Der moderne Glaube an die Menschenwürde: Philosophie, Soziologie und Theologie im Gespräch mit Hans Joas [1. Aufl.] 9783839425190

Hans Joas is one of the most important contemporary theorists. His neopragmatic approach encounters broad - and often sk

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German Pages 270 [266] Year 2014

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Inhalt
Vorwort
1. Werte und Normen. Philosophische Positionierungen
Nicht affektive Ergriffenheit, sondern öffentlicher Diskurs. Sakralisier te Person oder säkulare Menschenwürde als Basis der Menschenrechte?
Affirmative Genealogie und argumentativer Diskurs. Ein Vergleich im Anschluss an Hans Joas
Die Sakralität der Person und der klassische amerikanische Pragmatismus
Zuviel des Guten? Joas’ Darstellung der Menschenrechte im Lichte kommunitaristischer Ideen
Sakralität und Geschichte. Zu Hans Joas’ Ver fahren einer ›af firmativen Genealogie‹
2. Religion und Gesellschaft. Soziologische Sondierungen
Menschenwürde, Menschenrechte und Sakralität der Person (Religiöse). Individualisierung als universaler Fluchtpunkt?
Ambivalenzen der Sakralisierung. Zur Durkheim-Rezeption in Hans Joas’af firmativer Genealogie der Menschenrechte
Sakralisierung des Strafrechts? Zur Renaissance der Rechts- und Moralsoziologie Émile Durkheims
3. Menschenwürde und Gottesglaube. Theologische Einordnungen
Affirmative Genealogie als existentieller Historismus. Bemerkungen zur Troeltsch-Interpretation von Hans Joas
Heimlich ins theologische Fach gewechselt? Ein Kommentar zu den Konzepten von Seele und Gabe in Joas’ Studie zur Sakralität der Person
Recht erfordert Politik. Chancen des Menschenrechtsdiskurses vor dem Horizont katholischen Sozialdenkens
Heiligkeit und Würde. Die Sakralität der Person als theologische Lektüre
Kult des Individuums oder Sakralität der Person? Ungeklär te Beziehungen und neue Verständigungschancen zwischen Theologie und Sozialtheorie
Replik
Zu den Autorinnen und Autoren
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Der moderne Glaube an die Menschenwürde: Philosophie, Soziologie und Theologie im Gespräch mit Hans Joas [1. Aufl.]
 9783839425190

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Hermann-Josef Große Kracht (Hg.) Der moderne Glaube an die Menschenwürde

Sozialtheorie

2014-05-26 15-00-29 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01ce367526616096|(S.

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4) TIT2519.p 367526616104

2014-05-26 15-00-29 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01ce367526616096|(S.

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Hermann-Josef Große Kracht (Hg.)

Der moderne Glaube an die Menschenwürde Philosophie, Soziologie und Theologie im Gespräch mit Hans Joas

2014-05-26 15-00-29 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01ce367526616096|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

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2014-05-26 15-00-29 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01ce367526616096|(S.

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4) TIT2519.p 367526616104

Inhalt Vorwort  | 9

1. W erte und N ormen P hilosophische P ositionierungen Nicht affektive Ergriffenheit, sondern öffentlicher Diskurs Sakralisier te Person oder säkulare Menschenwürde als Basis der Menschenrechte? Georg Lohmann | 13

Affirmative Genealogie und argumentativer Diskurs Ein Vergleich im Anschluss an Hans Joas Matthias Kettner | 29

Die Sakralität der Person und der klassische amerikanische Pragmatismus Gesche Linde | 49

Zuviel des Guten? Joas’ Darstellung der Menschenrechte im Lichte kommunitaristischer Ideen Michael Haus | 65

Sakralität und Geschichte Zu Hans Joas’ Ver fahren einer ›affirmativen Genealogie‹ Francesca Raimondi | 81

2. R eligion und G esellschaft S oziologische S ondierungen Menschenwürde, Menschenrechte und Sakralität der Person (Religiöse) Individualisierung als universaler Fluchtpunkt? Gert Pickel | 99

Ambivalenzen der Sakralisierung Zur Durkheim-Rezeption in Hans Joas’ affirmativer Genealogie der Menschenrechte Matthias Koenig | 113

Sakralisierung des Strafrechts? Zur Renaissance der Rechts- und Moralsoziologie Émile Durkheims Bijan Fateh-Moghadam | 129

3. M enschenwürde und G ottesgl aube T heologische E inordnungen Affirmative Genealogie als existentieller Historismus Bemerkungen zur Troeltsch-Interpretation von Hans Joas Christian Polke | 153

Heimlich ins theologische Fach gewechselt? Ein Kommentar zu den Konzepten von Seele und Gabe in Joas’ Studie zur Sakralität der Person Thomas M. Schmidt | 171

Recht erfordert Politik Chancen des Menschenrechtsdiskurses vor dem Horizont katholischen Sozialdenkens Daniel Bogner | 187

Heiligkeit und Würde Die Sakralität der Person als theologische Lektüre Stephan Goertz | 209

Kult des Individuums oder Sakralität der Person? Ungeklär te Beziehungen und neue Verständigungschancen zwischen Theologie und Sozialtheorie Hermann-Josef Große Kracht | 223

Replik Hans Joas | 243

Zu den Autorinnen und Autoren  | 265

Vorwort

Hans Joas gehört seit vielen Jahren – national wie international – zu den wichtigsten Inspiratoren der sozialwissenschaftlichen Debatten um Selbstverständnis und Beschaffenheit, Programm und Profil, Empirie und Normativität moderner Gegenwartsgesellschaften. Seine Bemühungen um Auf bau und Entfaltung einer neopragmatistischen Sozialtheorie stoßen in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen und unterschiedlichen Theoriemilieus auf eine hohe – freilich mitunter auch skeptische – Rezeptionsbereitschaft. Dass Hans Joas nicht nur in Diskursen gesellschaftstheoretisch ambitionierter Philosophie und normativ interessierter Soziologie präsent ist, sondern auch in Teilen der Theologie und der christlichen Sozialethik breit rezipiert wird, ist jedenfalls ein Indiz dafür, dass man seinem Forschungsprogramm fächerübergreifend ein hohes Innovationspotenzial zutraut. Auch sein im Herbst 2011 erschienenes Buch Die Sakralität der Person, das sich explizit mit dem Thema der Menschenrechte und der Menschenwürde beschäftigt, hat hohe Aufmerksamkeit gefunden und wird interdisziplinär breit diskutiert; ein weiteres Indiz dafür, dass vom Joas’schen Forschungsprogramm, das selbst einen work in progress darstellt, noch einiges zu erwarten sein dürfte. Vor diesem Hintergrund versammelt dieser Band systematische Beiträge philosophischer, soziologischer und theologischer Provenienz, denen es um eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit der spezifischen Leistungskraft und den möglichen Grenzen des Joas’schen Forschungsansatzes zur Rekonstruktion des ›modernen Glaubens an die Menschenwürde‹ geht. In der Zusammenschau verdeutlichen diese Beiträge zugleich, dass die Grenzen zwischen den sich mitunter fremd oder skeptisch gegenüberstehenden Theoriewelten von Philosophie, Soziologie und Theologie – zumindest partiell – in hohem Maße offen und fließend sind; und dass hier ein hohes Potenzial an wechselseitigen Innovationen und Impulsen bereit steht, das es in den einzelnen Disziplinen produktiv aufzunehmen und fachspezifisch weiterzuführen gilt. Die Idee zu diesem Band entstand im Rahmen einer Autorentagung mit Hans Joas, die im April 2012 an der Technischen Universität Darmstadt statt-

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fand und von der Professur für Religionsphilosophie des Fachbereichs Katholische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt (Thomas M. Schmidt) und dem Institut für Theologie und Sozialethik der TU Darmstadt (iths) veranstaltet wurde. Mein besonderer Dank gilt den Beiträgerinnen und Beiträgern für die – wenigstens einigermaßen – fristgerechte Einreichung ihrer Texte. Er gilt nicht zuletzt auch Hans Joas selbst, für sein spontanes Interesse und seine prompte Unterstützung der Idee einer Autorentagung zur Sakralität der Person und für die zügige Erstellung seiner Replik. Danken möchte ich nicht zuletzt auch dem Bistum Mainz, ohne dessen finanzielle Unterstützung dieser Band nicht hätte erscheinen können. Darmstadt, Februar 2014 Hermann-Josef Große Kracht

1. Werte und Normen Philosophische Positionierungen

Nicht affektive Ergriffenheit, sondern öffentlicher Diskurs Sakralisierte Person oder säkulare Menschenwürde als Basis der Menschenrechte? Georg Lohmann Hans Joas legt in seinem Buch Die Sakralität der Person (Joas 2011) eine beeindruckende Sicht auf die Geschichte der Menschenrechte vor.1 Seine These, dass die modernen Menschenrechte quasi eine Vorgeschichte in der Entwicklung der Vorstellung einer ›Sakralität der Person‹ haben und auch benötigt haben, wird in unterschiedlichen, anregenden und herausfordernden Aspekten belegt. Im Zentrum steht dabei eine sich entwickelnde Bestimmung der Würde des Menschen, die nach Joas in einer säkularen Konzeption der ›Sakralität der Person‹ am besten gefasst wird. Um diese These soll es im Folgenden gehen. Ich beginne mit Vorüberlegungen zu unterschiedlichen Konzeptionen von Würde und Menschenrechten (1) und skizziere dann kurz den Ansatz von Joas (2). Im Anschluss gebe ich eine von Joas abweichende Deutung des Menschenwürdebegriffs, der nach 1945 durch die Menschenrechtskonventionen bestimmt wurde (3), und bringe Argumente, warum in diesem Zusammenhang eine nur säkulare, nicht-absolute Wertschätzung der Menschenwürde ausreicht (4). Die Entscheidung in dieser Frage stützt sich auf eine Sichtweise des Verhältnisses von Genealogie und Begründungen oder von Gründen und Motiven in der Etablierung der Menschenrechte, die von Hans Joas’ ›neuer Genealogie der Menschenrechte‹ deutlich abweicht (5).

1 | Dazu Lohmann 2013b; ich übernehme daraus im Folgenden einzelne, überarbeitete Teile.

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1. H istorisch - systematische V orüberlegungen zu K onzep tionen von W ürde und M enschenrechten Die Menschenrechte sind, das betont auch Joas, viel stärker als dies gemeinhin beachtet wird, historische Projekte. Sie sind nicht etwas, das im Sinne einer platonischen Idee immer schon da war und nur entdeckt werden musste. Sie sind, als Antwort auf historische Unrechtserfahrungen und gravierende Gräueltaten, die Menschen erleiden mussten, rechtliche Erfindungen und institutionelle Konstruktionen, die Menschen sich erdacht und erkämpft haben, um sich gegen jeweils unterschiedliche Gefährdungen mit Mitteln des Rechts zu schützen – und die sich dabei zugleich auch die politischen Mittel und Kompetenzen verschafft haben, um sich als Träger von Rechten anerkennen und betätigen zu können. Zwar ist es durchaus möglich, zu den unterschiedlichen, historisch situierten Konzeptionen der Menschenrechte noch ein sie verbindendes Konzept (vgl. dazu Rawls 1971: 7f.) auszumachen; aber dieses Konzept ist nicht im Sinne einer platonischen Idee etwas, was sich nach und nach verwirklicht, sondern eher eine begriffliche Verallgemeinerung und Klärung, die aus den unterschiedlichen Entwürfen gewonnen werden kann. Zum Konzept der Menschenrechte in diesem Sinne gehört, dass die Menschenrechte subjektive Rechte jedes einzelnen Menschen sind, unabhängig von weiteren sozialen oder kulturellen Bestimmungen, dass sie also, ihrer begrifflichen Form nach, individuell, universell, egalitär und kategorisch sind. Dieser formale egalitäre Universalismus der Menschenrechte kennzeichnet dann die einzelnen Menschenrechte. Ihr jeweiliger (meistens abstrakt formulierter) Inhalt, also dasjenige, was sie als subjektive Rechte des einzelnen Menschen schützen, bezieht sich auf besondere Eigenschaften, Interessen und Ausprägungen individuellen menschlichen Lebens, dessen Gefährdung auf Grund historischer Erfahrungen so gravierend erschien, dass es nicht mehr nur durch Moral, sondern auch mit Mitteln des Rechts geschützt werden sollte. Die historisch variablen Inhalte der einzelnen Menschenrechte werden dabei typischerweise in einer (offenen) Liste zusammengefasst. Unterschiedliche Konzeptionen der Menschenrechte gibt es historisch jeweils auf Grund politischer Deklarationen: zunächst nationale Konzeptionen am Ende des 18. Jahrhunderts in Amerika 1776 und Frankreich 1789 (vgl. zu beiden Brunkhorst 2012), und dann eine völkerrechtliche oder internationale Konzeption nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen der Gründung der Vereinten Nationen. Man könnte schließlich diskutieren, ob wir heute eine in Richtung ›Konstitutionalisierung des Völkerrechts‹ gewandelte transnationale oder globale Konzeption entwickeln (Lohmann 2013d). Diese differenten Konzeptionen unterscheiden sich in charakteristischen Eigenheiten, haben aber auch Gemeinsamkeiten. Alle werden zunächst als legale Rechte durch jeweils unterschiedliche politische Gesetzgeber öffentlich

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erklärt; ihr qualitativer Universalismus beansprucht aber, moralisch begründbar zu sein. Die Menschenrechte sind daher in moralischer, rechtlicher und politisch-historischer Hinsicht zu betrachten (Lohmann 2010b). Aus der Begründungsperspektive fällt auf, dass sich die nationalen Konzeptionen des 18. Jahrhunderts, neben ihrem revolutionären Grundzug (Menke/Raimondi 2011), im Rahmen eines gewandelten, modernen Naturrechts und dann Vernunftrechts begründen (Habermas 1990), die in unterschiedlicher Weise eine kulturell verankerte Hochschätzung der Freiheit der Person und ihrer individuellen Autonomie voraussetzen und artikulieren. Der Begriff ›Würde‹ taucht hier nicht auf. Der Würdebegriff erscheint zum ersten Mal im Kontext der internationalen Konzeption, prominent 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR). Zunächst wird er nur miterwähnt (›Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren‹, Art.1 AEMR), dann aber, wie im deutschen Grundgesetz, als begründende und motivierende Basis für das Haben von Menschenrechten weiterbestimmt. Seit den Internationalen Menschenrechtspakten über bürgerliche und freiheitliche Rechte (IPbfR) und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR) von 1966 wird nun explizit ein Würdebegriff als Begründung für das Haben von Menschenrechten statuiert. So formulieren die Vertragsstaaten in den Präambeln der beiden Pakte des Jahres 1966 jeweils die »Erkenntnis, dass sich diese Rechte aus der dem Menschen innewohnenden Würde herleiten«. Dieser Würdebegriff fungiert jetzt als ein außerverfassungsmäßiges Prinzip zur Begründung für die Trägerschaft von Menschenrechten, und in einem interpretationsbedürftigen Sinne dient er auch zur inhaltlichen Bestimmung der Menschenrechte (Lohmann 2013a). Es geht mir im Folgenden um die Bedeutung und den Status dieses, in den internationalen Menschenrechtsdokumenten nun neu bestimmten Begriffs. Zunächst einmal kann man beim Würdebegriff unterschiedliche Verwendungsweisen und Bedeutungen voneinander abheben. Dabei stütze ich mich auf die komplexe Begriffsgeschichte dieses Wortes (Kondylis 1992; Pöschl 1992; Lohmann 2010a mit weiterer Literatur). Grob vereinfachend kann man die Geschichten allgemeiner Würdebegriffe des Menschen qua Menschen (von der Stoa bis zu Kant) von den Geschichten sozialer, ständischer oder ehrbegründeter besonderer (manche sprechen hier auch von kontingenter) Würdebegriffe unterscheiden. In beiden Geschichtstraditionen ist mit ›Würde‹ eine besonders hochgeschätzte Wertung eines Modus von Freiheit gemeint, die dem Würdigen einen besonderen Rang zuspricht und vom Würdigen selbst wie auch von anderen eine besondere Referenz und Achtung erheischt. Unabhängig von den jeweils unterschiedlichen Begründungen für die allgemeinen Würdekonzeptionen des Menschen (Stellung im Kosmos, Vernunftfähigkeit, Kreativität, Gottesebenbildlichkeit) sind hier mit der Würde entsprechende Pflichten gegen sich und gegen andere oder gegenüber der Instanz, die die

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Würde verleiht, verbunden, aber keine Rechte (!). Die ebenfalls unterschiedlich begründeten besonderen Würdekonzeptionen (z.B. durch eigene Leistung, durch Standesgeburt oder Gruppenzugehörigkeit), die vielfach auch als Ehre verstanden werden, begründen einen besonderen Status und Rang innerhalb besonderer Gruppen. Sie sind ebenfalls durch Pflichten gegen sich und standes- bzw. würdegemäße Verhaltenskodizes charakterisiert, aber auch mit Privilegien gegen andere versehen. Häufig können Konzeptionen aus beiden Begriffstraditionen nebeneinander bestehen, ohne dass die allgemeine Würde des Menschen Auswirkungen auf die jeweils besonderen Standeskonzeptionen hat (vgl. Kondylis 1992: 651). In dem Maße aber, wie seit der Aufklärung die allgemeine, sich nun zunehmend moralisch artikulierende Wertschätzung der Freiheit des Menschen an sozialer Geltung gewinnt (vgl. Taylor 1996; Schneewind 1998), geraten die besonderen Würdekonzeptionen, die unterschiedliche soziale Ränge, Stände und Privilegien zu begründen versuchen, unter Rechtfertigungsdruck. Dass alle Menschen in bestimmten Hinsichten als gleich gelten, dass jedem einzelnen unabhängig von seiner besonderen sozialen Stellung die gleiche fundamentale Wertschätzung schlicht als menschlicher Person zusteht, wird nun moralisch artikuliert – und naturrechtliche oder vernunftrechtliche Grundlage von Recht und Politik. Die Ideen von Freiheit und Gleichheit werden nun für alle Menschen beansprucht, freilich zunächst nicht mit dem Begriff der Würde, sondern eher mit dem Aufstieg des Personen- bzw. des Subjektbegriffs verbunden. Hans Joas weist mit Recht darauf hin, dass in diesem Zusammenhang nicht nur die philosophische Aufklärung, sondern auch die kulturellen, sozialen und religiösen Wertüberzeugungen zur Abschaffung der Folter oder die Antisklavereibewegung zu berücksichtigen sind. Die eher beiläufige Behandlung eines allgemeinen Würdebegriffs bleibt aber − auch noch bei Kant, soweit diese aufklärerischen Ideen sich in seinem Würdebegriff niederschlagen – durch den Umstand charakterisiert, dass mit dem Würdebegriff unmittelbar nur Pflichten (gegen sich und gegen andere), aber nicht die Trägerschaft von Rechten verbunden werden. Seit der Französischen Revolution wird im 19. Jahrhundert im Kontext der Arbeiterbewegung die Rede von der Würde des Menschen noch um soziale Forderungen nach einem ›menschenwürdigen Leben‹ erweitert, wenn auch zumeist nur via negationis als Protest gegen menschenunwürdige Lebensverhältnisse (Lohmann 2013c). Auf diese komplexen Vorgeschichten unterschiedlicher Würdebegriffe können Autoren, die an der völkerrechtlichen Neubestimmung der Menschenrechte im Ausgang des Zweiten Weltkrieges beteiligt sind, zurückgreifen. Joas untersucht in diesem Zusammenhang die Entstehungsgeschichte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Joas 2011: 265-281) und zeigt sehr überzeugend, dass hier nicht eine schon feststehende europäisch-westliche Idee von Menschenrechten und Menschenwürde kodifiziert wurde, sondern dass

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in einem von historischer Kontingenz und Konflikten geprägten interkulturellen Prozess der ›Wertegeneralisierung‹ eine absichtlich vage und rechtlich unverbindliche Erklärung zustande kam. Gleichwohl hält er an seiner These fest, dass »ein Narrativ, das sich auf die Formel einer Sakralisierung der Person bringen läßt, geeignet ist, das historische Wissen, das wir zur Entstehung der Erklärung von 1948 haben, zu synthetisieren« (Joas 2011: 266). Diese These müsste sich an der Analyse und Deutung des nun erstmals im Kontext von Menschenrechten verwendeten Begriffs der Würde überprüfen lassen.

2. Z um gene alogischen A nsat z von H ans J oas Vor diesem Hintergrund bin ich mit Hans Joas und seiner Konzeption einer ›affirmativen Genealogie‹ der Menschenrechte einig, dass die Konzeptionen der Menschenrechte nicht bloß eine moralische rationale Begründung verlangen, sondern historisch entstandene, institutionelle Stützen in den Bereichen des Rechts und der Politik erfordern, und eben auch motivierende Wertüberzeugungen und Praxen, in denen sich bestimmte kulturelle Wertbindungen ausdrücken. Das entspricht dem von Joas im Anschluss an Talcott Parsons ausformulierten Konzept der Wertegeneralisierung (vgl. Joas 2011: 251-281). Meine Nachfragen beziehen sich in diesem Geflecht von Überlegungen aber auf die genauen Bestimmungen dieser Werte, Praxen und Institutionen. Joas’ Hauptthese ist, dass eine angemessene und überzeugende universelle Geltung und Beachtung der Menschenwürde und der Menschenrechte die ›Sakralisierung der Person‹ voraussetzt. Zunächst wird dieser Zusammenhang historisch gefasst: Joas plädiert dafür, »den Glauben an die Menschenrechte und die universale Menschenwürde als das Ergebnis eines spezifischen Sakralisierungsprozesses aufzufassen« (Joas 2011: 18; Herv. G.L.). Dabei wird nicht unterstellt, dass es eine zielgerichtete, objektivistische Entwicklung zum gegenwärtigen Menschenrechtsregime gab. Joas spricht vielmehr von einer Genealogie, die eine »kontingenzbewußte Vergangenheitsrekonstruktion« (Joas 2011: 190) entwickelt und in dem Bewusstsein geschieht, dass es auch anders hätte kommen können und dass das gegenwärtige Menschenrechtsverständnis für die Zukunft nicht unverlierbar oder unabschaff bar ist, sondern mit konkurrierenden und gefährdeten Alternativen konfrontiert bleibt (vgl. Joas 2011: 280). Dann aber wird der historische Zusammenhang zwischen ›Sakralität der Person‹ und Menschenrechtsregimen von Joas stärker systematisch gesehen. ›Affirmativ‹ sei diese Genealogie nämlich in dem Sinne, dass sie gewissermaßen zur Zähmung des historischen Kontingenzbewusstseins eine »Bejahung des Appells historisch gebildeter Ideale, die Bereitschaft zur Verwirklichung einst entstandener oder vielleicht sogar angeblich gegenwärtig geltender Wer-

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te« (Joas 2011: 191) enthält. Joas versteht das als »revitalisierenden Bezug zum Appellcharakter der historisch gezeitigten Ideale. Was zu Beginn bloße subjektive Evidenz war, wird durch denselben Prozess zu historisch gesättigter argumentativer Klarheit geläutert, die aber nie eine Sphäre geschichtsenthobener reiner Geltungsbegründung erreichen kann.« (ebd.; vgl. auch ebd.: 202f.) Hier nun wird die ›Sakralität der Person‹ als systematische Voraussetzung eines angemessenen gegenwärtigen Menschenrechtsverständnisses bestimmt – und dieser Auffassung will ich nun im Folgenden zwei Thesen entgegenstellen: Erstens: Nicht die ›Sakralisierung der Person‹ ist als Wertungsvoraussetzung für das gegenwärtige Menschenrechtsregime nötig, sondern eine innerweltliche Wertschätzung der ›Menschenwürde‹. Zweitens: Die affektiven Wertbindungen, die zur motivierenden Anerkennung der rechtlichen Normen des Menschenrechtsregimes notwendig sind, sind nicht ein (systematisch) Erstes, sondern unterliegen den Anforderungen argumentativer Rechtfertigung und Begründung.

3. Z um M enschenwürdebegriff nach 1945 Ich gebe nun zunächst eine im Vergleich zu Joas etwas anders akzentuierte Deutung der Verwendung des Würdebegriffs nach 1945. Im völkerrechtlichen Kontext der Gründung der Vereinten Nationen wird ein m.E. neu interpretierter Würdebegriff verwendet, den ich, um ihn begrifflich von den beiden anderen Arten (besondere und allgemeine Würdebegriffe) leichter unterscheiden zu können, ›Menschenwürde‹ nenne. Mit ihm wird im reaktiven Entsetzen über die ›Verbrechen gegen die Menschheit‹ der Nazi-Zeit, aber auch anderer totalitärer Diktaturen und der Barbarei der Kolonialmächte, eine neu gefasste, axiomatische normative Grundlage staatlicher Herrschaft völkerrechtlich deklariert und so zunehmend in die dann folgenden Menschenrechtskonventionen und Rechtsverfassungen ›eingebaut‹ (vgl. Menke/Pollmann 2007: 129-166; Lohmann 2011a.). Der Menschenwürdebegriff fungiert nun, in einem rechtlichen (!) Dokument, als gewissermaßen vorvertragliche oder außerverfassungsmäßige ›Basis‹ der Menschenrechte. Er ist nun ein rechtlicher Begriff, der in politischen Erklärungen gesetzt wird, aber hinsichtlich seiner normativen Behauptungen selbstverständlich moralischer Begründungen bedarf. Weil er und insofern er die Menschenrechte fundiert, entsprechen ihm Rechtspflichten, deren direkte Adressaten die Staaten sind – und vermittels einer Drittwirkung in indirekter Weise auch die Bürger untereinander. Mit diesem Rechtsbegriff ›Menschenwürde‹ verbunden sind aber keine Pflichten gegen sich, da Rechtspflichten, also äußerlich erzwingbare Pflichten, gegen sich nicht möglich sind.

Nicht Ergriffenheit, sondern Diskurs

Obwohl dieser Menschenwürdebegriff Produkt klassischer völkerrechtlicher Verträge zwischen souveränen Staaten war, ist ihm m.E. ein demokratischer Impuls eigen, der in seiner vollen Bedeutung erst gegenwärtig sichtbar wird. Die Berufung auf die gleiche Menschenwürde jedes einzelnen Menschen als Mensch ›bürgt‹ für das Haben von Menschenrechten (Lohmann 2010d) und initiiert die schrittweise, aber nicht stetige Entwicklung einer politischen Praxis, der gemäß alle Menschen überall auf der Welt in der gleichen Weise als Adressaten (Träger) der Menschenrechte anzusehen sind. Es reicht aber keineswegs aus zu sagen, dass ›aus Vernunftgründen‹ oder ›von Natur aus‹ oder auf Grund einer moralischen Argumentation jemandem Menschenrechte im vollen Sinne zustehen, damit diese Person Träger von nun juristisch verstandenen Menschenrechten ist und als solche anerkannt wird. Nicht moralische Begründungen allein machen Menschen zu Trägern von Menschenrechten; dazu bedarf es vielmehr politischer Rechtssetzungsprozesse, in denen diese Rechte gestiftet und anerkannt werden. Wie diese zu gestalten sind, entweder durch Verträge oder durch allgemeine Gesetzgebung, ist strittig. Die Berufung auf die gleiche Menschenwürde aller verlangt m.E. auch, dass alle als Autoren ihrer Rechte sich begreifen können. Damit nimmt der Begriff der Menschenwürde jene republikanische Bedeutung von ›Würde‹ auf, die Kant bei seiner erstmaligen Einführung des Begriffs im Anschluss an Rousseau, allerdings nur im moralischen Sinn (!), schon verwendet hatte (vgl. dazu Lohmann 2013a). Die Achtung der Menschenwürde hat daher einen starken antipaternalistischen Effekt, da das Haben von (rechtlich gefassten) Menschenrechten nicht einfach aus Quellen resultieren darf, die der politischen Rechtsgemeinschaft extern sind. Nach dieser Interpretation fordert der republikanisch-demokratische Gehalt der Menschenwürde, dass die Träger der Rechte selbst bei der Stiftung und dann auch Konkretisierung der Rechte mitwirken; er fordert die Anerkennung ihres Status als Bürger, als Staatsbürger und Weltbürger (vgl. dazu Lohmann 2012b). Die ›stille Revolution‹ des klassischen Völkerrechts (Klein 1997), die die fortschreitende Institutionalisierung der Menschenrechte bewirkt hat, lässt sich dementsprechend auch als Kampf um eine transnationale Demokratisierung des internationalen Rechts oder als ›Konstitutionalisierung des Völkerrechts‹ begreifen (Lohmann 2013d). Der Begriff der Menschenwürde ist in dieser Interpretation eine vollständig säkulare und gewissermaßen ›horizontale‹ Konzeption. Der Wertcharakter der Menschenwürde bleibt damit unterhalb dessen, was Hans Joas mit der ›Sakralisierung der Person‹ als notwendig und unverzichtbar in den Blick nimmt. Pointierter formuliert: Das internationale Menschenrechtsregime benötigt keine Sakralisierung der Menschenwürde. Es ist in einem radikaleren Sinne, als Joas es wahrscheinlich akzeptiert, säkularisiert, d.h. eine innerweltliche, endliche Wertschöpfung der Menschen.

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4. S akr alität der P erson oder säkul are W ertschät zung der M enschenwürde ? Vor diesem Hintergrund ist nun genauer zu klären, was Joas unter Sakralität versteht. Ich habe keine explizite Definition gefunden, aber doch verständliche Angaben von einzelnen Charakteristika. Im Anschluss an Durkheim bestimmt Joas – in Übereinstimmung mit der Wortbedeutung von ›sakral‹/ ›heilig‹ (vgl. Wokart 1974) – das Heilige als einen umschlossenen Bereich in Differenz zum Profanen (Joas 2011: 92). Entscheidend sei aber, »daß das Heilige als der Ort einer ›Kraft‹ erfahren werde, einer ›Energie‹, die sich auf das Profane auswirkt« (ebd.). Die physikalische Metaphorik korrigiert Joas mit William James: »Die Qualität ›Sakralität‹ wird Objekten spontan zugeschrieben, wenn sich eine Erfahrung eingestellt hat [im Bereich des Profanen, G.L.], die so intensiv ist, dass sie das gesamte Weltbild und das Selbstverständnis derer, die diese Erfahrung gemacht haben, konstituiert oder transformiert.« (ebd.: 93) Wenn ich das richtig verstehe, ist es erst die affektive Erfahrung dieser ›stärkeren Kraft‹, die dem Sakralen dann doch einen im Vergleich zum Profanen höherwertigen Status verschafft (vgl. ebd.: 92), der dann auch Verbote und Achtungsgebote in den Beziehungen zwischen Sakralem und Profanem bestimmen oder begründen kann. Entscheidend ist nun, dass Joas einen formalen Begriff von Sakralität, der auf religiöse und auf säkulare Phänomene angewendet werden kann, von einem nur in religiösen Kontexten verwendeten Begriff des Sakralen unterscheiden will. Die obigen, gewissermaßen formalen Charakteristika von Sa­ kralität, die nicht nur auf religiöse Dinge und im Kontext von Religion, sondern, worauf Joas zu Recht hinweist, auch auf nicht-religiöse Dinge und in säkularen Kontexten zutreffen können (z.B. auf die Idee der Nation, vgl. Joas 2011: 101f.), verwendet Durkheim, um die besondere Wertschätzung der individuellen Person zu bestimmen, sofern diese als Trägerin von Menschenrechten ausgezeichnet wird (vgl. dazu das Durkheim-Zitat ebd.: 82f.). Die Menschenrechte, so zitiert Joas Durkheim, unterstellen ein der Religion analoges Gefühl, »als wäre sie [die Person, G.L.] mit dieser mysteriösen Eigenschaft [heilig, G.L.] ausgestattet« (zit.n. ebd.: 83). Man kann das so verstehen, dass Durkheim nur von einem einer Religion analogen ›Glauben‹ an die Menschenrechte redet (vgl. ebd.: 90f.), während ich den Eindruck habe, dass Joas zunehmend von einem religiös bestimmten Glauben an die Menschenrechte spricht. Entscheidend ist nun, wie diese Wertschätzung der Person als ›heilig‹ begründet wird. Der, wie Joas sehr schön formuliert, »programmatische Atheismus des RabbinerSohns« lässt Durkheim sagen, dass hier »der Mensch zugleich Gläubiger und Gott ist« und daher »der Mensch auch der Quell seiner eigenen Heiligkeit« sei, während Joas sich offen halten will, ob hier nicht auch religiöse, d.h. mit einem innerweltlichen Verständnis »konkurrierende Ursprünge des Glaubens

Nicht Ergriffenheit, sondern Diskurs

an die Sakralität der Person« (Joas 2011: 87) möglich seien (vgl. dazu auch ebd.: 204-250). An dieser Stelle wird nun der Unterschied zwischen einem formal-säkularen und einem religiösen Sakralitätsbegriff bedeutsam. Es geht um zweierlei: Zum einen um die Frage, ob das Sakrale auch die Idee der Freiheit und Gleichheit aller Menschen umfasst; und zum anderen um die Begründung, warum das Sakrale einen höheren Wert hat, warum das Heilige auch in einem moralischen Sinne ›gut‹ ist. Freiheit und Gleichheit aber sind nicht von Haus aus mit den Ideen der Sakralität oder auch der Würde verbunden. Sakralität wie Würde können durchaus sozial ungleich zugeschrieben werden. Denn die Sakralität eines Gegenstandes erfordert keineswegs eine Gleichbehandlung der sakralen Gegenstände, und sie ist auch nicht selbstverständlich mit Freiheit oder mit gleichen Rechten verbunden, traditionell aber mit Pflichten gegenüber dem Sakralen und gegenüber der Instanz, der sie ihre Heiligkeit verdankt. Deshalb macht eine Sakralisierung das als sakral erfahrene Phänomen noch nicht in einem umfassenden Sinn akzeptabel und ›gut‹, denn sonst wären ja auch die sakralisierte Nation oder Volksgemeinschaft schon als solche gut. Hier kommt es aber auf die Einlösung der mit der Sakralität notwendig erhobenen Begründungsansprüche an. Die formalen Charakteristika lassen es offen, ob die innerweltliche Begründung auch zutreffend ist, d.h. es ist eben nachzufragen und zu begründen, ob die Nation oder die Person zurecht sakralisiert werden kann oder soll; und darüber entscheidet letztlich, unter Begründungsanforderungen, nicht eine affektive Ergriffenheit, sondern ein öffentlicher Diskurs. In einer religiösen Perspektive aber ist das Sakrale heilig, weil es von Gott abstammt; und das heißt: seine Höherwertigkeit erhebt einen absoluten Anspruch. Weil die Quelle der Heiligkeit im religiösen Glauben auf Gott zurückgeht, ist auch ihre Höherwertigkeit nicht von innerweltlichen und zwischenmenschlichen Begründungsdiskursen abhängig, da sie sich schon im affektiven Ergriffensein durch die Kraft des Heiligen erschließt. Sie kann bestenfalls durch rationale Begründungsdiskurse bestätigt, aber letztlich nicht in Frage gestellt werden. Meine These ist daher, dass das religiös verstandene Sakrale immer einen absoluten Wert des Heiligen unterstellt. Es wäre also in allen konkurrierenden Wahlsituationen alternativen Wertungen vorzuziehen, weil es eine absolute Rechtfertigung seiner Höherwertigkeit durch seinen Ursprung in Gott beansprucht. Ich verstehe aber die seit 1945 neue Redeweise von ›Menschenwürde‹ im Kontext der Menschenrechte so, dass damit genau diese Differenz zwischen einer innerweltlich wechselseitigen Anerkennung eines kategorischen Anspruchs der Achtung der Menschenwürde und eines religiös begründeten Glaubens an den absoluten Wert der Person beachtet wird. Überspitzt formuliert: Die Menschenrechte sind nicht mit Bezug auf eine religiös verstandene Heiligkeit der Person wertmäßig zu begründen oder zu fundieren; es reicht

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für ihren normativen Anspruch, dass sie die Hochschätzung einer Menschenwürde, die allen Menschen in der gleichen Weise unbedingt zukommt, unterstellen und performativ in Rechtsakten verbindlich machen. Dazu bedürfen sie keiner absoluten Wertungsprämissen oder absoluten Verpflichtungen, sondern ersetzen diese durch den politischen Rechtsetzungsprozess, an dem alle als Bürger (im Prinzip) zu beteiligen sind. Ich kann noch mitgehen mit der Ansicht, dass es offen bleiben kann, ob nicht doch ein religiöser Glaube, das affektive Fürwahrhalten, im Blick auf Menschenrechte und Menschenwürde akzeptabel sein kann und vielleicht sogar, weil er eine mobilisierende Kraft zur Beachtung der Menschenrechte darstellt, zu begrüßen ist. Gewissermaßen aber wird ›zu viel geglaubt‹, wenn ein religiöser, auf Gott als Quelle der Heiligkeit zurückgehender Glaube die innerweltlich und säkular verstandene Heiligkeit der Person annimmt. Aus religiöser Perspektive müsste daher die Differenz zwischen der Absolutheit der Wertung ›heilig‹ und der für die Menschenrechte ausreichenden Hochschätzung der Menschenwürde intern beachtet werden können. Dies macht eine kritische Revision von Glaubensinhalten notwendig, wenn ein letztlich absolute Gewissheiten beanspruchender Glaube sich positiv auf die Menschenrechte einlässt. Denn diese, das hat die frühe christliche Ablehnung der revolutionären Idee der Menschenrechte ja richtig gesehen, behaupten, dass der Mensch das Maß aller durch die Menschenrechte zu regelnden Dinge ist – was freilich auch heißt, dass die Idee der Menschenrechte keine allumfassende Heilslehre darstellt und deshalb sehr wohl Platz für Religion nicht bloß lässt, sondern, wie Joas zu Recht betont, Religion als motivierende Kraft auch brauchen kann und fördert. Zurückzuweisen ist nur eine Rechtsauffassung, in der ein religiös begründeter absoluter Anspruch nicht mit den Menschenrechten vereinbar ist.

5. G ene alogie stat t B egründung oder G ründe und M otive ? Eine von Hans Joas abweichende Auffassung vertrete ich auch hinsichtlich der Weise, wie sich die affektive Wertbindung, die wir dem ›Wert Menschenwürde‹ entgegen bringen, zu den argumentativen Rechtfertigungen der universellen normativen Behauptungen verhält, die mit der Menschenwürde als Basis der Menschenrechte verbunden sind. Dabei gehe ich davon aus, dass wir weder aus der Menschenwürde allein die Menschenrechte irgendwie ›ableiten‹ können, noch dass die Menschenwürde das Prinzip einer universalistischen Moral abgeben kann. Hinter solchen Auffassungen sehe ich Versuche einer Verabsolutierung der Menschenwürde, die m.E. mit dem Geist der Menschenrechte gerade nicht kompatibel ist; so wenig übrigens, wie die Menschenrechte allein schon eine allumfassende Theorie des Guten beinhalten.

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Für unsere Fragestellung bedeutet dies, dass die affektive Wertbindung gerade nicht, wie ich Hans Joas verstehe, einen absoluten Geltungsanspruch ›bewirken‹ kann oder sollte. Dieser Geltungsanspruch bleibt immer von den argumentativ begründbaren und insofern überprüf baren normativen Behauptungen abhängig. Der Geltungsanspruch der mit den Menschenrechten verbundenen Verpflichtungen muss daher durch innerweltlich akzeptable Begründungen eingelöst werden. Er kann nicht durch die Genealogie der Wertbindungen ersetzt, sondern durch solche Wertbindungen nur motivational unterstützt werden. Joas hat freilich Recht, dass die normativen Verpflichtungen, die sich aus dem Einklagen und den Schutzansprüchen der Menschenrechte ergeben, nicht bloß durch philosophisch gesicherte rationale Gründe gerechtfertigt, sondern auch motivational und durch entsprechende institutionelle Praxen gestützt werden müssen. Dafür ist die Einbettung rationaler Diskurse in je kulturell partikulare Lebensweisen und Praxen, Wertbindungen und -überzeugungen von großer Bedeutung. Deshalb sind universalistische Normen auf, wie Habermas sagt, ›entgegenkommende‹ Lebensformen angewiesen, die auf der einen Seite universalistische Ansprüche beinhalten, auf der anderen Seite aber als je konkrete historische Lebensformen immer auch partikular getönt sind. Sie stützen den universellen Anspruch ab, können ihn aber nicht ersetzen. In heutigen, postsäkularen Kontexten bleiben daher religiöse Wertüberzeugungen, Werterfahrungen und Glaubensgewissheiten wichtig. Sie ersetzen aber nicht die normativen Geltungsansprüche der Menschenrechte, sondern bleiben im Pluralismus der Rechtfertigungen und motivierenden Wertüberzeugungen, die mit den Menschenrechten kompatibel sind (Lohmann 2008), kulturell und sozial gewichtige Stimmen. Hier setzen die von Joas mit Recht herausgehobenen notwendigen und kritischen Revisionen der je besonderen religiösen Traditionen an, die letztlich auch zu einer Umstrukturierung im Selbstverständnis einer Religion führen können oder müssen, wenn diese den rechtlich vorgegebenen, d.h. aber auch hochabstrakten normativen Anforderungen des Menschenrechtsregimes genügen wollen. Keineswegs ist damit eine gleichmacherische Menschenrechtskultur oder ›Menschenrechtsreligion‹ impliziert; es werden nur die Befolgung und Beachtung der in Gestalt des formalen und positivierten Rechts formulierten Normen gefordert. Gerade wegen ihres abstrakten und formalen Charakters wird so eine Pluralität unterschiedlicher religiöser Praxen und Überzeugungen gesichert und auf dieser Basis auch befördert. Ausgeschlossen bleiben freilich alle Wertüberzeugungen und Praxen, die nicht mit den Normen des Menschenrechtsregimes vereinbar sind: von der Diskriminierung der Frauen bis zur Rechtfertigung von Körperstrafen oder der rechtlichen Ächtung von Ungläubigen usw. Dieser Auffassung gemäß gibt es im gegenwärtigen Menschenrechtsregime keine absolut geltenden Normen oder Werte. Auch die ›Unantastbarkeit‹

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der Menschenwürde ist in einem nicht-absoluten, d.h. zwischen gleichberechtigten Menschen begründbaren, überprüf baren und deshalb auch revidierbaren Sinn zu verstehen (Lohmann 2011b: 62ff.). Das Fehlen eines absoluten Wertes oder einer absolut bindenden Wertüberzeugung oder Werterfahrung bedeutet nicht, dass die damit verbundenen Normen notwendig partikular oder gar nur subjektivistisch-relativ oder beliebig gelten (Lohmann 2010c). Universalität und Objektivität der für die Menschenrechte formal konstitutiven Normen (z.B.: ›Alle Menschen sind [= ›müssen als … anerkannt werden‹] Träger von subjektiven Rechten‹; ›Alle Menschen haben gleiche Menschenrechte‹; ›Für die Zuerkennung der Menschenrechte reicht es aus, ein Mensch zu sein‹ usw.) und der die einzelnen konkreten Menschenrechte inhaltlich bestimmenden Normen (z.B.: ›Kein Mensch darf gefoltert werden‹; ›Niemand darf willkürlich seines Eigentums beraubt werden‹; ›Jedermann hat das Recht auf Bildung‹ usw.) können gemäß dem Prinzip der Unparteilichkeit – oder auf anderen moralphilosophischen Wegen – eingelöst und begründet werden. Es gibt daher einen Begründungspluralismus hinsichtlich des egalitären Universalismus der Menschenrechte. Mit Hans Joas glaube ich nicht, dass diese Einlösungen und Begründungen der jeweils unterschiedlichen Geltungsansprüche allein rationale Begründungsdiskurse fordern, um auch praktisch wirksam sein zu können. Sie müssen durch motivierende und affektiv verankerte Wertüberzeugungen gestützt und als rechtliche Normen auch durch politische Entscheidungen in dafür geschaffenen Rechtssetzungsinstitutionen gesetzt werden. Aber das Verhältnis zwischen affektiven Motiven und rationalen Gründen, zwischen Beweggründen und Rechtfertigungsgründen sehe ich so, dass zwar jeder dieser Bereiche auch seine eigene Logik und Dynamik hat, dass aber der Geltungsanspruch der Menschenrechtsnormen verlangt, nur diejenigen Motive zum Zuge kommen zu lassen, die einer rationalen Überprüfung, etwa gemäß dem Unparteilichkeitsprinzip, standhalten. In seiner häufigen Polemik gegen eine einseitig und total verstandene »rationale Begründung ihres Geltungsanspruches« (Joas 2011: 147 u.ö.) bleibt Joas ja dabei, dass die Menschenrechte »argumentativ verteidigt« (ebd.: 281) werden müssen. Zugleich aber versteht er diese argumentative Verteidigung in einem m.E. problematischen Sinn. Gegenüber Habermas’ Auffassung einer nur ›schwachen Kraft rationaler Motivation‹ (vgl. ebd.: 146), die nach Habermas durch historisch kontingente ›entgegenkommende Lebensformen‹ gestärkt werden soll, fordert Joas eine »andere Art der Ergänzung« (ebd.: 146; Herv. G.L.) durch die »starken Kräfte einer Motivation«, die »in der Sakralisierung der Person liegen« (ebd.). In der so konzipierten ›affirmativen Genealogie‹ der Menschenrechte verkehrt Joas aber das Verhältnis zwischen Motiven und Gründen. Heißt es bei Habermas (und auch bei meinem Ansatz): ›Erst Normen, dann Werte‹ oder ›Erst Gründe, dann Motive‹, so heißt es bei Joas: ›Erst

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Werte, dann Normen‹, ›Erst Motive, dann Gründe‹. Einig sind sich beide Positionen, dass sich historisch zuerst bestimmte Wertkonzeptionen und Ideen herausgebildet haben und im Sinne von Talcott Parsons und Hans Joas ›wertegeneralisiert‹ worden sind. Aber systematisch gesehen, d.h. bezogen auf die Rechtfertigungsmöglichkeiten von Menschenrechten und die sich aus ihnen ergebenen Pflichten, sind Beweggründe nur soweit akzeptabel, wie sie durch Rechtfertigungsgründe gedeckt werden; und in diesem Sinne gehen Gründe vor Motive, gehen universalisierbare Normen vor Wertüberzeugungen. Eine solche Staffelung und auch Überprüfung von Motiven durch Gründe ist, wenn man auf die globale Gültigkeit und interkulturelle Institutionalisierung der Menschenrechte achtet, von eminenter Bedeutung (Lohmann 2012a). Hier in der Tat scheint der nach dem Zweiten Weltkrieg neugefasste Begriff der Menschenwürde, der ja auf einer egalitären Hochschätzung aller Menschen qua Menschen für das Haben von Rechten auf baut, eine zunehmend wichtigere Rolle zu erhalten. So kann man, um ein aktuelles Beispiel zu nehmen, den Eindruck haben, dass auch in den Revolten und Revolutionen des Arabischen Frühlings diese historisch neue Wertbasis gleicher Rechte eingefordert und propagiert worden ist (vgl. u.a. Nadar 2013). Mit Bezug auf die Wertschätzung der gleichen Menschenwürde aller Menschen wird gefordert, dass alle auch in der gleichen Weise Träger von Rechten sind. Das ist gegenüber den traditionellen islamischen Würdebegriffen, die durchaus mit rechtlichen und sozialen Ungleichheiten etwa für Mann und Frau verbunden sind, ein neues, konkurrierendes Verständnis. In den politischen Kämpfen werden offenbar beide Bedeutungen miteinander vermengt gebraucht, so dass nicht einfach die mitlaufenden affektiven Wertüberzeugungen – ebenso wie die politischen Entscheidungen – ein Letztes sein können. Nur solche affektiven Motive dürfen ›zählen‹, die in öffentlichen Diskursen als universalisierbar gerechtfertigt werden können. Das ist in einigen Hinsichten sicherlich ein hermeneutisch zirkelhafter Prozess, insofern auf der Wertebene vorausgesetzt wird, was argumentativ dann überprüft werden soll. Aber es scheint mir hier keine im Begriff der ›Sakralität der Person‹ oder der ›Würde des Menschen‹ gestiftete und durch affektive Wertüberzeugungen erschließbare absolute Basis zu geben; und deshalb bleibt auch die neue Bedeutung von Menschenwürde, die für das Haben von universellen und egalitären Menschenrechten ›bürgt‹, der argumentativen Kritik und Rechtfertigung aller ausgesetzt und von ihr in ihrem Geltungsanspruch abhängig.

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Affirmative Genealogie und argumentativer Diskurs Ein Vergleich im Anschluss an Hans Joas Matthias Kettner

Was kann eine ›affirmative Genealogie‹ zu den Zielen beitragen, die wir mit der Praxis diskursiver Argumentation verbinden, und umgekehrt? Und konkurrieren beide Praktiken überhaupt, zumindest in Bezug auf einige Ziele? Sicher ist nicht einfach die eine Praxis die bessere Variante der anderen. Ist ihr Verhältnis aber, mindestens in Bezug auf einige Ziele, komplementär? Diesen Fragen gehe ich im Folgenden nach. Im ersten Abschnitt sammele ich die Ansprüche und möglichen Desiderate des Joas’schen Forschungsprogramms, damit deutlich wird, worauf ich in den übrigen Abschnitten eingehe und worauf an dieser Stelle noch nicht. So würde vor allem die Auflösung der Merkwürdigkeiten im Gedanken eines zeitlos Gültigen, aber gleichwohl in die Zeit Fallenden, den Rahmen sprengen. Dieses Problem bleibt deshalb von mir unadressiert. Der zweite Abschnitt enthält Überlegungen zum Gebrauchswert der Methode ›affirmative Genealogie‹. Im dritten, dem systematisch wichtigsten Abschnitt, situiere ich die Differenzen, die Joas zwischen Diskurs und Genealogie zieht, jenseits von Apel und Habermas im Rahmen einer realistischen, neopragmatistischen Theorie von Diskursethik und Diskursrationalität. Im vierten Abschnitt möchte ich plausibel machen, dass sich im konkreten Fall der Konsensbildung über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Wertebegründung und Wertegeneralisierung via ›affirmativer Genealogie‹ und via realem Diskurs kaum voneinander abheben lassen. Im abschließenden Fazit plädiere ich für ein Allianzverhältnis von ›affirmativer Genealogie‹ und argumentativem Diskurs und beschreibe eine von Joas zu lernende kulturreflexive Perspektive auf kulturspezifisch ausgeprägte Fetischisierungen bestimmter diskursiver Begründungsformen und deren Fallstricke.

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1. D er A nspruch von J oas ’ F orschungsprogr amm Hans Joas’ sozialphilosophisches ›Forschungsprogramm der affirmativen Genealogie‹ (FAG) hat erklärtermaßen das Ziel, eine Darstellungsweise von qualifizierten, normativ hoch bedeutsamen kulturellen Gehalten zu suchen – wie etwa dem, dass wir von der universellen Anerkennungswürdigkeit der Idee einer allen lebenden Menschen gleichermaßen zukommenden Würde überzeugt sind –, die eine Reihe von Leistungen erbringt.

Anspruch 1: Hybride, normativ-empirische Interdisziplinarität Die mit dem FAG gesuchte Darstellungsweise soll eine »Verknüpfung von Begründungsargumenten und historischer Reflexion« (Joas 2011: 12) in den Blick nehmen, die weder in der Geschichtswissenschaft noch in der Philosophie üblich ist, und dadurch einige gängige Dichotomien unterlaufen – vor allem: Genesis versus Geltung,1 Zeitliches versus zeitlos Gültiges, soziale Kon­ struktion bzw. historische Innovation versus Entdeckung, Erzählung versus Begründung, Erfahrung versus Vernunft.

Anspruch 2: Auflösung des Problems der Vermittlung von Geschichte und Normativität Die vermeintlich gegensätzlichen Seiten der gängigen Dichotomien sollen in der gesuchten Darstellungsweise nicht-dichotom neu zusammengesetzt werden; und zwar so, dass die Tatsache, »daß in der Geschichte der Menschheit zeitlos Gültiges nur so selten als solches erkannt wurde«, nicht mehr so »merkwürdig« erscheint wie unter der gängigen dichotomen Deutung (Joas 2011: 12). In Joas’ schwankender Bezeichnung für die gesuchte Darstellungsweise – mal als »Erzählen«, mal als »genealogische Argumentation« (vgl. ebd.: 18 u.ö.) – kommt also eine Eigenart der gesuchten Darstellungsweise selber zum Ausdruck: Sie »erzwingt logisch und geradezu ästhetisch eine weder rein chronologische noch rein logische Form« (ebd.: 22). Unter dem summarischen Titel des »Vermittlungsproblems von Geschichte und Normativität« (Joas 2011: 154) bündelt Joas mehrere Probleme, deren Verschiedenartigkeit, wie mir scheint, auch ganz verschiedenartige theoretische Klärungs- und Behandlungsweisen erfordern und mit der Methode der ›affirmativen Genealogie‹ gar nicht einheitlich bearbeitet werden können. Erstens: Das Dilthey-Troeltsch-Historismusproblem – ob wir und wie wir unser 1 | Joas möchte im Rahmen des FAG vor allem das »Denkschema der klaren Trennbarkeit von Genesis und Geltung« angreifen: »gerade um dessen tätige Infragestellung geht es hier« (Joas 2011: 14).

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Erheben von Geltungsansprüchen »auf Wahrheit und Werthaftigkeit« (ebd.: 152) ohne Widersprüchlichkeit und Resignation zusammendenken können mit der »Endlichkeit jeder geschichtlichen Erscheinung«, dem Gedanken »der historischen Entstehung allen Glaubens, aller Geltungsansprüche« (ebd., mit Verweis auf Dilthey). Zweitens: »Das Problem der Vermittlung von Geschichte und Wertevielfalt« (ebd.: 161) – ob und wie wir die tatsächliche Vielfalt kulturell lebendiger Ideale »restlos« anerkennen können, wenn diese (oder einige von diesen) nur »in den von ihnen selbst als gültig erlebten Wertbeziehungen« (ebd.), also gleichsam nur von innen zu verstehen sind, und – die Kombination mit dem ersten Problem – wenn die tatsächliche Vielfalt kein abgeschlossener Bestand ist, sondern voraussichtlich zukünftig fortwährend sich wandelt. Drittens: Das »Problem der Begründung der Maßstäbe historischer Werturteile« (ebd.: 196) – ob und wie wir kulturellen Wandel, etwa in den Formen der gesellschaftlichen Organisation von Wirtschaft und Politik, nicht nur nach seinen Veränderungen in seinem Fortgang gültig beschreiben, sondern nach seinen Verbesserungen und Verschlechterungen als Fortschritt oder Rückschritt gültig bewerten können. Besonders das Dilthey-Troeltsch-Historismusproblem ist geltungstheoretisch interessant, bedürfte aber einer philosophisch sehr genauen Diskussion, die auch geführt wird (vgl. bes. Apel 1999c), die ich hier aber unmöglich kurz zusammenfassen kann.

Anspruch 3: Versöhnung unbedingter Wertbindungen mit Kontingenz Die gesuchte Darstellungsweise soll ihren Adressaten ein Bewusstsein vermitteln (falls diese es nicht schon haben), dass erstens »unsere Bindung an Werte und unsere Vorstellungen vom Wertvollen aus Erfahrungen und ihrer Verarbeitung hervorgehen« (Joas 2011: 14), und dass zweitens ein solcherart Entstandenes, historisch kontingent in die Welt Gekommenes, das unter anderen Umständen vielleicht nie entstanden wäre und dessen Dasein womöglich auch wieder vergeht, gleichwohl »Unbedingtheit annehmen kann« (ebd.: 15). Joas erklärt nicht, was er unter Unbedingtheit versteht. Ich meine, eine faire Explikation wäre, dass die Unbedingtheit jener qualifizierten, normativ hoch bedeutsamen kulturellen Gehalte,2 auf die die gesuchte Darstellungsweise zugeschnitten sein soll, soviel meint wie: dass die normativen Anforderungen, 2 | Joas spricht von »fundamentalen Werten« (Joas 2011: 20). Meine umständlichere Formulierung »normativ hochbedeutsame kulturelle Gehalte« soll signalisieren, dass es um Gehalte von Überzeugungen geht, die Produkte kultureller Prozesse sind und deshalb in kulturellen Wir-Gruppen geteilt werden; und dass die betreffenden Überzeugungen nicht nur subjektiv-mental, sondern institutionell realisiert sind, und das heißt immer auch: in Form normativer Anforderungen.

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die mit ihnen einhergehen, nicht nur denjenigen einleuchten (›Evidenzcharakter‹, vgl. Joas 2011: 15), die sie erfunden oder die sich zuerst an die Gehalte gehalten haben, sondern dass die betreffenden normativen Anforderungen in und durch sich selbst schon der Grund sind (oder einen hinreichenden Grund abgeben), sie für anerkennungswürdig zu halten, weil man ihnen ihren eigenen Wert ansieht, d.h. einsieht, dass und inwiefern es wertvoll ist, sie unbedingt anzuerkennen, also unabhängig von je besonderen aktorrelativen Gründen für ihre Befolgung oder Nichtbefolgung.

Anspruch 4: Rational motivierende Begründung Die gesuchte Darstellungsweise soll im Bezug auf ihre Adressaten »selbst die Kraft erzeugen, die in Wertbindungen steckt«, ob diese Kraft nun wirklich an Unbedingtheit heranreicht oder aber eine nur bedingte Kraft bleibt – und damit etwas leisten, was »rein rationale Argumentation« nicht leisten könne (Joas 2011: 19). Ich verstehe das so: Den Evidenzcharakter, den die normativ hoch bedeutsamen kulturellen Gehalte und ihre normativen Anforderungen in ihrem kulturellen Stammkontext haben oder hatten, soll die gesuchte Darstellungsweise gegenüber kulturellen Kontextänderungen konstant lebendig halten oder ggf. wieder beleben. Sie soll sie de- und rekontextualisieren. Mit ›Evidenzcharakter‹ meint Joas wohl eine Verbindung von intellektueller Einsicht (insight) und Selbstfestlegung (commitment), eine Selbstbindungswirkung als einen Überschuss, der über die diskursiv-argumentativ bestenfalls erzielbare Einsicht in die relative Berechtigung von Geltungsansprüchen für Behauptungen hinausgeht. Wertbindungen haben für diejenigen, die sie binden, in diesem Sinne Evidenzcharakter.3 Genealogien sind Entstehungsgeschichten. ›Affirmative Genealogie‹ soll die Entstehung von Wertbindungen bekräftigend, Zustimmung weckend und als das, worauf es ankommt, verständlich machend darstellen, also jedenfalls als eine zu bejahende Weise des Strebens von Gemeinschaften (kulturellen Wir-Gruppen) nach dem gemeinschaftlich Guten verständlich machen.4 Wer ›affirmative Genealogie‹ betreiben will, will das Gegenteil jener Art von Genealogie, die Nietzsche mit der ›Genealogie der Moral‹ zum Modell erhoben hat, deren beabsichtigte Wirkung es ist, Ideen und Praktiken, die Macht über 3 | Das lässt offen, ob nur Wertbindungen oder auch andere Arten von Bindungen Evidenzcharakter im gerade charakterisierten Sinne haben können. 4 | Nota bene: Das Gute, wie es in einer besonderen Gemeinschaft konzipiert wird, muss sich nicht reduzieren auf das Gute ausschließlich für uns, die Mitglieder dieser Gemeinschaft – so wenig wie etwas, das mir als das Gute erscheint, sich reduzieren muss auf das, was mir als für mich gut erscheint.

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uns haben, durch historische Aufdeckung der Gewalt, Willkür und Zufälligkeit, kraft deren sie an die Macht kamen, die Macht zu nehmen, die sie über uns haben.5 ›Affirmative Genealogie‹ hingegen ist »kontingenzbewußte Vergangenheitsrekonstruktion« in der Absicht, durch »Rückgang auf die Prozesse der Idealbildung, die Entstehung von Werten, […] uns gegenüber dem Appellcharakter historisch verkörperten Sinns« zu öffnen (Joas 2011: 190). Soviel zu den programmatischen Erwartungen, die Joas mit dem FAG verbindet. Sie verdeutlichen, wozu wir ›affirmative Genealogie‹ betreiben würden.

2. A uf was ist › affirmative G ene alogie ‹ anwendbar ? Hans Joas’ Forschungsprogramm ist, wie gesagt, nur auf qualifizierte Gehalte zugeschnitten. Die Frage, was einen Gehalt zum Kandidaten für ›affirmative Genealogie‹ qualifiziert oder disqualifiziert, ist derzeit anscheinend noch Teil des Forschungsprogramms. Joas spricht von einer »Sakralität« der Wertbindung, aufgefasst als »subjektive Evidenz und affektive Intensität« (Joas 2011: 18). Derart qualifizierte Gehalte sind klare Kandidaten. Aber nur die so qualifizierten Gehalte, nur sakralisierbare Gehalte?6 Joas’ sozialwissenschaftlicher, Denkmotive u.a. von Durkheim und Parsons (vgl. ebd.: 260-265) versammelnder Begriff einer Sakralisierung von x ist m.E. noch nicht so gut geklärt, wie es gemessen an der systematischen Bedeutung der mit diesem Begriff angedachten Phänomene wünschenswert wäre. Sakralisierung stattet x mit Wert aus oder steigert den Wert von x und geht offenbar über kulturelle Prozesse der bloßen Generalisierung von Werten hinaus, insofern durch Sakralisierung der Wert von x und die Bindung an diesen zu einem höchstbesetzten (höchsten, letzten, superioren, absoluten?) Wert wird; und dies kollektiv, nicht bloß individuell. Ob sich das Sakrale als eine kulturelle Errungenschaft der Hominisierung formiert hat und sich im Laufe der Zeit durch Formwandlungen, Umlenkungen und Umdeutungen in diverse Nachfolge-Sakralitäten zerstreut und verteilt, oder ob das Sakrale eine historisch-kulturell stets gegenwärtige Möglichkeit der Neubildung von Höchstwerten darstellt, sei dahingestellt.7 Joas zufolge 5 | Einen instruktiven Vergleich der Genealogien von Charles Taylor und Hans Joas auf der einen, von Friedrich Nietzsche und Michel Foucault auf der anderen Seite gibt Hartmut Rosa (Rosa 2012). 6 | Joas’ Auffassung von der spezifischen Leistungskraft der Methode der ›affirmativen Genealogie‹ kann man auch so verstehen: Diese Methode ist die einzige, die »der Tatsache der Sakralisierung gerecht wird« (Joas 2011: 147), aber sie kann zudem auch nichtsakralisierten Gehalten gerecht werden. 7 | Vgl. Joas 2011: 94: »[…] Heiligkeit, die alle Individuen und alle Kulturen kennen […]«.

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kommen als das x von Wertschätzungsgeschichten, die wir bereits als Sakralisierungsgeschichten rekonstruieren können, mindestens infrage: die Nation, die klassenlose Gesellschaft, die Vernunft, die Person, eventuell die Menschenrechte selbst (vgl. ebd.: 101 u. 280). Sakralisierungen sensu Joas behalten also jene radikale Ambivalenz, die bis in die Wurzel des Sakralen hineinreicht: die Dialektik des Sakrosankten und des Verruchten.8 Joas meint sicher nicht, die Sakralisierung eines Gehalts bedeute die moralische Adelung dieses Gehalts. Die ›Sakralisierung‹ der Person mag zum Florieren der Menschenrechtskultur geführt haben, die Sakralisierung der Nation führte zum Nationalsozialismus. Außerdem ist zu erwarten, dass jede bestimmte Sakralisierung eine abgewehrte, unter Umständen sogar diabolisierte Kehrseite produziert. Diejenige Sakralisierungsgeschichte, die Joas in systematischer Absicht, nämlich affirmativ genealogisch erzählt, ist die Geschichte der Sakralisierung (= des normativ hoch bedeutsam Werdens) des kulturellen Gehalts des Konzepts von verkörperter individueller Personalität.9 Die Leistungskraft seiner affirmativ-genealogischen Darstellungsweise beschreibt Joas so: Dieses Narrativ der ›Sakralisierung der Person‹ sei geeignet, »das historische Wissen, das wir zur Entstehung der Erklärung [der Menschenrechte, M.K.] von 1948 haben, zu synthetisieren. Dabei liegt der Nachdruck […] auf der Verständigung zwischen fundamental differierenden kulturellen Traditionen, Traditionen also mit auf den ersten Blick stark voneinander abweichenden Sakralitäten.« (ebd.: 266) In dem brillanten Schlusskapitel über Wertegeneralisierung, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Pluralität der Kulturen (ebd.: 251-280) löst Joas diesen Anspruch m.E. auch ein. Sakralisierungen konkurrieren nicht nur in der Polarität von Positivem und Negativem, zu der sie uns bringen (z.B. Menschenrechtskultur versus Nationalsozialismus), sondern auch horizontal, auf derselben, je nachdem positiven oder negativen Ebene. Solche agonalen Verhältnisse zwischen sakralisierten Werten erinnern m.E. dann aber doch wieder an Max Webers Wort vom Polytheismus der letzten Werte, mit Diskursblockaden zwischen ihnen, dem und denen Hans Joas gerade nicht das letzte Wort lassen möchte. Aber vielleicht ist Joas’ Versuch, die Logik der Kommunikation über Werte von einigen unnötigen, nämlich infolge fragwürdiger theoretischer Annahmen (z.B. in der Standardversion der Diskurstheorien von Apel und Habermas) verhängten Blockaden zu befreien, gar nicht so radikal gemeint – dass Prozesse der Wertegeneralisierung sogar angesichts solcher Wertbindungen, die radikal unvereinbar sind, erfolgreich sein können. Vielleicht ist der Ver8 | Diese Dialektik hat besonders Giorgio Agamben (vgl. Agamben 2001) arg strapaziert. 9 | So verstehe ich Joas 2011: 84ff., bes. Fußnote 21 und 224f., unter Berufung u.a. auf Émile Durkheim und Marcel Mauss.

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such nur regulativ gemeint – dass es sinnvoll ist, Wertegeneralisierung auch angesichts stark diskrepanter Wertbindungen zu versuchen, und solange zu versuchen, bis starke Gründe zeigen, dass die Grenze des Möglichen erreicht ist. Auch letzteres wäre m.E. schon ein wichtiger Fortschritt gegenüber den Standardversionen der Diskurstheorie und Diskursethik. Joas’ Anliegen, »eine Kommunikation über Werte zu durchdenken, die sich nicht von den Erfahrungsgrundlagen unserer Wertbindungen löst« (ebd.: 264f., FN 23), halte ich seit langer Zeit10 für ein Anliegen, das auch Diskurstheoretiker, allemal Diskursethiker, teilen müssten. Denn letztlich geht es in Diskursen um den Wert von – mehr oder weniger guten – Gründen; und speziell in Diskursen über moralisch-normative Normen um solche, die (nach Habermas’ klassischer Formulierung) gleichermaßen gut für alle sein sollen. Joas’ FAG ist allgemeiner angelegt als der besondere Gegenstand, unser Glaube an die Menschenwürde aller Menschen, an dem Joas das Forschungsprogramm vorführt.11 Deshalb möchte ich nun die von Joas gesuchte und am Menschenwürdeglauben exemplarisch vorgeführte Darstellungsweise als die allgemeine Methode analysieren, als die sie gemeint und soweit sie als solche zu erkennen ist12 – und diese Methode mit diskursiver Argumentation als einer anderen allgemeinen Methode vergleichen.

3. D ifferenzen und B erührungen z wischen G ene alogie und D iskurs Verfolgt man Joas’ Gegenüberstellungen, was diskursive Argumentationen sind und leisten und was affirmativ-genealogische Darstellungen sind und leisten (Joas 2011: 253ff.), dann fällt als Hauptunterschied das Folgende auf: diskursive Argumentation könne Dissense über Geltungsansprüche für Behauptungen intellektuell verarbeiten, aber keine Diskrepanzen von Bindungen an Werte, da unsere Kommunikation über Wertbindungen auf interessante Weise anders funktioniere als unsere Kommunikation über begründbare Gel10 | Vgl. Kettner 1995a; 1995b; 1995c. 11 | Es gehe, so Joas, »in diesem Buch um eine affirmative Genealogie des Universalismus der Werte« (Joas 2011: 15) überhaupt, also um weit mehr als nur den Universalismus des Werts der Menschenwürde. Aber ich kann nicht erkennen, ob Joas meint, dass nur universell gemeinte Wertbindungen affirmativ-genealogisch behandelt werden könnten, partikular gemeinte aber nicht. 12 | Das vierte Kapitel (Joas 2011: 147-203) ist als Methodendiskussion der ›affirmativen Genealogie‹ angekündigt (am klarsten ebd.: 187-195), wird m.E. aber durch ein Übermaß affirmativer Interpretationsbemühungen um Ernst Troeltschs ›existenziellen Historismus‹ eher behindert als befördert.

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tungsansprüche. ›Affirmative Genealogie‹ hingegen könne Diskrepanzen von Wertbindungen verarbeiten, denn sie stelle eine (die einzige?) angemessene »Form der Wertbegründung« (ebd.: 260) dar. Joas möchte nicht behaupten, dass man von Argumentation auf Narration ›umstellen‹ kann.13 Er möchte also nicht behaupten, dass eine affirmativ-genealogische Darstellung mitleistet, was eine diskursive Argumentation leistet, sondern nur, dass sie etwas eigenes, anderes leistet als diese. Einmal angenommen, es verhielte sich so. Eine diskurskritische Pointe ergäbe sich daraus aber nur dann, wenn die Verarbeitung von Diskrepanzen in Wertbindungen durch affirmativ genealogische Wertbegründungen etwas ist, das erstens notwendig ist, um ein Ziel Z1 zu erreichen, das nach Meinung der Diskurstheoretiker schon und nur mit Diskursen zu erreichen sei; oder das zweitens notwendig ist, um ein bestimmtes Ziel Z2 zu erreichen, wobei es sich mit Z1 und Z2 so verhält, dass das Erreichen von Z1 keinen oder nur geringen Wert (bemessen an einem Ziel Z*) hat, wenn nicht auch Z2 erreicht wird. – Im ersten Fall wäre Joas’ diskurstheoriekritische Pointe, dass die Diskurstheoretiker sich über eine für diskursive Erfolge notwendige Bedingung täuschen; im zweiten Fall aber, dass sie den Wert diskursiver Erfolge entweder überschätzen oder dass sie zugeben müssten, dass die diskursiven Erfolge, die sie meinen, einen nur geringen (bemessen an Z*) Wert haben. Das Ziel Z1 wäre, dem würden die meisten Diskurstheoretiker zustimmen, die Festlegung unserer Überzeugungen auf Gültigkeit durch rational qualifizierte Konsensbildung. Für das Ziel Z2 können wir mit Joas die affirmativ-genealogische Darstellung der Entstehung unserer fundamentalen Wertbindungen einsetzen, und für Z* die Stärkung der kommunikativen Macht unserer Überzeugungen, d.h. unsere Macht, durch kommunikative Mittel andere Personen mit anderen Überzeugungen umzustimmen, zur Zustimmung zu und Übernahme von unseren Überzeugungen zu bewegen. Mir scheint aber, der erste Fall trifft nicht das, was Joas meint. Denn zumindest im Hinblick auf Habermas, den prominentesten Diskurstheoretiker, gilt, dass er explizit werttheoretische Auffassungen vertritt, die die diskursive Konsensbildung über diskrepante Werte und strittige Geltungsansprüche für Werturteile sehr weit wegrücken von der diskursiven Konsensbildung über strittige Geltungsansprüche für wahrheitsfähige Behauptungen. Soweit Wertfragen überhaupt ›diskursfähig‹ sind, stellen entsprechende Diskurse für Habermas allenfalls einen defizienten Modus von Diskursivität dar. Habermas zufolge kann es in Wertfragen nicht die diskursiven Erfolge geben, die es in Wahrheits- und wahrheitsanalogen Fragen geben kann. 13 | Pace Rorty. Vgl. Joas’ Kritik an Rorty in der langen Fußnote 16 (Joas 2011: 170f.). Ich bin aus anderen, nämlich diskursethischen Gründen zu einer ganz ähnlichen Kritik an Rortys Verständnis der Menschenrechtskultur gelangt (vgl. Kettner 2001).

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Allerdings erweisen sich Habermas’ werttheoretische Auffassungen – wenn auch verständlich vor dem Hintergrund seiner Konzeption von normativem Universalismus – als unnötig eng. Sie werden sogar unhaltbar, sobald man einsieht, dass die Möglichkeit eines universalistischen, alle Mitglieder einer Gemeinschaft inkludierenden Sinns von Verbindlichkeit, d.h. Allgemeinverbindlichkeit, weder exklusiv dem präskriptiven Format Norm zukommt, wie Habermas meint, noch dem präskriptiven Format Wert abgeht, wie Joas betont.14 Ich meine nun mit Joas: Sowohl die faktische wie auch die kontrafaktische (= sinngemäße) zwischenmenschliche Verbindlichkeit von Normen ebenso wie von Werten kann sich sowohl auf maximal wie auch auf minimal inkludierende kulturelle Wir-Gruppen beziehen. Es kommt auf die bestimmten Inhalte der Normen und der Werte an und somit auf die Problemlagen, für die die Inhalte relevant sind. Diese Einsicht ergibt sich für mich nicht aus einer Theorie besserer und schlechtere Werte, wie bei Joas, sondern aus einer Theorie besserer und schlechterer Gründe, also rationalitätstheoretisch, d.h. im Rahmen einer bestimmten diskurspragmatischen Auffassung der Rolle von Gründen innerhalb derjenigen Praktiken von Rechtfertigung und Kritik, die wir für rational halten. Diejenigen Gründe, die wir für unsere guten Gründe halten, drücken unsere Richtigkeitsüberzeugungen aus.15 Ich meine, Pragmatisten sollten Gründe am besten als Lösungen (Negationen) von Problemsituationen begreifen16 – Gründe transformieren Problemsituationen. Die Gründe, die wir nennen, wo immer wir menschliche Absichten und Ansichten verständlich machen müssen oder als einwandfrei ausweisen, d.h. rechtfertigen wollen, können mehr oder weniger gut nur deshalb sein, weil sich in ihnen drei Bezüge verschränken: Ein Bezug auf die Tatsachen, die in ihnen supponiert sind – faktischer Bezug; ein Bezug auf die Person, die die Gründe als ihre Gründe hat, und zwar in der Weise einer positiven oder negativen Wertschätzung durch diese Person – affektiver Bezug; und ein Bezug auf gemeinschaftlich anerkannte Normen in einer Wir-Bezugsgruppe von Grün14 | Joas moniert zu Recht die Verwechslung des Partikularen mit dem Partikularistischen (Joas 2011: 159) und unterstreicht: »daß die Träger von Werten partikulare Individuen und Gruppen sind, bedeutet nicht, daß die Adressaten ihrer Wertorientierung ebenfalls nur partikulare Individuen und Gruppen sein können« (ebd.: 256). 15 | Der Begriff der Richtigkeitsüberzeugung erläutert den Begriff des Geltungsanspruchs. Die Festlegung unserer Richtigkeitsüberzeugungen auf ihre relative Gültigkeit durch argumentativ-diskursiv erzielbaren Konsens würde ich als das oben genannte Ziel Z1 bezeichnen. 16 | Vgl. Kettner 2009: 371. Für die von mir entwickelte Auffassung (Kettner 1996a; 1996b; 1999a; 2009; 2012) nehme ich in Anspruch, dass sie rational im Sinne des philosophischen Pragmatismus, nicht aber rationalistisch im Sinne des Kantianismus ist.

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debewertern – kommunitärer Bezug. Wenn wir wiederum Gründe verwenden, um den differenziellen Wert solcher Gründe auszudrücken und zu vergleichen – Bewertungsgründe –, machen wir unsere Gründe überprüf bar und treten damit in die Diskursivierung unserer Gründe ein. Argumentative Operationen greifen in Diskursen primär am Fürguthalten von Gründen, nicht am Fürwahrhalten von Überzeugungen an. Verallgemeinerungsprinzipien für gute Gründe (vgl. Kettner 1999a: 172174), die ein wichtiges Moment dessen sind, was man, wenn man so will, ›Diskursrationalität‹ nennen kann, ermöglichen die Bewertung und auch überraschende Neubewertung guter Gründe im Licht anderer guter Gründe: Wer einen Grund als seinen Grund angibt, muss immer schon annehmen, dass auch die zweite Person den Grund, den die erste Person für sich als guten Grund akzeptiert, für sich als guten Grund akzeptieren können sollte, wenn nicht (…). Die Teilformulierung ›wenn nicht (…)‹ markiert die Möglichkeit von für die Proponenten und Opponenten neuen, überraschenden Gründen und somit von Lern-Chancen.17 Dabei müssen wir Gründe keineswegs auf das explikative Format von Aussagesätzen, das Prokrustesbett des Propositionalismus, stutzen. Unter Umständen braucht es eine auch metaphorisch ausgreifende Geschichte, um jemandes Grund, etwas Bestimmtes zu tun – z.B. auf grauenhafte Weise Selbstmord zu begehen –, so in Erfahrung zu bringen, dass man den Grund bewerten kann.18 Wenn Praktiken des diskursiven Argumentierens (›Diskurse‹) an und mit Gründen operieren, und wenn für gut gehaltene Gründe per se faktische, evaluative und normative Momente enthalten, dann verliert Joas’ konventionelle Kontrastierung von Genealogie und Diskurs – diskursive Argumentation könne Dissense über Geltungsansprüche für Behauptungen intellektuell verarbeiten, aber keine Diskrepanzen von Bindungen an Werte – viel von der Schärfe, die sie zu haben scheint. Denn wenn wir Gründe als die – was Rationalität betrifft: sogar elementare – Infrastruktur von Normen und Werten behandeln, dann können wir die ausgetretenen Pfade der Diskussion um irgendwelche Arten des Vorrangs von Werten vor Normen oder umgekehrt, und irgendwelche Arten des Vorrangs des Richtigen vor dem Guten oder umgekehrt, verlassen und die Sachprobleme neu erkunden; nicht mehr in der sterilen Opposition von Normen und Werten, sondern von einem vermittelnden Dritten, von unseren Gründen aus. Und zur Diskursrationalität zählt in diesem Zusammen-

17 | Zu den aufzugebenden Mythen der konventionellen Diskurstheorie gehört auch die Meinung, nur Gründe, die gut in allen relevanten Kontexten und deshalb scheinbar kontextfrei sind, seien gute Gründe (vgl. Kettner 1996b: 452). 18 | Vgl. Kettner 1996b: 452; das Beispiel geht zurück auf einen Roman von Milan Kundera (Kundera 1991: 288f. u. 304).

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hang auch eine Logik der Vermittlung von faktischen, evaluativen und normativen Behauptungen im Rahmen diskursiver Argumentation.19 ›Affirmative Genealogie‹, so möchte ich das Ergebnis dieser Erörterungen zusammenfassen, ist ein erweiternder, nie ersetzender Zusatz zur Begründung: sie erweitert gute Gründe um deren Hintergründe, so dass ihr Narrativ gleichsinnig mit dem Sinn der Begründung bleibt.

4. K onsensbildung über N ormen und W erte in re alen D iskursen Ich komme zu Joas’ diskurskritischer Sichtweise, soweit sie eher dem ersten als dem zweiten Fall entspricht. Wenn wir z.B. das Feld der Werte, die ihre normative Artikulation in den erklärten Menschenrechten gefunden haben, überzeugungskräftig halten wollen, was wir sollten, wenn uns an der Stärkung der Menschenrechtskultur gelegen ist, dann geht es »um die argumentative Begründung des universellen Geltungsanspruchs, die aber – wie hier gezeigt werden sollte – ohne Durchsetzung mit Narration nicht zu haben ist« (Joas 2011: 281). Das müsste diejenigen Diskursethiker alarmieren, denen zufolge die Verbindlichkeit aller Normen vernünftiger Moral aus dem ›argumentativen Diskurs‹ entsteht.20 Aber nicht alle Varianten im ›Forschungsprogramm Diskursethik‹, die innerhalb des Paradigmas des rationalen Diskurses bis jetzt entwickelt worden sind, sind auf diese Position zu bringen. Schon zwischen Habermas und Apel bestehen große theoretische Unterschiede in ihren Ansichten über die Diskursfähigkeit von Wertbindungsproblemen.21 Apels interessante Habermaskritik in puncto Diskursethik kann ich an dieser Stelle nicht diskutieren. Wichtiger ist mir ein allgemeinerer Punkt: Joas’ kritische Einwände gegen Diskurstheorie und Diskursethik mögen die Position von Ha19 | Technisch gesprochen: Ein Verhältnis diskursiver Supervenienz zur Ordnung von Sach-, Wert- und Normfragen im praktischen Diskurs (vgl. Kettner 1995b: 319 und Kettner 2011). 20 | Am deutlichsten vertritt diese Position Dietrich Böhler (Böhler 2013: bes. 235322); vgl. dessen Versuch, rein dialogisch die Verbindlichkeit von Menschenwürde als Grundnorm rationaler Moral zu erweisen (ebd.: 514-529). 21 | Vgl. Apels Kritik an Habermas’ Abspannungsstrategie axiologischer Fragen (Apel 1999b: 772-785). Apel moniert vor allem (bes. 779f.) Unklarheiten in Habermas’ Rede von Intersubjektivität und stellt zumindest die von Habermas verfehlte diskursethische Frage sehr klar: »Es geht darum, die postkonventionelle Reflexionsdistanz des ethischexistenziellen Diskurses zugleich mit der hermeneutisch-kommunitaristischen Einsicht in die Verwiesenheit der individuellen Selbstverwirklichung auf eine bestimmte Gemeinschaftstradition zur Geltung zu bringen.« (ebd.: 782)

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bermas treffen, aber treffen sie auch auf andere Positionen anderer Diskursethiker zu?22 Zur Theorielage hinsichtlich Konsens und Konsensbildung ist zunächst Folgendes zu sagen: In der großen semantischen Bandbreite von ›Konsens‹ liegen begriffliche Ausarbeitungsmöglichkeiten, die Konsens zu einem Konzept machen, das in allen Bereichen moderner Philosophie, der praktischen wie der theoretischen, eine wichtige Rolle spielen kann. Man versucht semantische, epistemologische ebenso wie politik- und sozialphilosophische Schlüsselbegriffe wie Wahrheit, Akzeptanz, Rechtfertigung, Anerkennung, Geltung und Verbindlichkeit unter Zuhilfenahme von Konsensbegriffen neu zu konzeptualisieren. In der Vieldeutigkeit, die der Konsensbegriff dadurch erlangt, bleibt die konstante unspezifische Grundbedeutung von Konsens: miteinander geteilte Zustimmung zu etwas. Aber: Diskurstheoretisch aussichtsreich erscheinen nur dynamische und normative Konsens-Begriffe, wonach individuelles Konsentieren so viel heißt wie rechtgebendes Zustimmen zu einem normativ folgenreichen Gehalt, wobei das moralisch Normative lediglich als eine spezifische Ausprägung unter vielen anderen Ausprägungen des Normativen zu begreifen ist, und zwar auf der Basis dessen, dass man sich über prinzipiell revidierbare gute Gründe einig wird.23 In diesem Sinne meint z.B. die Apel’sche Diskursethik – innerhalb spezifisch moralischer Problemlagen – mit ›Konsens‹ ein miteinander erzieltes (oder bei ›antizipiertem Konsens‹: ein für miteinander erzielbar gehaltenes) Zustimmen zu demjenigen Anspruch, den Personen, wenn sie moralisch urteilen, erheben und der besagt, dass ihr Moralurteil für die einen so wie für die anderen gelte, und zwar für alle, für die es seinem Inhalt nach überhaupt gelten soll. Soweit rechtgebendes Zustimmen (Konsentieren) auf dem möglichst allgemeinverbindlichen Unterscheiden besserer und schlechterer Gründe beruht, weil es aus diskursiver Argumentation hervorgeht, und weil 22 | Die Fixierung von Positionen auf die der Paradigmenbegründer ist kommunikativ zwar verständlich, für den Fortschritt der Forschung aber misslich. Auf den Schultern der Riesen Apel und Habermas stehen inzwischen andere Diskursethiker. Man kann m.E. ›die‹ Diskursethik nicht auf ihrem aktuellen Entwicklungsstand diskutieren, ohne die Komplexität des Feldes diskursethischer Positionen zu berücksichtigen (repräsentativ: Niquet u.a. [Hg.] 2001; Gottschalk-Mazouz [Hg.] 2004). 23 | Ein großer Anteil der innerhalb des Paradigmas des rationalen Diskurses bestehenden Heterogenität erklärt sich durch Unterschiede in den Annahmen verschiedener Theoretiker über die Beschränkungen und Qualifizierungen, die für verschiedene Diskurstypen, Geltungsansprüche oder Arten guter Gründe zu postulieren wären. Zur Ausprägung von Normativität, die die diskursive Konsensbildung speziell über Wahrheitsansprüche regiert, vgl. am ausführlichsten Apel 1999a, der anders als Habermas weiterhin an einer diskursiven Konsenstheorie der Wahrheit festhält.

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das Unterscheiden besserer und schlechterer Gründe idealiter ein Prozess von rekursiver, unabschließbarer und sich selbst immerzu aktualisierender Form ist, ist jedes faktisch einmal erzielte und inhaltlich einmal bestimmte Konsensprodukt ein revidierbares Reflexionsgleichgewicht von schon entkräfteten Dissensgründen und (vorerst) noch nicht entkräfteten Konsensgründen. Normativer dynamischer Konsens, resultierend aus realen Diskursen, ist die Einheit von Konsens und Dissens. Auf dem Wege diskursrationaler Argumentation kann beides entstehen: Dissens und Konsens. Hier hat Konsens gegenüber Dissens nur den sinnlogischen Vorrang der regulativen Idee: es wäre im Rahmen diskursiven Argumentierens absurd, letztlich Dissens anzustreben. Nicht sehr belastbar erscheint mir deshalb Joas’ Annahme, dass sich an seinem Positiv-Beispiel der unwahrscheinlich günstigen kulturellen Konstellation des Jahres 1948 verallgemeinerbare Züge ablesen lassen, die die Wertegeneralisierung als eine klar profilierte eigensinnige Kommunikationspraxis hervorheben und von Diskursen absetzen würden. Gewiss, die 1948 erfolgte Konsensbildung über den finalen Text der Universal Declaration of Human Rights erscheint treffend charakterisiert als eine composite synthesis, als Resultat eines »dynamischen Prozesses, in dem viele Köpfe, Interessen, Hintergrundannahmen, Rechtssysteme und ideologische Überzeugungen jeweils ihre bestimmenden Rollen spielten«24. Wenn Wertegeneralisierung eine Konsensbildung ist, die so funktioniert, dann ist Wertegeneralisierung offenbar etwas, das sich nicht (›dezisionistisch‹) reduzieren lässt auf »eine bloße Entscheidung zur friedlichen Koexistenz trotz unüberwindbaren Wertedissenses« (Joas 2011: 264). Wertegeneralisierung sensu Joas entspringt gelingender Kommunikation, deren Gelingen genau darin besteht, dass »eine dynamische wechselseitige Modifikation und Anregung zur Erneuerung der je eigenen Tradition« (ebd.: 264), mit der die je eigenen Wertebindungen verwoben sind, erfolgt.25 Ich meine, die 1948 erfolgte Konsensbildung über den finalen Text der Universal Declaration lässt sich ebenso gut als ein realer Diskurs charakterisieren, ein ausgedehntes Geflecht der Eröffnung und Nutzung von Diskursivierungschancen durch kulturell situierte Akteure, das zusammengehalten wird von geteilten Zielen der Konsensbildung über eine Erklärung, der nicht nur alle Beteiligten, sondern alle Betroffenen hoffentlich würden zustimmen können. Soweit wir wissen, ist es den meisten Beteiligten darum gegangen, einen gemeinsamen Nenner ihrer Richtigkeitsüberzeugungen auszuhandeln, angesichts und trotz deren Diversität, und nicht darum, Verbindlichkeiten auszuhandeln angesichts und trotz ungleich verteilter Macht, den eigenen Willen

24 | Joas 2011: 276, der hier zustimmend Glendon 2001: 164 zitiert. 25 | Philosophisch besser durchgearbeitet ist die m.E. ganz ähnliche Konzeption rationaler Traditionsfortbildung in MacIntyre 1990, vgl. dazu Nicholas 2012.

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unter Gegenspielern soweit wie möglich durchzusetzen.26 Reale Diskurse können in kooperationswilligen konsensorientierten Gemeinschaften – wie der Gruppe der Autoren der 1948er Erklärung – durchaus Wertegeneralisierungen im zuvor bezeichneten Sinne von composite synthesis leisten. Dazu bedarf es keiner ›affirmativen Genealogie‹, keiner »kontingenzbewußten Vergangenheitsrekonstruktion« in der Absicht, durch »Rückgang auf die Prozesse der Idealbildung« (Joas 2011: 190) uns für den Appellcharakter jener Werte zu öffnen, die wir im realen Diskurs aneinander anpassen und in neue Reflexionsgleichgewichte bringen. Überhaupt erscheint mir Joas’ Rede von ›Wertebegründung‹ zweideutig. In der einen Lesart nämlich ist Wertebegründung via und unter Zuhilfenahme der Methode ›affirmativer Genealogie‹ nur scheinbar zu etwas fähig, woran praktische Diskurse nicht heranreichen. Diese Asymmetrie habe ich für das Beispiel der Konsensbildung über Menschenrechte bestritten. In einer zweiten Lesart meint Wertebegründung mittels ›affirmativer Genealogie‹ dagegen etwas Stärkeres: sie soll selbst die Kraft erzeugen, die in Wertbindungen steckt (s.o. Anspruch 4). So wie Joas das diskursive Argumentieren unterschätzt, so überschätzt er hier m.E. die ›affirmative Genealogie‹. Hierfür zwei Argumente: (1) Hans Joas vergisst, dass diskursives Argumentieren eine notwendige Bedingung dafür ist, dass eine affirmativ-genealogische Darstellung überhaupt etwas Affirmatives leistet. Ob wir uns fragen, was aus den Wertbindungen, die wir gemeinschaftlich teilten, geworden ist und wieder werden sollte; oder ob wir uns fragen, wie andere, die bestimmte Wertbindungen noch nicht teilen, die wir schon teilen, so überzeugt werden können, dass sie diese ebenfalls teilen: In beiden Fällen müssen wir einige geteilte Wertbindungen voraussetzen, deren Bindungswirkung und Überzeugungskraft wir nicht erst erzeugen, sondern schon in Anspruch nehmen.27 Und wenn ›wir‹ nicht von der Berechtigung unserer Bindung an diese Werte und der Bindungsansprüche, die diese Werte sinngemäß an alle richten, für die sie als Werte sinngemäß relevant sind, überzeugt wären, wäre der Versuch, sie auszubreiten, nur strategisch 26 | Macht sensu Max Weber. Den Begriff des Aushandelns habe ich hier benutzt, um seine Doppeldeutigkeit explizit zu machen: Aushandeln kann sich auf Konsensbildung auf dem Wege machtgestützter Verhandlungen beziehen, aber auch auf Konsensbildung auf dem Wege diskursiver Argumentation. Rational können beide sein, allerdings in verschiedenem Sinne: allein strategisch-rational nur der erste, diskursrational nur der zweite. Zur diskursiven Rekonstruktion der Konsensbildung 1948 vgl. bes. Ehrens­ perger 2006. 27 | Für die Menschenrechte z.B. ist das der Höchstwert einer friedlichen und für alle Menschen gedeihlichen Weltordnung; vgl. Kettner 1999b.

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und indirekt. Wertebegründung und Wertegeneralisierung beginnen zuhause. Und wir haben keine anderen Möglichkeiten, uns dessen zu vergewissern, dass unsere Werte es verdienen, sich an sie zu binden, als eben die Arena diskursiver Argumentation. (2) Noch einmal zum Beispiel der Kontroversen über Sinn und Unsinn von Menschenrechten. Jeremy Bentham (1748-1832), im klaren Denken wahrlich kein Anfänger, hätte den Mesmerschen Heilmagnetismus des 18. Jahrhunderts gewiss genau so eingeschätzt wie die zeitgleich in Frankreich erfundenen universalen Menschenrechte: als gestelzten Unsinn. Warum meinen wir, wenn wir das meinen, Benthams Negativurteil über die Anerkennungswürdigkeit bestimmter Ansichten sei unter vernünftig denkenden Menschen im ersten Fall zutreffend gewesen, im zweiten Fall aber haltlos und falsch? Warum sind wir vom Menschenrechts- und Menschenwürdeglauben heute so überzeugt, wie wir es nun einmal sind – und warum war Bentham und, das dürfen wir im Hinblick auf Menschenrechte nicht vergessen, warum sind auch heute noch viele Menschen vom Gegenteil überzeugt? Im Weltmaßstab ist die Anzahl derjenigen, die die Globalisierung der Menschenrechtskultur als gottlosen oder sonstwie abgefeimten westlichen Werteimperalismus begreifen, keine zu vernachlässigende Größe. Wer hat Recht? Die Frage so zu stellen, wäre natürlich naiv. Doch während wir uns durchaus ein Argumentationspaket vorstellen können, mit dem wir als Zeitreisende zu Bentham zurückkehren und sein Negativurteil über Mesmerismus untermauern können (auch wenn wir hartgesottene Anhänger damit nicht umstimmen könnten), kann ich mir kein Argumentationspaket vorstellen, das Benthams Negativurteil über Menschenrechte aufgehoben, ihn umgestimmt und zu unserem Positivurteil über Menschenrechte hätte bringen können. Ich meine, hier würde die diskursive Macht an Grenzen kommen, ob wir ins normative Gepäck der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nun letzte und vorletzte philosophische Begründungsargumente dazu packen oder auch noch Joas’ Buch über die ›Sakralität der Person‹. Wir sollten damit rechnen – und das ist kein theoretischer Skandal –, dass Wertebegründungen ebenso wie das Teilen von Problemlagen, aus denen bessere Gründe ihre diskursive Macht beziehen, zwar in kulturelle Entstehungskontexte nicht eingesperrt sind, aber auch nicht alle möglichen kulturellen Kontexte transversal werden durchdringen können.

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5. E in F a zit Joas versteht ›affirmative Genealogie‹ letztlich nicht als Alternative zu, sondern als Erweiterung von Begründung. Das bedeutet aber, dass man einen Begriff von Begründung bereits haben und in das Genealogiekonzept investieren muss, den die Genealogie selbst nicht hergibt. Aus irgendwie eng verstandener (wie es heißt: ›rein rationaler‹) Begründungsperspektive könnte ›affirmative Genealogie‹ zwar als um Narration, d.h. um Geschichten der Schicksale von Wertbindungen, die in konsensverstärkender Absicht erzählt werden, erweiterte Begründung verstanden werden. Umgekehrt jedoch wird aus reiner Genealogie, auch in affirmativer Absicht, keine Begründung. Und – ein Punkt, auf den ich hier nicht mehr eingehen kann: Da diskursive Argumentation die zwei Seiten der Begründung und der Kritik hat, könnten sich auch dekonstruierende, ›negative‹ Genealogien dort, wo es um die Problematisierung bestehender Konsense geht, als ähnlich wertvoll erweisen wie affirmative Genealogien. Da kulturelle Sakralisierungsgeschichten keine harmonische Pluralität bilden, sind durchaus Problemlagen vorstellbar, wo wir uns genealogischer Methoden bedienen möchten; nicht nur, um die Überzeugungskraft ›unserer‹ hochbedeutsamen Werte vor Anämie und Anomie zu bewahren, sondern auch, um die Überzeugungskraft von ›anderen‹ hochbedeutsamen Werten, die sich anta­gonistisch zu unseren verhalten, zu untergraben. Von Joas’ Forschungsprogramm der ›affirmativen Genealogie‹ ist aber m.E. eine kulturtheoretisch interessante Denkfigur der Umkehr zu lernen. Über ihre heuristische Fruchtbarkeit müsste weiter nachgedacht werden: Die Suche nach möglichst voraussetzungsarmen, abstrakten, gleichsam modularen Begründungen ist augenscheinlich ›unsere‹ besondere kulturspezifische Strategie, um Begründungen und ihre Überzeugungs- bzw. Umstimmungskraft möglichst weit verallgemeinerbar zu machen. Das in allen rationalis­ tischen Traditionen fetischisierte Ideal ist die apodiktische, die logisch zwingende Begründung von rein logisch zu Begründendem.28 Aber: Wenn wir uns die Genese von modularen guten Gründen als Modifikation der Narrativität von Geschichten vorstellen, die komplex vernetzte gute Gründe vorstellig machen, dann können wir von den weiten, dichten, narrationsnahen und deshalb kulturell voraussetzungsreichen Formen der Begründung – sozusagen von außen nach innen – zu engeren, kulturell weniger voraussetzungsreichen, abkürzenden ›abstrakteren‹ Begründungen vorstoßen. So betrachtet, erscheinen diejenigen Begründungen, die wir in kulturell geprägter Selbstverständlichkeit unter uns für die besten halten, weil es die voraussetzungsärmsten und ›letzten‹ sind, gerade als die speziellsten, deren vermeintlich menschheitswei28 | Vgl. die neopragmatistische Kritik, die Frederik Will (Will 1988) am Deduktivismus übt, und die Essays in Westphal (Hg.) 1998.

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te Überzeugungs- und Umstimmkraft am meisten vom Vollzug eines kulturspezifischen Abstraktionsprozesses von eigenkulturellen Voraussetzungen abhängen – was wir vor allem dann bemerken, wenn wir sie über große kulturelle Distanzen zu projizieren versuchen.

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– (1995c): »Habermas über die Einheit der praktischen Vernunft. Eine Kritik«, in: Axel Wüstehube (Hg.): Pragmatische Rationalitätstheorien, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 85-111. – (1996a): »Das Unbedingte. Diskurstheoretische Bergungsversuche«, in: Wolfgang R. Köhler (Hg.): Nachmetaphysisches Denken und Religion, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 49-65. – (1996b): »Gute Gründe. Thesen zur diskursiven Vernunft«, in: Karl-Otto Apel/Matthias Kettner (Hg.): Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 424-464. – (1999a): »Neue Perspektiven der Diskursethik«, in: Armin Grunwald/Stephan Saupe (Hg.): Ethik technischen Handelns. Praktische Relevanz und Legitimation, Heidelberg: Springer, S. 153-196. – (1999b): »Menschenwürde und Interkulturalität. Ein Beitrag zur diskursiven Konzeption der Menschenrechte«, in: Thomas Göller (Hg.): Philosophie der Menschenrechte: Methodologie, Geschichte, kultureller Kontext, Göttingen: Cuvillier, S. 52-87. – (2001): »Rortys Restbegründung der Menschenrechte. Eine Kritik«, in: Thomas Schäfer/Udo Tietz/Rüdiger Zill (Hg.): Hinter den Spiegeln. Beiträge zur Philosophie Richard Rortys, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 201-228. – (2009): »Was macht gute Gründe zu guten Gründen?«, in: Peter Janich (Hg.): Naturalismus und Menschenbild. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Band 1, Hamburg: Meiner, S. 257-275. – (2011): »Discourse Ethics beyond Apel and Habermas: A Realistic Relaunch«, in: Nordicum-Mediterraneum. Icelandic E-Journal of Nordic and Mediterranean Studies, Volume 6, Number 1, http://nome.unak.is/nm-marzo-2012/6-1x. – (2012): »Gründe und Affekte«, in: Julian Nida-Rümelin/Elif Özmen (Hg.): Welt der Gründe. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Band 4, Hamburg: Meiner, S. 444-454 Kundera, Milan (1991): Die Unsterblichkeit, Frankfurt a.M.: Fischer. MacIntyre, Alasdair (1990): Three Rival Versions of Moral Enquiry: Encyclopedia, Genealogy, and Tradition, Notre Dame: University of Notre Dame Press. Nicholas, Jeffrey (2012): Reason, Tradition, and the Good: MacIntyre’s Tradition-Constituted Reason and Frankfurt School Critical Theory, Notre Dame: Notre Dame University Press. Niquet, Marcel/Herrero, Francisco Javier/Hanke, Michael (Hg.) (2001): Diskursethik – Grundlegungen und Anwendungen, Würzburg: Königshausen & Neumann. Rosa, Hartmut (2012): »›Weiße‹ und ›schwarze‹ Genealogie. Affirmative und pejorative Wertgeschichten bei Taylor und Foucault«, in: Dietmar J. Wetzel (Hg.): Perspektiven der Auf klärung: Zwischen Mythos und Realität, Paderborn: Fink, S. 23-34.

Genealogie und Diskurs

Westphal, Kenneth R. (Hg.) (1998): Pragmatism, Reason, and Norms. A Realistic Assessment, New York: Fordham University Press. Will, Frederick L. (1988): Beyond Deduction. Ampliative Aspects of Philosophical Reflection, London: Routledge.

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Die Sakralität der Person und der klassische amerikanische Pragmatismus Gesche Linde

Hans Joas gehört international zu den profiliertesten Kennern des klassischen amerikanischen Pragmatismus, und er hat in seinen systematischen Arbeiten von pragmatistischen Theoriebildungen immer wieder höchst fruchtbar Gebrauch gemacht. Welche Rolle spielt der Pragmatismus in seiner 2011 erschienenen Monographie Die Sakralität der Person? Dieser Frage möchte ich in drei kurzen Schritten nachgehen.

1. D ie me thodische V erortung der B ezugnahme auf den P r agmatismus Die Methode, die Hans Joas in Die Sakralität der Person (Joas 2011) verfolgt, ist die einer ›affirmativen Genealogie‹ der Menschenrechte, die als solche zwei Arbeitsschritte umfasst: die »historische Forschung« (ebd.: 202) – diese bereits im Sinne einer »Verlebendigung« (ebd.: 202) – und die Untersuchung der Bedingungen, die »im Angesicht dramatischen Wertewandels« (ebd.: 21) und im Interesse einer »Lösung gegenwärtiger Orientierungsprobleme« (ebd.: 187) eine aktuelle »Aneignung« (ebd.: 204) der Menschenrechtsidee ermöglichen; diese Untersuchung schließt eine Analyse derjenigen »Institutionen und Praktiken« (ebd.: 204) ein, von denen die wirkkräftige Umsetzung der Menschenrechtsidee abhängt. Auf den klassischen amerikanischen Pragmatismus nimmt Joas im Zusammenhang des zweiten Arbeitsschrittes, der gegenwärtigen Aneignung also, Bezug. Der Pragmatismus dient ihm als Vorlage oder Anknüpfungspunkt für eine ›argumentative Verteidigung‹ (vgl. ebd.: 203) oder »Plausibilisierung« (ebd.: 21) der Menschenrechte unter heutigen Theoriebedingungen, und zwar einer in einem christlichen Kontext stattfindenden Verteidigung. Der »Aufstieg der Menschenrechte« (ebd.: 209) habe die christliche Tradition nämlich vor die »Herausforderung« (ebd.) gestellt, zwei zentrale Bestandteile

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ihres Dogmas umzuformulieren, um auf dieser neuen Grundlage eine Akzeptanz der Menschenrechtsidee zu ermöglichen: Gottebenbildlichkeit und Gotteskindschaft. Während Joas für seine argumentative Verteidigung bzw. Plausibilisierung der Gotteskindschaftsidee auf den Begriff der Gabe zurückgreift, zieht er für die der Gottebenbildlichkeitsidee den Begriff der Seele bzw. des Selbst heran, und an eben dieser Stelle wird der Pragmatismus eingeführt. Denn anstatt den Begriff der Seele einfach zu verabschieden, wie es beispielsweise bei dem Neopragmatisten Richard Rorty der Fall sei (vgl. ebd.: 214), hätten die klassischen Pragmatisten »eine entscheidende Rolle« (ebd.: 215) dabei gespielt, den Seelenbegriff in den Begriff des Selbst zu transformieren, wie er heute in Psychologie und Soziologie verwendet werde (vgl. ebd.: 214) – und auf diese Weise einige seiner wesentlichen Anliegen gerettet. Zu diesem Szenario möchte ich drei Anmerkungen bzw. Anfragen formulieren.

1.1 Der Soziologe und die Theologie Dass der Autor seine Selbstverortung als (katholischer) Christ nicht verschweigt (vgl. Joas 2011: 250)1, darf als konsistent gelten, denn dies entspricht der Methode der ›affirmativen Genealogie‹, die eine Positionalität des wissenschaftlich (d.h. hier: historisch) arbeitenden Subjekts nicht nur erlaubt, sondern als geradezu ›unvermeidlich‹ (vgl. ebd.: 182 u. 187) behauptet und darum, aus Gründen der intellektuellen Redlichkeit, eine Offenlegung derselben fordert. Darüber hinaus jedoch insistiert Joas darauf, dass seine Argumentation mit dem Schritt einer christlich kontextualisierten Aneignung »nicht heimlich ins theologische Fach« (ebd.: 210) überwechsele. Diese Einschätzung teile ich nicht, und das mag mit einem anderen Theologiebegriff zu tun haben. Die wissenschaftstheoretische Einordnung der Theologie(n) ist zwar nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Theologie(n) umstritten und wird je nach Autor/in von unterschiedlichen Rahmenmodellen rationalitätstheoretischer, gesellschaftstheoretischer oder sogar anthropologischer Natur abhängen; in keinem Falle jedoch kann sie auf einer kontradiktorischen Unterscheidung zwischen Vernunft und Glauben bzw. Wissen und Glauben beruhen, wie Joas zur Begründung seiner Äußerung knapp suggeriert: »Die Vorschläge sind so konzipiert, daß sie Glauben nicht voraussetzen.« (ebd.) Theologie ist nicht dasjenige akademische Fach, dessen Urteile nur von denen gefällt und geteilt und dessen Argumente nur von denen vorgebracht 1 | Vgl. auch Joas 2011: 246; ähnlich Joas 2012: 49: »[…] der ich […] ein Soziologe mit theologischen Interessen [bin], für den es zu den wichtigsten Aufgaben der Gegenwart gehört, in den Sozialwissenschaften steckende, oft unreflektierte säkularistische und säkularisierungstheoretische Annahmen aufzudecken und in Frage zu stellen«.

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und eingesehen werden können, die sich zuvor zu einer bestimmten Weltanschauung bekannt haben. Sie formuliert ihrem Selbstverständnis nach nicht einfach tradierte Glaubenssätze oder Dogmen um bzw. leitet aus diesen andere Sätze ab, wie dies – vielleicht – noch für die altprotestantische Orthodoxie (in ihren Anfängen) gegolten haben mag. Vielmehr hat – spätestens seit dem 19. Jahrhundert – die Theologie sich auf Begründungsfragen fokussiert und zu diesem Zwecke Begriffe herangezogen (›Selbstbewusstsein‹, ›Erfahrung‹, ›Geschichte‹, ›Kultur‹, ›Existenz‹ etc.), für die, um hier mit Charles Peirce zu sprechen, zugleich »the independent sanction of good sense« (Peirce 1935: § 556 = CP 6.556) in Anspruch genommen werden sollte und konnte. Aus diesem Grund sind die interessanteren unter den Theologen auch außerhalb der Theologie rezipiert worden bzw. haben sich selbst von vornherein nie nur als Theologen betrachtet, sondern waren, teils recht ausgiebig, auch in anderen Fächern unterwegs: Das gilt für den von Joas zitierten Ernst Troeltsch ebenso wie für Friedrich Schleiermacher, Paul Tillich oder Karl Rahner. Zu den zentralen Aufgaben der Theologie gehört jedenfalls bis heute genau jene »Neuartikulierung einer religiösen Tradition« (Joas 2011: 21) unter sich stetig verändernden intellektuellen Bedingungen, die sich Joas im vorletzten Kapitel des Buches, u.a. anhand des Pragmatismus, explizit zur Aufgabe setzt. Wenn diese Aufgabe aber eine theologische ist, dann arbeitet, wer ihr nachkommt, in diesem Sinne als Theologe oder Theologin, auch wenn er oder sie tatsächlich einen Lehrstuhl für Soziologie innehat. Dementsprechend scheint mir auch die Bezugnahme auf den Pragmatismus hier als eine theologische (d.h. als eine in theologischer Funktion) verstanden werden zu müssen, unbeschadet dessen, dass der Pragmatismus von seinen Urhebern selbstverständlich nicht als Theologie intendiert gewesen ist.

1.2 Taugt der klassische Pragmatismus zur ›Neuartikulierung‹ des christlichen Seelenbegriffs? Jede ›Neuartikulierung einer religiösen Tradition‹ muss ihre Denkvoraussetzungen nicht nur explizieren, sondern auch so kritisch wie möglich überprüfen. Darum betrifft meine zweite Anmerkung die Funktion, die dem Pragmatismus im vorliegenden Werk übertragen wird: Er wird als Mittel zur Umsetzung jenes Programms beansprucht, das zuvor mit Troeltsch begründet wurde. Wenn er jedoch für eine wirkliche ›Aneignung‹ in Dienst genommen werden soll, dann müssen nicht nur diejenigen Aspekte, die ihn unter damaligen wie »heutigen Denkvoraussetzungen« (Joas 2011: 21) interessant erscheinen lassen, thematisiert werden: Dazu zählen die Auseinandersetzung mit der darwinistischen Evolutionstheorie, die Tendenz zur Naturalisierung des Geistes, der Fokus auf der Organismus-Umwelt-Beziehung, die Entscheidung, Individualität in sozialen Bezügen zu denken, die Verkopplung von Über-

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zeugung und Handlung bzw. die Auffassung von Bedeutung als potenzieller Handlungsorientierung (d.h. die Vorordnung der Pragmatik vor die Semantik), die Verteidigung der demokratischen Idee, die Bejahung des Pluralismus, die Sensibilität für das Auftreten von Neuem bzw. von Kreativität, die Betonung der evaluativen Funktion des Gefühls, die ›Erfindung‹ des Quale-Problems, das Insistieren auf der Unhintergehbarkeit individueller Perspektive, ein erweitertes Rationalitätskonzept, der Fallibilismus, die Vorwegnahme des Indexikalitätsproblems, ein interpretationstheoretisch unterfütterter Handlungsbegriff und das Festhalten an einer erfahrungsgestützten Metaphysik. Es müssen dann auch diejenigen Punkte, an denen der Pragmatismus sich vielleicht als nicht mehr tragfähig oder zumindest als klärungsbedürftig erweisen könnte – immerhin ist er mittlerweile bereits ein gutes Jahrhundert alt –, zur Sprache gebracht werden. Im Blick auf das psychologische Modell William James’, das ja den Rahmen für dessen Konzeption des Selbst liefert, wären dies beispielsweise die Theorie eines kontinuierlichen stream of consciousness ohne distinkte einzelne Abschnitte, die von experimentalpsychologischer Seite aus unter Beschuss geraten ist (vgl. Blackmore 2002), die Unterscheidung von conception und judgment als den beiden grundlegenden und phänomenologisch unterscheidbaren Modi von thought, an denen sich, in Parallele zu einer propositionalen Subjekt-Prädikat-Struktur, die Unterscheidung von knowledge of acquaintance und knowledge-about orientieren soll2, dies jedoch unter Absehung von Begründung oder Rechtfertigung als einer strukturell dritten Form von thought, und schließlich die Einführung von inference als der (auch unkontrollierten) Überleitung von einem mental state zum nächsten als von sign zu signified, unter Absehung von der Einführung einer dritten Funktionsstelle, der des Interpretanten3. Das Selbst wird von James als eine prozessuale Abfolge von mental states in wechselnden Relationen je unterschiedlichen Typs beschrieben, die ›Je-Meinigkeit‹ teilen,4 wobei James den Eindruck erweckt, dass diese mental states 2 | Vgl. James 1981, Bd. 1: 216-218. 3 | Vgl. James 1981, Bd. 2: 953. – James’ Unterscheidung zwischen inference und judgment ist verschwommen: Einerseits ist judgment das, was von conception aus angestrebt werden kann und sich folglich einem Prozess verdanken muss, für den im James’schen Psycho-Kosmos nur inference als Kandidat in Frage kommt – vgl. Bd. 1: 217: »We can ascend to knowledge about it by rallying our wits and proceeding to notice and analyze and think« –; andererseits bleibt unklar, wie die Aufstockung von conception zu judgment als inference ausgewiesen werden kann, wenn es sich dabei doch eigentlich nur um eine bloße »addition of the predicate« (ebd.) handeln soll. 4 | James 1976a: 23f.: »Relations are of different degrees of intimacy. Merely to be ›with‹ one another in a universe of discourse is the most external relation that terms can have, and seems to involve nothing whatever as to farther consequences. Simultaneity

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nicht etwa einen intrinsischen Indikator bei sich haben bzw. überhaupt nur als je-meinige existieren können, sondern dass die Je-Meinigkeit in der Art der Übersetzungsrelation besteht bzw. im Prozess des Übergangs erzeugt und anschließend durch den Gebrauch des Personalpronomens der ersten Person Singular sprachlich ausgewiesen bzw. explizit gemacht wird. In jedem Fall bleibt hier eine Erläuterung der verschiedenen möglichen Relationstypen aus. Schwierigkeiten wird auch die These einer ›direkten Erfahrung‹, d.h. einer unmittelbaren Präsenz derjenigen Relationen bereiten, die einzelne Erfahrungen miteinander verbinden (vgl. James 1976a: 22), ebenso wie die Tatsache, dass James die Funktion des Bewusstseins in erster Linie solitär auf die Außenwelt ausgerichtet sein lässt anstatt auf Mitkommunikanten (vgl. dazu Joas 2011: 220). Hinzu kommen weitere Inkonsistenzen und Ungenauigkeiten, wie sie etwa der von Joas angeführte Milič Čapek (vgl. ebd.: 229, FN 29) analysiert. Joas selbst hat an anderen Orten dem Programm der Pragmatisten gegenüber sowohl Zustimmung als auch Kritik geäußert;5 und er räumt ein, dass die Ausführungen von James zum Teil nicht frei von »religiös motivierten Spekulationen« (Joas 2011: 229) seien. Aber dennoch (oder gerade deshalb) scheint er den Pragmatismus vor allem deswegen einzuspielen, weil die Pragmatisten selber religiöse Affinitäten hatten, die sie dazu veranlassten, religiöse Themenstellungen – vor allem die Frage nach der Bedeutung des Gebets und den Unsterblichkeitstopos bzw. die Vorstellung eines künftigen Lebens – aufzugreifen, und nicht so sehr deswegen, weil sie mit ihrer Philosophie auf religions- bzw. theologieunabhängige Problemlagen mit tragfähigen Lösungsangeboten reagiert hätten. Sollte dieser Eindruck zutreffen, läge hier meines Erachtens ein and time-interval come next, and then space-adjacency and distance. After them, similarity and difference, carrying with the possibility of many inferences. Then relations of activity, tying terms into series involving change, tendency, resistance, and the cau­ sal order generally. Finally, the relation experienced between terms that form states of mind, and are immediately conscious of each other. The organization of the self as a system of memories, purposes, strivings, fulfilments or disappointments, is incidental to this most intimate of all relations, the terms of which seem in many cases actually to compenetrate and suffuse each other’s being.« Vgl. auch ebd.: 23: »Radical empiricism […] does full justice to conjunctive relations, without, however, treating them as rationalism always tends to treat them, as being true in some supernatural way […].« (Herv. i. O.) Ebd.: 25: »The conjunctive relation that has given most trouble to philosophers is the co-conscious transition, so to call it, by which one experience passes into another, when both belong to the same self. […] My experiences and your experiences are ›with‹ each other in various external ways, but mine pass into mine, and yours pass into yours in a way in which yours and mine never pass into one another.« 5 | Vgl. z.B. Joas 1980; 1992: 199-212; 1997a; 1997b; 2000.

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methodisches Problem, denn die Antwort auf die Frage nach dem Geltungsanspruch einer Theorie kann nicht von dem religiösen Sentiment abhängig gemacht werden, in dessen Interesse diese Theorie behauptet wird. Die Unsterblichkeitsessays von Peirce, James und Royce beispielsweise mögen zwar, auch wenn sie konfessionell-kirchlicher Theologie anstößig erscheinen müssen, von religiöser Sensibilität zeugen – und außerdem der Bewältigung je individueller Lebenskrisen geschuldet sein –; zugleich aber enthalten sie eine Reihe nicht unproblematischer Voraussetzungen – bei Peirce interpretationstheoretischer bzw. kosmologischer Art6, bei James in der Gestalt einer Erfahrungsmetaphysik (vgl. James 1982), bei Royce in Form einer Metaphysik der Zeit (vgl. Royce 2005a) –, die sie nicht in jedem Falle geeignet erscheinen lassen, den Prozess der Neuartikulierung christlicher Tradition unter gegenwärtigen Bedingungen zu befördern.

1.3 Die klassischen Pragmatisten und die Menschenrechte Meines Wissens liefert keiner der klassischen Pragmatisten der ersten Generation (Peirce, James, Royce, Dewey) explizit eine kompromisslose Verteidigung der Idee individueller Menschenrechte oder überhaupt des ›Rechtes, Rechte zu haben‹ (Hannah Arendt); und das mag der Grund sein, aus dem Joas den Pragmatismus gewissermaßen über einen Umweg einführt: eben indem er ihn für eine solche Transformation des Seelenbegriffs in den Begriff des Selbst in Anspruch nimmt, die im Interesse einer Neuartikulierung der christlichen Tradition erfolgt. Das wirft zwei Fragen auf. Erstens: Wäre es nicht näherliegend gewesen, für eine solche Neuartikulierung zu christlichen Autor/inn/en zu greifen, bei denen eine ausdrückliche Affirmation der Menschenrechtsidee zu finden ist? Diese Frage lässt sich vermutlich rasch beantworten: Es scheint sie nicht sonderlich zahlreich gegeben zu haben, sieht man von Figuren wie Jacques Maritain (vgl. Joas 2011: 205) oder Reinhold Niebuhr ab (vgl. Vögele 1999: bes. 107-127); und wo es sie gegeben hat, hat es sie möglicherweise nicht so gegeben, dass sich mit ihnen ein elaboriertes und philosophisch anschlussfähiges Konzept von Person, Selbst, Handlung, Gesellschaft etc. verbunden hätte. Die Bezugnahme auf den Pragmatismus wäre insofern auch – dies an die Adresse der Theologie – als Indikator für einen Mangel an theologischer Theoriebildung zu lesen. Zweitens: Was hat die Pragmatisten jedenfalls der ersten Generation davon abgehalten, sich der Menschenrechtsfrage programmatisch zuzuwenden? Ob 6 | Vgl. Peirce 1935: § 548-587 (= CP 6.548-587: »Science and Immortality« [1887]); Peirce 1958: § 565-578 (= CP 7.565-578: MS »Immortality in the Light of Synechism« [ca. 1892]); auch Peirce 1958: § 583-596 (= CP 7.583-596 [ca. 1867]).

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es sich um Kontingenzen oder um handfeste systematische Gründe gehandelt hat, scheint mir eine offene Frage zu sein, die vermutlich für jeden einzelnen der Gruppe je unterschiedlich beantwortet werden muss. Peirce, der weder für suffrage noch für abolitionism allzu viel an persönlicher Sympathie übrig hatte, blieb an Fragen politischer und sozialer Gestaltung zeitlebens schlicht uninteressiert. Der sehr viel großzügigere und weitherzigere James hingegen war einerseits sicherlich ein kompromissloser Verteidiger der Ideen von Freiheit und Brüderlichkeit bzw. ein Anwalt von Solidarität und gegenseitiger Einfühlung über die Grenzen von Hautfarbe, Klasse und sogar Geschlecht hinweg. Das wird zum Beispiel an seiner Rede anlässlich der Einweihung eines Denkmals für Robert Gould Shaw deutlich, den (weißen) Kommandeur des 54. Massachusetts-Infanterieregiments als des ersten (ausschließlich) afro-amerikanisch besetzten Regiments der Nordstaatenarmee (vgl. McDermott 1982: xx), oder an seinen Vorträgen vor Studierenden On a Certain Blindness in Human Beings (James 1983: 132-149) und What Makes a Life Significant (ebd.: 150-167). Doch andererseits hat James im Privaten eine Herablassung beispielsweise Schwarzen gegenüber an den Tag gelegt, von der John McDermott urteilt, sie sei »strikingly inappropriate for a third-generation descendant of an Irish immigrant« (McDermott 1982: xx): »Missing […] is any sense of the enormous importance of the abolition movement and of the end of slavery in the United States.« (ebd.: xxi) Zu den Menschenrechten im engeren Sinne, nämlich als Individualrechten, die auch gegenüber einem Staatswesen einklagbar sein sollen, äußert James sich gar nicht. Und für sein Plädoyer gegen Klassen- und Rassenschranken stützt er sich nicht so sehr auf den Begriff des Selbst oder der Person als vielmehr auf den der Demokratie. In diesem letzten Sinne ist auch die von Joas zweimal zitierte Stelle (Joas 2011: 85, FN 21; ebd.: 226) aus dem Vorwort zu Talks to Teachers zu verstehen, in der vom »well-known democratic respect for the sacredness of individuality« (James 1983: 4) die Rede ist. Diesen Respekt begründet James letztlich erkenntnistheoretisch, nämlich mit der Unersetzlichkeit bzw. Unhintergehbarkeit der je individuellen Perspektiven in ihrer gesamten Pluralität: »the truth is too great for any one actual mind, even though that mind be dubbed ›the Absolute,‹ to know the whole of it. The facts and worths of life need many cognizers to take them in. There is no point of view absolutely public and universal.« (ebd.)7 Überspitzt gesagt: Das Individuum er7 | Vgl. auch ebd.: 149: »what is the result of all these considerations […]? […] It absolutely forbids us to be forward in pronouncing on the meaninglessness of forms of existence other than our own; and it commands us to tolerate, respect, and indulge those whom we see harmlessly interested and happy in their own ways, however unintelligible these may be to us. Hands off: neither the whole of truth, nor the whole of good, is revealed to any single observer, although each observer gains a partial superiority of

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scheint weniger um seiner selbst willen schützenswert als vielmehr deshalb, weil mit ihm ein cognizer verlorenginge. Das entspricht durchaus James’ Bestimmung von consciousness als der Funktion des knowing.8 Bei Royce, der immerhin den Begriff der Loyalität ins Zentrum seiner Sozialphilosophie rückt, ist eine Denkfigur zu finden, die man im Effekt ähnlich aus der deutschsprachigen Theologie sogar noch der Nachkriegsjahre kennt: die Warnung vor einem ›Individualismus‹, der auf der Wahrnehmung der eigenen Rechte gegenüber der Gemeinschaft besteht9 und zugleich der »sympathy with the oppressed« (Royce 1911: 67) verlustig zu gehen droht. Die eine der beiden »social passions« (ebd.: 41), die Royce identifiziert, nämlich die der Selbstbehauptung, bezieht ihr moralisches Recht allein aus ihrer Hinordnung auf die zweite, die Loyalität gegenüber der Gemeinschaft (vgl. ebd.: 41f. u. 161f.). Den Schritt von der Inanspruchnahme eigener Rechte hin zu dem Zugeständnis an andere, sich ebensolche Rechte einklagen zu dürfen, der sich historisch in der Entwicklung von der Virginia Declaration und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 (vgl. Joas 2011: 51) bis zur Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 niederschlägt, hat Royce insofern nicht vollzogen bzw. nicht vorweggenommen. Und was die ›Rassenfrage‹ betrifft, so konnte er, der das Problem psychologisch durchaus akkurat beschrieb10 und rassistische Vorurteile angriff (vgl. Royce 2005b: 1093f.), als insight from the peculiar position in which he stands. Even prisons and sick-rooms have their special revelations.« Vgl. auch James 1982: 101: »The inner significance of other lives exceeds all our powers of sympathy and insight.« 8 | James 1976b: 4: »To deny plumply that ›consciousness‹ exists seems so absurd on the face of it – for undeniably ›thoughts‹ do exist – that I fear some readers will follow me no farther. Let me then immediately explain that I mean only to deny that the word stands for an entity, but to insist most emphatically that it does stand for a function. There is, I mean, no aboriginal stuff or quality of being, contrasted with that of which material objects are made, out of which our thoughts of them are made; but there is a function in experience which thoughts perform, and for the performance of which this quality of being is invoked. That function is knowing. ›Consciousness‹ is supposed ne­ cessary to explain the fact that things not only are, but get reported, are known.« (Herv. i. O.) 9 | Vgl. Royce 1911: 143: »Have I private and personal rights, which I ought to assert? Yes, precisely in so far as my private powers and possessions are held in trust for the cause, and are, upon occasion, to be defended for the sake of the cause. My rights are morally the outcome of my loyalty.« 10 | Royce 2005b: 1090: »[…] the earliest problem of humanity is also the most recent problem. This is the problem of dealing with the men who seem to us somehow very widely different from ourselves, in physical constitution, in temperament, in all their deeper nature, so that we are tempted to think of them as natural strangers to our souls,

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›Lösung‹ eine strikte Segregationspolitik auf Verwaltungsebene vorschlagen: keine ›gemischten‹ Eheschließungen, stattdessen getrennte Polizeiregimenter, getrennte Krankenhäuser etc. (vgl. ebd.: 1095-1100). Vor individualistischen Tendenzen warnte schließlich auch der späte Dewey. Dewey wandte sich gegen ein naturalistisches Verständnis der Menschenrechte als situationsunabhängiger, zeitloser, unveränderlicher Attribute des Menschen, die diesem noch vor Gesellschaft und Staat zukämen.11 Die Menschenrechte seien aus historischen Erfahrungen erwachsen, durch das Recht hervorgebracht, durch die Gesellschaft bzw. den Staat gewährt, ein soziales Produkt und dementsprechend, je nach Situation, variabel.12 An diesem Punkt sei hinzugefügt, dass ich mir von Joas eine Erläuterung zu der Frage gewünscht hätte, ob er sich mit der Forderung nach einer solchen situationsabhängigen Abänderung der Menschenrechte einverstanden erklären würde oder nicht, und ebenso dazu, ob er eine eher natur- oder eine eher sozialbzw. rechtsphilosophische Konzeption der Menschenrechte vertritt. Auch ein wertphilosophischer Ansatz scheint mir auf die Klärung solcher Problemstellungen nicht verzichten zu können, insofern das, was man als Wert affektiv bejahen bzw. in seine Selbstkonzeption integrieren können soll, semantisch hinreichend bestimmt sein muss.

while nevertheless we find that they are stubbornly there in our world, and that they are men as much determined to live as we are, and are men who, in turn, find us as incomprehensible as we find them.« 11 | Vgl. Betz 1978: bes. 22; vgl. auch 25f.: »It is not hard, then, to see why Dewey opposes the doctrine of natural rights. Though he allows that it functioned well in its time, it causes mischief in ours. It is now used to rob individuals of their full social heritage and to deprive them of effective freedom […]. It is used by the few who are well off to get government to protect their possessions at the same time that they prohibit the government from promoting the welfare of the many. […] Because of this intimate connection of natural rights with the harmful doctrine of individualism, Dewey, after criticizing the notion of rights, drops it.« 12 | Vgl. Betz 1978: 34: »Thus Dewey holds that rights arise in experience and change with it. […] In some situations a strong right to personal property promotes the industry of the many. In other situations it might only protect the privileges of the few. The growth of welfare rights as an antidote to the oligarchic effects of some property rights thus might require that deliberate control cause some rights to expand and others to contract and all this for the common welfare.«

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2. W illiam J ames als P rotagonist der Tr ansformation der ›S eele ‹ in das ›S elbst‹ Als Protagonisten der Transformation von ›Seele‹ zu ›Selbst‹ im Rahmen des Pragmatismus präsentiert Joas William James, und zwar deswegen, weil dieser gegenüber den verschiedenen Bedeutungskomponenten von ›Seele‹ »sensibler« (Joas 2011: 216) als Mead und Dewey gewesen sei.13 In dieser Beurteilung zeigt sich, wie Joas selbst erläutert (vgl. ebd.: 215f.), ein gegenüber seinen früheren Veröffentlichungen verändertes Verständnis des Pragmatismus bzw. der Rolle James’, das sich in einem Aufsatz von 2002 bereits anzubahnen scheint.14 13 | So schon Joas 2004: 140f.: »Wenn der christliche Seelenbegriff seine unmittelbare religiöse Plausibilität verloren hat, können wir ihn so zu rekonstruieren versuchen, daß dabei dem ganzen Umfang seiner ursprünglichen Bedeutung Gerechtigkeit widerfährt. Wohl kein ernstzunehmender zeitgenössischer Denker verteidigt die Möglichkeit, durch eine einfache Fortsetzung einer substanzmetaphysischen Auffassung sei’s im aristotelisch-scholastischen, sei’s im cartesianischen Sinn einer immateriellen Substanz, die ›Seele‹ als den wahren Kern jedes menschlichen Wesens und als Grundlage für die Menschenwürde zu ›denken‹. Aber mancher Versuch zur Überwindung dieser bedeutenden intellektuellen Traditionen des Abendlands hat mittlerweile selbst seinen ungenügenden Charakter offenbart. Die an James anschließenden Pragmatisten George Herbert Mead, Charles Horton Cooley und John Dewey haben zwar ihre Theorien vom Selbst gewiß als Versuche entwickelt, ein substantialistisches Verständnis der ›Seele‹ durch eine funktionalistische Definition des Psychischen und eine intersubjektivistische Erklärung der Konstitution des Selbst zu ersetzen. Aber obwohl dies eine der großen Errungenschaften in der Geschichte der Sozialpsychologie und Soziologie ist, besteht dabei die Gefahr, eine andere Dimension des Seelenbegriffs aus dem Auge zu verlieren, für die James noch tieferen Sinn gehabt hatte – nämlich die Dimension der Sakralität der Person, ob sie nun über kommunikative und selbstreflexive Fähigkeiten verfügt oder nicht.« 14 | Vgl. Joas 2002: 271: »Obwohl unsere organischen (und spirituellen) Bedürfnisse es sind, die der Welt erst Interesse und Bedeutung geben, erleben wir diese nicht als Hinzufügungen zur Welt, sondern als die Welt. […] es beschäftigt ihn [James, G.L.] […] die Frage […] nach der Entstehung der Werthaftigkeit der Welt für uns überhaupt. In meinem Buch ›Die Entstehung der Werte‹ habe ich zwar versucht, systematisch an diese Argumentation von James anzuknüpfen, ihn zugleich aber für eine Art von emanationistischer Vorstellung über die Entstehung der Interpretation solcher ›religiösen‹ Erfahrungen bei den Betroffenen kritisiert […]. James hat sich nie ernsthaft mit den Fragen beschäftigt, wie wir solche Erfahrungen artikulieren und interpretieren und wie man sich das Wechselspiel vorzustellen hat zwischen verfügbaren kulturellen Mustern und der Kraft dieser Erlebnisse und Erfahrungen, die […] nicht jede beliebige Deutung zulassen […]. Obwohl ich an dieser Kritik festhalte, kann man James’ Sichtweise auch

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Als positiver Beleg für jene gesteigerte Sensibilität wird James’ Auseinandersetzung mit dem Unsterblichkeitsproblem und dem Gebet angeführt (vgl. Joas 2011: 223f.). Zugleich habe James, nun negativ, die Gefahr vermieden, in die sich Mead und Dewey mit ihrem Säkularisierungsprojekt begeben hätten: nämlich mit der Konzentration auf das durch Selbstbezugnahme bzw. Selbstreflexion oder Selbstvergegenständlichung konstituierte Selbst denjenigen Individuen, die der Selbstreflexivität nicht fähig seien, ein Recht auf Menschenrechte zumindest implizit abzusprechen (vgl. ebd.: 225). Joas stützt sich für sein James-Narrativ nicht nur auf das 10. Kapitel der Principles of Psychology, in dem James eine Theorie des mehrschichtigen oder mehrdimensionalen Selbst entwickelt, sondern auch auf das Spätwerk A Pluralistic Universe (James 1977), mit dem James zum Begriff des Selbst zurückgekehrt sei und letztlich »den Gedanken der Unsterblichkeit« habe »plausibel« machen wollen (Joas 2011: 228). Orientiert man sich jedoch an den Texten zum radical empiricism, die dazwischenliegen, so wird man urteilen müssen, dass James sich hier den Begriffen von Bewusstsein und Selbst gegenüber nicht nur programmatisch misstrauisch zeigt15, sondern diese geradezu ersetzt: nämlich wohlwollender sehen und unterstellen, er habe nur beschreiben wollen, daß im Selbstverständnis der Handelnden in der Tat die Deutung aus der Erfahrung herauszuwachsen scheint und dieser nicht einfach aufgepfropft wird. Die kognitive Deutung hat für die an sie Glaubenden eine Art von Evidenzqualität, und dies um so mehr, je stärker die affektive Bindung ist.« 15 | Vgl. James 1976b: 3f.: »I believe that ›consciousness‹ […] is on the point of disappearing altogether. It is the name of a nonentity, and has no right to a place among first principles. Those who still cling to it are clinging to a mere echo, the faint rumor left behind by the disappearing ›soul‹ upon the air of philosophy. […] For twenty years I have mistrusted ›consciousness‹ as an entity; for seven or eight years past I have suggested its non-existence to my students, and tried to give them its pragmatic equivalent in realities of experience. It seems to me that the hour is ripe for it to be openly and universally discarded.« – Vgl. auch ebd.: 19: »›We, for our part, know that we are conscious. We feel our thought, flowing as a life within us, in absolute contrast with the objects which it so unremittingly escorts. We can not be faithless to this immediate intuition. The dualism is a fundamental datum: Let no man join what God has put asunder.‹ My reply to this […] will sound materialistic. […] the stream of thinking (which I recognize emphatically as a phenomenon) is only a careless name for what, when scrutinized, reveals itself to consist chiefly of the stream of my breathing. The ›I think‹ which Kant said must be able to accompany all my objects, is the ›I breathe‹ which actually does accompany them. There are other internal facts besides breathing (intracephalic muscular adjustments etc. […]), and these increase the assets of ›consciousness,‹ so far as the latter is subject to immediate perception; but breath, which was ever the original of ›spirit,‹ breath moving outwards, between the glottis and the nostrils, is, I am persuaded, the essence

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durch den Begriff der (reinen) Erfahrung bzw. des Erfahrungsuniversums.16 Anders gesagt: James dynamisiert das Selbst nicht nur, sondern er löst es, zumindest an dessen Rändern, bereits auf und lässt es verschwimmen, indem er das ehemalige – durchaus stabile, mit sich identische – Selbst nun als Sukzession von ausfransenden Bewusstseinsfeldern mit sich je neu verschiebenden Aufmerksamkeitszentren vorstellt. Wenn diese Diagnose stimmen sollte, dann hätte James, und mit ihm auch Peirce, nicht so sehr einen Beitrag zur Transformation der ›Seele‹ in das ›Selbst‹ geleistet – diese Transformation hätten beide vielmehr schon vorgefunden, wie sich etwa an Schleiermacher und Wundt zeigen ließe – und auf diese Weise die ›Sakralisierung der Person‹ befördert; vielmehr hätten sie vielleicht sogar einen Schritt getan, der mittelfristig eher geeignet wäre, die von Joas ausgemachte und affirmierte ›Sakralisierung der Person‹ wieder in Frage zu stellen. Denn das Selbst wäre dann eines, das jeweils erst im Akt des Handelns bzw. im Akt der Interpretation erzeugt würde und für das nicht einfach eine übergreifende Kontinuität (vgl. Joas 2011: 227) vorausgesetzt werden könnte, wie sie für die Behauptung von Menschenrechten vielleicht erforderlich sein mag.

3. D as P rojek t einer › affirmativen G ene alogie ‹ als ein pr agmatistisches Abschließend noch ein Wort zu der Rolle, die dieses Narrativ dem Begründer des Pragmatismus zukommen lässt: Peirce. Peirce wird, wenngleich eher im Vorbeigehen, als ein Philosoph gewürdigt, der nicht nur Einfluss auf die Sozialtheorie der Frankfurter Schule genommen habe (vgl. Joas 2011: 253f.), sondern der auch an der erwähnten Transformation von der Seele zum Selbst Anteil gehabt habe, indem er eine Konzeption des Selbst erarbeitet habe (vgl. ebd.: 215) – allerdings keine besonders explizite, wie hinzuzufügen wäre –, und der darum ebenfalls an verwandten Fragen wie derjenigen der Unsterblichkeit interessiert gewesen sei (vgl. ebd.: 230). Doch könnte über diese eher geistesgeschichtlichen Bezugnahmen hinaus das dem Joas’schen Narrativ zugrunde liegende Projekt einer ›affirmativen Genealogie‹ selbst von Peirce profitieren: systematisch und methodisch. Denn dieses Projekt lässt sich in mindestens drei Hinsichten als ein pragmatistisches kennzeichnen, auch wenn Joas selbst sich dafür in erster Linie auf Troeltsch beruft. Pragmatistisch ist es erstens, out of which philosophers have constructed the entity known to them as consciousness. That entity is fictitious […].« (Herv. i. O.) 16 | Vgl. z.B. Peirce 1986: 71: »universe of experience«; vgl. auch Seibert 2009: 125: »Insgesamt zeigt sich, dass die Epistemologie des radikalen Empirismus alle Erkenntnisvollzüge und -tatsachen als beobachtbare ›bits of experience‹ begreift […].«

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sofern es eine unvermeidliche Perspektivität zumindest geisteswissenschaftlicher Theoriebildung in Rechnung stellt, anstatt diese Perspektivität durch eine zwangsläufig irreführende Suggestion von ›Objektivität‹ oder ›Neutralität‹ zu überspielen oder zu verschleiern. Zweitens stellt das Joas’sche Projekt in Rechnung, dass die Bedeutung einer jeden Theoriebildung – einschließlich einer Theorie über die historische Genese der Menschenrechte – in den möglichen Folgen liegt, die sie nach sich zu ziehen geeignet ist: in den möglichen Folgen wissenschaftlicher, aber ebenso auch praktischer Natur. In diesem Sinne ist es konsequent, wenn Joas sich entscheidet, seine Narration über die Menschenrechte affirmativ anzulegen, und in eben diesem Sinne an seine Leser/ innen appelliert. Und pragmatistisch ist das Projekt drittens, indem es auf eine Letztbegründung der Menschenrechte verzichtet, stattdessen auf Narration setzt und damit die Unterscheidung von Normativität und Deskriptivität unterläuft.17 Wenn also Rezensenten dem Projekt einer ›affirmativen Genealogie‹ der Menschenrechte eine Entwertung der philosophischen Begründung (vgl. Höffe 2011) oder eine Verdächtigung der Vernunft (vgl. Gerhardt 2012) attestieren, so partizipieren sie damit möglicherweise an einem weitverbreiteten Missverständnis pragmatistischen Denkens, das zumal in Deutschland, wie Joas selbst in einem Aufsatz gezeigt hat (Joas 1992b), auf eine lange Geschichte zurückblickt. In der Tat geht Joas, in Übereinstimmung nicht nur mit allen Vertretern des klassischen Pragmatismus, sondern auch mit jüngeren experimentellen Befunden, und m.E. zu Recht, davon aus, dass handlungsorientierende Wertbindungen, wie sie durch seine Erzählung unterstützt werden sollen, entscheidend im Gefühl verwurzelt sind: »Ich glaube nicht an die Möglichkeit einer rein rationalen Begründung letzter Werte.« (Joas 2011: 13) Das ist deshalb keine vernunftfeindliche Position, weil das Gefühl damit weder gegen die Vernunft in Stellung gebracht wird noch diese ersetzen soll. Letztlich geht es im Gegenteil um eine Ausweitung des Rationalitätsbegriffs, wie dies gerade im amerikanischen Denken (vor allem bei Susanne Langer und Alfred N. Whitehead, zuletzt aber beispielsweise auch bei Martha Nussbaum) Tradition hat, bzw. um einen Schutz des Rationalitätsbegriffs vor einer Verengung auf propositional oder argumentational organisierte Interpretanten. Gefühle sind spontane qualitative Evaluationen des Organismus im Blick auf seine zu erwartende Zukunft und insofern jedenfalls nicht irrational: Ebenso wenig ist 17 | So schon Joas 2004: 141: »Die Form, in der wir unser eigenes Verständnis von der Entstehung unserer Werte darstellen können, ist notwendig die der Erzählung, nicht der rationalen Argumentation. Über die Entstehung der Werte können wir nur Geschichten erzählen. Wir können diese Geschichten verbreiten und Menschen gewinnen, sie anzuhören – aber solche Geschichten werden nie den Charakter der philosophischen Begründung annehmen. Dies gilt für alle Werte […].« (Herv. i. O.)

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es die von Joas angestrebte Ermutigung seiner Leser zur Affirmation der Menschenrechte.

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Zuviel des Guten? Joas’ Darstellung der Menschenrechte im Lichte kommunitaristischer Ideen Michael Haus

1. E inleitung Hans Joas präsentiert in seinem Buch Die Sakralität der Person eine »neue Genealogie der Menschenrechte« (so der Untertitel, Joas 2011a). Diese Genealogie der Menschenrechte wird als eine ›affirmative‹ dargestellt, womit gemeint ist, dass die Vergegenwärtigung der Entstehungsgeschichte zugleich als eine normative Bekräftigung der Menschenrechtsidee verstanden werden soll. Was ist daran ›neu‹? Zum einen kann Joas’ Genealogie-Verständnis insofern als ungewöhnlich betrachtet werden, als die Analyse einer historischen Entstehung ja zugleich als Nachweis der historischen Bedingtheit eines Ideals verstanden werden kann, historische Bedingtheit als Nachweis der Kontingenz und Kontingenz als Anlass zur moralischen Relativierung. Joas aber will gerade keine Relativierung der Vorstellung universeller Menschenrechte, sondern erhofft sich, durch die Beleuchtung der Entstehung gerade eine Bekräftigung des normativen Anspruchs erreichen zu können. Damit wird der Genealogie-Begriff von der Verwendungsweise bei Nietzsche und Foucault abgesetzt, wo es in der genealogischen Betrachtung gerade um eine Entkräftigung moralischer Ansprüche durch den Aufweis ihrer unauflöslichen Verquickung mit Machttechniken und allgemein ›menschlich, allzu menschlichen‹ Motivlagen ging. Vorbild für Joas’ Zugriff soll Ernst Troeltsch sein. Zum anderen setzt sich Joas’ Genealogie von zwei einseitigen Erfolgs-Narrativen ab: einerseits dem Narrativ der Aufklärung, das eine Art ›Entdeckung‹ der Menschenrechte unterstellt, die durch ›die Vernunft‹ selbst vollzogen wurde, also nur darauf angewiesen war, dass der Schleier von Vorurteil, Ignoranz und (Aber-)Glaube gelüftet würde, um die Menschenrechte als Ideal klar vor Augen treten zu lassen; andererseits dem religiösen Narrativ eines Hervorge-

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hens der Menschenrechte aus den christlichen Quellen des Abendlandes, insbesondere der Idee der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Gegenüber diesen letztlich ahistorischen Vorstellungen behauptet der Genealogie-Gedanke, dass die Entstehung der Menschenrechtsidee keine zwingende Notwendigkeit darstelle – weder im Sinn einer Vernunftnotwendigkeit noch einer alternativlosen Entwicklung der historischen Entfaltung christlicher Vorstellungen. Vielmehr seien die Menschenrechte durch einen konkreten historischen Prozess entstanden, in dem sowohl Bezüge auf das Christentum als auch die kritische Auseinandersetzung über moralische Geltungsansprüche eine Rolle gespielt haben. Dieser Prozess könne als eine ›Sakralisierung der Person‹ nachvollzogen werden, bleibe aber ein kontingenter. Erfahrungen wurden demnach auf spezifische Weise gedeutet und in Idealisierungen überführt, die dann normative Kraft entfaltet haben. Am Ende stehe die weithin geteilte Überzeugung, dass es nirgendwo und unter keinen Umständen zu ertragen ist, wenn Menschen in ihrem personalen Kern – ihrer körperlichen und seelischen Integrität und ihrer Freiheit – Schaden nehmen. Was wir aus der von Joas präsentierten ›affirmativen Genealogie‹ der Menschenrechte lernen könnten, wäre dann wohl zweierlei: Zum einen können wir begreifen, inwiefern die normative Kraft, welche Menschenrechtsvorstellungen für uns haben, damit zusammenhängt, dass wir eine bestimmte Art von Menschen (geworden) sind, nämlich eine Art von Menschen, die gegenüber der Verletzlichkeit der anderen Menschen nicht gleichgültig bleiben kann, sofern sie nur ein volles Verständnis ihrer moralischen Identität entwickelt hat. Zum anderen können wir begreifen, dass sich die Entstehung der Menschenrechte in kontingenten Prozessen tatsächlich vollziehen kann, insofern also die Behauptung in Frage gestellt werden muss, die Menschenrechte seien auf andere Kulturen nicht übertragbar, diesen nicht zumutbar oder deren Anerkennung von diesen grundsätzlich nicht erwartbar. Anders formuliert, liegt die Pointe von Joas’ Argument darin, dass gerade weil die Entstehung der Menschenrechte auch im westlichen Kontext eine kontingente Entstehung war, die Möglichkeit einer Aneignung von Menschenrechtsvorstellungen, mithin die ›Sakralisierung der Person‹, auch in anderen kulturellen Kontexten als kontingente Entwicklung für möglich gehalten werden sollte. Wobei das »sollte« im letzten Satz wieder darauf beruht, dass die Genealogie affirmativ ist, d.h. dass damit ein Wert angesprochen wird, der von uns so erfahren wird, dass wir ihn um den Preis unserer Selbstachtung nicht beliebig zur Disposition stellen können, sondern uns als von ihm ergriffen wissen und die Verpflichtung verspüren, ihm gerecht werden zu müssen. Joas’ Darstellung ist zweifelsohne von hoher Originalität und Eindringlichkeit; und sie muss alle ansprechen, die – wie der Verfasser – einen Weg jenseits von kantischem Universalismus und moralischem Relativismus suchen; die bei der Begründung von normativen Konzepten eher auf interpretative und erzählerische Ansätze vertrauen als auf abstrakte Verallgemeinerungstests; die es

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als geboten erachten, die partikularen Prozesse der Herausbildung normativer Orientierungen ebenso zu würdigen wie die gesellschaftsübergreifende Ausstrahlungskraft bestimmter normativer Überzeugungen; die es für die Beurteilung des moralischen Zustands unserer Welt für zentral halten, dass die körperliche Unversehrtheit und persönliche Freiheit aller Menschen sowie ihr Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen gesichert sind; und die die Überzeugung teilen, dass keine Wahrheit und keine Fortschrittsidee es wert sind, den Menschen auf ein Instrument zu deren Verwirklichung zu reduzieren. In diesem Sinne soll den folgenden kritischen Überlegungen das durchaus emphatische Bekenntnis vorausgeschickt werden, dass Joas’ Buch aus meiner Sicht einen unverzichtbaren und in vielerlei Hinsicht vorbildlichen Zugriff auf die Menschrechtsthematik wie auch auf das Verhältnis von moderner Normativität und spirituellen Wurzeln unserer Kultur überhaupt darstellt. Wenn ich versuche, etwas Wasser in den Wein der Menschenrechtsperspektive von Joas zu geben, dann hoffentlich nicht in einem Maße, dass diese Überzeugungen dadurch verwässert würden. Die folgenden Anmerkungen werden sich insofern eher paradigmaimmanent mit Joas auseinandersetzen, als sie auf ›kommunitaristische‹ Argumente zurückgreifen. Zweifellos ist der Begriff ›Kommunitarismus‹ insofern problematisch, als er philosophisch und politisch heterogene Positionen mit einem gemeinsamen Etikett versieht. Gewisse Familienähnlichkeiten sind jedoch, trotz immer wiederkehrender Selbstdistanzierungen von der Zuordnung zum Kommunitarismus, nicht zu bestreiten (vgl. Haus 2003). Die von Joas praktizierte Positionierung jenseits von Kant und Nietzsche (bzw. aktualisiert: Habermas und Foucault) gehört zu diesen Familienähnlichkeiten dazu. Insofern ist es kein Zufall, dass sich Joas als Inspirationsquellen immer wieder auf zentrale Denker aus dem kommunitaristischen Kontext beruft. Zu nennen sind hier insbesondere Charles Taylor, Alasdair MacIntyre und Michael Walzer. Im kommunitaristischen Denken waren Aristoteles, Marx und Hegel sowie der Pragmatismus wichtige Anstoßgeber. Für Joas selbst war sicherlich die pragmatistische Sozialphilosophie der wichtigste Orientierungspunkt. Die Konzepte des kreativen Handelns (Joas 1992) und der Wertentstehung (Joas 1997) stellen nicht zuletzt Versuche dar, die Kommunitarismus-Liberalismus-Debatte (vgl. Honneth (Hg.) 1993) durch die Aufnahme pragmatistischer Ideen voranzubringen und von sterilen Gegensätzen (›das Rechte‹/›das Gute‹) zu befreien. Gleichwohl erscheint es mir lohnend, Joas’ Sicht der Menschenrechte gerade mit Überlegungen kommunitaristischer Provenienz in ein kritisches Gespräch zu bringen, weil die Vorstellung der Menschenrechte hier in unterschiedlicher Weise rezipiert wurde. Dabei werde ich mich vor allem auf die menschenrechtsskeptischen Ausführungen von Alasdair MacIntyre sowie auf die zurückhaltende Menschenrechtsinanspruchnahme bei Michael Walzer stützen. Den Theoretiker, dem Joas wohl am nächsten steht, nämlich Charles Taylor, werde ich um des kritischen Geschäfts willen nur gelegentlich berücksichtigen.

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Anhand dieser theoretischen Referenzpunkte will ich die These vertreten, dass man die Menschenrechte befürworten kann, ohne an sie zu ›glauben‹. Die vorgebrachte Kritik lässt sich auf die paradoxe Formel bringen, dass das Problem des ›Glaubens an die Menschenrechte‹ darin liegt, dass dieser Glaube einerseits zu billig zu haben ist, andererseits aber mit hohen Kosten verbunden ist. Zuvor möchte ich jedoch etwas allgemeiner ein (von Foucault inspiriertes) Unbehagen angesichts der Alternativlosigkeit des Glaubens an die Menschenrechte artikulieren.

2. S elbstsicherheit und N ormalisierung der M enschenrechtssemantik ? Joas’ Argumentation kann in zwei Thesen umrissen werden: Erstens sind die Menschenrechte heute allgemein akzeptiert, zumindest unter denjenigen, die etwas Sinnvolles zur gemeinsamen Erörterung politisch-ethischer Fragen beitragen können und wollen; zweitens ist der historische Prozess der Entstehung dieses Menschenrechtskonsenses nicht vom Prozess der ›Sakralisierung der Person‹ zu trennen, also der Erhebung der menschlichen Person und damit jedes einzelnen Menschen in einen Status der Heiligkeit, damit der Unantastbarkeit, der Erhabenheit über innerweltliche Zwecke und der unbedingten Würdigung. Es ist die Verbindung dieser beiden Thesen, die das Buch so reizvoll (in der Mehrdeutigkeit des Wortes) werden lässt. Denn aus ihrer Verbindung kann die Botschaft abgeleitet werden, dass diejenigen, die den Konsens teilen, also alle, die überhaupt mitreden, sich auch der ›affirmativen Genealogie‹ der ›Sa­kralisierung der Person‹ anschließen sollten. Dies wäre ja nur anders, wenn die Menschenrechte und die ihnen vorausliegende Menschenwürde auf irgendeine kontextunabhängige Weise rein aus der Vernunft abgeleitet werden könnten bzw. fraglose Selbstevidenz hätten, was Joas aber für nicht überzeugend hält. Wo die Botschaft also Aufnahme fände, würden die Aufnehmenden nicht nur Unterstützer der Menschenrechtsethik sein, sondern im Eingedenken an die Geschichte ihrer Entstehung an der offenbarungshaften Gewissheit ihrer Geltung teilhaben.1 Es liegt meines Erachtens zunächst auf der Hand, dass diese Botschaft die narrative Logik der historischen Offenbarungsreligionen in sich trägt, wonach sich das Heilige im Eingedenken seines historischen Sich-Offenbarens neu vermittelt und ›inkarniert‹. Die in dieser narrativen Struktur mitschwingende Verheißung liegt offensichtlich darin, im Eintreten für die Menschenrechte endlich die Artikulationsarmut eines bloßen moralischen Postulats hinter sich 1 | Zu »Offenbarung« als »phänomenologisch angemessene[m] Begriff« der Erfahrung von Wertbindung vgl. Joas 2011a: 164.

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lassen und voll aus den kulturellen und moralischen Quellen schöpfen zu können, ohne Abstriche am normativen Status der Menschenrechte machen zu müssen. Versteht man Joas’ Anliegen in dieser Weise, dann tritt die Nähe zur Sozialphilosophie von Charles Taylor deutlich hervor (vgl. Taylor 1994). Was Taylor mit dem Begriff des »Hyperguts« eher postuliert bzw. philosophiegeschichtlich rekonstruiert, das gewinnt bei Joas einen höheren Sättigungsgrad an historischer Erfahrung und politischer Deutungsarbeit.2 Aber können wir tatsächlich in dieser Weise freudig aus den kulturellen Quellen des Westens schöpfen und zugleich an der Universalität der so begründeten Werte festhalten? Hinsichtlich der ersten These lässt sich wohl nicht bestreiten, dass Joas eine dominante Sicht des gegenwärtigen politischen, theologischen und philosophischen Diskurses, zumindest im Westen, zum Ausdruck bringt. Zugleich lässt sich die Frage stellen, ob es wirklich so ist, dass Zweifel an den Menschenrechten nicht mehr mit ernstzunehmenden Argumenten aufwarten können bzw. warum diese Argumente nicht mehr gelten sollen. Joas geht davon aus, dass es zumindest im westlichen Denken keine ernsthaften Gegner der Menschenrechtsvorstellung mehr gibt. Das ist in der Vergangenheit, wie er zurecht betont, anders gewesen; und in dem Umstand, dass menschenrechtskritische Positionen durchaus auch von veritablen sozialphilosophischen Perspektiven aus formuliert worden sind, könnte Joas gerade einen Hinweis auf die von ihm unterstrichene Kontingenz des Glaubens an die Menschrechte sehen. So war Jeremy Bentham, der Begründer des Utilitarismus und damit der weiland für viele fortschrittlichsten Moraltheorie, bekanntlich der Auffassung, dass Menschenrechte »Unsinn auf Stelzen« seien. Im Marxismus wiederum, selbst in polemischer Gegnerschaft zum Utilitarismus stehend und für viele andere die fortschrittlichste aller Sozialtheorien, hielt man die Vorstellung von Menschenrechten für ein bürgerliches Ideal, welches in der kommunistischen Gesellschaft überflüssig werde und auf dem Weg dorthin keine zentrale Rolle spiele. Vorbehalte gab es natürlich auch in kirchlichen Kreisen, wo katholischerseits ein objektives thomistisches Naturrecht gegen die subjektivistische Menschenrechtsvorstellung der Moderne gestellt, protestantischerseits die sündhafte Natur des Menschen als Legitimation für autoritäre Herrschaftsformen bemüht wurde. Freilich, so hält Joas fest, sind diese Gegner mittlerweile eben allesamt von der Bildfläche verschwunden bzw. haben selbst die Menschenrechtsidee adaptiert. Für Bentham hält er ausdrücklich fest, dass dieser »eine Auffassung« vertreten habe, »bei der sich wohl nur wenige Vertreter dieses Denkens [d.h. des Utilitarismus, M.H.] heute gerne erwischen ließen« (Joas 2011a: 207). Die Formulierung ist indes aufschlussreich: Menschenrechte für Unsinn zu halten, gilt anscheinend als ein moralisches Vergehen, bei dem man sich nicht 2 | Vgl. dazu auch Joas’ Kommentar zu Taylors Säkularisierungsbuch: Joas 2011b.

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erwischen lassen sollte. Der ›Sakralität der Person‹ und dem ›Glauben an die Menschenrechte‹ scheint die Auffassung zu korrespondieren, dass es nicht bloß eine bestreitbare Position, sondern eine bloßstellende Sünde darstellt, die Menschenrechte in Zweifel zu ziehen. Nur notorische Zyniker oder unverbesserlich Boshafte, so lässt sich schließen, würden die Menschenrechte heute noch in Frage stellen. Man kann an dieser Stelle hellhörig werden. Ist es nicht heikel, wenn Überzeugungen, die keineswegs von allen Menschen zu allen Zeiten geteilt wurden und vielleicht noch nicht einmal formuliert hätten werden können, einen unantastbaren Status zugesprochen bekommen, so dass es geradezu als unmoralisch erscheint, diese Überzeugungen nicht zu teilen? Wenn es tatsächlich als ein Vergehen wahrgenommen wird, nicht an die Menschenrechte zu glauben und sie nicht in das eigene normative Vokabular übernehmen zu wollen, ist dann nicht vielleicht die daraus sprechende Selbstsicherheit ein Problem, und zwar gerade eingedenk der kontingenten Entstehungsgeschichte der Überzeugungen selbst? Könnte es nicht doch ernstzunehmende Kritiken der Menschenrechtssemantik geben? Und mit Blick auf die zweite These: Selbst wenn wir es als erfreuliches Faktum registrieren mögen, dass die Menschenrechte zum Konsens geworden sind – sollten wir dann auch die Verbindung mit der Sakralisierungsgenealogie in dieser Weise feiern? Zunächst mögen einem an dieser Stelle die ›nicht-affirmativen‹ Genealogen einfallen. Sicherlich hätte Foucault nicht formuliert, dass die Menschenrechte ›Unsinn‹ seien oder ›nicht existierten‹. Aber er hätte sie wohl auch nicht ›affirmiert‹, sondern zunächst einmal danach gefragt, inwiefern die Menschenrechte Teil eines Diskurses sind, der untrennbar mit Machtpraktiken verknüpft ist und etwa dazu führt, dass diskursive Positionen der Über- und Unterlegenheit produziert, Beobachtungen bestimmter Art privilegiert und Disziplinarpraktiken legitimiert werden.3 Joas setzt sich im zweiten Abschnitt von Die Sakralität der Person intensiver mit Foucaults Analyse des Wandels von Strafpraktiken in Überwachen und Strafen auseinander und verwirft Foucaults Argumentation, indem er darauf hinweist, dass entgegen Foucaults Auffassung von einem »Inklusionsprozess« statt eines »Disziplinierungsprozesses« zu sprechen sei (Joas 2011a: 79). Allerdings räumt er ein, dass es einen Punkt gebe, in dem »Foucault gegen den Mythos der Aufklärung zweifellos im Recht ist«, dass nämlich »die Hoffnungen der Aufklärer auf eine Umerziehung der Delinquenten (später auch: ihre Therapie) sich nicht – gewiß nicht: im vorgestellten Ausmaß – erfüllten« (ebd.: 80). Als Folge, auch hierin folgt Joas Foucault, sei es zu wechselnden Konjunkturen im Diskurs über das ›bessernde‹ Strafen gekommen, einem Schwanken zwischen Repression und Resignation, das letztlich zu einer »unauflöslichen Spannung zwischen Repression und Prävention« (ebd.: 80) geführt habe. Fou3 | Zu Foucaults Verständnis von Menschenrechten vgl. Lemke 2001.

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cault sei aber vorzuwerfen, dass er aus dem Dilemma keinerlei Weg weise, sondern nur »eine Flucht nach vorne, in eine unklare Radikalisierung« (ebd.) antrete. Auch wenn man Joas darin zustimmt, dass es keine befriedigende Lösung darstellt, aufgrund des Scheiterns der modernen Strafpraxis schlicht das Recht des Staates, Strafen zu verhängen, gänzlich in Frage zu stellen, fällt an dieser Stelle doch auf, dass Foucault augenscheinlich einen wunden Punkt des Humanisierungsdiskurses trifft, indem er die disziplinarische Verselbständigung einer auf der Freiheit des Individuums basierenden Praxis des Strafens herausstellt. Meines Erachtens ist es dann nicht besonders triftig, Foucault vorzuwerfen, dass er selbst nicht dazu imstande ist, das Dilemma zu lösen – dieser Vorwurf wäre vielmehr an die ›Humanisten‹ zu richten, die überhaupt erst den Weg hinein ins Dilemma gebahnt haben. Wie erwähnt, will ich im Folgenden nicht eine an Foucault orientierte Perspektive vertiefen. Es geht mir an dieser Stelle nur darum festzustellen, dass aus meiner Sicht eine solche Perspektive zu Recht geltend machen könnte, dass ›moralische Ideen‹ nicht nur in ihrem historischen Entstehungszusammenhang gesehen werden müssen, sondern auch im Kontext ihrer diskursiven Praktiken und ihrer Implikationen für die Konstitution von Subjekten. Dieser Punkt lässt sich m.E. dahingehend verallgemeinern, dass der ›Glaube‹ an die Menschenrechte nicht ohne die ›Glaubenspraxis‹ verstanden werden kann. Die Frage, die dann aufscheint, lautet, wie stark diese Glaubenspraxis von Prozessen der Normalisierung geprägt ist und was durch solche Normalisierung ausgeschlossen wird. Kann es z.B. Menschenrechte ohne bestimmte Praktiken der Rechtsprechung geben und setzen diese nicht bestimmte Arten von Regierungstechnologien und Subjekten voraus? Die Antwort darauf wird m.E. davon abhängen, inwiefern Menschenrechte entweder als nüchterne Schlussfolgerung aus Gewalterfahrungen oder als eigenständiges politisches Programm der Weltgestaltung verstanden werden. Im ersten Verständnis halte ich Menschenrechte tatsächlich für ein Ideal, hinter das wir nicht zurückfallen sollten. Das zweite Verständnis halte ich hingegen für problematisch, und meine Vermutung ist, dass Joas’ Darstellung dieses zweite Verständnis stützt. Ich möchte diesen Gedanken im Folgenden anhand eines Denkers weiterführen, der von seinem Grundverständnis der Normativität her diametral zu Foucault steht und vieles mit Joas gemeinsam hat, aber gleichwohl Menschenrechte für Unsinn hält. Für Alasdair MacIntyre nämlich hängt die Plausibilität genealogischer Denker wie Foucault an der Unzulänglichkeit der Semantik individueller Rechte, die absolut gesetzt, statt auf soziale Praktiken konkreter Gemeinschaften bezogen werden. Denn wo moralische Normen nicht durch Vorstellungen vom Guten vermittelt werden, die Menschen in sozialen Praktiken konkret erfahren können, können sie leicht als Ausdruck eines ›Willens zur Macht‹ entlarvt werden. In diesem Sinne könnte man sagen, dass Menschenrechte stets auch als Komplementärsemantik zur Herausbildung staatli-

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cher Herrschaft in der Neuzeit zu verstehen sind und dass mit der Verbreitung der Menschenrechtslogik eine Verbreitung der modernen Staatslogik einhergeht. Der moderne Staat mit seiner von moralischer Autorität losgelösten Form des souveränen Entscheidens bei gleichzeitigem Anspruch auf Steuerung der Gesellschaft erfordert Menschenrechte als Sicherheitsventil gegenüber seiner inhaltlich unbestimmten Machtlogik – und zugleich erfordert ein Verständnis des menschlichen Zusammenlebens in Konzepten individueller Rechte einen souveränen (und zugleich verrechtlichten) Staat.

3. V on H e xen , E inhörnern und M enschenrechten In seinem Aufsehen erregenden Buch After Virtue aus dem Jahr 1981 hat Alasdair MacIntyre die Vorstellung von Menschenrechten als »Fiktion« abgetan und den Glauben an Menschenrechte jenem an »Hexen und Einhörnern« gleichgesetzt (MacIntyre 1987: 98). Im Folgenden will ich der Frage nachgehen, ob der Argumentation MacIntyres Einsichten zu entnehmen sind, die für Joas’ ›affirmative Genealogie‹ der Menschenrechte relevant sein könnten. Im Zentrum steht dabei die von MacIntyre behauptete ›Fiktionalität‹ der Menschenrechte – eine Eigenschaft, die sie nach seiner Einschätzung mit Konzepten wie ›individuelle Freiheit‹ oder ›Nutzen‹ teilen. Die Hervorbringung solcher fiktionaler Moralbegriffe ist nach MacIntyre Ausdruck der Kultur der Moderne, in der authentische Formen moralischer Autorität zumindest gesellschaftsweit nicht mehr möglich sind, während fortwährend staatliche Entscheidungen getroffen werden müssen. Bekanntlich legt MacIntyre seiner Betrachtung eine aristotelische und (später immer stärker) thomistische Perspektive zugrunde. Aus dieser Perspektive zeichnen sich moralische Fiktionen dadurch aus, dass sie die Artikulationsunfähigkeit mit Blick auf das zu erstrebende Gute, welches als Grund für die Orientierung an Normen und die Entwicklung von Tugenden anzugeben wäre, kaschieren. Sie bahnen dadurch einem Moralisieren den Weg, also einem angesichts der teleologischen Unbestimmtheit der Prinzipien nur umso emphatischeren Insistieren auf deren Selbstevidenz und unbedingter Geltung. In der sozialen Wirklichkeit führt dies nach MacIntyre zu einer argumentativen Abnutzung normativer Ansprüche, die sich in unauflösliche Konflikte miteinander verwickeln, sich wechselseitig als Ausdruck subjektiver Vorlieben entlarven und dadurch ihre Unverbindlichkeit preisgeben. Diese Überlegungen lassen sich zu einer Diagnose inflationär geheuchelter Moral zusammenführen: Mit steigender Moralisierungsintensität wird die tatsächliche Unverbindlichkeit immer deutlicher, so dass umso stärker auf die Gültigkeit der Normen gepocht wird etc. Diese These des moralischen Heuchelns lässt sich meines Erachtens nicht mit dem Hinweis beiseite wischen,

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dass sich in der Heuchelei »zugleich ein Kompliment an die Moral und ihre starke Stellung« (Joas 2011a: 23) erkennen lasse. Zunächst sei hier die eindrückliche Hexen/Einhörner-Passage aus MacIntyres Kommentar zur Menschenrechtsidee ausführlich zitiert: »Der beste Grund für die forsche Behauptung, es gäbe keine solchen Rechte, ist von genau der gleichen Art wie der beste Grund, den wir für die Behauptung besitzen, es gäbe keine Hexen, und wie der beste Grund, den wir für die Behauptung besitzen, es gäbe keine Einhörner: alle Versuche, stichhaltige Gründe für die Überzeugung zu liefern, daß es solche Rechte gibt, sind gescheitert. Die philosophischen Verfechter der Naturrechte des 18. Jahrhunderts erklären an einigen Stellen, daß Behauptungen, daß der Mensch solche Rechte besitze, selbstverständliche Wahrheiten seien; aber wir wissen, daß es keine selbstverständlichen Wahrheiten gibt. Moralphilosophen des 20. Jahrhunderts haben sich gelegentlich auf ihre und unsere Intuitionen berufen; aber wir sollten aus der Geschichte der Moralphilosophie doch wenigstens das gelernt haben, daß die Einführung des Wortes ›Intuition‹ durch einen Moralphilosophen immer ein Zeichen dafür ist, daß bei der Beweisführung etwas gründlich danebengegangen ist. In der UN-Deklaration der Menschenrechte von 1948 wird rigoros eingehalten, was seither zur gängigen UN-Praxis geworden ist – es werden für welche Erklärung auch immer keine guten Gründe mehr geltend gemacht. Und der letzte Fürsprecher dieser Rechte, Ronald Dworkin (Taking Rights Seriously, 1976), räumt ein, daß das Bestehen solcher Rechte nicht nachgewiesen werden kann, bemerkt zu diesem Punkt jedoch, daß aus der Tatsache, daß eine Behauptung nicht nachgewiesen werden kann, nicht folgt, daß sie nicht zutrifft (S. 81). Was zwar richtig ist, aber genauso gut für die Verteidigung der Behauptung, es gäbe Einhörner und Hexen verwendet werden kann.« (MacIntyre 1987: 99; Herv. i. O.)

Nun kann man MacIntyres harsches Verdikt in gewisser Hinsicht geradezu als Steilvorlage für Joas’ Projekt verstehen: Es geht eben gerade darum, so könnte man Joas’ Perspektive reformulieren, sich von der vermeintlichen Selbstevidenz der Annahme von Menschenrechten ebenso wie von deren bloßem Postulieren loszulösen. Die Begründung für die Menschenrechte ist eben keine kontextunabhängige – der Anspruch, den MacIntyre dem Projekt der Aufklärung zuweist und als Grund für dessen vermeintliches Scheitern identifiziert –, sondern eine kontextbewusste Begründung. Allein, die Werte, um die es geht, können nicht an den Grenzen eines kulturellen Kontextes halt machen, weil sie in der Weise, wie sie uns als Gutes erschüttern und ergreifen, den Kontext transzendieren und uns drängen, diese »Offenbarung« (vgl. Joas 2011a: 164) auch anderen mitzuteilen, für sie einzustehen, uns vielleicht sogar für sie hinzugeben.4 4 | Auch diese Formulierung legt die Parallelität zur geoffenbarten Wahrheit der Erlösungsreligionen nahe – nur dass dieses Mal der friedlich-dialogische Charakter der Uni-

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Gegen MacIntyres Menschenrechtsskepsis und im Anschluss an Joas könnte man dann formulieren, dass es gar nicht um die ›Existenz‹ von Menschenrechten geht, sondern um die historische Kontextualisierung einer Vorstellung vom Guten, als dessen Ausfluss die Annahme verstanden werden kann, dass der Schutz jedes Menschen vor willkürlichem Machtgebrauch plausiblerweise als allgemeine Voraussetzung für konkrete Vorstellungen des Guten und der darauf gerichteten sozialen Praktiken verstanden werden kann. Es wären dann traumatische Gewalterfahrungen (vgl. Joas 2011a: Kap. 3), die sich tief in die Erinnerung von politischen Gemeinschaften eingegraben und die in der Sprache der Menschenrechte, einschließlich der Menschenwürde, einen Ausdruck gefunden haben, der insofern angemessen ist, als darin die Unverfügbarkeit menschlichen Lebens für die staatlich organisierte Machtausübung im Namen welcher Weltverbesserungsprojekte auch immer artikuliert wird. Eine solche reflexive Begründung von normativen Standards der Behandlung und der rechtlichen Stellung von Menschen, wie Joas sie in eindrücklicher Form geliefert hat, ist meines Erachtens nicht nur völlig kompatibel mit MacIntyres aristotelisch-thomistischem Moralverständnis, sondern auch eine unabdingbare Korrektur von dessen polemischer Kritik. Gerade die Erfahrung der Verletzlichkeit des Menschen und die Einsicht, dass das Gute nur dann in vollem Sinne verwirklicht werden kann, wenn diese Verletzlichkeit, Gebrechlichkeit und Fehlbarkeit des Menschen in Vorstellungen des für den Menschen Guten selbst mit hineingenommen werden, ist ein Gedanke, den gerade MacIntyre in der Weiterentwicklung seiner Tugendethik in Die Anerkennung der Abhängigkeit (MacIntyre 2001) ins Zentrum gestellt hat. Insofern könnte man wiederum gewiss zugunsten von Joas festhalten, dass seine ›affirmative Genealogie‹ in dieser Hinsicht eine wichtige Lücke schließt.5 Aber will Joas nicht mehr als das? Schließlich ist er der Auffassung, dass die Menschenrechte bzw. die Person als ein für sich erfahrbarer Wert und etwas Sakrales verstanden und entsprechend begründet werden sollten, also als etwas, das uns von sich her – wenn auch erst im Lichte bestimmter Erfahrungen und deren Deutung – als subjektiv evident erscheint und unsere Affekte intensiv anspricht.6 Menschenrechte sind dann nicht mehr gewissermaßen versalisierung der eigenen Werterfahrung von vornherein den Werten selbst eingebaut zu sein scheint. Zweifel daran kann man allerdings haben, wenn man bedenkt, dass Menschenrechte sich nicht rein dialogisch durchsetzen lassen. 5 | Es könnte zum anderen auf Habermas’ Versuch der diskurstheoretischen Reformulierung von Dworkins Rechtstheorie verwiesen werden (Habermas 1992), eine Position, der sowohl Joas als auch MacIntyre kritisch gegenüber stehen (würden). 6 | Zu subjektiver Evidenz bei affektiver Intensität als Kriterien des Sakralen bzw. von Werten vgl. Joas 2011a: 18 u. 163 sowie Joas 1997. Im Vergleich der ersten beiden Stellen wird die weitgehende Gleichsetzung von Sakralem und Werten besonders deutlich.

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bloß die Stenografiefassung der Einsicht, dass der Gebrauch von Macht in den Händen von Menschen ein beständiges Begleitproblem für das menschliche Gedeihen darstellt und mitunter in zivilisatorischen Katastrophen endet; es handelt sich auch nicht mehr um eine Konsequenz aus der Einsicht, dass vorangegangene Gesellschaften notorisch exkludierend hinsichtlich der Befähigung und Berechtigung von Menschen zur Teilhabe an gesellschaftlichen Praktiken gewesen sind; auch wird keine bloße Reformulierung der alten Forderung angestrebt, dass Menschen die Pflicht haben, in Not geratenen anderen Menschen zu helfen. In all diesen Hinsichten könnte man MacIntyres Einschätzung, Menschenrechte seien eine ›Fiktion‹, problemlos mit dem Hinweis begegnen, dass sie eine hilfreiche Fiktion seien, eigentlich mehr eine Chiffre, hinter der ganz konkrete Lernprozesse stecken. Eine solche Begründung könnte sich dann zusätzlich funktionalistischer Überlegungen bedienen, wie man sie etwa bei Luhmann findet, der Menschenrechte als Inklusionsmechanismus einer funktional differenzierten (Welt-)Gesellschaft versteht. Bei alledem müssten wir nicht in einem starken Sinn an die Menschenrechte als etwas ›glauben‹, das aus sich heraus ergreift und erschüttert. Wir können sie, wie es etwa Michael Walzer (Walzer 1982) in seiner Weiterführung des Diskurses zum ›gerechten Krieg‹ getan hat, als hermeneutisches Prinzip der Beurteilung spezifischer Konfliktfälle verwenden, das bereits ins Völkerrecht Eingang gefunden hat, ohne sie als quasi-religiöse Überzeugung zu überhöhen. Oder wir können davon ausgehen, dass sich durch die Erfahrungen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten mit der Zeit aufgrund der Strukturähnlichkeit von Problemen und den kulturellen Konstruktionsleistungen in Richtung Inklusivität und Leidensvermeidung ähnliche normative Muster herausbilden, die dann auch als Schnittmengen dargestellt und zum Gegenstand interkultureller Verständigungsversuche gemacht werden können. Walzer spricht hier von einem »reiterativen Universalismus« (Walzer 1990). Bedarf es also eines Verständnisses von Menschenrechten als genuinen ›Werten‹ – und bedarf es der ›Sakralität der Person‹, um die genannten Erfahrungen zu würdigen und sie als Auftrag einer politischen Gestaltung zu formulieren, die versucht, die erlebten Gräuel fürderhin zu verhindern? Was könnten die Kosten dieser Annahme sein?

4. P otenzielle K osten einer semantischen Ü berhöhung der M enschenrechte Ich möchte abschließend drei problematische Implikationen einer sakralisierten Version der Menschenrechtsidee skizzieren: (1) Auch wenn Joas es nachvollziehbar werden lässt, dass die Menschenrechte in einem historischen Kontext als idealisierende Antwort auf traumati-

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sche Gewalterfahrungen entstehen, bedeutet die Zuweisung eines Werts mit sakralem Charakter eine semantische Abstraktion von sozialen Praxiskontexten, in denen normative Ideen erkannt, narrativ angeeignet und über das Erlernen spezifischer Tugenden angestrebt werden können. An die Menschenrechte quasi-religiös zu ›glauben‹, könnte dann zugleich zu einfach und zu schwer sein – zu einfach, weil dieser Glaube, zumindest in einer Gesellschaft, die von der Rechtesemantik inflationären Gebrauch macht, problemlos bekundet werden kann, aus ihm aber keine spezifizierbare soziale Praxis mit klaren normativen Implikationen folgt, keine zu erlernende Haltung, keine auf das Gute zielenden Praktiken und keine besonderen Tugenden; – zu schwer, weil die Solidarverhältnisse einer ›Menschheit‹, auf die sich die Rechte beziehen, nicht als solche erfahrbar sind und die ›affirmative Genealogie‹ die Erfahrungen zwar rekonstruieren, aber nicht substituieren kann. Können Menschenrechte selbst überhaupt einen ›Wert‹ oder ein ›Gut‹ darstellen, wo doch ›die Menschheit‹ kein Kontext ist, in welchem Menschen Wertbindungen in der Art erfahren können, wie sie Joas eigentlich voraussetzt: nämlich Erfahrungen der Selbstbildung und Selbsttranszendenz, der Erschütterung von Subjektivität und des Ergriffenseins von Freud- und Leiderfahrungen? Auch ›die Person‹ wird ja nicht als Gut oder Wert in erschütternder Weise erfahren – womit natürlich nicht ausgeschlossen ist, dass wir durch das Leiden anderer erschüttert werden können und dies eine wichtige Motivation für die Anerkennung von Menschenrechten sein mag. Worum es mir geht, lässt sich auf die Formel bringen, dass ein quasi-religiöser Glaube an die Menschenrechte problematisch ist, sofern er nicht selbst in Praktiken und Überzeugungen eingebettet ist, die mehr und spezifischere Wertbindungen erfordern als nur die Anerkennung der Menschenrechte. In einer Stellungnahme zu Judith Shklars ›Liberalismus der Furcht‹ hat Michael Walzer einmal formuliert, dass zwar jedes partikulare (sozialistische, konservative, katholische, islamische etc.) Politikverständnis einer ›liberalen‹ Korrektur bedarf, damit Grausamkeiten vorgebeugt wird, es aber zunächst etwas geben muss, das überhaupt auf liberale Weise korrigiert werden kann. Allein das Eingedenken der Erfahrung menschlicher Grausamkeit, so Walzer, macht uns noch nicht zu ›gläubigen‹ Liberalen, sondern nur zu »something else in a liberal way« (Walzer 1996: 22). Auf die Menschenrechte, zweifelsohne mit dem Liberalismus eng verbunden, übertragen, bedeutet dies: Es mag Personen geben, die ein emphatisches Glaubensbekenntnis für die Menschenrechte ablegen; aber es mag auch Personen geben, die die Menschenrechte mehr als eine Art Klausel betrachten, die ihr Glaubensbekenntnis modifiziert. Zusammengefasst drängt sich mir der Eindruck auf, dass die Religion der Menschenrechte eine Religion ohne geteilte soziale Praxis ist, und dass den Menschenrechten deshalb eine slippery slope-Dynamik inhärent ist: Während sie selbst immer extensiver ausgelegt werden, nehmen sie keinerlei Rücksicht auf die Entste-

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hungskontexte moralischer Überzeugungen. Hier erscheint mir Charles Taylor zumindest offener die problematischen Implikationen anzusprechen, wenn er schreibt, dass das Problem der »Hypergüter« der Moderne in ihrer Entwertung lokaler Praktiken und ihrer Beharrung auf unbedingten Vorrang liegt (vgl. Taylor 1994: 128f.). (2) Die Menschenrechte als Ergebnis einer gesamtkulturell erfolgten Sakralisierung der menschlichen Person und als Gegenstand von Wertbindungen, als Ergebnis von Offenbarung und Inhalt eines persönlichen Glaubens zu verstehen, könnte auch insofern Reflexionsbarrieren erzeugen, als die Spielräume für politische Deutungskämpfe beschränkt werden. Zum einen scheint mir diese Gefahr hinsichtlich der bereits erwähnten Moralisierung der Überzeugung selbst nahezuliegen: Etwas Sakrales kann kaum zum Gegenstand von Abwägungen, Kompromissen und Relativierungen gemacht werden. Zum anderen ist anzunehmen, dass jener (auch von Joas kritisierte) rights talk (Glendon 1991) befeuert wird, d.h. die diskursive Reduktion der politischen Auseinandersetzung um die gute Gesellschaft auf eine Rumpfsemantik von Ansprüchen und Forderungen, die aus als absolut postulierten Rechten abgeleitet werden. So ließe sich etwa am Beispiel der Gerechtigkeitsdebatte aufzeigen, dass das Pochen auf unveräußerlichen Rechten und die aus ihnen erwachsenden Ansprüche eine »sterile Aufgeregtheit« (Max Weber) befördert, wodurch die kreativen Spielräume für die (Re-)Interpretation von Gerechtigkeitsprinzipien eingeengt werden. Wiederum kann auf eine kritische Äußerung Michael Walzers verwiesen werden, der in Spheres of Justice begründet hat, warum er seine Gerechtigkeitstheorie nicht auf einer Theorie der (Menschen-)Rechte auf bauen will, obwohl er diese in seiner Abhandlung zur normativen Beurteilung von Kriegen gerade als Argumentationsfundament genommen hat: »To say of whatever we think people ought to have that they have a right to have it is not to say very much. Men and women do indeed have rights beyond life and liberty, but these do not follow from our common humanity; they follow from shared conceptions of social goods; they are local and particular in character.« (Walzer 1983: xv)

Ich habe keine Zweifel daran, dass Joas Walzers Politik- und Gerechtigkeitsverständnis weitgehend teilt (vgl. zumindest Joas 1990), was mir aber die Frage nur umso dringlicher nahezulegen scheint, ob die Darstellung der Menschenrechtsidee als kollektives Glaubensbekenntnis und erschütternde Werterfahrung damit nicht in einer beträchtlichen Spannung steht. (3) Am Schluss möchte ich noch einmal auf den Ausgangspunkt zurückkommen: Joas präsentiert seine ›affirmative Genealogie‹ als eine Art Meta-Narrativ gegenüber den säkularistischen und religiösen Narrativen der Entstehung einer menschenrechtsfreundlichen Haltung. Die Entstehung der Menschen-

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rechte ist, so lässt sich dies noch einmal umschreiben, unser aller historisches Erbe, seien wir Säkularisten oder Theisten. Als Sakralisierungsgeschichte ist dieses Erbe bei genauerem Hinsehen aber wohl nicht allen gleichermaßen zugänglich. An einer bemerkenswerten Stelle legt Joas nahe, dass die genealogische Betrachtung in Verbindung mit einer atheistischen Überzeugung die Herausbildung einer humanistisch-menschenrechtsfreundlichen Haltung gerade behindern könnte.7 Die Anerkennung der ›Sakralität der Person‹ als Ergebnis historischer Idealisierungsprozesse scheint also zumindest mit einem expliziten Atheismus nicht gut zusammen bestehen zu können. Man mag dies als Problem der atheistischen Menschenrechtsanhänger betrachten, dem sich diese in irgendeiner Weise stellen mögen. Vielleicht ist aber auch ein wenig Entzauberung des ›Glaubens an die Menschenrechte‹ nicht zu verachten. Wenn wir mit MacIntyre davon ausgehen, dass individuelle Rechte insofern als ›Fiktion‹ zu betrachten sind, dass sie systematisch leere Versprechen auf nachvollziehbare Gründe für eine so und nicht anders getroffene Wahl zwischen Handlungs- und Normalternativen produzieren, dann erscheint es nicht sonderlich weiterführend, auf ihren sakralen Charakter zu pochen, statt ihre performative Rolle in Moral- und Politikdiskursen vorurteilsfrei in den Blick zu nehmen. Wie kommt es, dass gerade jene Gesellschaften, die in Menschenrechtsrankings ganz oben stehen, maßgeblich dafür verantwortlich zeichnen, dass der Planet geplündert und die Zukunft verspielt wird? Aus einer MacIntyre’schen Perspektive, die an dieser Stelle viel mit Foucaults ›Gouvernementalitäts‹-Analysen gemeinsam hat, lässt sich darin das Zusammenwirken zweier Norm-Fiktionen – Individuen haben absolute Rechte einerseits, der kollektive Nutzen ist zu maximieren andererseits – erkennen. Was fehlt, ist in aristotelischer Diktion ein Maß. Wenn die moralische Autorität von Menschenrechten aber faktisch unklar ist, während die Moralrhetorik ständig auf sie rekurriert, dann wäre es nachvollziehbar, weshalb die vermeintliche westliche Universalisierungsleistung außerhalb des Westens auf Zurückhaltung und Skepsis stößt. Der ›Glaube an die Menschenrechte‹ als einen Wert, den ›wir‹ hervorgebracht haben, indem wir die menschliche Person sakralisiert haben, aber der ganzen Welt zu verkündigen berufen sind, wäre dann vor allem: eine Selbstüberschätzung der eigenen moralischen Autorität. Damit wären nicht die Menschenrechte ›aufzugeben‹. Aber sie wären aus dem Himmel (wieder) auf die Erde zu holen.

7 | So scheint er sich auch hier Troeltsch anzuschließen, der diese Einschätzung mit Blick auf Nietzsche und andere ›Atheisten‹ des 19. Jh. und frühen 20. Jh. vorgebracht hatte; vgl. Joas 2011a, 190.

Menschenrechte und Kommunitarismus

L iter atur Glendon, Mary Ann (1991): Rights Talk. The Impoverishment of Political Discourse, New York: The Free Press. Habermas, Jürgen (1992): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Haus, Michael (2003): Kommunitarismus. Einführung und Analyse, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Honneth, Axel (Hg.) (1993): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt a.M.: Campus. Joas, Hans (1990): »Die Demokratisierung der Differenzierungsfrage. Die Krise des Fortschrittsglaubens und die Kreativität des kollektiven Handelns«, in: Soziale Welt 1, S. 8-27. – (1992): Die Kreativität des Handelns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. – (1997): Die Entstehung der Werte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. – (2011a): Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin: Suhrkamp. – (2011b): »Wellen der Säkularisierung«, in: Michael Kühnlein/Matthias LutzBachmann (Hg.): Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor, Berlin: Suhrkamp, S. 716-729. Lemke, Thomas (2001): »Freiheit ist die Garantie der Freiheit – Michel Foucault und die Menschenrechte«, in: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik 40, S. 270-276. MacIntyre, Alasdair (1987): Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. – (2001): Die Anerkennung der Abhängigkeit, Hamburg: Rotbuch. Taylor, Charles (1994): Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Walzer, Michael (1982): Gibt es den gerechten Krieg?, Stuttgart: Klett-Cotta. – (1983): Spheres of Justice. A Defense of Pluralism and Equality, New York: Basic Books. – (1990): »Zwei Arten des Universalismus«, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 7, S. 7-25. – (1996): »On Negative Politics«, in: Bernard Yack (Hg.): Liberalism without Illusions. Essays on Liberal Theory and the Political Vision of Judith Shklar, Chicago: University of Chicago Press, S. 17-24.

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Sakralität und Geschichte Zu Hans Joas’ Verfahren einer ›affirmativen Genealogie‹ Francesca Raimondi

Hans Joas’ neues Buch Die Sakralität der Person (Joas 2011) präsentiert, wie der Untertitel ankündigt, »eine neue Genealogie der Menschenrechte«. Neu ist Joas’ Genealogie in doppelter Hinsicht: Sie rekonstruiert die Entstehung dieser (symbolischen und rechtlichen) Institution auf eine neue Weise und sie gibt dem genealogischen Verfahren selbst eine neue Wendung, indem sie es nicht zum Zweck der Kritik einsetzt. Im Gegensatz zu dessen maßgeblichen Vertretern, Nietzsche und Foucault, bedient sich Joas des genealogischen Verfahrens, um Menschenrechte und Menschenwürde zu affirmieren. Menschenrechte bedürfen einer Genealogie, weil in ihrem Fall eine abstrakte Rechtfertigung nicht hinreichend ist. Die Bindung an Werte wie Menschenwürde oder Menschenrechte ist keine, die sich rein rational und transhistorisch begründen ließe. Die Bindung an die Menschenrechte – wie an Werte überhaupt – hat für Joas vielmehr die Struktur eines Glaubens. Daher kann die Beschäftigung mit ihnen nicht einfach nur auf allgemeine und abstrakte Rationalitätsstandards rekurrieren. Sie muss die Erfahrungen und Geschichten aufsuchen, in denen dieser Glaube entstanden ist und sich entfaltet hat, um anhand dieser die Wertbindung zu bekräftigen. Eine Beschäftigung mit dem ›Glauben an die Menschenrechte‹ ist zum jetzigen Zeitpunkt sicherlich hochaktuell. Auf den westlichen politischen Arenen ist die Institution der Menschenrechte derart selbstverständlich geworden, dass sie immer weniger emanzipatorische Kräfte zu binden scheint. Stattdessen werden in deren Namen vermehrt höchst fragwürdige militärische Interventionen in Krisengebieten gerechtfertigt. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage geradezu auf, was ein zeitgenössischer ›Glaube an die Menschenrechte‹ ist oder noch sein könnte.

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Francesca Raimondi

Lässt sich die gegenwärtige Situation der Menschenrechte zumindest als die einer gewissen Wertverschiebung deuten,1 dann bietet sich ein Rückblick auf deren Geschichte an, um Aufschlüsse über diese Entwicklung zu finden und jedenfalls Bewegung in die aktuelle Lage zu bringen. In Die Entstehung der Werte (Joas 1997) hatte Joas bereits dargelegt, dass sich der Sinn eines Werts, ganz egal was die Motivation für eine Auseinandersetzung mit ihm sein mag, ohne Rekurs auf seine Entstehungsgeschichte grundsätzlich nicht verstehen ließe, denn »Werte entstehen in Erfahrungen der Selbstbildung und Selbsttranszendenz« (ebd.: 10). Sie sind an konkrete Erfahrungen geknüpft, die intersubjektiv und kollektiv vermittelt sind. Wertbindung ist für Joas nicht das Ergebnis einer kontextunabhängigen rationalen Wahl; daher ist auch der Sinn eines Werts nicht losgelöst von der Geschichte zu verstehen, in der er sich etabliert hat. Die Sakralität der Person führt nun am Beispiel der Menschenrechte eine solche Entstehungsgeschichte eindrücklich vor und reichert Joas’ werttheoretische Überlegungen um weitere methodologische Einsichten an, die insbesondere einen Relativismusverdacht ausräumen sollen. Die Auseinandersetzung mit der universellen Menschenwürde und den Menschenrechten nimmt, Joas’ werttheoretischen Prämissen entsprechend, die Form einer »Verknüpfung von Begründungsargumenten und historischer Reflexion« an, welche die »Kluft zwischen Philosophie einerseits und Geschichte andererseits zu überwinden« versucht (Joas 2011: 12f.).2 In der methodologischen Positionierung von Die Sa­ kralität der Person artikuliert sich mithin eine bestimmte Auffassung bezüglich der Dynamik historischer Prozesse sowie der Versuch, Genese und Geltung zusammenzuführen, ohne sie ineinander kollabieren zu lassen. Um genauer zu verstehen, was der originelle Ansatz von Joas’ Genealogie der Werte ist und wie diese genau verfährt, möchte ich sie mit alternativen Ansätzen konfrontieren, von denen sie sich z.T. auch bewusst absetzt. Zum einen sind es alternative historisierende Ansätze, allen voran die ›klassische‹ genealogische Verfahrensweise, wie sie Nietzsche als ein vordergründig kritisches Geschäft etabliert (und Foucault aufgegriffen) hat. Unter den historisie1 | Ich werde mich an dieser Stelle nicht eingehend mit der Frage beschäftigen, ob Menschenrechte zu Recht als Werte oder nicht besser als Normen oder als etwas Drittes zu bestimmen sind. Betrachtet man die Menschenrechte als eine Institution, auf die sich politische Kräfte immer wieder berufen haben und die mithin politische Aktionen orientiert hat, dann kann in diesem Sinn von etwas Wertvollem oder eben Geglaubtem die Rede sein. Soweit ich in meiner Diskussion for the arguments sake den Terminus ›Wert‹ von Joas aufgreife, verwende ich ihn in diesem Sinn und ohne mich damit in dieser philosophischen (aber auch politisch gefärbten) Debatte positionieren zu wollen. 2 | Neben Philosophie und Geschichte kommt in Joas’ Genealogie auch die Literatur zu Wort (vgl. Joas 2011: 120-123).

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renden Perspektiven möchte ich darüber hinaus auch kurz auf eine weitere eingehen, auf die sich Joas selbst nicht explizit bezieht, nämlich Heideggers Seinsgeschichte. Diese lässt sich auch als ein affirmativer Entstehungsdiskurs verstehen, der sich ebenfalls ganz bewusst nicht in die genealogische Tradition Nietzsches stellt, dafür aber aus einem zweifelhaften Ursprungsdenken Modernisierungskritik und Verfallsdiagnostik betreibt. Durch die Unterscheidung von diesen beiden Gegenmodellen lässt sich herausarbeiten, wie Joas’ Werttheorie mit historischen Sinnschichten umgeht bzw. wie sie die Entstehungsdynamik von Werten versteht. Neben den historisierenden Ansätzen sind es zum anderen die klassischen Begründungsprogramme, die je nach kantischer oder hegelianischer Prägung mehr oder weniger stark auf historische Rekonstruktionen zurückgreifen, von denen sich Joas’ Position abgrenzt. Mit solchen Ansätzen teilt sie zwar nicht die Verfahrensweise, aber doch einen gewissen Begründungsanspruch. Denn während ›klassische‹ Genealogie und Seinsgeschichte an den Sinnschichten von Wertbildungen operieren, um verkrustete Verständnisse aufzubrechen, geht es Joas darum, im Entstehungsprozess der Menschenrechte zugleich auch den Grund ihrer Geltung aufzuzeigen. Sofern Geltung aber mit Genese verknüpft wird (ohne mit dieser schlichtweg gleichgesetzt zu werden), wird in Abgrenzung von anderen Begründungsprogrammen deutlich, dass Begründung für Joas nicht die abschließende Beglaubigung eines Werts bedeuten kann, sondern eher das Offen- und Lebendighalten seines Entfaltungsprozesses. Eine eingehendere Kontrastierung mit den zwei genannten alternativen Verfahrensweisen ist hilfreich, um die Frage nach dem Verhältnis von Wertbindung, Geschichte und genealogischem Verfahren angehen zu können, die m.E. nicht nur den methodologischen Nerv, sondern auch den systematischen Kern von Die Sakralität der Person tangiert. In diesem Zusammenhang werde ich zunächst bekräftigen, dass Joas tatsächlich einen originellen Ansatz vertritt, der sich ebenso von einer nietzscheanischen Umwertung wie von einer kantischen Begründung abhebt, ohne in den Relativismus zu fallen. Ich werde dabei allerdings zeigen, dass das genealogische Verfahren einen Eigensinn hat, der im Umgang mit Geschichte notwendig kritische und hinterfragende Wirkungen zeitigt – was Nietzsche und Foucault also richtig sehen. In diesem Sinne muss das Verfahren auch notgedrungen jene Sakralisierung destabilisieren, die Joas überzeugend als interpretativen Schlüssel für die Geschichte der modernen universellen Menschenwürde heranzieht. Will Die Sakralität der Person den Glauben an die Menschenrechte nicht erschüttern, sondern kräftigen, so betreibt sie mit ihrer Rekonstruktion eine Form der Aufklärungsarbeit, die in ihrem affirmativen Anspruch selbst nicht sakralisierend operieren kann. In dieser Hinsicht wirft das Buch neben den vielen interessanten werttheoretischen Überlegungen vor allem eine Frage auf, nämlich die nach dem Verhältnis von Affirmation und Kritik im Umgang mit Geschichte. Diese gälte es

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noch eingehender zu reflektieren, um den Geltungsanspruch einer genealogischen Verfahrensweise genauer situieren zu können.

1. K ritik und A ffirmation In Die Entstehung der Werte weist Joas Nietzsches »spektakuläre Verwendung des Wertbegriffs« eine »ausschlaggebend[e]« Rolle zu (Joas 1997: 38). Nietzsche sei maßgeblich für die Entstehung des Wertbegriffs, der an die Stelle des Begriffs des Guten tritt, und für die »Wende zur Subjektivität« (ebd.: 39), die dieser semantische Wandel einleitet. Die Position Nietzsches werfe zwar in beiden Hinsichten – mit Blick auf den Sinn von Werten und auf ihr Verhältnis zur Subjektivität – radikale Fragen auf, bleibe in ihren Antworten allerdings mehr als aporetisch. Wenig anerkennend betrachtet Joas entsprechend auch Nietzsches genealogische Rekonstruktion in Die Genealogie der Moral. Diese verfahre – darin dem historischen Materialismus vergleichbar – reduktionistisch, weil sie Werte (und allen voran die universalistische Moral) auf Machtverhältnisse zurückführe, an denen selbst nichts Werthaftes sei. Nietzsches eigenes ethisches Programm einer ›vornehmen Moral‹ bleibe dann selbst in den Fängen eines Machtkampfes gegen die alten, lebensverachtenden Ideale gefangen, ohne sie »durch ein wirklich neu ansetzendes Denken zu überwinden« (ebd.: 56). Es ist allerdings kein einfacher Machtreduktionismus, der Nietzsches Verfahrensweise von jener Joas’ trennt, sondern eine Reihe werttheoretischer Annahmen. Daher ist es auch aufschlussreich, auf Nietzsche näher einzugehen. Nietzsches Unterfangen ist es ja, nach dem »Werth [der] Werthe« (Nietzsche 1999: 253) zu fragen. Die Herkunft von Werten zu untersuchen, bedeutet mithin nicht, die Wertebene zu verlassen, sondern weitere Werte freizulegen, die deren Entwicklung zugrunde liegen. Ein solches Unterfangen versteht Nietzsche als ein kritisches, das »die historischen Wurzeln eines Werts, einer Institution oder einer Praxis freilegt und das Wissen um die Gewordenheit eines Objekts gegen dieses richtet, um es durch den Hinweis auf seinen Ursprung zu kompromittieren und zu delegitimieren« (Saar 2007: 9). Dass der Werdens­ prozess eines Werts (oder einer Institution) dessen selbstverständliche Geltung ändert, hängt mit jener Logik der Nachträglichkeit in historischen Prozessen zusammen, die bereits Hegel und Marx auf jeweils markante Weise in die (Geschichts-)Philosophie eingeführt haben. Dialektisches Verfahren und Phänomenologie, ›List der Vernunft‹ und Ideologien: Alle diese Vorgehensweisen und Figuren unterstellen ein Moment des Nicht-Wissens und der Verbergung als konstitutive Dimension der allmählichen historischen Herausbildung von Werten und Idealen. Dasselbe tut auch Nietzsches Entstehungsgeschichte von Werten, wenn auch mit anderen Mitteln und Zielen. Werte, Institutionen

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oder Praktiken, so die Grundannahme Nietzsches, die Foucaults ›Archäologie‹ dann aufgreifen wird, entstehen selbst aus anderen Motiven oder Werten und haben eine aufzudeckende Geschichte, aus der sich erst deren eigentlicher Sinngehalt erschließen lässt. Dass Nietzsches Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte von Werten gleichzeitig delegitimierend wirkt, hängt mit seiner Einstellung gegenüber universalistischen Wertvorstellungen wie die der modernen Moral zusammen. Ähnlich wie Marx führt Nietzsche die für geschichtliche Entfaltung konstitutiven Verdeckungen mit hegemonialen gesellschaftlichen Konflikten eng, die in seinem Fall weniger politischer als vielmehr ethischer Natur sind. Der »Wille zur Macht« ist der Wille bestimmter Lebensformen mit ihren jeweiligen (optimistischen oder pessimistischen) Wertsphären, sich gegen andere durchzusetzen. Wertsphären, dies ist Nietzsches zweite werttheoretische Annahme, sind aber notwendig partikularen Ursprungs. Universalistisch angelegte Wertbindungen können daher nur abgeleitete Wertbindungen sein, mit denen sich weiterhin partikulare Interessen durchzusetzen versuchen. Was am Grund eines universalistischen Werts liegt, sind also notwendig partikulare Werte, die sich unausweichlich im Kampf mit anderen Wertvorstellungen befinden (vgl. Nietzsche 1999: 313-316). Der eigentliche Punkt der Kontroverse in der genealogischen Verfahrensweise ist also nicht unbedingt der Reduktionismus, sondern eine unterschiedliche Einschätzung universalistischer Wertorientierungen. Gegen Nietzsches funktionale Einordnung der modernen Moral innerhalb eines hegemonialen Kampfes bringt Joas mit Bezug auf den Universalismus der Menschenrechte eine Geschichte ganz anderer Art zur Geltung. Auch seine Geschichte führt die universalistische Moral der Menschenrechte auf vorgelagerte Wertschichten zurück, denn nichts anderes tut zunächst eine Entstehungsgeschichte. Doch anders als bei Nietzsche führt die Aufdeckung der jeweils situierten und partikularen Wertorientierungen, die an der Entstehung der Idee der Menschenwürde und der Menschenrechte Teil haben, nicht dazu, den Universalismus dieser Orientierung zu unterminieren. Das geschieht im Wesentlichen dadurch, dass Joas kein konstruiertes und gleichsam monokausales Narrativ präsentiert, sondern eine Vielzahl von Einflüssen und Ursprüngen aufdeckt, die an dieser Entstehungsgeschichte beteiligt sind. Verortet Joas die Keimstätte der Menschenrechte in der Amerikanischen und nicht erst in der Französischen Revolution, so treffen dort etwa eine »quasipietistische Massenbewegung« und eine »rationalistisch-aufklärerische Elite« aufeinander (Joas 2011: 52). Der Prozess der Wertbildung entspringt nicht einfach nur aus einem Konflikt zwischen partikularen Orientierungen, sondern aus einer kontingenten Heterogenität von aufeinandertreffenden Einflüssen, die sich in einer kreati-

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ven Synthese zu einer gemeinsamen Orientierung verbinden und neue Werte schaffen.3 Solche synthetischen Prozesse zeigen, dass der Universalismus nicht einfach nur ein (listiges) ideelles Konstrukt darstellt, so wie Nietzsche ihn karikiert, sondern sich in und durch gelebte Dynamiken allmählich etabliert. Diese sind von ihren Hintergründen her zwar partikular, müssen es deswegen aber nicht auch unbedingt in ihrer Orientierung bleiben. Daher sieht Joas in den konkreten und situierten Ereignissen der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung »Ausdrucksformen tiefliegender kultureller Transformationsprozesse« (Joas 2011: 63),4 an denen dann weitere Etappen der Wertgeschichte und der Wertgeneralisierung angeschlossen werden können. Auch diese stehen nicht im Zeichen eines hegemonialen Wettkampfes. Der bewegende Impuls zur allmählichen Entfaltung und Verbreitung einer universalistischen Moral der Menschenwürde ist weniger das Ressentiment gegen die Herren als vielmehr die Erfahrung von Leid und Gewalt. Sie ist es, aus der, anders als bei Nietzsche, »die Energie für positive Wertbindungen hervorgeht« (ebd.: 109).5 Etabliert Joas damit eine Perspektive auf universalistische Wertbildung, die nicht darauf ausgerichtet ist, sie als ein hegemoniales Projekt zu diskreditieren, so beruht ihre Plausibilität auf verschiedenen kontingenten Entwicklungen, die an disparaten Orten und Zeiten stattgefunden haben und als Etappen einer Geschichte rekonstruiert werden – einer Geschichte, die Joas dann als die einer allmählichen ›Sakralisierung der Person‹ deutet. Entsprechend figuriert auch keine der Erfahrungen oder der exemplarischen Narrative, die Joas anführt, als der eine Ursprung der Menschenrechte.

2. U rsprung und E ntstehung Damit ist auch schon die Distanz zu jener anderen Form der historischen Spurensuche angesprochen, die Heideggers ›Seinsgeschichte‹ darstellt. Diese setzt sich deutlich von Nietzsche ab, indem sie in den verborgenen historischen Sinnschichten gerade nicht die Entlarvung, sondern vielmehr den wahren Grund einer bestimmten Idee oder eines bestimmten Verständnisses sucht. Der in Heideggers Werk zunehmend wichtiger werdende Rückgriff auf histo3 | Als exemplarisch für eine solche Synthese wird das langwierige und komplizierte Verfassen der Unabhängigkeitserklärung herangezogen (vgl. Joas 2011: 50-53). 4 | Die Assoziation zu Kants »Geschichtszeichen« aus dem Streit der Fakultäten liegt an dieser Stelle nahe (Kant 1977, A 142: 357), obwohl man da auch aufschlussreiche Unterschiede markieren müsste. 5 | Dafür zieht Joas im 2. Kapitel das allmähliche Verschwinden der Folter und im 3. Kapitel die Antisklavereibewegung heran.

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rische Entwicklungen, insbesondere auf die griechische und römische Antike, ist zwar ein kritisches Verfahren, aber eines ganz anderer Art als das genealogische. Was nämlich kritisiert werden soll, sind die Modernisierungsbewegungen, die von den eigentlichen Ursprüngen abgeführt haben. Ursprünge sind in Heideggers Geschichtsverständnis entsprechend gerade nicht kompromittierend, sondern der Ort, an dem sich das eigentliche Verständnis einer Idee zeigt; ein Verständnis, das dann durch eine Geschichte von Missverständnissen und Vergessenheiten verdeckt wurde und das es wieder frei zu legen gilt. Heideggers Kritik gilt dem verkümmerten zeitgenössischen Verständnis einer bestimmten Idee, die durch die Konfrontation mit ihrer Geburtsstunde, dem Moment, wo die Erfahrung am lebendigsten und authentischsten ist, aus ihrer Vergessenheit geweckt werden soll (vgl. exemplarisch Heidegger 1987). Obwohl Joas selbst nicht verdeckt, dass die Geschichte der Menschenrechte und der universalistischen Moral keine reine Erfolgsgeschichte ist und insbesondere auch heutzutage nicht ganz unproblematische Wendungen nimmt (vgl. Joas 2011: 191), ist seine Genealogie keine Geschichte eines Wertverfalls. Sie ist im Gegenteil gerade dadurch motiviert, in der Geschichte einer Werttradition jene Dimensionen aufzuspüren, die sie für die Gegenwart auch lebendig erscheinen lassen und weiterhin ansprechen. Aber gerade weil er eine komplexe Entstehungsgeschichte hat, kann der Wert der Menschenwürde und der Menschenrechte nicht auf einen ursprünglichen Sinn oder eine ursprüngliche Motivlage zurückgeführt werden. Werte werden nicht mit einem Akt oder in einer Erfahrung geboren, und das gilt insbesondere für komplexe Wertbildungen wie die universalistischen. Um sich als universelle Werte zu etablieren und das zu werden, was sie inzwischen geworden sind – Werte, die einer Vielzahl von Verfassungen zugrunde gelegt sind und über die sich öffentliche Diskurse nicht mehr hinwegsetzen können –, bedarf es einer Vielzahl verschiedener Erfahrungen und Entwicklungen, die bis in die Gegenwart hinein Bindung generieren und aufrechterhalten. Wenn aber die Genealogie der Menschenwürde und der Menschrechte in diesem Sinne keine ursprüngliche Motivlage und keinen ursprünglichen Sinn rekonstruiert, was rekonstruiert sie dann? Was zeigen die Sinnschichten eines Werts, wenn, wie im Falle der Menschenrechte, ihre Genealogie tatsächlich viele heterogene Motivationslagen und Traditionen, Erfahrungen und Befürworter aufdeckt? Mir scheint, dass Joas’ Genealogie sich auf zwei verschiedene Weisen zu dieser Frage verhält. Zum einen verweist Joas in seiner Rekonstruktion immer wieder auf die Pluralität von Geschichten und Einflüssen, die die Etablierung der Menschenrechte unterstützt haben, um damit gerade deren Universalismus werttheoretisch und konkret historisch zu untermauern. Auf der anderen Seite präsentiert Joas wiederum auch eine ganz bestimmte Genealogie, die darauf aus ist, bestimmte Motivlagen und Traditionen stärker hervorzuheben als andere.

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Dies entspricht dem »existentiellen Historismus« (vgl. Joas 2011: 183), den Joas an Troeltsch so schätzt. Denn die Tatsache, dass Wertbindungen immer jeweils individuell (bzw. kollektiv-individuell) und situiert sind, gilt natürlich auch für den Historiker und Genealogen – und für den affirmativen Genealogen allemal. Die Geschichte, die dieser rekonstruiert, ist keine vollkommen neutrale, sondern eine, die eben jene Elemente der Geschichte hervorhebt, die er als werthaft erfährt. In diesem Sinne ist die Entscheidung für die Schwerpunktlegung auf die amerikanische Unabhängigkeitserklärung sowie die wiederholte Thematisierung des Verhältnisses von christlichen und menschenrechtlichen Motiven Ausdruck der »unvermeidlichen Selbstpositionierung des Historikers« (ebd.: 182). In diesem Punkt kommen sich Nietzsche und Joas doch wieder näher, sofern Nietzsche in seinen Überlegungen in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben eben eine solche Positionierung des Historikers gefordert hatte (vgl. Nietzsche 1988: 293-294). Aufgrund dieser Selbstpositionierung ist Joas’ Genealogie also nicht nur affirmativ, sondern auch affektiv an bestimmte Stränge der Wertbindung gebunden. Damit vollzieht aber die genealogische Untersuchung eine doppelte Perspektivierung ihres Gegenstandes. Im Sinne ihrer universalistischen Wurzeln deckt die Genealogie eine Reihe von heterogenen Einflüssen auf, die zur Bildung der jeweiligen Werte beigetragen haben. Im Sinne ihres ›existentiellen Historismus‹ arbeitet die Genealogie eine bestimmte Wertdimension aus, welche sich von anderen möglichen Positionierungen und Wertbindungen (implizit) abhebt. In beiden Fällen bringt das genealogische Verfahren mithin eine verschlungene und differenzielle Geschichte universalistischer Werte ans Licht, die auf eine Pluralität von Wertbindungen hinweist. Ohne sie damit wieder synthetisch auf den einen Nenner bringen zu wollen, stellt sich angesichts dieser Pluralität dennoch die Frage, ob sie als solche für die Struktur der Menschenrechte (und ähnlicher universalistischer Orientierungen) aufschlussreich ist. Michel Foucault hat z.B. in diese Richtung argumentiert und die Heterogenität im Herzen der Menschenrechte auf die Heterogenität zweier Freiheitsverständnisse zurückgeführt, die an der Entstehung dieser Rechte mitgewirkt haben und in unterschiedlichen Umgangsweisen mit und Bindungen an diese Rechte historisch auch immer wieder zum Ausdruck kommen (vgl. Foucault 2004: 65-70, dazu Raimondi 2011). Joas’ Hinweis auf einerseits religiöse, andererseits aufklärerische Elemente in der Etablierung der Menschenrechte könnte in eine ähnliche Richtung weiter gedeutet werden und evtl. nicht nur Aufschluss darüber geben, warum die Menschenrechte und die Menschenwürde in heterogenen Diskursen auftreten, sondern zudem, warum es auch nicht zufällig ist, dass Glaube und Vernunft auf eine eigentümliche Weise immer wieder die Struktur der Bindung an sie prägen.

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Gerade mit Verweis auf Foucault stellt sich dann auch die Frage nach historischer Kontinuität. Im Falle der Menschenrechte lässt sich beobachten, dass nicht nur der Glaube an sie sich auf unterschiedliche Gründe stützen kann, sondern dass auch ihre Funktion variiert – so wie wir etwa gegenwärtig beobachten können, dass sich die Menschenrechte von subjektiven Rechten in Rechte zur Ermächtigung von Interventionen auf staatlicher Ebene verwandeln, die meistens von westlichen Mächten in Krisengebieten unternommen werden (vgl. dazu Luhmann 1995: 571-586; Vismann 1998; Maus 1999). Bezüglich der Frage nach historischer Kontinuität ist der Werttheoretiker natürlich in einer deutlich höheren Bringschuld als der Normativist, der sich um historische Variationen nicht kümmert. Sofern Joas immer wieder gegen teleologische Geschichtsmodelle argumentiert, kann historische Kontinuität nur eine kontingente Entwicklung sein, die sich erst herstellt, wenn die Wertbindung auch faktisch weiterhin besteht. Gerade ohne die Absicherung einer geschichtlichen Teleologie ist die Möglichkeit einer Veränderung oder gar Verkehrung der Motivlagen aber immer gegeben – und davon ist die Geschichte der Menschenrechte sicherlich nicht frei. Gerade ein genealogisches Verfahren, das sich mit den verschiedenen Entstehungskontexten von Werten auseinandersetzt, kann nicht umhin – und dies im Unterschied zu anderen historisierenden Perspektiven –, auch diese Form der Heterogenität in den Blick zu nehmen. Vor dem Hintergrund dieser komplexen und nicht-linearen Entstehungsprozesse, die gerade ein genealogisches Verfahren notgedrungen hervorkehrt, stellt sich die Frage nach dem begründenden Anliegen, das Die Sakralität der Person mit ihrer Genealogie verfolgt. Damit komme ich zur dritten Frontlinie, von der sich Joas’ Überlegungen abgrenzen.

3. B egründung und A ppell Mit seiner Hinwendung zum genealogischen Verfahren setzt sich Joas ganz bewusst von der Tradition einer rationalen Begründung der Menschenrechte ab, wie sie vor allem der Kantianismus mit Bezug auf universelle Normen propagiert. »Ich glaube nicht an die Möglichkeit einer rein rationalen Begründung letzter Werte« (Joas 2011: 13), so die lapidare Aussage gleich zu Beginn von Die Sakralität der Person gegen solche Verfahren, die ganz ohne Geschichte und Werthorizonte meinen auskommen zu können. Obgleich sich Joas zu Recht von abstrakten Begründungsprogrammen absetzt, möchte er damit nicht auch den Anspruch auf eine begründende Perspektive aufgeben. Der Sinn dessen, was eine Begründung ist und was sie zeigen soll, unterscheidet sich bei ihm aber grundlegend von kantischen Argumentationen sowie auch von hegelia-

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nischen Geschichtsrekonstruktionen.6 Rationale Begründung oder geschichtliche Teleologie, so könnte man das pointiert formulieren, sind auf die Unausweichlichkeit des zu Begründenden ausgerichtet. Ob in den Strukturen der Vernunft oder in der Geschichte des Geistes; das zu Begründende wird dort in etwas verankert, was seine Kontingenz aufhebt und seine Gültigkeit beweist. Der »Evidenzcharakter« (ebd.: 15) dagegen, den Joas in Anspruch nimmt, ist keiner, der in dieser Form auf einen Grund gebracht wird. Der Genealoge kann auf Evidenzerfahrungen hinweisen, und er tut es im Bewusstsein der Pluralität der Perspektiven wie auch der Kontingenz der Entwicklungen; er kann sie aber nicht diskursiv herbeiführen. Was heißt dann aber in einem solchen Zusammenhang noch Begründung? In gewisser Weise ist die Rede von ›Begründung‹ an dieser Stelle zumindest irreführend, weil das Wort nun einmal den Nachweis eines Grundes jenseits der Wertperspektive selbst nahelegt. Nicht nur gibt es bei Joas keinen solchen Grund – wie die Vernunft, den Geist, die Freiheit –, auch die Geschichte wird selbst nicht als Beweismittel für einen moralischen Lernprozess herangezogen. Joas führt zwar vor, wie Menschenwürde und Menschenrechte sich einer zunehmenden Akzeptanz erfreuen, doch ist die Geschichte ihrer Akzeptanz selbst noch nicht der Grund, weshalb jemand heute an die Menschenwürde und die Menschenrechte glauben sollte. Denn ihre historische Akzeptanz basiert auf Geschichten, Motivlagen und (kollektiven) Erfahrungen, die eben vergangen sind. Auf deren Stattfinden hinzuweisen und ihre Effekte freizulegen, heißt nicht, diese Erfahrungen selbst wieder herzustellen. Was die Genealogie tut, ist mithin kein Begründen im eigentlichen Sinn; was sie tut, ist eine bestimmte Tradition und Geschichte so aufzuarbeiten, dass sie lebendig wird und in einem lebendigen Bezug zur Gegenwart, die ihre eigenen Erfahrungen machen muss, erscheinen kann. Joas spricht in diesem Zusammenhang auch von einem »Appell«, der von einem »historisch verkörperten Sinn ausgeht« (ebd.: 191), so wie ihn der Genealoge in seinem Narrativ konstelliert. Diesen Appell lässt die Genealogie wieder aufleben, gerade indem sie selektiv verfährt und eine bestimmte Geschichte erzählt, aber eben so, dass diese Geschichte nicht einfach als beendet oder vollendet erscheint, sondern als eine, die auch weitergeschrieben werden muss. Damit wird Genealogie zum kreativen Aneignungsakt, der nicht einfach nur protokolliert, sondern Zusammenhänge herstellt oder überkommene kappt, neue oder andere Geschichten erzählt und den gegenwärtigen Leser in einen noch stattfindenden Wertbindungsprozess affektiv einbindet.

6 | Ich referiere hier Joas’ Perspektive auf hegelianische Rekonstruktionsprogramme und beschäftige mich nicht weiter mit der Frage, ob man Hegel selbst auch anders lesen könnte (vgl. dazu u.a. etwa Buck-Morss 2011 oder Comay 2011).

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Indem der Genealoge aus seiner unausweichlichen Selbstpositionierung innerhalb eines werthaften Horizontes die Geschichte eines Werts ergründet, von dem er selbst affiziert ist, begründet er sie nicht im eigentlichen Sinne, sondern entwickelt sie genau genommen weiter. Die genealogische Schrift ist nicht dazu da, eine bestimmte Geschichte zu ihrem begründeten Abschluss zu bringen. Sie präsentiert sich vielmehr als eine weitere Etappe innerhalb dieser Geschichte, die den Prozess der Wertbildung weiter antreibt, modifiziert etc., indem sie sich reflexiv auf die Sinnschichten eines Werts bezieht. Die damit entstehende Geschichte kann als Geschichte nur dann den Anspruch erheben, ›die richtige Geschichte‹ zu sein, wenn sie jemanden auch anspricht und affiziert. Das ist selbst ein Widerfahrnis, an dessen Stattfinden die ›affirmative Genealogie‹ appellieren, das sie aber nicht kontrollieren kann. Die Genealogie kann allenfalls den Boden für bestimmte Erfahrungen vorbereiten. Im Bewusstsein der Pluralität möglicher Narrative über die Menschenrechte und die Menschenwürde sowie der kontingenten Entstehungsgeschichte von Werten kann die Genealogie also auch keinen ›harten Begründungsanspruch‹ erheben. Das heißt aber nicht, dass sie deswegen relativistisch bleibt. Der Leser einer Genealogie kann durch sie affiziert werden, weil er denselben Werthorizont teilt und damit Aufschluss über seinen eigenen Hintergrund bekommt bzw. neue Dimensionen seiner Wertung entdeckt; er wird aber nicht minder affiziert, wenn er dies nicht tut und zum Einspruch animiert wird bzw. dazu, eine andere Geschichte zu erzählen. Auch in der Kontroverse besteht das Fortwirken eines Werts – und auch über Genealogien lässt sich mit Gründen und leidenschaftlich streiten. Eine ›affirmative Genealogie‹ enthält zwar stets eine individuelle Note, sie unterscheidet sich gleichwohl von einem Bekenntnis, weil sie mit historischen (und nicht nur persönlichen) Sinnschichten operiert. Obgleich man einen bestimmten Relativismusvorwurf gegen Joas’ Vorgehen also tatsächlich von der Hand weisen kann, hat dessen Vorgehensweise natürlich auch gewisse Grenzen. Diese liegen m.E. zum einen in der grundsätzlichen Entscheidung, Menschenwürde und Menschenrechte allein in werttheoretischer Perspektive zu thematisieren und jegliche funktionale Perspektive außer Betracht zu lassen. Eine funktionale Perspektive, also die Betrachtung der realen Effekte von Werten und Institutionen, wie sie in jeweils unterschiedlicher Prägung von Marx, Foucault oder Luhmann vorgeführt wird, bringt Aspekte ins Spiel, die auch für den Werttheoretiker nicht unbedeutend sein können. Denn so sehr man von Werten affiziert sein mag, die Gefahr ihrer Verkehrung ist immer gegeben. Sie kommt auch nicht immer von außen, sondern kann in den Sinndimensionen der Werte selbst angelegt sein. Menschenwürde und Menschenrechte haben entsprechend auch nicht zufälligerweise Schattenseiten: etwa indem sie trotz des erklärten Universalismus immer wieder partikularistische Ausprägungen bekommen haben oder zum Deckmantel für verschiedene Formen der Interessenspolitik wurden.

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Diese Dimensionen mit einzubeziehen, heißt nicht die entsprechenden Werte umzuwerten, wie Nietzsche das tut. Es heißt auch nicht, die Betrachtung auf die jeweiligen Phänomene reflexiv so zu komplizieren, dass affektive Wertbindung grundsätzlich unterminiert wird. Es heißt eher, geschichtliche Prozesse in ihrer ganzen Komplexität und Intransparenz in den Blick zu nehmen. Das Anliegen, eine Genealogie der Werte zu schreiben, ist selbst das beste Zeugnis dafür, dass geschichtliche Traditionen eine kreative Auseinandersetzung mit ihren Sinnschichten brauchen, eben weil diese keinen einheitlichen und fixierten Sinn haben. Genealogie muss daher nicht notwendig Umwertung bedeuten, aber sie kann auch nicht einfach nur affirmativ sein. Die Untersuchung der Herkunft von Werten deckt vielmehr komplexe und nicht einfach nur zu bejahende Entwicklungen auf. Ein Verfahren wie das genealogische kann nicht umhin, eine kritische Seite zu haben – selbst wenn sein primäres Anliegen ein affirmatives ist. Erst recht gelten solche Überlegungen mit Bezug auf die Sakralisierungsthese, die Joas als Schlüssel für die Geschichte der Menschenrechte anbietet.

4. G ene alogie der S akr alisierung ? Im Anschluss an Durkheim beschreibt Joas den Prozess der Wertbindung an Menschenwürde und Menschenrechte als einen Prozess der ›Sakralisierung der Person‹. In Reaktion auf traumatische Gewalterfahrungen wird die Person in den Bereich des Unbedingten und Unantastbaren gehoben und damit auf eine Weise mit Wert versehen, die religiösen Praktiken verwandt ist. Ohne die Menschenrechte damit als eine moderne Religion darstellen zu wollen, ist die affektive Bindung an sie der Form nach eine, die in religiösen Zusammenhängen ebenfalls zu finden ist und die mithin nicht einfach nur auf Rationalität beruht. Dass zwischen religiösen Werten und Menschenwürde bzw. Menschenrechten nur eine gewisse Verwandtschaft besteht, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass diese im Unterschied zu jenen einer Genealogie fähig sind. Hat der Prozess der Wertbindung den unverfügbaren Charakter eines Widerfahrnisses, so bleibt er zugleich nicht vollkommen unerklärt. Daher bietet Joas nicht nur exemplarische Narrative an, an denen sich eine solche Sakralisierung zeigt, sondern auch soziologische Erklärungsmuster, wie etwa die wirtschaftlich induzierte »globale Verflochtenheit von sozialen Beziehungen« (Joas 2011: 143), um die Ermöglichungsbedingungen einer solchen Entwicklung zu eruieren. An solchen Stellen wird aber auch wieder deutlich, inwiefern das genealogische Verfahren als historisierendes Verfahren einen Eigensinn hat, dem eine gewisse kritische Dimension anhaftet. So sehr die Sakralisierungs-These die Art der Wertbindung an die Menschenrechte überzeugend beschreibt, so

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sehr kommt die genealogische Erforschung der Entstehung und des Prozesses einer solchen Sakralisierung nicht umhin, in gewisser Weise ent-sakralisierend zu wirken. Denn gerade die Rückführung auf Geschichten und Hintergründe verschiedener Art zeigt diese Werte nicht mehr in der Unbedingtheit, die dem Sakralen als solchen zu eigen ist. Gerade gemessen an der Struktur des Sakralen behalten Nietzsche und Foucault mit ihrem kritischen Verständnis von Genealogie Recht. Die Genealogie eines Werts belässt den Glauben an diesen nicht unangetastet. Zwar muss die Genealogie nicht notgedrungen zu einer radikalen Umwertung führen, darin hat wiederum Joas sicherlich Recht, aber sie zeigt den Wert in all seiner Kontingenz, in seinen fremden und auch befremdlichen Hintergründen. Eine Genealogie, die soziologische Erklärungen mit einbezieht, kann auch eine funktionale Betrachtung nicht wirklich außen vor lassen, und so ist auch die vollkommene Ausblendung einer solchen Perspektive in Joas’ genealogischer Verfahrensweise nicht wirklich nachvollziehbar. Die genealogische Rückführung von affektiven Wertbindungen auf Traditionen und gesellschaftliche Transformationsprozesse muss sie notwendiger Weise in Zusammenhang mit Faktoren verschiedener Art bringen, die u.U. auch mit problematischen Wirkungen und Dimensionen eines Werts verbunden sind. Diese Faktoren können alle gesellschaftlichen Systeme betreffen. Im Falle von Menschenwürde und Menschenrechten ist es nicht zuletzt der Bereich der Politik, der in den Fokus treten muss, geht es Joas doch nicht nur um eine Genealogie der Menschenwürde, sondern auch um die der rechtlich-politischen Institution der Menschenrechte. Von ihrer politischen Seite aus betrachtet, zeigen sich die Menschenrechte aber nicht nur als Impuls für soziale Bewegungen und Kämpfe; sie sind zugleich auch mit der Geschichte moderner (westlicher) Staaten und all den damit zusammenhängenden Verwicklungen aufs engste verflochten. Bereits Hannah Arendt hatte ausdrücklich auf die problematische »Verquickung« von Menschenrechten und Nationalstaaten hingewiesen (Arendt 1986: 605). Die Menschenrechte, so hatte sie im Kontext ihrer Analyse totalitärer Regimes gezeigt, seien de facto immer die Rechte von Staatsbürgern gewesen und würden deswegen der staatlichen Souveränität und ihrer Grenzziehungen unterliegen. Auch wenn seitdem verschiedene inter- und transnationale Instanzen entstanden sind, die sich für die Durchsetzung der Menschenrechte einsetzen, besteht eine gewisse Abhängigkeit von staatlicher Souveränität weiterhin, wie sich bei Asyl- und Flüchtlingsfragen immer wieder zeigt. Die feministische und postkoloniale Kritik hat wiederum auf die hegemonialen Besetzungen und diskriminierenden Wirkungen dieser Rechte aufmerksam gemacht, die trotz ihres erklärten Universalismus’ die Geschichte dieser Rechte geprägt haben (vgl. Spivak 2004; Brown 2011). Diese politisch-rechtliche Seite und die entsprechenden Perspektiven, die sich dadurch auf Menschenrechte

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und Menschenwürde eröffnen, können deshalb von einer werttheoretischen Untersuchung wie jener Joas’ nicht ausblendet werden, weil die Verrechtlichung und Implementierung dieser Rechte nicht einfach nur nachträglich erfolgte, sondern mit der Artikulation der Idee der Menschenwürde einherging. Sakralisierung und Verrechtlichung laufen hier gleichsam Hand in Hand, und es stellt sich die Frage nach der Natur und den Effekten dieses Zusammenhangs: Warum das Sakrale die Form des Rechts annimmt und wie und warum das Recht und der Staat anfangen, ein Unbedingtes zu schützen. Diese anderen Schauplätze der Geschichte der Menschenrechte destabilisieren jene Sakralisierung, von der Joas spricht. Das muss nicht unbedingt den Glauben an die Menschenrechte erschüttern, zeigt sie gleichwohl in einer Ambivalenz, die genauso wie die Sakralisierungsthese in einer Genealogie dieser Werte berücksichtigt werden muss. Diese Ambivalenz wurde häufig mit dem nur scheinbar unbestimmten Träger der Menschenrechte in Verbindung gebracht. Auf analoge Weise wie Arendt zu zeigen versucht, dass der Mensch der Menschenrechte eigentlich der Staatsbürger ist, hatte Marx darauf hingewiesen, dass der Mensch der Menschenrechte eigentlich der bourgeois ist, der mit diesen Rechten seine eigenen Privilegien zu sichern versucht (vgl. Marx 1974). Handelt es sich bei diesen Versuchen wiederum um den Nachweis von verkappten Partikularismen am Grund der Menschenrechte, so kann an dieser Stelle aber auch die Logik des Sakralen selbst Aufschluss geben. Man braucht gar nicht erst Agambens homo sacer-Projekt zu bemühen, um die strukturelle Ambivalenz des Sakralen in den Blick zu nehmen, auf deren Kehrseite stets gewaltsame Verwerfungsprozesse stehen (vgl. Caillois 1988). Gerade vor dem Hintergrund der möglichen Instrumentalisierung oder Verkehrung von Ideen oder Institutionen sind affirmative und affektive Stellungnahmen, wie sie Die Sakralität der Person vornimmt, immer wieder notwendig. Operieren sie aber zugleich auf der Grundlage von genealogischen Rekonstruktionen, dann kommen sie nicht umhin, ein recht umkämpftes und differenziertes Szenario zu erschließen. Denn daraus bestehen die verschachtelten Gänge der Geschichte, in der sich Erfahrungen, Narrative und Traditionen durchkreuzen und Logiken sowie Institutionen agieren, die nicht ohne Weiteres geordnete Sinnschichten bilden. Latenzen und Unfertigkeiten, kontingente Überlappungen und Einflüsse sind Teil einer jeden Wertgenealogie. Was sich dem genealogischen Blick dann zwangsläufig zeigt, sind auch Kämpfe, wie die einer Olympe de Gouges, die gerade in der Zeit der Entstehung der Menschenrechte ›mit den Menschenrechten und gegen sie‹ intervenierte;7 es 7 | Olympe de Gouges (1748-1793) ist die Verfasserin der Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin von 1791 (De Gouges 2011), in der sie den Wortlaut der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 nutzt, um für die Rechte der Frau einzutreten und zugleich auf die Diskriminierung der Frau gerade auch durch die erste Erklärung

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sind Irrwege und Missverständnisse, es sind die Kalküle einer Staatsraison und der Fanatismus bestimmter Kulturen. Kommt keine gute und vor allem keine leidenschaftliche Idee ohne eine gewisse affirmative Übertreibung aus, so bringt die Genealogie aber wiederum unumgänglich eine Polyperspektivität ins Spiel, die mit einer übertreibenden Affirmation erst einmal zusammengeführt werden muss. Selbst ein ›existentieller Historismus‹, der eine ganz bestimmte Genealogie erzählt, kann sich dieser doppelten Bewegung nicht ganz entziehen – sofern er jedenfalls ein genealogischer Historismus bleiben möchte. Das muss nicht zwangsläufig in die lauwarme Haltung des liberalen Ironikers münden, sofern Schattenseiten oder Widersprüchlichkeiten – das lehrt eine ganze Tradition der historischen Rekonstruktion, zu der auch Joas’ Buch gehört – auch als historische Fermente wirken können, die zu kreativen Weiterentwicklungen führen. Gleichwohl konfrontiert die Lektüre von Joas’ Die Sakralität der Person, auch unabhängig von seinem konkreten Gegenstand, den Leser mit der offenen Frage, wie sich Affirmation und Genealogie verbinden können – wie also die Bejahung bestimmter Werte und eine Hervorhebung ihrer differenziellen Geschichte Hand in Hand gehen können, ohne einerseits die Verve der Affirmation zu verlieren und ohne andererseits die Geschichte um ihre eigenen Windungen zu beschneiden.

L iter atur Arendt, Hannah (1986): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München: Piper. Brown, Wendy (2011): »Die Paradoxien der Rechte ertragen«, in: Christoph Menke/Francesca Raimondi (Hg.): Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Berlin: Suhrkamp, S. 454-473. Buck-Morss, Susan (2011): Hegel und Haiti. Für eine neue Universalgeschichte, Berlin: Suhrkamp. Caillois, Roger (1988): Der Mensch und das Heilige, München: Hanser. Comay, Rebecca (2011): Mourning Sickness. Hegel and the French Revolution, Stanford: Stanford University Press. De Gouges, Olympe (2011): »Die Rechte der Frau und Bürgerin«, in: Christoph Menke/Francesca Raimondi (Hg.): Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Berlin: Suhrkamp, S. 54-57. aufmerksam zu machen. Olympe de Gouges wurde unter der Herrschaft von Robespierre nicht zuletzt wegen ihrer feministischen Intervention verhaftet und zum Tode verurteilt.

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Foucault, Michel (2004): Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Joas, Hans (1997): Die Entstehung der Werte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. – (2011): Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin: Suhrkamp. Heidegger, Martin (1987): Einführung in die Metaphysik, Tübingen: Niemeyer. Kant, Immanuel (1977): Der Streit der Fakultäten, Werkausgabe Bd. XI, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1995): Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Marx, Karl (1974): »Zur Judenfrage«, in: Marx-Engels-Werke Bd. 1, Berlin: Dietz, S. 346-377. Maus, Ingeborg (1999): »Menschenrechte als Ermächtigungsnormen internationaler Politik oder: der zerstörte Zusammenhang von Menschenrechten und Demokratie«, in: Hauke Brunkhorst u.a. (Hg.): Recht auf Menschenrechte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 276-292. Nietzsche, Friedrich (1988): Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Kritische Studienausgabe Bd. 1, München: dtv. – (1999): Zur Genealogie der Moral, Kritische Studienausgabe Bd. 5, München: dtv. Raimondi, Francesca (2011): »›Diese andere Sache‹. Agamben, Foucault und die Politik der Menschenrechte«, in: Maria Muhle/Kathrin Thiele (Hg.): Biopolitische Konstellationen, Berlin: August, S. 37-60. Saar, Martin (2007): Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt a.M.: Campus. Spivak, Gayatri Chakravorty (2004): »Righting Wrongs«, in: The South Atlantic Quarterly 103, S. 523-581. Vismann, Cornelia (1998): »Menschenrechte: Instanz des Sprechens – Instrument der Politik«, in: Hauke Brunkhorst (Hg.): Demokratischer Experimentalismus. Politik in der komplexen Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 279-304.

2. Religion und Gesellschaft Soziologische Sondierungen

Menschenwürde, Menschenrechte und Sakralität der Person (Religiöse) Individualisierung als universaler Fluchtpunkt? Gert Pickel

1. E inleitung – M enschenrechte und M enschenwürde z wischen D emokr atie und C hristentum Die letzten Jahrzehnte sind von einem exponentiellen Bedeutungsgewinn der Menschenrechte gekennzeichnet. So zählen Menschenrechte und der Schutz von Menschenwürde in der Gegenwart wohl zu den wichtigsten Prämissen, die mit dem Konzept der Demokratie verbunden werden. Nicht, dass in jeder Demokratie die Menschenrechte immer eingehalten werden; als normative Richtlinie stellen sie aber eines der Vorzeigemerkmale moderner Demokratien dar. Vielfältige Bemühungen wurden unternommen, sie rechtlich zu implementieren; aber auch ihre normative Wirksamkeit über Gesetzesvorgaben hinaus hat sich in gesellschaftlichen Eliten und breiten Bevölkerungsschichten weit ausgedehnt. Dies wird gerade auch im Umgang mit Menschenrechtsverletzungen erkennbar. So bringen demokratische Staaten autokratischen Regimen gegenüber am ehesten den Mut auf, Verletzungen der Menschenwürde der diesem Herrschaftssystem ausgelieferten Personen anzuprangern, während man zu vielen anderen Elementen autokratischer Herrschaft – sei es aus ökonomischen oder politischen Erwägungen – mit Blick auf die Autonomie eigenverantwortlicher Staatlichkeit eher still oder zumindest zurückhaltend bleibt. Dieses Handeln resultiert natürlich nicht nur aus Überzeugung, sondern auch aus Kalkül. So würde man sich als demokratischer Politiker in den Augen der eigenen Bevölkerung unglaubwürdig machen, positionierte man sich nicht öffentlich gegen Menschenrechtsverletzungen. Einer möglichen intrinsischen folgt damit eine extrinsische Motivation, die etwa zu Auftritten führt wie den der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel in Russland. Schließlich hängt auch ein gutes Maß an Legitimität demokratischer Politik von einer sol-

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chen Positionierung ab. Nur so kommt es zum Schulterschluss zwischen der steigenden Zahl von individuelle Menschenrechte einfordernden Menschen, Nichtregierungsorganisationen und demokratischen Politikern. Ob nun intrinsisch oder extrinsisch motiviert: Scheinbar sind die auf das Individuum bezogene Menschenwürde und die Einhaltung von Menschenrechten für ein modernes Verständnis von Demokratie von zentraler Bedeutung. Es drängt sich in modernen Gegenwartsgesellschaften sogar verstärkt der Eindruck auf, dass Menschenrechte ein allgemeingültiges Gut darstellen, welches von allen Staaten und deren Herrschern unter allen Umständen bereitzustellen ist – und was jeder Bürger berechtigt für sich (und andere) einfordern kann. Verschriftlichungen und Formalisierung in Dokumenten wie der UN-Menschenrechtscharta sind Beleg für eine solche Universalisierung. Nun ist Allgemeingültigkeit in modernen Gesellschaften etwas, was selten auf ungeteilte Zustimmung trifft. So wird gerade die Vielfalt, Heterogenität und auch Multikulturalität moderner Gesellschaften immer wieder zu ihrem dominierenden Beschreibungsmerkmal. Ist nicht jeder Mensch anders? Ist nicht jede Kultur so verschieden, dass sie gar nicht mit anderen verglichen werden kann? Sowohl Vertreter eines Multikulturalismus als auch die pluralen Bevölkerungsgruppen selbst neigen dabei dazu, diese Heterogenität gegen einen Einheitsdruck universeller Bezugsannahmen in Stellung zu bringen. Diese Skepsis gegenüber universellen Annahmen zeigt sich auch in der Wissenschaft ›postkolonialer‹ Prägung. Will man zum Beispiel verschiedene Prinzipien der Demokratie, wie sie im europäischen Raum weitgehend akzeptiert sind, an andere Staaten anlegen und diese auch noch daran messen und die beobachteten Staaten entsprechend einordnen, so läuft man schnell Gefahr, dem Vorwurf eines democracy bias zu begegnen (vgl. Pickel 2009: 293-301). Denn zum einen werden diese Prinzipien als ›westlich‹ geprägt angesehen, zum anderen stehen sie – wie nicht unbedingt immer zu Unrecht angemerkt wird – einem spezifischen Verständnis von Demokratie als liberaler Demokratie sehr nahe. Aus Sicht der Kritiker bildet sich hier eine ethnozentristische Sichtweise ab. Freilich kann man sich fragen, ob nicht das Konzept der Demokratie doch einige als universal zu verstehende Bestandteile enthält. Wäre das nicht so, wäre es ja auch kein Konzept, welches wissenschaftlichen Anforderungen Genüge leisten würde. Doch nicht nur beim Demokratieverständnis treffen universale Forderungen auf diesen Widerstand. Betont man die determinierende Kraft streng rationalistischer Begründungen für gesetzliche Regelungen, wie zum Beispiel die Einführung weitreichender Mitbestimmungsrechte für Frauen in Politik und Gesellschaft, so ereilt einen ebenfalls oft dieser Vorwurf. Zumindest erweckt man scheinbar den Eindruck einer unzureichenden Kulturoffenheit, welche die gewachsenen und legitimen Differenzen und Pluralitäten der Welt zugunsten einer universalisierenden Einheitsmacherei ignoriert. Speziell Ansätze wie

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die Modernisierungstheorie werden hier als gefährliche Gegner ausgemacht. Gerne werden sie dann als überholt und nicht mehr zeitgemäß klassifiziert. Gerade die Vielfalt der historischen Entwicklung und ihrer kontingenten Wege im Kulturvergleich widerlege ja solche Annahmen mannigfaltig. Wie kann es nun aber sein, dass sich gerade die Menschenrechte, welche eine solch breite Zustimmung auf sich vereinen, diesem Vorwurf entziehen – und eben (scheinbar) kein westlich-abendländisches, rationalistisches oder säkulares Produkt kulturspezifischer Vorstellungen sind? Hans Joas hat diesen übergreifenden Konsens der Menschenrechte auf den Ebenen der Elitenpolitik und der Bevölkerung in seinem Buch Die Sakralität der Person (Joas 2011) darauf zurückgeführt, dass Menschenrechte eben auch kein allein westliches Konzept seien, sondern auf vielen, häufig voneinander unabhängigen Säulen beruhten. Gerade diese Vielfalt der Pfade und Verfasser erzeuge die breite generelle Akzeptanz dieses Wertes (vgl. ebd.: 271). Einen zentralen Grund hierfür sieht Joas in der veränderten Stellung des Individuums in der Moderne, die sich in einer ›Sakralisierung der Person‹ ausdrücke. Diese hebe die Menschenwürde und die daraus abgeleiteten Menschenrechte auf eine besondere Stufe normativer Verbindlichkeit, die eben einen allgemeinen und universalen Anspruch erzeugen könne – ohne aber quasi evolutionär aufgrund einer Denkrichtung zu entstehen. Damit weist Joas gleichzeitig sowohl eine Begründung dieser Universalität als Folge der westlichen Aufklärung als auch eine – oftmals anzutreffende – Bezugnahme auf christliche Ursprünge zurück. Wenn man es zwingend kausal versteht, sind Aufklärung und Christentum – und beide auch wieder nicht – Ursprünge (nicht Gründe) der Durchsetzung der Menschenrechte. Menschenrechte sind also weder religiös noch säkular begründet – oder eben beides. Und die Quellen und ihre kontingente Wirkung benötigt man auch, sind doch Menschenrechte nicht naturwüchsig, also Überlegungen von Naturrechtstheorien folgend, entstanden. So sind es nach Joas – und dies überzeugt – vergleichbare Erfahrungen, welche die kontingenten Entwicklungen dann auch in eine Richtung zusammenführen. Damit ist auch die Rolle der Religion für die Entstehung der Menschenrechte schnell bestimmt: ihre Wirkung ist ebenfalls als kontingent zu begreifen. So verursachen unterschiedliche Rahmenbedingungen und unterschiedliche religiöse Kulturen nur marginale Differenzen in der Anerkennung der Menschenrechte. Entweder ist also die Wirkung von Religion hier universell, oder aber sie besitzt gar keine wesentliche Bedeutung. Dieser Sicht kann man mit Rückgriff auf andere, frühere Argumentationslinien entgegenhalten, dass doch aber gerade das Christentum Menschenrechte besonders befördert (hat) und andere Religionen hierfür eher nicht so hilfreich sind. Zeigt dies nicht der Blick auf die Gebiete, wo Menschenreche in der Verfassungsrealität besser umgesetzt sind als in anderen, also zum Beispiel in Europa? Doch so einfach ist es nicht. Mit Joas kann man sagen, dass auch das Christentum in seiner

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Haltung zu den Menschenrechten ambivalent ist. Es kann gleichermaßen als hemmend wie als fördernd für die Etablierung der Menschenrechte angesehen werden, teils zu unterschiedlichen Zeiten, teils gleichzeitig. Diese Ambivalenz beschreibt Joas dann auch eindrücklich im dritten und im fünften Teil seines Buches Die Sakralität der Person mit dem Verweis auf den Positionswandel der katholischen Kirche auf dem II. Vatikanischen Konzil. Trotz dieser Ambivalenz und ihrer kontingenten Wirkungsweise scheint Joas das Religiöse an den Menschenrechten aber besonders zu interessieren. So nutzt er mit dem Begriff der Sakralisierung eine Möglichkeit der Universalisierung, die ihn aus der säkularen Profanität des (rationalen) Alltags heraushebt. Dies scheint mir zumindest einer Diskussion wert. Auf den folgenden Seiten kommt es mir entsprechend nicht darauf an, über den Bezug auf Klassiker der Soziologie oder Philosophie eine Konzeptkritik zu betreiben. Vielmehr will ich einige Fragen aufwerfen, welche aus soziologischer, aber auch politikwissenschaftlicher Sicht bedeutsam und interessant – und vielleicht auch gelegentlich kritisch – sind. Dabei möchte ich mich im Blick auf Joas’ Buch zur ›Sakralität der Person‹ auf zwei Aspekte konzentrieren: Zum einen auf die Frage, in welchem Verhältnis Religion zu Menschenrechten steht und inwieweit eine Sakralität der Person überhaupt eine Sakralität ist – und zum anderen auf die Frage, inwieweit das auf Individualisierung beruhende Personenkonzept nicht einem allgemeingültigen Geltungsanspruch, wie bei den Menschenrechten, entgegensteht.

2. R eligion oder R eligiosität : ›S akr alität der P erson ‹ oder doch profane S äkul arität ? Kommen wir zuerst zur Religion, wie es sich für einen Religionssoziologen wohl auch gehört. Zu Recht stellt Joas heraus, dass sich die Haltung der Kirchen als Institutionen zu den Menschenrechten historisch gewandelt hat. Hinweise auf die Genese der Menschenrechte aus dem Christentum, die ja im europäischen Raum eine hinreichende Tradition besitzen, hören sich auch heute noch gut an und werden (bemerkenswerterweise) in öffentlichen Diskursen gerne akzeptiert. So vermitteln sie, in Kombination mit der Durchsetzung der Vernunft im Abendland, das Gefühl einer gewissen kulturellen Überlegenheit und Vorreiterrolle. Dies führt oft sogar zu dem Übertrag, Menschenrechte als christlich-westliches Kulturgut für sich in Anspruch zu nehmen, auch wenn man selbst – als Person – religiös eher ›unmusikalisch‹ ist. So verbreitet diese Sichtweise ist; sie kann sich aber des Vorwurfs nicht erwehren, ein gewisses Maß nachträglicher Konstruiertheit aufzuweisen. Entsprechend standen die doch stark auf das Kollektiv gerichteten christlichen Religionen des Abend-

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landes seitens ihrer Organisationsseite den individualistisch ausgerichteten Menschenrechten lange eher skeptisch gegenüber. Davon will man heute in den christlichen Kirchen nicht mehr viel wissen. Wie bei vielen Entwicklungen ist es auch hier so, dass nach der – aus dem einen oder anderen Grund erfolgten – gesellschaftlichen Durchsetzung eines Prinzips dieses ›immer schon‹ von allen vertreten wurde. Und am besten noch ist man ›seit jeher‹ einer der zentralen Antreiber dieser Durchsetzung gewesen. Dieser mit gewissen Beschönigungen versehene Prozess hat mit dem Abbau kognitiver Dissonanzen (Festinger 1957) ebenso zu tun wie mit einer positiven Selbstrepräsentation. Alles in allem haben Kirchen und religiöse Organisationen den Individualismus und die Personenbezogenheit, die den Menschenrechten innewohnt, oft abgelehnt. Heute sind sie dagegen zumeist starke Befürworter der Menschenrechte. Hier unterscheiden sich die verschiedenen Religionen oft nur im jeweiligen Stadium eines offensichtlich stets ähnlich ablaufenden Entwicklungsprozesses. Nun ist dies nicht schädlich, und auch Institutionen können sich ja bekanntermaßen wandeln. Gleichzeitig wird aber deutlich, dass heutige Positionen der christlichen Kirchen nicht ausreichend sind, um ihnen so einfach eine tragende (und antreibende) Rolle in der Durchsetzung der Menschenrechte als universalem Prinzip zuzugestehen. Hier kann man Joas nur zustimmen, wenn er die Widersprüchlichkeit und das Nebeneinander kirchlicher Haltungen herausarbeitet (vgl. z.B. Joas 2011: 209). Wenn aber der kirchliche Einfluss ambivalent ist, warum besitzt ›Sakralisierung‹ und eine religiöse Interpretation bei Joas dann einen so hohen Stellenwert? Hier ist es aus Sicht des Religionssoziologen immer wichtig zu bestimmen, welchen Religionsbegriff Joas überhaupt vertritt. Dies ist am Anfang des Buches nicht ganz eindeutig festzustellen. So diskutiert er zunächst die Wirkung des Christentums als religiösen Einfluss. Dies ist nicht unstatthaft, wurde doch in der Menschenrechtsdiskussion von Vertretern der christlichen Kirchen immer wieder auf diese Einflusslinie verwiesen. Doch dann öffnet er das Feld für den Einfluss des ›Religiösen‹ überhaupt. So beruht sein Verständnis von Sakralisierung letztlich auf einem funktionalen Bild von Religion; zugespitzt könnte man sagen: auf einem zivilreligiösen Religionskonzept. Entlang der Diskussion der 1980er Jahre (Bellah 1967; Kleger/Müller 2011) sieht Joas dabei die Wertebindung der Einzelnen als entscheidend für eine allgemeine Akzeptanz der Menschenrechte an. Menschenrechte sind dann eben nicht das explizite Produkt einer Religion, sondern können von Mitgliedern aller Religionen ebenso wie von säkularen Menschen gleichermaßen in Anspruch genommen werden. Nun hat ein zivilreligiöses Verständnis seine Vorteile wie auch seine Nachteile. Zum einen ist es – wie gerade angesprochen – hinreichend entfernt von spezifischen Religionen und deren früheren skeptischen Haltungen zu den Menschenrechten. Zum anderen ist es aber weiterhin ›irgendwie‹ Religion;

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und damit ermöglicht es die Verwendung des Begriffs der Sakralisierung, wenn auch vielleicht nicht im traditionellen Sinne. Nun hat nicht zuletzt seine begriffliche Ungenauigkeit das Konzept der Zivilreligion lange Zeit ins Abseits befördert. Es wurde als zu unspezifisch und zu sehr auf die USA ausgerichtet eingestuft. Aktuell scheint es unter jüngeren Wissenschaftlern aber wieder verstärkt auf Interesse zu stoßen, da es vor dem Hintergrund von Säkularisierungsprozessen ›konventioneller‹ Religiosität die Chance gibt, doch an einem universellen öffentlichen Überleben von Religiosität festzuhalten: Nicht nur im Privaten und als imaginäre unsichtbare individualisierte Spiritualität, sondern ganz offen und gemeinschaftsverbindend kommt es hier zur ›Sakralisierung der Person‹. Doch ist diese Anbindung wirklich hilfreich für die Erklärung der Menschenrechte? Zum Zweck der Universalisierung eines Konzepts sicher. So ist der Vorzug funktionalistischer Begriffe wie auch des funktionalen Religionsverständnisses dessen breite und kulturübergreifende Anwendbarkeit. Es ist aber ebenfalls bekannt, dass man sich damit auch gewisse Nachteile einhandelt. So stellt sich die Frage, was an einem funktionalen Verständnis wirklich noch religiös ist. Schon dem Alltagsverständnis von Religion entsprechen funktionalistische Definitionen in der Regel nur begrenzt. So wird Religion von den meisten Menschen eher konventionell – und substanziell – verstanden. Sicher, hierfür sind die Sozialisation in einem spezifischen Kulturgebiet und die Prägung des Umfeldes verantwortlich. Doch muss man dieses Verständnis nicht doch ernst nehmen? Was sind aber die Alternativen? Vielleicht muss man hier zu – dem auch von Joas stark rezipierten – Talcott Parsons zurückkehren (Parsons 1951). Neben dem Zivilreligionskonzept stammen aus seiner ›Schule‹, wenn man diesen Terminus einmal verwenden will, auch Überlegungen zur sogenannten politischen Kulturforschung. Dort werden ebenfalls Werte, Normen und die Funktion der Integration als zentrale Elemente politischer Systeme und Gesellschaften ausgemacht. Diese politische Kulturforschung besitzt sogar einen noch besseren Anschlusspunkt: Sie differenziert die Einstellungen und Haltungen gegenüber jedweden Objekten als kognitiv, affektiv und evaluativ (vgl. Easton 1979; zur Übersicht auch Pickel/Pickel 2006). Damit ist sie anschlussfähig für Joas’ auf Affekte zielenden Argumentationsstrang (vgl. Joas 2011: 264) und hilft zudem in erheblichem Maße dabei weiter, eine öffentliche und das Kollektiv verbindende Rolle von bestimmten Wertmustern zu rekonstruieren. Inwieweit diese dann religiös sind oder religiöse Züge aufweisen, kann man getrost diskutieren. Generell benötigt die politische Kulturforschung diese Unterscheidung aber nicht. Und da ist dann auch der Weg zu Parsons zweiter Alternative zur religiösen Normenbildung, zur Ideologie, nicht mehr weit. Überhaupt ist das Verhältnis zwischen Religion und Politik ein guter Bezugspunkt für eine weitere Diskussion von Sakralisierung. So werden Men-

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schenrechte in den letzten Jahrzehnten ja schwerpunktmäßig unter dem Aspekt der Menschenrechtspolitik debattiert. Ein Bezugspunkt für eine universale Durchsetzung ist Legitimität. Und auch hier kann man mit Rückgriff auf Max Weber darauf verweisen, dass es neben religiösen (oder traditionalen) Legitimitätsbegründungen auch säkulare gibt (vgl. Weber 1980). Und spielen diese – über die Legalisierung – nicht gerade in der Menschenrechtspolitik eine gewichtigere Rolle als Überlegungen, die eher auf dem Gedanken des Naturrechts beruhen? Insgesamt stellt sich die Frage, ob es sich bei den Menschenrechten wirklich um die quasireligiöse Fixierung eines universalen Anspruchs handelt oder ob dieser eine religiöse Benennung vielleicht gar nicht benötigt. So sieht ja auch Parsons die funktionale Differenzierung als universalen Prozess einer Modernisierung. Modernisierung ist aber irgendwie mit Säkularisierung verbunden; und so benötigt Parsons zwar Normenakzeptanz, aber keine Sakralisierung.

3. I ndividualisierung als G egner der A llgemeingültigkeit – oder doch universelle M odernisierung mit S äkul arisierung ? Bereits der Blick auf das Religionsverständnis deckte eine Argumentationsrichtung von Hans Joas auf: die Annahme einer Universalität von Menschenrechten. Dies ist interessant, zielten doch in den letzten Jahren viele Aussagen Joas’ auf die Differenzierung, Kontingenz und Vielfalt der religiösen Entwicklung. Religiöse Entwicklung war – wie ebenfalls häufig für Historiker – kontingent. Nun wird diese Position der differenten Entwicklungspfade und Begründungen in der ›Sakralität der Person‹ nicht aufgegeben. Vielmehr werden verschiedene Pfade identifiziert, die – deswegen auch der Begriff der Genealogie – in einer gemeinsamen Normenakzeptanz der Menschenrechte resultieren. Betrachtet man die Argumentationsstruktur, so ist es vor allem das Individuum mit seiner (neu) gewonnenen Selbstentscheidungsfähigkeit, welches allgemeingültigen und universalen Erklärungsmustern gegenüber steht. Individualisierung und Pluralisierung öffnen nicht nur, nein, sie benötigen sogar zwingend unterschiedliche Pfade auf dem Weg zum gleichen Ergebnis. Dies gilt auch für die Anerkennung eines universalen Rechts, nicht zuletzt im Kulturvergleich. Unterschiedliche indigene bzw. autochthone Entwicklungen haben, so Joas, die Menschenrechte an verschiedenen Stellen der Welt durchgesetzt (vgl. Joas 2011: 271-273). Diese Gedankenführung deckt sich mit vielen Positionen, welche unter (teils über)starker Betonung indigener bzw. autochthoner Entwicklungsstränge einem ›von außen‹ an sie herangetragenen westlichen Konzept entgegentreten wollen. Sie dominieren gerade in den Bereichen von Fallstudien bzw. Area-Studies und führen zu teils massiven Zurückwei-

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sungen universeller Annahmen. Und dies trifft besonders Konzepte wie Modernisierung, Demokratisierung und Säkularisierung, die aus Sicht der Kritiker einen westlichen Ethnozentrismus implizieren. Auch bei Joas werden an dieser Stelle Bedenken gegenüber der Tendenz einer Universalisierung der Menschenrechte deutlich. So könne und dürfe es natürlich nicht sein, dass sich ein lokal entwickeltes Konzept auf andere Kulturen und Kulturregionen ausbreitet und dort zur Norm wird. Und so weist Joas denn auch auf die unterschiedlichen Wege zur gemeinsamen Anerkennung der Menschenrechte hin, die er durch eine Vielzahl an Darstellungen stützt. Hier stellt sich mir eine Frage: Unterschätzt man da nicht Diffusionsprozesse auf der Werteebene, nur weil nicht sein kann, was nicht sein darf? Möglicherweise hat man es ja einfach mit gar nicht einmal so spektakulären Übertragungsprozessen von erstrebenswerten Zielen von einem zum anderen Ort zu tun. Es wäre natürlich naiv zu glauben, solche Überträge fänden gleichsam eins-zu-eins statt. Sie benötigen Akzeptanz, Adaption und vor allem Aushandlungen zwischen beteiligten Akteuren. Allerdings sprechen die in der Moderne angestiegenen globalen Verflechtungen und die über die wachsende Kommunikationsdichte steigenden Diffusionsprozesse doch stark dafür, dass es hier nicht um rein autochthone Entwicklungen geht, ja dass diese nicht einmal dominieren. Mischungen aus eigenen Anlagen und externen Erfahrungen scheinen am wahrscheinlichsten.1 Ich verzichte hier auf Einzeldarstellungen. Eklatant ist, dass sich ja erst in der Übernahme der ›Fremdvorstellungen‹ oder der Ausbildung eines eigenen Weges quasi-universale Konzepte herausbilden können – wie es Menschenrechte ja wahrscheinlich wirklich sind. In welchem Umfang Übernahme und indigene Entwicklungen miteinander verbunden sind, bleibt eine Frage der sozialwissenschaftlichen Empirie. Dabei gilt es, die Mischungsverhältnisse unter unterschiedlichen sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen konkret zu bestimmen. Ein Problem aber bleibt: die Gleichzeitigkeit von diversifizierter Entwicklung und universeller Durchsetzung der Menschenrechte. Zwei – eher gegensätzliche – Argumentationsrichtungen stellen diese Zwiespältigkeit in Frage: Zum einen die Überlegung, ob nicht doch starke normierende universale Kräfte hinter der Durchsetzung der Menschenrechte stehen; und zum anderen die Vermutung, dass die Universalitätsannahme vielleicht auch überpointiert sein könnte und dass unter einer oberflächlichen, globalen Ebene der Anerkennung doch eine erhebliche Heterogenität mit entsprechendem Konfliktpotenzial schlummert.

1 | Hier besteht übrigens ein guter Anknüpfungspunkt zu den Überlegungen von Hans Joas, der ja gerade die Erfahrungen als die zentrale Quelle für die universelle Anerkennung ausmacht. Dies impliziert aber eben auch Fremderfahrungen.

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Ein Hinweis auf universale Triebkräfte findet sich bereits bei der Individualisierung. So hat Individualisierung oder Selbstverwirklichung eher wenig mit dem Egoismus bzw. der Selbstbezogenheit des Einzelnen zu tun; vielmehr handelt es sich um einen gesamtgesellschaftlichen Prozess (vgl. Beck 1986). Traut man den empirischen Befunden der jüngeren Zeit, so ist sogar davon auszugehen, dass sich hier ein relativ universeller Trend zur Emanzipation entwickelt (vgl. Welzel 2013), der Selbstentfaltung und Schutz der individuellen (Entscheidungs-)Freiheit in immer stärkerem Maße, und zwar weltweit, zu einer, wenn nicht der bestimmenden Größe macht. Das Problem besteht nun darin, dass dieser Trend auf die eine oder andere Weise an Modernisierung gekoppelt ist (vgl. Inglehart/Welzel 2005; Welzel 2013). Empirische Befunde zeigen konsistente statistische Beziehungen zwischen dem oft als recht profan empfundenen Indikator sozioökonomische Modernisierung und dem Emanzipationsstreben an. Selbstverwirklichung und Emanzipation sind somit nicht nur gesellschaftliche Werte, sie fügen sich auch ›erschreckend‹ gut in das oft verpönte – und auch von Joas wenig geliebte – Muster relativ traditioneller modernisierungstheoretischer Überlegungen. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse ist aber der Zug zur universellen Geltung von Menschenrechten und individueller Selbstbestimmung nicht mehr so überraschend, handelt es sich doch um ein im abendländischen Kontext zuerst auftretendes Wertemuster, welches seinen Siegeszug in der Welt antritt. Der Gedanke vieler unabhängig nebeneinander existierender autochthoner Entwicklungen wird durch diese Befunde ein wenig beschädigt. Die in verschiedenen Kulturen stattfindenden Prozesse der Etablierung der Menschenrechte und der ihnen zugrunde liegenden Wertvorstellungen sind somit keinesfalls einzigartig, sondern stellen oft Positionen auf der Bahn eines relativ universalen Entwicklungsprozesses dar. So scheint die Modernisierungsgebundenheit doch den Weg zu Menschenrechten zu erleichtern. Verschiedene, miteinander verbundene Wertvorstellungen und Herrschaftsformen bewegen sich dann auf mehreren Pfaden, von unterschiedlichen Ausgangspunkten aus, steuern aber eben auf einen gemeinsamen »Fluchtpunkt« zu (vgl. Welzel 2003; 2013). Diese Prozesse müssen weder linear sein, noch verlaufen sie ohne Schwankungen und spezifische Ausgestaltungen; nur im Kern ist der eingeschlagene Weg ähnlich und der Zielpunkt der Gleiche. Dieses Argument klingt nun recht traditionell und steht sofort im Ruch des Ethnozentrismus – nimmt man entsprechende Positionen ein; natürlich muss es deswegen nicht falsch sein. Wichtig ist: Globale Entwicklungen besitzen nicht zwingend ein Eigenleben. Sie resultieren aus individuellen Entscheidungen und Aushandlungsprozessen von Akteuren, aber auch aus dem Wandel sozialer, politischer und ökonomischer Rahmenbedingungen. Zumindest ist es dies, was man als Sozialwissenschaftler mit Blick auf international vergleichendes empirisches Material immer wieder sichtbar machen kann. Und ähn-

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liche Veränderungen führen halt meist zu ähnlichen Folgen. Den von Joas angesprochenen Erfahrungen kommt dabei eine große Bedeutung zu. Wie passt dies nun aber zu einer erst einmal recht individualistisch daherkommenden Sakralisierung des Selbst? Und wie passt es zu Joas’ Beobachtung, dass die Menschenrechte aus vielen Quellen gespeist werden und aus vielen unterschiedlichen Entwicklungen resultieren? Sicher, der angesprochene allgemeine Wertetrend unterstreicht die Tendenz, das Individuum und seine Entscheidungen und Wertvorstellungen immer stärker ins Zentrum des eigenen Denkens zu rücken. Doch diese Vorstellungen können ja von Individuum zu Individuum differieren. So ist die Wertigkeit von Menschenrechten für jeden Einzelnen immer im Kontext seiner Situation zu sehen. Menschenrechte und Freiheit sind wichtig, gut und schön; doch die Frage, wie das Brot auf den Teller kommt, ist vielen Menschen wesentlich wichtiger. Zugespitzt kann man nun, in Umkehr der auf den Nutzen globaler Prozesse zielenden vorangegangenen Argumentation, auf die Oberflächlichkeit der universellen Wirkung der Menschenrechte verweisen.2 So bekennt Joas selbst, dass die Umsetzung der Menschenrechte zwischen verschiedenen Ländern und Kulturen stark variiert. Dies irritiert ihn aber nicht zu stark, sieht er doch die Durchsetzung auf der Werteebene als deren zen­ trale gemeinsame Leistung an. Und diese verläuft zwar auf unterschiedlichem Wege, endet aber immer im gleichen (universalen) Ergebnis. Was damit aber nicht gefasst wird, ist die Frage, inwieweit unter der Ebene einer globalen, oft vollmundigen Anerkennung von Menschenrechten durch Staaten und Personen Konflikte Raum greifen. Zum einen ist die Deutung und Interpretation dessen, was Menschenrechte sind, was dazugehört und was nicht, oft hochgradig different. So werden solche Verständnisse selbst zu hilfreichen Waffen in politischen und kulturellen Durchsetzungskämpfen. Konflikte um die Deutungshoheit stehen unterschiedlichen, teils ideologischen Ansichten gegenüber. Dies ist nicht ganz unabhängig von einem zweiten Argument, dem differenten Umgang mit Menschenrechten. Hier kann der Umgang mit Muslimen durch den US-amerikanischen Staat genauso angeführt werden wie die Haltung zu Menschenrechten in autokratischen Herrschaftssystemen. In letzteren erwartet man ja fast nichts anderes mehr als Menschenrechtsrhetorik ohne Umsetzungsinteresse, denn hier werden immer noch kollektive Interessen individualen entgegengestellt. Und was der eine zu den Menschenrechten zählt, das muss für den anderen noch nicht zwingend dazugehören. Gerade 2 | Für diese Argumentationsrichtung und den Kern des Argumentes danke ich Monika Wohlrab-Sahr, welche entsprechende Überlegungen in ihrem Impulsvortrag auf der Tagung ›Weltvorstellungen im Widerstreit‹ des Graduiertenzentrums Geistes- und Sozial­ wissenschaften der Universität Leipzig (27.-28.09.2013) und in der darauf folgenden Diskussion entfaltete.

Sakralität und Individualisierung

dieser Streit kann weit in Kulturen und Staaten hineingetragen werden. Doch wenn dies so ist, wie universal kann dann das Konzept der Menschenrechte überhaupt sein? Zu guter Letzt kann man noch kritisch fragen, ob es wirklich das Individuum ist, welches überall im Zentrum des gesellschaftlichen Denkens steht. So ist es doch bemerkenswert, dass immer wieder das Interesse der Mitwirkung an sozialen Gruppen für den Einzelnen so gefragt und so wichtig ist. Auch sind kollektive Ähnlichkeiten von Menschen ähnlicher kultureller Prägung oder ähnlicher regionaler Herkunft kaum zu bestreiten. Und diese sind zumeist für die Wertsysteme und Einstellungen von enormer Bedeutung. Der Mensch ist eben ein soziales Wesen. So sind auch die sozialpsychologischen Studien zu den Defekten und Problemen sozial isolierter Menschen Legion. Widerspricht diese soziale Bedingtheit zumindest partiell den Überlegungen zur Universalität einer Sakralisierung des Selbst? Zumindest wenn das Selbst als selbstbewusstes und vollkommen unabhängiges Individuum identifiziert wird? Kann nicht auch Menschenwürde eben eher ein soziales Konzept sein, welches aus dem Gedanken der Gemeinschaft heraus entsteht und dadurch den Einsatz für die Menschenrechte anderer hervorruft – aber dies weniger als Sakralisierung denn als Solidarität?

4. F a zit : D och individualisierter L iber alismus als universale E nt wicklung ? So überzeugend der Gedanke der ›Sakralität der Person‹ als Ausgangspunkt einer universalen Etablierung von Menschenrechten auch ist, einige Fragen bleiben aus meiner Sicht doch noch offen. Zum einen kann man sich fragen, ob die auffindbaren Entwicklungspfade wirklich so kontingent sind, wie Joas sie darstellt. Kann es nicht sein, dass es doch so etwas wie ein gemeinsames Zugmuster – oder einen gemeinsamen ›Fluchtpunkt‹ (Christian Welzel) – gibt, der alles andere als Ergebnis einer kontingenten historischen Entwicklung, sondern viel eher Produkt einer sich durchsetzenden Wertdiffusion ist?3 Der dabei bestehende Fluchtpunkt muss ja nicht zwingend auf tiefschürfenden philosophischen Überlegungen des Westens oder der Überzeugungskraft rationaler Erklärung beruhen; er kann ganz pragmatisch der Nachfrage der Menschen geschuldet sein. Häufig können einfache Demonstrationseffekte auf ein besonders erfolgreiches – und anzustrebendes – Modell aufmerksam machen und Nachahmer finden, die dann alle auf ein ähnliches Ziel zusteuern. Solche Prozesse finden sich in Ergebnissen der Diffusionsforschung (vgl. 3 | Was explizit Joas’ Annahme widerspricht, dass die Menschenrechte und ihre Intensivierung nicht Folge kultureller Diffusion seien (vgl. Joas 2011: 19).

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u.a. Lauth/Pickel 2009).4 Auch Studien der Demokratieforschung zeigen recht deutlich, dass Grundinteressen der betroffenen Individuen Freiheit, Wohlstand und etwas Gerechtigkeit sind. Hierin unterscheiden sich die Angehörigen unterschiedlicher Kulturen relativ wenig. All diese Verhältnisse wollen sie gerne auch haben; und ob diese westlich ›kontaminiert‹ bzw. von dort übertragen oder indigen gewachsen sind, ist den meisten Menschen dabei ziemlich egal (vgl. Lauth/Pickel 2009). Menschenrechte und Menschenwürde passen sehr gut in dieses Muster, sind sie doch eng mit den weltweit stark nachgefragten Freiheitsrechten verbunden. Auf diese Weise, über die Wünsche nach diesen als Idealen formulierten Elementen des Lebens, werden sie aber – und dies entspricht der von Milton Rokeach formulierten Definition (Rokeach 1973) – zu Werten. Werte sind damit sehr wohl Artikulation von Erfahrungen (Joas 2011: 253), beinhalten aber auch das Streben nach einem Ideal. Zudem ist zwischen der plakativen Akzeptanz eines Wertes und seiner Umsetzung eine Differenz auszumachen, die eine so weitreichende Aussage wie die der ›Sakralisierung der Person‹ in ihrer Reichweite dann doch etwas untergräbt. Diese Diskrepanz zwischen Ideal, schriftlicher Institutionalisierung in Erklärungen und Umsetzung im Alltagsleben gilt für Menschenrechte in ähnlichem Maße wie für Demokratie. Denn bemerkenswerterweise ist kaum eine Staats- und Herrschaftsform weltweit beliebter als die Demokratie. Selbst Länder, die man beim besten Willen nicht als ›demokratisch‹ bezeichnen möchte, führen ausgesprochen gerne dieses Label in ihrem Staatsnamen. Allein, wenn dieses Label mit den Interessen des Staates – oder der Machthaber – in Konflikt gerät, wird die Einhaltung demokratischer Prinzipien oft brüchig. Betrachtet man aktuelle Konflikte wie etwa in Syrien, so drängt sich der Eindruck auf, dass der Wert einer autonomen Staatlichkeit zumindest auf der gleichen Ebene der Durchsetzung von Menschenrechten und Demokratie zu liegen scheint. Doch nicht nur auf der Ebene staatlichen Handelns, sondern auch zwischen den Individuen bestehen inter- wie intrakulturell Diskrepanzen in der Wertigkeit und in der inhaltlichen Ausfüllung der Menschenrechte, die zu denken geben müssen.

4 | Die Diffusionsforschung versucht, die Wege der Verbreitung von Werten und Ideen nachzuzeichnen. Die Ergebnisse zeigen recht deutlich, dass Ideen selten zielgerichtet von außen in anderen Kulturen und Ländern implementiert werden können. Es handelt sich eher um einen unterschwelligen Prozess. Wichtige Rollen spielen hier die Vermittlung von Werten über Massenmedien, die Annahme einer engen Kopplung von Demokratie und Wohlstand, oder auch die Verbreitung über Eliten, die an anderem Ort ausgebildet wurden und die dort angeeigneten Ideale und Ideen wieder in ihre Heimatländer zurückführen. Statistische Analysen zeigen zum Beispiel enge Zusammenhänge zwischen Medienzugang und einem liberalen Demokratieverständnis (vgl. Lauth/Pickel 2009).

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Und doch, und dies muss man anerkennen, scheint im Bezug auf die Menschenrechte eine universelle Zugkraft sichtbar zu werden. Mittlerweile scheint es sich um eine Norm zu handeln, die quasi naturwüchsig keiner zusätzlichen Legitimation mehr bedarf. Ob dabei das Individuum sakralisiert wird bzw. diese Anerkennung aus religiösen Gründen resultiert, ist eher eine Frage der Terminologie; vielleicht nicht einmal eine hilfreiche, denn was ist nun das religiöse Element: Zivilreligion, also kollektive, soziale Religion oder individuelle Religiosität? Kann es nicht sein, dass es sich doch (nur) um die Durchsetzung bestimmter Werte und Weltvorstellungen handelt, die sich einer klaren Einordung in ›religiös‹ oder ›säkular‹ entzieht? Zumindest drängt sich der Eindruck auf, dass – auch wenn man es nicht unbedingt mögen muss – universale Kräfte auf der kulturellen Ebene ihre Wirkung entfalten. Dies erfolgt weniger aus sich selbst heraus als vielmehr aus dem sozialen Wandel der Rahmenbedingungen. Und hier muss man sich die Frage stellen, ob hier nicht doch die gegenwärtig so ungeliebte Kategorie der Modernisierung ein hohes Erklärungspotenzial aufweist und in ihren Erweiterungen und ihrer flexiblen Ausgestaltung hilfreich sein könnte für die Erklärung und Beschreibung der universalen Durchsetzungsprozesse von Menschenwürde und Menschenrechten. Joas’ Überlegungen zur Wertegeneralisierung liegen hier nicht weit entfernt (vgl. Joas 2011: 260-264).5 Die vorgelegten Überlegungen sind begrenzt. Sie können nur von einem Blickwinkel aus einen Blick auf die Darlegungen von Joas werfen. Das breite Begründungsspektrum und die Verankerung in einer Vielfalt an historischen, soziologischen und tagespolitischen Strängen werden so sicher nur ungenügend gewürdigt. Gleichzeitig ist es wichtig, sich mit dem möglichen Bestehen universeller Kräfte in modernen, pluralen Gesellschaften zu beschäftigen. Vielleicht könnte man sogar mutiger sein und recht traditionell behaupten, dass es solche Kräfte gibt und dass gerade Werte aufgrund sozialer Entwicklungen und Erfahrungen zu dieser Universalität beitragen. Deutlich wird aber, dass Werten und Kulturen für die Entwicklung der rechtlichen, sozialen und politischen Grundlagen gesellschaftlichen Zusammenlebens eine wesentliche Bedeutung zukommt.

5 | So greift Joas ja auf die differenzierungstheoretischen Überlegungen von Parsons zurück, die eben auf so etwas wie Modernisierung hinauslaufen.

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Ambivalenzen der Sakralisierung Zur Durkheim-Rezeption in Hans Joas’ affirmativer Genealogie der Menschenrechte Matthias Koenig

Mit seinem Buch Die Sakralität der Person (Joas 2011) hat Hans Joas einen ambitionierten Beitrag zur Debatte um die Menschenrechte vorgelegt, der schon durch die enorme Fülle der behandelten philosophischen, historischen und soziologischen Fragen beeindruckt und mit Sicherheit einen nachhaltigen Eindruck über die Fächergrenzen hinweg hinterlassen wird.1 Joas selbst positioniert seinen Beitrag einleitend in doppelter Weise. Erstens bezieht er eine dezidierte Gegenposition gegen philosophische Versuche einer rationalen Letztbegründung der Menschenrechte (vgl. ebd.: 13). Anstatt die Geltung letzter universalistischer Werte rational zu begründen, was ihm schlechthin unmöglich erscheint, will er sie durch eine Erzählung ihrer Genesis, durch eine »affirmative Genealogie« (ebd.: 15), aktualisieren. Mit Blick auf die damit aufgeworfene Frage nach der Entstehung der Menschenrechte bezieht Joas, zweitens, eine Gegenposition sowohl gegenüber der ideengeschichtlichen These ihrer säkular-humanistischen Ursprünge als auch gegenüber der alternativen These ihrer religiös-christlichen Wurzeln (vgl. ebd.: 17). Sie besteht darin, »den Glauben an die Menschenrechte und die universale Menschenwürde als das Ergebnis eines spezifischen Sakralisierungsprozesses aufzufassen« (ebd.: 18). Joas’ ›affirmative Genealogie‹ der Menschenreche stellt zunächst eine Herausforderung für die intensiv geführte philosophische Debatte um Menschenwürde und Menschenrechte dar. Die möglichen Anfragen liegen auf der Hand. Inwieweit vermag eine ›affirmative Genealogie‹ diejenigen zu überzeugen, die sich gegenwärtig gar nicht an universalistische Werte gebunden fühlen oder sie in einer anderen Weise verstehen? Wie sind diejenigen Passagen in Joas’ 1 | Einige Formulierungen dieses Beitrags sind meiner Rezension des Buches in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (Koenig 2013) entnommen.

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Buch zu verstehen (z.B. Joas 2011: 158 u. 191), die den formalen moralischen Universalismus, der doch in engem Verhältnis zu Menschenwürde und Menschenrechten steht, von radikaler Historisierung auszunehmen scheinen? Und um welche Werte geht es überhaupt: um einen allgemeinen Komplex universalistischer Werte (so etwa ebd.: 15) oder eher um den einen Wert der Menschenwürde (so ebd.: 191), der dann Kriterien zur normativen Bestimmung der Menschenrechte lieferte (so etwa die Konzeption von Griffin 2008: 2)? Diese von anderen Autorinnen und Autoren in diesem Band kompetent diskutierten philosophischen Fragen sollen in diesem Beitrag nicht weiter verfolgt werden. Stattdessen konzentriert er sich auf die Herausforderung, die Joas’ ›affirmative Genealogie‹ der Menschenrechte für die soziologische Debatte um die Menschenrechte darstellt. In der Soziologie und ihren Nachbardisziplinen hat sich nach Jahren des Desinteresses inzwischen eine umfangreiche Forschungsliteratur entwickelt, die sich – unter weitgehender Absehung von philosophischen Wertbegründungsfragen – mit Bedingungen und Folgen der Institutionalisierung von Menschenrechten befasst. In einer Fülle quantitativer und qualitativer empirischer Studien hat man die globale Institutionalisierung von Menschenrechten, ihre staatliche Implementierung (wie deren Grenzen) und ihre lokalen Aneignungen in sozialen und politischen Protestbewegungen untersucht.2 In theoretischer Hinsicht wird dabei insbesondere das Verhältnis von Menschenrechten und Nationalstaat im Horizont der Weltgesellschaft diskutiert.3 Mit dieser Literatur setzt Joas sich indessen kaum auseinander, gilt sein primäres Interesse doch vorrangig der Entstehung subjektiv evidenter und affektiv intensiver Bindungen an die universalistischen Werte von Menschenwürde und Menschenrechten, die deren rechtlicher Institutionalisierung und praktischer Verwirklichung vorgelagert sind. Um sie historisch-soziologisch zu erklären, greift Joas an entscheidender Stelle auf Émile Durkheims Diagnose zum Aufstieg eines ›Kults des Individuums‹ als sakralem Kern moderner Gesellschaften zurück. Da diese Diagnose den Ausgangspunkt für seine eigene These von der ›Sakralisierung der Person‹ darstellt, lohnt es sich, das Verhältnis von Joas zu Durkheim genauer auszuleuchten. Im Folgenden wird daher zunächst danach gefragt, welche methodischen Implikationen das Programm einer ›affirmativen Genealogie‹ für die historisch-soziologische Analyse hat (1). Vor diesem Hintergrund wird diskutiert, was genau Durkheim und Joas jeweils unter der ›Sakralität der Person‹ verstehen (2) und wie sie den historischen Prozess der Sakralisierung der Person soziologisch erklären (3). Die Diskussion wird insbesondere auf Differenzen zwischen Durkheim und Joas abheben, die dessen eigenen Beitrag zur histori2 | Vgl. übersichtshalber nur Koenig 2005; Hafner-Burton/Ron 2009; Tsutsui u.a. 2012. 3 | Für verschiedene theoretische Perspektiven vgl. in diesem Zusammenhang Levy/ Sznaider 2006; Turner 2006; Somers/Roberts 2008.

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schen Soziologie der Menschenrechte profilierter hervortreten lassen, gleichzeitig allerdings auch auf nicht ausgeschöpfte Potenziale der Durkheimschen Tradition hindeuten (4).

1. A ffirmative G ene alogie und historische S oziologie Wie bereits angesprochen, zielt Joas in philosophischer Hinsicht auf eine Alternative zu rationalen Begründungsprogrammen in der Tradition von Kant und Habermas, die gleichwohl den Fallstricken einer Relativierung aller Werte in der Tradition von Nietzsche und Foucault entgeht. Dabei stützt er sich auf die Geschichtsphilosophie von Ernst Troeltsch. Dessen »existentieller Historismus« (Joas 2011: 183; mit Verweis auf Eduard Spranger) eröffne die Einsicht, dass wir uns der Geschichte nicht zuwenden könnten, ohne uns dem Geltungsanspruch historisch gebildeter Werte – Troeltsch spricht von Idealen – auszusetzen (ebd.: 185). Eine ›affirmative Genealogie‹ sei eine solche Rekonstruktion der Geschichte, in der wir unsere eigene Bindung an Werte durch die narrative Vergegenwärtigung der Situationen ihrer Entstehung – Troeltsch spricht von ›Idealbildung‹ – intensivierten (vgl. ebd.: 190). Gerade diese narrative Vergegenwärtigung sensibilisiere uns auch für Defizite der gegenwärtigen Verwirklichung unserer Werte (vgl. ebd.: 191). Mit seiner ›affirmativen Genealogie‹ der Menschenrechte zielt Joas also auf eine Überwindung der Kluft zwischen Geltung und Genese: »Wir ersetzen nicht Geltungs- durch Genesediskussion, wenn wir die Genese für geltungstheoretisch relevant erklären.« (ebd.: 186) Für die Soziologie stellt sich indessen die Frage, ob dieser Satz auch umgekehrt gilt. Welche Bedeutung kommt der Geltungsfrage ihrerseits für die historisch-soziologische Rekonstruktion der Genese des universalistischen Wertkomplexes von Menschenwürde und Menschenrechten zu? Joas’ Position ist in dieser Sache nicht ganz eindeutig. Einerseits folgt er Troeltsch in der Behauptung, dass die Rekonstruktion historischer Prozesse und unsere heutige wertende Stellungnahme zu ihnen miteinander verschlungen seien (Joas 2011: 186). Dies bedeute nicht nur, dass aus der Anschauung historischer Idealbildung ein Appell an das gegenwärtige Handeln erwachse, sondern auch umgekehrt, dass die Geschichtsdeutung ihrerseits schon von gegenwärtigen Handlungssituationen und Idealbildungen geprägt sei (vgl. ebd.: 186f.). Andererseits führt Joas einen historisch-soziologischen ›Realismus‹ als Schutz vor ›ideologischer Konstruktion‹ ein: dass es der ›affirmativen Genealogie‹ primär um historisch-reflektierte Wertbegründung gehe, entlaste sie nämlich nicht von den Aufgaben soziologisch-realistischer historischer Analyse (vgl. ebd.: 200). Diese scheint dann, vor allem wenn es in anderen Kapiteln um die Verwirklichung von Werten (wie der Menschenwürde) in Institutionen und Praktiken (wie Menschenrechtserklärungen oder der Abschaffung von Folter

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und Sklaverei) geht, nach Gütekriterien zu beurteilen zu sein, die von unserer wertenden Stellungnahme unabhängig sind (vgl. ebd.: 202f.). Unsere eigene Bindung an Werte bzw. Kulturideale hilft dann lediglich noch dabei, die ›schöpferischen Knotenpunkte‹ ihrer Entstehung zu identifizieren. Mit dieser Position aber wäre Joas trotz Troeltschs Kritik an Max Weber (vgl. ebd.: 154) von dessen Methodologie, die bekanntlich die unvermeidliche Wertbeziehung und die anzustrebende Werturteilsfreiheit aller historisch-empirischen Erkenntnis gleichermaßen betont, gar nicht mehr so weit entfernt. Das Verhältnis von historischer Soziologie zur Wertbegründung durch Narration ist deswegen diskussionsbedürftig, weil mit ihm unter Umständen wichtige Vorentscheidungen für die Analyse der Menschenrechte getroffen werden. Dies lässt sich nicht zuletzt an Émile Durkheims diesbezüglichen Überlegungen zeigen. Auch diesem ging es bekanntlich darum, eine Alternative zum abschätzig als ›Moralismus‹ bezeichneten Kantianismus zu entwickeln, ohne doch dessen Anliegen – die Begründung einer gegenwarts­ adäquaten universalistischen Moral – aus den Augen zu verlieren. Durkheims szientifisches Alternativprogramm bestand in einer Soziologie moralischer (und rechtlicher) Normen, die deren bindende Kraft aus der Gesellschaft herleitet (vgl. dazu noch immer Müller 1983). So bahnbrechend dieses Programm für die disziplinäre Autonomie der Soziologie war, so ungeklärt blieb in ihm jedoch der Status der eigenen wertenden Stellungnahme. Dass die neue ›säkulare‹ Moral, die Durkheim am Herzen lag, sich gesellschaftlich noch nicht gänzlich durchgesetzt hatte, entzog seinem soziologischen Begründungsversuch den Boden und ließ ihn selbst, wie in der Sekundärliteratur vielfach hervorgehoben (vgl. nur die Beiträge in Turner (Hg.) 1993), zum ›Moralisten‹ werden. Die wertende Stellungnahme zur neuen ›säkularen‹ Moral aber schränkte wiederum, wie noch deutlich werden wird, den soziologischen Blick auf die Menschenrechte unnötig ein. Den Fallstricken von Durkheims szientifischem Programm der soziologischen Moralbegründung entgeht Joas zwar von vornherein durch seinen Rekurs auf Troeltsch.4 Doch auch sein Programm der ›affirmativen Genealogie‹ ist daraufhin zu befragen, ob und wo es den soziologischen Blick auf die Menschenrechte durch die wertende Stellungnahme womöglich einengt.

4 | In der gegenwärtigen sozialphilosophischen Diskussion böten auch Arbeiten im Umfeld des neuen erkenntnis- und moralphilosophischen ›Realismus‹ günstige Anknüpfungspunkte, insbesondere die Überlegungen von Christian Smith (Smith 2010) zur Fundierung der Soziologie in einer realistischen Anthropologie, die von der Würde des Menschen ausgeht.

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2. D ie ›S akr alität der P erson ‹ bei D urkheim und J oas Im Zentrum von Joas’ ›affirmativer Genealogie‹ der Menschenrechte steht die ›Sakralität der Person‹, ein Begriff, den Joas in expliziter Anlehnung an Durkheims berühmte Analyse des ›Kults des Individuums‹ entfaltet. Bei genauer Lektüre fallen, wie im Folgenden dargelegt wird, die theoretischen Differenzen zu Durkheim indessen deutlich schärfer aus, als es die Inanspruchnahme des Sakralitätsbegriffs zunächst vermuten lässt.5 Schon in Joas’ früheren Büchern war Durkheim ein wichtiger theoretischer Gesprächspartner. In Pragmatismus und Gesellschaftstheorie (Joas 1992: 66-95) konzentrierte er sich auf Durkheims Theorie einer sozialen Konstitution der Erkenntniskategorien; bei aller pragmatistisch motivierten Kritik stimmte er dessen These zu, wonach umfassende Deutungssysteme erst in Situationen ›kollektiver Efferveszenz‹ lebensmächtig würden (vgl. ebd.: 91). Auch in Die Entstehung der Werte (Joas 1997: 87-109) kreist die Durkheim-Diskussion um das religionssoziologische Konzept der ›kollektiven Efferveszenz‹. Es markiert die für Joas zentrale Idee, wonach »Erfahrungen des Selbstverlusts in der Ekstase des Kollektivs […] zugleich die Erfahrung einer realen Kraft« (ebd.: 94) seien – des Heiligen. Durkheims kollektivistischen mit William James’ individualistischen Ansatz zur Erklärung intensiver affektiver Wertbindungen kontrastierend, geht Joas bereits hier zumindest kurz auf die Sakralisierung des Individuums ein (ebd.: 106). Diese steht schließlich im Mittelpunkt des Durkheim-Kapitels in Braucht der Mensch Religion? (Joas 2004: 151-168), das in großen Teilen auch den Ausführungen in Die Sakralität der Person (Joas 2011: 81-101) zu Grunde liegt. Den Begriff der ›Sakralisierung der Person‹ führt Joas dabei zur Bezeichnung eines Wertewandels ein, der sich in allmählichen Prozessen wie dem Verschwinden der Folter im Strafrecht wiederspiegelt (vgl. bereits Joas 2006). Dieser Wandel könne nicht allein als Resultat der Aufklärung (Beccaria), auch nicht als Sozialdisziplinierung (Foucault) verstanden werden, sondern sei Ausdruck eines Inklusionsprozesses, in dem die menschliche Person zum sa­ kralen Objekt moderner Gesellschaften werde (vgl. Joas 2011: 81). In der Strafrechtsentwicklung, so Joas im Anschluss an Durkheim, artikuliere sich die Sakralisierung der Person in gleich doppelter Weise, nämlich in der Sensibilisierung gegenüber der Grausamkeit sowohl des Verbrechens als auch des Strafens (vgl. ebd.: 97). Was genau aber ist – bei Durkheim und Joas – mit der ›Sakralität der Person‹ gemeint?

5 | Ausgeklammert wird im Folgenden die Frage, in welchem Ausmaß Durkheims Sozialtheorie selbst die ontologischen und normativen Prämissen des modernen Menschenrechtsdiskurses teilt; vgl. dazu Koenig 2002 sowie jüngst Chernilo 2013: 168.

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(a) Zunächst zum Objekt der Sakralisierung, der ›menschlichen Person‹. An diesem Punkt liegt Joas mit Durkheim noch ganz auf einer Linie. Der ›Kult des Individuums‹, den schon der frühe Durkheim in der französischen Erklärung der Menschenrechte bzw. den Prinzipien von 1789 artikuliert sah (vgl. z.B. Durkheim 1970 sowie ders. 1992: 227), bezieht sich nicht auf das am eigenen Nutzen orientiert rational handelnde Individuum (›egoistischer Individualismus‹), sondern auf das in moralische bzw. solidarische Bindungen eingebettete Individuum (›moralischer Individualismus‹).6 Diesen Gedanken teilt Joas; und um ihn zu unterstreichen, knüpft er terminologisch an Traditionen des Personalismus an, die für die Renaissance der Menschenrechte in der Mitte des 20. Jahrhunderts bekanntlich keine unwichtige Rolle spielten (vgl. Joas 2011: 85). Weder Durkheim noch Joas weisen jedoch im Detail nach, dass die in den revolutionären Verfassungen oder später im Völkerrecht institutionalisierten Menschenrechte tatsächlich von einer derartigen Konzeption des Individuums inspiriert sind. Vom 18. bis ins 20. Jahrhundert sind Menschenrechte ja stets auch anders verstanden worden – man denke nur an das (von Joas nicht zufällig kritisierte; vgl. ebd.: 37) republikanische Verständnis von Menschenrechten als Korrelat der Volkssouveränität in der französischen Menschenrechtserklärung, an das Verständnis von Menschenrechten als Kriterium zivilisatorischer Reife in Teilen der Völkerrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts (vgl. Koskenniemi 2001) oder auch an das neoliberale Verständnis der Menschenrechte in der amerikanischen Außenpolitik des späten 20. Jahrhunderts (vgl. dazu Dezelay/Garth 2006). Weder Durkheim noch Joas machen die Kontroversen um den normativen Sinn der Menschenrechte aufgrund ihrer methodischen Vorentscheidungen indessen selbst zum Gegenstand historisch-soziologischer Analyse. Ihre wertende Stellungnahme scheint sie vielmehr bereits auf eine der Deutungsvarianten festzulegen, die moralisch-individualistische bzw. personalistische nämlich, während andere als »Verfallsform« (vgl. Joas 2011: 85) bezeichnet werden. (b) Wie aber steht es um die Qualität der ›Sakralität‹, die der menschlichen Person zugesprochen wird? Den Begriff des Heiligen übernimmt Joas aus Durkheims reifer Religionssoziologie, gibt ihm aber einen eigenen Zuschnitt. In grober Verkürzung einer inzwischen hochdifferenzierten Sekundärliteratur (vgl. nur Pickering 1984; Strenski 2006; Tarot 2008) lässt sich Durkheims Theorie des Heiligen folgendermaßen zusammenfassen: Der Begriff des Heiligen dient ihm zunächst dazu, die bindende Kraft der Moral (vgl. z.B. 6 | Durkheim selbst verwendet hierfür, teils angeregt durch die Arbeiten von Marcel Mauss, übrigens dezidiert den Begriff der ›Person‹; vgl. dazu Karsenti 2006, bes. 31 u. 211. Zum zeitgeschichtlichen Kontext von Durkheims ›Kult des Individuums‹ vgl. auch Goldberg 2011.

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Durkheim 1976: 84-136) und damit wiederum die Grundlagen sozialer Solidarität zu erklären (vgl. Rosati 2003: 175). So wie dem Heiligen die grundlegende Ambivalenz von Furcht und Liebe innewohne, trete uns auch die Moral doppelt, nämlich als Pflicht und als das Gute, entgegen. Beides – das Heilige und die Moral – verweise aber letztlich auf die Gesellschaft, die dem Individuum als Autorität gegenüberstehe, ihm gleichzeitig aber auch erstrebenswert erscheine. In Die elementaren Formen des religiösen Lebens (Durkheim 1981) geht Durkheim noch einen Schritt weiter und leitet die Religion, verstanden als kollektiv geteiltes und auf die Unterscheidung von Heiligem und Profanem aufgebautes System von Überzeugungen und Praktiken, aus der Erfahrung ›kollektiver Efferveszenz‹ her. Den Gedanken der Erfahrung des Heiligen als einer den Einzelnen ergreifenden Kraft macht sich auch Joas zu eigen, gibt ihm aber eine eher subjektivistische Wendung: »Die Qualität ›Sakralität‹ wird Objekten spontan zugeschrieben, wenn sich eine Erfahrung eingestellt hat, die so intensiv ist, daß sie das gesamte Weltbild und das Selbstverständnis derer, die diese Erfahrung gemacht haben, konstituiert oder transformiert.« (Joas 2011: 93) Mit dem Begriff des Heiligen versucht Joas also die subjektive Evidenz und affektive Intensität einzufangen, die für die starke Bindung an Werte charakteristisch sei. Einen für Durkheims Theorie des Heiligen entscheidenden Gedanken lässt Joas dabei stillschweigend fallen, den nämlich, dass jene Kraft, deren intensive Erfahrung der Zuschreibung von Sakralität zu Grunde liegt, ›die Gesellschaft‹ ist!7 Die damit bereits anklingenden Differenzen in der Theorie des Heiligen werden in der Konzeption der ›Sakralität der Person‹ nur umso deutlicher. Auch der ›Kult des Individuums‹ ist für Durkheim nämlich letztlich Ausdruck der Bindung an die Gesellschaft. Ganz unmissverständlich formuliert er: »Die Gesellschaft hat sie [die menschliche Person, M.K.] geheiligt. Dieser Heiligenschein, der den Menschen umgibt und ihn vor frevelhaften Eingriffen schützt, eignet dem Menschen nicht von Natur aus; er ist die Art und die Weise, in der die Gesellschaft den Menschen denkt, die nach außen projizierte und objektivierte Hochachtung, die sie ihm gegenwärtig entgegenbringt. […] [D]er moralische Individualismus ist in Wahrheit das Werk der Gesellschaft. Sie ist es, die ihn errichtet hat. Sie ist es, die den Menschen zu einem Gott erhoben hat, dessen Dienerin sie geworden ist.« (Durkheim 1976: 106)

Anders als noch in den Frühschriften, wie beispielsweise der ArbeitsteilungsStudie (Durkheim 1992), behauptet Durkheim nun gar, der ›Kult des Indivi7 | Dabei ist zu beachten, dass Durkheim den Zusammenhang von Gesellschaft und Heiligem bzw. Religion in beide Richtungen kausal interpretieren, also sowohl die gesellschaftliche Bedingtheit religiöser Symbole als auch die religiöse bzw. symbolische Konstitution der Gesellschaft akzentuieren kann; vgl. dazu insgesamt Strenski 2006.

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duums‹ sei das sozialintegrative Glaubenssystem moderner Gesellschaften. Nimmt man Durkheims Religionssoziologie ernst, so können diese kursorischen Auslassungen zum ›Kult des Individuums‹ nicht anders denn als unscharf bezeichnet werden. Schon nach Durkheims eigener Religionsdefinition lässt sich der ›Kult des Individuums‹ – so sehr er sein gläubiger Anhänger gewesen sein mag (so Prades 1990) – gerade nicht als Religion ausweisen. Dass es in modernen Gesellschaften ein kohärentes System von Glaubensüberzeugungen gibt, das auf den Wert der Menschenwürde und die Normen der Menschenrechte bezogen ist, könnte man noch konzedieren. Rituale, die die kollektiven Gefühle, die dem stets ambivalenten Heiligen zu Grunde liegen, regelmäßig revitalisierten, lassen sich schon schwerer dingfest machen.8 Und erst recht fehlt dem ›Kult‹, wie die Kontroverse um Dreyfus ja sehr anschaulich zeigt, die kollektive Verbindlichkeit. Dieses Problem konstatiert auch Joas in der bereits 2004 andernorts erschienenen Erstfassung seines Durkheim-Kapitels: »Zwar handelt es sich bei der Menschenwürde nicht einfach um ein moralisches Postulat, eine normative Forderung, sondern um ein affektiv besetztes Ideal. Aber einen eigentlichen Kult im Sinne außeralltäglicher Rituale oder eine eigentliche Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen hat diese ›Religion‹ nicht.« (Joas 2004: 165) Joas nimmt dies aber zum Anlass für eine noch weitergehende Kritik an Durkheim. Aufgrund seines »programmatischen Atheismus« (ebd.: 156) habe dieser nämlich übersehen, dass religiöse Traditionen im engeren Sinne, insbesondere die jüdisch-christliche Tradition, den Wert der universalen Menschenwürde nicht bloß historisch vorbereitet hätten, sondern ihn auch in modernen Gesellschaften zu stärken vermöchten (ebd.: 166). Damit aber gibt Joas sowohl dem Begriff des ›Heiligen‹ als auch dem der ›Sakralisierung der Person‹ eine eigene Wendung, die ihn zu Durkheims Programm in erhebliche Distanz bringt. Diese Differenzen zeigen sich dann ganz offensichtlich bei der historisch-soziologischen Erklärung, die Durkheim und Joas jeweils für diese ›Sakralisierung der Person‹ anbieten.

3. H istorisch - soziologische E rkl ärungen der ›S akr alisierung der P erson ‹ bei D urkheim und J oas Auch wenn Joas moniert, Durkheim habe keine eigentliche Theorie der ›Sakralisierung der Person‹ ausgearbeitet (Joas 2011: 98), lassen sich bei diesem zwei Argumentationsstränge ausmachen, die immerhin erste Ansätze einer 8 | Für manche Interpreten zielt Durkheims metaphorische Rede von der ›Sakralität der Person‹ nicht auf eine ›Religion der Menschheit‹ im Sinne Auguste Comtes, sondern auf die Moral als funktionales Äquivalent zur Religion; so etwa Pickering 1984: 498.

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Erklärung enthalten. Beide beziehen Wertewandel grundsätzlich auf Veränderungen der gesellschaftlichen Struktur. In den Frühschriften, auf die auch Joas eingeht (vgl. ebd.: 89), argumentiert Durkheim, dass Bevölkerungswachstum und Verdichtung sozialer Interaktion Prozesse der Arbeitsteilung in Gang setzten, in deren Folge sich das kollektive Bewusstsein auf nichts anderes mehr habe richten können als auf die menschliche Person (vgl. Durkheim 1992). In den späteren Schriften, insbesondere in Physik der Sitten und des Rechts (Durkheim 1991), entfaltet Durkheim indessen noch ein anderes, eher rechtssoziologisches Argument, das Joas nicht weiter thematisiert. Dieses setzt die Institutionalisierung der Menschenrechte dezidiert in Verbindung mit der Expansion der Staatsgewalt. Anders als der vormoderne Staat, der sich durch einen ›Kult des Staates‹ legitimiert habe, basiere der moderne Staat auf dem ›Kult des Individuums‹. Aber nicht nur das; es sei gerade die zentrale Funktion des Staates, die partikularen kollektiven Kräfte zu neu­ tralisieren und damit die individuelle Persönlichkeit zu befreien (ebd.: 93). Durkheim versteigt sich hier sogar zu der Aussage: »Je stärker der Staat, desto größer die Achtung vor dem Individuum.« (ebd.: 85) Gewiss, der moralische Individualismus strebe – parallel zu zunehmender Arbeitsteilung – letztlich zu kosmopolitischem Universalismus; vorerst aber seien Menschenwürde und Menschenrechte mit Patriotismus, jedenfalls in dessen französischer Variante, verschränkt, und zwar mit guten Gründen. Nur die nationalstaatlich verfasste Gesellschaft besitze nämlich die nötige Autorität über das Individuum, um es zu befreien (vgl. ebd.: 109).9 Von beiden Argumentationslinien könnte Joas’ eigene Erklärungsstrategie kaum weiter entfernt sein. Das funktionalistische Argument lehnt er (zu Recht) mit dem Hinweis ab, dass es die subjektive Bindung an die Werte des moralischen Individualismus nicht hinlänglich erklären könne (vgl. Joas 1997: 107). Und auch das staatstheoretische Argument dürfte ihm angesichts seiner Kritik an Rousseau und seiner Zustimmung zu Jellinek suspekt sein (vgl. in diese Richtung auch Joas 2000: 108). Joas’ eigene Theorie der ›Sakralisierung der Person‹, wie sie in den historisch-soziologischen Kapiteln skizziert wird, setzt entsprechend grundsätzlich anders an. Der Begriff der ›Sakralisierung der Person‹ dient ihm zunächst zur Bezeichnung einer »tieferliegenden kulturellen Transformation« (Joas 2011: 63), der stets Gefährdungen drohten, die bis heute unabgeschlossen sei und die nur im Zusammenspiel von Werten, 9 | Der ›Kult des Individuums‹ ist insofern mit dem ›Kult der Nation‹, der in Frankreich eine lange Tradition hat (vgl. Bell 2001), eng verschränkt. Für das internationale Recht interessiert man sich im Umfeld der Durkheim-Schule nicht von ungefähr nur am Rande, etwa bei Léon Duguit oder Georges Scelle, die versuchten, völkerrechtliche Prinzipien aus den ›Fakten‹ des (welt-)gesellschaftlichen Lebens, aus Interdependenz und Solidarität, zu begründen; vgl. dazu Koskenniemi 2001: 297 u. 331.

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Institutionen und Praktiken stabilisiert werden könne (vgl. ebd.: 280). Mit der Formel der ›Sakralisierung der Person‹ versucht Joas also zunächst lediglich einen hochkomplexen Prozess synthetisch auf den Begriff zu bringen. Seine theoretische Erklärungsstrategie besteht darin, diesen Prozess – anders als Durkheim und ganz auf der Linie einer für Kontingenz und multiple Kausalität sensiblen historischen Soziologie – in distinkte Teilprozesse zu zerlegen. Eine wichtige Gruppe von Teilprozessen bildet dabei die rechtliche Institutionalisierung von Menschenrechten, wie beispielsweise in den französischen und amerikanischen Menschenrechtserklärungen oder in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948. Sie sind nach Joas aus dem Zusammenwirken mehrerer Bedingungen zu erklären, nämlich zum einen aus den Werten verschiedener Akteursgruppen und zum anderen aus deren Macht- und Interessenkonstellationen (vgl. Joas 2011: 49). Im Fall der amerikanischen Bill of Rights verweist Joas beispielsweise auf das Bündnis radikal-protestantischer Bewegungen mit aufklärerischen Eliten und auf pragmatische Motive der kolonialen Religionspolitik (ebd.: 52; vgl. dazu auch Koenig 2012); und auch bei der Universal Declaration von 1948 berücksichtigt er zumindest implizit, dass neben der wertegeneralisierenden Vermittlung verschiedener Begründungstraditionen auch politische Motive die Gestalt des verabschiedeten Dokuments geprägt hätten (vgl. ebd.: 277). Im Rahmen seiner Diskussion des Sklavereiverbots im 19. Jahrhundert führt Joas darüber hinaus noch eine weitere Randbedingung ein, nämlich die Herausbildung transnationaler Öffentlichkeiten, kommunikativer Netzwerke und Organisationsformen (ebd.: 143), also die Entstehung eines weltgesellschaftlichen Horizonts. Joas’ eigentliches Interesse gilt aber, wie einleitend angedeutet, nicht der Erklärung der Institutionalisierung der Menschenrechte, sondern der vorgelagerten Frage, wie überhaupt die Wertbindung an die Menschenwürde, die ja eine der notwendigen Bedingungen für die Institutionalisierungsdynamik ist, erklärt werden kann. Für diese Frage bietet Joas in seiner Diskussion der abo­ litionistischen Bewegung eine ebenfalls auf multiple Bedingungen gestützte Erklärung. Eine erste Bedingung sei, dass universalistische Moralansprüche in einer Tradition, hier der christlichen Tradition, schon vorhanden seien und, wie in den Erweckungsbewegungen, motivational intensiviert würden. Eine zweite Bedingung tritt hinzu, nämlich die »sozialstrukturell verursachte Ausdehnung der kognitiven Attribution moralischer Verantwortlichkeit« (Joas 2011: 143), wobei Joas den im 19. Jahrhundert entstehenden Welthandel im Blick hat. Dieser Gedanke eines Zusammenhangs von sozialstruktureller Entwicklung und Wertewandel lässt sich übrigens als ausgesprochen fruchtbare Weiterentwicklung Durkheimscher Einsichten in einem pragmatistischen

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Rahmen lesen.10 Beide Bedingungen hätten zusammen genommen die Transformation traumatischer Erfahrungen in eine intensive affektive Bindung an universalistische Werte ermöglicht. Politisch erfolgreich habe sie dann, wie oben bereits erwähnt, aufgrund der entstandenen transnationalen Sozialräume sein können.11 Anders als Durkheim verfolgt Joas also, um es zusammenzufassen, eine handlungstheoretisch fundierte Erklärungsstrategie, die die Genese bindender Werte, deren rechtliche Institutionalisierung und, was hier eher am Rande anklingt, deren Verankerung in alltäglichen Praktiken (vgl. aber Joas 2004: 162f.) durch analytische Zerlegung multipler kausaler Wirkungszusammenhänge rekonstruiert. Damit aber entsteht die Frage, was für die historisch-soziologische Erklärung genau damit gewonnen ist, die untersuchten Teilprozesse nochmals synthetisch in der Formel der ›Sakralisierung der Person‹ zu bündeln. Auf einem ganz anderen Blatt steht übrigens, welchen Ertrag diese historisch-soziologische Erklärung noch für die Frage der Wertbegründung abwirft.

4. W ege zu einer S oziologie der M enschenrechte Im letzten Schritt sei abschließend in aller Kürze der spezifische Beitrag von Joas’ Theorie der ›Sakralisierung der Person‹ zur eingangs angesprochenen Forschungsdebatte zur Soziologie der Menschenrechte benannt. Dabei bietet es sich an, den Blick zunächst auf andere soziologische Theorien zu richten, die sich, inspiriert von Durkheims Soziologie des Sakralen, für die Deutung und Erklärung der Institutionalisierung von Menschenrechten sowie ihrer Folgen interessieren. Um einen direkten Anschluss an die durkheimianische Tradition bemühen sich gegenwärtig Vertreter einer Kultursoziologie des Sakralen (vgl. Lynch 2012). Jene Tradition hatte sich spätestens seit Roger Caillois stets auch für die Ambivalenz des Heiligen interessiert; und so treten aus ihrer Perspektive – stärker als in einer ›affirmativen Genealogie‹ – auch die Ambivalenzen in den Blick, die mit der Sakralisierung universalistischer Werte wie Menschenwürde und Menschenrechte einhergehen. Tatsächlich ist die globale Institutionalisie10 | Vgl. in diesem Zusammenhang auch Luc Boltanskis Überlegungen zu kulturellen Repertoires des Umgangs mit dem Leiden distanziert Fremder (Boltanski 1993). 11 | Neuere Forschungen gehen noch einen Schritt weiter und erklären die Genese transnationaler humanitärer Bewegungen aus den Interessenkonflikten innerhalb des britischen Kolonialreichs zwischen politischen und ökonomischen Eliten einerseits und zunehmend religiös radikalisierten christlichen Missionaren andererseits; so Stamatov 2010.

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rung der Menschenrechte in vielen Regionen der Welt ja von scharfen Konflikten um die Definition kollektiver Identität und von Krisen sozialer Solidarität begleitet.12 Für deren Erklärung ließen sich Einsichten einer an Durkheim anschließenden Kultursoziologie des Sakralen durchaus fruchtbar machen. Einen eher indirekten Anschluss an Durkheim bietet demgegenüber die neo-institutionalistische Stanford School um John W. Meyer (z.B. Meyer 2010), die in dreißig Jahren sorgfältiger Forschung eine Fülle empirischer Befunde zur Institutionalisierung der Menschenrechte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geliefert hat. Ausgiebig hat sie die globale Verankerung der Menschenrechte in völkerrechtlichen Konventionen (Cole 2005 u. 2006; Koenig 2008; Hafner-Burton 2012), in Verfassungen (Boli 1987; Heintz/Schnabel 2006; Beck u.a. 2012) und anderen Institutionen dokumentiert. Sie hat die daraus entstehenden Legitimationsgrundlagen und Anpassungszwänge für Nationalstaaten beschrieben. Vor allem aber hat sie den globalen Aufstieg der Menschenrechte als Bestandteil einer langfristigen kulturellen Transformation interpretiert, in der innerweltlichen Akteuren – Staaten, Organisationen und vor allem Individuen – Handlungsmacht (agency) zugeschrieben wurde. Diese theoretische Erklärung liegt insofern auf Durkheims Linie, als auch sie einen Zusammenhang der Entstehung der Weltgesellschaft und eines in den Menschenrechten sich artikulierenden ›Kults des Individuums‹ behauptet (so explizit Elliot 2007). Sie setzt den Akzent dabei allerdings weniger auf die affektive Bindung an Werte, sondern – ganz in der wissenssoziologischen und phänomenologischen Lesart, die gerade die neueren Durkheim-Interpreten in den Vordergrund rücken – auf die routinisierte Bindung an ein kognitives Klassifikationssystem, an dem sich Akteure orientieren, ohne dass dies allerdings notwendigerweise mit einem Wandel alltäglicher Praktiken einhergehen muss.13 Beide theoretische Perspektiven – und es handelt sich hier nur um einen kleinen Ausschnitt aus der reichen Forschungsliteratur zur Soziologie der Menschenrechte – beleuchten wichtige Phänomene, die in Joas’ Buch Die Sakralität der Person allenfalls am Rande thematisiert werden. Sie lassen umgekehrt aber auch Joas’ eigenen Beitrag zur Soziologie der Menschenrechte deutlicher hervortreten. Dieser besteht darin, die Frage der historisch-soziologischen Rekonstruktion der Entstehung intensiver Bindungen an den Wert der Menschenwürde und entsprechender Motivationen zur Verwirklichung 12 | Am Beispiel der Spannungen zwischen der in den Menschenrechten imaginierten Gemeinschaft der Menschheit, missionierenden axialen Religionsgemeinschaften und klassisch Durkheim’schen Stammesreligionen in Afrika verdeutlicht dies Swidler 2010. 13 | Zu diesem Problem der Entkopplung von formeller Übernahme als legitim wahrgenommener Menschenrechtsnormen einerseits und tatsächlicher Menschenrechtspraxis andererseits vgl. nur Hafner-Burton/Tsutsui 2005.

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der Menschenrechte in den Vordergrund gerückt zu haben. Diese Frage wird in der soziologischen Literatur zu den Menschenrechten, die sich stärker auf die Dynamik ihrer Institutionalisierung konzentriert, oftmals schlicht übergangen. Zu Recht weist Joas demgegenüber darauf hin, dass die rechtlichen Institutionen einer immer wieder neuen Verlebendigung der ihnen zu Grunde liegenden Werte bedürfen. Das handlungs- und erfahrungstheoretisch fundierte Erklärungsmodell, mit dem Joas am Beispiel der abolitionistischen Bewegung die Bindung an universalistische Werte rekonstruiert, ließe sich mit großem Gewinn auf viele andere Bewegungen zur Durchsetzung spezifischer Menschenrechte anwenden, von der Frauenbewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts (vgl. Berkovitch 1999) über das amerikanische Civil Rights Movement (vgl. Dudziak 2011) bis hin zur Bewegung zum Schutz indigener Bevölkerungen (vgl. Niezen 2003). Es erschiene äußerst lohnend, solche verschiedenen Bewegungen systematisch miteinander zu vergleichen, um Joas’ Erklärungsmodell zu prüfen bzw. weiter zu spezifizieren. Dabei wären, auch wenn dies für das Programm der ›affirmativen Genealogie‹ dann weniger relevant erscheinen mag, insbesondere auch solche Bewegungen von Interesse, denen kein Erfolg beschieden war; gerade an ihnen ließen sich nämlich notwendige Bedingungen für Wertbindungen und deren Institutionalisierung präzisieren. Dabei würde man notgedrungen auch auf die oben erwähnten konkurrierenden (liberalen und personalistischen) Interpretationen des normativen Gehalts der Menschenrechte eingehen müssen. Man würde natürlich auch gegenläufige Prozesse der Sakralisierung – insbesondere des Staates oder der Nation – historisch-soziologisch schärfer in den Blick nehmen müssen, die im Rahmen von Joas’ ›affirmativer Genealogie‹ lediglich als ›Gefährdungen‹ erscheinen.14 Und man würde den verschiedenen institutionellen Artikulationen individueller Rechte – als Staatsbürgerrechte und als völkerrechtlich geschützte Menschenrechte – sowie deren gesellschaftsstrukturellen Grundlagen größere Aufmerksamkeit widmen. All das wäre mit Joas’ Erklärungsmodell nicht nur bestens kompatibel, sondern würde auch dessen Potenzial, die vorhandenen, z.B. neo-institutionalistischen, Erklärungsansätze komplementär zu ergänzen, deutlicher vor Augen treten lassen. Insofern ist zu hoffen, dass es in der soziologischen Debatte zu den Menschenrechten produktiv aufgegriffen, weiterentwickelt und vor allem in konkrete historische und empirische Forschung überführt wird.

14 | Durchaus geht Joas allerdings im Kontext seiner Überlegungen zu (kriegerischen) Konflikten um letzte oder höchste Werte auf Spannungen zwischen Menschenrechten und staatlicher Souveränität ein; vgl. Joas 2000: 43-45.

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Sakralisierung des Strafrechts? Zur Renaissance der Rechts- und Moralsoziologie Émile Durkheims 1 Bijan Fateh-Moghadam

1. E inführung : S akr alisierung – ein neues M asternarr ativ ? Die Frage nach den Interdependenzen von Recht und Religion wurde in den letzten Jahrzehnten aus kulturgeschichtlicher und religionssoziologischer Perspektive überwiegend unter Rückgriff auf den Begriff der Säkularisierung beantwortet (vgl. Rémond 2000; Hübinger 2008). Mit der Krise der Säkularisierungstheorie (vgl. nur die Beiträge in: The Hedgehog Review 2006 und die aktuellen Sammelbände Gabriel u.a. (Hg.) 2012 sowie Willems u.a. (Hg.) 2013), die in der Gegenwartsdiagnose einer ›Rückkehr der Religionen‹ (vgl. Riesebrodt 2001; Graf 2004; Koschorke 2013) auf eine die öffentliche Wahrnehmung prägende Formel gebracht wurde, gewinnt dagegen die Kategorie der Sakralisierung als – je nach Lesart – Gegen- oder Komplementärbegriff zur Säkularisierung disziplinübergreifend an Bedeutung. Dies gilt auch und gerade für aktuelle Bestandsaufnahmen zum Verhältnis von Recht und Religion, in denen die Rede von der Säkularität des Verfassungsstaates unweigerlich den Gegenbegriff der Sakralität auf den Plan ruft (vgl. Dreier 2013). Die Behauptung einer permanenten Sakralisierung des Rechts und die Vorstellung von in das moderne Recht eingeschriebenen säkularen Tabus bilden dabei einen wechselseitigen Verweisungszusammenhang. Beide Denkfiguren – ›Sakralisierung‹ 1 | Erweiterte Fassung eines Beitrags, der unter gleichem Titel in: Felix Hafner/Anne Kühler/Jürgen Mohn (Hg.): Interdependenzen von Recht und Religion (Reihe ›Diskurs Religion‹), Würzburg: Ergon (i.V.) erscheint. Er ist im Kontext der Arbeitsgruppe ›Säkulare Tabus‹ entstanden, deren gemeinsame Ergebnisse in Form eines Autorenbandes (Thomas Weitin/Michael Neumann/Bijan Fateh-Moghadam/Thomas Gutmann: Säkulare Tabus, i.V.) publiziert werden. Der Verfasser dankt allen Mitgliedern der Arbeitsgruppe.

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und ›säkulare Tabus‹ – stehen in einem mehrdeutigen Verhältnis zum Begriff der Säkularisierung. Wenn der Rechtshistoriker Dietmar Willoweit die globale Rechtsgeschichte vom Alten Ägypten bis in die Gegenwart als eine Sakralisierungsgeschichte rekonstruiert (Willoweit 2013), scheint dies zunächst zu bestätigen, dass die Kritik am Masternarrativ der Säkularisierung inzwischen selbst zu einem Masternarrativ avanciert (vgl. Pollack 2011: 482). Ausgehend von der Prämisse eines anthropologischen Bedürfnisses nach einer höheren, außerrechtlichen Legitimation des positiven (Gesetzes-)Rechts, stellen sich Willoweit alle Transformationen und Umbrüche in der Rechtsgeschichte als Verschiebungen und Übertragungen von Sakralität dar: von der ägyptischen Göttin Ma’at (vgl. Assmann 2006)2, über das theologische Naturrecht und Gottesgnadentum, das aufgeklärte Vernunftrecht, das ideologische Recht im real existierenden Sozialismus und im Nationalsozialismus, bis hin zum modernen Rechts- und Verfassungsstaat mit seinem ›Glauben‹ an vorstaatliche Menschenrechte (Willoweit 2013: 162).3 Die Geschichte der Säkularisierung wird gewissermaßen in ihr Gegenteil verkehrt, um – mit einem Diktum des Historikers Gangolf Hübinger gesprochen – »die Moderne als panreligiöse Glaubensgeschichte neu zu vermessen« (Hübinger 2008: 93). Gleichzeitig verwirklicht sich mit der Umstellung von Säkularisierung auf Sakralisierung eine von Hans Blumenberg markierte Tendenz, die dem Begriff der Säkularisierung selbst innewohnt. Indem dieser immer schon einen Bezug zur Religion herstellt, sei es auch nur im Sinne einer Verlusterfahrung, sperrt er sich gegen die These eines neuzeitlichen Bruchs im normativen Selbstverständnis der Moderne. Stattdessen begibt sich der religiöse Beobachter, den der »neuzeitliche Anachronismus des Säkularisierungstheorems« voraussetzt, auf die Suche nach Verbindungslinien zwischen theologischer und moderner Normenbegründung. Im Extremfall erscheint letztere dann lediglich als »Umbesetzung authentisch theologischer Gehalte in ihre säkulare Selbstentfremdung« (Blumenberg 1996: 75). Säkularisierung und Resakralisierung bilden insoweit kein Gegensatzpaar, sondern verhalten sich komplementär zueinander. Eine alternative Relation zwischen archaischer Mythologie, Religion und Recht stellen strukturfunktionalistische Ansätze her, die in modernen Rechtsinstituten zwar keine Substanztransformation religiöser Gehalte identifizieren, ihnen jedoch eine funktional äquivalente Rolle für die normative Integration der Gesellschaft zuschreiben. Für einen funktionalistischen Sa­ kralisierungsbegriff, dessen Pointe darin besteht, auch kategorial Unterschied2 | Assmann erkennt indes mit Hinweis auf Kant ausdrücklich eine Zäsur an, nach der die Moral auf eine neue – säkulare – Grundlage gestellt wird (Assmann 2002: 66). 3 | Als vorläufig letzte Stufe des Sakralisierungsprozesses identifiziert Willoweit den ›Glauben an die Wissenschaft‹ und eine wissenschaftliche Rechtfertigung des Rechts ausweislich der Zunahme der Bedeutung der wissenschaftlichen Politikberatung.

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liches vergleichbar zu machen, stellt sich dann aber die Frage, was der Begriff des Sakralen noch unterscheiden soll, wenn alles sakral ist: theologisches Naturrecht, aufgeklärtes Vernunftrecht, Kommunismus, Kapitalismus usw.4 Der analytische Gehalt des Begriffs der Sakralisierung und seine Leistungsfähigkeit für eine Theorie und Soziologie des Strafrechts sollen im Folgenden am Beispiel der von Hans Joas im Anschluss an Émile Durkheim ausgearbeiteten Theorie der ›Sakralisierung der Person‹ im modernen Strafrecht (Joas 2004: 151-168; 2006; 2011: 63-107) diskutiert werden. Ein besonderes Augenmerk wird dabei darauf liegen, wie sich in Joas’ Durkheim-Lektüre die Relation von Religion und Recht von einer strikt struktur-funktionalistischen (Durkheim) zu einer (wenn auch nur in einem eingeschränkten Sinne) inhaltlichen Verbindung (Joas) verschiebt.

2. M enschenwürde und F olter als säkul are Tabus ? Hans Joas zielt mit seiner These der ›Sakralisierung der Person‹ im modernen Strafrecht einerseits auf eine kultursoziologische Deutung der Entstehung und Durchsetzung der Menschenrechte, andererseits aber auch auf die Explikation ihrer spezifischen Funktion in der Produktion von Unverfügbarem in modernen Rechtsordnungen. Zentrale Bezugspunkte sind dabei die Unantastbarkeit der Menschenwürde und das Verbot der Folter. Im Diskurs über die Zulässigkeit der sogenannten Rettungsfolter, also in Konstellationen wie derjenigen der Folterandrohung durch den Frankfurter Polizeipräsidenten Daschner im Fall Gäfgen und in den sogenannten ticking bomb-Szenarios vom Typ der US-amerikanischen Fernsehserie ›24‹, verbindet sich gemäß einer Formulierung des Staatsrechtlers Josef Isensee »das Tabu der Folter […] mit dem Tabu der Menschenwürde« (Isensee 2006: 190). Es ist also eine Situation der Krise der Normenbegründung, in der die Gewissheit um die Geltung des absoluten Folterverbots bereits verloren gegangen ist und in der sich sowohl für die Kritiker als auch für die Bewahrer eines ausnahmslosen Folterverbots die Frage stellt, wie sich der kategorische, abwägungsfeste Charakter der Menschenwürde in einer säkularen Rechtsordnung begründen lässt. Die Qualifikation des Folterverbots als Tabu bildet dann gewissermaßen die Kehrseite der Deutung des modernen Menschwürdeverständnisses als Prozess der ›Sakralisierung der Person‹. Umschreibt die Menschenwürde einen Bereich, der gemäß dem Wortlaut des Art.1 Abs.1 GG nicht angetastet werden darf, so liegt es schon semantisch nahe, das

4 | Plausibel erscheint dies eben nur im Kontext einer funktionalen Bestimmung des Begriffs des Sakralen, ähnlich wie im Falle des ›Glaubens‹ in Max Webers Begriff des ›Legitimitätsglaubens‹.

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Eindringen in diesen Bereich als Sakrileg und die Folter damit als ein säkulares Tabu zu verstehen. Genau in diesem Sinne eines religiös fundierten Berührungsverbotes deutet Hans Joas die Reformen des Strafrechts und der Strafpraxis, die zum »Verschwinden der Folter als eines legitimen Instruments aus der europäischen Strafjustiz« (Joas 2011: 63) geführt haben. Er erkennt im gesamten Prozess der Entstehung und Durchsetzung der Menschenrechte nicht eine Folge des Rechtediskurses, sondern den »Ausdruck einer tiefreichenden kulturellen Verschiebung, durch die die menschliche Person selbst zum heiligen Objekt wird« (Joas 2011: 81), und damit einen Prozess der »Sakralisierung der Person« (vgl. ebd.: 81-101). Dieses Paradigma richtet sich in der Rekonstruktion von Hans Joas ausdrücklich gegen jene von ihm als »gefährlich« apostrophierten »Prozessbegriffe« der Rationalisierung, Differenzierung und Modernisierung, die den Kern der Säkularisierungstheorie bilden: »In meiner Sicht können wir die Geschichte der Menschenrechte nicht als Säkularisierungs-, Rationalisierungs- oder Differenzierungsgeschichte verstehen, sondern nur als eine neuartige Sakralisierung, nämlich die der Person.« (Joas 2012: 621) Die Entwicklung des modernen Rechtsstaats wird nicht länger als ›Vorgang der Säkularisation‹ (Böckenförde 2006), sondern als Prozess der ›Verschiebung von Sakralisierungen‹ interpretiert. Joas’ Auffassung darf deshalb jenen rechtstheoretischen Ansätzen zugerechnet werden, die moderne Rechtsinstitute im Zuge einer historischen und kultursoziologischen Betrachtung in einen religiösen Deutungszusammenhang stellen, um so die andauernde Bedeutung der Religion für Genese, Geltung, Legitimation und Auslegung des modernen Rechts zu betonen. Zwar postuliert Joas keine direkte inhaltliche Kontinuität im Sinne einer Substanztransformation von religiösen Gehalten in moderne Rechtsinstitute wie die Menschenwürdegarantie (so etwa Stein 2007 und Isensee 2006). Mit der Umstellung von Säkularisierung und funktionaler Differenzierung auf Resakralisierung zielt Joas aber explizit darauf ab, die Möglichkeit einer tatsächlich religiösen Deutung des Ursprungs der ›Sakralität der Person‹ und des Fortbestandes religiöser Rückhalte der Menschenrechte zu erhalten (Joas 2011: 87). Diese »religiöse Pointe« des Sakralisierungsparadigmas radikalisiert sich in Form des von Joas gegen die Differenzierungstheorie verteidigten universellen Anspruchs der Religion auf »Gestaltung aller Kultursphären und Funktionssysteme«, der unmittelbar auf eine religiöse Imprägnierung des Rechts zielt (Joas 2012: 622). Maßgeblicher Anknüpfungspunkt der Sakralisierungsthese ist die Rechtsund Moralsoziologie Émile Durkheims. Joas’ Durkheim-Lektüre wird dadurch als Teil einer gegenwärtig zu beobachtenden Durkheim-Renaissance kenntlich, die den Begründer der modernen Soziologie in einer neueren Rezeptionslinie zugleich als Theoretiker der Menschenrechte feiert (Koenig 2002; 2008; Mül-

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ler 2009). Auffallend ist dabei, dass es vor allem die religiös konnotierten Begriffe Durkheims sind, die eine starke Anziehungskraft ausüben, namentlich der ›Kult des Individuums‹, die ›Religion des Individuums‹, das ›Sakrale‹ und das ›Tabu‹.5 Die entsprechenden Semantiken werden in der Staats6 - und Strafrechtswissenschaft aufgegriffen, etwa von Tatjana Hörnle, die von »körperbezogenen Tabus« spricht, wenn sie die Skepsis zu charakterisieren versucht, mit der die Öffentlichkeit auf die Kommerzialisierung des Körpers reagiert (Hörnle 2007: 186), oder von Kurt Seelmann, der eine »Verlagerung des Tabus ins Subjekt« (Seelmann 2010) beobachtet, um den strafrechtlichen Schutz der Unverfügbarkeit der Persönlichkeit durch sogenannte Verhaltensdelikte auf den Begriff zu bringen. Hans Joas und seine rechtswissenschaft­lichen Rezipienten knüpfen relativ unvermittelt an diese religiösen Semantiken an und beuten deren Versprechen sozialer Kohäsion aus. Es ist augenfällig, dass sie in diesem Kontext den Zusammenhang mit Durkheims Moral- und Rechtssoziologie zwar betonen (vgl. Joas 2011: 89), aber nicht systematisch entfalten. Der Grund dafür liegt offenbar in einer radikalen Differenz, die das Verhältnis betrifft, das die Sakralisierungsbegriffe von Joas und Durkheim zur Säkularisierungstheorie unterhalten.7 Im Folgenden wird dieser Differenz nachzugehen sein, bevor abschließend die Probleme und Widersprüche aufgezeigt werden, die durch die rechtswissenschaftliche Adaption sowohl der Durkheim’schen als auch der Neo-Durkheim’schen Theorie der ›Sakralität der Person‹ auf den Plan treten. Beiden Möglichkeiten wird eine alternative Sichtweise entgegengehalten, die die Autonomie des Rechts betont.

5 | Als Ausdruck einer Renaissance der Soziologie des Sakralen darf man ferner die deutsche Neuedition der Texte des Collège de Sociologie deuten (Hollier (Hg.) 2012). 6 | Der Staatsrechtler Günter Frankenberg stellt die Frage, ob wir es bei der Rückkehr der Folter in ihren neuen und alten Formen mit »Verletzungen eines Tabus, eines quasisakralen Verbots, durch dessen Normalisierung« (Frankenberg 2010: 276) zu tun hätten. Diese Frage scheint er positiv zu beantworten, wenn er den Teufel ins Spiel bringt, mit dem diejenigen, die die Folter legitimieren, einen Pakt schlössen (ebd.: 309). 7 | Dies geschieht nicht im Gestus der Entlarvung, da Hans Joas, unzweifelhaft einer der besten Kenner Durkheims, diesen Unterschied selbst betont, aber zugleich relativiert (vgl. Joas 2012: 617-619).

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3. D ie ›S akr alität der P erson ‹ in der S tr afrechtssoziologie É mile D urkheims 3.1 Differenzierung: Der ›Kult des Individuums‹ als theorienotwendige Fiktion Um die Denkfigur einer ›Sakralität der Person‹ adäquat einordnen zu können, ist es sinnvoll, zunächst danach zu fragen, welches Problem Durkheim mit ihr lösen wollte. Der ›Kult des Individuums‹ bildet Durkheims Antwort auf das zentrale theoretische Bezugsproblem seiner Moralsoziologie, nämlich die Frage nach der Herstellung gesellschaftlicher Solidarität vor dem Hintergrund fortschreitender struktureller Differenzierung und Pluralisierung: Wie ist soziale Integration möglich, wenn »alle sozialen Bande, die der Ähnlichkeit entstammen, allmählich ihre Kraft verlieren« (Durkheim 1992: 228)? Da die in seinem frühen Buch Über soziale Arbeitsteilung (Durkheim 1992) gegebene Antwort der ›organischen Solidarität‹, die auf eine Art ›moralischen Polymorphismus‹ auf intermediärer Ebene hinausläuft (vgl. Durkheim 1999: 18; vgl. dazu Müller 2009), offensichtlich defizitär ist, steht Durkheim vor einer fundamentalen Weichenstellung in seiner Theoriebildung. Entweder er akzeptiert, dass die Integration moderner Gesellschaften nicht länger durch Moral erfolgt, sondern vielmehr durch eine Art systemisches Gleichgewicht der unterschiedlichen Funktionen arbeitsteiliger Gesellschaften, wie das in seiner Analyse der Effekte sozialer Arbeitsteilung bereits angelegt war (vgl. Durkheim 1992: 228)8 – oder es gelingt ihm im Wege einer radikalen Wertegeneralisierung, einen moralischen Wert zu identifizieren, der die moderne Gesellschaft zusammenhält. Dieses Dilemma macht sichtbar, dass es sich bei der zivilreligiösen Figur des ›Kults des Individuums‹ geradezu um eine »durch theoretische Dispositionen erzwungene Erwartung« (Luhmann 1981: 301) handelt, wie Niklas Luhmann es zuspitzt: »Wenn es keine Zivilreligion gäbe, müsste die Theorie sie erfinden.« (ebd.: 301) Der letzte Wert, auf den sich eine zunehmend individualisierte Gesellschaft noch einigen kann, so Durkheims genialer Ausweg, ist das Individuum selbst.9 Es sind also nicht nur der politisch-praktische Hintergrund der Dreyfus-Affäre, sondern vor allem theoretische Vorentscheidungen, aus denen sich die berühmt gewordene Pathosformel von der ›Religion des Individuums‹ aus Durkheims Aufsatz Der Individualismus und die Intellektuellen aus dem Jahr 1898 erklärt (Durkheim 1986). Es ist 8 | Es gibt kein anderes soziales Band als jenes, das sich aus der Arbeitsteilung ableitet. Solidarität wird rein organisch: »Die Arbeitsteilung übernimmt immer mehr die Rolle, die früher das Kollektivbewußtsein erfüllt hatte.« (Durkheim 1992: 228) 9 | Bemerkenswerterweise hatte Durkheim diese Lösung in seiner Frühschrift noch ausdrücklich abgelehnt (vgl. Durkheim 1992: 227).

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diese Formulierung, die den zentralen Bezugspunkt der Neo-Durkheim’schen Theorie der ›Sakralität der Person‹ bildet:

»Diese menschliche Person […] wird als heilig betrachtet, sozusagen in der rituellen Bedeutung des Wortes. Sie hat etwas von der transzendenten Majestät, welche die Kirchen zu allen Zeiten ihren Göttern verleihen; man betrachtet sie so, als wäre sie mit dieser mysteriösen Eigenschaft ausgestattet, die um die heiligen Dinge herum eine Leere schafft, die sie dem gewöhnlichen Kontakt und dem allgemeinen Umgang entzieht. Und genau daher kommt der Respekt, der der menschlichen Person entgegengebracht wird. Wer auch immer einen Menschen oder seine Ehre angreift, erfüllt uns mit einem Gefühl der Abscheu, in jedem Punkt analog zu demjenigen Gefühl, das der Gläubige zeigt, der sein Idol profanisiert sieht. Eine solche Moral ist also nicht einfach eine hygienische Disziplin oder eine weise Ökonomie der Existenz; sie ist eine Religion, in der der Mensch zugleich Gläubiger und Gott ist.« (Durkheim 1986: 56f.)

Die spezifische Verwendungsweise des Religionsbegriffs in Durkheims These vom Individualismus als Religion der Moderne wird im Folgenden näher zu charakterisieren sein. Dass diese nicht auf ›echte‹ Religion – mit Transzendenzbezug – zielt, deutet sich an, wenn man nach den Konsequenzen der Umstellung des Modus moralischer Integration auf den Individualismus für die Evolution des Strafrechts fragt. Dieser Frage geht Durkheim in seinem zwei Jahre später publizierten strafrechtssoziologischen Aufsatz Deux lois de l’évolution pénale (Durkheim 1900)10 nach; und seine nur auf den ersten Blick überraschende Antwort besteht im Kern darin, dass die ›Sakralisierung der Person‹ mit einer Säkularisierung der Strafrechtsgüter einhergeht.

3.2 Säkularisierung: Religiöse und menschliche Verbrechen Verbrechen sind für Durkheim, wie er in seinem Buch zur sozialen Arbeitsteilung darlegt, allgemein dadurch gekennzeichnet, dass sie »starke und bestimmte Zustände des Kollektivbewußtseins« (Durkheim 1992: 129) verletzen. Der Zentralbegriff des Kollektivbewusstseins zielt auf »die Gesamtheit der gemeinsamen religiösen Überzeugungen und Gefühle im Durchschnitt der Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft« (ebd.: 128). Zu einem Verbrechen wird eine menschliche Verhaltensweise gemäß Durkheim dann und nur dann, wenn sie bei den Mitgliedern der Gesellschaft tief sitzende Gefühle verletzt und eine moralische Empörung hervorruft, die nach Bestrafung und nicht lediglich nach einer schwächeren sozialen Reaktion verlangt (vgl. dazu Garland 1994: 29). Die Funktion der Strafe ist es demgegenüber, »den sozialen Zusam10 | Längere Passagen werden im Folgenden nach der englischen Übersetzung (Durkheim 1969) zitiert.

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menhalt aufrechtzuerhalten, indem sie dem gemeinsamen Bewußtsein seine volle Lebensfähigkeit erhält« (Durkheim 1992: 159). Das einzige Mittel, dieses gemeinsame Bewusstsein aufrechtzuerhalten, ist ein authentischer Akt, der nur darin bestehen kann, »dem Täter Schmerzen zuzufügen, der einhelligen Ablehnung, die das Verbrechen auch weiterhin hervorrufen wird, Ausdruck zu verleihen« (ebd.). Strafe ist für Durkheim nichts anderes als die symbolische Demonstration der Geltung der Normen des »Kollektivbewußtseins« (vgl. Durkheim 1984: 206). Mit der Betonung der kommunikativen Funktion von Strafe entwickelt Durkheim einen modernen soziologischen Gedanken, an den heute strafrechtswissenschaftliche Theorien der positiven Generalprävention bzw. »normorientierte expressive Straftheorien« (Hörnle 2011: 30) anschließen. Da Kollektivbewusstsein und gesellschaftliches Straf bedürfnis wechselseitig aufeinander bezogen sind, kann die von Durkheim beschriebene radikale Transformation des Inhalts des Kollektivbewusstseins vom gemeinsamen Glauben an heilige Gegenstände, Götter und religiöse Werte auf die abstrakte Würde der Person nicht ohne Auswirkungen auf die Struktur des Strafrechts und die Praxis der Strafe selbst bleiben. Die differenzierungsbedingte Umstellung des Kollektivbewusstseins auf den Individualismus leitet vielmehr einen Prozess der Säkularisierung der Strafrechtsgüter ein, der sich in Durkheims Terminologie in einer Verschiebung von religiösen Verbrechen (criminalité religieuse) zu menschlichen Verbrechen (criminalité humaine) ausdrückt (Durkheim 1900: 86; 1969: 51-59). In archaischen Gesellschaften dominieren religiöse Verbrechen, da Verstöße gegen die heilige Ordnung stets einen religiösen Charakter besitzen. In dem Maße, indem der Staat seine Macht religiös legitimiert und als eine Art Priester über die Einhaltung der religiösen Gebote wacht, stellen sich auch und gerade Angriffe auf die Einrichtungen des Staates als religiöse Verbrechen dar. Verbrechen gegen die Religion werden als besonders verwerflich und zugleich als besonders gefährlich angesehen, da im Falle der Verletzung eines religiösen Gebots mit einer göttlichen Strafe zu rechnen ist, die die gesamte Gemeinschaft trifft. Religiöse Verbrechen rufen daher die heftigste gesellschaftliche Empörung hervor und verlangen nach besonders hohen und oft grausamen Strafen. Eine Begrenzung der Strafgewalt durch Verhältnismäßigkeit und Schuldprinzip ist dem religiösen Strafrecht fremd, denn eine strafrechtliche Reaktion auf die Beleidigung einer Gottheit steht nie außer Verhältnis: »What is an individual’s sorrow, when it is a matter of appeasing a god?« (Durkheim 1969: 54) Mit der paternalistisch-theologischen Rechtfertigung der Folter im Rahmen der Inquisition ließe sich ergänzen: Was ist

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das körperliche Leiden des Gefolterten auf Erden, wenn damit das Seelenheil der Person gerettet werden kann?11 Diese Tendenz zu unverhältnismäßiger Bestrafung schwindet erst mit der Säkularisierung der Strafrechtsgüter, wenn es also nur noch um die Reaktion auf die Verletzung irdischer Rechtsgüter durch ›menschliche Verbrechen‹ geht. Für unseren Zusammenhang ist entscheidend, dass dieser Säkularisierungseffekt auch für Straftaten gegen die Person gelten soll. Der moralische Skandal der Verletzung einer Person ist weniger empörend als die Verletzung einer Gottheit und fordert daher auch eine weniger repressive Reaktion (vgl. Durkheim 1969: 54). Dies ist zunächst überraschend, da die Person in der Durkheim’schen Religion der Moderne in der Weise an die Stelle der alten Heiligtümer zu treten scheint, dass ihre Verletzung ein Gefühl der Abscheu erzeugen müsste, die »in jedem Punkt analog zu demjenigen Gefühl [ist], das der Gläubige zeigt, der sein Idol profanisiert sieht« (Durkheim 1986: 57). Dass Durkheim diese Konsequenz in seiner Strafrechtssoziologie gerade nicht zieht, liegt darin begründet, dass die ›Sakralität der Person‹ ungeachtet der religiösen Rhetorik selbst keinen religiös-transzendenten Charakter besitzt:12 »To explain the respect we feel for humanity, there is no need to suppose that it is imposed upon us by some external power superior to humanity.« (Durkheim 1969: 55) Straftaten gegen die Person sind in modernen Gesellschaften in der Terminologie Durkheims der weltlichen Kriminalität und nicht den religiösen Verbrechen zuzuordnen. Erst mit der so vollzogenen Säkularisierung der Strafrechtsgüter wird der Weg zu einer Humanisierung der Strafpraxis frei. Indem sie die kategoriale Asymmetrie zwischen verletzter göttlicher Ordnung und zu bestrafendem Menschen aufhebt, wird die Unverhältnismäßigkeit der Strafe denkbar. Angesichts der zentralen moralischen Bedeutung, die dem Schutz der Person in modernen Gesellschaften beigemessen wird, erscheint die Humanisierung der Strafpraxis gerade bei Delikten gegen die Person nach dem bisher Gesagten allerdings keineswegs als notwendig. Insoweit gewinnt indes ein interaktionstheoretisches Element an Bedeutung, das Durkheims Straftheorie als überaus komplex und modern ausweist 11 | Vgl. dazu auch Weitin 2012. Günter Frankenberg notiert in diesem Zusammenhang: »Die Rechtfertigungsnarrative der Inquisition führten das Rettungsmotiv im christlichen Gewande einer paternalistischen Form des moralischen Perfektionismus ein. Folter sollte die Seele des Sünders, nötigenfalls auch gegen seinen Willen, aus den Fängen des Teufels reißen.« (Frankenberg 2010: 290; mit Hinweis auf Forst (Hg.) 2000: 78). 12 | Der moralische Individualismus Durkheims ist vielmehr eng an der kantischen Vorstellung vom ›Recht der Menschheit in unserer eigenen Person‹ orientiert, die nicht einem utilitaristischen Nutzenstreben des Einzelnen das Wort redet, sondern vor allem moralische Pflichten generiert.

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(instruktiv dazu Garland 1994: 45). Durkheim nimmt die kollektiven »emotionalen Energien« (zum Begriff vgl. Collins 2004: 102-140) der Zeugen von Verbrechen und Strafe in den Blick, konstatiert also die Bedeutsamkeit des Umstandes, dass sich Kriminalität, Strafverfolgung und Strafvollstreckung vor einem Publikum abspielen. Das oben beschriebene Verlangen nach Strafe ist ein Ausdruck des Kollektivbewusstseins, das eine überindividuelle Realität sui generis bildet, so dass der Einzelne gewissermaßen von der Gesamtheit hingerissen wird. Dies geschieht besonders eindrücklich in Situationen kollektiver Erregung wie der Ekstase im Rahmen von religiösen Ritualen, mithin in Vorgängen, die Durkheim in seiner Religionssoziologie als »effervescence collective« (Durkheim 1968: 323f.)13 beschreibt und an die Randall Collins Theorie der Interaktionsrituale (Collins 2004) anschließt.14 Da sich aber in modernen Gesellschaften sowohl das Verbrechen als auch die Strafe gegen die Person und damit gegen den moralischen Kern der Ordnung richten, nimmt die Strafpraxis – das ist die Pointe der Durkheim’schen Erklärung der Humanisierung des Strafrechts – einen irreduzibel widersprüchlichen Charakter an (vgl. dazu Durkheim 1969: 55): Dieselben Empfindungen des Kollektivbewusstseins, die nach Bestrafung verlangen, werden in modernen Gesellschaften durch grausame Bestrafungen und Folter verletzt. Dieselben moralischen Gefühle, die verletzt werden, wenn eine Person Opfer einer Straftat wird, verwandeln sich im Angesicht des Leidens des Straftäters in Sympathie, wenn dieser Opfer grausamer Strafen wird. Dieselbe Ursache, die den repressiven Strafapparat in Bewegung setzt, bremst diesen zugleich. Dasselbe Bewusstsein bewegt uns zu Strafen und dazu, diese Strafen humaner auszugestalten. Dieses Dilemma, bei dem sich das Bild einer Art evolutionsbiologischer Beißhemmung aufdrängt, ist unauflösbar und kann nach Durkheim nur dadurch gemildert werden, dass die Strafe so weit wie möglich gemildert wird. 13 | In der gängigen deutschen Übersetzung von Ludwig Schmidts, die sowohl der Suhrkamp-Ausgabe von 1981 als auch der Ausgabe des Verlags der Weltreligionen im Inselverlag von 2007 zugrunde liegt, wird der Begriff mit »kollektive Wallung« übersetzt (Durkheim 1981: 310; 2007: 335). Der Begriff der Efferveszenz spielt in Die elementaren Formen des religiösen Lebens keine hervorgehobene Rolle; er steht neben Begriffen wie Erregung, Ekstase, Delirium, Raserei und der Entladung von Elektrizität, mit deren Hilfe Durkheim die tatsächliche emotionale Dynamik religiöser Rituale beschreibt. 14 | Das Konzept kollektiver Erregung und seine Funktion für die Stabilisierung von Normen ist mithin bereits in Durkheims früher Strafrechtssoziologie (Durkheim 1992: 118-161; 1969; 1984: 214) angelegt. In seinen späteren religionssoziologischen Schriften kann er hieran anknüpfen, ohne dass man darin eine »Akzentverschiebung des Durkheim’schen Denkens in puncto Moral und Politik« (so Terrier 2013: 511) erblicken müsste.

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3.3 Rationalisierung: Die ›Sakralität der Person‹ als Ausdruck ›laiischer Moral‹ In der Gesamtschau wird sichtbar, dass Durkheim im Rahmen seiner Moralsoziologie nichts weniger entwickelt als eine soziologische Theorie der Säkularisierung der Normenbegründung im Strafrecht. Seine Deutung der historischen Entwicklung der durch das Strafrecht geschützten Rechtsgüter als Prozess der Verweltlichung und Rationalisierung liegt dabei ganz auf der Linie der Strafrechtsphilosophie der Aufklärung und ihrer Rezeption in der sich im 19. Jahrhundert herausbildenden modernen Strafrechtswissenschaft. Der historische Prozess der Humanisierung des Strafrechts ist gemäß Durkheim unmittelbar der fortschreitenden Differenzierung, Rationalisierung und Säkularisierung der Gesellschaft zu verdanken und damit letztlich Teil eines umfassenden Modernisierungsprozesses. Seine Strafrechtssoziologie läuft also genau auf diejenigen »gefährlichen Prozessbegriffe« (Joas 2012) hinaus, denen Joas den Kampf angesagt hat. Entgegen dem ersten Anschein muss die auf der ›Sakralität der Person‹ auf bauende moralische Integration der Gesellschaft bei Durkheim als eine gesellschafts-immanente Konzeption, als Ausdruck einer »laiischen Moral« (Durkheim 1984: 57), verstanden werden, die sich nicht von einem religiösen Ursprung, einem Gott oder einer sonstigen transzendenten Größe ableitet. Durkheims Stoßrichtung ist radikal anti-religiös, insbesondere anti-konfessionell und anti-klerikal.15 Wenn Durkheim die individualistische Moral der Moderne als eine Religion beschreibt, in der »der Mensch zugleich Gläubiger und Gott« (Durkheim 1986: 57) ist, dann muss das vor allem als Kampfansage an den Antimodernismus der katholischen Kirche der Dritten Republik gelesen werden, die sich aber in ihrer Konsequenz gegen sämtliche theistischen Religionen richtet.16 Der Mensch als ›Gläubiger und Gott zugleich‹ ist der neuzeitliche, seine Ordnung in ›humaner Selbstbehauptung‹ (Hans Blumenberg)

15 | »If today there are still many minds to whom the criminal law and, more generally, all morality, are inseparable from the idea of God, nonetheless their number is diminishing, and those who still cling to this archaic conception do not link the two ideas so closely as Christians did in the earlier ages. Human morality increasingly throws off its primitively confessional character.« (Durkheim 1969: 57) 16 | Wenn Steven Lukes neuerdings fragt, ob Durkheims Religionsverständnis mit dem Glauben vereinbar sei (Lukes 2013), so scheint mir dies eine theologische Fragestellung zu sein, auf die gerade eine Religionssoziologie in der Tradition Durkheims keine sinnvolle Antwort geben kann.

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erschaffende Mensch, der aller religiösen Bindungen entledigt ist und den Menschen selbst in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Ordnung stellt.17 Eine »Sakralität mit Transzendenzbezug« (Joas 2012: 618), die sich als Kritik an einem modernisierungstheoretischen Säkularisierungsverständnis versteht, ist mit Durkheim dagegen nicht zu haben. Damit entfällt aber die gesellschaftstheoretische Basis der Sakralisierungstheorie von Joas. Sofern diese nicht allein auf echte Religion (vgl. ebd.: 622) gestützt werden soll, bleibt als Begründungsressource die Betonung emotionaler ritueller Erfahrungen für den Prozess der Entstehung von Menschenrechten (vgl. Joas 2011: 108-146). Es ist deshalb zu fragen, ob das Konzept ›kollektiver Efferveszenz‹, das Durkheim am Beispiel archaischer Anwesenheitskulturen entwickelt hat, tatsächlich einen Beitrag zur Erklärung der Evolution des Rechts in modernen Gesellschaften leisten kann.

4. D as F olterverbot als e volutionäre E rrungenschaf t des R echts 4.1 Kontrafaktizität: Probleme des Durkheim’schen Rechtsbegriffs Durkheims Rechts- und Strafrechtsbegriff ist unmittelbar an die Anerkennung durch die Normunterworfenen gekoppelt. Ablesen lässt sie sich an einer empirisch beobachtbaren, besonderen emotionalen Bewegung, nämlich der kollektiven Empörung angesichts von Straftaten. Auch Joas hält daran fest, dass die Empörung der sicherste Indikator für die Verletzung zentraler Werte bleibe und dass das Verbrechen im Sinne des Strafrechts eine solche Verletzung darstelle (vgl. Joas 2011: 102). Ein solcher Rechtsbegriff, den man in Deutschland vor allem mit Durkheims Zeitgenossen Eugen Ehrlich und dessen Anerkennungstheorie des Rechts verbindet (vgl. Ehrlich 1913: 132), hat sich indes in der Rechtssoziologie aus guten Gründen nicht durchsetzen können. Kollektive ›emotionale Energien‹ sind weder zu messen noch zu prognostizieren, so dass ein anerkennungstheoretischer und sozialpsychologischer Rechtsbegriff hochgradig unbestimmt bleiben muss. Darüber hinaus besteht in der pluralistischen Moderne regelmäßig gerade kein Konsens darüber, was Empörung verdient, wie etwa die unterschiedlichen gesellschaftlichen Reaktionen auf die Mohammed-Karikaturen der dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten im Jahr 2005 verdeutlichen. Will sich der soziologische Rechtsbegriff nicht radikal pluralisieren, so muss er sich von seiner empirischen Anerkennung ebenso 17 | Zur exemplarischen Bedeutung von Goethes Faust-Figur für die neuzeitliche ›Last‹ der Selbstbehauptung vgl. Weitin 2013: 29-38.

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emanzipieren wie von seiner empirischen Befolgung. In avancierten soziologischen Theorien des Rechts geschieht das einerseits durch die Betonung der Institutionalisierung des Rechts und der Möglichkeit seiner zwangsweisen Durchsetzung (vgl. Weber 1980: 17), andererseits und vor allem aber durch die Umstellung des Rechtsbegriffs von beobachtbaren Verhaltensmustern im Sinne der Lehre vom »lebenden Recht« (Ehrlich 1913: 33) hin zur Struktur normativen Erwartens (vgl. Luhmann 1972: 40-65 u. 105; 1993: 133-164). Rechtliche Erwartungen können notfalls auch gegen eine ›massiv anders gerichtete Realität‹ – kontrafaktisch – durchgehalten werden. Mit einer lakonischen Bemerkung von Niklas Luhmann: »Die Geschichte der Menschenrechte, lanciert in einer Gesellschaft mit Sklaverei, mit massenhaften Enteignungen politischer Gegner, mit drastischen Einschränkungen der Religionsfreiheit, kurz: in der amerikanischen Gesellschaft um 1776, zeigt, daß es möglich ist.« (Luhmann 1993: 34: vgl. dazu Gutmann 2013: 470) Die erfolgreiche Stabilisierung normativer Erwartungen setzt allerdings, insoweit kann der Zwangstheorie des Rechts gefolgt werden, eine Institution voraus, die mit der exklusiven Zuständigkeit für die Formulierung, Archivierung und Durchsetzung gesellschaftsweit verbindlicher (Rechts-)Normen ausgestattet ist. Für einen solchen Prozess der Ausdifferenzierung und Verselbständigung des Rechts ist es entscheidend, dass das Recht die Entstehung, Geltung und Durchsetzung von Rechtsnormen in eigene Regie nimmt. Zeichnen sich moderne Rechtsordnungen dadurch aus, dass die Bedingungen für die Geltung von Rechtsnormen selbst durch rechtliche Normen geregelt sind, so gilt, »dass Recht ist, was das Recht als Recht bestimmt« (Luhmann 1993: 143). Die Institutionalisierung normativen Erwartens in Form der Ausdifferenzierung eines sich selbst stabilisierenden Rechtssystems ermöglicht dann aber gerade eine radikale Distanz gegenüber solchen individuellen und gruppenpsychologischen emotionalen Vorgängen, die Durkheim als ›kollektive Efferveszenz‹ beschreibt.18 Kollektive Efferveszenz und emotionale Energie bilden zugleich die zentralen Elemente von Randall Collins einflussreicher soziologischer Theorie der Interaktionsritualketten, die eine interaktionstheoretische Mikrofundierung der Entstehung des ›Kults des Individuums‹ leisten soll (vgl. Koenig 2008: 34). Danach wird das Auftreten von potenziell strukturbildenden kollektiven emotionalen Erregungszuständen wahrscheinlich, wenn in einer gesellschaftlichen Situation vier Voraussetzungen erfüllt sind: Erforderlich ist zunächst die körperliche Ko-Präsenz von mindestens zwei Personen 18 | Joas räumt ein, dass die leidenschaftliche gesellschaftliche Reaktion auf Straftaten durch den Rechtsstaat in Prozeduren gefasst und damit in emotionaler Hinsicht kanalisiert werden muss (vgl. Joas 2011: 102), wodurch das systematische Problem seines Ansatzes indes nicht gelöst, sondern nur offensichtlicher wird (vgl. Weitin 2013: 120).

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(vgl. Collins 2004: 53-65). Diese Gruppe muss sich zweitens eindeutig nach außen abgrenzen, also über entsprechende In- und Exklusionsmechanismen verfügen, und drittens ihre Aufmerksamkeit auf einen gemeinsamen Gegenstand fokussieren. Viertens schließlich muss innerhalb der Gruppe eine geteilte emotionale Stimmung herrschen. Ein solches vergleichsweise einfach gebautes Modell ist auf Interaktionen unter Anwesenden zugeschnitten. Die wichtigsten empirischen Anwendungsbeispiele bilden folgerichtig überschaubare Anwesenheitskulturen, etwa die sexuelle Interaktion von Liebespaaren und das Rauchen. Den Anspruch einer mikrosoziologischen Fundierung von Makrophänomenen, den Collins darüber hinaus erhebt, löst die Untersuchung dagegen nicht überzeugend ein. Inwiefern Interaktionsritualketten die Genese und Funktionsweise von normativ anspruchsvollen Rechtsinstituten wie der Menschenwürde erklären sollen, bleibt im Dunkeln. So dürfte sich die Interaktionstheorie von Collins zwar für die Beschreibung der Entstehung eines sogenannten Lynchmobs eignen, eine Form kollektiver Aufwallung, die man zuletzt in den deutschen Kleinstädten Leck und Emden beobachten konnte (vgl. Ostendorf u.a. 2012).19 Die Bedingungen der Möglichkeit einer Rechtsordnung, die – gegen den massiven Druck der öffentlichen Meinung – dem verurteilten Kindermörder Gäfgen eine Entschädigung wegen der rechtswidrigen Androhung von Folter zugesteht, erfasst sie dagegen nicht.20 Die Vorfälle in Leck und Emden, wo die Forderung nach der Wiedereinführung der Todesstrafe für ›Kinderschänder‹ und die Idee des Verwirkens von Menschenrechten in kurzer Zeit breite Unterstützung in der Bevölkerung gefunden hatten, zeigen zudem, dass sich eine Theorie der Menschenrechte auf überaus dünnes Eis begibt, wenn sie sich von einem empirisch beobachtbaren ›Glauben‹ an die Menschenrechte und von emotionalen Werterfahrungen der Bevölkerung in Praktiken kollektiver Erregung abhängig macht. Dies bestätigen auch neuere empirische Erkenntnisse der Verhaltenspsychologie und Entscheidungstheorie, wonach wir uns nicht auf unsere moralischen Gefühle verlassen können, wenn es darum geht, schwere Menschenrechtsverletzungen durch Genozide zu verhindern. Vielmehr komme es auf die Stärkung rechtlicher und institutioneller Mechanismen zur Durchsetzung der Menschenrechte an (vgl. Slovic 2007: bes. 91). Das absolute Folterverbot in modernen Gesell19 | Zum Lynchmob als Ausdruck kollektiver Efferveszenz vgl. Garland 2010: 30. Garland weist darauf hin, dass viele der den Lynchmob kennzeichnenden Elemente auch für den Vollzug der Todesstrafe in Amerika gelten. 20 | Vgl. Landgericht Frankfurt, Neue Juristische Online Zeitung 2012: 54-65; Landgericht Frankfurt, Neue Juristische Wochenschrift 2005: 692-696 sowie Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Neue Juristische Wochenschrift 2010: 3145-3150.

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schaften mit Joas als einen kollektiv geteilten Wert zu betrachten, auf deren Verletzung die Gemeinschaft mit moralischer Empörung reagiert, ist daher schon empirisch nicht überzeugend. Wesentlich näher liegt die Frage, warum sich ein rechtlich verfasstes absolutes Folterverbot gegen die moralischen Intuitionen der Bevölkerung durchsetzen kann.

4.2 Komplexität: Die notwendige Unschärfe des Sakralisierungsbegriffs Das Konzept der ›Sakralität der Person‹ erweist sich im Übrigen als zu unbestimmt, um die rechtliche Struktur und Funktion der Menschenwürdegarantie in der Konstellation der Rettungsfolter soziologisch angemessen zu beschreiben. Dies ergibt sich aus den oben dargestellten widersprüchlichen Auswirkungen der ›Sakralisierung der Person‹ in strafrechtlichen Kontexten. Hängt das Durchhalten des Folterverbots davon ab, ob in der ›kollektiven Efferveszenz‹ die Empörung über die Straftat oder über die grausame Behandlung des Täters die Oberhand gewinnt, so entspricht das kaum der Struktur eines kategorischen Folterverbots. Eine Pointe, auf die bereits Christoph Möllers (Möllers 2011: 51) hingewiesen hat, besteht denn auch darin, dass Joas den Fall der Rettungsfolter in der Konstellation des Frankfurter Polizeipräsidenten Daschner ausdrücklich eher als »tragische Abwägungsentscheidung« (Joas 2011: 103) deutet, also als einen Fall, in dem das Folterverbot seiner Ansicht nach gerade nicht abwägungsfest gelten soll. Die ›Sakralität der Person‹ versagt als Garantie der Menschenwürde dann aber gerade in den Situationen, auf die es heute ankommt. Bei distanzierterer Betrachtung zeigt das Beispiel, dass die zivilreligiöse Unterstellung eines gesellschaftlichen Wertekonsenses unscharf bleiben muss, wenn sie als übergreifendes kulturelles Deutungsmuster funktionieren soll: Darauf, dass die Würde der Person besonderen Schutz verdient, kann man sich einigen; ob daraus ein absolutes Verbot der Rettungsfolter folgt, ist bereits umstritten. Die rechtliche Bedeutung dessen, worauf die ›Sakralität der Person‹ verweist, bedarf daher teilsystemischer Operationalisierungsleistungen des Rechts, so wie umgekehrt eine spezifisch religiöse Deutung der ›Sakralität der Person‹ nur im Religionssystem erfolgen kann. Dass sich ›das Würdige‹ insoweit nur noch polyperspektivisch beschreiben lässt, verdeutlicht ein Bild von Niklas Luhmann: »das neutrale Licht der Zivilreligion [muss] gebrochen und zerlegt werden, damit die Farben erscheinen, in denen die Teilsysteme je ihre Prinzipien darstellen« (Luhmann 1981: 304).

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4.3 Geschlossenheit: Das absolute Folter verbot als Errungenschaft neuzeitlichen Rechts Worauf die Analyse dieses Beitrags hinausläuft, ist eine Deutung der Humanisierung des Strafrechts und der Durchsetzung eines absoluten Folterverbots, die sich genau gegenläufig zur These der ›Sakralisierung der Person‹ in der Lesart von Hans Joas verhält: Das absolute Folterverbot, als kontrafaktischer normativer Imperativ, ist – nicht anders als die Figur subjektiver Rechte – die evolutionäre Errungenschaft eines ausdifferenzierten Rechtssystems, das sich von der moralischen, religiösen und politischen Kommunikation entkoppelt hat. Wie gezeigt, ist es gerade die Befreiung des Strafrechts von seiner religiösen Fundierung, die den Weg für seine Humanisierung im Zuge der globalen Durchsetzung der Menschenrechte frei gemacht hat. Die normative Struktur des Folterverbots als ein aus dem Menschenwürdegrundsatz folgendes kategorisches Rechtsprinzip ist Ausdruck einer postkonventionellen Moral (vgl. Gutmann 2010), die sich systemisch als juristische Moral gegen die ›Flut und Ebbe‹ der moralischen Intuitionen ausdifferenziert und sich gerade in Situationen ›kollektiver Efferveszenz‹ gegenüber dem Druck der Öffentlichkeit bewähren muss. Die mit der Menschenwürde gegebene Antwort auf das Problem der Begründung absoluter Verbote in säkularen Rechtsstaaten und die Theorie der Sakralisierung der Person unterscheiden sich dabei kategorial, da dem Sakralitätskonzept die Vorstellung individueller subjektiver Rechte, die den Ausgangs- und Endpunkt der Menschenrechtsdogmatik bilden, fremd ist oder jedenfalls äußerlich bleiben muss. Sakrale Objekte umgibt eine Aura, aus der ein – nicht weiter begründungsbedürftiges – Berührungsverbot im Sinne eines archaischen Tabus folgt. Der negativen Pflicht des Tabus korrespondiert dabei weder ein subjektives Recht, nicht verletzt zu werden, denn hierfür fehlt es bereits an einem Rechtssubjekt – die Formulierung ›sakrale Objekte‹ ist nicht zufällig –, noch wird die Sanktionierung des Tabubruchs durch subjektive Rechte des Tabubrechers begrenzt. Der Begriff der Sakralität entspricht somit der normativen Logik einer – primitiven – reinen Pflichtenethik, deren Überwindung eine entscheidende Voraussetzung für die Durchsetzung der Idee der Menschenrechte in der westlichen Rechtstradition bildete (vgl. Gutmann 2013: 450). Versteht man die Menschenwürde dagegen als Ausdruck des basalen Achtungsanspruchs, den sich Personen als Träger gleicher subjektiver Rechte wechselseitig schulden, so bedeutet dies, dass auch der Menschenwürdegrundsatz von einem Begriff des subjektiven Rechts her zu konstruieren ist. Die Würde einer Person zu verletzen, bedeutet ihren Anspruch auf Anerkennung als Rechtsperson, als Wesen mit einem »Recht auf Rechtfertigung« (Forst 2011: 120), zu negieren. Die Aufgabe des Schutzes der Subjektstellung von Personen als Rechtspersonen kann das Recht – und nur das Recht – erfüllen, sofern und

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solange ein autonomes Rechtssystem die Realität der Folter gemäß seiner eigenen Logik verarbeitet und die Grenzen zulässiger Strafen und strafprozessualer und polizeilicher Zwangsmittel positiv-rechtlich garantiert. Nur so steigen die Chancen, dass die Grenzen zulässiger staatlicher Gewaltanwendung nicht zum Gegenstand politischer Dezision werden, wie man das im US-amerikanischen ›Krieg gegen den Terror‹ beobachten kann. Säkularisierung im Sinne von funktionaler Differenzierung erweist sich somit als Bedingung der Möglichkeit, die Menschenwürde als ein kategorisches Rechtsprinzip – aus guten rechtlichen Gründen – zu garantieren. Als eine solche bloße Möglichkeitsbedingung garantiert die Herausbildung eines autonomen Rechtssystems freilich nicht die langfristige Sicherung eines bestimmten inhaltlichen Menschenrechtsstandards. Wie verhält sich der vorliegende Ansatz also zu den von Joas zu Recht betonten Gefährdungen des erreichten menschenrechtlichen Standards in der europäischen Strafrechtskultur (vgl. Joas 2011: 104-107)? Was hindert ein autonomes Rechtssystem daran, das absolute Folterverbot aufzugeben und die Menschenwürde utilitaristischen Kosten-Nutzen-Abwägungen zugänglich zu machen? Die Antwort variiert mit dem Abstraktionsgrad der Betrachtung. Vom Standpunkt abstrakter soziologischer Rechtstheorie ist das moderne positive Recht gerade durch seine jederzeitige Änderbarkeit gekennzeichnet, so dass es keine ›Ewigkeitsgarantie‹ für eine bestimmte rechtliche Deutung des Menschenwürdegrundsatzes geben kann. Nimmt man dagegen die Evolution konkreter Rechtsordnungen in den Blick, so wird deutlich, dass einmal aufgebaute rechtliche Grundstrukturen über ein beachtliches Potenzial der Selbststabilisierung verfügen, indem sie die Anschlussbedingungen formulieren, an die jede künftige rechtliche Entscheidung anknüpfen muss. So erzeugt etwa die rechtsintern – insbesondere durch die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – aufgebaute normative Funktionslogik der Menschenwürde als ein kategorisches Rechtsprinzip, das zugleich den ›Menschenwürdegehalt‹ der individuellen Grundrechte abwägungsfest abschirmt, erhebliche Widerstände gegen einen instrumentellen Umgang mit der Menschenwürde (vgl. dazu Gutmann 2010). Die Widerständigkeit des Grund- und Menschenrechtsstandards des Grundgesetzes, das den Menschenwürdegrundsatz über die ›Ewigkeitsgarantie‹ des Art. 79 Abs. 3 GG zusätzlich gegen politische Übergriffe immunisiert, bedeutet praktisch vor allem, dass diejenigen, die die Menschenwürde einer instrumentellen Abwägung öffnen möchten, erhebliche normative Argumentationslasten tragen. Mit der Last der Argumentation ist – neben der Orientierung an subjektiven Rechten – das zweite zentrale Element angesprochen, durch das sich moderne Rechtsinstitute von einem Konzept der ›Sakralisierung der Person‹ unterscheiden: Moderne Grund- und Menschenrechtsstandards sind, gerade weil ihr Fortbestand kontingent ist, immer wieder aufs Neue begründungs-

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bedürftig. Auch einmal erreichte normative Standards können sich nicht im Wege der Sakralisierung der rechtsinternen Suche nach guten – notwendig säkularen (vgl. dazu Huster 2002; Fateh-Moghadam 2014) – rechtlichen Gründen für ihre zukünftige Verfestigung oder Verflüssigung im positiven Recht entziehen. Die Last der Begründung von normativen Standards, der sich das Konzept der ›Sakralisierung der Person‹ entzieht, bildet das Fundament dessen, was Thomas Gutmann »normative Moderne« (Gutmann 2013: 448-453) nennt. Die Menschenwürde als Rechtsbegriff und das absolute Verbot der Folter sind durch gute Gründe motiviert und nicht durch kontrafaktisch behauptete diffuse emotionale Energien. Epochale moralische Unrechtserfahrungen, wie die durch die Nationalsozialisten begangenen Menschenrechtsverletzungen, gewinnen allenfalls dann langfristig eine gesellschaftsweit verbindliche Relevanz, wenn es gelingt, diese über rechtsinterne Operationen institutionell zu vermitteln. Das Medium für die Archivierung und Stabilisierung moralischer Erfahrungen ist in modernen Gesellschaften das positive Recht. Damit verbunden ist eine Transformation von moralischen Intuitionen in komplexe post-konventionelle rechtliche Begründungsniveaus, die außerhalb spezialisierter Funktionssysteme gar nicht zu leisten wäre. Ein solches Archiv bilden etwa, um ein greif bares Beispiel zu geben, die bislang 132 Bände der Amtlichen Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die die verfassungsrechtlichen Anschlussbedingungen für die Beantwortung der Frage formulieren, wie der Staat mit einem Menschen keinesfalls umgehen darf. Dass dies keine Garantie für langfristiges institutionelles Lernen aus den Erfahrungen historischen Unrechts bedeutet, wird insbesondere dann augenscheinlich, wenn man einen globalen Maßstab anlegt. Es dürfte vor allem die Aufgabe einer weiteren institutionellen Verankerung der Menschenrechte auf den Ebenen inter- und transnationaler Rechtsordnungen sein (vgl. dazu Walter 2012), deren grundsätzliche Bedeutung auch von Hans Joas nicht in Frage gestellt wird (vgl. Joas 2011: 281), von der der Erfolg des Projekts einer »globalen normativen Moderne« (Gutmann 2013; Schmidt 2013) abhängt.

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3. Menschenwürde und Gottesglaube Theologische Einordnungen

Affirmative Genealogie als existentieller Historismus Bemerkungen zur Troeltsch-Interpretation von Hans Joas Christian Polke

Wer ein wenig mit dem Werk von Hans Joas vertraut ist und sein Buch zur Genealogie der Menschenrechte mit dem Titel Die Sakralität der Person (Joas 2011) aufschlägt, mag dennoch etwas verblüfft sein, dass ausgerechnet ein lange Zeit weitgehend unbekannter protestantischer Theologe und Geschichtsphilosoph, nämlich Ernst Troeltsch, eine, wenn nicht die entscheidende Rolle bei der Herausarbeitung von Joas’ zentraler Idee der ›affirmativen Genealogie‹ spielt. Dabei mag es insbesondere die evangelische Theologie beschämen, wenn man sieht, wie konstruktiv Joas mit dem Werk von Troeltsch umgeht. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen,1 schien das Anliegen von Troeltsch endgültig gescheitert zu sein, den Historismus durch hermeneutisch-kritische Rekonstruktion von Geschichte samt der dabei leitenden normativen Erwägungen zu überwinden. Dieser Rezeptionsabbruch hat gewiss mit der »antihistoristischen Revolution« (F. W. Graf) und der einsetzenden theologischen Neuorientierung nach dem Ersten und dann nochmals verstärkt in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zu tun. Doch muss man feststellen, dass auch die für Troeltschs Werk eigentümliche Integration und Kombination von Einsichten aus Geschichtswissenschaft und Soziologie, Philosophie und Theologie lange Zeit nicht sonderlich genehm war. War Troeltsch den Theologen zu wenig theologisch, galt er den nicht-theologischen Kollegen als durch und durch kulturtheologisch infiziert. Schließlich unterließ er es nie, auf die geschichtliche Bedeutung religiöser Faktoren in seiner historischen Kultursoziologie des Christentums und der Moderne aufmerksam zu machen. So dauerte es lange, bis das fruchtbare, interdisziplinär aufgestellte Erbe dieses Ansatzes Nachfolger fand. Zu ihnen zählen in den USA H. Richard Niebuhr und Robert 1 | An erster Stelle unter diesen Ausnahmen steht das Werk von Trutz Rendtorff; vgl. nur seine bislang letzte Publikation zu Troeltsch: Rendtorff 2006.

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N. Bellah. Dabei darf der zuerst Genannte als der eigentliche Erbe Troeltschs gelten. Desweiteren wandeln David Martin und Charles Taylor auf dessen Spuren, wenngleich sich Taylor – soweit ich sehe – nirgends eingehender mit dem Werk von Troeltsch auseinander gesetzt hat.2 Und so gibt es gute Gründe, auch Hans Joas in die Liste dieser bedeutenden Namen aufzunehmen. Alle genannten Personen versuchen in ihren Schriften die Bedeutung von Religion, vornehmlich des Christentums, für die individuelle und mehr noch für die soziokulturelle Lebenswelt mittels einer historisch aufgeklärten Kultursoziologie herauszustellen. Dabei liegt ein beträchtliches Augenmerk auf den methodologischen, handlungstheoretischen und deswegen auch anthropologischen und ethischen Aspekten dieses Zugriffs. Für das Werk von Hans Joas rückt dabei in den letzten Jahren immer stärker das – von Durkheim prominent ins Spiel gebrachte (vgl. Joas 2011: bes. 81-99) – Sakralisierungstheorem in den Blick. Dieses genauer zu beleuchten, würde eine umfassende Untersuchung über diese Entwürfe erfordern, die schon dadurch erschwert wird, dass eine ganze Reihe von Texten im deutschsprachigen Raum kaum greif bar ist. Zudem sprengt es den mir vorgegebenen Rahmen. Im Folgenden soll daher das Augenmerk der Methode der ›affirmativen Genealogie‹ gelten, die Joas vor allem in der Auseinandersetzung mit Troeltsch und dessen Schrift Der Historismus und seine Probleme (Troeltsch 2008) entwickelt. Dabei geht es weniger um die Anführung von Detailkritik als um die Frage, inwiefern Joas für die Theologie weiterführende Anregungen bereithält.3 Daraus erklärt sich, warum an zwei Punkten – nämlich in Punkt (3) des ersten Abschnitts und dann im Schlussteil – die Auseinandersetzung mit Troeltsch und Joas durch die Einbeziehung des Werkes eines Dritten, nämlich H. Richard Niebuhrs, ergänzt wird. Meine Ausführungen möchten dabei das personalistische Ethos genauer beleuchten, das der Methode der ›affirmativen Genealogie‹ innewohnt und somit für den ›existentiellen Historismus‹ selbst essentiell ist.

1. Z wischen H istorismus und P r agmatismus Ernst Troeltsch gelesen durch Hans Joas Doch warum ausgerechnet Troeltsch? – Diese Frage drängt sich auf. Rückblickend auf die Entwicklung seines Werkes scheint sie jedoch für Joas nur als konsequent. Schon früh ist es die Bedeutung einer pragmatistischen Hand2 | Vgl. meine Rezension zu Taylors A Secular Age: Polke 2010. 3 | An anderer Stelle habe ich die Joas’sche Formel von der ›Sakralität der Person‹ mit dem Habermas’schen Konzept der ›Versprachlichung des Sakralen‹ untersucht; vgl. Polke 2013.

Affirmative Genealogie als existentieller Historismus

lungstheorie, die Joas seinen soziologischen Untersuchungen zugrunde legen will. Dem in der Rekonstruktion der Sozialphilosophie Meads (Joas 1980) und in der Theorie der Kreativität des Handelns (Joas 1992) dargelegten Zugriff entspricht auf der makrosoziologischen Ebene eine kontingenzsensible Theorie des sozialen Wandels, die Joas vornehmlich auf dem Gebiet der Entstehung der Werte (Joas 1997) nachgezeichnet und nun am Beispiel der Menschenrechte konkretisiert hat. Mit den Momenten von Kontingenz, Kreativität und der Werthaltigkeit menschlicher Erfahrungen und Handlungskontexte sind jene Schlüsselthemen benannt, die für ihn bei der Ausarbeitung einer geschichtlich informierten und auch moralisch geleiteten Sozialtheorie maßgeblich sind. Blickt man von hier aus in die Theoriegeschichte zurück, fällt auf, wie sehr diese Agenda den Fragestellungen von Ernst Troeltsch ähnelt. Diesem verdanken wir ganz analog verlaufende Reflexionen auf den Zusammenhang von Normativität und Geschichte, von konstruktiver Begründung von Werten im Wissen um ihre geschichtliche Gewordenheit. Auch Troeltsch ringt wie Joas um eine angemessene Würdigung des Faktors der Kontingenz als zentralem Problem der Geschichts- und Sozialtheorie. Davon handelt einer seiner programmatischen Aufsätze (Troeltsch 1913a). In ihm bündelt Troeltsch in nuce seine Ansichten zur Geschichtsmethodologie, zur Grundlegung der Ethik, zum Religionsverständnis und auch zu seiner prinzipiellen Ausrichtung in Fragen der Metaphysik. Alle diese Elemente gehen später in sein großes Historismuswerk ein und prägen es. Zieht man dies in Betracht, dann dürfte der Weg von Joas zurück zu Troeltsch nicht mehr ganz so überraschend sein, zeigen sich doch zahlreiche Parallelen sowohl im systematischen Aufriss wie im Vorgehen beider Denker. Und noch etwas kommt hinzu: Troeltschs massive Reserven gegenüber allen monistischen Systemfiguren, wie sie noch die von ihm bewunderten theologischen Vorgänger Hegel und Schleiermacher bemühten, wecken in ihm Sympathien für den amerikanischen Pragmatismus, insbesondere in der Gestalt von William James (vgl. Troeltsch 1913b). All dies teilt Joas, ist er doch einer derjenigen, die ganz maßgeblich für die Wiederentdeckung dieser philosophischen Tradition in Deutschland stehen. Deswegen kann er sich in der Kennzeichnung seiner eigenen kontingenzorientierten Theorie der Genealogie der Menschenrechte der Formulierung von Eduard Spranger bedienen und von einem »existentiellen Historismus« (Spranger 1969: 438) sprechen. Was bislang nur werkbiographisch skizziert wurde, soll nun etwas genauer in systematischer Hinsicht präzisiert werden. Drei Elemente sind es, die für eine deutliche Familienähnlichkeit von hermeneutisch verfahrendem Historismus und handlungstheoretisch aufgestelltem Pragmatismus sprechen. Jedes dieser Elemente belegt, wie eng Historismus und Pragmatismus durch ein

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›personalistisches‹ Moment verbunden sind,4 das in sachlicher wie formaler Hinsicht in Joas’ Theorie der ›Sakralität der Person‹ zum Tragen kommt. (1) Der erste Aspekt lässt sich am besten mit einem berühmten Buchtitel von John Dewey umschreiben: Die Suche nach Gewissheit.5 Demnach ist das Ringen um eine a-historische Gewissheit, einen lebensweltlich oder wissenschaftlich quasi-transempirischen Fluchtpunkt von Wirklichkeitserkenntnis, schon im Ansatz verfehlt. Es geht, wie Troeltsch formulieren würde, um eine »Selbstgewissheit ohne Zeitlosigkeit« (Troeltsch 2003: 267). Damit zielt er wie auch Mead oder Dewey auf eine Theorie der Erkenntnis von Werten und Überzeugungen, die mit der Einsicht in deren Historizität und dem stetigen Wandel, denen sie unterliegen, ebenso Ernst macht, wie sie an deren möglicher Objektivität festhält. Von einem Relativismus oder gar Skeptizismus kann also keine Rede sein. Die Suche nach Gewissheit kann aber auch nicht dadurch abgekürzt werden, dass man sich in eine abstrakte, zeitlose Vernunfttheorie flüchtet und diese den eigenen Forschungspraktiken unterlegt. Im Hinblick auf Wertüberzeugungen und basale Lebensgewissheiten gelingt deren reflexive Aufklärung und Analyse nur durch eine kreative Rückbesinnung auf diejenigen geschichtlichen Situationen, denen sie sich verdanken und die für anstehende Probleme zu deren Verständnis weiterführend sind.6 Beide Momente von Kreativität und Kritik können daher nicht im vorhinein als solche gerechtfertigt und gültig er4 | Die Geschichte der gegenseitigen Beeinflussung der philosophischen Strömungen von Personalismus, Historismus und Pragmatismus sowie der persönlichen Verbindungen ihrer Protagonisten stellt nach wie vor ein Desiderat der Forschung dar; vgl. zu Troeltsch und den Pragmatisten jetzt aber immerhin Jaeger 2006. 5 | Vgl. Dewey 2000; Dewey ist derjenige unter den klassischen Pragmatisten, der am weitesten historistisch-hermeneutische Methoden in sein Werk integriert hat. Das zeigt insbesondere seine Herangehensweise in Reconstruction in Philosophy (Dewey 2008) und Erfahrung und Natur (Dewey 2007). Zum Verhältnis Dewey und Troeltsch vgl. Jaeger 2011. 6 | Der Dual von normativer Überprüfung und geschichtlicher Einsicht steht im Übrigen in prinzipieller Übereinstimmung mit Kants Aufgabenbeschreibung von Ethik in der Vorrede zur Grundlegung der Metaphysik der Sitten. Nach Kant besteht diese Aufgabe nämlich stets aus zwei Teilen, aus einem »empirischen Teil« (praktische Anthropologie) und einem »formalen Teil« (Moral im engeren Sinne); vgl. Kant 1968: 388. Hätte man dies nicht so häufig übersehen, hätte man sich eine gut zweihundert Jahre andauernde Verengung Kantischer Moralphilosophie erspart. Es bedürfte einer eingehenderen Auseinandersetzung mit Hans Joas’ – in meinen Augen maßgeblich durch Habermas beeinflussten – Wahrnehmung von Kant, um letzteren noch stärker nicht nur für werttheoretische (vgl. Joas 2011: 149, FN 2), sondern auch für handlungstheoretische bzw. pragmatistische Perspektiven fruchtbar zu machen.

Affirmative Genealogie als existentieller Historismus

scheinen. Sie unterliegen vielmehr ihrer Bewährung in der Praxis, d.h. sie sind selbst wiederum in einen geschichtlichen Zusammenhang eingeordnet. Von den Handlungssubjekten ist daher Engagement, Mut und Überzeugungskraft gefordert, wenn sie sich in diesem Prozess unweigerlich zur Stellungnahme hinsichtlich bestimmter Wertentscheidungen herausgefordert finden. (2) Ein zweiter Gesichtspunkt zielt unmittelbar auf Troeltschs Anliegen des Auf baus einer europäischen Kultursynthese. Dieses wird von Hans Joas in seiner inhaltlichen Zuspitzung gleichwohl nicht nur zustimmend kommentiert (vgl. Joas 2011: 194). Interessanter als die Kritik am konkreten Versuch ist aber der Punkt, der die Bemühungen von Joas und Troeltsch verbindet: das Bemühen um eine »gegenwärtige Kultursynthese«, die als kontextsensible Werteverbindung das jeweils »Historisch-Individuelle« mit dem »Ethisch-Allgemeine[n]« zu verbinden sucht (Troeltsch 2008: 306). Es geht um das Gestalten eines, möglicherweise auch religiös-weltanschaulich grundierten, moralischen Universalismus, getragen von partikularen Wertmustern. Nun zieht man sich mit der Präferenz für solche Kontextualisierungen, auch das zeigen erste Reaktionen auf den Entwurf, leicht den Vorwurf zu, man beginge Verrat an den Leistungen der Aufklärung, insbesondere an deren Einsicht in den rein rationalen Charakter einer universalen Moral. Dass dies schon der Komplexität der Richtungen der europäischen Aufklärung nicht gerecht wird, braucht nicht betont zu werden. Auch Troeltsch gegenüber wurde dieser Vorwurf laut, vor allem weil er die Chancen für eine Universalgeschichte – wir würden heute vielleicht von global history sprechen – skeptisch sah. Doch leugnen weder Joas noch Troeltsch die Triftigkeit von formalen und anthropologischen Konstanten oder Grundsätzen der Moral (vgl. Joas 2011: 191f.). Schließlich können jene universalen Ideale der Humanität – konkret der Menschenrechte – durchaus Elemente unterschiedlichster Kultursynthesen in der Menschheitsgeschichte sein, aber sie müssen es eben nicht. Und wenn sie es sind, dann bilden sie allerdings nur einen Teil von komplexeren pluralen Wertegefügen. Pragmatismus und Historismus geht es somit darum, den »dramatischen Reichtum der konkreten Welt« (Pape 2002) zu Wort kommen zu lassen und ihn nicht vorschnell auf einen sozialen, metaphysischen oder moralischen Monismus zu reduzieren. Troeltsch hat das in einem Vortrag, wenige Monate vor seinem Tod, trefflich auf den Punkt gebracht. Daher sei an dieser Stelle dieses längere Zitat gestattet: »In Wahrheit und praktisch aber liegen alle diese Dinge doch sehr viel einfacher auch für uns selbst, sobald wir auf den unmöglichen sozialen Monismus verzichten, der nur eine Täuschung der Phantasie ist. Wir leben wie alle Zeiten in verschiedenen gleichzeitigen Gemeinschaftskreisen, deren jeder die wichtigsten seiner Werte durch seine natürlichen Grundlagen selber mit sich bringt und sichert. Wir leben, um mit dem weitesten

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Christian Polke Kreise zu beginnen, in der Menschheitsgemeinschaft. Sie bringt die Achtung vor der Menschenwürde, die Ehrfurcht vor der Individualität fremder Kulturen, die Ahnung einer gemeinsamen Wurzel alles Menschlichen, das Ideal einer Verständigung und Organisation aller Kulturvölker, und der verantwortungsvollen Erziehung der mit uns in Berührung geratenden tiefer stehenden Rassen mit sich. Es ist schwer genug, das gegen die Verwicklungen und Kämpfe der Politik und Wirtschaft durchzusetzen, und wird immer neuen Schwierigkeiten begegnen. Aber es bleibt ein Ideal, das gegenseitige Verständigung und Lebensmöglichkeit mit sich bringt und für das es der doch unmöglichen geistigen Gesamtheit der Menschheit gar nicht bedarf.« (Troeltsch 2002: 565)

Was Troeltsch im Anschluss an die zitierte Textstelle konkretisiert, lässt sich als kontextsensibler Universalismus und ethisch reflektierter Wertepluralismus beschreiben. Das führt keineswegs in postmoderne Beliebigkeit, auch wenn die Antagonismen zwischen den unterschiedlichen Interessens- und Wertperspektiven nicht geleugnet werden. Vielmehr geht es Troeltsch wie Joas um eine realistische Analyse derjenigen pluralistischen Bedingungen, auf die sich ein kulturell gestalteter moralischer Universalismus einstellen muss: »Das Wesen der historischen Bildung ist nicht Skepsis und Relativismus. Das sind nur Nebenwirkungen unter gewissen Umständen […]. Dieser ganze Pluralismus kommt aus einem einheitlichen Grunde und geht in ihn zurück. Aber dieses Ausgehen und Zurückgehen lässt sich nicht wissenschaftlich konstruieren, sondern nur lebensmäßig schaffen.« (Troeltsch 2002: 568) Beide bislang besprochenen Punkte, die Kontingenz prekärer Gewissheiten, die sich stets neu bewähren müssen, und die Kontingenz und innere Pluralität von Wertüberzeugungen, führen dazu, auch die Überzeugung von der ›Sakralität der Person‹ als eine unter mehreren möglichen ethischen living options (James 1992) für Individuen und Gemeinschaften zu begreifen. Darin liegt auch der stets prekäre, weil bleibend gefährdete Charakter dieser Optionen. (3) Mein dritter Punkt betrifft die Frage nach möglichen religiösen Dimensionen der ›affirmativen Genealogie‹. Joas betont selbst mehrfach, dass ein Resultat seiner historischen Rekonstruktion der ›Sakralisierung der Person‹ darin besteht, dass man nicht einlinig ›säkulare Aufklärung‹ oder ›christliches Menschenbild‹ als (mono-)kausal für die Durchsetzung des Werts der unveräußerlichen Menschenrechte verantwortlich machen dürfe (z.B. Joas 2011: 25 u. 204f.). Gegner wie Befürworter ›säkularer‹ oder ›christlicher‹ Ursprünge gibt es zuhauf, und vieles ist von den politischen Umständen wesentlich mitbeeinflusst. Insofern tut Joas gut daran, in seiner Troeltsch-Interpretation nicht zu unterschlagen, dass dieser im Gottesgedanken eine »irgendwie vorausgesetzte Grundvorstellung der Dinge hinter allem Denken« (Troeltsch 2003: 277) sieht, ohne den »oder irgendein Analogon zu ihm keine Maßstabsbildung« (ebd.) möglich ist. Doch achtet der Soziologe die Grenzen seiner eige-

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nen Disziplin. Er betreibt keine religiöse Soziologie. Allenfalls behauptet er, dass alle Menschen in ihrer Lebensführung letztlich einen ›sakralen Wertebereich‹ kennen. Dennoch sind selbst noch diese Zurückhaltungen für den Theologen interessant. Bleibt doch zu fragen, wie ein Gottesgedanke zu fassen ist, der mit jener kontingenzsensiblen Theorie der Werte und der Kreativität des Handelns konform gehen könnte. Für Troeltsch kann er nur als geschichtsoffen begriffen werden; er darf also nicht als statischer Ruhepol oder idealer Fluchtpunkt gedacht werden, eher schon wird man von den »Wandlungen Gottes« (mit Ernst Barlach; vgl. Troeltsch 2008: 377) reden müssen.7 Jenseits teleologischer Geschichtsphilosophien und einlinigem Fortschrittsoptimismus steht ›Gott‹ für jene Einheit von Geschichte, der sich Individuen und Gemeinschaften immer wieder neu in situativer Handlungsbewährung und sensibler Kontingenzwahrnehmung vergewissern müssen. In der Religion, die für Troeltsch eher alle Wertebereiche durchziehen sollte, als dass sie schlicht einen weiteren Wertbereich neben anderen darstellt, verständigt sich das handelnde Subjekt stets von Neuem über seine eigene, begrenzte, dafür aber konkrete Handlungsfähigkeit, wie über seine Einbettung in einen ihm unbekannten, aber tragenden Gesamtsinn: »In der Sache selbst handelt das schöpferische Leben aus instinktiven Gewißheiten und besonnenen Abwägungen heraus. Man kann vertrauen auf dasjenige, was aus der ungeheuren Fülle des Wirklichen heraus partiell und momentan sich kund tut, und das Ganze, Letzte, Erste und Eine Gott überlassen: ›Wer die Inseln nicht zu erobern glaubt, dem ist doch das Anker werfen erlaubt.‹ Mehr als zum Ankerwerfen kommen wir alle auf Erden nicht.« (Troeltsch 2002: 561)

Ein so gefasster Gottesgedanke markiert dann jene absolute Differenz zwischen Immanenz und Transzendenz, wie sie für alle Kulturen der Achsenzeit typisch ist und diese auf unterschiedliche Weise auszeichnet (vgl. Bellah/Joas (Hg.) 2012). Dieses Spannungsverhältnis zwischen immanenter Faktizität und transzendenter Idealität, wie es symbolisch im Gegenüber von transzendentem Göttlichen und mundanem Weltlichen artikuliert wird, führt zu einem veränderten Verständnis von kulturellen Werten, moralischen Normen und 7 | Das Anliegen echter Geschichtstheologie kann man dann so beschreiben: »Alle echte Universalität ist nicht Geltung für die Menschheit, Ermöglichung der Idee der Menschheit oder überall identisches Erzeugnis autonomer, rationaler, befreiter oder aufgeklärter Vernunft, sondern von individuellen Sonderbildungen aus vordringende lebendige Kraft des Gesamtlebens, die ihre Vernünftigkeit auf innere Uebereinstimmung mit der intuitiv erfassten und aus der Geschichte geahnten, an Vergleichung und in praktischen Zusammenstößen bewährten und fortgebildeten Grundrichtung des göttlichen Lebenswillen begründet.« (Troeltsch 2008: 379).

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ästhetischen Idealen. Nicht nur, dass damit die Einsicht in die Kontingenzhaftigkeit der eigenen Lebenswirklichkeit und der eigenen normativen Ideale entscheidend vertieft wird; man wird auch Gott nicht einfach als einen weiteren, diesmal höchsten, absoluten Wert begreifen dürfen. Vielmehr ist er als das ›transcending center of value‹ 8 zu beschreiben, als der ›Ursprung und Quell aller Heiligkeit‹, wie es im Hochgebet der römischen Messe heißt. Er ist Maßstab und Grund aller Werte und verhindert zugleich deren absolute Sakralisierung, insofern jene als immanente nur relative Höchstgeltung für sich beanspruchen dürfen.9 Dieses sozio-theologische Moment, das man dem Werk von Troeltsch entnehmen kann, kann selbst nicht-religiösen Sozialwissenschaftlern ein Verständnis für die Intensität und Eigenart religiöser Wertbindung erschließen. – Ich breche hier ab, um in einem weiteren Schritt zunächst auf eine kritische Anfrage zur These von der ›Sakralität der Person‹ und dann auf einen konstruktiven Vorschlag zur Methode der ›affirmativen Genealogie‹ einzugehen.

2. Z ur F ortschreibung einer › affirmativen G ene alogie ‹ Eine Anfrage, ein Vorschlag Joas verwendet zur Charakterisierung seines Ansatzes einer ›affirmativen Genealogie‹ auch die Formel vom ›existentiellen Historismus‹, mit der Eduard Spranger Troeltschs Werk charakterisiert hatte: »Der ›existentielle Historismus‹, der aus all diesen Überlegungen spricht, wurde hier als Methode ›affirmativer Genealogie‹ bezeichnet. Genealogisch ist diese Methode, weil sie sich von der Vorstellung einer Kontemplation objektiver Teleologie radikal freigemacht hat […]. ›Affirmativ‹ soll diese genealogische, das heißt kontingenzbewußte Vergangenheitsrekonstruktion nun aber heißen, weil der Rückgang auf die Prozesse der Idealbildung, die Entstehung von Werten, unsere Bindung an diese nicht negiert oder uns in einen Zustand souveräner Entscheidung über unsere Wertbindungen erhebt, son-

8 | Diese Begriffsschöpfung verdankt sich der Kombination aus John E. Smiths Charakterisierung Gottes als ›transcending center of intention‹ (vgl. Smith 1973: 84-103), die stark theistisch geprägt ist, und H. Richard Niebuhrs Kennzeichnung Gottes als ›center of value‹ (vgl. Niebuhr 1970a). 9 | Prägnant hinsichtlich der Rolle der Religion für diese Dynamik aus Sakralisierung und Desakralisierung schon Niebuhr 1970b: 49-63. Unbegreiflicherweise fehlt in der deutschen Übersetzung dieser Schrift ausgerechnet das einschlägige Kapitel über Sakralisierung und Säkularisierung unter dem Titel: »Radical Monotheism and Western Religion«. Hierzu auch: Joas 2013, zu Niebuhr ebd.: 279-281.

Affirmative Genealogie als existentieller Historismus dern weil er uns gegenüber dem Appellcharakter historisch verkörperten Sinns öffnet.« (Joas 2011: 189f.)

Dieser Appellcharakter ist es, der eine historische Kultursoziologie in praktischer Absicht unweigerlich auf das Terrain der Ethik führt. Davon handeln auch Troeltschs posthum veröffentlichte Vorlesungen für England und Schottland, die man durchaus als bündelnde Skizze seiner Religions- und Geschichtsphilosophie lesen kann. Sie beinhalten gleich drei Texte zum Verhältnis von »Ethik und Geschichtsphilosophie« (Troeltsch 2005: 68-104).10 Im Zen­trum der Ausführungen steht zum einen das moralische Subjekt mit seinen Normen; zum anderen geht es um jene kulturellen Werte, die sich historisch als Auffassungen über das Gute durchgesetzt haben. Aber erst mit der dritten Abhandlung kommt die ethische Reflexion zu ihrem Abschluss. Denn so sehr Troeltsch in existenzieller Hinsicht die Individualität der ethischen Subjekte und deren Entscheidungsautonomie betont, so sehr sind sie auf soziokulturelle Gemeinschaftskontexte angewiesen. Damit greift Troeltsch im Abschnitt über den ›Gemeingeist‹ jene Fragestellung wieder auf, die er im Historismusband als die Forderung nach einer überindividuellen, intergenerationellen und dynamischen Verbindung von »ideologischem Gehalt« und »soziologischem Leib« (Troeltsch 2008: 1097) umschrieben hatte. Troeltsch wie Joas geht es also nicht einfach um ideengeschichtliche Argumentation oder um eine Genealogie ethischer Ideale zur Illustration ihres normativen Gehaltes. Vielmehr ist ihr »soziologischer Realismus« (Joas 2011: 195) davon geprägt, in der historischen Rekonstruktion jener Situationen, Motive und Gründe, die zur Entdeckung und Kultivierung bestimmter Werte führten, jene institutionellen Bedingungen und Möglichkeiten freizulegen, die ihre zukünftige Fortschreibung ermöglichen. Jeder Wert bedarf, damit er trotz seiner subjektiven Evidenz überhaupt lebensweltlich als einleuchtend oder wenigstens als Option erlebbar wird, einer symbolischen wie institutionellen Verkörperung. Jene geschieht sowohl in der Gestalt von Ordnungen wie in der Form habitualisierter Praktiken, in die wir alle jeweils zunächst sozialisiert werden. Eine gleichermaßen soziologisch wie historisch informierte philosophische und theologische Ethik hätte sich von daher verstärkt auch der Analyse dieser Größen zuzuwenden, will sie ihrer Aufgabe der Wertevermittlung gerecht werden und am Gelingen der »Stabilisierung der erreichten Errungenschaften des Prozesses der Sakralisierung der Person« (ebd.: 280) mitwirken. Wenn dem so ist, dann sieht man auch, dass Joas m.E. nicht von dem Vorwurf getroffen wird, in seiner Genealogie der Menschenrechte zu einseitig

10 | Diese Vorträge trugen in ihrer ursprünglichen Veröffentlichung durch Hans Baron den missverständlichen Titel ›Der Historismus und seine Überwindung‹.

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auf die individuellen Abwehrrechte zu rekurrieren.11 Denn weder bestreitet er, soweit ich sehe, dass es neben der ›Sakralität der Person‹ anderer Werte bedarf, um jene Kultur demokratischer Sittlichkeit zu stabilisieren, die in Gestalt unseres demokratischen Rechtsstaates normativ institutionalisiert ist; noch zielt er auf die Konzeption einer umfassenden Kultursoziologie des Rechts, die dann in der Tat andere Grundrechtsbestände, etwa die der politischen Teilhabe- oder Wirtschaftsgrundrechte, mit umfassen müsste und die man wohl kaum allesamt unter das Stichwort der ›Sakralität der Person‹ subsumieren könnte. Insofern scheint mir das Konzept der ›affirmativen Genealogie‹ nicht dazu geeignet, eine gleichsam sakralsoziologische Aufladung der Verfassung mit zivilreligiöser Aura zu betreiben.12 Joas selbst teilt dieses Ansinnen jedenfalls nicht. Dieser Anfrage steht aber noch ein weiterer Punkt zur Seite, der im Wesentlichen auf eine Vertiefung eines bestimmten Aspekts der Methode der ›affirmativen Genealogie‹ zielt. Hierfür greife ich eine Bemerkung Wolfgang Knöbls auf, die dieser am Ende einer Interpretation des Joas’schen Denkweges zwischen Historismus und Pragmatismus gemacht hat (Knöbl 2011). Sie betrifft unmittelbar die Methode der ›affirmativen Genealogie‹ und verweist zugleich auf ein Manko bei Troeltsch. Müsste nicht, so verstehe ich Knöbl, der kontingenzorientierten Theorie des sozialen Wandels und ihrem handlungstheoretischen Pendant mit dem Fokus auf Kreativität ein weiteres Element hinzugefügt werden? Dieses beträfe die Art und Weise, wie man sich über Werte verständigen kann und wie sich diese vermitteln lassen. Gefragt wird also nach den narrativen Elementen in der historischen Erzählung ebenso wie in der sozialphilosophischen Begründung von Werten. Dies zu entfalten ist hier nicht der Ort. Daher begnüge ich mich mit ein paar grundsätzlichen Bemerkungen: Erstens würde eine »erzähltheoretische Reflexion« (Knöbl 2011: 311), die sich um »objektive Darstellbarkeit« (ebd.) bemüht, das Verhältnis von Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung thematisieren müssen: Wie verhalten sich in der historischen Rekonstruktion eigentlich ereignisgeschichtliche Tatsachenbehauptungen zu deren kontextu11 | So z.B. Christoph Möllers in seiner Besprechung des Buches in DIE ZEIT: Möllers 2011. In ähnlicher Weise hat Horst Dreier die Bemühungen von Joas kritisiert. Seine Kritik hat darüber hinaus noch eine theologische Pointe, die sich als protestantische Zurückhaltung gegenüber der Heiligkeitskategorie bemerkbar macht; vgl. Dreier 2013: 103-111. 12 | Dreier und ich mögen das Ansinnen von Joas unterschiedlich einschätzen, wir teilen aber die Kritik an allen politisch-theologischen Deutungen von Rechtstexten und deren Sakralisierungsvokabular. Alle diese Versuche kranken daran, dass sie die Leis­ tung eines strikten Rechtspositivismus für die Humanität und Funktionsfähigkeit des Rechts nicht schätzen.

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ellen Deutungen und Erklärungen? Zweitens: Gerade das Insistieren auf die Notwendigkeit der Erzählung bei der Rekonstruktion der Geschichte, aber auch hinsichtlich des Verstehens von Handlungsmöglichkeiten, verweist auf den grundsätzlichen Charakter, der dem Faktor der Kontingenz zukommt; und zwar sowohl bei der Konzeption einer nicht-teleologischen Handlungstheorie wie ihres geschichtstheoretischen Komplements.13 Drittens: Stärker als bisher geschehen, könnte es für Joas von Vorteil sein, die Rolle, die narrative Elemente in seinen eigenen Ausführungen spielen, im Hinblick auf die ethische Ausrichtung seiner Sozialtheorie grundlagentheoretisch zu bedenken. Die Brisanz dieses Themas sowie die Bedeutung, die es für das Anliegen von Joas hat, kommt nirgends deutlicher zum Vorschein als im letzten Kapitel der Sakralität der Person, in dem es um die Perspektiven von Wertegeneralisierung, kulturellem Pluralismus und universalem Menschenrechtsethos geht (vgl. Joas 2011: bes. 253-265). Der historischen Rekonstruktion des Zustandekommens der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, die wie andere Passagen des Bandes die Form einer Erzählung annimmt, kommt gerade in ihrer argumentativen Rhetorik eine ethische Funktion zu. Insbesondere eine solche erzähl- und kontingenztheoretische Weiterführung könnte zudem dazu verhelfen, die mangelnde theoretische Konsistenz, die dem Troeltsch’schen Unterfangen bislang so sehr geschadet hat, aufzuwiegen. Zwar liegen schon bei ihm jene Elemente bereit, derer es für die Entfaltung einer Theorie des soziokulturellen Wertewandels bedarf, was Schlüsselbegriffe wie schöpferische Individualität, Idealbildung und Kultursynthese belegen. Auch reflektiert Troeltsch die ethischen Implikationen seines Unterfangens, wie die offensive Ausrichtung des Historismusbandes an der »Persönlichkeitsidee« (Troeltsch 2008: 1045) zeigt. Doch kann das Projekt der ›affirmativen Genealogie‹ erst dann seine angemessene Wirkung entfalten, wenn stärker als bisher auch über die Bedingungen einer Kommunikation über, der Argumentation für und die Verständigungsregeln zugunsten von bestimmten Werten nachgedacht wird. Die Vermutung, die hier als Vorschlag dient, ist, dass der argumentativen Logik und der imaginativen Dichte von Erzählungen, die gleichwohl historisch fundiert sind, ein nicht geringer Stellenwert zukommt.

13 | Lohnend dürfte hierfür eine noch stärkere Einbeziehung des Werks von Paul Ricoeur sein, insbesondere seine handlungs- und geschichtstheoretischen Arbeiten, vgl. etwa seine Aufsatzsammlung Du texte a l´action (Ricoeur 1986) und dann die großen Bücher über Zeit und Erzählung (Ricoeur 2007) sowie Gedächtnis, Geschichte, Vergessen (Ricoeur 2004).

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3. D as personalistische E thos einer › affirmativen G ene alogie ‹ Ein theologischer Ausblick mit H.R. Niebuhr Joas’ Buch stellt in meinen Augen mehr als eine exemplarische und paradigmatische Untersuchung zur Entstehung eines spezifischen Wertes dar. Es formuliert vielmehr anhand der ›Sakralität der Person‹ elementare ethische Grundlagen seiner Sozialtheorie aus. Auch darin folgt es den Büchern Die Kreativität des Handelns (Joas 1992) und Die Entstehung der Werte (Joas 1997). Darauf zielt meine eingangs erwähnte These, die Überlegungen zur ›affirmativen Genealogie‹ als methodologische Umsetzung eines personalistischen Ethos zu lesen. Joas steht in dieser Hinsicht dem Ansatz einer Sozialwissenschaft nahe, die mit Durkheim und Bellah (vgl. Bellah 2006) einen moralischen Auftrag verfolgt, ohne dabei das Postulat der Werturteilsfreiheit ihrer Forschung zu unterminieren. Personalistisch ist das darin zum Ausdruck kommende Ethos weniger im Sinne einer bürgerlichen Ersatzweltanschauung westlicher Provenienz. Von personalistischen Ansätzen in der Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts unterscheidet es sich schon deswegen deutlich, weil es nicht von einem essenziellen, sondern kulturell determinierten Personenbegriff ausgeht. Wohl aber versammelt es in sich alle jene Merkmale, die für ein hinreichend gefasstes Konzept von Person notwendig sind, obgleich sie auch dann noch unterschiedlichen kulturellen, religiösen wie säkularen Deutungsmustern unterliegen. Doch welche sind dies? In meinen Augen lässt sich diese Frage am besten dadurch beantworten, dass man auf einen Autor zurückgreift, der zeitlich zwischen Troeltsch und Joas zu lozieren ist und der doch die thematische Agenda beider teilt: H. Richard Niebuhr. Der jüngere der beiden Niebuhr-Brüder war nicht nur ein überzeugter Fortführer des Ansatzes von Troeltsch;14 er darf auch als derjenige gelten, der das Erbe von Historismus und Pragmatismus in einer Zeit bewahrt und durch die Kombination von Elementen beider Traditionen erneut fruchtbar gemacht hat, als beide Strömungen in der akademischen Szene als antiquiert galten. Das Produkt dieser höchst innovativen Synthese, vornehmlich aus Troeltsch, Mead und Royce, liegt in zahlreichen kleineren Abhandlungen vor. Sie können als Schlüsselessays für das gelten, was ich einen zeitgemäßen Personalismus ohne pauschale Hintergrundmetaphysik nennen möchte. Nach Niebuhr zeichnen sich Personen dadurch aus, dass sie ihr Leben als geschichtliche Wesen in Gemeinschaften zu interpretieren und zu verantworten 14 | Dies beweist seine leider nie publizierte mustergültige Untersuchung zu Troeltschs Religionsphilosophie (Niebuhr 1924), verfasst ein Jahr nach dessen Tod und doch alles veröffentlichte Material bis zu den letzten Texten Troeltschs mit einbeziehend.

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haben.15 Personen sind social selves (vgl. Niebuhr 1999: 71-89), die in interagierende Lebenszusammenhänge eingebettet sind, die Niebuhr unter Rekurs auf die reformierte Tradition und vor dem Hintergrund der US-amerikanischen Religionsgeschichte als covenants auffasst.16 Sie entsprechen im Kern Troeltschs ›Gemeinschaftskreisen‹; nicht nur weil sie von einer kollektiven Wertedimension geprägt sind, die allen ihren Mitgliedern zur Pflege anvertraut ist, sondern auch weil dadurch eine Sozialitätsform benannt ist, die weder auf naturrechtlichen Essenzialismen noch auf präferenzorientierten Kontraktualismen beruht. Jeder dieser communities wohnt vielmehr ein bestimmtes evaluatives Versprechen inne, das sich aus einer gemeinsam verstandenen, selbstkritisch und wissenschaftlich befragten Geschichte aus Erinnerung (memory) und Erwartung (anticipation) speist. Alle Mitglieder der sehr unterschiedlichen Sozialformen – und jeder Mensch ist automatisch Mitglied mehrerer – stehen in der Verantwortung, sich in Treue (loyalty) oder Dissens (disloyalty) zu ihnen zu verhalten.17 Worauf es mir an dieser Stelle ankommt, ist die Antwort, die Niebuhr auf die Frage gibt, wie man solcher Verantwortung für die Werte des Zusammenlebens gerecht wird und inwiefern sich darin zeigt, dass man sich als Person unter Personen selbst versteht. Wiederum stellt sich das Problem der historischen Selbstverortung, die sich darum bemühen muss, kritische Geschichtsschreibung und ethische Situationsanalyse zu verbinden. Am Ende steht somit auch hier eine Identitäten stiftende Erzählung im Mittelpunkt, der eine analoge Aufgabe wie in Joas’ Überlegungen zur Entstehung der Werte zukommt: »Where we have tried to apply […] our responses to persons and communities […] [i]t is the way of reinterpreting the past. It recalls, accepts, understands, and reorganizes the past instead of abandoning it. As social persons living in the present with a social past we pursue this as through the study of our social history.« (Niebuhr 1999: 102; Herv. i. O) 15 | Dieses Interpretieren ist dabei nicht auf ein rein kognitives Unternehmen zu begrenzen; vgl. Niebuhr 1962: 91ff. 16 | Im Kern fasse ich sehr gerafft die Argumentation in Niebuhrs posthum veröffentlichter Schrift Faith on Earth zusammen (Niebuhr 1989: 43-62). Hier wird besonders der Einfluss der Sozial- und Religionsphilosophie von Josiah Royce spürbar. Zu Royces Personalismus vgl. jetzt auch Auxier 2013: v.a. Kapitel 7, 201-241. 17 | Schon vor Benedict Anderson, Cornelius Castoriadis und Charles Taylor hat Niebuhr in diesem Zusammenhang das formuliert, was unter Berufung auf die ersteren als social imaginary gefasst wird; vgl. hierzu den brillanten Aufriss in: Niebuhr 1954. Dort kommt klar zum Ausdruck, dass auch Niebuhr alle Versuche einer einlinigen Ableitung der Demokratie und ihrer Werte etwa aus dem Christentum zurückweist, bes. ebd.: 126 u. 128f.

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Unter dem Druck der Gegenwart und in Verantwortung für die Zukunft erfüllt die historische Rekonstruktion eine wichtige Bedingung für eine Standortbestimmung, die evaluative Handlungsperspektiven eröffnet. Was bei Troeltsch einmal »Wesensbestimmung ist Wesensgestaltung« (Troeltsch 1913c: 431) hieß, gelingt nach Niebuhr nur, wenn die Arbeit des Historikers gleichsam unvermischt und ungetrennt mit der existenziellen Positionierung des Ethikers Hand in Hand geht. Personen sind demnach diejenigen purposer, um eine Formel William James’ zu gebrauchen, die sich als in diesen zeitlichen Horizont gemeinsam verstrickt und darin zugleich als füreinander Verantwortliche verstehen. Interpretieren und Verantworten stellen diejenigen symbolischen Praktiken dar, die den menschlichen ›Selbsten‹ wesentlich als Personen zukommen und mit denen sie unter prekären Bedingungen um individuelle und kollektive Stabilität (Identität) ringen. Knapper formuliert: Nur als soziales ist das self-interpreting animal (Charles Taylor) ein responsives und daher ein responsible self und vice versa. Geschichtliche Selbstverortung und ethische Standortbestimmung gehören deshalb für Niebuhr zum theologischen wie zum soziologischen Kerngeschäft. Mit dieser kurzen Erinnerung an einen fast vergessenen theologischen Klassiker sollen beileibe nicht nur der eigenen Disziplin die Augen wieder geöffnet werden für das Erbe, in dem auch die Sozialphilosophie eines der produktivsten Soziologen der Gegenwart steht. Mehr noch lässt sich dadurch das personalistische Ethos, welches das Werk von Joas durchzieht und auch seiner Methode der ›affirmativen Genealogie‹ innewohnt, noch besser verstehen. Durch die Brille Troeltschs und Niebuhrs gelesen, stellt die ›Sakralität der Person‹ in gleichem Maße ein verantwortendes Interpretieren der Geschichte wie ein interpretierendes Verantworten von Geschichte dar. So werden wir schließlich auf emphatische Weise Zeuge, wie sich in der Arbeit des Soziologen zugleich dessen eigenes Verständnis nicht nur als Wissenschaftler, sondern als Mensch kundtut: als das eines verantwortlichen Selbst oder einfach als das einer Person unter Personen.

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Heimlich ins theologische Fach gewechselt? Ein Kommentar zu den Konzepten von Seele und Gabe in Joas’ Studie zur Sakralität der Person Thomas M. Schmidt

In der Diskussion um Hans Joas und sein Buch Die Sakralität der Person (Joas 2011) wird nicht selten der Verdacht artikuliert, dass der Autor hier eine Akzentverschiebung von der Soziologie zur Theologie vornehme, dass sich die Kräfteverhältnisse in seinem Werk verschöben und die philosophischen und soziologischen Ansätze um eine dezidiert theologische Perspektive erweitert würden. Dies zeige sich etwa an der Aufnahme der Motive der Gottebenbildlichkeit und der Gotteskindschaft, insbesondere im fünften Kapitel dieser Studie (ebd.: 204-250). Hans Joas selbst hat allerdings stets betont, dass »seine Argumentation nicht heimlich ins theologische Fach« (ebd.: 210) hinüberwechselt. Dieser Verdacht wird von Hans Joas aber nicht nur mit Worten zurückgewiesen, sondern auch durch die argumentative Strategie dokumentiert, die er in diesem Kapitel verfolgt. Das Konzept einer ›Sakralisierung der Person‹ wird nämlich weder theologisch noch religionspolitisch verstanden. Religiöse oder metaphysische Auffassungen, die den Gedanken der Menschenrechte ohne eine dezidiert theologische Begründung für historisch wie geltungstheoretisch haltlos erachten, werden von Joas ausdrücklich zurückgewiesen. Allerdings setzt er sich ebenso klar und eindeutig von radikal aufklärerischen ›säkularistischen‹ Positionen ab, die eine faktische Geltung wie begriffliche Legitimität der Menschenrechte nur unter der Bedingung einer historischen oder systematischen Überwindung religiöser Vorstellungen für möglich halten. Weder die sozialgeschichtliche Annahme einer unumgänglichen und unumkehrbaren Säkularisierung der modernen Gesellschaft noch die philosophische Kritik und Widerlegung der vermeintlich gefährlichen und irrationalen Religion bildet nach Joas die Voraussetzung für eine Durchsetzung der Idee der Menschenrechte. Solchen säkularistischen Positionen, die in der vollständigen Säkularisierung und erfolgreichen Religionskritik die Bedingung der Geltung und Durchsetzung

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der Idee des Menschenrechtsgedankens sehen, begegnet Joas aber nicht mit einer apologetischen Strategie des Nachweises der Unverzichtbarkeit religiöser Überzeugungen oder der unabhängigen Wahrheit ihres Gehaltes. Vielmehr favorisiert er eine vom Pragmatismus her vertraute Strategie, indem er zunächst herausstellt, dass der religiöse Glaube nicht notwendig im Gegensatz zu jenen Errungenschaften und Eigenschaften der Vernunft steht, wie sie sich in der Moderne in den Prinzipien fallibilistischer Wissenschaftlichkeit und autonomer Moral artikulieren (vgl. Joas 2011: 250). Im Dienst dieser Strategie steht dann aber auch die im genannten fünften Kapitel vorgenommene Rekonstruktion der Transformation grundlegender Konzepte, die ursprünglich einen jüdisch-christlichen Entstehungskontext besitzen. Das ›Sakralität der Person‹ genannte Geltungsprinzip der Menschenrechte verdankt sich gerade einer Transformation dieser Konzepte. Als zentrale Elemente werden hier von Joas die Motive der Gottebenbildlichkeit und der Gotteskindschaft aufgegriffen: Gottebenbildlichkeit und Gotteskindschaft sind die beiden inhaltlichen Komponenten, »die am häufigsten genannt werden, wenn ein christlicher Ursprung der Menschenrechte behauptet wird« (ebd.: 209). Die Transformationsprozesse dieser Gehalte werden von Joas vorrangig in einer sozialwissenschaftlichen Perspektive betrachtet, also unter der Rücksicht, wie Funktionen, welche diese traditionellen Gehalte in soziologischer wie psychologischer Hinsicht erfüllen, substituiert werden. Die zentrale These lautet hier, dass sich die Transformation des theologischen Gedankens der Gottebenbildlichkeit an der Geschichte der Wandlung des Seelenbegriffs und seiner wissenschaftlichen Konzeptualisierungen ablesen lässt. Das Motiv der Gotteskindschaft wird dagegen eher durch soziologische Theorien der Gabe als Modus der Konstitution sozialer Verhältnisse in moderner Gestalt artikuliert.

1. U nsterblichkeit der S eele Der Zusammenhang zwischen Gottebenbildlichkeit und Menschenrechtsbegründung wird häufig behauptet. Joas erinnert an den Zusammenhang zwischen Gottebenbildlichkeit und dem Motiv der Unsterblichkeit der Seele. Der traditionelle Begriff der Seele hatte Joas zufolge »eine metaphysische Garantie für das enthalten«, was er die ›Sakralität der Person‹ nennt, »das heißt die Annahme eines heiligen, nicht durch eigene Leistungen erworbenen, aber auch nicht verlierbaren und zerstörbaren Kerns jedes menschlichen Wesens« (Joas 2011: 224). Aus der Gottebenbildlichkeit wird in diesem Transformationsprozess »die Idee eines göttlichen Wesenskerns eines jeden Menschen: seiner unsterblichen Seele« (ebd.: 210). Der erste Prozess einer solchen Transformation religiöser und metaphysischer Gehalte, der von Joas mit Blick auf die pragmatistische Philosophie

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von Dewey, Mead und vor allem William James minutiös nachgezeichnet wird, erscheint programmatisch als eine Transformation des traditionellen Seelenbegriffs in das moderne sozialpsychologische Konzept des Selbst. Es lässt sich aber bezweifeln, ob Unsterblichkeit noch ein genuines Thema für Philosophie und Wissenschaft darstellen kann. Dabei ist die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele nicht zu verwechseln mit der Frage, wie wir angesichts unserer Sterblichkeit dem Leben einen Sinn geben können. So ist Kierkegaard zufolge die Frage nach der Unsterblichkeit überhaupt keine gelehrte Frage, sondern eine Frage der inneren Existenz, die der einzelne sich stellen muss, indem er Einkehr bei sich selbst hält. Dies ist nicht nur so zu verstehen, dass die Frage nach der Unsterblichkeit erst als eine existenzielle Frage wirklich bedeutsam wird; darüber hinaus kann es so verstanden werden, dass Kierkegaard sagen will, diese Frage sei überhaupt nur noch in einem existenziellen Sinn verständlich. Außerhalb des Kontextes existenzieller Entscheidungen scheint die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele jede Bedeutung verloren zu haben. Daher zeigt der Plausibilitätsverlust der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele auf besonders eindrückliche Weise den fundamentalen Wandel philosophischen Denkens seit Platon. Die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele hatte auch in den frühen Dialogen Platons zunächst eine überwiegend existenzielle Bedeutung. Sie formuliert Bedingungen eines authentischen, wahren und guten Lebens, das in der Befreiung der Seele von den materiellen Fesseln des Leibes besteht. Es handelt sich also noch nicht um eine explizit metaphysische Theorie, sondern eher um existenzielle Überlegungen, um die Verarbeitung der menschlichen Erfahrung des ewigen Widerstreits zwischen Leiblichkeit und Geistigkeit. Die literarische Deutung dieses Konflikts erfolgt im Rückgriff auf orphische Lehren, die den Leib als Gefängnis der Seele betrachten, der mit seinen Schwächen und Bedürfnissen die freie Entfaltung des Geistes behindert. Daher wird der Tod als Befreiung erlebt. Im Phaidon wird dieser Dualismus dann als eine metaphysische Position ausformuliert. Dieser Dualismus hat aber nicht nur den ontologischen Sinn zu erklären, dass es zwei Arten von Seiendem gibt, nämlich eine körperliche Welt, die entsteht und vergeht, und eine unvergängliche, ewige Welt der Ideen. Diese ontologische These steht auch im Dienst einer erkenntnistheoretischen These, der Auffassung nämlich, dass die Ideen nur durch reines Denken angemessen erfasst werden könnten. Sie werden daher nur von einer Seele unmittelbar angeschaut, die sich vom Körperlichen befreit hat. Die Lehre von einer unabhängigen Seele hat die Funktion, die Möglichkeit sicherer, unbezweifelbarer Erkenntnis zu rechtfertigen und gegen Skepsis und sophistischen Relativismus zu verteidigen. Der klassische Ort, an dem diese erkenntnistheoretische Funktion der Unsterblichkeitslehre beschrieben wird, ist der Dialog Menon. Hier findet sich das berühmte Argument von Erkenntnis als Erinnerung. Es besagt, dass jeder Mensch über vorgeburtliches Wissen verfügt und jedes Erkennen ein Wieder-

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erkennen ist, weil die Identifikation von etwas schon das Verfügen über Kriterien der Identifikation voraussetzt. Dieses erkenntnistheoretische Argument lässt sich allerdings so verstehen, dass es bestenfalls den Nachweis erbringt, dass die Seele vor ihrer Geburt, also vor ihrem kognitiven Erwachen, bereits einige Zeit existiert haben muss. Selbst wenn man das erkenntnistheoretische Argument von der Unabhängigkeit des Intellektualvermögens von körperlichen Bedingungen akzeptiert, bleibt die Frage, ob dies für eine Begründung der Substanzialität und Unzerstörbarkeit dieses Vermögens ausreicht. Denn das existenziell bedeutsame Argument von der notwendigen Lebendigkeit der Seele ist streng genommen noch kein Beweis ihrer Unsterblichkeit im Sinne von Unzerstörbarkeit. Es besagt lediglich, dass die Seele lebendig ist, solange sie existiert; es kann also keine toten Seelen geben. Damit ist aber noch nicht prinzipielle Unsterblichkeit und Unzerstörbarkeit der Seele nachgewiesen. Um auf ihre ewige Dauer zu schließen, bedarf es weiterer Argumente, um die Skepsis gegenüber einem Leib-Seele-Dualismus auszuräumen. Vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Skepsis gegenüber der klassischen Metaphysik hat Descartes die Notwendigkeit gesehen, den Begriff der Seele klarer zu definieren und einen strengen Beweis für ihre vom Körper unabhängige Existenz zu führen. Descartes gibt dem Evidenzideal der Geometrie eine modallogische Lesart (vgl. Schrödter 2001). Alles, was ich klar und deutlich begreife, ist wenigstens möglich. Ich sehe nun klar und deutlich ein, dass ich allein mit der Eigenschaft des Denkens und ohne alle körperlichen Eigenschaften existieren könnte. Ebenso sehe ich klar und deutlich ein, dass alle Körper allein mit der Eigenschaft des Ausgedehntseins, also ohne die Eigenschaft des Denkens, existieren können. Daraus ergibt sich, dass ich allein mit der Eigenschaft des Denkens und ohne alle körperlichen Eigenschaften existieren kann. Zudem können alle Körper allein mit der Eigenschaft des Ausgedehntseins, also ohne die Eigenschaft des Denkens, existieren. Also bin ich als denkende Substanz von meinem Körper real verschieden und kann daher auch ohne ihn existieren. Das Geistige im strengen, intellektualen Sinn ist der Ort der Selbstgewissheit und damit der epistemische Grund aller Gewissheiten, auch meiner gesicherten Kenntnisse über das Funktionieren der menschlichen Physis. Die Seele ist für Descartes kein Formprinzip des Leibes. In diesem Sinne ist sein Ansatz vom Hylemorphismus der aristotelisch-thomistischen Tradition zu unterscheiden. Der Leib ist ein rein physischer Körper, ein rein mechanisches, sich nach physikalischen Gesetzen bewegendes System. Daher hat Descartes auch nicht das Problem des Thomas von Aquin, die als Form mit der Materie vereinigte Seele zugleich als eine zu unabhängiger Existenz fähige Instanz zu betrachten. Descartes wird eher getroffen von Kants Vorwurf der Leere der metaphysischen Seelenlehre.

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Kant zufolge hält die metaphysische Rede vom Ich als einer einfachen und unzerstörbaren Substanz kritischer Überprüfung nicht stand. Jedes empirische Wissen, also auch das empirische Wissen über Seelen- und Bewusstseinsvorgänge, steht unter der Bedingung der transzendentalen Einheit des Selbstbewusstseins. Dieses transzendentale Ich, von dem nur gesagt werden kann, dass es alle meine Vorstellungen begleiten können muss und auf diese Weise den Grund der Zuschreibung von Vorstellungen darstellt, bildet den einzigen Inhalt der metaphysischen Seelenlehre. Alle inhaltlichen Bestimmungen, die über die reine Vorstellung eines ›Ich denke‹ hinausgehen, also etwa dass es sich dabei um eine Substanz handele, die einfach, immateriell und unzerstörbar sei, sind durch Fehlschlüsse gewonnen. Prägnante seelische Erfahrungen können durch reines Nachdenken nicht gemacht werden. Es scheint daher, als würde der Glaube an eine unsterbliche Seele nur noch im Kontext explizit religiöser Lehren und Traditionen eine lebendige Option darstellen. Der Glaube an eine postmortale Existenz gehört nämlich nach wie vor zum Kern der meisten Religionen. Religionen sind von anderen ethischen Entwürfen einer kognitiven Bearbeitung der Sterblichkeit gerade durch einen solchen Glauben an eine reale Überwindung von Endlichkeit gekennzeichnet (vgl. Schrödter 1987). Es scheint also wenig aussichtsreich, die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele losgelöst von religiösen Kontexten als eine eigenständige philosophische Frage zu behandeln. Die Frage nach der Wahrheit des Glaubens an ein individuelles Weiterleben nach dem Tod hängt von der Rationalität und Verlässlichkeit des religiösen Glaubens ab, in dessen Horizont sie formuliert wird. Die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele ist in dieser Perspektive durchaus eine philosophisch zu behandelnde, aber keine selbständige philosophische Frage. Postmortale Existenz als individuelle ist ein philosophisches Thema, aber indirekt, insofern Philosophie auf die Sinn- und Geltungsbedingungen religiöser Überzeugungen reflektiert. Als religionsphilosophische Frage bleibt sie mit anderen philosophischen Ansätzen notwendig verknüpft, z.B. mit den in der Philosophie des Geistes behandelten Fragen nach der personalen Identität, etwa der Frage, was eine Person zu einer Person macht, und was sie über Veränderungen hinweg die selbe Person bleiben lässt. Als Kandidaten für Kriterien personaler Identität gelten gemeinhin der Körper und das Gedächtnis. Das Kriterium des Körpers scheint nur schwerlich als ein Prinzip personaler Identität gedacht werden zu können, das auch über den Tod hinaus Gültigkeit besitzt. Eine Alternative bestünde darin, das Kriterium personaler Identität im Gedächtnis zu sehen, in der Kontinuität der Erinnerung. Dies hätte den Vorteil, dass Erinnerung als rein mentales Geschehen verstanden werden kann. Wenn nun die reale Verschiedenheit des Geistigen vom Körperlichen gedacht werden kann, dann wäre auch die Annahme legitim, das Gedächtnis, als eine vom Körper unabhängige und damit zu postmortaler Existenz fähige Entität, bilde den Kern personaler

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Identität. Wollen oder können wir körperlose Wesen noch Personen nennen? Strawson zufolge sind Personen Entitäten, die zugleich mentale und körperliche Eigenschaften besitzen (Strawson 1959). Personen benötigen einen Körper zum Handeln und Wahrnehmen; es sei denn, es könnten Formen direkter, leiblich nicht vermittelter Wahrnehmung als sinnvoll ausgegeben werden. Wie aber handeln, erkennen und kommunizieren körperlose Wesen? Wenn ein sig­ nifikanter Unterschied bestehen soll zwischen ›unter die Erde‹ und ›in den Himmel‹ kommen, dann müssen diese Personen in irgendeinem Sinn handlungs- und erlebnisfähig sein. Die Idee der leiblichen Auferstehung von den Toten scheint auf den ersten Blick vor solchen Problemen gefeit. Sie muss die Möglichkeit postmortaler Existenz nicht aus einem Wesenszug der irdischen Existenz, etwa dem unzerstörbaren Charakter des Mentalen erklären. Aber die Idee der leiblichen Auferstehung hat dann das Problem, die Lücke zwischen Vergehen des physischen und der Schaffung des neuen Leibes zu erklären. Wenn dieses Problem vermieden werden soll, indem man den Auferstehungsleib als eine radikale Neuschöpfung versteht, stellt sich erneut die Frage, in welchem Sinn diese neue, postmortale Person mit der irdischen noch identisch sein kann. Das nach dem Tod existierende Individuum soll ja in irgendeiner Kontinuität mit dem gestorbenen stehen und nicht nur ein Duplikat, ein himmlischer Klon sein. Die ›hellenistische‹ Doktrin, die ontologisch zwischen Leib und Seele trennt und die seelische Existenz als die wahre, die leibliche als niedrige, als uneigentliche betrachtet, unterscheidet sich in einigen Aspekten erheblich von der biblischen Idee der leiblichen Auferstehung. Mit der Trennung der biblischen Auferstehungsvorstellung von der klassischen philosophischen Unsterblichkeitslehre sind jedoch nicht alle begrifflichen Probleme einer Idee postmortaler Existenz vom Tisch. Auch die Doktrin der leiblichen Auferstehung steht nämlich vor der Frage, ob Kriterien personaler Identität nicht an raumzeitliche Leiblichkeit gebunden sind. Der Gedanke individuellen Fortlebens bleibt also indirekt ein philosophisch relevantes Thema, insofern Religionen, für die der Glaube an postmortale Existenz zentral ist, zum Gegenstand philosophischer Reflexion werden. Die traditionelle philosophische Frage nach der Unsterblichkeit der Seele wird unter gegenwärtigen Bedingungen zu einem religionsphilosophischen Thema, d.h. sie ist eingebettet in den Kontext der epistemologischen Frage nach der Rationalität und Plausibilität religiöser Überzeugungen; sie ist keine ›freistehende‹, von existenziellen Überzeugungen losgelöste metaphysische Frage mehr. Religionsphilosophie muss die Frage nach rationaler Geltung religiöser Überzeugungen stellen, auch im Blick auf jene philosophische Disziplin, die jenen Realitätsbereich bearbeitet, über den religiöse Aussagen handeln, etwa die analytische Philosophie des Geistes als der maßgeblichen zeitgenössischen Theorie des Mentalen. Religionsphilosophie kann aber religiöse Überzeu-

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gungen nicht fundieren, sondern bestenfalls ihren Anspruch auf Rationalität rechtfertigen. Existenzielle Entscheidung und persönliche Erfahrung als Grund der Annahme solcher Überzeugungen sind unverzichtbar und durch keinen strengen Beweis zu ersetzen. Dies ist die unverzichtbar existenzielle Dimension des Pragmatismus, gerade seiner Religionsphilosophie, auf die Joas unermüdlich hinweist: »Niemand kann durch rein rationale Mittel überzeugt werden, einen religiösen Glauben im allgemeinen anzunehmen oder einen bestimmten Glauben für gerechtfertigt zu halten.« (Joas 2011: 230) Die Rationalität solcher Überzeugungen kann aber nicht gezeigt werden, wenn ihr Inhalt als unlogisch und widersinnig nachgewiesen werden kann. Daher muss gezeigt werden können, dass die Annahme einer postmortalen Existenz nicht notwendig allen gut begründeten Annahmen einer Philosophie des Geistes widerspricht; anderenfalls müsste der Gedanke einer postmortalen Existenz radikal transformiert oder gänzlich aufgegeben werden. So hat, Joas zufolge, auch James versucht, »die innere Logik religiöser Erfahrung zu rekonstruieren und die Grundzüge eines Weltbildes auszuarbeiten, in dem diese Erfahrung mit der Wissenschaft in wechselseitig fruchtbarer Weise koexistieren kann« (Joas 2011: 230). Aufgrund der Unverzichtbarkeit der Dimension existenzieller Entscheidung ist Unsterblichkeit keine gelehrte Frage in dem Sinne, dass sie unabhängig von existenzieller Entscheidung und Erfahrung beantwortet werden könnte. Jedoch ist die Anfrage, ob diese ernste Entscheidung des Einzelnen sinnvoll ist, eine legitime Frage. Es ist legitim zu fragen, ob es rational ist, diese Frage im Sinne einer religiösen Option zu beantworten. Genau dies zeichnet die pragmatistische Perspektive von James aus, wie Joas ausführt. James hat nämlich nie versucht, »eine Art definitiven rationalen Beweises für die Unsterblichkeit des Menschen zu liefern oder für die Existenz Gottes oder irgendeines anderen Glaubensartikels« (ebd.). Seine Strategie war vielmehr, »wissenschaftliche Versuche zurückzuweisen, die das Recht zu glauben bestritten, so dass durch deren Widerlegung der Wille zu glauben ermutigt würde« (ebd.). Auch eine pragmatistische Psychologie kann nicht an die Stelle der Metaphysik treten und bestimmte, einzelne Gehalte religiöser Überzeugungen als objektiv gültig und wissenschaftlich vernünftig ausweisen, unabhängig von einer rationalen Rechtfertigung der religiösen Lebensform als ganzer. Aber in diesem umfassenden Sinn kann aus einer pragmatistischen Perspektive in der Tat aufgewiesen werden, dass ein solcher »Glaube an das Leben als Gabe und an eine unsterbliche Seele […] den Gläubigen aus Gottvertrauen ein Engagement für die Würde aller Menschen und die riskante Teilhabe an schöpferischen Prozessen« erlaubt, »die abhängig sind von solchem Glauben« (ebd.: 250).

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2. A uferstehung der Toten und J üngstes G ericht Mit Blick auf eine mögliche Transformation und ›Beerbung‹ theologischer Motive ist aber nicht nur zu fragen, ob es einen Unterschied macht, ob der Gedanke der Unsterblichkeit der Seele oder eher der der Auferstehung der Toten als dasjenige religiöse Motiv zu verstehen ist, das nur unter den Bedingungen einer Transformation einen Beitrag zur Konstitution der spezifisch modernen ›Sakralität der Person‹ leisten kann. Zu fragen ist vielmehr, ob es nicht auch für den Gedanken des Jüngsten Gerichts ein säkulares Äquivalent oder mögliche Transformationen geben müsste. Dies scheint von entscheidender Bedeutung für die Vorstellung einer ›Sakralität der Person‹. Bedarf es der Vorstellung des letzten Gerichts, um den Gedanken der absoluten Unvertretbarkeit und letzten Verantwortung eines moralischen Subjekts, nicht nur für einzelne Handlungen, sondern für sein gesamtes Leben, zu denken? Ist diese Vorstellung unverzichtbar als Fundament der unbedingten Geltung einzelner Normen? Wenn ja, dann muss auch für diese Idee eine mögliche rationale Transformation angenommen werden können. Aber nicht nur hinsichtlich einer Konzeptualisierung moralischer Subjektivität, sondern auch mit Blick auf intersubjektiv verbindliche Normen der Gerechtigkeit spielt die Frage, ob es eine mögliche ›säkulare‹ Transformation des Jüngsten Gericht gibt, eine entscheidende Rolle. Wie Max Horkheimer in der geschichtsphilosophischen Kontroverse mit Walter Benjamin betont hat, stellt das Motiv des Jüngsten Gerichts einen radikalen Einspruch gegen die Verzweiflung angesichts der Opfer der Geschichte dar. Ohne diese Hoffnung, dass es ein letztes absolutes Gericht für alle gibt, behalte die Ungerechtigkeit das letzte Wort: »Der Gedanke, dass die Gebete der Verfolgten in höchster Not, dass die der Unschuldigen, die ohne Aufklärung ihrer Sache sterben mussten, dass die letzten Hoffnungen auf eine übermenschliche Instanz kein Ziel erreichen und dass die Nacht, die kein menschliches Licht erhellt, auch von keinem göttlichen durchdrungen wird, ist ungeheuerlich. Die ewige Wahrheit hat ohne Gott ebensowenig einen Grund und Halt wie die unendliche Liebe.« (Horkheimer 1968: 372)

Das Resultat wäre offenkundig Verzweiflung und Trostlosigkeit. »Aber ist Ungeheuerlichkeit«, wie Horkheimer selbst fragt, »je ein stichhaltiges Argument gegen die Behauptung oder Leugnung eines Sachverhaltes gewesen, enthält die Logik das Gesetz, dass ein Urteil falsch ist, wenn seine Konsequenz Verzweiflung wäre?« (ebd.) Horkheimer hat also gerade auf die Unmöglichkeit verwiesen, eine umfassende säkulare Transformation für den Gedanken des Jüngsten Gerichts finden zu können:

Heimlich ins theologische Fach gewechselt? »Was den Menschen, die untergegangen sind, geschehen ist, heilt keine Zukunft mehr. Sie werden niemals aufgerufen, um in der Ewigkeit beglückt zu werden. Natur und Gesellschaft haben ihr Werk an ihnen getan, und die Vorstellung des Jüngsten Gerichts, in welche die unendliche Sehnsucht von Bedrückten und Sterbenden eingegangen ist, bildet nur einen Überrest primitiven Denkens, das die nichtige Rolle des Menschen in der Naturgeschichte verkennt und das Universum vermenschlicht.« (ebd.: 198)

Horkheimer zieht daraus die melancholische Konsequenz, dass mit der Religion, mit der Theologie unweigerlich auch jede Form von Normativität verschwinden werde, die über reines Nutzenkalkül und positivistisches Denken in einem nennenswerten Sinn hinausgeht. Denn »alle diese Wünsche nach Ewigkeit und vor allem nach dem Eintritt der universalen Gerechtigkeit und Güte sind dem materialistischen Denker mit dem religiösen, im Gegensatz zur Stumpfheit der positivistischen Haltung, gemeinsam. Wenn dieser aber bei dem Gedanken, der Wunsch sei ohnehin erfüllt, sich beruhigt, so ist jener von dem Gefühl der grenzenlosen Verlassenheit des Menschen durchdrungen, das die einzig wahre Antwort auf die unmögliche Hoffnung ist.« (ebd.: 372)

Allein in dieser ›unmöglichen Hoffnung‹, in der religiösen »Sehnsucht nach dem ganz Anderen« (vgl. Horkheimer 1985a), nach einem Zustand universaler Gerechtigkeit und Güte, vermag der späte Horkheimer noch eine angemessene Reaktion auf die massenhaften Erfahrungen sinnlosen Leids und die unaufhaltsame Entwicklung der Moderne zur total verwalteten Welt zu erkennen. In einer Welt, in der das Theologische, Religion abgeschafft wird, verschwindet nach Horkheimer Sinn überhaupt; übrig bleibt nur noch Business – in Politik, Wissenschaft, Kultur.1 »Alles, was mit Moral zusammenhängt, geht logisch letzten Endes auf Theologie, jedenfalls nicht auf säkulare Gründe zurück, wie sehr man sich auch bemühen mag, die Theologie behutsam zu fassen.« (Horkheimer 1985b: 350). Damit wird Religion oder Gottesglaube gerade nicht restituiert; der Glaube an einen allmächtigen und allgütigen Gott ist ein »kaum glaubhaftes Dogma angesichts des Grauens, das seit Jahrtausenden auf dieser Erde herrscht« (ebd.). Was bleibt, ist eben die Sehnsucht nach »dem ganz Anderen«, die im Kern eine Sehnsucht nach Gerechtigkeit ist, danach, »dass es bei dem Unrecht, durch das die Welt gekennzeichnet ist, nicht bleiben soll.

1 | »Man wird das Theologische abschaffen. Damit verschwindet das, was wir ›Sinn‹ nennen, aus der Welt. Zwar wird große Geschäftigkeit herrschen, aber eigentlich sinnlose, langweilige. Und eines Tages wird man auch die Philosophie als eine Kinderangelegenheit der Menschen betrachten. […] Ernsthafte Philosophie geht zu Ende.« (Horkheimer 1985a: 404)

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Dass das Unrecht nicht das letzte Wort sein möge. Diese Sehnsucht gehört zum wirklich denkenden Menschen.« (ebd.) Am Ende scheint der Pessimismus Horkheimers zu überwiegen, dass es mit dem denkenden Menschen unweigerlich zu Ende geht. Religionskritik bleibt aber auch für Horkheimer der Anfang und die Voraussetzung aller Kritik; sie darf nur nicht zum platten Atheismus einer oberflächlichen Ideologie des geschäftigen und komfortablen Weltverhältnisses führen. Die in den religiösen Bildern und Überlieferungen gespeicherte Energie muss vielmehr in kritische Reflexion der eigenen Interessen und in eine wissenschaftliche Theorie der Gesellschaft übersetzt werden. Müsste diese skeptische Haltung und programmatische Forderung der älteren Kritischen Theorie im Rahmen einer Genealogie des Gedankens der ›Sakralität der Person‹, welche die Transformation traditioneller religiöser Gehalte rekonstruiert, nicht noch stärker aufgenommen werden? Die in der Vorstellung des Jüngsten Gerichts artikulierte »Sehnsucht nach vollendeter Gerechtigkeit« (Horkheimer 1985a: 393) gehört danach auch zu jenen Gehalten, deren Transformationsprozesse in einer Genealogie der Menschenrechte rekonstruiert werden müssten, gerade um den Geltungssinn der Menschenrechte auch angesichts der Einsicht zu rechtfertigen, dass die vollendete Gerechtigkeit, deren Ausdruck Horkheimer zufolge die Religion ist, »in der säkularen Welt niemals verwirklicht werden« (ebd.) kann.

3. G abe und U nverfügbarkeit Zur Idee der ›Sakralität der Person‹ gehört ganz zentral das Element der Unverfügbarkeit. Dieser Gedanke wird Joas zufolge in der jüdisch-christlichen Tradition in Gestalt der Geschöpflichkeit artikuliert. Die soziologische Transformation dieser Vorstellung nimmt laut Joas die Gestalt der Idee an, »dass unser Leben eine Gabe sei, aus welcher wie bei jeder Gabe Verpflichtungen folgen, die unsere Verfügung über uns selbst einschränken« (Joas 2011: 210). Die Logik der Gabe soll die normative Kraft des religiösen Gedankens der Geschöpflichkeit erläutern. Geschöpflichkeit meint so viel wie unbedingte ›Unverfügbarkeit‹ der menschlichen Person, jene Achtung, die durch humane Reziprozität entstehen oder gestiftet werden kann. Dies soll durch eine Logik der Gabe als immanente soziale Logik verständlich gemacht werden. Wie Joas betont, muss nun jeder, der sich diese Vorstellung nicht im Modus des religiösen Glaubens zu eigen machen kann, zeigen können, »wie er mit seinen denkerischen Mitteln die Idee der Unverfügbarkeit rechtfertigen und motivierend machen kann« (Joas 2011: 250). Auch wenn das Motiv einer ›Logik der Gabe‹ in der postmodernen Diskussion, gerade in der theologischen Rezeption durch Autoren wie Jean-Luc Marion oder John Milbank, »fast modisch« (ebd.: 234)

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geworden ist, so ist es doch für eine solche genealogische Rechtfertigung des Gedankens der Unverfügbarkeit im hohen Maße relevant. Denn Joas zufolge ist von »zentraler Bedeutung für ein zeitgenössisches Verständnis von universaler Menschenwürde und für die Unterscheidung einer universalistischen Sakralisierung der Person, also aller Personen, von der Selbstsakralisierung des privaten Individuums, also der je eigenen Person, ob es gelingt, den Gedanken unseres Lebens als einer Gabe unter heutigen Bedingungen so zu formulieren, dass er auch den Freunden ›vernunftgeleiteter Argumentation‹ einleuchtet« (ebd.).

Im Folgenden sollen die Ausführungen von Hans Joas zur Logik der Gabe mit einem anderen Versuch kontrastiert werden, den semantischen Gehalt der religiös generierten und konnotierten Vorstellung personaler Unverfügbarkeit philosophisch anzueignen, ohne diesen Glauben selbst zu teilen. Die von Jürgen Habermas in der Auseinandersetzung mit der Herausforderung genetischer Manipulationen angestellten Überlegungen lassen sich nämlich als Vorschlag einer solchen säkularen, nachmetaphysischen Rede von der Unverfügbarkeit verstehen, die nicht einer letztlich religiös getönten Logik der Gabe folgt. Habermas stellt die Frage, was genau unter jener Unverfügbarkeit zu verstehen ist, von der wir gerade in bioethischen Debatten immer so schnell zu sprechen geneigt sind. Warum soll sich ein ›eugenisch programmiertes‹ Individuum seine durch gentechnischen Eingriff zustande gekommenen Eigenschaften nicht genauso selbstbewusst zu eigen machen können wie seine natürlichen Eigenschaften, etwa Geschlecht, Größe, Augenfarbe etc.? Solche Merkmale sind dem Individuum ja auch auf dem bisherigen ›natürlichen‹ Wege genauso unverfügbar und in der Regel unveränderlich vorgegeben wie die zukünftig durch gentechnische Programmierung erzeugbaren. Der entscheidende Unterschied besteht Habermas zufolge darin, dass im Fall der Programmierung das Kind nicht, wie in interaktiven Bildungsprozessen, in der Rolle ›einer zweiten Person‹ angesprochen wird, sondern in der Einstellung der dritten Person Objekt bleibt. Eine genetische Intervention eröffne »nicht den kommunikativen Spielraum, das geplante Kind als eine zweite Person anzusprechen und in einen Verständigungsprozess einzubeziehen. Aus der Perspektive des Heranwachsenden lässt sich eine instrumentelle Festlegung nicht wie ein pathogener Vorgang der Sozialisation auf dem Weg der ›kritischen Aneignung‹ revidieren.« (Habermas 2002: 107f.) Solche Eingriffe stellen daher eine eklatante Beschränkung der Autonomie der Person dar. Ihr wird auf diese Weise die Autorschaft über ihr eigenes Leben entzogen; zugleich werden aufgrund der bleibenden Asymmetrie zwischen dem Subjekt und dem Objekt des Programmierungsvorganges die Voraussetzungen für eine gleichmäßige Achtung, die jeder Person in ihrer Eigenschaft als Person überhaupt zukommt,

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erschüttert. Denn die Absicht des genetischen Programmplaners kann von seinem humanen Produkt bestenfalls »interpretiert, aber nicht revidiert oder ungeschehen gemacht werden« (ebd.: 111). Zwischen der für die Programmierung verantwortlichen und der programmierten Person herrscht eine prinzipielle intersubjektive Asymmetrie, da sie ihre sozialen Rollen nicht tauschen können. Es kann so zu mittelbaren Beeinträchtigungen des Autonomiebewusstseins der Betroffenen kommen, die sich eben nicht mehr als souveräne Autoren ihrer eigenen Lebensgeschichte und damit als vollständig autonome moralische Personen verstehen können. Die Veränderungen durch eine liberale Eugenik können sich nach Habermas eben vor allem in Gestalt einer Veränderung des moralischen Selbstverständnisses der betroffenen Person äußern. Habermas unterstreicht somit erneut seine Befürchtung, dass zwei wesentliche Voraussetzungen moralischen Handelns und Urteilens, nämlich die elementare Gleichheit der Interaktionspartner und die individuelle Autonomie der moralischen Person, durch eine liberale Eugenik in Frage gestellt werden könnten. Bei den Folgen der liberalen Eugenik handelt es sich demnach also nicht so sehr um Eingriffe in die Freiheitsrechte einer bestimmten Person, sondern vielmehr um Erschütterungen des Selbstverständnisses dieser Person, sich überhaupt als Trägerin von Rechten begreifen zu können. Der Fortschritt der Biowissenschaften wirft Habermas zufolge die gattungsethische Frage auf, wie wir unsere humane Kultur insgesamt verstehen wollen. Ethische Fragen sind nach Habermas’ Terminologie von moralischen Fragen der Gerechtigkeit und des gleichen Respekts prinzipiell dadurch unterschieden, dass sie auf Fragen des als gut und gelungen eingeschätzten Lebens antworten. Die Moderne stellt sich nun als eine Epoche der Ausdifferenzierung der »Lehren vom guten Leben und der gerechten Gesellschaft« (Habermas 2002: 12) dar, in der substanzielle Auffassungen über das richtige Leben faktisch im Plural auftreten und in dieser Pluralität begrüßt und toleriert werden. Allerdings sind moralische Einstellungen, also der Wille, sich am Gerechten als dem für alle gleichermaßen Guten zu orientieren, auf motivationale Voraussetzungen angewiesen, die sich aus geteilten Werten und Lebensformen und die durch sie ermöglichten Bildungsprozesse speisen. Die motivationale Frage ›Warum überhaupt moralisch sein?‹ kann durch eine prozedurale Theorie, die den Standpunkt der moralischen, d.h. unparteilichen Betrachtung der Interessen expliziert, nicht zwingend beantwortet werden. Sie kann vernünftige Argumente entwickeln, die zur Einsicht in das für alle gleichermaßen Gute verhelfen können; die Bindung des Willens an diese Einsicht kann sie aber nicht bewirken. Hierzu bedarf es der Einbettung des moralischen Wissens in ein motivierendes ethisches Selbstverständnis. Über dieses allgemeine Einbettungsverhältnis einer kognitiven Moral in ethische Selbstinterpretationen hinaus zwingt nun die Entwicklung der Bio-

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wissenschaft, dieses Verhältnis von Moral und Ethik in einem radikaleren Sinn zu verstehen. Der biotechnologische Fortschritt drängt uns nämlich »einen öffentlichen Diskurs über das richtige Verständnis der kulturellen Lebensform als solcher auf« (Habermas 2002: 33). Solche Fragen nach dem richtigen Verständnis einer bestimmten Lebensform sind Habermas zufolge ›ethisch‹ zu nennen, da sie nicht darauf zielen, wie wir angesichts eines moralischen Problems urteilen sollen, sondern wie wir uns existenziell verstehen wollen. Das Gute zielt hier nicht auf das moralisch Gesollte, sondern auf das ethisch Gewollte, auf eine Form des nicht verfehlten Lebens der menschlichen Gattung im Ganzen. In gattungsethischer Hinsicht erhält die Frage nach dem richtigen Leben also den Sinn, nach jenem allgemeinen menschlichen Selbstverständnis zu fragen, in das die von allen vernünftigen Personen geteilte moralische Lebensform eingebettet ist. Habermas hält dabei ausdrücklich an der Enthaltsamkeit fest, »die sich das nachmetaphysische Denken im Hinblick auf verbindliche Stellungnahmen zu substantiellen Fragen des guten oder nicht verfehlten Lebens auferlegt« (Habermas 2002: 9). Er bekräftigt auch die zentrale Auffassung der Diskurstheorie, dass nur solchen Argumenten der Status zwingender moralischer Gründe zukommen kann, die säkularen Charakter besitzen und somit »in einer weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft vernünftigerweise auf Akzeptanz rechnen dürfen« (ebd.: 40). So soll der »Vorrang des Gerechten vor dem Guten« (ebd.: 74) hier nicht aufgehoben werden, denn nur dieser Vorrang begründet eine allgemeine Vernunftmoral, die alle Personen zu gleichberechtigten Menschenrechtssubjekten erklärt. Diese Vernunftmoral bleibt zwar eingebettet in ein intuitives Einverständnis darüber, was ›eigentlich‹ ein menschliches Lebewesen ausmacht; dieses ethische Selbstverständnis ist aber nicht der Grund der Geltung der moralischen Rechte, die allen Personen qua Zugehörigkeit zu dieser Gattung zukommen. Dieser allgemeine Anspruch gründet vielmehr in einer moralischen Erfahrung, die von allen autonomen Personen, d.h. von allen Adressaten moralischer Pflichten, die zugleich Subjekte der Menschenrechte sind, geteilt werden kann. Deshalb besitzt diese Erfahrung universalen Charakter und stellt den Geltungsgrund universaler Normen dar. Unter nachmetaphysischen Bedingungen besteht also notwendig eine prekäre Balance zwischen dem Menschenrechtsgedanken der universalen Vernunftmoral und den allgemeinen starken Intuitionen über die konstitutiven Merkmale der menschlichen Natur. Diese Balance zeichnet sich dadurch aus, dass bei aller ethischen Einbettung unserer Vorstellungen über die Wesensmerkmale der menschlichen Person der kognitive Vorrang des Gerechten vor dem Guten gewahrt bleibt. Die nachmetaphysische Vernunftmoral kann ähnlich wie Rawls’ freistehende Konzeption der Gerechtigkeit als Modul in ethische Kontexte eingebettet werden. Als freistehende Konzeption vernünftiger Moral ist sie von den ethischen Entwürfen des richtigen Lebens jedoch

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geltungslogisch unabhängig. Zugleich fungiert diese Moralkonzeption als kritischer Maßstab für partikulare Ethiken; eine universale Vernunftmoral ist nicht mit jedem ethischen Kontext kompatibel. Wenn es nun um die gattungsethische Einbettung der Moral geht, so muss erst Recht eine Form von Ethik gefunden werden, die mit dem postmetaphysischen Charakter der prozeduralen Vernunftmoral vereinbar ist. Habermas wählt – überraschenderweise – Kierkegaard als Paradigma für eine solche gesuchte postmetaphysische Ethik, die das Selbstverständnis der menschlichen Gattung artikulieren soll. Kierkegaard erscheint deshalb als geeigneter Ausgangspunkt einer postmetaphysischen Gattungsethik, weil er als Erster »die ethische Grundfrage nach dem Gelingen und Misslingen des eigenen Lebens mit einem nachmetaphysischen Begriff des ›Selbstseinkönnens‹ beantwortet hat« (Habermas 2002: 17). Kierkegaard kann in dieser Hinsicht als Vorläufer des existenziellen Denkens von Heidegger, Jaspers oder Sartre angesehen werden. Die Antwort auf die Frage nach dem guten Leben findet das modern sozialisierte Individuum nicht mehr in Natur und Tradition vor. Das Gute ist nichts Vorgegebenes, sondern eine Aufgabe, die das Individuum selbst in freier und einzelner Entscheidung erfüllen muss. Kierkegaard entfaltet damit als erster auf signifikante Weise einen formalen Begriff des guten Lebens, der dieses nicht an bestimmte Inhalte bindet, sondern an die Form authentischen, unverzerrten Selbstseinkönnens. Habermas ist offensichtlich vor allem an Kierkegaards Konzept des Selbstseinkönnens interessiert. Dieser Begriff bildet das Scharnier zwischen einer existenzialistischen Individualethik der Authentizität und der gattungsethischen Einbettung einer universalen Vernunftmoral egalitären Respekts. Selbstseinkönnen bezeichnet jene Eigenschaften, welche die spezifischen Merkmale der menschlichen Gattung und ihrer Angehörigen definieren. Dazu gehören zwei Bedingungen, die eine positive Eugenik systematisch untergraben würde: die Autorschaft über das eigene Leben und die prinzipiell symmetrische Beziehung zu allen anderen Angehörigen der Spezies. Nun ist aber zu beachten, dass Kierkegaards Konzept des Selbstseinkönnens zwar im Sinne einer formalen ›nachmetaphysischen‹ Ethik verstanden werden kann, aber in letzter Instanz religiös bestimmt ist. Seinen letzten Grund und damit die Garantie seines Selbstseinkönnens findet das Individuum Kierkegaard zufolge nicht in sich, sondern in Gott. Unter pluralistischen und säkularen Bedingungen kann aber, so hat Habermas bisher stets argumentiert, ein allgemeines, das Selbstverständnis der gesamten Gattung betreffendes ethisches Verständnis vom gelungenen Selbstseinkönnen nicht mehr verbindlich religiös fundiert werden. Die Unverfügbarkeit und Unbedingtheit, die dem Individuum erst die Möglichkeit gelungenen Selbstseinkönnens eröffnet, kann Habermas zufolge aber nach der ›linguistischen Wende‹ auch rein weltimmanent gedacht werden. »Schon in den Kommunikationsformen, worin wir uns miteinander

Heimlich ins theologische Fach gewechselt?

über etwas in der Welt verständigen, begegnet uns eine transzendierende Macht.« (Habermas 2002: 25) Transzendenz wird hier streng als immanente Transzendenz verstanden; im Sinne der subjektiven Unverfügbarkeit einer intersubjektiv geteilten Sprache und Lebensform.

4. F a zit Hier wird also ein kommunikationstheoretischer Vorschlag unterbreitet, die Unverfügbarkeit des Menschen nachmetaphysisch und postreligiös zu denken. Es wäre daher zu fragen, ob sich Habermas’ Strategie von Joas’ Ansatz einer genealogischen Rekonstruktion der Transformationsprozesse religiöser Menschenbilder in eine allgemeine humane ›Sakralität der Person‹ wirklich so stark unterscheidet, wie beide Autoren gelegentlich zu glauben geneigt sind. Beide sind sich der unverzichtbaren Bedeutung einer genealogischen Rekonstruktion der ursprünglich religiösen Herkunft normativ verbindlicher Personenbegriffe bewusst, ohne den autonomen Geltungssinn der Menschenrechte in Frage zu stellen. Die Genealogie des Gedankens der Menschenrechte bringt bei beiden Autoren die maßgebliche Rolle religiösen Glaubens in philosophischer und soziologischer Perspektive zur Geltung, ohne dass hier ein Wechsel ins theologische Fach vollzogen würde.

L iter atur Habermas, Jürgen (2002): Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Horkheimer, Max (1968): Kritische Theorie. Eine Dokumentation. Bd. 1, hg.  v. Alfred Schmidt, Frankfurt a.M.: Fischer. Horkheimer, Max (1985a): »Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen«. Gespräch mit Helmut Gumnior, in: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. 7: Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973, hg. v. Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 385-404. – (1985b): »Was wir ›Sinn‹ nennen, wird verschwinden.« Gespräch mit Georg Wolff und Helmut Gumnior, in: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. 7: Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973, hg.  v. Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 345-357. Joas, Hans (2011): Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin: Suhrkamp. Schrödter, Hermann (1987): Erfahrung und Transzendenz. Ein Versuch zu Anfang und Methode von Religionsphilosophie, Altenberge: CIS-Verlag.

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– (2001): Metaphysik des Ichs als res cogitans: Ideen und Gott. Zu Stellung, Struktur und Funktion des Gottesbeweises bei Descartes, Frankfurt a.M.: Knecht. Strawson, Peter (1959): Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, London: Routledge.

Recht erfordert Politik Chancen des Menschenrechtsdiskurses vor dem Horizont katholischen Sozialdenkens Daniel Bogner

Die Menschenrechte führen schon lange kein Schattendasein mehr. Sie sind – unabhängig von den Aussichten auf ihre reale Durchsetzung – zum politischen Megathema geworden. Diese Erfolgsgeschichte hat aber auch eine Kehrseite. Denn je mehr die Menschenrechte in den Aushandlungsprozessen der Politik als eine ›harte Währung‹ angesehen und von den beteiligten Akteuren als solche eingesetzt werden, desto mehr steigt auch die implizite Annahme, die Münze der Menschenrechte zeichne sich durch einen stabilen, fest anzugebenden Nennwert aus, mit dem man rechnen könne. Gerade die Arena politisch-gesellschaftlicher Verständigungsprozesse und, mehr noch, das Geschäft politischen Lobbyings verlangen sogar nach einer solchen Fiktion der Stabilität. Denn mit Anliegen, deren Geltungsgrund und -bereich als unsicher angesehen werden müssten, würde man auf dem hart umkämpften Marktplatz politischen bargainings von vornherein schlecht aufgestellt sein. Tatsächlich aber ist es strittig, welchen Schutzbereich die Menschenrechte im Einzelnen definieren, welche institutionellen Maßnahmen erforderlich sind, um den Schutzanspruch zu garantieren, und welche Verfahren am besten geeignet sind, um bei der Vielfalt der betroffenen Akteure und Sachfragen zu praktisch tragfähigen Lösungen zu kommen. Dieser Streit hat Gründe, die in der Sache liegen: Die semantische Offenheit ist dem Menschenrechtsanspruch konstitutiv zu Eigen. Sein sachlicher Gehalt lässt sich verkürzt wiedergeben als Anspruch eines jeden Subjekts auf gleiche Freiheit. Im juristischen Strukturmerkmal der diskriminierungsfrei zu gewährenden Freiheit findet dies kodifizierten Ausdruck. Damit ist auch erkenntlich, dass eine materiale Definition einzelner menschenrechtlicher Forderungen nicht geeignet ist, den Menschenrechtsanspruch abschließend zu bestimmen. Im Gegenteil: Es gehört zur Natur menschenrechtlicher An-

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sprüche, jeweils neu ausgelegt und angesichts sich verändernder Kontexte neu interpretiert zu werden. Dies leuchtet bereits ein, wenn man auf die Entwicklung der Menschenrechte blickt: Bürgerliche und politische Rechte zielten im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in denen sie ihre Entwicklung nahmen, auf andere Freiheitsräume, als dies heute der Fall ist. Einstmals stellte die mit dem Recht auf Versammlungsfreiheit erkämpfte Gründung eines Vereins an sich schon ein Politikum dar; die Aktionsformen solcher Vereine hingegen standen weniger im Fokus. Heute interessiert hingegen eher die Frage nach solchen Handlungsformen im öffentlichen Raum, etwa in den Gestalten einer transnationalen Öffentlichkeit, welche den technisch-sozialen Äußerungsmöglichkeiten der digitalen Gegenwart angepasst sind. Viele einzelne menschenrechtliche Verbürgungen, die im Laufe der vergangenen Jahrzehnte in Sonderverträgen auf internationaler Ebene festgeschrieben worden sind, wurden über lange Zeit nicht als legitimes Menschenrechtsinteresse betrachtet, etwa die Rechte von Frauen (Frauenrechtskonvention der Vereinten Nationen, 1981), von Kindern (Kinderrechtskonvention, 1990) oder von Behinderten (Behindertenrechtskonvention, 2008). Der Europäische Gerichtshof hat erst Ende 2013 in einem Grundsatzurteil festgehalten, dass die Verfolgung aufgrund von Homosexualität ein legitimer Grund ist, das Recht auf Asyl in einem EU-Mitgliedsstaat in Anspruch zu nehmen. Auch das Recht auf Religionsfreiheit ist in seiner realen Wirkung kontextabhängig – und durch diese Abhängigkeit wiederum prägen unterschiedliche historisch-soziale und kulturelle Kontexte die Bedeutung des Rechtsanspruchs und bestimmen diesen fortlaufend: Wo für die angelsächsischen dissenters des 17. Jahrhunderts oder für die reformierten Siedler im Nordamerika des 18. Jahrhunderts vor allem der Aspekt der Kultus- und der Bekenntnisfreiheit in einem noch durch und durch religiös geprägten Gesellschaftsrahmen dominant ist, steht bei den verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts eher der Streit um die Grenzlinien zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit oder die Frage nach dem Umfang des Schutzbereichs insgesamt im Vordergrund. Und es wird so bleiben: Der Gehalt menschenrechtlicher Verbürgungen ist durch die Rechtstexte nur in einem kriteriologischen Kern wirklich fest definiert; dessen Anwendung und Auslegung vor dem Horizont der sich wandelnden Lebens- und Gesellschaftswirklichkeiten wird immer andauern. Dadurch werden Anpassungen des materialen Freiheitsverständnisses erforderlich, das durch den Menschenrechtsanspruch geschützt werden soll. Die wenigen Beispiele zeigen: Menschenrechte werden erst durch die sozialen Kontexte, in denen sie zur Anwendung kommen, in ihrem Gehalt greifbar. Ihr emanzipatorisch wirkender Freiheitsimpuls entfaltet sich überhaupt erst in unterschiedlichen sozialen Situationen und Lagen. Mit anderen Worten: ›Freiheit‹ wird in einer politischen Weise erst konkret, wenn man fragt:

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Freiheit wozu? Man mag das als die ›weiche Stelle‹ des Menschenrechtsdiskurses bezeichnen. Die Frage bleibt, welche Schlüsse man aus dieser Diagnose zieht. Naheliegend erscheint es, die notwendige materiale Offenheit des Menschenrechtsanspruchs als eben das zu begreifen, was sie der Sache nach ist: eine Herausforderung zu methodisch kontrollierter, historisch verantworteter und jeweils neu aktualisierender Interpretation und Auslegung. Recht und Rechtswirklichkeit sind zweierlei Dinge. Neben den Anspruch des Rechts muss eine Politik treten, die sich dieser Anpassung des Anspruchs widmet. Dass zu jedem einzelnen menschenrechtlichen Vertragswerk der Vereinten Nationen eine Vertragskörperschaft (treaty body) eingesetzt ist, welche im Dialog mit den Unterzeichnerstaaten die reale Umsetzung der Vertragsgehalte kontrolliert und kritisch-kommentierend begleitet, ist Ausdruck dieser Logik einer rezi­ proken Verschränkung von Recht und Politik. Der Blick auf die Grundströmungen des kirchlich-theologischen Umgangs mit aktuellen menschenrechtspolitischen Fragen zeigt jedoch eine ganz andere Bewertung der Menschenrechte: Die Pflicht zu einer hermeneutischen Suche nach dem je aktuellen Gehalt menschenrechtlicher Forderungen wird gerade als Problem eines vermeintlichen Relativismus der Menschenrechte gesehen. Besonders in kirchlichen Stellungnahmen ist ein deutlicher Vorbehalt zu spüren: Anstatt sich mit eigenen Beiträgen konstruktiv in den Prozess der fortwährenden Neubestimmung des menschenrechtlich Gebotenen einzuschalten, zieht man sich häufig gern aus der Debatte zurück und konzentriert sich auf die Kategorie der Menschenwürde, der ein naturrechtlich unterlegter fixer Bedeutungskern zugeschrieben wird. Wenn, so könnte man den gegen die Menschenrechte gehegten soupçon zusammenfassen, schon Themen wie Abtreibung und die rechtliche Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften unter Menschenrechtsaspekten diskutiert werden, dann hat die Debatte endgültig ihre innere Orientierung verloren… Dieser Rückzug muss seltsam anmuten, war es doch die christliche Naturrechtslehre, welche sich – vermittelt und säkularisiert u.a. über die frühneuzeitliche Staatsphilosophie und Völkerrechtslehre eines Hugo Grotius und eines Samuel von Pufendorf – auch in den Menschenrechten niedergeschlagen hat. Die These dieses Artikel lautet: Um den Anspruch der Menschenrechte zu erschließen, ist es unverzichtbar, die scheinbar ›weiche Stelle‹ der Menschenrechte in den Blick und theoretisch ernst zu nehmen. Vieles spricht dafür, diese Stelle als ›das Politische‹ der Menschenrechte zu bezeichnen. Der Ansatz von Hans Joas kann bei diesem Versuch einer Konzeptualisierung eine tragende Rolle übernehmen: Sein Konzept der ›affirmativen Genealogie‹ greift das Anliegen auf, normative Geltung mit den Bedingungen historisch-sozialer Kontingenz vereint zu denken und kann deshalb ein methodisch-hermeneutisches Instrument sein, um kontrolliert mit dieser ›weichen Stelle‹ der Men-

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schenrechte umzugehen. Ausblickend kann danach gefragt werden, wo sich für die theologische Ethik Anknüpfungspunkte an eine solche neue Sicht der Menschenrechte finden lassen, die ihr wieder legitimen Eintritt in die aktuellen Auseinandersetzungen um die Menschenrechte ermöglichen.1

1. D ie A mbivalenz kirchlich - theologischer R ede von den M enschenrechten Es erscheint nicht notwendig, die wechselhafte, lange Zeit problematische, zuletzt aber entspannte und konstruktiv verlaufende Geschichte des Verhältnisses von Christentum und Menschenrechten an dieser Stelle eigens in Erinnerung zu rufen. Die notwendige wissenschaftliche2, aber auch kircheninstitutionelle Aufarbeitung3 dieser Beziehung hat stattgefunden und markiert wohl einen Diskussionsstand, hinter den auch restaurativ gesinnte Kräfte innerhalb des Christentums nicht mehr so leicht zurückkommen. Die anfänglich vehemente Gegnerschaft zu den Menschenrechten wurde im Rückblick als ein Fehler bewertet. Der einstmalige Widerstand hat sich heute gar ins Gegenteil verkehrt: Theologisch-ethisch wird in vielen Fällen ein breites Band gesehen zwischen dem theologisch zu beschreibenden Sinnhorizont der religiösen Botschaft und den menschenrechtlich zu entfaltenden Konsequenzen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, die diese Botschaft erforderlich macht. Menschenrechte und christlicher Glaube, so scheint es auf 1 | Dieser Ansatz wird ausführlicher und auf der Basis eines historischen Materials, nämlich den Erfahrungen von Kriegsteilnehmern am französischen Kolonialkrieg in Algerien (1954-62), in meinem Buch Bogner 2014 erörtert. Die folgenden Passagen sind dem zitierten Werk entlehnt, aber auf die hier diskutierte Frage hin angepasst. 2 | Vgl. exemplarisch Schwartländer (Hg.) 1981; Hilpert 1991; Huber 1992; HeimbachSteins 2001. An der Stellung des Katholizismus zur Religionsfreiheit wird im Konkreten deutlich, wie sich die Kirche theologisch mit der Herausforderung der Menschenrechte auseinandersetzt; vgl. dazu Gabriel/Spieß/Winkler (Hg.) 2010; für die staatsrechtliche Seite vgl. die Arbeiten von Ernst-Wolfgang Böckenförde in: Böckenförde 2004. 3 | Die Position der Katholischen Kirche zu den Menschenrechten hat sich nach einer langen Phase der Ablehnung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts fundamental geändert. In zahlreichen lehramtlichen Dokumenten werden die Menschenrechte positiv bewertet und als politisch-soziale Konsequenz der eigenen religiösen Botschaft interpretiert. Besonders zu erwähnen sind die Enzyklika Pacem in Terris (1963), die Erklärung des II. Vatikanischen Konzils zur Religionsfreiheit Dignitatis humanae (1965), die Antrittsenzyklika von Papst Johannes Paul II. Redemptor hominis (1979) sowie die Enzyklika Centesimus annus (1991) anlässlich des hundertsten Jahrestages der ersten Sozialenzyklika Rerum novarum.

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den ersten Blick, kommen nicht nur widerspruchsfrei miteinander aus, sondern bilden eine organische, von der Sache her notwendige programmatische Allianz. Bei genauerem Hinsehen erkennt man jedoch, dass trotz aller semantischen Komplementarität zwischen menschenrechtlichem und biblischtheologischem Ethos eine tiefgründige Spannung innerhalb der religiösen Positionierung zu den Menschenrechten fortbesteht und besonders die kirchliche Rede, mit etwas Abstand aber auch die theologische Reflexion, zum Anspruch der Menschenrechte prägt. Dies sei im Folgenden zusammenfassend nachgezeichnet. Glaubwürdig ist die kirchlich-theologische Wertschätzung der Menschenrechte, indem sie überhaupt die Berechtigung einer säkularen, aber dennoch werthaltigen Rede über den Menschen anerkennt. Nach langem Ringen wird endlich zugestanden, dass Menschenrechte nicht ein vermeintliches ›Gottesrecht‹ verletzen, sondern legitimer Ausdruck welthaft wahrgenommener Verantwortung sind. Menschenrechte, so kann jetzt in den Blick treten, wollen nicht eine religiöse Sinnebene ersetzen, sondern beanspruchen lediglich, die sachgemäße Sprache für denjenigen Gegenstand bereit zu halten, dem sie entsprechen – dem Menschen und seiner weltlichen Existenz. Die Weltlichkeit der Welt – eben das Prinzip der Säkularität – muss nicht länger als Widerspruch zur Religion gelten, sondern wird sogar als ein Momentum christlicher Weltsicht lesbar (vgl. Metz 1968). Mit den Bewegungen kirchlicher Positionen und theologischer Denktraditionen wurde zwar ein neuer Blick auf die Menschenrechte gewonnen, die eingeleitete hermeneutische Wende bleibt allerdings auf halbem Wege stecken. Denn so erfreulich eine Klärung hinsichtlich der theologischen Möglichkeit der Menschenrechte an sich auch ist, so wenig ist damit zur sachlichen Vorstellung des Gegenstandes gesagt. Es bleibt weithin offen, was genau die Menschenrechte meinen, wie sie auszulegen sind und welche Bedeutung ihrer Interpretation und Einpassung in konkrete Kontexte überhaupt zukommt. Bei diesen Fragen zeigt sich die theologische und lehramtliche Tradition bei Weitem nicht so anpassungsfähig und dialogbereit wie bei der Frage nach dem Status von Menschenrechten an sich. Vielmehr kommt ein naturrechtliches Erbe zum Tragen, welches, mal direkt, mal indirekt, die religiöse Hermeneutik der Rede von den Menschenrechten axiomatisch bestimmt. Das zeigt sich daran, dass der Schlüsselpunkt einer theologischen Erschließung der Menschenrechte in einer vorgeordneten Kategorie zu finden ist, nämlich im Bild von der Menschenwürde. Die biblischen Aussagen zur gleichen Würde der Geschöpfe, zur Verpflichtung sozialer Gemeinschaft zu einem Miteinander in Gerechtigkeit und Fürsorge sowie zur vorrangigen Option für die sozial Randständigen wurzelt in der theologischen Basisaussage von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Durch sie wird das Interesse des christlichen Glaubens am konkreten Men-

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schen grundgelegt. Die Würde des Menschen ist eine Kurzformel für die Annahme, jeder menschlichen Existenz komme eine individuell besondere und unveräußerliche Wertigkeit zu. Die Menschenrechte wiederum lassen sich theologisch als mögliche Konkretionen eines Ethos verstehen, das in der Menschenwürde sein Fundament hat; aber in ihrer Natur als positivierbare Rechtsansprüche stellen sie doch ein ganz anderes Genus mit anderem Zielgehalt und Sinnanspruch dar, als es die biblischen Texte mit ihrer religiösen Botschaft bilden. Diese Verankerung des Zugangs zu den Menschenrechten im theologischen Leitbild der Menschenwürde ist riskant: Der sachliche Gehalt der Menschenrechte wird schnell als eine lineare Verlängerung aus dem Metaphernkreis, der mit der Kategorie der Menschenwürde vorliegt, gesehen. Die Menschenrechte werden dann als ›Umsetzung‹ der biblisch-theologischen Menschenwürde ausgelegt; es ist nicht weit bis zum Fehlschluss, sie seien nichts weiter als eine ›Anwendung‹ vorgängig definierter Setzungen zur Natur des Menschen, die man der biblischen Rede von der Menschenwürde unmittelbar entnehmen könne. Aus einem Pfund, mit dem man wuchern könnte, wird eine Verwundbarkeit. Mit dem Bild der Menschenwürde wird nicht das Worumwillen der Menschenrechte dargelegt und damit überhaupt die Möglichkeit menschenrechtlicher Ansprüche plausibel gemacht, sondern die biblisch transportierten thematischen Aussagen zum Menschen werden als erste inhaltliche Entfaltungen menschenrechtlicher Ansprüche hergenommen.4 Gerade die Tatsache, dass verfassungsgeschichtliche Traditionen, aber auch die philosophische Auseinandersetzung Menschenrechte und Menschenwürde auf enge Weise miteinander verknüpfen, erhöht die Versuchung anzunehmen, über den eigenen, wertgesättigten Zugang zur Kategorie der Menschenwürde auch über ein sachgemäßes Verständnis der Menschenrechte zu verfügen. Diese Tendenz wird über die Tradition des christlichen Naturrechts vermittelt und nochmals verschärft. Naturrechtliche Annahmen steuern zwar die theologische Argumentation selbst in der Regel nicht mehr auf direkte Weise. Stil und Habitus kirchlicher Rede, gerade wenn diese sich auf politisch-soziale Sachverhalte bezieht, sind jedoch weiterhin davon geprägt. Sichtbar wird dies etwa an Stellungnahmen und Äußerungen kirchlich-religiöser Organisationen zu politischen Fragen. Die politischen Forderungen, die darin erhoben werden, scheinen in einer unverbrüchlichen Anthropologie gegründet, aus der ein hohes Maß an Urteilsvermögen und Urteilssicherheit hinsichtlich konkreter politischer Konsequenzen, die einzulösen sind, bezogen wird. Über die ›Natur des Menschen‹ und deren Bedürfnisse, so der Eindruck, gibt es keinen Zweifel; hermeneutische Kautelen, die eine Ermittlung der notwendigen Kon4 | Zu den unterschiedlichen Paradigmen, Menschenwürde und Menschenrechte einander zuzuordnen, vgl. Pollmann 2010.

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sequenzen verkomplizieren würden, müssen nicht weiter berücksichtigt werden.5 Mit dem Unterpfand der Menschenwürde in der Hand erliegt man der Illusion, auch bereits zu wissen, worin genau sich der Anspruch der Menschenrechte erschöpft. Theorie und Praxis stehen in einem starren, unflexiblen Verhältnis: Die Schau des Fundamentums schlechthin – die Schöpfungsnatur des Menschen – verhindert einen Blick auf die Kontexte, in denen sich menschliche Existenz immer schon vorfindet. Für ein Verstehen der Menschenrechte spielen die Situationen, in denen sie praktiziert werden, keine wirkliche Rolle, weil in der Theorie bereits alle Elemente gegeben sind, die einen Umgang mit der Kategorie ermöglichen. Sicher kann aus den so beschriebenen Aspekten einer Rede über die Menschenrechte kein umfassendes Resümee über die kirchlich-theologische Kompetenz zur Würdigung der Menschenrechte gezogen werden. Es soll allerdings ein Erbe sichtbar gemacht werden, das heute explizit oft keine Rolle spielt, welches aber im Hintergrund theologischer Reflexion aufgrund dieses Herkunftsverhältnisses vorhanden bleibt und, besonders in den Verlautbarungen religiöser Institutionen, immer wieder vernehmbar wird. Diese naturrechtliche Prägung ist auch der Grund für den manchmal rasch erzielten Konsens zwischen einer in der Tradition Kants vernunftrechtlich formulierten und einer christlich inspirierten Menschenrechtsbegründung. Beide machen sich an einem starken Begriff der Menschenwürde fest. Wo im Gefolge der praktischen Philosophie Kants die Unhintergehbarkeit moralischer Normen auf dem Verbot der Verzwecklichung des menschlichen Individuums beruht, sorgt auf christlicher Seite der Schöpfungsglaube mit der Kategorie der Gottebenbildlichkeit für eine ähnlich absolute Vorrangstellung der menschlichen Person. Die Würde des Menschen macht sich das eine Mal im Gebot fest, jeden anderen stets nur als Zweck, nicht als Mittel zur Verwirklichung anderer Zwecke zu gebrauchen; das andere Mal wird Menschenwürde als eine unableitbare Qualität der Abkünftigkeit aller Geschöpfe von Gott ausgesagt. Beide Male handelt es sich um deontologische, nicht teleologische normative Aussagen. Dies macht eine Verständigung zwischen dem aufklärerischen 5 | Nicht nur die politisch konkret werdenden Kapitel moraltheologischer Handbücher zeigen eine solche Charakteristik; besonders auffallend ist dies in Stellungnahmen kirchlicher Akteure, etwa der kirchlichen Hilfswerke (Misereor, Missio, Adveniat), oder derjenigen Gremien der amtlich verfassten Kirchen, die sich mit Fragen internationaler Gerechtigkeit oder Weltwirtschaft befassen. Die in Anspruch genommene Sicherheit eines Wissens über die ›Natur des Menschen‹, für den Schutz reklamiert wird, macht hingegen auch die Stärke dieser Akteure im politischen Lobbygeschäft aus: Der vorgebliche Zugang zu einer anthropologischen Tiefenerkenntnis ermöglicht es angeben zu können, weshalb bestimmte politische Maßnahmen des Menschenrechtsschutzes unbedingt erforderlich sind.

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und dem christlichen Menschenbild so einfach, aber es ist zugleich der Grund für die hier gerade problematisierte Seite einer bestimmten Handhabung der Menschenrechte: Weil der sachliche Gehalt, um den es den Menschenrechten geht, offenbar so unverbrüchlich festliegt, ist eine Wertschätzung des Zwischenraumes, der den begründenden Pol – die Menschenwürde – und das konkrete Schutzgut – die Existenz des Menschen – auf Abstand hält, kaum möglich. Dieser Zwischenraum ist der Raum des Politischen, in dem Begründung und Ziel des Schutzes, den die Menschenrechte versprechen, miteinander zu vermitteln sind. Was die Menschenrechte wirklich bedeuten, konkretisiert und verkörpert sich erst auf diesem Feld des Politischen, für das die Hauptlinie kirchlich-theologischer Tradition unsensibel ist. Zurück bleibt ein ambivalenter Eindruck: Die Menschenrechte gehören längst zum Gegenstand sozialethischer Traktate und sind ein Instrument kirchlicher Sozialverkündigung geworden. Noch angetan von den begehbar werdenden thematischen Brücken zwischen christlichem Ethos und Ethos der Menschenrechte konzentriert sich die theologische Ethik darauf, die zahlreichen Anschlussstellen zwischen beiden Bereichen zu beleuchten, etwa in Gestalt einer Wirtschafts-, Umwelt- oder Bildungsethik. Alternativ müht man sich mit den Begradigungsarbeiten eines verrenkten Verhältnisses. Dies schlägt sich nieder in den zahlreichen theologisch-ethischen Auseinandersetzungen zum Verhältnis der katholischen Kirche zur Religionsfreiheit, oder aber in einer Problematisierung der Frage, ob überhaupt die Menschenrechte ein verpflichtender Topos christlichen Gesellschaftsdenkens sein können.6 Wirklich systematische Erschließungen liegen bislang kaum vor, allenfalls im Modus abstrakt bleibender Strukturanalogien zwischen einer vermeintlich menschenrechtlichen und einer fundamentaltheologischen ›heterotopischen‹ Tiefengrammatik entlang der Differenz von Macht und Ohnmacht (Sander 1999). Auch in der traditionsreichen Geschichte der katholischen Sozialverkündigung zur Arbeiterfrage und den Prozessen wirtschaftlicher Modernisierung liegt der Fokus weniger auf dem Wie, das heißt den Wegen, die zur Verwirklichung bestimmter werthaltiger Ziele geeignet und ihnen angemessen sind, als vielmehr auf der sachlichen Ermittlung dieser Ziele selbst. Kern des Interesses war es stets danach zu fragen, was denn eine in sozialethischer Sicht sinnvolle sozialpolitische Zielsetzung sein könnte und unter welchen Umständen sie als gerecht gelten dürfte. Hinsichtlich einzelner politischer Forderungen galt diese Sozialverkündigung deshalb als ›emanzipatorisch‹ oder ›modern‹. Betrachtet man die hinter diesen politischen Aussagen stehende sozialethische Erkenntnistheorie aus der Tradition des Naturrechts, wird jedoch ersichtlich, 6 | Dies wird zumeist von konservativ orientierter theologischer Richtung aus gefragt; vgl. etwa Punt 1987 und Saberschinsky 2002a, 2002b.

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dass die Katholische Soziallehre und ihre begleitende schultheologische Reflexion mit methodischen Scheuklappen auftritt, wenn es um ein Verstehen und normatives Wertschätzen des politischen Prozesses an sich geht. Nicht ohne Grund ist es ein zwar katholisch geprägter, aber ganz und gar nicht in der Tradition der theologisch-naturrechtlichen Schule stehender Staatsrechtler wie Carl Schmitt, der zu einer Zeit, in der sich die Katholische Soziallehre auf ihrem Höhepunkt befand und der katholisch-personalistische Denker Jacques Maritain seinen Humanisme integral veröffentlichte, gleichsam als Kontrapunkt über den Begriff des Politischen nachdachte (Schmitt 1991). Ohne hier die von ihm getroffenen Optionen bewerten zu wollen, erscheint dies doch als ein bemerkenswerter Indikator für das festgestellte Defizit. Es wäre deshalb ehrlich, die latent vorhandene Fühllosigkeit theologischen Sozialdenkens für den Prozesscharakter und die eigene Natur des Politischen von vornherein zuzugestehen.7 Man begibt sich sonst in das Risiko, blind zu sein für die historische Kontingenz, die damit möglichen Bedeutungsverschiebungen und den sozialen Wandel, denen menschenrechtliche Kategorien ausgesetzt sind. Wie sollte man auf geschichtlich neue Herausforderungen der menschlichen Würde – biopolitische Fragen, Angriffe auf die informationelle Selbstbestimmung, neue Erkenntnisse zur Entwicklung sexueller Identität – reagieren, die nicht im traditionellen Prisma naturrechtlicher Interpretative liegen?8 Die Politische Ethik müsste als ein Traktat der christlichen Sozialethik demnach neu buchstabiert werden – jenseits ihres naturrechtlichen Erbes.

7 | Bernhard Sutor räumt immerhin ein, dass in der Tradition der Katholischen Soziallehre das Denken des Politischen vernachlässigt worden sei; im Vordergrund stehe allenfalls der Staat als institutionelles Instrument zur Durchsetzung naturrechtlich ermittelter Zielvorgaben (vgl. Sutor 1991: 11f.). Sein Ansatz ist allerdings nicht von dem Bestreben geprägt, einen wirklichen Neuansatz zu formulieren, sondern beschränkt sich darauf, die Themenpalette der politischen Ethik in der Lektüre lehramtlicher Dokumente wiederzufinden und systematisiert zu Wort zu bringen. 8 | Man mag einwenden, dass es neben der naturrechtlichen Tradition eine zweite, genuin katholisch geprägte Traditionslinie gebe, die zu den Menschenrechten führe, nämlich den in den 1930er und 1940er Jahren entstehenden christlichen Personalismus eines Emmanuel Mounier und, vor allem, eines Jacques Maritain, der im Sozialdenken Karol Wojtylas und der Krakauer Schule eine späte Fortsetzung fand. Samuel Moyn zeigt auf, wie sehr in dieser Tradition an der Dualität von Individuum und Gemeinschaft gearbeitet wurde und auf welche Weise – gerade in der Person Maritains – dieses Denken auch zum Stimulus einer bestimmten Spielart der Menschenrechte wurde und sogar die völkerrechtliche Behandlung der Menschenrechte prägte. Im Ganzen aber, so Moyn, sei diese Linie randständig geblieben, gerade was das katholisch-theologische Denken angehe (Moyn 2010). Es wird deshalb hier nicht vertieft darauf eingegangen.

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2. ›A ffirmative G ene alogie ‹ – C hance auf V ermit tlung von G enesis und G eltung Angesichts der kurz skizzierten Innen-Außen-Logik, welche einen vermeintlich identifizierbaren thematischen Kern der Menschenrechte von seiner ›Anwendung‹ und ›Umsetzung‹ auf Praxisfeldern und in sozialen Kontexten unterscheidet, ist zu fragen: Wie kann auf der Basis der kontingenten Entstehungsbedingungen der Menschenrechte ein auch über diese Kontexte hinaus gültiger moralischer Anspruch formuliert werden? Mit anderen Worten: Es muss dargelegt werden, weshalb die Herausbildung eines menschenrechtlichen Anspruchs innerhalb eines bestimmten historischen und sozialen Kontextes nicht zugleich ein Argument gegen die universale Gültigkeit dieses Anspruchs ist. Wie lässt sich ein Verständnis gewinnen, das die geschichtliche Verwurzelung und Einbettung der Menschenrechte nicht sogleich auch als den Grund ihrer nur partikularen, höchst begrenzten Aussagekraft und Tragweite identifiziert? Denn von ›Menschenrechten‹ im eigentlichen Sinne dürfte dann ja gar nicht gesprochen werden. Das Feld der Geschichte und die einzelnen dort beschreibbaren Situationen, in denen der Anspruch der Menschenrechte sich Bahn bricht, formuliert wird oder auch scheitert, liefern demnach das Material einer politischen Modellierung des moralischen Anspruchs, der in diesen Rechten liegt. Man muss dabei der Annahme nachgehen, dass diese politische Formung des menschenrechtlichen Anspruchs im Prisma einer historischen Situation möglich ist und einiges für das Verständnis menschenrechtlicher Geltung austrägt.9 Eine wesentliche Klärung in dieser Richtung wird durch das von Hans Joas in die Debatte gebrachte Konzept der ›affirmativen Genealogie‹ vorgenommen (Joas 2011: bes. 147-203). Die Figur, die Joas in der Verarbeitung von Überlegungen von Ernst Troeltsch formuliert, sucht einen Ausweg aus der Spannung zwischen historischer Genese der Menschenrechte und ihrer zeitgenössischen Geltung. Joas möchte zeigen, dass die exklusive Trennung der beiden Sphären, wie sie oftmals – implizit oder explizit – behauptet wird, ein Fehler ist und in eine Sackgasse 9 | Mit der klassischen juristischen Terminologie könnte man sagen: Aus Rechtsgeltung muss Rechtswirklichkeit werden, ansonsten nutzt die formale Geltung an sich nicht viel. Freilich hinkt das Bild an einer Stelle, denn der Begriff der Geltung bezeichnet in der Rechtswissenschaft bereits den durch das positive Recht gesetzten Anspruch auf Gesetzesgehorsam; in der hier verwendeten Redeweise war aber stets eher von ›Geltungsansprüchen‹ die Rede, die auf der Ebene einer Rechtsmoral liegen. Dass die Dimension des Politischen auch im Recht eine vorrangige Bedeutung hat, zeigt sich u.a. daran, wie umstritten die Interpretation der Menschenwürde-Formel im Grundgesetz ist; vgl. die Übersicht bei Bielefeldt 2011: 13ff.

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führt. Den systematischen Ankerpunkt seiner These, dass beide Größen nur in Bezug aufeinander recht verstanden werden können, findet er in Troeltsch’ These vom Faktum der Idealbildung. Damit »wird statt auf immerwährende Geltung auf die unvorhersehbare Entstehung der Werte, aber auch auf die Bedeutung des denkerischen Rückgangs auf diese Entstehung aufmerksam gemacht, wenn erfaßt werden soll, worum es sich bei einem entstandenen Wert überhaupt handelt« (Joas 2011: 155).10 Es geht Troeltsch – und mit ihm auch Joas – nicht darum, historische Sachverhalte einer bewertenden Beurteilung zu entziehen. Eine solche Beurteilung soll aber nicht ihrerseits unhistorische Maßstäbe anwenden, sondern ihre Kriterien in der Diskussion mit dem historischen Stoff gewinnen. Die bei Troeltsch begegnende Formel hierfür lautet: »Selbstgewissheit ohne Zeitlosigkeit« (zit.n. Joas 2011: 162). Methodisch wird es zur Aufgabe, die Individualität historischer Phänomene angemessen zu berücksichtigen. Im historisch beobachtbaren Handeln des Menschen, so die Annahme, wird sichtbar, auf welche Weise sich Faktisches und Ideales, Natürliches und umstandsmäßig Gegebenes miteinander vereinigen. Der Mensch, so Joas, erweist sich in seinem Handeln als fähig, Neues und Schöpferisch-Kreatives hervorzubringen; sein Handeln ist nicht das einzelne Datum eines teleologischen Strahls. Es folgt einem kreativen Prozess, in dem die Ausstrahlung von Werten und Idealen mit den Bedingungen und Kontexten der historischen Situation zusammengehen. Joas formuliert in diesem Zusammenhang:

»Wenn nun also Individuen, Kollektive und Institutionen ohne Idealbildung unvorstellbar sind und wenn ihre spezifische, über die biologische Individualität weit hinausgehende, sinn- und wertbezogene historische Individualität gerade dadurch konstituiert wird, dann heißt das auch, daß die Gegenstände historischer Betrachtung nie als ruhend aufgefasst werden dürfen. Wer ein Ideal hat, kann nicht umhin, sich selbst im Verhältnis zu diesem zu verorten; er wird auch notwendig von anderen in dem damit aufgespannten imaginären Raum verortet werden.« (Joas 2011: 173) Werte, für die man Geltung beansprucht, werden also niemals außerhalb historischer Situationen gewählt, auf die man sie etwa erst nachträglich anwenden würde. Ideal und Wirklichkeit, oder, mit anderen Worten, Geltung und Genese sind innerlich miteinander verbunden. Historie ist kein ›ruhender Gegenstand‹. Durch eine entsprechende Lektüre historischer Quellen und Zeugnisse ist es möglich, das der Geschichte innewohnende Potenzial an Gel10 | Joas bezieht sich auf die beiden Schriften von Troeltsch, in denen dieser sich mit dem methodologischen und erkenntnistheoretischen Anspruch des Historismus auseinandersetzt: Troeltsch 2006; 2008.

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tung zu entbergen und in seiner Aussagekraft für die Gegenwart sichtbar zu machen. Eduard Spranger spricht von einem »existentiellen Historismus«, den er in diesen Prämissen bei Ernst Troeltsch erkennt (vgl. Joas 2011: 183). Hans Joas schließt an diese bei Troeltsch zu beobachtende Gleichsetzung von Geschichtsrekonstruktion und Gegenwartsorientierung an. Wo Troeltsch dem Handelnden einen Willen zu ›eigener verantwortlicher Idealbildung‹ unterstellt und die historisch beschreibbaren Situationen menschlichen Handelns geltungstheoretisch aufwertet, steht bei Joas die Rede von der ›affirmativen Genealogie‹. Geltung wird nicht – wie bei Nietzsche – durch die Betonung ihrer Genese entkräftet. Im Gegenteil; bei der Betrachtung der Geschichte kommt es darauf an, sich selbst nicht nur in ein Verhältnis zur Faktizität, sondern auch zu den auf dem Spiel stehenden, eingelösten oder uneingelösten Geltungsansprüchen dieser Geschichte zu setzen. Eben dieser Bezug zu einer der geschichtlichen Situation inhärenten Geltungsdimension wird von Joas als ›affirmativ‹ bezeichnet: »›Affirmativ‹ soll diese genealogische, das heißt kontingenzbewußte Vergangenheitsrekonstruktion nun aber heißen, weil der Rückgang auf die Prozesse der Idealbildung, die Entstehung von Werten, unsere Bindung an diese nicht negiert oder uns in einen Zustand souveräner Entscheidung über unsere Wertbindungen erhebt, sondern weil er uns gegenüber dem Appelcharakter historisch verkörperten Sinns öffnet.« (ebd.: 190) Mit dem unter Umständen missverständlichen Begriff des ›Affirmativen‹ ist also nicht gemeint, dass bestimmte Gegebenheiten in der Gegenwart aus dem Rückgriff auf ihre vermeintliche Vergangenheit pauschal legitimiert werden sollen. Die Bezeichnung bezieht sich vielmehr auf den ›Appellcharakter‹ der Vergangenheit, von dem Joas spricht. Von der Gegenwart aus werden im Rückblick auf bestimmte geschichtliche Stationen diejenigen Werte, die man für evident hält und denen man sich verpflichtet fühlt, auf ihre historische Entstehung hin untersucht. Die Lektüre der einzelnen historischen Situationen erlaubt eine kritische Beurteilung über den gegenwärtigen Stand dieser einst entstandenen Ideale. Aus der historischen Rückschau erwächst ein auch heute wirksam werdendes Reservoir normativer Orientierung, in dem sichtbar wird, mit welcher Sinngebung Ideale einst entstanden, welche Potenziale sie bergen, welche Ressourcen an Sinn sie unter Umständen bereit halten, die vielleicht noch gar nicht angemessen gehoben wurden. Das methodische Interesse einer ›affirmativen Genealogie‹, so Joas, gilt deshalb den »schöpferischen Knotenpunkten und den an ihnen entspringenden Tendenzen«11. Ein Blick auf die einzelne historische Situation und ihren Kontext hat zu prüfen, ob und auf welchen Wegen aus dieser Situation Linien in die Gegenwart führen, die auch

11 | So lautet die direkte Übernahme eines Zitats von Troeltsch bei Joas 2011: 191.

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gegenwärtig als Orientierung dienen bzw. dienen könnten.12 Dabei darf diesen Tendenzen oder Linien an sich aber kein teleologischer Charakter unterstellt werden. Eine Verbindung entsteht erst »durch unseren revitalisierenden Bezug zum Appellcharakter der historisch gezeitigten Ideale« (Joas 2011: 191). Denn von Seiten der Gegenwart gibt es ein Interesse, sich diesen oder jenen Situationen in der Geschichte zuzuwenden. Der Grund dafür liegt in der Dimension subjektiver Erfahrung. In einem »Gefühl der subjektiven Evidenz bei affektiver Intensität« (ebd.: 163) bildet sich ein Status an Selbstgewissheit, der zu Wertbindungen führt. Nicht so sehr Begründungen sind das erste Moment, sondern die Erfahrung, von bestimmten Ansprüchen ›ergriffen‹ zu sein und diesen im eigenen Handeln Ausdruck verleihen zu wollen – ihnen damit den Status eines Wertes zuzumessen (vgl. Joas 2011: 163).13 Der Blick in die Geschichte dient dazu, die reine subjektive Evidenz in den Dialog mit den historisch erhobenen ›schöpferischen Knotenpunkten‹ zu versetzen. Erfahrungen und darauf beruhende Wertbindungen in der Gegenwart erhalten dadurch eine auch argumentative Gestalt, weil sie als Fortsetzung, Unterbrechung oder schöpferische Verarbeitung von Impulsen und Bewegungen verstanden werden können, die bereits zuvor in der Geschichte gewirkt haben: »Was zu Beginn bloße subjektive Evidenz war, wird durch denselben Prozess zu historisch gesättigter argumentativer Klarheit geläutert, die aber nie eine Sphäre geschichtsenthobener reiner Geltungsbegründung erreichen kann.« (ebd.: 191)14 12 | Die Herausforderung, Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu vermitteln und auszusagen, weshalb ein Geschehen in der Vergangenheit legitimatorische Funktion für normative Orientierungsbemühungen der Gegenwart einnehmen kann, korrespondiert für Troeltsch mit der theologischen Diskussion seiner Zeit. Joas verweist auf die zeitgenössischen Auseinandersetzungen um die theologische Relevanz der protestantischen historisch-kritischen Bibelexegese. Deren Historisierung biblischer Texte müsse, so Troeltsch, nicht zu einer dogmatischen Erstarrung des biblischen Gehalts führen. Die historische Herangehensweise ermögliche sogar eine Revitalisierung des Glaubens, indem die historische Methode für den Appellcharakter sensibilisiere, der dem geschilderten Fremden innewohne. Joas weist darauf hin, dass Troeltsch gerade in der theologischen Problemkonstellation ein »Muster allen produktiven Geschichtsverständnisses« (Joas 2011: 188) findet. Hingewiesen wird dort auch auf Rendtorff 2006. 13 | Umfassend hat Joas diese Überlegungen zum Prozess der Wertebindung in seinem Buch Die Entstehung der Werte (Joas 1997) dargelegt. Troeltsch selbst spricht davon, dass der Handelnde einen Willen zu ›eigener verantwortlicher Idealbildung‹ habe und sich darin bewusst zu Werten bekennt, deren Anspruch auf Geltung er mit subjektiver Evidenz erfahren hat; vgl. Joas 2011: 155ff. 14 | Die Frage nach der Universalität solchermaßen gewonnener Begründungen steht hier nicht im Vordergrund. Joas macht deren universalisierbaren Status daran fest, dass

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Es zeigt sich nun die Relevanz dieser Überlegungen für die Ausgangsfrage. Joas selbst spricht von der wechselseitigen Verwiesenheit von Werten, Institutionen und Praktiken. In deren Wechselspiel schält sich heraus, welche Relevanz und welche soziale Bedeutung ein bestimmter Geltungsanspruch wirklich erlangt. So wenig es genügt festzustellen, eine gegenwärtige Erfahrung würde mit Evidenz und im Modus affektiver Intensität einleuchten, so wenig hilft eine eindimensionale Betrachtung der Geschichte:

»Die Reinterpretation des historisch verkörperten Sinns ist damit nur das eine; wenn diesem entsprochen werden soll, wenn der Appell nicht nur gehört, sondern verwirklicht werden soll, dann heißt das auch, ein realistisches Bild der Bedingungen der Gegenwart für die Verwirklichung der historisch entstandenen Ideale und ihres unabgegoltenen Potentials zu gewinnen. Die Werte dürfen nicht bloß Werte bleiben. Sie leben nur, wenn sie als Werte argumentativ verteidigt, vor allem aber von Institutionen getragen und in Praktiken verkörpert werden.« (Joas 2011: 203)

Auch in der historischen Analyse sind demnach die Beziehungen zwischen Werten, Institutionen und Praktiken zu betrachten. Erst daraus lässt sich ein Bild gewinnen, das die ›Tendenzen‹ in die Gegenwart hinein sichtbar werden lässt, von denen bei Troeltsch die Rede ist. Die so skizzierte Hermeneutik beschreibt einen Raum; den Zwischenraum, der durch das Wechselspiel von Werten, Institutionen und Praktiken gebildet wird und den man den ›Raum des Politischen‹ nennen könnte. Gerade bei einem Wert- und Normenkomplex wie den Menschenrechten legt sich eine solche Begriffswahl nahe: Der Anspruch der Menschenrechte zielt in direkter Weise auf die Gestaltung des sozialen Feldes und eine entsprechende Ausrichtung der politischen Instrumente. In der Rede von den Menschenrechten treffen individuelles Handeln, Wertbindungen, die aus historischer Erfahrung gewonnen wurden, sowie rechtlich formalisierte Leitbilder für eine gesellschaftlich-politische Ordnung zusammen und müssen miteinander vermittelt werden. Kaum ein Thema bietet sich mehr an als die Menschenrechte, um in der Perspektive von Joas untersucht zu werden.

Individualität im historischen Sinn etwas anderes ist als Subjektivität im Sinne eines Gegensatzes zu Objektivität und Allgemeingültigkeit. Es geht um eine systematische Berücksichtigung der notwendigen Situationsbezogenheit von Geltungsansprüchen. Der Appell, »der von historisch verkörpertem Sinn ausgeht, [ist] eben nicht ein Appell an uns in unserer bloßen Subjektivität, sondern ein Appell an alle, der uns einleuchtet, weil in ihm ein Anspruch erhoben wird, der auch unabhängig von uns gilt. Wenn wir einen Wert erfahren, erfahren wir ihn eben als an sich gültig, und wenn wir ihn als an sich gültig erfahren, dann sind wir zu seiner Anerkennung verpflichtet.« (Joas 2011: 192)

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So sehr damit eine mögliche Interpretationsfolie für die Untersuchung eines bestimmten menschenrechtlich konnotierten und historisch bezeugten Erfahrungsfeldes gegeben ist, so wenig ist mit der Feststellung der theoretischen Prämissen einer solchen Hermeneutik schon gewonnen. Denn die theoretische Operation ist damit noch nicht durchgeführt, sondern nur als Möglichkeit entworfen. Es steht aus, sie ›am Material‹ zu erproben. Joas selbst widmet sich in seinem Buch zwar auch einzelnen historischen Stationen wie etwa dem Abolitionismus oder den Diskussionen, die zur Formulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen im Jahr 1948 geführt haben. Sie sollen exemplarisch veranschaulichen, wie aus Erfahrungen Rechte werden und wie der Prozess einer Wertegeneralisierung verstanden werden kann. Damit sind erste Spuren gelegt, die den angedeuteten Weg eines Umgangs mit historischen Erfahrungen einschlagen, die für die Gegenwart orientierend werden können. Allerdings bleibt doch der Eindruck zurück, dass eine grundständige Durchführung der Theorie an einem historischen Topos noch aussteht.15 Joas demonstriert allerdings eine hohe Sensibilität für die Defizite, die zahlreiche Formen zeitgenössischer Rede über Menschenrechte aufweisen. Es ist eine Sensibilität für den Zusammenhang der Geltung moralisch-normativer Ansprüche und der stets situations- und kontextbezogenen Genese dieser Geltung. Während Joas diese Verbindung mit dem Leitbegriff der ›affirmativen Genealogie‹ konzeptualisiert, möchte ich eine Terminologie vorgeschlagen, die den Zusammenhang noch prägnanter zum Ausdruck bringen soll: Bei historischen Situationen, die in einem solchen normativ-genealogischen Interesse gelesen werden, soll vom Raum des Politischen die Rede sein, der auf so frappierende Weise ins Auge sticht und in dem über Wohl und Wehe des menschenrechtlichen Anspruchs entschieden wird. Vom Recht des Politischen kann gesprochen werden, weil es sich um eine nicht zu leugnende, unableitbare Dimension jener Situationen handelt, in denen Menschenrechte im Spiel sind. Erst in diesem Bereich des Politischen entscheidet sich, wie mit dem Anspruch der Menschenrechte umgegangen wird, wie dieser Anspruch konkret zu verstehen ist und wie die handelnden Akteure sich zum moralisch-rechtlichen Anspruch verhalten. Wie könnte man dieses Wechselspiel zwischen normativem Anspruch und historisch-sozialen Kontexten besser beschreiben als mit der Kategorie des Politischen? Das Historische interessiert nicht als Historisches allein. Interessant ist die Tatsache, dass sich an anderer Stelle, zu einer anderen Zeit, eine solche 15 | Diesen Versuch unternehme ich mit der Studie Das Recht des Politischen (Bogner 2014), indem dort Erfahrungszeugnisse unterschiedlich positionierter Teilnehmer des Algerienkrieges auf die darin implizite Genese menschenrechtlicher Normativität hin ausgelegt werden.

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Konstellation des Politischen beobachten und beschreiben lässt, die mit der vermeintlichen Bedeutung der in dieser historischen Situation auf dem Spiel stehenden Ansprüche kommuniziert. Auch in der Gegenwart findet sich der Anspruch der Menschenrechte in einem politisch-gesellschaftlichen Kräftefeld wieder und es bleibt zu klären, wie er sich angemessen artikulieren kann. Diese Schaltstelle des Politischen nicht zu berücksichtigen, habe ich der Redeweise von der ›Umsetzung‹ eines vorgängig erworbenen menschenrechtlichen Bedeutungsgehaltes zur Last gelegt. Wird die Dimension des Politischen aber als eine Ebene eingestuft, die das Verständnis der Menschenrechte elementar mitbestimmt, wird damit auch eine Aussage über den Begriff der Menschenrechte selbst getroffen. Gegenüber seinen klassischen Fassungen in Recht und Philosophie erfährt er eine signifikante Erweiterung, nämlich im Sinne einer Repolitisierung der Menschenrechte. Die klassischen Deutungen dieser Rechte über das Naturrecht, welche sie als ein Set feststehender Normen über die Existenzbedingungen des Menschen auslegen oder aber mittels einer engen Bindung an das staatliche Souveränitätsprinzip – wie im Falle Frankreichs im Gefolge der Revolution unmittelbar geschehen, was sie um ihre antistaatliche Spitze bringt –, werden als eine schleichende Entpolitisierung der Menschenrechte interpretierbar.16 Beide Male, in der naturrechtlichen wie in der republikanischen Deutung, handelt es sich um den Versuch, die Politik auf ein vorpolitisches Fundament zu stellen. Damit wird politisches Handeln zwar in gewisser Weise orientiert, aber es verliert auch seine ursprüngliche Dynamik. Hingegen könnten die Menschenrechte auch als Katalysator einer Repolitisierung des Politischen angesehen werden. Ihr Gehalt, so die damit verbundene Annahme, ist nicht einer vorpolitischen Einsicht zugänglich, sondern besteht in ihrer Funktion, den Raum des Politischen neu zu öffnen. Eigentlich ist es seltsam, auf den inneren Zusammenhang von Menschenrechten und Politik eigens hinweisen zu müssen. Dass die Menschenrechte unmittelbar etwas mit der Ebene des Politischen zu tun haben, liegt schon darin begründet, dass sie mehr und mehr zu positivem Recht geworden sind. Ihre Ansprüche und Forderungen haben im Laufe der Zeit immer tieferen Eingang in nationale und internationale Rechtskörper gefunden. Damit erreicht der Forderungsgehalt der Menschenrechte eine neue Qualität. Denn wo ein Anspruch als ein Recht niedergelegt ist, tritt die politische Praxis der Rechtsbefolgung und -interpretation als notwendiges Momentum menschenrechtlicher Geltung in den Vordergrund (vgl. Steiger 1999). Im Reden über die Menschenrechte mag sich häufig der Eindruck er16 | Eine solche Sicht der Menschenrechte wird vorgeschlagen von Christoph Menke: »Die Menschenrechte sind kein Prinzip, das einen Prozeß determiniert, sondern die Bewegung einer Praxis entbindet, deren einziges Prinzip die Unterlaufung oder Überschreitung jedes in ihr gesetzten Prinzips zu sein scheint.« (Menke 2011: 18)

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geben, als handele es sich um zwei voneinander zu scheidende Aspekte. Der Sache nach aber sind Menschenrechte und Menschenrechtspolitik die beiden Seiten der einen Medaille. Ohne die Instanz rechtlicher Formatierung könnte nicht von den Menschenrechten die Rede sein. Aber mit der rechtlichen Dimension werden die Menschenrechte zu einem umstrittenen Gegenstand des Politischen, weil die rechtliche Setzung alleine noch nicht hinreicht zur Verwirklichung der darin transportierten Ansprüche. Recht erfordert Politik – auf diesen Nenner könnte man den Zusammenhang reduzieren. Gegenüber einer Optik, die in der Politik lediglich die ›Umsetzung‹ eines menschenrechtlichen Programms sieht, das anderswo definiert wurde, wird damit eine Alternative bereit gestellt. Die Ebene des Politischen ist als inneres Moment in die Debatte um die Bedeutung der Menschenrechte einbezogen.

3. K onsequenzen für die theologische E thik : D as P olitische ernst nehmen Blicken wir zurück. Der bisherige Argumentationsgang bestand aus zwei Momenten. Zunächst wurde versucht, die eingeübte und traditionelle Sichtweise katholischen Sozialdenkens auf die Menschenrechte in kurzen Zügen zu rekonstruieren. Methodisch wurde dabei nicht in erster Linie auf die Diskursgeschichte der kirchlich-theologischen Annäherung an das Menschenrechtsethos geblickt. Im Fokus standen vielmehr Mechanismen, die dafür verantwortlich sind, dass die Menschenrechte zwar einerseits gewürdigt und anerkannt, aufgrund einer naturrechtlich bestimmten Grundperspektive andererseits aber auch in ein starres epistemologisches Korsett gezwängt werden, das kaum mehr Platz lässt für eine sich historisch wandelnde Auslegungsgeschichte dieser Rechte. Die kirchlich und theologisch so gern bemühte Semantik der Menschenwürde ist Reflex einer solchen Ausweichbewegung, mit der man es vermeidet, sich dem herausfordernden Anspruch der Menschenrechte durchgängig zu stellen. Das zweite Momentum der hier unternommenen Gedankenführung widmete sich dem Konzept der ›affirmativen Genealogie‹, wie Hans Joas es vertritt. Mit diesem Konzept, so die These, wird es möglich, die historischen Entstehungszusammenhänge der Menschenrechte mit der Frage nach ihrer normativ-moralischen Geltung in einen wechselseitigen Austausch treten zu lassen. Dieser ist notwendig, um den Anspruch der Menschenrechte wirklich zu erfassen. Der zeitgenössischen politischen Debatte um die hoch strittigen Fragen nach normativer Reichweite und materialem Schutzbereich des Menschenrechtsanspruchs muss man mit einem Konzept begegnen, das diese ›weiche Stelle‹ der Menschenrechte einfängt, theoretisch erklärt und darin

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methodische Kriterien zum Umgang mit dem vermeintlichen Graubereich der Menschenrechte an die Hand gibt. Sonst bliebe vom tagesaktuellen politischen Streit um die Menschenrechte am Ende der Eindruck haften, es handele sich bei den Menschenrechten um ein so ausuferndes Konzept, dass dessen Verbindlichkeit in der einen oder anderen Sachfrage vor allem nach Kriterien der Macht oder der langen Auslegungstradition entschieden werde. Dass aber die Anpassung dieses Konzeptes an die spezifische Gestalt einzelner Sachfragen vom Wandel der historisch-kulturellen und sozialen Situation unabdingbar gemacht wird und deshalb notwendiger Weise zum Verständnis der Menschenrechte gehört, träte aus dem Blickfeld. Die für diese Klärungen erforderliche methodische Diskussion kann hier nicht im Detail geführt werden. Denn eine solche Erschließung des Menschenrechtsanspruchs bedarf einer am einzelnen Fall entlang geführten hermeneutischen Diskussion, die – vor dem Anspruch des normativen Kerns gleicher Freiheit – eine sensible Gratwanderung zwischen historischer Genese und gegenwärtiger Situation unternimmt. Dabei sind Bewertungen und Abwägungen vorzunehmen; diese sind vor dem Szenario der historischen Situation und der ins Feld geführten Argumente transparent zu machen. Unterm Strich findet in einem solchen Prozedere die – fototechnisch gesprochen – Scharfstellung des Objektivs auf den Gegenstand statt, welche für die Tiefenschärfe des normativen Kerns der Menschenrechte unbedingt erforderlich ist. Wie hier bereits anklingt, kann eine solche Hermeneutik aber nur im Anblick eines konkreten historisch-sozialen Szenarios, einer bestimmten Lage oder akuten Sachfrage, die menschenrechtlich besehen werden soll, entfaltet werden.17 Die Perspektive einer ›affirmativen Genealogie‹ ist erst das Fundament, auf dem eine solche hermeneutische Arbeit im Detail aufruht und angegangen werden kann. Wenn die Menschenrechte als nahezu prädestinierter Gegenstand für die Methode, die Hans Joas vorschlägt, gelten dürfen, kann abschließend ein Blick auf die Potenziale dieses Ansatzes für die theologische Ethik insgesamt gewagt werden. Die Möglichkeiten, die sich eröffnen, sind – selbst bei vorsichtiger Prognose – augenfällig. Man möchte meinen, dass die theoretische Operation der ›affirmativen Genealogie‹ dazu geeignet ist, eine Bresche zu schlagen in das Dickicht, in welches theologische Ethik und Moraltheologie, zumindest in ihren katholisch geprägten Varianten, seit dem Scheitern der neuscholastischen Moralmodelle geraten sind. Während ›Geschichte‹ in dieser Epoche auf der einen Seite im Zuge des Historismus zum Erkenntnisfeld und Gegenstand wissenschaftstheoretischer Innovation wurde, erkannte die kirchliche Institution darin den Ansatzpunkt für weltanschaulichen Relativismus und eine partikularistische Gefährdung des überzeitlichen Wahrheitsgehaltes ihrer Botschaften. Wenn 17 | Ausführlich unternommen wird eine solche Bewertung in: Bogner 2014.

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Hans Joas für sein Konzept nun ganz zentral auf einen Denker wie Ernst Troeltsch zurückgreift, geht er an die Wurzel einer verhängnisvollen Spaltung zurück, welche die kirchliche Moralverkündigung im 20. Jahrhundert in die wohl tiefste Krise der Kirchengeschichte geführt hat. Der Religionshistoriker und Theologe Troeltsch trachtete seinerseits danach, Historismus und theologischen Wahrheitsanspruch miteinander zu vermitteln. Seine prägende Formel von der ›Selbstgewissheit ohne Zeitlosigkeit‹, welche bei ihm dafür steht, in der Beurteilung historischer Sachverhalte nicht wiederum unhistorische Maßstäbe anzuwenden, ist in Joas’ Konzept der ›affirmativen Genealogie‹ zum Unterpfand für eine nicht nur mögliche, sondern notwendige Versöhnung von Historie und Sollensanspruch geworden. Genesis und Geltung, so die Perspektive, die der theologischen Ethik daraus erwächst, müssen nicht in dichotomischer Trennung, sondern können in gegenseitiger Vermittlung gedacht werden. Freilich – dies theoretisch zu behaupten oder auch auszuführen, hilft einer Disziplin noch nicht weiter, die auf das Feld der sozialen, gesellschaftlichen und politischen Praxis angewiesen ist und damit beständig mit sich wandelnden konkreten Situationen und Alltagsfragen zu tun hat. Joas’ Konzept ist deswegen nur die eine Seite der Medaille. Es harrt darauf, im Einzelfall zur Anwendung zu kommen. Erst dann entfaltet es seine wirklichen Potenziale und auch jene methodischen Durchführungsroutinen, welche wachsen müssen, bevor das Modell an sich Vertrauen genießt. Provozierend könnte man fragen: Bestand das intellektuell emanzipatorische Moment des Naturrechts nicht einst genau darin, einen Erkenntnisweg anzubieten, der nachvollziehbar, streng sachbezogen und frei von der Voraussetzung ist, über exklusive und höhere Erkenntnisquellen als Verstand und Vernunft zu verfügen? Die Arbeiten an einer Integration des Konzepts von Hans Joas in die Diskussionen der theologischen Ethik haben gerade erst begonnen.

L iter atur Bielefeldt, Heiner (2011): Auslaufmodell Menschenwürde?, Freiburg i.Br.: Herder. Böckenförde, Ernst-Wolfgang (2004): Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit. Beiträge zur politisch-theologischen Verfassungsgeschichte 1957-2002, Münster: Lit. Bogner, Daniel (2014): Das Recht des Politischen. Ein neuer Begriff der Menschenrechte, Bielefeld: transcript. Gabriel, Karl/Spieß, Christian/Winkler, Katja (2010): Religionsfreiheit und Pluralismus. Entwicklungslinien eines katholischen Lernprozesses, Paderborn: Schöningh. Heimbach-Steins, Marianne (2001): Menschenrechte in Gesellschaft und Kirche, Mainz: Grünewald.

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Heiligkeit und Würde Die Sakralität der Person als theologische Lektüre Stephan Goertz

1. I ns theologische F ach ge wechselt ? Die von Hans Joas vorgelegte ›neue Genealogie der Menschenrechte‹ verweigert sich einer einfachen disziplinären Zuordnung. Sie will »weder Geschichtswissenschaft noch Philosophie oder Theologie« (Joas 2011: 9) sein. Wird der Autor auf dem Buchumschlag noch als »Soziologe und Sozialphilosoph« präsentiert, so tritt die fachwissenschaftliche Einordnung im Werk selbst hinter die inhaltlichen und methodischen Kernanliegen zurück. Die »affirmative Genealogie des Universalismus der Werte« (Joas 2011: 15) erweist sich in ihrem Anspruch, herkömmliche Arbeitsteilungen, wenn nicht gar Abschottungen (vgl. ebd.: 239) zwischen den Disziplinen und steriles Entweder/Oder-Denken hinter sich zu lassen, als ein transdisziplinäres, integratives Projekt. Wenn Joas also in der Einleitung seines fünften Kapitels, überschrieben mit »Seele und Gabe. Gottebenbildlichkeit und Gotteskindschaft«, versichert, »nicht heimlich ins theologische Fach« (ebd.: 210) hinüber wechseln zu wollen, dann ist das nicht lediglich Ausdruck der Sorge um die eigene intellektuelle Satisfaktionsfähigkeit, sondern dem integrativen Grundanliegen geschuldet, welches darin besteht, im Urheberstreit um die Genealogie der Menschenrechte eine alternative Narration vorzulegen. Die Menschenrechte sind demnach weder umstandslos als das Erbe der jüdisch-christlichen Glaubensüberlieferung noch als die exklusive Leistung der Aufklärung zu begreifen. Der Prozess der ›Sakralisierung der Person‹ ist zu vielschichtig, als dass er sich einzig und allein einer bestimmten Tradition zurechnen ließe. Insofern kann man sagen, dass der Idee der ›Sakralität der Person‹ eine Brückenfunktion zwischen soziologischen, philosophischen und eben auch theologischen Reflexionen zur Genese und Geltung der Menschenrechte zukommt (vgl. Halbmayr 2012: 427). Joas argumentiert nicht als Theologe, aber durchaus theologisch.

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2. Theologie als › affirmative G ene alogie ‹ Der Theologiebegriff ist seit der Antike ein Begriff mit einem »weiten Kontinuum von Bedeutungen« (Wiedenhofer 2000: 1435). Theologie kann sowohl die direkte Rede zu und über Gott als auch deren systematische Reflexion bezeichnen. Die heute gängige Aufteilung in biblische, historische, systematische und praktische theologische Fächer stellt eine Reaktion auf mittelalterliche und neuzeitliche Differenzierungsprozesse innerhalb des Wissenschaftssystems dar. Als Glaubenswissenschaft besitzt die Theologie dabei ohne Zweifel einen prekären wissenschaftstheoretischen Status. Theologie im strikten systematischen Sinne versteht sich als Explikation der Wirklichkeit sub specie Dei. Da der Glaube als freier Akt des Menschen begriffen wird und dessen Inhalt darum menschlichem Verstehen nicht verschlossen sein darf, erkennt die Theologie aus ethischen und theologischen Gründen die autonome Vernunft »als Organ wahrer […] Einsicht« (Pröpper 2000: 1454) an. Dem freien Gott entspricht ein freies Subjekt. Von theologisch-systematischen Versuchen, einen den Menschen unbedingt angehenden Gott zu denken, unterscheiden sich die historischen und praktischen theologischen Fächer durch ihren Gegenstand und ihre Methoden. Die historisch-theologischen Fächer stehen vor der Herausforderung – die auch bei Joas in der Auseinandersetzung mit Ernst Troeltsch auftaucht –, Normativität und Geschichte zu verbinden. Die praktisch-theologischen Fächer wiederum kennen die Aufgabe, vor die Joas die Tradition der Menschenrechte gestellt sieht: Wie kann ein historisch entstandener und als solcher rekonstruierbarer Sinnanspruch in der Gegenwart nicht nur argumentativ verteidigt, sondern auch institutionell getragen und praktisch plausibilisiert werden (vgl. Joas 2011: 203)? Da der christliche Glaube von der unbedingten Bedeutsamkeit eines geschichtlichen Ereignisses aus denkt, der Menschwerdung Gottes im Leben des Jesus von Nazareth, ist Theologie ›affirmative Genealogie‹. Weil die christliche Botschaft ihre humane Relevanz aber freien Subjekten vermitteln will, setzt sie die Geltung unbedingter Ansprüche an den Menschen immer schon voraus. Ohne Anknüpfungspunkte im menschlichen Selbstverständnis würde Glaube irrelevant, ihm bliebe nur das Gehorsamsmotiv. In der Moderne ist es der Anspruch auf die Achtung der Menschenwürde und die Sehnsucht nach Gerechtigkeit auch für die Opfer der Geschichte, die der Glaube vorauszusetzen hat, um seinen eigenen Geltungsanspruch überhaupt formulieren zu können. Es gibt folglich ein ethisches Kriterium für das theologische Unternehmen einer ›affirmativen Genealogie‹. Nicht jede sich selbst als religiös verstehende Tradition soll als solche bereits bejaht werden. Aus theologischer Perspektive kommt sittlichen Geltungsfragen eine unverzichtbare kritische Funktion zu. Die reflexive Vergewisserung der Glaubensbegründung bleibt theologisches Kerngeschäft auch dann, wenn

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man Joas sofort darin zustimmt, dass für die lebenspraktische Evidenz und Tradierung dieses Glaubens spezifische Erfahrungen unerlässlich sind.

3. ›W as es ist, das sie (nicht) gl auben ‹ Deutlicher noch als bei der gemeinsamen Frage nach dem Verhältnis von Genese und Geltung offenbart sich das theologische Interesse von Joas in dem Moment, in dem er die beiden Theologumena der Gottebenbildlichkeit und der Gotteskindschaft zum Aufstieg der Menschenrechte in Beziehung setzt. Und mehr als das: Joas will denen, die nicht glauben, »demonstrieren, was es ist, das sie nicht glauben«. Weil sich in der Glaubensüberlieferung eine für ethische Debatten höchst bedeutsame »Sensibilität für Unverfügbarkeit« erhalten habe, sei die »Neuartikulation dieser Idee für alle, Gläubige und Ungläubige, wichtig« (Joas 2011: 210). Was es ist, das Christen glauben – damit hat Joas eine Kurzformel für das Geschäft der Theologie gefunden. Doch sollte das Was um ein Warum ergänzt werden: Warum Christen an das glauben, was sie glauben. Das Achtsamkeit von Joas gegenüber dem, was Menschen glauben, hat mit dem möglichen humanen Mehrwert von Religion zu tun. Freilich muss das Sinnpotenzial jüdischer und christlicher Motive in jeder Gegenwart neu plausibilisiert und transformiert werden, um es vor dogmatischer Erstarrung zu bewahren. Hier ist Joas ganz entschieden: Erst ein die Ansprüche der Menschenrechte anerkennender und sich daraufhin neu artikulierender christlicher Glaube kann zur Stütze der ›Sakralität der Person‹ werden und daraufhin als Glaube Plausibilität für sich erzeugen. Auf historischen Errungenschaften kann sich keine religiöse Tradition ausruhen. Gläubige, so sich ihr Ethos aus ihrem freien Glauben an die unbedingte Liebe Gottes speist, sind für Joas keine Gegner, sondern Verbündete im Kampf gegen die Instrumentalisierungen menschlichen Lebens (vgl. Joas 2011: 249). Seine Überlegungen zu Grundelementen theologischer Anthropologie unter der Fragestellung ihrer moralischen Relevanz sind so gesehen ein Beitrag zur Glaubensreflexion – nicht aus dem Binnenraum etablierter professioneller Theologie, sondern aus der Perspektive eines christlichen Intellektuellen. Verengt man den Theologiebegriff nicht auf eindeutige konfessionelle Bindung und kirchliche Beauftragung, dann kann die Genealogie der Menschenrechte von Joas als theologisches Buch gelesen werden. Nicht zufällig verstehen sich die beiden katholischen Theologen, die von Joas im Abschnitt über »Gottebenbildlichkeit und Gotteskindschaft« angeführt werden (vgl. Joas 2011: 209), Arnold Angenendt und sein Schüler Hubertus Lutterbach, weniger als klassische Kirchengeschichtler denn als sozial- und religionsgeschichtlich arbeitende Christentumshistoriker. Angenendts Idee einer nicht triumphalistischen, sondern selbstkritischen »historischen Apologie des Christentums«

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(Angenendt 2003: 32) teilt das methodische Anliegen der ›Sakralität der Person‹. Der christliche Glaube muss seine humane Glaubwürdigkeit immer wieder neu praktisch bezeugen. Der Historiker kann dabei rekonstruieren, inwiefern das Christentum im Sinne der eigenen Liebesbotschaft gewirkt hat oder nicht. Ausgeklügelte theologische Denksysteme alleine, so zeigt sich dann, sichern keine Gegenwartsbedeutung: »In der Geschichte des Christentums dürfte die Sozialtätigkeit wohl überhaupt die stärkste Kontinuität bilden, stärker als die Kontinuität der Dogmatik.« (Angenendt 2005: 308) Dass der christliche Glaube aber auf diese Weise seit jeher praktisch werden will, hat mit Dogmatik zu tun, also mit den Glaubensinhalten. Beides geht im besten Falle Hand in Hand: die theologische Formulierung und die praktische Bewahrheitung von Glaubensaussagen. Gottebenbildlichkeit und Gotteskindschaft werden von Joas als die zwei Vorstellungen der jüdisch-christlichen Tradition herausgegriffen, die heute im Kontext der ›Sakralität der Person‹ auf eine Neuartikulation warteten. Es gehört zur Botschaft des Buches, den – nicht exklusiv zu verstehenden – religiösen Kontext der Wertschätzung eines jeden menschlichen Wesens als heilig wach zu halten.

4. H eiligkeit des L ebens und S akr alität der P erson Das Projekt der ›affirmativen Genealogie‹ der Menschenrechte ist von mir zu Beginn als integratives Konzept gedeutet worden. Als ein solches verstehe ich auch den Begriff, der dem Projekt seinen griffigen Titel verleiht – ›Sakralität der Person‹. Hier werden m.E. zwei Traditionen zusammengefügt: die theologische Rede von der Heiligkeit des Lebens und die philosophische von der Entdeckung der Person. »Wenn etwas ethischen Absolutheitsanspruch hat, dann die ›Sakralität der Person‹.« (von Heereman 2013: 151) Die Vorstellung von der Heiligkeit des Lebens wird in der Regel mit religiösen Traditionen assoziiert und in der Ethik bisweilen als vitalistische Verabsolutierung des menschlichen Lebens kritisiert, die jeder möglichen Güterabwägung die Grundlage entziehe. In der Tat neigt der Hinweis auf die Heiligkeit des Lebens in der jüngeren Geschichte der katholischen Moraltheologie zu einem strikten Verbot des direkten Angriffs auf jedes unschuldige menschliche Leben. Dabei ist seine theologische Herkunft ungeklärt. Erst im 20. Jahrhundert scheint von der ›Heiligkeit des Lebens‹ im Kontext bioethischer Fragestellungen ausdrücklich die Rede zu sein (vgl. zum Folgenden Baranzke 2012). Fest steht, dass die biblischen Schriften den Begriff nicht kennen. Wenn von Heiligkeit in Bezug auf das Leben des Menschen gesprochen wird, dann in einem moralischen Sinne als Aufforderung zu einem gottgefälligen Leben: »Der Herr sprach zu Mose: Rede zur ganzen Gemeinde der Israeliten und sag zu ihnen: Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig.« (Lev 19, 1-2) Allein Gott ist

Heiligkeit und Würde

heilig. Die Israeliten sollen so leben, dass daran ihr Gottesverhältnis erkennbar wird, so werden sie heilig. Das Neue Testament greift dieses Verständnis auf: »Wie er, der euch berufen hat, heilig ist, so soll auch euer ganzes Leben heilig werden. Denn es heißt in der Schrift: Seid heilig, denn ich bin heilig.« (1 Petr 1, 15-16) Jesus Christus wird zu dem Heiligen Gottes. Diese Tradition ist noch bei Kant präsent: »Das Gesetz sagt: ›Seid heilig (in eurem Lebenswandel), wie euer Vater im Himmel heilig ist!‹ denn das ist das Ideal des Sohnes Gottes, welches uns zum Vorbild aufgestellt ist.« (Kant 1914: 66) Und wenn das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) vom Gewissen als dem »Heiligtum im Menschen« (Pastoralkonstitution Gaudium et spes Nr. 16) spricht, verbindet es ebenfalls die ›Sakralität des Menschen‹ mit dessen Fähigkeit zur Moralität. Von einer Ontologisierung oder Naturalisierung der Heiligkeit des Lebens sind wir hier noch weit entfernt. Eine solche begegnet uns erst nachdrücklich in der bioethischen Lehrverkündigung von Johannes Paul II. (1978-2005).1 Statt von der ›Sakralität der Person‹ wird von der »Heiligkeit der menschlichen Natur« (Lobato 2007: 527) gesprochen. Seitdem wird die Heiligkeit des Lebens mit rigiden Verbotsnormen in Verbindung gebracht. Diese anthropologische und ethische Reduktion ist nicht ohne Kritik geblieben, denn sie engt etwa in der Frage der passiven Sterbehilfe unsere Handlungsoptionen ein. »Will aber dieser Ausdruck [der Heiligkeit des Lebens, S.G.] dem Leben die Würde und Höhe des obersten Wertes verleihen, so wird die Vitalität aufgehöht zum Götzenbild, zu einer Fata Morgana reiner Diesseitigkeit« (Schöllgen 1955: 399), so äußert sich bereits 1955 der Moraltheologe Werner Schöllgen. Diese Überhöhung zu kritisieren, muss aber nicht bedeuten, sich im Umkehrschluss generell von der Heiligkeit des Lebens zu verabschieden. Blicken wir auf den ursprünglichen Kontext der Verbindung von Heiligkeit und menschlichem Leben, dann fällt also auf, dass uns das biblische Verständnis zunächst einmal auf unsere menschliche Verantwortung hinlenkt. ›Sei heilig‹ meint hier: ›Begreife Dich als sittliches Wesen!‹ Der Mensch wird als moralisches Subjekt angesprochen. Auf diese Weise wendet sich die Heiligkeit des Lebens gegen alle anthropologischen Reduktionismen, die am Ende den Menschen als Freiheitswesen tilgen. Der andere, der mich als Freiheitswesen achten soll, hat zweifellos zugleich meine körperliche Existenz zu achten, denn das ist die Weise, in der ich für den anderen zunächst da bin, während ich 1 | Vgl. aber auch schon Pius XI.: Enzyklika Casti connubii (1930): »aber was für ein Grund könnte jemals gelten, in irgendeiner Weise die direkte Tötung eines Unschuldigen zu entschuldigen? […] Ob sie nun der Mutter oder dem Kind zugefügt wird, sie ist gegen das Gebot Gottes und die Stimme der Natur: ›Du sollst nicht töten‹ (Ex 20,13). Eine gleich heilige Sache nämlich ist das Leben beider, das zu ersticken niemals einer Autorität, nicht einmal der öffentlichen, erlaubt sein kann.« (Denzinger/Hünermann 1991, Nr. 3720)

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selbst in ein Verhältnis der Distanz zu meiner Leiblichkeit treten kann (vgl. Schockenhoff 1990: 807-811). Das Leben ist zwar das fundamentalste, nicht aber das höchste Gut. Indem es als heilig bezeichnet wird, erfährt das menschliche Leben eine besondere, eine herausgehobene Wertschätzung. Und weil menschliches Leben eine Zweiheit darstellt, kurz gesagt: biologische und personale Dimensionen vereinigt, darum partizipiert auch der Körper an der Heiligkeit des Lebens. In bioethischen Anwendungsfragen sollte man sich dieses besonderen Status des menschlichen Lebens bewusst sein. Ein hinreichendes Kriterium für normative Urteile hat man damit aber noch nicht zur Hand. Die Heiligkeit des Lebens muss zum Beispiel weder mit einem absoluten Tötungsverbot einhergehen,2 noch verpflichtet sie uns zu einer Lebensverlängerung um jeden Preis. Besteht keine Aussicht, »die Fähigkeit zu einem geistig-personalen Lebensvollzug jemals wiederzuerlangen, stellt die Erhaltung des biologisch-körperlichen Lebens keinen Wert an sich mehr dar« (Schockenhoff 2010: 140). Bei Joas scheint es so zu sein, dass der Hinweis auf die religiös fundierte Begrenzung unserer Selbstbestimmung mit einer Kritik bestimmter Formen der Sterbehilfe verknüpft ist (Joas 2011: 20 u. 210). Wird hier die Reichweite eines theologisch-ethischen Prinzips für Anwendungsfragen nicht doch überschätzt? Die Genese des Personbegriffs liegt im Vergleich zur Heiligkeit des Lebens keineswegs im Dunkeln. Der für das moderne Verständnis der Menschenwürde und der damit verknüpften Menschenrechte zentrale Begriff der Person in der Bedeutung des zur Freiheit bestimmten Menschen hat seine Wurzel in der mittelalterlichen Theologie: »Der unendliche Wert der durch die Erlösungstat Christi geadelten menschlichen Person liegt in ihrer Freiheit. Sie ist als das personkonstituierende Wesenselement von allem Dinghaften dieser Welt unterschieden.« (Kobusch 1993: 31) So wird der Mensch als Person zu einem unschätzbaren Wert, er hat mit anderen Worten: Würde. Freiheit und Würde bilden die zwei Seiten einer Medaille. Dieselbe Tradition, die den Menschen als moralisches Wesen würdigt, spricht von subjektiven Rechten des Menschen und weist damit den Weg zu den neuzeitlichen Menschenrechten (vgl. ebd.: 31-36). Bei Kant wird dann endgültig die Freiheit der Autonomie zum letzten Grund von Recht und Moral. Die durch das Freiheitsvermögen bestimmte Würde des Menschen ist in ihrer Heiligkeit zu achten (Kant 1911: 435; Joas 2011: 84). Wie eng hier die Heiligkeit mit der Autonomie verknüpft wird, zeigt der folgende Satz: »Der Wille, dessen Maximen nothwendig mit den Gesetzen der Autonomie zusammenstimmen, ist ein heiliger, schlechterdings guter Wille.« (Kant 1911: 439) Weil gilt, dass wer Freiheit will, die Freiheit aller wollen muss, ist der 2 | »Das Judentum würde es […] im Gegensatz zur katholischen Lehre als ein schweres Vergehen gegen die Heiligkeit des Lebens betrachten, würde man den Tod einer Mutter zulassen, um ihr ungeborenes Kind zu retten.« (Jakobovits 1989: 936)

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Personbegriff innerlich mit der Solidarität verknüpft. Die ›Sakralität der Person‹ verweist darum bei Joas gegenüber einer »gewissenlos egozentrischen Selbstsakralisierung« auf die »notwendige Sozialität des Individuums« (Joas 2011: 86). Führen wir beide Traditionen zusammen. Während auf der einen Seite die Heiligkeit des Lebens im Verdacht steht, das physische Leben zu mystifizieren und die Autonomie des menschlichen Lebens aus dem Blick zu verlieren, und auf der anderen Seite der Personbegriff, der mit der Fähigkeit zur Autonomie die menschliche Würde bestimmt, als formal und ohne starke Bindungswirkung erscheint, soll die ›Sakralität der Person‹ offenbar diese Schwächen überwinden. Das Personsein trägt auf der Begründungsebene die Geltung moralischen Sollens; die Heiligkeit der Person ruft weitere Achtungsmotive ab, die auch dem Menschen in seiner leiblichen Existenzweise gelten. Wenn wir uns ein Verständnis von Heiligkeit bewahrt, wenn wir Erfahrungen im Umgang mit Heiligem gemacht haben, wissen wir, dass damit Inkommensurables gemeint ist (vgl. Wehlte 2000). Im Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium wird von Papst Franziskus bekräftigt, »dass ein menschliches Wesen immer etwas Heiliges und Unantastbares ist, in jeder Situation und in jeder Phase seiner Entwicklung. Es trägt seine Daseinsberechtigung in sich selbst und ist nie ein Mittel, um andere Schwierigkeiten zu lösen.« (Franziskus 2013, Nr. 213) Handlungsanweisungen für komplexe moralische Konfliktsituationen lassen sich daraus in der Regel jedoch nicht ohne weitere ethische Reflexionen ableiten.

5. G ot tebenbildlichkeit – A spek te einer biblischen P rovok ation »Die biblische Lehre von dem Schöpfer, dem der Mensch sein Dasein verdankt und der ihn sogar zu seinem Ebenbild gestaltet hat, schuf im Christentum für eine positive Wertung des Menschen die günstigsten Voraussetzungen.« (Bruch 1998: 10) Das hier angesprochene Theologumenon von der Gottebenbildlichkeit des Menschen ist als die vermutlich »nachhaltigste Aussage über den Menschen überhaupt« (Schmidinger 2010: 21) bezeichnet worden. »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen.« (Gen 1, 26-27)

In Joas’ ›Sakralität der Person‹ wird die Gabe der Gottebenbildlichkeit in Anknüpfung an William James und Talcott Parsons als die Idee »eines göttli-

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chen Wesenskerns eines jeden Menschen« (Joas 2011: 210) neu artikuliert. Wer diesen Wesenskern – die unsterbliche Seele – als göttliche Gabe verstehe, der setze der menschlichen Verfügung über sich selbst Grenzen. Der Geschenkcharakter des Lebens hat für Joas offenbar konkrete normative Implikationen. »Das Leben selbst als Gabe aufzufassen, stellt […] einen der stärksten Schutzwälle gegen seine Instrumentalisierung dar. Insofern steckt im Gedanken des Lebens als Gabe der Gedanke universaler Menschenwürde und unveräußerlicher Menschenrechte.« (Joas 2011: 249) Die Gabe wird zur moralischen Vorgabe. Entsprechend heißt es im Katechismus der Katholischen Kirche von 1993: »Jeder ist vor Gott für sein Leben verantwortlich. Gott hat es ihm geschenkt. Gott ist und bleibt der höchste Herr des Lebens. Wir sind verpflichtet, es dankbar entgegenzunehmen und es zu seiner Ehre und zum Heil der Seele zu bewahren. Wir sind nur Verwalter, nicht Eigentümer des Lebens, das Gott uns anvertraut hat. Wir dürfen darüber nicht verfügen.« (Nr. 2280)

Hier wird aus dem theologischen Gedanken der Gabe recht unvermittelt ein prinzipielles ethisches Argument gegen das Verfügungsrecht des Menschen über das eigene Leben. Normative Fragen nach dem sittlich Zulässigen im Umgang des Menschen mit dem Leben können jedoch nicht bereits durch den Hinweis auf den Geschenkcharakter des Lebens beantwortet werden. Dass mein Leben ein Geschenk ist, definiert noch nicht abschließend, wie ich mit diesem Geschenk verantwortlich umzugehen habe. Das Leben als göttliche Gabe zu begreifen drückt, noch einmal, die besondere Wertschätzung des Lebens aus, die heuristischen Wert für (bio)ethische Fragen besitzt. Wenn Gott mir mein Leben geschenkt hat, dann ist es der freien Verfügungsmacht von Autoritäten aller Art entzogen. Einschränkungen von Lebensmöglichkeiten stehen nun unter Rechtfertigungszwang. Bei Joas scheint mir die Differenzierung zwischen grundsätzlicher Wertschätzung und konkreter sittlicher Urteilsbildung nicht immer genügend in Rechnung gestellt zu werden. Genuin theologische Überlegungen zum Verständnis der Gottebenbildlichkeit will Joas selbst nicht referieren (vgl. Joas 2011: 209). Dennoch lohnt ein kurzer Seitenblick auf die Interpretations- und Wirkungsgeschichte von Gen 1,2627, weil wir darin wichtige Motive zum Verständnis der ›Sakralität der Person‹ entdecken können. Von der Gottebenbildlichkeit des Menschen ist zwar an prominenter biblischer Stelle – im ersten Kapitel des ersten Buches – die Rede; sie wird in den Schriften des Altes Testamentes aber wider Erwarten kaum weiter entfaltet, und wenn einmal, dann auf eine Weise, die den »anthropologischen Gehalt entweder theologisch relativiert oder ethisch-moralisch uminterpretiert. Daran hält sich im Großen und Ganzen die gesamte jüdische, christliche und islamische Tradition.« (Schmidinger 2010: 8) Erst zu Beginn der Neuzeit wird die anthropologische Sinnspitze der Schöpfungserzählung im Kontext der Frei-

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heit und Kreativität des Menschen neu zur Geltung gebracht. Heinrich Schmidinger vermutet, dass die besondere Rezeptionsgeschichte von Gen 1,26-27 mit den Provokationen des biblischen Textes zu tun hat. Zwei möchte ich nennen: Im Gegensatz zum kulturellen Umfeld des Volkes Israel bezieht sich die Würdigung des Menschen als Gottes (Ab-)Bild in Gen 1,26-27 auf jeden von Gott geschaffenen Menschen, nicht nur auf bestimmte weltliche oder religiöse Autoritäten. »Jenseits aller äußeren Erscheinung ist jeder unendlich heilig und verdient unsere Liebe und unsere Hingabe.« (Franziskus 2013: Nr. 274) Diese Universalität gehört zum Glutkern des Glaubens, ist aber schon in der eigenen jüdisch-christlichen Überlieferung immer wieder in Frage gestellt worden; auf markante Weise in Bezug auf die zweite Provokation: Die Gottebenbildlichkeit gilt unterschiedslos für Mann und Frau. Eine erste Umdeutung finden wir bereits bei Paulus: Der Mann ist »Bild und Abglanz Gottes«, die Frau »Abglanz des Mannes« (1 Kor 11,7-9). Im bedeutsamen Decretum Gratiani (um 1140) heißt es: mulier non est facta ad imaginem Dei (vgl. Schmidinger 2010: 13). Dass das Geschlechterverhältnis in der katholischen Kirche bis heute nicht egalitär ist, brüskiert das sittliche wie das christliche Bewusstsein. Jede Zeit schlägt ihre eigenen Funken aus der biblischen Überlieferung. Wäre diese jedoch nicht als Wort Gottes tradiert worden, hätte sie aufgehört, den Zeitgenossen als Reservoir ethisch relevanter Einsichten zu dienen. Das biblische Zeugnis konnte so immer wieder zum Antrieb der Kritik an menschenverachtenden Verhältnissen werden. »Gott, der alle Menschen erschafft und belebt, wollte, daß alle gleich seien; er hat alle denselben Lebensbedingungen unterstellt, alle zur Weisheit gezeugt, allen die Unsterblichkeit versprochen; niemand ist von seinen himmlischen Wohltaten ausgeschlossen. Denn wie er allen gleicherweise sein einzigartiges Licht zuteilt, für alle die Quellen fließen läßt, die Nahrung bereitstellt, allen die süße Ruhe des Schlafes gewährt, so schenkt er allen Gleichheit und Würde. Niemand ist bei ihm Sklave, niemand ein Herr; wenn er für alle derselbe Vater ist, sind wir mit gleichem Recht alle Freie.« (Laktanz 1965, Divinae Institutiones V, 14, 16f., [CSEL XIX, 446f.]; Übersetzung: Bruch 1998: 19) 3

Auf eine solche Vorlage können spätere Generationen zugreifen, die mit dem Postulat der Gleichheit und Würde politisch und rechtlich Ernst machen wollen. 3 | Deus enim, qui homines et generat et inspirat, omnes aequos id est pares esse voluit, eandem condicionem vivendi omnibus posuit, omnes ad sapientiam genuit, omnibus inmortalitatem spopondit: nemo a beneficiis eius caelestibus segregatur. Nam sicut omnibus unicum suum lumen aequaliter dividit, emittit omnibus fontes, victum sumministrat, quietem somni dulcissimam tribuit, sic omnibus aequitatem virtutemque largitur. Nemo aput eum servus est, nemo dominus: si enim cunctis idem pater est, aequo iure omnes liberi sumus.

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Was aber ist das eigentlich, was da allen Menschen mit der Gottebenbildlichkeit geschenkt wird? Im biblischen Verständnis haben wir es zunächst mit einer Funktionsaussage zu tun, wie der Tübinger Alttestamentler Walter Groß betont (Groß 1999). Indem der Mensch in seinem Lebensraum als Herrscher und Hirte Verantwortung übernimmt, repräsentiert er Gott. Aus einer Funktion auf ein Vermögen zu schließen, liegt nahe. Im Zentrum dieses Vermögens, so lautet die christliche Antwort der Spätantike, steht die mit der Geistigkeit einhergehende Selbstbestimmung des Menschen. Die Seele, nur bei wenigen hat auch der Leib daran Anteil, wird zum eigentlichen Wesen des gottebenbildlichen Menschen (Bruch 1998: 10-13). Selbst als Sünder bleibt der Mensch das zwar angekratzte, aber nicht zerstörte Bild Gottes, ist seine Würde also intakt. Vor allem bleibt Hoffnung auf Umkehr. Niemand darf definitiv abgeschrieben werden. Das letzte Wort über das Verhältnis des Schöpfers zu seinem je einmaligen Geschöpf haben nicht die anderen zu sprechen. Der freie Entschluss Gottes, einen freien Menschen zu schaffen, verwickelt, wie Joas zu Recht anmerkt, Gott »in das Geschehen der Welt« (Joas 2011: 229). Gott hat nun eine Geschichte mit diesem freien Geschöpf, da er dessen Glauben nicht erzwingen will. Wenn mit Emphase von der Gabe des Lebens gesprochen wird, dann ist also darüber Auskunft zu geben, was die nähere Bestimmung dieser Gabe ist, damit aus der Gabe kein schlechtes religiöses Autoritätsargument wird. Die Antwort der christlichen Tradition: Gott gibt dem Menschen ein Leben in Freiheit und Würde. Somit ist die Fähigkeit gewollt, sich zum Charakter der Gabe verhalten zu können. Unverfügbar ist im Letzten nicht das gegebene Leben, sondern die gegebene Würde. Ethische Fragen am Lebensende sind womöglich offener, als manche theologische Verlautbarung erscheinen lässt. Ob wir nun von Gabe, Seele oder Gottebenbildlichkeit sprechen: immer schwingt dabei eine Kritik an reduktionistischen Menschenbildern mit. Das menschliche Leben trägt eine »Anmutung zur Verpflichtung« (Joas 2011: 233) in sich, sobald wir es in eine Relation zu einem Schöpfergott setzen. Jeder Mensch ist dann in all seiner Kontingenz unbedingt gewollt und nicht bloß einfach faktisch da: »Deshalb kann der Glaube daran, dass alle Menschen in Christus geschaffen und von Gott unbedingt angenommen sind, auch dazu frei machen, die Würde aller Menschen uneingeschränkt zu achten und überhaupt wahrzunehmen. Der Glaube kann hellsichtig machen, auch in den Geringsten und in denen, deren äußere Würde und Ansehnlichkeit nicht mehr gewahrt ist, dennoch die unverlierbare Würde des Menschen zu sehen.« (Ernst 2007: 166; Herv. i. O.)

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6. W ertschät zung und konkre te E thik Die ›Sakralität der Person‹ ist auf der Ebene eines inkommensurablen Wertes angesiedelt und lässt sich nicht unmittelbar in eine Serie von eindeutigen normativen Bestimmungen, etwa in bioethischen Zusammenhängen, umgießen. Sicher aber gilt: »Wer im neugeborenen Kind, im geistig Behinderten und im demenzkranken Alten den Anspruch auf Menschenwürde erkennt, wird nach anderen Möglichkeiten zum Ausdruck dieser moralischen Intuitionen suchen, als dies von einer Anthropologie des Vernunftwesens Mensch geboten wird.« (Joas 2011: 62) In der Tat ist zu fragen: »Was geschieht mit denen, die nicht zur Selbstreflexion fähig sind?«, mit denen, »die nicht vernünftig sind« (ebd.: 225)? Wenn wir für eine nicht-reduktionistische Anthropologie plädieren, dann gilt dies auch für die Reduktion des Menschen auf kognitive Leistungen. Die Idee der unteilbaren und unverfügbaren Menschenwürde verpflichtet uns, einen jeden anderen Menschen, auch wenn er aktuell nicht seine Freiheit realisieren kann, unter nicht-willkürlichen Gesichtspunkten zu behandeln. Kein Mensch ist oder wird jemals zu einer Sache, für die ethische Überlegungen keine Rolle mehr spielen. Es gilt, dass ich mein Handeln, das andere betrifft, mit teilbaren Gründen rechtfertigen können soll. Im Konkreten kommt dieses Prinzip dann unter Umständen um schwierige Abwägungsfragen nicht herum.

7. U nterscheidung der G eister Aus theologischer Sicht ist der Rekurs von Hans Joas auf Seele und Gabe nicht alternativlos. Andere Theologien bringen andere Theologumena anthropologisch und ethisch zur Geltung und kommen daraufhin zu anderen Lesarten der Moderne und ihrer Moral der Menschenrechte. Es gibt eine Pluralität christlicher Narrative, die je für sich Plausibilität oder Gewissheit beanspruchen und mit bestimmten Praxisformen verbunden sind. Als religiöse Erzählungen gehen sie nicht selten mit starken Wahrheitsansprüchen einher. Dabei spielen Vorstellungen einer normativen Schöpfungsordnung häufig eine besondere Rolle. Mit den Menschenrechten im Sinne individueller Selbstbestimmungsrechte ist dies kaum in Einklang zu bringen. Die ›Sakralität der Person‹ wird zur Sakralität der von Gott geschaffenen ewigen menschlichen Wesensnatur. Auf diese Weise droht die geschichtliche und soziale Existenzweise des Menschen aus dem Blickfeld zu verschwinden. Natur wird – nicht generell, aber in einigen konkreten Fragen der Lebensführung – zur moralischen Bestimmung für die Freiheit. Zwischen dem katholischen Naturrechtsdenken und den modernen Menschenrechten bestehen deshalb bis heute Spannungen. Statt gleicher fordern manche mit naturrechtlichen Argumenten verschiedene Rechte, je nach Geschlecht, sexueller Orientierung oder sexueller Identität. In solchen

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Fällen steht die Sakralisierung der menschlichen Natur quer zu menschenrechtlichen Forderungen (vgl. Goertz 2013). Ist mit dem Konzept von Joas hier eine Unterscheidung der Geister möglich, ohne ein theologisch-ethisches Kriterium für die Erkennbarkeit des göttlichen Willens einzuführen? In der Moraltheologie wird, um ein solches Kriterium für die Offenbarung eines moralisch vollkommenen Gottes zu gewinnen, das Prinzip der Autonomie der Moral und des Subjekts geltend gemacht. Erst auf dieser Grundlage können gegenüber Traditionen und Narrativen substanzielle kritische Einwände formuliert werden. Damit wird zugleich die Frage nach dem Proprium des christlichen Glaubens aufgeworfen. Der Ansatz von Joas bietet die Möglichkeit, diese Frage jenseits sittlicher Geltungsbegründung, eben im Bereich der Entstehung und Erfahrung von Werten, anzusiedeln. Das schützt den Glauben vor Heteronomie wie vor Plausibilitätsverlust.

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Kult des Individuums oder Sakralität der Person? Ungeklärte Beziehungen und neue Verständigungschancen zwischen Theologie und Sozialtheorie Hermann-Josef Große Kracht Hans Joas verdankt sein Motiv von der ›Sakralität der Person‹ keiner biblisch-theologischen Glaubensüberlieferung und auch keiner transzendentalidealistischen Vernunfteinsicht, sondern einer konkreten zeitdiagnostischen Beobachtung – genauer gesagt: einer zaghaften, zwischen empirischer Sozialwissenschaft und politischem Republikanismus angesiedelten Hoffnung, die Émile Durkheim, die große Gründerfigur der französischen Soziologie, im Herbst 1898 – im Kontext der Dreyfus-Affäre – auf das programmatische Stichwort vom ›Kult des Individuums‹ gebracht hatte. Für Joas’ Projekt einer neopragmatistischen Sozialtheorie ist Durkheim seit langem eine wichtige Bezugsgröße. Nicht erst in seinem Buch zur Entstehung der Werte (Joas 1997), sondern schon in seiner Studie zur Handlungstheorie (Joas 1992) spielt er – neben den Klassikern des amerikanischen Pragmatismus – eine entscheidende Rolle. Und man wird wohl festhalten können, dass es Hans Joas wie wenigen sonst in den letzten zwei Jahrzehnten gelungen ist, zentrale Theoriemotive dieses lange Zeit ziemlich vergessenen Klassikers der Soziologie in die Debatten heutiger Gesellschaftstheorie einzubringen und dort präsent zu halten. Dass Durkheim gegenwärtig eine veritable Renaissance erlebt, ist nicht zuletzt auch das Verdienst von Hans Joas. Durkheims Stellungnahme zur Dreyfus-Affäre spielte in Joas’ DurkheimRezeption jedoch zunächst kaum eine Rolle. Dies sollte sich erst im Jahr 2002 ändern, als Joas begann, sein Konzept der ›Sakralität der Person‹ im Anschluss an, aber auch in spezifischer Absetzung von Durkheims ›Kult des Individuums‹ genauer zu profilieren. Die Differenzen zwischen den beiden Theoriemotiven scheinen dabei in den letzten Jahren noch deutlich größer geworden zu sein; und dies – so mein Eindruck – eher zum Nachteil als zum Vorteil des

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Joas’schen Forschungsprogramms einer normativ anspruchsvollen Sozialtheorie moderner Gesellschaften. Diesem Eindruck will ich im Folgenden nachgehen, indem ich Durkheims Theorem vom ›Kult des Individuums‹ (1) und dessen Rezeption durch Hans Joas (2) nachzuzeichnen versuche. Dabei hoffe ich deutlich machen zu können, dass sich das Motiv der ›Sakralität der Person‹ gerade auch in seinen normativen Gehalten empirisch und theoretisch stärker profilieren ließe, wenn man es im Kontext der säkularisierten Gegenwartsgesellschaften wieder enger an die ursprüngliche Intuition Durkheims anlehnen würde. Statt nach Brücken und Gemeinsamkeiten, nach wechselseitigen Ergänzungen und Bereicherungen zwischen durkheimianisch-säkularem ›Kult des Individuums‹ und jüdisch-christlich inspirierter ›Sakralität der Person‹ Ausschau zu halten, könnte es angemessener sein, gerade die Differenzen zwischen diesen beiden Strängen politisch-moralischer Selbstvergewisserung zu verteidigen und hier für eine Differenzsensibilität zu plädieren, die weder das profane Projekt einer säkularen Wertschätzung der Menschenwürde noch die theologische Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen in ihrer gesellschaftlichen Relevanz schwächen oder delegitimieren müsste (3).

1. D urkheim und der ›K ult des I ndividuums ‹: eine neue R eligion der M oderne ? Durkheims Formel vom culte de l’individu findet sich zum ersten Mal in einem Zeitschriftenartikel, mit dem sich der damals 40jährige, schon zu beträchtlicher Prominenz gelangte Sozialforscher zur Dreyfus-Affäre zu Wort gemeldet hatte, die damals die französische Nation erschütterte (vgl. u.a. Begley 2009; Whyte 2010). Im Konflikt um den zu Unrecht wegen angeblicher Spionage zugunsten des Deutschen Reiches verurteilten jüdisch-elsässischen Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus hatte Émile Zola im Januar 1898 seinen aufrüttelnden Protest J’accuse veröffentlicht und damit heftige Gegenreaktionen ausgelöst. Die Unterstützer Dreyfus’, die sich daraufhin in der Ligue des droits de l’homme et du citoyen zu organisieren begannen und eine Revision des Dreyfus-Prozesses einforderten – zu ihnen gehörte auch Durkheim, der die Sektion Bordeaux der Menschenrechtsliga leitete (vgl. Fournier 2007: 365390) –, sahen sich in der Folge vehementen Angriffen aus Militär und Politik, aus Klerus und Adel ausgesetzt, für die die Macht- und Herrschaftsinteressen der französischen Nation allemal höher standen als vermeintliche Menschenrechtsverletzungen an einem jüdischen Armeeangehörigen. Es kam zu einer viele Städte Frankreichs erfassenden Welle nationalistischer und antisemitischer Unruhen, in deren Folge sich Dreyfus’ Gegner im Dezember 1898 in der Ligue de la patrie française zusammenschlossen, um nicht zuletzt den ›zer-

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setzenden Individualismus‹ zu verurteilen, der die Einheit der französischen Nation bis in ihre Fundamente bedrohe. In diesem Sinne hatte der katholische Publizistik Ferdinand Brunetière, der zu den frühesten Mitgliedern der Vaterlandsliga gehörte, den modernen Individualismus in einem bissigen Artikel in der von ihm herausgegebenen Revue des Deux Mondes schon im März 1898 als »la grande maladie du temps présent« verurteilt, deren Folgen noch schlimmer seien als die von Parlamentarismus, Sozialismus und Kollektivismus (Brunetière 1898: 445). Veranlasst durch diesen Artikel setzte Durkheim – im Juli 1898 in der linksrepublikanischen Revue Bleue – zu einer vehementen Verteidigung des modernen Individualismus an, den die Anti-Dreyfusards zu Unrecht als die »große Krankheit unserer Zeit«, als »unerschöpfliche Quelle innerer Spaltungen« der französischen Nation diffamierten, die man um der Einheit und Stabilität Frankreichs willen »ein für allemal […] austrocknen« müsse (Durkheim 1986: 54). Er plädiert stattdessen dafür, zwei gegenläufige Ausprägungen des Individualismus zu unterscheiden, um den »utilitaristischen Egoismus von Spencer und den Ökonomisten« nicht mit dem ›moralischen Individualismus‹ eines Kant und Rousseau zu verwechseln, »den man gemeinhin in unseren Schulen lehrt und der die Grundlage unseres moralischen Katechismus geworden ist« (ebd.: 55). Dieser habe nämlich mit einem »egoistischen Kult des Ichs« (ebd.: 56) nichts zu tun. Vielmehr artikuliere sich im öffentlichen Protest gegen das Alfred Dreyfus angetane Unrecht – so Durkheims moralsoziologische Intuition – das republikanische Ideal der Freiheit und Gleichheit aller, das nun auf dem Weg sei, sich zur neuen Basismoral der laizistischen französischen Republik zu entwickeln. Und dieses neue Ideal, das sich an der ›Heiligkeit der Person‹ festmache, gehe – wie die klassische Formulierung Durkheims lautet, »soweit über die Ebene der utilitaristischen Ziele hinaus, daß es den gewissenhaften Menschen, die es erreichen wollen, vorkommt, als sei es völlig von Religiosität geprägt. Diese menschliche Person […] wird als heilig betrachtet, sozusagen in der rituellen Bedeutung des Wortes. Sie hat etwas von der transzendenten Majestät, welche die Kirchen zu allen Zeiten ihren Göttern verleihen; man betrachtet sie so, als wäre sie mit dieser mysteriösen Eigenschaft ausgestattet, die um die heiligen Dinge herum eine Leere schafft, die sie dem gewöhnlichen Kontakt und dem allgemeinen Umgang entzieht. Und genau daher kommt der Respekt, der der menschlichen Person entgegengebracht wird. Wer auch immer einem Menschen nach dem Leben trachtet, die Freiheit eines Menschen oder seine Ehre angreift, erfüllt uns mit einem Gefühl der Abscheu, in jedem Punkt analog zu demjenigen Gefühl, das der Gläubige zeigt, der sein Idol profanisiert sieht. Eine solche Moral ist also nicht einfach eine hygienische Disziplin oder eine weise Ökonomie der Existenz; sie ist eine Religion, in der der Mensch zugleich Gläubiger und Gott ist.

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Hermann-Josef Große Kracht Aber diese Religion ist individualistisch, da ja ihr Gegenstand der Mensch und der Mensch seiner Definition nach ein Individuum ist. Mehr noch: es gibt kein System, in dem der Individualismus unbeugsamer wäre. Nirgendwo werden die Rechte des Individuums mit größerem Nachdruck bekräftigt, denn hier wird das Individuum in den Stand der sakrosankten, unantastbaren Dinge erhoben. Nirgendwo wird es eifersüchtiger geschützt gegen Übergriffe von außen, woher sie auch kommen.« (ebd.: 56f.)

Durkheim skizziert hier – in religiöser Terminologie1 – ein Theoriemotiv, mit dem er zumindest im Jahr 1898 die Hoffnung verband, hier könnte eine spezifisch moderne Religion der säkularen Republik entstehen, die sich nicht mehr um den transzendenten Gott des Christentums, sondern um die immanente Heiligkeit jeder einzelnen Person drehen wird.2 Und dieser Religion sei zuzutrauen, die schwere Identitätskrise der zwischen Kirche und Revolution, Monarchie und Republik heillos zerstrittenen französischen Nation zu überwinden. Mit ihren gemeinsam geteilten und stark empfundenen Bindeenergien könne sie nämlich, so Durkheims Hoffnung, eine neue moralische Einheit auf säkularer Grundlage ausbilden, die das bisherige Christentum mit seinen Glaubensüberzeugungen und Sozialformen, seinen Riten, Festen und Symbolen gewissermaßen ins Leere laufen lässt. Dieser ›Kult des Individuums‹ zielt, so Durkheim, auf die »Glorifizierung nicht des Ichs, sondern des Individuums im allgemeinen. Seine Triebfeder ist nicht der Egoismus, sondern die Sympathie für alles, was Mensch ist, ein größeres Mitleid für alle Schmerzen, für alle menschlichen Tragödien, ein heftigeres Verlangen, sie zu bekämpfen und sie zu mildern, ein größerer Durst nach Gerechtigkeit« (Durkheim 1986: 60). Er kenne »als oberstes Dogma die Autonomie der Vernunft und als obersten Ritus die freie Prüfung«, führe aber gerade nicht in die »intellektuelle und moralische Anarchie« (ebd.: 60). Vielmehr stelle er »fortan das einzige Glaubenssystem« dar, »das die moralische Einheit des Landes sicherstellen kann« (ebd.: 62). Im fortschreitenden Diffe1 | Den Versuch, ein strikt ›religionsfreies‹ Vokabular zur Beschreibung dieses sozialmoralischen Phänomens der Moderne zu entwickeln, hat Durkheim offensichtlich nie unternommen. Es scheint allerdings auch kaum säkulare Äquivalente zur Rede von der ›Heiligkeit‹ und der ›transzendenten Majestät‹ der Person zu geben, in denen die hier gemeinten Bedeutungsgehalte unbedingten Respekts nicht zumindest partiell verloren zu gehen drohen. Und auch wer nicht gleich von der ›Sakralität der Person‹ reden und lieber bei der ›unantastbaren Würde‹ bleiben möchte, kommt von (geliehener) religiöser Semantik nicht los, stammt doch auch das Motiv des Unantastbaren aus der religionsgeschichtlichen Dichotomie von ›heilig‹ und ›profan‹. Auch die französische Menschenrechtserklärung von 1789 kam bekanntlich nicht ohne religiöses Vokabular aus, als sie sich zu les droits naturels, inaliénables et sacrées de l’homme bekannte. 2 | Vgl. zum Personkonzept Durkheims u.a. Terrier 2013a: 129-136.

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renzierungsprozess moderner Gesellschaften werden deren Mitglieder nämlich schon bald »nichts Gemeinsames mehr haben […] außer ihrer Eigenschaft als Mensch«; und die kollektiven Gefühle, die diese Eigenschaft in modernen Gesellschaften erwecke, seien dann noch »die einzigen, die sich annähernd in allen Herzen wiederfinden« könnten (ebd.: 63). Von daher sei ein unaufhaltsamer Siegeszug eines derartigen Individualitätskultes zu erwarten, »denn um dessen Aufschwung anzuhalten, müßte man die Menschen daran hindern, sich zunehmend voneinander zu differenzieren« (ebd.: 63f.). Die heftige moralische Empörung, die das Alfred Dreyfus angetane Unrecht in einigen linksrepublikanisch gesinnten Kreisen des gebildeten Bürgertums – viel mehr war es wohl nicht – auslöste, interpretiert Durkheim also dahingehend, dass sich hier ansatzhaft der Glutkern eines neuartigen religiösen Kultes entwickelt, der das Motiv der ›Heiligkeit der Person‹ mit starken emotionalen Ehrfurchts- und Anerkennungsbereitschaften ausstattet; und zwar so sehr, dass dieser affektive, das Herz und die Gefühle der Menschen erobernde Kult eines Tages vielleicht ganz Frankreich mit starken moralisch-emotionalen Verpflichtungsbereitschaften unter das republikanische Banner von Freiheit und Gleichheit zu vereinigen vermag. Denn schließlich sei Frankreich das einzige Land, »in dem die Sache des Individuums wirklich Sache der Nation ist, […] denn es gibt kein anderes, das sein Schicksal so eng mit dem Schicksal dieser Ideen verknüpft hat« (Durkheim 1986: 65f.).3 Mit dieser Beobachtung zum Protest- und Empörungspotenzial moderner Gesellschaften gegenüber individuellen Menschenrechtsverletzungen – und deren religionssoziologischer Interpretation – hat Durkheim eine aussichtsreiche Fährte aufgenommen, auf der sich immer wieder und in oft verblüffender Weise Tendenzen einer profan-säkularen ›Sakralisierung‹ des Individuums feststellen lassen. Es sprechen nämlich viele Beobachtungen dafür, dass die Erfolgsgeschichte des Motiv der ›Unantastbarkeit der Menschenwürde‹ tatsächlich weniger in Einsichten rationaler Aufklärungsphilosophie als in konkreten Unrechtserfahrungen gründet, aus denen sich emotional tief verankerte Bekenntnisse zu einem gemeinsam geteilten säkularen Glauben an die Menschenwürde speisen; zu einem Glauben, der sich in seiner ehrfurchts3 | Noch in seiner großen Studie Die elementaren Formen des religiösen Lebens aus dem Jahr 1912 schreibt er dazu, in Erinnerung an die Feste und Zeremonien der Jahre der Französischen Revolution: »Ein Tag wird kommen, an dem unsere Gesellschaften aufs neue Stunden der schöpferischen Erregung kennen werden, in deren Verlauf neue Ideen auftauchen und neue Formen erscheinen werden, die eine Zeitlang als Führer der Menschheit dienen werden. Haben die Menschen einmal diese Stunden erlebt, dann werden sie spontan das Bedürfnis fühlen, sie von Zeit zu Zeit in Gedanken wieder zu durchleben, d.h. die Erinnerung durch Feste zu festigen, die deren Folgen regelmäßig beleben.« (Durkheim 1981: 572; vgl. dazu auch Terrier 2013b)

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gebietenden Macht sehr wohl als eine säkular-moderne Religion beschreiben lässt, der dabei aber gänzlich ohne religiös-transzendente Gottesbezüge auskommen kann und muss. Der ›Kult des Individuums‹ kann nämlich nicht anders, als mit dem überlieferten Christentum fundamental zu brechen, da der Mensch hier, wie Durkheim unübertroffen prägnant formuliert, ›Gott und Gläubiger zugleich‹ ist. Auch wenn dieser Kult nicht zu einem militanten Atheismus führen muss, kann er sich zu den überlieferten Konfessionen im Lande bestenfalls gleichgültig verhalten. Eher wird er sie mit der Zeit beerben und verabschieden. Er muss jedenfalls, wenn er erfolgreich ist, die seit der Revolution in eine tiefe Krise geratene sozialintegrative Funktion, die einst der kollektiv geteilte Kirchenglaube des Katholizismus erfüllte, durch den säkularen Glauben an die verbindliche Kraft der ›transzendenten Majestät‹ des Individuums und seiner unantastbaren Würde ersetzen. Ob moderne Gesellschaften tatsächlich in der Lage sind, die komplexen Anforderungen einer solchen Integrationsreligion – ihr muss es ja schließlich gelingen, so gegenläufige Gehalte wie kritische Reflexion und unbedingte Bindung, ›ehrfurchtgebietende Autorität‹ und ›freie Prüfung‹ gleichermaßen zu erregen und zu befeuern – stabil und verlässlich zu erbringen, ist allerdings in hohem Maße fraglich. Denn dass sie Orte und Foren, Rituale und Symbole, Feierlichkeiten und Inszenierungen anbieten kann, die in der Lage sind, alle Gesellschaftsmitglieder permanent einzubinden und verbindlich zu verpflichten, wird im fortlaufenden Prozess gesellschaftlicher Differenzierung zunehmend unwahrscheinlich. In der Tat kann man trefflich darüber streiten, wie plausibel das ambitionierte Theorem vom ›Kult des Individuums‹ ist und ob es wirklich umfassende, intensiv gefühlte und alle Gesellschaftsmitglieder hinreichend inkludierende sozialmoralische Prozesse gesellschaftlicher Moralgenerierung zu tragen vermag. Das 19. und 20. Jahrhundert jedenfalls machten zwar verheerende Erfahrungen mit den Erregungs- und Verpflichtungspotenzialen großformatig inszenierter chauvinistischer, faschistischer und stalinistischer Nationalreligionen; diese brachten dem ›Glauben an die Menschenwürde‹ aber nur Hohn und Verachtung entgegen. Kollektive Rituale eines mit vergleichbarer Gefühlsintensität und Massenfaszination verbundenen Individualitätskultes mit seinen Dogmen von ›Autonomie der Vernunft‹ und ›freier Prüfung‹ sind in den Geschichtsbüchern jedoch nicht verzeichnet. Und auch Durkheim selbst scheint seiner frühen Intuition aus dem Jahr 1898 nicht wirklich zu trauen. Jedenfalls hat er seine Überlegungen zum ›Kult des Individuums‹ in seinen späteren Schriften nicht systematisch weiterentwickelt. Die schon 1898 formulierte Aporie, dass dieser Kult zwar ohne »Symbole und Riten im eigentlichen Sinne, Tempel und Priester« auskommen könne, sehr wohl aber auf »kollektiven Praktiken von besonderer Autorität« (Durkheim 1986: 62) aufruhen müsse,

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vermochte er Zeit seines Lebens empirisch und theoretisch nicht überzeugend aufzulösen (vgl. dazu auch Terrier 2013b). Hans Joas moniert deshalb zurecht, dass Durkheim selbst »keine rechte Antwort auf die Frage nach der institutionellen Stützung des individualistischen Ideals« (Joas 2004b: 165) gefunden habe und nicht zeigen könne, »in welchen außeralltäglichen Erfahrungen dieser Glaube entstehen und immer neu belebt werden könnte«. Durkheims Antworten seien deshalb »hinsichtlich der Gegenwart blaß und unklar« (Joas 2004a: 71); und noch in seinem Spätwerk, der großen Studie über Die elementaren Formen des religiösen Lebens, in der er am Beispiel archaischer totemistischer Glaubensvorstellungen die zentralen Wesensmerkmale des sozialen Phänomens der Religion zu erheben versuchte, sei er von seinen »imaginären Reisen zu den australischen Ureinwohnern und nordamerikanischen Indianern« (Joas 2004b: 166) nie wirklich zurückgekehrt zur Frage nach der irgendwie kultisch-rituell zu verankernden neuen Säkularreligion der Dritten Republik.4

2. H ans J oas und die ›S akr alität der P erson ‹: von der S ozialtheorie zurück zur I deengeschichte ? Hans Joas hat sich zwar schon lange intensiv mit dem Werk Émile Durkheims beschäftigt, dem er zentrale Anregungen für sein Forschungsprogramm einer neopragmatistischen Sozialtheorie moderner Gesellschaften verdankt (vgl. dazu insgesamt Schößler 2011). Das Theorem vom ›Kult des Individuums‹ wurde dabei jedoch, wenn überhaupt, nur beiläufig erwähnt. Dies änderte sich erst mit einem im Jahr 2004 erschienenen Text, der zurückgeht auf einen Vortrag, den Joas im Frühjahr 2002 im Rahmen der Guardini-Lectures auf Einladung der Katholischen Akademie Berlin an der dortigen Humboldt-Universität gehalten hatte.5 Joas konstatiert hier, dass Durkheim mit seinem Artikel aus dem Jahr 1898 »die bisher intellektuell konsistenteste Argumentation vorgelegt« habe, »warum wir den Glauben an die Menschenwürde als die Religion der Moderne aufzufassen hätten« (Joas 2004b: 152). Zugleich – und durchaus 4 | Dies gilt stärker noch für die Forschungen der späteren Durkheim-Schule, etwa die Arbeiten des von Durkheim inspirierten Collège de Sociologie, die sich für mögliche Formen ekstatisch-kollektivistischer Sozialität und Efferveszenz in der Moderne begeis­ tern konnten, sich aber kaum für die sozialen Emergenzquellen eines unaufgeregten, dennoch aber belastbaren demokratisch-republikanischen Alltagsethos der ›Unantastbarkeit des Individuums‹, der ›Autonomie der Vernunft‹ und der ›freien Prüfung‹ auf den langen Wegstrecken politischer Normalität interessierten; vgl. dazu u.a. Moebius 2013. 5 | Joas 2004b; einige Passagen dieses Textes hat Joas auch in die Sakralität der Person übernommen (vgl. Joas 2011: 83-108).

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widersprüchlich dazu – moniert er jedoch, Durkheim überziehe »in charakteristischer Weise sein Blatt, wenn er die Moral der Menschenrechte eine Religion nennt, ›in der der Mensch zugleich Gläubiger und Gott ist‹« (ebd.: 155f.; 2011: 86f.). Hier fließe, so Joas, »der programmatische Atheismus des Rabbiner-Sohnes Durkheim unkontrolliert in seine Argumentationsführung ein«, da er sich »gegen den möglichen Weiterbestand religiöser Stützungen der Menschenrechte« (ebd.: 156; 2011: 87) verschließe. Joas spricht hier sogar von »Durkheims Hybris, im Zeichen der Menschenrechte die jüdisch-christliche Tradition nicht fortsetzen, sondern ersetzen zu wollen«, einer Hybris, die »zur unnötigen Schwächung eines wesentlichen Potentials für die Herausbildung und Weitergabe des Glaubens an die Menschenwürde« führe (ebd.: 167). Dieses scharfe Urteil kann den Intentionen des bekennenden Republikaners Durkheim allerdings nicht gerecht werden, denn dieser hat sich nie als programmatischer politischer Theoretiker, sondern stets als nüchterner soziologischer Beobachter verstanden. Ein Ansinnen wie jenes, die jüdisch-christliche Tradition ›ersetzen zu wollen‹, wäre ihm wohl als eine vielleicht manches Literatenherz erwärmende, aus soziologischer Sicht aber hoffnungslos lächerliche Überschätzung der sozialen Leistungsfähigkeit philosophischer Argumentationen erschienen.6 Auch galt ihm das Christentum, dessen tradierende Kraft er allerdings für erschöpft hielt, als zentraler Quellgrund des Glaubens an den individuellen Wert jedes einzelnen Menschen, auch wenn hier nur ein ›beschränkter Individualismus‹ entwickelt worden sei.7 Vor allem 6 | Nicht zufällig schrieb Durkheim auf dem Höhepunkt der Dreyfus-Affäre, von der Schärfe der antisemitisch-militaristischen Angriffe auf die Dreyfusards verunsichert und – angesichts der Tatsache, dass Émile Zola im Juli 1898 nach England fliehen muss­te, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen – am Erfolg der eigenen Bemühungen zweifelnd, an seinen Neffen Marcel Mauss: »Ich habe gar keine Hoffnung. Man kann einen derart starken kollektiven Zustand wie diesen nicht einfach mit guten logischen Gründen […] und mit juristischen Lösungen zerstören (bonnes raisons logiques, solutions juridiques).« (Brief an Marcel Maus vom 11.08.1898; zit.n. Fournier 2007: 381) 7 | So erklärt Durkheim, dass das Christentum – im Unterschied zu den Religionen der antiken Stadtstaaten – von Anfang an »den inneren Glauben und die persönliche Überzeugung des Individuums« (Durkheim 1986: 64) betont habe, auch wenn es nur einen »beschränkte[n] Individualismus« darstelle, während heute »ein höher entwickelter Individualismus unentbehrlich ist« (ebd.: 65). Auch Joas, der Durkheim als einen »militanten Atheisten« (Joas 1997: 90) bezeichnet, notiert dies explizit (vgl. 2004b: 158; 2011: 89f.), scheint Durkheims soziologischer Beobachtung aber dennoch vor allem ein antichristliches Propaganda-Interesse zu unterstellen, wenn er bedauernd notiert: »Der Glaube an die Menschenrechte wird so nicht in das Christentum eingebettet; er soll vielmehr an die Stelle derjenigen Religion treten, der nur zugestanden wird, diesen Glauben vorbereitet zu haben.« (Joas 2004b: 159; 2011: 90; Herv. HJGK) Hier scheint nun Joas’

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aber bleibt unverständlich, wie Durkheim mit seiner für den ›Kult des Individuums‹ schlechthin zentralen Beobachtung, dass der Mensch hier ›Gott und Gläubiger zugleich‹ werde, ›sein Blatt überzogen‹ haben könnte. Wenn Durkheims Beobachtung den Kern des modernen Glaubens an die Menschenwürde trifft, wovon Joas überzeugt ist, dann besteht dieser Kern eben darin, dass das Individuum hier in der Tat zugleich Autor und Adressat dieses Glaubens ist und damit jeden Gottesbezug überflüssig macht. Man kann diesem Theorem deshalb nicht zugleich intellektuelle Konsistenz und hybride Selbstüberschätzung attestieren. Joas’ Vermutungen zum ›programmatischen Atheismus‹ Durkheims und sein Interesse am ›möglichen Weiterbestand religiöser Stützungen der Menschenrechte‹ erwecken denn auch den Eindruck, dass es ihm zwar nach wie vor um die Analyse und Interpretation von Phänomenen sozialer Empörung über Menschenrechtsverletzungen als sozialmoralischer faits sociaux moderner Gesellschaften geht. Gegenüber diesem Motiv scheint sich nun aber das Interesse an einer ideengeschichtlichen Verteidigung der humanitätsverbürgenden Traditionen des Christentums in den Vordergrund zu schieben, unbeeindruckt von der Tatsache, dass die katholische Kirche in der Dreyfus-Affäre nahezu geschlossen auf Seiten der Anti-Dreyfusards stand.8 Dennoch stimmt Joas zentralen Theoriemotiven dieses Durkheim-Textes auf ganzer Linie zu. Das gilt einmal für die fundamentale Rolle, die die neuzeitliche Dynamik funktionaler Differenzierung als unaufhaltsame Triebkraft gesellschaftlicher eigene Sympathie für das Christentum ›unkontrolliert in die Argumentationsführung‹ eingegangen zu sein. 8 | Dass die katholische Kirche heute als fulminante Verteidigerin der ›transzendenten Würde der menschlichen Person‹ auftritt und dies als eine moralische Option betrachtet, die sie ›eigentlich immer schon‹ vertreten habe, dürfte entscheidend daran liegen, dass sie sich selbst – wenn auch erst nach dem II. Weltkrieg – dem sozialen Druck und der moralischen Autorität des modernen ›Kults des Individuums‹ beugen musste. Jedenfalls spricht vieles dafür, dass Kirche und Christentum von den neuen Moralitätslagen moderner Gesellschaften gelernt haben – und wenig dafür, dass dies in Zukunft plötzlich umgekehrt sein könnte. Die Vorstellung, der moderne Individualitätsglaube sei in besonderer Weise auf ideell-normative Stütz- und Haltekräfte aus dieser Tradition und ihren Institutionen angewiesen, hat die Befunde historisch-soziologischer Forschung jedenfalls erst einmal gegen sich. Dies betont mit Nachdruck auch Hans Joas (vgl. etwa Joas 2011: 17f.). Um so unverständlicher bleibt deshalb sein Interesse, nun vor allem die jüdisch-christliche Tradition um Hilfe bei der Rettung der menschenrechtlichen Sensibilität der späten Moderne anzugehen, zumal er sich selbst immer wieder deutlich gegen eindimensionale Verfalls- und Verlustdiagnosen positioniert (vgl. u.a. ebd.: 97; bes. auch Joas 2012: 216f., wo er sich nachdrücklich gegen den von Papst Benedikt XVI. so gern bemühten Topos von der ›Diktatur des Relativismus‹ verwahrt).

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Individualisierung – und damit auch für die sozialstrukturellen Voraussetzungen von politisch-moralischen Prozessen der ›Sakralisierung der Person‹ – spielen dürfte, auch wenn er hier zurecht vor einer allzu optimistischen Interpretation der moralischen Prägekraft dieser Differenzierungsprozesse warnt (vgl. Joas 2004b: 153, 157 u. 168). Vor allem aber unterstützt er – und dies macht den spezifischen Charme seines neopragmatistischen Theorieprojekts aus – nachdrücklich die moralsoziologische These, dass es sich beim Glauben an die Menschenwürde weder um Glaubensgehorsam gegenüber geoffenbarten Wahrheiten noch um theoretisch-intellektuelle Vernunfteinsichten, sondern um praktisch erlebte, kulturell eingebettete und irgendwie auch kultisch-rituell inszenierte und entsprechend verlässlich wiederkehrende Erfahrungen handeln muss.9 Diese vehement vorgetragene Überzeugung vom Vorrang des Praktisch-Sozialen vor dem Rational-Intelligiblen steht schließlich im Zentrum seines gesamten Forschungsprogramms; und so stellt er hier sehr zurecht – und viel stärker, als Durkheim selbst dies je getan hatte – die Frage, ob man nicht mit einer alltagskulturell ausgerichteten »mikroskopischen Untersuchung« (Joas 2004b: 162) beginnen müsste, die es ermöglicht, den Phänomenen einer ›Sakralisierung der Person‹ auch empirisch genauer auf die Spur zu kommen. Konkret denkt Joas hier an empirische Sozialforschung zu Veränderungen und Verschiebungen im Rechtswissen der Bevölkerung, in den Diskursen vor Gericht und in der Dynamik wissenschaftlicher Argumentation, vor allem aber an Analysen zur »sich verändernden Semantik von körperlicher Unversehrtheit oder von sexueller Belästigung« (Joas 2004: 162). Er denkt aber auch – mit Hinweis auf die bekannten Arbeiten Erving Goffmans und deren Weiterführung durch Randall Collins – an »mikroskopische Studien etwa zum Grußverhalten, zu Interaktionsritualen, zur wechselseitigen Gesichtswahrung in Konflikten, zur Höflichkeit« (ebd.: 163) und zu den in den letzten Jahren von Paternalismus auf Mündigkeit umgestellten Arzt-Patient-Interaktionen. Damit lenkt er die Forschungsaufmerksamkeit auf ein sehr breites und theoretisch-konzeptionell noch kaum vermessenes Feld: auf »öffentliche Riten, Symbole, Mythen und Institutionen, die den moralischen Individualismus in Durkheims Sinn in konkreter Weise zu stützen und weiterzugeben geeignet sind« (ebd.: 167). Hier könnten in der Tat – vielleicht weniger in außeralltäglichen Großereignissen, sondern gerade auf den Feldern einer als relativ banal geltenden 9 | Joas zitiert in diesem Sinne zustimmend eine entsprechende Passage aus Durkheims Physik der Sitten und des Rechts, in der es heißt: »Er [der Individualismus, HJGK] ist praktischer und nicht theoretischer Natur. Wenn der Individualismus er selbst sein soll, muß er in die Sitten und die gesellschaftlichen Organe Eingang finden.« (Durkheim 1991: 88; vgl. Joas 2004b: 160)

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Alltagspraxis – bisher zu wenig beachtete Phänomene einer säkularen ›Sakralisierung der Person‹ in den Blick geraten. Denn wenn die These vom ›Kult des Individuums‹ überzeugen soll, dann muss es in den säkularen Gesellschaften der Gegenwart – weit über kodifizierte Menschenrechtserklärungen und feierliche Sonntagsreden hinaus – mit starken affektiven Aufladungen versehene Sozialformen geben, in denen dieser Kult regelmäßig praktiziert wird, ohne dass dies als solches unbedingt bewusst und reflektiert geschehen müsste. Exemplarisch könnte man hier etwa an die hohe, oft mit erheblichem Vorbereitungsaufwand verbundene Inszenierung des Kindergeburtstags denken, die heute in keiner Kindertagesstätte und keiner Familie mehr fehlen darf. Hier wird landesweit und im jährlichen Turnus jedes einzelne Kind von allen anderen Kindern in seiner je individuellen Einmaligkeit gefeiert, wobei im Laufe des Kalenderjahres alle gleichermaßen von allen gefeiert und ›gewürdigt‹ werden. Während, zumal in katholischen Regionen, noch vor wenigen Jahrzehnten die Feier des Namenstages im Vordergrund stand, die neben der Wertschätzung des Kindes vor allem die Ehrerweisung an den jeweiligen Heiligen oder Seligen und dessen Vorbildfunktion im Blick hatte, scheint sich hier in durchaus massiv auftretender und rituell verbindlicher ›Autorität‹ ein spezifischer, von individuellen Vorleistungen aller Art unabhängiger ›Kult des Individuums‹ durchgesetzt zu haben, der dem von Durkheim im Jahr 1898 beschriebenen Typus zu entsprechen scheint. Und es könnte durchaus sein, dass die modernen Gegenwartsgesellschaften weitere Formen einer säkularen ›Sakralisierung der Person‹ hervorbringen, intensivieren und perpetuieren, die ihnen selbst nur wenig in den Blick geraten. Sozialwissenschaftliche Forschungs- und Aufklärungsarbeit wäre hier reichlich vorhanden, zumal in der Tat wenig dafür spricht, dass die real bestehenden Wertüberzeugungen zur Unantastbarkeit der Menschenwürde in den Bevölkerungen säkularisierter Gesellschaften entscheidend durch eingelebte religiöse Glaubensbestände oder individuell vollzogene Akte philosophischer Reflexion gespeist werden. Dagegen spricht vieles dafür, dass hier soziale Kulte und Rituale am Werk sind, die uns nicht als religiös und sakral, sondern eher als profan und banal erscheinen – und die ihre starken Bindungs- und Verpflichtungsenergien vielleicht gerade deshalb erfolgreich freisetzen können, weil sie so unprätentiös und alltäglich daherkommen, dass sie weltanschaulich-religiöse Wahrheitsfragen und philosophischen Begründungsernst geschmeidig unterlaufen. Diese von Hans Joas in seinen Guardini-Lectures so nachdrücklich angeregte Forschungsperspektive hat er jedoch nicht weiterverfolgt. Stattdessen wendet er sich nun verstärkt der ideengeschichtlichen Frage zu, aus welchen Quellen sich die Idee der Menschenwürde ursprünglich speist und in Zukunft speisen könnte – und dieses klassische, in Universitäten, Akademien und Feuilletons immer wieder traktierte, zur regelmäßigen Wiederbelebung

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längst unproduktiv gewordener weltanschaulicher Gegensätze bestens geeignete, ansonsten aber wenig innovative Forschungsinteresse dominiert auch sein aktuelles Buch Die Sakralität der Person (Joas 2011). In ihm geht es nämlich vor allem um »eine historisch-soziologische Rekonstruktion der Entstehung der jüdisch-christlichen Tradition und ihrer Transformation in moderne Wertsysteme wie das des Glaubens an Menschenrechte und universale Menschenwürde« (ebd.: 232); und dies, obwohl Joas selbst mit Nachdruck betont, dass ideengeschichtliche Herkunfts- und Tradierungsfragen, in denen es um den ›eher religiös-christlichen‹ oder den ›eher säkular-humanistischen‹ Ursprung dieser Motive geht, zu den »unfruchtbarsten Debatten auf dem Gebiet der Geschichte und der Philosophie der Menschenrechte« überhaupt gehören.10 Spuren einer empirisch ausgewiesenen historisch-systematischen Soziologie der Menschenrechte, die die Joas’schen Absagen an ›fundamentalphilosophische‹ Herleitungs- und Begründungsprojekte konsequent durchhält und sich auch nicht auf rekonstruierende ideengeschichtliche Nebengleise abdrängen lässt, finden sich in seinem neuen Buch nur noch selten. Joas betont zwar auch hier, dass Werte »nicht bloße Werte« bleiben dürften, denn »sie leben nur, wenn sie als Werte argumentativ verteidigt, vor allem aber von Institutionen getragen und in Praktiken verkörpert werden« (Joas 2001: 203); und er betont auch weiterhin mit Nachdruck, dass es bei der Frage der ›Rekonstruktion der Transformation der jüdisch-christlichen Tradition in die modernen Wertsysteme des Glaubens an die Menschenwürde‹ vor allem darum gehen müsse, wie diese transformierten bzw. zu transformierenden Werte von den Menschen intensiv erfahren und als subjektiv evident erlebt werden können. Allerdings spielt die Empirie der sozialen Praktiken, der möglichen Riten und Kulte einer ›Sakralisierung der Person‹ gerade auch unter den Profanitätsbedingungen moderner Gesellschaften in Die Sakralität der Person kaum noch eine tragende Rolle. Von der Notwendigkeit ›mikroskopischen Untersuchungen‹ zu den moralsoziologischen Tiefenschichten heutiger Alltagskultur ist jedenfalls keine Rede mehr. Stattdessen vermutet Joas nun, dass sich die starken affektiven Wertüberzeugungen von der Sakralität jeder menschlichen Person in letzter Konsequenz wohl doch nur durch den Glauben an einen persönlich liebenden Gott, der jeden einzelnen Menschen in seiner seelisch-personalen Identität individuell ›nach seinem Bilde‹ ins Leben ruft, aufrechterhalten lasse. Und so kann er formulieren: »Wer diesen Glauben nicht teilt, muß zeigen, wie er mit seinen denkerischen Mitteln die Idee der Unverfügbarkeit rechtfertigen und motivierend machen kann.« (Joas 2011: 250) Durkheim hätte ihm wohl geantwortet, dass moderne Gesellschaften diese Idee der Unverfügbarkeit aus ihren eige10 | So gleich im ersten Satz seines Beitrags in der Weihnachtsausgabe 2010 der Wochenzeitung DIE ZEIT (Nr. 52/2010: 49f.); jetzt auch Joas 2013: 14.

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nen sozialmoralischen Quellen hervorbringen; und dass das affektive Gewicht und die motivationale Kraft dieser Idee gerade nicht aus Glaubenseinsichten in christliche Offenbarungswahrheiten oder aus ›denkerischen Mitteln‹ philosophischer Reflexion erwachsen, sondern aus den faits sociaux des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen, aus sozialen Phänomenen, die sich den Einzelnen in »obligatorischer Art« (Durkheim 1970: 72) aufdrängen.11 Dass sich Joas damit – nun unter dem Vorzeichen theologischer Dogmatik statt philosophischer Rationalität – wieder auf das Feld jener geschichts- und gesellschaftslosen, von innerweltlicher Sozialität abstrahierenden Letztbegründungsansprüche begibt, denen er mit seiner neopragmatistischen Sozialtheorie so vehement den Kampf angesagt hatte, scheint mir hier unübersehbar zu sein.

3. S äkul are S akr alisierungen und biblische B otschaf t : Z ur V erständigung von nachide alistischer Theologie und neopr agmatistischer S ozialtheorie Auch wenn Joas, wie er zurecht betont, mit seinem Buch zur ›Sakralität der Person‹ nicht einfach »ins theologische Fach gewechselt« (Joas 2011: 210) ist, sucht er in den letzten Jahren verstärkt den Kontakt zu den Diskursen und Debattenlagen der christlichen Theologie und der beiden Großkirchen, so dass sich hier aussichtsreiche Perspektiven für neue Brückenschläge und Lernprozesse zwischen den einst ›verfeindeten Schwestern‹ von Theologie und Soziologie entwickeln könnten. So könnte sich die Soziologie etwa – stärker als bisher und entgegen früheren säkularisierungstheoretischen Gewissheiten – auf das Fortbestehen religiöser Lebenswelten und Interpretationsmuster in der modernen Gesellschaft einstellen, ohne dies vorschnell als Bedrohung für die erreichten Grade gesellschaftlicher Differenzierung und Individualisierung wahrzunehmen. Und sie könnte auch ein neues Interesse an der Frage gewinnen, ob die Religionen, statt im Modernisierungsprozess allmählich unterzugehen, nicht 11 | Durkheim beharrt bekanntlich – gegen die »individualistische Soziologie« und die »idealistische und theologische Metaphysik«, die entweder die bewussten Interessen des isolierten Einzelnen oder eine vom Individuum unabhängige gesellschaftsjenseitige Instanz als Ausgangspunkt ihrer Theoriebildung nehmen – darauf, dass »die sozialen Tatsachen mit der Gesellschaft und die Tatsachen des Lebens und des Geistes mit der Verbindung sui generis, aus der sie resultieren«, zu erklären seien (Durkheim 1970: 77). So kann er dann feststellen: »Daß man den sozialen Charakter der Religion so oft verkannte, liegt daran, daß man glaubte, sie entstehe zum größten Teil unter der Wirkung außersoziologischer Ursachen, da man kein unmittelbares Band zwischen religiösen Glaubensinhalten und der Organisation der Gesellschaft bemerkte.« (ebd.: 79)

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vielmehr elementare Leistungen zur Stabilisierung solcher Prozesse erbringen. Die Theologie dagegen, zumal die katholische, könnte ihrerseits lernen, sich angstfreier auf die Dynamik einer säkularen Sakralisierung des modernen Individuums, überhaupt auf die sozialen Prozesse einer von den Vorgaben jüdisch-christlicher Glaubenstradition abgekoppelten ›Entstehung der Werte‹ einzulassen, ohne dies gleich als Relevanzverlust und unliebsame Konkurrenz verstehen zu müssen. Und sie könnte sich – stärker als bisher und entgegen manchen ›erst- und letztphilosophischen‹ Begründungsansprüchen, die sie immer wieder mit sich herumschleppen zu müssen meint – daran erinnern lassen, dass theologische Theoriebildung nie ›im luftleeren Raum‹ geschieht, sondern stets selbst zutiefst in Geschichte und Gesellschaft verstrickt war und ist. Eine katholische Theologie jedenfalls, die die neuzeitliche Erkenntniskritik ernst nimmt, sich von überkommener Naturrechtsmetaphysik ebenso wie von abstrakten Letztbegründungsgängen transzendental-idealistischer Philosophie emanzipiert, kann in einer (neo-)pragmatistisch bzw. (neo-)durkheimianisch inspirierten Moralsoziologie mit ihren nachmetaphysischen, an konkreten sozialen Erfahrungen anknüpfenden Fragestellungen wertvolle Impulse und Anregungen finden. Denn schließlich bezeugen und bekennen auch die biblischen Gottesüberlieferungen keinen abstrakten, souverän über den Dingen stehenden ewigen Weltenlenker, sondern ›den Gott Abrahams, Issaks und Jakobs‹ (vgl. Ex 3,6), der sich im Bund mit seinem auserwählten Volk in die Konflikte von Geschichte und Gesellschaft hineinbegibt und dessen unbedingter Heilswille sich gerade in diesen oft von Unrecht und Elend gekennzeichneten Verhältnissen – und gegen sie! – manifestiert. Und diese Gottestradition artikuliert sich nicht im Modus einer weltabgewandten Dogmatik ewiger Wahrheiten, sondern im Modus fragmentarischer Geschichten, die stets in konkreten sozialen Erfahrungen situiert sind, ohne dass dies der Universalität ihrer Botschaft Abbruch täte. Hans Joas’ programmatisches Interesse, die »Kluft zwischen Philosophie einerseits und Geschichte andererseits zu überwinden« (Joas 2011: 13), seine Überzeugung, dass sich in der »Geschichte der Entstehung und Ausbreitung von Werten […] Erzählung und Begründung in spezifischer Weise verschränken«, und zwar so, dass es weniger der Modus der Begründung als der der Erzählung ist, der »unsere Bindung an diese Werte« hervorbringt und aufrecht erhält (ebd.: 14), entspricht dabei in hohem Maße den Suchbewegungen und Theorieintentionen einer nachidealistischen, dennoch aber kognitiven und universalistischen Ansprüchen verpflichteten Fundamentaltheologie, die den Glauben der Christen, wie es in einer programmatischen Formulierung des Münsteraner Theologen Johann Baptist Metz heißt, bestimmt als eine »Praxis in Geschichte und Gesellschaft, die sich versteht als solidarische Hoffnung

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auf den Gott Jesu Christi als den Gott der Lebenden und der Toten, der alle ins Subjektsein vor seinem Angesicht ruft« (Metz 1977: 70). Eine Theologie, die sich in diesem Rahmen als methodisch-kritische Reflexion der Glaubenspraxis der Christen entwirft und diese in ihren historischen Kontexten verstehen, ›vor dem Richterstuhl der Vernunft‹ mit guten Gründen verteidigen und auf die Herausforderungen der Gegenwart hin produktiv entfalten will, kann sich dann auch von den noch immer nachwirkenden Traditionen des herrschaftlichen ›Bündnisses von Thron und Altar‹ emanzipieren. Sie kann ihre in der Moderne partikular gewordenen Entstehungs- und Geltungsbedingungen anerkennen, ohne deshalb ihre Botschaft selbst als rein partikular zu relativieren. Sie kann vielmehr – um es mit Jürgen Habermas zu formulieren – darauf vertrauen, dass ein in biblisch-theologischer Sprache formuliertes Glaubensmotiv, etwa das Bekenntnis zur Gottebenbildlichkeit des Menschen oder die Hoffnung auf die Auferweckung der Toten am Ende der Geschichte, durchaus »auch dem religiös Unmusikalischen etwas sagen kann« (Habermas 2003: 261). Die Kirchen müssen also nicht fürchten, zur moralischen Bedeutungslosigkeit verdammt zu werden, wenn sie biblisch-theologische Wertvorstellungen wieder stärker in ihrer eigenen religiösen Sprache artikulieren. Es könnte vielmehr sein, dass sich die Resonanzfähigkeit ihrer Botschaft dadurch deutlich erhöht. In dem Maße, wie die Kirchen sich diesen nachmetaphysischen Modus christlicher Glaubensexistenz und Glaubensreflexion aneignen, müssen sie sich auch nicht länger die ihnen jahrhundertelang angesonnene Aufgabe zuweisen lassen, eine die Gesellschaft als ganze religiös und moralisch bindende soziale Integrations- und Legitimationsfunktion zu übernehmen. Und auch wenn dies ihre liebgewonnenen, allerdings längt in schwere Krisen geratenen Machtpositionen gefährdet, können die Kirchen so – unbelastet von vermeintlichen gesellschaftlichen Moralsicherungsaufgaben oder ähnlich fragilen Nützlichkeitserwägungen – zu ihrer ureigenen biblischen Aufgabe zurückfinden: das Evangelium zu verkünden und den Armen eine gute Nachricht zu bringen (vgl. Lk 4,18). Unübersehbar ist dabei, dass eine solche Theologie von denselben werttheoretischen Ausgangsannahmen getragen ist, denen sich auch Hans Joas’ Konzeption der Entstehung der Werte verpflichtet fühlt, so dass für die nach wie vor anstehenden Klärungsprozesse zu Status und Selbstverständnis konfessioneller Gottesrede in säkularer Gesellschaft von den beginnenden Gesprächsprozessen zwischen systematischer Theologie und neopragmatistischer Sozialtheorie noch einiges zu erwarten ist. Die gegenwärtig einsetzende theologische Auseinandersetzung mit Hans Joas schärft aber zunächst einmal den Blick dafür, dass sich der scheinbar so kirchen- und christentumsfreundliche Begriff der ›Sakralität der Person‹ zur jüdisch-christlichen Gottesrede eher sperrig verhält. Unstrittig ist nämlich, dass in den biblischen Texten von einer Heiligkeit jeder einzelnen Person

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nirgends die Rede ist: »Heiligkeit ist keine Kategorie der Schöpfung und damit der biblischen Anthropologie, also auch keine alttestamentliche Wesensbestimmung der menschlichen Person als solcher«; und auch im Neuen Testament bezeichnet sie »nicht eine allgemein-menschliche Eigenschaft, sondern ein Charakteristikum der Glaubenden«, das eng mit ihren konkreten Handlungen und Überzeugungen zusammenhängt (Buchinger 2013: 95; ähnlich auch Dirscherl/Dohmen 2013: 75-80). Die Kategorie der Heiligkeit wird hier – in einer durchaus alltagsweltlich verankerten und die alte religionsgeschichtliche Dichotomie von ›heilig‹ und ›profan‹ unterlaufenden Form – vor allem denjenigen zugesprochen, die ihr Leben und Handeln in besonderer Weise dem Gott Jesu Christi gewidmet und übereignet haben.12 Hier käme es gerade auch theologisch darauf an, die unbedingte Würde und Autonomie des Einzelnen, der sich als solcher – in der Sprache einer am christlichen Personalismus der Mitte des 20. Jahrhunderts orientierten Theologie – unvertretbar und individuell ›vor Gottes Angesicht gerufen‹ sieht und nur durch die bejahende Antwort auf diesen Anruf Gottes zu sich selber finden kann, von Vorstellungen freizuhalten, denen zufolge die Person auch ohne ihr eigenes Zutun, ohne ihre eigene, in freier Selbstbestimmung vollzogene Annahme oder Ablehnung dieses Anrufs schon irgendwie ›geheiligt‹ sein könnte. Hier wäre zumindest zwischen den biblischen und den hellenistischen Einflüssen auf das europäische Christentum zu unterscheiden, denn die von griechischer Philosophie beeinflussten Tendenzen der Rede von der Seele und dem Seelenkern des Menschen stehen nun einmal in einer veritablen Spannung zur eher personal-dialogisch angelegten Theologie und Anthropologie des Alten und des Neuen Testaments.13 Hinzu kommt in diesem Zusammenhang die spezifische, für die biblische Gottestradition schlechthin konstitutive Privilegierung der Notleidenden und Bedrängten, denen die Heilszusage Gottes in besonderer Weise gilt, so dass sie sich als eine ›Frohbotschaft für die Armen‹ erweist, die die Wohlhabenden vom 12 | So spricht etwa Papst Johannes Paul II. von der »Heiligkeit vieler Männer und Frauen […], die mit Bescheidenheit im Alltag ihres Daseins von ihrer Treue zu Christus Zeugnis geben« (Ecclesia in Europa [2003], Nr. 14). 13 | Vgl. dazu – jenseits des alten und neuen Streits um die Triftigkeit der These von der ›Hellenisierung des Christentums‹ – den treffenden Hinweis von Jürgen Habermas, der die abendländische Philosophie »durch das Erbe Israels bis in ihre griechischen Wurzeln erschüttert« (Habermas 1993: 242) sieht und konstatiert: »Ohne diese Unterwanderung der griechischen Metaphysik durch Gedanken genuin jüdischer und christlicher Herkunft hätten wir jenes Netzwerk spezifisch moderner Begriffe, die im Begriff der kommunikativen und zugleich geschichtlich situierten Vernunft zusammenschießen, nicht ausbilden können.« (ebd.) Konkret denkt er hier an die Konzepte subjektiver Freiheit bzw. personaler Autonomie und die unbedingte Geltung des gleichen Respekts für jeden.

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göttlichen Heilsangebot zwar keineswegs ausschließt, von ihnen aber radikale Umkehr erwartet und einfordert. Hier findet sich also eher wenig von einem ›sakralen Wesenskern‹, der alle Menschen in gleicher Weise kennzeichnet und ihnen unterschiedslos durch göttliche Stiftung o.ä. eingepflanzt wäre. Genau eine solche Konzeption des Menschen scheint für Joas aber im Zentrum jeder christlichen Anthropologie zu stehen: die Vorstellung »von der unsterblichen Seele jedes Menschen als des sakralen Kerns jeder Person und vom Leben des Einzelnen als einer Gabe, aus der Verpflichtungen resultieren, die das Recht auf Selbstbestimmung über unser Leben begrenzen« (Joas 2011: 20).14 Auch wenn Joas hier – im Anschluss an William James – explizit keine »substanzmetaphysische Seelenkonzeption« (ebd.: 217) vertreten will und sich eher an neueren theologischen Konzeptionen einer ›relationalen Anthropologie‹ orientiert, scheint für ihn doch fraglich zu bleiben, ob man auf »eine metaphysische Garantie« (ebd.: 224) für die Idee der ›Sakralität der Person‹, d.h. für »die Annahme eines heiligen, nicht durch eigene Leistungen erworbenen, aber auch nicht verlierbaren und zerstörbaren Kerns jedes menschlichen Wesens« (ebd.), wirklich verzichten kann. An die Stelle der soziologisch-empirischen Frage, wie moderne Gesellschaften ihre basalen Wertüberzeugungen von der unantastbaren Würde jedes einzelnen Menschen ausbilden, ist nun jedenfalls die philosophisch-idealistische Frage getreten, ob und wie »unsere Erfahrungen der Selbsttranszendenz eine wirkliche Begegnung mit etwas Transzendentem darstellen«. Dies nämlich könnten wir, so Joas, »nicht wissenschaftlich ausschließen« (ebd.: 228). Man wird wohl konstatieren müssen, dass Joas sich mit diesem Ausflug nicht in die Theologie, sondern in eine bestimmte und durchaus umstrittene Variante heutiger theologischer Theoriebildung in eine Aporie begibt, die seine säkularen Freunde in Sachen einer normativ anspruchsvollen Sozialtheorie moderner Gesellschaften ziemlich ratlos zurücklassen wird und auch viele seiner theologischen Sympathisanten eher irritieren als anregen dürfte. Es bleibt aber zu hoffen, dass Joas von seiner kurzfristigen Reise in eine geschichtsund gesellschaftslose Theologie der Seele und der Gabe bald wieder zurück ist. Denn auf den sozialen Feldern der ›Entstehung der Werte‹ ist noch vieles 14 | Die von antiker griechischer Philosophie beeinflusste Kategorie der ›Seele‹ und die von moderner französischer Philosophie und Ethnologie entwickelte Kategorie der ›Gabe‹ spielen in vergangenen und gegenwärtigen Diskursen der Theologie zwar ohne Frage eine große Rolle; sie können aber, ebenso wenig wie das Joas’sche Verständnis von ›Heiligkeit‹, einen für die biblisch-theologischen Traditionen einzig repräsentativen oder gar verbindlichen Anspruch erheben. Irritierend ist hier zudem, dass Joas – gegen die alte theologische Lehre vom ›Recht des irrenden Gewissens‹ – eine Begrenzung des Rechts auf Selbstbestimmung zu den essentials christlicher Theologie zu rechnen scheint; vgl. dazu auch den Beitrag von Stephan Goertz in diesem Band.

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zu erforschen; nicht nur für eine moralsoziologisch interessierte Sozialwissenschaft, sondern auch für eine Theologie, deren zentrale Glaubensaussage vom Gott Jesu Christi, der Mensch geworden ist, und zwar gerade unter den Armen und Bedrängten, fundamental in die konkreten Lebenswelten von Geschichte und Gesellschaft verweist und die klassischen Dichotomien abendländischer Philosophie, die Trennungen von Transzendenz und Immanenz, von Geltung und Geschichte, von Wahrheit und Vergänglichkeit, von Unvergänglichkeit und Zerbrechlichkeit denkbar radikal aufkündigt.

L iter atur Begley, Louis (2011): Der Fall Dreyfus. Teufelsinsel, Guantánamo, Alptraum der Geschichte (engl. 2009), Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bogusz, Tanja/Delitz, Heike (Hg.) (2013): Émile Durkheim. Soziologie – Ethnologie – Philosophie, Frankfurt a.M.: Campus. Brunetière, Ferdinand (1898): »Après le procés«, in: Revue des Deux Mondes, 15.03.1898, S. 428-446. Buchinger, Harald (2013): »Heiligkeit: inklusiv oder exklusiv? Biblisch-liturgische Perspektiven«, in: Laux (Hg.), S. 91-101. Dirscherl, Erwin/Dohmen, Christoph (2013): »Heiligkeit – Einzigkeit – Alterität«, in: Laux (Hg.), S. 71-90. Fournier, Marcel (2007): Émile Durkheim (1858-1917), Paris: Fayard. Durkheim, Émile (1970): »Individuelle und kollektive Vorstellungen« (frz. 1898), in: Ders.: Soziologie und Philosophie. Mit einer Einleitung von Theodor W. Adorno, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 45-83. – (1981): Die elementaren Formen des religiösen Lebens (frz. 1913), Frankfurt a.M.: Suhrkamp. – (1986): Der Individualismus und die Intellektuellen (frz. 1898), in: Hans Ber­ tram (Hg.): Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 54-70. – (1991): Physik der Sitten und des Rechts. Vorlesungen zur Soziologie der Moral (frz. 1969), Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1993): »Israel und Athen«, in: Orientierung. Katholische Blätter für weltanschauliche Informationen 57, S. 241-244. – (2003): »Glauben und Wissen. Friedenspreisrede 2001«, in: Ders.: Zeitdiagnosen. Zwölf Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 249-262. Joas, Hans (1992): Die Kreativität des Handelns. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. – (1997): Die Entstehung der Werte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. – (2004a): »Die Soziologie und das Heilige«, in: Ders.: Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg i.Br.: Herder, S. 64-77.

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Replik Hans Joas Dankbarkeit und Stolz sind die Gefühle, die mich bei der Abfassung dieser Replik leiten: große Dankbarkeit gegenüber dem Herausgeber und allen Beiträgerinnen und Beiträgern dieses Bandes, die sich die Mühe einer gründlichen Auseinandersetzung mit meinem Buch zur Geschichte und Begründung der Menschenrechte gemacht haben; ein wenig auch Stolz, weil es bei der Vielzahl heutiger Veröffentlichungen gerade auch auf dem Themengebiet meines Buches keineswegs selbstverständlich ist, solcher Aufmerksamkeit wert befunden zu werden. Nachdem neben zahlreichen einzelnen Rezensionen schon ein theologischer Diskussionsband und ein soziologisches Rezensionssymposium zu meinem Buch publiziert wurden,1 sehe ich mich nun einer interdisziplinären Gruppe gegenüber, in der zusätzlich vor allem auch das Fach Philosophie stark vertreten ist. Wie in den anderen Fällen ist auch in diesem Band eine reiche Sammlung von unterstützenden Argumenten, herausfordernden Einwänden und – auch – Missverständnissen des Textes oder doch zumindest der Autor­ intentionen zustande gekommen. Schon in der Wiedergabe von Text und Intention und auch in den Kritiken weisen die Beiträge nicht in eine einheitliche Richtung. Manchmal stehen sie in direktem Widerspruch zueinander. Dies mag als Beleg dafür dienen – da dann ja nicht alle gleichzeitig im Recht sein können –, dass es sich beim Hinweis auf Missverständnisse nicht einfach um eine Immunisierungsstrategie meinerseits handelt. In meiner Replik halte ich mich nicht an die disziplinbezogene Gliederung des Bandes, da die vorgetragenen Argumentationen häufig die Disziplingrenzen überschreiten. Ich habe stattdessen die Beiträge in drei Gruppen geordnet. Beginnen werde ich mit den Aufsätzen, die mein Verhältnis zur Soziologie Émile Durkheims erörtern. Es ist kein Zufall, dass mehrere Beiträger sich dieser Fragestellung zugewandt haben, da ich ja tatsächlich das zentrale 1 | Laux (Hg.) (2013), dort meine Replik 209-222; Forum Hans Joas, Die Sakralität der Person, in: Zeitschrift für Theoretische Soziologie 2 (2013), 298-322 und meine Replik ebd.: 323-327.

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inhaltliche Motiv meines Buches, nämlich die These von den Menschenrechten als normativer Gestalt des kulturellen Prozesses einer ›Sakralisierung der Person‹, von Durkheim bezogen habe. Dann versuche ich, den zahlreichen Beiträgen gerecht zu werden, die sich mit dem zentralen methodischen Motiv meines Buches beschäftigen, nämlich der Idee einer ›affirmativen Genealogie‹ und damit auch dem Verständnis von ›Begründung‹, Argumentation und Narration, Genesis und Geltung in meiner Arbeit. Schließlich gehe ich auf die Beiträge ein, die sich mit meinem Verhältnis zur Theologie – die ja ganz offensichtlich nicht mein Fach ist – auseinandersetzen, und dabei mit der disziplinären Verortung meiner Bemühungen. Nicht alle Aspekte aller Beiträge lassen sich in dieser Systematik einfangen. Deshalb werde ich in Nebenbemerkungen, teilweise auch in Anmerkungen, zusätzliche Klarstellungen oder Entgegnungen vortragen.

D urkheims M or alsoziologie Wie soeben erwähnt, entstammt der titelgebende Grundgedanke meines Buches Die Sakralität der Person einem kleinen Aufsatz des Begründers der französischen Soziologie, Émile Durkheim, aus dem Jahr 1898. Ich habe versucht, diese m.E. geniale Grundidee auszubauen, zu modifizieren, in historischer Forschung anzuwenden und von den radikal laizistischen Intentionen Durkheims dort, wo sich diese sachlich schädlich auswirkten, abzulösen. Am besten getroffen finde ich die komplizierte Mischung von Nähe und Distanz zu Durkheim, wie sie für mich gilt, im Aufsatz von Matthias Koenig, der selbst durch eine ganze Reihe von Publikationen als guter Kenner von Durkheims Werk ausgewiesen ist.2 Er nimmt wahr, was sonst immer wieder verkannt wird, dass ich mich von Durkheims Verengung des Spektrums von Erfahrungen der Selbsttranszendenz auf den einen Typus der ›kollektiven Efferveszenz‹ oder kollektiven Ekstase schon lange distanziert habe. Schon in meiner Entstehung der Werte von 1997 habe ich mich ja gleichgewichtig auf die radikal individualistische Phänomenologie religiöser Erfahrungen bei William James gestützt und meinen Gedankengang aus dem Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Denkern heraus entwickelt. Koenig sieht auch, dass Differenzen zwischen Durkheim und mir in der Auffassung, ob die jüdische und die christliche Tradition »den Wert der universalen Menschenwürde nicht bloß historisch vorbereitet hätten, sondern ihn auch in modernen Gesellschaften zu stärken vermöchten« (S. 120), das genaue Verständnis der heutigen Lage beeinflussen müssen. Wehren möchte ich mich hier nur gegen die Formulie2 | Angefangen beim ausführlichen Kapitel Koenig 2002: 19-77; vgl. auch das Büchlein Koenig 2008.

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rung, ich ließe Durkheims Gedanken, dass die Erfahrung des Heiligen nichts anderes als die Selbsterfahrung der Gesellschaft sei, »stillschweigend fallen« (S. 119). Im Gegenteil; ich habe diese Auffassung immer wieder explizit zurückgewiesen, u.a. im hier diskutierten Buch selbst (Joas 2011: 87). Völlig zutreffend finde ich aber dann die folgende Charakterisierung meiner zentralen inhaltlichen Intention durch den Verfasser. Es ging mir in meinem Buch in der Tat nicht vornehmlich um die »Erklärung der Institutionalisierung der Menschenrechte«, sondern um die vorgelagerte Frage, »wie überhaupt die Wertbindung an die Menschenwürde, die ja eine der notwendigen Bedingungen für die Institutionalisierungsdynamik ist, erklärt werden kann« (S. 122). Ich habe die Strategie verfolgt, im Dreieck von Werten, In­stitutionen und Praktiken alle empirisch möglichen kausalen Wirkungsrichtungen theoretisch zu berücksichtigen. Damit sind Institutionalisierungsprozesse eingeschlossen, denen kaum eine endogene Dynamik des Wertewandels vorausging, so wenn z.B. eine neue Rechtsordnung stark aus dem Geist und der Macht einer Besatzungsregierung hervorgeht. Viele der Anregungen v.a. neoinstitutionalistischer Art, die Koenig gibt, kann ich mir deshalb gut zu eigen machen, vorausgesetzt, sie sind als empirische Hypothesen gemeint und kommen nicht – wie bei John Meyer als einflussreichem Repräsentanten dieser Forschungsrichtung – mit dem Gestus eines umfassenden Erklärungsanspruchs daher. Richtig ist auch, dass ich anders als Durkheim – in den Worten von Koe­ nig – »eine handlungstheoretisch fundierte Erklärungsstrategie« verfolge und deshalb zum Mittel einer »analytische[n] Zerlegung multipler kausaler Wirkungszusammenhänge« (S. 123) greife. Für Fragen der sozialwissenschaftlichen Erklärung ist es wichtig, variierende Erklärungen für historische Teilprozesse zuzulassen, d.h. hier nicht den einen Prozess der ›Sakralisierung der Person‹ zu behaupten. Wenn es dagegen um die Verlebendigung der in unseren rechtlichen Institutionen schon enthaltenen Werte geht, dann ist die Bündelung dieser Prozesse unter einer griffigen Wertbestimmung – ›Sakralität der Person‹ – unabdingbar. Obwohl an Koenigs Beitrag aus meiner Sicht also wenig kontrovers ist, bin ich ausführlich auf ihn eingegangen, da seine Darstellung mir hilft, Missverständnisse und Verzerrungen in den anderen einschlägigen Beiträgen herauszuarbeiten. Der Aufsatz von Bijan Fateh-Moghadam – das ist zunächst festzustellen – ist im Wesentlichen eine Auseinandersetzung mit der Rechtssoziologie von Durkheim selbst. Eher locker und fast in Gestalt von Seitenhieben werden Bemerkungen zu meiner Arbeit eingestreut. Der Text scheint mir als Attacke auf diejenigen geschrieben, die die relative Autonomie des Rechts als Institution bestreiten. Im vorliegenden Fall muss eine solche Attacke aber zu einem quixotesken Kampf mit den Flügeln von Windmühlen führen, da weder Durkheim noch ich die angegriffene simplizistische Auffassung vertreten.

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Schon Titel und Bezugsrahmen der Argumentation erscheinen mir als schief. Wenn ich von der Sakralität der ›Person‹ rede, meine ich damit nicht eine Sakralisierung des ›Rechts‹. Und wenn ich betone, dass es historisch immer neue Sakralisierungsprozesse gab und geben wird, heißt das nicht, dass ich eine »Umstellung von Säkularisierung auf Sakralisierung« (S. 130) behauptet oder gar eine neue Meistererzählung immer fortschreitender Sakralisierung (von was?) vorgetragen hätte. Es geht mir nicht im Mindesten darum, die Realität von Säkularisierungsprozessen zu bestreiten, sondern vielmehr darum, durch die Beobachtung des Wechselspiels vielfältiger Prozesse von Sakralisierung und Entsakralisierung eine konkret-historische Sicht des wandelbaren Verhältnisses von Religion und Politik zu ermöglichen.3 Meine Kritik an »gefährlichen Prozessbegriffen« (vgl. Joas 2012b), auf die sich Fateh-Moghadam mehrfach bezieht, ist deshalb auf meinen Begriff der Sakralisierung gewiss nicht anzuwenden. Unbedingt bedarf außerdem der Klarstellung, dass die Betonung von Sakralisierungsprozessen weder bei Durkheim noch bei mir eine Behauptung der andauernden Bedeutung von ›Religion‹ in irgendeinem konventionellen Sinn bedeutet, wie der Verfasser annimmt. Es war doch gerade Durkheims Leistung, das Sakrale nicht aus der Religion abzuleiten, sondern umgekehrt Religionen als Versuche zur Institutionalisierung des Sakralen zu denken. Unleugbare und etwa von Koenig präzise beschriebene Differenzen zwischen Durkheim und mir werden von Fateh-Moghadam triumphierend so vorgetragen, als entwerteten sie meine Argumentation. Das gipfelt in dem Satz: »Damit entfällt aber die gesellschaftstheoretische Basis der Sakralisierungstheorie von Joas.« (S. 140) Es erschließt sich mir nicht, warum der Gedanke der ›Sakralität der Person‹ seine Fruchtbarkeit verlieren soll, weil Durkheim kein Verteidiger einer ›Sakralität mit Transzendenzbezug‹ war; und noch weniger, warum ein gegen Durkheim so kritischer Autor meine Differenz zu Durkheim als Einwand gegen mich behandelt.4 Zentral ist natürlich das völlige Verfehlen meines Dreiecks von Werten, Institutionen und Praktiken. Der Verfasser liest aus diesem Grund kontinuierlich meine Überlegungen zu Werteentstehung und Wertewandel so, als dienten sie 3 | Zwei meiner Publikationen nach dem Menschenrechtsbuch müssten dieser Bekundung Glaubwürdigkeit verleihen: Joas 2012a; Joas 2013. 4 | Ärgerlich fand ich die Kritik an Steven Lukes in Anmerkung 16. Während der selbst radikal säkularistische Lukes immerhin die Frage stellt, ob in Durkheims Religionsverständnis unkontrolliert säkularistische Prämissen eingegangen sind, bezeichnet der Verfasser dies in abwertender Absicht als »theologische Fragestellung«, »auf die gerade eine Religionssoziologie in der Tradition Durkheims keine sinnvolle Antwort geben kann«. Das fällt hinter alle Bemühungen der letzten Jahre, aus den Frontstellungen des 19. Jahrhunderts ›post-säkular‹ herauszufinden, zurück.

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der Rechtfertigung einer entinstitutionalisierten Freisetzung kollektiver Empörungen. Wie fern mir die mir hier unterstellte Auffassung liegt, darf ich durch einen Hinweis auf meine Arbeiten zu Krieg und Frieden belegen. Dort habe ich, in Auseinandersetzung mit Carl Schmitt und auf dem Gebiet des internationalen Menschenrechtsschutzes, gerade hervorgehoben, »daß es den Befürwortern einer universalistischen Orientierung ja keineswegs um eine institutionen- und prozedurenlose Moralisierung der internationalen Politik geht, sondern um die Schaffung von Rechtsnormen und Organen der Durchsetzung dieses Rechts auf internationaler Ebene« (Joas 2000: 41). Dasselbe gilt natürlich für die Menschenrechtspolitik auf nationaler Ebene, und ich habe an keiner Stelle etwas anderes behauptet. Kehrseite dieser Verkennung ist, dass der Verfasser das Problem, ob Rechtsordnungen bei einer Schwächung oder Zerstörung der sie tragenden Wertbindungen ins Wanken geraten können, zu bagatellisieren neigt. Er verweist berechtigterweise darauf, »dass einmal aufgebaute rechtliche Grundstrukturen über ein beachtliches Potenzial der Selbststabilisierung verfügen« (S. 145). Das bestreite ich nicht, halte dieses Potenzial in ernsten Krisenlagen aber nicht für ausreichend und deshalb die Fragen moralischer und politischer Stabilitätsbedingungen des Rechts für zentral. Ein Wort noch zu meiner vom Verfasser gerügten Formulierung, es hätte sich im kontrovers diskutierten Frankfurter Fall von angedrohter Rettungsfolter um eine »tragische Abwägungsentscheidung« gehandelt. Die Tragik, in der sich die Polizei in einer solchen Situation befindet, löst sich nicht dadurch auf, dass man eine Seite des Dilemmas schlicht ignoriert. Hier ist nicht der Ort, um auf die Details dieser Frage wirklich einzugehen. Aber ich wehre mich gegen die Leichtfertigkeit, mit der man sich durch Betonung der Absolutheit des Folterverbots ein gutes Gewissen verschafft, ohne die Handlungssituation des Polizisten (und des zu rettenden Opfers) ernsthaft zu bedenken.5 Der dritte Beitrag, der um mein Verhältnis zu Durkheim kreist, ist der des Herausgebers dieses Bandes. Hermann-Josef Große Kracht verblüfft mich mit der These, dass meine Absetzung von Durkheim in den letzten Jahren deutlich größer geworden sei und ich mich auf einem enttäuschenden Rückweg »von der Sozialtheorie zur Ideengeschichte« (S. 229) befinde. Diese These steht in krassem Gegensatz zu meinem Selbstbild. Da Durkheim gerade auch in dem größeren Buch, an dem ich derzeit arbeite, wieder eine zentrale Rolle spielen wird, bleibt mir nichts anderes übrig, als zu fragen, wie der Autor zu diesem Eindruck kommen konnte und wodurch ich Anlass zu dieser aus meiner eigenen Sicht gravierenden Fehleinschätzung gegeben haben könnte. 5 | Mein tragisch früh verstorbener Freund, der Staatsrechtler und Rechtsphilosoph Winfried Brugger, ist für seine differenzierten Beiträge zum Thema erstaunlich polemisch attackiert worden.

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Gibt es wirklich einen Widerspruch zwischen der Durkheim-Interpretation im Schlusskapitel meines Büchleins Braucht der Mensch Religion? von 2004 und der Sakralität der Person, in der ich übrigens ja einige Passagen des älteren Textes fast wörtlich übernommen habe? Der Verfasser scheint mir zu seiner These dadurch zu gelangen, dass er zwei Mal eine Textpassage ohne nähere Reflexion auf ihren Status im Textzusammenhang, also isoliert, interpretiert. In meinem älteren Aufsatz betrifft das meine Beschreibung (Joas 2004: 162f.), wie in der Soziologie, aber auch in der Geschichtswissenschaft nach Durkheim eine vornehmlich auf Institutionen gerichtete Perspektive durch mikrosoziologische Interaktionsstudien einerseits, alltagsbezogene Rechtskulturforschung andererseits ergänzt und erweitert wurde. So fruchtbar ich diese Arbeiten finde, ist es doch völlig falsch, diese Passage als Skizze meines eigenen Forschungsprogramms aufzufassen, wie es der Verfasser tut. Ich gehöre ja zu denen, die eine Einengung der Soziologie auf die Analyse der Gegenwart beklagen. Es ist das gute Recht von Große Kracht, solche Gegenwartsdiagnose besonders interessant zu finden, aber es ist mein gutes Recht, mich mehr für die historische Soziologie als für Zeitdiagnose (oder besser: für Zeitdiagnose nur bei guter Fundierung in Geschichtskenntnis) zu interessieren. Mein angebliches älteres Forschungsprogramm kontrastiert Große Kracht dann aber nicht so sehr mit den historisch-soziologischen Kapiteln der Sa­ kralität der Person, sondern mit dem fünften Kapitel des Buches. Dessen spezifischen Status ignoriert er völlig. Ich habe dieses Kapitel mit einer Distanzierung von Ideengeschichte eingeleitet, dann aber zusätzlich zu der für die vorhergehenden Kapitel leitenden Absicht historisch-soziologischer Erklärung vorgeschlagen, die Blickrichtung auch umzudrehen. Konkret heißt das: Obwohl ich gerade bestreite, dass die christliche Tradition die Menschenrechte hervorgebracht habe, muss diese Tradition wie jede andere sich zu den Menschenrechten, sobald sie entstanden sind, in ein Verhältnis setzen. Über diese Versuche, ein produktives Verhältnis von christlicher Tradition und Menschenrechten herzustellen, kann man vielleicht bloß beschreibend sprechen. Man kann aber auch dabei, wie ich es getan habe, ehrlich seine eigene Zugehörigkeit zu dieser Tradition bekennen und dann eigene Gedanken entwickeln, wie ein solches produktives Verhältnis gelingen kann. Meine Überlegungen zu einer zeitgenössischen Artikulation des christlichen Verständnisses von ›Seele‹ und ›Leben als Gabe‹ konkurrieren in keiner Weise mit den empirischen historisch-soziologischen Erklärungsversuchen. Weil der Verfasser dieses Beitrags zwei Mal Überlegungen von mir aus dem Zusammenhang reißt, entsteht bei ihm der Eindruck einer Entwicklung vom einen zum anderen. Häufig stellt er übrigens auch fest, dass eine Äußerung von mir einer anderen widerspreche. Ich darf deshalb an die gute alte hermeneutische Regel erinnern, dass man dann, wenn sich scheinbare

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Widersprüche im interpretierten Text häufen, innehalten und zumindest die Möglichkeit in Erwägung ziehen solle, dass die eigene leitende Interpretationshypothese schlicht falsch sei. Zwei eher systematische Punkte in diesem Aufsatz bedürfen noch zusätzlicher Erörterung. Große Kracht scheint zu bestreiten, dass Durkheim die jüdische und die christliche Religion durch eine ›religion de l’humanité‹ übertrumpfen und ersetzen wollte. Er schreibt sogar (S. 231, FN 7), hier sei meine »eigene Sympathie für das Christentum« Ursache meiner Fehldeutung. Ich kenne allerdings keinen anderen Beiträger zur Durkheim-Forschung, der bestreiten würde, dass Durkheim ein militanter Laizist und Atheist war. Sein Anti-Katholizismus war im Übrigen auch nicht auf den anti-modernistischen Katholizismus beschränkt. Die Beweislast für die These, Durkheims Religionssoziologie sei von seinem militanten Säkularismus abzulösen, hat hier eindeutig der Verfasser. Im Übrigen ist natürlich klar, dass Durkheim diese Ersetzung der religiösen Traditionen nicht von der Philosophie erwartete, sondern eben vom ›Kult des Individuums‹. Traurig stimmt mich, dass die weitreichenden Missverständnisse den katholischen Theologen Große Kracht daran hindern, die große Übereinstimmung, die zwischen uns in der Sache besteht, wahrzunehmen. Dem folgenden schönen Satz Große Krachts stimme ich doch einschränkungslos zu: »Eine katholische Theologie jedenfalls, die die neuzeitliche Erkenntniskritik ernst nimmt, sich von überkommener Naturrechtsmetaphysik ebenso wie von ab­ strakten Letztbegründungsgängen transzendental-idealistischer Philosophie emanzipiert, kann in einer (neo-)pragmatistisch bzw. (neo-)durkheimianisch inspirierten Moralsoziologie mit ihren nachmetaphysischen, an konkreten sozialen Erfahrungen anknüpfenden Fragestellungen wertvolle Impulse und Anregungen finden.« (S. 236) Das beschreibt in der Tat mein Selbstverständnis. Aber es ist ein wenig ironisch, wenn ich als Nicht-Theologe den Theologen dennoch darauf hinweisen muss, dass die Theologie trotz dieser »Impulse und Anregungen« nicht auf Moralsoziologie einschrumpfen darf, sondern eigene Fragestellungen behalten muss – wie diejenigen, mit denen ich mich unter den Stichworten ›Seele‹ und ›Gabe‹ beschäftigt habe.6

6 | Da Große Kracht wie zwei Beiträger in dem Band von Laux (Hg.) 2013 auch auf den biblischen Befund zum Begriff ›Heiligkeit‹ zu sprechen kommt, verweise ich hier auf meine dortige Replik, vor allem: 212-214. Weiterhin ist zu bedenken, dass ein seit etwa 1900 in den Wissenschaften von der Religion verallgemeinerter Begriff natürlich nicht der Verwendung dieses Begriffs in den religiösen Traditionen selbst entspricht oder entsprechen muss.

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V erzicht auf B egründung ? Da Historiker an diesem Band nicht mitwirken, überrascht es nicht, wenn die empirischen Behauptungen meines Buches kaum Aufmerksamkeit finden, meine Überlegungen zur Verknüpfung von Argumentation und Narration in einer ›affirmativen Genealogie‹ aber breit erörtert werden. Alle Philosophen und einige Theologen fühlen sich bei dieser Frage in ihrem Metier. Von mehreren der Beiträge in diesem Komplex habe ich viel gelernt. In dieser Hinsicht hervorheben möchte ich zunächst die Aufsätze von Christian Polke und Matthias Kettner. Schon in einem vorhergehenden Artikel ist es Christian Polke gelungen, durch den Vergleich meiner Arbeit mit der anderer und durch weitere vornehmlich theologische Kontextualisierung mir die Augen über mich selbst zu öffnen (Polke 2013). Hier betraf der Vergleich Jürgen Habermas, jetzt vor allem H. Richard Niebuhr. Auf diesen großen protestantischen Theologen, den Bruder des viel berühmteren Reinhold Niebuhr, bin ich selbst erst in jüngster Zeit näher eingegangen (Joas 2013: bes. 279-281). Er hat wie kein anderer Motive von zwei für mich prägenden Gestalten, George Herbert Mead und Ernst Troeltsch, aufgenommen und miteinander zu verbinden versucht. Ich bin noch nicht so weit, mich zu ihm systematisch zu äußern, aber das Drängen von Polke in diese Richtung leuchtet mir völlig ein. Die Formulierung, Troeltsch (und mir) gehe es um einen »kontextsensiblen Universalismus und ethisch reflektierten Pluralismus« (vgl. S. 158), empfinde ich als treffend. Sowohl seine Anfrage, die auf die Betonung symbolischer und institutioneller Verkörperungen von Werten zielt, wie sein Vorschlag, das erzähltheoretische Fundament der ›affirmativen Genealogie‹ zu verbreitern, entsprechen meinen eigenen Intentionen ganz. In philosophischer Hinsicht besonders lehrreich ist für mich der Beitrag von Matthias Kettner. Sein Denkstil ist zwar ein anderer als meiner, weshalb ihm meine aus der hermeneutischen Tradition stammende Neigung, systematische Argumente aus Interpretationen heraus zu entwickeln (vgl. S. 35, FN 12), eher nicht einleuchtet. Aber in der Sache ziehen wir offensichtlich am selben Strang. Ich habe, zutiefst geprägt von der Philosophie des amerikanischen Pragmatismus, einen eher entspannten Begriff von ›Begründung‹. Für mich heißt Begründung, dass historisch situierte Sprecher ihren ebenfalls historisch situierten Gesprächspartnern all das als Gründe nennen dürfen, was beiden im Prinzip einleuchtet. Dieser ›entspannte‹ Begriff von Begründung reibt sich mit den viel strikteren Vorstellungen darüber, was prinzipiell als ›guter Grund‹ zählen darf, wie wir sie in der Theorie des rational-argumentativen Diskurses finden. Mein Widerstand gegen das enge Verständnis von Begründung wird immer wieder groteskerweise so verstanden, als hätte ich mich gegen das Begründen als solches ausgesprochen, als würde ich in krassestem Irrationalismus das vernünftige Reden durch Bauchgefühl erset-

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zen wollen. Etwas hilflos habe ich in mancher Debatte darauf verwiesen, dass ich in diesem Fall mir ja vermutlich nicht die Mühe machen würde, Bücher zu schreiben. Kettner imponiert mir nun dadurch, dass er zeigt, wie durch schrittweise immanente Kritik der Diskurstheorie von Habermas und Apel eine differenziert artikulierte Version des ›entspannteren‹ Verständnisses von Begründung entstehen kann. Dadurch wird auch die Nähe zum klassischen Pragmatismus wiederhergestellt, die in der kantianisierenden deutschen Pragmatismusrezeption verlorenging. Selbstkritisch muss ich an dieser Stelle bemerken, dass ich zu pauschal von den Schülern von Habermas und Apel gesprochen habe. Zwar sind mir die Differenzen zwischen beiden durchaus geläufig, aber offensichtlich nicht die zwischen jüngeren Vertretern und den Altmeistern. Ich habe Nachholbedarf insbesondere bei den Schriften von Kettner selbst.7 Besonders hervorheben möchte ich noch die kreative Wendung, die Kettner ganz am Schluss seiner Ausführungen meinen Ideen gibt. Er betrachtet wie ich »das in allen rationalistischen Traditionen fetischisierte Ideal […], die apodiktische, die logisch zwingende Begründung von rein logisch zu Begründendem« (S. 44) auch als kulturelles Phänomen. Ich habe in diesem Sinn immer wieder auf Stephen Toulmins großartigen Versuch zur historischen Kontextualisierung von Descartes’ Programm verwiesen (Toulmin 1992). Kettner wendet diesen Gedanken nicht auf die Geschichte, aber auf eine globale gegenwärtige Situation an, in der das Programm einer Abstraktion von Kultur selbst zur kulturellen Besonderheit werden kann. Auch bei Francesca Raimondis Ausführungen über ›Sakralität und Geschichte‹ – und damit zu meiner ›affirmativen Genealogie‹ – habe ich mich im Wesentlichen gut verstanden gefühlt; uneinig sind wir uns deutlich nur dort, wo sie die Ergänzung dieser Genealogie durch eine funktionale Analyse für unabdingbar erklärt. Wir teilen offensichtlich miteinander das Interesse am »Verhältnis von Affirmation und Kritik im Umgang mit Geschichte« (S. 83) und darüber hinaus die Sympathie für ein Verständnis von ›Begründung‹, das – wie sie schön formuliert – »nicht die abschließende Beglaubigung eines Werts bedeuten kann, sondern eher das Offen- und Lebendighalten seines 7 | Umgekehrt würde ich mir von Kettner die Berücksichtigung meiner expliziten Stellungnahme zur Diskursethik im Schlusskapitel der Entstehung der Werte (Joas 1997: 252-293) wünschen. Ein einziges Missverständnis in seinem Text möchte ich hier anführen. Er führt die zwei bei mir wohlunterschiedenen Gedanken ›Wertegeneralisierung‹ und ›affirmative Genealogie‹ zu eng zusammen, wenn er einwendet, dass es in »kooperationswilligen konsensorientierten Gemeinschaften« Wertegeneralisierungen ohne Vergangenheitsrekonstruktion geben kann (S. 42). Für mich gilt auch für ›affirmative Genealogie‹ ein pragmatisches Kriterium: Sie ist dort nötig, wo es ohne sie nicht weitergeht.

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Entfaltungsprozesses« (ebd.). Sie kontrastiert meine Vorstellungen, wie ich es selbst auch getan habe, mit denen Nietzsches, zusätzlich aber auch mit denen Heideggers. Was Nietzsche betrifft, vertritt sie die im Frankfurter Umkreis häufige Lesart, die diesen näher an die Kritische Theorie heranrückt, als ich dies für angebracht halte. Sehr einleuchtend finde ich ihre Unterscheidung zwischen meinem Vorgehen und einem heideggerianischen Verständnis von Ursprüngen im Sinne einer Kritik an »dem verkümmerten zeitgenössischen Verständnis einer bestimmten Idee, die durch die Konfrontation mit ihrer Geburtsstunde, dem Moment, wo die Erfahrung am lebendigsten und authentischsten ist, aus ihrer Vergessenheit geweckt werden soll« (S. 87). Hier könnte ein Vergleich von Heidegger mit Troeltsch als meinem Gewährsmann instruktiv sein. Troeltsch ließ sich in seinen Arbeiten zur Geschichte des Christentums nicht dazu verleiten, einen vergangenen Ursprungspunkt – und sei es das Wirken Jesu oder des heiligen Paulus oder die frühe Kirche oder die Reformation – stillzustellen und daraus ein in der Gegenwart bloß noch nachzuahmendes Ideal zu machen. Von der Suche nach einem ahistorischen ›Wesen‹ des Christentums entfernte er sich deshalb immer mehr.8 Jede Gegenwart, jede neue Phase der Geschichte ist ebenso wie jede Vergangenheit nicht mehr als eine »Etappe innerhalb dieser Geschichte, die den Prozess der Wertbildung weiter antreibt, modifiziert etc., indem sie sich reflexiv auf die Sinnschichten eines Werts bezieht« (S. 91). Differenzen im Gebrauch des Begriffs ›Begründung‹, die zwischen Raimondi und mir bestehen, müssten sich nach den obigen Ausführungen über ein pragmatistisches und nicht rationalistisches Verständnis in einen Konsens überführen lassen. Eine echte Differenz scheint mir aber dort vorzuliegen, wo Raimondi mir vorhält, »Menschenwürde und Menschenrechte allein in werttheoretischer Perspektive zu thematisieren und jegliche funktionale Perspektive außer Betracht zu lassen« (ebd.). Für sie ist eine solche funktionale Perspektive dadurch gekennzeichnet, dass sie sich mit der »Betrachtung der realen Effekte von Werten und Institutionen« beschäftigt, »wie sie in jeweils unterschiedlicher Prägung von Marx, Foucault oder Luhmann vorgeführt wird« (ebd.). Hier passiert m.E. bei Raimondi wie übrigens auch bei zahlreichen anderen gegenwärtigen Philosophen und Philosophinnen ein Fehlschluss, um dessen Aufdeckung ich mich in mehreren fachsoziologischen Arbeiten seit Jahrzehnten bemüht habe. Der Fehlschluss besteht darin, die (von mir geteilte) soziologische Frage nach realen Wirkungen mit der methodischen Wendung zur funktionalen Analyse gleichzusetzen. Dabei hat eine komplexe wissenschaftstheoretische Debatte doch sehr starke Argumente dafür geliefert, der funktionalen Analyse gerade diese Fähigkeit abzusprechen (vgl. Joas 1992: 8 | In einem Buch mit treffendem Titel ist dies überzeugend entwickelt: Lori Pearson 2008.

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306-326). Charakteristisch sind die Namen, die an dieser Stelle fallen: Marx, dessen latenter Funktionalismus zu den schwächsten Teilen seines Erbes gehört; Foucault, der nicht als Vorbild für soziologischen Realismus angeführt werden sollte; Luhmann, der Nicht-Soziologen regelmäßig damit imponiert, dass er seinen höchst idiosynkratischen radikalen Funktionalismus als die Perspektive der Soziologie propagiert hat (vgl. dazu Joas/Knöbl 2004: 351-392). Von den Autoren, in deren Traditionen ich mich stelle und die ich als Konstitutionstheoretiker den Funktionalisten entgegengestellt habe (von Weber über Etzioni, Touraine, Giddens bis zu Michael Mann) ist nicht die Rede. Ich teile also mit Raimondi das Plädoyer für soziologischen Realismus in der Genealogie der Werte und habe dies nicht nur im Methodenkapitel des Buches betont (Joas 2011: 195-203), sondern doch auch in den materialen historisch-soziologischen Kapiteln berücksichtigt – etwa dort, wo es um die Antisklavereibewegung ging (ebd.: 132-146). Ich stimme auch zu, dass jede Sakralisierung mit Entsakralisierung verbunden ist (Joas 2013) und insofern eine kritische Dimension hat. Aber anders als in der Tradition der Kritischen Theorie sehe ich keine Möglichkeit, diese kritische Dimension zum Merkmal einer bestimmten Schule zu machen. Die Kritik ist immer im einzelnen zu leisten und durch kein Geheimrezept in toto zu haben. Vielleicht könnte man sagen, dass ich analog zum ›entspannten‹ Verständnis von Begründung ein solches auch von ›Kritik‹ habe. Ich reagiere allerdings manchmal eher allergisch und ganz unentspannt auf die Vorstellung, durch funktionale Analyse einen höheren Kritikbezugspunkt in Anspruch nehmen zu dürfen. In einer Hinsicht gibt es eine Überlappung zwischen dem interessanten Beitrag von Michael Haus und den gerade erörterten Fragen. Etwas überraschend angesichts der Tatsache, dass Haus seinen Beitrag explizit auf ›kommunitaristische Ideen‹ gründet, stützt auch er sich auf Michel Foucault, nämlich dort, wo er die Frage stellt, ob »die Menschenrechte Teil eines Diskurses sind, der untrennbar mit Machtpraktiken verknüpft ist und etwa dazu führt, dass diskursive Positionen der Über- und Unterlegenheit produziert, Beobachtungen bestimmter Art privilegiert und Disziplinarpraktiken legitimiert werden« (S. 70). Ich möchte hier in aller Deutlichkeit und Grundsätzlichkeit feststellen, dass ich dies wichtige und berechtigte Fragen finde und nicht glaube, dass ich mich diesen Fragen in meiner Arbeit irgendwie entziehe. Meine Skepsis gegenüber den Foucaultianern und vielen Vertretern der Kritischen Theorie beruht nicht darauf, dass ich diese Fragen für illegitim hielte und abwehren möchte, sondern darauf, dass mir die Antwort auf diese Fragen in diesen Denkschulen oft schon vorgegeben scheint. Das ist der Unterschied zwischen einem generalisierten Gestus der ›Kritik‹ und einer je einzeln zu leistenden, empirisch offenen Kritik – der Unterschied auch zwischen dem ewig gleichen Nachweis des bloßen Formwandels der ›Macht‹ und dem Nachweis konkreter Missbräuche und Ausblendungen.

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Im Kern besteht der Aufsatz von Haus aber aus dem Vergleich meiner Arbeit mit den ›kommunitaristischen‹ Gedankengängen von Alasdair MacIntyre und Michael Walzer. Zu Beginn charakterisiert der Verfasser mein Projekt sehr treffend, vor allem auch, was den Sinn der These betrifft, dass »die Entstehung der Menschenrechte auch im westlichen Kontext eine kontingente Entstehung war« (S. 66). Er erkennt nämlich, dass damit nicht etwa, wie manche meinen, das kulturelle Fundament der Menschenrechte erschüttert wird, sondern umgekehrt deshalb »die Möglichkeit einer Aneignung von Menschenrechtsvorstellungen […] auch in anderen kulturellen Kontexten als kontingente Entwicklung für möglich gehalten werden sollte« (ebd.). Dann aber tritt eine subtile Verschiebung ein, durch die aus meiner Rede von der ›Sakralisierung der Person‹ die einer Sakralisierung der Menschenrechte wird. Seine Kritik konzentriert sich deshalb auf die »problematische[n] Implikationen einer sakralisierten Version der Menschenrechtsidee« (S. 75). Fast allem an dieser Kritik kann ich nur zustimmen. Haus sieht auch selbst, dass MacIntyres Polemik gegen Heuchelei und inflationiertes Moralisieren eher eine »Steilvorlage« (S. 73) für mein Projekt als einen Einwand gegen dieses darstellt und dass ich Michael Walzers Denken in wesentlichen Hinsichten nahe stehe. In meiner Ausdrucksweise ist die Rede von den Menschenrechten, anders als Haus es wahrnimmt, eine spezifische Artikulation der tieferliegenden ›Sakralität der Person‹. Nicht jeder, der von Menschenrechten redet, wird wirklich von der ›Sakralität der Person‹ ergriffen sein; nicht alle, die von der ›Sakralität der Person‹ ergriffen sind, müssen diese in der Sprache der Menschenrechte artikulieren. Ich gehöre gewiss nicht zu denen, die die lebendigen religiösen Traditionen durch eine neue Religion ersetzen wollen, auch nicht durch eine Sakralisierung der Menschenrechte. An einer Stelle fühle ich mich zudem als Opfer einer bloßen Unterstellung des Autors. Er schreibt mir die Vorstellung zu, dass die Menschenrechte »als eigenständiges politisches Programm der Weltgestaltung verstanden« (S. 71) würden; das Gegenteil trifft aber auf mich zu: Ich sehe in ihnen ein Minimalprogramm, das unter sehr verschiedenen politischen Bedingungen Gültigkeit haben soll. Besonders produktiv an diesem Beitrag finde ich den Brückenschlag zwischen den kulturellen Prozessen der ›Sakralisierung der Person‹ und den politischen Deutungskämpfen, die mit der Artikulation wertkonstitutiver Erfahrungen und erst recht mit ihrer Übersetzung in rechtliche Regelungen notwendig verbunden sind. Hier befinde ich mich nun in der komfortablen Lage, dass ein weiterer Beitrag in eben diese Richtung zielt, ohne dies aber gegen meinen Ansatz auszuspielen. Gemeint ist Daniel Bogners Text, in dem er die Grundgedanken seiner vorzüglichen theologischen Studie zu den Menschen-

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rechten präsentiert (Bogner 2014).9 Zentral für ihn ist der Gedanke, dass es »zur Natur menschenrechtlicher Ansprüche (gehört), jeweils neu ausgelegt und angesichts sich verändernder Kontexte neu interpretiert zu werden« (S. 187f.). Sein Motiv, diesen Punkt so stark hervorzuheben, liegt darin begründet, dass im katholischen kirchlich-theologischen Umgang mit menschenrechtspolitischen Fragen sehr häufig ein Rückzug auf ein naturrechtliches Verständnis von Menschenwürde stattfindet und die gebotene immer neu ansetzende »hermeneutische Suche nach dem je aktuellen Gehalt menschenrechtlicher Forderungen« (S. 189) damit gerade unterbleibt. Bogner fasst dagegen die »reziproke Verschränkung von Recht und Politik« (ebd.) ins Auge. Das halte ich für empirisch und in seiner (zwar leicht polemischen) Zuspitzung gegen einen zu leichten Konsens »zwischen dem aufklärerischen und dem christlichen Menschenbild« (S. 193f.) für normativ fruchtbar. Sein Plädoyer gilt der »Wertschätzung des Zwischenraumes« (S. 194) zwischen der Menschenwürde und den konkreten Schutzgütern. Für diesen Zwischenraum benötigt Bogner einen treffenden Begriff, und er hat sich dafür entschieden, hier den Begriff des ›Politischen‹ einzusetzen. Das ist keine unproblematische terminologische Entscheidung. Wenn ich Bogner richtig verstehe, nennt er den Raum, der bei mir durch das Wechselspiel von Werten, Institutionen und Praktiken bezeichnet wird, den ›Raum des Politischen‹. Bei einem alltagssprachlichen Sinn des ›Politischen‹ würde man hier von einer unnötigen Verengung der Bandbreite menschlicher Erfahrungen und Praktiken oder von einer sehr vagen Verwendung des Politikbegriffs sprechen müssen. Bogner hat, wie die kurze Passage zu Carl Schmitt (vgl. S. 195) andeutet, aber keinen alltagssprachlichen Sinn im Kopf. Vermutlich hat sich hier auch die auf Claude Lefort zurückgehende starke Unterscheidung von ›le politique‹ und ›la politique‹ (Lefort 1986: 251-300)10 ausgewirkt. Das muss hier alles dahingestellt bleiben. Wichtig und weiterführend ist jedenfalls Bogners empirisches und normatives Insistieren auf dem Raum, in dem Werte, Institutionen und Praktiken der Menschenrechte sich immer neu justieren müssen. Zwei weitere Beiträge mit ihren je eigenen Fragestellungen lassen sich dem Themenkomplex ›affirmative Genealogie‹ und der Frage nach ihrem Verhältnis zu den Sozialwissenschaften zuordnen. Gesche Linde, große und mir überlegene Kennerin der Schriften von Charles Sanders Peirce, kennzeichnet mein ›Projekt‹ – obwohl ich selbst vor allem auf Ernst Troeltsch und den Historismus zurückgegriffen habe – in mehrfacher Hinsicht als zutiefst pragmatistisch und verteidigt meine Vorstellungen zur Verknüpfung von Argumentation und Narration, für mich erfreulich, gegen diejenigen Philosophen, die 9 | Das Buch beruht auf seiner Habilitationsschrift von 2012 an der Universität Münster; ich war an seinem Habilitationsverfahren als externer Gutachter beteiligt. 10 | Zur ganzen daran anschließenden Debatte jetzt wichtig: Habermas 2012.

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mir – ebenso wie dem Pragmatismus – eine tendenziell vernunftfeindliche Position andichten. Sie spricht dagegen von einem »Schutz des Rationalitätsbegriffs vor einer Verengung auf propositional oder argumentational organisierte Interpretanten« (S. 61). In der grundsätzlichen Orientierung am Pragmatismus stehen wir uns offensichtlich nahe. Umso irritierender sind für mich die vorhergehenden Teile des Beitrags, in denen die Verfasserin nach der Rolle des Pragmatismus in meinem Menschenrechts-Buch fragt und zu dem nicht überraschenden Ergebnis kommt, dass diese – abgesehen vom Bezug auf William James’ Reflexionen über die ›Seele‹ – eher gering ist. Ich hoffe, dass es als klärend empfunden wird, wenn ich erwähne, dass ich mich nie nur als Pragmatisten empfunden habe.11 Ich habe ja für mich den amerikanischen Pragmatismus als Weg aus bestimmten Aporien der mich ursprünglich prägenden Denktraditionen heraus entdeckt, und zu diesen gehörte ganz wesentlich der Historismus. Schon für die Rechtfertigung meines biografischen Zugangs zu George Herbert Mead in meinem ersten größeren Buch habe ich mich auf Wilhelm Diltheys Reflexionen über Biografie in seinem Auf bau der geschichtlichen Welt gestützt und an seiner Schleiermacher-Forschung als Vorbild orientiert (vgl. Joas 1980: 10).12 Aus meiner Sicht ist der Pragmatismus erst spät tieferschürfend auf die Probleme der Geschichtsforschung in empirischer und normativer Hinsicht eingegangen, was mit seiner vornehmlichen Prägung durch die Naturwissenschaften zusammenhängt.13 Es war für mich deshalb ganz natürlich, in einem Buch zur Geschichte und Begründung der Menschenrechte mich nicht an der weniger ertragreichen Tradition zu orientieren. Man kann hier natürlich anderer Meinung sein und die Leistungen oder das Potenzial des Pragmatismus höher einschätzen, als ich dies tue.14 Die lange Liste von Punkten (S. 51f.), mit denen sich eine angemessene Präsentation des Pragmatismus beschäftigen müsste, kann ich aber für die Geschichte der Menschenrechte nicht als einschlägig akzeptieren – auch nicht in dem einen und selbstverständlich höchst selektiven Punkt, an dem ein pragmatistischer Denker (William James) bei 11 | In autobiografischen Texten habe ich dies mehrfach deutlich gemacht; vgl. Joas 1998; 2005. 12 | Unter Verweis auf Dilthey 1970: 303-310. 13 | In Die Sakralität der Person habe ich nur in einer Fußnote auf »aufregende, genauer zu verfolgende Parallelen zwischen Troeltschs aus dem Historismus resultierenden Überlegungen in dieser Hinsicht und George Herbert Meads aus dem Pragmatismus hervorgehender Philosophie der Zeitlichkeit« (Joas 2011: 172, FN 17) verwiesen. Dies habe ich jetzt in einem neuen Manuskript ausgearbeitet (›Pragmatism and Historicism. Mead’s Philosophy of Temporality and the Logics of History‹). 14 | Zusätzlich zu der von Linde genannten Literatur verweise ich auf Betz 1974 und jetzt Carreira da Silva 2013.

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mir auftritt. Unverständlich ist mir auch, wie die Autorin behaupten kann, dass ich die Pragmatisten deshalb einspiele, weil sie ›religiöse Affinitäten‹ hatten (vgl. S. 53). Zum einen hatten viele von ihnen diese nicht, zum anderen hätte ich aus diesem Grund wiederum nicht gerade auf James kommen müssen. Es ging mir um seine Argumente zum Seelenbegriff und nicht um sein »religiöses Sentiment« (S. 54). Lindes Frage an mich im Anschluss an Dewey, ob ich einen historischen Wandel der Menschenrechte unterstelle, scheint sich mir von selbst (positiv) zu beantworten. Der soziologische Beitrag von Gert Pickel ist von größerer Nähe zur Modernisierungstheorie und zur Säkularisierungsthese geleitet, als ich dies für ratsam halte, aber die Diskussion um Geschichte und Begründung der Menschenrechte ist nicht der richtige Ort, um die häufig geführte religionssoziologische Debatte über Säkularisierung weiterzuführen.15 Unglücklich bin ich hier in vielen Hinsichten mit der saloppen Wiedergabe meiner Thesen durch den Verfasser. Im Telegrammstil: Ich verfechte gerade kein funktionales Verständnis von Religion, habe mich zur Zivilreligionsthese nicht geäußert, unterstelle nicht einen in allen Religionen ähnlich ablaufenden Entwicklungsprozess, bestreite nicht grundsätzlich die Existenz kultureller Diffusionsprozesse,16 erwarte nicht, dass der Prozess der ›Sakralisierung der Person‹ immer erfolgreich ist, unterscheide begrifflich zwischen ›Individuum‹ und ›Person‹, weshalb es auch nicht angeht, die ›Sakralisierung der Person‹ mit der soziologisch vielfach erforschten ›Individualisierung‹ gleichzusetzen, und übertrage den Begriff der Wertegeneralisierung aus Parsons’ Differenzierungstheorie in einen anderen theoretischen Rahmen. Sachlich am spannendsten finde ich die aus Pickels Prämissen entstehende These, dass es doch einen »relativ universalen Enwicklungsprozess« (S. 107) in Richtung Menschenrechte gebe. In diesem optimistischen modernisierungstheoretischen Szenario scheinen mir bei Pickel allerdings Annahmen zusammenzufließen, die ich trennen würde: die Annahme einer einheitlichen Logik der Modernisierung, der alle Gesellschaften mehr oder minder, früher oder später folgen, und die Annahme einer kulturellen Diffusion von Errungen15 | vgl. zu meiner Sicht ausführlich: Joas 2012a. 16 | Gert Pickel stützt seinen Eindruck, ich bestreite die Möglichkeit kultureller Diffusion, auf meine Formulierung: »Schon die Entstehung der Menschenrechte, erst recht aber ihre weitere Verbreitung und die Intensivierung der Bindung an sie ist nicht als Vorgang kultureller Diffusion zu begreifen.« (Joas 2011: 19) Unkontrovers müssten zwei Bestandteile des Satzes sein: Die Entstehung der Menschenrechte kann logischerweise nicht aus Diffusion folgen; und die Intensivierung der Bindung dort, wo diese am stärksten ausgeprägt ist, ebenso wenig. Logisch kann die weitere Verbreitung gewiss auch durch Diffusion erfolgen, aber empirisch scheint mir dies nicht oder kaum der Fall zu sein. Das ist natürlich eine falsifizierbare Aussage.

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schaften aus fortgeschrittenen Ländern in andere. Die Diffusionsthese macht kulturelle Abwehrreaktionen auf strukturell ja nicht erzwungene Entwicklungen wahrscheinlich und bedroht damit die Plausibilität des Szenarios. Die Modernisierungsthese wiederum abstrahiert zu sehr von der Machtdimension in den internationalen Beziehungen. Aber all das soll, wie gesagt, an diesem Ort nicht zum Thema gemacht werden.

D as V erhältnis zur Theologie Zu einem dritten Komplex fasse ich drei Arbeiten zusammen, in denen es explizit oder implizit um das Verhältnis meiner Argumentation zur Theologie geht, explizit bei Thomas M. Schmidt und Stephan Goertz, implizit bei Georg Lohmann, dessen Zuordnung zu diesem Teil vielleicht nicht auf den ersten Blick einleuchtet, aber m.E. gut begründet werden kann. Die sehr klaren Ausführungen von Thomas M. Schmidt empfinde ich als hilfreich und weiterführend. Das gilt zunächst für den ersten Teil des Beitrags, wo er unter Bezug auf Kierkegaard herausarbeitet, »dass die Frage nach der Unsterblichkeit erst als eine existenzielle Frage wirklich bedeutsam wird« (S. 173). Auch der Pragmatismus hat in der Tat eine »existenzielle Dimension« (S. 177), und die gelegentlich zu findende Bezeichnung von William James als eines Proto-Existenzialisten ist scharfsinnig und zutreffend. In den beiden anderen Teilen spielt die Frankfurter Tradition eine entscheidende Rolle, Habermas einerseits, Horkheimer andererseits. Bezogen auf Habermas vergleicht Schmidt meine Ausführungen zur ›Gabe‹ mit Jürgen Habermas’ Vorschlägen zu einem ›nachmetaphysischen‹ Verständnis personaler Unverfügbarkeit und kommt zu dem Schluss, dass Habermas und ich uns nicht so stark unterschieden, »wie beide Autoren gelegentlich zu glauben geneigt sind« (S. 185). Ich denke, es trifft zu, dass in den bioethischen Fragen und in den argumentationsleitenden Intuitionen hier eine große Nähe vorliegt, nicht aber in grundsätzlichen Fragen des Verständnisses von Religion und Religionsgeschichte.17 Entscheidend ist also das Ausmaß, in dem das unterschiedliche Religionsverständnis und ein damit zusammenhängendes unterschiedliches Verständnis vom menschlichen Handeln sich in der Behandlung einzelner Fragen niederschlägt. Der Verweis auf Horkheimer dient Schmidt dazu, meine Überlegungen zu einem heute akzeptablen Verständnis der ›Unsterblichkeit der Seele‹ (oder der Person) in Richtung einer ähnlich gearteten Transformation der Vorstellung vom ›Jüngsten Gericht‹ zu erweitern. Ich könnte es mir an dieser Stelle leicht machen und schlicht darauf verweisen, dass jede Vorstellung vom ›Jüngsten 17 | Zu den Differenzen verweise ich noch einmal auf Polke 2013 und meine zahlreichen Texte zu Habermas.

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Gericht‹ auf eine postmortale Präsenz derer, über die das Gericht befindet, angewiesen ist, und ich insofern die fundamentalere Frage behandelt habe. Aber ich verstehe das Motiv Schmidts (und Horkheimers) sehr gut, über die existenziellen Fragen des Individuums hinaus die – wie Schmidt Horkheimer zitiert – »Sehnsucht nach vollendeter Gerechtigkeit« (S. 180) ernst zu nehmen. Mir ging es im Zusammenhang der Menschenrechte um den unbedingten Respekt vor jedem Menschen in seiner Personalität. Aber der Schutz der Menschenrechte ist ja keine Ausrede, die dazu dienen soll, die Fragen umfassender Gerechtigkeit zu umgehen. Deshalb bleiben die Überlegungen zur Erlösung des einzelnen verwiesen auf die Eschatologie. Solche Eschatologie aber »gehört notwendig zum Erlösungsglauben, der Bruchstück wäre ohne sie, und der zur Phrase und Selbsttäuschung wird, wenn man die innerirdische Erlösung für die vollendete Erlösung hält« (Troeltsch 1910: 487). Gläubige und NichtGläubige werden hier im Eingedenken vergangenen Unrechts und in der Veränderung des Blicks auf die Geschichte einen weiten Weg miteinander gehen können, auch wenn sie sich im letzten in ihrer Hoffnung unterscheiden. Sehr lehrreich in mehrfacher Hinsicht ist für mich auch der theologische Beitrag von Stephan Goertz. Der Verfasser hat sich schon früher mit den ethischen Implikationen meiner pragmatistischen Handlungstheorie in weiterführender Weise auseinandergesetzt (Goertz 2004: 226-251). Er arbeitet jetzt heraus, dass alle (christliche) Theologie im Kern immer schon ›affirmative Genealogie‹ ist, »da der christliche Glaube von der unbedingten Bedeutsamkeit eines geschichtlichen Ereignisses aus denkt, der Menschwerdung Gottes im Leben des Jesus von Nazareth« (S. 210). So ist sicher auch der Weg des Theologen Ernst Troeltsch zur m.E. überzeugenden Lösung der Probleme des Historismus zu erklären. Gemeint ist damit aber nicht die Umkehrung, dass ›affirmative Genealogie‹ immer (christliche) Theologie sei. Goertz betont auch wie ich, dass keine religiöse Tradition, wie groß auch immer ihre historischen Errungenschaften sein sollten, sich auf diesen ausruhen dürfe, so dass »erst ein die Ansprüche der Menschenrechte anerkennender und sich daraufhin neu artikulierender Glaube« »zur Stütze der ›Sakralität der Person‹« (S. 211) werden könne. Damit ist die Intention meines fünften Kapitels genau getroffen. Differenzierter, als ich selbst dies getan habe, wird in diesem Text dann dargestellt, wie »die theologische Rede von der Heiligkeit des Lebens und die philosophische von der Entdeckung der Person« (S. 212) sich geschichtlich entwickelt haben. Das leitende Motiv dabei ist offensichtlich, allen »anthropologischen Reduktionismen, die am Ende den Menschen als Freiheitswesen tilgen« (S. 213) entgegenzutreten. Dieses Motiv teile ich. Goertz hat aber offenbar einen anderen Eindruck, insofern er mir vorwirft, »die Differenzierung zwischen grundsätzlicher Wertschätzung und konkreter sittlicher Urteilsbildung nicht immer genügend in Rechnung gestellt« (S. 216) zu haben. Ich möchte nicht behaupten, dass alle meine Formulierungen in dieser Hinsicht präzise

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genug sind, aber in der Sache besteht vermutlich kein Dissens zwischen uns. Es geht uns beiden um das, was ich an anderer Stelle den »Respekt vor Unverfügbarkeit« genannt habe, »um unseren Willen, Grenzen zu ziehen und Unverfügbarkeit freiwillig zu respektieren« (Joas 2004: 147)18. Das entscheidende Wort dabei ist »freiwillig«. Goertz wendet sich gegen eine Tradition im Katholizismus, die aus der Unverfügbarkeit ein – wie er schreibt – »schlechtes religiöses Autoritätsargument« (S. 218) macht. Aber aus der Ablehnung einer solchen Verwendung des Gedankens der Unverfügbarkeit folgt nicht, dass Selbstbestimmung als solche der höchste Wert sei. Es geht vielmehr darum, ein Konzept von Selbstbestimmung zu denken, das den Respekt vor Unverfügbarkeit nicht als Einengung dieser Selbstbestimmung auffasst. Der Philosoph Georg Lohmann, der mit zahlreichen Publikationen zum Thema als einer der aktivsten deutschen Beiträger zur Philosophie der Menschenrechte bezeichnet werden kann, beschäftigt sich zunächst mit der Geschichte und dem Sinn der Begriffe ›Menschenwürde‹ und ›Menschenrechte‹. Das haben viele vor ihm schon getan; für mich ist die große Studie des evangelischen Theologen Wolfgang Vögele in dieser Hinsicht besonders prägend gewesen (Vögele 2000). So interessant die Begriffsgeschichte von ›Würde‹ ist, bleibt festzuhalten, dass es sich aus meiner Perspektive bei diesem Begriff nur um eine mögliche Artikulationsform der ›Sakralität der Person‹ handelt. Das Auftauchen dieses Begriffs ist kein sicherer Indikator für die Existenz der entsprechenden Wertbindung. Ich verwende den artifiziellen, in keiner Kultur oder geschichtlichen Epoche selbst verwendeten Begriff ›Sakralität der Person‹ doch gerade deshalb, um eine Vielzahl von Artikulationsformen und Anknüpfungsmöglichkeiten zu erfassen. Am Ende seiner Darstellung zur Geschichte des Menschenwürdebegriffs nach 1945 passiert dem Verfasser dann eine ähnliche Verschiebung, wie ich sie bei Michael Haus festgestellt habe. Es ist plötzlich von der »Sakralisierung der Menschenwürde« die Rede (S. 19), als sei das ein Äquivalent zu meiner ›Sakralität der Person‹. Das ist aber ein fundamentales Missverständnis: ›Menschenwürde‹ ist für mich eine mögliche Artikulation der ›Sakralität der Person‹; der Begriff ›Menschenwürde‹ soll in meinen Augen selbst nicht sakralisiert werden. Die Verschiebung unterläuft Lohmann, weil er im Folgenden von dem Argwohn geleitet wird, dass ich trotz aller Unterscheidung von religiöser und säkularer Sakralität »zunehmend von einem religiös bestimmten Glauben an die Menschenrechte« (S. 20) spreche. Einen textlichen Beleg dafür gibt er nicht, weshalb ich ebenfalls nur pauschal seinem »Eindruck« (ebd.) widersprechen kann. Der Grund, warum Lohmanns Beitrag in den dritten Themenkomplex dieser Replik gehört, liegt eben darin, dass ich hier gewissermaßen in die 18 | Dieser Beitrag erschien zuerst (gekürzt) als Beitrag zur Bioethik-Debatte mit Julian Nida-Rümelin, Robert Spaemann u.a. in DIE ZEIT v. 15.02.2001, 38.

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Theologie abgedrängt werde. Wer den zentralen Gedanken »säkularer Heiligkeit«19 nicht mitzudenken bereit ist, sondern hinter jeder Rede von Sakralität Religion wittert,20 verfehlt meine Intention und Argumentation. Viele der im Text gestellten Fragen müssten sich erledigen, wenn dieses fundamentale Missverständnis überwunden ist. Niemals würde ich dem Sa­ kralen als solchem »einen höheren Wert« (S. 21) zusprechen, niemals im Begriff der Sakralität die gleiche Freiheit aller angelegt sehen. Ebenso zielen die Ausführungen über das Ausmaß, in dem ein religiöser Glaube durch Argumentation erschütterbar ist, an der These von der ›Sakralität der Person‹ schlicht vorbei. Lohmann sieht nicht, dass seine eigene These der Unterstellung einer »Hochschätzung« der Menschenwürde (S. 22) mit meiner These korrespondiert, wenn er nicht naiverweise diese Hochschätzung selbst als pures Resultat eines rationalen Begründungsdiskurses auffassen will. Die schlichte Opposition (im Schlussteil des Aufsatzes) von ›Genealogie und Begründung‹, ›Gründen und Motiven‹ wird der Sache, wie zum Glück zahlreiche der anderen Beiträger einräumen, nicht gerecht. Ich bestreite sogar, dass Lohmann, der Habermas’ Position für sich in Anspruch nimmt (vgl. S. 24), diese richtig wiedergibt, da Habermas sehr wohl erkennt, dass bei Werten Genesis und Geltung nicht einfach zu trennen sind (vgl. Habermas 1992: 202). Die mir zugeschriebenen Formeln ›Erst Werte, dann Normen‹ und ›Erst Motive, dann Gründe‹ geben nicht korrekt wieder, was ich an vielen Stellen seit Die Entstehung der Werte von 1997 geschrieben habe – dass nämlich in ganzheitlichen wertkonstitutiven Erfahrungen Motive und Gründe nicht säuberlich geschieden sind und dass unsere Normen zweierlei Quellen haben. Dies kann hier nicht alles ausführlich wiederholt werden. Kurios finde ich aber, dass gerade einige emphatische Verteidiger rationaler Begründungsdiskurse, sobald von Religion oder auch nur Sakralität die Rede ist, es an der genauen Ortung 19 | In einem Aufsatz über Rudolf Otto und sein epochemachendes Buch Das Heilige (Breslau, 1917) habe ich versucht, den immer wieder auftauchenden Missverständnissen durch zusätzliche Klärungen vorzubeugen: Joas 2014. 20 | Ähnlich reich an Missverständnissen empfinde ich die sich als nüchtern-juristisch gebende Auseinandersetzung Horst Dreiers mit meinem Buch (Dreier 2013: 103-111). Er stellt die Rede von der ›Sakralität der Person‹ sogar mit einem Luther-Zitat in Frage. Wenn die Redeweise hier nicht so unpassend wäre, würde ich am liebsten sagen, der Protestant Dreier sei in diesem Punkt ›päpstlicher als der Papst‹. Die protestantische Theologie hat sich in dieser Hinsicht nämlich gerade um ein Umdenken bemüht; vgl. etwa Vögele 2000, Leiner 2008, Polke 2009: bes. 165-176 sowie zahlreiche Arbeiten von Wolfgang Huber. Man stelle sich vor, ein katholischer Autor hielte die Auffassungen eines Papstes des sechzehnten Jahrhunderts für ein Argument in Sachen Menschenrechte. Dreiers Buch enthält auch Kommentare. In einem davon widerspricht Christian Hillgruber ganz in meinem Sinn, vgl. ebd.: 119-133, bes. 132f.

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derer, die sie als kritikwürdig empfinden, fehlen lassen. Die von ihnen gerne aufgezeigten Schattenseiten der Sakralisierung finden sich – das sollte man nicht vergessen – auch bei einer Sakralisierung der ›Vernunft‹. Ich habe zu Beginn dieser Replik erklärt, wie dankbar ich für diesen Band bin, und kann nur hoffen, dass meine Ausführungen, die notgedrungen auch immer wieder kritisch sein mussten, diesem Gefühl angemessenen und glaubwürdigen Ausdruck gegeben haben.

L iter atur Betz, Joseph (1974): »G.H. Mead on Human Rights«, in: Transactions of the Charles Sanders Peirce Society 10, S. 199-223. Bogner, Daniel (2014): Das Recht des Politischen. Ein neuer Begriff der Menschenrechte, Bielefeld: transcript. Carreira da Silva, Filipe (2013): »Outline of a Social Theory of Rights: A Neo-pragmatist Approach«, in: European Journal of Social Theory 16, S. 457475. Dilthey, Wilhelm (1970): Der Auf bau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Dreier, Horst (2013): Säkularisierung und Sakralität. Zum Selbstverständnis des modernen Verfassungsstaates, Tübingen: Mohr Siebeck. ›Forum Hans Joas. »Die Sakralität der Person«‹, in: Zeitschrift für Theoretische Soziologie 2 (2013), S. 298-327. Goertz, Stephan (2004): Weil Ethik praktisch werden will. Philosophisch-theologische Studien zum Theorie-Praxis-Verhältnis, Regensburg: Pustet. Habermas, Jürgen (1992): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. – (2012): »›Das Politische‹ – Der vernünftige Sinn eines zweifelhaften Erbstücks der politischen Theologie«, in: Ders.: Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Berlin: Suhrkamp, S. 238-256. Joas, Hans (1980): Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werkes von G. H. Mead, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. – (1992): Die Kreativität des Handelns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. – (1997): Die Entstehung der Werte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. – (1998): »The Inspiration of Pragmatism: Some Personal Remarks«, in: Morris Dickstein (Hg.): The Revival of Pragmatism, Durham, N.J.: Duke University Press, S. 190-198. – (2000): Kriege und Werte. Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Weilerswist: Velbrück. – (2004): Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg i.Br.: Herder.

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– (2005): »A Pragmatist from Germany«, in: Alan Sica/Stephen Turner (Hg.): The Disobedient Generation. Social Theorists in the Sixties, Chicago: University of Chicago Press, S. 156-175. – (2011): Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin: Suhrkamp. – (2012a): Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg i.Br.: Herder. – (2012b): »Gefährliche Prozessbegriffe. Eine Warnung vor der Rede von Differenzierung, Rationalisierung und Modernisierung«, in: Karl Gabriel/ Christel Gärtner/Detlef Pollack (Hg.): Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin: Berlin University Press, S. 603-622. – (2013): »Sakralisierung und Entsakralisierung. Politische Herrschaft und religiöse Interpretation«, in: Friedrich Wilhelm Graf/Heinrich Meier (Hg.): Politik und Religion. Zur Diagnose der Gegenwart, München: C.H. Beck, S. 259-286. – (2014): »Säkulare Heiligkeit. Wie aktuell ist Rudolf Otto?«, in: Jörg Lauster u.a. (Hg.): Rudolf Otto. Theologie – Religionsphilosophie – Religionsgeschichte, Berlin: De Gruyter, S. 59-77. –/Wolfgang Knöbl (2004): Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Koenig, Matthias (2002): Menschenrechte bei Durkheim und Weber. Normative Dimensionen des soziologischen Diskurses der Moderne, Frankfurt a.M.: Campus. – (2008): »Wie weiter mit Émile Durkheim?«, in: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.): Wie weiter mit …?, Hamburg: Hamburger Edition HIS. Laux, Bernhard (Hg.) (2013): Heiligkeit und Menschenwürde. Hans Joas’ neue Genealogie der Menschenrechte im theologischen Gespräch, Freiburg i.Br.: Herder. Lefort, Claude (1986): »Permanence du théologico-politique«, in: Ders.: Essais sur le politique, Paris: Seuil, S. 251-300. Leiner, Martin (2008): »Menschenwürde und Reformation«, in: Rolf Groeschner u.a. (Hg.): Des Menschen Würde, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 49-62. Pearson, Lori (2008): Beyond Essence. Ernst Troeltsch as Historian and Theorist of Christianity, Cambridge (MA): Cambridge University Press. Polke, Christian (2009): Öffentliche Religion in der Demokratie. Eine Untersuchung zur weltanschaulichen Neutralität des Staates, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. – (2013): »Die Idee der Menschenwürde. Zwischen Sakralität der Person und Versprachlichung des Sakralen«, in: Berliner Theologische Zeitschrift 30, S. 254-279.

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Toulmin, Stephen (1992): Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Troeltsch, Ernst (1910): »Art. Erlösung: Dogmatisch«, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2., Tübingen: Mohr Siebeck, Sp. 481-488. Vögele Wolfgang (2000): Menschenwürde zwischen Recht und Theologie. Begründungen von Menschenrechten in der Perspektive öffentlicher Theologie, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

Zu den Autorinnen und Autoren

Bogner, Daniel; Prof. Dr.; Lehrstuhl für allgemeine Moraltheologie und Ethik an der Universität Fribourg. Fateh-Moghadam, Bijan; Dr.; Projektwissenschaftler am Exzellenzcluster ›Religion und Politik‹ der Universität Münster. Goertz, Stephan; Prof. Dr.; Professur für Moraltheologie an der KatholischTheologischen Fakultät der Universität Mainz. Große Kracht, Hermann-Josef; apl. Prof. Dr.; Institut für Theologie und Sozialethik der Technischen Universität Darmstadt. Haus, Michael; Prof. Dr.; Professur für Moderne Politische Theorie am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg. Joas, Hans; Prof. Dr. Dr. h.c.; Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies der Universität Freiburg i. Br. Kettner, Matthias; Prof. Dr.; Lehrstuhl für praktische Philosophie an der Fakultät für Kulturreflexion der Universität Witten/Herdecke. Koenig, Matthias; Prof. Dr.; Professur für Soziologie mit dem Schwerpunkt Religionssoziologie an der Universität Göttingen und Fellow am dortigen ›MaxPlanck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften‹. Linde, Gesche; PD Dr.; Institut für Theologie und Sozialethik der Technischen Universität Darmstadt. Lohmann, Georg; Prof. Dr.; Emeritus am Lehrstuhl für praktische Philosophie des Instituts für Philosophie der Universität Magdeburg.

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Der moderne Glaube an die Menschenwürde

Pickel, Gert; Prof. Dr.; Professur für Kirchen- und Religionssoziologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Polke, Christian; Dr.; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Systematische Theologie am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg. Raimondi, Francesca; Dr.; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Universität Frankfurt a.M. Schmidt, Thomas M.; Prof. Dr.; Professur für Religionsphilosophie am Fachbereich Katholische Theologie der Universität Frankfurt a.M.