synode, bei der der geforderte Eid kontrovers diskutiert wurde. Letztlich sprach sich die Synode für die Eidesleistung aus, um nach ihrer Darstellung den Erhalt der Religion zu sichern. Zu den Diskussionen um den Eid in den ‚belgischen‘ Departements vgl. ausführlich Minke: Lüttich (wie Anm. 62, S. 17), S. 301–310.
344 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? zu bekräftigen. Als Aufhänger seiner Stellungnahme diente Ernst das ablehnende Urteil, das der Kardinal-Erzbischof von Mecheln, Johann Heinrich von Frankenberg (1726–1804), bezüglich des Eides gefällt hatte. Ähnlich der beiden Aachener Mönche hatte Frankenberg den Eid in einem Brief an den zuständigen französischen Kommissar zurückgewiesen, weil er „weder eine Person noch eine von Gott begründete Einrichtung hassen“²⁶⁶ dürfe. Hatten die beiden Aachener Mönche noch bestritten, dass man die Eidverweigerer für die Spaltung des Klerus verantwortlich machen könne, da nicht sie, sondern der geforderte Eid Schuld an der Misere sei, sieht Ernst die Sachlage naturgemäß anders: Er beschuldigt die Eidverweigerer, mit der Verbreitung von Frankenbergs Brief, gezielt und ganz bewusst die Geistlichkeit spalten und Unfrieden in die Gemeinden hineintragen zu wollen, obwohl dies unweigerlich „zum Schaden der Religion und zum Nachtheile der Rechtgläubigen“²⁶⁷ ausgehe. Diese Rechtgläubigen sind für ihn zum einen die einfachen Gläubigen, die in die Auseinandersetzung um den Eid ungewollt hineingezogen wurden. Zum anderen zählt er auch die eidleistenden Priester hinzu, die gehandelt hätten, um größeres Unheil für ihr Pfarrvolk zu vermeiden und ihrer Pflicht gegenüber der „geistlichen Obrigkeit, welcher Gott sie untergeordnet hat,“²⁶⁸ nachzukommen. Obwohl sie sich damit innerhalb der Vorgaben der kirchlichen Tradition bewegen würden, beschuldige die Gegenseite sie nun fälschlich mit dem Schwur „einen Schritt gethan [zu haben], der gegen die Religion sey.“²⁶⁹ Im Gegensatz zu den beiden anderen bei Schröll veröffentlichten französischen Texten bezieht sich bei Ernst der Gehorsam nicht theologisch begründet auf die neue weltliche Obrigkeit, sondern auf das Lütticher Generalvikariat. Die Frage, ob Gott auch eine Regierungsform wie die Republik unterstützt oder allzeit nur das Königtum, ist für ihn daher völlig unerheblich. Da der Generalvikar in Abwesenheit des Bischofs diesen vertritt, repräsentiert er nun die geistliche Obrigkeit – ob er diese Funktion in einer Monarchie oder in einer Republik ausübt, spielt keine Rolle. In „einer Sache, die nicht offenbar böße ist“²⁷⁰, könne sich kein Priester dieser Gehorsamspflicht gegenüber seinem Bischof oder dessen Stellvertreter entziehen, was im Übrigen auch für die Laien gelte. Solange eine Entscheidung des Papstes
266 Minke: Lüttich (wie Anm. 62, S. 17), S. 303. 267 [Simon Peter Ernst]: Bemerkungen eines alten Lehrers der Theologie in der Lütticher Diözese, über das Antwortschreiben des Kardinal-Erzbischofs von Mecheln an den Eommisäre der ausübenden Gewalt bei der Verwaltung des Kantons Mecheln. In Betreff des Eides von 19ten Fructidor, 5ten Jahres der französischen Republik, Trier 1797, S. 8. 268 Ebd., S. 9. 269 Ebd., S. 8. 270 Ebd., S. 10.
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in dieser Sache ausstünde, müssten die Priester dem Urteil des Generalvikars bzw. der Synode folgen, um eine „unselige Entzweyung“²⁷¹ der Diözese zu verhindern. Als Beleg seiner Argumentation dient ihm auch hier wieder die Kirchentradition.²⁷² Da für die Geistlichkeit des Lütticher Bistums allein die Haltung der geistlichen Obrigkeit ihres Bistums die Richtschnur darstellen könne, sei die abweichende Meinung des Kardinal-Erzbischofs von Mecheln insofern irrelevant, dass sie nur für seine eigene Diözese von Belang sein könne. Doch auch wenn Ernst diejenigen scharf verurteilt, die die Entscheidung des Prälaten aus seiner Sicht dazu missbrauchen, ihre Verweigerung zu legitimieren – obwohl er gestützt auf die Autorität des Vikars und der Synode nichts anderes macht –, nimmt er Frankenberg selbst in Schutz und lobt dessen Frömmigkeit. Einerseits wollte er sicherlich eine weitere Eskalation des Konflikts vermeiden, weshalb auch die beiden Aachener Mönche ihre Flugschrift versöhnlich beendeten, und nicht respektlos gegenüber einem ranghöheren Würdenträger erscheinen. Andererseits kann er hierdurch geschickt darauf verweisen, dass das unterschiedliche Urteil über den Eid folglich nicht mit der jeweiligen Rechtgläubigkeit zusammenhänge, sondern Ergebnis der „verschiedenen Gesichtspunkte“²⁷³ sei, unter denen man ihn betrachten könne. Damit bemängelt auch er die vermeintliche Uneindeutigkeit der Eidformel, die zu der irrtümlichen Annahme führe, der Hass richte sich gegen die Person eines Königs oder das Königtum insgesamt. Trotzdem ist sich Ernst sicher, die richtige, von der französischen Regierung gewollte Auslegung des Eides zu kennen: Keineswegs gehe es um Hass gegen Person oder Würde, sondern dieser Eid meine einzig, „die katholischen Religionsdiener zu verbinden, daß sie weder gerade zu noch nebenher etwas thun sollten, um das Königthum in Frankreich wieder herzustellen: eben so wie der Eid von Haß gegen Anarchie ihnen die Pflicht aufgiebt, sich nicht an die Jakobiner anzuschließen“²⁷⁴ und die republikanische Regierungsform nicht umzustürzen. Da es in der Theologie Usus sei, einen zweideutigen Eid stets im Sinne desjenigen auszulegen, der ihn fordere und die Regierung dem beschriebenen Eidsinn nicht widersprochen habe, sieht sich Ernst in seiner Auslegung bestätigt.
271 Ebd., S. 11. 272 „Die Stimme eines oder auch mehrerer auswärtigen Hirten kann nicht zur Richtschnur des Verhaltens für die Priester und Rechtgläubigen der Lütticher Diözese dienen: so lange, als der erste der Hirten nicht gesprochen hat, müssen sie ihren unmittelbaren Obern anhören, ohne Rucksicht auf das zu nehmen, was andere für ihre Diözese anordnen mögen. Das ist ein Satz, der sich auf die Tradition gründet, und den ich, wenn’s nöthig wäre, mit vielen Autoritäten und aus dem KirchenAlterthume genommenen Beyspielen belegen würde.“ Ebd., S. 11 273 Ebd., S. 12. 274 Ebd., S. 15.
346 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Im Vergleich zur Aachener Flugschrift, aber auch zum ersten Text des französischen Eidbefürworters gebrauchte Ernst auffallend wenige oder fast gar keine biblisch-theologischen Argumente. Dass er dazu zweifellos in der Lage gewesen wäre – zumal die als Beleg dienenden Textstellen in den Rechtfertigungsschriften kaum variierten – steht außer Frage. Für ihn scheint die Debatte jedoch in erster Linie eine (kirchen-)rechtliche gewesen zu sein, weshalb er sie möglicherweise auf eine sachlichere Ebene zu ziehen versuchte. Der Trierer Pfarrer Raab als Befürworter der Eidesleistung Die bisherigen Beiträge in der Debatte um den ‚Eid des Hasses‘ hatten sich im Wesentlichen um die dazu ergangene Aufforderung an den ‚belgischen‘ und luxemburgischen Klerus gedreht und waren von Außen in das Erzbistum Trier hineingetragen worden. Mit Johann Emmerich Joseph Raab (1757–1838) bezog nun erstmals ein Pfarrer einer Trierer Pfarrei, der Pfarrei St. Gervasius und Protasius, in der Eidfrage öffentlich Stellung. Anlass für ihn, sich in einem Hirtenbrief an die Mitglieder seiner Gemeinde zu wenden, war der Treueid, der den Zivilbeamten und Geistlichen am 10. Dezember abverlangt worden war. Raab nahm offenkundig an, dass nun auch bald der ‚Eid des Hasses‘ folgen könnte. Zwar war der Hirtenbrief vordergründig an seine eigene Gemeinde adressiert, da aber sein Schreiben ebenfalls bei Buchhändler Schröll gedruckt und vertrieben wurde, sollte es vermutlich einen größeren Rezipientenkreis erreichen. Raabs Position in dieser Angelegenheit war eindeutig, denn er war sich sicher, „daß der von uns vielleicht bald abzufodernde Eid nicht das große Unding sey: wofür man ihn angiebt; und daß man diese Eidesformel ohne alle Gewissens Beschwerniß schwören könne.“²⁷⁵ Er erinnert seine Gemeinde zu Anfang daran, ihnen die wesentlichen Aspekte seiner Sichtweise bereits in „der Christenlehre von dem an die fränkische Geistlichkeit abgeforderten Eide“ vorgetragen zu haben. Damals habe er sie „aus Liebe [zu seinen] benachbarten Mitpastoren“ belehrt, sich nicht auf „jene Verläumdungen einzulassen, welche man vielleicht über dieselben ausstossen würde“, sollten sie das Gesetz befolgen. Da nun wohl auch die linksrheinischen Pfarrer den ‚Eid des Hasses‘ leisten müssten, sei er nun jedoch genötigt, ihnen zu ihrer „reiferen Ueberlegung diese wenige[n] Worte“ zur Zulässigkeit dieses Eides „schriftlich zu übergeben“²⁷⁶. Anschaulich legt er seiner Gemeinde das Dilemma dar, in das er geraten könnte:
275 Johann Emmerich Joseph Raab: Hirtenbrief des Pfarrers zu Sankt Gervasius und Protasius in Trier an seine Pfarrgemeinde bei Gelegenheit des zu Trier am 10ten Dezember 1797. von den Geistlichen und Zivilbeamten abgefoderten französischen Eides, Trier 1797, S. 2. 276 Jeweils ebd., S. 1.
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Schwöre ich ihn gegen eure Gesinnungen, und wider euren Willen; dann sieht ihr mich als einen Geschworenen an; ihr verachtet, ihr verfolget mich; und ich kann mit allen meinen sonst nützlichen Lehren keine Früchten mehr bei euch bringen; ich werde darum genöthiget, euch zu verlassen. Schwöre ich aber den Eid nicht; dann betrachtet mich die Republik als einen nicht Geschwornen; sie verachtet mich als einen Widerspänstigen und sie verfolget mich als einen für ihre Ruhe Gefährlichen; und ich muß euch dann verlassen. Euch verlassen zu müssen, scheint mir als in jedem Fall mein gesichertes Loos zu werden.²⁷⁷
Damit schildert er zutreffend die Situation, in die viele seiner Pfarrkollegen in Frankreich und den bereits annektierten Gebieten geraten waren. Ein erster Schritt, eine ähnliche Entwicklung zu vermeiden, stellte für ihn der Versuch dar, seine Pfarrgemeinde von seiner Haltung zu überzeugen. Auch wenn Raab aufgrund seines Alters von der Hochzeit der Seminar- und Studienreform der Trierer Priesterausbildung²⁷⁸ nicht mehr profitiert haben dürfte, scheint er ein durch die Aufklärung geprägtes Amtsverständnis vertreten zu haben. So betrachtete er sich selbst offenkundig als Vorbild und Lehrer seiner Gemeinde, welcher er stets fruchtbare und nützliche Lehren vermittelt habe.²⁷⁹ Gleichwohl war ihm bewusst, dass seine Autorität möglicherweise nicht ausreichte, um in einer so heiklen Sache von der selbstverständlichen Gefolgschaft seiner Gemeinde ausgehen zu können. Darum appelliert er fast schwärmerisch an das feste Band, dass stets zwischen ihnen bestanden hätte und warnt vor dessen Bruch, der „gewiß die traurigsten Folgen nach sich“²⁸⁰ ziehen würde. Seine Argumentation, weshalb der Eid zulässig sei, baut Raab auf dem „Grundsatz“ auf, dass die französische Republik „als Eroberinn“ prinzipiell das Recht habe, „von den Eroberten sich den Eid der Treue leisten zu lassen“, sofern „die Eidesformel, die sie uns dazu vorlegt, […] nichts in und an sich [habe], was der katholischen Religion zuwider wäre.“ Wenn diese Annahme zutreffend sei, sei die Eidesleistung eine reine Pflicht des Eroberten gegen den Eroberer und im Übrigen „das einzige Mittel, ruhig untereinander zu verbleiben, und ungestört unsre Gottesdienste zu verrichten“²⁸¹. Damit leitet auch ihn in erster Linie der Wunsch, eine Spaltung sowohl des Klerus als auch zwischen Pfarrern und Gemeinden zu vermeiden und die freie Gottesdienstausübung weiter zu sichern. Ähnlich wie
277 Ebd., S. 1 f. 278 Zur Reform der Priesterausbildung siehe Kapitel 3.2. 279 Er sieht sich selbst als unumschränkter Mittelpunkt seiner Pfarrgemeinde: „Und was mich dabei so kindlich tröstete, war: daß ihr so gern um mich herumstandet; so aufmerksam meine Stimme hörtet; und wie um die Wette euch beeifertet, euch recht fest an mich zu schließen; sollte es auch euer Leben kosten.“ Raab: Hirtenbrief (wie Anm. 275), S. 2. 280 Ebd., S. 2. 281 Jeweils ebd., S. 2.
348 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Schröll es in seinem Vorwort formulierte, ist für Raab die Eidesleistung nur eine politische Notwendigkeit, die sich aus der Eroberung durch eine fremde Macht ergibt. Seine Zustimmung resultiert nicht zwangsläufig aus seiner Anhängerschaft an die Republik, sondern aus dem Wunsch, die wahrgenommene Bedrohung für die Religion möglichst gering zu halten. Deshalb bereitete ihm der einfache Treueid auf die Republik vom 10. Dezember keinerlei Probleme, da er sie als faktische neue Machthaberin akzeptierte. Ausdrücklich stellt er gegenüber seiner Gemeinde jedoch klar, dass dieser Eid sich völlig vom ‚Eid des Hasses‘ unterscheide, da er im Gegensatz zu diesem „so simpel, so offenbar klar unbedenklich“ war, „daß er kaum möge erwähnet werden.“²⁸² Bevor er sich den inhaltlichen Forderungen des Eides vom 5. Fructidor zuwendet, deutet er an, dass er auch diesen für „eine blos bürgerliche Versicherung der Treue gegen“ die Republik hält und nicht für einen „wahren Religionseid“²⁸³. Schließlich verzichte die Eidesformel auf einen Gottesbezug. Er sieht den Eid damit als rein „weltlichen Rechtsakt“²⁸⁴, der zwar trotzdem Verbindlichkeit besitzt, aber weder Gott noch „etwas Göttliches zum Zeugen der Wahrheit“²⁸⁵ anrufe. So sei es „nicht so sehr [der] innerliche[…] Gewissenszwang, als die Wachsamkeit und die Schärfe des Gesetzes“²⁸⁶, die seine Einhaltung sicherstellten. Ihm scheint jedoch bewusst zu sein, dass diese rein säkulare Interpretation des Eides bei seinen Kritikern nicht verfangen wird. Deshalb versucht er – gesetzt, es handle sich doch um einen Religionseid – die Zulässigkeit der Eidesformel Punkt für Punkt argumentativ zu belegen. Zunächst wendet er sich der geforderten ‚Treue und Ergebenheit gegen die Republik‘ zu, wohl, weil ihm die Berechtigung dieser Forderung am offensichtlichsten erscheint. So sei die französische Republik längst von den europäischen Mächten als souveräner Staat anerkannt worden, was ihm seit jeher das Recht gebe, „in den Landen, welche ihm durch Kriege, oder auf sonstige Weise zu Theil werden, seine Macht aus[zu]üben, und von deren Bewohneren sich den Eid, ja den Religionseid der Treue leisten [zu] lassen.“²⁸⁷ 282 Jeweils Raab: Hirtenbrief (wie Anm. 275, S. 346), S. 3. Seinen Angaben zufolge musste er versprechen: „Ich schwöre der französischen Republik, als meiner wirklichen Gewalt, treu zu seyn; nichts wider ihr Interesse und Grundsätze zu unternehmen, und meinem Amte nach Gewissen vorzustehen.“ Ebd. 283 Jeweils ebd., S. 3. 284 Stollberg-Rilinger: Rituale (wie Anm. 214, S. 331), S. 104. 285 Raab: Hirtenbrief (wie Anm. 275, S. 346), S. 3. – Insbesondere im Bezug auf die Französische Revolution spricht Prodi davon, dass Eide sich immer mehr zu einem „säkularisierte[n] politische[n] Gelübde“ entwickelt hätten und „als Grundlage der politischen Verpflichtung“ (Prodi: Eid (wie Anm. 214, S. 331), S. XXV, XXIV) weiterhin bedeutsam gewesen seien. 286 Raab: Hirtenbrief (wie Anm. 275, S. 346), S. 3. 287 Ebd., S. 4.
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Dass die Abtretung der Rheinlande an Frankreich zu diesem Zeitpunkt formal noch nicht anerkannt war, spielt in seiner Argumentation keine Rolle. Ausführlicher musste er sich hingegen mit dem Punkt der ‚Treue und Ergebenheit gegen die Konstitution des Jahres III‘ auseinandersetzen. Hatte selbst das Gutachten der Theologischen Fakultät in dieser Hinsicht Vorbehalte angemeldet, stand für Eidgegner wie die beiden Aachener Mönche die Unvereinbarkeit von Verfassung und christlichen Grundsätzen unwiderlegbar fest. Raab hingegen versichert seiner Gemeinde, auch nach gründlicher Lektüre der Verfassung „nicht das geringste der Religion Widriges“²⁸⁸ gefunden zu haben, was ihn aufgrund des Widerstandes mancher Leute selbst erstaunt habe. Indirekt spricht er den Gegnern und Eidverweigerern damit die Glaubwürdigkeit ab, da er ihnen unterstellt, im Gegensatz zu ihm selbst die Verfassung nicht richtig gelesen zu haben. So meine die Formulierung, „[d]as Gesetz erkennet keine Religion“, nicht, dass die Republik religionslos sei, sondern lediglich keiner Religion den Vorzug gebe. Aus pragmatischen Gründen – aufgrund der „Vielheit der Gottesverehrungen“ in Frankreich – findet Raab diese Gleichbehandlung der Religionen sinnvoll, da ansonsten alle gleichermaßen „um Religionsdiener, um Tempeln; um Unterhaltung ihrer Gottesdienste“ betteln würden. Weder verbiete noch gebiete die Republik im Übrigen eine Religion, sondern überlasse es diesen selbst, „durch die Reinigkeit ihrer Lehren, und durch die Fortpflanzung der für den Staat nützlichen Tugenden sich die Hochschätzung und den Vorzug bei allen Gemüthern anzuverdienen.“²⁸⁹ Nach Raabs Interpretation ermöglicht die Verfassung somit einen religiösen Wettbewerb, in dem alle Religionen und Konfessionen ihre Qualitäten und ihren Nutzen beweisen müssen. Das an das Nützlichkeitsdenken der Aufklärung erinnernde Wetteifern um Anerkennung, betrachtete er vermutlich als gute Gelegenheit für die eigene Konfession, sich (wieder) auf ein nicht näher definiertes Wesentliche zu besinnen. Dass die Verfassung nicht den Katholizismus den anderen Konfessionen oder Religionen vorzog, möchte Raab daher als Vorteil verstanden wissen, obwohl – entgegen seiner Darstellung – die Katholiken trotz der Annexionen weiterhin die Bevölkerungsmehrheit stellten. Sicherheitshalber hält Raab darum seiner Gemeinde noch vor Augen, dass die Republik auch einer anderen Religion oder Konfession den Vorzug hätte geben können. Da es sich bei seiner Rechtfertigungsschrift um einen Hirtenbrief handelt, versäumt er in diesem Zusammenhang nicht, seine Gemeinde auf den Verfall der Sitten hinzuweisen und zu einem stärker an der Lehre Jesu ausgerichteten Leben zu ermahnen. Dann würde es ihnen „weniger Mühe als die ersten Christen kosten, den
288 Ebd., S. 4. 289 Jeweils ebd., S. 5.
350 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Vorzug bei allen Nazionen zu gewinnen“²⁹⁰. Diese Rückbesinnung auf die Urkirche sieht er auch durch die Nichtbezahlung der Geistlichen und der Einbehaltung der Zehnten verwirklicht: Indem nun die „Diener von dem Altare leben“ müssten, habe jeder die Gelegenheit „unabgedrungene Opfer der Wohlthätigkeit: wie die der ersten Christen waren, zu entrichten.“²⁹¹ Sämtliche Verfassungsartikel und Gesetze, die auf die Religion Bezug nehmen, helfen aus seiner Sicht, den religiösen Eifer der Gläubigen wiederzubeleben und zu einem von Missbräuchen bereinigten katholischen Christentum zurückzukehren. Auch den Gesetzen, die den Zivilstand betreffen, kann er ausschließlich Positives abgewinnen: So seien Taufe oder kirchliche Trauung immer noch möglich, denn „das Gesetz verbietet uns Christen den Gebrauch der Sakramente nicht“²⁹². Geschickt verweist er immer wieder darauf, dass die scheinbar anstößigen Verfassungsartikel und Gesetze meist nichts verbieten, sondern nur etwas nicht anerkennen würden, weil es in den Rechtsraum der Religion fiele. Dass die Religion damit zur Privatsache wird, mag er zwar nicht begrüßt, aber doch akzeptiert haben. Einerseits wird es ihm als geringeres Übel erschienen sein, andererseits lag für ihn eben gerade in dieser bewussten Entscheidung des Einzelnen für oder gegen religiöse Bräuche und Sakramente die Möglichkeit religiöser Erneuerung begründet. Erst im Anschluss nimmt sich Raab der Formel ‚Hass gegen Anarchie und Königtum‘ an, deren Wortsinn er ebenfalls für missinterpretiert erachtet. Wie auch die anderen Eidbefürworter argumentiert er, dass es bei dem geforderten Hass nicht um die innere Gesinnung, um das Gewissen des Eidleistenden gehe, sondern um einen rein „äußerliche[n] Haß“. Dieser ‚äußerliche Hass‘ beziehe sich allein auf die Handlungen der Menschen und meine nur, alles zu verhindern oder wenigstens nicht zu unterstützen, „was zu seinem bürgerlichen Wohlstand und Ruh, unzuträglich, verhinderlich, oder gar schädlich ist.“ Raab spitzt diese Auslegung dahingehend zu, dass der Hass bloß noch als eine Umschreibung des Selbsterhaltungstriebs erscheint, der auch „unvernünftigen Thieren eigen“²⁹³ sei. Als natürlicher Bestandteil des Menschen kann diese Haltung folglich nicht verwerflich sein, weshalb die Hassformel bedenkenlos geschworen werden könne. Der Pfarrer beschränkt sich allerdings nicht darauf, den Begriff Hass zu verharmlosen und umzudeuten, sondern er gesteht zu, dass auch „der innerliche 290 Raab: Hirtenbrief (wie Anm. 275, S. 346), S. 5 f. 291 Ebd., S. 6. 292 Ebd., S. 7. In Frankreich wurde der Zivilstand bereits 1792 per Gesetz eingeführt, im Rheinland im Juli 1798 (siehe dazu Kapitel 2.3). – Raab unterscheidet in seinem Hirtenbrief nicht klar zwischen Konstitution und Gesetz. Ob er schlecht informiert war oder ihm der Unterschied unerheblich erschien, ist unklar. 293 Jeweils ebd., S. 8.
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Haß des Herzens“ erlaubt sei, „je nachdem die Gegenstände sind, welche uns zu hassen vorgelegt werden.“ Hatten die Aachener Mönche noch mit Verweis auf die christliche Feindesliebe jeglichen Gedanken an Hass als unchristlich zurückgewiesen, hält sich Raab mit derlei ‚theologischen Spitzfindigkeiten‘ nicht auf. Wie auch bei der Frage, ob der Eid ein ‚wahrer Religionseid‘ sei, bietet Raab an dieser Stelle zwei Interpretationsansätze an, um sich möglichst gegen alle Seiten abzusichern. Dass die Anarchie „so verabscheuungswürdig [sei], daß es noch Mühe kostete, sie innerlich und äußerlich nicht zu hassen“²⁹⁴, hält er für selbsterklärend und ist in diesem Fall ausnahmsweise einer Meinung mit den Eidgegnern. In Bezug auf das Königtum fällt es Raab allerdings schwerer, dessen Unrechtmäßigkeit so eindeutig zu begründen, weshalb er die Gottgegebenheit dieser Regierungsform in Zweifel zu ziehen versucht. Erstmals zieht Raab die Bibel als Autoritätsargument heran, um seine These zu belegen: So sei das Königtum anfänglich „eher bei den Heidnischen als bei dem Israelitischen Volke“²⁹⁵ verbreitet gewesen. Gott habe dessen Einführung kritisch gesehen, wie die Geschichte von Saul, dem ersten König der Israeliten, zeige.²⁹⁶ Im Gegensatz zu den anderen Eidbefürwortern müht sich der Pfarrer, eine biblisch begründete Kritik am Königtum zu finden. Die Argumente der Gegner zeigen jedoch, dass sie sich keineswegs ausschließlich auf das Neue Testament stützen, sondern die Einsetzung der Könige durch Gott alttestamentarisch begründeten.²⁹⁷ Mit dieser Textstelle möchte Raab daher nicht nur die ambivalente Darstellung des Königtums in der Bibel verdeutlichen, sondern auch, dass sich die Menschen ihre Regierungsformen schon immer frei gewählt hätten: So hätte es eine Zeit gegeben, in der sich die Menschen „den Einsichten, dem Rathe und dem Schutze eines einzigen Mannes glücklich anzuvertrauen glaubte[n], und also die königliche Regierungsart erwählete[n]; so gab’s auch wieder eine Zeit, wo ein Volk diese Sorge eines Einzelnen für sich allzugefährlich ansah, und sich lieber Einsichten vieler Männer anvertrauen wollte.“²⁹⁸ Diese Zeit sieht er jetzt gekommen. Auch hier argumentiert Raab anscheinend beeinflusst durch die Aufklärung, da ihm die
294 Jeweils ebd., S. 8. 295 Ebd., S. 9. 296 Raab spielt hier auf 1 Sam 8 an: Die Ältesten Israels hätten den Propheten Samuel gebeten, einen König einzusetzen, da die Söhne Samuels, die ihn als Richter ablösen sollten, das Recht beugten und sich bestechen ließen. Samuel habe diese Bitte missfallen, weshalb er sich im Gebet an Gott gewandt habe. Dieser riet ihm, den Wünschen seines Volkes zu folgen, da es sich längst von ihm, Gott, abgewandt habe und neue Götter verehre. 297 Siehe die Anonym: Anmerkungen (wie Anm. 254, S. 341), S. 2, in denen auf 1 Kön 12,16 und 16,3 verwiesen wird. 298 Raab: Hirtenbrief (wie Anm. 275, S. 346), S. 9.
352 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? historische Bedingtheit von Staats- und Regierungsformen und damit die Veränderbarkeit der Verhältnisse bewusst ist. So wären die Franzosen lange zufrieden mit dem Königtum gewesen, aber wahrscheinlich aufgrund der hohen Staatsschulden sei Unzufriedenheit entstanden, weshalb sie nun die Republik präferierten. Über die Berechtigung des französischen Volkes, sich eine neue Verfassung zu geben, möchte sich Raab geschickt kein Urteil anmaßen, sondern mahnt wie zu Anfang seines Hirtenbriefs, die Gegebenheiten zu akzeptieren und die Republik als souveränen Staat anzuerkennen. Wie in Bezug auf die Religion, tritt er auch hier als Warner vor noch größerem Übel auf, sollte es zu einer erneuten Staatsumwälzung kommen. Obwohl er selbst die Eidesleistung mit der Sicherung des Status quo begründet, hält er den umgekehrten Fall – die Verweigerung des Eides, weil die Republik noch Schlimmeres im Sinn haben könnte – für eines Christen unwürdig. So müsse sich dieser nicht vor der Zukunft fürchten. Erneut verfällt Raab an dieser Stelle deutlich in den Duktus des Hirtenbriefs, der ihm angemessen scheint, seine Pfarrgemeinde an ihre schuldige Gehorsamspflicht gegen die Obrigkeit zu erinnern. Indem Raab auf die Treue der ersten Christen sogar gegen „heidnische Kaiser“²⁹⁹ verweist, wird offensichtlich, dass sich die Argumente der Eidgegner und -befürworter innerhalb derselben Deutungsmuster bewegten und nur unterschiedlich interpretiert wurden. Da für ihn die Unterordnung der Priester „in allem Bürgerlichen“³⁰⁰ selbstverständlich und theologisch begründet ist, ist für ihn eine etwaige Eidesleistung selbstverständlich. Am Ende seines Hirtenbriefs äußert Raab daher die Hoffnung, die Gemeinde von der Ungefährlichkeit und Legitimität des ‚Eid des Hasses‘ überzeugt zu haben. Mit religiöser Emphase und doppeldeutig auf die Metaphorik der Aufklärung anspielend, beschwört er das „Licht der Wahrheit“, das sich hoffentlich in seiner Gemeinde erhalten habe. Erst an dieser Stelle kann er sich eines Angriffs auf die Eidverweiger und -gegner nicht mehr enthalten und beschuldigt sie, „unter dem Trügmantel der Liebe für die Religion“ mit „gleißnerischen Reden“³⁰¹ andere ins Verderben führen zu wollen. Mit dem ‚Trugmantel der Religionsliebe‘ spielt Raab auf den von Aufklärern häufig gegenüber Gegenaufklärern und der Geistlichkeit erhobenen Vorwurf an, etwas geschehe nur unter dem ‚Deckmantel der Religion‘, womit ihr Reden und Handeln als bigott und eigennützig entlarvt
299 Raab: Hirtenbrief (wie Anm. 275, S. 346), S. 10. 300 Ebd., S. 11. Er bezieht sich auf den Hohepriester Aaron, der von Gott „in allem Bürgerlichen“ Moses untergeordnet worden sei. 301 Jeweils ebd., S. 12.
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werden sollte.³⁰² Raab zielte darauf ab, einerseits den Eidgegnern ebenfalls die Rechtgläubigkeit abzusprechen und sie andererseits durch angedeutete boshafte Absichten zu verunglimpfen.³⁰³ Obwohl religiöse Erbauung Bestandteil der Textgattung Hirtenbrief ist, bemühte Raab sich um eine sachliche Darstellung seiner Beweggründe. Das Ende seiner Ausführungen zeigt darum, wie moralisch aufgeladen die Auseinandersetzung geführt wurde. Diesem Umstand konnte oder wollte sich auch Raab nicht entziehen. Wie bei Ernst überwiegt jedoch auch bei ihm eine nüchtern-rechtliche Argumentation, die weitgehend ohne den Rekurs auf Bibeltextstellen auskommt. Vermutlich war er von der Aufklärung beeinflusst, was einige seiner Argumente und Ausführungen nahelegen. Die ‚Dichtungen‘ und ‚Ungereimtheiten‘ der Eidbefürworter Das Vorgehen des Trierer Generalvikariats in der Eidfrage sowie die verschiedenen Unterstützungsschriften, die bei Buchhändler Schröll erschienen, wurden auch außerhalb des Erzbistums Trier wahrgenommen und rezipiert. So erschien 1798 in Aschaffenburg die Antwortschrift eines anonymen Eidgegners auf diese positiven Urteile, die ihm, wie seinen Ausführungen anzumerken ist, bestens bekannt waren. Aschaffenburg gehörte zum Kurfürstentum Mainz und wurde nach der Übergabe der Stadt Mainz an Frankreich Ende des Jahres 1797 Regierungssitz. Bei dem Anonymus, der sich selbst im Werktitel ironisch als „aufrichtige[r] Republikaner“ bezeichnete, könnte es sich daher um einen Vertreter der hohen Geistlichkeit des Mainzer Kurfürstentums handeln, der Verbindungen ins Trierer Erzbistum
302 So wird beispielsweise in Haans Zeitschrift gegen Kirn und dessen Anhänger der Vorwurf erhoben, unter dem „Deckmantel der Religion einen Theil der Einwohner von Trier gegen ihre Obrigkeiten, so wie gegen das dermalige System in Harnisch zu setzen, und Unruhe und Zwietracht unter dem friedliebenden Bürger anzuzettlen.“ Haan: Journal 4 (wie Anm. 200, S. 327), S. 58. – Auch das Adjektiv gleißnerisch wurde seit dem 16. Jahrhundert vor allem in der religiösen Polemik gebraucht und verweist auf fromme Heuchelei. Siehe die Angabe ‚gleisznerisch‘ in der Onlineversion des Deutschen Wörterbuchs von Jacob und Wilhelm Grimm: http://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemma=gleisznerisch [abgerufen am 19. 4. 2018]. 303 Am Ende des Hirtenbriefs stellt er klar, den Eid auch gegen den Willen seiner Gemeinde leisten zu wollen, sollte es soweit sein. Er sieht darin nicht nur eine Pflicht zur Verhinderung größerer Übel für die Religion, sondern stilisiert die Eidesleistung zur Erfüllung göttlichen Willens: „Bin ich aber nicht so glücklich, wie ich es herzlich verlange; bringen meine Bemühungen die Vortheile nicht, die ich wünsche; widersetzet ihr euch noch der Eidesschwörung; so könnte ich vieleicht, eurer Schwachheit zu schonen, nicht schwören wollen: aber Gottesruf wird mir eine zu starke Stimme werden, ich werde auch wider euren Willen schwören.“ Raab: Hirtenbrief (wie Anm. 275, S. 346), S. 12.
354 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? hatte oder sogar dort bepfründet gewesen war und aufmerksam von der rechten Rheinseite die Geschehnisse verfolgte. Wie der Autor gleich im Vorwort seiner Schrift deutlich macht, möchte er beweisen, wie wenig der von den Eidbefürwortern „angegebene und erdichtete Sinn sowohl mit dem natürlichen und Buchstablichen Sinn der Eides-Formel, als mit den Absichten der Gesätzgebenden Gewalt, die den befragten Eid begehrt,“ übereinstimme. Insbesondere das Verhalten des Generalvikariats sieht er sehr kritisch, da es vor dem Hintergrund dieser zweifelhaften Eidauslegung völlig „ungereimt […] seine Gewalt und Ansehen dahin verwendet“ habe, die Eidverweigerer „durch wiederholte Zwangmittel zum Eidschwur zu leiten“³⁰⁴. Anlass für den Anonymus, eine eigene Stellungnahme in der Eidfrage zu veröffentlichen, war jedoch das Schweigen der luxemburgischen Eidverweigerer, von denen bislang noch keiner gewagt habe, seine Weigerung „durch einige Bemerkungen zu rechtfertigen“. Diese Furcht sieht er als begründet an: Von der Gegenseite müssten sie „auf öffentlichen Kanzeln, sowohl als in Privat Zusammenkünften die gröbsten und schändlichsten Ausdrücke und Schmähworte“³⁰⁵ erdulden und hätten auch durch das Generalvikariat, ihrer geistlichen Obrigkeit, keine Unterstützung zu erwarten. Er deutet an, dass dieses sich Kompetenzen anmaße, die über seine Gewalt hinausgingen. So habe das Generalvikariat zwar zweifellos das Recht, „die vom Bischofe ihm übertragene Gewalt in allem auszuüben, was die Gerichtsbarkeit oder Jurisdiction betrift“. Jedoch betreffe die Entscheidung über Zulässigkeit oder Unzulässigkeit eines Eides, „der gegen die Religion […] seyn kann“, nicht das „Gebiete der gewöhnlichen Gerichtsbarkeit“. Vielmehr handle es sich um einen „Lehrpunkt, welchen zu Entscheiden die Bischöfe Kraft ihres Amtes und ihrer Würde ausschließlich das Recht haben; ein Recht, daß sie nicht einmal übertragen oder delegieren können“³⁰⁶. Damit widerspricht der anonyme Autor Ernsts Versuch, die Debatte zu versachlichen und den Generalvikariaten stellvertretend oberste Entscheidungsbefugnis in dieser Frage einzuräumen. Für den Anonymus tangiert der Eid nicht allein rechtliche Fragen, sondern verweist ins Dogmatische und damit in den Kompetenzbereich des Bischofs. Aus seiner Sicht hat sich das Generalvikariat daher Machtbefugnisse angemaßt, die ihm nicht zustünden. Deshalb nutze ihm auch die Berufung auf das Gutachten der Fakultät nichts, denn dieses hätte das Vikariat niemals eigenmächtig in Auftrag geben dürfen, wenn es um eine Lehrentscheidung gehe. 304 Jeweils Anonym: Der aufrichtige Republikaner, an die Freunde der Wahrheit oder Bemerkungen über das Betragen des Trierischen General-Vikariats gegen die eidscheuen Geistlichen im ehemaligen Herzogthum Luxemburg, Aschaffenburg 1798, o. S. 305 Jeweils ebd., S. 5. 306 Jeweils ebd., S. 6.
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Dass das Vikariat bislang keinen „besonderen Auftrag, speciale mandatum des Bischofs“ vorgelegt habe, um sein Vorgehen zu legitimieren, sondern ohne Rücksprache mit dem Erzbischof handelte, führt er anscheinend auf die schädlichen Nachwirkungen der „Aufklärung des Emser Kongresses“³⁰⁷ zurück. Hatte bereits Raab am Ende seines Hirtenbriefs andeutungsweise eine Verbindung zwischen Aufklärung und Eidesleistung hergestellt, indem er sich mit dem ‚Trugmantel der Religionsliebe‘ an Deutungsmuster der Aufklärer anlehnte, propagiert der Anonymus diesen Zusammenhang offensiver. Für ihn verantwortet die ‚Aufklärung des Emser Kongresses‘ die Selbstherrlichkeit des Generalvikariats. Aufklärerische Einflüsse scheinen aus seiner Sicht das hierarchische Gefüge der Kirche nachhaltig gestört zu haben. Auch seine Kennzeichnung der Eidbefürworter als „Sectierer“, die für ihre „Neuerungen“³⁰⁸ weder Gründe noch Beweise nennen könnten und deshalb auf Schmähungen zurückgriffen, erinnert an Äußerungen der Gegenaufklärer. „[I]n der Sprache der Religionskämpfe des 16. und 17. Jahrhunderts“³⁰⁹ bezeichneten sie nicht nur Protestanten noch immer als Sekte, sondern auch Aufklärer und ihre ‚Neuerungen‘. So machte der französische Jesuitenpater Augustin Barruel (1741–1820) in seinen Publikationen wiederholt die ‚Sekte der Aufklärer‘ für die Revolution verantwortlich.³¹⁰ Die damit implizierte Gleichsetzung von katholischer Aufklärung und Protestantismus, wird schließlich noch augenfälliger, wenn der Anonymus die katholischen Aufklärer despektierlich als „unser[e] heutigen Reformatoren“³¹¹ bezeichnet. Auch nach der Französischen Revolution gehörte es für Gegenaufklärer weiterhin zur „rhetorische[n] Strategie“³¹², katholische Aufklärer und ihre Reformmaßnahmen oder -vorschläge in die Nähe der Reformation zu rücken. Gezielt suchten sie mit diesen Vergleichen, die „bei Katholiken anscheinend vorausgesetzten reflexartigen Abwehrreaktionen“³¹³ gegen alles scheinbar oder tatsächlich Protestantische abzurufen. 307 Jeweils ebd., S. 8. 308 Jeweils ebd., S. 5. 309 Dumont: Freygeister (wie Anm. 97, S. 129), S. 47. 310 Vgl. Meyer: Epoche (wie Anm. 60, S. 40), S. 179. – Auch Weihbischof Herbain hatte 1793 in seinem Gutachten zur kurfürstlichen Klosterpolitik den schlechten Einfluss der ‚Sekte, die sich den Namen des Aufgeklärten‘ gab, auf die vorherigen Reformen kritisiert, siehe Kapitel 3.1.2. – Der Anonymus wird sich auch auf Pius VI. bezogen haben, der in seinem Breve Quod aliquantum den Aufklärern – den philosophes – unterstellte, für die menschliche Überheblichkeit und letztlich die Revolution verantwortlich zu sein. Vgl. Reinhardt: Pontifex (wie Anm. 288, S. 98), S. 731. 311 Anonym: Republikaner (wie Anm. 304), S. 14. 312 Krenz: Druckerschwärze (wie Anm. 290, S. 99), S. 525, Hervorh. i. Orig. 313 Ebd., S. 525, Hervorh. i. Orig. Krenz bezeichnet diese Strategie sprachlicher Abwertung als Antiprotestantismus-Topos.
356 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Immer wieder verbindet der anonyme Autor seine Kritik am Vorgehen des Generalvikariats mit der angeblichen Beeinflussung durch die Aufklärung: Spöttisch bemerkt er, dass es für derart „aufgeklärte Männer“ anscheinend „all zu niederträchtig“ gewesen sei, sich in der Eidfrage an die anderslautende Entscheidung mehrerer Vikariate und Bischöfe der vereinigten Departements zu halten. Bis zu einem endgültigen Urteil des päpstlichen Stuhls hätte so wenigstens die „Einigkeit in den benachbarten Dioecesen“³¹⁴ beibehalten werden können. Zu einer derartigen Erkenntnis wären die Mitarbeiter des Vikariats anscheinend jedoch nicht fähig gewesen, wie er mit Anspielung auf die Metaphorik der Aufklärung abfällig konstatiert: Sie hätten zwar „selbst Augen“, aber „doch nicht sehen“³¹⁵ können, dass ihr Agieren in dieser Angelegenheit die Spaltung der Kirche nur noch mehr befeuerte. Konsequent kritisiert er jedoch nicht nur die „Grundsätze dieses aufgeklärten Vikariats“, sondern in Bezug auf den ersten Unterwerfungseid auch die „nicht alzu Orthodoxen Lehrsätze“³¹⁶ der theologischen Fakultät. Da die Frage über Zulässigkeit oder Unzulässigkeit des Hasseides bei ihm den Bereich der Dogmatik betrifft, ist es naheliegend, dass er dem Lager der Eidbefürworter die Rechtgläubigkeit abspricht. Obwohl er die Beschlüsse des Emser Kongresses undifferenziert als „verdamlich[…] und schändlich[…]“³¹⁷ verwirft, geht er allerdings bei seiner Kritik an den angeblichen aufklärerischen Einflüssen geschickt vor: Indem er das Generalvikariat des Despotismus bezichtigt, sucht er die Aufklärung mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen, da es deren Vertreter waren, die diesen Vorwurf gegenüber Kirche und Landesherrschaft erhoben. Außerdem erhebt er den Vorwurf, sich mit der unverhältnismäßigen Strafandrohung der Suspension ausgerechnet an den Zeiten der Kirche zu orientieren, die die katholischen Aufklärer doch ablehnen würden: „Ist es nicht in der That lächerlig, daß unsere Aufklärer, die sich für Glaubens und Sitten-Feger angeben, die immer die Wiederherstellung der alten Kirchenzucht im Munde führen, aus den dummesten und am wenigst aufgeklärten Zeiten der Kirche, wie da aus dem Xten Jahrhundert entlehnen, um ihre Grundsätze und ihr Ansehen zu behaupten, was sie selbst an der Kirchenzucht damaliger Zeiten, wie auch an mehrern Päbsten tadlen?“³¹⁸ Absichtlich nennt er als Referenz ausgerechnet den
314 Jeweils Anonym: Republikaner (wie Anm. 304, S. 354), S. 11. Da der anonyme Autor sehnlichst ein Urteil des Papstes erwartete, ist seine Schrift vermutlich Anfang 1798 erschienen und damit vor der Besetzung Roms durch französische Truppen und der Festsetzung des Papstes. 315 Jeweils ebd., S. 11. 316 Jeweils ebd., S. 12. 317 Ebd., S. 12. 318 Ebd., S. 13.
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bei katholischen Aufklärern beliebten Fleury, um die Willkür ihrer Argumentation zu beweisen und ihre Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen. Die Schrift des Lütticher Geistlichen Ernst lehnt der anonyme Autor nicht nur aufgrund dessen Bemühen, die Diskussion auf eine rein (kirchen-)rechtliche Ebene zu heben, ab. Vielmehr beharre Ernst in Übereinstimmung mit dem Generalvikariat nur auf der Gehorsamspflicht der Geistlichen gegenüber ihrer Vorgesetzten, statt stichhaltig zu belegen, warum der Eid und sein Schwur nicht gegen die Religion gerichtet seien. Der Anonymus bestreitet hingegen, dass Gehorsam bedeute, blindlings offensichtlich falschen Entscheidungen zu folgen. Widerstand gegen die kirchliche Obrigkeit hält er für legitim, wenn er sich gegen „alle Neuerungen […] dieser Aufklärer“³¹⁹ richtet. Dass er im umgekehrten Fall ganz anders argumentieren würde, verschweigt er selbstverständlich.³²⁰ Erscheint diese Auseinandersetzung mit Ernsts Schrift zunächst etwas platt, erweist sich der Anonymus im Folgenden als äußerst kundig in der französischen Gesetzgebung. Er legt dar, dass die bei Ernst und anderen Eidbefürwortern zu findende Interpretation, der Hass auf das Königtum richte sich weder gegen die Regierungsform selbst noch gegen die Person des Königs, nicht der vom Direktorium intendierte Eidsinn sei. Vielmehr sei für das Direktorium die Weigerung, „das Königthum in sich selbst [zu] hassen“, gleichbedeutend mit der Verkennung der „Obermacht des Volkes“ und damit ein Angriff auf die „Grundsteinen aller politischen Versammlungen“³²¹. Auch mit dem Versprechen der Treue und Ergebenheit gegen die Konstitution würden die „trierischen Eides-Günstlinge“ zu sorglos umgehen: So unterliege die von ihnen hochgehaltene Gottesdienstfreiheit der Einschränkung, sich den Gesetzen zu unterwerfen: „die Gesätze sind es, die dem Gottesdienste seine Gränzen bestimmen“³²². Dies habe beispielsweise zur Folge, dass eine päpstliche Bulle, ein Dekret oder ähnliches nur nach einem entsprechenden französischen Gesetz anerkannt und verkündet werden dürfe, andernfalls verstoße man gegen die Konstitution. Diese Geringschätzung des päpstlichen Primats, die die Eidesleistung ausdrücke, ist für den Anonymus angesichts der Bedrohung, die er in der französischen Regierung für die Religion sieht, völlig inakzeptabel. Aus seiner Sicht darf kein Katholik einer Regierung die Treue versprechen, „die öffentlich als einen Grund319 Ebd., S. 18. 320 An anderer Stelle beschuldigt er das Generalvikariat, in dieser Sache blinden Gehorsam zu verlangen, obwohl die Aufklärung doch ansonsten diesen Anspruch „in dem Mönchenstand einen wahren Despotismus heissen“ (ebd., S. 44) würde. 321 Jeweils ebd., S. 21. Als Beweis dient ihm ein Direktorialbeschluss, der auf die Eidverweigerung des Erzbischofs von Mecheln reagierte. 322 Ebd., S. 25.
358 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? satz angiebt: eine Religion gelte bey ihr so viel als die andere“, die eingestehe, „ihre Absichten giengen dahin die Priester-Regierung bis auf die letzte Spur aus dem Gedächtniß zu vertilgen“ und die Schulbücher verteile, in denen stünde, „es sey dem aufgeklärten 18ten Jahrhundert und besonders der großen Nation der Franken vorbehalten gewesen, die Vorurtheile und die Lehre des Mannes, der Jesus Christus hieß, und sich für Gottessohn angab, zu stürzen und zu vernichten“³²³. Das Papsttum stellt für den anonymen Autor ein Bollwerk gegen eine weltliche Obrigkeit dar, die die Kirche in ihren geistlichen Angelegenheiten nicht mehr frei entscheiden lasse. Auch das von den Eidbefürwortern wiederholt bemühte Argument, der Eid verlange keine ‚innere Zustimmung‘, sieht er einerseits durch innerfranzösische Debatten und andererseits durch die Realität widerlegt: Niemand könne schließlich „mit gutem Gewissen […] heidnisch leben“ und gleichzeitig „kristlich denken“³²⁴. Auch könne es schlicht nicht erlaubt sein, „eine äusserliche Unterwerfung zu versprechen, wenn die innerliche unzuläßig ist“ oder man zu dieser nicht bereit sei. Für den anonymen Autor ist demnach ein Eid nur dann gültig, wenn der Eidleistende von seinem Versprechen umfänglich überzeugt ist. Den ‚Eid des Hasses‘ ohne echte Überzeugung zu leisten, nur um Ruhe zu haben, lasse sich mit „den Lehrstücken des Evangeliums nicht vereinbaren“³²⁵. Niemals dürfe eine Eidesleistung deshalb „das Resultat phylosophischer Vernünfteleyen“ sein, sondern müsse immer Ausdruck der „Stimme des Gewissens“³²⁶ bleiben. Andernfalls handelt es sich aus seiner Sicht um einen Meineid mit allen damit verbundenen göttlichen Strafen. Für orthodoxe Katholiken war das Konzept von Meinungs- und Gewissensfreiheit wohl schlicht nicht vorstellbar. In ihrem Weltbild gab die Kirche die Glaubensvorstellungen für die Gläubigen vor, Abweichungen waren nicht vorgesehen. Dass der französische Staat diese Freiheiten laut Verfassung gewährte und sich für ‚das Innere‘ seiner Bürger nicht interessierte, musste ihnen vor diesem Hintergrund unglaubwürdig erscheinen. Trotzdem war die Skepsis des Anonymus gegenüber der Auslegung des Eides durch die Befürworter nicht unberechtigt, da die franzö-
323 Jeweils Anonym: Republikaner (wie Anm. 304, S. 354), S. 29. 324 Jeweils ebd., S. 38. 325 Jeweils ebd., S. 39. Mit Ernst stimmt er zwar überein, dass es in der Theologie üblich sei, einen zweideutigen Eid im Sinne des Eidfordernden abzulegen. Allerdings interpretiert er den von den Franzosen intendierten Eidsinn ganz anders als der Lütticher Theologe. Hatte Ernst behauptet, der ausbleibende Widerspruch der Regierung beweise die Richtigkeit der von ihm präferierten Auslegung, verweist der Anonymus auf den Rat der 500, der diese Eidauslegung verworfen habe. 326 Jeweils ebd., S. 45.
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sische Regierung zweifellos eine vorbehaltlosere Loyalitätsbekundung von den Priestern erwartete als mancher es sich einzugestehen bereit waren. Mit der abfälligen Bemerkung über die ‚Vernünftelei‘ zielt der Anonymus erneut auf die Aufklärer ab, zu denen er alle Eidbefürworter einschließlich des Trierer Generalvikariats zählte. Deren Entscheidung auf Basis vermeintlicher Vernunftschlüsse möchte er ad absurdum führen, indem er sie als realitätsfern, der natürlichen Vernunft widersprechend und letztlich als in ihrer Konsequenz gefährlich darstellte. Nur ihre Hybris verleite die Eidbefürworter dazu, andere Pfarrer zur Eidesleistung zu zwingen.³²⁷ Ein Eid ist für ihn stets eine sakrale Angelegenheit, womit er Raabs Versuch, diesen als rein weltlichen Rechtsakt zu interpretieren, entschieden zurückweist.³²⁸ Auch Raabs Hirtenbrief betrachtet der Anonymus als Pamphlet eines Aufklärers. Anders als von Raab behauptet, würden alle Bestrebungen der französischen Republik darauf abzielen, „den puren Deismus“ verwirklichen zu wollen. So schränke sie allein die katholische Religion ein und akzeptiere nur noch eine „blos innerlich und binnen dem Gebiete der Gedanken“ bestehende religiöse Überzeugung, womit er auf die versuchte Verdrängung der Religion aus dem öffentlichen Raum anspielt. Geschickt unterstellt er dem Raab, diesem sei anscheinend selbst eine „blos innerliche Religion zur Seeligkeit gnug.“³²⁹ Er beschränkt sich allerdings nicht darauf, den Pfarrer des Deismus zu verdächtigen, sondern rückt auch ihn in die Nähe des Protestantismus. Er stellt ihn damit in „eine Art ketzerische Ableitungsreihe“, die nicht nur die französische Religionspolitik mit der Reformation gleichsetzte, sondern ebenfalls die katholischen Aufklärer „als Befürworter der französischen Vorgänge ins erste Glied der Verderbnis rückte.“³³⁰ Der anonyme Autor präsentiert sich in seiner Schrift als Vorkämpfer der Orthodoxie. Konsequent grenzt er sich sprachlich gegen die Eidbefürworter ab, indem er sie ausnahmslos mit der Aufklärung verbindet. Allein sie verantworteten die Spaltung der Geistlichkeit, da sie aus „eigenem Wahnwitz […] einen neuen 327 „Nur die tolleranten Philosophen unseres aufgeklärten Jahrhunderts, konnten eines solchen Despotismus fähig seyn. Nur die erhabene Wünsche eines aufgeklärten Vikariats von Trier dahin gehen, das die Geistlichen ohne von ihrer Obrigkeit durch die wahre Gründe und Beweise überzeugt zu seyn einen Eid ablegen sollten, der mit ihrem gewissen Stritt; und doch kommen diese Wünsche mit der Lehre unseres Heylandes vollkommen überein!“ ebd., S. 49–51. 328 An Raab gewandt fragt der Anonymus: „In welchen alten oder neuerm Theolog haben sie denn gelesen, daß der Ausdruck ich schwöre in dem Munde dessen, wer nur immer an einen Gott glaubet, nicht allzeit ein Religions-Eid seye?“ Ebd., S. 50. 329 Jeweils ebd., S. 48. 330 Jeweils Krenz: Druckerschwärze (wie Anm. 290, S. 99), S. 525, Hervorh. i. Orig. – Von diesen Angriffen abgesehen, macht er allerdings zutreffend darauf aufmerksam, dass Raab nicht sorgfältig zwischen Konstitution und Gesetz unterscheidet.
360 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? von der Kirche noch nicht gutgeheissenen Weg eingeschlagen“³³¹ hätten. Diesen Weg konnte aus Sicht des Anonymus nur der Papst vorgeben, weshalb seine Stellungnahme zum ‚Eid des Hasses‘ zwingend hätte abgewartet werden müssen. Angesichts der Bedrohung, die für ihn von der französischen Religionspolitik ausging, erschien ihm der Papst als alleiniger Garant der in dieser Situation notwendigen kirchlichen Einheit. Aus dieser Romtreue heraus erklärt sich auch seine Gleichsetzung von Aufklärern und Eidbefürwortern: Hatten erstere mit den Beschlüssen des wiederholt erwähnten Emser Kongresses ihren Willen, den päpstlichen Primat einzuschränken, unter Beweis gestellt, taten die Eidleistenden und -befürworter mit ihrem eigenmächtigen Handeln nichts anderes. Eindrücklich zeigt die Schrift des Anonymus, dass auch in französischer Zeit das Feindbild Aufklärung bei orthodoxen Katholiken noch immer verfing. Der ‚Eid des Hasses‘ hatte im Erzbistum Trier wie im übrigen Rheinland heftige Diskussionen ausgelöst, obwohl er hier nie geleistet werden musste. Die Grenznähe, das Ausgreifen der Bistums- über Ländergrenzen hinweg sowie die langfristig noch unklar erscheinende politische Lage, machten die Eidfrage auch zu einer Angelegenheit des rheinischen Klerus und der geistlichen Verwaltungen. Die Befürworter des Eides waren nicht zwangsläufig Anhänger der Republik. Vielmehr überwog bei den meisten die Sorge um die Religion und der Wunsch, weitere Restriktionen von Seiten der französischen Regierung zu verhindern. Dieser Aspekt war sowohl für die Beurteilung des Eides durch das Trierer Generalvikariat und die theologische Fakultät wichtig als auch für die Autoren der Rechtfertigungsschriften, die Schröll mit Billigung des Vikariats veröffentlichte. Auch wenn das Generalvikariat nur deshalb unter Androhung der Suspension die Eidesleistung von der luxemburgischen Geistlichkeit verlangte, um eine Spaltung zu verhindern, verwundert es nicht, dass das Vorgehen von Betroffenen und Beobachtern wie dem Aschaffenburger Anonymus als anmaßend wahrgenommen wurde. Übereinstimmend suchten Eidbefürworter und -gegner die Gegenseite als Alleinverantwortliche der Spaltung zu brandmarken. Die Rechtgläubigkeit, die jedes der Lager für sich beanspruchte, stellte dabei den Kern des Streits dar. Konnte in den Augen der Eidgegner nur der ein ‚echter Christ‘ sein, der den Hass auf die gottgewollte Regierungsform des Königtums verweigerte, war es umgekehrt für die Eidbefürworter die Schuldigkeit eines jeden Christen, die gottgegebene neue Regierung anzuerkennen. Beide Positionen ließen sich dabei mit teilweise denselben Bibelstellen theologisch begründen.
331 Anonym: Republikaner (wie Anm. 304, S. 354), S. 53.
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Die biblisch-theologische Argumentation überwog bei den Texten der beiden französischen Eidbefürworter. Ernst war hingegen bemüht, die Diskussion zu versachlichen, indem er die Eidfrage stärker von einer kirchenrechtlichen Seite aus beleuchtete. Diesen Ansatz griff auch Raab auf, wobei bei ihm der Versuch zu erkennen ist, den Eid rein säkular als Rechtsakt eines souveränen Staates zu interpretieren. Seine Beeinflussung durch die Aufklärung merkt man seiner Argumentation vor allem dann an, wenn er etwa die Verfassungsartikel oder andere Religionsgesetze als Anstoß wertete, sich auf wesentliche Glaubensinhalte in der Tradition der Urkirche zurückzubesinnen und Missbräuche abzustellen. Die beiden Aachener Mönche hielten nicht nur die Empfindung von Hass als eines Christen unwürdig, sondern sahen – anders als Raab – in der Verfassung eine Missachtung der christlichen Glaubensgesetze. Allein die Uneindeutigkeit des Eides, die alle Autoren monierten, ließ in ihren Augen den Schwur unmöglich erscheinen. Auch der Anonymus lehnte den Eid ab. Systematisch versuchte er den Eidbefürwortern ihre argumentativen und interpretatorischen Fehlschlüsse nachzuweisen und erwies sich als gut informiert über innerfranzösische Angelegenheiten. Gleichwohl verlagerte er die Auseinandersetzung ins Grundsätzliche, wenn er sie zu einem Konflikt zwischen Vertretern der Aufklärung und der Orthodoxie zuspitzte.
4.1.3 Die Jahre nach 1801/02 – „Wiederherstellung“ der Religion? Auch wenn es aufgrund der ausbleibenden Eidesforderungen im rheinischen Klerus und in den Pfarrgemeinden nicht zu einer derartigen Spaltung kam, wie sie das Generalvikariat im Oktober 1798 für das Wälderdepartement beklagte,³³² hinterließ die französische Kirchen- und Religionspolitik seit Ende 1797 ihre Spuren. In ihrer Radikalität stellte die Reaktion des bereits erwähnten Brunnenmeisters Kirn und einiger seiner Mitstreiter jedoch eine Ausnahme dar: Infolge der verlangten Reunionsadressen und des ‚harmlosen‘ Treueids auf die Republik durch die Beamten hatte sich um ihn ein „Klub von 12. bis 16. Menschen“ gebildet, der die 332 In einem Schreiben an Erzbischof Clemens Wenzeslaus vom 12. Juni 1801 führt das Vikariat aus: „Diese Spaltung wird und kann auch nicht aufhören, bis die Ursache hievon völlig wird gehoben seyn. […] Es wird aber die Ruhe und Ordnung keineswegs hergestellt werden können, es seye dann, daß auch die Nichtgeschworenen die ganz zuverläsig den grösten Anteil an der Spaltung haben und die noch wirklich fortfahren, die Pfarrkinder der Geschworenen wider den Willen ihrer eigenen Seelsorger priesterlich einzusegnen, ebenfalls angehalten werden, ihre verbreitete falsche Grundsätze zu widerrufen, so fort die Geschworenen als wahre Pastores anzu erkennen und die von denselben während dieser Unruhe geschehenen Pfarrverrichtungen als erlaubt und giltig anzusehen.“ BATr Abt. 49 Nr. 8, fol. 208; 210.
362 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? „Sekular- und Regulargeistlichkeit für excommunizirt“ ansah und „Haß wider die Geistlichen überhaupt und besonders wider ihre Seelsorger“³³³ verbreitete. Aus Sicht dieses ‚Klubs‘, wie das Generalvikariat die Gruppe abfällig bezeichnete, verhielten sich die kirchlichen Amtsträger gegenüber der neuen Regierung zu kooperativ, weshalb sie sie nicht mehr anerkannten. Diese Ablehnung hätten sie sogar noch auf dem Totenbett beibehalten, berichtet das Generalvikariat. Auch würden sie „den öffentlichen Gottesdienst verabscheuen“³³⁴, ihre Kinder selbst taufen und andere davon abhalten, die ihrigen in die Schule oder in die Christenlehre zu schicken. Wer dieser Gruppe die Sakramente spendete, ob sie sich selbst dazu berufen fühlte oder Unterstützung durch örtliche (Kloster-)Geistliche erhielt, bleibt unklar. Allerdings deutete das Vikariat an, Kenntnis über Verbindungen der Gruppe zu den nichtgeschworenen Priestern in Luxemburg zu besitzen. Ein solcher Zusammenschluss scheint plausibel, waren doch sowohl Kirn und seine Anhänger als auch die nicht-beeideten Priester gleichermaßen von der Kirche enttäuscht. Für das Generalvikariat standen derartige Aktivitäten beispielhaft für „den hohen Grad des Eigensinnes, vorzüglich des sich frömmer glaubenden Teiles“ der Bevölkerung und Priesterschaft. Dem Erzbischof sollte mit diesem Bericht die Lage vor Ort möglichst dramatisch dargestellt werden, um das eigenmächtige Handeln der geistlichen Verwaltung nachträglich als situationsadäquat zu rechtfertigen. Das konfrontative Vorgehen der „vermeinten Frommen“³³⁵ entsprach dabei nicht der Politik des Generalvikariats, das, abgesehen von Hontheims kurzem Aufbegehren, in dieser Zeit auf Ausgleich bedacht war. Kirn und seine Anhänger standen keineswegs repräsentativ für eine Spaltung der Kirchengemeinde, dennoch hatten die Eingriffe in das religiöse Leben zu Verunsicherung und Unmut unter den Gläubigen und der Geistlichkeit geführt.³³⁶ Das Bild einer angespannten Atmosphäre, welches das Generalvikariat auch für das Saardepartement andeutete, wird daher trotz der Dramatisierung nicht völlig unberechtigt gewesen sein. In diesem Kapitel soll darum der Frage nachgegangen werden, ob Napoleons Machtergreifung in den Augen der Gläubigen und der katholischen Elite zu einer Verbesserung des Verhältnisses zwischen französischem Staat und Kirche sowie Religion führte. Von politischer Seite aus wurde das Konsulat unterschiedlich bewertet: Georg Friedrich Rebmann,³³⁷ der seit 1797 Richter am Revisionsgericht in Trier war, 333 Jeweils BATr Abt. 49 Nr. 8, fol. 208. 334 BATr Abt. 49 Nr. 8, fol. 208. 335 Jeweils BATr Abt. 49 Nr. 8, fol. 208. 336 Siehe dazu Kapitel 4.1.1. 337 Rebmann verdingte sich nach seinem juristischem Studium als Publizist und veröffentlichte zahlreiche Reiseberichte und satirische Texte. Als Aufklärer geriet er mit der Obrigkeit in Konflikt und zog daher mehrfach um. 1796 ging er schließlich nach Frankreich, wo er ebenfalls zunächst
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stellte dem Direktorium ein vernichtendes Zeugnis aus. Statt dem obersten Regierungsziel nachzukommen und dem Allgemeinwohl zu dienen, habe man sich „in einer Menge von Proklamationen, zwecklosen Festen, die im Grunde nur von den Angestellten gefeiert wurden, Neckereien gegen einzelne persönliche Feinde, BriefErbrechungen, CokardenJagd und Dekadenfeiern“³³⁸ verrannt. In Napoleon hingegen sah er den „Held“, der endlich der „Welt die Ruhe, und Frankreich Friede und Glück wiederzugeben“³³⁹ fähig sei.³⁴⁰ Joseph Görres³⁴¹ hingegen, der als überzeugter Republikaner einer der führenden Akteure der Koblenzer Cisrhenanen-Bewegung gewesen war, zollte Napoleon zwar für seine militärischen Erfolge Respekt und bestritt nicht, dass dieser nach Jahren des Krieges und der innenpolitischen Auseinandersetzungen als Einziger die Eintracht wiederherzustellen vermochte. Dennoch sah er den „Zweck der Revolution gänzlich verfehlt“³⁴², da man sich zum Preis des letzten Rests an Freiheit nun wieder „einem Charakter einem Geiste in die Arme“³⁴³ werfen würde. Napoleon war für ihn ein „räthselhafte[s] Wesen“: Die einen würden ihn als „Genius der Freyheit“
als Publizist tätig war. 1798 nahm er einen Posten in der neuen Departementsverwaltung an und blieb bis zum Ende der französischen Herrschaft in Staatsdiensten. Überzeugt vom französischen Rechtssystem, ging er nach dem Einmarsch der preußischen Truppen in die bayerische Pfalz, weil „er das Erbe der Revolution in dem Rheinbundstaat am ehesten gesichert“ (Clemens: Notabeln (wie Anm. 116, S. 311), S. 165) sah. 338 Georg Friedrich Rebmann: Blick auf die vier neuen Departemente des linken Rheinufers in Hinsicht auf Kunstfleiss, Sitten und Maasregeln betrachtet, welche zu ihrem Glück erforderlich seyn möchten, Coblenz und Trier 1802, S. 40 f. 339 Jeweils ebd., S. 42. 340 Rebmann zufolge habe Napoleon vom „ersten Augenblicke den Plan seiner Regierung“ gezeigt: „Festigkeit ohne Härte, Regierung fürs Volk, aber nicht Regierung durch den Pöbel, Ausübung der Grundsätze, auf welchen die Revolution beruht, aber nicht gewaltsame Ausführung von Idealen, für welche der Volksgeist nicht reif ist; Benutzung aller Talente zum allgemeinen Besten, Belohnung und Stabilität der StaatsAemter, aber ohne Erblichkeit und Unverantwortlichkeit, Einfachheit und Zutrauen in der Verwaltung.“ (ebd., S. 42–43). Bereits einige Jahre später gelangte Rebmann allerdings zu einem deutlich reservierteren Urteil, vgl. Guido Groß: Der Napoleonkult in Trier, in: Dühr [Hrsg.]: Trikolore (wie Anm. 61, S. 17), S. 721–744, hier S. 728–729, 737. 341 Zu Görres siehe Kapitel 4.1.1, Anm. 116. – Görres sollte als Teil einer Deputation der rheinischen Departements in Paris für die staatsrechtliche Vereinigung mit Frankreich werben sowie auf Missstände aufmerksam machen. Überrascht vom Staatsstreich, reisten schließlich nur Görres als Vertreter des Rhein-Mosel-Departements und Rudolf Eickemeyer (1753–1825), der das DonnersbergDepartement vertrat, nach Frankreich. 342 Joseph Görres: Resultate meiner Sendung nach Paris im Brumaire des achten Jahres, Koblenz 1800, S. 71. 343 Ebd., S. 72.
364 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? feiern, die anderen versprächen sich von ihm hingegen die Wiedervereinigung von „Thron und Altar“³⁴⁴. Erste Entspannung im Verhältnis zur Kirche Genau diese Annäherung zwischen Thron und Altar schien sich mit Beginn der napoleonischen Konsulatsregierung anzudeuten: Aus machtpolitischen Erwägungen wollte Napoleon den Teil der katholischen Elite – vor allem den Pfarrklerus –, der die Politik der letzten Jahre als Versuch der Dechristianisierung wahrgenommen hatte, wieder mit dem Staat versöhnen.³⁴⁵ So versprach er sechs Monate nach dem Staatsstreich vom 18. Brumaire VIII (9. November 1799) am 5. Juni 1800 vor dem versammelten mailändischen Klerus, künftig „allezeit und mit allen Mitteln die katholische Religion zu schützen und zu verteidigen.“³⁴⁶ Aus diesem Grund wollte er sich gemeinsam mit dem neugewählten Papst Pius VII. um eine Versöhnung zwischen Frankreich und dem römischen Stuhl bemühen. Bereits kurz nach Antritt seiner Regierung als erster Konsul³⁴⁷ beendete Napoleon die Verfolgung und Verbannung derjenigen Priester, die den ‚Eid des Hasses‘ verweigert hatten. Auch musste der Dekadi seit Juli 1800 nur noch von staatlichen Funktionsträgern eingehalten werden. Kirchen, die zu Dekadentempeln umfunktioniert worden waren, sollten für die Ausübung des Gottesdienstes wieder zur Verfügung stehen.³⁴⁸ Napoleon hatte mit seiner Rede vor dem italienischen Klerus bezweckt, dass seine Ausführungen in ganz Europa bekannt wurden. Ausdrücklich wandte er sich an den Klerus und „würdigte die persönlichen Leiden und die materiellen Schäden, die Geistliche in den zurückliegenden Jahren hatten hinnehmen müssen, und versicherte nachdrücklich, daß geistliche Personen fortan unantastbar, von allen geachtet und finanziell abgesichert sein würden.“³⁴⁹ Sowohl sein öffentlicher Auftritt als auch „der Inhalt seiner Rede implizierten, daß die Neuerungen sich 344 Jeweils Görres: Resultate (wie Anm. 342, S. 363), S. 14. 345 Zu Napoleons Absichten siehe Kapitel 2.3. – Vgl. auch Laux: Patrozinium (wie Anm. 312, S. 105), S. 365 f. 346 Wagner: Kirchenpolitik (wie Anm. 287, S. 98), S. 201. 347 Nach Verabschiedung der Konsulatsverfassung am 13. Dezember 1799 verfügte Napoleon als erster Konsul über weitreichende Kompetenzen. Seine beiden Mitverschwörer, Emmanuel Joseph Sieyès (1748–1836) und Roger Ducos (1747–1816), die zunächst als Mitkonsuln fungiert hatten, wurden durch Jean-Jacques Régis de Cambacérès (1753–1824) und Charles-François Lebrun (1739–1824) ersetzt. Sie hatten nur eine beratende Funktion. Die in der Verfassung festgeschriebenen drei Kammern – Senat, Tribunat und Gesetzgebende Körperschaft – übten ebenfalls „keine mitbestimmende Macht aus.“ Kuhn: Revolution (wie Anm. 200, S. 73), S. 151. 348 Vgl. Wagner: Kirchenpolitik (wie Anm. 287, S. 98), S. 202; Buchholz: Staatskult (wie Anm. 67, S. 18), S. 258. 349 Wagner: Kirchenpolitik (wie Anm. 287, S. 98), S. 208.
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nicht auf Frankreich und nicht auf die katholische Kirche beschränken würden.“³⁵⁰ Die kirchenpolitische Wende, die er einzuläuten versprach, sollte sich auf alle von Frankreich eroberten und eingegliederten Gebiete erstrecken und die dort vertretenen Konfessionen und Religionen gleichermaßen betreffen.³⁵¹ Es war daher naheliegend, dass die katholische Geistlichkeit des Saardepartements mit Napoleons Regierungsantritt die Hoffnung verknüpfte, eine Verbesserung ihrer Situation und Stellung zu erreichen. Da die linksrheinischen Departements allerdings noch immer über einen politischen Sonderstatus verfügten, setzten hier die Verwaltungen aus der Zeit des Direktoriums ihre Arbeit zunächst länger fort als in Innerfrankreich. Die zeitliche Verzögerung, die sich aus der Übertragung der Gesetze ergab, blieb folglich ebenfalls bestehen. Dies wirkte sich insofern auch auf den kirchlich-religiösen Bereich aus, dass beispielsweise der Dekadenkult im Saardepartement noch bis Mitte 1801 und damit deutlich länger als in innerfranzösischen Orten fortbestand. Allerdings beschränkte sich dieser im Rheinland weitgehend auf die Verwaltung, sodass, anders als in Frankreich, die Gottesdienste kaum beeinträchtigt worden waren. Auch die Nationalfeste wurden nun in den vier rheinischen Departements meistenteils aufgehoben, sodass die traditionellen Feiertage „wieder Raum“³⁵² bekamen. Die beginnende Rücknahme der als antireligiös wahrgenommenen Politik schien daher auch hier die Wiederherstellung der alten religiösen Ordnung zu versprechen. Die Trierer Bettelmönche baten sogar bereits im Frühjahr 1800 wieder Almosen sammeln zu dürfen, was ihnen Regierungskommissar Henri Shée (1739–1820) jedoch untersagte.³⁵³ 350 Ebd., S. 209. 351 In Frankreich war der Anteil der Protestanten an der Bevölkerung sehr gering; im Rheinland machten sie rund ein Viertel aus. Die sogenannten Organischen Artikel, die zusammen mit dem Konkordat erlassen wurden, betrafen auch den protestantischen Kultus. Vgl. zu den Regelungen für die Protestanten ebd., S. 204, 214–221. Ausführlich mit der Situation der protestantischen Kirche im Roerdepartement unter Napoleon beschäftigt sich: Becker: Elitenpolitik (wie Anm. 65, S. 17). – Mit der jüdischen Religionsgemeinschaft wurde in einem Entwurf von Dezember 1806 die Einrichtung von Konsistorien vereinbart, „die als Vermittlungsorgane zwischen den einzelnen jüdischen Gemeinden und der Zentralregierung in Paris fungieren sollten. Mit kaiserlichem Dekret vom 17. März 1808 wurde der Entwurf vom 10. Dezember 1806 unter Beifügung von Ausführungsbestimmungen als ‚Reglement‘ veröffentlicht.“ Kraus: Weg (wie Anm. 62, S. 17), S. 309. Ausführlich zur Situation der Juden im Saar-Mosel-Raum in französischer Zeit vgl. Cilli Kasper-Holtkotte: Juden im Aufbruch. Zur Sozialgeschichte einer Minderheit im Saar-Mosel-Raum um 1800, Hannover 1996. 352 Wagner: Revolution (wie Anm. 273, S. 94), S. 277. Nach dem Konkordat war der Sonntag auch für die Beamten wieder Ruhetag. Die revolutionäre Zeitrechnung wurde jedoch erst zum 1. Januar 1806 endgültig abgeschafft und der Gregorianische Kalender wieder eingeführt. – Zum Dekadenkult vgl. auch Stein: Revolutionskalender (wie Anm. 67, S. 18), S. 147, 174. 353 Siehe dazu die entsprechenden Berichte bei Hansen: Quellen Bd. 4 (wie Anm. 237, S. 83), S. 1252–1253 sowie vgl. Müller: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 79.
366 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Auch in Ludwig Müllers Tagebuch finden sich bereits vor der endgültigen Eingliederung der vier rheinischen Departements in Frankreich Hinweise auf eine Entspannung: So hätten im Februar 1801 nicht nur die Kapuziner eine Predigt halten dürfen – diese waren anscheinend von dem seit 1798 bestehenden Predigtverbot ausgenommen worden –, sondern im März auch die Dominikaner sowie anschließend die Franziskaner. Weiter berichtet Müller, dass nachdem „die ganze Zeit, so lang die Franzosen hie seyn, […] Theologie nicht gemacht und mehrere Jahre hiedurch gar kein Unterricht daran gegeben“ worden sei, der zuständige Präfekt im Frühjahr 1801 die Erlaubnis dazu wieder erteilt habe. Am 5. April sei daher „von allen Canzeln verkündet worden: das, wer Lust hätte sich dem geistlichen Stande zu widmen, die sollten sich am angezeigten Ort melden, wo sie den darüber gehörigen völligen Unterricht erhalten würden.“³⁵⁴ Müller spielt hier wahrscheinlich auf die Privatvorlesungen an, die der Theologieprofessor Anton Oehmbs seit 1801 mit Erlaubnis des Präfekten abhalten durfte und die dazu dienen sollten, die Zeit bis zur erhofften Wiedereröffnung des Priesterseminars zu überbrücken.³⁵⁵ Mit dem ihm eigenen Pessimismus urteilt Müller jedoch über diese Entwicklung: „Es war aber schon alles so gleichgültig und kalt, das sich darum im Monath May nur 4 bis 5 eingefunden. Welch eine Veränderung! Sonst zehlte Theologie 100; 180, 2 bis 250 Zuhörer.“³⁵⁶ Die vergleichsweise geringen Zuhörerzahlen werden allerdings weniger auf ein – von Müller unterstelltes – erkaltetes Verhältnis zur Religion zurückzuführen sein. Vielmehr werden viele die unklaren Zukunftsaussichten eines Pfarrers unter französischer Herrschaft davon abgehalten haben, diese Vorlesungen zu besuchen. Im Gegensatz zur kurfürstlichen Zeit, in der sich viele Eltern vom Theologiestudium sowohl ein gutes Auskommen als auch sozialen Aufstieg für ihre Söhne erhofften, waren diese Perspektiven im Frühjahr 1801 noch viel unsicherer. Andere Berufe werden zu diesem Zeitpunkt attraktiver erschienen sein. Ganz anders nahm der aufgeklärte Reiseschriftsteller Friedrich Albert Klebe³⁵⁷ die Situation wahr: Mit Besorgnis stellte er allenthalben ein Wiederaufleben von Prozessionen und Wallfahrten fest und kritisierte, auch unter französischer Herrschaft seien „Bigotterie und Fanatismus […] so sehr, als ehedem“³⁵⁸ im Linksrheinischen verbreitet. Aus seiner Sicht hatten die Franzosen bei der Bekämpfung 354 Jeweils Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1801. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, 25r. 355 Vgl. Reichert: Priesterseminar (wie Anm. 49, S. 37), S. 123. Priesterseminar und Universität waren im April 1798 geschlossen worden, siehe Kapitel 2.3. Zu Oehmbs siehe Kapitel 3.2, Anm. 529. 356 Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1801. Ebd. – Reichert gibt an, dass an den Privatvorlesungen jährlich zehn bis zwölf Kandidaten teilgenommen hätten, vgl. ebd., S. 123. 357 Siehe zu Klebe Kapitel 3.3. 358 Klebe: Reise (wie Anm. 718, S. 264), S. 77.
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von „Aberglauben und Fanatismus“³⁵⁹ völlig versagt. So hätte er es hilfreich gefunden, wenn beispielsweise konsequent die Kreuzwege und Bildstöcke entfernt worden wären.³⁶⁰ Obwohl er dieses Versagen dem Direktorium anlastete, glaubte er nun erst recht nicht mehr auf die Durchsetzung der Aufklärung hoffen zu können: Hätte das Direktorium „das republikanische Thun und Wesen bis zur Abgeschmacktheit getrieben“³⁶¹, verkehre sich nun alles wieder in das andere Extrem. Die Hoffnungen, die die Gläubigen und die Geistlichkeit mit der neuen Regierung verbanden, stellten für ihn einen Rückschritt dar. Vom Standpunkt des aufgeklärt-voreingenommenen Reiseschriftstellers aus hatte sich das Verhältnis der französischen Regierung zu Kirche und Religion zum Negativen zu wandeln begonnen. Napoleon band in den folgenden Jahren die Kirche geschickt in seinen Herrscherkult ein: So waren die Pfarrer verpflichtet, in ihren Predigten für das Wohl der Republik und das der Konsuln zu beten und beten zu lassen. Auch ließ Napoleon in der Folge die Unterzeichnung des Konkordats zusammen mit seinem Geburtstag in Form feierlicher Gottesdienste begehen.³⁶² In seinem ersten Hirtenbrief als Trierer Bischof feierte Carl Mannay ihn als „Helden“, der erschienen sei, die „Spaltungen“ zu beenden, die „Ruhe“ zurückzubringen und „die Religion […] in all ihre Rechte“ wieder eintreten zu lassen. Bewusst erinnerte Mannay an die Zeit des Krieges und des Direktoriums, in der das Pfarrvolk die „kostbaren Vortheile des Schutzes und der öffentlichen Ausübung der Religion“ kennengelernt und in ständiger Unsicherheit gelebt hätten, ob sich die Religion in ihrer „Mitte erhalten würde.“³⁶³ Der Hirtenbrief war eine Aufforderung an die Gläubigen, ihrem Konsul dankbar und vor allem treu ergeben zu sein. Mit der Proklamation des Kaiserreichs steigerte Napoleon seine Inszenierungspraxis, indem er sich „als betont christlicher Herrscher“³⁶⁴ in Szene setzte. Davon zeugte auch seine Rheinreise, die er zwischen Kaiserproklamation und -krönung im Herbst 1804 unternahm: In den Bannern, die Napoleon zu Ehren Gebäude und Straßen der Stadt Trier schmückten, wurde er als Wiederhersteller und Erneuerer
359 Ebd., S. 83. 360 Er bemängelt, „dieß letztere [sei] so wenig in der Republik [geschehen], daß es fast gar nichts zu nennen ist, und die heilsame Aufsicht auf das Pfaffenthum hat seit einem Jahr sehr nachgelassen.“ (Ebd.) – Ab dem Frühjahr 1798 waren religiöse Zeichen in der Öffentlichkeit eigentlich untersagt und sollten entfernt werden (siehe Kapitel 2.3). Dass dies nicht konsequent umgesetzt wurde, deutet sich bei Ludwig Müller an, siehe Kapitel 4.1.1. 361 Klebe: Reise (wie Anm. 718, S. 264), S. 202. 362 Siehe zur napoleonischen Festkultur sowie speziell zu den Feiern am 15. August Kapitel 2.3. 363 Jeweils Blattau: Statuta synodalia Bd. 7 (wie Anm. 306, S. 103), S. 141. 364 Laux: Patrozinium (wie Anm. 312, S. 105), S. 367.
368 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? der Religion gefeiert oder sogar „als Jesse, als Geschenk Gottes“³⁶⁵. Obgleich nicht auszuschließen ist, dass diese Inszenierung bei Teilen der ‚einfachen‘ Bevölkerung und der katholischen Elite verfing, gibt diese zur Schau gestellte Dankbarkeit, die Ausdruck der napoleonischen Propaganda war, allerdings kaum Aufschluss über die ehrliche Meinung der Bewohner. Pfarrer Haas: Wiedererlangung seiner Reputation? Vorsichtig zuversichtlich, mit Beginn des Konsulats seine alte Stellen wiedererlangen zu können, zeigte sich auch der Sehlemer Pfarrer Haas, der 1799 knapp seiner Deportation entkommen war. Seit seiner Verurteilung und Flucht lebte er versteckt und war abhängig von der Unterstützung seiner Freunde und Verwandten. „Da inzwischen die Republ. Regierungs-form in etwa sich abänderte“, schreibt er in Anspielung auf den 18. Brumaire, hätten seine Anverwandten nun Mittel gefunden, seine Restitution erwirken zu können, „die Zufolg erhaltenen Nachricht auch bald erfolgen solle.“³⁶⁶ Dies würde ihm auch die Rückkehr auf seine Pfarrstelle ermöglichen. Doch bei aller Hoffnung, nach dem Regierungswechsel seine Lebensumstände verbessern zu können, zeigt sich Haas skeptisch, ob tatsächlich ein grundsätzlicher Wandel eintreten würde. Er geht vielmehr davon aus, dass die „grundsäze, wider die ich meine Pfarrkinder zu belehren mich verpflichtet hielt, fort dauern ja noch in etwa sich verschlimmern“³⁶⁷ könnten, sodass er erneute Denunziationen und Verurteilungen fürchten müsste. Deshalb zögerte er, ob tatsächlich in seine alte Pfarrei zurückkehren sollte. Seinem Schreiben an den Erzbischof, von dem er sich Hilfe bei der Entscheidung erbat, fügte er darum eine – auch als solche 365 Ria Mager: Zwischen Legitimation und Inspektion. Die Rheinlandreise Napoleon Bonapartes im Jahre 1804, Frankfurt a. M. 2015, S. 181. Obgleich der Ausgleich mit der Kirche und die dadurch bedingten Zuschreibungen Napoleon dazu dienten, die Legitimität seiner Herrschaft vor allem gegenüber der Bevölkerung zu bezeugen, wahrte er auf der Reise gegenüber der Kirche Distanz. Denn in erster Linie sollte signalisiert werden, dass „er seine Herrschaft aus sich selbst heraus legitimierte.“ Ebd., 188. – Die Texte der Inschriften und Banner gibt Johann Anton Schröll in seinem unmittelbar im Anschluss an den Besuch verfassten Bericht wieder: Johann Anton Schröll: Beschreibung der Feierlichkeiten, welche bei der Ankunft und während dem Aufenthalte Ihrer Majestät des Kaisers Napoleon zu Trier statt gehabt haben, Trier 1805, S. 3, 21, 27. – Eine kommentierte und eingeleitete Fassung des Berichts findet sich bei: Hans-Ulrich Seifert: Beschreibung der Feierlichkeiten, welche bei der Ankunft und während dem Aufenthalte Ihrer Majestät des Kaisers Napoleon zu Trier statt gehabt haben. Gesammelt und herausgegeben von Johann Anton Schröll, Buchhändler in Trier, in: Dühr [Hrsg.]: Trikolore (wie Anm. 61, S. 17), S. 671–706. Zum Napoleonkult in Trier vgl. auch Groß: Trier (wie Anm. 340, S. 363). 366 BATr Abt. 49 Nr. 13, fol. 1. 367 BATr Abt. 49 Nr. 13, fol. 1.
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bezeichnete – Pro-Kontra-Liste bei, in der er sorgfältig die Argumente für und gegen eine Rückkehr abwog.³⁶⁸ Die Ankündigungen, die Napoleon im Juni 1800 vor dem Mailänder Klerus gemacht hatte, waren entweder noch nicht zu Haas vorgedrungen oder er schenkte ihnen keinen Glauben. Zweifellos dürfte er hingegen über Geschehnisse wie das gewaltsame Vorgehen der Gendarmerie gegen Prozessionsteilnehmer in Trier³⁶⁹ informiert gewesen sein. Aus seiner Perspektive werden derartige Ereignisse, auch wenn sie abhängig von der konkreten Situation vor Ort und nicht beispielhaft waren, seinen Eindruck einer anhaltenden Gefährdung bestärkt haben. Für eine Rückkehr sprach aus seiner Sicht, dass im Falle des Bekanntwerdens seiner Restitution, die meisten seiner Pfarrkinder diese erwarten und verlangen würden. Da sich viele von ihnen für die Aufhebung seiner Verurteilung stark gemacht hätten, würde ihm ein Fernbleiben verübelt werden. Auch würde er sich von „vielen anderen wohlmeinenden den Tadel zuziehen, als verließe ich meine Pfarrheerde zu einer zeit wo ich ihr noch nüzlich seyn könnte.“ Haas gibt mit diesem Argument zu verstehen, dass er seine Gemeinde schließlich nicht freiwillig verlassen habe und ihm bewusst ist, dass sie in dieser, von ihm als bedrohlich wahrgenommenen Zeit, seiner Unterstützung bedarf. Vor dem Erzbischof wollte er keinen Zweifel an seinem Pflichtbewusstsein aufkommen lassen. Da Kleriker, die während des französischen Einmarschs zunächst geflohen waren, von ‚standfesteren‘ Geistlichen oft kritisch gesehen wurden, wollte er sich vor derartigen Vorwürfen schützen.³⁷⁰ Obgleich sein Schreiben in erster Linie nur an den Erzbischof gerichtet war, bedachte er auch die Meinung seiner Standesgenossen mit. Ebenfalls erhoffte sich Haas, nach seiner Rückkehr einen Geistlichen aus dem Nachbarort, der nach Haas’ Deportation durch „Volcks-wahl“³⁷¹ die Seelsorge übernommen habe, wieder aus der Pfarrei entfernen zu können. Der Gedanke, ein Pfarrer könnte vom Volk gewählt werden, war ihm völlig fremd. Er bezog sich auf das Breve Charitas, das Papst Pius VI. am 13. April 1791 als Reaktion auf den Eid 368 Er entschuldigte sich unterwürfig bei Clemens Wenzeslaus, ihn mit dieser Angelegenheit direkt zu behelligen. Vom Generalvikariat, gegen das er aus ihm „wichtig scheinende[n] Gründe[n] kein Vertrauen heg[t]e“ (ebd., fol. 2), wie er nebulös bemerkt, erhoffte er sich keine Unterstützung. Möglicherweise misstraute er dem Vikariat aufgrund dessen Haltung zur Eidfrage, die ihm als zu kooperativ gegenüber dem französischen Staat erscheinen musste. Das Schreiben ist auf September 1800 datiert. 369 Siehe Kapitel 4.1.1, Anm. 209. 370 Siehe dazu Pfarrer Varains Selbststilisierung zum ‚guten Hirten‘ seiner Gemeinde, der nicht zurückweicht vor den Franzosen sowie Minolas Haltung gegenüber geflohenen Geistlichen und Religiosen in Kapitel 4.1.1. Auch bei den Konflikten, die die Besatzungszeit unmittelbar auslöste, spielte die Frage, wer geflohen war und wer blieb, eine Rolle, siehe Kapitel 4.1.1. 371 BATr Abt. 49 Nr. 13, fol. 4.
370 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? auf die Zivilkonstitution erlassen hatte. Haas führt aus, dass der Papst darin die Pfarrerwahlen als „kirchenschänderisch und nichtig erklärt“³⁷² habe. Die Argumentation des Papstes aufgreifend, stellt er den anderen Geistlichen als ‚Eindringling‘ dar, der sich auf „kirchenschänderischer-weise“ der Seelsorge bemächtigt habe. Indem er ihn als „affter Seelenhirt“³⁷³ bezeichnet, bringt er seine Geringschätzung für diesen zum Ausdruck und spricht ihm ab, ein ‚echter‘ Seelsorger zu sein. Mit seiner scheinbaren Amtsanmaßung provozierte er für Haas nichts anderes als den Untergang der Kirche.³⁷⁴ Hat er sich bei seiner Pro-Argumentation als aufrechter, seiner Gemeinde eng verbundener und die ‚wahre‘ christliche Lehre vertretender Priester stilisiert, zeigen seine Contra-Punkte, dass er eine Rückkehr jedoch fürchtete. Er geht, wie er bereits in seinem Anschreiben an den Erzbischof bemerkte, nicht davon aus, dass eine grundsätzliche Veränderung seiner Situation eingetreten ist: Durch die Dekrete des Trienter Konzils sei ihm untersagt, jene, die sich „den zehnden, das ist den unterhalt des altars und desselben diener sich zueigne[n]“³⁷⁵, zu absolvieren. Da er sich dieser Vorschrift verpflichtet fühle, würde ihre Anwendung neuen Ärger verursachen. Ebenfalls auf das Konzil verweisend, hält er weiterhin daran fest, dass das Eheversprechen zuerst vor ihm gegeben werden müsse, bevor es der Dorfagent anschließend in das Zivilstandsregister einträgt. Zudem würde er erneut in Streitigkeiten mit dem Sehlemer Lehrer geraten, da sich dieser verpflichtet habe, „keine christliche Lehre bey seinem Schulunterricht mehr bey zubringen“³⁷⁶. Korrekt analysiert Haas, aufgrund seiner Widersetzlichkeit und den sich abzeich372 BATr Abt. 49 Nr. 13, fol. 5. – Er bezieht sich wahrscheinlich auf die Formulierung des Papstes, einige der französischen Bischöfe seien „unrechtmäßig gewählet und gottesräuberisch eingeweihet“ (Blattau: Statuta synodalia Bd. 6 (wie Anm. 125, S. 56), S. 276) worden. 373 Jeweils BATr Abt. 49 Nr. 13, fol. 5. – Zur Bedeutung der Vorsilbe After vgl. den Eintrag in der Onlineversion des Grammatisch-kritischen Wörterbuchs der Hochdeutschen Mundart von Johann Christoph Adelung: http://www.woerterbuchnetz.de/Adelung?lemma=after [abgerufen am 9.5.2018]. Haas greift damit die Formulierung der deutschen Übersetzung des Breves auf, in der unter anderem von „Afterbischöfe[n]“ (ebd., S. 276) die Rede ist. 374 Von der Unrechtmäßigkeit der seelsorgerischen Handlungen dieses Priesters überzeugt, hoffte er, seine Pfarrei von diesem Zustand „heilen“ zu können. An den Gedanken der Heilung anknüpfend, formuliert er den Wunsch, vor allem die Jugend in der rechtmäßigen christlichen Lehre unterweisen zu wollen, um sie auf dem rechten Weg der Papstkirche zu halten. Als letztes Argument führt er schlicht an, „bei [s]einer rückkehr einige nahrung“ (BATr Abt. 49 Nr. 13, fol. 5) verdienen zu können und für seinen Lebensunterhalt somit nicht mehr auf die Barmherzigkeit seiner Freunde angewiesen sein zu müssen. 375 BATr Abt. 49 Nr. 13, fol. 5. Damit wird er die neuen Nutznießer der Einkünfte aus ehemals kirchlichem Besitz gemeint haben. 376 BATr Abt. 49 Nr. 13, fol. 5. Dass er öffentlich die Abschaffung des Religions- und Katechismusunterrichts sowie die Zivilstandsgesetzgebung, die auch Ehescheidungen vorsah, verurteilte,
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nenden Gesetzesverstößen unweigerlich in neue Konflikte mit den staatlichen Stellen zu geraten. Dass sich der Staat seiner Meinung nach in ausschließliche Angelegenheiten der Kirche einmischte, war auch in Zukunft für ihn nicht hinnehmbar. Ob für ihn bereits in kurfürstlicher Zeit der Papst die unumschränkte Autorität darstellte oder ob er diese Stellung erst angesichts der Bedrohung durch die republikanische Gesetzgebung erhielt, kann nicht geklärt werden. Zumindest weist ihn in französischer Zeit seine Verteidigung der kirchlichen Hierarchie und kirchenrechtlicher Normen als orthodoxen Katholiken aus. Indem er in einem zweiten Schreiben an den Erzbischof Ende Februar 1801 von der „f. philosophischen regierung“³⁷⁷ spricht, wird ersichtlich, dass er die Aufklärung – die Philosophie – für die Revolution, die Republik und die (scheinbar) in ihrem Sinne beeinflusste Religionsgesetzgebung verantwortlich machte. Zu diesem Zeitpunkt hatte er erfahren, dass der Preis für seine Rückkehr die Unterzeichnung eines Treueversprechens an die Konsulatsverfassung darstellte.³⁷⁸ Dabei bezieht er sich auf ein Schreiben des zuständigen Präfekten, demzufolge deportierte Priester in die vier rheinischen Departements nur nach Erlaubnis des Polizeiministers und nach einem vorherigen Treueversprechen zurückkehren dürften. Dazu sah sich Haas jedoch außer Stande, da er somit aus seiner Sicht öffentlich die Zustimmung zu allen französischen Gesetzen ausgedrückt hätte. Diese Gesetze der ‚philosophischen Regierung‘ stünden jedoch in offenbarem Widerspruch zu „den kirchlichen sazungen und conciliarischen Verfügungen der catholischen Religion“. Es könne ihnen klar entnommen werden, dass der Regierung „um nichts mehr zu thun seyn, als die catholische Religion zu befehden, zu unterdrücken, zu verfolgen und gänzlich auszurotten“³⁷⁹. Er wiederholte damit die Vorwürfe, die er bereits fünf Monate zuvor gegen die Franzosen erhoben hatte und mit denen er sein widersetzliches Verhalten begründete. Das Wiederaufleben einer längst überwunden geglaubten Frömmigkeit, dass der aufgeklärte Reiseschriftsteller Klebe zu einem ähnlichen Zeitpunkt glaubte, beobachten zu müssen, kommt in der Wahrnehmung des Pfarrers Haas nicht vor.
waren einige der Gründe, weshalb gegen ihn die Deportationsstrafe verhängt wurde, siehe Kapitel 4.1.1. 377 BATr Abt. 49 Nr. 13, fol. 13. – Haas hatte auf das erste Schreiben noch keine Antwort erhalten, weshalb er sich erneut an den Erzbischof wandte. 378 Grundlage dafür war eine am 28. Dezember 1799 in Frankreich erlassene Verordnung, die „die vorgeschriebenen Eide durch ein simples Treueversprechen gegenüber der Verfassung ersetzte[…]“. Krenz: Druckerschwärze (wie Anm. 290, S. 99), S. 134. 379 Jeweils BATr Abt. 49 Nr. 13, fol. 13.
372 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Damit stellte für ihn nicht nur die napoleonische Herrschaft keine religionsund kirchenpolitische Wende dar, sie war für ihn offenkundig auch bei der Bewertung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche nicht wichtig. Der Regierungsund Verfassungswechsel änderte für ihn nichts an der Kirchen- und Religionsfeindlichkeit, die er dem französischen Staat generell unterstellte. Auffällig ist auch, dass sich Haas ausschließlich auf den verstorbenen Papst bezieht, um den vermeintlichen Untergang der katholischen Religion zu belegen. Der seit März 1800 amtierende Nachfolger, Pius VII., findet hingegen keinerlei Erwähnung. Dies könnte einerseits einfach darin begründet liegen, dass es von diesem keine entsprechenden Breven gab, auf die sich Haas hätte beziehen können. Andererseits ist auch denkbar, dass er – obwohl sich der neue Papst mit seiner Namensgebung in die Nachfolge seines Vorgängers stellte – diesem gegenüber Vorbehalte hegte, weil es sich bei ihm um einen Kompromisskandidaten handelte.³⁸⁰ Haas gibt zu verstehen, dass er seine Bedenken gegen das Treueversprechen nicht für seine individuelle Angelegenheit hält, sondern kein Christ und erst recht kein katholischer Priester sich mit einer Regierung gemein machen dürfe, die so offensichtlich gegen Kirchensatzungen verstoße. Die Argumentation, es handle sich bei diesem Eid um eine „civil-sache“, die man ihm als Priester und Bürger abverlangen könne, lässt er nicht gelten. Der Gedanke der bürgerlichen Gleichheit ist für ihn anscheinend derartig abwegig, dass er sich damit gar nicht weiter aufhält. Er wendet die Argumentation direkt ins Grundsätzliche: Die französische Regierung würde die kirchliche Hierarchie verkennen und mit ihren Gesetzen das in der Nachfolge der Apostel bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Papst und Bischöfen fortdauernde „Regiment eclesia“ zerstören. Das simple Treueversprechen ist für ihn nur ein weiterer Angriff des Staates auf die (geistliche) Herrschaft der Kirche. Er mochte nicht wahrhaben, dass ausgelöst durch die Französische Revolution eine grundlegende Verschiebung der Macht zwischen Kirche und Staat eingetreten war, die nun auch die rheinischen Departements betraf. Dort waren die katholische Kirche und Religion durch die kirchenpolitischen Maßnahmen der Franzosen spätestens seit 1798 „nicht länger mehr staatlich etablierte, politisch, sozial, ökonomisch und kulturell privilegierte Einrichtungen […], sondern solche, die innerhalb eines vorgegebenen gesetzlichen Rahmens zu agieren hatten und ihre Interessen immer wieder gegen die Ansprüche und Eingriffe des Staates verteidigen mußten.“³⁸¹
380 Zu Pius VII. als Kompromisskandidaten siehe Kapitel 2.3, Anm. 288. – In einer Homilie hatte er 1797 „die Vereinbarkeit von Kirche und Demokratie“ (Krenz: Druckerschwärze (wie Anm. 290, S. 99), S. 134, Anm. 683) festgestellt. 381 Müller: 1798 (wie Anm. 7, S. 3), S. 227.
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Haas selbst sah sich als Opfer dieses Umbruchs. Indem er seine Verfolgung als eine Art ‚modernes‘ Martyrium umdeutete, versuchte er ihr einen höheren Sinn zu verleihen. So vergleicht er seine Situation mit der des Paulus: Dieser habe zwar gelehrt, man solle den weltlichen Oberen stets gehorsam sein, habe dies aber gegenüber dem römischen Kaiser Nero (37–68) selbst nicht getan. Stattdessen habe sich Paulus „lieber den Kopf abschlagen“ lassen als „den ungerechten, gottlosen, und der Kirche zu wider laufenden befehle[n] des Kaysers“³⁸² Folge zu leisten. Haas zieht darum aus dem Martyrium des Paulus die Lehre, dass es sehr wohl Fälle gebe, in denen ein Christ der weltlichen Obrigkeit den Gehorsam verweigern müsse, um den eigenen Glauben zu verteidigen. Die Parallelen zwischen den Maßnahmen der römischen Kaiserzeit gegen die Christen und denen der französischen Zeit liegen für Haas dabei klar auf der Hand. Ansatzweise scheint er an dieser Stelle auszutesten, inwieweit er zu seinen Gunsten „symbolische[s] Kapital“³⁸³ aus seiner eigenen ‚Märtyrer-Geschichte‘ schlagen kann. Für Haas ist eine Einmischung der französischen Regierung in kirchliche Angelegenheit absolut unzulässig, weshalb er jegliche Verteidigung in diese Richtung als Ketzerei wertet. Bestätigt fühlte er sich nicht nur durch das Evangelium, das die Kirchenregierung dem Papst und den Bischöfen anvertraut habe, sondern auch durch die Historie: So sei schließlich bereits im Falle Englands die Unterordnung der kirchlichen unter die weltliche Macht verdammt worden, womit er auf Heinrich VIII. (1491–1547) und die Gründung der anglikanischen Kirche anspielt. Im Gegensatz zu dem anonymen Eidgegner aus Aschaffenburg, der wiederholt den Emser Kongress als Beginn einer fehlgeleiteten Entwicklung innerkirchlichen Ungehorsams stilisierte,³⁸⁴ sieht Haas keinen Zusammenhang zwischen der Missachtung des Papsttums und staatskirchlichen oder episkopalen Strömungen der Vergangenheit. Die Mitverantwortung, die er im Konflikt zwischen Staat und Kirche der Aufklärung beimisst, scheint er in erster Linie auf die französischen philosophes zu beziehen. So ging es ihm nicht darum, sich mit seiner Begründung der eigenen Ablehnung des Treueversprechens an deutschen Befürwortern abzuarbeiten, sondern um die Auseinandersetzung mit der französischen Regierung. Er kritisiert, dass sich die verfassungsmäßige Religionsfreiheit auf Jean-Jacques Rousseau gründe, der die Apostel „schurken und betrüger“ genannt habe und predige, „man solle dem menschen nimmer was von gott noch von einer Religi-
382 BATr Abt. 49 Nr. 13, fol. 14. 383 Carl: Revolution (wie Anm. 13, S. 4), S. 97. 384 Siehe dazu Kapitel 4.1.2.
374 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? on reden,“³⁸⁵ sondern jedes Individuum in Religionssachen seiner natürlichen Freiheit überlassen. Religionsfreiheit bedeutet aus Haas’ Sicht jedoch nichts anderes als „Religionsausgelassenheit, womit man den menschen zum heidentum zu verleiten suchet“³⁸⁶. Als Beweis seiner Theorie gelten ihm die zum Dekadentempel umfunktionierte Trierer Jesuitenkirche und der verbotene schulische Religionsunterricht. Unerheblich ist dabei, dass der Dekadenkult einerseits im Linksrheinischen nie eine allzu große Rolle spielte und der Dekadi in Frankreich längst nur noch von den staatlichen Organen beachtet werden musste. Dass grundsätzlich weder die Ausübung seines Amtes noch sein persönlicher Glaube durch die Religionsfreiheit eingeschränkt werden, sieht er nicht. Für Haas ist diese Freiheit gleichbedeutend mit der Abwesenheit von Religion. Aus diesem Grund beklagt er auch die Beförderung des Heidentums und nicht die des Unglaubens, obwohl als Heiden in der Regel nur Ungetaufte oder Angehörige einer anderen Religion galten.³⁸⁷ Offensichtlich wogen die Eingriffe für ihn so schwer, dass er glaubte, bald die letzten Bindungen der Menschen zur katholischen Religion reißen zu sehen. Da aus seiner Sicht die Eingriffe der französischen Regierung in die Kirchengesetze unerlaubt sind, empört es ihn, dass die Pfarrer, die sich den neuen Gesetzen unterwerfen, geschätzt würden, er selbst aber als „fanaticker und schwärmer“³⁸⁸ gebrandmarkt werde. Dies beweist für ihn die Doppelmoral der gesetzmäßig festgelegten Religionsfreiheit, weil sie eben nicht für jeden gelte, sondern eine bestimmte Gruppe – die der romtreuen Kleriker und Gläubigen – benachteilige. Er rekurriert dabei auf einen von Gegenaufklärern häufig erhobenen Vorwurf, die Aufklärer
385 Jeweils BATr Abt. 49 Nr. 13, fol. 16. – Haas spielt hier vermutlich auf Rousseaus Konzept der religion civile an, das dieser vor allem in seinem Contract social (1762) formuliert hatte. Wesentlich für Rousseau war dabei die staatlich garantierte Glaubensfreiheit und das Verbot der Intoleranz. Im Vordergrund seiner religion civile stand die Anerkennung eines höheren Wesens sowie die Achtung des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze. Der individuelle Glaube sollte hinter dem Anspruch, ein guter Bürger zu sein, zurückstehen. Wegen der in diesem Kapitel enthaltenen Kritik am Christentum rief es in der Folge bei den Zeitgenossen scharfe Ablehnung hervor. Vgl. ausführlich Dagmar Comtesse: Zivilreligion (Rousseau), in: Thomas M. Schmidt/Annette Pitschmann [Hrsg.]: Religion und Säkularisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2014, S. 77–89, hier S. 77–82. – Zu Pius VI. und seiner Haltung zu Rousseau vgl. Reinhardt: Pontifex (wie Anm. 288, S. 98), S. 731 f. 386 BATr Abt. 49 Nr. 13, fol. 16. 387 Vgl. Weitzel: Ungläubige (wie Anm. 98, S. 130), S. 29. 388 BATr Abt. 49 Nr. 13, fol. 18.
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würden die von ihnen postulierte Meinungsfreiheit nur zu ihren eigenen Gunsten missbrauchen und eigentlich ein System der Intoleranz errichten.³⁸⁹ Haas stellt klar, dass er trotz seiner Kritik an der französischen Regierung akzeptiert, dass durch eine Revolution die ‚weltliche Macht in bürgerlichen Sachen‘ in ihre Hände übergegangen sei. Der Christ habe demnach ihre Gesetzgebung im weltlichen Bereich zu akzeptieren. Eine Revolution habe allerdings nur auf die weltliche Seite Auswirkungen, die geistliche Macht bleibe weiterhin den Nachfolgern der Apostel anvertraut. Die Verschränkung von weltlicher und geistlicher Herrschaft, die Haas durch die vormalige Doppelfunktion des Kurfürst-Erzbischof gewohnt war, lehnt er nun entschieden ab. Haas bestand im Grunde auf einer klaren Trennung von Staat und Kirche, wie sie 1795 auch festgeschrieben, aber durch die Politik des Direktoriums immer wieder unterlaufen worden war.³⁹⁰ Hat Haas seine Kritik vor allem an der Politik des Direktoriums festgemacht und nur unterschwellig zu erkennen gegeben, dass er mit Napoleon keine grundsätzliche Wende eintreten sieht, bringt er diesen Pessimismus am Ende des Schreibens an den Erzbischof deutlich zum Ausdruck: So könne er – anders als mancher behaupte – keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Konsulats- und der Direktorialverfassung feststellen. Die einzige Veränderung, die er erkenne, betreffe die Regierung: Statt fünf Direktoren gebe es nun drei Konsuln. Die in den kirchlichen Angelegenheiten erlassenen Gesetze bestünden allerdings weiterhin, sodass er dieser Verfassung keine Treue versprechen könne. Gleichwohl möchte er seine Entscheidung vom Urteil des Erzbischofs abhängig machen. Diese Bereitschaft entsprang vermutlich allein seiner angespannten Wirtschaftslage, da er den Erzbischof ebenfalls darum bat, ihm die erledigte Präbende des Stiftes St. Kastor in Karden zu übertragen. Das Ende des Erzbistums, das wenige Monate später auf das Konkordat folgte, enthob den Erzbischof einer Antwort.³⁹¹
389 Vgl. beispielsweise die Äußerungen Goldhagens: Dumont: Freygeister (wie Anm. 97, S. 129), S. 50. Zur Zensur unter dem Direktorium und Napoleon siehe Kapitel 2.3. 390 Siehe dazu Kapitel 2.3. 391 Den Akten ist nicht zu entnehmen, ob Haas eine Antwort erhalten hat. Es existiert lediglich der Vermerk, sein Gesuch an Weihbischof Pidoll zur Bearbeitung weiterzuleiten, weshalb davon ausgegangen werden kann, dass Haas auf eine erzbischöfliche Entscheidungshilfe verzichten musste. Dem tabellarischen Verzeichnis des Pfarrklerus bei Rönz: Diözesanklerus (wie Anm. 21, S. 8) ist zu entnehmen, dass er wohl seit 1806 eine Pfarrstelle in Trier inne hatte. – Der Erzbischof scheint verschiedentlich Pfarrer unterstützt zu haben, die infolge der Revolution in Not geraten waren. Siehe die Schreiben von Weihbischof von Pidoll an Erzbischof Clemens Wenzeslaus vom 28. Mai 1796 und 12. Dezember 1797, BATr Abt. 49 Nr. 4, fol. 55–58; 66–69.
376 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Reaktion auf Frieden von Lunéville und Konkordat Den Anfang Februar 1801 in Lunéville geschlossenen Frieden zwischen Frankreich und dem Reich thematisiert Ludwig Müller an verschiedenen Stellen seines Tagebuchs. So berichtet er, dass anlässlich dieses Ereignisses in der Liebfrauenkirche ein Te deum laudamus gehalten worden sei, an dem sowohl alle „angesehenen Franzosen“³⁹² als auch die Trierer Geistlichkeit teilgenommen hätten. Das Te Deum, bei dem es sich um einen Hymnus aus dem 4. Jahrhundert handelte, der sich an den frühneuzeitlichen Höfen immer mehr zum musikalischen Herrscherlob gewandelt hatte, war infolge der Revolution in Frankreich durch die Marseillaise ersetzt worden. Nach der Machtübernahme Napoleons wurde hingegen das Te Deum wieder eingeführt und regelmäßig gesungen, was eine Geste der Versöhnung gegenüber den Revolutionsgegnern darstellen sollte: Für sie war es „Ausdruck der in ihren Augen einzig gottgewollten Weltordnung.“³⁹³ Müller begegnete jedoch der sich abzeichnenden Indienstnahme von Kirche und Religion zu Napoleons Zwecken mit Skepsis. Bitter bemerkt er, dass bei den Feierlichkeiten alle vorhandenen Glocken geläutet worden seien, „die sonst bey keinem Kirchen dienst die zeit dieses Krieges durften gebraucht werden.“³⁹⁴ Angesichts der Einschränkungen, die die öffentliche Religionsausübung in den Jahren zuvor erfahren hatte, sah Müller diese Feierlichkeiten offenbar als Ausdruck von Scheinheiligkeit und nicht von Erleichterung über den geschlossenen Frieden an. Am 30. April sei dann die Öffentlichkeit über die vollständige „Vereinigung der 4 Rheindepartementen mit der Französischen Republik durch den Polizeikommissär“ und weitere Offizielle informiert worden. Die entsprechende Proklamation der Konsuln an die rheinische Bevölkerung, die am 21. Juli in Trier verlesen wurde, gibt Müller – wie alle in seinen Augen wichtigen Verfügungen – wortgetreu wieder. In der Erklärung wurden den Einwohnern die Vorteile der Vereinigung für ihre Freiheit und ihr Eigentum vor Augen geführt. Ausdrücklich verwiesen die Konsuln darauf, wie viel dieser Schritt auch für die „Sicherheit und Ruhe des Landes“ bedeute. So unterstünde die Bevölkerung nun nicht mehr „einer Menge kleiner Herrschaften […], die all zu schwach waren um es [das Volk] zu vertheidigen, obgleich stark genug um es zu unterdrücken“, sondern „einer Macht […], welche die Ehre seines Gebietes immer zu behaupten wissen wird.“³⁹⁵ Geschickt vermischten die Konsuln 392 Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1801. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, 18r. – Zur napoleonischen Festkultur siehe Kapitel 2.3. 393 Buchholz: Staatskult (wie Anm. 67, S. 18), S. 279. Vgl. auch Andreas Heinz: Ein ”Te Deum”gegen die Französische Revolution, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 43 (1991), S. 389– 393. 394 Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1801. Ebd., 18r–18v. 395 Jeweils Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1801. Ebd., 15r.
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in der Proklamation so einen Rest revolutionären Freiheitspathos mit dem nach Jahren des Krieges gewachsenen Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung. Wie so oft ließ Müller die Erklärung unkommentiert stehen. Anhand seiner Tagebucheinträge lässt sich jedoch ablesen, dass der rheinischen Bevölkerung die napoleonische Kirchenpolitik widersprüchlich erscheinen konnte: So nennt auch Müller einerseits als sichtbares Zeichen der Überwindung revolutionärer Kirchen- und Religionspolitik, dass im Juli 1801 das Einläuten der Dekaden unterlassen worden sei. Andererseits seien im selben Monat „alle Klöster [der] Stadt wiederum in grosser Verlegenheit und Aengsten“ gewesen, „denn in jedem Closter wurde alles aufgeschrieben.“³⁹⁶ Mit der vagen Formulierung ‚alles wurde aufgeschrieben‘ verweist er auf Besitzverzeichnisse, die die Franzosen wiederholt von den Klöstern anforderten oder durch ihre Kommissare erstellen ließen. Unterschlagungen oder heimliche Verkäufe sollten auf diese Weise verhindert werden. Bereits am 18. Dezember 1800 waren per Dekret alle „geistlichen Häuser, in denen weniger als die Hälfte der zur Zeit des Einmarsches anwesenden Mitglieder lebte“³⁹⁷, säkularisiert worden. Verkauft wurde zunächst nur der bewegliche Besitz, die Immobilien wurden hingegen an den Meistbietenden verpachtet.³⁹⁸ Trotzdem zeigte sich, dass sich die Hoffnungen der Klosterangehörigen, an ihren alten Status anknüpfen zu können, als trügerisch erwiesen. Anders als sein Verwandter bezog der Pfarrer von Longuich, Franz Tobias Müller, in seinem handschriftlichen Manuskript über Die Schicksale der Gottes-Häuser rückblickend klar Stellung zum Frieden von Lunéville und bezeichnete ihn als „schimpflich[…]“³⁹⁹. Er sah diesen anscheinend vonseiten des Reiches als Verrat an. Die „Trierer“, die „als nächste Anwohner jenes beunruhigten Landes, natürlich schon manches mit erfahren und leiden mußten“⁴⁰⁰, seien durch die Vereinigung endgültig in die Angelegenheiten Frankreichs hineingezogen worden. Wenn auch 396 Jeweils Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1801. Ebd., 18v. 397 Müller: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 80. Der erste Schritt in diese Richtung war im März 1798 vollzogen worden, siehe dazu Kapitel 2.3. 398 Vgl. ebd., S. 77–80. 399 Müller: Schicksale (wie Anm. 201, S. 327), o. S. – In seinem Vorwort schreibt Franz Müller, seine Darstellung umfasse die Jahre zwischen 1794 und 1808. Seine Aufzeichnungen sind demnach frühestens ab 1808 entstanden. Er selbst schreibt in Bezug auf das Alter der Kirche des AugustinerKlosters: „Die Kirche mag wohl, wo ich dieses schreibe – 1808 – an die sieben hundert Jahre an Alter gehabt haben.“ (Ebd., S. 197.) Aufgrund des Umfangs von über 500 Seiten wird er jedoch länger daran gearbeitet haben. – Er war der Bruder von Michael Franz Joseph Müller und entweder ebenfalls der Bruder oder der Neffe von Ludwig Müller. Zu den Schwierigkeiten der biographischen Zuordnung Ludwig Müllers siehe Kapitel 4.1.1, Anm. 10. 400 Jeweils ebd., S. 12.
378 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? etwas verklausuliert, bringt Franz Müller so die vorherige rechtliche Sonderrolle der rheinischen Departements zum Ausdruck, die sie von vielen Gesetzen ausgenommen hatte. Weihbischof Pidoll zeigte sich ebenso bestürzt über den Friedensschluss, „da diesem zufolg [s]ein geliebtes Vaterland […] der höchst beglückenden Regierung“⁴⁰¹ des Kurfürsten endgültig entzogen werden sollte. Fünf Monate später berichtete er jedoch hoffnungsfroh, von einem Pariser Priester erfahren zu haben, dass es eine „Übereinkunft“ mit dem päpstlichen Stuhl gebe, die die „Verkündigung der kath. Religion, als herrschender National Religion“⁴⁰² enthalte. Dass das Konkordat, von dem die Rede ist und das am 15. Juli 1801 zwischen Napoleon und Pius VII. vereinbart worden war, das Ende des Erzbistums Trier bedeutete, war Pidoll zunächst wohl nicht bewusst.⁴⁰³ Auch seine Überzeugung, der Katholizismus würde zur ‚Nationalreligion‘ erklärt, stellte insofern einen Irrtum dar, dass das Konkordat den katholischen Kult ‚nur‘ als die Religion der Bevölkerungsmehrheit anerkannte, jedoch nicht zur Staatsreligion erhob. Aufgrund der kirchenpolitisch alles beherrschenden Spaltung des Klerus war Napoleon zwar wesentlich an einer Lösung des Konflikts mit dem Papst interessiert, in die anvisierte „kirchenpolitische Neugestaltung“⁴⁰⁴ wollte er jedoch alle Konfessionen und Religionen gleichermaßen einbeziehen. Die ordnungsstiftende Funktion, die Kirche und Religion aus seiner Sicht innerhalb der Gesellschaft übernahmen, sollte nicht durch die Bevorzugung einer religiösen Gemeinschaft gefährdet werden, wodurch sich andere benachteiligt fühlen könnten. Außerdem war Napoleon mit der Philosophie der Aufklärung vertraut,
401 Brief von Weihbischof Pidoll an Erzbischof Clemens Wenzeslaus, 28. Februar 1801 (Frankfurt). BATr Abt. 49 Nr. 4, fol. 153. – Clemens Wenzeslaus’ kirchliche Oberhoheit bestand noch fort, denn der Friedensschluss sanktionierte völkerrechtlich nur die Eingliederung des ehemaligen Kurfürstentums, was das Ende der kurfürstlichen Landesherrschaft endgültig machte. 402 Brief von Weihbischof Pidoll an Erzbischof Clemens Wenzeslaus, 24. Juli 1801 (Frankfurt). BATr Abt. 49 Nr. 4, fol. 224. 403 Vielmehr plante Pidoll bereits seine Rückkehr ins Erzbistum, die er mit der Spendung des Firmsakraments verbinden wollte. Doch als er im August 1801 von Ehrenbreitstein aus nach Trier aufbrach, wurde er bereits frühzeitig aufgehalten und des Landes verwiesen. Noch im März 1802 hielt er sich daher in Ehrenbreitstein auf, wie aus einem Brief an den Erzbischof hervorgeht (BATr Abt. 49 Nr. 4, fol. 257). Obwohl sich nicht nur Clemens Wenzeslaus beim Papst dafür verwendete, Pidoll zu seinem Nachfolger in Trier zu machen, sondern auch der Präfekt und die Geistlichkeit, nominierte Napoleon ihn stattdessen zum Bischof von Le Mans. Im Juli 1802 trat er sein Amt an. Vgl. Seibrich: Weihbischöfe (wie Anm. 37, S. 34), S. 162–163. 404 Wagner: Kirchenpolitik (wie Anm. 287, S. 98), S. 208. – Siehe dazu auch oben S. 365.
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weshalb er sich möglicherweise zu sehr der Toleranz verpflichtet sah, um die freie Religionsausübung anzutasten.⁴⁰⁵ Vor allem verkannte Pidoll, da er den Inhalt der Beschlüsse noch nicht kannte, die Tragweite des Konkordats für die Klöster: Der Papst verzichtete in Artikel 13 auf eine Entschädigung des Vermögensverlustes, der der französischen Kirche durch die Revolution entstanden war und erkannte faktisch die Säkularisation an. Mit dem Frieden von Lunéville und dem Konkordat waren die notwendigen Voraussetzungen geschaffen, um im Rheinland im Mai/Juni 1802 denselben Schritt zu vollziehen.⁴⁰⁶ Obwohl sich Pfarrer Franz Müller ausführlich in seinem Manuskript mit den Folgewirkungen der französischen Kirchenpolitik auf die geistlichen Einrichtungen auseinandersetzte und die Säkularisation dabei selbstredend eine erhebliche Rolle spielte, differenziert er zwischen diesen Vorgängen und dem Konkordat: Zwar habe beginnend mit dem Konsulat „die Kirche und Religion den größten Verlust an zeitlichen Gütern“ erleiden müssen. Dennoch sei Napoleon derjenige gewesen, der mit Pius VII. „eine heilsame Unterredung und Vereinigung, in Betreff des katholischen Christenthums, und der neuen Verfassung der Bisthümer und Geistlichkeit anfangen, und vollenden konnte.“⁴⁰⁷ Diese wiedererlangte Einigkeit, womit Müller neben der Wiederannäherung von Frankreich und der Kirche auch die Überwindung der Spaltung der (französischen) Geistlichkeit gemeint haben dürfte, war für ihn offensichtlich bedeutsamer als jeglicher Vermögensverlust, auch wenn er diesen noch so beklagte. Vor diesem Hintergrund zeigte er Verständnis, dass im Zuge des Konkordats die bisherigen Bischöfe „aus politischen Ursachen“⁴⁰⁸ ihre Ämter niederlegen mussten. Indem die konstitutionellen Bischöfe ebenfalls zurücktreten mussten, sollte einer-
405 Vgl. ebd., S. 208; Kraus: Weg (wie Anm. 62, S. 17), S. 289. Napoleon beschäftigte sich vor allem mit den Werken Rousseaus und Guillaume Raynals (1713–1796), vgl. Volker Ullrich: Napoleon, 2., Reinbek 2010, S. 19. – Siehe zu Napoleons Motivation, das Konkordat abzuschließen, auch Kapitel 2.3. 406 Zur Durchführung, Umsetzung und der von der Säkularisation ausgenommenen Einrichtungen siehe Kapitel 2.3. Zum Texte des Konkordats und der Organischen Artikel siehe auch: Ernst Walder [Hrsg.]: Staat und Kirche in Frankreich. Bd. 2: Vom Kultus der Vernunft zur napoleonischen Staatskirche, Bern 1953, S. 87–107. – Die linksrheinische Säkularisation nahm insofern eine „historische Sonderstellung“ (Schieder: Säkularisationspolitik (wie Anm. 8, S. 3), S. 86) ein, dass von der Enteignung Kirchen- und Adelsgüter gleichermaßen betroffen waren. Ähnlich wie durch das Konkordat die für die Seelsorge notwendigen Pfarrgüter zurückgegeben wurden, konnte der Adel 1804 sein sequestriertes Eigentum zurückerhalten. Gleichwohl wurde der Großteil der Güter enteignet und in Nationaleigentum überführt. 407 Jeweils Müller: Schicksale (wie Anm. 201, S. 327), o. S. 408 Ebd., o. S.
380 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? seits ein Beitrag zur „neuen religiösen Eintracht“⁴⁰⁹ geleistet werden, andererseits konnte Napoleon so sichergehen, dass sämtliche Mitglieder des Episkopats von ihm ausgewählt und ernannt wurden. Auch Franz Müller scheint den Austausch als notwendigen Ausdruck eines Neuanfangs begriffen zu haben. Er akzeptierte die Ernennung der neuen Bischöfe durch Napoleon, da dieser „nach ehemaliger Art der Könige in Frankreich“ handle und folglich aus Müllers Sicht nur an die Tradition der gallikanischen Kirche⁴¹⁰ anknüpfte. Allerdings ist es Müller wichtig zu betonen, dass Pius VII. den Kandidaten anschließend allein „wegen Fähigkeit der Personen, die Consekration und das geistliche Regiment, verwilligte.“⁴¹¹ Dadurch scheint ihm ein ausreichendes Maß an kirchlichem Einfluss auf die Besetzung der Bischofsstühle gewahrt geblieben zu sein. Er bedauert allerdings, dass aufgrund dieses Beschlusses auch Clemens Wenzeslaus zur Aufgabe seines Bischofsstuhls gezwungen war.⁴¹² Entscheidend für sein positives Urteil über das Konkordat war letztlich, dass er es als die „Ursache“ wahrnahm, weshalb „manche angefangenen, und bisher gedauerte[n] verkehrten Dinge und Gebräuche, von dannen geschaffet, und gänzlich sind vertilget worden.“⁴¹³ Zu diesen ‚verkehrten Dingen und Gebräuchen‘ zählte er etwa das im Juni 1798 an die Seelsorger ergangene Verbot, sich „in Religionsund Kirchen-Kleidung auf offener Straße“⁴¹⁴ zu zeigen und den einhergehenden Auswirkungen auf Krankensalbung, Prozessionen und Begräbnisfeiern. Er kritisierte damit dieselben Maßnahmen zur Verdrängung religiöser Symbolik aus dem Alltag, die auch von Ludwig Müller oder Joseph Haas als Sinnbilder französischer Kirchenfeindlichkeit wahrgenommen worden waren.
409 Krenz: Druckerschwärze (wie Anm. 290, S. 99), S. 138. Mit zwei Breven forderte Papst Pius VII. auf Druck Napoleons den Episkopat am 15. August 1801 zum Rücktritt auf. Dieser Anordnung, die als beispielloser und „unerhörter Eingriff in die gallikanische Kirche empfunden wurde“ (ebd.), kamen 47 eidverweigernde Bischöfe nach; 36 weigerten sich zurückzutreten und wurden vom Papst abgesetzt. Die konstitutionellen Bischöfe traten alle zurück, kritisierten den Vorgang jedoch ebenfalls. „Der neue napoleonische Episkopat, der aus zehn Erzbischöfen und fünfzig Bischöfen bestand, setzte sich aus 16 Bischöfen des Ancien Régime, 12 konstitutionellen Bischöfen und 32 Priestern zusammen, von denen sechs den Eid geleistet hatten.“ Ebd., S. 138 f., Hervorh. i. Orig. Vgl. auch Bernard Plongeron: Von Napoleon zu Metternich, in: ders. [Hrsg.]: Aufklärung (wie Anm. 199, S. 73), S. 621–685, hier S. 621. 410 Damit bezieht er sich auf die 1516 im Konkordat von Bologna getroffenen Vereinbarungen. Siehe Kapitel 2.3, Anm. 290. 411 Jeweils Müller: Schicksale (wie Anm. 201, S. 327), o. S. 412 Siehe ebd., S. 12 f. Den letzten Hirtenbrief des Erzbischofs siehe bei: Blattau: Statuta synodalia Bd. 6 (wie Anm. 125, S. 56), S. 355. Der rechtsrheinische Teil des Erzbistums blieb bestehen. 413 Jeweils Müller: Schicksale (wie Anm. 201, S. 327), o. S. 414 Ebd., S. 119.
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Darüber hinaus erschien Franz Müller die vornapoleonische Gesetzgebung als Ausdruck einer Doppelmoral, da die Regierung selbst „politisch- und heidnische[…] Prozessionen“⁴¹⁵ über mehrere Jahre angeordnet hätte, womit er auf die Revolutions- und Dekadenfeste anspielte. Ähnlich wie Haas verwendet auch er die Formulierung „Philosophische Regierung“⁴¹⁶, um seine Verachtung gegenüber der vorherigen französischen Herrschaft zum Ausdruck zu bringen. Auch er suggeriert damit eine direkte Verbindung zwischen Aufklärung und Revolution sowie deren Folgen. Im Gegensatz zu seinem Amtskollegen differenziert er allerdings zwischen Napoleon und dessen Vorgängern, denn nach der mit dem Papst ausgehandelten Vereinbarung sei die „geistliche Sperrung“⁴¹⁷ beendet worden. Aus diesem Grund scheint er ehrliche Dankbarkeit und Respekt für Napoleon zu empfinden, was sich auf seine Bewertung des Konkordats auswirkte: „[E]ndlich [erhielt] unter dem Regimente der dreien Consuln, deren erster Napoleon Bonaparte ware, die Religion für die Dom- und Pfarrkirchen, nochmal die alte Freiheit“⁴¹⁸. Dass von diesem die Initiative zur Vereinbarung ausgegangen und die Rahmenbedingungen festgelegt worden waren, war Müller bewusst.⁴¹⁹ Gott habe sich Napoleon jedoch als eines „Werkzeuges“ bedient, um den „Nachstellungen“⁴²⁰ gegen die Kirche endlich ein Ende zu bereiten. Indem Müller den Konsul zum Ausführer göttlichen Willens stilisiert, überhöht er ihn jedoch nur auf den ersten Blick. Denn im Grunde ist er für ihn damit nur ein Baustein innerhalb der göttlichen Vorsehung und kein aus seiner eigenen Vollkommenheit heraus Handelnder. Da das Manuskript zumindest während der napoleonischen Regierungszeit begonnen wurde, wird Müller aus Selbstschutz eine allzu offensive Herrscherkritik vermieden haben.⁴²¹ Die Wiederherstellung der ‚alten Freiheit‘, von der er oben emphatisch spricht, ist denn auch nur eine relative: Er deutet selbst an, dass das Konkordat längst nicht für alle kirchlichen Einrichtungen oder Bereiche den status quo ante wiederherstellte. Der Begriff Freiheit war darum im Grunde nur ein Euphemismus, der nur halbherzig überdeckte, dass Müller die gesamte französische Zeit als Vor-
415 Ebd., S. 119. 416 Ebd., S. 302. 417 Ebd., S. 119. 418 Ebd., S. 302. 419 So erwähnt er etwa hinsichtlich des Austausches aller Bischöfe, der Papst habe sich dem Druck des Konsuls beugen müssen: Ebd., S. 12 f. Die Zugeständnisse des Papstes gingen Kaiser Franz II. (1768–1835) und dem Comte de Provence, dem späteren Ludwig XVIII. (1755–1824), zu weit. Vgl. Reinhardt: Pontifex (wie Anm. 288, S. 98), S. 747. 420 Jeweils Müller: Schicksale (wie Anm. 201, S. 327), o. S. 421 Er richtet sich in seinem Vorwort an die ‚vielgeliebten trierischen Bürger‘, weshalb davon auszugehen ist, dass er auf eine große Leserschaft abzielte.
382 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? ausdeutung auf die „letzten Zeiten der Welt“⁴²² wahrnahm. Aus diesem Grund umfassen seine Aufzeichnungen nicht nur die Jahre nach 1801/02, sondern setzen mit der Besatzungszeit ein: Er wollte sowohl die angeblichen Kirchenschändungen durch „gottlose Soldaten“⁴²³ als auch die Umwandlung einiger Kirchen in Magazine und Lazarette sowie die übrige Kirchen- und Religionspolitik seit dem Einmarsch gleichermaßen darstellen. Im Gegensatz zu Franz Tobias Müller vermerkte Ludwig Müller 1802 in seinem Tagebuch lediglich die Bekanntmachung des Konkordats in Trier am 7. Juni desselben Jahres. Im Fokus seiner Aufzeichnung stand in diesem Zeitraum ausschließlich die Säkularisation in Gestalt der Aufhebung aller Abteien, Klöster und Stifte. Haltung zur Säkularisation Allgemein löste die Säkularisation – anders als etwa der Priestereid – im Linksrheinischen jedoch keine breite literarische Diskussion aus.⁴²⁴ Dass die Auflösung der Klöster und Stifte sowie die Veräußerung ihrer Besitztümer „im Rheinland ohne großes Aufsehen“⁴²⁵ verlief, lag einerseits daran, dass sich der Vorgang längst abgezeichnete hatte: Sowohl das Beispiel Frankreichs⁴²⁶ als auch die konkrete Politik der Franzosen im Linksrheinischen hatten die Säkularisation seit 1794 angekündigt. Andererseits schien „die Religionsausübung und die kirchliche Organisation durch das Konkordat gesichert“⁴²⁷, was Geistliche und Laien beruhigte. Die generelle rechtliche Absicherung, die das Konkordat für die Veräußerung des Kirchengutes bedeutete, dürfte darüber hinaus für die katholische Bevölkerung „von erheblicher psychologischer Bedeutung […] gewesen sein, [da sie] beim Kauf von Kirchengut gerade nicht unter der Androhung von Kirchenstrafen und ewigen
422 Müller: Schicksale (wie Anm. 201, S. 327), o. S. 423 Ebd., S. 3. 424 Das heißt allerdings nicht, dass die Säkularisation, die rechtsrheinisch 1803 erfolgte, generell unkommentiert blieb. Es erschien eine Reihe von Beiträgen, die die Rechtmäßigkeit der (Herrschafts-)Säkularisation aus staats- und reichsrechtlicher Perspektive diskutierten. Eine Zusammenstellung findet sich innerhalb: Manfred Brandl: Primärliteratur zur Säkularisation von 1803, in: Albrecht Lagner [Hrsg.]: Säkularisation und Säkularisierung im 19. Jahrhundert, Paderborn 1978, S. 163–195. 425 Kraus: Weg (wie Anm. 62, S. 17), S. 293. 426 Die Aufhebung aller kirchlichen Korporationen vollzog sich nach Ausbruch der Französischen Revolution innerhalb eines kurzen Zeitraums. Vgl. Müller: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 66– 68. 427 Kraus: Weg (wie Anm. 62, S. 17), S. 293. Dieser Aspekt – Sicherung der Religionsausübung und der kirchlichen Organisation – scheinen ja gerade für Franz Müller einen wesentlichen Faktor für die Bewertung des Konkordats dargestellt zu haben.
4.1 Reaktionen auf den politischen Umbruch
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Strafen stand,“⁴²⁸ sondern sich auf das Einverständnis des Papstes in Artikel 13 berufen konnte. Zusätzlich werden die sich ab 1800 verschärfende Zensur sowie der Versuch der Polizei, eine engmaschige Überwachung zu etablieren, Autoren davon abgehalten haben, in Form von Druckschriften öffentlich Stellung zur Säkularisation in den rheinischen Departements zu beziehen.⁴²⁹ Auch, dass bereits auf dem Rastatter Kongress diskutiert worden war, mit Säkularisationen die linksrheinischen Gebietsverluste weltlicher Fürsten auszugleichen, dürfte für eine eher verhaltene Reaktion auf die konkrete Umsetzung dieser Pläne gesorgt haben.⁴³⁰ So war vonseiten linksrheinischer Aufklärer die Säkularisation als vollständige Aufhebung der geistlichen Territorien des Reiches schon zu diesem Zeitpunkt begrüßt worden. Der von Johann Hetzrodt herausgegebene Beobachter an der Saar berichtete ausführlich über die in Rastatt diskutierten Säkularisationspläne. Beinahe frohlockend wird vom 23. Dezember 1798 vermeldet, alles sei „auf die große Entschädigungsperiode gespannt.“ Besonders „Schwaben, welches so reich an fetten Abteien ist“, käme laut dem Beobachter für Säkularisationen in Betracht. Die Rede von den ‚fetten Abteien‘ sollte die gedankliche Verbindung zur Kritik der Aufklärung an der ökonomischen Machtstellung der großen Abteien herstellen 428 Müller: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 81. 429 Zur Zensur unter französischer Herrschaft siehe Kapitel 2.3. – Mit der Wiedererrichtung des Polizeiministeriums 1804, das kurzzeitig aufgelöst und ins Justizministerium eingegliedert worden war, entwickelte sich die Polizei „zum wohlorganisierten […] Überwachungsapparat“. Die Präfekten waren verpflichtet, das Polizeiministerium über alle Vorkommnisse in ihrem Departement zu unterrichten. Interessiert war das Ministerium neben Unglücksfällen, Verbrechen, Verwaltungsschwierigkeiten oder Schmuggel vor allem an „allgemeinen Berichten über den Esprit public, Unruhen, Befolgung der Zensurvorschriften und Aufklärung über vermutetes und tatsächliches konspiratives Verhalten einzelner.“ Von einer lückenlosen Überwachung kann jedoch nicht die Rede sein, da dazu in den rheinischen Departements die „institutionellen und finanziellen Voraussetzungen“ (Jeweils Molitor: Untertan (wie Anm. 6, S. 2), S. 121, 122, 130) fehlten. Insbesondere Kirchenleute wurden von den staatlichen Stellen immer wieder verdächtigt, gegen die Einigung zwischen Staat und Kirche zu opponieren. Vgl. Buchholz: Staatskult (wie Anm. 67, S. 18), S. 322– 325. 430 Im Zuge der Friedensschlüsse von Basel (1795) und Campo Formio (1797) waren – wenn auch zunächst geheim – Entschädigungen für die linksrheinisch erlittenen Verluste angedacht worden, die mit den verbliebenen geistlichen Reichsterritorien erfolgen sollten. Diese Pläne konkretisierten sich mit dem Rastatter Kongress. Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 bestätigte die in Raststatt und Lunéville getroffenen Vereinbarungen und hob – bis auf wenige Ausnahmen – alle rechtsrheinischen geistlichen Territorien als Entschädigungsmasse auf. Darüber hinaus wurde auch die Säkularisation des Vermögens geistlicher Personen und Institutionen gestattet. Zudem wurden in der Folge auch die Reichsstädte und adligen Standesherrschaften mediatisiert. Zur Herrschafts- und Vermögenssäkularisation im Rechtsrheinischen vgl. zusammenfassend: Holzem: Christentum (wie Anm. 11, S. 4), S. 877–896.
384 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? und beim Leser das Zerrbild von fetten und faulen Mönchen aufrufen.⁴³¹ Ähnlich negativ wird über die Prälaten der kleineren Fürstbistümer geurteilt: „Auch verwandeln einige dieser Prälaten, ihr Schicksal ahnend, wie z. B. der von Speier, alles in Geld; andre contrahiren Schulden über Schulden.“⁴³² Die Fürstbischöfe werden damit als Herrscher dargestellt, die allein an ihrem eigenen Wohlergehen interessiert sind und raffgierig ihren Wohlstand sichern wollen. Hetzrodt musste nicht offen aussprechen, dass das Ende der geistlichen Reichsstände zu begrüßen sei. Dass die Herrschaftssäkularisation zu einer entscheidenden Veränderung des Reichsgefüges beitragen würde, ist ihm bewusst: Sobald die genauen Pläne feststünden, trete zutage, nach welchen Maßgaben „Deutschland seine neue Gestalt erhalten soll.“⁴³³ Auch Johann Jakob Haan thematisiert in seinem Journal für das Saardepartement die auf dem Kongress geführte Diskussion über Entschädigungen durch Säkularisationen: So spielte ein von ihm 1798 veröffentlichtes Gedicht, das sich an „alle geistlichen Durchlauchten und Eminenzen“ richtete, auf das mögliche Ende der geistlichen Fürstentümer an: Das lyrische Ich erinnert darin die „Diener Christi“ an den in Joh 18,36 überlieferten Ausspruch: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“. Dieser habe folglich in Armut gelebt, sie hingegen besäßen „manch Fürstenthum“ und würden sich in Samt und Purpur kleiden. Wenn sie ihrem „Meister“ ähnlich werden wollten, dürften sie nicht mehr „als Herrn der Erden“ herrschen, sondern müssten „als Lehrer in der Welt“ wirken. Darum fordere „selbst die Religion Die Sekularisation.“⁴³⁴ Für den Autor des Gedichts stellte die Säkularisation demnach eine religiöse Notwendigkeit dar. Unter dem Anschein, allein um das Wohl der Religion besorgt zu sein, versuchte er, die Abschaffung geistlicher Herrschaft theologisch zu rechtfertigen und zu legitimieren. Er knüpfte an die Kritik der Aufklärung an, die – neben zahlreichen anderen Punkten – vor allem die Doppelrolle der Fürsten als Landesväter und Bischöfe negativ bewertete. Im Mittelpunkt stand dabei das Argument, die Doppelstellung bedinge eine „unzumutbare Ausweitung der Pflichten
431 Siehe dazu beispielsweise Kapitel 3.1 und Kapitel 3.1.2. 432 Johann Baptist Michael Hetzrodt [Hrsg.]: Der Beobachter an der Saar, Trier 1798–1799, Nr. 6. – Vermutlich wurde insbesondere auf den Fürstbischof von Speyer verwiesen, weil Philipp Franz von Walderdorff ehemaliger Dekan und Propst des Trierer Domkapitels gewesen war. Siehe zu ihm Kapitel 2.1. 433 Ebd., Nr. 8. Da Hetzrodt lediglich von einer Neugestaltung des Reiches ausging, nahm er vermutlich keinen Zusammenhang zwischen Säkularisation und Reichsende an, was andere Autoren befürchteten, vgl. Braun: Reich (wie Anm. 134, S. 314), S. 22. 434 Jeweils Johann Jakob Haan: Journal für das Saar–Departement, sechstes Heft, Trier 1798, S. 484.
4.1 Reaktionen auf den politischen Umbruch
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des Herrschers“⁴³⁵, weshalb dieser seinen weltlichen und geistlichen Aufgaben nicht ausreichend nachkommen könne. Auch wenn die Kritiker der geistlichen Staaten unter der Belastung vor allem die Rolle des Klerikers leiden sahen, gingen sie in ihrer Argumentation stets vom Staatswohl aus. Dieser Aspekt spielte jedoch für den Dichter keine Rolle. In seinen Augen waren die Kleriker ausschließlich der Religion verpflichtet. Korrespondierend mit dem Bild der Aufklärung beschrieb er die Priester als die Diener und Lehrer der Religion. Die Zeitschriftenartikel verweisen darauf, dass die Kritik der Aufklärung an geistlichen Territorien und insbesondere am Klosterwesen die Aufhebung der Klöster – zumindest gedanklich – vorzubereiten half.⁴³⁶ So glaubte sich der Aufklärer Michael Franz Joseph Müller noch 1824 für sein historisches Interesse am kurtrierischen Klosterwesen rechtfertigen zu müssen. Stark vom Utilitarismus der Aufklärung und dem Gedankengut der Revolution beeinflusst, stellte er eine Reihe von Beschränkungen auf, die Klöster überhaupt erst „nützlich“ machen könnten: So bestand für ihn nicht nur die Notwendigkeit, ihre Zahl und ihren Besitz zu begrenzen, sondern er wollte sie auch „beschränkt in ihrem Einflusse auf Kirche und Staat, beschränkt in ihrem Umgange mit der bürgerlichen Gesellschaft“⁴³⁷ wissen. Zwar wurde auch in den Mönchsbriefen die politische Einflussnahme von Klöstern kritisiert. Indem Müller jedoch explizit von einer ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ spricht, wird seine Prägung durch die tiefgreifenden sozialen Veränderungen der französischen Zeit erkennbar, in der an die Stelle der Ständegesellschaft der citoyen trat. Obgleich Michael Franz Müller trotz seiner aufgeklärt-republikanischen Grundhaltung vorgab, Klöstern nicht generell ablehnend gegenüberzustehen, bedauerte er die Säkularisation nicht, sondern verzeichnete nur neutral die jeweilige „Auflösung“⁴³⁸ der Einrichtungen im Jahr 1802. Als Jurist wird die Säkularisation für Müller in erster Linie die Umsatzung geltenden Rechts bedeutet haben. Darüber hinaus wird ihm bewusst gewesen sein, dass der Nationalgüterverkauf zu einer beträchtlichen Besitzumschichtung führte, von der nicht zuletzt Bürger des
435 Wende: Staaten (wie Anm. 37, S. 12), S. 23. 436 Insbesondere die Debatte um die Existenzberechtigung der geistlichen Territorien (dazu: ebd.) zeigt, dass sich deren Auflösung „im Urteil der zeitgenössischen Publizistik vollzogen hatte, bevor die Säkularisation begann.“ Wolfgang Burgdorf: Der Untergang der Germania sacra und ihr Rezeptionsschicksal nach 1803, in: SüdWestfalen-Archiv: Landesgeschichte im ehemals kurkölnischen Herzogtum Westfalen und der Grafschaft Arnsberg 3 (2003), S. 61–78, hier S. 62. 437 Jeweils Michael Franz Joseph Müller: Summarisch-geschichtliche Darstellung der klösterlichen Institute unserer Vaterstadt und ihrer Umgebungen, Trier 1824, S. 4. 438 Ebd., S. 5.
386 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Saardepartements profitierten.⁴³⁹ Gerade aufgrund der vergangenen Zeit, wird er vermieden haben, Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Vorgänge aufkommen zu lassen.⁴⁴⁰ Die Säkularisation bei Ludwig und Franz Tobias Müller Auch Ludwig Müller war daran gelegen, in seinem Tagebuch die Veränderungen, zu denen die Säkularisation in der Kloster- und Kirchenlandschaft führte, detailliert zu verzeichnen, um sie so – wenn auch möglicherweise nur für sich selbst – nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Im Gegensatz zu Michael Franz zeichnete er dabei nicht im Abstand zweier Jahrzehnte die Ereignisse auf, sondern unmittelbar. Nachdem am 9. Juni 1802 die Konsuln die Aufhebung der geistlichen Institutionen sowie die Übereignung ihres Eigentums an den Staat angeordnet hatten, sollten die dafür zuständigen Kommissare die Objekte versiegeln und genaue Verzeichnisse des Inventars – einschließlich des Bargelds, der Renten sowie der Bücher und Manuskripte – anfertigen. Ebenfalls sollten die Mitglieder der Einrichtungen erfasst werden, die – sofern sie im Linksrheinischen geboren waren – eine staatliche Pension als Entschädigung erhalten sollten. Dieser Beschluss wurde am 2. Juli verkündet, vierzehn Tage später gab der Präfekt des Saardepartements die Säkularisation bekannt. Am 26. Juli mussten die Mönche und Nonnen ihre Klöster räumen und weltliche Kleidung anlegen; die Stiftsangehörigen mussten bis August ihre Häuser verlassen.⁴⁴¹ Doch bereits vor diesen Beschlüssen wurden einzelne geistliche Korporationen aufgehoben, wie Ludwig Müller in seinem Tagebuch berichtet. Es wird sich dabei um die Umsetzung des bereits erwähnten Dekrets vom Dezember 1800 gehandelt
439 Im Linksrheinischen war der Anteil von Kirchengut an der landwirtschaftlichen Fläche „ungleich höher […] als etwa in Baden oder selbst in Bayern“ (Schieder: Säkularisationspolitik (wie Anm. 8, S. 3), S. 85), weshalb hier mehr Grundeigentum enteignet und anschließend neu verteilt werden konnte. Dieses Eigentum blieb im Gegensatz zum Rechtsrheinischen außerdem nicht in der Hand des Staates, sondern sollte möglichst schnell in geldwertes Kapital umgewandelt werden. Insbesondere die vermögende städtische Bevölkerung profitierte von den Versteigerungen. – Vgl. auch Oepen: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 100–108 sowie ausführlich zu den Käufern und der Besitzumschichtung im Saardepartement: Müller: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 119–228. 440 Die Enteignung der Kirchen- und Adelsgüter war „irreversibel“ (Schieder: Säkularisationspolitik (wie Anm. 8, S. 3), S. 100); auch nach Ende der napoleonische Herrschaft kam es unter den Nachfolgestaaten zu keiner Restitution. 441 Vgl. Müller: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 82–83. Aus dem Rechtsrheinischen stammende Ordensmänner erhielten eine einmalige Entschädigung von 150 Francs und mussten das Land verlassen. Laut Rönz: Diözesanklerus (wie Anm. 21, S. 8), S. 114, Anm. 297 wurden diese Ausweisungen jedoch nicht konsequent umgesetzt.
4.1 Reaktionen auf den politischen Umbruch
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haben,⁴⁴² das Klosteraufhebungen bei zu geringer Belegung vorsah. Davon betroffen war im Juli 1801 das Augustiner-Kloster, dessen noch wenige verbliebene Patres und Brüder laut Müller auf die umliegenden Klöster verteilt wurden.⁴⁴³ Den noch verbliebenen Insassen der Benediktinerabtei St. Martin, deren Aufhebung am 13. Februar 1802 erfolgte, sollte hingegen bereits eine Pension ausgezahlt werden, die – wie Müller vermerkt – „nicht über acht hundert Franken steigen darf.“⁴⁴⁴ Tatsächlich sah der Aufhebungs-Erlass vom Juni 1802 vor, über 60-jährigen Klostergeistlichen eine Pension von 600 Francs jährlich auszuzahlen; die jüngeren sollten nur 500 Francs im Jahr erhalten.⁴⁴⁵ Allerdings gingen laut Franz Tobias Müller die Zahlungen wohl zunächst sehr unregelmäßig ein, was für die Betroffenen eine erhebliche Belastung dargestellt haben dürfte. Erst nachdem 1804 Bischof Carl Mannay von Napoleons Kaiserkrönung zurückgekehrt sei, habe sich dieser Zustand gebessert.⁴⁴⁶ Da es bereits bei Pensionsauszahlungen in früheren Jahren Schwierigkeiten gegeben hatte und in den folgenden Jahren auch die staatliche Besoldung der Pfarrer unzureichend war und mehrfach reformiert werden musste,⁴⁴⁷ übertrieb Müller wahrscheinlich nicht. Für Ludwig Müller reihten sich diese Aufhebungen weitgehend unterschiedslos in die ab Juli dann endgültig vollzogene Säkularisation ein. In seinen das Jahr 1802 umfassenden Einträgen, die unmittelbar mit den Kloster- und Kirchenaufhebungen einsetzen und diese minutiös verzeichnen, markierte die Ende Juli erlassene Anordnung nur insofern eine Zäsur, dass sie nun „an alle Mannes & Frauenklöster“⁴⁴⁸ betraf. Vermutlich war die genaue rechtliche Ausgestaltung der Säkularisation für ihn im Grunde unerheblich. Die Klosteraufhebungen und die
442 Siehe Kapitel 4.1.3. – Davon betroffen war auch das Kloster St. Maximin, das Anfang März 1802 aufgehoben wurde. Wie Franz Tobias Müller ausführt, waren vor dem Einmarsch der französischen Armee bis auf einen alle Mönche geflohen, weshalb das Kloster bis Ende 1801 als Lazarett diente und später als Lager (vgl. hierzu Müller: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 88). Nach ihrer Rückkehr mussten die Maximiner Mönche darum auf Gebäude des Stifts St. Paulin ausweichen, siehe Müller: Schicksale (wie Anm. 201, S. 327), S. 315. 443 Die Insassenzahl des Klosters hatte sich nicht allein durch Flucht verringert: Im Zuge der Konflikte um den Augustinerpater Kronenberger waren sechs weitere Pater ins Rechtsrheinische ausgewiesen worden, siehe StadtAr Tr Fz 678, Deportationsbefehl vom 25. August 1799. Siehe auch Kapitel 4.2. 444 Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1801. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, 16r. 445 Vgl. Müller: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 82. 446 Siehe Müller: Schicksale (wie Anm. 201, S. 327), S. 321. 447 Vgl. Wagner: Kirchenpolitik (wie Anm. 287, S. 98), S. 209–215 sowie zur Pfarrorganisation in Kantons- und Hilfspfarreien und der finanziellen Schlechterstellungen der Desservanten siehe Kapitel 2.3. 448 Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1802. Ebd., 1r.
388 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? anschließenden Güterverkäufe scheinen in seinen Augen die naheliegende Konsequenz der Politik der letzten Jahre gewesen zu sein, wobei er sich eines solchen Kommentars enthält. Dennoch ist sein Entsetzen darüber, dass die Klosterkirchen abgeschlossen und die Altäre abgebrochen wurden, unverkennbar. Um die Ungeheuerlichkeit und Dramatik dieser Vorgänge zu unterstreichen, behauptet er, dass mitunter bereits während des Gottesdienstes oder des Gebets die Kirchen geräumt werden mussten, damit – wie im Fall der Kapuziner-Kirche – sogleich die Glocken entfernt werden konnten.⁴⁴⁹ Er berichtet, dass am gleichen Tag, als die Kirche des St. AnnaKlosters nachmittags verschlossen wurde, morgens „vor der H. Mess die Litanei vom bitteren Leiden Christi⁴⁵⁰ vom Herrn so die H. Mess gelesen hat vor gebeth, darnach die Mess angefangen & zu End […] das Miserere⁴⁵¹ gesungen“ worden sei, wobei „alle anwesenden geweinet haben.“⁴⁵² Wie auch bei seinen früheren Einträgen, ist es ihm wichtig, die kollektive Trauer der Gläubigen über die Politik der Franzosen zum Ausdruck zu bringen. Diese Gefühl der Trauer hatte für ihn eine sinn- und gemeinschaftsstiftende Wirkung. Gleichzeitig deuten die von ihm genannten Bittgebete und Bußgesänge an, dass das Verschließen der Kirchen – zumindest von ihm selbst – als Zeichen göttlicher Bestrafung aufgefasst wurde, die durch die Bitte um Erlösung abgewandt werden sollte. Dennoch verschweigt Müller nicht, dass die Kirche bereits morgens hätte geschlossen werden sollen, der Präfekt aber bis nachmittags gewartet habe, da an diesem Tag der Gedenktag der Kirchenheiligen begangen worden sei. Dieses Entgegenkommen seitens der Lokalverwaltung nahm in den Augen Müllers den Vorgängen jedoch nicht ihre Frevelhaftigkeit und ihren Schrecken. Das zeigt sich auch an seiner Kommentierung des Auszugs der Mönche und Nonnen aus ihren Klöstern „und zwaren in weltlicher Kleidung“, wie er nicht zu betonen
449 Dass das Glockengeläut im Alltagsleben der Bevölkerung eine wichtige Rolle spielte und der Verlust der Glocken daher schmerzlich registriert wurde, zeigen die vielen Berichte über ihre Entfernung infolge der Besetzung oder – wie in diesem Fall – der Säkularisation. So berichtet auch Lintz von der Beschlagnahmung der Glocken der Abtei St. Martin unmittelbar nach dem Einmarsch der französischen Armee, siehe Kapitel 4.1.1, Anm. 66. Da das Glockengeläut durchaus auch als Macht- bzw. Herrschaftsinstrument (vgl. Buchholz: Staatskult (wie Anm. 67, S. 18), S. 263) verstanden werden konnte, verzichtete Pfarrer Varain sicherheitshalber in der Anfangszeit der Besatzungszeit darauf, siehe Kapitel 4.1.1. – Zur Läutordnung in napoleonischer Zeit siehe Kapitel 2.3. 450 Möglicherweise ist die Litanei vom bitteren Leyden Christi von Martin von Cochem aus dessen Gebetbuch Guldener Himmelsschlüssel Oder ... Gebett-Buch zur Erlösung d. lieben Seelen d. Fegfeuers gemeint. 451 Gemeint ist Psalm 51, einer der sieben Bußpsalmen. 452 Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1802. Ebd., 1v.
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versäumt: „Es war heut ein rechter Trauer & Schröcken Tag für alle wohldenkende fromme Seelen.“ Zudem seien auch in den Stadtpfarreien „schon vor einigen Tagen alle Kirchengüter und Capitalien aufgeschrieben & eingeschlossen“⁴⁵³ worden. Obwohl die Existenz der Pfarreien gesichert war, da sie ausdrücklich von der Aufhebung ausgenommen waren, nahm Müller die Situation als bedrohlich wahr. Dieses Gefühl wurde dadurch verstärkt, dass aus seiner Sicht die Anzahl der noch geöffneten Kirchen für die Gläubigen an Sonn- und Feiertagen nicht mehr ausreichte, weshalb „viele Menschen […] ihre Andacht nicht mehr halten“ konnten. Auch beklagte er in diesem Zusammenhang, es sei „auch schon lang Mangel an Geistlichen“⁴⁵⁴ gewesen. Dass er an anderer Stelle immer wieder die angeblich schwindende Frömmigkeit der Menschen beklagte, sodass stellenweise der Eindruck entsteht, es habe keine Kirchgänger mehr gegeben, zeigt, wie subjektiv Müllers Wahrnehmung der Ereignisse war. Prinzipiell dürfte in den Jahren unmittelbar nach der Säkularisation der Mangel an Geistlichen aufgrund des geschlossenen Priesterseminars durch die Klostergeistlichen, die nun in die Seelsorge wechselten, aufgefangen worden sein. Allerdings waren viele von ihnen bereits recht alt oder ungeeignet für die Seelsorge, da sie kontemplativen Orden angehört hatten. Auch konnten sich gerade die Angehörigen der reichen Benediktinerabteien oft nicht vorstellen, als Hilfspfarrer zu arbeiten. Dennoch wechselten laut der Auswertung von Helmut Rönz immerhin 626 Ordensgeistliche des ehemaligen Erzbistums Trier nach der Säkularisation in die Seelsorge, wobei sich diese auf die Bistümer Trier und Aachen verteilten.⁴⁵⁵ Inwiefern zum damaligen Zeitpunkt – zumal in der Stadt Trier – tatsächlich ein akuter Mangel an Seelsorgern bestand oder sich die Situation aufgrund der chaotischen Zustände durch Aufhebungen und Schließungen von Kirchen in Müllers Augen nur so darstellte, bleibt dahingestellt. Neben den Auswirkungen, die die Säkularisation auf die Gläubigen hatte, thematisiert Ludwig Müller auch die Situation der Mönche, Nonnen und Kanoniker. So sah auch er die Stifts- und Klostergeistlichen durch die Aufhebung ihrer Einrichtungen vor existenzielle Schwierigkeiten gestellt, zumal die Kanoniker ebenfalls gezwungen waren, ihre Stiftskurien aufzugeben. Empört darüber, dass die Franzosen bei der Säkularisation selbst vor der geistlichen Autorität des Dechanten Hontheim nicht halt machten, berichtet Müller, dass auch dieser sein Haus habe 453 Jeweils Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1802. Ebd., 1v. 454 Jeweils Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1802. Ebd., 2r. 455 Die meisten Kleriker, die diesen Schritt unternahmen, waren Mitglieder der Franziskaner oder Benediktiner. Von letzteren gingen viele auch in den Schuldienst. Ausführlich schlüsselt Rönz: Diözesanklerus (wie Anm. 21, S. 8), S. 48–49, 113–188 den Werdegang der Trierer Ordensgeistlichen nach 1802/03 auf. – Siehe dazu auch Kapitel 2.3.
390 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? räumen müssen. Mitfühlend schildert er, die Geistlichkeit habe nach der Räumung ihrer Häuser oft nicht gewusst, „wohin, viele mussten sich in schlechten Häussern in ein armseliges Zimmergen begeben, hatten kein zu essen & zu trinken“. „Jammer & Noth“⁴⁵⁶ habe darum unter ihnen geherrscht. Fraglich ist, ob sich insbesondere in Bezug auf die Kanoniker die Situation tatsächlich derart dramatisch darstellte oder ob sich ihre Lebensumstände nur kurzzeitig und im Vergleich zu vorher verschlechterten. Zweifellos werden die meisten von der veranlassten Räumung ihrer Häuser überrascht worden und desorientiert gewesen sein, wie und wo sie nun leben sollten. Zumal die Auszahlung der ihnen zustehenden Pensionen nicht unmittelbar nach der Aufhebung der Stifte einsetzte und unregelmäßig erfolgte. Andererseits waren die meisten Stiftsangehörigen in die kirchliche Hierarchie eingebunden, sodass es sich bei ihnen nicht um Männer handelte, die ihr ganzes Leben in Weltabgewandtheit zugebracht hatten. Nicht selten entstammten sie adligen oder zumindest wohlhabenden Familien, sodass sie von dieser Seite Hilfe erwarten konnten.⁴⁵⁷ Von den Mitgliedern der Stadttrierer Stifte St. Paulin und St. Simeon waren nach 1802 fast alle „als Weltgeistliche aktiv.“⁴⁵⁸ Müller ist jedoch zweifellos an der Dramatisierung der Jahre 1802/03 gelegen, denn ihm ist wichtig festzuhalten, dass noch kein Mensch je ein so großes „Wehe“⁴⁵⁹ als beim Auseinandergehen der Klöster habe beobachten können. Trotz gewisser Ähnlichkeiten bei der Beschreibung und Wahrnehmung der Ereignisse, schildert Franz Müller die Aufhebung der geistlichen Korporationen noch drastischer und blumiger als sein Verwandter. Aufgrund des größeren zeitlichen Abstandes wollte er mit Blick auf mögliche spätere Leser die Ungeheuerlichkeit dieser Vorgänge anschaulich darstellen, um ihre Sichtweise auf die Ereignisse in seinem Sinne zu beeinflussen.
456 Jeweils Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1802. Ebd., 2r. – Ganz ähnlich berichtet auch Franz Tobias Müller über die verzweifelte Lage der ehemaligen Dompriester, die, ihrer Wohnungen beraubt, aufgrund unregelmäßiger Pensionszahlungen sich hätten kaum ernähren können. Er deutet sogar an, einer von ihnen habe „wie man sagte, eben so viel aus Hunger als durch Krankheit, sein Leben beschlossen. Von einem andern ginge im Sommer die Rede, er Kaufe sich auf dem Markte Pflaumen, und die esse er zu etwas Brod als seine Mittagsmal.“ Müller: Schicksale (wie Anm. 201, S. 327), S. 17. 457 Sowohl für St. Simeon als auch für St. Paulin gab es keine vorgeschriebenen ständischen Voraussetzungen für die Mitgliedschaft im Kapitel, vgl. Heyen: St. Paulin (wie Anm. 56, S. 38), S. 129; ders.: St. Simeon (wie Anm. 56, S. 38), S. 323. 458 Rönz: Diözesanklerus (wie Anm. 21, S. 8), S. 194. 459 Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1802. Ebd., 2r.
4.1 Reaktionen auf den politischen Umbruch
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In Anspielung auf die Bekanntgabe der Säkularisation im Juli 1802 spricht er vom „fatalen Datum des Jahres 1802“⁴⁶⁰. Diese tendenziöse Sichtweise spiegelt bereits das Vorwort wider, in dem er sich mit pathetischem Aufruf an die Trierer wendet: Wer mag wohl mit trockenen Augen die Nebel unsers Volkes und der Heiligen erzehlen können! Schauet da und betrachtet so viele schöne und fürtreffliche Gebäude Gottes und seiner Diener, zerstöret und vernichtet! Schauet wie eine Menge der ehrwürdigsten Altäre untergraben, und in Schutte liegt: wie die kostbaren Zierrathen und heiligen Kleider des Allerhöchsten, verworfen, zerrissen und geschändet sind!⁴⁶¹
Für ihn war die Säkularisation ein beispielloses Werk der Zerstörung. Die Profiteuere der Versteigerungen strafte er mit Verachtung.⁴⁶² Als Pfarrer konnte er im Verkauf von Kirchenbesitz an Laien aus nahliegenden Gründen nichts Positives erkennen. Häufig deutet er an, dass Kirchengegenstände und Immobilien zu einem zu geringen Preis ersteigert worden seien, worunter sich nicht selten judenfeindliche Invektive mischten.⁴⁶³ Aus seiner Sicht war es anscheinend nur dann vertretbar, als Einheimischer an den Versteigerungen teilzunehmen, wenn es darum ging, den Besitz für die Kirche zu erhalten. In dieser Weise habe die Nachbarschaft des Augustiner-Klosters gehandelt, die nicht nur einige zum Verkauf vorgesehenen ‚Kirchengeräte‘ erworben hätte, sondern „auch die Kirche selbst auf einige Jahre gegen Zahlung, von der Domain-Kommission, in Bestand genommen: wo dann einige alte Paters, die in der Stadt geduldet wurden, noch die h. Messe halten, und den Leuten zum Empfange der hh. Sakramenten, behüflich sein konnten.“⁴⁶⁴ Versuche, die Kirche zu schließen, scheiterten 1803 am heftigen Widerstand der Nachbarn; 1804 wurden
460 Müller: Schicksale (wie Anm. 201, S. 327), S. 301. 461 Ebd., o. S. 462 Die Versteigerungen begannen im April 1803 und zogen sich bis 1813, wobei in der Anfangsphase zwischen 1803 und 1805 – auch Dank des hohen Kaufinteresses – die meisten Verkäufe getätigt wurden. Die öffentlichen Versteigerungen fanden an der Präfektur in Trier statt und wurden in Zeitungen oder auf Plakaten bekanntgegeben. Vgl. Müller: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 123, 128–129. 463 So habe die Pfarrkirche St. Laurentius – die durch die Liebfrauenkirche als Pfarrkirche ersetzt wurde – auf das „schändlich- und jüdische Geboth von einem Tausend und zehn Franken“ (Müller: Schicksale (wie Anm. 201, S. 327), S. 114) den Besitzer gewechselt. „Den Juden wurde zu Unrecht eine wichtige Rolle in der Säkularisation beigemessen. […] Im Raum Trier waren die Juden bis auf wenige Ausnahmefälle ökonomisch und wohl auch gesellschaftlich einflußlos; dafür hatte die restriktive Politik der kurfürstlichen Zeit gesorgt.“ Müller: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 216. 464 Müller: Schicksale (wie Anm. 201, S. 327), S. 199.
392 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? allerdings per Präfekturbefehl sämtliche Gottesdienste in der Kirche untersagt.⁴⁶⁵ Dennoch handelte es sich bei dieser besonderen Art der Nachbarschaftshilfe für Müller augenscheinlich um eine heroische Tat und Ausdruck wahren Christentums. Besonders empörte Müller, dass es sich bei dem, für die Aufhebung der Stifte St. Paulin und St. Simeon zuständigen Kommissar Saal, um einen ehemaligen Kanoniker aus Oberwesel handelte.⁴⁶⁶ Dass ausgerechnet dieser Mann den Chorherren ihren „allertraurigste[n] Tag“⁴⁶⁷ bereitete, war in seinen Augen ein schwerer Verrat an der Kirche. Er behauptet, dem Kommissar selbst sei dies im Angesicht seines Todes bewusst geworden, weshalb er „reuevoll“ bekundet habe, „mit seinem Betragen und Beispiel, Aergerniße den Christen gegeben“⁴⁶⁸ zu haben. Der wahrscheinlich fiktive Bericht über dieses letzte Zeugnis der Reue diente Müller dazu, die Ungeheuerlichkeit dieses Handelns nur noch stärker zu betonen. Gleichwohl gestand er Saal wenigstens zu, sein schändliches Verhalten erkannt zu haben, womit er den deutschen Aufklärern und Republikanern bedeuten wollte, dass es für eine Umkehr nie zu spät sein würde. – Über den Tod des Trierer Domäneninspekteurs Emmanuel Lelièvre (1776–1806) berichtete er hingegen, dieser habe in seiner letzten Stunde keinen Pfarrer mehr sehen wollen, was etliche Trierer über den Versuch, ihn noch ärztlich zu behandeln, habe urteilen lassen: „Die Mühe ist vergebens, der Teufel hat ihn schon.“⁴⁶⁹ Die Schändlichkeit, die ein Einheimischer – zumal ein ehemaliger Geistlicher – mit seiner Beteiligung an der Säkularisation bewies, konnte nur noch durch einen Franzosen selbst übertroffen werden. Dass es den Ordensgemeinschaften vereinzelt gelang, sich der Aufhebung ihrer Häuser und Gemeinschaft zu entziehen, beschreibt Müller anhand der Klarissen. Diese hätten den Vollzug der Säkularisation dadurch torpediert, dass sie bei jedem Versuch, sie aus dem Kloster zu vertreiben, den Kommissaren „so viele der kläglichst- und erbärmlichsten Verstellungen“⁴⁷⁰ gemacht hätten, dass diese – selbst in Begleitung bewaffneter Soldaten – unverrichteter Dinge abzogen. Zwar mussten die Nonnen ihre Ordenstracht ablegen, durften aber auf Beschluss der Regierung
465 Vgl. Müller: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 89–90. 466 Es könnte sich dem Verzeichnis des Diözesanklerus bei Rönz zufolge, um Phillip Johann Saal (1759–1805) gehandelt haben. 467 Müller: Schicksale (wie Anm. 201, S. 327), S. 48. 468 Jeweils ebd., S. 414. 469 Ebd., S. 416. 470 Ebd., S. 280.
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schließlich in ihrem Kloster bleiben.⁴⁷¹ Dass auf ein hartes Durchgreifen verzichtet wurde, dürfte einerseits an den befürchteten „negativen psychologischen Folgen […] in der öffentlichen Meinung“⁴⁷² gelegen haben, sollten wehrlose ältere Frauen mit vorgehaltener Waffe vertrieben werden. Andererseits wird die Regierung von dieser Gemeinschaft frommer und zurückgezogen lebender Frauen keine Gefahr ausgehen gesehen haben, andere zu religiösem Fanatismus aufzustacheln, sodass es ihr ausreichte, den Konvent formal aufzulösen. Dass die Nonnen weiterhin in ihrem Kloster bleiben durften, schreibt Müller allerdings weder ihrem Geschick noch dem Mitleid des Präfekten zu, sondern vor allem Gott. Wie auch bei seiner Schilderung des Zustandekommens des Konkordats, tritt Gott auch hier wieder als aktiv in das Weltgeschehen eingreifender Herrscher auf, der die Gläubigen durch die Ankunft der ‚gottlosen‘ Franzosen prüfte und strafte, um ihnen nun wieder einen Teil seiner Gunst zu erweisen. Müllers Gottesbild war damit noch in barockkatholischen Vorstellungen verhaftet, sodass er ihn in der Art eines „absolutistischen Willkürgottes“⁴⁷³ auffasste, der sich permanent einmischte. Franz Müllers Vorbehalte gegenüber der Aufklärung, die bereits die Verwendung des Begriffspaares Philosophische Regierung und die damit implizierte Verbindung zwischen Aufklärung und Revolution nahelegte, konkretisieren sich, wenn er zusammenhangslos den Tod Voltaires thematisiert. Dieser – und nicht Rousseau wie bei Pfarrer Haas – symbolisierte für ihn den ganzen Schrecken französischer Kirchenfeindlichkeit. Deshalb behauptete Müller, Voltaire habe einen qualvollen Todeskampf geführt, sich in die Finger und ins Fleisch seiner Arme gebissen, aber trotz seiner großen „Geistes-Angst“ statt Gebeten nur „Gotteslästerungen und tausend Flüche gehn Himmel“ ausgestoßen. Als angeblicher Zeuge dient ihm dessen protestantischer Arzt Théodore Tronchin (1709–1781). Das ausgerechnet ein Protestant bei diesem Anblick konstatiert habe, er wünsche, dass alle, die von Voltaires Schriften „verführet worden, Zeugen von diesem Tote gewesen wärn“⁴⁷⁴, scheint einem orthodoxen Katholiken wie Müller ausreichender Beweis der Schlechtigkeit des französischen Philosophen und der üblen Folgewirkungen seiner Philosophie zu sein.
471 Das Ordenshaus wurde schließlich zu einem der vorgesehenen Sammelunterkünfte für ehemalige Ordensleute, die weiterhin in Gemeinschaft leben wollten, vgl. Müller: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 95. 472 Ebd., S. 95. 473 Speth: Aufklärung (wie Anm. 244, S. 165), S. 33. 474 Jeweils Müller: Schicksale (wie Anm. 201, S. 327), S. 417.
394 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Auch wenn die Säkularisation im Linksrheinischen keine größeren Diskussionen auslöste, fielen die Urteile der beiden Müllers umso deutlicher aus: Beide erfüllte die Aufhebung der kirchlichen Korporationen sowie der Verkauf ihrer beweglichen Güter und später der Immobilien mit Trauer. Mochte es in der Bevölkerung auch Stimmen gegeben haben, die die materiellen Verluste der Kirche und die Auflösung der Klöster und Stifte gerechtfertigt fanden,⁴⁷⁵ sahen Ludwig und Franz Müller darin vor allem auch einen unwiederbringlichen Verlust an religiösem Leben für die einfachen Gläubigen. Gleichzeitig betonten sie die Notlage, in die die Nonnen, Mönche und Kanoniker durch die Säkularisation gerieten. Trotz des Bestrebens, den Zeitpunkt jeder Aufhebung korrekt zu verzeichnen – was besonders bei Ludwig Müller deutlich wird – sind ihre Aufzeichnungen nicht als Tatsachenberichte zu lesen. Vielmehr spiegeln sie die höchst subjektive und stellenweise verzerrte Wahrnehmung ihrer Verfasser wider. So verzeichnen zwar beide penibel das Verschließen der Kirchen, das Entfernen der Glocken oder anderer Gegenstände; dass aber im Zuge der neuen Pfarreinteilung oftmals abrissreife Pfarr- durch prachtvollere Klosterkirchen ersetzen werden konnten, findet selten bis nie Erwähnung.⁴⁷⁶ Auch die mit der Klosteraufhebung zwangsläufig einhergehende Stärkung des Pfarrprinzips ist für sie kein Thema. Vor allem in den Augen Ludwig Müllers stellte die Säkularisation eine Bedrohung dar, die beinahe bruchlos für ihn die Politik der letzten Jahre fortsetzte. Die mit einem größeren zeitlichen Abstand verfassten Aufzeichnungen Franz Müllers zielten hingegen von Anfang an auf die Beeinflussung eines Lesepublikums ab, weshalb sich bei ihm zahlreiche Dramatisierungen und Zuspitzungen finden. Der neue Bischof Carl Mannay Die durchweg negative Wahrnehmung der Säkularisation durch Ludwig und Franz Tobias Müller zeigt, dass zu diesem Zeitpunkt nicht mehr alle Vertreter der katholischen Elite in Napoleon den ersehnten Heilsbringer gesehen haben werden als der er sich selbst inszenierte. Skeptiker wie Pfarrer Joseph Anton Haas, die von Anfang an eine grundlegende Wende in der Kirchen- und Religionspolitik als unwahrscheinlich erachteten, werden in den Organischen Artikeln den Beweis gesehen haben, dass der Staat weiterhin den Vorrang in allen kirchlichen Angelegenheiten für sich beanspruchte: Ehen mussten weiterhin zuerst vor dem Zivilbeamten geschlossen werden, bevor der Pfarrer seinen Segen erteilen konn-
475 Vgl. Carl: Revolution (wie Anm. 13, S. 4), S. 94. 476 So blieben beispielsweise die Kloster- und Stiftskirchen von St. Paulin, St. Matthias und die Liebfrauenkirche erhalten. Vgl. Oepen: Säkularisation (wie Anm. 9, S. 3), S. 103; Wagner: Tradition (wie Anm. 64, S. 17), S. 237.
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te, was einer der Hauptkritikpunkte von Haas war. Auch die Zivilstandsregister wurden beibehalten. Gerade für Ludwig Müller scheint hingegen vielmehr der neue Bischof Mannay einen religiösen Neuanfang verheißen zu haben. Aufgrund der Distanziertheit, mit der er von Napoleon spricht – der, wie das Konkordat, stets nur am Rande erwähnt wird – wird der Kontrast zu Mannay umso deutlicher: So weist das Personalpronomen unser, das Müller stets in Verbindung mit dem Bischof bringt, darauf hin, dass er ihn tatsächlich mit dessen Amtseinführung als seinen Bischof akzeptiert hat und ihn wertschätzte. Ausführlich hält er die ersten Gottesdienste des Bischofs fest und verzeichnet für den 10. Oktober 1802 dessen erste Firmung im neuen Amt.⁴⁷⁷ Mit unverkennbarem Wohlgefallen vermerkt er, dass die Feier „im Dohm in der schönsten Ordnung und mit größter Auferbauung“⁴⁷⁸ stattgefunden habe. Das Erhebende und Erbauende des Gottesdienstes weckte in ihm die Hoffnung, den vom ihm beklagten religiösen Zerfallsprozess endlich beendet zu wissen. Die ‚Ordnung‘, die die Franzosen – und möglicherweise zuvor schon die Neuerungen der Aufklärung – mit ihrer Ankunft und ihrer Gesetzgebung aus seiner Sicht zerstört hatten, sieht er nun wiederhergestellt. In Mannay sah er den Garanten, dass die Religionsausübung trotz der Säkularisationen tatsächlich und langfristig gesichert war. Auch wenn Trier durch die im Konkordat vereinbarten Bistumsumschreibungen seinen Vorrang als Erz-Diözese verlor, verfügte das Bistum nun wieder über einen Bischof mit örtlichen Amtsbefugnissen, der die im Status des Vorläufigen gebliebene bisherige Bistumsverwaltung ordnen und wieder stärken konnte. Da Clemens Wenzeslaus’ Abdankung für den linksrheinischen Bistumsteil vom Papst angeordnet worden war, akzeptierte auch Ludwig Müller diesen Vorgang, obwohl die rechtliche Seite im Falle der Säkularisation für ihn keine Rolle gespielt hatte. Franz Müller wiederum äußerte zwar sein Missfallen darüber, dass das Erzbistum zum Bistum „erniedrig[t]“⁴⁷⁹ worden sei, die Befugnisse des Papstes, diesen Schritt vorzunehmen, bestritt er jedoch nicht. Seine im Vergleich zu Ludwig Müller distanziertere Haltung gegenüber dem neuen Bischof wird darauf zurückzuführen sein, dass er seine Aufzeichnungen erst einige Jahre nach Mannays Einsetzung verfasste: Die Euphorie des vermeintlichen Neuanfangs wird sich im Alltagsgeschäft als Pfarrer im napoleonischen Staat 477 Da die Spendung dieses Sakraments dem (Erz-)Bischof oder Weihbischof vorbehalten war und sich beide seit dem Einmarsch nicht mehr im Linksrheinischen aufgehalten hatten, war dies bislang ausgeblieben. Darauf verweist auch die hohe Zahl an Firmlingen, die Müller mit je 40 aus jeder der Stadtpfarreien angibt. 478 Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1802. Ebd., 2v. 479 Müller: Schicksale (wie Anm. 201, S. 327), S. 10.
396 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? bereits gelegt haben. Dennoch würdigte er etwa im Fall des Klarissen-Klosters, das der Bischof „nach vernohmmenen Notherklärungen der Jungfrauen, ihnen verschiedene Günsten erwiesen“⁴⁸⁰ und ihnen unter anderem eine Glocke geschenkt habe, obwohl zu diesem Zeitpunkt der Fortbestand des Klosters noch ungewiss war. Ebenso macht er deutlich, dass die neuen Bischöfe Schutz boten vor staatlicher Willkür, da sie zumindest auf die Entschärfung von Gesetzesbeschlüssen hinwirken konnten, die einen zu großen Eingriff in die Amtsautorität der Pfarrer bedeutet hätten.⁴⁸¹ Franz Müller war ebenfalls erleichtert, dass, nachdem „der Herr Bischof Carl“ im April 1803 „von neuem die Nebenaltäre konsekrirte“⁴⁸², der Dom wieder genutzt und seiner Funktion als Hauptkirche des Bistums gerecht werden konnte. Seine ausführlichen Schilderungen der notwendigen Instandsetzungsmaßnahmen zeigen, wie wichtig der Dom als religiöser Mittelpunkt für Teile der Trierer Bevölkerung war. Offensichtlich sorgten Mannays Bemühungen um die Neuorganisation des Bistums dafür, dass ihn die Geistlichkeit und die Diözesanen trotz seiner französischen Herkunft akzeptierten und respektierten. Anscheinend nutzte es seinem Ansehen, dass er zu den Eidverweigerern gehörte und erst 1801 nach Frankreich zurückkehrt war.⁴⁸³ Seine Herkunft verschaffte ihm darüber hinaus auch Vorteile: Da er Lehrer des französischen Außenministers Talleyrand gewesen war, verfügte er über gute Beziehungen zur Regierung, die er für sein Bistum zu nutzen wusste. So erwirkte er 1804 bei Napoleon, dass dieser per Dekret den Pfarrern des Bistums
480 Müller: Schicksale (wie Anm. 201, S. 327), S. 281. 481 Als Beispiel nennt er einen angekündigten Beschluss, demzufolge sich die Priester vor dem Friedensrichter oder dem Präfekten hätten verantworten müssen, wenn sie jemandem die Sakramente oder das christliche Begräbnis verweigert hätten. Dies sei nach der Intervention der neuen Bischöfe nicht mehr vorgesehen gewesen, allerdings hätte fortan „die katholischen Begräbniß Orte, auch einem jeden wie ein Hund gestorbener Freigeist, und Heid gestorbenen Christen, ohne Unterschied aufnehmen“ (ebd., S. 121) müssen. 482 Jeweils ebd., S. 11. Allerdings klagte er über den Verlust einiger Nebenaltäre, die auch auf die Verkleinerung des Domkapitels zurückgingen. Mit solchen Veränderungen sah er anscheinend die Würde dieses Ortes verletzt. 483 Siehe Kapitel 2.3, Anm. 296. – In seiner Trauerrede anlässlich des Todes von Mannay im Jahre 1824 erinnert Viktor Dewora pathetisch daran, dass sich dieser dem „unseligen Zeitgeiste“ verweigert und sich „für die Erhaltung der heiligen Rechte der Kirche Jesu Christi und des Allerchristlichsten Königs“ eingesetzt habe. Dadurch habe er sich „den Haß der revolutionären Parthie“ (Jeweils Dewora: Trauer-Rede (wie Anm. 83, S. 22), S. 12) zugezogen und ins Exil begeben müssen. Als ‚Opfer‘ der Revolution und ihrer vermeintlich kirchenfeindlichen Politik war Mannay in den Augen Deworas immer noch bewunderungswürdig, weshalb er ihn zum heldenhaften Verteidiger von Kirche und Königtum stilisierte.
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ihr Wittum zurückgab, sofern es nicht bereits verkauft worden war.⁴⁸⁴ Dass er die Pfarrgüter allerdings im Alleingang „in allen Provinzen des linken Rheinufers gerettet“⁴⁸⁵ habe, wie Viktor Dewora in seiner Trauerrede behauptet, ist übertrieben, da alle Bischöfe der rheinischen Bistümer Vorstellungen in diese Richtung machten, um ihre Geistlichen ausreichend versorgen zu können.⁴⁸⁶ Der Gattung der Trauerrede entsprechend, verfolgte Dewora das Ziel, die Tugendhaftigkeit, Frömmigkeit und Selbstlosigkeit des Verstorbenen herauszustellen und damit die künftige Erinnerung der Diözesanen an ihren Bischof vorzugeben.⁴⁸⁷ Dennoch gibt die Quelle Aufschluss über die konkreten Verdienste, die er dem ehemaligen Bischof anrechnete: Diese lagen für Dewora vor allem im Bereich der Bildung. So verweist er auf die Wiedereinrichtung des Priesterseminars, die Errichtung einer Domschule, zur frühzeitigen Heranbildung des Priesternachwuchses oder auf Mannays Verdienste um die Verbesserung der Christenlehre und der Predigten seiner Seelsorger.⁴⁸⁸ Obgleich Dewora 1815 eine bittere Abrechnung der französischen Zeit verfasst hatte,⁴⁸⁹ hebt er hervor, dass Mannay in „jener schweren
484 Vgl. Thomas: Bistum (wie Anm. 64, S. 17), S. 169. Zum Einkommen der Pfarrer in kurfürstlicher Zeit einschließlich des Wittums siehe Kapitel 2.1. 485 Dewora: Trauer-Rede (wie Anm. 83, S. 22), S. 18. 486 Das Dekret wurde in ähnlicher Weise nach und nach auf die übrigen rheinischen Departements übertragen. Da allerdings der Ertrag aus dem Pfarrwittum – für das sie lediglich das Nutznießungsrecht hatten – vom Staatsgehalt abgezogen wurde, ist fraglich, wie stark die Pfarrer überhaupt davon profitierten. Vgl. Wagner: Kirchenpolitik (wie Anm. 287, S. 98), S. 213 sowie Georg May: Der Unterhalt des Klerus in der Diözese Mainz (Departement Donnersberg) unter Bischof Joseph Colmar zur Zeit der Franzosenherrschaft, in: Albert Portmann-Tinguely [Hrsg.]: Kirche, Staat und katholische Wissenschaft in der Neuzeit. Festschrift für Heribert Raab zum 65. Geburtstag, Paderborn u.a. 1988, S. 219–277, hier S. 257–265. 487 Gerade im Medium des Einzeldrucks entwickelten sich Trauerreden zu einer literarischen Form der gesellschaftlichen Gedächtnisstiftung. Sie entstanden im katholischen Raum vorwiegend anlässlich des Todes eines hohen weltlichen oder geistlichen Würdenträgers. Die Rede sollte den Hinterbliebenen nicht nur biblisch begründeten Trost spenden, sondern die Vorbildlichkeit des Verstorbenen betonen, dessen Exempel es nachzufolgen galt. Vgl. F. M. Eybl: Leichenpredigt, in: Gerd Ueding [Hrsg.]: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5, Tübingen 2001, S. 124–145; ders.: Leichenrede, in: Gerd Ueding [Hrsg.]: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5, Tübingen 2001, S. 145–151. Wie bei allen gedruckten Predigttexten, ist auch bei Deworas Trauerrede unklar, ob sie in dieser Form tatsächlich wie angegeben am 22. Dezember 1824 in der Trierer Domkirche gehalten wurde. 488 Dewora, der auf Bitten Mannays 1805 ins linksrheinische Bistum gekommen war, hatte diesem nach eigener Aussage auch die „erste Entstehung“ (Dewora: Trauer-Rede (wie Anm. 83, S. 22), S. 18) seiner Normalschule zu verdanken. Zu dieser und Deworas Biographie siehe Kapitel 2.3. 489 Siehe unten ab S. 407.
398 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Zeit“⁴⁹⁰ alles getan habe, die „hart bedrängte und beinahe zerüttete Kirche wieder herzustellen.“⁴⁹¹ Auch zehn Jahre nach Ende der französischen Herrschaft und unter Bischof Joseph von Hommer war es ihm wichtig, Mannay – und gerade nicht Napoleon – als den eigentlichen Wiederhersteller der Trierer Kirche gewürdigt zu wissen.⁴⁹² Die Rock-Wallfahrt 1810 In seinem Bestreben, Mannay als vorbildlichen Bischof darzustellen, verweist Dewora auch auf dessen Bestreben, die Reliquie des sogenannten Heiligen Rockes für das Bistum Trier wiederzuerlangen.⁴⁹³ Auch in der Deutung des orthodoxen Katholiken Franz Müller stellte vor allem diese 1810 erfolgte Rückführung des „höchst schätzbare[n] Heiligthum[s]“⁴⁹⁴ nach Trier ein wichtiges Zeichen wieder erwachter katholischer Frömmigkeit dar. Auch er verwendet nun in diesem Zusammenhang das Personalpronomen unser in Bezug auf den Bischof, dem es
490 Dewora: Trauer-Rede (wie Anm. 83, S. 22), S. 14. 491 Ebd., S. 15. 492 Auch wenn er die französische Zeit insgesamt in einem positiveren Licht gesehen hätte, wäre es 1825 selbstverständlich unter der neuen preußischen Regierung nicht geraten gewesen, Napoleon zu loben. 493 Bereits bei Kriegsausbruch 1792 war der ‚Heilige Rock‘ auf die Festung Ehrenbreitstein in Sicherheit gebracht worden, wo er in den vorangegangenen Jahren überdies die meiste Zeit aufbewahrt worden war. Im Herbst 1794 wurde er zunächst nach Aschaffenburg und Bamberg gebracht; 1803 ließ ihn Clemens Wenzeslaus heimlich nach Augsburg bringen. In den folgenden Jahren beanspruchten mehrere Parteien die Reliquie: Neben Bischof Mannay, der von Frankreich unterstützt wurde, auch der Herzog von Nassau-Weilburg, an den die rechtsrheinischen Gebiete des ehemaligen Kurfürstentums gefallen waren sowie der König von Bayern, da der Rock in Bamberg verwahrt worden war. Clemens Wenzeslaus, der sich im Besitz der Reliquie befand, wollte sie dem Trierer Bistum zurückgeben und verständigte sich schließlich mit Mannay. Zu den verschiedenen Besitzansprüchen und den diplomatischen Verhandlungen vgl. ausführlich Elisabeth Wagner: Die Rückführung des Heiligen Rockes nach Trier und die Heilig-Rock-Wallfahrt im Jahre 1810, in: Erich Aretz [Hrsg.]: Der heilige Rock zu Trier. Studien zur Geschichte und Verehrung der Tunika Christi, Trier 1995, S. 219–236, hier S. 219–214; Wiederabdruck in: dies.: Die Rückführung des Heiligen Rockes nach Trier und die Heilig-Rock-Wallfahrt im Jahre 1810, in: Dühr [Hrsg.]: Trikolore (wie Anm. 61, S. 17), S. 419–432. Vgl. auch Müller: Aufzeichnungen (wie Anm. 77, S. 21), S. 256–261. – Dass die napoleonische Regierung die Rückgabe unterstützte, war insofern nichts Neues, da sich bereits im Zuge der Rheinlandreise 1804 die Regierung bemüht hatte, ins Rechtsrheinische verbrachte Reliquien den Bistümern wieder zurückgeben zu können. Vgl. Mager: Legitimation (wie Anm. 365, S. 368), S. 193–198, besonders S. 195. 494 Müller: Aufzeichnungen (wie Anm. 77, S. 21), S. 271. Das Original des Berichts von Müller befindet sich im BATr Abt. 1100,27 Nr. 6, S. 95–99.
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„mit Hülfe der dermaligen französischen Regierung“⁴⁹⁵ gelungen sei, den Rock zurückzuerhalten. Um die Bedeutung des Ereignisses herauszustellen, verweist er auf den „gewalltige[n] Auflauf von Menschen“, der sich bei der Ankunft der – verpackten – Reliquie in Trier versammelt habe. Indem er betont, „durch einen h. Instinkt“ habe sogleich „jeder guter Christ viele hochrührend- und auferbäuliche Freude“ gezeigt, möchte er einerseits das Erhebende und einheitsstiftende dieses Moments darstellen. Andererseits deutet er an, dass das Verhalten der Menschen instinktiv und damit völlig natürlich war – sofern es sich um gute Christen handelte. Denn diesen stellt er die „durch die Umstände der Zeit verführte[n] Hochmüthige[n] und dabei elendig unwißende[n] Critiker“ gegenüber, deren Distanziertheit angesichts der Reliquie nur etwas Widernatürliches sein konnte. Die nebulöse Umschreibung von den ‚Umständen der Zeit‘ konnte von der Aufklärung über die Revolution bis zur Okkupation sämtliche Umbrüche der vergangenen Jahrzehnte meinen. Eine Konkretisierung war für Müller jedoch nicht wichtig: Die durch diese Umbrüche geschaffene Trennung in Christen und ihre ‚Kritiker‘ verlor für ihn angesichts einer derartigen Zurschaustellung christlicher Wahrheit ihre Relevanz. Wie „ehemals […] bei dem Eintritte des Heilandes in Jerusalem“⁴⁹⁶ hätten diese Unwissenden nun einfach ignoriert werden können. Ihm ging es mit seinem Bericht über die Rückführung und die anschließende Ausstellung des Rockes darum, ein Bild christlicher Eintracht und Stärke heraufzubeschwören.⁴⁹⁷ In diesem Sinne betonte er, dass trotz der hohen Zahl an Pilgern „keine Unordnung und Theurung geschahe“, sondern allenthalben „gar rührende Andacht, und Religions Eifer“⁴⁹⁸ zu beobachten gewesen seien. Indem er die Harmlosigkeit und das Wohlverhalten der Pilger betonte, wollte er Kritikern, die in Wallfahrten eine Gefahr für Ruhe und Ordnung sahen, das Gegenteil beweisen.
495 Ebd., S. 272. 496 Jeweils ebd., S. 272. – Mager weist darauf hin, dass die Schilderungen der Freudenbekundungen der Bevölkerung über Napoleons Einzug in die rheinischen Städte Analogien zur biblischen Darstellung des Einzugs Jesu in Jerusalem aufweisen: Vgl. Mager: Legitimation (wie Anm. 365, S. 368), S. 181. 497 Obgleich Müller darauf abzielt, dieses Bild in Abgrenzung zur Aufklärung heraufzubeschwören, verwendete er anders als die Wallfahrtsapologetik 1844 weder den Begriff Einheit noch den der Eintracht. Allerdings galt das angeblich ungenähte Gewand Jesu in der kirchlichen Deutung „seit jeher als Symbol der Kircheneinheit“ (Wolfgang Schieder: Kirche und Revolution. Sozialgeschichtliche Aspekte der Trierer Wallfahrt von 1844, in: Archiv für Sozialgeschichte 14 (1974), S. 419–454, hier S. 425). Bei der Wallfahrt von 1844 postulierten Autoren wie Jakob Marx, dass die Wallfahrt über alle Klassen hinweg die Menschen vereinen würde. In diesem Sinne sollte die katholische Kirche als Hort brüderlicher Gleichheit erscheinen. Vgl. ebd., S. 425. 498 Jeweils Müller: Aufzeichnungen (wie Anm. 77, S. 21), S. 273.
400 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Gleichzeitig wollte er als orthodoxer Katholik die Bedeutsamkeit des Reliquienkults und der Wallfahrten für die Beförderung katholischer Frömmigkeit belegen. Auch an dieser Stelle wird Müllers Gottesbild eines strafenden Gottes sichtbar, da er seinen Bericht mit der Bitte enden lässt, angesichts der vielen Gebete und des fleißigen Kommunionempfangs möge Gott sich endlich erbarmen und sie von allen erlittenen „Kriegs-Bedrück, Soldaten-Preßung […] und unzähliger Verwüstung […] gänzlich befreien.“⁴⁹⁹ Die Wallfahrt war für ihn ein frommes Werk, mit dem Gott sich in seiner Vorstellung wieder gnädig stimmen lassen konnte.⁵⁰⁰ Er hoffte daher, der Rock-Wallfahrt von 1810 würde eine dauerhafte Zeit des Friedens folgen.⁵⁰¹ Bevor die Reliquie öffentlich ausgestellt wurde, war sie in zwei Etappen nach Trier zurückgeführt worden: Der mit der Rückführung betraute zweite Generalvikar Anton Cordel sowie der Domkapitular Johann Michael Schimper (1756–1829)⁵⁰² verschwiegen zunächst bis kurz vor ihrer Ankunft in Trier den Anlass ihrer Reise. Im nahegelegenen Merzig verschickte Cordel an die umliegenden Pfarreien ein Zirkular, das sie einlud, „mit ihren Pfarrern den hl. Rock am folgenden Tag über die Grenzen ihrer Pfarreien in Prozession zu begleiten“⁵⁰³. Eigentlich waren Prozessionen, die über die Pfarrbezirke hinausführten, untersagt. Allerdings waren Ausnahmen nach Genehmigung des Präfekten oder Bischofs möglich, wozu Cordels Zirkular diente. Indem er ausdrücklich die Pfarreien mit ihren Pfarrern einlud, war gewährleistet, dass sich die Gläubigen nicht eigenständig auf den Weg machten. Angeführt von ihren Seelsorgern sollten diese bei ihren Pfarrkindern die Einhaltung von Sittsamkeit und Andacht sicherstellen.⁵⁰⁴ Cordel
499 Müller: Aufzeichnungen (wie Anm. 77, S. 21), S. 273 f. 500 Er brachte damit die Vorstellung zum Ausdruck, dass eine Wallfahrt „mit ihrer strapaziösen Fußwanderung, den vielen (Rosenkranz-)Gebeten, dem Empfang der Sakramente (Beichte, Eucharistie) […] eine fromme Eigenleistung darstellt, durch die der Mensch begangene Sünden abbüßen und so die Zeit im Fegefeuer“ (Speth: Aufklärung (wie Anm. 244, S. 165), S. 294) oder eben die Bestrafung auf Erden abkürzen könne. Katholische Aufklärer wie Castello lehnten diese Art der Werkfrömmigkeit ab. Zu seiner Wallfahrtskritik siehe Kapitel 3.2. 501 1805 brachen die Kriegshandlungen erneut aus. Die verschiedenen Friedensschlüsse sorgten bis 1814 für keinen dauerhaften Frieden. Da Müller von der „dermaligen französischen Regierung“ oder der Einteilung in Kantone wie sie „damals […] ware“ (Jeweils Müller: Aufzeichnungen (wie Anm. 77, S. 21), S. 272) spricht, wird er den Bericht nach 1814 verfasst haben. 502 Das Domkapitel war 1803 auf der Grundlage der Konkordatsbestimmungen neu eingerichtet worden, siehe Kapitel 2.3. Zu Cordels Biographie siehe im Anhang. 503 Cordel: Diarium (wie Anm. 77, S. 21), S. 254. Das Original des von Lichter edierten und von Cordel verfassten Diariums der Augsburgischen Reise 1810 zur Abnahme des Hl. Rockes befindet sich im BATr Abt 91 Nr. 211, fol. 19–50. 504 Ebenfalls wies Cordel die Pfarrer an, ihre jeweiligen Lokalbehörden über die Prozession sowie das Glockengeläut zu informieren, da letzteres ebenfalls von der vorgesehenen Ordnung
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betonte in seinem Zirkular, dass es nur angemessen sei, „mit frommen Pomp“ die Rückführung dieses „Heiligthum[s]“⁵⁰⁵ zu begleiten. Auch Cordel war in seinem nachträglich verfassten Bericht daran gelegen, die Andacht und Frömmigkeit der Bevölkerung beim Anblick der verwahrten Reliquie herauszustellen. So wäre in Merzig die Kiste mit dem darin befindlichen Rock über Nacht vor dem Altar aufgestellt worden, wo sich das „Volk […] mit Rosenkräntzen, Gebetbücher, Kerzen“ versammelt habe, die sie auf die Kiste gelegt hätten, „um ihn [den Rock] anzurühren, betheten laut und brachten die ganze Nacht dabei zu.“⁵⁰⁶ Interessant ist, dass er bei der Darstellung der Hinreise nach Augsburg bei der Beschreibung Bayerns an die Vorurteile der Aufklärung anknüpft und in einem Atemzug die vielen Bettler sowie die Kruzifixe und Heiligenbilder beschreibt, die die Straßen säumten.⁵⁰⁷ Auch in Augsburg bezeichnet er die Bewohner angesichts ihrer Gottesdienstgebräuche als „bigottisch fromm“⁵⁰⁸. Was ihm bei der feierlichen Rückführung dieser für das Bistum wichtigen Reliquie als angemessene Ehrbezeugung und Beweis für die Gottesfürchtigkeit der Diözesanen galt, war ihm an anderen Orten anscheinend Beweis von Aberglaube und Rückständigkeit. Dass Cordel bei allem „innere[n] Gefühl und Rührung“⁵⁰⁹, die er angesichts der Reliquie empfand, dennoch eine rationale Betrachtung wichtig war, zeigen zwei seiner Bemerkungen: So hält er fest, dass bei der Rock-Wallfahrt zwar überall verkündet worden sei, es seien „Wunder“ geschehen, man jedoch nirgends hätte Wirkungen feststellen können, „die nicht durch natürliche Ursachen konnten herbeigeführt werden“⁵¹⁰, weshalb man keines dieser vermeintlichen Heilungswunder als solches anerkannt habe. Ebenso waren ihm Zweifel an der Echtheit der Reliquie bewusst, denn er betont in seinen Aufzeichnungen, sie weise offenkundig „Spuren eines
abwich. Zum Prozessions- und Wallfahrtswesen in napoleonischer Zeit siehe Kapitel 2.3. Die Regelung ähnelte der in kurfürstlicher Zeit erlassenen Verordnung: siehe Kapitel 3.2. – Dass das Wallfahrts- und Prozessionswesen nicht ganz untersagt, sondern unter staatliche Aufsicht gestellt wurde, hing Mager zufolge damit zusammen, dass es sich mit dem napoleonischen Herrscherkult verbinden ließ. Vgl. Mager: Legitimation (wie Anm. 365, S. 368), S. 194 sowie ähnlich Christof Dipper: Volksreligiosität und Obrigkeit im 18. Jahrhundert, in: Wolfgang Schieder [Hrsg.]: Volksreligiosität in der modernen Sozialgeschichte, Göttingen 1986, S. 73–96, hier S. 93. 505 Jeweils Cordel: Diarium, 2. Teil (wie Anm. 77, S. 21), S. 160. 506 Jeweils ders.: Diarium (wie Anm. 77, S. 21), S. 254. 507 Siehe ebd., S. 248. 508 Ebd., S. 252. 509 Cordel: Diarium, 2. Teil (wie Anm. 77, S. 21), S. 166. 510 Jeweils ebd., S. 169.
402 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? hohen Alters“⁵¹¹ auf, was ihm ein Beleg für die Plausibilität der Legende zu sein schien. Mannay hatte anlässlich der Rückführung der Reliquie zunächst keine öffentliche Ausstellung vorgesehen, gab jedoch im August 1810 die Durchführung einer bistumsweiten Wallfahrt für den darauffolgenden Monat bekannt. Er berief sich dabei auf den Wunsch der Bevölkerung, die bereits die Rückführung mit großer Anteilnahme begleitet habe und nun die Reliquie sehen wolle.⁵¹² Aufgrund der bereits erwähnten Beschränkungen der öffentlichen Kultausübung kümmerte sich Mannay um eine penible Organisation, die jegliche Unruhe vermeiden sollte. Zu diesem Zweck kooperierte er eng mit dem Präfekten des Saardepartements, Alexandre François Bruneteau de Sainte Suzanne (1769–1853) sowie mit dem Maire von Trier, Anton Joseph Recking (1743–1817).⁵¹³ Auch zu diesem Zeitpunkt erging die Anweisung, die Pilger sollten gemeinsam mit ihrer Pfarrei und begleitet von ihrem Geistlichen als Prozession nach Trier in den Dom geführt werden, um den unkontrollierten Zustrom einzelner Pilger zu verhindern.⁵¹⁴
511 Cordel: Diarium, 2. Teil (wie Anm. 77, S. 21), S. 166. Cordel verschweigt ebenfalls nicht, dass sich mit der Wallfahrt Profit machen ließ: Es wären Verkaufsstände vor der Stadt errichtet worden, Erwachsene und Kinder hätten Rosenkränze und Heiligenbilder verkauft (S. 168) und auch das Bistum habe bei Schröll ein Andachtsbuch drucken lassen (S. 170). 512 Vgl. Wagner: Rückführung (wie Anm. 493, S. 398), S. 227. Wagner bezieht sich auf Mannays Schreiben an den Saarpräfekten und den Kultusminister. Die letzte öffentliche Ausstellung hatte 1765 auf Ehrenbreitstein für einen Tag stattgefunden; in Trier war der Rock letztmals 1655 gezeigt worden. Vgl. Müller: Aufzeichnungen (wie Anm. 77, S. 21), S. 256 f., 268. – Auch den Berichten Müllers und Cordels zufolge war die Anteilnahme der Bevölkerung groß. Da sie allerdings ein positives Bild der Wallfahrt vermitteln wollten, kann nicht gesagt werden, ob dem tatsächlich so war oder ob es den kirchlichen Offiziellen gelegen kam, die Wallfahrt als dringendes Anliegen der Gläubigen erscheinen zu lassen und die beiden diese Darstellung übernahmen. 513 Vgl. Wagner: Rückführung (wie Anm. 493, S. 398), S. 229–230 sowie dies.: Revolution (wie Anm. 273, S. 94), S. 285, wo sich weiterführende Angaben zur entsprechenden Korrespondenz finden lassen. – So sorgten bereits bei der Ankunft der Reliquie Soldaten für Platz und Recking hatte die Bürger angewiesen, die Läden geschlossen zu halten und Blumenschmuck an den Häusern und in den Straßen anzubringen. Siehe Cordel: Diarium, 2. Teil (wie Anm. 77, S. 21), S. 162, 164. 514 Jeder Pfarrei wurden zwei Tage für die Wallfahrt sowie eine Kirche in Trier als Versammlungsort zugewiesen. Dort warteten die Gemeinden, bis sie der Pedell des Domes abholte. Siehe Müllers Schilderungen: Müller: Aufzeichnungen (wie Anm. 77, S. 21), S. 272–273. Die bischöfliche Verordnung siehe bei Blattau: Statuta synodalia Bd. 7 (wie Anm. 306, S. 103), S. 403–405. Vgl. auch Wagner: Rückführung (wie Anm. 493, S. 398), S. 227–229 sowie Müller: Aufzeichnungen (wie Anm. 77, S. 21), S. 266–269. – Die Wallfahrt dauerte insgesamt 19 Tage, in denen 227 217 Pilger registriert wurden. Davon reisten 48 200 von außerhalb des Saardepartements an. Jede Gruppe erhielt ein Eintrittsbillet. Für jede Gruppe wurden Kanton, Pfarrei, Ankunftstag, Versammlungsort sowie die Anzahl der Pilger registriert. Vgl. die Auswertung der entsprechenden Zahlen bei:
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Wie Müller zeigten sich am Ende der Wallfahrt auch Mannay sowie Präfekt de Sainte Suzanne mit der Einhaltung von ‚Ruhe und Ordnung‘⁵¹⁵ zufrieden. Auch wenn es keine größeren Vorfällen gegeben zu haben scheint, war beiden sehr daran gelegen, die Wallfahrt als großen Erfolg darzustellen: Anders als erwartet fiel der „Andrang von Pilgern, die nicht zum Bistum Trier gehörten und deshalb auch nicht in den Verteilungsplan des Bischofs aufgenommen waren,“⁵¹⁶ größer aus. Dies führte im Nachhinein zu Beschwerden der Präfekten der Nachbardepartements, die die Kritik der Aufklärung fortführten und Wallfahrten als Beförderungsmittel von Aberglauben und falscher Andacht sahen.⁵¹⁷ Auch Cordel zog ein durchweg positives Fazit der Wallfahrt und verwies ähnlich wie Franz Müller ebenfalls auf ihre einigende Wirkung. Er nutzte die Wallfahrt allerdings nicht dazu, die christliche Gemeinschaft scharf gegenüber allen unwissenden Kritikern abzugrenzen. Vielmehr betonte er, die Ausstellung des Rocks sei „wirksamer“ als jedes andere Mittel gewesen, um Menschen „zu Gott zurück[zuführen], die viele Jahre denselben verlassen hatten.“ Selbst „Menschen ohne Religion verstummten und mancher gieng in sich“⁵¹⁸. Ihm diente die Wallfahrt nicht zur Exklusion, um die Überlegenheit katholischer Christen gegenüber zweifelnder Aufklärer zu beweisen, sondern zur Inklusion all jener, die aus seiner Sicht vom rechten Pfad abgekommen waren. Für ihn war die Wallfahrt ein Zeichen der Erneuerung, der Rückbesinnung auf die Frömmigkeit. Die Berichte von Cordel und
Wagner: Revolution (wie Anm. 273, S. 94), S. 285. Zur Genauigkeit der Zahlen macht Wagner keine Angaben. Für die Rock-Wallfahrt 1844 nimmt Schieder: Kirche (wie Anm. 497, S. 399), S. 422–423 etwa 500.000 Teilnehmer an. – Die hohe Teilnehmerzahl ist sicherlich auf den nach Pfarreien organisierten Ablauf zurückzuführen, der es dem Einzelnen erschwert haben wird, sich dem Geschehen zu entziehen. Hinzu kommt, dass die Ausstellung der Reliquie nur selten und mit großem zeitlichen Abstand erfolgte. 515 Die Schlagworte Ruhe und Ordnung hatten sowohl „eine politische“ als auch „eine religiöse Implikation“ (Wagner: Rückführung (wie Anm. 493, S. 398), S. 231): Aus Sicht des Bischofs konnte nur ein geordneter Ablauf gewährleisten, dass die Gläubigen die Wallfahrt mit wirklicher Andacht begingen. Gleichzeitig musste bewiesen werden, dass die öffentliche Ordnung durch eine solche Veranstaltung nicht gefährdet wurde. – Die Kategorie ‚Ordnung‘ verweist ebenfalls darauf, dass insbesondere Prozessionszüge einer festgelegten Hierarchie folgten (zur Prozessionsordnung bei der Rückführung der Reliquie in Trier siehe Cordel: Diarium, 2. Teil (wie Anm. 77, S. 21), S. 163), die die soziale Ordnung der Stadt oder des Dorfes widerspiegelte. Zur Kategorie der ‚Ordnung‘ in der frühneuzeitlichen Forschung zum Prozessionswesen und ihrer Anwendung auf die Prozessionen der ‚Moderne‘ vgl. Lena Krull: Prozessionen in Preußen. Katholisches Leben in Berlin, Breslau, Essen und Münster im 19. Jahrhundert, Würzburg 2013, S. 13–15. 516 Wagner: Rückführung (wie Anm. 493, S. 398), S. 231. 517 Der Kultusminister wies Mannay darauf hin, dass in Zukunft keine derartige Veranstaltung mehr genehmigt werden würde. Vgl. ebd., S. 232–233. 518 Jeweils Cordel: Diarium, 2. Teil (wie Anm. 77, S. 21), S. 169.
404 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Müller, die die Ereignisse der Rückführung und Wallfahrt rückblickend wiedergeben, tragen damit deutliche apologetische Züge. In dieser Weise interpretierte sie auch Mannay in seinem Hirtenbrief vom 1. Januar 1811: Die Aussetzung der Reliquie habe zur „Erneuerung der Frömmigkeit“ beigetragen; aus dem gesamten Bistum erhalte er Berichte, „daß von der Zeit an der Gottesdienst fleißiger besucht“⁵¹⁹ und die Moralität verbessert worden sei. Mit derartigen Verlautbarungen sollten kritische Stimmen wie die der Präfekten der angrenzenden Departements zum Verstummen gebracht werden, denn schließlich ließ sich argumentieren, die Verbesserung von Moral und Sittlichkeit diene auch dem Staat. Den kirchlichen Offiziellen, aber auch einfachen Pfarrern wie Franz Müller war daran gelegen, mit der Rock-Wallfahrt „den Neuaufbau der Kirchenorganisation“ zu belegen und sich „nach Zeiten existenzieller Gefährdung ihrer gläubigen Anhänger sichtbar zu vergewissern.“⁵²⁰ Gerade Müller deutete die Wallfahrt von 1810 in der Rückschau als eine Art öffentliche „Demonstration wiedergewonnener Stärke“⁵²¹. Vor dem Hintergrund der Gefangennahme Papst Pius’ VII.⁵²² und der Ehescheidung Napoleons⁵²³ mag – auch wenn die Wiederholung einer solchen ‚Großveranstaltung‘ ausgeschlossen worden war – der Regierung in Paris die Wallfahrt letztlich sogar zupassgekommen sein, da das Bild religiös-kirchlicher Wiederherstellung so weiter aufrecht erhalten werden konnte.
519 Jeweils Blattau: Statuta synodalia Bd. 7 (wie Anm. 306, S. 103), S. 438. 520 Schieder: Kirche (wie Anm. 497, S. 399), S. 432. – Stärker noch dienten Prozessionen der Kirche im 19. Jahrhundert zur „öffentlichen Darstellung ihrer Religion“. Krull: Prozessionen (wie Anm. 515, S. 403), S. 12. 521 Schieder: Kirche (wie Anm. 497, S. 399), S. 431. Die Rock-Wallfahrt von 1810 gilt als beispielgebend für die von 1844, bei der auf Mannays Wallfahrtsordnung zurückgegriffen wurde. Anders als 1844 wurde die Wallfahrt 1810 allerdings nicht medial vorbereitet, weshalb der von Schieder unterstellte „Inszenierungscharakter“ (S. 432) deutlich geringer war. 522 Nachdem Pius der Kontinentalsperre die Unterstützung verweigert hatte, besetzten französische Truppen 1808/09 den Kirchenstaat. In einer Bulle verhängte der Papst über alle, die sich am Angriff auf die Kirche beteiligt hätten, die Exkommunikation, woraufhin er im Juli 1809 gefangengenommen wurde. Er blieb bis zum Sieg der Alliierten über Napoleon 1814 in Gefangenschaft. Vgl. Reinhardt: Pontifex (wie Anm. 288, S. 98), S. 749–752. 523 Napoleon gab im Dezember 1809 die Scheidung von Joséphine de Beauharnais (1763–1814) bekannt. Im Frühjahr 1810 heiratete er Marie-Louise von Österreich (1791–1847). – In Belgien wurde „eine ganze Reihe von Pfarrern vom Dienst suspendiert, weil sie sich nach der Gefangennahme des Papstes und der Ehescheidung des Kaisers weigerten, das obligatorische Fürbittgebet für Napoleon (‚Salvum fac‘) zu halten.“ Carl: Krieg (wie Anm. 315, S. 106), S. 210.
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Rückblick auf die französische Zeit Das Verhältnis zwischen Napoleon und der Kirche hatte sich unter dem Eindruck andauernder kriegerischer Auseinandersetzungen bereits vor 1809/10 zu verschlechtern begonnen.⁵²⁴ Da die Kirche in den Augen Napoleons nicht nur „als Stütze der neuen nachrevolutionären gesellschaftlichen Ordnung“, sondern vor allem auch als „Stütze des Militärsystems“⁵²⁵ fungierte, sollten die Geistlichen in ihren Predigten für Konskriptionen werben. Napoleons Stilisierung als Friedensbringer und die Legende vom gerechten Krieg, der zur Teilnahme verpflichte, ließen sich jedoch für den Klerus mit der Zeit immer schwieriger aufrechterhalten. Indem im 1806 eingeführten Katechismus schließlich „in theologisch anstößiger Weise Wehrdienstverweigerung und Desertion als Todsünden definiert“⁵²⁶ wurden, war für viele Geistliche eine Grenze erreicht, zumal der Katechismus in ihren Augen eine völlig unzulässige Einmischung in Fragen der religiösen Unterweisung darstellte. Hinzu kam, dass nicht nur sein Inhalt, sondern auch sein Zustandekommen, an dem lediglich ein französischer Bischof beteiligt war, umstritten waren.⁵²⁷ Die Gefangennahme des Papstes sowie die aus kirchenrechtlicher Sicht problematische Wiederverheiratung Napoleons schufen endgültig eine wachsende Distanz zwischen ihm und Teilen des Klerus. Dennoch gab es keine offene Opposition der Geistlichkeit gegen Napoleon, denn insbesondere die Bischöfe gefährdeten mit widersetzlichem Verhalten schnell ihre Stellung.⁵²⁸ 524 So führt Plongeron aus, dass der in Hirtenbriefen oft auf Napoleon angewandte Titel des Kyros, des persischen Königs, der den Juden nach biblischer Überlieferung die Rückkehr nach Israel und den Wiederaufbau ihres Jerusalemer Tempels erlaubt habe, nach dem Frieden von Tilsit am 8. Juli 1807 keine Anwendung mehr fand. Vgl. Plongeron: Napoleon (wie Anm. 409, S. 380), S. 633–634. 525 Jeweils Carl: Krieg (wie Anm. 315, S. 106), S. 207. In diesem Sinne vorbildlich verhielt sich der Aachener Bischof Marc-Antoine Berdolet (1740–1809), der in seinen Hirtenbriefen die militärischen Auseinandersetzungen lobte und die Konskriptionen unterstützte. Vgl. ebd., S. 207 und Kraus: Weg (wie Anm. 62, S. 17), S. 299. Mannay beschränkte sich weitgehend auf die Anordnung von Dankgottesdiensten bei siegreichen geschlagenen Schlachten. Allerdings hielt auch er seine Priester an, an die Vaterlandsliebe der Gläubigen zu appellieren und lobte in diesem Sinne auch die einheimischen Soldaten. Napoleon stellte er als denjenigen dar, der Frieden wolle, aber von seinen Feinden zum Kämpfen gezwungen würde (z. B. Blattau: Statuta synodalia Bd. 7 (wie Anm. 306, S. 103), S. 279, 288). 526 Carl: Krieg (wie Anm. 315, S. 106), S. 208. 527 Vgl. Plongeron: Napoleon (wie Anm. 409, S. 380), S. 634–635. 528 Vgl. ebd., S. 638–644; Carl: Krieg (wie Anm. 315, S. 106), S. 208. – Nach seiner Gefangennahme verweigerte der Papst jeder Bischofsernennung durch Napoleon die ihm Konkordat vorgesehene kanonische Bestätigung. Dies gestaltete beispielsweise im Bistum Aachen die nach dem Tod des Bischofs notwendig gewordene Nachfolge schwierig. Viele in der Bevölkerung und im Klerus er-
406 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Dieser Problematik versuchte Dewora in Bezug auf Mannay gerecht zu werden: Zum einen war er in seiner Trauerrede bemüht, den Bischof nicht als gehorsamen Erfüllungsgehilfen französischer Kriegspolitik erscheinen zu lassen. Er erinnerte daran, dass sich dieser 1809, als es im Saardepartement aufgrund der ständigen Konskriptionen zu Unruhen kam, für die Anführer und die Bevölkerung eingesetzt habe.⁵²⁹ Zum anderen versuchte er den Eindruck zu zerstreuen, Mannay sei ein „Verräther der katholischen Kirche“⁵³⁰ gewesen, der sich nach der Gefangennahme des Papstes auf Napoleons Seite gestellt habe. Grund für diese Behauptung war, dass Mannay zum Mitglied eines Kirchenrates ernannt worden war, der zwischen Napoleon und dem Papst vermitteln und letzteren zur erneuten Kooperation bewegen sollte. Außerdem nahm er an einem von Napoleon im Juni 1811 einberufenen Nationalkonzil teil, das allerdings ebenfalls keine Einigung in diesem Streit brachte. Es ist anzunehmen, dass Mannay, wie andere Bischöfe auch, kein „Interesse an einem neuerlichen Schisma wie zur Zeit der Revolution“⁵³¹ hatte und sich deshalb einer Vermittlung zwischen Kaiser und Papst nicht entzog. Dewora warb um Verständnis für dieses Dilemma, indem sich die damaligen Bischöfe zwangsläufig
kannten die Rechtmäßigkeit der Amtshandlungen des schließlich ernannten Jean-Dénis-François Camus (1752–1814) nicht an. Der Streit wurde auch öffentlich über Streitschriften ausgetragen. Vgl. Kraus: Weg (wie Anm. 62, S. 17), S. 305. 529 Dewora: Trauer-Rede (wie Anm. 83, S. 22), S. 19 f. In Trier selbst war die Aushebung von 575 Soldaten ruhig verlaufen, in Birkenfeld, Morbach und Prüm gab es hingegen Widerstand. Eine daraufhin einberufene Militärkommission verurteilte zehn der Anführer zum Tod und verhängte für 27 andere Galeerenstrafen. Für diese konnte Mannay einen Gnadenerlass erwirken. Vgl. Müller: Stadt (wie Anm. 229, S. 80), S. 397. – Insgesamt wurden in den vier rheinischen Departements „zwischen 1802 und 1813 etwa 80.000 Konskribierte ausgehoben. Dies dürfte etwa 30 Prozent der gesamten männlichen Jugend im wehrfähigen Alter entsprochen haben.“ Vor allem ab 1806 wurden die Belastungen höher, sodass die „Jahrgänge der zwischen 1790 und 1795 Geborenen schließlich zu über 60 Prozent eingezogen“ (Carl: Krieg (wie Anm. 315, S. 106), S. 205) wurden. 530 Dewora: Trauer-Rede (wie Anm. 83, S. 22), S. 29. Angeblich schenkte auch der Papst Mannay Vertrauen: ebd., S. 30. Vgl. auch Thomas: Bistum (wie Anm. 64, S. 17), S. 177. 531 Plongeron: Napoleon (wie Anm. 409, S. 380), S. 646, vgl. vorher S. 643–645. Ausführlich zu den Vermittlungsversuchen vgl. auch Thomas: Bistum (wie Anm. 64, S. 17), S. 174–177 – Weil einige Bischöfe auf dem Konzil forderten, dass der Erlass von Konzilsdekreten der Zustimmung des Papstes bedürfe, ließ Napoleon drei opponierende Bischöfe verhaften, um sie zur Abdankung zu zwingen. Das Konzil löste er ergebnislos auf. Bei der Einnahme Triers durch preußische Truppen im Januar 1814 befand sich Mannay in Paris. Die Nähe zu Napoleon erwies sich nun als ungünstig: Zwar durfte er zurückkehren, aber als er während der 100-Tage-Herrschaft erneut zum Staatsrat ernannt wurde, wies ihn die provisorische Regierung im Rheinland ins Rechtsrheinische aus. Er durfte nach Frankreich zurückkehren und verzichtete im August 1816 auf sein Bischofsamt. König Ludwig XVIII. nominierte ihn schließlich zum Bischof von Rennes. Vgl. Steinruck: Notablen (wie Anm. 258, S. 90), S. 185–186.
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befanden. Für ihn stand fest, dass der Bischof die „Wunden“⁵³², die die Französische Revolution im Bistum geschlagen habe, heilen konnte. „[U]ngeachtet der heftigsten Stürme, die [die Kirche] seit 18 Jahrhunderten zu zernichten droheten“, habe er auch zu dieser Zeit stets daran geglaubt, dass sie „sich nachher mit desto größerer Schnellkraft wieder […] erheben“⁵³³ würde. So positiv Dewora den Bischof beurteilte, so vernichtend fiel sein Urteil über die französische Zeit aus: In einer anlässlich der Befreiung des Papstes im März 1814 entstandenen Predigt sprach er von den „letzten zwanzig Jahren der Zertrümmerung“⁵³⁴, deren Augenzeuge er und seine Pfarrgenossen geworden seien. Da die Predigt unter dem Eindruck des erneuten Herrschaftswechsels stand, überrascht sein durchweg negatives Urteil über die französische Zeit nicht. Ihr Anlass war allerdings gerade nicht ein Lobgesang auf die ‚neuen Herren‘, sondern die Befreiung des Papstes, dessen Gefangennahme aus Sicht Deworas für einen sich christlich gebärdenden Herrscher wie Napoleon eine Untat darstellte.⁵³⁵ Um das Ausmaß der „Zerrüttungen und Verwirrungen“ der letzten zwei Jahrzehnte deutlich zu machen, „die, wie ein reißender Strom, Frankreich und die hiesigen Gegenden überschwemmten“, bedient sich Dewora in seiner Predigt der Naturkatastrophen-Metaphorik. Die Verursacher dieser ‚Überschwemmung‘ verschweigt er nicht: Es waren Menschen, „welche weder an Gott noch an ein ewiges Leben, weder an geoffenbarte Gesetz[e] Gottes noch an das Gesetz des Gewissens glaub[t]en“. Dieser „Unglaube“ sei zwar schon vor langer Zeit „in Frankreich ausgebrütet worden“⁵³⁶, doch erst „die, während den alles zertrümmernden Jahren der Revolution herbeigeführte, Freiheit und Ungebundenheit im Reden und Handeln“, habe es diesen Ungläubigen ermöglicht, die Oberhand zu gewinnen und das letzte Band zwischen „Obrigkeiten und Unterthanen“⁵³⁷ zu lösen. Indem Dewora die deutschsprachigen Territorien genauso von dieser Naturgewalt betroffen sieht wie Frankreich, macht er deutlich, dass er zwischen dem Land als Ganzem und einigen französischen ‚Ungläubigen‘ unterscheidet, die an die Macht gelangen konnten und zuletzt jede „Ordnung und Glückseligkeit“⁵³⁸ 532 Dewora: Trauer-Rede (wie Anm. 83, S. 22), S. 15. 533 Jeweils ebd., S. 25. 534 Dewora: Rückblick (wie Anm. 83, S. 22), S. 7. 535 Dass ihn dieses Thema beschäftigte, zeigt seine zur ‚Belehrung und Erbauung seiner Mitchristen‘ veröffentlichte Sammlung angeblicher, durch die Gefangenschaft des Papstes veranlasster Briefe und Gespräche: ders.: Briefe und Gespräche, veranlasset durch die Entführung und Gefangenschaftsreise des heiligen Vaters Pius des Siebenten, von Rom nach Sawonna im Juli und August 1809, Hadamar 1816. 536 Jeweils ders.: Rückblick (wie Anm. 83, S. 22), S. 7. 537 Jeweils ebd., S. 8. 538 Jeweils ebd., S. 7.
408 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? zerstörten. Das Feindbild der gottlosen Franzosen traf für ihn nur auf einige wenige zu. Mit der Metapher der Naturkatastrophe will er zeigen, dass die Bevölkerung beider Länder unvorbereitet von diesem Ereignis überrollt wurde und ihm machtlos gegenüberstand. Diese Erfahrung von Chaos und Unkontrollierbarkeit machte für ihn den Schrecken dieser Zeit aus. Indem er gleichzeitig diese Naturkatastrophe auf den Unglauben zurückführte, verband er sowohl religiöse als auch säkulare Deutungsmuster der Revolution und des Krieges miteinander.⁵³⁹ So setzte er die Verbreitung des Unglaubens ebenfalls metaphorisch mit einer seuchenhaften Krankheit gleich, die in Städten und Dörfern keine Bevölkerungsgruppe von ihrem „tödtenden Gifte“⁵⁴⁰ verschont habe. Ebenfalls greift er das „Bild des stellvertretenden Opfers“⁵⁴¹ auf: Die „stärksten Vertheidiger des Christenthums“⁵⁴², die Priester, hätten versucht, sich dieser Gewalt entgegenzustellen. Doch obgleich sie die „Lehrer der Wahrheit“⁵⁴³ seien, hätte man sie verfolgt, misshandelt und verbannt. Er stilisiert die Geistlichen zu Märtyrern des Glaubens, die jedoch gegenüber der Urgewalt des Unglaubens machtlos geblieben seien. Zwar setzte Dewora ähnlich wie Franz Müller Wahrheit mit christlicher Wahrheit gleich, für ihn waren Unglaube und Aufklärung jedoch nicht dasselbe. Ungläubige scheinen für ihn tatsächlich Atheisten gewesen zu sein bzw. Aufklärer, die die Grenzen, die die göttliche Offenbarung der Vernunft setzte, nicht achteten.⁵⁴⁴ Seine Wertschätzung von Bildung, die auch in dieser Predigt an verschiedenen Stellen hervortritt, sein Gottesbild des gütigen Vaters, die Auffassung einer auf das Diesseits ausgerichteten Arbeitsethik sowie die Überzeugung, Gott habe dem Menschen als sein Ebenbild „Vernunft und Freiheit“⁵⁴⁵ zur Anwendung geschenkt, weisen ihn vielmehr als katholischen Aufklärer aus.
539 Zur Naturkatastrophen-Metaphorik aus sprachwissenschaftlicher Sicht vgl. Constanze Spieß: Metaphern, in: Martin Wengeler/Kersten Sven Roth/Alexander Ziem [Hrsg.]: Handbuch Sprache in Politik und Gesellschaft, Berlin, Boston 2017, S. 94–115, hier S. 107. Zum religiös aufgeladenen Feindbild vgl. Carl: Strafe (wie Anm. 4, S. 2), S. 286 f. Zum Topos des gottlosen Franzosen siehe auch Kapitel 4.1.1. 540 Dewora: Rückblick (wie Anm. 83, S. 22), S. 9. 541 Carl: Strafe (wie Anm. 4, S. 2), S. 284. Hontheim hatte es noch vorgezogen, sich nicht zum Märtyrer zu machen, wohingegen Haas bereit war, daraus Kapital zu schlagen, siehe Kapitel 4.1.1. 542 Dewora: Rückblick (wie Anm. 83, S. 22), S. 10. 543 Ebd., S. 9. 544 Die katholischen Aufklärer verstanden ihr Handeln „immer als Gratwanderung, bei der die ‚wahre‘ Aufklärung gegen eine tendenziell deistische, ja atheistische ‚falsche‘ Aufklärung durchgesetzt werden sollte.“ Freitag: Fürstbistum (wie Anm. 42, S. 13), S. 31. 545 Dewora: Rückblick (wie Anm. 83, S. 22), S. 21. Zum Gottesbild siehe Kapitel 3.1.1; zur Arbeitsethik der katholischen Aufklärung siehe Kapitel 3.2. Zum Zusammenhang zwischen Gottesebenbildlichkeit und Vernunftgebrauch siehe Kapitel 3.3.
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In den Augen Deworas hatten weder das Konsulat noch „Napoleons Alleinherrschaft“⁵⁴⁶ eine substanzielle Verbesserung gebracht: Unter einem „Tyrannen“ wie ihm, der sogar den Papst gefangen setzte, konnte für Dewora von Wiederherstellung der Religion keine Rede (mehr) sein. Im Sinne einer moderaten Aufklärung, die die Religion als Garant für Moral und Sittlichkeit betrachtete, war die Missachtung von Gesetzen und die fortgesetzte Zerrüttung der Verhältnisse daher nur die logische Konsequenz einer andauernden Verbreitung der „Irrlehren der Ungläubigen“⁵⁴⁷. Den Sieg der Alliierten über Napoleon stilisiert er zu einem Sieg der Religion über den Unglauben: Gott habe die Gebete der Gläubigen erhört und „alle Länder Europas“ errettet. Vor Moskau habe „Gott dem Unglauben den ersten tödtlichen Schlag“ versetzt und die „Heiden“⁵⁴⁸, die ihn zuvor stets gelästert und gespottet hätten, das Beten gelehrt. Da es Dewora darum ging, die Überlegenheit der Religion darzustellen sowie Frömmigkeit und religiöses Pflichtgefühl seiner Gemeinde zu stärken, entwarf er das Bild eines aktiv eingreifenden Gottes, der selbst Heiden unleugbar seine Allmacht bewies. Die Truppen des österreichischen Kaisers Franz I. stellte er als eine Art Gotteskrieger dar, die sich mit dem Vertrauen auf himmlischen Beistand in die Schlacht geworfen hätten. Voll Zuversicht verheißt er seiner Gemeinde „unter teutscher Regierung“ eine glänzende Zukunft, da nun „wieder öffentlich gelehret, geglaubt und bekennet werden [dürfe], daß wir einen Gott und Vater haben“⁵⁴⁹. Indem Dewora den gottesfürchtigen Deutschen die gottlosen Franzosen gegenüberstellt, argumentiert er nur auf den ersten Blick nationalistisch.⁵⁵⁰ Wie bereits erwähnt, hielt er die Franzosen nicht für ausnahmslos ungläubig und sah den Unglauben genauso unter der Bevölkerung der deutschen Gebieten herrschen. Da Trier mit den südlich der Mosel gelegenen Gebieten zwischen Mai 1814 und Mai 1815 unter österreichisch-bayerischer Verwaltung stand und der langfristige Verbleib noch nicht abzusehen war,⁵⁵¹ wird Dewora lediglich darum bemüht gewesen sein, seine Loyalität gegenüber der neuen Regierung zu bekunden.
546 Ebd., S. 11. 547 Jeweils ebd., S. 14. 548 Jeweils ebd., S. 16. 549 Jeweils ebd., S. 21. 550 Vor allem im protestantischen Deutschland kam es hinsichtlich der Deutung der sogenannten Befreiungskriege zu einer „Osmose von Nation und Religion“. Blessing: Kirchen (wie Anm. 56, S. 15), S. 161. 551 Manfred Heimers: Trier als preußische Bezirkshauptstadt im Vormärz (1814–1848), in: Düwell/ Irsigler [Hrsg.]: Trier (wie Anm. 60, S. 16), S. 399–419, hier S. 399–400.
410 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? In seiner Predigt wollte er die seiner Meinung nach verheerenden Auswirkungen der durch Unglaube beeinflussten politischen Entscheidungen auf die gesellschaftliche Ordnung in französischer Zeit darstellen. Zu diesem Zweck entwarf er ein martialisches Bild der Zerrüttung, des Zerfalls und der Zertrümmerung, deren Opfer die Kirche war. In dieses Bild hätte Mannay, den er wenige Jahre später als Hoffnungsträger beschreibt, nicht gepasst, weshalb er unerwähnt bleibt. Im Vordergrund seiner Predigt stehen allein die politischen Akteure, denn vor dem Hintergrund eines erneuten Herrschaftswechsels sollte eine neue Regierung daran erinnert werden, „daß ohne Religion kein Staat bestehen kann“⁵⁵². Daneben stellte er eine Zukunft in Aussicht, in der die öffentliche Religionsausübung unbeschränkt möglich, Schule und Erziehung verbessert und das Ansehen von Priester und Lehrern wiederhergestellt sein sollten. Deutungsmuster der Zerstörung oder des Verfalls tauchten bereits zu Beginn der französischen Zeit auf, wie in Kapitel 4.1.1 ersichtlich wurde. Mit dem Ende der Franzosenherrschaft nahmen diese Deutungen in Zusammenhang mit Religion und Kirche nicht nur an Häufigkeit, sondern auch an Explizitheit zu. Für den anonymen Verfasser der undatierten Schrift über den Zustand der Religion und ihrer Diener während der französischen Okkupation der trierischen Landen vom 10 August 1794. bis den 6ten Januar 1814 markierte gerade das Jahr 1798 den Zeitpunkt, ab dem seitens der Regierungsvertreter nichts unversucht gelassen worden sei, „die Geistlichn verhaßt und verächtlich zu machen, und dem Volke seine Religion zu rauben.“ Als Beweis werden sowohl die Abschaffung des schulischen Religionsunterrichts als auch der Sonn- und Feiertage zugunsten der Dekadenwoche angeführt sowie das Verbot der öffentlichen Religionsausübung, wodurch kein Priester mehr einen Begräbniszug habe begleiten können. Auf diese Verdrängung religiöser Symbolik aus dem öffentlichen Raum führt der anonyme Verfasser zurück, dass „auch die zuvor besten Bauern [nun] zu erklärten Feinden der Religion und der Geistlichkeit wurden“ und „Religion für Betrug“ erklärten. Er nennt damit die gleichen Kritikpunkte wie Ludwig Müller und Joseph Anton Haas, spitzt sie aber zu, wenn er von einer „offenbaren Verfolgung“⁵⁵³ der Geistlichkeit spricht. Zwar stimmte er mit der Predigt Deworas darin überein, dass die napoleonische Herrschaft keine Verbesserung brachte. Er begründet dies jedoch explizit mit der Aufhebung aller geistlichen Institutionen am 9. Juni 1802 und der nachfolgenden Veräußerung des Kirchenguts, der auch Pfarrkirchen zum Opfer gefallen 552 Dewora: Rückblick (wie Anm. 83, S. 22), S. 26. Seine Predigt richtete sich genauso auch an seine Gemeinde, denen die Notwendigkeit der Religion vor Augen gehalten werden sollte, verknüpft mit der Mahnung, alles zu ihrer „Erhaltung und Fortpflanzung“ (ebd., S. 31) beizutragen. 553 Jeweils Zustand der Religion und ihrer Diener während der französischen Okkupation der trierischen Landen vom 10 August 1794. bis den 6ten Januar 1814. StadtA Tr DK 45/89, o. S.
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seien. Schlimmer als die Säkularisation erschien ihm allerdings die staatliche Besoldung der Bischöfe und Priester, da diese absolut unzureichend gewesen sei und zudem sämtliche Hilfspfarrer ausgeschlossen habe. Als „Klagen […] über diese sonderbare Art, die Religion wieder herzustellen“⁵⁵⁴ laut wurden, habe sich die Regierung nur vorgeblich um Abhilfe bemüht. Auch der Verfall der Pfarrkirchen sei nicht aufgehalten, sondern durch entsprechende Gesetze vielmehr beschleunigt worden. Er bezichtigte damit die napoleonische Regierung nicht einfach nur der unzureichenden Gesetzgebung, sondern systematisch zum Nachteil der Religion und der Sitten gehandelt zu haben.⁵⁵⁵ Konsequent und im Unterschied zu Dewora stellt er es denn auch als Fakt dar, dass die Franzosen fast ausnahmslos „keine Religion ausübten [und] laut darüber spöttelten.“⁵⁵⁶ Indem der anonyme Autor Priesterverfolgung und Religionsverfall als Kennzeichen französischer Herrschaft darstellte, verfolgte auch er den Zweck, Einfluss auf eine neue, „bessere Regierung“ auszuüben. Eine ihrer vordringlichsten Aufgaben sah er in der Einrichtung „zweckmäßig[er] Lehr- und Erziehungs-Anstalten“, da sich vor allem die Jugend vom Glauben abgewandt habe. Konkreter als Dewora verbindet er mit der Forderung, das Ansehen der Geistlichkeit wiederherzustellen, auch die nach einer ausreichenden Besoldung, damit sie „nach ihrem Berufe wirken, dem Staate und der Kirche nützlich“⁵⁵⁷ sein könnte. Ansonsten fürchtete er Nachteile für die Attraktivität des geistlichen ‚Standes‘, den er trotz der Auflösung der ständischen Ordnung als solchen noch bezeichnete. Ob er dabei lediglich auf den Berufsstand hinweisen wollte oder vielmehr anzeigen wollte, dass die Geistlichkeit auch nach Beseitigung ihrer Privilegien eine dem Bürger enthobene Stellung einnahm, bleibt dahingestellt. Dass sowohl er als auch Dewora trotz ihrer Übertreibungen und Zuspitzungen Kirche und Religion schwer durch die französische Herrschaft belastet sahen, zeigt ihr beiderseitiges Bedürfnis, die Nützlichkeit von Priestertum und religiösem Glauben für den Staat herauszustreichen. Beide nahmen anscheinend an, dass diese Wahrnehmung für viele keine Selbstverständlichkeit mehr darstellte.
554 Jeweils StadtA Tr DK 45/89, o. S. – Ab 1807 wurde allen Hilfspfarrern ein Staatsgehalt von 500 Francs gewährt, was allerdings immer noch nur gut die Hälfte oder sogar nur ein Drittel des Gehalts der Kantonspfarrer ausmachte. Siehe Kapitel 2.3. 555 Laut Wagner: Kirchenpolitik (wie Anm. 287, S. 98), S. 213 dokumentieren die häufigen Gesetzesänderungen hingegen, dass sich die napoleonische Regierung „um einen angemessenen Unterhalt für die Geistlichen sorgte und daß diese Sorge von dem Bemühen überlagert wurde, die dem Staat daraus entstehenden finanziellen Belastungen möglichst gering zu halten.“ 556 StadtA Tr DK 45/89, o. S. 557 Jeweils StadtA Tr DK 45/89, o. S.
412 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Kritik an der napoleonischen Herrschaft wurde auch von weltlicher Seite laut: Hatte der Aufklärer Rebmann 1802 Napoleon noch als Helden gefeiert, bezeichnete er ihn 1814 wie Dewora als Tyrannen, der die Grundsätze der Aufklärung verraten und „Zerstörung und Vernichtung“⁵⁵⁸ über Frankreich und Europa gebracht habe. Rebmann, der der katholische Kirche fern stand, beklagte jedoch nicht deren fortgesetzte Verfolgung, sondern die zu enge Verbindung zwischen Kirche bzw. Priesterschaft und Kaiser. Die Geistlichkeit konnte in seinen Augen erneut an Einfluss gewinnen. Allerdings war ihm das Prekäre dieser Machtstellung, die einzig auf Napoleons Wohlwollen und Gutdünken beruht hatte, bewusst.⁵⁵⁹ Auch er richtete sich mit seinen Rückerinnerungen an die siegreichen Fürsten und warnte davor, „das Alte“⁵⁶⁰ einfach wiederherstellen zu wollen und plädierte unter Anerkennung der Neuerungen der letzten Jahrzehnte für einen politischen Mittelweg. Dass für die Geistlichkeit besonders ihr als unzureichend wahrgenommenes Gehalt einen zentralen Missstand darstellte, der unter einer neuen Regierung dringend behoben werden musste, spiegelt sich auch in der Korrespondenz zwischen Generalvikar Anton Cordel und Edmund von Kesselstatt⁵⁶¹ wider. Im Zuge der 558 [Georg Friedrich Rebmann]: Rückerinnerungen an unser Elend und fromme Hofnungen von der Zukunft. Von einem Bewohner des linken Rheinufers, Germanien [i. e. Mainz] 1814, S. 8. 559 Der willkürliche Umgang mit Religion und Kirche, an dem auch das Konkordat nichts geändert habe, legte aus seiner Sicht einen „Keim der Zwietracht“: Die widersprüchlichen Regelungen hätten beispielsweise zur „Erlaubniß der Wallfahrten in diesem, und in dem Verbote derselben an jenen Orten“ (ebd., S. 87) geführt. In manchen Departements „hatten die Priester den unbeschränkten Einfluß auf die Besetzung aller untern Verwaltungsstellen“ (S. 88), in anderen hingegen hätten die Präfekten die Geistlichen selbst in Sachen beschränkt, „in welche sich die weltliche Gewalt durchaus nicht hätte mischen sollen.“ (S. 88 f.) – Rebmann thematisiert Religion und Kirche jedoch nur am Rande in den Anmerkungen. 560 Rebmann: Rückerinnerungen (wie Anm. 558), S. 75. Es folgen sieben Wünsche für die Zukunft, die u. a. beinhalten, das Linksrheinische nicht unter mehreren schwachen Fürsten aufzuteilen, sondern einer kräftigen Regierung zu unterstellen. Die Regierung sollte „Rücksicht auf den Zeitgeist“ (S. 76) nehmen, die Staatslasten gleichmäßig verteilen und eine Interessenvertretung des Volkes einrichten. Zusätzlich forderte er für ganz Deutschland „eine einfache, kräftige Verfassung“ (S. 78). 561 Edmund von Kesselstatt hatte in Mainz Theologie studiert und war als Domkapitular in Würzburg und Eichstätt bepfründet gewesen. Da sein älterer Bruder als Familienoberhaupt überfordert war, übernahm Edmund seit der französischen Zeit diese Aufgabe. Um die Schulden der Familie abzubauen, bediente er sich gezielt des französischen Rechts und profitierte ebenfalls von den Nationalgüterverkäufen. Nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft nahm Edmund als Deputierter der bayerisch-österreichischen Landesverwaltung am Wiener Kongress teil. Über zahlreiche Denkschriften wirkte er in der Folge auf die preußische Regierung ein und wurde zu ihrem wichtigste Ansprechpartner. Zwar setzte er sich auch für die Bedürfnisse der Bevölkerung ein, verteidigte aber vor allem die Standesinteressen des Adels und seiner Familie. Dabei versuchte er, „die für den Adel vorteilhaften Aspekte der französischen Herrschaft mit denen des alten
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veränderten politischen Verhältnisse gingen beide anscheinend von einer baldigen kirchlichen Neuordnung aus, da Cordel in einem Schreiben vom 4. Juli 1814 Kesselstatt mitteilte, dass, solange Unklarheit über die künftigen Bistumsgrenzen herrsche, weder die Anzahl der benötigten Geistlichen noch die Mittel für ihre Dotation zuverlässig bestimmt werden könnten.⁵⁶² In einem zweiten, zwei Tage später datierten Schreiben äußerte sich Cordel allerdings zuversichtlich, dass die Güter, Waldungen und Zinsen zumindest für einen Teil des Klerus ausreichen könnten, sofern „dieselben der Kirche zurückgegeben würden, der sie widerrechtlich entzogen wurden“⁵⁶³. Offenkundig zweifelte Cordel an der Rechtmäßigkeit der Übereignung der Kirchengüter an den Staat und ihrem anschließendem Verkauf, weshalb er auf die Rückgabe oder zumindest eine Entschädigung zu hoffen schien.⁵⁶⁴ Die „Waldungen, Güter, Zinssung, Kapitalien und Rhenten“ – sofern noch nicht veräußert – bildeten darum auch einen Baustein in seinem ersten „Entwurf über die Art, die Existenz der Geistlichen zu verbessern“⁵⁶⁵, den er Kesselstatt in diesem Zusammenhang ebenfalls übersandte. Auch Kesselstatt bezeichnete – bezogen auf den Adel – in einer seiner Denkschriften an die preußische Regierung die ersatzlose Streichung von Zehnten, Renten und Gerechtsamen als widerrechtlich und forderte Wiedergutmachung.⁵⁶⁶ Daneben sah Cordels Entwurf die Finanzierung des Klerus durch Abgaben der Pfarrgemeinden vor, da ihm eine Besoldung durch die Staatskasse aufgrund der negativen Erfahrungen der letzten Jahre zu unsicher erschien. Um jedoch gleichzeitig eine zu große Abhängigkeit der Seelsorger von der Willkür ihrer Gemeinden zu vermeiden, sollte jeder „von der weltlichen Behörde“ zur Entrichtung der schul-
Regimes zu kombinieren.“ Jullien: Adel (wie Anm. 155, S. 62), S. 242. Das Amt des Trierer Bischofs, das ihm 1822 angeboten wurde, lehnte er ab, da er anscheinend eine zu große Einmischung von staatlicher Seite befürchtete. Vgl. Heimers: Bezirkshauptstadt (wie Anm. 551, S. 409), S. 410.– Zur Pfründenpolitik der Familie Kesselstatt sowie zu ihrem Vorgehen in französischer Zeit siehe auch Kapitel 2.1 und Kapitel 2.3. 562 Erst 1821 legte Papst Pius VII. mit der Bulle De salute animarum die Neuordnung der preußischen Diözesen fest. Linksrheinisch umfasste das Bistum Trier nun u. a. die Regierungsbezirke von Trier und Koblenz und erhielt rechtsrheinisch preußische Gebiete, die früher bereits zum Erzbistum gehört hatten. Das preußische Bistum Trier war damit größer als das französische, aber kleiner als das ehemalige Erzbistum. Vgl. Bernhard Schneider: Die Neuorganisation als „preußisches Bistum“. Die Bulle „De salute animarum“ und ihre Umsetzung, in: Persch/Schneider [Hrsg.]: Bistum Trier Bd. 4 (wie Anm. 9, S. 3), S. 47–51, hier S. 49. 563 StadtA Tr DK 52/7, o. S. 564 Da die enteigneten Kirchen- und Adelsgüter nicht restituiert wurden (siehe Kapitel 4.1.3, Anm. 440), übernahmen die Nachfolgestaaten auch weiterhin die Versorgung der Geistlichen. 565 Jeweils StadtA Tr DK 52/7, o. S. 566 Vgl. Jullien: Adel (wie Anm. 155, S. 62), S. 242.
414 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? digen Abgaben „gezwungen“⁵⁶⁷ werden können. Die Abgaben sollten großteils in Naturalien entrichtet werden, da Geld einem „wandelbaren Werth“⁵⁶⁸ unterliege und deshalb ebenfalls nicht zur Existenzsicherung tauge. Auch diese Sichtweise wird möglicherweise den Erfahrungen der französischen Zeit geschuldet gewesen sein, denn bis zu seiner Abschaffung verlor das Papiergeld der Assignaten massiv an Wert.⁵⁶⁹ Für eine Bezahlung mit Naturalien sprach aus Cordels Sicht auch die Tradition: So habe diese Praxis über viele Jahrhunderte bestanden und – da „der Geistliche an den Unfällen wie an Gottesseegen mit den Glaubigen gleichen Antheil“⁵⁷⁰ gehabt habe –, die Eintracht zwischen Gemeinde und Seelsorger gefördert. Cordel wollte damit die Einkünfte der von ihm vorgeschlagenen drei Klassen von Geistlichen⁵⁷¹ auf ähnliche Weise wie im Ancien Régime gestalten. Ihn leitete dabei weniger der Wunsch, das ‚Rad der Zeit‘ zurückzudrehen, sondern eine dauerhafte, von politischen Umbrüchen unabhängige Existenzsicherung der Geistlichen zu erreichen. Obwohl die Geistlichkeit genauso wie der Adel auf die Rückgabe angeblich widerrechtlich entwendeter Güter hoffte, versuchte auch die kirchliche Seite aus ihrer Sicht vorteilhafte Änderungen der französischen Zeit in den späteren Verhandlungen mit dem preußischen Staat zu nutzen. So berief sich das Generalvikariat im Streit mit der preußischen Verwaltung über die konfessionelle Erziehung von Kindern aus sogenannten Mischehen auf die im Code civil verankerte religiöse Gewissensfreiheit. Da die Ehe nach französischem Recht ein rein zivilrechtlicher Vertrag⁵⁷² war und das religiöse Bekenntnis der Ehepartner keine Rolle spielte, konnte die katholische Kirche an ihren kirchenrechtlichen Bestimmungen, die
567 Jeweils StadtA Tr DK 52/7, o. S. Die napoleonische Regierung hatte erwartet, dass die Gemeinden die geringeren Gehälter der Desservanten ausreichend aufstockten. Die Gemeinden waren jedoch nur zur Beratung über Zulagen und nicht zur Bewilligung verpflichtet, weshalb viele keine bewilligten. Vgl. Wagner: Kirchenpolitik (wie Anm. 287, S. 98), S. 212. 568 StadtA Tr DK 52/7, o. S. 569 Vgl. Kuhn: Revolution (wie Anm. 200, S. 73), S. 121. 570 StadtA Tr DK 52/7, o. S. 571 Neben den Bischöfen und den Seelsorgern mit ihren Gehilfen sollte es „Corporationen zur Aushülfe in der Seelsorge, für Missionen, zur Bearbeitung wissenschaftlicher Fächer in stiller Ruhe, zur Besetzung der öffentlichen Lehrstühle, und zur Bildung künftiger Kirchen und Staatsdiener“ (StadtA Tr DK 52/7, o. S.) geben. Wie diese Korporationen genau aussehen sollten, beschreibt er nicht. 572 Vgl. dazu sowie allgemein zum Code civil Helga Schnabel-Schüle: Französische Geschenke: Verfassung und Recht, in: Dühr [Hrsg.]: Trikolore (wie Anm. 61, S. 17), S. 349–363, hier S. 355.
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katholische Erziehung von Kindern aus Mischehen zu verlangen, festhalten.⁵⁷³ Indem sich das Generalvikariat auf den Fortbestand des französischen Rechts berief, wurde dem preußischen Staat ein über das Zivilrechtliche hinausgehendes Mitspracherecht in Ehesachen abgesprochen. Religion war aus der Sicht der Kirche allein mehr ihre Angelegenheit.⁵⁷⁴ Derartige Argumentationen spielten jedoch in den unmittelbar nach Ende der französischen Zeit verfassten Rückblicken aus kirchlicher Sicht noch keine Rolle. Zwar fiel die Religions- und Kirchenpolitik des Direktoriums ab 1798 in den linksrheinischen Gebieten immer noch gemäßigter als im restlichen Frankreich aus, weshalb etwa von einer systematischen Verfolgung der Priester keine Rede sein konnte. Dennoch hatten Teile der katholischen Elite und der Gläubigen diese Zeit als Bedrohung für ihren Glauben und die kirchlich verfasste Religion wahrgenommen. Angesichts eines erneuten Herrschaftswechsels ging es den Vertretern der katholischen Elite – gleich, ob sie dem aufgeklärten oder dem orthodoxen Katholizismus zuneigten – nun darum, den Geltungsanspruch von Kirche und Religion gegenüber der neuen Regierung herauszustellen. Die Rückblicke zeigen, dass die (Selbst-)Stilisierung Napoleons als Wiederhersteller der Religion und Friedensbringer die politischen Realitäten langfristig nicht überdecken konnte. Betrachtete Dewora als Pfarrer die Gefangennahme des Papstes als Fanal, das beinahe zur endgültigen Vernichtung der Religion geführt hätte, bestand es für den anonymen Autor über den Zustand der Religion in der Säkularisation. Die Hoffnungen, die die Geistlichkeit in einen kirchenpolitischen Neubeginn unter Napoleon gesetzt hatte, hatten sich nicht erfüllt.
4.1.4 Zwischenfazit Die französische Zeit stellte zweifellos einen Umbruch dar, der von der katholischen Elite und der Bevölkerung auch als solcher wahrgenommen wurde. Die Haltung der Franzosen zu Kirche und Religion war dabei von Anfang an ein Thema: Um zu verhindern, dass die Bevölkerung mit den Revolutionären sympathisierte, propagierten die Vertreter der kurfürstlichen Regierung und der Gegenrevolution
573 Vgl. Thomas: Bistum (wie Anm. 64, S. 17), S. 180–181; Bernhard Schneider: Vereint aus Kalkül, nicht aus Liebe. Preußen und das Bistum Trier (1815–1824), in: Kurtrierisches Jahrbuch 55 (2015), S. 241–256, hier S. 248–250. 574 Auch nach Napoleons Sturz blieb das französische Recht in den linksrheinischen Gebieten gültig: Gegen die Einführung des preußischen Allgemeinen Landrechts hatte sich Widerstand geregt, da die rheinische Bevölkerung „das französische Recht in seiner modernen Zweckmäßigkeit und seinem Liberalismus kennen und schätzen gelernt hatte[…].“ Schnabel-Schüle: Verfassung (wie Anm. 572), S. 358.
416 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? das Feindbild des gottlosen Franzosen. Ludwig Müller, dessen Aussagen ihn als Vertreter eines orthodoxen Katholizismus ausweisen, war bereits mit Ausbruch des ersten Revolutionskrieges 1792 von dunklen Vorahnungen erfüllt, die ihn sogar die allmähliche Auslöschung des Glaubens befürchten ließen. Leitmotivisch ziehen sich denn auch die Klagen über Religions- und Sittenverfall, die sich in seinen Augen 1798 mit der Verschärfung der Religions- und Kirchenpolitik und schließlich mit der Säkularisation vollends zu bestätigen schienen, durch sein Tagebuch. Gerade die Besatzungszeit wurde jedoch keineswegs nur von orthodoxen Katholiken als Belastung empfunden. Zusätzlich zu den hohen Kontributionen und Requisitionen, die die Franzosen zur Finanzierung des Krieges verlangten, berichten die Tagebücher übereinstimmend von Plünderungen durch die Soldaten. In Mitleidenschaft wurden dabei auch Kirchen, Klöster und Pfarrhäuser gezogen. Die Gewichtung dieser angeblich selbst oder durch Hörensagen erlebten Vorfälle unterscheidet sich jedoch je nach Autor: Müller und Alexander Minola wollten vor allem ihr eigene Wahrnehmung der Bedrohung, die sie von den einmarschierenden Franzosen ausgehen sahen, bestätigt wissen. Johann Lintz hingegen unterschied zwischen dem Auftreten der einfachen Soldaten und der Generalität, die der linksrheinischen Bevölkerung den Schutz des Eigentums und die ungehinderte Gottesdienstausübung zugesichert hatte. Obwohl der angesehene Rechtsbeistand mehrerer Klöster die Besetzung nicht ersehnt hatte, fasste er die Besatzer nicht pauschal als Feinde auf und trat schließlich in ihre Dienste. Doch auch Minola unterschied sich in seiner Wahrnehmung der Ereignisse insofern von Müller, dass er den französischen Besatzern zwar mit unverhohlener Skepsis gegenüberstand, die Flucht des einheimischen Adels jedoch nicht als Verlust empfand. Seine distanzierte Haltung zum Adel kann als Hinweis auf eine Rezeption der Aufklärung gesehen werden. Auch für die Plünderungen kirchlicher und klösterlicher Einrichtungen machte Minola Klerus und Religiosen – sofern sie geflohen waren – zu einem gewissen Grad selbst verantwortlich. Mit der zunehmenden Dauer der Besatzung lehnte er diese jedoch vollends ab: Aus seiner Sicht führte die Kirchenpolitik der Franzosen, die in dieser Zeit allein von finanziellen Interessen geleitet war, zu einer Verelendung des Klerus. Diese Klagen über die prekäre Einkommenssituation der Pfarrer dominierten die gesamte französische Zeit und stellten auch in den Rückblicken auf diese Jahre ein wichtiges Thema dar. Für Vertreter der katholischen Elite wie Kesselstatt und Cordel war es ein wichtiges Anliegen, die unzuverlässige Auszahlung von Pensionen oder Gehältern durch ein anderes Verfahren zu ersetzen. Dabei ging es jedoch nur vorrangig um die Existenzsicherung der Geistlichkeit; vielmehr sollten die Pfarrer als zentrale Vermittler kirchlich verfasster Religion unter einer künftigen neuen Regierung gestärkt werden. Die Tagebücher und Aufzeichnungen über die Besatzungszeit legen nahe, dass bei der linksrheinischen Bevölkerung die Erleichterung über den 1797 geschlosse-
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nen Frieden von Campo Formio zwar groß war, die damit eingeleitete Angliederung an Frankreich allerdings auf eine mehrheitlich passiv-abwartende Haltung stieß. Die grundlegenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen machten sich erst in den folgenden Jahren bemerkbar und konnten 1798 allenfalls als zukünftige Verheißungen zur Legitimation des Herrschaftswechsels dienen. Anhand Müllers Tagebuch wird ersichtlich, dass die verschärfte Religions- und Kirchenpolitik dieser Jahre, die das religiöse Leben aus der Öffentlichkeit verdrängen sollte, von den Gläubigen als Angriff auf die Substanz ihres Glaubens wahrgenommen wurde. Ihr Festhalten an Prozessionen oder Heiligenbildern war jedoch nicht Ausdruck organisierten politischen Widerstands, sondern verwies auf die Trost spendende Funktion der Religion in Zeiten des Umbruchs.⁵⁷⁵ Gleichwohl waren nicht nur Vertreter der weltlichen Elite wie Lintz bereit, sich an die neuen Machtverhältnisse anzupassen. So versuchte Pfarrer Engel offensiv den Umbruch zu seinen eigenen Gunsten zu nutzen, indem er seine Amtskollegen und die Mitglieder des Generalvikariats bei den Besatzern als Emigranten denunzierte. Dem Luxemburger Geistlichen Varain war hingegen daran gelegen, durch Kooperation möglichst unbehelligt zu bleiben. Auch das Trierer Generalvikariat war bestrebt, seine Kompetenzen in geistlichen Angelegenheiten nicht zu gefährden und verlangte aus diesem Grund von den Luxemburger Geistlichen, die geforderten Eide zu leisten. Hontheims Weigerung, die Reunionsadresse zu unterzeichnen, da er sich seiner Loyalität gegenüber der alten Regierung staatsrechtlich noch nicht entbunden sah, änderte an dem grundsätzlich entgegenkommenden Verhalten des Vikariats nichts. Gerade die publizistische Debatte um den Priestereid zeigt, dass die geistlichen Eidbefürworter nicht zwingend aus Überzeugung für die französische Kirchenpolitik argumentierten, sondern vielmehr aus Sorge um die Religion. Das Schwören eines Eides oder die Unterzeichnung einer Reunionsadresse erschien vielen Klerikern das kleinere Übel zu sein, glaubten sie doch, sonst weit schlimmere Beschränkungen der Religionsausübung fürchten zu müssen. Diese Vertreter der katholischen Elite suchten den Umbruch durch die Anpassung an die neuen Machtstrukturen und Denkweisen zu bewältigen: Sie akzeptierten noch vor einem reichsrechtlichen Friedensschluss das unwiederbringliche Ende der alten Ordnung, machten sich die Idee der Meinungs- und Gewissensfreiheit zu eigen und waren bereit, staatliche Regierungsformen als menschengemacht und nicht als gottgegeben aufzufassen. Allerdings kann von dieser kooperativen, angepassten Haltung nicht zwangsläufig auf eine Nähe zur katholischen Aufklärung geschlos-
575 Auf diese Funktion verweist neben Varain auch Dewora in seinem Rückblick auf die Jahre der Zertrümmerung: Dewora: Rückblick (wie Anm. 83, S. 22), S. 13.
418 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? sen werden. So griff von den Eidbefürwortern einzig Johann Raab auf eindeutig durch die katholische Aufklärung beeinflusste Argumente zurück. Im umgekehrten Fall handelte es sich jedoch bei den Verfassern jener Quellenzeugnisse, die eine offenkundige Feindseligkeit gegen die Franzosen zeigten, meist um Vertreter des orthodoxen Katholizismus. Ihre Ablehnung gründete sich auf ihrer Antipathie gegen aufklärerische Ideen, als deren Verwirklichung sie die ‚philosophische Regierung‘ Frankreichs betrachteten. Von der Verfassung gewährte Rechte wie das der Meinungs- und Gewissensfreiheit waren ein Angriff auf ihr Weltbild, in dem allein die Kirche maßgebend in Glaubensdingen war. Für sie stellten die Jahre der französischen Herrschaft durchgängig eine Zeit der Bedrohung dar, die sich – nicht nur für Ludwig Müller – im Bild des religiösen und sittlichen Verfalls manifestierte. Allerdings bildete Joseph Haas, der von der Kanzel offen Kritik an der französischen Kirchen- und Religionspolitik übte, eher die Ausnahme. Franz Müllers Beispiel zeigt, dass die meisten ihre Ansichten nicht direkt öffentlich äußerten, sondern – wie Müller – allenfalls eine spätere Veröffentlichung ihrer Manuskripte planten. Angesichts des Umbruchs, den die französische Zeit bedeutete, ging es folglich für die katholische Elite sowohl darum, den Grad ihrer (Nicht-)Anpassung als auch die Grenzen des Sagbaren auszuloten. Dass letztere vor allem für die Geistlichkeit eng gesetzt waren, bekamen Haas, aber auch Hontheim unmittelbar zu spüren. Die Grenzen des Sagbaren konnten jedoch auch auf andere Weise verletzt werden: So war es für Lintz unhaltbar, sich öffentlich als Feind der Kirche und der Mönche beschuldigen zu lassen. Auch oder gerade während der Besatzungszeit war ein solcher Vorwurf mit erheblichem Ansehensverlust bei den Mitbürgern verbunden. Die Säkularisation, die im Bistum Trier ohne großes publizistisches Echo blieb, bildete für orthodoxe Katholiken wie Ludwig und Franz Müller einen weiteren Baustein in der als kirchen- und religionsfeindlich wahrgenommenen französischen Politik. Einzig Bischof Mannay verhieß selbst in ihren Augen einen Neuanfang, für den vor allem die Rock-Wallfahrt 1810 emblematisch stand. Für die katholische Elite des neugeschaffenen Bistums verkörperte daher Mannay stärker als Napoleon die Wiederherstellung von Religion und Kirche – auch über die französische Zeit hinaus. Napoleon galt in den Rückblicken auf diese Jahre selbst ehemaligen Bewunderern wie Rebmann nur noch als Tyrann, der ganz Europa mit Krieg überzogen hatte. Angesichts eines erneuten Herrschaftswechsel wurde in der Rückschau das Zerrbild einer von Elend und Zertrümmerung geprägten Zeit geschaffen, vor deren Hintergrund umso eindrücklicher die Wünsche für eine bessere Zukunft an die neuen Herrscher formuliert werden konnten.
4.2 Innerkonfessionelle Debatten: Im Widerstreit zwischen Reform und Orthodoxie |
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4.2 Innerkonfessionelle Debatten: Im Widerstreit zwischen Reform und Orthodoxie Die französische Zeit löste innerhalb der katholischen Elite des (Erz-)Bistums nicht nur Diskussionen über die politischen Folgewirkungen des Umbruchs auf Religion und Kirche aus. Indem die Zeitgenossen die Revolution als Manifestation der Aufklärung betrachteten, verlieh der Einmarsch der Franzosen 1794 auch der Frage nach dem Verhältnis von Religion und Aufklärung neue Relevanz. So hatte sich der Diskussionsrahmen durch die Vorgänge in Frankreich grundlegend verändert: Infolge der Revolution verschob sich das Machtgefüge zwischen Staat und Kirche zugunsten des Staates. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte bevorzugte die katholische Kirche nicht, sondern gewährte stattdessen in Verbindung mit der Meinungs- auch Religionsfreiheit. Der Eid auf die Zivilverfassung führte zu einer Spaltung des Klerus, was wiederum ein härteres Vorgehen der Regierung gegen Kirche und Religion bedingte. Im Zuge dessen gab es wiederholt Versuche der Dechristianisierung und der Etablierung philosophisch-deistischer Ersatzreligionen.¹ Die katholische Elite des (Erz-)Erzbistums Trier blickte auf diese innerfranzösischen Entwicklungen nicht nur von Außen, sondern mittelbar wirkte sich die französische Religions- und Kirchengesetzgebung seit 1797/98 auch auf die rheinischen Departements aus. Gerade in diesen Jahren spitzten sich die innerkonfessionellen Debatten zwischen katholischen Aufklärern und orthodoxen Katholiken über die (Un-)Vereinbarkeit von Aufklärung und katholischer Religion zu.
4.2.1 Streitfall Priesterbild und Mönchtum Beispielhaft für die innerkonfessionellen Debatten, die die katholische Elite ab den Jahren 1797/98 führte, steht der Konflikt zwischen dem Augustinerpater Ernst Kronenberger und Johann Jakob Stammel, der zum damaligen Zeitpunkt Pfarrer im nahe bei Trier gelegenen Gusterath war.² Anlass des Streits zwischen den beiden Geistlichen war Stammels Trierische Kronik für den Bürger und Landmann, die dieser im Mai 1797³ veröffentlichte und die eine Fortsetzung seines aufklärerischen 1 Siehe dazu ausführlicher Kapitel 2.3. 2 1794 wurde Stammel zunächst Diakon in Trier. Nach seiner Priesterweihe 1795 trat er die Pfarrstelle in Gusterath an und wurde im Januar 1796 in das Trierer Stadtkapitel aufgenommen. Zu seiner Ausbildung siehe Anhang. 3 Am Ende des Werkes findet sich die Datierung auf den 19. Mai 1797: Johann Jakob Stammel: Trierische Kronik für den Bürger und Landmann, Trier 1797, S. 169.
420 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? literarischen Schaffens darstellte. Wie der Titel zeigt, richtete sie sich an die breite Bevölkerung und stellte einen Versuch dar, dieser in einfacher Form ein Geschichtsbild zu vermitteln, das der Aufklärung verpflichtet war. Die in der Kronik enthaltene Kritik an überkommenen katholischen Frömmigkeitsformen wie dem Reliquienund Heiligenkult, am Mönchtum oder an priesterlichen Standespflichten löste in der Folge eine heftige Kontroverse aus. Dass sich der Streit derart zuspitzte, hing auch mit dem unterschiedlichen priesterlichen Selbstverständnis der Kontrahenten zusammen, denn bei Stammels Wiederpart Kronenberger handelte es sich um einen Exponenten des orthodoxen Katholizismus. Priester- und Mönchsbild in Stammels Franz von Sickingen Stammels Kronik bildete hingegen die logische Fortführung seines von Beginn an auf die Aufklärung ausgerichteten literarischen Schaffens. So geht schon aus seinen frühen Werken eine deutliche Parteinahme für aufklärerische Ideen hervor, wobei ihm vor allem die (historische) Bildung der Bevölkerung ein Anliegen war: Nachdem er sich 1792 in die Debatte um eine an der Aufklärung ausgerichtete Bildung der Jugend eingemischt und klar dafür plädiert hatte, brachte er noch vor Ankunft der Franzosen 1794 eine historische Abhandlung über den Ritter Franz von Sickingen (1481–1523) heraus.⁴ Das Pikante an dieser Betrachtung war einerseits, dass Franz von Sickingen die Reformation aktiv unterstützt und andererseits im Zuge seiner Fehde mit dem damaligen Trierer Kurfürsten, Richard von Greiffenklau zu Vollrads (1467–1531), 1522 die Stadt Trier belagert hatte, mit der Absicht, das Kurfürstentum zu säkularisieren und ein eigenes Reichsfürstentum zu errichten.⁵ Damit wählte Stammel ausgerechnet die Figur als Gegenstand seiner historischen Abhandlung, die neben Caspar Olevian in der Geschichte des Kurfürstentums die zweite ernstzunehmende reformatorische Bedrohung dargestellt hatte. Aus dem Vorwort zu seiner Schrift geht deutlich hervor, dass er sich der kontroversen Beurteilung Sickingens bewusst war.
4 Das Vorwort ist auf den 1. Mai 1794 datiert, siehe Johann Jakob Stammel: Franz von Sickingen. Eine Geschichte aus dem sechszehnten Jahrhundert, Frankfurt und Leipzig 1794, S. XXXVI. 5 Sickingen gewährte einigen Theologen, die aufgrund ihrer „lutherischen Tendenzen“ (SchnabelSchüle: Kirche und Konfession (wie Anm. 20, S. 7), S. 727) verfolgt wurden, auf seinem Stammsitz, der Ebernburg an der Nahe, Zuflucht und ließ dort auch evangelische Gottesdienste in deutscher Sprache feiern. Mit der Belagerung Triers scheiterte er, da er fälschlich angenommen hatte, mehr Unterstützung durch die Fürsten zu erhalten und einen Keil zwischen die Stadtbewohner und den Kurfürsten treiben zu können. Richard von Greiffenklau verbündete sich in der Folge mit dem pfälzischen Kurfürsten und dem Landgrafen von Hessen. Bei ihrer Belagerung der Burg Nanstein bei Landstuhl wurde Sickingen tödlich verwundet. Vgl. auch Molitor: Kurtrier (wie Anm. 4, S. 25), S. 55.
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Ursprünglich sollte seine Schrift Bestandteil eines größeren literarischen Projekts – eines „vaterländischen Allmanach[s]“⁶ – werden; dieses Vorhaben scheiterte jedoch. Ob die Idee zu einem solchen Projekt im Zuge der Auseinandersetzung um Michael Franz Müllers Kaßpar Olewian entstanden war und ob dieser auch daran hätte beteiligt sein sollen, geht aus dem Vorwort nicht hervor.⁷ Die Wahl seines Sujets begründete Stammel zum einen mit dem Wunsch, „manches unbillige und vorgefaßte Urtheil“⁸ seiner Landsleute über Sickingen berichtigen zu wollen. Zum anderen gestand er seine „Vorliebe“ für diesen „Helden“ ein und sah seine Arbeit als Ergänzung zu den „vielen Beiträge[n] zur Geschichte des 16ten Jahrhunderts, welches durch seine Veränderungen und durch die bewirkte Reformation, wovon Franz ein vorzüglicher Anhänger war, sich so wichtig auszeichnete“⁹. Ähnlich wie Michael Franz Müller mit seiner Geschichte des Kaßpar Olewian scheint auch Stammel in den ‚Veränderungen‘ des 16. Jahrhunderts Parallelen zu seiner eigenen Zeit gesehen zu haben. So habe die „aufkeimende Geisteskultur“ des 16. Jahrhunderts, die vor allem durch das Aufkommen des Buchdrucks befördert worden sei, schon damals „einen matten Schimmer von Licht und Aufklärung über [sein] noch ziemlich verwildertes Vaterland“¹⁰ gebracht. Humanisten wie Johannes Reuchlin (1455–1522) wertete er in diesem Sinne als „Beförderer der schönsten Aufklärung“¹¹. Allerdings sah Stammel nicht nur die
6 Stammel: Franz von Sickingen (wie Anm. 4), S. IV. 7 Stammel schreibt im Vorwort, das als eine Art Brief gehalten ist und sich an einen fiktiven Empfänger respektive den Leser wendet: „Sie wissen auch, daß ich vor einigen Jahren mit einigen meiner literärischen Freunden den Plan entworfen hatte, einen vaterländischen Allmanach zu lieferen, und ihn jedes Jahr mit pünktlicher Genauigkeit fortzusetzen. Der Plan konnte nicht mißfallen; ein Stück unserer vaterländischen Geschichte sollte die erste Stelle einnehmen; dann sollte ein ausserordentlicher Mann, der in unserem Lande besonders sich auszeichnete; folgen; trierische Statistik, vaterländische Dichtkunst, und ein Wörterbuch unserer besonderen Mundart sollte den Beschluß machen. […] Nach diesem Plane wurde mir nun der Wundermann Sickingen zu Theil.“ Ebd., S. IV. 8 Ebd., S. V. 9 Jeweils ebd., S. IV f. 10 Ebd., S. 3. 11 Ebd., S. 28. Reuchlin, der an mehreren europäischen Universitäten studiert hatte, war eng in das Korrespondenznetzwerk des europäischen Humanismus eingebunden. Unter anderem fungierte er als Berater verschiedener Fürsten. Neben Latein und Griechisch konnte er auch Hebräisch und tat sich vor allem mit seiner Kenntnis jüdischer Quellen hervor. Er plädierte für eine Auseinandersetzung mit jüdischen Schriften, was ihm den entschiedenen Widerstand der Dominikaner einbrachte. „Der Umstand, dass sich die hitzige Debatte in dem damals neuen Medium des gedruckten Buches abspielte, verwandelte sie in eine breite Kontroverse,“ (Helga Schnabel-Schüle: Kirchliche, politische und intellektuelle Voraussetzungen des reformatorischen Prozesses, in: dies. [Hrsg.]: Reformation. Historisch-kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart
422 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? ‚Geisteskultur‘ in diesem Jahrhundert im Umbruch befindlich, sondern auch das Reich, dessen wichtigste Reichsorgane sich in diesen Jahren formierten.¹² Wie Michael Franz Müller in seinem Kaßpar Olewian ging es Stammel erkennbar um eine vorurteilslose Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, die insbesondere frei von konfessioneller Voreingenommenheit sein sollte.¹³ Vor diesem Hintergrund plädiert er für einen unbefangen Blick auf Franz von Sickingen: „Und der Mann, welcher anderst von den Anhängern eines Luthers, und anderst von unserer Seite beurtheilt wurde, muß in verschiedenem Lichte auftreten.“¹⁴ Offenkundig war Stammel von Goethes Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (1773) beeinflusst und sah in Sickingen – bei allen Schwächen, die er ihm attestierte – ebenfalls einen der letzten ‚aufrechten Ritter‘ des Reiches, der sich allein seinem eigenen Freiheits- und Gerechtigkeitssinn unterworfen gefühlt habe.¹⁵ Dass dieser Kaufleute ausraubte oder „einen begüterten Klosterabt, der sich so gerne unter seinen armen Heiligen versteckt hält,“¹⁶ war aus Stammels Sicht nicht weiter verwerflich. Anknüpfend an die Klosterkritik der Aufklärung, warb er vielmehr für Verständnis, wohlwissend, dass viele seiner Zeitgenossen den Reichtum der großen Abteien kritisch sahen. Stammel bediente gezielt diese Vorbehalte, indem er ohne erzählerische Notwendigkeit beispielsweise davon sprach, „daß der Ritter den Abt bei seiner unthätige[n] Ruhe überfiel, und ihm bei seinen vollen Kloste-
2017, S. 3–12, hier S. 10) bei der zahlreiche andere Humanisten Reuchlin unterstützten. Dennoch wurde sein Werk mit dem Kirchenbann belegt und er selbst zum Schweigen verurteilt. 12 „Zu den wichtigsten Neuerungen der Jahre um 1500 gehört der Ewige Landfriede des Reichstags von Worms (1495). Er sprach das definitive, unbefristete Verbot der Fehde aus.“ In diesem Zusammenhang wurde auch die erste Kammergerichtsordnung verabschiedet, die eine funktionierende Justizorganisation gewährleisten sollte. Ebenfalls begann sich in dieser Zeit der Reichstag als „zentrales politisches Forum“ (Jeweils Axel Gotthard: Das Alte Reich 1495–1806, 4., durchges. und bibliogr. erg. Aufl., Darmstadt 2009, S. 33, 35) des Reiches zu formieren und zu etablieren. Auf diese Prozesse verweist Stammel: Stammel: Franz von Sickingen (wie Anm. 4, S. 420), S. 2–3. 13 Zu Müller und seiner Geschichte des Kaßpar Olewian siehe Kapitel 3.3. 14 Stammel: Franz von Sickingen (wie Anm. 4, S. 420), S. 8 f. Stammel lobt zwar Kurfürst-Erzbischof Richard von Greiffenklau für dessen „weise[…] Regierung“ (ebd., S. 82). Seine Sympathien für den „Wundermann“ (ebd., S. 251) Sickingen sind jedoch unverkennbar. 15 Goethe stilisierte Götz von Berlichingen zum Inbegriff des Sturm und Drang-Selbsthelfers, der für sich das Recht auf Individualität einfordert. Als ‚freier Mann‘ sieht er sich allein Gott, dem Kaiser und sich selbst verpflichtet. Die dem Werk inhärente, aber historisch verschleierte Standesund Adelskritik zielte nicht auf den Sturz der Fürsten, sofern diese sich der Aufklärung verpflichtet sahen. Zur umfassenden Interpretation vgl. Matthias Luserke: Sturm und Drang, bibliogr. erg. Aufl., Stuttgart 2010, S. 104–121. 16 Stammel: Franz von Sickingen (wie Anm. 4, S. 420), S. 7.
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ryms [sic] und fetten Atzungen, wo er an nichts weniger dachte, einen Fehdebrief zustellte“¹⁷. Er begrüßte, dass im 16. Jahrhundert endlich die päpstliche „Allgewalt“¹⁸ ins Wanken geraten sei, die Papst Gregor VII. etabliert hatte. Damit spielte er auf den Topos des Hildebrandismus an, um ganz im Sinne der katholischen Aufklärung seine Zweifel und seine Kritik am Primatanspruch des Papstes deutlich zu machen. Konsequenterweise knüpfte er ebenfalls an das Bild einer während der Reformation darniederliegenden katholischen Kirche an, die ihre „Lauterkeit“¹⁹ verloren habe und deren Oberen nicht im Stande gewesen seien, an diesem Zustand etwas zu ändern.²⁰ Dies erklärte aus Stammels Sicht auch, weshalb der von ihm zu einer Art Freiheitskämpfer stilisierte Sickingen mit Luther sympathisierte: Sickingen habe „einen unwiderstehlichen Drang in sich“ verspürt, „dem Manne beizupflichten, der so dreist veraltete Vorurtheile aufdecken konnte: besonders, da das, was er lehrte, so ganz aus seiner nach Freiheit lechsenden Seele geschrieben zu seyn schien.“²¹ Indem er Luther als Aufdecker von Vorurteilen beschreibt, der sich die Freiheit dazu gegenüber einer in ihren verkrusteten Strukturen erstarrten Kirche herausnahm, lässt Stammel zaghaft eine gewisse Anerkennung aufscheinen. Bei aller Kritik, scheint er Luther nicht ausschließlich pejorativ wahrgenommen zu haben.²² In der Hauptsache jedoch bewegte sich Stammel hinsichtlich der Reformation im üblichen narrativen Rahmen der katholischen Aufklärung, wenn er Luther oder Johannes Calvin (1509–1564) verantwortlich für die Kirchenspaltung machte und die Reformatoren wiederholt nur abwertend als neue Sekte bezeichnete.²³ Stammel zufolge neigte Sickingen jedoch nicht allein wegen der klaren Artikulation von kirchlichen Missständen den Reformatoren zu, sondern auch, weil er ein erklärter „Feind von Gewissenszwang und Pfaffen Despotismus“ gewesen sei, der „den katholischen Klerus, wie er damals war, und das ganze weisse und
17 Ebd., S. 33, Hervorh. A. K. 18 Ebd., S. 4. 19 Ebd., S. 5. 20 Zum Topos des Hildebrandismus, auf den sich auch die Mönchsbriefe beziehen, siehe Kapitel 3.1.1. Zur Deutung des 16. Jahrhunderts in der aufklärerischen Kirchengeschichtsschreibung siehe Kapitel 3.3. 21 Stammel: Franz von Sickingen (wie Anm. 4, S. 420), S. 30. 22 Siehe dazu Kapitel 3.3. Zur Beibehaltung der negativen Luther-Bewertung in der katholischen Aufklärung vgl. auch Haefs: Christentum (wie Anm. 627, S. 243), S. 294–295. 23 Beispielsweise: „Die Kirch erlebte damals noch keine glücklichere Zeiten, als der Staat. Fürchterliche Entzweiungen entsponnen sich in ihrem Schoos, das schöne Gebäude, welches von seinem göttlichen Stifter so schön aufgeführt war, bekam nun Risse, und keiner wagte es, sich vor den Riß zu stellen. In ihrer Mitte erhoben sich mächtige Sekten, welche fürchterlich ihr Inneres durchwühlten.“ Stammel: Franz von Sickingen (wie Anm. 4, S. 420), S. 29.
424 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? schwarze Mönchenkorps“²⁴ gehasst habe. Gemeinsam mit anderen Vertretern des niederen Adels habe sich Sickingen von der Reformation auch eine Stärkung der eigenen Position gegenüber den Herrschaftsansprüchen größerer Landesherren – allen voran der geistlichen Fürsten – versprochen.²⁵ Die reformatorische Lehre habe argumentative Schützenhilfe geboten, sich dagegen zur Wehr zu setzen und außerdem die Möglichkeit, sich guten Gewissens an den „geistliche[n] Besitzungen zu bereichern“²⁶. Einerseits bezeichnet Stammel dieses Vorgehen als „Unfug“, der „unter einem religiosen Palliativ“²⁷ begangen worden sei. Andererseits thematisiert er ausführlich die schlechte Verfassung der damaligen Geistlichkeit, indem er sich auf den zeitgenössischen Theologen Bartholomäus Latomus (gest. 1570)²⁸ beruft, der Päpste und Klerus durch ihren Hang zu Luxus und weltlicher Macht korrumpiert sah. Schon lange habe man bei ihnen „jene Einfalt, welche den ersten Religionsdienern 24 Stammel: Franz von Sickingen (wie Anm. 4, S. 420), S. 32. Die Unterscheidung zwischen schwarzen und weißen Mönche spielt auf die unterschiedlichen Ordenstrachten an. Bereits im Mittelalter wurden die Benediktiner als schwarze Mönche bezeichnet; die Zisterzienser hingegen als weiße. 25 Seit dem späten Mittelalter gerieten die kleineren Adligen immer mehr unter Druck: So richtete sich der 1495 verkündete Ewige Landfriede konkret gegen „jene im Territorialisierungsprozess zurückgebliebenen kleineren Adeligen, deren Fehdefreudigkeit […] die Absicht der Fürsten und Reichsstädte konterkarierte, ihre Territorien zu befrieden und zu konsolidieren.“ Gotthard: Alte Reich (wie Anm. 12, S. 422), S. 33. 26 Stammel: Franz von Sickingen (wie Anm. 4, S. 420), S. 33. – Zwar verfolgte Luther im Grunde von Beginn an ein „obrigkeitsorientiertes Konzept“ (Helga Schnabel-Schüle: Die Reformation 1495–1555, Stuttgart 2006, S. 121) der Reformation, dennoch ließen sich seine Aussagen etwa zur ‚Freiheit eines Christenmenschen‘ oder seine Kritik an der Regierung weltlicher Fürsten zu politischen Zwecken (miss-)deuten. Den Bischöfen – und damit auch den geistlichen Kurfürsten – versagte Luther jede weltliche Herrschaft. Ausgehend vom Prinzip der sola scriptura lehnte er ebenfalls Ordensgelübde ab, da es für sie keine biblische Begründung gebe. Er kam daher zu dem Schluss, dass die Gelübde von vornherein ungültig seien, was in der Folge für zahlreiche Mönche und Nonnen die Rechtfertigung bot, aus ihren Klöstern auszutreten und diese schließlich ganz aufzuheben. Vgl. ebd., S. 114–121. 27 Jeweils Stammel: Franz von Sickingen (wie Anm. 4, S. 420), S. 33. 28 Latomus studierte an der Universität Freiburg und lernte dort den in Basel lebenden Erasmus von Rotterdam (1466/69–1536) kennen, den er auf einer Reise durch das Elsass begleitete. 1522 hielt sich Latomus in Trier auf und wurde dort Zeuge der Belagerung durch Sickingen. Dieses Ereignis verarbeitete er literarisch in seinem Werk Factio Memorabilis Francisci ab Siccingen cum Treuirorum obsidione, tum exitus eiusdem, das er in antikem Versmaß verfasste. In den folgenden Jahren folgten Lehrtätigkeiten an den Universitäten Köln und Leiden sowie am Collège de Sainte-Barbe in Paris. Er war bekannt mit Reformatoren wie Philippp Melanchthon (1497–1560) und Martin Bucer (1491–1551), wandte sich aber klar gegen die reformatorische Theologie. 1547 ernannte ihn der Trierer Kurfürst zum kurfürstlichen Rat. Vgl. Martin Bock: Bartholomäus Latomus, in: Internetportal Rheinische Geschichte, url: http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/bartholomaeuslatomus-/DE-2086/lido/57c93df759be96.11941258 [abgerufen am 17.07.2018].
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so wohl anstehet“, vermissen müssen. Die „Christusreligion“²⁹ sei verkannt und Frömmigkeit nur noch geheuchelt worden. Dieser Wertung schließt sich Stammel an: Da Rom dem „Bedürfniß einer allgemeinen Reformation der ersten Kirchendiener“ nicht habe gerecht werden können, seien weiterhin „Mönche mit ihren Ablaßsäcken unter unsern getäuschten Brüdern [gewandelt], und verbreiteten Irrwahn und Aberglauben.“³⁰ Erst, als das Monopol der Mönche auf die Wissenschaften beseitigt worden sei, sei es mit dem Bildungswesen im Trierer Kurfürstentum aufwärts gegangen. Indem Stammel einen Zusammenhang zwischen Mönchtum und Aberglauben herstellt, knüpfte er an die übliche Argumentation der Aufklärer an, wie sie etwa La Roche in den Mönchsbriefen ausführlich dargestellt hatte. Stammel unterscheidet dabei nicht zwischen ‚alten‘ Ordensgemeinschaften und neueren Bettelorden – sie sind aus seiner Sicht der Bildung alle gleich abträglich. Da er annehmen konnte, dass diese Deutungsmuster Ende der 1790er Jahre seinen Lesern geläufig waren, genügten wenige Stichworte, um bei ihnen das Bild gieriger, wohlgenährter Mönche zu evozieren, die des eigenen Vorteils willen die Menschen in abergläubischer Unwissenheit hielten. Nur vordergründig bezog sich seine Kritik auf das Mönch- und Priestertum des 16. Jahrhunderts: Dadurch, dass er gleich zu Beginn auf die Umbrüche dieser Epoche anspielte und zwischen Humanismus und Aufklärung eine Verbindung herstellte, legte er dem Leser nahe, bei den beschriebenen kirchlichen Missständen auf ähnliche Weise zu verfahren und sie ebenfalls mit zeitgenössischen Wahrnehmungen abzugleichen. Als katholischer Aufklärer sah Stammel noch genug Missbräuche im Kirchenwesen bestehen, die es zu kritisieren und abzustellen galt. Daher handelte es sich bei der Beschreibung der Missstände im Mönchs- und Klosterwesen nur um scheinbar Vergangenes. Allerdings glaubte er, dass diese Kritik nicht von allen Kirchenvertretern erwünscht sei. Rhetorisch wendet er sich an seinen Gewährsmann Latomus und klagt, dieser habe „mit offner Stirne geadelte Vorurtheile bekämpfen“ können, „ohne die Streiche einer bösartigen Inquisition zu fühlen; ohne den unversöhnlichen Haß einer gewissen Klasse von Menschen, welche an ihrer schwächsten Seite immer am empfindlichsten sind“, zu erregen. Stammel suggeriert damit, ein Theologe wie Latomus habe selbst im 16. Jahrhundert unbefangen Missbräuche thematisieren können, was im Falle seiner Kollegen über 200 Jahre später nur das „Zettergeschrei des niedern Häufchens“ heraufbeschwöre, „welches als gedungene Zionswächter nach Belieben uns den Himmel öffnet und zuschließet.“³¹ Mit
29 Jeweils Stammel: Franz von Sickingen (wie Anm. 4, S. 420), S. 37. 30 Jeweils ebd., S. 38. 31 Jeweils ebd., S. 38.
426 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? den ‚Zionswächtern‘³² spielte Stammel auf Gegenaufklärer geistlichen Standes an, die jegliche Reformen unmittelbar als Angriff auf die Orthodoxie ihres Glaubens werteten. Dass sie sich dabei sogar das Recht herausnahmen, nach eigenem Dafürhalten über eschatologische Fragen zu befinden, verärgerte ihn noch mehr. Er empfand es als tiefes Unrecht, dass Geistliche, die sich der Aufklärung verpflichtet sahen, dem Vorwurf der Ketzerei ausgesetzt waren. Bereits seine Einmischung in den Bildungsstreit zwei Jahre zuvor hatte gezeigt, dass aus Stammels Sicht die katholische Aufklärung gegenüber ihren Gegnern zunehmend ins Hintertreffen zu geraten drohte. Seine Rede vom ‚Pfaffen-Despotismus‘ verweist darauf, wie distanziert er selbst einer Geistlichkeit gegenüberstand, die ihren Einfluss dazu nutzte, die Bevölkerung ruhig und unaufgeklärt zu halten.³³ Aus seiner Kritik am Zustand des Klerus zur Zeit der Reformation lässt sich das Ideal eines „Weltpriester[s]“ herauslesen, der sich allein am Vorbild seines „göttlichen Religionsstifters“³⁴ orientieren sollte. Die Pfarrer sollten sich als Verwalter und Verkünder der Lehre Jesu begreifen und ihre Gemeinden in diesem Sinne unterrichten. Indirekt verweist Stammel durch das ausführliche Aufgreifen von Latomus’ Kritik am zu luxuriösen und verweltlichten Lebensstil des Klerus darauf, dass sich die Geistlichkeit einzig nach der angenommenen Einfachheit der christlichen Urgemeinde richten sollte.³⁵ Mit seinem Franz von Sickingen suchte der junge Diakon Stammel das Ideal eines Pfarrers zu verkörpern, der vor allem als Lehrer seiner Gemeinde fungierte – ein Bild, das ihn weiterhin leitete. Dass die Empörung über sein Werk ausblieb, obwohl er sich darin für die Aufklärung und gegen ihre Gegner aussprach, dürfte darum weniger am Inhalt als am Erscheinungszeitpunkt gelegen haben. Der Krieg und die Sorge vor einer Besetzung überlagerten zunächst alle anderen Auseinandersetzungen. Stammels eigene Einstellung zu dieser Bedrohungslage bleibt unklar: 1792 hatte er in seiner Verteidigung des Kaßpar Olewian noch bestritten, der ‚Funke der Revolution‘ könnte auf das Kurfürstentum überspringen. Zwei Jahre später zog er hingegen ausgerechnet eine Legende heran, um die angeblich baldige Wiederherstellung
32 Der zunächst positiv konnotierte Begriff Zionswächter wurde seit den 1770er Jahren „als schelte auf einen orthodoxen zeloten übertragen, also auf einen über ketzereien ohne not lärm blasenden geistlichen“. ‚Zionswächter‘ in: Onlineversion des Deutschen Wörterbuchs von Jacob und Wilhelm Grimm: http://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemma=zionswaechter [abgerufen am 17.07.2018]. 33 Zum Vorwurf des Despotismus im Klosterwesen, der in der anonymen Streitschrift Mönchsbriefe über das Klosterwesen erhoben wurde, siehe Kapitel 3.1.2. 34 Jeweils Stammel: Franz von Sickingen (wie Anm. 4, S. 420), S. 38. 35 Zum Ideal der ecclesia primitiva siehe Kapitel 3.1.1. Zum Priester als Verwalter der Lehre Jesu vgl. auch Handschuh: Wahre Aufklärung (wie Anm. 43, S. 13), S. 83–85.
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von Frieden und Ruhe zu belegen, obgleich er zuvor ein anderes Beispiel dieser Textgattung als „Traumgeschichte“³⁶ abgetan hatte.³⁷ Stammel und Kronenberger: Priesterliches Selbstverständnis im Konflikt Die im Franz von Sickingen angelegte Kritik am Mönchswesen und vor allem am Priestertum führte Stammel in seiner Kronik fort. Dadurch sah sich Ernst Kronenberger zu einer scharfe Replik veranlasst, die er nur wenige Monate später veröffentlichte.³⁸ Kronenberger war 1779 dem Orden der Augustiner-Eremiten beigetreten und wurde 1789 in die Trierer Ordensniederlassung versetzt. Dort fungierte er als Hausprediger des Nonnenklosters St. Anna und hielt als Präses der Bürgersodalität die sonntägliche Predigt in der Jesuitenkirche.³⁹ Er war damit der geistliche Vorsteher der Bruderschaft, aus der sich seit 1798 der harte Kern des Protests gegen die französische Religions-und Kirchenpolitik speiste. In seinen Lebenserinnerungen spricht Kronenberger mit großer Dankbarkeit vom „gottseligen Diener[…] Gottes“⁴⁰ Kirn, der ihm bei seiner notwendig gewordenen Flucht aus Trier behilflich war. Zum Zeitpunkt seiner Erwiderung auf Stammel war für Kronenberger noch nicht abzusehen, dass der Konflikt mit dazu beitragen sollte, ihn in den Augen 36 Stammel: Franz von Sickingen (wie Anm. 4, S. 420), S. 115. 37 „Noch zum Beschlusse eine Mähre, welche der Landmann, welcher in der Nachbarschaft von Landstuhl wohnt, unter sich herumträgt: wahr wird sie wohl seyn, denn sie ist dieses Jahr erst im Drucke erschienen. – Er betheuret heilig, daß so oft bei nächtlicher Weile eine rauhe Kriegsmusik unter diese alten Mauren gehöret wird, das Land immer einen feindlichen Ueberfall zu befürchten habe, folge aber auf dieses betäubende Gelärm eine sanfte Flötenmusik mit einem Frohgesang verbunden, so könne man sich schmeicheln, daß in dem Lande bald wiederum der Frieden und die Ruhe hergestellet sey; diese Erfahrung soll sich nun bei der Annäherung und bei dem Rückzuge der Neu-Franken am Rheine schon bestättigt haben. Wie wunderbar!“ Ebd., S. 251. 38 Ernest Kronenberger: Was ist die stamm’lsche trierische Kronik und wer sind ihre Vertheidiger?, Luxemburg 1797. Für die inhaltliche Seite der jeweiligen Schriften siehe die folgenden Seiten. 39 Kronenberger wurde in Villmar an der Lahn als Sohn eines Gerichtsschöffen geboren. Seine Ausbildung erhielt er im Franziskanerkloster in Limburg. Nach dem Eintritt in den Augustinerorden war er als Lehrer tätig, u. a. als Hofmeister des Grafen von Salm. Vgl. Guido Groß: Der Trierer Prediger P. Ernst Kronenberger OESA. Ein Beitrag zum Kirchenkampf im Zeitalter der Französischen Revolution, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 11 (1959), S. 207–225, hier S. 208; Bernhard Schneider: Kronenberger, Ernst, in: Friedrich Wilhelm Bautz/Traugott Bautz [Hrsg.]: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 4, Hamm 1992, S. 689–691, hier S. 689–690. Die biographischen Angaben gehen im Wesentlichen auf Kronenbergers Lebenserinnerungen zurück, die Bernhard Hemmerle herausgegeben hat: Bernhard Hemmerle: Potrait Ernst Kronenberger und Kronenbergers Lebenserinnerungen, in: Villmarer Hefte 3 (1988), S. 82–101, hier S. 87–88. – Zur Trierer Bürgersodalität siehe Kapitel 4.1.1. 40 Ebd., S. 90.
428 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? der französischen Behörden zu einem gefährlichen mönchischen Unruhestifter zu machen. Stattdessen sah sich zunächst Stammel mit Anwürfen anderer Prediger gegen seine Kronik konfrontiert. Schließlich traten Kirn und Schillinger als Vertreter der Bürgersodalität sowie zwei Vertreter der Wollenweberzunft an Stammel heran und forderten ihn auf, sich gegenüber der Bevölkerung öffentlich zu erklären. Die Abordnung der beiden Sodalen legt nahe, dass Kronenberger sich in seinen Predigten entsprechend nachteilig über den Gusterather Pfarrer und seine Schrift geäußert haben wird und so an der Empörung der Bürger wesentlichen Anteil hatte.⁴¹ Mit einem auf den 12. Juli 1797 datierten Flugblatt kam Stammel der Aufforderung einer Erklärung ans Publikum nach. Darin versicherte er, sich jeder Entscheidung der „geistlichen und weltlichen Obrigkeit“⁴² über seine Kronik beugen zu wollen. Nie habe er im Sinn gehabt, „die ruhige Ueberzeugung meiner Landesleute zu stören“ oder gar „das Geringste in unserer heiligsten Religion zu verrücken.“⁴³ Wie ernst ihm die Anschuldigungen, die man gegen ihn erhob, erschienen sein müssen, zeigt sich vor allem im vierten Punkt seiner Erklärung. Beinahe einem Widerruf seiner zentralen Aussagen gleichkommend, schwört er, [d]aß meinem Herzen nie etwas heiliger gewesen sey, als die Religion, deren Diener und Lehrer ich bin: daß ich Kraft meines katholischen Glaubensbekenntnisses die wärmste Verehrung gegen die Heiligen unserer Kirche, und ihre schätzbaren Reliquien hege: daß ich den Priesterstand ganz nach seiner Würde und nach der Heiligkeit seines Berufes zu schätzen wisse: und das es endlich das größte Mißverständniß sey, dasjenige, was ich von dem Mißbrauche einer Sache und von der Vorzeit erzählte, auf die Sache selbst und auf unsere Tage anzuwenden.⁴⁴
Ähnlich wie sich im Falle der Diskussion um den Priestereid der Streit vor allem auf den Aspekt der Rechtgläubigkeit des jeweiligen Diskutanten zugespitzt hatte, verwahrte sich Stammel in seiner Erklärung ausdrücklich dagegen, ihm diese abzusprechen. Da der Frieden von Campo Formio noch ausstand und der Verbleib 41 So auch Groß: Prediger (wie Anm. 39, S. 427), S. 215. Die meisten Bürger, die sich über die Schrift aufregten, werden der Einschätzung ihrer Prediger gefolgt sein und sie nicht selbst gelesen haben. 42 Johann Jakob Stammel: Erklärung ans Publikum in Betreff der Trierischen Kronik, Juli 1797, BATr Abt. 49 Nr. 46, fol. 1. Nach Stammels eigener Aussage fordert das Generalvikariat zunächst einen Widerruf anstößiger Stellen, zeigte sich dann aber mit einer verbesserten Kurzfassung seiner Kronik einverstanden, zu der es allerdings nicht mehr kam. Siehe ders.: Was ist der Augustiner Prediger, und was ist seine Widerlegung der trierischen Kronik? Keine Schmähschrift, Trier 1797, S. 1. Vgl. auch Groß: Prediger (wie Anm. 39, S. 427), S. 215 f., der sich auf Stammel bezieht. 43 Stammel: Erklärung (wie Anm. 42), fol. 1. 44 Ebd., fol. 1 f.
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des Linksrheinischen bei Frankreich noch nicht sicher schien, wird er sich allein durch den Verdacht, häretische Lehren zu verbreiten, in seiner Existenz bedroht gesehen haben. Er protestierte ebenfalls scharf gegen die Unterstellung, absichtlich „eben diesen Zeitpunkt“⁴⁵ zur Veröffentlichung seines Werkes gewählt zu haben. Damit wollte er wahrscheinlich den Vorwurf, mit der Verbreitung aufklärerischer Ideen die Sache der rheinischen Republikaner unterstützen zu wollen, entkräften. Dass in diesem Konflikt zunächst der Aufklärer Stammel in Bedrängnis geriet, zeigt, dass es zu diesem Zeitpunkt für einen Geistlichen durchaus noch riskant sein konnte, in zentralen Glaubensaspekten eine zu große Nähe zur katholischen Aufklärung aufzuweisen und wie groß das Empörungspotenzial darüber noch war. Obwohl bei den Debatten, die seit den 1770er Jahren über aufklärerische Reformen im Erzbistum geführt wurden, regelmäßig auf Missstände im Frömmigkeits- und Kirchenwesen hingewiesen worden war, die aus Sicht der Aufklärer den Aberglauben beförderten und nicht ihrer Vorstellung von ‚wahrer‘ Andacht und Glauben entsprachen, herrschte über diese Kritikpunkte längst noch kein Konsens.⁴⁶ Wie seine Äußerungen im Franz von Sickingen zeigen, war sich Stammel dieser Tatsache auch zuvor bewusst gewesen. Trotzdem scheint ihn die Härte der Anwürfe gegen ihn überrascht zu haben. Obwohl er offensichtlich bereit war, in dieser Sache einzulenken, versuchte Kronenberger dennoch, die Kronik mit reichlich Polemik zu widerlegen. Öffentlich wies Stammel diesen Angriff energisch zurück, den er im Ton als „beleidigend, kränkend und herabwürdigend“⁴⁷ empfand. Kronenbergers Vorgehen bot ihm die Möglichkeit, sich selbst als unschuldig Verfolgten darzustellen. Längst hatte der Konflikt eine persönliche Ebene erreicht, wie Stammels Forderung nach Genugtuung und Gerechtigkeit für das erlittene Unrecht zeigt. Dramatisch verkündete er, „nicht ruhen“ zu wollen, bevor ihm diese zuteilwerde. Seine Andeutung, unter „billigeren Zeitgenossen“⁴⁸ eine gerechtere Behandlung erwarten zu können, lässt vermuten, dass er mit einem Verbleib des Linksrheinischen bei Frankreich rechne45 Ebd., fol. 2. 46 Es ist anzunehmen, dass auch Johann Emmerich Raab mit seiner Verteidigung des Priestereids, die allerdings erst im Dezember 1797 veröffentlicht wurde, nicht bei allen Gläubigen Anklang fand. Indem die Diskussion aber Resultat der politischen Umstände war, zudem der Linie des Generalvikariats entsprach und stärker (kirchen-)rechtliche Erwägungen betraf, empörte sich die Bevölkerung über Raabs Hirtenbrief vermutlich weitaus weniger – auch wenn die Eidgegner die Debatte auf eine polemisch-unsachliche Ebene zu ziehen versuchten. 47 Stammel: Augustiner Prediger (wie Anm. 42), S. 2. Diese öffentliche Verteidigungsrede richtete sich sowohl an seine Mitbürger als auch an Kronenberger selbst. Der konziliante Ton kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ihm vor allem darum ging, Kronenberger öffentlich als ruchlosen Ehrabschneider darzustellen. 48 Jeweils ebd., S. 6.
430 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? te und sich davon eine Stärkung der Aufklärung erhoffte. Er lässt anklingen, dass er bereits jetzt für seine Positionen nicht nur Kritik erfahren müsse, sondern auch Unterstützer habe. Trotzdem scheint ihm die Auseinandersetzung mit Kronenberger den Eindruck vermittelt zu haben, dass er als Aufklärer in einem weltlichen Amt mehr ausrichten und freier agieren könnte: Er nutzte die Neuordnung des Linksrheinischen 1798 und legte sein Kirchenamt nieder, um in den Dienst des französischen Staates zu treten.⁴⁹ Kronenberger hingegen sah sich ab diesem Zeitpunkt mit einer repressiveren Politik konfrontiert. Mit seinem Auftreten gegenüber Stammel und seinen eigenen Veröffentlichungen hatte er sich als streitbarer orthodoxer Katholik und Gegner der Aufklärung positioniert, wodurch er den Franzosen fast zwangsläufig als Aufrührer erscheinen musste. Bereits vor dem Einmarsch der Franzosen hatte ihm das Trierer Generalvikariat 1794 die Druckerlaubnis für einige seiner Predigten verweigert. Aus Sicht des Gutachters, dem Generalvikariatssekretär Johann Jakob Simon, enthielten die Predigten zwar mitunter „unwidersprechlich gute und nützliche Anstalten und Bemühungen, den physisch- und moralischen Zustand der Menschen zu verbessern“⁵⁰. Für das „ungelehrte Publikum“ seien sie jedoch aufgrund „zu hoch gespannter Sprache und häufigen Anspielungen auf unbekannte Geschichten und Gebräuche der Freymaurer, Illuminaten, und Franzosen“ zu großen Teilen unverständlich. Zudem würde er Themen, „die eine gute und schlimme Seite haben z. B. Aufklärung, Toleranz, Philosophie, Reformieren, Journalisieren, Recensieren“, stets einseitig negativ darstellen. Diese, „einem Volkslehrer allerdings zu tadelnden Behandlungsart“ mache die Texte auch für „gelehrte oder auch nur halbgelehrte Leser“⁵¹ unattraktiv. Vor allem aber würden die Predigten „den geistlichen Regierungen schaden, da der Prediger Reformen in Kirchensachen überhaupt verdächtig machet, als würde unter dem Vorwande, Misbräuche abzustellen, das Wesentliche der Religion angetastet.“ In diesem Sinne streue er unter seinen Lesern Misstrauen und Unbehagen gegenüber anderen „Welt- und Klostergeistlichen – den Gehilfen der Bischöfe –“, da er behaupte, „daß 49 Zunächst war er Mitglied der Trierer Munizipalverwaltung und fungierte einstweilig als deren Kommissar. Am 28. März 1798 wurde er Kommissar der Munizipalität in Konz. In der Folge versuchte er mit entsprechenden Publikationen die Arbeit der französischen Verwaltung öffentlich zu unterstützen. 1799 ging Stammel ans Bezirksgericht nach Prüm, heiratete und wurde 1811 zum zweiten Staatsprokurator am Kreisgericht in Bonn ernannt. Ab 1819 übte er dasselbe Amt unter preußischer Verwaltung am Landgericht Köln aus. Vgl. Wagner: Stammel (wie Anm. 759, S. 275), S. 1142–1143. 50 StadtBib Tr Hs 1769/959, fol. 42. – Zuvor hatte bereits Anton Cordel ein abschlägiges Urteil gefällt (siehe ebd.). Vgl. dazu auch Groß: Prediger (wie Anm. 39, S. 427), S. 210–211. – Die begutachteten Predigten sind nicht überliefert. 51 Jeweils StadtBib Tr Hs 1769/959, fol. 42.
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es unter ihnen Leute gebe, die verkehrte Sachen lehren“⁵² würden. Gerade durch Kronenbergers Kritik an kirchlichen Reformen sah Simon die bischöfliche Autorität untergraben, auch wenn sich dieser namentlich nicht gegen die Bischöfe, sondern ihre Ideengeber wandte. Ingesamt predigte Kronenberger Simon zu politisch: So sei „ein- und anderes in den Predigten, was den Regenten zu nahe geht, da er über die Art, wie Unterthanen sie respectieren, etwas von Satyr, und Tadel über Toleranz einfließen ließ, welche von politisch Seite betrachtet nicht ins Gebiete des Predigtstuhls gehört.“⁵³ Angesichts der politischen Umstände missfielen dem Gutachter insbesondere die Verbalinjurien des Predigers gegen die Franzosen. Er hielt es für politisch unklug, diese „durch beißende Druckschriften noch mehr wider Geistliche und Kirchen zu reizen“⁵⁴. Das Gutachten zeigt, dass sich Kronenberger in seinen Predigten spätestens seit 1794 an der (katholische) Aufklärung und der durch ihre Vertreter angestoßenen Reformen abarbeitete. Der Konflikt zwischen Aufklärung und orthodoxem Katholizismus dominierte in der Folge seine gesamte publizistische Tätigkeit. Gleichzeitig verweist das Gutachten jedoch vor allem auch auf Simons eigene Positionen und damit indirekt auf die des Generalvikariats, als dessen Vertreter er hier agierte. Als ehemaliges Mitglied der Trierer Lesegesellschaft stand er selbst der Aufklärung nahe.⁵⁵ Die Aussage im Gutachten, dass diese sowohl eine schlechte als auch eine gute Seite habe, ist nicht als Vorwurf gegen den Prozess der Aufklärung zu verstehen. Vielmehr kommt darin die Selbstreflexion des Aufklärers zum Ausdruck, der sich der Dialektik der Aufklärung bewusst war.⁵⁶ Für Simon stand die Notwendigkeit kirchlicher Reformen zweifelsfrei fest, sodass es ihm lächerlich schien, die Beseitigung von Missbräuchen mit Angriffen auf ‚das Wesentliche‘ der Religion gleichzusetzen. Aus seiner Sicht musste ein Geistlicher dem volksaufklärerischen Bild des Volkslehrers gerecht werden. In diesem Sinne erwartete er Predigten, die die Zuhörer – oder die Leser – zum Selbstdenken animierten, sie nicht einseitig negativ beeinflussten und vor allem von der Notwendigkeit der ‚von oben‘ verordneten Reformen überzeugen sollten. Inwieweit seine Standpunkte mit denen des Generalvikariats deckungsgleich waren, lässt sich zwar nicht sagen, allerdings
52 Jeweils StadtBib Tr Hs 1769/959, fol. 43. 53 StadtBib Tr Hs 1769/959, fol. 42–43. 54 StadtBib Tr Hs 1769/959, fol. 42. 55 Zu Simons Biographie siehe Anhang sowie Tilgner: Lesegesellschaften (wie Anm. 48, S. 14), S. 63–64. 56 Bestimmte Ausprägungen der Aufklärung wurden relativ früh auch von ihren Vertretern selbstkritisch betrachtet. Die Betonung der reinen Verstandesaufklärung in der Frühphase suchten etwa literarische Bewegungen wie die des Sturm und Drang zu überwinden, indem sie Empfindsamkeit und Geniekult propagierten. Vgl. Schneiders: Selbstverständnis (wie Anm. 750, S. 273), S. 18–19.
432 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? entsprach Simons Einschätzung, die Franzosen möglichst nicht zu reizen, der späteren Behördenlinie.⁵⁷ Dass Simon die Veröffentlichung der Predigten abschlägig beschied, lag folglich darin begründet, dass Kronenberger nicht in sein Bild eines aufgeklärten Volkslehrers passte. Denn entgegen Simons Aussage, die Predigten gingen an den Zuhörern oder Lesern vorbei, attestierte Stammel Kronenberger als Prediger eine große Beliebtheit.⁵⁸ Die widersprüchliche Beurteilung von Kronenbergers Fähigkeiten als Prediger zeigt, dass die katholischen Aufklärer der Predigt zwar einen hohen Stellenwert beimaßen, dabei jedoch nur die eigenen Ideen verbreitet sehen wollten. Daran, dass orthodoxe Katholiken auf ähnlich erfolgreiche Weise Predigten auf ihre Zuhörer zuschnitten und diesen ihre Art der Weltdeutung vermittelten,⁵⁹ bestand kein Interesse. Simon nutzte darum die Möglichkeiten des Zensors, um Kronenbergers Rezipientenkreis klein zu halten. Dass sich das Generalvikariat jedoch in Stammels Fall nicht eindeutig auf dessen Seite stellte, zeigt wiederum, dass die Behörde vor allem an einer vermittelnden Position interessiert war, die die Beibehaltung von Ruhe und Ordnung sicherstellte. Die verweigerte Druckerlaubnis änderte allerdings an den Standpunkten, die Kronenberger in seinen Predigten vertrat, nichts. Seine Schriften ließ er nun einfach in Köln erscheinen, wo ihm die Erlaubnis nicht verweigert wurde.⁶⁰ Als am 23. März 1798 der Freiheitsbaum, der anlässlich der Feierlichkeiten zur Einsetzung der neuen Verwaltungsorgane in Trier aufgestellt worden war, abgesägt aufgefunden wurde, geriet er als Anstifter unter Verdacht.⁶¹ In seinen Erinnerungen schreibt er, der Rumpf des Baumes sei „zweifelsohne von [s]einen Gegnern“⁶² mit den Texten
57 Dass das Generalvikariat eine Entschärfung der Kronik forderte, lag vermutlich vor allem an der Aufregung, die die Publikation ausgelöst hatte. 58 Stammel: Augustiner Prediger (wie Anm. 42, S. 428), S. 6: „Sie haben zahlreiche Zuhörer, man bewundert ihre Beredsamkeit, und hört ihnen oft recht gerne zu“. Dass Stammel Kronenberger nur schmeicheln wollte, ist unwahrscheinlich. Wäre dieser als Prediger unbeliebt gewesen, hätte ihm das mehr genutzt. 59 Vgl. Bock: Predigten (wie Anm. 503, S. 218), S. 241: „Predigen ordnen und deuten erzählend“ die Welt ihres Publikums. Hervorh. i. Orig. 60 Auf dem Titelblatt seines 1797 erschienenen Römisch-katholischen Kontroverskatechism wider die Un- und Irrgläubigen unserer Zeiten ist ausdrücklich vermerkt, der Druck sei mit „Erlaubniß der Obern“ geschehen. Das Entgegenkommen des Kölner Ordinariats sorgte über Departmentgrenzen hinweg für Empörung, vgl. Groß: Prediger (wie Anm. 39, S. 427), S. 217 f. 61 Vgl. ebd., S. 218. Auch Ludwig Müller notierte den abgesägten Freiheitsbaum und fügte an: „Auf die Absägung obigen Freyheitsbaum erhoben sich verschiedene Unannehmlichkeiten, besonders gegen die Klostergeistlichen und Prediger.“ Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1798. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 31v. 62 Hemmerle: Portrait (wie Anm. 39, S. 427), S. 89.
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seiner Predigten verkleidet worden. Nach eigener Auskunft war ihm bereits zuvor zur Flucht geraten worden, um der Deportation zu entgehen, da er „schon längst wegen seinen wackeren, triftigen und heilbringenden Predigen bey übel denkenden des Hasses Gegenstand gewesen“⁶³ sei. Es gelang ihm, sich der angeordneten Ausweisung ins Rechtsrheinische rechtzeitig zu entziehen.⁶⁴ Auch wenn Ludwig Müller möglicherweise übertrieb, wenn er berichtete, Kronenberger sei zuvor häufiger aufgelauert „und nach dem Leben getrachtet worden, ja so gar in der Kirchen selbst“⁶⁵, zeigt dies, zu welcher Hassfigur sich Kronenberger in den Augen aufgeklärter Katholiken und Anhängern der Republik entwickelt hatte. Wie aus den Akten der Verwaltung des Saardepartements hervorgeht, sah man dort sowohl in Kronenbergers Widerlegung der Kronik als auch in einzelnen Predigten genug Anhaltspunkte, ihn für einen veritablen Feind der Republik zu halten.⁶⁶
63 Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1798. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 25r. Offenkundig sympathisierte Müller mit Kronenbergers Deutung der zeitgenössischen Umbrüche. 20 Soldaten, bekleidet „von unsern Klubbisten“ – wie Müller die einheimischen Revolutionsbefürworter despektierlich nennt –, seien ins Augustinerkloster gekommen, um den Pater zu verhaften. Da sie ihn nicht mehr antrafen, hätten sie stattdessen den Prior sowie zwei weitere Mönche mitgenommen und diese bis zum nächsten Tag festgesetzt. „Es wurden ihnen aber einige Gendarmes zur Execution hingeleget, so lang bis sie ihren Prediger liefern würden.“ (Ebd.) 1799 ordnete das Direktorium die Deportation von sechs Mönchen des Augustinerklosters ins Rechtsrheinische an; zwei der Mönche wurden unter besondere Aufsicht der Munizipalität gestellt, siehe StadtA Tr Fz 678, o. P. 64 Das Direktorium verfügte am 1. April 1798 die Ausweisung: Kronenberger habe „alle Kräfte [aufgeboten], in Predigten den Geist der Einwohner von Trier zu verderben“, weshalb er „von Brigade zu Brigade jenseits des Rheins geführt werden [sollte], mit der Einschärfung sich nicht wieder auf dem von den Armeen der Republik besetzten Boden zu zeigen, unter Strafe, als Spion behandelt zu werden.“ Recueil, 5/6 (wie Anm. 235, S. 82), H 6, S. 13. Die Zentralverwaltung des Saardepartements beschloss, die Anordnung an alle Munizipalverwaltungen des Departements zu schicken, „um in allen Gemeinden des Umfangs gelesen, verkündet und angeheftet zu werden, um denjenigen, welche den Gemein-Geist verderben wollten, zum Beyspiel zu dienen.“ Johann Jakob Haan: Journal für das Saar-Departement, erstes Heft, 1798, S. 25. 65 Tagebuch Ludwig Müller, Jg. 1798. LHA Ko Best. 700,062 Nr. 28, fol. 25r. 66 Siehe LHA Ko Best. 761 Nr. 551, fol. 9 mit Textbeispielen aus seiner Widerlegung, fol. 17–19 zu seiner Dankesrede für den Frieden sowie fol. 29–30; 41–42 zu seiner Predigt über das sündige Jerusalem. Aus seiner ‚Friedensrede‘ wurde u. a. folgender Auszug moniert: „Frankreich, das gelehrte, das leutselige, das altkatholische Frankreich verjagte seine königlichen Kardinäle, seine hundert vier und dreyßig Bischöfe, seine vier und achtzigtausend standhafte Priester, und das linke Rheinufer selbst blickete, wie in Todesschatten, auf die nassen Fußstapfen seiner ausgewanderten Religionsdiener“ (fol. 17). – Sofern sich Kronenberger in seinen Predigten der Ironie bediente, ist am Blattrand ein entsprechender Hinweis vermerkt. Die beanstandeten Reden wurden erstmals 1798 abgedruckt und finden sich in: Ernest Kronenberger: Fastenreden. Ein Betrachtungsbuch für alle Stände. Zweite Abteilung: Die Tochter Sion. Eine Jeremiade über ihre Schwestern in sechs
434 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? In seinen Erinnerungen wirft Kronenberger Stammel – den er einen „ruchlose[n] und apostasierte[n] Priester“⁶⁷ nennt – vor, bei der Aufstellung eines neuen Freiheitsbaumes eine Rede wider ihn gehalten zu haben. Die Rollen der beiden hatten sich offensichtlich vertauscht. So stellte sich Kronenberger nun als unschuldiges Opfer falscher Verdächtigungen dar: Er gesteht zwar ein, sich durch seine Werke sowohl „Freunde“ als auch „Feinde“ gemacht zu haben, bestreitet jedoch, je „etwas gegen das Politische“⁶⁸ gesagt zu haben. Vielmehr habe man ihm nach der Vereinigung mit Frankreich „alles verdreht […] und falsch“ ausgelegt und sogar „Spione in [s]eine Predigten“⁶⁹ geschickt. Obwohl er die Jahre nach seiner Flucht aus Trier als entbehrungsreich beschreibt, sah er sich letztlich durch seine ‚Verfolgung‘ in seinem priesterlichen Selbstbild bestätigt: Ähnlich wie bei Haas erfüllten in die Geschehnisse mit einer gewissen Genugtuung, zeigte sein Schicksal doch, dass eine Zeit „des Unglaubens, der Räuberei und Apostasie“⁷⁰ hereingebrochen war, in der er dennoch als Priester seinen ‚rechten Glauben‘ unter Beweis stellte. Aus seiner Sicht hatte er sich diesem ‚Kampf gegen den Unglauben‘ nicht entziehen können, trotz der Konsequenzen. Die politischen Implikationen, die diese Auseinandersetzung durch die französische Zeit erhielt, führten dazu, dass sich die Lager der Aufklärer und der orthodoxen Katholiken noch unversöhnlicher gegenüberstanden. Gleichwohl lag die Eskalation auch darin begründet, dass das in kurfürstlicher Zeit diskutierte Priesterbild nur scheinbar für beide Seiten anschlussfähig gewesen war: Stammel erinnerte Kronenberger bewusst daran, dass sie beide „Religionslehrer“ seien und Fastenpredigten; nebst fünf Gelegenheitsreden, Deutz 1800. – Ein Verzeichnis der bei Kronenberger nach seiner Flucht beschlagnahmten Papiere findet sich in LHA Ko Best. 761 Nr. 551, fol. 79. Unter den Fundstücken befanden sich u. a. Manuskripte neuer Predigten. 67 Hemmerle: Portrait (wie Anm. 39, S. 427), S. 90. 68 Jeweils ebd., S. 88. 69 Jeweils ebd., S. 89. 70 Ebd., S. 89. – Nach seiner Flucht hielt sich Kronenberger zunächst in Aschaffenburg und Augsburg auf, bevor er sich nach Wien an den kaiserlichen Hof begab. Dort trat er der Societas de fide Jesu bei, die 1797 von Niccoló Paccanari (1773–1811) gegründet worden war, um die Jesuiten zu ersetzen. Für die zum Ordenswechsel notwendige päpstliche Erlaubnis sollte Weihbischof Pidoll nach Aufforderung durch Erzbischof Clemens Wenzeslaus eine entsprechende Empfehlung für Kronenberger anfertigen (Brief von Erzbischof Clemens Wenzeslaus an Weihbischof Pidoll, 11. Juli 1799 (Schloss Oberdorf). BATr Abt. 49 Nr. 4, fol. 100). Im Anschluss ging Kronenberger als Lazarettseelsorger nach Italien. Mitte 1800 wechselte er als Professor für Dogmatik an die Ordensniederlassung in Dillingen an der Donau. Als die Stadt nach der Säkularisation des Hochstifts Augsburg an das mit Frankreich verbündete Bayern fiel, floh er erneut. Nach Austritt aus dem Orden erhielt er 1805 eine Pfarrei in Neuwied; 1810 wird er Pfarrer in Ransbach. Aus seinen Erinnerungen geht hervor, dass er – aus seiner Sicht stets unverschuldet – an vielen Orten immer wieder aneckte. Siehe ebd., S. 90–100. Vgl. auch Groß: Prediger (wie Anm. 39, S. 427).
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sie darum erfüllen müssten, „was unsere heiligste Religion von uns Beyden, als ihren Dienern fo[r]dert.“ Er selbst sieht seine Aufgabe darin bestehen, dass er „in aller Herzenseinfalt gute Saamen“⁷¹ unter seiner Gemeinde ausstreut. Nach seinem priesterlichen Selbstverständnis, das bereits im Franz von Sickingen sichtbar wurde, hatte der Pfarrer in erster Linie als Lehrer seiner Gemeinde vorzustehen. In dieser Funktion sollte er seinen Pfarrangehörigen keine vorgefertigten Überzeugungen präsentieren, sondern sie mit seinen Gedanken – die er gleich einem Gärtner oder Bauern als ‚Samen‘ unter ihnen aussäte – zu eigenständigem Denken anregen. Auch wenn sich Kronenberger ebenfalls als Diener Gottes sah, lag ihm eine Selbstdeutung als geistlicher Volkslehrer im Sinne der Aufklärung völlig fern. Er interpretierte sein Lehramt vielmehr im tridentinischen Sinne als das eines Wächters, der kraft seines sakralen Amtes seine sündige Gemeinde zur Buße und Umkehr anhalten musste.⁷² Der Streit als solcher bringt damit bereits ein konträres priesterliches Selbstverständnis zutage. Beispielhaft lassen sich an ihm die beiden Extreme nachvollziehen, die Priester in diesen Jahren einnehmen konnten: Auf der einen Seite stand Kronenberger, der seine Aufgabe darin bestehen sah, gegen den vermeintlichen Unglauben seiner Tage anzupredigen und auf der anderen Seite Stammel, der sich genauso kompromisslos der Verbreitung der Aufklärung verschrieben hatte. Mit seiner Kronik griff er unbewusst einen Vorschlag Castellos auf, der die Beschäftigung mit der Geschichte als eine für die Aufklärung zweckdienliche Aufgabe der Pfarrer betrachtete.⁷³ Sowohl Stammel als auch Kronenberger waren sich ihrer unterschiedlichen Standpunkte bewusst und waren bereit, ihren Konflikt öffentlich auszutragen. Glaubte zunächst Kronenberger die Deutungshoheit für sich beanspruchen zu können, meinte am Ende Stammel triumphieren zu können, der seinen Sieg über die „Feinde der Wahrheit und des Volkes“ bejubelte und nun verkündete, kein Wort seiner „Vaterländischen Geschichte“ zurücknehmen zu wollen: „Wahrheit bleibt mir heilig: fürs Vaterland zu wirken, Licht zu verbreiten, und mich meinen Mitbürgern zu widmen, sollte ich auch verkennet und verfolgt werden, dieses wird immer meine süsseste Pflicht seyn.“⁷⁴
71 Jeweils Stammel: Augustiner Prediger (wie Anm. 42, S. 428), S. 6. 72 Vgl. Dürr: Selbstverständnis (wie Anm. 614, S. 241), S. 80–89: „Das Tridentinum hatte mit großer Dringlichkeit darauf hingewiesen, daß die Aufgabe der Priester darin bestehe, für das Heil der Gläubigen zuständig zu sein.“ Ebd., S. 80. 73 Zu Castello siehe Kapitel 3.2. Castello dachte dabei allerdings in kleineren Maßstäben und schlug die Beschäftigung mit der Geschichte der eigenen Pfarrei vor. 74 Jeweils Rede, gehalten bei der Einsetzung der neuen Munizipalität des Kantons und der Stadt Trier von dem Bürger J. J. Stammel Munizipalbeamten daselbst, den 24. Windmonat 6. Jahrs [14. März 1798]. StadtA Tr Fz 111 Nr. 37.
436 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Stammels Kronik für den Bürger und Landmann Auch in seiner Kronik bediente sich Stammel der im Franz von Sickingen in Ansätzen erprobten Methode, mittels der geschichtlichen Darstellung seinen Lesern die historische Bedingtheit bestimmter Phänomene, Geschichten oder religiöser Praktiken vor Augen zu führen und ihnen damit den Nimbus unumstößlicher Wahrheiten zu nehmen. Gleichzeitig sollten die Leser dadurch das nötige Wissen an die Hand bekommen, nicht nur die sozialen, sondern auch die kirchlichen Verhältnisse als veränderbar wahrzunehmen und diese Veränderungen auch zu akzeptieren. Dem ‚Bürger und Landmann‘ wollte Stammel die Möglichkeit geben, zu verstehen, „daß aus uns das geworden ist, was wir nun wirklich sind“⁷⁵. Er maß damit der geschichtlichen Betrachtung einen erklärenden Faktor zu, der über die reine Präsentation einer chronologischen Abfolge der Daten und Fakten hinausging. Im Mittelpunkt seiner Kronik stand die trierische Landesgeschichte, wobei Stammel sein Augenmerk auch auf die ‚heidnischen‘, also die keltischen und römischen Anfänge legte und diese gleichberechtigt neben der christlichen Geschichte darstellte. Er strukturierte seine Kronik zwar im Verlauf anhand der Regierungszeit der Erzbischöfe, bemühte sich jedoch, auch die Lebensumstände der Bevölkerung zu thematisieren und für sie so einen Bezug herzustellen. Da Stammel daran gelegen war, Aberglauben aufzudecken, konzentrierte er sich allerdings vor allem auf kirchengeschichtliche Aspekte. Stammel war sich trotz späterer gegenteiliger Beteuerungen bewusst, mehr als eine Geschichte des Kurfürstentums Trier verfasst zu haben. In seiner kurzen Widmung an den Leser erläutert er, in seiner Kronik nicht „blos erzählen“ zu wollen, sondern „hier und da […] auch einige Bemerkungen“ einzustreuen, folglich die Ereignisse auch zu bewerten. Er rechnete damit, dass die von ihm beanspruchte „Wahrheit“ bei einigen Missfallen erregen könnte: „Ich wünsche, nur Wahrheit geschrieben zu haben; wird sie einen oder den andern beleidigen, dafür kann ich nichts.“ Auch wenn ihm die Wucht der Aufregung um sein Werk überrascht haben mag, war er dennoch nicht so naiv, gar keinen Widerspruch zu erwarten. Vielmehr berief er sich darauf, nicht anders handeln zu können, da die Geschichte „nie schmeicheln oder lügen“⁷⁶ dürfe. Mit der Berufung auf Tatsachen sollte jegliche Kritik an seiner Darstellung von Vornherein als Ausdruck der subjektiven Befangenheit des Kritikers zurückgewiesen werden. Einerseits bewegte sich Stammel mit seiner historisierenden Vorgehensweise, der sich auch La Roche mit wiederholten Rückgriffen auf die Kirchengeschichte oder Michael Franz Müller bedient hatten, völlig im Rahmen der katholischen
75 Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 1. 76 Jeweils ebd., o. S.
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Aufklärung. Andererseits hatten die durch die Französische Revolution und die anschließende Besetzung gewandelten politischen Voraussetzungen eine neuen Deutungsrahmen geschaffen, vor dessen Hintergrund sich für viele Zeitgenossen Stammels Absichten sehr viel radikaler darstellten als von diesem möglicherweise intendiert gewesen war. Dass die zeitliche Dimension eine Rolle spielte, zeigt sich an seinem Abstreiten, absichtlich diesen Zeitpunkt zur Veröffentlichung gewählt zu haben. Kronenbergers Unterstellung, die Kronik sei ein Werk weniger Wochen, war daher keine bloße Stilkritik, sondern Ausdruck des Unbehagens, der Aufklärer Stammel wolle mit französischer Rückendeckung nun auch an den Grundfesten des Glaubens rütteln.⁷⁷ Hinzu kam, dass Stammel seine Kronik bis in die unmittelbare Gegenwart seiner Zeitgenossen hineinreichen ließ und daher auch die Besetzung durch das revolutionäre Frankreich ansprach. Allerdings verschwieg er weder die bestehenden Missstände in der Verwaltung noch die nachteiligen Folgen des Krieges für die Bevölkerung oder die prekäre finanzielle Situation der Geistlichkeit. Dennoch werden seine Kritiker möglicherweise eine stärker Distanzierung erwartet haben, auch wenn das für Stammel riskant gewesen wäre. Ihnen wird die recht nonchalante Schilderung der Revolution missfallen haben: „Die Franzosen führten mehrere Beschwerden, glaubten sich in Verschiedenem zu hart gedrückt, gaben sich deswegen eine neue Verfassung, machten sich ihres Königes loß, und verwickelten sich mit dem deutschen Reiche in einen langwierigen Krieg.“⁷⁸ Zwar schränkt Stammel ein, die Bedrückungen der Franzosen, die zur Revolution führten, seien gefühlt gewesen. Das Verb losmachen wirkt jedoch vor dem Hintergrund der Hinrichtung Ludwigs XIV. verharmlosend. Auch, dass die „Franken, welche ein großes Reich stifteten, das noch heut zu Tage von ihnen Frankreich heißt“⁷⁹, „endlich der drückenden Herrschaft der Römer ein Ende“⁸⁰ gemacht hätten, musste vor dem zeitgenössischen politischen Hintergrund als Lob für das stets als ‚Befreier‘ auftretende Frankreich aufgefasst werden. Für Kronenberger reichten Stammels politisch interpretierbare Aussagen aus, ihn als „Minerval der I***** Sekte“⁸¹ zu bezeichnen, womit er auf den 1785 verbo-
77 Stammel betonte, seit sieben Jahren an der Kronik gearbeitet zu haben. Siehe Stammel: Augustiner Prediger (wie Anm. 42, S. 428), S. 5. 78 Ders.: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 166. 79 Ebd., S. 33. 80 Ebd., S. 32. Später seien die Trierer „bei der letzten Theilung vom Frankenlande, wozu sie sonst gerechnet wurden, losgerissen, und zu Deutschland, ihrem alten Mutterlande, geschlagen“ (ebd., S. 54) worden. Obwohl er Deutschland als Mutterland bezeichnet, deutet er den Akt durch die Verwendung des Verbs losreißen als etwas Gewalttätiges. 81 Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 12.
438 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? tenen Illuminatenorden anspielte. Kronenberger knüpfte damit an die sogenannte Komplottlegende an, die sich unter dem Eindruck eines zunehmend radikalisierenden Revolutionsverlaufes zu einer ‚Drahtziehertheorie‘ entwickelt hatte: Mit dieser versuchten die „Gegner der Revolution und Aufklärung fortan immer wieder einen unhaltbaren kurzschlüssigen Kausalnexus zwischen Illuminaten und den Aufklärern, Bastille-Erstürmung und Jakobiner-Herrschaft“⁸² herzustellen. Maßgeblichen Anteil an dieser Theorie hatte der Wiener Publizist Leopold Alois Hoffmann (1760–1806).⁸³ Er bezeichnete in seiner zwischen 1792 und 1793 erschienenen Wiener Zeitschrift wiederholt die Illuminaten als „Verursacher und Lenker der Französischen Revolution“⁸⁴ und wirkte so an einem einseitigen, dämonisierenden und sachlichen falschen Bild der Revolution mit. Kronenberger wird durch diese Art der publizistisch-literarischen Gegenaufklärung beeinflusst gewesen sein, was seine haltlose Unterstellung, Stammel sei Illuminat, zeigt. Dass sich Stammel aus Kronenbergers Sicht in der Kronik als „ausserordentlicher Volksfreund“ präsentierte, machte ihn „gewaltig verdächtig.“⁸⁵ Indem er ihn als ‚Volksfreund‘ bezeichnete, rückte er ihn absichtlich in die Nähe der rheinischen Republikaner.⁸⁶ Er konstatiert denn auch, dass seit geraumer Zeit viele dieser Volksfreunde „reden“ würden, die „Erfahrung“ jedoch lehre, dass gerade sie 82 Albrecht/Weiß: Bemerkung (wie Anm. 93, S. 128), S. 12. – Zur Komplottlegende, die in Ansätzen bereits bei La Roche eine Rolle spielt, siehe auch Kapitel 3.1.1. 83 Hoffmann war zunächst Anhänger der Aufklärung und unterstützte als solcher die Reformen Kaiser Josephs II. Kurzzeitig war er ebenfalls Mitglied der Freimaurer. Spätestens seit 1785 begann er sich langsam von der Aufklärung abzuwenden und sich in seiner Publizistik der gegenteiligen Richtung zuzuwenden. In der Folge wurde Leopold II. auf Hoffmann aufmerksam und wollte dessen gegenaufklärerische Publizistik für seine eigenen Zwecke nutzen. Kurz vor seinem Tod beauftragte er Hoffmann mit der Herausgabe der Wiener Zeitschrift. Vgl. zu Hoffmann ausführlich: Helmut Reinalter: Gegen die „Tollwuth der Aufklärungsbarbarei“. Leopold Alois Hoffmann und der frühe Konservatismus in Österreich, in: Weiß [Hrsg.]: Obscuranten (wie Anm. 89, S. 127), S. 221–244. 84 Albrecht/Weiß: Bemerkung (wie Anm. 93, S. 128), S. 24. Auch Goldhagen argumentierte in diese Richtung, wobei die Illuminaten bei ihm nur eine untergeordnete Rolle spielten, vgl. Dumont: Freygeister (wie Anm. 97, S. 129), S. 62, 65. Mit den militärischen Misserfolgen der preußischösterreichischen Koalition geriet auch die gegenaufklärerische Publizistik in die Defensive: Statt einer argumentativen Auseinandersetzung über Aufklärung oder Revolution überwogen Hetze und persönliche Angriffe. Vgl. Albrecht/Weiß: Bemerkung (wie Anm. 93, S. 128), S. 24–25. – Vor allem bei der Wiener Zeitschrift lassen sich Querverbindungen zu entsprechenden protestantischen Journalen der Gegenaufklärung nachweisen: So druckte der Herausgeber der Gießener Neuesten Religionsbegebenheiten, Heinrich Martin Gottfried Köster (1734–1802), mehrmals Zitate oder Beiträge aus der katholischen Wiener Zeitschrift ab. Vgl. Krenz: Konturen (wie Anm. 43, S. 13), S. 259. Zu diesen Verbindungen siehe auch Kapitel 3.1.1, Anm. 120. 85 Jeweils Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 12. 86 Die Cisrhenanen bezeichneten sich in einem ihrer Flugblätter als „Freunde des Volkes und der Freiheit“ (StadtA Tr Fz 110, Nr. 24). Siehe zu diesen Aufrufen Kapitel 4.1.1.
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die „ärgste[n] Feinde“⁸⁷ des Volkes seien. Einen Beleg für diese Behauptung bleibt er schuldig. Offenkundig missfiel Kronenberger, dass Stammel versuchte, auch die Situation der einfachen Bevölkerung bei seiner Darstellung zu berücksichtigen und angesichts der Beschreibung der keltischen Vorfahren etwa feststellte, dass der „Bürger der untersten Klasse“⁸⁸ nur zum Gehorchen und zum Leisten der Abgaben da gewesen zu sein schien. Wiederholt spielt er auf die knechtischen Verhältnisse an, in denen das Volk aufgrund der historischen Entwicklung habe leben müssen. Obwohl Stammel vorgeblich die Zustände vergangener Zeiten beschrieb, lösten solche Schilderungen bei Kronenberger Argwohn aus. Vor dem Hintergrund revolutionär-republikanischer Umbrüche musste Kronenberger fast notgedrungen glauben, in Stammels Aussagen noch eine ganz andere Bedeutungsebene versteckt zu finden. Doch trotz seiner offenkundigen Sympathien für das ‚einfache‘ Volk, ist auch Stammels Verständnis von Aufklärung nicht ganz frei von einem elitären, obrigkeitlichen Zug: So legt die Darstellung, die Trierer Bürger hätten die Wissenschaften vernachlässigt und die Universität nicht unterstützt, nahe, dass es zwingend der Lenkung einer Regierung bedurfte, um die Bildung zu befördern.⁸⁹ Nur deren gut ausgebildeten Vertreter konnten aus Stammels Sicht den Stellenwert einer Universität erkennen; der einfache Bürger war dazu nicht in der Lage. Inwiefern Stammel mit Äußerungen wie der, dass die Kelten ungern hinter Mauern lebten und „das Freie“⁹⁰ geliebt hätten, auf mehr als nur die Vorliebe für bestimmte Siedlungsformen anspielte, bleibt meist in der Schwebe. Da er allerdings diesen Aspekt gleich zweimal erwähnt, sollte vermutlich ein historisches Narrativ geschaffen werden, demzufolge die Liebe zur Freiheit von jeher zum Wesenskern der trierischen Bevölkerung gehörte, die stets durch andere eingeschränkt worden sei. Dass Stammel einer grundlegenden Veränderung der gegebenen Verhältnisse wohlwollend gegenüberstand, zeigt auch die Aussage, es sei Sache der Menschen, „die Erde zum Paradiese oder zum Jammerthale umzuschaffen.“⁹¹ Seinen Lesern gab er dadurch zu verstehen, dass es in ihrer Macht lag, ob sie weiterhin Knechte ihrer Herren sein wollten oder nicht. Genauso wenig glaubte er daran, dass der Mensch allein dem göttlichen Willen ausgeliefert war, ohne auf die eigene
87 Jeweils Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 12. 88 Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 6. 89 Siehe ebd., S. 126. 90 Ebd., S. 8. „Unsere ersten Landsleute liesen sich nicht gerne hinter Mauern einsperren, sondern liebten das Freie, und wohnte zerstreut voneinander.“ Später hätten die Römer eine Befestigung errichtet: „[D]ie Trierer, welche so gerne im Freien wohnten, wurden nun hinter Thürmen und Mauern eingeschlossen“. Ebd., S. 16. 91 Ebd., S. 101.
440 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Lebensgestaltung Einfluss nehmen zu können. Als Aufklärer wollte er, dass sich der Mensch nicht auf das Jenseits konzentrierte, sondern ein auf das Diesseits ausgerichtetes Leben führte.⁹² Es ist davon auszugehen, dass sich Stammel der politischen Deutungsmöglichkeiten seiner Aussagen bewusst war. Dennoch verzichtete er vor dem Hintergrund des zum Entstehungszeitpunkt der Kronik im Mai 1797 noch unklaren Verbleibs des Linksrheinischen auf Konkretisierungen und überließ seinen Lesern diesbezüglich die Interpretation. Dass durch die französische Besetzung nun auch ein grundlegender Wandel der politischen Verhältnisse im Rheinland möglich schien, veranlasste ihn wahrscheinlich, im Gegensatz zu seinen früheren Werken deutlichere Sympathien für Frankreich als Ursprungsort der Revolution oder zur Idee der Freiheit erkennen zu lassen. Die in dieser Hinsicht unscharfen Formulierungen ließen ihm später Raum, alle Verdächtigungen der republikanischen Parteinahme abzustreiten. Priester- und Mönchsbild in der Kronik Während sich der Umbruch der Besetzung gerade auf den Deutungsrahmen der politisch interpretierbaren Äußerungen deutlich auswirkte, bewegte sich Stammel mit dem in der Kronik formulierten Priester- und Mönchsbild vordergründig zunächst weiter innerhalb der gängigen Deutungsmuster der katholischen Aufklärung und setzte seine bisherige Linie fort. Provokant stellte er jedoch ausgerechnet die ‚heidnischen‘ Druiden als Verkörperung seines priesterlichen Idealbilds dar: Sie seien „nicht blos Religionsdiener, sondern auch die Lehrer und Richter des Volks“⁹³ gewesen. Er gibt jedoch zu, dass man sie der Grausamkeit beschuldige, da sie angeblich ihren Göttern Menschen geopfert hätten. Gleichwohl macht er damit deutlich, dass das Priesterideal des Volkslehrers nicht auf das Christentum oder ein bestimmtes Jahrhundert beschränkt ist, sondern auch vorchristliche Gemeinschaften – wie er unterstellt – leitete. Auch in römischer Zeit habe der Priester weiterhin die Funktion des Volkslehrers innegehabt und die ersten Bischöfe „schämten sich nicht, selbst die Erzieher ihrer Geistlichkeit zu seyn.“⁹⁴ Zumindest hinsichtlich der Sittlichkeit und Moral der Geistlichkeit erscheint auch bei Stammel die christliche Frühzeit wieder als „Höhepunkt der Kirchengeschichte“⁹⁵. Stammel ging es dabei weniger um die Kritik an den zeitgenössischen Bischöfen und ihrer Bemühungen um eine verbesserte
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Ähnlich argumentierte er bereits in seinem Erstlingswerk, siehe dazu Kapitel 3.3. Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 11. Ebd., S. 22. Handschuh: Wahre Aufklärung (wie Anm. 43, S. 13), S. 87.
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Pfarrausbildung, denn er lobt, Clemens Wenzeslaus habe für „gute Seelsorger“ gesorgt, „indem er dem Priester-Seminarium eine bessere Einrichtung gab“⁹⁶. Vielmehr beharrte er wahrscheinlich deshalb auf dem für die katholische Aufklärung programmatischen Bild des Priesters als Volkslehrer, weil er es noch immer für nicht umgesetzt hielt bzw. eine anhaltende gegenläufige Entwicklung befürchtete. Er selbst hatte das Priesterseminar zu einem Zeitpunkt besucht, als erneut reformfeindliche Kräfte die Oberhand gewannen und die Veränderungen der Jahre zuvor zunichte machten.⁹⁷ Für die Zukunft wird sich Stammel ein Wiedererstarken der Aufklärung am Priesterseminar erhofft haben, dessen Studienbetrieb seit der Besetzung stark eingeschränkt war. Hinsichtlich des Klosterwesens gestand Stammel zwar zu, dass die Mönche an der Wende von der Spätantike zum Frühmittelalter eine wichtige Bildungsaufgabe erfüllt hätten und es „unter ihnen immer recht brauchbare Leute [gab], bei denen man in finsteren Zeiten oft große Gelehrsamkeit antraf.“⁹⁸ Insgesamt erzählt er jedoch die Geschichte eines kontinuierlichen Niedergangs. Die Anfänge des Klosterlebens in Europa und insbesondere im trierischen Raum schildert Stammel als Ergebnis einer eher zufälligen Begebenheit.⁹⁹ Die Entscheidung, die Einsamkeit zu suchen und Mönch zu werden, wird von ihm als spontaner Entschluss dargestellt und nicht – christlich idealisiert – als inneres Bedürfnis nach ‚wahrer‘ Christusoder Apostelnachfolge. In den ersten Mönchen sieht er darum keine nachahmungswürdige Repräsentanten einer vermeintlich besonders christlichen Lebensweise. Vielmehr bemerkt er angesichts des raschen Anwachsens der Gemeinschaften, „bei jeder Kirche [habe] es Leute“ gegeben, die „die Gesellschaft der Menschen verließen, […] um ja den Himmel nur nicht zu verfehlen.“¹⁰⁰ Jene ersten Mönche waren 96 Jeweils Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 163. 97 Siehe dazu Kapitel 3.2. Vgl. auch Reichert: Priesterseminar (wie Anm. 49, S. 37), S. 116–121. – Stammel muss sein Studium vor 1788 begonnen haben, da er in diesem Jahr das Baccalaureat erwarb, 1789 den Magister und 1791 den Doktorgrad. 98 Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 44. 99 Zwei Höflinge, die sich in Trier aufgehalten hätten, wären bei einem Einsiedler auf die Lebensbeschreibung des Heiligen Antonius gestoßen. Einer von ihnen habe beim Durchblättern „eine besondere Vorliebe für diese Lebensart“ entwickelt und seinen Freund überredet, mit ihm in die Einsamkeit zu gehen. In Stammels Darstellung mutet diese Entscheidung wie aus einer Laune heraus an und wird sehr lapidar geschildert. – Antonius (gest. 356) war ein christlicher Mönch aus Ägypten, der als Begründer des christlichen Mönchtums gilt. Eine Lebensbeschreibung ist durch Athanasius (gest. 373), dem Bischof von Alexandria, überliefert. Sie löste auch im lateinischen Westen des Römischen Reiches Begeisterung für das asketische Leben aus. Die Bekehrungsgeschichte der beiden Höflinge, auf die Stammel anspielt, findet sich in den autobiographischen Confessiones des Augustinus von Hippo. Vgl. Christoph Dartmann: Die Benediktiner. Von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters, Stuttgart 2018, S. 14–15, 19. 100 Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 28.
442 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? aus seiner Sicht keine frommen Asketen, sondern fehlgeleitet in ihrer kindlichen, unvernünftigen Furcht, ansonsten nicht in ‚den Himmel‘ zu gelangen. Verzicht und Weltabgewandtheit galten Stammel demgegenüber gerade nicht als Zeugnis ‚wahrer‘ Religion.¹⁰¹ Stammel missfielen allerdings nicht nur die aus den Traditionen des frühen Mönchtums hervorgegangenen älteren, kontemplativen Ordensgemeinschaften, sondern auch die ‚neueren‘ Mendikantenorden sowie die Jesuiten. In den Bettelorden sah er anscheinend noch immer einen Hort religiöser Eiferer, da er ihr Aufkommen in der Trierer Diözese ausschließlich mit ihrer Beteiligung an Inqusitionsverfahren zur Verfolgung angeblicher Ketzer in Zusammenhang bringt.¹⁰² Indem er auf den Franziskanerpater Adam Knörzer und dessen angebliche Teufelsaustreibungen und Wunderheilungen verweist, nutzt er auch ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit, um die aus seiner Perspektive fanatischen und den Aberglauben befördernden Umtriebe der Bettelmönche zu untermauern.¹⁰³ Über den Jesuitenorden merkt er knapp an, es gebe Leute, „welche behaupten, sie hätten […] ihr Ansehen gemißbraucht, und seyen dadurch gestürzet worden.“¹⁰⁴ Da ihm wichtig war, sowohl die Einmischung der Jesuiten in die Seelsorge als auch ihr Monopol bei der Besetzung von Lehrstühlen zu betonen, teilte er offenkundig den verbreiteten Antijesuitismus der Aufklärung und rief bei seinen Lesern dessen Argumente wach.¹⁰⁵ Insgesamt spielte die Auseinandersetzung mit dem Klosterund Mönchswesen jedoch nur eine geringe Rolle in der Kronik. Vermutlich nahm Stammel an, dass nach dem Ende des Jesuitenordens Dank der Franzosen auch bald alle übrigen Ordensgemeinschaften abgeschafft würden.¹⁰⁶ Deutliche Kritik übt Stammel an der zunehmenden Verweltlichung sowohl der Welt- als auch der Klostergeistlichen. Die Macht der Geistlichkeit sei im Laufe der Zeit allein deshalb gewachsen, weil die Fürsten und Großen die Kirchen und Klöster reichlich beschenkt hätten. Einerseits hätten sie die Geistlichkeit als Mitarbeiter in den „wichtigsten Staatsämtern“ gebraucht, andererseits sich durch fromme Stiftungen ihr Seelenheil und das ihrer Angehörigen erkaufen wollen. Indem die
101 Hatten im Christentum zunächst Märtyrer als „Vermittler göttlichen Heils“ fungiert, traten später „Mönche in die Tradition der Märtyrer ein, die ihr Leben in rigoroser Askese als Zeugnis für die ‚wahre‘ Religion und für einen Bruch mit der Welt verstanden.“ Dartmann: Benediktiner (wie Anm. 99, S. 441), S. 13 f. 102 Siehe Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 89 f. 103 Zu Castellos Kritik an Wunderheilern, die sich wahrscheinlich auch auf Knörzer bezog sowie zum ‚Fall Knörzer‘ selbst, siehe Kapitel 3.2. 104 Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 135. 105 Zum Antijesuitismus siehe Kapitel 3.1. 106 Zur französischen Klosterpolitik siehe Kapitel 2.3.
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Kirche damals begonnen habe, die „vorgeschriebenen Bußübungen der Sünder mit Geld einzulösen,“¹⁰⁷ hätte sie die Anhäufung noch größerer Reichtümer befördert. Er macht damit deutlich, dass es für die materielle Macht der Kirche und der Klöster keine ursächliche Notwendigkeit gab, sondern sie das Resultat historischer Entwicklung war. Gleichzeitig griff er die Kritik der katholischen Aufklärung auf, dass Kirche und Ordensgemeinschaften aus dem Aberglauben der Gläubigen Profit schlügen. Als historisch bedingt beschreibt er auch die „Vorrechte[…]“, die den Geistlichen innerhalb der Ständegesellschaft eingeräumt worden seien. Ähnlich sei es auch mit dem Zehntrecht gewesen, dass anfangs die „schöne[…] Verfügung“ beinhaltet habe, „daß der eine Theil zum Unterhalte der Priester, der zweite für die Aufrechthaltung des Gotteshauses, der dritte endlich zur Unterstützung der Armen bestimmt seyn sollte.“ Diese Regel sei allerdings bald in Vergessenheit geraten, stattdessen seien „mit den Kirchengütern die ungerechtesten Schleichund Tauschhändel“¹⁰⁸ getrieben worden. Dass die Kirche auch im weltlichen Bereich an Einfluss gewann, hatte auch La Roche in seinen Mönchsbriefen kritisiert. Wenn Stammel jedoch die Bedrückungen der „Knechte und Leibeigenen“ durch ihre geistlichen Herren im Vergleich zu weltlichen als „härter“¹⁰⁹ bezeichnet, bewegte er sich nicht einfach im theoretischen Rahmen aufklärerischer Diskussionen über die Legitimität geistlicher Herrschaft.¹¹⁰ Mit der Besetzung des Trierer Kurfürstentums war die Herrschaft des Kurfürst-Erzbischofs faktisch beendet und in Frankreich die Säkularisation der Klöster längst vorgemacht worden. Die Kritik an der weltlichen Macht der Kirche oder an ihrem Reichtum war infolge der Revolution keine intellektuelle Fingerübung mehr, sondern zeitigte längst erste Ergebnisse. Wenn Stammel ausführt, die Geistlichkeit habe in früheren Jahrhunderten aufgrund ihres Einflusses, dessen Missbrauch und ihrer „Ausschweifungen“¹¹¹ in der Bevölkerung nach und nach an Ansehen verloren, deutet er an, dass die Kirche allein auf ihre geistlichen Aufgabenfelder beschränkt bleiben sollte. Nur so hielt er es für möglich, unter den Geistlichen – egal, ob einfacher Pfarrer oder Bischof – die notwendige Disziplin aufrecht zu erhalten, damit sie den ihnen anvertrauten Gläubigen mit gutem und lehrreichem Beispiel vorangehen konnten. Auch seine Kritik am Zehnten ist untrennbar mit den zeitgenössischen Gegebenheiten verbunden: Er schien das Vorgehen der Franzosen, die geistlichen Güter zunächst zu beschlagnahmen, prin107 Jeweils Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 38. 108 Jeweils ebd., S. 41. 109 Jeweils ebd., S. 36. 110 Zu La Roche siehe Kapitel 3.1.1. Zur zeitgenössischen Diskussion über die Mängel der geistlichen Staaten vgl. Wende: Staaten (wie Anm. 37, S. 12). 111 Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 42.
444 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? zipiell gutzuheißen, weil er langfristig wohl die Abschaffung des Zehnten erhoffte. Gleichwohl beanstandete er die unzureichende oder ausbleibende Entschädigung durch Pensionszahlungen. Ob er eine staatliche Besoldung, wie sie unter Napoleon eingeführt wurde, befürwortete oder die Priester stattdessen wieder von „Opfern und milden Gaben der Gläubigen“¹¹² leben sollten, lässt er offen. In seiner Antipathie gegen die Verweltlichung des Klerus, die für ihn mit dessen unzureichender Ausbildung einherging, ging Stammel sogar so weit, dass er Verständnis für einen „allgemeine[n] Haß der Weltlichen gegen die Geistlichen“¹¹³ äußerte, der „Plünderungen und Gewaltthätigkeiten“¹¹⁴ von und gegen Kirchengüter verursacht habe. Zwar bezog er sich auf die Vergangenheit; vor dem Hintergrund, dass infolge des französischen Einmarsches Soldaten, aber auch Einheimische, Kirchen und Klöster vereinzelt plünderten, wird die Aussage dennoch gerade von Betroffenen als Provokation wahrgenommen worden sein. Als Seitenhieb gegen seine geistlichen Standesgenossen war auch die Bemerkung zu verstehen, es sei stets der Klerus gewesen, der eine „besondere Anhänglichkeit an die alten Gesetze“ bewiesen habe, sofern sie ihm nützlich gewesen seien. Stammel suggerierte damit, dass viele Geistliche die französischen Besatzer nur aufgrund mangelndem Anpassungswillen ablehnen würden und ängstlich auf die Wahrung ihres Besitzstandes bedacht seien. Er selbst erachtete alle Vorrechte des geistlichen Standes als überholt, was er mit Verweis auf die Reformation deutlich machte: Damals hätten die Menschen „nichts mehr von den Freiheiten ihrer Geistlichkeit wissen [wollen], und verlangt[…], daß sie in allem ihnen gleich gehalten werden sollte.“¹¹⁵ Unter den Franzosen sollte darum umgesetzt werden, was angeblich schon zur Zeit der Reformation versucht worden sei: die Beseitigung ihrer Standesprivilegien. Beeinflusst durch die Zivilkonstitution des Klerus, wünschte sich Stammel eine allein auf die Seelsorge ausgerichtete Kirche, deren Amtsträger nicht mehr Rechte besitzen sollten als alle anderen Bürger auch.¹¹⁶ Seine historisch verschleierte, erneut der Interpretation seiner Leser überlassene Kritik an der Verbindung weltlicher und geistlicher Herrschaft, der Machtstellung der Geistlichkeit und dem Zehnten basierten auf Deutungsmustern der
112 Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 41. Auch über die Einführung des Zunftwesens traf er ein negatives Urteil: „Viele wollen wissen, daß dadurch der Kunstfleiß und die Betriebsamkeit gehemmet, und der Handel wenig befördert werde.“ (ebd., S. 136). Dies lässt darauf schließen, dass er sich von einem Anschluss an die Republik ebenfalls die Abschaffung der Zünfte versprach. 113 Ebd., S. 42. 114 Ebd., S. 42 f. 115 Ebd., S. 124. 116 Zur Zivilkonstitution des Klerus siehe Kapitel 2.3 sowie Kapitel 4.1.2, Anm. 215. Vgl. auch Fitschen: Zivilkonstitution (wie Anm. 215, S. 332), S. 383.
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Aufklärung, waren jedoch gleichermaßen beeinflusst durch die politischen Ereignisse. Kronenbergers Verdacht, in Stammel einen ‚republikanischen Volksfreund‘ vorzufinden, war demnach nicht bloß jenen Bemerkungen in der Kronik geschuldet, die ausschließlich den politischen Bereich betrafen. Auch hinsichtlich Stammels Priester- und Kirchenbild zeigt sich, dass er es ausgehend von seiner Prägung durch die katholische Aufklärung weiterentwickelt hatte und er sich vom Anschluss an Frankreich oder der Ausrufung einer eigenen Republik die Verwirklichung seiner Vorstellungen versprach.¹¹⁷ So warfen die Aufrufe der Cisrhenanen an die linksrheinische Bevölkerung der Geistlichkeit ebenfalls Eigennutz vor und verhießen eine Rückbesinnung auf die Einfachheit der ‚ersten Kirche‘.¹¹⁸ Sie ähnelten damit durchaus Stammels Argumentation. Einerseits als Vorsichtsmaßnahme, andererseits um seinen Lesern nicht die Möglichkeit eigener Schlussfolgerungen zu nehmen, propagierte er seine Ansichten jedoch nicht derart offensiv. Kronenbergers Verteidigung der Orden Obwohl die Kritik am Mönchtum in der Kronik nur eine vergleichsweise geringe Rolle spielte, fühlte sich Kronenberger zu einer ausführlichen Verteidigung veranlasst. Da er selbst Ordensmitglied war, sah er auch seine eigene Lebensweise infrage gestellt, was die Vehemenz, mit der er Stammel in diesem Punkt widersprach, begründet. Bei seiner Auseinandersetzung mit der Kronik war Kronenberger darum bemüht, die Schwächen in der Argumentation der Aufklärer aufzudecken und sie ihrer eigenen Widersprüche zu überführen. Dabei ging es ihm allerdings nicht um eine „Metakritik“ der Aufklärung, sondern um ihre „Verneinung […] qua Kritik“¹¹⁹: Er war nicht an der reflexiven Weiterentwicklung der aufklärerischen Ideen interessiert, sondern wollte sie als unzulänglich, absurd und politisch gefährlich entlarven. Sein Vorgehen war dabei höchst selektiv: So unterstellte er den Aufklärern, sich eine „Simplifizierung der Völker“ zu wünschen, womit er wahrscheinlich an Rousseaus Zivilisationskritik dachte, gleichzeitig aber Klöster „zu Fabriken, Magazinen, wo nicht zu Findelhäusern“¹²⁰ umwandeln zu wollen, worin für ihn ein Widerspruch bestand. Aus seiner Sicht waren Mönche unbestreitbar nützliche Glieder der Gesellschaft: Auf Ignatius von Loyola und Joseph von Calasanz (1557–1648),
117 Im Verständnis aufgeklärter Theologen, dass der Pfarrer nicht mehr nur aufgrund der Sakralität seines Amtes eine Vorrangstellung beanspruchen konnte, war die Aufhebung jeglicher Standesprivilegien im Grunde bereits angelegt. Siehe dazu Kapitel 3.2. 118 Zu den ‚republikanischen Verheißungen‘ in den Aufrufen der rheinischen Republikaner siehe Kapitel 4.1.1. 119 Jeweils Schneiders: Selbstverständnis (wie Anm. 750, S. 273), S. 82. 120 Jeweils Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 16.
446 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? dem Stifter des ‚Schulordens‘ der Piaristen verweisend, führte er aus, gerade der „Mönchsstand [sei] zum Lehrfache um so mehr geeigenschaftet“¹²¹ als er sich ausschließlich, fortdauernd und unentgeltlich seinem erzieherischen Aufgabengebiet widmen würde. Ein bis zur Selbstaufgabe reichendes Engagement sah er hingegen bei weltlichen Lehrern nicht gegeben. Überhaupt waren Klöster für Kronenberger durchweg positiv besetzte Orte: Er hob die Menge ihrer „Gelehrte[n] und Erfinder“ hervor, ihrer reichen Bibliotheken und ihre Mildtätigkeit. In den Klöstern war man aus seiner Sicht um die „Erhaltung der Tradition“ bemüht, hatte aber gleichzeitig durch ihre Anlage für die Urbarmachung ehemaligen Ödlandes gesorgt. Auch ihre Funktion als Versorgungsanstalt nachgeborener Kinder hält er für legitim und notwendig. Aus seiner Sicht ist die gesellschaftliche und soziale Funktion der Klöster daher hinreichend bewiesen: Würde man sie abschaffen, mahnt er, würden nur „fremde Herren“¹²² davon profitieren und nicht mehr die Allgemeinheit. Ob er mit diesen ‚Fremden‘ die französischen Besatzer meinte, bleibt dahingestellt. Dass Kronenberger jedoch den Stellenwert der Klöster im Bereich der Wissenschaft so betont, sollten seine Leser wiederum als Kritik an den Aufklärern verstehen: Diese würden zwar stets von Bildung sprechen, wollten dann aber zentrale Orte der Wissenschaft abschaffen, suggeriert Kronenberger. Dem Unbehagen vieler katholischer Aufklärer an der hohen Zahl Klostergeistlicher begegnete er geschickt mit einem ökonomischen Argument: Diese „geistliche[n] Mönchsfeinde“¹²³ sollten froh über die Versorgung dieser Geistlichen in den Klöstern sein, schließlich würden sie dann keine Pfarrstellen benötigen. Kronenberger nutzte seine Widerlegung der Kronik jedoch nicht nur, um das Mönchtum gegen allgemeine Angriffe der katholischen Aufklärung zu verteidigen, sondern wandte sich auch den Dominikanern und Jesuiten zu, die Stammel im Speziellen kritisiert hatte. Da es für Kronenberger unvorstellbar schien, mit Ketzern – an deren Heterodoxie er als orthodoxer Katholik keinen Zweifel hegte – anders zu verfahren, als sie zu verfolgen und auszurotten, begriff er die Beteiligung der Dominikaner an Inquisitionsverfahren als Auszeichnung.¹²⁴ Mehr noch: Er bedauerte, dass im 16. Jahrhundert über die Reformatoren kein „Inquisitions-
121 Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 23. 122 Jeweils ebd., S. 48. Ähnlich begründet er auch in seinem Kontroverskatechism die Nützlichkeit der Ordensgeistlichen für Staat und Kirche: Ernest Kronenberger: Römisch-katholischer Kontroverskatechism wider die Un- und Irrgläubigen unserer Zeiten, Köln 1798, S. 62. 123 Ders.: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 48. 124 In seinem Kontroverskatechism betont er explizit den Nutzen der Bettelorden, die selbst für ihren Unterhalt sorgen würden. Da er selbst zunächst einem Bettelorden angehörte, wird ihm dieser Aspekt wichtig gewesen sein. Siehe ders.: Kontroverskatechism (wie Anm. 122), S. 62 f.
4.2 Innerkonfessionelle Debatten: Im Widerstreit zwischen Reform und Orthodoxie
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und Revolutionstribunal“¹²⁵ gehalten worden sei. Einerseits ist aufgrund seiner häufigen Gleichsetzung der katholischen Aufklärung mit der Reformation diese Bemerkung auch auf seine eigene Zeit bezogen; auch er würde die katholischen Aufklärer gerne derart bekämpfen. Andererseits ist sie auch eine Spitze gegen einheimische Revolutionsbegeisterte, da er mit dem ‚Revolutionstribunal‘ auf den Schrecken der Jakobinerherrschaft anspielte. Der Antijesuitismus der Aufklärer sowie seine eigene Prägung durch gegenaufklärerische Periodika ehemaliger Jesuiten¹²⁶ werden der Grund gewesen sein, weshalb er sich zum ausführlichen Versuch einer Ehrenrettung des Ordens veranlasst sah. Auch, dass er sich später ausgerechnet der in jesuitischer Nachfolge stehenden Societas de fide Jesu anschloss, weist auf seine Sympathien für die Jesuiten hin. Um die Eingängigkeit und Beweiskraft seiner Verteidigung zu erhöhen, wich er vom Stil der restlichen Widerlegung ab und gestaltete sie im Frage-AntwortSchema eines Katechismus.¹²⁷ Er hob dabei zwar auch die Gelehrsamkeit der Jesuiten hervor, schätzte den Orden aber vor allem aufgrund seiner klaren Ausrichtung auf die Mission im In- und Ausland. Eine Wiederzulassung des Ordens hielt er angesichts „unsere[r] schreckliche[n] Lage“ für dringend angeraten: Aufgrund der Vielzahl an Glaubensfeinden, die er ausgemacht zu haben glaubte, sah er in den Jesuiten „eins der wirksamsten Mittel“¹²⁸, diesen Einhalt zu gebieten. Er war sich jedoch bewusst, dass zu den Gegnern der Jesuiten nicht nur die „Feinde Gottes, der Kirche und der Obern“ zählten, sondern auch „einige auf ihre Trümmer zu bauen gesonnene, aber betrogene Mönche, und etliche faulenzende Weltpriester“¹²⁹. Indem er den Weltgeistlichen Faulheit unterstellte, revanchierte er sich für gleich lautende Vorwürfe gegen Klostergeistliche. Tatsächlich hatte es jedoch Orden gegeben, die die Aufhebung der Jesuiten begrüßten, weil sie sich davon einen konkurrenzloseren Einfluss auf die Gläubigen erhofften. Allerdings beförderte die
125 Ders.: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 74. 126 Kronenberger wünscht Stammel beispielsweise „die unvergleichliche Sammlung aller interessanten Piecen, die für das Ehrliche, Wahre und Heilige ausgiengen zu Augsburg, und bis in die vierzig Bände anwuchs, in die Bibliotheke“ (ebd., S. 62). Er meint damit die von Alois Merz verantwortete Neueste Sammlung, einer 40-bändigen Zusammenstellung gegenaufklärerischer Monographien, die zwischen 1783 und 1788 erschien. Siehe dazu auch Kapitel 2.2. 127 Er gibt an, es handle sich um einen Auszug aus seinem Kontroverskatechism, in dem sich allerdings keine längeren Ausführungen zu den Jesuiten finden. Möglicherweise ging der Teil später doch nicht in die Druckfassung ein, die erst 1798 erschien. – Zur Beliebtheit der katechetischen Form siehe auch Kapitel 3.2. 128 Jeweils Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 81. 129 Jeweils ebd., S. 81 f.
448 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Propaganda gegen die Jesuiten die Ausweitung der Kritik am monastischen Leben insgesamt.¹³⁰ Obwohl die Aufhebung seiner Meinung nach ein Fehler war, mahnte er, der „Christ“ müsse sich „der göttlichen Vorsicht, der Kirche und den Obern unterwerfen“, weshalb er „die Ursachen der Aufhebung gemäß dem Verbot nicht vorwitzig untersuchen“¹³¹ solle. Als orthodoxer Katholik wollte er keine Zweifel an der Entscheidungsgewalt des Papstes und dem schuldigen Gehorsam ihm gegenüber aufkommen lassen. Die Anerkennung der päpstlichen Vorrangstellung war ihm auch dann wichtig, wenn er glaubte, dieser habe falsch geurteilt.¹³² Dabei kam ihm entgegen, dass er das Verbot auf das Ränkespiel ausländischer Höfe zurückführen und den Papst so entlasten konnte. Dass er die von Aufklärern wie Stammel kolportierten Verschwörungstheorien¹³³ ins Reich der Legende verweisen oder als Intrige entlarven konnte, bereitete ihm Genugtuung. Gleichzeitig erschienen seine zur Entlastung der Jesuiten vorgebrachten Erläuterungen dadurch umso vernünftiger. Johann Kaspar Müller, der unter dem sprechenden Titel Auch das Volk soll und darf die Wahrheit wissen eine flammende Verteidigungsschrift für Stammel verfasst hatte, ließ Kronenbergers Versuch, den Papst als Opfer weltlicher Intrigen darzustellen, nicht gelten.¹³⁴ Beharrlich erinnerte er daran, dass es nun einmal der „Pabst, die Kirche und die Obern“ gewesen seien, „welche diese Gesellschaft aufhoben“. Argumentiere Kronenberger konsequent, müsse er auch diese als „Fein-
130 Siehe dazu auch Kapitel 3.1. 131 Jeweils Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 81. 132 Auf die Frage in seinem Kontroverskatechism, ob alle Christen dem Papst Gehorsam schuldig seien, antwortete Kronenberger: „Ja, als dem Nachfolger des Petrus, und Statthalter Christi, und höchster geistlicher Obrigkeit. Und wer sich diesem Gehorsam entziehen will, thut eine schwere Sünde; denn wer der Obrigkeit widerstrebt, der widerstrebt der Anordnung Gottes, spricht der Apostel Paulus“. Ders.: Kontroverskatechism (wie Anm. 122, S. 446), S. 173 f. 133 Stammel führt etwa die Ermordung Wilhelms von Nassau-Dillenburg (1533–1584) 1584 ausschließlich auf die Einflüsterungen der Trierer Jesuiten zurück. Er erwähnt zwar, Wilhelm sei „den katholischen Herrn ein Dorn im Auge“ (Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 138) gewesen, dennoch erweckt seine Darstellung den Eindruck, es habe sich allein um ein Komplott der Jesuiten gehandelt. 134 Johann Kaspar Müller (gest. 1832) stammte aus der Umgebung von Boppard. Er studierte in Trier und unterrichtete später als Professor für Sprachen an der école centrale des Wälderdepartements in Luxemburg. In napoleonischer Zeit wurde er Finanzbeamter in Echternach und wenig später zum Friedensrichter des selben Kantons berufen. Vgl. zu den wenigen biographischen Angaben: Auguste Neyen: Biographie Luxembourgeoise. Histoire Des Hommes Distingués Originaires de Ce Pays, Luxemburg 1860, S. 472. Laut den Angaben bei Franz [Hrsg.]: Aufklärung (wie Anm. 46, S. 13), S. 225 gehörte Müller zum Freundeskreis um Johann Hugo Wyttenbach.
4.2 Innerkonfessionelle Debatten: Im Widerstreit zwischen Reform und Orthodoxie |
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de Gottes“¹³⁵ bezeichnen. Differenzierter als Stammel setzte sich Müller mit den Jesuiten auseinander, denen er „vorzügliche Kenntnisse“¹³⁶ in den Wissenschaften und Künsten attestierte. Trotz ihrer Gelehrsamkeit stand für ihn jedoch fest, dass sie zur Aufklärung keinen Beitrag leisteten, da sie durch ihre Ordensregeln daran gehindert worden seien, über die durch ihre Oberen genehmigten Lehrbücher je hinauszugehen. Interessant ist, dass sich Müller auch mehr als 20 Jahre nach der Aufhebung des Ordens zu einer ausführlichen Kritik der jesuitischen Lehrmeinungen veranlasst sah, um Kronenbergers Verteidigung entgegenzuwirken. Müller wird nicht entgangen sein, dass insbesondere ehemalige Jesuiten mit ihren Zeitschriften den gegenaufklärerischen Diskurs bestimmten, weshalb er keine Zweifel an der Richtigkeit und Rechtmäßigkeit der Aufhebung aufkommen lassen wollte.¹³⁷ Kronenbergers Kritik an Stammels Priesterbild Wie Kronenbergers Verteidigung des Mönchtums zeigt, missfiel ihm an der Kronik vor allem Stammels Priester- und Mönchsbild, das deutlich von den Ideen der Aufklärung und der Revolution geprägt war. Diese Darstellung trug mit dazu bei, dass er dessen Schrift als „Misgeburt“¹³⁸ und „unmäßige[…] Beleidigung der Wahrheit, der Sitten, der Religion“¹³⁹ bezeichnete. Hätte Stammel stattdessen in seiner Schrift mehr Zeit auf „das Steigen und Fallen der Sitten, der Kirche und Priesterdisziplin“ verwendet und auf „Bemerkungen über Gottes Allmacht, Weißheit und Güte, wie sie allzeit die Trierer besonders begleitete“, hätte er tatsächlich „Gott und dem Staate“¹⁴⁰ einen Dienst erweisen können. So sah Kronenberger jedoch durch das negative Bild des kontinuierlichen Niedergangs, welches Stammel von der Kirchen- und Priesterdisziplin zeichnete, den Gehorsam des Volkes gegenüber der Kirche und der (alten) staatlichen Ordnung gefährdet.¹⁴¹ Er fühlte sich in dieser
135 Jeweils Johann Kaspar Müller: Auch das Volk soll und darf die Wahrheit wissen, Luxemburg 1797, S. 141. 136 Ebd., S. 137. 137 Zu den medialen Aktivitäten der Exjesuiten vgl. Krenz: Konturen (wie Anm. 43, S. 13), S. 196. 138 Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 3. 139 Ebd., S. 5. 140 Jeweils ebd., S. 10. 141 Diese Meinung unterstreicht Kronenberger an anderer Stelle, wenn er bemerkt, der Bürger sei zwar nicht allein zum Zahlen von Abgaben da, aber: „[W]enn er einmal da ist, so muß er gehorchen, und gehorchet zu seiner Sicherheit, entrichtet Abgaben zu seinem Nutzen. – Oder unter welcher Regierung ist man von Abgaben frey? Doch hier ist der Ort nicht, man raisonnire desfalls in Logen, und vernehme die Antwort vom künftigen Direktorium.“ (Ebd., S. 17) Sein Verweis auf das Direktorium ist als Anspielung auf die hohen Kontributionen, die die rheinische Bevölkerung entrichten musste, zu verstehen.
450 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Meinung bestätigt, da Stammel nicht „vom gutgesinnten Theile“ Beifall für sein Werk erhalte, sondern „von Kalumnianten des Priesterstandes, von einigen bößen Buben, von Logebrüdern, und Klubisten“¹⁴². Erneut spielte Kronenberger damit auf die sogenannte Drahtzieherlegende an und rückte darüber hinaus den Gusterather Pfarrer in das Licht eines Verleumders oder Verräters am eigenen Stand. Diesen Punkt unterstreicht er, indem er spitzfindig anmerkt, würde es sich beim Verfasser nicht um einen Priester handeln, er würde ihn für „einen geschwornen Feind des Priester- und besonders des Mönchstandes“¹⁴³ halten, womit er genau diese Lesart evoziert. Gleichzeitig offenbarte er einen wesentlichen Unterschied zwischen aufgeklärtem und orthodoxem Katholizismus: Sahen Stammel und andere Aufklärer in der priesterlicher Sittenlosigkeit der Vergangenheit einen Beweis für die Dauerhaftigkeit bestimmter Probleme, die dem kirchlichen System innezuwohnen schienen, stellten diese Mängel in den Augen orthodoxer Katholiken wie Kronenberger eine Art göttliche Prüfung dar. Sie sollte den Zeitgenossen mahnendes Beispiel sein, ohne aber Zweifel an der Richtigkeit kirchlicher Lehre und der Autorität ihrer Vertreter aufkommen zu lassen. Dass Stammel unter dem Deckmantel der historischen Betrachtung noch immer für weitere aufklärerische Reformen im Priestertum warb, war in den Augen Kronenbergers hingegen ein Angriff auf die Grundfesten der Religion und der Kirche. Für ihn war die Kronik daher das „Extrakt des herrschenden Pasquillantengeistes“¹⁴⁴, der sich neben Fürsten und Adel insbesondere gegen die Geistlichkeit richte. Da er die volksaufklärerischen Absichten von Pfarrern wie Stammel ablehnte, ist es Kronenberger wichtig zu betonen, wie sehr dieser an seinem anvisierten Publikum vorbei geschrieben habe. Denn der ‚Bürger und Landmann‘ sei längst „zu diesen Tönen noch nicht gestimmet“, die Stammel in der Kronik anschlage. Vielmehr seien die Menschen aufgebracht, „alles fluchte schon lang den trierischen Reformatoren und manchen Schriften, die nichts als Aegerniß und Volksgährungen zeugeten.“¹⁴⁵ Dass das Interesse der Bevölkerung an der katholischen Aufklärung – zumindest nach Kronenbergers Aussage – gering war, erfüllte diesen mit Genugtuung. Ihm war bewusst, dass es sich bei der Aufklärung um ein Elitenprojekt handelte, dessen volksaufklärerische Absichten längst nicht in der breiten Bevölkerung ankamen.¹⁴⁶ Er gewann daraus die Selbstbestätigung, das Volk besser zu kennen als die selbsternannten geistlichen Volks-Lehrer. So würde der Bauer das Licht, das die Aufklärer zu verbreiten vorgäben, gar nicht bemerken, denn für ihn 142 143 144 145 146
Jeweils Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 10. Ebd., S. 11. Ebd., S. 11. Jeweils ebd., S. 13. Zur Breitenwirkung der Volksaufklärung siehe Kapitel 2.2.
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zähle allein der eigene Wahrnehmungshorizont und die Frage, ob er eine gute Ernte erwarten könne oder nicht. Alles andere erscheine ihm nur als lästiges „philosophisches Ungeziefer.“¹⁴⁷ Mit diesem letzten Punkt trifft Kronenberger jedoch in erster Linie eine Selbstaussage: Die Verwendung der Ungeziefer-Metapher drückt aus, dass er in den Aufklärern Schädlinge sieht, die er vernichtet wissen will.¹⁴⁸ Er bediente sich damit derselben Metaphorik, die umgekehrt Aufklärer in Bezug auf das Mönchtum verwendeten.¹⁴⁹ Kronenbergers Auseinandersetzung mit der Kronik zielte darauf ab, die Untauglichkeit aufklärerischer Priester für die Seelsorge zu beweisen. Ausgehend von seinem eigenen Selbstverständnis des Priesters als Wächter über das Seelenheil seiner Gemeinde, das er biblisch begründet glaubte,¹⁵⁰ formulierte er sein Bild eines ‚guten‘ Seelsorgers: So sollte dieser „alle Kräfte aufbieten […] seinem drangvollen Priesterstande Unterstützung, seinen Obern Aushilfe, Gott und seinen Heiligen ihre so sehr in unsern Tagen geraubte Ehre zu verschaffen, Ruhe und Zufriedenheit zu predigen, und das ganze unselige Gebäude neuer Volkspläne zu erschüttern.“¹⁵¹ Aus seiner Sicht sollten die Priester ein Bollwerk gegen alle aufklärerischen und revolutionären Ideen bilden, die in ihre Gemeinde einflössen und das Seelenheil der Mitglieder bedrohten. Mit dem Verweis auf die Haftung, die ein Pfarrer für die Seelen seiner Gemeinde übernehme, gebrauchte Kronenberger dieselbe Begründung, mit der der Franziskanerpater in den Mönchsbriefen den jungen Pfarrer bewegen wollte, den ‚Freidenker‘ Gutmann entweder zu bekehren oder der Gemeinde zu verweisen. La Roche war es an dieser Stelle um die aufgeklärte Kritik eines kirchlichen Despotismus gegangen.¹⁵² Kronenberger hingegen begriff die alleinige Verantwortung für das Seelenheil als emphatischen Appell an die Priester, mit allen Mitteln der angenommenen Bedrohung durch Aufklärung und Revolution entgegenzuhalten. In der Aufklärung und den Auswirkungen der Revolution – einschließlich der Besetzung – sah er gemäß seiner Verhaftung in barockfrommen Deutungsmustern 147 Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 13. 148 So führt er weiter aus, statt solcher aufklärerischer Schriften erwarte jeder „sehnsüchtig den Augenblik, wo derley Schriftstellern, Poecenschmierern, vorgeblichen Jugend- und Volksfreunden endlich das Handwerk geleget wird“. Ebd., S. 13. 149 Zur Hummel-Metaphorik in den Mönchsbriefen siehe Kapitel 3.1.1. Vgl. auch Jäger: Mönchskritik (wie Anm. 24, S. 112), S. 196–197. 150 Zum Selbstverständnis siehe oben S. 435. Die Auffassung belegte er mit zwei Textstellen aus der Bibel: So zitierte er einerseits mit dem Ausspruch: „Bewahre mir diesen Menschen, denn wenn er fällt, so soll deine Seele für seine Seele haften.“, wahrscheinlich 1 Kön 20,39 od. 42 und andererseits mit: „Wehe dem Menschen, der Aergerniß giebt“, Mt 18,7. 151 Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 14. 152 Siehe Kapitel 3.1.1.
452 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? eine Strafe Gottes für das sündhafte Verhalten der Menschen. Deshalb bestand für ihn eine wesentliche Aufgabe des Seelsorgers darin, die Gläubigen zur reuigen Buße anzuhalten. Darauf war auch der Großteil seiner eigenen Predigten ausgerichtet, wie etwa sein Zyklus über das ‚sündige Jerusalem‘, das er den Trierern als abschreckendes Beispiel und Parabel auf „die hinsinkende Grundfeste unserer vaterländischen Tugend und Glaubens“¹⁵³ vorhielt. Auch für die Gegenaufklärer war die Predigt das geeignete Kommunikationsmedium zur Verbreitung ihrer Ansichten: „Kanzelreden wurden, mit biblischem Motto versehen und gestützt von göttlicher Autorität, zu antiaufklärerischen Pamphleten“¹⁵⁴. Da der Priester aus Kronenbergers Sicht das ‚unselige Gebäude neuer Volkspläne‘ erschüttern sollte, stellte er mitunter deutlicher als Stammel Bezüge zu den politischen Umbrüchen her. Um seinen Zuhörern in aller Drastik die Notwendigkeit reuiger Umkehr vor Augen zu halten, konnte er die weltlichen Themen nicht aussparen. So erinnerte er in seiner Dankesrede auf den Frieden anlässlich des Friedens von Campo Formio in dramatischer Überhöhung an die Herrschaft der Jakobiner, die er als „Blutmenschen“ bezeichnete und an die Folgen für Kirchenvertreter und Religion: Jeder habe in dieser Zeit „gegen Geistlichkeit, Religion und Gott selbst“ angeschrieben und -geschrien. Das „altkatholische Frankreich [habe] seine königlichen Kardinäle, seine hundert vier und dreyßig Bischöfe, seine vier und achtzigtausend standhafte[n] Priester“ verjagt, was die linksrheinische Bevölkerung einem „Todesschatten“¹⁵⁵ fürchterlicher Vorahnungen gleich miterlebte. So seien sie selbst nicht lange vor einer ähnlichen Entwicklung verschont geblieben: [W]ir haben es erlebet, daß man in unserer durchgängig und rücksichtlich noch frommen Stadt vor den Altären wie aufm Richtplatze zitterte; daß Priester wie Missethäter sich verbargen, und Christen in ihren Tempeln, statt mit Worten zu beten, nur weineten, und ihre Hände zum Himmel rungen; wir haben es erfahren, daß Gottesräuber die heiligen Gefässe plünderten, Altäre niederrissen, Bilder und Religionsbedürfnisse verbrannten.¹⁵⁶
153 Kronenberger: Tochter Sion (wie Anm. 66, S. 433), S. 3. „Jerusalem, ist das Gemälde, so ich euch vorhalte. Jerusalem, oder ganz Israel ist die Figur, heiliges Trier! christliche Städte! ihr seyd das Figurirte. Mit einem Worte: das heilige, das sündige, das gewarnte, das verschonte, das zerstörte, das erbaute Jerusalem macht den Inhalt meiner Fastenreden.“ Ebd., S. 5. 154 Hanspeter Marti: Kulturelle Ausgleichsprozesse in der Schweiz 1750–1840. Das Beispiel der Kapuzinerbibliothek Luzern, in: Dieter Breuer [Hrsg.]: Die Aufklärung in den deutschsprachigen katholischen Ländern 1750–1800. Kulturelle Ausgleichsprozesse im Spiegel von Bibliotheken in Luzern, Eichstätt und Klosterneuburg, Paderborn 2001, S. 49–195, hier S. 153. Zum Stellenwert der Predigt im aufklärerischen Kontext siehe Kapitel 3.2. 155 Jeweils Kronenberger: Tochter Sion (wie Anm. 66, S. 433), S. 171. 156 Ebd., S. 171 f.
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Indem er bewusst von wir spricht, wenn er an die Anfänge der Besetzung zurückerinnert, stellt eine einheitsstiftende Schicksalsgemeinschaft zwischen sich und seinen Zuhörer her. Zwar gibt er vor, jetzt, wo Friede herrsche, hätten „Mord- und Raubsucht“ ein Ende gefunden, „die entweihten Tempel und Altäre [seien] ausgesöhnet“¹⁵⁷ und geflohene Seelsorger und Ordensgemeinschaften kehrten zurück. Gleichwohl ist nur „ein Bischen […] Mäßigung“ eingetreten und die Welt nur „ein Bischen gesünder geworden.“¹⁵⁸ – Ausgehend von seiner Verteufelung der Aufklärung, als deren Verkörperung er das revolutionäre Frankreich begriff, musste er seine Zuhörer davor warnen, dass noch Menschen unter ihnen seien, die die Wohltaten der Religion nicht erkennen würden. Da noch immer die „Brandmarke des Zornes Gottes“¹⁵⁹ auf der Bevölkerung laste, fordert er am Ende seiner Predigt insbesondere die Geistlichkeit auf, die Erinnerung an ihr erlebtes Leid als Mahnung an künftige Generationen wach zu halten. Dass er vor allem die Jakobiner verurteilte und so tat, als würde sich nach dem Friedensschluss nun alles zum Besseren wandeln, täuschte nur unzureichend über die mitschwingende Drohung hinweg, andernfalls mit weiteren Predigten für Unruhe zu sorgen. Inwiefern Kronenberger bewusst eine Konfrontation mit den Besatzern einzugehen bereit war oder ob er die Konsequenzen nicht mitbedachte und mit solchen Äußerungen übers Ziel hinausschoss, lässt sich nicht endgültig sagen. Der ideale Priester war demnach für Kronenberger eine Art ‚Soldat Gottes‘, der unerschrocken Religion und Kirche gegen Anfeindungen jeglicher Art verteidigte. Als Vorbild begriff er ausgerechnet die Apostel, die „nicht so schüchtern wie viele heutige Priester der so hochgepriesenen stillen Herzensreligion“ gewesen seien, sondern „freudig“¹⁶⁰ gegen alle Widerstände das Evangelium verkündet hätten. Damit versuchte er, der katholischen Aufklärung die Deutungshoheit über die christliche Frühkirche zu entziehen. So lehnte er ebenfalls ab, dass die katholischen Aufklärer Jesus zwar als Lehrer, aber vor allem auch als Mensch mit Schwächen und Widersprüchen wahrnahmen und sich mit seiner Lehre kritisch auseinandersetzten. Für Kronenberger wurde damit die „Gottheit Jesu Christi“¹⁶¹ verletzt. Indem er die Aufgabe des Priesters darin bestehen sah, gegen derartige 157 Jeweils ebd., S. 172. 158 Ebd., S. 173, Hervorh. A. K. 159 Ebd., S. 176. 160 Jeweils Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 40. 161 Ders.: Tochter Sion (wie Anm. 66, S. 433), S. 115: „Schwäche finden sie, die Unholden im Leiden und Tode Jesu, Menschenfurcht, Leidenschaft, Kleinheit in seiner göttlichen Seelengröße; Unbescheidenheit aber, übertriebe Strenge, unstandesmäßige Sittenlehre in seinen Predigten, und Beyspiele. Sie lassen ihm hier und da Züge einer erhabenen Seele, Wirkungen eines der edelsten Karaktere, Zeichen eines günstigen Temperamentes; – So preisen sie auch seine Lehre als das politischeste Mittel zur Bezähmung des Pöbels, zur Bindekraft der Gesetze, zur Bildung
454 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Irrlehren anzupredigen und die Zuhörer in ihrem orthodoxen Glauben „zu stärken“¹⁶², wies sein Priesterbild deutlich missionarische Züge auf. Ähnlich Stammels volksaufklärerischer Absichten richtete sich Kronenberger dabei gezielt an „den gemeinen Mann“. Allerdings wollte er diesen nicht über den Aberglauben aufklären, sondern ihm „Bewahrungsmittel wider die häufigen Irrthümer“ seiner Zeit an die Hand geben. Deshalb gestaltete er seinen Kontroverskatechism absichtlich in einer „leichtfaßlichen“ Form, da ihm bewusst war, dass der ‚gemeine Mann‘ „die großen Religionswerke entweder nicht anschaffen, oder nicht verstehen kann.“¹⁶³ Mit seinen Polemischen Kanzelreden wandte er sich hingegen gezielt an gebildetere Leser und damit auch an andere Priester, um sie für die rhetorischen Angriffe der Aufklärer zu wappnen.¹⁶⁴ Dass er vor dem Hintergrund seines Bildes vom wehrhaften, missionarischen und stets über das Seelenheil der Gläubigen wachenden Priesters die Jesuiten – wie oben dargestellt – schmerzhaft vermisste, überrascht nicht. Streit um den Zölibat Da Stammel den Priester als Bürger unter Gleichen begriff, war es naheliegend, auch den Zölibat zu kritisieren. Schließlich hatte diese geistliche Standespflicht wesentlichen Anteil daran, den Pfarrer von der Gemeinschaft der Gläubigen abzuheben. Auch hier plädierte Stammel allerdings nicht offen für die Abschaffung des Zölibats. Stattdessen erläuterte er, dass in der „ersten Christenheit […] das Gesetz der Ehelosigkeit des Priesterstandes“ noch unbekannt gewesen und erst nach und nach in der römischen Kirche eingeführt worden sei. „[B]ei den Deutschen“ habe es aber anscheinend keine große Verbreitung gefunden, „denn sonst würde es Gregor [Papst Gregor VII.] ihren Geistlichen nicht so streng anbefohlen haben, und diese hätten sich nicht so widersetzet“¹⁶⁵. Indem Stammel einen Gegensatz zwischen ‚römischer Kirche‘ und ‚den Deutschen‘ aufmacht, suggeriert er, es handle sich guter Bürger: Aber Göttlichkeit seiner Sendung, allgemeine Nutzbarkeit seiner Lehre und seines Beyspieles für alle Stände: Nein: Das ist ein unverdaulicher Bissen für kranke Magen.“ 162 Kronenberger: Tochter Sion (wie Anm. 66, S. 433), S. 122. 163 Ders.: Kontroverskatechism (wie Anm. 122, S. 446), o. S. 164 „Man wird vielleicht sagen, diese Predigten seyen nicht für den gemeinen Mann, und einige seyen für Kanzeln zwecklos. – Beides gestehe ich: aber ich darf ja auch dem Leser predigen: sie sind nicht für den gemeinen Mann; aber der macht sie auch nicht nöthig“. Ders.: Polemische Kanzelreden über die Verirrungen der Vernunft und die schreckliche Lage unserer Zeiten in alphabetischer Ordnung. Ein Handbuch für Diktionairgelehrte, 2. Aufl., Paderborn 1803, S. 3. 165 Jeweils Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 74. – Forderungen nach der Ehelosigkeit der Geistlichkeit – insbesondere der höheren – gab es seit der Spätantike bzw. dem Frühmittelalter. Gerade auf dem Land blieb es allerdings üblich, dass Priester verheiratet waren oder in eheähnlichen Verbindungen lebten. Im 11. Jahrhundert kamen aus der Kirchen selbst sowie aus
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beim Zölibat um ein der Reichskirche im Grunde fremdes, von Außen auferlegtes Gesetz. Außerdem stellt er sich damit argumentativ auf die Seiten derer Aufklärer, die seit den 1780er Jahren angemerkt hatten, „dass der Zölibat nicht göttlichen Rechts, sondern ein rein kirchliches Gesetz sei, das geändert werden könne.“¹⁶⁶ Er behielt die Darstellung der Kirchengeschichte als kontinuierlichen Niedergang seit der Frühzeit bei und sah im Frühmittelalter erstmals Maßnahmen umgesetzt, „die nach Meinung der Katholischen Aufklärung nicht mehr unbedingt durch die biblische Grundlage abgesichert waren“¹⁶⁷, wozu ausdrücklich auch der Zölibat zählte. Für den Widerstand des damaligen Klerus gegen die Pflicht zur Ehelosigkeit zeigt Stammel ein gewisses Mitgefühl: Die Priester, deren wachsende Machtstellung er zuvor getadelt hatte, wären in diesem Fall sogar bereit gewesen, lieber ihre Kirchengüter als ihre Ehefrauen aufzugeben. Andere hätten den Papst darauf hingewiesen, „daß er Engel vom Himmel nach Deutschland schicken müßte, denen er die Kirchenämter anvertrauete; denn ihnen, als gebrechliche Menschen, wäre es einmal zu schwer, dies harte Gesetz zu halten.“¹⁶⁸ Indem Stammel darauf verweist, nur Engeln sei die Ehelosigkeit möglich, will er sich nicht über die Nöte der damaligen Geistlichen lustig machen. Vielmehr schließt er sich einem weiteren Argument aufklärerischer Kritiker an, die im Zölibat eine „Verletzung fundamentaler menschlicher Rechte, aber auch des Naturrechts“ sahen: „Da jede Person mit dem natürlichen Fortpflanzungsinstinkt sowie dem Verlangen nach anderen Bevölkerungsgruppen Forderungen nach einer grundlegenden Reform der Klöster und der Kirche auf, die sich an der ecclesia primitiva orientieren sollten. In Bezug auf verheiratete Priester wurde in diesem Zusammenhang der Begriff Nikolaitismus geprägt, nach einer in der Johannes Offenbarung erwähnten Gruppe unsittlich lebender Christen. Papst Gregor VII. griff diese Reformforderungen auf; der Kampf gegen Nikolaitismus und Simonie (Ämterkauf) wurden damit zu einem wesentlichen Anliegen seines Pontifikats. In der Folge erhob die Kirche den Zölibat fortlaufend zum kirchlichen Gesetz. Zur Kirchenreform im Mittelalter vgl. Goez: Kirchenreform (wie Anm. 270, S. 170), S. 67–76. 166 Lehner: Aufklärung (wie Anm. 178, S. 148), S. 38. Forderungen nach Abschaffung des Zölibats wurden vor allem vor dem Hintergrund der Kirchenpolitik Josephs II. laut. Vgl. auch Haefs: Charfreytagsprocession (wie Anm. 135, S. 58), S. 57. 167 Handschuh: Wahre Aufklärung (wie Anm. 43, S. 13), S. 91. Auch La Roche lässt Gutmann in den Mönchsbriefen darlegen, dass das Zölibat auf reiner ‚Mystik‘ basiere und jegliche theologische Begründung fehle. Siehe Kapitel 3.1.1. 168 Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 74. Die Darstellung der Ereignisse im 11. Jahrhundert weist Ähnlichkeiten zu einer 1782 anonym veröffentlichten Schrift auf, an der u. a. Lorenz Westenrieder mitwirkte: [Lorenz Westenrieder/Thomas Joachim Schubauer/Lorenz Hübner]: Dringende Vorstellungen an Menschlichkeit und Vernunft, um Aufhebung des ehelosen Standes der katholischen Geistlichkeit, o.O. 1782, S. 80–85. Möglicherweise war sie Stammel bekannt. Die Autoren thematisierten umfänglich die Geschichte des Zölibats und plädierten für die Abschaffung.
456 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Partnerschaft ausgestattet sei, widerspreche die Forderung des Zölibats der Natur des Menschen.“¹⁶⁹ Folglich war keinem menschlichen Wesen eine erzwungene zölibatäre Lebensweise möglich. Doch auch wenn die Zölibats-Diskussion seit Anfang der 1780er Jahre unter katholischen Aufklärern verstärkt geführt worden war, änderte auch hier die Französische Revolution den Bezugsrahmen: Seit September 1791 war die Priesterehe in Frankreich prinzipiell möglich und einige Priester hatten davon auch Gebrauch gemacht. Kritisierten Pfarrer, die die Priesterehe ablehnten, diese, drohte ihnen seit 1793 die Absetzung oder sogar die Deportation.¹⁷⁰ Zu den Unterstützern der Priesterehe zählte der ‚Wahlfranzosen‘ und Geistliche Karl Franz Schwind (1764–1848). Der in Koblenz geborene Schwind hatte nach einem zweijährigen Studium in Göttingen seit 1790/91 kurzzeitig Bibelexegese an der Universität Trier unterrichtet. Mit seinen Vorlesungen zum 1. Buch Mose geriet er jedoch unter Häresie-Verdacht und floh 1792 nach Straßburg, wo er zunächst bischöflicher Vikar und Professor für Dogmatik war.¹⁷¹ 1792 veröffentlichte er eine Rede über Gelübde, Ehelosigkeit der Geistlichen und andere Selbstpeinigungen, deren klingender Titel bereits auf die Tendenz des Inhaltes verweist: Schwind positionierte sich darin entschiedener als Stammel in seiner Kronik gegen den
169 Lehner: Aufklärung (wie Anm. 178, S. 148), S. 38. Andere katholische Autoren wie der bayerische Pfarrer Georg Alois Dietl (1752–1809) reflektierten in ihren Werken am „Beispiel der Triebnatur des Menschen […] die Problematik der ‚einsamen Existenz‘ (als zölibatärer Geistlicher) vor dem Hintergrund des Melancholiediskurses.“ Haefs: Charfreytagsprocession (wie Anm. 135, S. 58), S. 51. – Aufklärerische Argumentationsweisen konnten jedoch gleichzeitig auch zur Verteidigung des Zölibats herangezogen werden: So wurde, die Idee der Nützlichkeit aufgreifend, argumentiert, der unverheiratete Pfarrer könne sich besser um sein Pfarrvolk kümmern. Vgl. Lehner: Aufklärung (wie Anm. 178, S. 148), S. 39. 170 Den Angaben Lehners zufolge verheirateten sich bis 1793 3000 Priester. Im Rahmen des Konkordats gewährte Papst Pius VII. den verheirateten Geistlichen die Möglichkeit, in die französische Kirche zurückzukehren, sofern sie sich von ihren Frauen trennten. Vgl. ebd., S. 40. Vgl. auch Krenz: Druckerschwärze (wie Anm. 290, S. 99), S. 126. Zur Möglichkeit der Eheschließung siehe auch Kapitel 2.3, Anm. 209. 171 Schwind begann 1782 sein Theologiestudium in Trier. Nach seiner Priesterweihe unterrichtete er zunächst am Gymnasium in Koblenz, bevor er nach Göttingen ging. Seit 1791 war er Mitglied der Trierer Lesegesellschaft. 1800 übernahm er das Amt eines Regierungskommissars in Speyer, heiratete und wurde schließlich Bezirksrichter in Frankenthal. Vgl. Reichert: Priesterseminar (wie Anm. 49, S. 37), S. 140; Tilgner: Lesegesellschaften (wie Anm. 48, S. 14), S. 446. Aufgrund seiner Vorlesungen leitete das Generalvikariat Trier eine Untersuchung gegen ihn ein, bei der er „über eine Reihe von Fragen wie z. B. zur Autorschaft der Genesis, seinen Äußerungen über die literarische Art, die Deutung des Sechstagewerkes, die Auffassung von der Erbsünde u. ä. Auskunft geben mußte. Außerdem wurden verschiedene Hörer befragt und deren Kolleghefte zur Prüfung eingezogen.“ Reichert: Priesterseminar (wie Anm. 49, S. 37), S. 141.
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Zölibat. Obgleich in Straßburg gedruckt, fand die Schrift schnell auch in Trier Verbreitung „und brachte dem Buchbinder Schr[ö]ll ein Verkaufsverbot unter Androhung der Schließung seines Buchladens ein.“¹⁷² Es ist davon auszugehen, dass auch Stammel die Rede kannte. Bevor sich Schwind in seiner Rede dem Gebot der Ehelosigkeit im Speziellen zuwandte, erteilte er gleich zu Beginn zunächst Gelübden ganz grundsätzlich eine Absage: Er stellte klar, dass „die neuesten Offenbarungen Gottes weder eine Vorschrift, noch eine Ermahnung, noch ein Beispiel“ enthielten, „aus dem gefolgert werden könnte, Gelübde dürfen geschehen, Gelübde seien Gott wohlgefällig.“ Auch im Alten Testament würden den Gelübden kein allzu großer Verdienst zugesprochen. Zudem hätten die „älteren heiligen Schriften keine bindende Kraft mehr“, sofern ihre „Befehle“ nicht auch im „Naturrecht gegründet“ seien. Im Naturrecht liegt für Schwind auch das Bild eines barmherzigen Gottes begründet, der deshalb keiner Gelübde bedürfe. Im Übrigen sei der Christ auch ohne sie „zu allem, was wirklich gut ist“¹⁷³ verpflichtet. Schwind sah folglich keine theologische Begründung für Gelübde – gleich welcher Art.¹⁷⁴ In Bezug auf die Forderung nach Ehelosigkeit von Mönchen und Priestern – Nonnen erwähnt er nicht – bezieht er sich auf weitere, naturrechtlich begründete Argumente der Aufklärung: Wie später Stammel begreift auch er den Menschen als triebhaftes Wesen, der durch den Zwang zur Ehelosigkeit regelrecht in die Sittenlosigkeit getrieben würde. Erneut erscheint Papst Gregor VII. als Keim allen Übels, der dieses „tigermäßige Gebot“¹⁷⁵ allen Geistlichen auferlegt habe. Der Zölibat war für Schwind unvereinbar mit seinem aufklärerischen Bild eines guten Priesters: Wie toll war dieses Gebot, welches alle Empfindungen von Menschenliebe, von Mitleid, von zärtlicher Theilnahme am Wohl und am Wehe der Menschheit im Herzen der Volkslehrer erstickte! Wie toll war dieses Gebot, welches den Priesterstand von den allgemeinen Gesetzen des Vaterlands loszählte, und ihn blos an das römische Interesse, zum grösten Schaden der Staaten, anschlang!¹⁷⁶ 172 Ebd., S. 142. 173 Jeweils Karl Franz Schwind: Rede über Gelübde, Ehelosigkeit der Geistlichen und andere Selbstpeinigungen. gehalten in der Kathedralkirche zu Strassburg am Feste der unbefleckten Empfängnuß, im 4. Jahre der Freiheit, Straßburg 1792, S. 4. 174 Im Februar 1798 wurde in den rheinischen Departements das Ablegen von Gelübden untersagt. Rudler begründete das Verbot ebenfalls damit, dass das Ablegen von Gelübden nicht mit den, auf dem Naturrecht basierenden, Gesetzen der Republik vereinbar sei, siehe Kapitel 2.3. 175 Schwind: Rede (wie Anm. 173), S. 6. 176 Ebd., S. 7. Auch bei Schwind gibt es Parallelen zu Westenrieder, der ebenfalls die negativen Auswirkung, die der Zölibat auf den Charakter der Geistlichen habe, beschreibt: Westenrieder/ Schubauer/Hübner: Vorstellungen (wie Anm. 168, S. 455), S. 467–468.
458 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Gerade die Ehelosigkeit verhinderte aus der Sicht Schwinds, dass sich der Pfarrer als mitfühlender väterlicher Freund um seine Gemeinde kümmern konnte, weil für diese Gefühle in seinem Leben kein Platz war. Der Geistliche mutierte damit zum willfährigen Gehilfen Roms, der in seinem Heimatland mehr Schaden als Nutzen anrichtete. So argumentierte Schwind, dass der Zölibat dem Bevölkerungswachstum abträglich sei und man am Beispiel Frankreichs hätte beobachten können, in welchen „gröseren und gröseren Jammer“ ein Land dadurch gestürzt würde.¹⁷⁷ In dramatisch überhöhter Weise beschreibt er die „Greul der Verwüstung“, die die „Myriaden gesetzlicher Eunuchen“ in allen katholischen Reichen anrichten würden: Durch ihren „Schandwandel“ würden jene, die eigentlich mit ihrem guten Beispiel zum Wohle der Religion beitragen sollten, sie „in den Augen des grosen Haufens […] besudeln“¹⁷⁸ und der Verachtung preisgeben. Sieht man von diesem Verweis auf Frankreich und die Folgen, die der Zölibat angeblich für das Land gehabt habe, ab, ist auch Schwinds Abrechnung zur Ehelosigkeit der Geistlichen eher allgemein gehalten. Im Wesentlichen greift er die Argumente der Aufklärung auf, ohne direkt auf die Revolution Bezug zu nehmen. Indirekt war ein Bezug natürlich über den Ort seiner Predigt hergestellt, sodass er fünf Jahre vor Stammel den Zölibat expliziter verurteilen konnte. Allerdings war Stammel auch nicht an einer umfänglichen Auseinandersetzung mit dem Zölibat interessiert: Ihm ging es um eine landesgeschichtliche Darstellung für seine Zeitgenossen, die von den Anfängen bis in die Gegenwart reichte und die dennoch kurz sein sollte, um auch von ungeübten Lesern verstanden werden zu können. Für ihn war vor allem wichtig, auf die historische Bedingtheit des Zölibats hinzuweisen und damit verbunden auf die Schädlichkeit eines zu großen päpstlichen Einflusses. Im Unterschied zu den katholischen Aufklärern stellte Papst Gregor VII. für Kronenberger einen Ausbund an „Heiligkeit und Tugend“¹⁷⁹ dar. Dass die Ehe177 Schwind: Rede (wie Anm. 173, S. 457), S. 8: „Wie vieler Millionen Menschen wird der Staat durch solche gehemmte Bevölkerung beraubt! ihm entgehen ja schier eben so viele Familien, als er Kastraten der Art hegt; ihm entgehet ja die durch so viele Jahrhunderte hindurch fortgesetzten Generationen immer zunehmende gewaltige Menschensumme!“ – Ganz ähnlich die Argumentation bei Westenrieder: „Wenn ich nur in Deutschland nur die Zahl von hunderttausend katholischen Weltpriestern (die Klostergeistlichen nicht einmal darzu gerechnet) annehme: so ists schon auffallend genug, wie viele Familien durch das Celibat dem Staate von Zeit zu Zeit aussterben.“ Westenrieder/Schubauer/Hübner: Vorstellungen (wie Anm. 168, S. 455), S. 470. – In den Mönchsbriefen wird die Notwendigkeiten des Bevölkerungswachstums kontrovers diskutiert, siehe Kapitel 3.1.1. 178 Jeweils Schwind: Rede (wie Anm. 173, S. 457), S. 8. 179 Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 66. Er merkt an, Stammel suggeriere, Priesterehen seien bis zu dessen Pontifikat in Deutschland üblich gewesen. Dies hält Kronenberger jedoch
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losigkeit der Priester nur eine „Erfindung“ Gregors sei, weist er kategorisch als „falsch“¹⁸⁰ zurück. Er greift erneut auf das Frage-Antwort-Schema des Katechismus zurück, um den von den Aufklärern „verschrienen Cölibat“¹⁸¹ zu verteidigen. Diese Gestaltung sollte – neben der höheren Beweiskraft – seinen Lesern auch ermöglichen, zu den Argumenten einen einfacheren Zugang zu erhalten, um sie im Idealfall selbst gegen Anwürfe seitens katholischer Aufklärer vorbringen zu können. Kronenberger ist bemüht, die theologischen Argumente der Zölibatsgegner zu entkräften, indem er ihrer Interpretation entsprechender Bibelzitate seine eigene oder die der Kirchenväter und anderer Theologen gegenüberstellt. Verstand er ansonsten die Bibel wortwörtlich, war er nun um eine Einordnung der PaulusZitate in den historischen Kontext bemüht. Das zeigt, dass er sich einer historischkritischen Auslegung der Bibel zumindest dann anzuschließen bereit war, wenn sie seinen eigenen Zwecken nutzte. Ihm ist allerdings vor allem an der Klarstellung gelegen, dass weder die Apostel noch die Bischöfe und Priester der ersten Kirche in dem Umfange verheiratet gewesen seien, wie die „Cölibatfeinde“¹⁸² behaupteten. Aus seiner Sicht war die erste Kirche vielmehr ein Beweis für die aus der Ehelosigkeit resultierende „Reinigkeit ihrer Priester“. Wenn die katholischen Aufklärer dies bestritten, zeige sich daran, wie weit „sich die Neulinge vom Geiste der ersten Kirche, den sie immer im Munde und in den Federn führen“¹⁸³, unterschieden. Für Kronenberger war der Zölibat unabdingbar, um die Reinheit des Kultus sicherzustellen. Der Ehe haftete zwar aus der Sicht Kronenbergers „nichts Unreines“ an, sie sei aber etwas „weniger Vollkommenes“¹⁸⁴ und darum für den geistlichen Stand ungeeignet. Er knüpfte damit an Vorstellungen an, die in vorchristlicher Zeit aufgekommen waren und die für die (gregorianische) Kirchenreform des 11. Jahrhunderts ebenfalls wichtig gewesen waren.¹⁸⁵
für vollkommen unwahrscheinlich, da der Papst niemals die Trennung gesetzmäßiger Ehen befohlen hätte. Vielmehr hätten die damaligen Priester und Bischöfe mit Konkubinen zusammengelebt. 180 Jeweils ebd., S. 71. 181 Ebd., S. 67. 182 Ebd., S. 69. 183 Jeweils ebd., S. 71. 184 Ebd., S. 72. 185 Da die Pfarrer in Form des Messvollzugs als ‚Mittler zwischen Gott und der Welt‘ agierten, erwarteten insbesondere die Laien, dass sie besonders ‚rein‘ waren. Vor allem der Eremitenprior und spätere Kardinal Petrus Damiani (um 1006–1072) setzte sich für eine Reform der Kirche ein und mahnte in Lehrbriefen die Einhaltung des Zölibats an. Auch ihm als Mönch ging es in der Hauptsache um die kultische Reinheit. Allerdings spielten bei der Bekämpfung der Priesterehe nicht nur spirituelle Argumente eine Rolle, sondern auch ökonomische, da die Vererbung des Kirchenguts verhindert werden sollte. Vgl. Goez: Kirchenreform (wie Anm. 270, S. 170), S. 74–75.
460 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Zwar bestritt Kronenberger nicht, dass der Zölibat ein „Kirchengebot“¹⁸⁶ war. Dennoch versuchte er, ihm den Stellenwert göttlichen Rechts zu geben, indem er andeutete, es sei „vielleicht auch etwas mehr von jenen Verordnungen, die Jesus hinterließ, da er 40 Tage mit seinen Jüngern vom Reiche Gottes handelte, und wovon nicht alles geschrieben ist.“¹⁸⁷ Möglicherweise war ihm bewusst, dass in den Augen der Zölibatskritiker dieser vagen Behauptung die Stichhaltigkeit fehlte. Zumindest beendete er sein Plädoyer für die Ehelosigkeit der Priester mit einem praktisch-nüchternen Argument, indem er bezweifelte, ob ein verheirateter Priester mit ganzem Herzen und voller Aufmerksamkeit Gott dienen könne. Damit zielte er erneut auf eine vermeintliche Schwachstelle der katholische Aufklärung, deren Vertreter zwar die Stärkung des Pfarrprinzips fordern, aber genau dies durch die Priesterehe verhindern würden. Seine kompromisslose Haltung in Bezug auf den Zölibat zeigt sich daran, dass er dessen Kritiker als Feinde oder – wie in seiner Rede über den Cölibat – sogar als „Zöglinge der Kätzer“¹⁸⁸ bezeichnet. Mit diesem buchstäblichen FreundFeind-Schema stellte er einen kaum zu überbrückenden Graben zwischen sich und den Kritikern her. Er hielt es für schändlich, dass diese ‚Feinde‘ größtenteils selbst Priester waren, die die Priesterehe befürworteten. Dennoch argumentierte er weitgehend sachlich und verzichtete beispielsweise darauf, die Gegner mit persönlichen Anfeindungen anzugreifen und ihre sittliche Moral in Zweifel zu ziehen. Allein in seiner Rede über den Cölibat zog er eine Verbindung zwischen der „Wohllust [sic]“¹⁸⁹ der Männer und ihrer Ablehnung der Ehelosigkeit. Hierbei nahm er auch Bezug auf die Möglichkeit zur Priesterehe in Frankreich und äußerte seine Bestürzung über Priester, die „im Werke [gemeint ist in Form der Eheschließung, Anm. A. K.] ihre Ueberzeugung verrathen“¹⁹⁰ hätten. In seiner Widerlegung der Kronik verzichtete er allerdings auf die Herstellung solcher Zusammenhänge.
186 Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 72. 187 Jeweils ebd., S. 71 f. 188 Kronenberger: Kanzelreden (wie Anm. 164, S. 454), S. 66. Die Polemischen Kanzelreden, in denen die Rede über den Cölibat enthalten ist, wurden in erster Auflage 1798 in Köln gedruckt. Am Anfang seiner Rede wendet er sich zunächst unverheirateten Laien zu, bevor er den geistlichen Zölibat rechtfertigt. Dieser Teil ist fast deckungsgleich mit der Verteidigung priesterlicher Ehelosigkeit in seiner Widerlegung der Kronik. 189 Ebd., S. 67. Die Kritik über Kritiker griff, wenn auch verschlüsselt, direkt geistliche Zölibatsgegner wie Anton Joseph Dorsch an, um sie „unter Verweis auf vermeintliche menschliche Schwächen, sprich: unterstellte oder kolportierte ‚Unmoral‘, an den publizistischen Pranger zu stellen“ (Krenz: Konturen (wie Anm. 43, S. 13), S. 209). Dorsch, der 1791 nach Straßburg gegangen war und dort als Professor für Moraltheologie lehrte, heiratete 1792. Zur Biographie Dorschs siehe Kapitel 3.1.2, Anm. 451. 190 Kronenberger: Kanzelreden (wie Anm. 164, S. 454), S. 67.
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Mit seinen Argumenten für den Zölibat konnte Kronenberger Johann Kaspar Müller nicht überzeugen: Er tat sie sämtlich als „lauter sich widersprechende und widersinnige Einwürfe und Antworten“¹⁹¹ ab. Zu Kronenbergers Auffassung, der Zölibat sei ein Kirchengebot, bemerkte er nur abfällig, dieser verwechsle ein Kirchenmit einem Papstgebot. Für Müller war dies bereits Beweis genug für die Unrechtmäßigkeit des Zölibats, da er dem Papst nicht nur den Vorrang absprach, sondern das Amt selbst als eine einzige Anmaßung betrachtete.¹⁹² Dennoch verzichtete er nicht darauf, die „Schädlichkeit des Cölibats“ argumentativ nachzuweisen und spitzte die bei Stammel und Schwind angelegte naturrechtliche Argumentation noch stärker auf staatliche, gesellschaftliche und erzieherische Aspekte zu: Für ihn ist der Mensch zum „gesellschaftlichen Leben“ bestimmt und macht mit anderen zusammen die Bürger eines Staates aus. Da der Bürger an „der Gesetzgebung des Staates Antheil“¹⁹³ habe, verpflichte er sich, den Gesetzen „unverbrechlich Gehorsam zu leisten“ und „seinen Privatvortheil dem Wohl des Ganzen auf[zu]opfern“. Aufgrund der „Wohlthaten, die er und seine Kinder, theils durch die Sicherheit ihrer Personen, theils durch die Erziehung“ genössen, tue er dies mit großer „Dankbarkeit“. Um die Universalität der Bürgerpflichten zu betonen, belegt Müller seine vertragstheoretischen Ausführungen mit Bibelstellen aus dem Neuen Testament. Für ihn stimmen Naturrecht und göttliches Recht überrein, wobei er – wie Schwind – ersterem den Vorzug gibt. Gleichzeitig versuchte er auf diese Weise, den orthodoxen Kritikern jegliche Angriffsfläche zu entziehen, da er stets behaupten konnte, nicht anders als die Bibel zu argumentieren. Ohne es explizit auszusprechen, machte Müller allerdings ebenfalls deutlich, dass er seine Ansichten am besten innerhalb der republikanischen Staatsordnung verwirklicht sah. Die Priester sah Müller nicht als Teil des von ihm beschriebenen staatlichen Gefüges: Aufgrund ihrer Ehelosigkeit wären sie durch keinerlei „Familienband in das Staatsinteresse verflochten“¹⁹⁴, weshalb ihnen der Anreiz fehle, ihr persönliches dem allgemeinen Wohl unterzuordnen. Sowohl die Geschichte als auch die Gegenwart zeigten, dass die Geistlichkeit stets darauf bedacht sei, „einen Staat 191 Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 95. 192 „Und alle diese Abscheuligkeiten und Greuelthaten veranlaßt, unterstützt, befielt ein Priester, ein Bischof, der sich durch Ränke auf Kosten der Reinheit, der Religion, über seine Amtsbrüder erhebt, sich als Richter über alle Monarchen und der ganzen Christenheit aufwirft, Unterthanen vom Eide losspricht und aufwiegelt, Länder nach Willkür nimmt und verschenkt! Ein Mensch, der keck genug ist, sich als Statthalter Gottes abgöttisch verehren zu lassen, der sich für das Orackel der Wahrheit gehalten wissen will, und deswegen die Religion nach seinem Gefallen ändert und als Richter in Glaubenssachen auftritt; der deswegen dem Menschen den Gebrauch der Vernunft untersagt“. Ebd., S. 121. 193 Jeweils ebd., S. 96. 194 Jeweils ebd., S. 97.
462 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? im Staat, d.h. eine für sich bestehende Gesellschaft auszumachen“¹⁹⁵. Indem er außerhalb der Gesellschaft stehe, könne der Priester seiner Aufgabe als „öffentliche[r] Volkslehrer“¹⁹⁶ jedoch nicht nachkommen: Weder könne er seinen Schülern eine bürgerliche Erziehung geben noch ihnen die Staatspflichten beibringen, da er von beidem keine eigene Vorstellung besitze. Hatte bereits Schwind die Eignung des ehelosen Priesters als Vorbild und Berater angezweifelt, argumentierte Müller nicht wie dieser auf der emotionalen Ebene, sondern strikt vom Wohl des Staates ausgehend. Er beharrte darauf, dass der Zölibat zwangsläufig zu einem unmoralischen Lebenswandel der Geistlichen führe, obgleich Kronenberger diese Argumentation als absurd zurückgewiesen hatte. Die Positionen der Zölibat-Befürworter und -gegner erwiesen sich letztlich als unvereinbar, da keine Seite zu einem Entgegenkommen oder auch nur zur Akzeptanz der gegenteiligen Meinung bereit war.¹⁹⁷ Dies hing auch damit zusammen, dass die Diskussion um den Zölibat zwar von beiden Seiten noch weitgehend im argumentativen Umfeld der Aufklärung geführt wurde. Dennoch wirkten sich die politischen Ereignisse insbesondere auf diesen Streitfall zwischen katholischen Aufklärern und orthodoxen Katholiken unmittelbar aus: Da in Frankreich nun die Möglichkeit bestand, die Priesterehe einzugehen, hatte die Debatte die Ebene der Theorie längst verlassen. Die Aufklärer konnten sich bestätigt fühlen, dass ein katholisches Land von der Priesterehe profitierte, wohingegen sie den Gegenaufklärer als Fanal des Unglaubens erscheinen musste. Unterstützung für ein aufklärerisches Priesterbild Mochte sich Kronenberger bei seiner Widerlegung der Kronik zwar darauf berufen, im Einverständnis mit der Bevölkerung zu handeln, erfuhr Stammel hingegen vonseiten anderer Aufklärer Unterstützung. Sie teilten das von ihm vertretene Priesterbild und sahen die Aufgabe des Priesters darin bestehen, „die Menschen von heilsamen Wahrheiten [zu] unterrichten und zur Erkenntniß und Tugend“¹⁹⁸ anzuführen, wie es Johann Kaspar Müller formulierte. Dass sie diesen Anspruch noch immer nicht verwirklicht fanden, lastete der Autor des Aufsatzes Beobachtungen über einige in diesem Zeitpunkt für die Bewohner der Vier neuen Departemente
195 Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 97 f. 196 Ebd., S. 100. 197 Das Beispiel Westenrieders zeigt, dass es allerdings auch katholische Aufklärer gab, die unter dem Eindruck der Französischen Revolution und ihrer Auswirkungen ihre Einstellung zum Zölibat wieder änderten: Hatte Westenrieder noch 1782 für die Abschaffung plädiert, verteidigte er ihn ab 1815 „als eine Art ‚Eckpfeiler‘ der Sittlichkeit“ (Haefs: Christentum (wie Anm. 627, S. 243), S. 297). 198 Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 77.
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wichtige Gegenstände vor allem den Einfluss des Papsttums an. Als „das Oberhaupt und die Seele aller katholischen Universitäten“¹⁹⁹ würde der jeweilige Papst seit Jahrhunderten verhindern, dass die Geistlichen zu „vernünftige[n] oder gute[n] Menschen“²⁰⁰ ausgebildet würden und sie stattdessen zu blindem Gehorsam erziehen lassen. Deshalb bezeichnete er die Päpste sogar als „die größten verderblichsten Menschenfeinde, die der Erdboden trug.“²⁰¹ Seine rhetorische Zuspitzung der aufklärerischen Papstkritik lässt sich auf die scharfe Frontstellung zurückführen, die seit der Revolution zwischen Aufklärung und Papsttum herrschte. Wie Stammel war auch er an einer guten Ausbildung der Pfarrer interessiert. Prägnanter als dieser betonte er allerdings ihre Vorbildfunktion: Ein „wahrer Geistlicher“ sei „der Freund, der Lehrer, der Vater seines Volkes.“²⁰² Deutlich bekundete er jedoch, dass die Tugendhaftigkeit, die der Priester für diese Aufgabe benötigte, nur in der französischen Republik erlangt werden könne.²⁰³ Dennoch befand sich der Autor der Beobachtungen mit diesem Aufgabenprofil des Priesters noch ganz auf der Linie, die Castello bereits Ende der 1780er Jahre für die Priesterausbildung vorgegeben hatte. Ein anonymer „Wahrheitsfreund“²⁰⁴ ging hingegen einen Schritt weiter, indem er die Priester aufforderte: [E]ntweihet die Predigtstühle nicht länger mit Spitzfindigkeiten, mit spekulativen Lehrsätzen, mit mystischen Deutungen, mit Mährchen und Legenden, traget die reine, leichte sanfte und beglückende Moral des Christenthums deutlich, und gemein verständlich vor, […] werdet aus Dogmatikern Philosophen, und machet eure Zuhörer aus blinden Gläubigern, zu Schülern der Philosophie²⁰⁵.
Die Priester sollten ihre ‚Schüler‘ durch wiederholtes Predigen lehren, „daß sie sich durch die Vernunft vom Thiere unterscheiden; daß die Vernunft das herrlichste Geschenk Gottes, und der gewissenhafte Gebrauch derselben unsere heiligste Pflicht sey“. Die Gläubigen sollten nicht nur die Erlaubnis, sondern auch eine Anleitung zum selbstständigen Denken erhalten und überzeugt werden, „daß vernünftig 199 Johann Jakob Haan: Journal für das Saar-Departement, achtes Heft, Trier 1799, S. 694. 200 Ebd., S. 695. 201 Jeweils Johann Jakob Haan: Journal für das Saar-Departement, siebtes Heft, Trier 1799, S. 652. 202 Ders.: Journal 8 (wie Anm. 199), S. 701. 203 Siehe ebd., S. 703. 204 Haan: Journal 2 (wie Anm. 152, S. 318), S. 99. Im Zusammenhang mit dem Streit um die Kronik druckte Haan diesen an Kronenberger gerichteten Brief eines selbsternannten Wahrheitsfreundes in seinem Journal für das Saardepartement ab. Ob es sich dabei wirklich um einen Brief eines anonymen Autoren handelte oder ob Haan den Text selbst verfasst hatte, bleibt unklar. Allerdings weist er in der Argumentation Ähnlichkeiten zu Johann Kaspar Müllers Schrift auf, sodass auch dieser als Autor infrage kommt. 205 Jeweils ebd., S. 101.
464 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? denken und christlich denken, vernünftig leben und christlich leben, im Grunde eines sey“²⁰⁶. Mit der Herleitung der Vernunft von Gott sowie ihrer Ausrichtung zur Erkenntnis eben dieses Gottes, bewegte sich der ‚Wahrheitsfreund‘ noch im Rahmen der katholischen Aufklärung.²⁰⁷ Gleichzeitig weisen seine Forderung an die Priester, sich als ‚Philosophen‘ und die Gläubigen als ‚Schüler der Philosophie‘ zu begreifen, auf eine darüber hinausgehende Nähe zur deistischen Vernunftreligion hin, die ohne religiösen Überbau zum ‚moralisch guten‘ Handeln anleiten sollte. In diesem Sinne reduziert er die Religion auf eine reine, wenn auch vorgeblich noch christliche Moral.²⁰⁸ Der ‚Wahrheitsfreund‘ machte hauptsächlich Kronenbergers Zugehörigkeit zum Mönchsstand dafür verantwortlich, dass dieser nicht dem Ideal des Priesters als Philosophen entsprach. Da die Klostergeistlichen selbst „an einen dummen und blinden Gehorsam gewöhnt“²⁰⁹ seien, könnten sie mit ihren Predigten zwangsläufig nicht zum eigenen Vernunftgebrauch anregen. Kronenberger zählte für ihn zur „Stimme unaufgeklärter und habsüchtiger dummer und fanatischer Kuttenträger“²¹⁰. Auch der Autor der Beobachtungen verachtete die Mönche als „unnütze faule Glieder des Staates“²¹¹. Er befürwortete die Umwandlung der Klöster in Arbeitshäuser für Bettler – eine Idee, gegen die sich Kronenberger entschieden verwahrt hatte. Zufrieden verwies der Aufsatzautor auf die Auffassung Frankreichs, die Klöster seien „für unsere Zeiten“²¹² ungeeignet, weshalb die geistlichen Gelübde nicht mehr anerkannt würden. Einhellig begrüßten die Aufklärer die Beseitigung des „Mönchsdespotismus“²¹³ unter der französischen Besatzung, auch wenn zu diesem Zeitpunkt die Säkularisation der Klöster noch nicht vollzogen war. Befanden sie sich mit diesem Vorwurf an das Mönchswesen ganz auf der Linie der katholischen Aufklärung, zeigt sich an dem immer selbstverständlicher verwendeten Begriff des Pfaffen²¹⁴ eine Verschärfung des Diskurses hinsichtlich des Priester206 Jeweils Haan: Journal 2 (wie Anm. 152, S. 318), S. 103. 207 Handschuh: Wahre Aufklärung (wie Anm. 43, S. 13), S. 51: Die Vernunft galt „als grundsätzlich zur Erkenntnis Gottes fähig und auf Gott hin ausgerichtet.“ 208 Zur Vernunftreligion, die La Roche Gutmann in den Mönchsbriefen formulieren lässt, siehe Kapitel 3.1.1. Allgemein dazu siehe Kapitel 2.2. 209 Haan: Journal 2 (wie Anm. 152, S. 318), S. 111. 210 Ders.: Journal 1 (wie Anm. 64, S. 433), S. 107 f. 211 Ders.: Journal 8 (wie Anm. 199, S. 463), S. 685. 212 Ebd., S. 683. 213 Ebd., S. 690. 214 Die pejorative Begriffskonnotation besteht seit der Reformation. Luther bezeichnete zunächst Götzendiener als Pfaffen und gebrauchte den Begriff dann für katholische Geistliche. Vgl. die Angabe ‚Pfaffe‘ in der Onlineversion des Deutschen Wörterbuchs: http://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemma=pfaffe [abgerufen am 9.8.2018].
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bildes. Der Begriff wurde nun nicht mehr nur im politischen Rahmen verwendet, um im Duktus der Besatzer Propaganda für eine Vereinigung mit Frankreich zu betreiben. Ganz selbstverständlich tauchten Vorwürfe von „Pfaffenstolz“²¹⁵ oder „Pfaffendespotismus“²¹⁶ nun auch im Rahmen innerkonfessioneller Debatten auf und dienten der Maximalabgrenzung zu orthodoxen Katholiken wie Kronenberger. Johann Kaspar Müller machte in seiner Verteidigung der Kronik Geistliche wie Kronenberger für den Spott, den das Christentum auf sich ziehe, selbst verantwortlich: Das „unbescheidene Betragen vieler Religions-Lehrer“, die nur mit „Höllenstrafen“ drohen „und statt bescheidener und vernünftiger Gründe, die zur Ueberzeugung und Belehrung führen, mit satanischen Eingebungen und teuflischen Irrthümern von der Kanzel herabdonnern“ würden, führe zum Ansehensverlust des Klerus und der Religion. Allein aus Stolz würden sie die „Religion zum Vorwande“ nehmen, um ihre eigenen Meinungen zu Lehrmeinungen zu erklären. Dieses betrügerische Verhalten der Geistlichen gebe wiederum unter den übrigen Gläubigen zu „tausend L[ü]gen, Betrügereyen und Lastern Anlaß“²¹⁷. Kronenberger und andere orthodoxe Geistliche waren aus Kaspar Müllers Sicht nur bigotte Heuchler. Als solche würden sie jene Priester behindern, die sich mühten, wahre Vorbilder zu sein und das „Volk ohne allen Eigennutz mit den Lehren Jesu und seiner Apostel“²¹⁸ bekannt zu machen. Obwohl Müller zwischen ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Priestern differenzierte, ließ er erkennen, nicht länger das von den Geistlichen beanspruchte Recht akzeptieren zu wollen, alleinige Vermittler zwischen Gott und den Menschen zu sein.²¹⁹ So wie sich die Priester aus seiner Sicht mit dem Zölibat absonderten, taten sie das auch durch dieses behauptete Vorrecht. Beides war mit seiner Vorstellung einer bürgerlichen Gesellschaft nicht vereinbar. Für die meisten linksrheinischen geistlichen wie weltlichen Aufklärer fiel das Engagement für einen aufgeklärten Katholizismus mit dem für eine neue politische Ordnung zusammen. Dies war allerdings auch naheliegend, da eine zu große Distanz zu den französischen Besatzern sie unweigerlich der Reaktion verdächtig gemacht hätte. Verschiedene Äußerungen Kronenbergers in seinen Predigten zeigen jedoch, dass auch er keineswegs unpolitisch agierte und seine wehrhaftes
215 Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 6. 216 Ebd., S. 2. Dass den Pfaffendespotismus auch Stammel als Geistlicher beklagte, wurde bereits im Kontext seines Franz von Sickingen deutlich. 217 Jeweils ebd., o. S. 218 Ebd., S. 6. 219 Ebd., S. 144.
466 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Priesterideal nicht nur gegen die katholische Aufklärung, sondern auch gegen die französische Besatzung gerichtet war. Der Teil der katholischen Elite, der über die französische Revolution hinaus an den Ideen der Aufklärung festhielt, glaubte unter der französischen Herrschaft sein aufklärerisches Priesterideal endlich verwirklichen zu können. Dass ihre (erneut) gewonnene Deutungshoheit in den Jahren 1797/98 durchaus noch einen prekären Status besaß, zeigt der Widerstand, der Stammel aus Teilen der Elite und der Bevölkerung entgegenschlug. Zwar wirkte sich die französische Besatzung günstig für die Aufklärer und die Verbreitung ihrer Positionen aus. Dennoch konnten orthodoxe Katholiken wie Kronenberger anfangs noch öffentlich Stellung beziehen. Sein Beispiel zeigt jedoch, dass sich die Grenzen des Sagbaren für den orthodoxen Katholizismus im Linksrheinischen zu dessen Ungunsten verschoben hatten.
4.2.2 Was zeichnet die ‚wahre‘ Religion aus? Die jeweiligen Priester- und Mönchsbilder, die von katholischen Aufklärern auf der einen und orthodoxen Katholiken auf der anderen Seite vertreten wurden, waren eng mit ihrer Vorstellung von ‚wahrer‘ Religion verbunden. Genauso wenig wie der Umbruch der Französischen Revolution mit ihren Auswirkungen auf das Linksrheinische plötzlich einen Konsens darüber hergestellt hatte, ob Mönche nützlich oder unnütz für einen Staat waren oder ob ein Priester Lehrer oder Wächter seiner Gemeinde sein sollte, herrschte auch längst noch keine Klarheit darüber, was als Aberglaube zu gelten habe oder im Gegenteil das Wesen der Religion ausmachte. Die Beantwortung dieser Fragen war eng mit dem historischen Blickwinkel, mit dem die Akteure auf die Religion schauten, verbunden. Geschichtsbild und Kritik am Märtyrerkult Ausgehend von seinem Bewusstsein über die historische Bedingtheit kirchlicher Frömmigkeitsformen, nahm Stammel die Kirchengeschichte als Anlass für Veränderungen in diesem Bereich zu werben. Da er seine Kronik für die breite Bevölkerung verfasst hatte, verzichtete er zwar auf die Offenlegung seiner Quellen; aus seiner Darstellung geht jedoch hervor, dass er den Wahrheitsgehalt (christlicher) Legenden gering schätzte. Stattdessen hatte er sich nach eigener Auskunft mit den schriftlichen Quellenzeugnissen zur Stadtgeschichte auseinandergesetzt.²²⁰ Ähnlichkeiten zu den Mönchsbriefen weisen außerdem darauf hin, dass er sich 220 Als Aufseher der Universitätsbibliothek habe er das Glück gehabt, „aus seltenen Büchern und Handschriften mir eine beträchtliche Sammlung zu verschaffen, welche ich bei meiner Ar-
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bei der allgemeinen Kirchengeschichtsschreibung unter anderem an Fleury sowie anderen, bei katholischen Aufklärern beliebten Autoren orientiert haben muss. So lässt ein Vorwurf Kronenbergers darauf schließen, dass Stammel sich bei seinen allgemeineren Ausführungen möglicherweise auch auf die elfbändige Geschichte der Deutschen des Würzburger Theologen und Historikers Michael Ignaz Schmidt (1736–1794) gestützt hatte.²²¹ Aus Stammels Sicht bestimmte nicht mehr die Kirche allein über ihre Geschichte. Seine Leser sollten durch die Kenntnis der Vergangenheit zum selbstständigen Denken angeregt werden. Diese Bereitschaft Stammels, sich historisch-kritisch mit der Bibel oder anderen christlichen Überlieferungen auseinanderzusetzen, war möglicherweise das Ergebnis der aufklärerischen Reform der Trierer Priesterausbildung, die die Kirchengeschichte als theologische Disziplin gestärkt hatte.²²² In seinem Franz von Sickingen macht Stammel deutlich, dass es ihm nicht um eine „unzweckmäßige Behandlung der Geschichte“²²³ ging. So reiche es nicht aus, als Geschichtsschreiber wahllos Begebenheiten aneinander zu reihen. Gleichzeitig kritisiert er die Voreingenommenheit, die viele geschichtliche Darstellungen präge: So diene die Geschichte dem Politiker allein dazu, die „verborgensten Triebräder[…]“²²⁴ zu erforschen, die das Ansehen blühender Staaten begründeten und zu „dem Punkte einer Universalmonarchie hinaufführten“²²⁵. Alles andere interessiere ihn nicht. Ein noch schlimmeres Schicksal erleide die Geschichte in den Händen „heiliger Schwärmer“: Der „religiöse Phantast“ greife nur nach dem, „was so ganz in seine Schwärmerei“²²⁶ passe und lasse sich allein von Aberglaube und Intoleranz leiten.
beit benutzen konnte“. Stammel: Augustiner Prediger (wie Anm. 42, S. 428), S. 5. Zu den ersten Grundlagen von Stammels Geschichtsverständnis siehe auch Kapitel 3.3. 221 Vorbild für Schmidts quellennahe Darstellung war u. a. Voltaire. Schmidt leitete die Frage nach dem jeweiligen Grad der ‚Nationalglückseligkeit‘ einer Epoche. Aufgrund des überkonfessionellen Standpunktes, den er vertrat, fand sein Werk große Verbreitung (vgl. Uwe Puschner: Schmidt, Michael Ignaz, in: Neue Deutsche Biographie 23 (2007), S. 210–211). Auch Johann Kaspar Müller schätzte Schmidts Geschichte der Deutschen (siehe Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 80). Kronenberger bezeichnete Schmidt hingegen als „Heiligenfreund[…]“, bei dem „alle Kaiser und Fürsten, die eine Kirche baueten, ihre Makel“ (Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 41) gehabt hätten. 222 Zur Reform der Priesterausbildung siehe Kapitel 3.2. 223 Stammel: Franz von Sickingen (wie Anm. 4, S. 420), S. VII. 224 Ebd., S. XI. 225 Ebd., S. XII. 226 Ebd., S. XIII. Auch die historische Darstellung aus der Perspektive des Soldaten oder des Gelehrten genügen Stammel nicht. Seinem Ideal näher kommen der gebildete Künstler sowie der Moralist.
468 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Demgegenüber forderte Stammel, müsse die Geschichte – wie jede andere Wissenschaft auch – stets ihren Ausgangspunkt bei der Kritik nehmen. Diese Herangehensweise diene dazu, dass allgemeine Prinzip, auf dem jede Wissenschaft basiere, zu ermitteln. Hinsichtlich der Geschichte glaubte Stammel dieses Prinzip in Kants Gesetz der praktischen Vernunft erkannt zu haben: Demnach müsse die „Beurtheilung fremder Handlungen“ von derselben Maxime geleitet werden, „wornach wir unsre eigene Handlungen einrichten müßen, wenn wir sittlich gut handlen wollen: […] die Handlung, wenn sie ihren sittlichen Werth an sich tragen soll, muß von einem Willen herrühren, der ein allgemeines Gesetz vernünftiger Wesen werden könnte“²²⁷. Von einer geschichtlichen Betrachtung, die diesem Prinzip gehorchte, versprach sich Stammel einen vorurteilsfreien oder zumindest wertschätzenderen Blick auf die Vergangenheit sowie auf fremde Kulturen: Man würde „die Tugend auch schätzen lernen, wo, und in wessen Brust sie auch sey: sie wird uns werth seyn, in der schmutzigen Hülle des Honttendotten, und wo die menschliche Figur in dem häslich gebildeten Eskimos fast unkenntlich ist.“²²⁸ Dieses Prinzip, „fremde und eigene Handlungen nach ihrem sittlichen Gehalte zu bemessen“, wollte er auch auf die „vaterländische Geschichte“²²⁹ angewandt wissen. Er war überzeugt, dass die Beschäftigung mit der Landesgeschichte für den Leser geeignete Beispiele „bürgerliche[r] Tugend“²³⁰ bot: Aufgrund ihrer Vertrautheit könne er an diese besser anknüpfen als an die Darstellungen fremder Welten.²³¹ Diesem Grundsatz folgte auch die Kronik. Insbesondere die Legenden, die sich um die Entstehung der antiken Bauwerke der Stadt rankten, dienten Stammel in der Kronik dazu, bei seinen Lesern ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die lange Überlieferung nicht automatisch für den Wahrheitsgehalt solcher „Volksgeschichtchen“²³² bürgte. Vielmehr sollten sie begreifen, dass diese Sagen auf dem Unverständnis basierten, historische Ursprün-
227 Jeweils Stammel: Franz von Sickingen (wie Anm. 4, S. 420), S. XX. 228 Ebd., S. XXI. – Mit seiner Wortwahl macht Stammel zwar deutlich, dass er die ‚Wilden‘, wie viele andere Aufklärer auch, als primitiv wahrnahm. Gleichwohl schloss er nicht aus, auch hier Beispiele von Tugend zu finden. Dies deutet darauf hin, dass ihm ebenso bewusst war, dass es innerhalb des zeitgenössischen Diskurses auch anderslautende Stimmen gab. Siehe dazu auch Kapitel 3.1.1. 229 Ebd., S. XXVI. 230 Ebd., S. XXVIII. 231 „O ich fürchte, es mögte gar zu wenig Einfluß auf patriotische Tugenden, auf bürgerliche Veredlung, und sittliche Ausbildung haben; wenn er so ganz in eine fremde Welt versetzt wird, wo seine ausschweifende[n] Ideen sich an nichts festhalten können.“ Ebd., S. XXVIII. 232 Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 18.
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ge oder Zusammenhänge zu erkennen.²³³ Stammel versuchte stattdessen, seinen Lesern plausible Deutungen für das Vergangene nahezubringen, um sie gegen all zu simple und auf Hörensagen beruhende Erklärungsversuche zu sensibilisieren. Provokant übertrug er diese Betrachtungsweise auch auf die christlichen Märtyrergeschichten und relativierte sie: „So blutig waren aber die Verfolgungen nicht, wie man sie gewöhnlich anzugeben pflegt.“ Das Heidentum der Kaiser erwähnt er zwar, die Verfolgungen hatten für ihn jedoch in erster Linie politische und keine religiösen Gründe. So führt er sie sachlich darauf zurück, dass die Christen in den Augen der damaligen Kaiser gefährliche Verschwörer waren und „als stolze unerträgliche Menschen, welche die Religion des Landes untergraben wollten, angesehen“²³⁴ wurden. Für ihn bewiesen die Christenverfolgungen weder die Überlegenheit noch die Verlockungen des Christentums, sondern implizit die Intoleranz von dessen Anhängern. Anhand der Legende um die Thebaische Legion²³⁵ legt er dar, dass solche Geschichten „manches Widersinnige und Unwahrscheinliche“ enthalten würden, da sie meist erst „mehrere Jahrhunderte später“ entstanden seien. Insbesondere für das angebliche Trierer Martyrium gebe es „in keinem ältern Buche“ einen entsprechenden Beweis. Die Knochenfunde, die gemacht worden seien, stammten von einem „der gewöhnlichen Begräbnißörter der alten Trierer.“²³⁶ Dass er dem christlichen Märtyrerkult allgemein ablehnend gegenüberstand, zeigt seine Verknüpfung des „sogenannten Stadtgeistes“²³⁷ mit den Trierer Märtyrern: Beides waren für ihn gleichermaßen Geistergeschichten. Die Glaubwürdigkeit bestimmter Ereignisse der Vergangenheit bemaß sich für ihn ausschließlich anhand der Qualität ihrer Überlieferung: Die Geschehnisse mussten in unmittelbarem
233 Stammel verwies unter anderem auf die Behauptung, die Porta Nigra sei Teufelswerk sowie auf Legenden rund um das Amphitheater, siehe ebd., S. 18. Auf die Legende um die Porta geht auch Michael Franz Joseph Müller im Kaßpar Olewian ein, siehe Kapitel 3.3. 234 Jeweils ebd., S. 22. 235 Gemäß christlicher Überlieferung soll es sich dabei um eine Legion der Römischen Armee gehandelt haben, deren Mitglieder aufgrund ihres christlichen Glaubens auf Befehl des Kaisers hingerichtet wurden. Regionale Varianten der Legende existieren im gesamten Rheinland und darüber hinaus. In der Geschichte, auf die sich Stammel bezieht, sollen auch Einwohner der Stadt Trier den Märtyrertod gestorben sein. Auf dem angeblichen Marterplatz wurde die Stiftskirche St. Paulin errichtet. Die Knochenfunde eines römischen Gräberfeldes, sollten Zeugnis des Martyriums sein. Siehe ebd., S. 23. Zur St. Pauliner Märtyrer-Legende vgl. Heyen: St. Paulin (wie Anm. 56, S. 38), S. 308–328. 236 Jeweils Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 23. 237 Ebd., S. 24. Bei diesem Stadtgeist würde es sich um den römischen Statthalter handeln, der den kaiserlichen Befehl, die Christen hinzurichten, habe ausführen müssen. Ironisch merkt Stammel an, dieser würde „nur in guten Weinjahren sein Spiel“ treiben und sei anscheinend „seit dem Einzuge der Franzosen ganz verschwunden“ (ebd.).
470 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? zeitlichen Zusammenhang schriftlich festgehalten worden sein, um überhaupt als Beleg dienen zu können. Dieses Geschichtsbild, das den Wert des geschriebenen Wortes über den der christlichen Überlieferung stellte, lief völlig konträr zur Auffassung Kronenbergers. Sein Verständnis der Geschichte im Verhältnis zur Religion machte er gleich zu Anfang seiner Widerlegung der Kronik deutlich: Für ihn ist die schriftliche Überlieferung nichts anderes als die „Tochter der mündlichen Erzählung“, die das „ungeschriebene[…] Worte Gottes“²³⁸ darstelle. Schriftliche und mündliche Überlieferung sind für ihn damit gleichrangig, sofern sie berücksichtigen, dass stets der „historischen Wahrheit erste Regel […] Gott“ sei und sich „auf dessen Licht und Gnade“²³⁹ gründe. Kronenberger maß im Gegensatz zu Stammel der schriftlichen Überlieferung keine höhere historische Beweiskraft zu. Gemäß der Abgrenzungslinie, die die katholische Kirche seit dem Trienter Konzil gegen die Theologie Luthers verfolgte, manifestierte sich für ihn göttliche Wahrheit nur in der Verbindung von Schrift und (mündlicher) Tradition.²⁴⁰ Darüber hinaus forderte er, es dürften keine Zeugen herangezogen werden, „die im Verhältnisse gegen die Aeltesten nur Buben sind.“²⁴¹ Mit diesem Ausspruch spielte er nicht auf die zeitliche Nähe der Zeugen zum Geschehen an, sondern bezog sich auf ihre Autorität: So wog etwa das Wort der Apostel mehr als die historisch-kritische Bibelinterpretation eines zeitgenössischen Theologen. Kronenberger akzeptierte folglich nur das als ‚historische Wahrheit‘, was aus seiner Sicht mit dem Wort Gottes und damit der Meinung der Kirche übereinstimmte. Vor diesem Hintergrund war Stammels Kronik für Kronenberger bloß ein unwürdiges ‚Bubenstück‘. Gleichwohl lehnte er nicht rundweg die Geschichtsschreibung ab; nur musste es sich bei den Autoren um „gewissenhafte[…] Männer[…]“ handeln, „die in ihren Schriften Religion, Unpartheilichkeit, Fleiß und litterärische Hilfsquellen verrathen“. Bei der Forderung nach Offenlegung der Quellen leitete ihn allerdings weniger der Anspruch wissenschaftlicher Redlichkeit, sondern der Wunsch, Autoren wie Stammel ihre vermeintliche Gottlosigkeit über die Verwendung ‚falscher‘ Quellen leichter nachweisen zu können. So deutete er an, Stammel
238 Jeweils Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 6. 239 Ebd., o. S. Es handelt sich um den Text vorangestellte Zitate. 240 Was der Begriff Tradition genau umfasste, war auf dem Konzil von Trient umstritten. Die einen verstanden darunter die apostolische Tradition, die anderen sprachen „im Plural von den Überlieferungen (traditiones), worunter das der Entstehung und dem Geltungsanspruch nach äußerst heterogene Ganze kirchlicher Gewohnheiten, Bräuche, Liturgien und Gebote verstanden wurde.“ (Holzem: Christentum (wie Anm. 11, S. 4), S. 164.) Letztlich blieb diese Frage im verabschiedeten Dekret bewusst offen. 241 Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), o. S.
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habe sich für seine Kronik auf Wilhelm Kyriander (gest. um 1579) gestützt, der ein voreingenommener und zudem „unkatholischer Schriftsteller“²⁴² gewesen sei. Demgegenüber schätzte Kronenberger Geschichtsschreiber wie die beiden Jesuiten Christoph Brouwer und Jakob Masen, deren Darstellung der Geschichte des Trierer Erzbistums Stammel bereits in seiner Verteidigungsschrift für den Kaßpar Olewian als Ansammlung von Irrtümern verworfen hatte.²⁴³ Kronenberger betrachtete ihre mehrbändige Historie hingegen als eine gelungene Darstellung, die von Frömmigkeit und Klugheit zeuge. Auch über das Werk des Benediktiners Maurus Hillar (1707–1765) aus der Trierer Abtei St. Matthias äußerte er sich wohlwollend. Hillar hatte versucht, „gegenüber der historisch-kritischen Darstellung [Nikolaus von] Hontheims die aus St. Matthias stammende Überlieferung der drei ersten Trierer Bischöfe Eucharius, Valerius und Maternus als geschichtlich zutreffend zu verteidigen.“²⁴⁴ Gerade dieser Gegensatz zwischen Hontheim – über den sich Kronenberger abfällig äußerte – und Hillar machten letzteren zu einem Geschichtsschreiber ganz nach Kronenbergers Geschmack. So hielt er selbst an der Legende um die drei ersten Trierer Bischöfe fest, die angeblich durch den Heiligen Petrus nach Trier entsandt worden waren, was Stammel anzweifelte.²⁴⁵ Anders als Stammel ist Kronenberger denn auch überzeugt, dass die Zahl der Christen zum Zeitpunkt des angeblichen Trierer Martyriums hoch gewesen sein müsse: Bereits unter Bischof Eucharius, schreibt er unter Berufung auf Brouwer, seien hunderte getauft worden: „Diese Getauften nun hatten dreyhundert Jahre Zeit sich auszubreiten, wo es an heiligen Bischöfen nicht mangelte, die mit Wun242 Ebd., S. 7. Kyriander stand der Reformation nahe und wurde deshalb aus den Diensten des damaligen Trierer Kurfürst-Erzbischofs Jakob von Eltz entlassen. Daraufhin stellte ihn der Bürgermeister als Stadtsyndikus ein und beauftragte ihn, Belege für die Reichsunmittelbarkeit Triers zu finden. Kyriander fertigte zu diesem Zweck eine auf zahlreichen Urkunden und Akten beruhende Stadtchronik an, die zunächst dem Kaiser übergeben und anschließend von der Stadt Trier in Köln drucken gelassen wurde. Vgl. Franz: Geistes- und Kulturgeschichte (wie Anm. 123, S. 55), S. 248. 243 Siehe Kapitel 3.3, Anm. 779. 244 Embach: Literaturgeschichte (wie Anm. 49, S. 14), S. 204. Seine Vindiciae historiae Treverensis wurde 1763 in Metz veröffentlicht. 245 Die aus dem 10. Jahrhundert stammenden Bischofslisten nennen Eucharius als ersten Bischof Triers, dessen Amtszeit ins letzte Drittel des 3. Jahrhunderts fiel. Zeitgenössische Quellen gibt es zu ihm und Valerius keine. Maternus ist als erster Bischof Kölns bezeugt. Belegt ist auch die Teilnahme des Agricius, den die Trierer Bischofsliste als vierten Bischof führt, am Konzil von Arles im Jahr 314. Indem die mittelalterliche Legendenbildung sich bemühte, die Bischofslisten bis auf Petrus zurückzuführen, sollte der Vorrang der Trierer Diözese vor allen anderen behauptet werden. Vgl. Binsfeld, Andrea, Eucharius, in: Internetportal Rheinische Geschichte: http://www.rheinischegeschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/eucharius-/DE-2086/lido/57c6a63c775415.45965802 [abgerufen am 16.8.2018] sowie Schneider: Erzbistum (wie Anm. 2, S. 25), S. 747–748.
472 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? derkraft, und Märtyrerblut immer mehr Gläubige zeugten.“²⁴⁶ Zum einen war für Kronenberger der Märtyrerkult von wesentlicher Bedeutung, weil er darin einen Beleg für die hohe Ausbreitungsgeschwindigkeit des Christentums und damit für dessen Überlegenheit sah. Zum anderen verstand er das Martyrium in Übereinstimmung mit Tertullian als eine Art Werbung für die christliche Gemeinschaft: Angesichts der Leidensbereitschaft der Christen hätten die Heiden die Wahrheit der christlichen Lehre erkannt und sich ihnen angeschlossen. Die Verfolgungen verminderten demnach nicht die Zahl der Christen, sondern machten das Christentum im Gegenteil widerstandsfähiger.²⁴⁷ Kronenberger schrieb den christlichen Martyrien gerade auch für seine Zeit eine „missionarische Wirksamkeit“²⁴⁸ zu und sprach sogar von der „Nothwendigkeit neue Märtyrer zu bilden“²⁴⁹. Seine Leser und Zuhörer sollten dies als Aufforderung begreifen, ihren Glauben angesichts der Bedrohungen durch die französische Besatzung und die Aufklärung standhaft zu verteidigen. Deshalb war es ihm wichtig, entgegen Stammels Behauptung darauf zu beharren, wie blutig und massenhaft die Verfolgungen gewesen seien, um Ergriffenheit für die Tugend dieser Christen zu wecken. Als Beweise für seinen Standpunkt führte er die Schriften antiker Autoren und Kirchenväter sowie das Martyrologium, das katholische Märtyrerverzeichnis, an.²⁵⁰ Zeitpunkt, Ort und Intentionen der Verfasser spielten hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit für ihn keine Rolle.
246 Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 24. Da Kronenberger überzeugt war, Eucharius sei durch den Apostel Petrus entsandt worden, existierte für ihn die christliche Gemeinschaft Triers bereits seit Mitte des 1. Jahrhunderts. 247 Der frühchristliche Schriftsteller Tertullian (gest. nach 220) trug mit seinen Schriften zur Verteidigung und Verbreitung des Christentums bei. Kronenberger bezieht sich mehrmals auf ihn. Hinsichtlich der Zahl der damaligen Christen merkt er an, man wisse nicht, „ob nicht, wie es oft durch die Gnade Gottes geschah, ganze Schaaren in dem Augenblik zu Christus sich bekennen mogten, wo man andere tödtete, gemäß dem Ausdruck Tertullians: Das Blut der Märtyrer ward der Samen neuer Christen.“ Ebd., S. 36. Zur Bedeutung der Martyrien bei Tertullian vgl. Wiebke Bähnk: Von der Notwendigkeit des Leidens. Die Theologie des Martyriums bei Tertullian, Göttingen 2001, S. 251–257. 248 Ebd., S. 253. 249 Kronenberger: Tochter Sion (wie Anm. 66, S. 433), S. 146. Mit seiner Rede am Gedächtnißtage der unzähligen Märtyrer bezog er sich explizit auf Stammel. Dass er den Märtyrern eine gesonderte Predigt widmete, zeigt den Stellenwert, den das Thema für ihn hatte. 250 Neben dem als Märtyrer verehrten Justin (gest. 165) oder dem Kirchenvater und frühen Kirchenhistoriker Eusebius von Caesarea (gest. um 340), verwies Kronenberger auch auf Fleury. Dieser führt z. B. in seiner Allgemeinen Kirchengeschichte zahlreiche angebliche Märtyrer an. Aufgrund Fleurys Beliebtheit bei katholischen Aufklärern wird Kronenberger bewusst auf ihn verwiesen haben. Wegen seiner Wundergläubigkeit wurde der Kirchenhistoriker allerdings von Voltaire oder Rousseau auch kritisiert, siehe Kapitel 3.1.1.
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Auch die Trierer Märtyrerlegende erachtete er ausreichend durch schriftliche Zeugnisse belegt. Sie anzuzweifeln bedeute, wie er Stammel vorwarf, alle Trierer Gelehrten, Beamten, Bischöfe, Kanoniker und Wallfahrer der vergangenen Jahrhunderte „des Irrthumes, der Dummheit, des Fanatism [zu] beschuldigen.“²⁵¹ Ein solches Verhalten hielt er für stolz und anmaßend. Diesen rechtschaffenen Männern Irrtum zu unterstellen, stellte Stammel aus seiner Sicht auf eine Stufe mit Luther. Dass es einer schriftlichen Überlieferung überdies gar nicht bedürfe, machte Kronenberger daher in seiner Rede am Gedächtnißtage der unzähligen Märtyrer deutlich: „Denn gesetzt, mein Freund! ältere Schriften meldeten uns nichts davon, (sie reden aber stark davon) so mußt du wissen, daß auch vom göttlichen Worte nicht alles geschrieben, und doch zu glauben nöthig ist: Und das nennet man Tradition: ohne diese giebts wenige geschichtliche Wahrheiten auf Erden“²⁵². Gemäß seines Verständnisses der ‚historischen Wahrheit‘ genügte es, dass die Geschichte der Thebaischen Legion seit Jahrhunderten fester Bestandteil der tradierten Bistumsgeschichte war. Seine Verweise auf zahlreiche andere Quellenzeugnisse dienten nur dazu, die Übereinstimmung schriftlicher und mündlicher Erzählungen gegenüber einem Aufklärer wie Stammel zu untermauern. In den Augen Johann Kaspar Müllers hatte ein solches Geschichtsbild jedoch keinen Bestand. Er warf den Gegenaufklärern und orthodoxen Katholiken vor, mit Vorsatz die Beschäftigung mit geschichtlichen Themen verhindern zu wollen. Der Bevölkerung wolle man vorenthalten, dass die Kirchengeschichte eine Abfolge von Schandtaten bezeuge, die die Kirchendiener unter dem „Deckmantel“²⁵³ der Religion und zu ihrem eigenen Vorteil begangen hätten. Kronenbergers gedanklicher Ausgangspunkt, die erste Regel historischer Wahrheit sei Gott und gründe auf dessen Licht und Gnade, konnte Müller insofern zustimmen, dass „wir von Gott
251 Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 33. Eine Zusammenstellung sämtlicher Beweisstücke zur Trierer Märtyrergeschichte aus „dem berühmten Brower, aus dem Probsten Friedrich, aus der uralten bleyenen Tafel, aus Manuskripten und ältesten Martyrologien, aus der bisherigen Uebergabe, aus dem Ansehen der Kirche und eines der führnehmsten Collegiatstifter“ (ebd.) böte eine Rede des Theologie-Professors Anton Oehmbs von 1768. – Auch im Fall des angeblichen Wunderheilers Adam Knörzer hatte Ohembs ein positives Gutachten erstellt, siehe Kapitel 3.2, Anm. 529. – Die Bleitafel, auf die Kronenberger mehrfach als ‚Beweisstück‘ verweist, wurde angeblich 1072 bei der Öffnung der Gräbergruft St. Paulins gefunden. Ihr Vorhandensein ist nur in der Historia martyrum Treverensium bezeugt, einem zeitgenössischen Bericht über die Wunder, sie sich 1072 ereignet haben sollen. Unbestritten handelt es sich um eine Fälschung, wobei unklar ist, ob die Tafel überhaupt existierte. Vgl. dazu Heyen: St. Paulin (wie Anm. 56, S. 38), S. 309. 252 Kronenberger: Tochter Sion (wie Anm. 66, S. 433), S. 151. So könne man andernfalls auch an der Schöpfungsgeschichte und der Sintflut zweifeln, „weil von zwey tausend Jahren her, bis auf Moses niemand schrieb“ (ebd.). 253 Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 3.
474 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? die Vernunft d. ist (Licht) erhalten, wodurch wir einzig die Wahrheit einzusehen vermögen“. Profitierten für Kronenberger jedoch nur Christen und keine ‚heidnischen‘ Geschichtsschreiber von der göttlichen Gnade, so liege er falsch, zumal Kronenberger selbst auf Sueton oder Tacitus verweise. Müller vermutet jedoch, Kronenberger verstünde ‚Gnade‘ nur „im symbolischen“²⁵⁴ und nicht im theologischen Sinne, um sie Stammel nach eigenem Dafürhalten absprechen und ihn so der Unwahrheit bezichtigen zu können. Anschließend legt Müller Kronenberger – den er abfällig als „H. Augustiner“²⁵⁵ adressiert – sein Verständnis von ‚Wahrheit‘ respektive ‚historischer Wahrheit‘ dar. So sei Wahrheit, „wenn sie allgemein gültig seyn soll, […] der Grund zu jeder Erkenntniß, die auf dem Satz des zureichenden Grundes beruht.“²⁵⁶ Dieser ‚zureichende Grund‘ sei das, woran man etwas erkenne, wie beispielsweise Blitz und Donner, die auf ein Gewitter hinwiesen. Widerspreche ein Grund jedoch den Gesetzen des Denkens, sei also unmöglich – etwa, dass jemand an zwei Orten zugleich gewesen sein soll –, sei er unrichtig. Falsch sei ein Grund auch dann, wenn er nicht überzeuge oder nicht bewiesen werden könne, mithin ein Irrtum vorliege.²⁵⁷ Davon ausgehend legt Müller fest, dass historische Wahrheit stets „auf der Aussage glaubwürdiger Zeugen“ beruhen müsse; diese Zeugen könnten „mittelbar oder unmittelbar seyn.“ Glaubhaft sind sie für ihn beispielsweise dann, wenn sie unparteiisch sind und Fakten klar darstellen. Im Umkehrschluss handelte es sich um unglaubwürdige Zeugen, wenn sie durch Unkenntnis auffielen oder aufgrund 254 Jeweils Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 7. 255 Ebd., S. 7. 256 Ebd., S. 8. Der ‚Satz vom zureichenden Grund‘ ist ein allgemeiner Grundsatz der Logik, der in dieser Form von Aristoteles aufgestellt wurde. – Hielt Müller diese Argumentation über historische Wahrheit ganz abstrakt, wandte der Mainzer Theologe Felix Anton Blau (1754–1798) die Frage nach dem „hinreichenden Grund“ 1791 dezidiert auf die behauptete Unfehlbarkeit kirchlicher Lehre an: So habe man „Ursache genug, auf diese untrügliche Autorität mißtrauisch zu seyn, indem man findet, daß die Kirche Entscheidungen, ohne hinreichenden Grund zu haben, gewagt; oft bloße Schulmeinungen zu Glaubenssätzen erhoben […], daß das kirchliche System erst allmälig so ausgebildet worden sey.“ Felix Anton Blau: Kritische Geschichte der kirchlichen Unfehlbarkeit zur Beförderung einer freiern Prüfung des Katholizismus, Frankfurt a. M. 1791, S. VIII. Da nach dem Ausbruch der Französischen Revolution auch in Mainz die orthodoxen Kräfte wieder erstarkt waren, überrascht es nicht, dass sich Blau heftigen Anfeindungen wegen dieser Schrift ausgesetzt sah. Zur Zeit der Mainzer Republik trat Blau dem Mainzer Jakobinerklub bei und wurde Abgeordneter des Rheinischen Nationalkonvents. Nach der Rückeroberung der Stadt geriet er in preußische Gefangenschaft. Nach seiner Freilassung 1795 emigrierte er nach Paris. 1798 wurde er Richter im Departement Donnersberg und Bibliothekar der Mainzer Universität. Wie sein Freund Dorsch war auch Blau ‚Kantianer‘. Vgl. Schweigard: Liebe (wie Anm. 451, S. 206), S. 134–139. 257 Als Beispiel verweist Müller auf die Astronomie: Man beobachte etwas, dass durch Überprüfung widerlegt wird.
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anderer Interessen – weil sie bezahlt würden oder ihnen eine andere Aussage schädlich sein könnte – logen. So würden „Priester aller Nationen und Secten“ seit jeher scheinbar Unerklärliches zu Wundern erheben, um ihren Religionsstiftern und „sich selbst dadurch Ansehen zu verschaffen“. Implizit deutet er damit an, dass er auch die Thebaische Legion für eine Legende hält, die die St. Pauliner Stiftsherren aus reinem Eigennutz erfanden.²⁵⁸ Des Weiteren stellt er klar, dass letztlich all jene Zeugen keinen Glauben verdienten, „die in ihren Zeugnissen Leidenschaften, Haß, Liebe, Verfolgungsgeist etc. äussern“ würden. Dass er damit vor allem Kronenberger jegliche Glaubwürdigkeit absprechen wollte, war offenkundig. Nur zum Schein überließ seinen Lesern die Entscheidung, bei wem es sich um den „Wunder- und Märchensammler“²⁵⁹ handle: bei Kronenberger oder bei Stammel. In diesem Sinne betont Müller, nicht die Kronik habe das „Aegerniß“, die „Debatten“ und die „Aengstigungen“ in der Bevölkerung verursacht, sondern Kritiker wie Kronenberger, die die Kronik von der Kanzel herab verdammt und „zum Gegenstande des Beichtstuhles“ gemacht hätten. Derart aufgestachelt, sei es kein Wunder, dass „Schwärmer, die die Kronik nicht einmal gelesen hatten und vielleicht sie nicht lesen konnten, gegen den Verfasser aufstanden und verfolgten“²⁶⁰. Müller machte sich damit die Argumentation der französischen Besatzer zu eigen, die den Mönchen aus Angst vor Aufwiegelung das Predigen verboten und wiederholt Priester warnten, sich in Beichtstühle abfällig über die Republik zu äußern. Dass es sich dabei nicht allein um haltlose Verdächtigungen handelte, zeigen Kronenbergers Predigten wie die Gedächtnißrede, in denen er thematisch immer wieder auf Stammel Bezug nahm und damit den Kreis seiner Rezipienten über den seiner eigentlichen Widerlegung ausdehnte. Die durch Kronenberger aufgestachelten ‚Schwärmer‘ sind in den Augen Müllers schlicht Opfer ihrer Leichtgläubigkeit und keine Fanatiker – eine Konnotation, die der aufklärerische Kampfbegriff Schwärmerei ebenfalls umfassen konnte.²⁶¹ Müller wollte mit seiner eigenen Schrift nun helfen, die „Zweifel über Thatsachen“²⁶² zu berichtigen. Ausgehend von seinem Verständnis historischer Wahrheit weist er Kronenberger sorgfältig nach, dass dessen Quellen bezüglich der damaligen Anzahl von Christen in Trier sowie der Trierer Märtyrerlegende der „historischen Kritik“²⁶³ nicht standhalten würden. So ließe sich etwa nicht, wie Kronenberger suggeriere, mit der Apostelgeschichte die Ausbreitung des Christentums in Gallien belegen, 258 Zur Entstehung der Legende vgl. Heyen: St. Paulin (wie Anm. 56, S. 38), S. 310–317. 259 Jeweils Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 11. 260 Jeweils ebd., S. 13. 261 Zum Begriff Schwärmerei siehe Kapitel 3.3, Anm. 742. 262 Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 13. 263 Ebd., S. 38.
476 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? da diese Provinz dort überhaupt nicht erwähnt würde. Auch die Verfasser anderer, von Kronenberger herangezogener Quellen seien unglaubwürdig, weil die erzählten Begebenheiten nicht zu ihren Lebzeiten passiert seien. Müller bestreitet nicht, dass die Martyrien bei dafür empfänglichen Menschen den Wunsch weckten, „den Ruhm der Verehrung mit Christus zu theilen.“²⁶⁴ Er sieht darin jedoch nichts Positives, sondern untermauert Stammels Aussage, die Verfolgungen hätten rein politische Gründe gehabt: So hätten die Römer andere Religionen akzeptiert, solange sie ihnen nicht gefährlich geworden wären. Das Christentum habe jedoch aus ihrer Sicht die Staatsverfassung untergraben, da dessen Anhänger sich nicht an kaiserliche Befehle hielten, zudem von „Bekehrungseifer“ erfüllt gewesen seien und „die sogenannten Heiden als Verblendete, als Verehrer des Teufels und Feinde Gottes“²⁶⁵ betrachtet hätten. Auch für ihn gründen somit die Verfolgungen implizit auf der Intoleranz der Christen. Genauso wenig, wie Johann Kaspar Müller von den schriftlichen Quellen Kronenbergers überzeugt war, stellt auch dessen Verweis auf die Tradition für Müller kein historisch belastbares Argument dar, das die Trierer Märtyrergeschichte belegen könnte. Vielmehr unterstellt er Kronenberger, bewusst die Geschichte zu verfälschen, um angeblichen Wundern höheres Gewicht zu verleihen.²⁶⁶ In seinen Augen erfüllt allein Stammels Kronik alle Ansprüche an ‚historische Wahrheit‘. Auseinandersetzung um Reliquienkult, Wunderglaube und andere Frömmigkeitsformen Reliquienkult und Wunderglaube waren fester Bestandteil der Märtyrerverehrung, gingen jedoch über diese hinaus.²⁶⁷ Insbesondere die Verehrung der Reliquien, derer das Erzbistum Trier zahlreiche besaß, erregte Stammels Anstoß. In der Manier der katholischen Aufklärung betrachtete er sie als „Nebendinge“, die die Religion entehren und verunstalten würden. Er kritisiert, dass die Reliquien viel zu „oft zum Wesentlichen derselben gemacht“²⁶⁸ würden. Ein Schwerpunkt seiner Kronik bildete daher das Bemühen, die Echtheit der Reliquien in Zweifel zu ziehen. Dabei 264 Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 36. 265 Jeweils ebd., S. 37. 266 „Um aber den Wundern, welche mit dem Stabe Petrus sollen verrichtet worden seyn, einiges Gewicht zu geben, und um das Matyrologium und die bleyerne Tafel zu unterstützen, mußte man sie ins erste Jahrhundert zurücksetzen.“ Ebd., S. 40. – Ausführlich mit dem Verhältnis von Schrift und Tradition aus aufklärerischer Theologensicht setzte sich auch Blau auseinander: Blau: Geschichte (wie Anm. 256, S. 474), S. 565–597. 267 Die Reliquienverehrung begann ausgehend von der Verehrung der Märtyrer-Gräber. Vgl. Heim: Lexikon (wie Anm. 271, S. 170), S. 356. 268 Jeweils Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 26.
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wandte er sich vor allem den wichtigsten Reliquien der Trierer Kirche zu, die laut Überlieferung die römische Kaiserin Helena (gest. um 330) von einer Reise nach Palästina mitbrachte und der Trierer Kirche überließ.²⁶⁹ Darunter habe sich neben dem angeblichen Rock Christi ein Nagel von dessen Kreuzigung sowie der Leichnam des Apostels Matthias befunden, die alle drei „noch itzt zu verschiedenen Zeiten den frommen Wallfahrern“ gezeigt würden. In Bezug auf den Nagel zweifelt Stammel an der „Aechtheit“, weil zwar „aus der Geschichte bekannt“ sei, dass Helena drei Nägel von ihrer Reise mitgebracht habe. Zwei davon habe sie jedoch an ihren Sohn weitergegeben und den dritten bei der Überfahrt über Bord geworfen, um das Meer zu beruhigen. Daraus folgert er, dass für Trier kein ‚heiliger Nagel‘ mehr übrig gewesen sei. In Anspielung auf die ‚Wiederentdeckung‘ der Reliquie im Mittelalter merkt er außerdem an, man sei „kein Ketzer“²⁷⁰, würde man eine solche Auffindung nach vielen hundert Jahren des Krieges bezweifeln. Die Brisanz, Zweifel an einer kostbaren Passionsreliquie zu hegen, war ihm folglich durchaus bewusst. Er hielt dies jedoch für die Aufgabe eines jeden vernünftigen Menschen, wie seine Vorwegnahme des Vorwurfs Ketzerei zu betreiben, zeigt. Interessant an dieser Stelle ist zudem, dass Stammel zwar der mittelalterlichen Auffindungssituation keinen Glauben schenkt, den antiken und frühmittelalterlichen Geschichtsschreibern aber sehr wohl, obwohl ihre Berichte ebenfalls lange nach Helenas Reise nach Palästina entstanden. Er nahm zwar für sich in Anspruch, seine Kronik anhand gesicherter Quellen verfasst zu haben. Nach Bedarf ging er mit diesen jedoch ähnlich eklektisch um, wie die von ihm kritisierten orthodoxen Katholiken. Auf die hohe Zahl an im Umlauf befindlicher Reliquien-Fälschungen weist für ihn auch der florierende Handel hin, der im Mittelalter mit ihnen betrieben wurde.²⁷¹ Die Auffindung des angeblichen Grabes des Apostel Matthias bringt er ebenfalls mit diesen ‚Entdeckungen‘ in Verbindung.²⁷² Ohne es offen aussprechen 269 Ein Überblick zu den zahlreichen Trierer Reliquien um 1500 findet sich bei: Wolfgang Schmid: Die Wallfahrtslandschaft Rheinland am Vorabend der Reformation, in: Schneider [Hrsg.]: Wallfahrt (wie Anm. 50, S. 14), S. 17–195, hier S. 69–114. 270 Jeweils Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 26. 271 „Zu dieser Zeit [etwa im 11. Jahrhundert, Anm. A. K.] machte man sich ein besonderes Geschäft daraus, nach alten Gräbern bekanter und unbekanter Heiligen zu forschen, und es war nichts ungewöhnliches, daß man öfters einen einträglichen Handel mit heiligen Reliquien trieb: so schenkte der Kaiser den Klosterherren von Matheis dafür, daß er von ihnen die Gebeine des h. Valerius erhielt, beträchtliche Besitzungen in Wilmar.“ Ebd., S. 71. 272 ‚Gefunden‘ wurde das Grab 1127. Stammel spielt allerdings auf die angebliche Erstauffindung des Grabes unter Erzbischof Eberhard von Trier (gest. 1066) an. Dieser soll bei einem Aufenthalt in Rom davon erfahren haben, dass Kaiserin Helena die Gebeine des Apostels nach Trier überführt haben soll. Eberhard habe daraufhin danach suchen und anschließend die Reliquien wieder
478 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? zu müssen, war für seine Leser offenkundig, dass die jährlichen Pilgerscharen, „welche der Ruf der Heiligkeit unsers Bodens herbeilocket“²⁷³, aus Stammels Sicht einem Irrtum aufsitzen. Mit der Rock-Reliquie setzt sich Stammel weniger ausführlich auseinander, streut jedoch auch an ihrer Echtheit Zweifel. Spitz merkt er an, unter Erzbischof Johann I. (gest. 1212) „will man auch bei einer vorgenommenen Ausbesserung der Domkirche den Rock unsers Erlösers wieder entdeckt haben.“²⁷⁴ Indem er den Konjunktiv gebraucht, distanziert er sich von der Annahme, es handle sich dabei um das Gewand Jesu. Lapidar führt er einen Pestausbruch auf die öffentliche Zeigung der Reliquie anlässlich des 1512 in Trier abgehaltenen Reichstags zurück.²⁷⁵ Statt die Reliquie mit Wundern zu assoziieren, sollte bei seinen Lesern das Bild von Krankheit und Zerfall aufgerufen werden. Für Stammel stand der Reliquienkult, der im Mittelalter wesentlich an Bedeutung gewonnen hatte, in enger Verbindung zu der von ihm beklagten zunehmenden Verweltlichung des Klerus und des Verfalls des Kirchenwesens. Auch wenn das Trierer Erzbistum im 18. Jahrhundert nicht mehr seiner Reliquien bedurfte, um daraus Macht- und Herrschaftsansprüche abzuleiten, erschütterte Stammel dennoch mit seinen Zweifeln an wichtigen Reliquien das historische Selbstverständnis der Diözese.²⁷⁶ Dieses Selbstverständnis griff er auch durch seine Darstellung des Trierer Heiligen Simeon an, dessen Kampf gegen Teufelsversuchungen er mit dem Adjektiv vermeintlich geschickt in Abrede stellte. Seine Erhebung zum Heiligen ist für ihn das Ergebnis planvollen bischöflichen Einwirkens und nicht natürliches Resultat einer herausgehobenen Frömmigkeit des Eremiten. Indem er Simeons Heiligkeit
vergraben lassen. Diese Geschichte sollte die Plausibilität der ‚Auffindung‘ 1127 erhöhen. Vgl. Petrus Becker: Die Benediktinerabtei St. Eucharius-St. Matthias vor Trier, Berlin/New York 1996, S. 397–399. 273 Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 71. 274 Ebd., S. 87. Erstmals erwähnt wird die Reliquie 1196 als Erzbischof Johann I. sie im Zuge der Weihe des neu errichteten Hochaltars des Trierer Doms dort einschließen ließ. In den Überlieferungen zu Kaiserin Helenas Reise steht ursprünglich die Auffindung des Kreuzes im Mittelpunkt, an das Jesus geschlagen worden sein soll. Im 12. Jahrhundert beschreibt die Gesta Treverorum dann auch die Auffindung des Rocks. In der mittelalterlichen Verehrung spielte das Apostelgrab noch eine größere Rolle als die Rock-Reliquie. Vgl. Schneider: Erzbistum (wie Anm. 2, S. 25), S. 754. 275 Siehe Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 125. 276 Die mittelalterlichen Reliquienfunde müssen im kirchenpolitischen Zusammenhang gesehen werden: Indem sie auf Kaiserin Helena zurückgeführt wurden, sollten das Alter der Trierer Kirche belegt und damit ihre Bedeutung und ihr Vorrang vor anderen Diözesen unterstrichen werden. Vgl. Schmid: Wallfahrtslandschaft (wie Anm. 269, S. 477), S. 53; Becker: St. Matthias (wie Anm. 272), S. 397.
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misstraut, äußert er indirekt auch Zweifel an den Wundern, die mit diesem in Zusammenhang gebracht wurden.²⁷⁷ Dieser Wunderglaube, der eng mit der Reliquienverehrung verbunden war, war ihm als Aufklärer suspekt.²⁷⁸ Abgesehen von seiner Kritik am Bekehrungswunder der vermeintlichen drei ersten Trierer Bischöfe und seinem Misstrauen gegenüber Simeon, bezog sich Stammel allerdings vor allem auf neuzeitliche Wundergeschichten. So gab er durch die sprachliche und inhaltliche Darstellung seine Missbilligung der Wunderberichte im Zusammenhang mit der Marien-Wallfahrt nach Klausen und eines „Wunderbrunnen[s] in Schweich“²⁷⁹ deutlich zu verstehen. Das Beispiel Eberhardsklausen diente ihm ebenfalls dazu, die gängigen aufklärerischen Argumente gegen das Wallfahrtswesen anzuführen: Die zeitgenössischen Kritiker wiedergebend, verwies er auf seltenere Besuche der Pfarrgottesdienste sowie auf die zahlreichen „Ausschweifungen“²⁸⁰ der Pilger. Die Verehrung des angeblichen Wunderbrunnens setzte nach Stammels Angaben im 17. Jahrhundert ein und stand daher wohl im Zusammenhang mit dem Aufschwung, den das Heiligen- und Reliquienwesen als Reaktion auf die Reformation in dieser Zeit erfuhr.²⁸¹ Angesichts der Gutgläubigkeit der Kranken, die nach dem Besuch des Brunnens bis zu ihrer Rückkehr nach Hause tatsächlich kurzzeitig an ihre Genesung geglaubt hätten, konstatiert Stammel: „So stark und verführerisch ist oft unsere Einbildung, wenn wir gerne etwas glauben wollen, was uns wunderbar vorkomt, und vortheilhaft scheint.“²⁸² Der Glaube an diese Art der Wunder ist damit für ihn ein Produkt menschlicher Fantasie und als Antwort auf die Wünsche und Nöte der Menschen zu verstehen. Verachtenswert sind für
277 Der Eremit Simeon soll sich, nachdem er Erzbischof Poppo von Babenberg (986–1047) bei einer Pilgerfahrt ins Heilige Land begleitet hatte, anschließend bis zu seinem Tod 1035 in der Porta Nigra eingeschlossen haben. Bald danach sollen sich erste Wunder ereignet haben. Die „Etablierung des Simeonkultes um die Mitte des 11. Jahrhunderts“ erfolgte planmäßig: „Eine Vita wurde verfaßt, das Kanonisierungsverfahren zügig abgeschlossen, viele Mirakel geschahen; die Aufzeichnungen berichten von zahlreichen Besuchern am Grab.“ Schmid: Wallfahrtslandschaft (wie Anm. 269, S. 477), S. 83. 278 Der Kirchenvater „Augustinus integrierte das Wunder und mithin die ‚Reliquienmacherei‘ in das Christentum. Fortan gehörte das Wunder, genauso wie die Verehrung der Toten, zum christlichen Glauben.“ Signori: Wunder (wie Anm. 536, S. 225), S. 19. 279 Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 141. 280 Ebd., S. 117. – Zur Wallfahrtskritik bei Castello siehe Kapitel 3.2. 281 Vgl. Signori: Wunder (wie Anm. 536, S. 225), S. 38. Die Wunder selbst, von denen im Laufe der Jahrhunderte berichtet wurde, veränderten sich kaum. Allerdings standen gerade im 19. Jahrhundert immer seltener Reliquien im Mittelpunkt der Verehrung, sondern Brunnen oder Quellen, wo Maria den Gläubigen erschienen sein sollte. 282 Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 141.
480 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? ihn demnach nicht die Wundergläubigen, sondern jene Geistlichen und Mönche, die diesen Aberglauben zu ihrem eigenen Nutzen instrumentalisierten. Inwiefern Stammel auch den biblischen Wundergeschichten als Teil der Offenbarung skeptisch gegenüberstand, bleibt offen. Seine Kritik an Wundern war zwar maßgeblich durch die Aufklärung bestimmt, dennoch bildeten Wunderglaube und -kritik im Christentum seit jeher eine Einheit.²⁸³ Allerdings stand Stammel dem christlichen Wunderglauben deutlicher distanzierter gegenüber als etwa Castello, der seine Kritik ausschließlich auf angebliche Wunderheilungen beschränkte.²⁸⁴ Auch Prozessionen wie die Echternacher Springprozession basierten für Stammel auf Aberglaube: So seien bei dieser die Teilnehmer „bis zum Tollwerden und Niedersinken dem Heiligen zu Ehren“ umhergesprungen, weil sie glaubten, ansonsten erkranke das Vieh an der „Springsucht“²⁸⁵. Um die Leser seiner Kronik aufzuklären und ihren Hang zum Aberglauben zu bekämpfen, verwies er wiederholt auf derartige Beispiele der Frömmigkeitsgeschichte. Aus seiner Sicht besaß „jedes Zeitalter sein Gutes und sein Böses, seine Tugenden, und seine Thorheiten“ und auch jetzt gebe es „noch des Unsinnes genug“²⁸⁶, worüber künftige Generationen lachen könnten. Besonders das abergläubische Gottesbild, das bei solchen Prozessionen zutage trat, erregte sein Missfallen: So hätten die Geißler, deren Prozessionen es auch im Erzbistum gegeben hätte, geglaubt, auf diese Weise „den erzürnten Himmel zu besänftigen, und die Plagen abzuwenden.“²⁸⁷ Als Aufklärer glaubte Stammel nicht an einen zornigen Gott, der durch fromme Werke gnädig gestimmt werden könnte. Statt seinen Lesern jedoch das Bild des barmherzigen und liebenden Vaters einfach auszumalen, wollte er sie mit diesem Beispiel aus der Vergangenheit anregen, ihre eigenen Gottesvorstellungen zu reflektieren. Gleichwohl bemerkte er bezüglich des Glaubens an ein Einwirken des strafenden Gottes bei menschlichem Fehlverhalten ironisch: „Dem Himmel sey Dank, daß wir uns itzt darauf verstehen, durch die künstlichen Blitzableiter uns gegen diesen
283 Vgl Signori: Wunder (wie Anm. 536, S. 225), S. 13. 284 Zu Castello und Wunderheilungen siehe Kapitel 3.2. 285 Jeweils Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 47. – Diese Springprozessionen gab es im Erzbistums sowohl in Prüm als auch in Echternach. 1778 untersagte Erzbischof Clemens Wenzeslaus Musikbegleitung und Tanz bei diesen Prozessionen. Vgl. ausführlich Andreas Heinz: Das Verbot der Echternacher und Prümer Springprozession durch Erzbischof Clemens Wenzeslaus (1778), in: ders. [Hrsg.]: Liturgie und Frömmigkeit. Beiträge zur Gottesdienst- und Frömmigkeitsgeschichte des (Erz-)Bistums Trier und Luxemburgs zwischen Tridentinum und Vatikanuum II, Trier 2008, S. 191–210. 286 Jeweils Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 58. 287 Ebd., S. 102.
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verzehrenden Strahl zu schützen.“²⁸⁸ Zwar meinte Stammel Fortschritte bei der Durchsetzung der Aufklärung gegen den Aberglauben ausmachen zu können, er sah sich und seine Mitstreiter allerdings längst noch nicht am Ziel angekommen. So zeigte er sich bestürzt, dass auch in „neuern Zeiten Processe“²⁸⁹ wegen angeblicher Hexerei geführt worden seien. Gerade im Hexengauben manifestierte sich für ihn das Leid, das Aberglauben in seinen Augen verursachte. Interessanterweise griff sich Stammel bei seiner Kritik an Prozessionen mit Echternach ein eher ungewöhnliches Beispiel heraus. Johann Jakob Haan thematisierte hingegen in seinem Journal allgemein die katholischen Bittgänge, die auf „Anordnung“ der Geistlichkeit im Erzbistum so zahlreich durchgeführt würden. Er sah in ihnen „Alfanzereien“, die vom „wahren Sinn der Christusreligion“ ablenken würden und die Menschen in „Finsterniß“ halten sollten. Er gesteht allerdings zu, dass es in dieser Hinsicht in „den 80ter Jahren bis 1789 und 90 […] etwas heller“²⁹⁰ im Land geworden sei, womit er auf Erzbischof Clemens Wenzeslaus’ Bemühungen anspielt, in dieser Zeit die Wallfahrten und Prozessionen im Erzbistum einzuschränken.²⁹¹ Das Abflauen des Reformeifers nach Ausbruch der Französischen Revolution, bedauerte Haan sehr. Erneut hatten aus seiner Sicht die „Dunkelmacher“²⁹² die Oberhand gewonnen, als welche er, die Licht-Metaphorik der Aufklärung konsequent weiterführend, die Gegenaufklärer bezeichnete. In diesem Zusammenhang verweist er besonders auf die monatlichen Bittgänge der Bürgersodalität, die Kronenberger initiiert habe.²⁹³ Der immanente Protestcharakter dieser Veranstaltungen war Haan bewusst: Sie sollten „einen Theil der Einwohner von Trier gegen ihre Obrigkeiten, so wie gegen das dermalige System“²⁹⁴ aufbringen. Äußerte sich Stammel bezogen auf die Durchsetzung der Aufklärung in seiner Kronik 1797 noch verhalten, glaubte Haan 1798 „die Wünsche“ derjenigen endlich erfüllt, „welche die Bind der Dumheit und des Aberglaubens von den Augen der Mitbürger abgerissen sehen wollten“²⁹⁵, denn die französische Verwaltung habe den Prozessionen Einhalt geboten.
288 Ebd., S. 149 f. Seine Ablehnung des Bildes eines strafenden Gottes korrespondierte auch mit seinem Plädoyer für ein auf das Diesseits ausgerichtetes Leben, siehe Kapitel 4.2.1. 289 Ebd., S. 139. 290 Jeweils Haan: Journal 1 (wie Anm. 64, S. 433), S. 55. 291 Siehe dazu Kapitel 3.2. 292 Jeweils Haan: Journal 1 (wie Anm. 64, S. 433), S. 56. 293 Siehe dazu Kapitel 4.1.1. 294 Haan: Journal 1 (wie Anm. 64, S. 433), S. 58. 295 Ebd., S. 57.
482 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Für Kronenberger erfüllten Prozessionen zweifellos einen wichtigen Demonstrationszweck nach außen, der Stärke gegenüber vermeintlichen ‚Religionsfeinden‘ beweisen sollte. Da für ihn allerdings das Wirken eines strafenden Gottes zweifelsfrei feststand, waren Prozessionen in seinen Augen vor allem notwendige Bußwerke angesichts einer Welt voller Sünde. Insbesondere in Echternach oder bei den Geißler-Umzügen vergangener Jahrhunderte sah er diesen Gedanken auf gelungene Weise umgesetzt. Für ihn bestand ein direkter Zusammenhang zwischen den Prozessionen und der Verhinderung von Viehkrankheiten oder Missernten, mit denen Gott ansonsten die Menschen für ihr Fehlverhalten und ihren Hochmut bestraft hätte. Mit „philosphischen Federzügen“²⁹⁶, bemerkt er auf Stammel gemünzt, könne man hingegen nicht für gute Ernten sorgen. Naturgesetze, die unabhängig von göttlichem Einfluss wirkten, konnte sich Kronenberger anders als Stammel nicht vorstellen. Dass Stammel Reliquien als ‚Nebendinge‘ der Religion abtat, hielt Kronenberger eines „katholischen Religionslehrer[s]“²⁹⁷ für unwürdig. Denn würde es sich bei der Reliquienverehrung tatsächlich nur um eine Nebensächlichkeit handeln, merkt er spitz an, hätten sich sowohl Reformatoren wie Luther und Calvin als auch das Konzil von Trient nur mit Nebensächlichem aufgehalten. Dies würde jedoch auch bedeuten, dass sich in diesem Fall Katholiken und Protestanten ausschließlich in Kleinigkeiten unterscheiden würden und nicht in wesentlichen, die Glaubensinhalte betreffenden Fragen. Für ihn liegt jedoch der grundsätzliche Unterschied beider Konfessionen auf der Hand. Dadurch, dass das Konzil von Trient in bewusster Abgrenzung zum Protestantismus sowohl Heilige und Reliquien als auch ihre Bilder als verehrungswürdig eingestuft und sie zum „Wesensmerkmal“²⁹⁸ katholischen Glaubens erklärte, fühlte sich Kronenberger bestätigt. Mit derartiger rhetorischer Spitzfindigkeit wollte er Stammel eine dumme und unbedachte Argumentation nachweisen. Kronenberger sah darüber hinaus keinen Grund an der Echtheit der Reliquien zu zweifeln, die er hinreichend durch „Tradition, Urkunden, ganze Dissertationen des großen Brower, das Ansehen des hohen Dohmstiftes, 296 Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 76. 297 Ebd., S. 42. 298 Peter Burschel: Der Himmel und die Disziplin. Die nachtridentinische Heiligengesellschaft und ihre Lebensmodelle in modernisierungstheoretischer Perspektive, in: Hartmut Lehmann/AnneCharlott Trepp [Hrsg.]: Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1999, S. 575–595, hier S. 577. Gleichzeitig war das Konzil auch darum bemüht, Missbräuche bei der Heiligenverehrung abzustellen, was „zur Rationalisierung von Frömmigkeit, zur Disziplinierung des Kirchenvolks und zur Hierarchisierung der Himmelsgesellschaft“ (S. 586) beitrug. Neben sogenannten Reformheiligen wurden nach dem Konzil vor allem solche Heilige verehrt, die – wie beispielsweise der heilige Joseph – eine Nähe zu Christus aufwiesen. Insbesondere die Marienverehrung gewann deshalb an Popularität. Vgl. ebd., S. 582–594.
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die geschehenen Wunder“²⁹⁹ belegt fand. Generell hatte der aufklärerische Skeptizismus in Glaubensangelegenheiten für ihn nichts zu suchen und war in seinen Augen eine Ursache des Indifferentismus.³⁰⁰ Insbesondere die Wunder besaßen für ihn demnach zentrale Beweiskraft, was die Authentizität einer Reliquie anbelangte, da Gott niemals „eine Lüge mit einem Wunder bekräftigen“³⁰¹ würde. Darüber hinaus belehrt er Stammel, „daß kein Kriminal-Prozeß so scharf betrieben wird, als die Untersuchung eines einzigen Wunders“³⁰². An der Heiligsprechung des Simeon ist für ihn folglich nichts Anrüchiges, da die Wunder kanonisch beglaubigt seien. Mit dem Verweis auf den Kanonisationsprozess versuchte er jegliche Wunderkritik im Keim zu ersticken, stellte dieser doch eine Art wissenschaftliche Beglaubigung der Wunder dar. Dass viele der Geschichten nur eine regionale oder lokale Bedeutung und kein aufwendiges Verfahren durchlaufen hatten,³⁰³ thematisiert er an dieser Stelle nicht. In seiner Rede über die Zweifler bekundet er allerdings, selbst nicht jeder Wundergeschichte Glauben zu schenken.³⁰⁴ Auch in seiner Rede über die Wunderwerke gesteht er ein, dass es Gläubige gebe, die aus „Uebertriebenheit“ jedes „natürliche Ereigniß als ein Wunder“³⁰⁵ bezeichnen würden. „Mißbräuche, ungeprüfete Seegenssprüche, Bannmessen, Ueberlesungen, ungeweihete Teufelsgeiseln“³⁰⁶ mussten aus seiner Sicht jedoch eingedämmt werden, damit die „Ehre der Heiligen“ nicht auf „Lügen und Aberglauben“³⁰⁷ gründe. Um eine notwendige Unterscheidung zwischen Magie und Wunder 299 Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 43. 300 Den Zweiflern widmet er in seinen Polemischen Kanzelreden darum auch eine eigene Rede: ders.: Kanzelreden (wie Anm. 164, S. 454), S. 507–531. 301 Ders.: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 46. 302 Ebd., S. 63 f. – Wunder bilden die Voraussetzung zur Heiligsprechung. Das Modell ähnelt dem Gerichtsprozess, da es Zeugen geben muss, die das Wunder bestätigen. „Seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert bedienen sich zunehmend auch lokale oder regionale Wallfahrtszentren der am zeitgenössischen Gerichtswesen orientierten Beglaubigungsmittel und -formen.“ Signori: Wunder (wie Anm. 536, S. 225), S. 12. 303 Vgl. ebd., S. 14. 304 „Nehmen wir zum Muster die Wunder und Erscheinungen der Heiligen: – Es ist wahr: Auch ich bin keiner von denen, die alles für gute Waare annehmen, und ich gestehe zum Voraus, daß manches übertrieben, vielleicht ganz falsch ist: Aber ich bin auch viel weiter davon entfernet, alles zu läugnen, und einem Heiligen weiter in seiner Lebensbeschreibung nichts zu gönnen, als daß er ein braver Mensch, ein guter Bürger, ein Menschenfreund war, als auf welche Predikate doch meistens unsere modernen so ganz gereinigten Legenden bis zum Eckel hinauslaufen.“ Kronenberger: Kanzelreden (wie Anm. 164, S. 454), S. 524 f. 305 Jeweils ebd., S. 497. 306 Ebd., S. 498. 307 Ebd., S. 497.
484 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? treffen zu können, hielt er daher die sorgfältige Untersuchung vermeintlicher Wundertaten durch die geistliche Obrigkeit für unabdingbar. Dass er mit dieser Position auf den ersten Blick den katholischen Aufklärern nahe rückte, war ihm bewusst. Gleichwohl änderte seine Kritik an Missbräuchen nichts daran, dass er Wunder als konstitutiv für den katholischen Glauben betrachtete. Entschieden verbat er sich deshalb, einen Geistlichen, der den Gläubigen magische Dinge verweigere, sofort „für einen sogenannten Aufgeklärten“³⁰⁸ zu halten. Aus seiner Sicht handelte er in völliger Übereinstimmung mit dem Konzil von Trient.³⁰⁹ Die „so wenige[n] offenbare[n] Wunder in unsern Tagen“ führte Kronenberger auf den bestehenden „Unglauben“³¹⁰ zurück. Er griff damit ein zentrales Argument aufklärerischer Wunderkritik auf und suchte es zu entkräften, indem er die Verantwortung für fehlende Wunder den Kritikern selbst zuschob. Dass Gott „seine Diener von jeher durch Wunderkraft verherrlichte“³¹¹, ist für ihn überdies hinreichend durch die Bibel belegt und auch „im Reiche der Natur“³¹² ließen sich täglich Wunder beobachten, sofern man davor nicht die Augen verschließe. In seiner Erwiderung auf die Kronik erläutert er Stammel mit Verweis auf die Metaphysik, dass es auch „Wunder aus den Umständen“³¹³ gebe: So handle es sich bei einem Erdbeben für sich genommen um kein Wunder, geschehe es jedoch beispielsweise zum Zeitpunkt des Todes Jesu, sei es eins. Dies zeigt, dass Kronenbergers Verständnis von Wundern recht dehnbar war. Mochte er noch sehr für eine sorgfältige Prüfung angeblicher Wunder plädieren, zeigen seine Vorbehalte gegenüber natürlichen Erklärungen oder ärztlichem Expertenwissen, dass es ihm letztlich nur darum ging, Kritiker zu besänftigen. Dennoch war ihm bewusst, dass der „Beweiszwang“³¹⁴ mittlerweile gestiegen war. Seine Präferenz für äußere, auf sinnliches Erleben setzende Bußakte wie Prozessionen, Wallfahrten oder Selbstkasteiungen verweisen
308 Kronenberger: Kanzelreden (wie Anm. 164, S. 454), S. 498. 309 Das Konzil von Trient setzte die im Mittelalter begonnene Zentralisierung der Kanonisation fort und verlangte, alle angeblichen Wundertaten „von theologischen Experten“ untersuchen zu lassen. „[O]b die verehrte Person in den Kalender der Heiligen aufgenommen werden sollte, wurde dem Papst überlassen.“ Lehner: Aufklärung (wie Anm. 178, S. 148), S. 143. Papst Benedikt XIV. (1675–1758) verschärfte ab 1740 die Regeln zur Anerkennung von Wundern, sodass nun auch Zeugen angehört werden mussten, die die Heiligkeit des Kandidaten anzweifelten. Außerdem mussten bei Heilungswundern Ärzte zurate gezogen werden. Vgl. ebd., S. 144–145. 310 Kronenberger: Kanzelreden (wie Anm. 164, S. 454), S. 491. 311 Ebd., S. 488. 312 Ebd., S. 490. 313 Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 64. Vgl. dazu auch Hersche: Muße (wie Anm. 33, S. 11), S. 833. 314 Ebd., S. 836. Ingesamt nahm die Zahl der Wunderberichte im 18. Jahrhundert im katholischen Europa ab.
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indes auf seine Verankerung in der Barockfrömmigkeit, wovon der Wunderglaube fester Bestandteil war.³¹⁵ Dass Johann Kaspar Müller Wundern distanziert gegenüberstand, zeigte sich bereits anhand seiner Definition der ‚historischen Wahrheit‘, bei der er deutlich machte, dass Wunder Bestandteil jeder Religion sind, um dieser und deren Funktionselite größeres Ansehen zu verschaffen. Diesen Punkt greift er im Verlauf seiner Verteidigungsschrift für Stammel erneut auf und differenziert seine Wunderkritik weiter aus: Zunächst stellt er klar, das nur solche Wunder Echtheit beanspruchen könnten, die im Sinne einer „moralischen Religion“³¹⁶ verübt worden seien. Denn Gott würde niemals „Menschen Wunder zur Annahme einer Religion verrichten lassen […], die ihm als dem heiligsten Wesen unwürdig ist.“³¹⁷ Unter ‚moralischer Religion‘ verstand Müller eine Religion, „die einzig dazu geschickt ist den Menschen zu verbessern und zu beruhigen, die nichts vorschreibt, was der Sittenlehre zuwider ist […] und die nur solche Wahrheiten und Lehren enthält, die von der Vernunft angenommen werden müssen“³¹⁸. Da aus seiner Schrift deutlich hervorgeht, dass seiner Meinung nach der zeitgenössische Zustand des Christentums diesen Ansprüchen nicht genügte, deutet er implizit Zweifel an der christlichen Wunderkraft an. Diese Skepsis unterstreicht er, wenn er festlegt, nur dann könne von einem Wunder gesprochen werden, wenn das Ereignis nicht auch durch ein Naturgesetz erklärt werden könne und menschliche Kräfte übersteige. Dabei gibt er zu bedenken, dass jedoch auch dieses Kriterium Schwächen besitze, „weil wir vordem manches als Wunder in der Natur ansahen und dafür hielten, was uns jetzt ganz natürlich scheint und uns aus den Naturgesetzen zu erklären wissen.“³¹⁹ Indem er andeutet, dass möglicherweise jedes Wunder zu einem späteren Zeitpunkt natürlich erklärt werden könnte, schließt er sie bereits so gut wie aus. Er bekennt denn schließlich auch, es fiele „noch immer schwer zu glauben, daß Menschen je Wunder verrichtet haben“. Insbesondere, dass „leblose Dinge, wie die Reliquien“
315 Kronenberger beruft sich hinsichtlich des Wunderglaubens wiederholt auf Papst Benedikt XIV. als Autoritätsargument. Dieser hatte jedoch laut Lehner mit seiner Politik auf das genaue Gegenteil dessen abgezielt, was Kronenberger befürwortete und stand für den Versuch einer vorsichtigen Reform des Katholizismus. Dazu zählte auch das Zurückdrängen von Andachtsformen, die auf das Äußerliche, Sinnliche abzielten. Vgl. Lehner: Aufklärung (wie Anm. 178, S. 148), S. 145 f. 316 Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 82. 317 Ebd., S. 83. 318 Jeweils ebd., S. 82. 319 Ebd., S. 83. Die Frage, wie mit Wunder verfahren werden sollte, die künftige Generationen auf einen natürlichen Ursprung zurückführen könnten, wurde durchaus auch in Rom diskutiert, vgl. Lehner: Aufklärung (wie Anm. 178, S. 148), S. 145.
486 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Wunder vollbringen sollen, hält er für völlig „unglaublich“³²⁰. Dem Reliquienkult stand er demnach ablehnend gegenüber. Das Konzil von Trient, berichtigte er Kronenberger, habe die Verehrung von Reliquien und Bildern zwar gestattet, sie aber nicht zu Glaubensartikeln erhoben. Dies bedeute, dass sie gleich der Hinterlassenschaft eines guten Freundes in Ehren gehalten, jedoch nicht „zur religiösen Verehrung erhoben werden“³²¹ dürften. Da es sich bei einem Wunder stets um einen fundamentalen Eingriff in den „Lauf der Dinge“ handle, den Gott eigentlich für die „Ewigkeit her bestimmt hatte“³²², würde er diesen nur stören, um „etwas Außerordentliches und Heilsames für das ganze Menschengeschlecht überhaupt zu bezwecken.“³²³ Dass die ‚üblichen‘ christlichen Wunder Müllers Ansicht nach genauso wenig etwas Besonderes für die Menschen leisteten wie die Religion insgesamt ihr Leben nicht bereicherte, ist offenkundig. Aus Müllers Sicht benötigte die Religion keine Wunder, um die Existenz Gottes – an der er nicht zweifelte – zu belegen. Dessen Allmacht und prinzipielle Fähigkeit, Menschen Wunder vollbringen zu lassen, erkannte er an. Gleichwohl vertrat er ein deistisches Gottesbild, das diesen zwar als Schöpfer der Welt betrachtete, ansonsten jedoch von dessen Nichteinmischung in den Lauf der Welt ausging.³²⁴ Entschieden verurteilte er den Anthropomorphismus, der seiner Meinung nach in Kronenbergers Gottesbild zutage trete. Gott sei eben kein von Leidenschaften geleiteter Mensch, sondern als das „heiligste[…] und moralischste[…] Wesen“³²⁵ über menschliche Laster erhaben.³²⁶ Auf ähnliche Weise argumentierte Stammel im Franz von Sickingen, wo er die Vermenschlichung Gottes entschiedener als in der Kronik verurteilte: Er attestierte dem religiösen Schwärmer, die Gottheit „sei ihm ein leidenschaftlicheres Wesen als er selbst, welches den Menschen nach
320 Jeweils Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 83. 321 Ebd. Die Legende um Kaiserin Helena hielt Müller ebenfalls für unglaubwürdig und sah sie auf der Grundlage zahlreicher antiker Autoren, auf die sich Stammel gestützt habe, als ausreichend widerlegt an. In Hinblick auf die Rock-Reliquie verweist er auch auf den schwunghaften Handel, der mit Reliquien betrieben worden sei, und bei dem man sich „auf eine posirliche und wundervolle Art aufs Multipliziren derselben verstand.“ Ebd., S. 42. 322 Jeweils ebd., S. 83. 323 Ebd., S. 84. 324 Es ist daher wahrscheinlich, dass es sich bei Johann Kaspar Müller auch um Haans anonymen ‚Wahrheitsfreund‘ handelte. Siehe Kapitel 4.2.1, Anm. 204. 325 Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), o. S. 326 Dass Gott kein Wesen mit menschlichen Leidenschaften sei und man ihn deshalb nicht beleidigen könne, begründet er mit Hiob 35,6. Siehe ebd., S. 15. – Zu Gutmanns Kritik am Anthropomorphismus in den Mönchsbriefen siehe Kapitel 3.1.1.
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Meinungen oder blindem Glauben stößt, oder mit der tändlenösten [sic] Liebe an sich ziehet.“³²⁷ Für Müller waren Wunder daher „Erdichtungen“ und „Thorheiten“, die, wie in jeder anderen Religion auch, diese nur verunstalten würden. Da diejenigen, die behaupteten, ein Wunder vollbracht zu haben, die Leichtgläubigkeit des ‚gemeinen Volkes‘ ausnutzen würden, bezeichnete er sie nicht als Heilige, sondern als „Wunderthäter“, womit er sie absichtlich sprachlich in die Nähe von Verbrechern rückte. Kronenbergers Verweis auf das Verfahren der Kanonisation lässt er unberücksichtigt, da aus seiner Sicht noch nie „in Gegenwart eines denkenden und vernünftigen Mannes“ ein Wunder verrichtet wurde, es folglich niemals glaubwürdig Zeugen gegeben habe. Kronenbergers etwas unbeholfene Argumentation, der zeitgenössische Unglaube verantworte den Mangel an neuen Wundern, dreht er geschickt um: „Und warum verrichtet man jetzt nicht noch wirklich Wunder oder geschehen Wunder; da man doch so sehr über unglaubige Zeiten schreyet, man könnte sie ja dadurch glaubig machen?“ Die Antwort auf seine rhetorische Frage gibt er sich gleich selbst: Man scheue davor zurück, weil in „den aufgeklärteren Zeiten“³²⁸ noch alle Wunder als Betrug entlarvt worden seien. Müllers, auf einem deistischen Weltbild basierende Wunderkritik fiel damit dezidierter als die Stammels aus. Weitaus stärker als dieser bediente Müller sich darum der Kirchengeschichte, um systematisch all das aufzudecken, was in seinen Augen die Religion „zum Gegenstande des gröbsten Aberglaubens“³²⁹ machte, ihre wesentlichen Inhalte aber verdeckte. So führte er auch die Vorstellung der unbefleckten Empfängnis Marias, die Anzahl der Sakramente oder die Transsubstantiationslehre auf ihre historischen Ursprünge zurück, womit er zentrale Lehren der katholischen Kirche und wesentliche Unterscheidungsmerkmale zum Protestantismus als menschengemacht identifizierte.³³⁰ Anders als Stammel wertete Müller daher auch das Konzil von Trient nicht positiv als Versuch, Missstände im Kirchenwesen abzustellen, sondern als Festschreibung von Dogmen, über die zuvor jeder frei seine Meinung habe äußern dürfen.³³¹ Müller ging es demnach nicht nur darum, die Kronik gegen Kronenbergers Angriffe zu verteidigen, sondern 327 Stammel: Franz von Sickingen (wie Anm. 4, S. 420), S. XIII. 328 Jeweils Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 84. 329 Ebd., S. 42. 330 Siehe ebd., S. 114. Ähnlich argumentierte Felix Anton Blau bereits 1791 in seiner Schrift zur kirchlichen Unfehlbarkeit. Auch er nannte u. a. die Transsubstantiation, die erst spät aufgekommen sei und folgerte, „daß die spätern Lehren und Gebräuche der Kirche sich auf keine allgemeine Tradition beziehen könnten“, weshalb der katholische Theologe nicht berechtigt sei, „daraus ein göttliches Dogma zu beweisen.“ Blau: Geschichte (wie Anm. 256, S. 474), S. 590. 331 Siehe Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 129 f. Er kritisierte damit den Umstand, dass auf dem Konzil Lehrentscheidungen getroffen wurden, „die für das Werden einer an Rom und am
488 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? ausgehend von Stammels Argumentation zu einer regelrechten Fundamentalkritik an katholischer Kirche und Religion auszuholen. Die Frage nach ‚wahrer‘ Religion Ausgehend von der Auseinandersetzung um Reliquienkult, Heiligenverehrung, Wunderglaube oder anderen Formen der Frömmigkeit formulierten beide Seiten ihre Idee einer ‚wahren‘ Religion. Stammel knüpfte dabei allerdings nicht an das übliche Modell der christlichen Urkirche an, sondern für ihn schien – wie in Bezug auf sein Priesterbild – gerade die vorchristliche Zeit beispielhaft für eine leicht verständliche, an den Bedürfnissen der Menschen orientierte Religion zu stehen. So lobt er die „Religion der alten Trierer“ als „so einfach und natürlich, als ihre Lebensart.“³³² Er schränkt zwar sogleich ein, dass es „die Religion eines ungebildeten Volkes“ gewesen sei, das die „Dinge, welche [ihm] einen besondern Nutzen brachten, für etwas Göttliches“³³³ gehalten habe. Da er jedoch dem Christentum vorwirft, bereits sehr früh einen Hang zur Prachtentfaltung entwickelt zu haben, ist seine Sympathie für die von ihm unterstellte Einfachheit der vorchristlichen Zeit unverkennbar. Mit seiner Wertschätzung gegenüber vorchristlichen Gesellschaften gibt Stammel implizit zu verstehen, dass er das Christentum nicht als notwendigen Garanten für Sittlichkeit und Moral betrachtete. Kronenberger warf Stammel denn auch vor zu behaupten, „diese Heiden lebten, zufriedener, besser, glücklicher als in der Folge des Christenthums.“³³⁴. Aus Kronenbergers Sicht rückte erst die christliche Religion die Menschen in den Stand der Zivilisation.³³⁵ Indem Stammel seine ersehnte Einfachheit religiöser Vorstellungen vor allem in ‚heidnischer‘ Zeit entdeckt zu haben glaubte, ging er über das übliche Ideal der katholischen Aufklärung hinaus. So übte er zwar auch Kritik an der lateinischen Liturgie und begrüßte die Einführung deutscher Kirchenlieder, wodurch
Papst orientierten katholischen Konfessionskirche wesentlich wurden“. Holzem: Christentum (wie Anm. 11, S. 4), S. 175. – Stammel lobte hingegen, auf dem Konzil seien „Irrthümer beigelegt, und noch andere Verbesserungen getroffen“ (Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 127) worden. 332 Ebd., S. 8. 333 Jeweils ebd., S. 9. 334 Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 19. 335 Er widerspricht der Aussage „moderne[r] Freydenker“ (ebd., S. 20), vorchristliche Gesellschaften würden nicht verdammt werden, da sie keine andere Religion hätten kennen können. Unter Berufung auf Joh 1 postuliert Kronenberger hingegen, Gott würde jeden Menschen, der auf die Welt komme, erleuchten und jene verdammen, die nicht glaubten. Anders – nämlich wie die ‚modernen Freidenker‘ – argumentierten La Roche oder der französische Theologe Bergier. Siehe Kapitel 3.1.1.
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der Gottesdienst „erbaulicher und verständlicher“³³⁶ geworden sei. Allerdings setzte er auch hier auf größtmögliche Schlichtheit, um „die innere Andacht der Christen“³³⁷ nicht zu vermindern. Entgegen der Meinung anderer katholischer Aufklärer maß er dem Kirchengesang anscheinend keinen besonderen liturgischen Wert bei.³³⁸ Deutlicher als im Franz von Sickingen bekundete er zudem, dass er in der Reformation einen legitimen Versuch sah, Missstände in der katholischen Kirche zu beseitigen. Zwar sah er weiterhin vor allem im Humanismus jene geistige Strömung, die erstmals dafür gesorgt habe, dass es in „Deutschland […] nicht mehr so dunkel“³³⁹ gewesen sei. Dennoch erscheint Luther vor diesem Hintergrund nun endgültig als „Verbesserer“³⁴⁰, der stichhaltige Argumente vorgebracht habe. Auch in Bezug auf Hontheims Febronius verweist Stammel vor allem auf die darin enthaltene Forderung nach einer Trennung von Kirche und Staat, wovon er sich anscheinend erhoffte, kirchliche und religiöse Missbräuche leichter beheben zu können. Insbesondere der letzte Aspekt zeigt, dass Stammel stark durch die französische Besatzung und die kolportierten Ideen der Revolution beeinflusst war. Offenbar fußten seine Vorstellungen einer von allen Äußerlichkeiten bereinigten Religion, die allein auf innerer Andacht beruhte, zwar noch auf den Ideen der katholischen Aufklärung. Es ging ihm jedoch um eine extremere Simplifizierung des Glaubens als sie etwa noch Castello mit seiner Forderung nach Beseitigung des Aberglaubens vertreten hatte. Castello hatte sich bei seiner Kritik vor allem auf ‚Ausschweifungen‘ bei Wallfahrten, die geringe Achtung des Pfarrgottesdienstes oder allerlei durch Mönche beförderte Volksbräuche konzentriert, die er abgeschafft sehen wollte. An letzterem störte ihn vor allem der damit verbundene volkstümliche Wunderglaube. Hingegen legen Stammels Aussagen zur Reliquien- und Heiligenverehrung sowie bedingt auch zum Wunderglauben nahe, dass sein religiöses Ideal ganz ohne diese Frömmigkeitsformen und -praktiken auskommen sollte. Eine ähnliche Meinung wie Stammel vertrat Ferdinand Schönberger (1755–1834), der Mitglied der Ordensgemeinschaft der Piaristen war. Schönberger hatte sich gegenüber der Zentralverwaltung des Saardepartements mit einer Rede zur Errichtung des Freiheitsbaumes in Kirchberg im Februar 1798 empfohlen und war von dieser zur „Erziehung der Jugend“³⁴¹ nach Trier zurück beordert worden. In 336 Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 162. 337 Ebd., S. 40. 338 Vgl. Kranemann: Liturgie (wie Anm. 594, S. 237), S. 379. Siehe dazu auch Kapitel 3.2. 339 Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 123. 340 Ebd., S. 124. 341 Wolfgang Seibrich: Ferdinand Schönberger, ein unbekannter Trierer ”Revolutionär”, in: Neues trierisches Jahrbuch 32 (1992), S. 73–80, hier S. 74. – Nach dem Verbot des Jesuitenordens über-
490 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? einem Aufsatz, der den klingenden Titel Der Republikanische Volkslehrer trug und von Haan 1798 in seinem Journal veröffentlicht wurde, definierte er in 16 Paragraphen die wichtigsten Begriffe seines republikanischen Menschen- und Gesellschaftsbildes. Im Gegensatz zu Stammel, der sein anvisiertes Leserpublikum – die Bürger und Bauern – nicht überfordern wollte und daher auf eine allzu offene Positionierung verzichtete, konnte Schönberger seine Ansichten zu einer ‚reinen‘ Religion wesentlich direkter formulieren: Gnaden, Geheimnisse, Wunder, Betteleien, fremde Verdienste, Werkheiligkeit, und alle Quacksalbereien des Aberglaubens und der Kunstgriffe des Betruges gehören nicht zur Religion; die Religion ist einfach, rein, heilig, menschen- und gotteswürdig; nur zweckmäßigen Unterricht, und erbaulichen Gesang will und leidet die äußerliche Religion.³⁴²
Auch ihm ging es darum, die Religion auf das zu beschränken, was er für das Wesentliche hielt: Sie sei „und kann nichts anders seyn, als das Mittel, den Menschen Gott ähnlicher zu machen“³⁴³. Da dazu der eigene Vernunftgebrauch ausreicht, sind die meisten Glaubensinhalte und äußeren Andachtsformen in seinen Augen obsolet. Gott und Religion spielten in Schönbergers republikanischem Gesellschaftsmodell insgesamt nur eine untergeordnete Rolle.³⁴⁴ Zwar nahm er die Vernunft als von Gott gegeben an. Die Entscheidung, was richtig und falsch sei, treffe der Mensch aber aufgrund des im innewohnenden „Sittengesetz[es]“³⁴⁵ unabhängig von religiösen oder gar kirchlichen Vorgaben. Explizit bezog sich Schönberger hierbei auf Kants kategorischen Imperativ. Auch mit der Formulierung, Gott sei als „das höchste Gut“ anzuerkennen, lehnte er sich an den Philosophen an. Kant dach-
trug Kurfürst-Erzbischof Clemens Wenzeslaus den Piaristen 1777 die Leitung des Lambertinums – einem Seminar für adlige Priesteranwärter (siehe Kapitel 2.1) – sowie des Gymnasiums. Auch Schönberger lehrte seit 1782/83 in Trier. Ab 1793/94 hielt er sich mit kurzer Unterbrechung in der Ordensniederlassung in Kirchberg (Hunsrück) auf. Nach seiner Rückkehr nach Trier wurde er Ende 1798 Mitglied der commission économique, die die Gesamtverwaltung der höheren Bildungseinrichtungen bis zur Gründung einer Zentralschule übernehmen sollte. 1799 erhielt er eine Anstellung als Professor für Moral und Philosophie an der Zentralschule. Auch unter preußischer Regierung unterrichtete er zunächst weiter und wurde 1817 pensioniert. Vgl. Seibrich: Schönberger (wie Anm. 341, S. 489), S. 73–77, ergänzend: Guido Groß: Ein Nachtrag zu W. Seibrich: Ferdinand Schönberger, ein unbekannter Trierer „Revolutionär“, in: Neues trierisches Jahrbuch 33 (1993), S. 49–60. 342 Johann Jakob Haan: Journal für das Saar-Departement, fünftes Heft, Trier 1798, S. 397. 343 Ebd., S. 395 f. 344 Der Einzelne konnte nach Ansicht Schönbergers nur in der Republik frei sein, wo sich freie Bürger aus freiem Willen Gesetze geben würden. Siehe ebd., S. 403–406. 345 Ebd., S. 387.
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te Moral unabhängig von Vorstellungen göttlicher Strafe oder Lohn und forderte die „Befolgung der Pflicht oder des sittlich Richtigen um seiner selbst willen“³⁴⁶, was seine Philosophie anschlussfähig für Vertreter eines deistischen Gottesverständnisses machte. Kants streng-logische Argumentation bot jedoch großen interpretatorischen Spielraum: So glaubte der Theologe und Benediktiner Maternus Reuß (1751–1798) sich mit Kants Philosophie nicht nur gegen „Materialismus [und] Atheismus“³⁴⁷ gewappnet, sondern auch gegen den Deismus. Insbesondere bei katholischen Theologen erfreute sich Kant darum zunächst großer Beliebtheit und wurde breit rezipiert.³⁴⁸ Allerdings gab es auch schon früh Kritiker, die seine Lehre als Gefahr für den katholischen Glauben wahrnahmen und sie aus katholischen Universitäten verbannt wissen wollten.³⁴⁹ Auch Franz Xaver Boos (geb. 1759) kritisierte in einem 1799 in Haans Journal erschienenen, in Form eines fiktiven Dialogs verfassten Artikels alle Äußerlichkeiten des Glaubens, wozu er vor allem den Gottesdienst zählte.³⁵⁰ Diesen sah
346 Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 3: Neuzeit, Teilbd. 2: Das Zeitalter der Revolutionen, Stuttgart 2008, S. 148. 347 Maternus Reuß: Soll man auf katholischen Universitäten Kants Philosphie erklären?, Würzburg 1789, S. 31. 348 Vgl. Norbert Hinske: Kant im Auf und Ab der katholischen Kantrezeption. Zu den Anfängen katholischen Frühkantianismus und seinen philosphischen Impulsen, in: Norbert Fischer [Hrsg.]: Kant und der Katholizismus. Stationen einer wechselhaften Geschichte, Freiburg 2005, S. 189–205, hier S. 191–198. 349 Zu den katholischen Kant-Kritikern zählte der ehemalige Jesuit Benedikt Stattler (1728–1797), der 1788 einen zweibändigen Anti-Kant veröffentlichte. Gleichwohl war Stattler Anhänger der Philosophie Christian Wolffs, mit der er die „Wahrheit der christlichen und katholischen Religion zu begründen“ (Spehr: Aufklärung (wie Anm. 89, S. 127), S. 137, Anm. 148) suchte. – Auch in Trier wurde 1793 über ein Verbot der Kantischen Philosophie diskutiert; ein dazu abgefasstes Gutachten sprach sich jedoch dagegen aus. Der Gutachter kam unter anderem zu dem Schluss, an der Trierer Universität sei Kant nicht bekannt genug, um ein Verbot zu rechtfertigen. Das Gutachten ist abgedruckt bei: Trauth: Begegnung (wie Anm. 47, S. 14), S. 380–387. 350 Boos stammte ursprünglich aus Baden. Nach Stationen als Hofmeister und Archivar lehrte er seit 1792 als Professor für Literatur an der Universität Freiburg. Da er die französische Besetzung von Freiburg unterstützte, wurde er nach Abzug der französischen Truppen vertrieben. Seit 1798 war er zunächst Kommissar bei der Munizipalität Schönberg (bei Thalfang) und war anschließend als Notar tätig. Vermutlich betrieb er in Schönberg später Landwirtschaft. In preußischer Zeit wurde er Hauptzollamtskontrolleur in Trier (vgl. Wolfgang Hans Stein: Verwaltungspartizipation, Denunziation und Öffentlichkeit im Saar-Departement unter dem Direktorium 1798-1800. Teil 3: Besetzungsliste und Personenkatalog der Kantonsverwaltung, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 28 (2002), S. 315–393, hier S. 346). 1799 publizierte er die Ländlichen Feierstunden für den Ackersmann, in denen er sich in volksaufklärerischer Absicht mit landwirtschaftlichen Themen auseinandersetzte. 1820 veröffentlichte er die Kritischen Bemerkungen über den Trierer
492 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Boos nur aus unverständlichen Zeichen – „Hieroglyphen“³⁵¹ – bestehen, die als „Denkmäler des Aberglaubens“³⁵² ausschließlich die Sinnlichkeit ansprechen und innere Andacht verhindern würden. Für ihn ist die Religionsausübung etwas Individuelles, das nicht durch einen „fremden, gemeinen, […] unverständlichen Willen umgebogen und verleitet“³⁵³ werden dürfe, was der Pfarrer im Gottesdienst jedoch versuche. Hingegen scheint die „innerliche[…] Religion“³⁵⁴ für Boos im Kern auf dem Glauben an die „Unsterblichkeit der Seele, [der] Pflicht persönlicher Vervollkommenerung“³⁵⁵ und der Anerkennung der „rein[en]“ Lehre Jesu, die er von der christlichen Religion getrennt sehen wollte, beruht zu haben. Jesus war für ihn „Volkslehrer“³⁵⁶ und einer der ersten Aufklärer zugleich. Zusammen mit seinem Glauben an die stetige Vervollkommnung des Menschen zeigt dies, dass seine Vorstellung einer ‚inneren Religion‘ wesentlich von den Ideen der Aufklärung geprägt war. Die sinnliche Ausgestaltung der Religion hielt Boos hingegen des menschlichen Verstandes für unwürdig. Theologen wüssten trotz ihrer gegenteiligen Behauptungen letztlich „nichts vom unerforschlichen Gott“; Predigen hieße demnach nichts anderes als „einige abgerissene Worte des Evangeliums schief räsonniren, philosophieren, deklamiren.“³⁵⁷ Auch Boos imaginiert ein vorchristliches Ideal und gibt vor, sich diese Zeiten zurückzuwünschen. Für eine an Kant angelehnte natürliche Vernunftreligion, die losgelöst vom Kirchenglauben ohne Gottesdienst und Zeremonien auskomme, plädierte auch Johann Hugo Wyttenbach in einem 1798 in den Patriotischen Beiträgen veröffentlichten Artikel.³⁵⁸ Dieser ist ebenfalls in Form eines fiktiven Gesprächs zwischen drei Freunden gehalten, von denen Aristäus – unterstützt von Amandus – die Herrgottsrock, worin er die Echtheit der Reliquie anzweifelte: So würden mehrere Orte den ‚Herrgottsrock‘ für sich beanspruchen, was zusammen mit dem Auftauchen der Reliquie nach den Kreuzzügen darauf hindeute, dass es sich lediglich um die Kutte eines orientalischen Mönches handle. Im selben Jahr gab Boos auch ein Wochenblatt mit dem Titel Das Käseblatt heraus, in dem Artikel aus den Bereichen Geschichte, Geographie, Länderkunde, Naturkunde und Dichtkunst veröffentlichte werden sollten. Vgl. Zenz: Zeitungen (wie Anm. 84, S. 23), S. 55–56. 351 Haan: Journal 7 (wie Anm. 201, S. 463), S. 620. – Das Gespräch im Eichenwäldchen – so der Titel – wird von Birkold und Gravemar geführt. Bei Birkold handelt es sich offenkundig um Boos’ Alter Ego, da Gravemar hauptsächlich als Stichwortgeber fungiert. Deshalb wird im Folgenden Birkolds Meinung als die von Boos wiedergegeben. 352 Ebd., S. 621. 353 Ebd., S. 625. 354 Ebd., S. 622. 355 Ebd., S. 629. 356 Jeweils ebd., S. 631. 357 Ebd., S. 632. 358 Laut Stein gehörten die jeweiligen Autoren des Journals und der Beiträge zwei unterschiedlichen, verfeindeten republikanischen Lagern in Trier an. Die Gruppe um das Journal sei tendenziell
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Vernunftreligion befürwortet und der dritte, Rhydias, eine materialistische Position vertritt. Die „reine[…] Religion“³⁵⁹, die Aristäus imaginiert, ist für ihn – im Sinne Kants – die „Erkenntniß unsrer Pflichten als göttliche Gebote“³⁶⁰. Da sich die Achtung Gottes auf seiner Übereinstimmung mit dem Moralgesetz gründe, könne die Religion die Achtung dieses Moralgesetzes nicht verstärken, sondern lediglich Hilfestellung zum moralisch-vernünftigen Handeln geben. Da Rhydias’ Materialismus die Leugnung des freien Willens und damit die Existenz eines dem Menschen inhärenten Moralgesetzes bedeute, findet seine Position keine Unterstützung.³⁶¹ Doch auch wenn sie letztlich verworfen wird, zeigt die fiktive Diskussion dennoch, dass Bedarf bestand, sich gegen materialistische Argumente zu wappnen und dass zumindest Wyttenbach in Kant ebenfalls einen ‚Rettungsanker‘ gegen den Materialismus sah. In der Vorrede seiner Verteidigungsschrift für Stammel feierte Johann Kaspar Müller Kant ebenfalls als Bezwinger aller „aufgestellten Systeme gegen das Christenthum und [die] Unvernunft“³⁶² und definierte angelehnt an den Philosophen seine ‚wahre‘ Religion. Folglich beruhte sie wie bei Schönberger und Wyttenbach „auf dem deutlichen Bewußtseyn, des in uns eingeprägten Sittengesetzes […], das unbedingt den Glauben, an einen weisen, heiligen und mächtigen Weltbeherrscher fordert, und dessen Gebote in dem Gesetze der Vernunft gegeben sind, ohne alle Meisterschaft, ohne Dogmen, ohne Schwärmerey und Intoleranz.“³⁶³ Die Frage nach der Vereinbarkeit von Glaube und Vernunft stellte sich für Müller demnach nicht, da er beide ohnedies für untrennbar hielt. Die Existenz Gottes offenbarte sich für ihn zwingend durch das dem Menschen inhärente Sittengesetz. Scharfe Kritik übte er an den „vielen Nebendinge[n], die […] zum Hauptgegenstande der Religion“ erklärt worden seien und worunter die „Religion in ihrer wahre[n] Gestalt“³⁶⁴ begraben liege. So verehre man nun „eine Menge Heiligen,
profranzösischer eingestellt gewesen. Vgl. Stein: Revolutionskalender (wie Anm. 67, S. 18), S. 162– 163. – Im kirchlich-religiösen Bereich liegt der Unterschied vor allem darin, dass im Journal mehr Artikel zu diesem Themenkreis veröffentlicht wurden. 359 Johann Baptist Michael Hetzrodt: Patriotische Beiträge, drittes Heft, 1798, S. 193. 360 Ebd., S. 190. Wyttenbach zitiert hier Kant: Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Königsberg 1793, S. 215. 361 Ausführlich zu Wyttenbachs Kant-Rezeption sowie zu seinem Religionsverständnis vgl. Klupsch: Wyttenbach (wie Anm. 284, S. 97), S. 124–128, 128–135. – Wyttenbach bezog sich nicht nur bei philosophisch-religiösen Themen auf Kant, sondern suchte dessen Philosophie auch mit der den Ideen der Französischen Revolution zu vereinbaren, vgl. Stein: Revolutionskalender (wie Anm. 67, S. 18), S. 157. 362 Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), o. S. 363 Ebd., S. 3. 364 Jeweils ebd., o. S.
494 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? die man eifriger als das höchste Wesen selbst anruft“, stelle überall Heiligenbilder auf, erdichte Wunder; „Gebet, Gesänge sind ohne Menschenverstand, und die Predigten gewöhnlich in lateinischer Sprache, die das Volk nicht versteht.“³⁶⁵ Mit der Gegenüberstellung von falscher, mechanischer und wahrer, innerer Andacht, griff Müller den üblichen Topos der katholischen Aufklärung auf. Er beklagte die mit den ‚Nebendingen‘ einhergehende Versinnlichung der christlichen Religion, wodurch sie dem ‚Heidentum‘ immer ähnlicher geworden sei. Damit setzt sich Müller von Stammels Sympathien für die vorchristliche Zeit klar ab. Er selbst glaubte mit seiner Ablehnung aller Äußerlichkeiten in der rechtmäßigen Tradition Jesu und seiner Apostel zu stehen, was er durch entsprechende Bibelzitate zu belegen suchte.³⁶⁶ Im Verzicht auf alles Zeremonielle, beschränkt auf die reine Anbetung „Gott[es] im Geiste und der Wahrheit“³⁶⁷, lag für Müller demnach die wahre Religion Jesu begründet. In der „Religion, die man noch immer für Christenthum ausgibt“, könne man hingegen „keine Spuren von Christus Lehren mehr“³⁶⁸ wahrnehmen. Auch Müllers Bestimmung ‚wahrer‘ Religion kreiste vor allem um das Wortfeld rein. Für die Aufklärer spielte dabei allerdings nicht die Vorstellung kultischer Reinheit eine Rolle, die gerade im Mittelalter an Bedeutung gewonnen hatte. Vielmehr standen sie in der Tradition des in der Reformation wieder aufgegriffenen Prinzips „ethische[r] Reinheit“³⁶⁹, das sich – vergleichbar mit reformatorischen Deutungsmustern – in Verknüpfungen wie ‚reiner Lehre‘ oder „reinen Religionsbegriffen“³⁷⁰ widerspiegelte. Dass die Konstruktion von Reinheit „immer auch Prozessen der Grenzziehung“³⁷¹ diente, zeigt sich somit auch innerhalb innerkonfessioneller Debatten: Indem sich die Aufklärer zu Vertretern der ‚reinen Lehre‘ erklärten, beanspruchten sie gegenüber den orthodoxen Katholiken klar die Deutungshoheit über die Frage, was den ‚richtigen‘ Glauben ausmache. Das implizit immer mitschwingende Gegenteil der Unreinheit erleichterte die rhetorische Abwertung der Gegenseite.³⁷² Insbesondere unter dem Eindruck von Revolution und Besetzung verwies die ‚reine Religion‘ allerdings auch auf die klare Trennung von weltlicher und religiöser Sphäre: Die Religion – respektive ihre Vertreter – sollten sich aus den Angelegenheiten des Staates heraushalten.
365 Jeweils Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 120. 366 Siehe z. B. ebd., S. 12. 367 Ebd., S. 3. 368 Jeweils ebd., S. 120. 369 Peter Burschel: Die Erfindung der Reinheit. Eine andere Geschichte der frühen Neuzeit, Göttingen 2014, S. 25. 370 Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 1. 371 Burschel: Erfindung (wie Anm. 369), S. 18. 372 Vgl. ebd., S. 16–18, 23–38.
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Indem Johann Kaspar Müller die „wahre Andacht, die nur in der Betrachtung der göttlichen Weisheit und Heiligkeit, der Güte und Liebe gegen uns (Röm. 14,17) und in einem tugendhaften Lebenswandel (Apostelg. 17,25) besteht“³⁷³, mithilfe von Bibelzitaten begründete, wollte er deutlich machen, dass die Aufklärer sich streng auf der Grundlage der Schrift bewegten und daher im Recht seien. In der Furcht orthodoxer Katholiken, die Religion könne verbannt werden, sah Müller einen Beweis mangelnder Rechtgläubigkeit, denn schließlich habe Jesus gesagt: „Meine Lehren werden bis ans Ende der Welt dauern“³⁷⁴. Da für ihn die Vernunft von Gott gegeben war und der Glaube wesentlich auf Vernunft basierte, betrachtet er Zweifel und kritisches Hinterfragen als legitim.³⁷⁵ Auch hier sah er sich in völliger Übereinstimmung mit der Lehre Jesu, denn von diesem seien die Wort überliefert: „Prüfe und das Beste behalte“³⁷⁶. Er erachtete es jedoch nicht nur als notwendig, dass sich die Religion einer kritischen Überprüfung aussetzen müsse, sondern ging ebenfalls davon aus, dass jeder Mensch einen individuellen Glauben vertrat. Im Gegensatz zu Boos postulierte er diese Annahmen jedoch nicht einfach nur, sondern versuchte sie – Kant interpretierend – philosophisch zu begründen: Aus seiner Definition von Glaube als „das Fürwahrhalten eines Satzes, wozu Gründe der Wahrscheinlichkeit da sind, die weder einer Erfahrung, noch in Rücksicht auf Gott der practischen Vernunft widersprechen“, schloss er, Glaube könne nie „Allgemeingültigkeit“ besitzen. Denn nach „den Gründen der Wahrscheinlichkeit“ könne er nur „subjectiv“ sein, „d. h. jeder glaubt nur nach seinen einzelnen Gründen seiner Ueberzeugung“³⁷⁷. Da jeder Mensch unterschiedliche Überzeugungen habe, halte nicht jeder dieselben Gründe für hinreichend. Provokativ nennt Müller ausgerechnet als Beispiele den Glauben an Gott sowie an die Unsterblichkeit der Seele, von denen er selbst hinreichend überzeugt sei, ein anderer jedoch möglicherweise nicht. Obwohl sich die Aufklärer bei ihrer Definition einer ‚reinen‘ und ‚wahren‘ Religion immer wieder auf Kant bezogen, geht Kronenberger auf dessen Philosophie nicht ein. Er erwähnt ihn einzig im Zusammenhang mit Hontheim, Joseph II. und Rousseau und bemerkt abfällig, Kant könne noch so ein „subtiles Lehrgebäudchen“³⁷⁸ bauen, der Bürger und Landmann würde davon nicht glücklicher werden.
373 Jeweils Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 81. 374 Ebd., S. 23. 375 Siehe ebd., S. 5. 376 Ebd., S. 143. Er bezieht sich auf eine Stelle in Paulus ersten Brief an die Thessalonicher (1 Thess 5,21). Paulus beschließt seinen Brief mit einigen Ermahnungen, was für das Leben einer christlichen Gemeinde wichtig sei. 377 Ebd., S. 26 f. 378 Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 83.
496 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Vermutlich verfügte er – wenn überhaupt – nur über oberflächliche Kenntnisse Kants, sodass es ihm ratsamer erschien, sich auf diese knappe Bemerkung zu beschränken. Für Kronenberger gehörte all das wesentlich zur ‚wahren‘ Religion dazu, was die Aufklärer als Versinnlichung und religiöse Nebensächlichkeiten bezeichneten. Dass Elementen der katholischen Liturgie etwas Abergläubisches anhafte, bestritt er darum vehement.³⁷⁹ Insbesondere die Frage nach ‚wahrer‘ Religion beantworteten die Vertreter des orthodoxen Katholizismus im Wesentlichen durch die Negation sämtlicher Veränderungsvorschläge katholischer Aufklärer. Das Ziel der orthodoxen Katholiken war, den status quo zu bewahren.³⁸⁰ Indem Kronenberger die katholischen Aufklärer als „Religionsfeger“³⁸¹ bezeichnete, machte er deutlich, dass ihre Absichten, den Glauben zu ‚bereinigen‘, für ihn längst an dessen Substanz gingen. Gleichwohl beschränkte sich Kronenberger nicht darauf, alle Ideen der Aufklärer zurückzuweisen, sondern legte seine Vorstellungen einer ‚wahren‘ Religion ausführlich dar: In seiner Rede über die wahre Anbethung definierte er Gottesdienst als „Gebräuche, Zeremonien, und Satzungen“, welche rechtmäßig eingesetzt worden seien, „um die Huldigung zu leisten, und die Pflichten zu erfüllen, zu welchen die Menschen gegen die Gottheit verbunden sind.“³⁸² Der Gottesdienst umfasste für ihn demnach nicht allein die Messfeier, sondern alle Dienste an Gott. Ebenso wie die Aufklärer bezeichnete er diese Bräuche, Zeremonien und Satzungen als äußeren Gottesdienst, von dem er die innere Andacht, die die Empfindungen gegen Gott umfasse, unterschied. Er maß diesen äußeren Formen indessen eine hohe Bedeutung zu, die er aus der göttlichen Allmacht herleitete, die die Menschen gleichsam verpflichte, Gott auf diese Weise zu huldigen. Da der Mensch aus „einem
379 Siehe Kronenberger: Kontroverskatechism (wie Anm. 122, S. 446), S. 207. 380 Zum ähnlichen Vorgehen der Gegenaufklärer im Bereich der Politik vgl. Weiß [Hrsg.]: Obscuranten (wie Anm. 89, S. 127), S. 25. 381 Kronenberger: Kanzelreden (wie Anm. 164, S. 454), o. S. – Goldhagen gebrauchte in der Auseinandersetzung mit katholischen Aufklärern den Begriff Glaubensfeger: „Damit griff er (wie andere, besonders österreichische, Exjesuiten) eine ursprünglich aufklärerische Bezeichnung auf, die aber inzwischen einen pejorativen Akzent erhalten hatte: Solche Leuten wollten den Glauben nicht – wie sie vorgaben – bloß reinigen, sondern so gründlich ‚ausfegen‘, daß letztlich nichts mehr von ihm übrig blieb!“ Dumont: Freygeister (wie Anm. 97, S. 129), S. 55. 382 Kronenberger: Kanzelreden (wie Anm. 164, S. 454), S. 446. Bei einigen seiner Polemischen Kanzelreden stützte sich Kronenberger auf sein Vorbild, den französischen Jesuiten Claude-Adrien Nonnotte und dessen Dictionnaire philosophique de la religion. Die Kanzelreden folgten darum ebenfalls einem alphabetischen Aufbau in Form eines Dictionnaires. Zu Nonnotte, der mit seinen Werken Voltaires Kirchenkritik zu widerlegen suchte, siehe Kapitel 3.1.2, Anm. 470. – In knapperer Form verteidigte er die ‚Kirchenzeremonien‘ in seinem Kontroverskatechism; ders.: Kontroverskatechism (wie Anm. 122, S. 446), S. 207–217.
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Leibe und einer Seele“³⁸³ bestünde, sei die sinnliche Ausgestaltung der Zeremonien eine logische Konsequenz: Als sinnliches und geistiges Wesen müsse der Mensch Gott auf beiderlei Arten ehren. Auch Kronenberger nahm für sich in Anspruch, mit dem Evangelium und der Lehre Jesu übereinzustimmen, die die „Nothwendigkeit von beiden Gottesdiensten auf gleiche Weise“³⁸⁴ belegen würden. Die Aufgabe, über die Zeremonien zu wachen, habe Jesus ausdrücklich der Kirche übertragen.³⁸⁵ Er widerspricht damit den aufklärerischen Kritikern, die insbesondere in dieser Frage die Autorität der katholischen Kirche anzweifelten. Für ihn verkörperte die kirchliche Lehre die Reinheit des Glaubens. Die „[c]hristlichen Obern“, womit er die Geistlichkeit insgesamt meinte, sollten darüber wachen, „daß nichts Beflecktes, nichts Unreines“³⁸⁶ eindringe. Im Gegensatz zu den Aufklärern verwendete er den Begriff unrein, um sich gegen die Ideen der Aufklärung abzugrenzen und diese als gefährlichen Schmutz zu brandmarken. Ausführlich erläutert er den „Endzweck“ der Sakramente, Festtage, Gebete und Bittgänge, der sich letztlich auf die „Ehre des höchsten Wesens“³⁸⁷ bezog. Die sinnliche Überwältigung der Gläubigen hielt Kronenberger nicht für etwas Unanständiges oder Schädliches, sondern für ein geeignetes Mittel, um die Menschen durch die emotionale, sinnliche Erfahrung der gemeinsamen Gottesanbetung enger an Religion und Kirche zu binden.³⁸⁸ Der ‚äußere Gottesdienst‘ war für ihn damit eine Art Ressource zur Festigung des Glaubens und zur Erhöhung der Widerständigkeit gegen Zweifel und Anfeindungen aller Art. Eine Religion, die nur auf Innerlichkeit setzte, war für ihn darum undenkbar. ‚Wahre‘ Religion manifestierte sich für ihn in der Prachtentfaltung barocker Liturgie, weshalb er auch an der lateinischen Messfeier festhielt. Stammels Kritik daran, versuchte er auf die übliche Weise durch unterstellte Nähe zum Protestantismus zu diffamieren.³⁸⁹
383 Ders.: Kanzelreden (wie Anm. 164, S. 454), S. 451. 384 Ebd., S. 450. 385 Ebd., S. 455: Jesus habe „seiner Kirche die Macht hinterlassen, die Gebräuche, die Zeremonien, und alles anzuordnen, was zum göttlichen Dienste gehören sollte“. 386 Jeweils Kronenberger: Tochter Sion (wie Anm. 66, S. 433), S. 102. 387 Jeweils ders.: Kanzelreden (wie Anm. 164, S. 454), S. 456. In der Regel spricht Kronenberger von Gott nicht als dem ‚höchsten Wesen‘. Die Formulierung geht wahrscheinlich auf Nonnotte zurück. 388 Ebd., S. 461: „Was diese [weltlichen] Schauspiele im menschlichen Herzen wirken, um die Leidenschaften aufzuwecken, das wirket auf gleiche Weise der Anblick des Gottesdienstes, um die Ehrfurcht und Liebe gegen die Religion einzuflößen.“ 389 Siehe Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 56 f. In seinem Kontroverskatechism versucht er die lateinische Liturgie ausführlicher zu begründen. So gewährleiste das Lateinische überall die einheitliche Gestaltung der Messe und sorge dafür, dass die „heil. Worte und Gebäte
498 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Die Frage nach Toleranz und Meinungsfreiheit Ein wichtiger Bestandteil von Stammels Religionsverständnis war die Forderung nach religiöser Toleranz. In seinen Augen war die Geschichte des Christentums bestimmt durch die Verfolgung „Andersdenkende[r]“, worüber er mit seiner Kronik aufklären wollte. Zu diesen Andersdenkenden zählte er neben christlichen Sekten, wie etwa den Arianern, die eine „besondere Meinung von der Person Jesu“³⁹⁰ vertreten hätten, auch Angehörige anderer Religionen, allen voran des Judentums. Dass den Juden das „Handlungsgeschäft“ überlassen worden sei, bedauerte er nicht nur aus ökonomischer Sicht, sondern sah darin eine Ursache für „den Neid und Haß der Christen“³⁹¹, den sie unverschuldet auf sich gezogen hätten. Während der Kreuzzüge habe sich der Hass auf die Juden weiter gesteigert: Man habe in den „Unglücklichen“ nun die „geschworensten Feinde Jesu“ gesehen, „predigte ihnen mit Feuer und Schwerd das Evangelium, und brachte sie zur äußersten Verzweiflung.“³⁹² Viele hätten sich daraufhin das Leben genommen, andere sich hingegen taufen lassen. Für Stammel steht fest, dass diese erzwungene Bekehrung nicht der Lehre Jesu entsprochen habe. Den christlichen Bekehrungseifer bezeichnete er abfällig als „Christenwuth“³⁹³ und bedauert, „[d]aß doch der Mensch gegen den Menschen so grausam seyn muß!“³⁹⁴ Damit bringt er zum Ausdruck, dass er die Juden nicht mit christlicher Brille als Ungläubige wahrnahm, sondern als Menschen wie alle anderen auch.³⁹⁵
[…] unveränderlich bleiben.“ (Kronenberger: Kontroverskatechism (wie Anm. 122, S. 446), S. 212) Außerdem behauptete er, viele Katholiken verstünden Latein und alle anderen wüssten doch zumindest über den Inhalt der Gebete Bescheid. Dass er mit diesen Argumenten die Kritiker kaum hätte überzeugen können, war ihm möglicherweise bewusst, weshalb er in seiner Erwiderung auf die Kronik den ‚Protestantismus-Verdacht‘ wählte. – Zur ähnlichen Argumentation Goldhagens vgl. Dumont: Freygeister (wie Anm. 97, S. 129), S. 58. 390 Jeweils Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 29. Die nach dem Theologen Arius (gest. 336) benannte Auffassung bestritt die auf dem Konzil von Nizäa (325) behauptete Wesensgleichheit von Gott-Vater und Sohn. Obwohl der Arianismus durch verschiedene Konzile von Beginn an als Häresie verurteilt wurde, fand er starke Verbreitung. Vgl. Heim: Lexikon (wie Anm. 271, S. 170), S. 37. 391 Jeweils Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 52. 392 Jeweils ebd., S. 76. 393 Ebd., S. 76. 394 Ebd., S. 77. 395 Ältere katholische Kirchenrechtler wie Schmier definierten das Judentum beispielsweise „als die Variante des Verbrechens der Ungläubigkeit, bei der die Beachtung des alten Gesetzes (also der Bestimmungen des Alten Testaments) der des neuen vorgezogen wird.“ Bei der Verkündigung des neuen Gesetzes hätten die Juden das alte verwerfen müssen; da sie dies jedoch nicht taten, wiege ihr Irrtum umso schwerer. Sowohl Schmier als auch Pichler erklärten es jedoch unter bestimmten Voraussetzungen für möglich, dass bereits dort lebende Juden in christlichen Territorien weiterhin
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Scharf kritisierte Stammel die prekäre wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Juden in kurfürstlicher Zeit: So würden die Juden wie eine Ware behandelt, da man von ihnen „Zins und Zoll“ verlange, womit er auf die gesonderten Abgaben, die sie entrichten mussten, anspielte. Indem die Juden aus „jeder Verbindung der andern Bürger“³⁹⁶ ausgeschlossen und ihnen jede Möglichkeit zur Verrichtung ehrlicher Arbeit genommen worden sei, seien sie gezwungen gewesen, „sich auf Betrug und Wucher zu legen.“³⁹⁷ Welche Tätigkeiten die im Erzstift lebenden Juden verrichten durften, legte die Judenordnung von 1723 fest. Zwar war sie in dieser Hinsicht weniger restriktiv als die Ordnungen zuvor, dennoch blieb Juden die Ausübung vieler Berufe verwehrt.³⁹⁸ Stammel machte damit die christliche Mehrheit selbst dafür verantwortlich, durch ihre Restriktionen die Juden ins Abseits gedrängt zu haben. Auf diese Weise wollte er antijüdische Vorurteile wie die Behauptung, den Juden sei Betrug angeboren, zurückweisen.³⁹⁹ Bitter beklagte Stammel, dass „unsere Zeiten“ noch zu keinem „menschlicher[en]“⁴⁰⁰ Umgang mit den Juden gefunden hätten. Dabei wird er nicht nur den Status der jüdischen Bevölkerung in kurfürstlicher Zeit vor Augen gehabt haben, sondern auch unter der französischen Besatzung: Denn zwischen 1794 und 1798 herrschte in den besetzten Gebieten noch Unklarheit, „ob und wie weit die schließlich am 27. September 1791
geduldet werden dürften. Durch ihr Vorhandensein versprachen sie sich ein dauerhaftes Zeichen für die „Wahrheit des christlichen Glaubens.“ (Jeweils Fritsch: Toleranz (wie Anm. 104, S. 131), S. 265.) Befördert oder unterstützt sollte ihre Ansiedlung jedoch nicht werden. 396 Jeweils Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 95. 397 Ebd., S. 96. 398 Die im Kurfürstentum Trier lebenden Juden, die sich großteils auf die Hauptorte Trier und Koblenz verteilten, hatten den Status von Schutz-, Geleit- oder Kameraljuden. Ihre Zahl war auf 165 Familien begrenzt. Ende des 18. Jahrhunderts zahlten etwa 20 Familien in Trier Schutzgelder. Vgl. Marianne Bühler: Die jüdische Gemeinde Triers zur Zeit der Franzosen, in: Dühr [Hrsg.]: Trikolore (wie Anm. 61, S. 17), S. 437–458, hier S. 437–439 sowie ausführlich: Kasper-Holtkotte: Juden (wie Anm. 351, S. 365), S. 25–188. 399 Diese Unterstellung führte die Trierer Bürgerschaft 1787 bei Protesten gegen jüdische Konkurrenten an. Derartige Vorurteile führten immer wieder zu Konflikten. Vgl. Bühler: Gemeinde (wie Anm. 398), S. 439. 400 Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 96. – Auch der Schulmeister in La Roches Mönchsbriefen definierte Toleranz unter Einbezug der Juden (siehe Kapitel 3.1.1). La Roche stellte diese Haltung der des Dechanten gegenüber, der die Juden als Feinde sah. Gleichwohl kritisierte La Roche die Ungleichbehandlung der Juden dadurch nicht so dezidiert wie Stammel. – Ein „more thorough understandig of Judaism“ (Lehner: Monks (wie Anm. 41, S. 13), S. 93) forderten auch katholische Aufklärungszeitschriften, wie die von der Trierer Lesegesellschaft bezogene Litteratur des katholischen Deutschlands. In dieser wurden regelmäßig Werke von Moses Mendelsohn besprochen.
500 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? allen Juden in Frankreich gewährten Rechte“⁴⁰¹ auf sie übertragen werden sollten. Erst mit Einführung der französischen Verfassung 1801 erhielten sie die rechtliche Gleichstellung als französische Bürger.⁴⁰² Vermutlich ist Stammels Bemerkung daher als Mahnung an die französischen Besatzer zu verstehen, den linksrheinischen Juden dieselben Rechte zu gewähren wie den französischen. Umfassende Toleranz bildete für Stammel die Voraussetzung für die Gewährung von Meinungs- und Religionsfreiheit. Auch Religion oder Konfession stellten in seinen Augen im Grunde nur eine Meinung dar, die jeder das Recht zu äußern haben sollte. Dass der Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken im 30-jährigen Krieg eskalierte, „weil der eine nicht annehmen wollte, was der andere unbezweifelt glaubte“⁴⁰³, ist ihm unbegreiflich. Ausdrücklich lobt er den Westfälischen Frieden, der den Protestanten die „freie[…] Ausübung ihrer Religion“ ermöglichte. Er appelliert daran, trotz abweichender Meinungen – „denn nie werden alle Köpfe unter einem Hute passen“ – die menschliche „Eintracht“⁴⁰⁴ nie aufzugeben. Er erteilte damit orthodoxen Katholiken wie Kronenberger, die mit ihren Schriften noch immer an der Kontroverstheologie festhielten und so die konfessionelle Trennung zementierten, eine Absage.⁴⁰⁵ Seine Kritik am Umgang der katholischen Kirche mit angeblichen Ketzern in ihren eigenen Reihen, macht deutlich, dass Stammel das Recht auf freie Meinungsäußerung genauso auch für sich und andere katholische Aufklärer beanspruchte. Die implizite Gleichsetzung von antiken oder mittelalterlichen Ketzern mit ‚modernen‘ Aufklärern zeigt, dass Stammel den orthodoxen Katholiken nicht die Deutungshoheit darüber überlassen wollte, wer sich nach den innerkonfessionellen Debatten der letzten Jahre als Opfer sehen durfte. Unterschiedliche Ansichten über das Für und Wider aufklärerischer Reformen sollten jedoch auch in diesem Fall nicht vergessen machen, dass „unsere Herzen […] nur durch ein einziges Band verknüpft seyn“⁴⁰⁶ sollen. Obgleich dieses Plädoyer durchaus versöhnlich gemeint war, kam Kronenberger zu dem Schluss, Stammel habe mit der Kronik den Plan verfolgt, „jedem 401 Bühler: Gemeinde (wie Anm. 398, S. 499), S. 439. 402 Vgl. Kasper-Holtkotte: Juden (wie Anm. 351, S. 365), S. 189–190. 403 Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 140. 404 Jeweils ebd., S. 146. 405 Seinen Kontroverskatechism hatte Kronenberger auch deshalb verfasst, „weil die protestantische Jugend, die mit uns Deutschen so vermischt lebet, immer in der Polemik geübet wird, während der Katholik, seiner Wahrheiten versichert, sichs nicht beifallen läßt, Konrtroversschriften zu lesen, oder etwas mehr von dem Protestantensystem als vom Vater Unser zu wissen. Inzwischen liefere ich denn diesen Katechism zum desfallsigen Behuf um so lieber, als mancher Protestant sich erdreistet zu behaupten: kein Geistlicher sey im Stande zu widerlegen.“ Kronenberger: Kontroverskatechism (wie Anm. 122, S. 446), o. S. 406 Stammel: Kronik (wie Anm. 3, S. 419), S. 146.
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Undinge, besonders Ketzern und Juden das Wort zu sprechen.“⁴⁰⁷ Kronenberger hielt am tradierten theologischen Antijudaismus, die Juden seien Feinde Jesu, weil sie dessen messianische Sendung nicht anerkannten und für seinen Kreuzestod verantwortlich seien, fest. Er stellte Stammel als naiven Freund der Juden dar, der nicht in der Lage sei, den „geschworenen Haß der Juden gegen Christen“⁴⁰⁸ wahrzunehmen. Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Stammels Plädoyer für eine bürgerliche Gleichstellung der Juden hielt er darum anscheinend für nicht notwendig. Stattdessen wandte er sich allgemein Stammels Wunsch nach Toleranz und Meinungsfreiheit zu. Kronenberger stellte klar, dass er „die Freyheit zu denken, zu schreiben, zu reden und zu handeln“ als eine Forderung nach „Freyheit […] nur für den Teufel“ auffasste. Der „Gutdenkende“ werde hingegen so lange zum Schweigen verdammt, „bis er von Toleranzbrüdern erwürget ist“⁴⁰⁹. Damit griff Kronenberger den durchaus berechtigten Vorwurf der Gegenaufklärung auf, wonach diese Freiheitsrechte vor allem der Verbreitung aufklärerischer Ideen dienen sollten, gegenteilige Meinungen jedoch behindert würden.⁴¹⁰ Aus Kronenbergers Sicht waren Meinungs- und Pressefreiheit damit bloß ein Einfallstor für die Religion oder den Staat zersetzende Gedanken. Vor dieser Entwicklung hatte Hermann Goldhagen bereits vor Ausbruch der Französischen Revolution gewarnt.⁴¹¹ Doch gerade auch die Debatte um die Eidesleistung hat gezeigt, dass sich die orthodoxen Katholiken mit der Idee der Meinungsfreiheit schwertaten, da sie es doch als Aufgabe der Kirche ansahen, über die Meinung ihrer Gläubigen zu wachen.⁴¹² Kronenberger stellte denn auch gegenüber Stammel klar, dass die Arianer nicht einfach eine ‚besondere Meinung‘ vertreten hätten, sondern, indem sie die Gottheit Jesu verneinten, „den ganzen christlichen Glauben“ vernichten würden. Kronenberger erachtete es als
407 Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 51. 408 Ebd., S. 73. Um seine Aussage zu belegen, verwies Kronenberger ausgerechnet auf einen protestantischen Theologen: Johann Christoph Georg Bodenschatz (1717–1797) stellte in seinem 1748 erschienenen Hauptwerk Kirchliche Verfassung der Juden (in zweiter Auflage: Aufrichtig Deutschredende Hebräer, oder Die Gebräuche und Ceremonien der Juden (1756)) auf Basis zahlreicher schriftlicher und mündlicher Quellen jüdische Riten und Bräuche dar. Kronenberger wird dessen Werk entsprechend interpretiert haben, um seine Aussage zu belegen. Zu Bodenschatz vgl. ‚Bodenschatz, Johann Christoph Georg‘. In: Jewish Encyclopedia: http://www.jewishencyclopedia.com/articles/3460-bodenschatz-johann-christian-georg [abgerufen am 5.9.2018]. 409 Jeweils ebd., S. 50. 410 Siehe dazu auch die Aussagen von Joseph Anton Haas in Kapitel 4.1.3. Siehe zur Zensur auch Kapitel 2.3. 411 Als Beispiel führte er England an, wo die Pressefreiheit eine Menge gottloser Schriften hervorgebracht habe. Vgl. Dumont: Freygeister (wie Anm. 97, S. 129), S. 41. 412 Siehe Kapitel 4.1.2.
502 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? legitim, würde der Kaiser „wie damals […] mit Feuer und Schwerd“ gegen „neue Ketzerey im Lande“ vorgehen, die doch nichts anderes „als ein Ungeheuer, das Raub, Mord, und Kriege noch allzeit nach sich führte“⁴¹³ sei. Deutlicher konnte er Stammels Appell an eine friedliche Koexistenz unterschiedlicher Meinungen keine Abfuhr erteilen. So zählten auch die katholischen Aufklärer für Kronenberger zu den Ketzern und Sektierern, die „als unberufene Reformatoren“ ständig „von eingeschlichenen Mißbräuchen“ sprechen und nach „Gutdünken Bücher der heil. Schrift und der Väter“⁴¹⁴ verwerfen würden. Vor dem Hintergrund dieser Aussagen wird sich Johann Kaspar Müller veranlasst gesehen haben, dem Christentum seit jeher einen Hang zur „Streit- und Verketzerungssucht“ zu unterstellen, dessen Ergebnis „die verschiedenen Religionssecten“⁴¹⁵ gewesen seien. Dass Priester wie Kronenberger über die Meinungen ihrer Gläubigen bestimmen dürfen sollten, war für Müller daher ausgeschlossen. Indem er von der Gottgegebenheit der Vernunft ausging, stand für ihn fest, dass die Forderung nach der „Freyheit des Denkens, Redens und Handelns“ aus der Verpflichtung entspringe, „die Talente“ auch anzuwenden, „welche Gott verliehen hat, und von deren Gebrauch […] einstens Rechenschaft nach der heil. Schrift“ abgelegt werden müsse. Dieser Pflicht nachzukommen, stelle für den Menschen einen natürlichen Drang seiner Seele dar. Verweigere er dennoch, diese Talente zu nutzen, erniedrige er sich „zum vernunftlosen Thiere herab, und ist sohin unfähig weder was gutes zu denken, zu reden, noch zu handeln.“⁴¹⁶ Die göttliche Legitimierung dieser Freiheiten suchte Müller durch Verweise auf verschiedene Bibelstellen theologisch zu untermauern. Die freie Meinungsäußerung stilisierte er damit gleichsam zum göttlichen Gebot für jeden guten Christen. Einen orthodoxen Katholiken wie Kronenberger, der sich seinerseits immer wieder auf die Bibel stützte, glaubte er auf diese Weise entkräften zu können. Seine Berufung auf die Autorität der Bibel diente ihm dazu, diesem einen „gänzliche[n] Mangel an Bibelstudium“⁴¹⁷ nachzuweisen. Auch wird er mit diesem argumentativen Vorgehen auf die gebildeten Leser, die nicht unmittelbar Beteiligte der Auseinandersetzung waren, abgezielt haben. Sie sollten versichert sein, dass Meinungs-, Presse- oder Religionsfreiheit kein genuin revolutionäres Anliegen war, sondern Bestandteil des Christentums. Auch wenn er die Revolution oder die französische Besetzung 413 Jeweils Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 52. Auch Luther hätte er gerne auf dem Scheiterhaufen brennen sehen, da auf diese Weise die Toten des 30-jährigen Krieges hätten vermieden werden können: Ebd., S. 74. 414 Jeweils Kronenberger: Kontroverskatechism (wie Anm. 122, S. 446), S. 50. 415 Jeweils Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 142. 416 Jeweils ebd., S. 49. 417 Ebd., S. 50.
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mit keinem Wort erwähnte, war doch offenkundig, das er auf diese Weise auch für einen Anschluss an Frankreich werben wollte. Auch sein Toleranzverständnis erläuterte Müller auf Basis der Bibel, um seiner Argumentation größere Autorität zu verleihen. So sah er in der Intoleranz, die er wiederholt den christlichen Amtsträgern vorwarf, eine Pflichtverletzung „gegen die Religion Jesu“, denn diese untersage, „einem andern seine Meinung aufzudringen“⁴¹⁸. Vielmehr lehre sie, dass sich der Christ „nur durch die Liebe und nicht durch Gewalt […] empfiehlt (Ephes. 4,2. Joh. 13,35.).“⁴¹⁹ Davon ausgehend definiert er einen toleranten Menschen als jemanden, der „jeden denken [lässt], was er will“, ohne „andern seine religiöse Vorstellungen mit Gewalt auf[zu]dringen“, sie zu verfolgen oder zu verleumden. Stattdessen zeige er „Nachsicht und Duldung für jeden“⁴²⁰. Leitend war für Müller hinsichtlich der Toleranz auch sein subjektives Glaubensverständnis: So müsse sich jeder stets fragen, ob er auch „mit Gewißheit behaupten [könne], daß [s]eine Vorstellung die einzige wahre sey.“⁴²¹ Da sich jeder allein vor Gott für seine Überzeugungen rechtfertigen müsse, dürfe auch der Staat nicht über religiöse Meinungen richten und daher auch keine angeblichen Ketzer verfolgen. Müller greift an dieser Stelle zu einer ähnlichen Formulierung wie Regierungskommissar Rudler in seinem Aufruf an die Bürger der eroberten Lande vom Dezember 1797, in dem er die Neuorganisation der linksrheinischen Gebiete verkündete und die Religionsfreiheit zusicherte.⁴²² Müllers subjektives Glaubensverständnis schloss ebenfalls, wie weiter oben erläutert, die Möglichkeit des Nichtglaubens mit ein. Daher ist davon auszugehen, dass Toleranz für ihn auch für Atheisten galt und er damit etwa über das in den Mönchsbriefen postulierte Toleranzverständnis noch hinausging.⁴²³ Auf der Grundlage dieses umfassenden Toleranzverständnisses sah auch Müller die „Ursache der Reformation und des daraus entstandenen 30 jährigen Krieges“ darin begründet, dass man versucht habe, „dem menschlichen Geiste, der sich nicht beengen und beschränken läßt, und nicht beschränkt werden darf“⁴²⁴, Fesseln anzulegen. Luther sei daher – fügte er an Kronenberger gewandt hinzu – nicht verantwortlich für das Blutvergießen gewesen. Provokant stilisierte
418 Jeweils ebd., S. 50. 419 Ebd., S. 50 f. 420 Jeweils ebd., S. 50. 421 Ebd., S. 51. 422 Siehe Kapitel 4.1.1. 423 So plädierte der Schulmeister in den Mönchsbriefen zwar ebenfalls für weitgehende Toleranz, schloss aber in Übereinstimmung mit vielen anderen Autoren Atheisten ausdrücklich davon aus. Siehe Kapitel 3.1.1. 424 Jeweils Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 61.
504 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? er den Reformator sogar zum Vorkämpfer für „Denkfreyheit“⁴²⁵. Auch die Verfolgungen, die die Juden „im Namen Gottes“⁴²⁶ hätten erleiden müssen, verurteilte er. Kronenbergers Aufruf, mit Gewalt gegen Ketzer vorzugehen, bezog sich für Müller eindeutig auf Stammel und dessen Unterstützer. Er sah sich bestätigt, in Kronenberger einen Mann vor sich zu haben, der „die Bande der Gesellschaft“⁴²⁷ zerstören wolle. Dass hierdurch nicht die Kronik eine Gefahr für Religion und Gesellschaft darstellte, sondern Kronenbergers Erwiderung auf sie, glaubte er damit ausreichend bewiesen. Die Frage, was sowohl für katholische Aufklärer als auch für orthodoxe Katholiken ‚wahre‘ Religion ausmachte, hing auch mit dem jeweiligen Geschichtsbild beider Parteien zusammen. Stammel plädierte für eine von der Kritik ausgehende Beschäftigung mit Geschichte und war sich der historischen Bedingtheit von Frömmigkeitsformen bewusst. Er war daher bereit, die tradierten Legenden über Trierer Märtyrer, Heilige oder Reliquien kritisch zu hinterfragen. Aus seiner Sicht wog das geschriebene Wort mehr als die mündliche Überlieferung. Diese Sichtweise teilte Johann Kaspar Müller: Ausgehend von der Logik musste ‚historische Wahrheit‘ für ihn auf einem ‚zureichenden Grund‘ und auf der Aussage glaubwürdiger Zeugen beruhen. Entschiedener noch als Stammel kritisierte Müller den christlichen Wunderglauben, der mit seinem deistischen Weltbild unvereinbar war. Für Kronenberger besaß hingegen das ‚ungeschriebene Wort Gottes‘ den gleichen Stellenwert wie die schriftliche Erzählung. In Übereinstimmung mit dem Konzil von Trient betrachtete er Schrift und Überlieferung als gleichwertig. Generell sah er seine Positionen, was die Heiligen- und Reliquienverehrung sowie den Wunderglauben anbelangte, durch die Dekrete des Konzils bestätigt. Wertete Stammel das Konzil noch als lobenswerten Versuch, Missstände im Kirchenwesen abzustellen, kritisierte Müller eine dort erfolgte Festschreibung von Dogmen. Inwiefern die katholische Aufklärung daher – auch von ihrem Selbstverständnis
425 Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 122. Die Wertschätzung, die Müller Luther entgegenbrachte, wollte er jedoch ausdrücklich nur auf die ersten Reformatoren beschränkt wissen. So habe die protestantische Kirche in der Folge ebenfalls die Bedingung gestellt, nicht weiter zu denken und zu lehren als sie selbst es täte. Müller betrachtete bereits Calvin als Heuchler, da dieser nur solange Toleranz propagiert habe als er selbst darauf angewiesen gewesen sei. Nachdem sein Glaube jedoch größere Verbreitung gefunden habe, habe er zu beweisen versucht, dass Ketzer bestraft gehörten. Siehe ebd., S. 128–129. 426 Ebd., S. 110. 427 Ebd., S. 64.
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her – als bruchlose Fortsetzung tridentinischer Reformen gesehen werden kann, ist fraglich.⁴²⁸ Gemeinsam war den katholischen Aufklärern, dass sie eine auf strenger Einfachheit und Vernunft basierende Religion propagierten, die losgelöst vom Kirchenglauben und dessen Frömmigkeitsformen funktionieren sollte. So war der Glaube für die meisten etwas Subjektives und Individuelles. Wichtiger Bezugspunkt stellte dabei die Philosophie Kants dar, was zeigt, dass die Vernunftreligion der Aufklärer nicht einfach die französischen Revolutionskulte kopierte. Gleichzeitig sollte sich die ‚wahre‘ Religion der Aufklärer an der ‚reinen‘ Lehre Jesu orientieren. Der Begriff rein verwies dabei einerseits auf die Abwesenheit alles Zeremoniellen und die Beschränkung der Religion auf den sakralen Bereich. Andererseits fungierte der Begriff als Abgrenzung gegen die orthodoxen Katholiken. Vor diesem Hintergrund vertraten sowohl Stammel als auch Müller ein umfassendes Toleranzverständnis, das für beide die Voraussetzung für Meinungsfreiheit darstellte. Die Versinnlichung der Religion, gegen die sich die Aufklärer wandten, war für Kronenberger wiederum unverzichtbar. Angelehnt an den ehemaligen französischen Jesuiten Nonnotte definierte er den Menschen als Geist- und Sinneswesen, das Gott daher auch durch äußere Andachtsformen huldigen müsse. Toleranz und Meinungsfreiheit dienten hingegen aus seiner Sicht nur dazu, den Verfall der Religion zu beschleunigen.
4.2.3 Die Aufklärung – Chance oder Gefahr für die Religion? Welches Priesterbild oder welche Vorstellung ‚wahrer‘ Religion die Angehörigen der katholischen Elite vertraten, war wesentlich durch ihr Verhältnis zur Aufklärung bestimmt, wie die vorangegangenen Kapitel gezeigt haben. Für die Akteure war daher eine Selbstvergewisserung darüber, was Aufklärung überhaupt sei, dringend notwendig – eine Frage, die anscheinend auch in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts noch nicht abschließend geklärt war.⁴²⁹ Von ihrer Beantwortung hing wiederum ab, ob sie diesen ideellen Umbruch als Chance oder als Gefahr für die Religion wahrnahmen. Exemplarisch für die Positionen der Trierer Elite stehen die Antworten Kronenbergers und Johann Kaspar Müllers, die in ihren Schriften explizit zum Prozess der Aufklärung Stellung nahmen.
428 Diese Verbindungslinie zieht etwa Lehner, siehe Kapitel 2.2, Anm. 83. Ähnlich argumentiert auch Holzem, wenn er den Prozess der Aufklärung einem Zeitalter der Konfessionalisierung von 1550 bis 1850 einverleibt, vgl. Holzem: Christentum (wie Anm. 11, S. 4), S. 20–32. 429 Zur Diskussion dieser Frage in den 1780er Jahren siehe Kapitel 2.2.
506 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Kronenbergers ‚Aufklärung des Herzens‘ In zwei Texten legte Kronenberger ausführlich seine Sichtweise auf den Prozess der Aufklärung dar: Seine Widerlegung der Kronik beendete er mit einem schlicht Die Aufklärung betitelten Gedicht, in dem er vor den Gefahren der Aufklärung warnte. Mit der eingängigen, teilweise fast dialogisch anmutenden Form erhoffte er sich wahrscheinlich einen größeren, über die Gesamtschrift hinausgehenden Rezipientenkreis zu erreichen. Die populäre Form seines Gedichts, das er selbst als „Liedchen“ bezeichnete und dem „Liederbarden“⁴³⁰ Stammel widmete, zeigt, dass Kronenberger bei aller Kritik an der Aufklärung dennoch bereitwillig deren Stilmittel aufgriff, um seine eigenen Ansichten zu verbreiten. Darüber hinaus widmete er in seinen Polemischen Kanzelreden – die sich nach seiner Aussage an ein gebildeteres Publikum richteten – eine der Reden der Aufklärung. Indem Kronenberger gleich zu Beginn seines Gedichts „ein lallend Kind“ behaupten lässt, dass „alte Zeiten dumm gewesen sind“, macht er deutlich, wie wenig er von der Behauptung hält, man lebe nun in „aufgeklärten Zeiten“: Für ihn kann eine Gesellschaft nicht als ‚aufgeklärt‘ bezeichnet werden, die die Tradition und alles Vergangene nicht achtet. Diejenigen, die das Alte zugunsten des angeblich besseren Neuen verwerfen, sind für ihn auf dem geistigen Stand eines Kleinkindes und daher nicht ernst zu nehmen. Damit bediente er den Vorwurf der aufklärerischen ‚Neuerungssucht‘, den vor allem die Gegenaufklärer erhoben.⁴³¹ Allerdings waren sich mitunter auch Aufklärer der Gefahr bewusst, mit ihrer Kritik zwar Althergebrachtes niederzureißen, es jedoch durch nichts Besseres ersetzen zu können.⁴³² Das lyrische Ich berichtet, kürzlich ein „süßes Herrchen“ gefragt zu haben, „was doch das Wörtchen aufgekläret heißt“, aber statt einer Erklärung nur Hohn erhalten zu haben. Auf diese Weise verspottet Kronenberger seinerseits die Aufklärer, die nicht in der Lage seien, ihre Licht-Metaphorik zu konkretisieren und zu erläu430 Jeweils Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 84. Indem er Stammel als ‚Liederbarden‘ bezeichnete, spielte er auf die Revolutionslieder, die dieser verfasste, an. Dass Kronenberger ausgerechnet den Begriff Barde verwendete, war möglicherweise Stammels Sympathie für vorchristliche Zeiten geschuldet. – Zu Stammels Liedern und Reden vgl. auch Embach: Literaturgeschichte (wie Anm. 49, S. 14), S. 185, Anm. 461 sowie BATr Abt. 49 Nr. 46, fol. 3–6, 19–22, 27–30. 431 Vgl. z. B. die Aussagen von Hermann Goldhagen (vgl. Dumont: Freygeister (wie Anm. 97, S. 129), S. 58) oder dem Abt des Klosters Einsiedeln, Konrad Tanner (1752–1825), der in Bezug auf die Literatur „die Neuerungssucht der Aufklärer und ihres Publikums“ (Marti: Ausgleichsprozesse (wie Anm. 154, S. 452), S. 167) bemängelte. Tanner setzte sich zwar für pädagogische Reformen ein, sah aber den Glauben beispielsweise durch die Lektüre weltlicher Bücher oder die Pressefreiheit gefährdet. 432 Davor warnte beispielsweise Johann Kaspar Ruef, der Herausgeber der Freyburger Beyträge, vgl. Krenz: Konturen (wie Anm. 43, S. 13), S. 170.
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tern, worin die von ihnen beklagte „blinde Dunkelheit“⁴³³ denn überhaupt bestehe. Die Infantilisierung und die Diminution der Aufklärer dienten Kronenberger dazu, sie als substanzlose Schwätzer zu charakterisieren. Dass er die aufklärerische Kritik wiederholt als „Mode“⁴³⁴ abtat, sollte daher ihren fluiden, unbeständigen Charakter sowie die Oberflächlichkeit ihrer Vertreter unterstreichen. Da Kronenberger derselben Generation wie Stammel angehörte und nur sieben Jahre älter als dieser war, ist es unwahrscheinlich, dass er die Rezeption der Aufklärung zu einem Generationenkonflikt erheben wollte, als die sie der anonyme Weltmann im Streit um Klosterreformen oder Castello in Bezug auf das Verhältnis zwischen Kaplan und Pfarrer deuteten.⁴³⁵ Indem das lyrische Ich das ‚Herrchen‘ fragt, „[i]n wem dann unserer Zeiten Licht“⁴³⁶ bestünde, wird deutlich, worin für Kronenberger der Knackpunkt lag: Licht im Sinne von Erkenntnis konnte aus seiner Sicht allein von Gott und nicht von zeitgenössischen Schriftstellern und Philosophen ausgehen. Diese waren für ihn „Schwärmer“, die sich nicht auf eigene Ideen stützen, sondern nur die „alten Lästerungen“ und die „alte Schmähsucht“⁴³⁷ weitertrieben. Es stellte für ihn keinen Widerspruch dar, den Aufklärern gleichzeitig sowohl mangelnde Innovation als auch Geschichtsvergessenheit vorzuwerfen. Für ihn war einzig relevant, dass sie sich aus seiner Sicht mit ihrer Kritik auch „an die Kirche, und an Gott“⁴³⁸ wagten. Ausdrücklich warnte er in seiner Rede über Aufklärung die Aufklärer, die „Glorie der Majestät, und [die] Geheimnisse Gottes“⁴³⁹ anzutasten. Dass die Kirchen- und Religionsfeindlichkeit, die er der Aufklärung unterstellte, in ihrer Pauschalität nicht zutraf, nahm Kronenberger entweder nicht wahr oder es spielte für ihn keine Rolle. Zwar verdammte er den Verstandesgebrauch nicht völlig, dieser durfte sich jedoch nur in engen Grenzen rein weltlicher Themen bewegen. Wie zum Beweis berichtet das lyrische Ich von einem Wirtshaus-Gespräch, bei dem die Teilnehmer sich erfreut darüber gezeigt hätten, den „Aberglaube und die Vorurteile“ schwinden zu sehen sowie den Glauben an „Höll und Teufel“. Papst 433 Jeweils Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 85. 434 Ebd., S. 62. Der aus dem französischen entlehnte Begriff tauchte seit den 1720er Jahren im Deutschen auf und diente als Spottbezeichnung für deutsche Soldaten, die sich nach Vorbild der Franzosen kleideten. Bezog sich der Begriff zunächst auf die Kleidung, erweiterte sich seine Bedeutung im 18. Jahrhundert und umfasste nun den aktuellen Zeitgeschmack in allen Lebensbereichen. Vgl. die Angabe ‚Mode‘ in der Onlineversion des Deutschen Wörterbuchs von Jacob und Wilhelm Grimm: http://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemma=mode [abgerufen am 17.9.2018]. 435 Zum Weltmann siehe Kapitel 3.1.2 und zu Castello Kapitel 3.2. 436 Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 85, Hervorh. A. K. 437 Ebd., S. 92. 438 Ebd., S. 86. 439 Jeweils Kronenberger: Kanzelreden (wie Anm. 164, S. 454), S. 28.
508 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? und Priester fänden kein Gehör mehr, sodass man „immer glauben [könne], was man will.“⁴⁴⁰ Einerseits möchte Kronenberger mit diesem Beispiel davor warnen, wie stark die Aufklärung mit ihren schädlichen Auswirkungen schon bei vielen einfachen Menschen verankert sei. Andererseits bleiben die Wirtshausgäste dem lyrischen Ich wiederum Beweise für ihre Aussagen schuldig. Damit will Kronenberger zeigen, dass die Menschen nur die Ideen selbsternannter „große[r] Geister“⁴⁴¹ nachredeten und sie gar nicht verstünden. Auf diese Weise versucht er, den Vorwurf der Aufklärer, die Kirche fordere blinden Glauben, auf diese selbst anzuwenden, da ihre Ideen ebenfalls nur nachgebetet würden. Kronenberger schwankte daher zwischen der Warnung vor aufklärerischen Ideen einerseits und der Häme über ihren vermeintlich geringen Verständnis- und Durchsetzungsgrad andererseits. In seiner Rede über Aufklärung setzt er die Aufklärer mit dem griechischen Göttersohn Phaeton gleich, um ihnen ihre eigene Überheblichkeit und die Überschätzung ihrer Ideen vor Augen zu führen.⁴⁴² Der Vergleich mit Phaeton zeigt außerdem, dass Kronenberger in der Verbreitung der Aufklärung respektive von Wissen den Grundstein für Chaos und Destruktvität angelegt sah: Scharf kritisierte er, dass allerorten Bücher erschienen, die erklärten, Hunger, Krankheiten oder Naturkatastrophen seien „Wirkung von den Elementen […] / Und Daß es eine kahle Meinung sey, / Es wäre Gottesstrafe auch dabey“⁴⁴³. Erklärungsmuster, die Schicksalsschläge als das Ergebnis von Naturgesetzen darstellten, betrachtete Kronenberger als unvereinbar mit seinem Gottesbild. Auch hielt er sie für problematisch, da sich Ruhe und Ordnung aus seiner Sicht nur durch die Drohung göttlicher Strafe aufrecht erhalten ließen. Indem sich nun vom Theologen bis zum Arzt jeder als „Philosoph“ bezeichne, sah er das hergebrachte Weltbild in Gefahr: Als „heidnischer Philosoph“ würde der Theologe „aus metaphisischem Skeptizismus die Geheimnisse der Religion“ bekämpfen, der Naturkundler „die Schöpfungsgeschichte und offenbarte Lehrgebäude“ bestreiten, der Mathematiker fände „Präadamiten, und sogar Chineser vor der Erschaffung 440 Jeweils Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 87. 441 Ebd., S. 92. 442 „Aufklärung, Licht, Morgendämmerung! wann wird denn euer heller Mittag anbrechen, damit wir Sterblichen in eurem Sonnenglanze euch und eure Phaetonen bewundern? Wann der holde Blick eures Götterreizes die finstern Nebel der religiösen Dummheit, des Aberglaubens, der Volksverführung verscheuchen? – Doch was seufzen wir einem Strahle entgegen, der schon in seiner Morgenröthe die halbe Welt verbrannte, und schon wie die übelgeleiteten Sonnenpferde des Phaeton im Zeichen des Krebses untergieng.“ Kronenberger: Kanzelreden (wie Anm. 164, S. 454), S. 24 f. 443 Ders.: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 85. – Das Deutungsmuster, die „Aufklärung sei destruktiv und gemeingefährlich“ (Albrecht/Weiß: Bemerkung (wie Anm. 93, S. 128), S. 18), zieht sich von Anfang an durch die Gegenaufklärung.
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der Welt“ und der Richter ließe sich bei der Urteilsfindung „statt von Religion, von natürlicher Rechtschaffenheit lenken.“⁴⁴⁴ Das Beispiel zeigt, dass einerseits die Begriffe Philosoph oder Philosophie im Sprachgebrauch orthodoxer Katholiken allein deshalb schon als Schimpfworte fungierten, weil es sich um Selbstbezeichnungen der Aufklärer handelte. Andererseits kommt darin zum Ausdruck, dass sich die Philosophie als Wissenschaft von der Theologie zu emanzipieren begann und natürliche, nicht auf religiösen Vorstellungen basierende Deutungsmuster und Erklärungen immer selbstverständlicher wurden. Diese Entwicklung kam in den Augen Kronenbergers jedoch einem Weltuntergang gleich. Als dessen Vorzeichen interpretierte er die Revolution und ihre Folgen, zu denen er unter anderem die „Entehrung des Heiligthums, Todtschläge der Priester, Abwürdigung der Kirche, ihres Hauptes und ihrer Glieder, […] Preßfrechheit und Pasquillantenwuth“⁴⁴⁵ zählte. Dabei bezog er sich nur vordergründig auf innerfranzösische Vorgänge. Vielmehr war er überzeugt, auch das Linksrheinische aufgrund der Besetzung bald in „Barbarey“⁴⁴⁶ versinken zu sehen. Kronenberger beließ es jedoch nicht bei diesem vernichtenden Bild der Aufklärung, sondern setzte ihm sein Verständnis ‚wahrer‘ Aufklärung entgegen: Diese definierte er in Anlehnung an den ehemaligen Münchner Jesuiten Matthias von Schönberg (1734–1792) als „Forschung im Dunkeln nach Wahrheit.“⁴⁴⁷ Schönbergs Strategie, sich die Aufklärung begrifflich anzuverwandeln, aber gleichzeitig orthodoxe Positionen zu vertreten, machte sich Kronenberger damit ebenfalls zu eigen.⁴⁴⁸ Für Kronenberger bestand „die wahre, die Weltbeglückende, die selige, Gott, und dem Staat nützliche Aufklärung“⁴⁴⁹ in einer „Aufklärung des Herzens“⁴⁵⁰.
444 Jeweils Kronenberger: Kanzelreden (wie Anm. 164, S. 454), S. 31 f. 445 Ebd., S. 34. 446 Ebd., S. 41. 447 Ebd., S. 27. Schönbergs Definition lautete wörtlich: „Aufklärung ist Beleuchtung des Dunkeln durch Forschung nach Wahrheit.“ Matthias von Schönberg: Kurze Übersicht der wichtigern Wahrheiten zur bessern Aufklärung über Menschenkenntniß und Gotteskenntniß, München 1788, o. S. 448 Als kurfürstlich-geistlichem Rat unterstand Schönberg der Verlag Goldenes Almosen, der religiöses Schrifttum in Form günstiger Gebets-, Andachts- und Erbauungsbücher verbreitete. Schönberg verteidigte in seinen Schriften u. a. die kirchliche Zensur und die Unfehlbarkeit der katholischen Glaubenslehre. Darüber hinaus verfasste er mehrere „aufklärerisch drapierte[…], doch orthodoxe Positionen spiegelnde[…]“ (Haefs: Christentum (wie Anm. 627, S. 243), S. 282) Lehrbücher für die Jugend. – Vgl. auch Spehr: Aufklärung (wie Anm. 89, S. 127), S. 126–127; Schaich: Weissenbach (wie Anm. 89, S. 127), S. 81. 449 Kronenberger: Kanzelreden (wie Anm. 164, S. 454), S. 40. 450 Ebd., S. 35.
510 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Der begrifflichen Ähnlichkeit zur aufklärerischen Pädagogik war er sich bewusst. Allerdings verstand er unter Herzensaufklärung gerade nicht weltliche Bildung, sondern die völlige Fokussierung auf Gott, da dieser die ‚Wahrheit‘ sei, nach der die Aufklärung forsche.⁴⁵¹ Diese Wahrheit lag für ihn im Evangelium begründet. Statt sich mit „romanhaften Tugendheldinnen“ oder Forderungen von „Freiheit und Gleichheit“ zu beschäftigen, sollten die Menschen sich endlich wieder an wirklichen Heiligen sowie am „göttlichen Heiland“⁴⁵² orientieren. Zu diesem Zweck empfahl er, die Nachfolge Christi (De imitatione Christi) von Thomas von Kempen (1380–1471) zu lesen. Darin sah er einen „Kommentar über die Aufklärung, welche jeder forschende Geist in den Evangelien, in den Sendschreiben der Aposteln, in den Sprüchen Salomons, in den Psalmen und in der ganzen göttlichen Schrift antrift.“⁴⁵³ Hier zeigt sich erneut, dass Kronenberger für den orthodoxen Katholizismus beanspruchte, in der ‚wahren‘ Nachfolge Christi zu stehen. Diese anzutreten, hieß für ihn allerdings nicht, im Sinne der Devotio moderna die individuelle Frömmigkeit zu Lasten der Kirche zu betonen.⁴⁵⁴ Stattdessen ging es ihm um die Bewahrung einer „Sittenlehre, die von Hölle, Ewigkeit und Glaube redet“⁴⁵⁵ und „Abtödtung, Gerechtigkeit, Ueberwindung, Selbstverläugnung“⁴⁵⁶ predigte. Diejenigen, die seine ‚wahre‘ Aufklärung beherzigten, waren zu einer solchen, wahrhaft das Leid Christi nachempfindenden „Lebensart, die nicht schmeichelt“⁴⁵⁷, fähig. Die Vertreter der ‚falschen‘, nur den Verstand betonenden Aufklärung hingegen waren aus seiner Sicht dazu zu schwach. In Umkehrung der aufklärerischen Licht-Metaphorik verband Kronenberger daher mit seiner Aufklärung des Herzens das Licht, mit der Verstandesaufklärung hingegen die Finsternis.⁴⁵⁸
451 Auch für Goldhagen war die „Offenbarung Gottes in der christlichen Religion“ die ‚wahre‘ Aufklärung. Vgl. Dumont: Freygeister (wie Anm. 97, S. 129), S. 40. 452 Jeweils Kronenberger: Kanzelreden (wie Anm. 164, S. 454), S. 39. 453 Ebd., S. 37. – Die Nachfolge Christi stellte das Hauptwerk der Devotio moderna dar, einer religiösen Erneuerungsbewegung des Spätmittelalters, die ihren Ursprung in den Niederlanden hatte. Die Devotio moderna vertrat eine „neue Demutstheologie […], welche insbesondere in einer bestimmten Art von Nachfolgefrömmigkeit ihren Schwerpunkt hatte.“ Die geistlichen Ermahnungen der Nachfolge Christi forderten zur Weltabkehr auf und „zu einem asketischen Leben, in dem die Liebe zu Christus das alles beherrschende Element ist.“ Jeweils Athina Lexut: Differenzdiskurse, in: Schnabel-Schüle [Hrsg.]: Reformation (wie Anm. 11, S. 421), S. 14–45, hier S. 18. 454 Zur individuellen Frömmigkeitsauffassung der Devotio moderna vgl. ebd., S. 18. 455 Kronenberger: Kanzelreden (wie Anm. 164, S. 454), S. 41. 456 Ebd., S. 40. 457 Ebd., S. 41. 458 Einer ähnlichen Vorgehensweise bediente sich in einer Predigt der Schweizer Kapuziner Erasmus Baumgartner (1751–1827). Er pries darin „die frühere goldene Zeit der Gottesverkündigung
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Wenngleich für Kronenberger unzweifelhaft feststand, dass ‚wahre‘ Aufklärung mit der Anerkennung der angestammten und gottgegebenen weltlichen Ordnung Hand in Hand ging, plädierte er dennoch an die „Weltbeherrscher ihren Unterthanen, / Dem höchsten Gotte ähnlich, Gutes [zu] thun“. Ihm war nicht entgangen, dass die Missstände, die die Aufklärer anprangerten, nicht pauschal als falsch zurückgewiesen werden konnten. Daneben lag auch für ihn in der Erziehung der Jugend der Schlüssel zur Verbreitung seiner eigenen Ansichten. So betonte er in seinem Gedicht, die Zeiten seien erst dann „wahrhaft aufgeklärt“, wenn nicht nur wieder „die Stimm’ der wahren Kirche“ gehört, sondern „in Schulen reine Wahrheit“⁴⁵⁹ gelehrt würde. Mit ‚Reinheit‘ meinte er selbstverständlich die Vermittlung göttlicher Wahrheit. Nicht nur die Aufklärer hatten das Potenzial von Bildung erkannt, um für die Zukunft die eigenen Positionen zu sichern, sondern auch ihre Gegner. Statt die Aufklärung einfach zu verdammen, versuchte sich Kronenberger bewusst den Begriff sowie Themen wie Bildung und Erziehung anzueignen und mit seinen eigenen Deutungen zu verknüpfen. Johann Kaspar Müllers Verständnis von Aufklärung Auch Müller hielt es für unabdingbar, den Begriff Aufklärung zu definieren, da „zu unsern Zeiten, […] so vieles für und wider die Aufklärung gesprochen“ und diese allzu oft von „einer gewissen Klasse von Menschen zum verächtlichen Schimpfwort gemacht“ würde. Im Gegensatz zu Kronenberger, der dem Vernunftgebrauch enge Grenzen setzte, ging Müller von der Gottgegebenheit der Vernunft aus, weshalb das Selbstdenken bei ihm im Mittelpunkt seines Verständnisses von Aufklärung stand. Jeder, der zum „Selbstdenker“ werden wolle, müsse seinen Verstand auch einsetzen, „denn derjenige, welcher seine Denkkräfte nicht erreget, entwickelt, übt, selbst denkt, und über das, was er sieht und hört, keine Untersuchung und Prüfungen anstellt, der wird nie zu einer aufgeklärten und vorurtheilsfreyen Denkungsart gelangen“. In diesem negativen Fall bliebe der Mensch „ganz von der Unwissenheit, von seinen Leidenschaften, Vorurtheilen und Irrthümern beherrscht und geleitet“ und stürze sich dadurch selbst ins Elend. Ohne die Schulung und den Gebrauch seines Verstandes sei er nicht in der Lage, sich selbst zu helfen, da er die Ursache seines Elendes nicht erkennen könne. Von „Angst und Furcht umhergetrieben“⁴⁶⁰, würde er „entweder einer unsichtbaren Macht oder der Bosheit seiner Mitmenschen“ die Verantwortung für seine Situation zuschreiben. Zwar
als Epoche der Aufklärung“ und beklagte die Finsternis seiner Epoche, wo Aufklärung „die Verdunklung der Religion“ (Marti: Ausgleichsprozesse (wie Anm. 154, S. 452), S. 136) meine. 459 Jeweils Kronenberger: Kronik (wie Anm. 38, S. 427), S. 93. 460 Jeweils Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 150.
512 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? stellte Müller die Existenz Gottes nirgends in Abrede, dennoch deutet er an dieser Stelle an, den Ursprung der Religion – und damit den Glauben an Gott – zu einem erheblichen Teil in der Unwissenheit der Menschen liegen zu sehen. Gerade in der Emanzipation der Philosophie und der Naturwissenschaften von theologischen Erklärungsmustern lag für Müller die Chance begründet, „der Einbildungskraft und der Unbekanntschaft mit der Natur, ihren Gesetzen, Kräften, Erscheinungen und Wirkungen“⁴⁶¹ endlich entgegenzutreten. Deutlich wird, dass Müller von einem scharfen Gegensatz zwischen Vernunft und menschlichen Trieben ausging. Die Fähigkeit selbst zu denken, versetzte den Menschen aus seiner Sicht in die Lage, seinen Leidenschaften Herr zu werden und damit deren Missbrauch durch andere zu verhindern. Ansonsten laufe der Mensch Gefahr, sich leichtgläubig von anderen „leiten und führen [zu lassen], ohne zu wissen und einzusehen, wohin, noch warum er geführt und geleitet werde.“⁴⁶² Der Gebrauch der Vernunft diene daher dazu, den Menschen von anderen (tierischen) Wesen zu unterscheiden und ihn über diese zu erheben. Interessant ist, dass Müller die Triebhaftigkeit nicht nur deshalb als gefährlich erachtete, weil der Mensch durch sie zu etwas Ungewolltem verleitet werden konnte. Stattdessen sah er vor allem die potenzielle Instrumentalisierung von Bedürfnissen durch eine zweite Person kritisch und weniger die Leidenschaften an sich. Wie schon im Zusammenhang mit seinem Plädoyer für Meinungsfreiheit stellte er klar, dass er die Vernachlässigung der Verstandeskräfte als „sträfliche Sünde“ erachtete. Allerdings hielt er es noch für entschuldbar, geschehe dies aus „Faulheit und schlechte[m] Selbstvertrauen“. Unentschuldbar sei es jedoch auch hier, wenn ein anderer „dem Menschen, über diese Gegenstände nachzudenken, Untersuchungen und Prüfungen darüber anzustellen, nicht erlaub[e].“ Dass dadurch allein die Unwissenheit befördert würde, die wiederum „die Quelle des Irr- und Unglaubens, der Sittenlosigkeit, des Irrthums und der Vorurtheile jeder Art“⁴⁶³ sei, war für Müller offenkundig.
461 Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 151. Abfällig äußerte sich Müller darüber, dass die Philosophie noch immer von einigen katholischen Theologen als die „Ancilla theologiae (eine Magd der Theologie)“ (ebd., S. 138 f.) betrachtet würde. – Zwar erfuhr die Philosophie vonseiten aufklärerischer Theologen eine größere Wertschätzung. Trotzdem galt sie den meisten nur als ‚Ansammlung von Meinungen‘, weshalb auch sie der Philosophie im Vergleich zur Theologie immer noch eine untergeordnete Rolle zuwiesen. Vgl. Handschuh: Wahre Aufklärung (wie Anm. 43, S. 13), S. 33–35. 462 Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 151. 463 Jeweils ebd., S. 153.
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In Bezug auf die Vorurteile, bei denen er zwischen denen „des Alten und [des] Neuen“⁴⁶⁴ unterschied, ging Müller indirekt auf Kronenbergers Vorwurf der aufklärerischen Neuerungssucht ein. Er gestand ein, dass gerade junge Leute versucht seien, alles Alte unbesehen zu verwerfen, weil „es nicht Neu ist und das Gepräge der Seltenheit an sich trägt.“⁴⁶⁵ Daraus dürfe jedoch nicht geschlossen werden, dass „alles Alte besser wäre als das Neue“. Denn dies würde bedeuten, dass die Menschen noch wie ihre Vorfahren in den Wäldern leben müssten, Mönche „Hexenpulver, Teufelsgeissel etc. gegen Hexen und Teufel“⁴⁶⁶ verkaufen könnten, Hexen verbrannt würden und man sich statt durch Blitzableiter noch durch Glockengeläut vor Gewitter schützen müsse. Mit dieser Aufzählung wollte Müller deutlich machen, dass bereits einige aufklärerische Errungenschaften Anwendung fanden und zu einem selbstverständlichen Bestandteil des Alltags geworden waren. Wie für die meisten Aufklärer entsprang auch für ihn der Aberglaube aus Vorurteilen, insbesondere aus denjenigen, welche „man auf das Ansehen fremder Autoritäten“⁴⁶⁷ annehme. Aufklärung definierte er darum schlicht als „Befreyung von Vorurtheilen und Aberglauben“. Der Mensch, der die Fähigkeit besitze, „das Wahre selbst zu finden ohne Vorurtheil zu prüfen und mit gegründeter Ueberzeugung einzusehen was er annimmt“⁴⁶⁸, könne folglich als aufgeklärt bezeichnet werden. Zwar nannte Müller als Beispiel für ‚fremde Autoritäten‘ Priester, die andere zum Glauben an Wunder verleiten würden, und bezog sich auch an anderer Stelle vor allem auf die Auswirkung mangelnden Verstandesgebrauchs in Religionsdingen. Dennoch vertrat er unverkennbar ein weitgehendes Verständnis von Aufklärung, das auch Auswirkungen auf den politischen Bereich hatte. So war aus seiner Sicht zunächst allein die Vernunft dazu bestimmt, „den Menschen zu regieren und zu führen.“⁴⁶⁹ Niemand dürfe darum behaupten, „das Volk soll und darf [etwas] nicht wissen.“⁴⁷⁰ Die Allgemeinheit dieser Aussagen legt nahe, dass Müller dabei nicht nur an die Geistlichkeit dachte, sondern auch an die weltliche Obrigkeit, die ihrem Volk ebenfalls das eigenständige Denken nicht untersagen dürfe. Die Vorstellung, ein Fürst oder König habe seine Gewalt von Gott erhalten, weshalb
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Ebd., S. 153. Ebd., S. 155. Jeweils ebd., S. 154. Ebd., S. 155. Jeweils ebd., S. 155 f. Ebd., S. 152. Ebd., S. 153.
514 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? man ihm klaglos gehorchen müsse, verweist er ins Reich der ‚alten Vorurteile‘.⁴⁷¹ Auch deutet in seiner Schrift nichts darauf hin, dass er nach dem weitverbreiteten Verständnis der Aufklärer unter „Volksaufklärung“⁴⁷² einen hierarchischen Prozess verstand. Vielmehr waren aus seiner Sicht alle Menschen von ihrer Anlage her zum Selbstdenken befähigt.⁴⁷³ Ausdrücklich forderte er, dass „das Licht, das allen Menschen leuchten soll,“ nicht „nur einer Klasse von Menschen“⁴⁷⁴ vorbehalten sein dürfe. So konkretisierte er seine Definition von Aufklärung, indem er sie „als stufenmäßige Entwickelung des Geistes aus dem Stande der Unmündigkeit zur vorurtheilsfreyen Selbstthätigkeit im Denken und Handeln nach den Gesetzen der Vernunft“⁴⁷⁵ beschrieb. Auch hier scheint er sich erneut an Kant orientiert zu haben. Wie bereits in Zusammenhang mit Müllers Vorstellung einer ‚wahren‘ Religion deutlich wurde, nahm er ausgehend von der Rezeption und Interpretation der Philosophie Kants ein dem Menschen inhärentes „Vernunftgesetz, Sittengesetz oder Moralgesetz“ an, welches das Gewissen leite. Dieses Vernunftgesetz erstreckte sich für ihn nicht nur auf den religiösen Bereich, sondern auf alle Lebensbereiche: Es stelle „ein Gesetz auf, wornach wir alle unsere Handlungen beurtheilen müssen.“ Den Inhalt diese Gesetzes formulierte er in Abwandlung des Kant’schen Imperativs: „Handle so, daß du in dem Augenblick wollen kannst, jeder andere soll so nach deinem Gesetze an deiner Stelle handeln.“⁴⁷⁶ Diese Aussage glaubte er in Mt 7,12 wiederzufinden.⁴⁷⁷ Die Verknüpfung von Kants zentralem ethischen Prinzip mit seiner vermeintlichen Entsprechung in den Evangelien war kennzeichnend für die Kant-Rezeption der (Trierer) Aufklärer.⁴⁷⁸ Diese Synthese diente Müller auch dazu, die Aufklärung als Gottes Wille darzustellen, denn das Sittengesetz könne nur dann zur Anwendung kommen, wenn die Vernunft aufgeklärt sei:
471 Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 154: „Der Satz, daß man den Fürsten und Königen wie Gott gehorchen müßte, weil sie unmittelbar von Gott die Gewalt bekommen hätten, ist lange für wahr und richtig gehalten worden, ohngeachtet er falsch ist und auf einem Vorurtheil beruht.“ 472 Ebd., S. 163. 473 Anders z. B. Castello und Prestinary: siehe Kapitel 3.2. 474 Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 164 f. 475 Ebd., S. 156. 476 Jeweils ebd., S. 159. 477 Nach der Einheitsübersetzung lautet das Zitat: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten.“ Siehe dazu auch Kapitel 3.1.1. 478 So wohl auch der Kant-Anhänger Sebastian Mutschelle (1749–1800), vgl. Andrea Esser: Mutschelle, Sebastian, in: Neue Deutsche Biographie 1997, S. 658–659. Zu Mutschelle siehe unten Kapitel 4.2.3, Anm. 484.
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Ohne diese Aufklärung dieses Vernunftgesetzes wird der Mensch niemals richtige Vorstellungen von Gott, seinen Gebothen und den Pflichten, die er gegen sich und seinen Nebenmenschen zu beobachten hat, erhalten, und ohne sie ist keine Tugend möglich. Von ihr hangt das Wohl der menschlichen Gesellschaft, die öffentliche Sicherheit, Ruhe und Glückseligkeit ab; deswegen fordert uns auch das Geboth Gottes (2 Kor. 4, 6.) (1. Tim. 2, 4.) dazu auf, und das erhabene Beyspiel Jesu, dessen einziges Bestreben war, die Wahrheit zu lehren, und den Menschen zur sittlichen Aufklärung hinzuführen (Joh. 12, 46) (17, 17–19).⁴⁷⁹
Was das Verhältnis von Religion und Aufklärung zueinander betraf, vertrat Müller damit zwar eine Linie, wie sie auch nach der Wende zum 19. Jahrhundert noch bei aufklärerischen Theologen zu finden war: Diese fassten die Aufklärung als „genuine Intention Gottes in seinem Umgang mit dem Menschen“⁴⁸⁰ auf, die durch die Lehre Jesu verwirklicht würde. Müller ging allerdings darüber hinaus, da sich aus seiner Sicht der Vernunftgebrauch zwingend auch auf die Religion erstrecken musste. Nur so erhalte der Mensch Einblick in „das Irrige, Unwürdige und Schädliche“ seiner Vorstellungen und sei fähig, „die richtigen Mittel zu ergreifen, über seine Religionsideen vernünftig nachzudenken und solche sorgfältig zu prüfen.“⁴⁸¹ Der Glaube war für Müller gerade kein auf Dogmen beruhendes, festes Lehrgebäude, sondern nur eine Idee, eine Vorstellung, die immer wieder mit der Vernunft abgeglichen werden musste. Aus diesem Grund hielt er ein eigenständiges Bibelstudium für unerlässlich. Auf den Priester als Vermittler sollten die Menschen nicht mehr angewiesen sein.⁴⁸² Müller war überzeugt, der Mensch könne nur durch die Aufklärung seine Pflichten gegen seine Mitmenschen und gegen Gott erkennen, weshalb einzig der aufgeklärte Mensch auch „ein wahrer Christ“ sei. Jeder, der die Aufklärung unterdrücke und als Gefahr für die Religion darstelle, sei deshalb „ein Verräther an der Menschheit, ein Widersager der Lehren Jesu und ein Unterdrücker der Vernunft“, der nur beabsichtige, „das Volk zu betrügen“⁴⁸³. Indem Müller als Beweggrund der Aufklärungsgegner die Angst davor nennt, ein aufgeklärtes Volk würde ihnen nicht mehr gehorchen, wird erneut die politische Implikation seines Aufklärungsver479 Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 160. 480 Handschuh: Wahre Aufklärung (wie Anm. 43, S. 13), S. 42. 481 Jeweils Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 156. 482 Es gehörte zu einer wichtigen Forderung der katholischen Aufklärung, den Gläubigen aller Stände den (sprachlichen) Zugang zu den Texten der Bibel zu ermöglichen und sie zum eigenständigen Bibellesen anzuhalten. Dadurch sollte die ‚wahre‘ Aufklärung befördert werden. Allerdings kam dem Pfarrer als Vermittler weiterhin eine wichtige Rolle zu. Auch war unter den Theologen umstritten, ob die Gläubigen die ganze Bibel oder nur Auszüge zum Lesen erhalten sollten. Vgl. Weber: Bibellesen (wie Anm. 183, S. 69), S. 199–203. Siehe zur Bedeutung der Bibel für die katholische Aufklärung auch Kapitel 3.1.1. 483 Jeweils Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 163.
516 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? ständnisses deutlich. Vor allem ging es ihm jedoch darum, orthodoxen Katholiken wie Kronenberger nachzuweisen, die eigentlichen Verräter der Religion zu sein. Den Priester und Kant-Anhänger Sebastian Mutschelle zitierend, stellte er klar, dass niemand und schon gar nicht die Geistlichkeit das Recht habe, die Aufklärung einzuschränken: So habe Gott „in einer Sache, die alle Menschen angeht, allen eine Art von gleichem Lichte“ mitgeteilt, „wie er eben dieselbe Sonne über alle aufgehen und allen scheinen läßt.“⁴⁸⁴ Vermutlich kannte Müller auch Mutschelles eigene kurze Schrift über die Aufklärung, in der dieser ebenfalls das Verhindern von Aufklärung – dem gleichsam natürlichen Streben nach Erkenntnis – mit der Zerstörung von „Gottes Werk“⁴⁸⁵ gleichsetzte. Für eine gelungene Zusammenstellung aller ‚Feinde‘ der Aufklärung hielt Müller indes ein gleichnamiges, 1790 in Wielands Neuem Teutschen Merkur erschienenes Gedicht, das er Kronenbergers ‚Liedchen‘ über die Aufklärung entgegensetzte.⁴⁸⁶ Der darin enthaltene beißende Spott über jene, die nur aus Eigeninteresse die Aufklärung zurückhalten wollten, jedoch im Grunde nur arme Wichte seien,
484 Jeweils Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), S. 165. Müller zitiert wörtlich aus Sebastian Mutschelle: Über das sittlich Gute, München 1788, S. 162 f. Mutschelle bezog sich allerdings an dieser Stelle auf Philosophen, denen er den Anspruch auf alleinige Erkenntnis absprach. – Als Mitglied des Jesuitenordens unterrichtete Mutschelle zunächst am Jesuitengymnasium in München. Nach der Aufhebung des Ordens erfolgte seine Priesterweihe und die Übernahme einer Pfarrstelle im Bistum Freising. 1779 übernahm er dort das Schulkommissariat und setzte sich für Reformen im Schulwesen ein. In verschiedenen Werken setzte er sich mit Kants Philosophie auseinander. Aufgrund seiner vermeintlich unkirchlichen Einstellung musste er schließlich seine Ämter niederlegen und übernahm bis 1799 erneut eine Pfarrei. Im selben Jahr wurde er rehabilitiert und als Professor für Moral ans Münchner Lyzeum berufen. Vgl. Esser: Mutschelle (wie Anm. 478, S. 514); Josef Rauscher: Sebastian Mutschelle (1749–1800). „Ein Mann ganz nach dem sittlichen Gesetze der Vernunft – ist ein Mann nach dem Herzen Gottes”, in: Fischer [Hrsg.]: Kant (wie Anm. 348, S. 491), S. 207–221. 485 Sebastian Mutschelle: Über die Aufklärung. Eine Rede bey Austheilung der Schulpreise in Freysing 1792, in: ders. [Hrsg.]: Vermischte Schriften oder philosophische Gedanken und Abhandlungen, 2., verb. Aufl., München 1799, S. 3–30, hier S. 11. Das Werk ist in erster Auflage 1793 erschienen. – Mutschelle definierte Aufklärung ebenfalls ausgehend von Vernunft, die auch bei ihm den Menschen vom Tier unterschied und ihn zu einem von Gott herausgehobenen Wesen machte. Ebenso wie Müller ging er von der stetigen Vervollkommnung des Menschen aus. Auch sah er sich deshalb zu einer Auseinandersetzung mit dem Begriff veranlasst, weil ihn viele als Schimpfwort benutzen und die Aufklärung für alle zeitgenössischen Übel verantwortlich sehen würden. Im Gegensatz zu Müller warnte Mutschelle allerdings auch vor einer Übertreibung der Aufklärung, die dazu führe, dass „mit dem Aberglauben auch die Religion“ (ebd., S. 19) weggeworfen würde. Daneben verweist er auf Erfindungen wie die des Schießpulvers, was zu Eroberungen und Kriegen missbraucht worden sei. Insgesamt überwiegen für ihn jedoch die Vorteile die Nachteile der Aufklärung deutlich. 486 Siehe Die Feinde der Aufklärung, in: Der neue teutsche Merkur 1 (1790), S. 27–32.
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erschien Müller eine passende Antwort auf Kronenbergers Schmähungen gegen die Aufklärer zu sein.⁴⁸⁷ Ziel dieser sprachlichen Auseinandersetzung zwischen katholischem Aufklärer und orthodoxem Katholiken war demnach nicht, die Gegenseite diskursiv zu überzeugen, sondern die Richtigkeit der eigenen Position den eigenen Lesern zu beweisen. Die Aufklärung – Chance oder Gefahr? Auch wenn Müllers Definition der Aufklärung unabhängig von den politischen Umständen Gültigkeit besaß, wird dennoch an verschiedenen Stellen deutlich, dass er die französische Besetzung des Rheinlandes als Möglichkeit betrachtete, die Aufklärung auf eine neue Stufe zu heben. So stellte die Verbreitung aufklärerischer Ideen zwar zweifellos noch immer ein Elitenprojekt dar. In der Selbstwahrnehmung der Aufklärer zog jedoch die bürgerliche Gleichheit gleichsam eine Verankerung der Aufklärung in breiten Bevölkerungsschichten nach sich, was nach ihrer Auffassung zuvor durch Teile der Priester und Mönche mit ihrem Beharren auf blindem Glauben und vermeintlich abergläubischen Frömmigkeitsformen verhindert worden sei. Die innerkonfessionelle Debatte um eine Religion nach aufgeklärten Maßstäben war für sie daher untrennbar mit der politischen Entwicklung verbunden. In einer Verquickung religiöser und politischer Sprache jubilierte Stammel in einem 1798 im Journal für das Saardepartement erschienenen Artikel, dass nun „der menschliche Geist den Stufengang seiner Veredelung und Ausbildung“ stetig voranschreite, sodass das „Reich Gottes“ endlich beginne und das Volk seine „geraubten Rechte“⁴⁸⁸zurückfordere. Aufgrund seiner vierjährigen Pfarrtätigkeit in Gusterath glaubte er sich gerüstet, literarisch zur „Veredelung und Bildung“⁴⁸⁹ der Landbevölkerung beitragen zu können. Das Selbstdenken, das die Aufklärer 487 Eine Liste der Schimpfwörter, mit denen Kronenberger Stammel belegt habe, lässt Müller am Ende seines eigenen Werkes folgen. In dem von Müller zitierten Gedicht werden die ‚Feinde der Aufklärung‘ u. a. als alte, kranke Männer, Magier, jugendliche Schwärmer, Schwachköpfe oder Kleinkriminelle verhöhnt. 488 Jeweils Haan: Journal 6 (wie Anm. 434, S. 384), S. 524. 489 Ebd., S. 527. Dass Stammel im Gegensatz zu Müller die Aufklärung stärker von ‚oben‘ nach ‚unten‘ dachte, zeigt sich auch in Kapitel 4.2.1. – Stammels an dieser Stelle veröffentlichter literarischer Beitrag zur ‚Veredelung‘ der Landbevölkerung stellte einen fiktiven Dialog zwischen den beiden Bauern Martin und Peter dar. Vertrat Martin die Seite Frankreichs und der Republik, repräsentierte Peter die Gruppe der Skeptiker, denen der Krieg schwer zugesetzt hatte. Martin bestreitet das Leid, das der Krieg verursachte, nicht, wirbt aber um Verständnis für die Situation der tapferen französischen Soldaten. Er legt Peter dar, dass sie alle nur Spielbälle der Großen seien und erinnert an die gedrückte Ausgangssituation der Franzosen vor der Revolution, die berechtigt nicht mehr bereit gewesen seien, ihr Schicksal klaglos hinzunehmen. Dafür zeigt Peter Verständnis. – Vermutlich hatte Stammel zu diesem Zeitpunkt bereits sein Priesteramt niedergelegt.
518 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? für die Religion forderten, sollte sich im Idealfall auch auf den politischen Bereich erstrecken. Die Themen, die in den innerkonfessionellen Debatten Ende der 1790er Jahre verhandelt wurden, ähnelten zwar denen in den Jahren zuvor: Es wurde über das ideale Priesterbild gestritten, über den Heiligen- und Reliquienkult, den Wunderglauben sowie allgemein über die Beschaffenheit ‚wahrer‘ Religion. Die Durchführung und spätere Rücknahme von Reformen in kurfürstlicher Zeit hatte dafür gesorgt, dass diese Fragen für orthodoxe und aufgeklärte Katholiken noch immer offen und verhandelbar schienen. Die französische Besetzung schuf jedoch neue Voraussetzungen: Die Diskussionen, die seit den 1780er Jahren über den Zölibat geführt wurden, spielten sich nun vor dem Hintergrund ab, dass die Priesterehe in Frankreich möglich war. Der Versuch der französischen Machthaber, die Religion aus der Öffentlichkeit zu verdrängen, bildete wiederum das Hintergrundrauschen vor dem die Aufklärer eine auf innerer Andacht beschränkte Religion forderten. Auch die Frage nach religiöser Toleranz wurde nun verstärkt unter dem Aspekt der Meinungsfreiheit diskutiert. Auffällig ist auch, dass sich die Aufklärer bei ihrem Ideal einer ‚wahren‘ Religion vor allem an der Philosophie des Protestanten Kant orientierten. Diese schien ihnen eine geeignete Grundlage zu sein, um eine vom Kirchenglauben losgelöste, auf Vernunft basierende Religion zu begründen. Die Vorstellung eines dem Menschen innewohnenden Sittengesetzes, das ihn zu einem moralischen und tugendsamen Leben anleitete, machte den Rückgriff auf einen strafenden Gott obsolet. Es lieferte gleichsam die Begründung für das entgegengesetzte Gottesbild der Aufklärung vom gütigen Vater. Zuträglich für die aufgeklärt-katholische Rezeption Kants war zudem die vermeintliche Übereinstimmung des kategorischen Imperativs mit einem der Hauptgebote des Evangeliums. Darüber hinaus wurde er auch herangezogen, um auf eine angeblich „eigene[…] revolutionäre[…] Tradition“⁴⁹⁰ zurückzuverweisen und die Notwendigkeit der Angliederung des linken Rheinufers an Frankreich aus der deutschen Aufklärungsphilosophie zu begründen. Obgleich sich also die aufgeklärte Elite des Erzbistums mehrheitlich auf Kant stützte, waren es in den Augen der Vertreter der Gegenaufklärung dennoch vor allem die französischen Philosophen wie Voltaire, Rousseau oder Diderot, die dem Christentum den größten Schaden zugefügt hätten: Da sie dem ‚Mutterland‘ der Revolution entstammten, mussten zwangsläufig ihre aufklärerischen Ideen den Anlass zu dieser gegeben haben.⁴⁹¹
490 Stein: Revolutionskalender (wie Anm. 67, S. 18), S. 162. 491 So thematisiert ein anonym erschienener, undatierter Kurzer Abriß einer Geschichte über die Auflösung des Curfürstenthums und Erzbisthums Trier und die Errichtung eines neuen Bisthums,
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Die Beliebtheit Kants erstreckte sich allerdings nicht nur auf die aufgeklärte Elite Triers: So weist Sebastian Mutschelles Aufklärungsverständnis Gemeinsamkeiten mit dem Johann Kaspar Müllers auf. Auch die beiden ehemaligen Mainzer Professoren Anton Joseph Dorsch und Felix Anton Blau zählten zu den Anhängern des Königsberger Philosophen. Blaus 1797 veröffentlichte Schrift Kritik der seit der Revolution in Frankreich gemachten Religionsverordnungen, die das Verhältnis von Staat und Religion theoretisch bestimmen sollte, war unter anderem durch seine Interpretation Kants beeinflusst.⁴⁹² Obwohl die Aufklärer mit ihrem Plädoyer für eine Vernunftreligion im Grunde eine deistische Position vertraten, betrachteten sich sowohl Stammel als auch Müller weiterhin als ‚gute‘ Katholiken. So betonte Müller, dass er „mit ganzem Herzen katholisch glaube“⁴⁹³ und auch Stammel beteuerte, „eben so gut ein katholischer Christ zu seyn […], als diejenigen, welche mich brandmarken wollen.“⁴⁹⁴ Zwar handelte es sich in beiden Fällen möglicherweise nur um Schutzbehauptungen, die die eigenen Positionen abschwächen sollten. Allerdings können die Aussagen ebenso als Hinweis verstanden werden, dass zumindest in der Selbstwahrnehmung der katholischen Aufklärer kein Widerspruch zwischen ihrer Kritik am Katholizismus und ihrem eigenen konfessionellen Selbstverständnis bestehen musste. So glaubten sowohl Müller als auch Stammel im Besitz der ‚Wahrheit‘ zu sein, die für sie in der Verbindung von Aufklärung und Religion bestand. Die Aufklärung stellte dabei von ihrem Standpunkt aus weniger eine Chance als eine Notwendigkeit dar. Dennoch zeigt die Distanzierung vom Kirchenglauben, dass sie in dieser Hinsicht bereit waren, weiter zu denken als andere katholische Aufklärer.⁴⁹⁵
veranlaßt durch die französische Staats-Umwälzung ausführlich die Geschichte der französischen Aufklärung. Der Autor lehnt die Aufklärung nicht rundheraus ab, sondern betrachtet ihre Anfänge im 17. Jahrhundert durchaus noch mit Wohlwollen, da der Religion noch nicht geschadet worden sei. Allerdings erscheint ihm bereits Pierre Bayle (1647–1706) als „der erste Ring in der Kette der Verleumder des Christenthums“ (StadtAr Tr Fz 682, fol. 8). Da der Bericht leider nach einigen Seiten abreißt, bleibt unklar, was der Autor über die deutschen Philosophen dachte. 492 Felix Anton Blau: Kritik der seit der Revolution in Frankreich gemachten ReligionsVerordnungen, auf reine Prinzipien des Staats- und Kirchenrechts, Straßburg 1797. – Im Unterschied zu Trier lehrten Dorsch und Blau Kant auch an der Mainzer Universität. In Trier mussten sich die Aufklärer hingegen in privatem Studium dessen Ideen aneignen, da es keine Hinweise auf entsprechende Lehrinhalte an der Universität gibt. Siehe Kapitel 4.2.2, Anm. 349 sowie vgl. Trauth: Begegnung (wie Anm. 47, S. 14), S. 213. 493 Müller: Volk (wie Anm. 135, S. 449), o. S. 494 Stammel: Augustiner Prediger (wie Anm. 42, S. 428), S. 7. 495 Für die zwischen 1755 und 1765 geborenen katholischen Aufklärer in Bayern konstatiert Haefs ebenfalls eine verstärkte Zuwendung zum Deismus. Er führt dies auf eine mehrheitliche Orientierung an zeitgenössischen englischen und französischen Philosophen zurück. Allerdings hätten
520 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Bildung und Erziehung blieben auch in französischer Zeit ein wichtiges Thema der Aufklärer. Versuchte sich Stammel um die religiöse und politische Aufklärung der Landbevölkerung verdient zu machen, entwickelte neben Schönberger in seinem Republikanischen Volkslehrer auch ein anonymer Autor im Journal für das Saardepartement seine Gedanken Über Erziehung. Der Anonymus kritisierte in seinem Artikel, dass zu lange die Erziehung der Jugend den Geistlichen überlassen worden sei und sie außer Stande seien, diese zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft zu erziehen. Sie hätten in Übereinstimmung mit der „aristokratischen Regierung“⁴⁹⁶ die Kinder von der „wahre[n] Christus Lehre“ abgebracht und damit „jeden inneren gefühlvollen Trieb von Freiheits Liebe“ erstickt. Die Aussage zeigt, dass in der Wahrnehmung aufklärerischer Republikanhänger ‚wahre‘ Religion und republikanische Freiheitsrechte eine Einheit bildeten. Der anonyme Autor warb darum für die bevorstehende Einrichtung einer Zentralschule, in der die Jugend von Lehrern unterrichtet würde, von denen sie „den wahren Unterricht einer reinen Christus Lehre empfangen, und als unverfälschte, thätige Republikaner gebildet werden.“⁴⁹⁷ Von den am französischen Vorbild orientierten Zentralschulen versprachen sich die Aufklärer, ihre Vorstellungen einer an den Maßstäben der Vernunft ausgerichteten Bildung und Erziehung verwirklichen zu können. Dadurch sollte die Jugend in die Lage versetzt werden, auch in Bezug auf die Religion „Schein von Wahrheit zu unterscheiden“⁴⁹⁸ bzw. das, was die Aufklärer jeweils dafür hielten. Dass der Religionsunterricht zugunsten einer philosophisch ausgerichteten Morallehre wegfiel, thematisierten sie wohlweislich nicht.⁴⁹⁹ Trotz ihrer eigenen aufgeklärten Überzeugungen und ihren Bemühungen, diese an die Bevölkerung weiterzugeben, blieb das Unterfangen der Aufklärer ein elitäres Projekt: Zwar war der aufgeklärten katholischen Elite zumindest in der
diejenigen Aufklärer, die als Pfarrer stärker in die Institution der katholischen Kirche eingebunden gewesen seien, weiterhin eher moderate Positionen vertreten. Vgl. Haefs: Charfreytagsprocession (wie Anm. 135, S. 58), S. 57. Die Beispiele – der gleichwohl später geborenen – Stammel, Schwind, Blau und Dorsch zeigen, dass diese Zurückhaltung für die Pfarrer im Linksrheinischen nicht unbedingt galt. 496 Haan: Journal 5 (wie Anm. 342, S. 490), S. 456. 497 Jeweils ebd., S. 458. 498 Ebd., S. 401. 499 Die Abschaffung des Religionsunterrichts an der französischen Zentralschule sorgte zunächst für Misstrauen bei den Eltern: siehe Kapitel 2.3. – So klagte rückblickend der unbekannte Verfasser der Schrift über den Zustand der Religion und ihrer Diener während der französischen Okkupation, „daß in den Pfarrschulen keine Bücher mehr zum Vorschein kommen sollten, die von Religion sprachen; nichts von Religion soll darin gelehrt werden, den Seelsorgern ward der Zutritt in dieselbe untersagt; die Schullehrer wurden von allen Diensten in den Kirchen losgesprochen“ StadtAr Tr DK 45/89, o. S.
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Theorie bewusst, dass Religion für die Bevölkerung von großer Bedeutung war. Das Ansinnen einer ‚reinen‘ Religion ging allerdings an der Lebenswirklichkeit der Bevölkerung mehrheitlich vorbei: Angesichts der Kriegserfahrungen und des politischen Umbruchs spendeten die althergebrachten Frömmigkeitsformen vielen Trost.⁵⁰⁰ Diese Schwäche der Aufklärer hatte Kronenberger erkannt. Wiederholt spielte er in seinen Schriften auf die Diskrepanz zwischen aufklärerischen Ideen und den Wünschen und Bedürfnissen der Bevölkerung an, die er besser zu kennen glaubte. Die orthodoxen Katholiken hatten ein feines Gespür dafür, dass viele der Veränderungen, die die Aufklärer in die Wege leiteten oder leiten wollten, die Bevölkerung überforderten. Ob es dabei vor Ende der kurfürstlichen Zeit um die Einführung muttersprachlicher Kirchenlieder⁵⁰¹ oder in französischer Zeit um eine noch stärkere ‚Bereinigung‘ der Religion ging, war unerheblich. Aus Kronenbergers Sicht näherte sich die katholische Religion mit derartigen Reformen dem Protestantismus an. In seinen Schriften setzte er darum Reformation und Aufklärung gleich, um bei seinen Lesern entsprechende Negativbilder von Spaltung und Unfrieden zu evozieren. Ihm ging es dabei allerdings nicht nur um die Beeinflussung der Leser, sondern es entsprach auch seiner eigenen Wahrnehmung, dass die katholische Aufklärung die zentralen katholischen Glaubensinhalte bedrohte. In Kronenbergers Augen stellte die Aufklärung darum sowohl für die Religion als auch für die Gesellschaft eine Gefahr dar, worin er sich durch die Revolution und ihre Folgewirkungen für das Linksrheinische bestätigt sah. Er versuchte zwar, sich den Begriff Aufklärung seinerseits anzuverwandeln, indem er ‚wahre‘ Aufklärung als reine Fokussierung auf Gott definierte. Letztlich war ihm jedoch unter Rekurs auf Argumente der Gegenaufklärung vor allem daran gelegen, die aufklärerischen Ideen als ‚modische‘ Auswüchse der Philosophen zu brandmarken, die in ihrer Flüchtigkeit und Beliebigkeit der unumstößlichen Wahrheit der katholischen Lehre nichts entgegensetzen konnten. Die französische Herrschaft sowie die von den Zeitgenossen vorgenommene Verknüpfung von Revolution und Aufklärung führten dazu, dass sowohl die Positionen der linksrheinischen katholischen Aufklärer als auch die der orthodoxen Katholiken zwangsläufig politische Bedeutung erlangten, auch wenn sie sich thematisch ausschließlich rein innerkonfessionellen Problemen zu widmen schienen. Dies erklärt, weshalb – von Kronenberger abgesehen – die orthodoxen Katholiken des Trierer Erzbistums während dieser Zeit darauf verzichteten, in Form von ent-
500 Siehe dazu Kapitel 4.1.1. 501 Damit hatte sich Hermann Goldhagen ausführlich in seinem Religions-Journal auseinandergesetzt, vgl. Dumont: Freygeister (wie Anm. 97, S. 129), S. 58.
522 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? sprechenden Veröffentlichungen der Gegenseite entgegenzutreten. Kronenbergers eigenes Schicksal sowie das der beiden Aachener Gegner der Eidesleistung zeigten beispielhaft, welche Konsequenzen öffentlich geäußerte Kritik insbesondere für die Geistlichkeit haben konnte. Die Zentren der deutschsprachigen katholischen Gegenaufklärung blieben daher mit Wien oder Augsburg auf das Rechtsrheinische beschränkt, wobei es von Anfang an enge Verbindungen zwischen der deutschen und französischen Gegenaufklärung gab.⁵⁰² Hatte es umgekehrt die aufgeklärte katholische Elite am Ende der kurfürstlichen Zeit schwer, mit ihren Ideen Gehör zu finden, konnten sie diese seit der Angliederung des Linksrheinischen an Frankreich zunächst umso freier diskutieren. Insbesondere in Bezug auf die Religion erleichterte die französische Zeit eine Herausbildung oder Weiterentwicklung aufklärerischer Positionen. Scheint dieser Zusammenhang offensichtlich zu sein, gab es jedoch auch die gegenteilige Entwicklung: Der ehemalige Benediktiner Sanderad Müller, der als mutmaßlicher Verfasser des Abdrucks eines Mönchsbriefs über die Klosterreform 1789 noch für aufklärerische Reformen im Klosterwesen eintrat, klagte 1808 über die „sinnlosen und ungezogenen Ausfälle[…] gegen die Religion“, die „heutigstags vernünftigen Männern, so manche Gesellschaft eckelhaft machen“⁵⁰³ würden. Der „Wuthgeist“⁵⁰⁴, der sich Ende des 18. Jahrhunderts bemerkbar gemacht habe – womit Müller auf die Revolution und die nachfolgenden Kriege anspielt –, sei
502 Vorbild war z. B. Franz Xaver Feller mit seinem Journal historique et littéraire (siehe dazu Kapitel 2.2), wobei sich Kronenberger vor allem auf Nonnotte stützte. 503 Jeweils Sanderad Müller: Freundschaftlicher Vortrag über die Mishandlung der Alterthümer, Kunstwerke, und wissenschaftlicher Gegenstände, Trier 1808, S. 9. Anlass seiner Schrift war der Appell an seine Mitbürger, sorgsamer mit den Hinterlassenschaften der Antike umzugehen und sie nicht aufgrund eines „schiefe[n] Begriff[s] von Religion“ (S. 8) als heidnische Überbleibsel zu zerstören. – Vor dem Einmarsch der französischen Armee hatte Sanderad Müller zusammen mit den meisten anderen Mönchen der Abtei St. Maximin die Stadt verlassen. 1799 kehrte er nach Trier zurück und zog sich – da das Kloster geplündert war – ins Private zurück. 1808 wurde er Mitglied der Gesellschaft für nützliche Forschung, die 1801 gegründet worden war. Während der französischen Zeit umfasste die Gesellschaft stets nur einen kleinen Kreis an Mitgliedern, der sich großteils aus französischen und deutschen Beamten zusammensetzte. Sie stand von deutscher Seite aus in der Tradition ökonomischer Gesellschaften, die im 18. Jahrhundert zahlreich gegründet worden waren. Daneben waren die französischen Provinzakademien – bzw. deren revolutionsbedingte Nachfolger – Vorbild. Nach ihrem Muster erfolgten insbesondere in napoleonischer Zeit viele Neugründungen. Die Trierer Gesellschaft war keine gänzlich private Vereinigung: Seit 1805 stand ihr der jeweilige Präfekt vor, der regelmäßig über ihre Tätigkeiten informiert wurde. Erst im Laufe der Zeit entwickelte sie sich zu einem genuinen Geschichts- und Altertumsverein. Vgl. Groß: Sanderat (wie Anm. 425, S. 200); Gabriele B. Clemens: Das gesellige Trier, in: Dühr [Hrsg.]: Trikolore (wie Anm. 61, S. 17), S. 503–514, hier S. 507–511. 504 Müller: Vortrag (wie Anm. 503), S. 60.
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auch durch die Prinzipien Voltaires und seiner Schüler inspiriert worden. Obwohl sich Sanderad Müller selbst immer noch als Teil der Aufklärung wahrnahm und aus einem zutiefst aufklärerischen Impetus heraus für die Achtung antiker Bauwerke warb, sah er deren Entwicklung insbesondere in französischer Zeit kritisch und griff wie die Gegenaufklärung auf Deutungsmuster zurück, die einen Zusammenhang zwischen (französischer) Aufklärung und Revolution konstruierten. Noch schärfer kritisierte er 1814 in seinen Knittelversen auf die Knittelphilosophie die Aufklärungsphilosophie seiner Zeit: Die „heutmodische Aufklärung [sei] Lachwürdigste Verfinsterung.“⁵⁰⁵ Vom Jungen bis zum Alten glaube jeder, „wie Bachanten / Los auf unsre Religion“ stürmen zu können, „[a]uf Kirch, ja selbst auf Gottheilsthron; / Und meinen nun wirklich zu seyn, / Was man nennt Philosoph.“⁵⁰⁶ So würden „Aufgeklärte unsrer Tage[…]“ sich „das Heidenthum“ zurückwünschen und die „Ausrottung [des] Christenthum[s].“⁵⁰⁷ In diesem Sinne würden Märtyrergeschichten verworfen, die „Reinheit im Gotteshaus“ gefordert und „Altär- und Bilderstürmerei“⁵⁰⁸ betrieben werden. Diesen ‚falschen‘ Aufklärern hält er die ‚Wahrheit‘ der „[r]ömischen Religion“⁵⁰⁹ entgegen und lobt den verstorbenen Papst Pius VI., der von Anfang an das Fatale der aufklärerischen Philosophie erkannt und davor gewarnt habe. Einerseits weisen Sanderad Müllers Knittelverse mit ihrer erkennbaren Abneigung gegen Reformkonzepte der katholischen Aufklärer, der Negierung der aufklärerischen Licht-Metaphorik sowie dem Papst-Lobpreis Gemeinsamkeiten zu Gegenaufklärern und orthodoxen Katholiken wie Kronenberger oder dem Pfarrer Joseph Anton Haas auf. Der Vernunftreligion, die viele in Sanderad Müllers Umkreis propagierten, erteilte er deshalb eine deutliche Absage: Sie war aus seiner Sicht lediglich eine „Maulreligion“, die nicht Gott, sondern den menschlichen Willen absolut stellte. Wenn sich zudem jeder seine eigene Religion selbst zusammensetze, führe dies nur zu „Konfusion“⁵¹⁰, da es keine verbindlichen Werte mehr gebe. Andererseits zeugt seine Schrift von einer tiefen Wertschätzung antiker Autoren wie Aristoteles, Sokrates oder Cicero, in deren Tradition er sich in gewisser Weise stehen sieht, obgleich sie ‚Heiden‘ waren. Er begriff sich selbst als Gelehrten, weshalb er weder gegen den Gebrauch der Vernunft noch gegen das wissenschaftliche Arbeiten per se etwas einzuwenden hatte. Davon musste jedoch die Religion ausgenommen bleiben und deren 505 Ders.: Knittelversen auf die Knittelphilosophie, nach dem Jambenleisten des alten Meistersängers Jakob Frischlin, von Reutlingen, Trier 1814, S. 11. 506 Jeweils ebd., S. 5. 507 Jeweils ebd., S. 8. 508 Jeweils ebd., S. 16. 509 Ebd., S. 50. 510 Jeweils ebd., S. 43.
524 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? Unergründlichkeit für den menschlichen Verstand anerkannt werden. Bei aller Polemik gegen die ‚modernen‘ Philosophen war Sanderad Müller daher dennoch um Differenzierung bemüht. Er betrachtete die Strömungen der Aufklärung als Gefahr, denen er einen kirchen- und religionsfeindlichen Zug unterstellte und die er in den letzten Jahren als dominierend wahrgenommen hatte. Eine gemäßigte Form religiöser Aufklärung, wie sie Sanderad Müller möglicherweise akzeptiert hätte, vertrat Viktor Dewora in seiner 1806 veröffentlichten Predigtsammlung Predigten an’s katholische Landvolk. Deworas Predigten gingen auf seine Zeit als Pfarrer in Hadamar zurück – 1805 war er auf Bitten Bischof Mannays nach Trier zurückgekehrt – und ihre Veröffentlichung sollte belegen, dass der Inhalt weder „zu viel [noch] zu wenig katholisch“⁵¹¹ sei. Obwohl er stets lediglich „die katholischen Glaubenslehren, nach Gründen der Vernunft und des Evangeliums, streng vertheidigt[…]“ habe und „schädliche Vorurtheile und den verheerenden Un- und Aberglauben freymüthig bekämpfte“, sei er „bald auf die Liste der Obskuranten gesetzet, bald in die Reihe der Illuminaten gestellet“⁵¹² worden. Dewora befand sich in einer Zwickmühle: Die aufklärerischen Reformen, die er forderte oder unterstützte, machten ihn in den Augen der Gegenaufklärer zu einem Religions- und Kirchenfeind. Da sie jedoch an die Idee einer Vernunftreligion nicht heranreichten, erschienen sie den radikaler argumentierenden katholischen Aufklärern als zu moderat und zu reaktionär.⁵¹³ Dewora begriff sich ganz im Sinne eines aufgeklärten Priesterbildes als Lehrer seiner Gemeinde, der sich in Übereinstimmung mit der kirchlichen Glaubenslehre um die „stufenweise Aufklärung des Verstandes und die Veredelung des Herzens [s]einer Zuhörer“ bemühte. Seiner Sammlung vorangestellt war ein Zitat des katholischen Aufklärers Johann Michael Sailer, wonach es die Aufgabe des Lehrers sei, Licht – also Aufklärung – in die Seele seiner Schüler zu lassen.⁵¹⁴ In diesem
511 Viktor Joseph Dewora: Predigten an’s katholische Landvolk, Hadamar 1806, S. VII. Zur Predigtsammlung vgl. auch ders.: Ehrendenkmal (wie Anm. 286, S. 97), S. XL–XLI. Laut Embach dominieren in Deworas späteren Werken „Begriffe wie Gnade oder Wirken Gottes“ (S. XLI) und weniger genuin aufklärerische Themen. Obwohl Dewora in seiner Rede Rückblick auf die Jahre der Zertrümmerung den aus seiner Sicht herrschenden Unglauben der französischen Zeit scharf verurteilt, ist seine Nähe zur Aufklärung allerdings noch klar erkennbar, siehe Kapitel 4.1.3. 512 Jeweils ders.: Predigten (wie Anm. 511), S. V. 513 Da Dewora an der Universität Würzburg studiert hatte, an der unter anderem der Kant-Anhänger Maternus Reuß lehrte, ist anzunehmen, dass Dewora dort auch mit der Philosophie Kants in Berührung gekommen war. Es gab mit dem Kirchenhistoriker Franz Berg (1753–1821) allerdings auch der Aufklärung zuzurechnende Theologen in Würzburg, die zu den Kritikern Kants zählten. Vgl. ders.: Ehrendenkmal (wie Anm. 286, S. 97), S. XXX–XXXIII; zu Reuß siehe Kapitel 4.2.2. 514 Das Zitat findet sich in Johann Michael Sailer: Vernunftlehre für Menschen, wie sie sind. Nach den Bedürfnissen unserer Zeit, Bd. 2, München 1785, S. 268. Sailer fordert zunächst den Lehrer auf,
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Sinne richtete sich Dewora in „einfach und populär“⁵¹⁵ gehaltenen Predigten an die ländliche Bevölkerung. Er war davon überzeugt, dass die Aufklärung bereits zahlreiche Verbesserungen gebracht habe, die auch seine Zuhörer schätzen gelernt hätten: So erinnerte er sie an die Abschaffung des lateinischen zugunsten des muttersprachlichen Kirchengesangs, die Ersetzung der Andachtsbücher Martin von Cochems durch aufklärerische Werke,⁵¹⁶ die stärkere Fokussierung des Gottesdienstes auf die Predigt, einen kindgerechteren Katechismus-Unterricht sowie an das Gottesbild des gütigen Vaters. Inwieweit die von ihm adressierte Landbevölkerung diese Einschätzungen der Positiva teilte, bleibt dahingestellt. Gleichzeitig führte Dewora seinen Zuhörern (oder Lesern) vor Augen, dass sie „manches in der Religion [einfach] glauben“⁵¹⁷ müssten, weil viele Glaubensgeheimnisse für den menschlichen Verstand unergründlich seien. Es war zwar für ihn legitim, in Glaubenssachen zu zweifeln, die göttliche Offenbarung in Form der Bibel stand jedoch absolut. Dass Dewora – wie Kronenberger auch – seiner Gemeinde die Nachfolge Christi ans Herz legte, zeigt, dass die unüberbrückbaren Differenzen, die Gegenaufklärer und katholische Aufklärer zwischen sich zu sehen glaubten, mitunter gar nicht so groß waren.⁵¹⁸ Mit ihren Positionen, die Johann Jakob Stammel, Johann Kaspar Müller oder andere in ihrem Umkreis zu Aufklärung und Religion vertraten, repräsentierten sie lediglich einen Ausschnitt der katholischen Aufklärung im (Erz-)Bistum Trier. Wie die Schriften Sanderad Müllers und Viktor Deworas zeigen, entsprach eine Vernunftreligion nicht zwingend der Mehrheitsmeinung. Allerdings gelang es diesem radikaler denkenden Teil der katholischen Aufklärer, sich parallel zur Festigung der französischen Herrschaft Gehör zu verschaffen, da sie diese ideell flankierten. Andere Vertreter der katholischen Elite, die sich als der Aufklärung nahestehend wahrnahmen oder deren Ideen rezeptierten, der Revolution und ihren Folgewirkungen allerdings skeptisch gegenüberstanden, hielten sich zurück oder fanden innerhalb des Diskurses kein Gehör (mehr). Sanderad Müllers polemisches Urteil über bestimmte zeitgenössische Ausprägungen der Aufklärung dürfte nur zum Teil dem späten Veröffentlichungszeitpunkt seiner Schrift geschuldet gewesen sein: So
sich selbst aufzuklären und anschließend – „nach und nach, stufenweise“ (S. 267) – bei seinen Schülern fortzufahren. 515 Dewora: Predigten (wie Anm. 511), S. VIII. 516 Er empfahl seinen Zuhörern/Lesern u. a. auch das Noth- und Hilfsbüchlein von Rudolf Zacharias Becker, um daran ihren Verstand zu schulen. Zu Becker siehe Kapitel 2.2, Anm. 178. 517 Dewora: Predigten (wie Anm. 511), S. 72 f. 518 Zu Kronenbergers Empfehlung der Nachfolge Christi siehe oben S. 510. Dewora wird das Werk wahrscheinlich deshalb empfohlen haben, weil es Sailer 1794 ins Deutsche übersetzt hatte.
526 | 4 Umbruch Franzosenzeit – Durchbruch für die Aufklärung? war er im Unterschied zu Dewora durch die französische Besetzung unmittelbar betroffen gewesen, was zu seiner kritischen Haltung beigetragen haben dürfte. Obwohl auch nach der Jahrhundertwende innerhalb der katholischen Elite noch kein Konsens über den Stellenwert der Aufklärung und der angemessenen Reaktion auf diesen Umbruch herrschte, flauten die innerkonfessionellen Debatten im Bistum Trier in dieser Zeit ab. Da die veränderte napoleonische Kirchen- und Religionspolitik neue Voraussetzungen schuf, dürfte dies jedoch nicht dem fehlenden Diskussionsbedarf geschuldet gewesen sein: Vielmehr war mit Kronenberger den Trierer orthodoxen Katholiken ein wortgewaltiger Vertreter ihrer Standpunkte abhanden gekommen. Des Weiteren deutet Stammels Rückzug aus dem Priesterdienst darauf hin, dass sich viele seiner Mitstreiter in der Folge stärker dem politischweltlichen Bereich zuwandten. Gleichzeitig wird die restriktivere Zensurpraxis der napoleonischen Zeit die Diskussionsfreude aller Beteiligten eingeschränkt haben.⁵¹⁹ Auch nach dem erneuten Herrschaftswechsel von 1814/15 kam es „zu publizistischen Rangeleien“⁵²⁰ zwischen katholischen Aufklärern und orthodoxen Katholiken. Mit Joseph von Hommer gelangte 1824 zwar ein der Aufklärung nahestehender Vertreter ins Amt des Bischofs, der sich beispielsweise bei der Neuordnung des Priesterseminars auf Ideen des sogenannten Hermesianismus stützte. Da Hommer jedoch Forderungen nach einer Einschränkung päpstlicher Gewalt oder der Abschaffung des Zölibats eine Absage erteilte, war er einigen aufklärerischen Klerikern zu gemäßigt.⁵²¹ Auch das Verhältnis zur protestantisch-preußischen Regierung gestaltete sich von Anfang an konfliktreich.⁵²² Vor diesem Hintergrund und beeinflusst durch die Romantik begann sich seit den 1820er Jahren eine neo-orthodoxe Strömung des Katholizismus herauszubilden, deren Vertreter eine strikte Anlehnung an Rom verfolgten und eine „vor- und antiaufklärerische Ausrichtung in Theologie und Seelsorge mit pointierter konfessioneller Polemik“⁵²³ verbanden. Erleichterte wurde die Verbreitung ihrer Ideen durch den seit 1830 stark anwachsenden katholischen Zeitschriftenmarkt, der bald durch Periodika aus dem neo519 Siehe Kapitel 2.3 sowie Kapitel 4.1.3. 520 Embach: Literaturgeschichte (wie Anm. 49, S. 14), S. 255. 521 Vgl. Bernhard Schneider: Entwicklungstendenzen rheinischer Frömmigkeits- und Kirchengeschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 1996, S. 157–195, hier S. 171–172. Zum Hermesianismus siehe Kapitel 3.2, Anm. 486. 522 Diese Entwicklungen können hier nur angerissen werden; insgesamt ist der Katholizismus des 19. Jahrhunderts jedoch gut erforscht. Verwiesen sei darum nur auf: ders.: Kalkül (wie Anm. 573, S. 415); Christina Rathgeber: Zwischen Kompromiss und Konfrontation. Katholische Geistliche gegen den preußischen Staat beim Mischehenstreit bis 1828 und bei der Trierer Bischofswahl von 1839, in: Historisches Jahrbuch 130 (2012), S. 181–209. 523 Schneider: Entwicklungstendenzen (wie Anm. 521), S. 172.
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orthodoxen Spektrum dominiert wurde. Die Französische Revolution und die Aufklärung fungierten in diesen Blättern weiterhin als Feindbilder, die ausschließlich als Bedrohung und Gefahr für den Katholizismus wahrgenommen wurden. Da sich ab den 1840er Jahren die neo-orthodoxe Strömung zur dominierenden Kraft innerhalb des Katholizismus entwickelte, bestimmten fortan diese Deutungsmuster den Diskurs.⁵²⁴
524 Vgl. ders.: Finger Gottes oder Satans Werk? Wahrnehmung, Deutung und Aneignung europäischer Revolutionen in der deutschen katholischen Presse 1815-1847/48, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 19 (2000), S. 31–63.
5 Schlussbemerkung Die Jahre zwischen 1770 und 1815 stellten für die katholische Elite des (Erz-)Bistums Trier eine Zeit der Umbrüche dar. Sie musste sich sowohl dem Prozess der Aufklärung stellen als auch Ereignissen wie der Französischen Revolution, dem französischen Einmarsch und dem anschließenden Herrschaftswechsel sowie der Säkularisation. In der Wahrnehmung der Akteure war dabei jedoch vor allem die Aufklärung der zentrale Umbruch und bildete den wesentlichen Dreh- und Angelpunkt der zeitgenössischen Diskussionen. Die Selbst- und Fremdwahrnehmung als katholischer Aufklärer oder als orthodoxer Katholik fungierte daher auch über den Umbruch der französischen Zeit hinweg als wichtiges Distinktionsmerkmal. Im Gegensatz zur Aufklärung fielen die Reaktionen auf die Säkularisation von 1802/03 verhalten aus, obwohl das Trierer Erzbistum durch eine dichte Klosterund Stiftslandschaft geprägt war und die katholische Elite in vorrevolutionärer Zeit über Mönchswesen und Klosterpolitik rege diskutiert hatte. Als Möglichkeit hatte die Säkularisation jedoch bereits zu lange im Raum gestanden, um eine öffentliche Auseinandersetzung auszulösen. Auch die Zensur tat ihr Übriges. Dennoch zeigen die Aufzeichnungen von Ludwig und Franz Tobias Müller, dass es sich aus Sicht der orthodoxen Katholiken um einen unwiederbringlichen Verlust handelte, der durchaus als Bedrohung für den generellen Fortbestand der Religion wahrgenommen wurde. Auch die Französische Revolution stellte für sich genommen kein Ereignis dar, dass die Akteure in Hinblick auf ihre eigene Situation zunächst als Umbruch auffassten. Allerdings beeinflusste sie die Diskussionen, die die katholische Elite im zeitlichen Umfeld der Revolution über Kloster- oder Bildungspolitik führten: Katholische Aufklärer befürchteten den Reformstillstand, wohingegen die Revolution den orthodoxen Katholiken als ferne Drohkulisse diente. Dennoch markiert die Französische Revolution vor allem in den Augen der geschichtswissenschaftlichen Forschung einen Umbruch, der oftmals fälschlich mit dem Ende der Aufklärung gleichgesetzt wird. Dass nach 1789 weder das Verhältnis von Religion und Aufklärung abschließend geklärt war noch die volksaufklärerischen Bemühungen abrupt aufhörten, ist in den vorangegangenen Kapiteln deutlich geworden. Obwohl die Revolution als singuläres Ereignis zurückhaltend kommentiert wurde, spielten ihre Folgewirkungen in Form von Kriegserfahrung, Besetzung und Herrschaftswechsel eine umso größere Rolle für den kirchlich-religiösen Diskurs der katholischen Elite. Sie verbanden dabei den Umbruch der französischen Zeit jedoch stets mit der Aufklärung, als deren Kind die Revolution und ihre Folgen den Zeitgenossen galten. Die französische Herrschaft stellte in den Augen orthodoxer Katholiken das Ergebnis eines aufklärerischen Prozesses dar, der von Anfang an https://doi.org/10.1515/9783110674545-005
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auf die Beseitigung von Religion und Kirche und die Etablierung des Unglaubens abzielte. Demgegenüber nahmen die radikaler denkenden katholischen Aufklärer diese Jahre als Möglichkeit wahr, ihre Idee einer aufgeklärten Religion zu verwirklichen. Das Beispiel Viktor Deworas zeigt, dass auch gemäßigte katholische Aufklärer währenddessen an ihrem Versuch festhielten, Religion und Vernunft zu vereinbaren. In der Weise, wie die Aufklärung sowohl in vor- als auch nachrevolutionärer Zeit von katholischen Aufklärern und orthodoxen Katholiken entweder als Bedrohung oder als Chance für den Fortbestand von Religion und Kirche aufgefasst wurde, ähnelten sich auch die Streitfragen, die beide Parteien in diesen Jahren verhandelten. So wurde auch in französischer Zeit über das Priester- und Mönchsbild, den Zölibat, Toleranz, Bildung und Erziehung sowie die Aufklärung allgemein diskutiert. Allerdings änderte sich durch die Besetzung und die spätere Angliederung der eroberten Gebiete an Frankreich das Bezugssystem, vor dessen Hintergrund sich die Diskurse abspielten. So übte La Roche in den Mönchsbriefen nur vorsichtige Kritik am Zölibat, zumal diese Diskussion im katholischen Raum erst ab den 1780er Jahren verstärkt einsetzte. Unter dem Eindruck der Zulässigkeit der Priesterehe in Frankreich sowie der offenbaren Unvereinbarkeit des Zölibats mit dem Gedanken bürgerlicher Gleichheit, erhielt diese Frage in französischer Zeit für die katholische Elite neue Relevanz. Auch das mönchische Armutsideal wurde von den Aufklärern sowohl vor als auch nach dem Umbruch der französischen Zeit kritisch diskutiert. Allerdings stand bei La Roche der Vorwurf an die Kirche im Vordergrund, nichts gegen wirkliche Armut zu unternehmen. Stammel wollte hingegen mit der Dekonstruktion des Vorbildcharakters mönchischer Askese seine Leser dazu auffordern, sich auf ihr diesseitiges Leben zu konzentrieren und die bestehenden Verhältnisse als veränderbar zu begreifen. Insgesamt veränderte sich die Diskussion um das Mönchtum und die Klosterpolitik in französischer Zeit am meisten: In der Hoffnung auf eine baldige Säkularisation auch der linksrheinischen Klöster ging es den Aufklärern nicht mehr um Reformen, sondern nur noch darum, die Klage über Mängel und Missstände nicht abreißen zu lassen. Je randständiger das Thema aus Sicht der Aufklärer schien, zu desto vehementeren Verteidigungen der Orden und der Mönche fühlten sich orthodoxe Katholiken wie Kronenberger veranlasst. Interessant ist dabei, dass gerade die Jesuiten trotz des Jahrzehnte zurückliegenden Verbotes noch immer thematisiert wurden. Auch die finanzielle Situation der Geistlichkeit stellte einen Aspekt dar, den die (geistliche) Elite während des gesamten Untersuchungszeitraums diskutierte. Bereits unter kurfürstlicher Herrschaft beschrieb Castello die Lebensverhältnisse der (Land-)Geistlichkeit als prekär und schlug die Auszahlung eines festen Gehaltes vor. Nach den negativen Erfahrungen mit der Priesterbesoldung in französischer Zeit
530 | 5 Schlussbemerkung lehnte Cordel 1814 hingegen solche Konzepte ab, da er eine zu große Abhängigkeit der Geistlichkeit von der Finanzkraft des Staates befürchtete. Im aufklärerischen Diskurs änderte sich unter dem Eindruck der Franzosenherrschaft auch das Verständnis möglicher Grenzen der Aufklärung: Autoren der kurfürstlichen Zeit wie Castello, Prestinary oder La Roche sahen in der Aufklärung einen hierarchischen, von ‚oben‘ nach ‚unten‘ erfolgenden Prozess. Teilte Stammel dieses Verständnis ansatzweise in seiner Kronik noch, plädierte Johann Kaspar Müller dafür, dass die Aufklärung keiner ‚Klasse‘ von Menschen vorenthalten werden dürfte. Dass Müller der Aufklärung keine inhaltlichen oder ständischen Schranken setzte, wird auf den Einfluss der Revolution zurückzuführen sein. Auch in Bezug auf die Diskussion um Toleranz zeigten sich zeitliche Veränderungen: Im Gegensatz zu einem bereits recht umfassenden Toleranzverständnis, das in den Mönchsbriefen zum Ausdruck kommt, schloss Johann Kaspar Müller auch Atheisten in dieses mit ein. Stammels Forderung nach Toleranz gegenüber dem Judentum bezog sich nicht mehr nur auf eine religiöse Ebene, sondern zielte auch auf die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden ab. Religion stellte nun aus Sicht der Aufklärer lediglich eine Meinung dar, die jeder frei äußern durfte. Meinungs- und Gewissensfreiheit lagen hingegen für die orthodoxen Katholiken außerhalb ihrer Vorstellungskraft, wie die Beispiele Kronenbergers, des anonymen Aschaffenburger Eidgegners sowie des Pfarrers Joseph Anton Haas deutlich machten. Stattdessen verwiesen sie auf den Papst, dessen Primat sie uneingeschränkt anerkannten und der in der Wahrnehmung orthodoxer Katholiken immer wichtiger wurde, um die Einheit der Kirche sicherzustellen. Indirekt vermittelten bereits die Berichte über die Rock-Wallfahrt von 1810 das Bild christlicher Rückbesinnung und neugewonnener Eintracht. Napoleons Vorgehen gegen den Papst weckte zwar selbst bei katholischen Aufklärern Sympathien für den römischen Stuhl, doch führte die in französischer Zeit tatsächlich erfahrene oder nur gefühlte Spaltung des Klerus dazu, dass sich vor allem bei den neo-orthodoxen Katholiken des 19. Jahrhunderts eine starke Romzentrierung herausbildete. In ihrem Fall ließen sich daher in zukünftigen Studien die Wechselwirkungen und das Zusammenspiel zwischen den Traumata der französischen Zeit, den Einflüssen der Romantik als Gegenbewegung zur Aufklärung sowie dem gespannten Verhältnis zu den protestantischen Preußen weiterverfolgen. Insgesamt ist in der Gruppe der orthodoxen Katholiken eine hohe argumentative Konstanz über den zeitlichen Verlauf zu beobachten. Aus ihrer Ablehnung der Aufklärung resultierte dabei kein genereller Automatismus, Reformen zu verweigern: Hinsichtlich der Missstände in Klöstern plädierte der Weltmann ebenso für Veränderungen wie Kronenberger für eine sorgfältige Überprüfung von Wundergeschichten warb. Gleichwohl wollten sie ihre Standpunkte ausdrücklich nicht mit denen der Aufklärer gleichgesetzt sehen.
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Kontinuität lässt sich auch auf Seiten der Aufklärer und ihren Vorstellungen einer ‚wahren‘ Religion feststellen: Im Fokus stand stets ein verinnerlichter Glaube, der frei von vermeintlich abergläubischen Frömmigkeitsformen sein sollte. Ein zeitlicher Unterschied zeigt sich jedoch insofern, dass ein Teil der Aufklärer während der Franzosenzeit den bestehenden Kirchenglauben wesentlich schärfer kritisierte: Deutlich wurde ihre ablehnende Haltung gegenüber dem Märtyrerund Heiligenkult sowie dem christlichen Wunderglauben. Damit erwies sich die Gruppe der katholischen Aufklärer in Bezug auf ihre Standpunkte als heterogener als die der orthodoxen Katholiken. Die idealtypische Unterscheidung zwischen der Gruppe der orthodoxen Katholiken und der der katholischen Aufklärer erweist sich demnach als geeignetes Instrument, die Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit in kirchlich-religiösen Streitfragen im religiösen Feld des Katholizismus während des Untersuchungszeitraums darzustellen. Anhand Kronenbergers Argumentation lässt sich nachvollziehen, dass die orthodoxen Katholiken gezielt versuchten, sich Begriffe wie Aufklärung anzueignen und mit einer ganz eigenen Bedeutung zu versehen. So schloss sich Kronenberger auch der aufklärerischen Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Formen der Andacht an und integrierte bewusst die von den Aufklärern abgelehnten Äußerlichkeiten in sein eigenes Konzept ‚wahrer‘ Religion. Da sich die Gegenaufklärung zu einem späteren Zeitpunkt formierte, bestand für die orthodoxen Katholiken eine größere Notwendigkeit, sich sprachlich von ihren Gegnern abzugrenzen. Dies geschah einerseits über den Versuch, die Aufklärer als Freidenker und damit als Atheisten zu brandmarken. Andererseits wurden sämtliche aufklärerische Reformideen als protestantisch zurückgewiesen und damit in die Nähe einer zweiten Reformation gerückt. Die Übertragung dieses Feindbildes auf die Aufklärer sollte deren vermeintlich zerstörerischen Charakter hervorheben. Selbst in französischer Zeit lautete der Hauptvorwurf der orthodoxen Katholiken an die Aufklärer noch immer, den Katholizismus dem Protestantismus angleichen zu wollen. Dies ist insofern erstaunlich, da zu diesem Zeitpunkt auch eine ausschließliche Fokussierung auf die angebliche Religionsfeindschaft der Aufklärer denkbar gewesen wäre. Die Sympathien, die auf Seiten der katholischen Aufklärer für die Reformation und ihre Vertreter geäußert wurden, können als Versuch gesehen werden, den Begriff sowie die Vorgänge, für die er aus ihrer Sicht stand, in eine positive Erzählung einer berechtigten Kritik an kirchlichen Missständen umzudeuten. In diesem Sinne versuchten die Aufklärer auch dem gegen sie erhobenen Vorwurf der Ketzerei zu begegnen, indem sie den orthodoxen Katholiken ihrerseits Verketzerungssucht unterstellten. Beide Gruppen bedienten sich daher Mechanismen der sprachlichen Ab- und Ausgrenzung und versuchten sich als die jeweils ‚echten‘ Christen zu
532 | 5 Schlussbemerkung inszenieren. Insbesondere für die katholischen Aufklärer spielte dabei das Prinzip einer ethischen Reinheit eine wichtige Rolle. Die Abgrenzungsbemühungen täuschen jedoch nicht darüber hinweg, dass orthodoxe Katholiken und katholische Aufklärer Gemeinsamkeiten aufwiesen: Trotz ihres abweichenden Priesterbildes erfüllte für beide Seiten die Predigt eine wichtige Funktion als zentrales Verbindungselement zwischen Priester und Gemeinde. Sowohl aufgeklärte als auch orthodoxe Priester ließen ihre Predigten drucken und erreichten so einen höheren Verbreitungsgrad ihrer Argumente. Außerdem erkannten beide Seiten das Potenzial von Bildung und Erziehung, um ihre eigenen Vorstellungen ‚wahrer‘ Religion in künftigen Generationen zu verankern und auf diese Weise strategisch für die Zukunft vorzubauen. Gemeinsam war ihnen auch, dass sie zur Entwicklung ihrer eigenen Positionen jeweils auf eine Fülle entsprechender Periodika und Monographien zurückgreifen konnten. Die Konflikte zwischen den unterschiedlichen Parteiungen der katholischen Elite des (Erz-)Bistums Trier standen daher nicht für sich, sondern waren eingebettet in den größeren Diskurszusammenhang der deutschsprachigen (Gegen-)Aufklärung. Einerseits stützten sich die Aufklärer auf katholische Autoren, rezipierten aber genauso die Schriften der Protestanten: Indem Johann Kaspar Müller bei seiner Definition von Aufklärung neben Kant auch ein Gedicht aus dem Neuen Teutschen Merkur heranzog – einer der meistgelesenen deutschen Zeitschriften –, verortete er sich in einem konfessionsübergreifenden Diskurs über den Begriff der Aufklärung. Andererseits griffen auch die orthodoxen Katholiken – trotz ihrer Verbalattacken gegen die Protestanten – mit der sogenannten Drahtziehertheorie auf ein Deutungsmuster zurück, dessen sich Gegenaufklärer aller Konfessionen bedienten. Obwohl es sich als praktikabel erwiesen hat, die Vertreter der katholischen Elite einer der beiden zeitgenössischen Strömungen des Katholizismus zuzuordnen, lassen sich darin nicht alle Akteure integrieren. Diejenigen, die etwa dafür warben, die Souveränität der französischen Republik anzuerkennen und einen Eid zu leisten oder eine Reunionsadresse abzugeben, handelten selten aus republikanischer Überzeugung, sondern aus Sorge um die Religion. Die Kontinuität, die über den Einmarsch der Franzosen hinaus innerhalb der geistlichen Verwaltung des (Erz-)Bistums bestand, erhöhte die Kooperationsbereitschaft der geistlichen Funktionsträger, die ihren Einfluss auf kirchliche Angelegenheiten nicht ganz verlieren wollten. Die Bereitschaft einzelner weltlicher oder geistlicher Akteure, sich an die neuen Begebenheiten anzupassen und den politischen Umbruch auch für das eigene Fortkommen zu nutzen, ging daher meist auf Pflichtbewusstsein oder Opportunismus zurück. Dies lässt sich anhand der Beispiele von Johann Friedrich Lintz oder der beiden Geistlichen Johann Phillip Engel und Anton Varain nachvollziehen. Die Sorge der Geistlichen um die Religion oder um sich selbst,
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begünstigte gleichzeitig die zunehmende Autonomie und das Engagement der Laien, die Andachten nun auch selbst abhielten. Die Deutungshoheit über kirchlich-religiöse Streitfragen änderte sich mehrfach während des Untersuchungszeitraums: Erfuhren zunächst die Aufklärer durch die Reformbereitschaft des Kurfürst-Erzbischofs Aufwind, konnten sich nach Ausbruch der Französischen Revolution die Aufklärungskritiker durchsetzen. Durch die französische Besetzung verkehrte sich die Diskursmacht erneut zugunsten der Aufklärer. Die Grenze des Sagbaren markierte für die orthodoxen Katholiken nun nicht mehr eine rein metaphorische, sondern auch eine physische Grenze, da sie empfindliche Strafen bei öffentlich geäußerter Kritik erwarteten. Auch innerhalb des aufgeklärten Teils der katholischen Elite verschoben sich die Machtverhältnisse nun stärker hin zu denjenigen, die radikaler dachten und eine deistische Vernunftreligion befürworteten. Zu ihnen zählten auch geistliche Vertreter der Elite. Die Aufklärung gestaltete sich im katholischen Raum letztlich genauso vielfältig wie im protestantischen. Gerade auch vor dem Hintergrund der engen Verzahnung des aufklärerischen Diskurses über Konfessionen hinweg, zeigt sich daher, dass der Begriff katholische Aufklärung nicht als Anhängsel einer vermeintlich protestantischen Norm verstanden werden darf. Letztlich ist er ein Analyseinstrument, um konfessionelle Themenschwerpunkte und Deutungshorizonte zu benennen und die Grenzen im religiösen Feld des Katholizismus auszuloten. Obwohl die Aufklärer während der französischen Herrschaft die Diskurshoheit gewannen, führte dies in der Bevölkerung nicht zu einer breiten Verankerung ihrer Ideen und Vorstellungen einer vernunftgemäßen Religion. Damit war und blieb die Aufklärung in der Hauptsache ein Projekt der Elite. Die Diskussionen über die Reaktion auf die Aufklärung und den Umgang mit ihr, die spätestens seit den 1770er Jahren geführt wurden, hatten jedoch die unintendierte Nebenfolge der gedanklichen Vorbereitung auf die französische Kirchen- und Religionspolitik: Die Einschränkung oder das Verbot religiöser Feiertage oder Prozessionen setzte in den Augen der Bevölkerung die Politik des Kurfürst-Erzbischofs einfach fort. Auch wenn sich der orthodoxe Teil der katholischen Elite durch Repressionen bedroht sah, war er durch seine pauschale Ablehnung der Aufklärung bereits im Modus der Verteidigung und konnte sich nun in all seinen Warnungen bestätigt fühlen. Auf dieser Grundlage konnten die neo-orthodoxen Katholiken im Verlauf des 19. Jahrhunderts argumentativ aufbauen. Die symbolischen Kämpfe um Deutungshoheit, die sich im religiösen Feld des Katholizismus seit dem Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert abspielten, machten diesen letztlich widerstandsfähiger und trugen mit dazu bei, dass der Katholizismus als Sozialform langfristig gestärkt aus dieser Zeit hervorging.
Anhang: Kurzbiografischer Überblick Da einige der in der Arbeit genannten Mitglieder der katholischen Elite des (Erz-)Bistums Trier unbekannter sind, werden in der Folge ihre Biographien zur besseren Orientierung dargestellt. Es handelt sich dabei um Zusammenfassungen der in dieser Arbeit gemachten biographischen Angaben, die daher nicht mit weiteren bibliographischen Nachweisen versehen sind.
Franz Xaver Boos (geb. 1759
Boos stammte ursprü nglich aus Baden. Nach Stationen als Hofmeister und Archivar lehrte er seit 1792 als Professor fü r Literatur an der Universitä t Freiburg. Da er die franzö sische Besetzung von Freiburg unterstü tzte, wurde er nach Abzug der franzö sischen Truppen vertrieben. Seit 1798 war er zunä chst Kommissar bei der Munizipalitä t Schö nberg (bei Thalfang) und war anschließend als Notar tä tig. Vermutlich betrieb er in Schö nberg spä ter Landwirtschaft. In preußischer Zeit wurde er Hauptzollamtskontrolleur in Trier.
Johann Wilhelm Castello (1758–1830
Castello studierte in Trier Theologie und wurde dort 1782 zum Priester geweiht. Nach einer kurzen Beschä ftigung als Kaplan in Hundsangen war er seit 1784 Haushofmeister der Familie von Walderdorff auf Schloss Molsberg, bevor er im Juni 1787 Subregens des Priesterseminars in Trier wurde. Vermutlich beauftragte ihn Joseph Ludwig von Hommer (1760–1836) Ende 1787 oder Anfang 1788 mit der Abfassung der Schrift Hindernisse der Aufklärung. Nach Konflikten im Priesterseminar trat er auf eigenen Wunsch 1792 eine Pfarrstelle in St. Wendel an. 1814 wurde er Pfarrer in Neumagen, 1816 Konsistorial- und Schulrat der Regierung in Trier. 1824 erfolgte seine Berufung in das Domkapitel.
Anton Cordel (1760–1826
Cordel studierte in Trier Theologie und wurde dort 1784 zum Pfarrer geweiht. Von 1793 bis 1803 war er Pfarrer von St. Antonius in Trier. 1794 wurde er zum Kommissar ü ber den Klerus der Pfarreien im nunmehrigen Wä lderdepartement ernannt. Im französischen Bistum wurde Cordel zweiter Generalvikar. Von 1807 bis 1824 war er zusätzlich Dompfarrer. Nach dem Amtsverzicht Bischof Mannays übernahm Cordel als Kapitelsvikar ab 1816 bis zur Einsetzung eines neuen Bischofs die Leitung des Bistums. Anschließend war er bis zu seinem Tod erneut Generalvikar. Anlässlich der Rückführung der Rock-Reliquie, die er begleitete, verfasste er einen ausführlichen Bericht.
Viktor Dewora (1774–1838
Dewora hatte in Koblenz das Gymnasium besucht und studierte anschließend in Mainz und Würzburg – einem Zentrum der katholischen Aufklärung – Theologie. Nach seiner Priesterweihe trat er im rechtsrheinischen Teil des ehemaligen Trierer Erzbistums Pfarrstellen an und kehrte 1805 nach Trier zurü ck. 1806 ü bernahm er die Pfarrei Trier-St. Matthias. Um die Lehrerausbildung zu verbessern, gründete er 1810 eine Normalschule.
https://doi.org/10.1515/9783110674545-006
536 | Anhang: Kurzbiografischer Überblick Johann Jakob Haan (1754–1819)
Haan studierte in Nancy beide Rechte. Ab 1784 bis zum Einmarsch der Franzosen lehrte er an der Universität Trier und hatte dort die Professur „der schönen Wissenschaften und praktischen Philosophie“ inne. Von 1786–1788 war er Mitglied der Schulkommission. 1798 wurde er Mitglied der Zentralverwaltung des Saardepartements in Trier, wurde aber bereits 1799 wieder suspendiert. Er fungierte von April 1798 bis Mä rz 1799 als Herausgeber des Journals fü r das Saardepartement.
Joseph Anton Haas (1752–1825)
Haas war Pfarrer in Sehlem und sollte aufgrund seiner öffentlich geäußerten Kritik an der französischen Regierung im Februar 1799 deportiert werden. Durch Flucht konnte er sich der Strafe entziehen und hielt sich in der Folge versteckt. Ab 1806 wird er wieder als Pfarrer in Trier erwähnt.
Jean Marie Cuchot d’Herbain (1727–1801)
Herbain hatte in Straßburg Theologie studiert. 1777 ernannte ihn Erzbischof Clemens Wenzeslaus zunächst zum Koadjutor-Weihbischof. Ab 1779 übernahm er dann weitgehend die Amtsgeschäfte seines Vorgängers Nikolaus von Hontheim. Bis 1784 hatte er die Aufsicht über das Priesterseminar inne, die ihm nach Revolutionsausbruch 1791 erneut übertragen wurde. Vor dem französischen Einmarsch zog er sich nach Fulda zurück.
Peter Joseph von Hontheim (1739–1807)
Hontheim wurde 1760 an der Trierer Universitä t zum Doktor beider Rechte promoviert. Seit 1779 war er Dekan von St. Simeon und wurde 1785 Offizial und Wirklicher Geheimer Rat. Seit 1792 leitete er das Generalvikariat in Trier. Nach kurzzeitiger Flucht vor der einmarschierenden französischen Armee kehrte er 1795 nach Trier zurück. 1803 wurde er im neuen Bistum Trier Domkapitular und Generalvikar. Seit 1783 war er Mitglied der Lesegesellschaft und stand dieser von 1784 bis 1785 als erster Direktor vor. 1789 trat er aus der Gesellschaft aus.
Beatus Itzstein (k. A.)
Itzstein war vermutlich Benediktinermönch der Trierer Abtei St. Marien. Er wird als Verfasser der gegenaufklärerischen Schrift Etwas ü ber die Zuschrift des Geschenkes fü r einen trierischen Knaben angenommen.
Karl Kaspar Kirn (1746–1803)
Kirn war ein Trierer Gastwirt und städtischer Brunnenmeister. Er war Mitglied der Marianischen Bürgersodalität, half Kronenberger bei dessen Flucht und hielt trotz Verbot mit seinen Unterstützern regelmäßig Bittgänge ab.
Ernst Kronenberger (1764–1814)
Kronenberger wurde in Villmar an der Lahn als Sohn eines Gerichtsschö ffen geboren. Seine Ausbildung erhielt er im Franziskanerkloster in Limburg. Nach dem Eintritt in den Orden der AugustinerEremiten 1779 war er als Lehrer tä tig, u. a. als Hofmeister des Grafen von Salm. 1789 erfolgte
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seine Versetzung in die Ordensniederlassung nach Trier. Dort fungierte er als Hausprediger des Nonnenklosters St. Anna und hielt als Prä ses der Bü rgersodalitä t die sonntä gliche Predigt in der Jesuitenkirche. Nach seiner notwendig gewordenen Flucht 1798 hielt sich Kronenberger zunä chst in Aschaffenburg und Augsburg auf, bevor er sich nach Wien an den kaiserlichen Hof begab. Dort trat er der Societas de fide Jesu bei. Im Anschluss ging Kronenberger als Lazarettseelsorger nach Italien. Mitte 1800 wechselte er als Professor fü r Dogmatik an die Ordensniederlassung in Dillingen an der Donau. Als die Stadt nach der Sä kularisation des Hochstifts Augsburg an das mit Frankreich verbü ndete Bayern fiel, floh er erneut. Nach Austritt aus dem Orden erhielt er 1805 eine Pfarrei in Neuwied; 1810 wurde er Pfarrer in Ransbach.
Georg Michael Frank von La Roche (1720–1788)
La Roche war der Adoptivsohn des Kurmainzer Großhofmeisters Anton Heinrich Graf von Stadion. Vermutlich studierte La Roche in Nancy, Luné ville und an der aufgeklä rten Reformuniversitä t in Halle Rechtswissenschaft, Kameralistik und Physik. 1753 erfolgte die Heirat mit der Protestantin Sophie Gutermann von Gutershofen. Bevor La Roche in kurtrierische Dienste trat, stand er in denen des Mainzer Kurfü rsten und verwaltete die Besitzungen des Grafen von Stadion. 1771 berief ihn Kurfürst-Erzbischof Clemens Wenzeslaus als Geheimer Rat an den kurfürstlichen Hof und ernannte ihn 1774 schließlich zum Regierungskanzler. Nach seiner Entlassung zog er sich 1780 ins Privatleben zurück.
Johann Friedrich Lintz (1749–1829)
Lintz studierte in Trier Rechtswissenschaften. Ab 1784 war er Mitglied des städtischen Rates und wurde 1789 zum Bürgermeister gewählt. Daneben fungierte er als Syndikus mehrerer Klöster im Erzbistum Trier. Unter den Franzosen übernahm er verschiedene Ämter und wurde 1798 schließlich Präsident der Zentralverwaltung des Saardepartements. Bis zu seiner Pensionierung war er unter preußischer Herrschaft als Richter tätig. Über die Zeit des französischen Einmarschs führte er Tagebuch.
Alexander Bertram Joseph Minola (1759–1829)
Minola studierte Theologie in Trier und wurde 1782 zum Priester geweiht. 1786 berief ihn Clemens Wenzeslaus als Lehrer ans Koblenzer Gymnasium, wo er bis 1804 unterrichtete. Anschließend wurde er Archivar eines westfä lischen Adelsgeschlechts. Von 1812 bis 1818 unterrichtete er wieder als Gymnasiallehrer in Bonn. Ab den 1800er Jahren begann er sich mit Geschichte zu beschä ftigten und verfasste mehrere historische Untersuchungen. Seine Eindrücke über den französischen Einmarsch hielt er schriftlich fest.
Franz Tobias Müller (1752–1827)
Müller war Pfarrer in Longuich und Bruder von Sanderad und Michael Franz Joseph Müller. Von ihm ist ein Manuskript über Die Schicksale der Gottes-Hä user überliefert sowie ein kurzer Bericht über die Rock-Wallfahrt von 1810.
538 | Anhang: Kurzbiografischer Überblick Johann Kaspar Mü ller (gest. 1832)
Müller stammte aus der Umgebung von Boppard. Er studierte in Trier und unterrichtete spä ter als Professor fü r Sprachen an der é cole centrale des Wä lderdepartements in Luxemburg. In napoleonischer Zeit wurde er Finanzbeamter in Echternach und wenig spä ter zum Friedensrichter des selben Kantons berufen. Er unterstützte Stammel im Streit mit Kronenberger mit seiner Schrift Auch das Volk soll und darf die Wahrheit wissen.
Ludwig Müller (k. A.)
Müller lebte in Trier und war Verfasser eines Tagebuchs, in dem er den Umbruch der französischen Zeit bis 1802 thematisierte. Es existieren keine gesicherten biographischen Angaben.
Michael Franz Joseph Mü ller (1762–1848)
Mü ller – Bruder von Sanderad und Franz Tobias Mü ller – hatte zunä chst in Trier Philosophie und Theologie studiert, um anschließend ebendort und in Mainz Jura zu studieren. 1791 ernannte ihn der Abt von Echternach zum Gerichtsschö ffen, nachdem er zuvor vermutlich schon Syndikus der Abtei gewesen war. Im darauffolgenden Jahr wurde Mü ller Deputierter der Stadt Echternach fü r die Landstä nde des Herzogtums Luxemburg. Unter franzö sischer Herrschaft wurde er 1795 Friedensrichter des Kantons Echternach. Spä ter war er dort Richter am Appellationsgericht und von 1820 bis 1827 Landgerichtsrat. Zusammen mit Johann Hugo Wyttenbach gab er zwischen 1836 und 1839 die Gesta Treverorum heraus.
Sanderad Müller (1748–1819)
Müller war Angehöriger der Trierer Benediktinerabtei St. Maximin. Seine Brüder waren Franz Tobias und Michael Franz Joseph Müller. Seit 1777 war Sanderad Müller der Bibliothekar der Abtei und lehrte dort Mathematik. Vor dem Einmarsch der Franzosen verließ Müller die Abtei, kehrte aber 1799 nach Trier zurück. Da das Kloster geplündert war, zog er sich ins Private zurück. 1808 wurde er Mitglied der Gesellschaft fü r nü tzliche Forschung. Er betätigte sich auf vielfältigen Gebieten wissenschaftlich. Möglicherweise ist er der Verfasser der aufklärungs- und reformfreundlichen Schrift Abdrucks eines Mö nchsbriefs ü ber die Klosterreform. Anfang des 19. Jahrhunderts äußerte er sich in seinen Schriften aufklärungskritischer.
Johann Michael von Pidoll (1734–1819)
Pidoll studierte Theologie und Rechtswissenschaften. Er war Stiftsherr in St. Paulin und wurde 1770 zum Dekan gewä hlt, was er bis zur Aufhebung des Stifts blieb. Zudem hatte er ein Kanonikat in St. Simeon. An der Klosterpolitik des Erzbischofs hatte er maßgeblichen Anteil. 1787 erfolgte seine Ernennung zum Geheimen Rat. 1794 wurde er Weihbischof und flüchtete im gleichen Jahr vor den Franzosen ins Rechtsrheinische. 1802 wurde er vom Papst zum Bischof von Le Mans ernannt.
Ludwig Bertrand Prestinary (1749–1823)
Prestinary studierte in Trier Theologie und wurde 1783 Pfarrer der Trierer Stadtpfarrei St. Gangolf. Er fungierte als Präfekt des Priesterseminars und kurzzeitig auch des Trierer Gymnasiums. 1785
Anhang: Kurzbiografischer Überblick | 539
wurde er Mitglied der Trierer Lesegesellschaft. 1794 verteidigte er mit seiner Schrift die Einrichtung einer Brandversicherung im Kurfürstentum Trier.
Johann Emmerich Joseph Raab (1757–1838)
Raab war Pfarrer der Trierer Stadtpfarrei St. Gervasius und Protasius und bezog mit einem Hirtenbrief in der Eidfrage öffentlich Stellung.
Ferdinand Schö nberger (1755–1834)
Schönberger gehörte dem Orden der Piaristen an und unterrichtete seit 1782/83 in Trier. Ab 1793/94 hielt er sich mit kurzer Unterbrechung in der Ordensniederlassung in Kirchberg (Hunsrü ck) auf. Nach seiner Rü ckkehr nach Trier wurde er Ende 1798 Mitglied der commission é conomique, die die Gesamtverwaltung der hö heren Bildungseinrichtungen bis zur Grü ndung einer Zentralschule ü bernehmen sollte. 1799 erhielt er eine Anstellung als Professor fü r Moral und Philosophie an der Zentralschule. Auch unter preußischer Regierung unterrichtete er zunä chst weiter und wurde 1817 pensioniert.
Johann Jakob Simon (1747–1827)
Simon wurde 1772 in Trier zum Priester geweiht und war seit 1786 Professor fü r klassische Sprachen an der Universitä t. Ab 1786 war Simon Mitglied der Lesegesellschaft und fungierte zwischen 1788 und 1790 als deren Sekretä r. 1791 erfolgte die Ernennung zum Geistlichen Rat. Von 1794 bis 1798 war er Sekretä r des Generalvikariats. Ab 1805 wurde er Ökonom des wieder erö ffneten Priesterseminars und war als Professor fü r Griechisch tä tig.
Johann Jakob Stammel (1771–1845)
Stammel war der Sohn des Buchdruckers und spä teren Zeitungsherausgebers Wienand Stammel (geb. um 1745). Johann Jakob studierte an der Trierer Universitä t Philosophie und Theologie und trat ins Priesterseminar ein. 1791 wurde er Doktor der Theologie; 1794 erfolgte die Ernennung zum Diakon. Nach seiner Priesterweihe 1795 trat er die Pfarrstelle in Gusterath an und wurde im Januar 1796 in das Trierer Stadtkapitel aufgenommen. Im Zuge der Neuordnung des Linksrheinischen 1798 legte er sein Kirchenamt nieder und trat in französische Dienste. Zunächst war er Mitglied der Trierer Munizipalverwaltung und fungierte einstweilig als deren Kommissar. Am 28. Mä rz 1798 wurde er Kommissar der Munizipalitä t in Konz. In der Folge versuchte er mit entsprechenden Publikationen die Arbeit der franzö sischen Verwaltung ö ffentlich zu unterstü tzen. 1799 ging Stammel ans Bezirksgericht nach Prü m, heiratete und wurde 1811 zum zweiten Staatsprokurator am Kreisgericht in Bonn ernannt. Ab 1819 ü bte er dasselbe Amt unter preußischer Verwaltung am Landgericht Kö ln aus.
Anton Varain (1734–1813)
Varain studierte in Trier Theologie. 1758 wurde er zum Priester geweiht und trat eine Pfarrstelle im luxemburgischen Born an. Von ihm ist eine Lebensbeschreibung überliefert.
540 | Anhang: Kurzbiografischer Überblick Johann Hugo Wyttenbach (1767–1848)
Wyttenbach studierte an der Universitä t Trier Theologie und trat 1791 der Trierer Lesegesellschaft bei. Er arbeitete zunä chst als Hauslehrer der Familie Nell und anschließend bei dem Grafen zu Spaur und Flavon in Wetzlar. 1797 kehrte er nach Trier zurü ck und wurde Lehrer an der franzö sischen Zentralschule. Er war maßgeblich am Aufbau der Stadtbibliothek beteiligt deren Leiter er bis zu seinem Tod war. Er beteiligte sich ebenfalls an der Reform der Primä rschulen. Auch unter der preußischen Herrschaft blieb Wyttenbach Direktor des Trierer Gymnasiums.
Quellen- und Literaturverzeichnis Quellenverzeichnis Ungedruckte Quellen Landeshauptarchiv Koblenz (LHA Ko) Best. 700,062 Nr. 28: Trierisches Tage– buch von Louis Müller – Best. 1C Nr. 11278 – Best. 1C Nr. 16436 – Best. 276 Nr. 550 – Best. 276 Nr. 551 – Best. 276 Nr. 578 Stadtarchiv Trier (StadtAr Tr) – Fz 110 – Fz 111 – Fz 678 – Fz 679 – Fz 680 – Fz 682: Kurzer Abriß einer Geschichte über die Auflösung des Curfürstenthums und Erzbisthums Trier und die Errichtung eines neuen Bisthums, veranlaßt durch die französische Staats-Umwälzung. – Fz 812 Bd. 12 Stadtbibliothek Trier (StadtBib Tr) – Hs 1769/959, fol. 42: Meine Gedanken über Den guten Bürger in 6 Predigten P. Ernest Cronenberger O. S. Aug. Bistumsarchiv Trier (BATr) – Abt. 20, Nr. 21 – Abt. 49, Nr. 4 Abt. 49, Nr. 6, darin auch: Stammel, Jo– hann Jakob: Erklärung ans Publikum in Betreff der Trierischen Kronik, Juli 1797.
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Best. 276 Nr. 594 Best. 276 Nr. 595 Best. 276 Nr. 3999 Best. 241ff Nr. 634 Best. 241ff Nr. 692 Best. 241ff Nr. 693 Best. 241ff Nr. 960
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DK 10/38/9 DK 15/2 DK 45/25 DK 45/87 DK 45/89: Zustand der Religion und ihrer Diener während der französischen Okkupation der trierischen Landen vom 10 August 1794. bis den 6ten Januar 1814. DK 45/91 DK 52/7
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Hs 2382/2327
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Abt. 49, Nr. 7 Abt. 49, Nr. 8 Abt. 49, Nr. 13 Abt. 49, Nr. 46 Abt. 49, Nr. 48
Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars Trier – Müller, Franz Tobias: Die Schicksale der Gottes-Häuser in, und nahe bei Trier. Seithero der feindlichen Ankunft der Franzosen im Jahre 1794, sammt den Vorfällen mit der damaligen Geistlichkeit; beschrieben mit Zusätzen aus den vorigen Zeiten, für die ihrem Gott und seiner katholischen Religion treu gebliebenen Bürger. https://doi.org/10.1515/9783110674545-007
542 | Quellen- und Literaturverzeichnis Gedruckte und edierte Quellen Allgemeine Literatur-Zeitung, Bd. 3, Jena 1789. Anonym: Gedanken eines Weltmannes über den Abdruk des Mönchsbriefes betreffend die Klosterreforme unsers Vaterlandes, o.O. [ca. 1790]. Ders.: Rezension: Versuch über die Aufklärung des Landmannes. Nebst Ankündigung eines für ihn bestimmten Handbuches. Von R. Z. Becker. Bey J. Göschen 1785. In: Würzburger Gelehrte Anzeigen 1.4 (Jan. 1786), S. 27–31. Ders.: Abdruck eines Mönchsbriefs über die Klosterreform unsres Vaterlands, o.O. 1789. Ders.: Ueber das Beichtwesen in der katholischen Kirche, in: Beyträge zur Verbesserung des äussern Gottesdienstes in der katholischen Kirche, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1789, S. 120–166. Ders.: Die Aristokraten in Deutschland. Ein Lustspiel in drei Aufzügen für das Hoftheater in Coblenz, Koblenz, Mainz 1796. Ders.: Kurze Anmerkungen über den Neuen Eid, so von der Geistlichkeit in den vereinigten Ländern abgefordert wird. Herausgegeben von einem Religions-Freunde, [Aachen] 1797. Ders.: Der aufrichtige Republikaner, an die Freunde der Wahrheit oder Bemerkungen über das Betragen des Trierischen General-Vikariats gegen die eidscheuen Geistlichen im ehemaligen Herzogthum Luxemburg, Aschaffenburg 1798. Ders.: Traktat über die drei Betrüger/Traité des trois imposteurs, hrsg. v. Winfried Schröder, Hamburg 1992. [Bahrdt, Carl Friedrich]: Über Aufklärung und die Beförderungsmittel derselben, unter Mitarb. v. August Gottlieb Weber und Degenhart Pott, Leipzig 1789. Becker, Johann Nikolaus: Beschreibung meiner Reise in den Departementern vom Donnersbergem vom Rhein und von der Mosel in sechsten Jahr der Französischen Republik. In Briefen an einen Freund in Paris, Berlin 1799. Blau, Felix Anton: Kritische Geschichte der kirchlichen Unfehlbarkeit zur Beförderung einer freiern Prüfung des Katholizismus, Frankfurt a. M. 1791. Ders.: Kritik der seit der Revolution in Frankreich gemachten Religions-Verordnungen, auf reine Prinzipien des Staats- und Kirchenrechts, Straßburg 1797. Boos, Franz Xaver: Ländliche Feierstunden Für Den Ackersmann, Trier 1800. Ders.: Kritische Bemerkungen über den Trierer Herrgottsrock, Basel 1820. C. F. Gellerts sämmtliche Schriften. Erster Theil, Leipzig 1839. Campe, Johann Heinrich: Reise des Herausgebers von Braunschweig nach Paris im Heumonat 1789, in: ders. [Hrsg.]: Sammlung interessanter und durchgängig zweckmäßig abgefaßter Reisebeschreibungen für die Jugend, Bd. 8, Reutlingen 1790. Castello, Johann Wilhelm: Hindernisse der Aufklärung (= Johann Wilhelm Castello und die Aufklärung im Erzstift Trier. Eine Studie Castellos aus dem Jahr 1787), hrsg. v. Eduard Lichter, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 21 (1969), S. 179–227. Cordel, Anton: Diarium der Augsburgischen Reise 1810 zur Abnahme des Hl. Rockes (= Die Rückkehr des Hl. Rocks aus Augsburg im Jahre 1810), hrsg. v. Eduard Lichter, in: Kurtrierisches Jahrbuch 8 (1968), S. 241–255. Ders.: Diarium der Augsburgischen Reise 1810 zur Abnahme des Hl. Rockes (= Die Rückkehr des Hl. Rocks aus Augsburg im Jahre 1810. 2. Teil: Merzig-Trier und anschließende Ausstellung in Trier), hrsg. v. Eduard Lichter, in: Kurtrierisches Jahrbuch 9 (1969), S. 160–176. Dalberg, Johann Friedrich Hugo: Neuer Lehrplan für die Gymnasien in Trier und Koblenz, verfaßt von dem Vorsitzenden der Schulkommission, Domherrn Friedrich von Dalberg (1786 September), Trier, in: Hansen [Hrsg.]: Quellen Bd. 1, S. 117–128.
Quellen- und Literaturverzeichnis | 543
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Ders.: Tagebuch waehrend der franzs. Republik von 1794–1797 (= Johann Friedrich Lintz und sein Tagebuch 1794–1799 aus der Trierer Franzosenzeit, Fortsetzung), hrsg. v. Hubert Schiel, in: Kurtrierisches Jahrbuch 11 (1971), S. 69–90. Ders.: Tagebuch waehrend der franzs. Republik von 1794–1797 (= Johann Friedrich Lintz und sein Tagebuch 1794–1799 aus der Trierer Franzosenzeit, Schluss), hrsg. v. Hubert Schiel, in: 12 (1972), S. 81–103. Michaelis, Johann Benjamin: Poetische Werke, Karlsruhe 1783. Minola, Alexander: Die Franzosen in Koblenz 1794 bis 1797 (= Die Franzosen in Coblenz 1794 bis 1797. Aufzeichnungen des Coblenzer Professors Minola), hrsg. v. Hermann Cardauns, Koblenz 1916. Müller, Franz Tobias: Aufzeichnungen zur Geschichte der Pfarrei Longuich von Franz Tobias Müller (1795–1823, 1827) (= Ein neu entdeckter Bericht über die Wallfahrt zum Heiligen Rock im Jahre 1810 von Franz Tobias Müller), hrsg. v. Mario Simmer, in: Kurtrierisches Jahrbuch 53 (2013), S. 271–274. Müller, Johann Kaspar: Auch das Volk soll und darf die Wahrheit wissen, Luxemburg 1797. Müller, Michael Franz Joseph: Geschichte des von Kaßpar Olewian im Jahr 1559 zu Trier erweckten Religions-Aufstandes, ein Geschenk für einen trierischen Knaben, Mainz 1788. Ders.: Summarisch-geschichtliche Darstellung der klösterlichen Institute unserer Vaterstadt und ihrer Umgebungen, Trier 1824. Müller, Sanderad: Freundschaftlicher Vortrag über die Mishandlung der Alterthümer, Kunstwerke, und wissenschaftlicher Gegenstände, Trier 1808. Ders.: Knittelversen auf die Knittelphilosophie, nach dem Jambenleisten des alten Meistersängers Jakob Frischlin, von Reutlingen, Trier 1814. Mutschelle, Sebastian: Über das sittlich Gute, München 1788. Ders.: Über die Aufklärung. Eine Rede bey Austheilung der Schulpreise in Freysing 1792, in: ders. [Hrsg.]: Vermischte Schriften oder philosophische Gedanken und Abhandlungen, 2., verb. Aufl., München 1799, S. 3–30. Nachricht ans Publikum, 19. Juli 1792. Nachrichten, in: Würzburger Gelehrte Anzeigen 1.3 (1786), S. 25–26. Prestinary, Bertrand Ludwig: Pflicht der Nächstenliebe in Hinsicht auf die BrandversicherungsGesellschaft nebst Bemerkung der Vortheile, die mit dieser so gemeinnützigen Anstalt verbunden sind, Trier 1794. Raab, Johann Emmerich Joseph: Hirtenbrief des Pfarrers zu Sankt Gervasius und Protasius in Trier an seine Pfarrgemeinde bei Gelegenheit des zu Trier am 10ten Dezember 1797. von den Geistlichen und Zivilbeamten abgefoderten französischen Eides, Trier 1797. Rebmann, Georg Friedrich: Blick auf die vier neuen Departemente des linken Rheinufers in Hinsicht auf Kunstfleiss, Sitten und Maasregeln betrachtet, welche zu ihrem Glück erforderlich seyn möchten, Coblenz und Trier 1802. [Ders.]: Rückerinnerungen an unser Elend und fromme Hofnungen von der Zukunft. Von einem Bewohner des linken Rheinufers, Germanien [i. e. Mainz] 1814. Recueil Des Règlements et Arrêtés Émanés Du Commissaire Du Gouvernement Des Les Quatre Nouveaux Départemens de La Rive Gauche Du Rhin, Bd. 1/2, 3/4, 5/6, 7/8, 21/22, Straßburg 1800. Reuß, Maternus: Soll man auf katholischen Universitäten Kants Philosphie erklären?, Würzburg 1789.
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Personenverzeichnis Abraham a Santa Clara 127 Ambert, Jean Jacques 293 Andreß, Bonaventura 59, 222, 243, 244, 257 Antonius 441 Archenholz, Johann Wilhelm von 56 Arius 498 Arnim, Bettina von 117 Arnoldi, Heinrich Alois 196 Athanasius 441 Augereau, Charles Pierre François 337 Augustinus von Hippo 45, 114, 184, 441
Boos zu Waldeck, Franz Karl Ludwig Freiherr von 31 Boos, Franz Xaver 491, 492, 495 Borromäus, Karl 36 Bossuet, Jacques Bénigne 341 Boucqueau, Philippe Joseph 317, 322, 328 Brechter, Johann Jakob 118 Brentano, Clemens 117 Brouwer, Christoph 279, 471 Bucer, Martin 424 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 161 Busenbaum, Hermann 125, 235
Bahrdt, Carl Friedrich 138 Balduin von Luxemburg 30 Barruel, Augustin 355 Barthel, Johann Kaspar 168 Basedow, Johann Bernhard 64, 118, 262 Baumgartner, Erasmus 510 Bayle, Pierre 519 Beauharnais, Joséphine de 404 Beck, Franz Heinrich 70, 71, 119, 120, 142 Beck, Ludwig Josef 101, 195–197, 220, 221, 227, 263 Becker, Johann Nikolaus 1, 3, 5 Becker, Rudolf Zacharias 67, 222 Bella, Jean Baptiste 80, 302–304, 306 Bellisomi, Carlo 120 Benedikt von Nursia 176 Benedikt XIV. 484 Berdolet, Marc-Antoine 405 Berg, Franz 524 Bergier, Nicolas-Sylvestre 148, 488 Bernhard von Clairvaux 177 Bibra, Siegmund von 59 Blankenstein, Ernst von 290 Blau, Felix Anton 474, 487, 519, 520 Bodenschatz, Johann Christoph Georg 501 Bodmer, Johann Jakob 118 Bonaparte, Napoleon 3, 16, 77, 84, 85, 97–100, 102, 104–106, 286, 364, 365, 367, 369, 375, 378, 379, 381, 387, 396, 405–407, 412, 418, 444, 530
Calas, Jean 149 Calvin, Johannes 423, 482, 504 Cambacé rè s, Jean-Jacques Régis de 364 Campe, Joachim Heinrich 13, 108, 109, 165, 207, 208, 281 Camus, Jean-Dénis-François 406 Canisius, Petrus 125 Caprara, Giovanni Battista 100 Castello, Johann Wilhelm 20, 214–217, 220–252, 258–260, 266, 273, 276, 280, 283, 435, 463, 479, 480, 489, 507, 514, 529 Clemens Wenzeslaus von Sachsen 8, 14, 26, 29–34, 36, 37, 39, 48–50, 53, 56–58, 65, 68, 70, 71, 75, 78, 86, 87, 101, 108, 109, 119, 120, 127, 140, 143, 190–192, 196–198, 203, 204, 218, 219, 221, 224, 227, 228, 232, 235, 252, 258, 264, 265, 283, 289, 292, 314, 322, 334, 369, 375, 380, 395, 434, 480, 490 Clemens XIV. 114, 133 Colloredo, Hieronymus von 49 Conrad, Peter 90, 220, 221 Cordel, Anton 90, 101, 400–403, 412–414, 416, 430, 530 Custine, Adam-Philippe de 75
https://doi.org/10.1515/9783110674545-008
Dalberg, Johann Friedrich Hugo von 28, 29, 62, 263, 264
568 | Personenverzeichnis Dalberg, Karl Theodor von 263 Damiani, Petrus 459 Danzer, Jakob 235 Deinet, Johann Conrad 120 Dewora, Viktor Joseph 97, 292, 396–398, 406, 407, 409, 411, 412, 524–526, 529 Diderot, Denis 148, 518 Dieterich, Johann Christian 148 Dietl, Georg Alois 456 Dorsch, Anton Joseph 205, 322, 460, 474, 519, 520 Driesch, Matthias Josef 90 Ducos, Roger 364 Duminique, Ferdinand von 119, 290 Dumont, Paul 340 Eberhard von Trier 477 Eckartshausen, Karl von 278 Ehrmann, Theophil Friedrich 277 Eickemeyer, Rudolf 363 Eltz, Jakob von 28, 31, 36, 471 Emmerich Joseph von Breidbach-Bürresheim 49, 188, 190 Engel, Johann Phillip 308–310, 330, 532 Erasmus von Rotterdam 424 Ernst, Simon Peter 343–346, 353, 354, 357, 358, 361 Eschermann, Johann Christoph 54 Espen, Zeger Bernhard van 180 Eybel, Josef Valentin 142 Faber, Hartrad 90 Feder, Johann Georg Heinrich 277 Felbiger, Johann Ignaz 207, 261–263, 271, 279 Feller, Franz Xaver 70, 522 Fischer, Anton Ignatz 60 Fischer, Johann Jakob 60 Fleury, Claude 139, 173–175, 177, 180, 267, 357, 467, 472 Fontenelle, Bernard le Bovier de 40 Forster, Georg 107, 109 Franck, Johannes Adam 117 Frankenberg, Johann Heinrich von 344, 345 Franz II. (HRR)/Franz I. (Österreich) 381, 409 Franz Ludwig von Erthal 222
Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg 32 Friedrich II. (Preußen) 57, 60, 114, 261 Friedrich Karl Joseph von Erthal 116 Garampi, Giuseppe 120, 142 Gazzaniga, Patrus Maria 155 Gellert, Christian Fürchtegott 60, 129, 264 Gerhards, Johann Heinrich 311 Gertz, Johann 220 Gessner, Salomon 134 Girtanner, Christoph 57 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 134 Goethe, Johann Wolfgang von 118, 119, 422 Goldhagen, Hermann 70, 129, 131, 138, 274, 438, 498, 506, 510 Gottsched, Johann Christoph 131 Gregor VII. 167, 170, 423, 457, 458 Greiffenklau, Richard von 420, 422 Gutermann von Gutershofen, Georg Friedrich 124 Görres, Joseph 311, 363 Haan, Johann Jakob 23, 318, 327, 353, 384, 463, 481, 486, 491 Haas, Joseph Anton 322, 324, 368–375, 380, 381, 393, 394, 410, 418, 434, 501, 523, 530 Haubs, Franz Anton 90, 319 Hecker, Andreas Jakob 252 Heinrich VIII. (England) 373 Heinzmann, Johann Georg 107, 108, 165 Herbain, Jean Marie Cuchot de 34, 119, 199, 204, 221, 284, 355 Herder, Johann Gottfried von 60, 263, 264, 277 Hermes, Georg 214 Hetzrodt, Johann Baptist Michael 23, 383, 384 Hillar, Maurus 471 Hobbes, Thomas 41, 68 Hoche, Lazare 80, 81, 83, 92, 305 Hoffmann, Leopold Alois 438 Hohenfeld, Christoph Philipp Willibald von 119 Holbach, Paul Henri Thiry d’ 43, 68, 148 Hommer, Joseph Ludwig 214, 248, 259, 398
Personenverzeichnis |
Hontheim, Johann Nikolaus von 34, 46, 119, 168, 169, 188, 279, 471, 489, 495 Hontheim, Peter Joseph von 89, 90, 101, 120, 168, 318, 319, 325, 331, 362, 389, 417, 418 Hornstein, Franz Eustach von 118, 119 Housta, Baudouin de 175 Hume, David 119, 158, 161, 264 Hungers, Johannes 340 Hunolt, Franz 234 Hus, Jan 270 Hübner, Lorenz 59 Ickstatt, Johann Adam von 109, 110, 126, 167, 168 Ignatius von Loyola 112, 116 Iselin, Isaak 117, 161, 162 Itzstein, Beatus 270–278, 281, 282, 284 Jansenius, Cornelius 45 Johann I. (Trier) 478 Joseph I. (Österreich) 26 Joseph von Calasanz 445 Joseph II. (Österreich) 48–50, 116, 169, 188, 189, 194, 195, 204, 438, 455, 495 Kant, Immanuel 42, 44, 64, 205, 214, 468, 490, 492, 493, 495, 505, 514, 518, 519 Karl Theodor (Pfalz und Bayern) 119, 195 Katharina II. (Russland) 114 Kerpen, Anselm von 32, 54, 79, 203 Kesselstatt, Edmund von 22, 412, 413, 416 Kesselstatt, Johann Philipp von 62 Kirn, Johannes Balthasar 327 Kirn, Karl Kaspar 327–329, 353, 361, 362, 427, 428 Klebe, Friedrich Albert 264, 366, 371 Knodt, Peter Daniel 308, 310 Knörzer, Adam 224, 442, 473 Kohl, Christian Eugen 90 Kronenberger, Ernst 320, 327, 419, 427–432, 434, 435, 437–439, 445, 446, 448–453, 458–462, 464–467, 470–473, 475, 476, 481, 482, 485, 487, 488, 495, 497, 500–502, 504–511, 513, 516, 521, 522, 526 Köster, Heinrich Martin Gottfried 438
569
Küchelbecker, Friedrich Christian Heinrich 253 La Mettrie, Julien Offray de 159, 160 La Roche, Georg Michael Frank von 20, 33, 60, 117–122, 124, 125, 127, 128, 130, 133, 134, 136, 137, 139–143, 145, 146, 149–151, 153–158, 161, 165–169, 173–175, 178, 179, 181, 182, 185, 186, 188–190, 206, 208, 210, 211, 213, 214, 219, 233, 261–263, 283, 284, 341, 436, 443, 451, 455, 464, 488, 499, 529 La Roche, Maximiliane von 117 La Roche, Sophie von 52, 117, 118 Lang, Joseph Gregor 264 Lassaulx, Johann Claudius 55 Lassaulx, Peter Ernst von 303 Latomus, Bartholomäus 424, 425 Lavater, Johann Caspar 118, 119 Lebrun, Charles-François 364 Leibniz, Gottfried Wilhelm 41 Lelièvre, Emmanuel 392 Leopold II. (Österreich) 87, 438 Lequereux, Nikolas 318, 328 Lessing, Gotthold Ephraim 60 Leuxner, Georg Philipp Christoph 90 Lichter, Philipp 292 Lindet, Robert Thomas 75 Linné, Carl von 161 Lintz, Johann Friedrich 290, 293, 294, 299–301, 303–308, 313, 316, 330, 331, 388, 416–418, 532 Locke, John 41, 51, 52, 64, 67, 149, 158 Ludwig XIV. (Frankreich) 31, 114 Ludwig XVI. (Frankreich) 26, 76, 289, 437 Ludwig XVIII. (Frankreich) 381, 406 Luther, Martin 138, 211, 269, 272, 284, 423, 473, 482, 489, 503, 504 Mabillon, Jean 176 Maillot de la Treille, Nicolas 119, 120 Mannay, Charles 100–102, 104, 367, 387, 395–398, 402–404, 406, 410, 418, 524 Maria Josepha von Sachsen 26 Maria Theresia (Österreich) 49, 126, 189, 220, 261
570 | Personenverzeichnis Marie-Louise (Österreich) 404 Martin von Cochem 156, 157, 235, 267, 281, 388, 525 Masen, Jakob 279, 471 Maurus 176 Maximilian Franz von Österreich 335 Maximilian III. Joseph (Bayern) 169 Maybaum, Karl Josef 221 Medardus von Noyon 323 Melanchthon, Philippp 424 Mendelssohn, Moses 42, 43, 149, 499 Merz, Alois 70, 127, 447 Metternich, Mathias 311 Meynard, François 301 Michaelis, Johann Benjamin 134 Michaelis, Johann David 220 Milton, John 60, 118 Minola, Alexander Bertram Joseph 289–291, 293–295, 299, 300, 302–305, 313–315, 330, 369, 416 Mirabeau, Honoré Gabriel Riqueti, Comte de 57 Monika von Tagaste 184 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de 63, 117, 167, 201, 264 Moser, Friedrich Karl von 7 Muratori, Lodovico Antonio 180, 181 Musschenbroek, Pieter van 131 Mutschelle, Sebastian 514, 516, 519 Müller, Franz Tobias 22, 327, 329, 377, 379–382, 387, 390, 392–396, 398, 402–404, 408, 418, 528 Müller, Johann Kaspar 448, 449, 461–463, 465, 467, 473–476, 485–487, 493–495, 502–505, 511–517, 519, 525, 530 Müller, Ludwig 21, 287, 290, 292, 294, 304, 305, 313, 315, 316, 320, 321, 323–330, 337, 366, 367, 376, 377, 380, 382, 387–390, 394, 395, 410, 416–418, 432, 433, 528 Müller, Michael Franz Joseph 265–276, 278–283, 287, 377, 385, 421, 422, 436, 469 Müller, Sanderad 200, 202, 265, 283, 287, 522–525
Nell, Nikolaus 90, 101 Neller, Georg Christoph 168, 267 Nero 373 Neveu, Etienne 306, 310 Newton, Isaac 51, 52, 207 Nicolai, Christoph Friedrich 58, 107 Nonnotte, Claude-Adrien 210, 496, 497, 505, 522 Oehmbs, Anton 224, 366, 473 Oetinger, Friedrich Christoph 131 Olevian, Caspar 268, 269, 271, 272, 274, 280–282, 420 Orsbeck, Hugo von 31 Osterwald, Peter von 168 Paccanari, Niccoló 434 Paulus von Tarsus 267, 373 Pestalozzi, Johann Heinrich 64 Pey, Jean 70 Pezzl, Johann 118, 181 Pichler, Vitus 131, 154, 498 Pidoll, Johann Michael von 34, 89, 90, 194, 197, 203, 314, 340, 375, 378, 379, 434 Pius V. 179 Pius VI. 98, 332, 341, 355, 369, 523 Pius VII. 3, 98, 100, 104, 364, 372, 378, 379, 406, 413, 456 Pope, Alexander 60 Prestinary, Ludwig Bertrand 20, 252–260, 284, 514, 530 Pufendorf, Samuel 41, 149, 150 Raab, Johann Emmerich Joseph 337, 346–353, 355, 359, 361, 418 Rautenstrauch, Franz Stephan 220 Raynal, Guillaume 379 Rebmann, Georg Friedrich 57, 362, 412, 418 Recking, Anton Joseph 402 Reuchlin, Johannes 421 Reuß, Maternus 491, 524 Riem, Andreas 42, 76 Riesbeck, Johann Kaspar 110, 111, 118, 120, 214 Robespierre, Maximilien de 75–77, 299 Rochow, Friedrich Eberhard von 281
Personenverzeichnis | 571
Rousseau, Jean-Jacques 44, 64, 65, 162, 174, 262, 285, 373, 374, 379, 393, 445, 472, 495, 518 Royko, Caspar 270 Rudler, François Joseph 84, 85, 92–96, 314, 315, 320, 322, 323, 457, 503 Ruef, Johann Kaspar 215, 506 Saal, Johann Phillip 392 Sailer, Johann Michael 70, 71, 151, 275, 524, 525 Saint-Ré my, Jeanne de 57 Sainte Suzanne, Alexandre François Bruneteau de 402, 403 Salzmann, Christian Gotthilf 60, 207, 208, 281 Sandbichler, Alois 216 Schiller, Friedrich 60 Schillinger, Ludwig 328, 329, 428 Schimper, Johann Michael 400 Schlözer, August Ludwig von 59 Schmidt, Michael Ignaz 467 Schmier, Franz 154, 498 Schröll, Johann Anton 60, 338, 340, 343, 344, 346, 348, 360, 368, 402 Schwind, Karl Franz 221, 456–458, 461, 462, 520 Schönberg, Matthias von 509 Schönberger, Ferdinand 489, 490, 493, 520 Sechter von Hermanstein, Johann 314 Sellier, Osmont du 175 Shée, Henri 365 Sickingen, Franz von 420–423 Sieyès, Emmanuel Joseph 364 Simon, Johann Jakob 89, 308–310, 430–432 Smith, Adam 257 Sonnenfels, Joseph von 126 Spinoza, Baruch de 68 Sporer, Patritius 234 Stadion, Anton Heinrich Friedrich von 33, 117 Stammel, Johann Jakob 22, 275–284, 419–421, 423, 425–430, 432, 434–442, 444–446, 448–450, 452, 454, 455, 457, 458, 461–463,
466–468, 470–473, 475–482, 485, 487–489, 493, 494, 497–502, 504–507, 517, 519, 520, 525, 529, 530 Stammel, Wienand 275 Stattler, Benedikt 491 Sötern, Philipp Christoph von 30 Talleyrand-Périgord, Charles-Maurice de 73, 100, 396 Tanner, Konrad 506 Tertullian 472 Thomas von Kempen 510 Thomasius, Christian 41 Tillotson, John 131 Tronchin, Théodore 393 Turgot, Anne Robert Jacques 48 Varain, Anton 295–299, 330, 369, 388, 417, 532 Voit, Edmund 234 Voltaire (Arouet, François-Marie) 43, 51, 68, 117, 149, 174, 210, 285, 393, 467, 472, 496, 518, 523 Walderdorff, Philipp Franz Wilderich von 28, 32, 54, 62, 384 Walther, Bernhard Siegfried 144 Weber, Joseph von 278 Weber, Peter Josef 90, 221 Weckbecker, Johann Peter 61 Weishaupt, Adam 62 Weissenbach, Joseph Anton 70 Wekhrlin, Wilhelm Ludwig 57, 109 Wessenberg, Ignaz Heinrich von 248 Westenrieder, Lorenz 266, 462 Wieland, Christoph Martin 42, 60, 118, 516 Wilhelm von Nassau-Dillenburg 448 Winkopp, Peter Adolph 118 Wittmann, Willibrord 200 Wittola, Marx Anton 59 Wolff, Christian 44, 110, 119, 276, 491 Wyttenbach, Johann Hugo 96, 265, 448, 492, 493 Xaver, Franz 116 Young, Edward 60
572 | Personenverzeichnis Zausper, Andreas Dominikus 169 Ziegler, Simon 306–308
Zimmermann, Johann Georg 210 Zöllner, Johann Friedrich 42, 43