Die Theologie der Heilstatsachen und das Evangelium Jesu: Ein Wort zur Beruhigung über die moderne Theologie im Kampf um die Zwickauer Thesen der sächsischen Lehrerschaft 9783111653624, 9783111269689


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Die Theologie der Heilstatsachen und das Evangelium Jesu
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Die Theologie der Heilstatsachen und das Evangelium Jesu: Ein Wort zur Beruhigung über die moderne Theologie im Kampf um die Zwickauer Thesen der sächsischen Lehrerschaft
 9783111653624, 9783111269689

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Vie Theologie der Heilstatsachen

und das Evangelium Jesu

Lin Wort zur Beruhigung über die moderne Theologie

im Kampf um die Zwickauer Thesen der sächsischen Lehrerschaft von

D. Karl Thieme a. o. Professor der Theologie in Leipzig

Verlag von Alfred Töpelmann

(vormals 3- Kicker) * Gießen 1909

Druck von C. G. Höher G. m. b. h., Leipzig

„In der Tat, Sachsen erlebt jetzt Kirchengeschichte." So beginnt ein Bericht über die „Reform de§ Religionsunterrichtes in der Volksschule des Königreichs Sachsen" in der „Chronik der Christlichen Welt" 1909 Nr. 10. Gleichzeitig las ich den am 4. Februar im Komps um die Zwickauer Thesen der säch­ sischen Lehrerschaft auf der öffentlichen Versammlung des Dres­ dener Protestantenvereins gehaltenen Vortrag des Herrn Dr. Karl Kautzsch, Pastor an der reformierten Gemeinde zu Dresden. Ruf Umschlag und Titelblatt lautet der Titel: „Vie kirchliche Lehre von den Heilstatsachen ein Rbweg vom echten Evangelium Jesu."*) Da aber, wo der Vortrag nach Vor­ wort, Abdruck der Zwickauer Thesen usw. S. 8 beginnt, steht über ihm als Thema: „Vie Theologie der Heilstatsachen und das Evangelium Jesu." Dies soll auch das Thema meines folgenden „Wortes zur Beruhigung" sein. Dabei denke ich nicht etwa an alle Beun­ ruhigung, die Sachsen in jenem Kampfe jetzt erlebt, sondern nur an die Beunruhigung über die moderne Theologie, die ein solcher Vortrag eines ihrer Angehörigen den mit ihr zu wenig bekannten Lesern bereiten kann. Denn er beugt nicht genug dem vor, daß solche Leser unruhig werden oder bleiben über die Stellung der modernen Theologie zu den Heilstatsachen und zu der kirchlichen Lehre von diesen. Ich möchte deshalb einerseits zeigen, daß der nicht allzu enggläubige Leser ruhig bleiben kann, wenn er nur beim Lesen „den guten Willen übt, in den Venkkreis des andern hineinzutreten, als wäre es sein eigner, also: dem Gegner zu helfen, nicht um seinetwillen, sondern um der über beiden stehenden gesuchten Sache willen"?) *) Dresden 1909. Verlag von Alexander Köhler. 38 S. 2) Worte Rudolf Hildebrands in dem Grenzbotenaufsatz „Wie Wahr und Gut Zusammenhängen", s. „Tagebuchblälter eines SonnlagsPhilosophen", 1896, 194. voraus geht, die Sprache sei das unent­ behrliche Werkzeug alles Streites und der Einigung, aber durchaus kein vollkommnes. „Da kommt nun alles auf des Einzelnen guten Willen an, dsß er bei dem Worte des andern sich das Fehlende selbst ergänze oder die Wendung gerade von der Seite nehme, die nach 1*

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Andrerseits aber möchte ich zeigen, daß eine am geschichtlichen Jesus und seinem Evangelium normierte moderne Theologie eine Theologie der Heilstatsachen sein mutz. Also - „Sachsen erlebt jetzt Kirchengeschichte". Manchen kommt die im Gange befindliche Reform des Religionsunter­ richts in der Volksschule wie eine Art Reformation vor. „Vie Pose des Reformators" ist Rautzsch nachgesagt worden von A. M., dem Berichterstatter über seinen Vortrag in Nr. 7 der „Allgemeinen evangelisch-lutherischen Kirchenzeitung". In der Pose des Reformators habe er eine Aufforderung an alle kirch­ lichen Theologen Sachsens hingeworfen. Sie lautet im ge­ druckten Vortrag S. 31/2 folgendermatzen: „... so fordere ich hierdurch die kirchlichen Theologen des Rönigreichs Sachsen aus, mir endlich einmal den vollgültigen wissenschaftlichen Be­ weis zu erbringen, datz jene sogenannten Heilstatsachen wirk­ lich den Kernpunkt des Evangeliums Jesu ausmachen." Mit „jenen sogenannten Heilstatsachen" meint Kautzsch die meta­ physische Gottessohnschaft Jesu, seinen stellvertretenden Gpfertod und seine leibliche Auferstehung. Solange der Beweis für die Unerlätzlichkeit dieser Heilstatsachen nicht erbracht sei, „wer­ den wir uns erlauben zu sagen, datz die kirchliche Theo­ logie von dem alten, schlichten Evangelium Jesu ab­ gefallen ist, und datz sie mit ihrer Dogmatik der Heilstatsachen das unwissende Volk in beklagens­ wertester Weise in die Irre führt" (S. 33). Dieser von Kautzsch selbst unterstrichene Satz^ und mancher andere atmet dem Zusammenhänge eben die rechte ist, d. h. das Suchen der Wahr­ heit kann des Guten gar nicht entbehren, das die Sache selbst suchen will über die Ichheit hinaus und auch die treue Hingebung des guten Willens übt, in den Denkkreis des andern" usw., s. oben. Ls ist traurig, datz so oft dieser gute Wille fehlt. Vie Zwickauer Thesen reden vom Einklang des Religionsunterrichts mit dem gelauterten sittlichen Empfinden unserer Zeit. Da scheint es auch manchen an dem guten willen gefehlt zu haben, nicht zu höhnen: „(D ja, bis an die Sterne weit!" haben wir's gebracht mit unserm „moralinfreien" Empfinden, sondern wie Kautzsch S. 21 - gewiß im Sinne der Thesen — zu fragen: „woran hat sich denn unser sittliches und religiöses Empfin­ den allmählich gelautert? Sicherlich nicht an den Einfällen Nietzsches oder an irgendeiner neuesten Modestimmung, sondern an dem alten, schlichten Evangelium Jesu selber." 0 Solche gepfefferte Worte, solche Weherufe gehören ebenso wie das Gruselnmachen mit dem kirchlichen „Dogmenfanatismür" von jeher

5 allerdings die Stimmung des Reformatorischen „Vie Zeit des Schweigens ist vergangen und die Zeit zu reden ist kommen". Sehr Ungerechtes steht S. 23/4. „Vas berüchtigte 17. Ka­ pitel in Häckels Welträtseln wäre nicht zustande gekommen, wenn die Theologen, Dozenten und Geistliche, rechtzeitig den Mund aufgetan und bekannt hätten, datz ein großer Teil von ihnen an dem Satz von der jungfräulichen Geburt Thristi nicht mehr festhält, und datz ein noch größerer Teil von ihnen jeden­ falls keine »Heilstatsache* der evangelischen Kirche in diesem Satze erblickt." Ist denn die „Eisenacher Erklärung" im Apostolikumstreit von 18921) schon vergessen? Durch sie konnte man sieben Jahre vor der ersten Ruflage von Häckels Welt­ rätseln^) auf die Stellung führender moderner Theologen zu jenem Satz aufmerksam werden. Denn in ihr steht: „Weder die Schrift noch die evangelischen Bekenntnisse haben der in den ersten Kapiteln des ersten und dritten Evangeliums ent­ haltenen Erzählung eine solche für den Glauben entscheidende Bedeutung gegeben. In der Heilspredigt Jesu und seiner Apostel ist kein Hinweis auf sie enthalten." Ruch zwei säch­ sische Theologen, Drews und Guthe, haben dies unterschrieben. Und was hat denn der selige D. Fricke jahrzehntelang auf unsrer sächsischen Landesuniversität gelehrt? Er hat es in jenem Apostolikumstreit drucken lassen?) Man solle das „ge­ boren von der Jungfrau Maria" nicht „ins physiologische herunterziehen", nicht meinen, daß es einen „Zauberakt" setze; nichts hindere, den Joseph hinzuzunehmen als den Vater Jesu nach feiten seiner menschlichen Natur. Diese Abweichung Frickes von jenem Dogma beweist sein großes Verdienst, datz wir säch­ sischen Theologen bei diesem Dogmatiker uksrer Landesuniver­ sität eine freiere Stellung zu den kirchlichen Dogmen — übrigens auch zu den Wundern Jesu - lernen konnten. Merkwürdig war nur, wie sehr sich Fricke über den echten geschichtlichen zu den Requisiten der Versammlungen des Protestanten:) ereins — nie­ mand sollte sich dadurch verärgern lassen. Christi. Welt 1892, 949. 2) In dieser Auflage spricht Häckel übrigens von der, „weitver­ breiteten Behauptung der modernen »rationellen Theologie", datz der jüdische Zimmermann Joseph der wahre Vater von Christus gewesen sei", S. 378 der 5., unveränd. stuft von 1900. 8) Christi. Welt 1892, 1005 und im vermehrten Separatabdruck „Für das Apostolikum" 1893, 11 f.

6 Sinn der kirchlichen Dogmen täuschen konnte. Er glaubte z. B. wirklich, das erste und dritte Evangelium und das Apostoli­ kum hätten mit „geboren von der Jungfrau Maria" auch nicht das physiologische Wunder aussagen und bekennen wollen, sondern „die protestantische Grundlehre, die solo gratia, Gott allein der Urheber wie unsrer Erlösung so unsers Erlösers". Als ob es jenen Urkunden nicht gerade auf das massive Mi­ rakel, auf den Ausschlutz des Joseph auch von der Entstehung der menschlichen Seite Jesu angekommen wäre! Also wir Sachsen bedürfen wirklich nicht des „Mundauftuns" der refor­ mierten Pastoren, um „den für die evangelische Uirche ver­ hängnisvollen Grundsatz des Rührmichnichtan" (Üautzsch S. 23) einem solchen Dogma gegenüber wie dem von der jung­ fräulichen Geburt Christi zu verlernen. was nun Üautzsch' feierliche Aufforderung anbelangt, die kirchlichen Theologen des Uönigreichs Sachsen möchten ihm end­ lich einmal den vollgültigen wissenschaftlichen Beweis erbringen, daß jene sogenannten Heilstatsachen wirklich den Uernpunkt des Evangeliums Jesu ausmachen, so brauchte ich mich ja nicht dadurch herausgefordert zu fühlen, zur Zeder zu greisen. Denn ich gehöre selber wie er „mit herzlicher Freude und un­ auslöschlicher Dankbarkeit" (S. 11) der modernen Theologie an. Aber ich schreibe dennoch über und teilweise gegen seinen Vortrag, weil dieser, wie schon eingangs angedeutet, es nicht jedem Hörer oder Leser leicht gemacht hat, in ihm die Zu­ sammenhänge der modernen Theologie mit der sogenannten Kirchlichen wahrzunehmen, hat doch der oben erwähnte Hörer A. M. den sehr wohl begreiflichen, aber doch nicht zutreffen­ den Eindruck gewonnen, der Vortragende habe seinen Stand­ punkt auf der äußersten Linken der religionsgeschichtlichen Schule eingenommen, deren Zusammenhänge mit der kirchlichen Theologie in der Tat äußerst lockere sind. Rautzsch hat dies so oft an die Wand gemalte Schreckgespenst von der modernen Theologie auslöschen und zeigen wollen, daß sie „nicht darauf ausgeht, das Evangelium Jesu zu zerstören oder in »unklarer Verschwommenheit' aufzulösen, sondern daß gerade sie dies alte, uns teuere Evangelium immer schöner und leuchtender ans Licht stellen wird" ($. 13). Aber er hat die die alten Rirchenchristen anheimelnden Züge im Antlitz der modernen Theologie viel zu undeutlich hervortreten lassen und diese „un-

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Kirchlicher" gezeichnet, als sie durchschnittlich ist. (Es mag sein, daß jetzt der Mißmut über die Zwickauer Thesen, deren theo­ logische Motive natürlich aus der modernen Theologie stammen, dazu neigt, diese in „völlig ungenügender und einseitiger Be­ leuchtung" (S. 36) darzustellen. Aber in einseitiger und des­ halb ungenügender Weise muß sie sich auch durch Rautzsch ver­ treten fühlen und es bedarf eben viel guten willens, um zu merken: „Doch sind wir auch mit diesem nicht gefährdet." wenn man in Rautzsch' eigentlicher Grundbehauptung S. 16, daß die Dogmen von Jesu metaphysischer Gottessohnschast, seinem stellvertretenden Gpfertod und seiner leiblichen Auf» erstehung, „so wie die Rirche sie lehrt, überhaupt nicht in das Evangelium Jesu hineingehören" x), das (von mir) Unterstrichene betont, so ist sie größerenteils richtig. Zwar nicht jede theologische „Lehre von den Heilstatsachen" ist, um mit dem Titel seines Vortrags zu reden, „ein Abweg vom echten Evangelium Jesu", wohl aber größerenteils die kirch­ liche Lehre von jenen drei heilstatsachen. „Bedauernswert" nennt Rautzsch im Vorwort S. 3 diesen Abweg, diesen Abweg in das Gebiet der Mythologie, wie er ihn S. 31 bestimmt, hier steht aber auch zu jenem Wert­ urteil über die christliche Vogmengeschichte das richtige Gegen­ gewicht. hier heißt es „selbstverständlich", daß die Mytho­ logie „auch im jungen Thristentum, wie in jeder anderen Re­ ligion, frühzeitig ihre phantastischen Blüten getrieben hat". Rautzsch fährt hier fort: „wir leugnen gar nicht, daß auch in diesen Thristusmythen mancher fromme Gedanke und viel ehr­ liche Begeisterung für die Person Christi zum Ausdrucke kommt." Und er weiß natürlich auch, daß die Thristusmythen selbstver­ ständlich fromme Gedanken nicht nur ausdrückten, sondern auch übertrugen und erweckten. Er will (S. 24/5) „gewiß nicht leugnen, daß viele Heidenchristen in Hellas und Rom an die­ sem Gedanken (der metaphysischen Gottessohnschaft Jesu) sich wahrhaft erbaut haben". Mutz man also den damals „selbst­ verständlichen" und damals mindestens teilweise „vielen wahr­ haft erbaulichen" Abweg ins Mythologische wirklich „be1) Die Formulierung S. 31: „Diese Dinge haben mit dem Evan­ gelium Jesu gar nichts zu tun" ist unhaltbar.

8 dauernswert" finden? Vie moderne Theologie mutz das durch­ aus nicht. Venn sie denkt entwickelungsgeschichtlich und hält diesen selbstverständlichen, vielen wahrhaft erbaulichen, Kindheitlichen (S. 31 unten) Abweg der christlichen vogmengeschichte für providentieil. Sie glaubt, daß Kräfte und Krücken aus Einer Hand kommen - auch die mythologische Krücke! Sie spricht sich darüber aus in der Art Adolf harnacks, der fol­ gende Geschichtsbetrachtung liebt.x) Vas Evangelium könne nicht nur, sondern müsse mit solchen Faktoren wie Mythologie in Verbindung treten, „wenn es anders die Religion der Le­ bendigen und selbst lebendig ist", tote es sein Ziel, datz der Mensch glaube und liebe, durch die Jahrhunderte fortschrei­ tend erreiche, „ob mit dem Koeffizienten des Jüdischen oder des Griechischen, der toeltflucht oder der Kultur . . . und was es sonst noch für Rinden geben mag, die den Kern schützen und unter denen allein Lebendiges wachsen kann - das alles ge­ hört den Jahrhunderten an . . . Das Evangelium ist nicht als positive statutarische Religion in die toelt getreten und kann deshalb auch in keiner Form seiner intellektuellen und gesell­ schaftlichen Ausprägung — auch nicht in der ersten - seine klassische Erscheinung haben". Vie im Urchristentum selbstver­ ständliche mythologische Form der intellektuellen Ausprägung des Evangeliums gilt also der modernen Theologie zwar nicht als ideal, aber solche Urteile darüber zu fällen wie „selbst­ verständlich" und „vielen wahrhaft erbaulich" ist für diese Theologie viel charakteristischer als jenes „bedauernswert", hält man sich an die richtigeren Urteile von Kautzsch über jenen Abweg, so überrascht S. 32 sein Triumphieren darüber, wie unmöglich es sei, ihm auf kirchengeschichtlichem Gebiete zu beweisen, „datz das Thristentum in der heidnischen toelt nach innen und autzen wirklich durch die Pflege jener Heilslehren stark und mächtig geworden sei". Sollte die pflege jenes Ge­ dankens der metaphysischen Gottessohnschaft Jesu, an dem sich nach Kautzsch' Zugeständnis „viele Heidenchristen in Hellas und Rom wahrhaft erbaut haben", nicht dazu beigetragen haben, daß das Christentum in der heidnischen toelt stark und mäch­ tig geworden ist? Das kirchengeschichtliche Problem, wodurch das Thristentum in der heidnischen toelt nach innen und autzen

*) Dogmengeschichte' I, 72 f.

9 stark und mächtig wurde, ist sehr schwierig und kompliziert. Niemand betont dies mehr als derjenige Kirchenhistoriker, welcher die meiste und beste Arbeit an seiner Lösung geleistet hat, harnack in „Vie Mission und Ausbreitung des Christen­ tums in den ersten drei Jahrhunderten"?) Dieses Werk wird niemanden im Stiche lassen, der beweisen will, daß die pflege jener drei Heilslehren sehr viel zur Erstarkung des Christentums in jenen Jahrhunderten beigetragen hat. Kautzsch sieht „die Gemeinde der undogmatischen Jesusjünger durch ganz andere Kräfte erstarken, nämlich durch die Kraft des vertrauens auf den lebendigen Gott, durch den Ernst der stttlichen Zucht und durch herzliche gegenseitige Liebe, die selbst den Heiden das Geständnis abnötigte: Sehet, wie haben sie sich untereinander so lieb"! Dieses Merkmal der Christen bei den Heiden bezeugt Tertullian im Jahre 197. Gab es in jenen Zeiten „die Gemeinde der undogmatischen Jesus­ jünger"? Daß das theoretische und dogmatische Interesse auch der Massen in den ersten Jahrhunderten stellen- und zeitweise sehr lebhaft war, ist allbekannt. So „weisen die Apologeten immer wieder darauf hin, daß »bei uns die Hand­ werker und Sklaven und alten Weiblein Rechenschaft zu geben wissen von der Gottheit und nicht ohne Beweis glauben'" (harnack 1,82), und während des arianischen Streites kam es bekanntlich vor, daß an manchen Grien die Barbiere mit ihren Kunden nicht über das Wetter schwatzten, sondern über die Wesenseinheit des Sohnes mit dem Vater. Aber derartiges ist natürlich kein Beweis dagegen, daß man, ohne gerade von „der Gemeinde der undogmatischen Jesusjünger" zu reden, das undogmatische Glauben und Lieben als damals auch wirksame Zördernisse des Christentums namhaft machen darf, harnack pflegt auch das zu betonens) daß das Zöllnerbekenntnis und das hohe Lied der Liebe wahrlich niemals vergessen waren, — nur niedergehalten durch Metaphysik, Kirchendogmatik usw., woraus sich das Evangelium herausgearbeitet habe durch Männer wie Augustin, der nahe daran gewesen, alle Speku­ lation zu verabschieden: „wer Glaube, Liebe und Hoffnung hat, hat alles, hat Gott selbst und bedarf nichts anderes, keine *) 2 Bände, 2. Ausl. 1906; vgl. z. B. die Schlußbetrachtung des ersten Bandes. •) vgl. Christi. Welt 1899,76 f.=Heben und Aufsätze ll, 1904,316. *

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»Offenbarungen*, kein Mönchtum, kein Gesetz." Nur hat die moderne Theologie gerade eben von harnack und vielen Nicht­ theologen seit Jakob Burckhardt gelernt, die geschichtliche Not­ wendigkeit der mythologischen, metaphysischen, dogmatischen Krücken, Rinden, Gefäße, Koeffizienten des Evangeliums viel überzeugter anzuerkennen, als Kautzsch merken läßt. Dessen Leugnung, daß diese mit dem schlichten Evangelium verbun­ denen Koeffizienten seinen Siegeslauf mit gefördert haben, ver­ rät eine kurzsichtige und einseitige Betrachtung der christlichen Religionsgeschichte und widerspricht seiner eigenen Einsicht, „daß viele Heidenchristen in Hellas und Rom an dem Gedanken der metaphysischen Gottessohnschaft Jesu sich wahrhaft erbaut haben" (S. 25). Ist dies nun den modernen Christen in pleißenathen und der Haupt- und Residenzstadt Dresden gar nicht mehr mög­ lich? Kautzsch verlangt S. 32/3 auf religionspsychologischem Gebiete den Nachweis, „daß für unser heutiges religiöses Emp­ finden, für den modernen Menschen, wie er nun einmal ist, gerade jene Dogmen die beste religiöse Nahrung bedeuten, die ihm für seine mancherlei geistigen Nöte die rechte Heilung bringen könne". Leider zeige sich statt dessen, daß auch „zweifellos fromme Christen von jenen Dogmen sich abwenden, weil sie ihnen eingestandenermaßen gar nichts mehr für ihr inneres Leben bieten können". Rn solchem Unvermögen, sich in die alten Dogmen ein­ zufühlen und an ihnen zu erbauen, hat die moderne Theo­ logie nicht soviel Schuld, wie man jetzt in den sogenannten kirchlichen Kreisen wähnt. Diese dürfen jene nicht in unge­ rechter Weise dafür verantwortlich machen, wenn man sich heutzutage von den Dogmen in Luthers Erklärung des zweiten Artikels abwendet, als ob sie den modernen Christen gar nichts mehr für ihr inneres Leben bieten könnten. Es ist allerdings ganz im Sinne der gesamten modernen Theologie geurteilt, wenn Kautzsch S. 31 sagt, die $orm, in der die Begeisterung für die Person Jesu sich in den kirchlichen Dogmen äußere, „ge­ hört für uns endgültig dem Kindheitsalter christlichen Denkens an, und es mutz für uns auch hier das Wort des Apostels gelten: Da ich ein Mann ward, tat ich ab, was kindisch war"! Aber dieses „Abtun" bedeutet wohl bei der Mehrzahl der modernen Theologen durchaus nicht äußerliche Dogmenstürme-

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rei, d. h. Abschaffung der in den Bekenntnissen aufrechter­ haltenen Denkformen der Apostel, Kirchenväter und Refor­ matoren, sondern nur innerliche Freilassung des Glaubens aus dem Fürwahrhalten ihres echten geschichtlichen Sinnes. Die gesamte moderne Theologie kämpst allerdings leidenschaftlich gegen die Auffassung des Glaubens als (um mit Rautzsch S. 15 zu reden) „Zustimmung des Verstandes zu den Glaubensaus­ sagen anderer Menschen". Aber wenn diese Menschen führende christliche Glaubenshelden waren, so will sie ihre Glaubens­ aussagen nicht hinweggeräumt missen, sondern aufrechterhalten, weil sie die christlichen Glaubensprobleme aufrechterhalten. Lösen möchte sich diese — das ist die ideale Forderung der modernen Theologie - ein jeder Thrist für sich selbst in seinem persönlichen Fürwahrfühlen. Wir sagen mit Rückert:

„Man reißt das Haus nicht ein, das Väter uns gebaut, Doch richtet man sich'r ein, wie man's am liebsten schaut. Und räumt man nicht hinweg ehrwürdige Ahnenbilder, Durch Deutung macht man sie und durch Umgebung milder." Das selbständige Deuten auf Grund der eigenen, persönlichen frommen Trlebniffe hält die moderne Theologie für ein all­ gemeines Thristenrecht. Wirst man ihr vor, die Folge davon sei eine allgemeine Verwirrung, und eine Einheit, eine Ge­ meinschaft, Kurz eine Rirche könne da überhaupt nicht zu­ stande kommen, so antwortet sie in der Art/ wie harnack hierüber spricht im „Wesen des Christentums"?) Während des oben erwähnten Apostolikumstreits habe ich einmal in der „Christi. Welt" (1892, 1129 ff.) die Ansichten des Philosophen Lotze über Glaubensbekenntnisse mitgeteilt, unter andern die folgenden. „Niemand soll gehindert sein, diese Glaubenssymbole so sich auszudeuten, wie er glaubt, ihren Sinn sich im Zusammenhangs mit seiner übrigen Erkenntnis am richtigsten verständlich zu machen; aber niemand soll den Anspruch er­ heben, seinen eigenen versuch des verständniffes andern als die Wahrheit selbst aufzudrängen; jeder hat das Recht, zu der großen Gemeinschaft zu gehören, solange er versichern kann, in seinem Innern den Glauben an eine Heilswahrheit zu fin­ den, als deren Ausdruck er, auch für ihn verständlich und fruchtbringend, das gegebene Symbol anerkennen kann; nur *) 15. Vorlesung, „Reformation", 2. Exkurs.

12 der schließt sich selbst von der Gemeinschaft aus, dem es nichts sagt; aber nicht deswegen soll er schon streben, sich ausju» schließen, weil seine individuelle Interpretation dessen, was eben Interpretation verlangt» nicht als allgemeines Bekenntnis gültig werden will." Ich finde hier gut gesagt, daß jeder selbst über seine Zugehörigkeit zu der Kirche zu befinden hat, die als Bekenntnisgemeinschast die Dogmen in Geltung erhält. Nur der schließt sich selbst von ihr aus, dem ihre Dogmen gar nichts mehr sagen, der nicht mehr versichern kann, sie als fruchtbringenden Nusdruck einer Heilswahrheit anerkennen zu können, an die sein Inneres glaubt. Und nun bezweifele ich, daß die modernen Christen, wenn man ihnen nur nicht das Fürwahrhalten des echten geschicht­ lichen Sinns der kirchlichen Dogmen abverlangt, von diesen sich abwenden müssen, „weil sie ihnen", wie wir Kautzsch klagen hörten, „eingestandenermaßen gar nichts mehr für ihr inneres Leben bieten können". Ich bin der Meinung, daß diese Dogmen nicht nur die alten Kirchenchristen, sondern auch die modernen Gottessucher nötigen können und sollen, die christlichen Glaubensprobleme selber wahrzunehmen, durchzudenken, durch­ zufühlen im Gemüte, 'und daß diese Dogmen noch immer modernen Gottessuchern als Nusdruck von Heilswahrheiten gelten können, die sie, überwältigt von Jesus und seinem Evan­ gelium, führwahrfühlen. Wenn „zweifellos fromme Christen" z. B. das vom Dogma eigentlich gemeinte physiologische Wun­ der der Jungfrauengeburt nicht mehr für wahr halten können, so Können sie sich dabei doch wohl noch an dem Glaubens­ gedanken „wahrhaft erbauen", daß die Menschheit „ohne Zu­ tun der eigenen Kraft den Erlöser als Gnadengeschenk Gottes allein empfängt, also jungfräulich" (Fricke a. a. (D.). Ja, Kautzsch könnte einen reizen, in der Einfühlung in dieses Dogma noch weiterzugehen. Nach jenem Zugeständnis, daß viele Heidenchristen an dem Gedanken der metaphysischen Gottessohnschaft Jesu sich wahrhaft erbaut haben, fährt er S. 25 fort: „Für uns aber - das müßte doch endlich allgemein anerkannt werden — ist die Form jener Glaubensaussage endgültig abgetan, ja sie ist für ein rein evangelisches Empfinden geradezu ärgerlich und anstößig." wie viele Eltern wagten es denn, ihrer Heranwachsenden Tochter die Kapitel Matth. 1 oder Lucas 1 zu lesen zu geben und ihr klar zu sagen, worum

13 es sich eigentlich hier handelt. Davon halte sie ab „das völlig berechtigte Empfinden, daß hier etwas Fremdartiges, ja etwas Minderwertiges in das Evangelium hineingekommen ist, das man besser mit Stillschweigen übergeht", hierzu möchte ich folgendes bemerken. Wenn sich eine Mutter für die sexuelle Aufklärung ihrer Heranwachsenden Tochter entschieden haben sollte, so würde sie zwar die Liebesgeschichten der Heidengötter vielleicht besser mit Stillschweigen übergehen, mit denen, wie Uautzsch S. 24 zuversichtlich lehrt, jene evangelischen Erzählungen Zusammenhängen, aber worum es sich in diesen selbst eigentlich handelt, das könnte sie ihr doch wahrlich klar zu sagen wagen. So oft sich jemand wegen der evangelischen Hochschätzung der Ehe am Dogma von der Jungfrauengeburt ärgert, kann einem allerlei einfallen, z. B. das lutherische Dogma „virginitas donum est praestantius coniugio — quia sit expeditior“.1) „Geradezu ärgerlich und anstößig" kann ich also bie Form jener Glaubensaussage nicht finden. Der moderne Christ kann vielmehr mancherlei Wertvolles dabei fühlen — allerdings vielleicht mehr durch Eintragung als Auslegung. Aber welches auch die verschiedenen - möglicherweise noch als wertvoll nachzufühlenden - Motive des Dogmas von der Jungfrauen­ geburt sein mögen, wie nachahmenswert auch immer die darin sich äußernde Begeisterung für den Erlöser, die mythologische Form, in der sie sich äußert, ist insofern allerdings „für uns endgültig abgetan", als wir ihren echten geschichtlichen Linn, das physiologische Wunder, nicht für wahr halten. Obwohl ich also gegen Kautzsch behaupte, daß uns die Dogmen in Luthers Erklärung des zweiten Artikels nicht nur ihrer Substanz, sondern auch ihrer Form nach gar mancherlei für unser inneres Leben bieten können, so will ich mich doch nicht etwa an den von ihm S. 32 geforderten Beweis machen, „daß für unser heutiges religiöses Empfinden, für den modernen Menschen, wie er nun einmal ist, gerade jene Dogmen die beste religiöse Nahrung bedeuten, die ihm für seine mancherlei x) Apol. XI, 38. 40, vgl. wie harnack dieses Dogma lebendig macht, Heben und Aufsätze II, 257 f. - Ich notiere auch, was harnack (vogmengeschichte 8III, 197) über Augustins Konstruktion paradiesischer Ehen sagt, in denen die Kinder ohne Lust gezeugt worden waren. „Man müßte in der Tat auch ein sehr roher Mensch sein, um das nicht - ohne Manichäismus - nachempfinden zu können."

14 geistigen Nöte die rechte Heilung bringen Könne". Diesen Be­ weis mutz auch ich den „kirchlichen Theologen des Königreichs Sachsen" zuschieben, betone aber, daß ich „beste" unterstrichen habe und immer den echten geschichtlichen Sinn jener Dogmen meine, der größerenteils nicht in das Evangelium Jesu hinein­ gehört (vgl. oben S. 7 Mitte). In diesem sucht und findet die moderne Theologie die beste religiöse Nahrung für unser heutiges religiöses Bedürfen. Aber Kautzsch' Unterscheidung S;34: „die Steine des Dogmas" und „das Brot im Evange­ lium" unterschätzt sowohl das Dogma als auch die Wesensverwandtschaft des Evangeliums mit ihm.

Wir besprechen, nunmehr den S. 32 an erster Stelle ge­ forderten Beweis auf biblisch-theologischem Gebiete: „daß in den anerkannt echten Jesusworten der synoptischen Evangelien gerade auf jene Dogmen des lutherischen Katechismus der Hauptnachdruck gelegt wird". Leider werde sich aber das Gegenteil herausstellen, da nämlich Jesus ausdrücklich Matth. 22, 40 betont habe, „daß er das ganze Gesetz und die Propheten, also alle Religion und Sittlichkeit, in der Liebe zu Gott und den Nächsten beschloßen sieht — also nicht in der Anerkennung irgendwelcher Lehrsätze über seine Person". Diese letzte Behauptung von Kautzsch reimt sich schwerlich damit, daß er S. 26 schreibt, Jesus verheiße „allen denen, die sich ihm anschließen, die Freuden des kommenden Himmel­ reichs". So ist es richtig, hätte er dort geschrieben: „allen denen, die Gott und die Nächsten lieben", so wäre das irre­ führend, „ein Abweg vom echten Evangelium Jesu". Venn dieses selbst — wir kommen darauf zurück — fordert allerdings den Anschluß an seine Person, fordert ihn, weil jetzt die Zeit gekommen sei, daß man ihn über alles lieben müße, wenn man Gott noch weiter lieben wolle. Jesus hat verlangt, um seinetwillen sogar das Leben einzusetzen und mit der Familie zu brechen, wenn sie wider ihn ist. Für seine Person müße man sich jetzt entscheiden, weil er der Gottesbote ohnegleichen sei, als der letzte vor dem Weltende, als der, an dem sich alles entscheidet. Er ist mit Gott eins, sofern der Anschluß an seine Person bedeutet, daß man bei ihr die Gemeinschaft mit Gott erst recht gewinnt und fern von ihr aus ewig verliert. Aus den „anerkannt echten Jesusworten der synoptischen

15 Evangelien" ruhen diese Sätze über Jesu Würde. Ich fürchte nicht, daß Kautzsch ihnen widersprechen wird. Venn er sagt S. 23: „wir werden auch unser Kindschaftsgefühl (Gott gegen­ über) in alle Zukunft am Bilde Jesu stets von neuem ent­ zünden und nähren" und S. 31: „hat jener Lebensglaube am Bilde Jesu in uns sich entzündet, dann" usw. fln der Person Jesu, an die sie sich anschließen sollten, sollte sich in den Hörern seines Evangeliums ihr rechter Kindesglaube an (Bott, ihre Hoffnung auf das ewige Leben und auch ihre Nächstenliebe entzünden. Jesus hat „alle Religion und Sitt­ lichkeit in der Liebe zu Gott und den Nächsten beschlossen" gesehen, zwar nicht indem er sich in Gott als dessen zweite „Person" hineinrechnete, wohl aber indem er sich als den Schöpfer der rechten Gottes- und Nächstenliebe hinzudachte. Kautzsch wird hoffentlich nicht antworten, es reime sich alles bei ihm, weil er S. 32 nicht den Anschluß an Jesu Per­ son, sondern „die Anerkennung irgendwelcher Lehrsätze über seine Person" aus der Forderung Jesu ausgeschlossen habe. Wir wollen doch nicht über das Wort „Lehrsätze" Händeln. Gewiß fordert das Evangelium Jesu nicht das Fürwahrhalten begrifflich scharf formulierter Lehrsätze über seine Person, wie etwa des Dogmas, das Luther meint mit „vom Vater in Ewigkeit geboren"; es fordert nicht „die Zustimmung des Ver­ standes zu den Glaubensaussagen anderer Menschen" (Kautzsch S. 15). Aber es fordert die gefühlsstarke, willensmäßige An­ erkennung „der erhabenen Größe Jesu" (Kautzsch S. 30), die er selber doch auch durch das Mittel der Rede, durch Aus­ sagen seines Selbstbewußtseins, seines Glaubens von sich selbst den Menschen eindrücklich gemacht hat: es fordert das Teil­ haben an dem gemeinsamen Glauben von Jesus, der ihn und seine „kleine Herde" zusammenschloß. welches war denn diese Gemeinüberzeugung von Jesus? Kautzsch leugnet zwar nicht (s.S.29s.), daß Jesus „den Messias­ glauben, vermutlich erst in der späteren Zeit seines Lebens,*) auf sich selber in Anwendung brachte", daß er sich vor dem Hohenpriester feierlich als den Messias bekannte und fortfuhr (Matth. 26,64): „von nun an wird es geschehen, daß ihr sehen werdet des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft

*) Gemeint wird sein: seines öffentlichen Lebens.

16 und kommen in den Wolken des Himmels." Aber den Illessias­ glauben als die im Evangelium Jesu geforderte und in seiner „kleinen Herde" vorhandene Gemeinüberzeugung von ihm zu bezeichnen, das wäre gar nicht im Sinne von Kautzsch. Venn um noch nicht davon zu reden, daß nach S. 11 sein „ganzer Vortrag dazu dienen soll, das unbestreitbar richtige Wort harnacks noch weiter zu erläutern, die Person Jesu gehöre gar nicht in das Evangelium", so stelle ich fest, daß er $.30 nicht nur die „jüdische Zukunftsphantasie vom Wiederkommen aus des Himmels Wolken" heutzutage abgelehnt wissen will, sondern über die lllessiashoffnung überhaupt urteilt, sie sei „uns heute vollkommen fremd geworden", von etwas uns heute mit Recht vollkommen fremd Gewordenem nimmt er aber offenbar nicht an, daß Jesus es in seinem ewiggültigen Evangelium selbst gefordert habe. Er unterscheidet von den anerkannt echten Jesusworten, die das Evangelium bilden, solche auch zweifellos echte Worte Jesu (vgl. S. 29), die nicht dazu gehören. Zusammenhänge des kirchlichen Dogmas mit außerevangelischen Worten Jesu bestreitet Kautzsch gar nicht. Er mutz zugeben, daß vom zweiten Artikel des Apostolikum; mindestens die Worte „auferstanden von den Toten; aufge­ fahren gen Himmel; sitzend zur Rechten Gottes, des allmäch­ tigen Vaters; von dannen er kommen wird" mit zweifellos echten Worten Jesu Zusammenhängen. Bei dem fulminanten Vortragstitel „Die kirchliche Lehre von den Heilstatsachen ein Abweg vom echten Evangelium Jesu" ist also vorbehalten, daß jene Lehre teilweise kein Abweg von der echten (außer­ evangelischen) predigt Jesu ist. Der Vortragende will sich zwar „erlauben zu sagen, daß die kirchliche Theologie von dem alten, schlichten Evangelium Jesu abgefallen ist, und daß sie mit ihrer Dogmatik der Heilstatsachen das unwissende Volk in beklagenswertester weise in die Irre führt" (S. 33), aber er unterläßt auch nicht zu sagen, daß gewisse Seiten dieser Dogmatik sich mit gewissen Außenseiten der Gesamtpredigt Jesu eng berühren. Die Frage, ob die ganze IRessiashoffnung Jesu Außen­ seite, „uns heute vollkommen fremd geworden", „vergängliche Glaubensanstcht" (S. 30) ist, läßt sich ausschalten, was Rautzsch a. a. G. als „religiösen Kem" der Hoffnungen Jesu rühmt, ist unzureichend, wie wir sehen werden, viele moderne Theologen

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scheiden hier anders als er zwischen Ilern und „vergänglicher Schale". Hber zu dieser rechnen wohl alle außer der Hoffnung Jesu auf die Bälde seiner Wiederkunft „seine jüdische Zukunfts­ phantasie vom Wiederkommen aus des Himmels Wolken". Ich möchte mich nur noch zu der Ansicht bekennen, daß die Anwendung der Messiashoffnung auf Jesus keine Außenseite seiner predigt ist, sondern in ihr Zentrum, das Evangelium, hineingehört und also auch in die darin geforderte und in der christlichen Kirche stets nötige Gemeinüberzeugung von Jesus Christus. Diese Ansicht zwingt freilich, innerhalb des Evan­ geliums selbst, an seiner messianischen Seite, Lwiggültiges, z. B. den Absolutheitsanspruch Jesu, und vergängliches, z. B. jene „jüdische Zukunftsphantasie", zu unterscheiden. Kautzsch entfernt Jesus nicht nur als Messias aus dem Evangelium, sondern er will die Person Jesu überhaupt gar nicht in das Evangelium gehören lassen. Sein ganzer Vortrag soll dazu dienen, jenes Wort harnacks noch weiter zu erläu­ tern, das dieser vor kurzem *) als „nicht widerlegt" und keiner Änderung bedürftig aufrecht erhalten hat: „Nicht der Sohn, sondern allein der Vater gehört in das Evangelium, wie es Jesus verkündigt hat, hinein." Durch seine weitere Er­ läuterung will Kautzsch dies Wort auch als ungefährlicher ent­ hüllen, als es den kirchlichen Kreisen erscheinen müsse, in die es ohne jeden Kommentar hineingeworfen werde. Bei harnack selbst erläutert es in dieser Richtung am besten der Satz, der bald daraus folgt: „Nicht wie ein Bestandteil gehört er in das Evangelium hinein, sondern er ist die persönliche Ver­ wirklichung und die Kraft des Evangeliums gewesen und wird noch immer als solche empfunden." Er meint, daß durch die Person dessen, der die Mühseligen und Beladenen zu sich ruft, diese wirklich den barmherzigen Vater des Evan­ geliums finden. Bei Kautzsch laufen auf dasselbe hinaus die zum Teil schon oben S. 13 hervorgezogenen Sätze von allen denen, die sich Jesus anschließen; vom Bilde Jesu, an dem sich unser Kindschaftsgefühl und unser Lebensglaube stets von neuem entzünde und nähre; von seiner Nachfolge, in der wir die innere Erfahrung einer göttlichen Liebe tagtäglich machen könnten (Z. 37); von „seinem ganzen Leben und Wirken als *) In den Anmerkungen zum „wesen des Christentums" 1908, XIL

Thieme, Heilstatsachen.

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einem im besten Sinne versöhnlichen wirken, das allen ver­ zweifelnden, schuldgequälten Seelen wieder eine Brücke schlagen will zum herzen des himmlischen Vaters" (S. 21). Man kann diese Sätze gar nicht weit genug hervorziehen, um über die christliche Stellung dieses modern-theologischen Vortrags zu beruhigen. Kümmern wir uns nicht darum, ob ein Satz wie der erste — „allen denen, die sich ihm anschließen, verheißt er die Freuden des kommenden Himmelreichs" - sich reimt mit der Richtigsprechung des Wortes, die Person Jesu gehöre gar nicht in das Evangelium! halten wir uns an diese Sätze als „Kommentar", zumal an den letzten, der «in Mittlerwerk Jesu statuiert — vielleicht als „Heilstatsache"? Sch muß allerdings zugeben, daß harnack selbst es einem viel leichter macht, über die christliche Stellung derjenigen modernen Theologen zu beruhigen, welche sich daraus kapri­ zieren, daß die Person Jesu gar nicht in das Evangelium ge­ höre. harnack hat 1907 in der „Christi. Welt" (S. 583ff.) über „Beunruhigungen des kirchlichen Glaubens und der Frömmigkeit" geschrieben. Es gebe zurzeit nur ein großes Problem, das Beunruhigungen erzeugt, das sei die christologische Frage. Man verstehe die Zurückhaltung in den kirchlichen Kreisen, „solange die geschichtliche Betrachtung noch nicht An­ schauung, Erkenntnis, Verständnis und Ausdrucksmittel genug besitzt, um dem Einzigartigen gerecht zu werden"; dringend notwendig sei „die Anerkennung der Eigenart der Persönlich­ keit und daß es keinen Gattungsbegriff für diese gibt und keine Grenze für ihre Größe und Leistung". Kautzsch' ge­ schichtliche Betrachtung erkennt natürlich die „erhabene Größe" Jesu an, die (abgesehen von jenen jüdischen Residuen) „völlig unbestritten" sei (S. 30); sie preist den „erhabenen Liebesgeist Jesu Christi" (S. 36), in dessen „herzen die innere Erfahrung einer göttlichen Liebe am mächtigsten aufgegangen ist" (S. 37). Aber werden „erhaben" und der Superlativ „am mächtigsten" dem Einzigartigen genug gerecht, daß die moderne Theologie sich unermüdlich müht, in Jesus Christus sich und aller Welt anschaulich, erkennbar, verständlich zu machen? wie stark pflegt harnack zu betonen, „daß es keinen Gattungsbegriff, sei es der des Reformators, Propheten, Religionsstifters usw. gibt, unter den man Jesus Christus subsumieren bars"!1) Sch

*) Lhristl.welt 1897,895=Reöen ».Aufsätze11,1904,364; ogL ebb.S.10.

19 — finde, daß Kautzsch' Ausdrücke „erhaben" und „mächtigste" (Liebeserfahrung) hinter den von der modernen Theologie be­ reits besessenen Ausdrucksmitteln zurückbleiben. Venn nicht auf Einzigartigkeit, sondern wirklich nur auf höchsten Grad wird man das „mächtigste" beziehen dürfen angesichts der Sätze auf S. 25: „daß wir als Gottes Kinder uns fühlen dürfen, gleich­ wie sich Jesus als Gottes Kind gefühlt hat. Und um dieses Gefühl allein handelt es sich bei dem Satz von der Gottes­ kindschaft".

Damit wären wir zu Kautzsch' Behauptung der Gottes­ sohnschaft Jesu Christi gekommen. Sie bedarf sehr des Gegen­ gewichts jener vorhin hervorgezogenen Sätze, um nicht zu einer ungerechten Beurteilung der modernen Theologie ihre Gegner zu reizen. Er bekämpft als die „metaphysische" Lehre von der Gottessohnschaft Jesu viel mehr das Dogma „wahrhaftiger Gott und auch wahrhaftiger Mensch, von der Jungfrau Maria geboren" als das Dogma „wahrhaftiger Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren". Es ist zwar unhaltbar, daß diese beiden Dogmen auch der lutherischen Kirche x) „mit dem Evangelium Jesu gar nichts zu tun" hätten (S. 31), aber der Weg von ihren Anknüpfungspunkten im Evangelium bis zu ihrem wahren geschichtlichen Sinn gilt der modernen Theologie allerdings als ein „Abweg vom echten Evangelium Jesu". Sie glaubt nicht im Sinne der Kirchenväter und Vater Luthers an Jesus Christus als „wahrhaftigen Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren", hiermit ist gemeint, daß er der Sohn sei, den der Vater von Ewigkeit zu Ewigkeit unaufhörlich in einerlei Wesen mit sich erzeugt. Wer ein vorsichtiger Darsteller der modernen theo­ logischen Wissenschaft sein will, der unterläßt nicht zu notieren, daß die Entfernung des Präexistenzgedankens aus dem Selbst-

*) Niemand beginne «in Wortgezänk darüber, daß der Anfang von Luthers Erklärung des 2. Artikels nicht „Dogmen" biete! Luther bewegt sich zwar in seinen Erklärungen nie in der Sphäre der Kühlen, Dogmen bloß für wahr haltenden Verstandes, sondern er betet sie aus seinen persönlichen frommen Erfahrungen heraus', die ihm das herz warm machen. Aber Luther war auch mit ganzer Seele Theologe und die „Dogmen" vom Gottmenschen saßen tief in ihm als religiös« Heilswahrheiten. Er ersparte sie nicht dem Hausvater und seinem Gesinde in der Zuversicht, daß diese einigermaßen lernen würden, sie für gewißlich wahr zu fühlen.

20 bewußtsein Jesu kein „gesicherter Ergebnis der wiffenschaftlichen Forschung" ist?) Sollte er Jesus nicht fremd geblieben sein, so hätte man daran in dem persönlichen Hintergründe seines Evangeliums einen gewissen Ausgangspunkt für jenes Dogma van der ewigen Zeugung des Sohnes, wenn wir aber unsrerseits dem Selbstbewußtsein Jesu nicht zutrauen, ein himm­ lisches Vorleben geahnt zu haben, sondern dieses für einen mythologischen Glaubensgedanken erst der Urkirche halten, so brauchen wir uns deshalb nicht etwa von dem Katechismussatz „vom Vater in Ewigkeit geboren" abzuwenden, als ob er uns „gar nichts mehr für unser inneres Leben bieten" könnte. Da wenigstens in den großen evangelischen Kirchen kein „vogmenfanatismus" darüber wacht, daß niemand von dem „in Ewigkeit" auch nur im geringsten abweiche?) haben die modernen Christusgläubigen gar keinen Grund, es Hinwegzu­ räumen, sondern können sich mit individuell verschiedenen Glau­ bensgedanken darin einrichten. Möge sich doch der eine mit Hilfe von Schillers „Glück" darein einfühlen — „Fertig von Ewigkeit her steht es vollendet vor dir" — der andere aus dem Gesichtspunkte des den Charakter der Persönlichkeit be­ dingenden, jenseits der individuellen Existenz liegenden Kausal­ zusammenhangs, dessen „Hückverfolgung erst in dem Zusammen­ hang des Weltlaufs ein Ende findet" !8*)* * *wer * die erhabene oder vielmehr einzigartige Größe Jesu fühlt, der erkennt ihre Entstehung als ein Glaubensproblem an, das ihm die Worte „vom Vater in Ewigkeit geboren" aufrecht erhalten. Gbwohl ich nicht an die wahrhaftige Wesenseinheit Jesu mit Gott glaube, glaube ich von seiner — Stellvertreter- - Einheit mit Gott, daß dieser selbst sie durch ein weltherrliches Wunderwirken in der Welt zustande gebracht hat, das ich an wert ruhig neben die Schöpfung stelle. Der Wille, seinen Stellvertreter in der Menschenwelt hervorzubringen, gehört nicht weniger zu Gottes ewigem Wesen als sein Wille, die Welt zu schaffen. Über die h vgl. Baldensperger, Das Selbstbewußtsein Jesu2 1892, 213; Lobstein, Cheol. Literaturzeitung 1906, 624. 2) weicht doch von seinem eigentlichen Sinn sogar schon die lateinische Übersetzung des Kleinen Katechismus mit ihrem „ante saecula? ab. 8) Worte aus wundts Lehre von der Kausalität des Charakters, Vorlesungen über die Menschen- und Cierseele* 1906, 516.

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Verwirklichung jenes Willens muß man in jene Worte nicht viel Hineingeheimnissen, sondern kann sie auch nur auf etwas so Einfaches deuten, wie daß Gott schon in den Ahnen Jesu seine einzigartige Große anlegte. Hber gehen wir vom Dogma von der „ewigen Zeugung", das der Vortrag kaum berührt, zu dem von der vaterlosen Geburt über, das er heftig bekämpft „als ein Stück nacktes griechisches Heidentum" ($. 24). Vie Sicherheit, womit Kautzsch diese historische Herleitung vorgetragen hat, vermag ich nicht zu billigen. Gewiß, er hatte nicht Zeit, sie ausführ­ licher zu begründen. Aber hätte er doch lieber jene oben S. 5 gerügte ungerechte Vorbemerkung weggelassen und statt dessen die bloße Wahrscheinlichkeit seiner Herleitung angedeutet durch einen Passus in der Art des folgenden, im neusten „Religions­ geschichtlichen Volksbuch" *) zu lesenden, der die nichttheologischen Leser historische Schwierigkeiten jener Herleitung ahnen läßt, die auch innerhalb der modernen Theologie noch erörtert werden. „Gegen das Eindringen solcher heidnischen Elemente in das 1. und 3. Evangelium hat man geltend gemacht, sowohl daß das Matthäusevangelium ein judenchristliches Gepräge trage, als auch die Tatsache, daß die Komposition der Geburtsgeschichte im Lukasevangelium völlig alttestamentliche Züge aufweise. Die aus der Tendenz eines Evangeliums hergenommenen Gründe gegen die Aufnahme eines heidnischen Mythus erscheinen aber nicht sehr schwerwiegend. Die Verfasser der Geburtsgeschichten haben den Mythus ja nicht erfunden. Auf ihre Rechnung kommt nur die Form der Darstellung." Ich chatte vor Augen, daß die Unmöglichkeit, aus jüdisch-judenchristlichen Motiven (nicht der Evangelisten, sondern) der Urgemeinde den Mythus herzuleiten, noch kein „gesichertes Ergebnis der wissenschaft­ lichen Forschung" ist, als ich in einem Volkshochschulkursus 1907 sagte:2) „Daß die Geschichten von der Jungfrauengeburt im Matthäus- und Lukasevangelium sagenhaft sind, ist man aus vielen guten historischen Gründen fast versucht als sicher zu bezeichnen. Wir vermeiden das, weil noch keine rechte Sicher­ heit und Übereinstimmung darüber erreicht ist, wie man sich die Entstehung der Sage zu erklären habe." Ich teile zwar 1) Petersen, Die wunderbare Geburt des Heilands. Februar 1909", Seite 45. 2) Jesus und seine predigt. 1908, 21/2.

22 auch nicht die Anschauung von der vaterlosen Geburt Jesu, aber sage mit Joh. Weitz *): „wann und wo sie entstanden ist, wissen wir nicht." Drum rede man darüber etwas unsicherer als unser Vortragender! vatz „jene Geburtsgeschichten sich mit der übrigen Erzählung der Evangelisten gar nicht zusammen­ reimen lassen" (S. 25), halte ich im allgemeinen für richtig. Nur finde ich es gar nicht vorbildlich, datz Kautzsch S. 26 im öffentlichen Leben Jesu seine „Eltern" handeln und ihn in einem Wort von „Vater" sprechen lätzt, während doch im Text der betreffenden Stellen der Evangelien gar nichts davon steht. Es ist mir unbegreiflich, wie er drucken lassen konnte: „Vatz er ausdrücklich im Angesicht seiner Eltern und Geschwister das Wort spricht: die den willen tun meines Vaters im Himmel, die find mir Vater und Mutter und Bruder und Schwester! (Matth. 12,46 — 50)", ohne diese Stelle noch einmal durchzulesen. An dem Satz von der Gottessohnschaft Jesu ist nach Kautzsch (S. 25) alles „heidnische Zutat" bis auf das allein wahrhaft evangelische Gefühl Jesu, Gottes Kind zu sein. „Und um dieses Gefühl allein handelt es sich bei dem Satz von der Gotteskindschaft." Dieses Kindschaftsgefühl wird Kautzsch seiner Stärke nach dem entsprechend denken, datz „die innere Erfahrung einer göttlichen Liebe im Herzen Jesu am mächtigsten aufgegangen ist" (S. 37). Vieser Superlativ „am mächtigsten" verbietet jede Mißdeutung des „gleichwie" in dem Satz S. 25: „datz wir als Gottes Kinder uns fühlen dürfen, gleichwie sich Jesus als Gottes Kind gefühlt hat". Kautzsch will nur nicht übersehen wiffen, was man so oft übersehe, datz Jesus „auch für andere Menschen das Recht der Gotteskindschaft in Anspruch nimmt" (S. 22); aber er selbst übersieht nicht etwa, datz Jesu Kindesgemeinschaft mit Gott die erhabenste, allerinnigste war, der unsrigen dem Grade nach hoch überlegen. Nicht der Satz mit dem „gleichwie" ist bedenklich, sondern der ihm folgende: um das, was bei Jesus und bei uns nur dem Grade nach verschieden ist, handele es sich allein bei der Rede von der Gotteskindschaft Jesu, hier bleibt eben der Verfasser hinter dem zurück, woran die meisten modernen Theologen denken, wenn sie im Apostolikum mitbekennen: „seinen einigen Sohn". *) 3n dem von Kautzsch S. 19 empfohlenen Werke „Vie Schriften des Neuen Testaments" F, 1907, 235.

23 Sie denken dabei an eine Einzigartigkeit der Gotteskind­ schaft Jesu und wissen ihren Glauben daran in Übereinstimmung mit seinem Selbstbewußtsein. Wenn jenes neuste „Religions­ geschichtliche Volksbuch" am Schluß S. 46 sagt, Jesus bleibe uns der „Sohn Gottes", „weil er in Gott seinen Vater er­ lebt hat", so sagt dies ja auch Kautzsch. Über er fährt nicht mit fort: „und weil er für uns auf der Seite Gottes steht". Man kann zwar nicht behaupten, daß nur wer auch dies in dem Satz von der Gottessohnschaft Jesu mit meint, die Durch­ schnittsmeinung der modernen Theologie vertritt, aber recht viele ihrer Jünger haben diese Ansicht voll Jesu einzigartiger, „übermenschlicher" Größe. Kautzsch bemerkt einmal (S. 11/2), wer von der modernen Theologie reden wolle, der dürfe die Namen der Altmeister in dieser Wissenschaft nicht unerwähnt lassen: pfleiderer, Holtz­ mann, Jülicher. Auf diese drei würde er sich wohl berufen, wenn man ihn interpellierte, warum er Matth. 11, 27 nicht für den Satz von der Gottessohnschaft Jesu berücksichtigt habe. Jülicher z. B. schreibt so1): „(Ein einzigartiges Sohnesverhältnis zu Gott, das von keinem anderen erreicht werden konnte, hat Jesus sich nicht zugeschrieben; das eine Wort Matth. 11, 27..., in dem ohnehin der rhythmische Rlang auffällt, genügt nicht, um diese paulinische Idee als Bestandteil von Jesu Bewußtsein wahrscheinlich zu machen." Aber diese Urteile in bezug auf Matth. 11,27 sind nicht etwa „gesicherte Ergebnisse der wissen­ schaftlichen Forschung." Holtzmann teilt sie nicht alle und harnack?) hat den Wortlaut: „Alles ist mir überliefert vom Vater, und niemand hat den Vater erkannt als nur der Sohn, und wem es der Sohn offenbaren will" und seinen Gedanken, Jesu einzigartiges Verhältnis zu Gott, als echt in einer minutiösen Untersuchung verteidigt?) Wenn sich Jesus in *) Die Kultur der Gegenwart h. v. hinneberg I, IV, 1906, 56. 3m folgenden sieht man, daß Jülicher „Das Gefühl der Einzig­ artigkeit" nicht etwa ganz aus dem Bewußtsein Jesu entfernt. 2) Sprüche und Reden Jesu. 1907,189 ff. 8) harnack hat zu zeigen versucht, daß das Satzglied „Und niemand kennt den Sohn als nur der Vater" nicht ursprünglich sei. Dieser versuch scheint mir daran zu leiden, daß er sich nicht mit Dalman, Die Worte Jesu I, 1898, 158/9; 232 auseinandersetzt, vgl. mein Buch, Die christl. Demut I, 1906,120 ff. 145 ff. und meinen Volkshochschul­ kursus „Jesus und seine predigt" 1908, 48 ff.

24 dieser Stelle als dem Sohn Gottes hinstellt, so liegt meiner Meinung nach im Gebrauch dieses Bildes eben laut dieser Stelle der Anspruch, daß er allein sich mit Gott in höchster Ver­ trautheit befinde. (Er überträgt die zwischen Vätern und Söhnen normale Intimität auf sein eigenes Verhältnis zu Gott. (Er will allein der einzigartige vertraute, der einzigeKenner Gottes sein, dem allein dieser „alles", d. h. alles, was er von Ihm und Seinem Reiche lehrt, „überliefert", d.h. gelehrt, geoffenbart hat. Obwohl diese Auslegung der Stelle eine ganz modern­ theologische heißen kann, will ich von einer Kautzsch näher­ stehenden aus seine Auffassung der Gotteskindschaft Jesu noch weiter beleuchten. Schmiedel entnimmt dieser Stelle in dem Religionsgeschichtlichen Volksbuch „Das vierte Evangelium" 1906, 48 ff. folgenden Gedankengehalt. Jesus hat im Laufe seiner inneren Entwicklung erkannt, daß. Gott ein liebender Vater ist.' Damit ist von selbst gegeben, daß er sich als Gottes Sohn fühlen darf. Zur Zeit freilich steht er, daß er mit seiner Erkenntnis ganz allein auf einer einsamen höhe steht. So gewinnt der Gedanke, Sohn Gottes zu sein, für ihn den weiteren Sinn, daß er von Gott als geistiger Führer an sein Volk gesandt sei, um di^se Erkenntnis zu offenbaren; und von hier aus öffnet sich dann der Weg dazu, daß er sich für den höchsten Gesandten Gottes halten muß, für den Messias. „Alleinstehen", „einsame höhe" ist noch nicht „Einzig­ artigkeit", aber der hier aus dem Selbstbewußtsein Iesu er­ hobene weitere Sinn seiner Gottessohnschaft überbietet das Kindschaftsgefühl, um das es sich allein nach-Kautzsch bei dem Satz von der Gotteskindschaft Jesu handelt. Nein, es handelt sich bei ihm nach der modernen Theologie mindestens auch um die „erhabene Größe" Jesu, daß er sich von seinem Vater zu seinem höchsten Gesandten, zum geistigen Führer seines Volks berufen fühlen mußte. Kautzsch hätte in seiner Besprechung der Gottessohnschaft Jesu den Gedanken seiner oben S. 17/18 von uns hervorgehobenen Sätze viel mehr zur Geltung hringen sollen. Einer davon steht in diesem Zusam­ menhänge S. 23: „wir werden auch unser Kindschaftsgefühl in alle Zukunft am Bilde Iesu stets von neuem entzünden und nähren", hiermit ist eine gewisse Einzigartigkeitx)

*) vgl. Riischl, Rechts, u. versöhn. HI3, 438: „Christus ist als der geschichtliche Urheber dieser Gemeinschaft der Menschen mit Gott und

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der Gotteskindschaft Jesu gegeben: unser Kindschaftsgefühl ist ein durch ihn vermitteltes, das seinige ist nicht am Vilde, in der Nachfolge eines andern entzündet - „alles ist mir überliefert vom Vater". Diesen spezifischen Unterschied des von Gott gesandten geistigen Führers von seinen Nachfolgern leugnet Kautzsch natürlich ebensowenig wie den Gradunterschied ihrer Gottinnigkeit (vgl. oben S. 22). (Er hat nur diese beiden tatsächlichen Unterschiede zwischen Jesus und uns nicht an den Satz von seiner Gottessohnschaft herangerückt, was ein ungenaues Bild von der Auffassung dieses Satzes in der modernen Theologie ergibt. Der Vortragende würde diese richtiger vertreten haben, wenn er ängedeutet hätte, daß ihr das Dogma von der vaterlosen Geburt Jesu mindestens dazu gut genug ist, dabei ihren Glauben zu bekennen, daß zumal der höchste Gesandte Gottes, unser Führer zu Ihm, Sein Gnaden­ geschenk ist. Diesen Glauben bekennt sie freudig gegenüber der profanhistorischen Wissenschaft, die als solche auch angesichts der höchsten religiös-sittlichen Originalität und Genialität dabei bleiben mutz, es handele sich nicht „um eine besondere Kraft aus der höhe, um den Gdem, den die Llohim Sonntagskindern nach der allgemeinen Schöpfung des Menschengeistes noch be­ sonders und persönlich einblasen"?)

Uls unsern geistigen Führer zu Gott hat Kautzsch den „einigen Sohn" Gottes uns vor die Bugen gemalt in dem Satz S. 21: „Fassen wir sein ganzes Leben und wirken als ein im besten Sinne versöhnliches wirken auf, das allen ver­ zweifelnden, schuldgequälten Seelen wieder eine Drücke schlagen will zum Herzen des himmlischen Vaters." Dieser Satz steht

untereinander notwendig der Einzige in seiner Hrt. Denn wenn ein Zweiter nachgewiesen werden könnte, welcher materiell ihm gleich wäre an Gnade und Treue.. ., so würde er doch in geschicht­ licher Abhängigkeit von Christus stehen, ihm also formell ungleich sein." !) Lamprecht, Moderne Geschichtswissenschaft, 1905, 100. Da man auch in der sogenannten religionrgeschichtlichen Schule „Trans­ zendentarier" ist, d. h. einer supranaturalistischen, dualistischen Welt­ anschauung huldigt und an ein ständiges hineinwirken neuer Kräfte aus einer, schlechthin wunderbaren Tiefe göttlichen Daseins in diese Welt glaubt (vgl. z. B. Bousset, Die Mission u. d. sog. religionsgeschichtl. Schule 1907, 9/10), steht auch in ihr nichts Grundsätzliches dem Glauben entgegen, daß zumal Jesus ein neues Gnadengeschenk Gottes ist.

26 am Ende der Kritik des kirchlichen Dogmas von der Erlösung durch Christus. Er kann darüber beruhigen, daß diese Kritik dessen, was „man mit besonderem Nachdruck als wichtigste Heilstatsache der evangelischen Kirche zu bezeichnen pflegt" (S. 18), gar nicht so gefährlich ist, wie sie vielleicht sich und andern vorkommt. Kautzsch muß selbstverständlich mit der Forderung der sächsischen Landessynode vom 10. Februar völlig einverstanden sein, daß in der biblischen Unterweisung die jugendlichen Seelen Jesus Christus „nicht nur als religiös-sitt­ liches Vorbild und als großen Sittenlehrer, sondern auch als ihren Heiland nnd Erlöser kennen lernen". Die moderne Theologie hält den „Hauptartikel" der evangelisch-lutherischen Kirche „unser Erlöser ist Christus allein" als solchen irgend­ wie fest nicht nur gegen die Abgötterei in der Papstkirche, sondern auch gegen jeden Theologen, dem so etwas einfällt, wie dem „Altmeister" pfleiderer für einen freichristlichen Kon­ greß die These, es „ergibt sich als der bleibende Kern des christlichen Erlösungsglaubens das sittliche Ideal der Selbst­ erlösung der menschlichen Gesellschaft durch die Solidarität der helfenden und erziehenden Liebe ihrer Glieder"?) Falls ein Religionslehrer dies etwa als ein „gesichertes Ergebnis der wissenschaftlichen Forschung" berücksichtigen wollte, so würden auch wir modernen Theologen, einschließlich Kautzsch', ihn eines besseren belehren, wenn dieser die Erlösung als einen inneren Vorgang in unserer eigenen Seele schildert, als „ein persönliches Erlebnis, das der lebendige Gott selber in uns zustande bringt" (S. 17, 21), so bedeutet das noch keine Ab-

*) Actes du Ulme congrös international du Christianisme liberal et progressif Genöve 1905, 1906, 129. Diese Thesen auch abgedruckt prot. Monatshefte IX, 1905, 360. hier kann zwar Christus als das in der helfenden und erziehenden Liebe führende Glied der menschlichen Gesellschaft gedacht sein, aber die Emanzi­ pation von Gott („Selbsterlösung"), von neuen Kräften aus Gott (vgl. die vorige Anm.) hebt den christlichen Lrlösungsglauben auf. — In bezug auf das „Christus allein" in der religionsgeschichtlichen Schule vgl. Troeltsch (V. Religion in Geschichte und Gegenwart 1907, 54): „Und wenn es auch selbstverständlich nicht an und für sich aus­ geschlossen ist, daß Gott auch an andern Orten und andern Menschen sich so erschließen könnte, so ist doch für die meisten unter uns un­ zweifelhaft tatsächlich die Erlösung d. h. die erlösende Gotteserkenntnis und Gottesgemeinschaft geknüpft an das Gewißwerden über Gott in dem Glauben an Jesus als die Offenbarung Gottes."

27 weichung von der kirchlichen Erlösungslehre. Beschränkt diese die Erlösung auf das einstmals geschehene und ausgerichtete Werk Jesu Christi oder kann sie nicht vielmehr auch dasjenige Werk Gottes, welches den Menschen aller Zeiten solche voll­ brachte Erlösung heimbringt und zueignet, Erlösung nennen lassen? Gerade Luthers Schmalkaldische Artikel, die für jenen „Hauptartikel" Kämpfen, schildern auch, wie Gott gegenwärtig die einzelnen Menschen durch das Evangelium von der in Christus geschehenen Erlösung von ihrer natürlichen Ohnmacht „erlöst", rechten Glauben an Ihn zu haben?) Kautzsch streicht ja nicht etwa das einstmals in der Vergangenheit vollbrachte Lrlösungswerk Christi, sondern faßt dessen „ganzes Leben und Wirken als ein im besten Sinne versöhnliches Wirken aus, das allen verzweifelnden, schuldgequälten Seelen wieder eine Brücke schlagen will zum Herzen des himmlischen Vaters". Er wird wohl aus Jesu „ganzem Leben und Wirken" nicht sein mannigfaltiges Leiden und schließliches Sterben ausschlietzen und hierüber sagt er ja S. 19: „Ohne Zweifel hat Jesus den Gedanken ausgesprochen, daß sein Tod seinen Jüngern irgendwie zum heil dienen werde", haben wir denn aber dann nicht bei Kautzsch eine veritabele und ganz respektabele Lehre von Heilstatsachen? von dem Leben, Wirken, Leiden und Sterben Jesu Christi als dem Tatsachenkomplex in der Vergangenheit, der uns zum heil dient, weil er ein Ver­ söhnungswerk ist, das uns Sündern zu Gott eine Brücke schlägt? Lr schreibt S. 21: „Wir wissen heute: dies Evan­ gelium zeigt uns die Erlösung des Menschen als einen Vorgang in unsrer eigenen Seele, und nicht als ein mythologisches Drama zwischen einem beleidigten Gott, einer verfluchten Menschheit und einem fleischgewordenen Mittler." Aber der Erlösungsvorgang in unsrer eigenen Seele gilt ihm gewiß als vermittelt und verbürgt durch das „Bild Jesu", seines ganzen Lebens und Wirkens, seiner geschichtlichen Versöhnungs­ tat — ist diese nicht ein Erlösungsdrama, das Gott zum heile der schuldbeladenen Menschheit durch „seinen einigen Sohn" ins Werk setzt? Also auch die moderne Theologie ist inso-

*) vgl. den Sprachgebrauch im Kleinen Katechismus neben dem der 2. Artikels: die Taufe „erlöset vom Tod und Teufel". — Thieme, Luthers Testament wider Hont in seinen Schmalkaldischen Artikeln. 1900, 44 ff.

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fern eine Theologie der Heilstatsachen, als sie an die Beschrei­ bung des gegenwärtigen Erlösungsvorgangs seine geschichtliche Beziehung auf den geschichtlichen Heilstatsachenkomplex von Christi Person und lverk knüpft. Kautzsch scheint zwar den Begriff „Heilstatsache" auf das, was der lebendige Gott in der Gegen­ wart in uns tut, beschränken zu wollen. Denn er schreibt S. 37: „Wenn die moderne theologische Wissenschaft auch manche vermeintlichen Heilstatsachen gründlich zerstört hat, so kann sie doch endlich die eine große Heilstatsache nur immer schöner und reiner ans Licht stellen; das ist die innere Erfahrung einer göttlichen Liebe, wie sie im herzen Jesu am mächtigsten aufgegangen ist und wie auch wir sie in seiner Nachfolge tagtäglich machen können." Aber hierdurch kommt ja auch Jesu innere Erfahrung einer göttlichen Liebe als Heilstatsache zu stehen und zwar als die führende, für unser heil grundlegende, weil unsere tagtäglich mögliche innere Erfahrung einer göttlichen Liebe ganz richtig an die Nachfolge Jesu gebunden wird. Die Worte „in seiner Nachfolge" meinen dasselbe wie die Worte „am Bilde Jesu" in den beiden Sätzen, daß sich am Bilde Jesu wie unser Kindschaftsgefühl, so unser Lebensglaube in alle Zukunft stets von neuem entzünde ($. 23, 31). Aber wohl auch unsere heilsame Reue gilt dem Verfasser als vermittelt und verbürgt durch das Bild Jesu, durch seine Nachfolge. Denn wenn er S. 17 die Versöhnung schildert „als ein per­ sönliches Erlebnis, das der lebendige Gott selber in uns zu­ stande bringt, indem er uns zwingt zu ehrlicher Reue und uns zugleich emporzieht zu neuem vertrauen auf seine hel­ fende Liebe", so denkt er schwerlich dieses Emporziehen magisch, unvermittelt, anders sich vollziehend als die Entzündung un­ seres Kindschaftsgefühls, die sich am Bilde Jesu vollziehe. So aber und nicht anders, nicht magisch wird er auch jenes Zwingen zu ehrlicher Reue sich vollziehend denken. Oder wenn darin, daß bei jenem Zwingen und Cmporziehen Gottes eine äußere Vermittelung nicht erwähnt wird, doch eine refor­ mierte Eigentümlichkeit beim reformierten Pastor zum Vorschein kommen sollte, so könnte sie als eine Eigentümlichkeit der modernen Theologie nicht gelten. Denn diese sagt mit Troeltsch a. a. ©.: „Der Eindruck der Persönlichkeit Jesu, wie sie fort­ lebt, ausgedeutet vom Glaubensleben unzähliger Generationen,

29 ist es, was uns niederbeugend und erhebend in letzter Linie dieser Gotteserkenntnis gewiß macht" (in der Gott uns erlöst). Jenes Zwingen und Cmporziehen Gottes ist entscheidend ver­ mittelt durch den niederbeugenden und erhebenden Eindruck der Persönlichkeit Jesu. wie stark war erst dieser Eindruck, als sie noch lebte und mit den Zündern persönlich verkehrte! Kautzsch „erinnert" S. 17 daran, daß Jesus in diesem Verkehr „niemals die göttliche Vergebung abhängig macht von dem Glauben.an seinen stellvertretenden Gpfertod". wer hiergegen bemerken würde, dies werde Jesus getan haben, nachdem er das Wort von der Hingabe seines Lebens als Lösegeld gesprochen (Mark. 10, 45 — Matth. 20, 28), den würde Kautzsch damit abweisen, daß „wir unmöglich zugeben können, daß uns das Jesuswort in dieser Fassung richtig überliefert sei" (S. 19). In der folgenden Begründung dieses „unmöglich richtig" wird allzu sicher geredet, sicherer, als sich der moderne Theologe erlaubt, den man vergleichen soll, Joh. weiß a. oben S. 221 a. (D.2 S. 175. Dieser begründet die Überzeugung der neueren Kritik, daß Jesus das Wort so nicht gesprochen haben könne, auch damit, daß das Wort „Lösegeld" und die ganze damit eröffnete Reihe von Vorstellungen sonst in der predigt Jesu nicht vor­ handen sei. (Es sei zwar wahrscheinlich, daß Jesus der Überzeugung war, sein Tod werde irgendwie den Menschen zugute kommen, aber ob er geradezu an einen Gpfertod oder an ein stellvertretendes Strafleiden gedacht hat, das müsse zweifelhaft bleiben, wovon weiß nur sagt,' daß es zweifel­ haft bleiben müsse, davon sagt Kautzsch, daß es der ganzen sonstigen predigt Jesu „geradezu ins Gesicht schlage", weiß redet vorsichtiger, weil er selbst in einem andern Werkes) ohne für die Echtheit der Formel von Mark. 10, 45 einzu­ treten, es doch wahrscheinlich zu machen versucht hat, daß Jesus der Überzeugung war, sein Tod sei zwar nicht für seine Jünger heilsnotwendig, wohl aber für die ihn, den Messias, verstoßende Masse des Volkes: für diese schwere Sünde gebe es ein einzigartiges Opfer, seinen, des Messias, stellvertretenden Tod. Rngesichts solcher versuche auch moderner Theologen, im Selbstbewußtsein Jesu den Gedanken seines stellvertretenden Gpfer-

*) Die predigt Jesu vom Reiche Gottes. 2 1900, 200 f.

30 todes irgendwie annehmbar zu machen, ziemt es sich, anders darüber zu reden, als Rautzsch für gut befunden. Man sollte im Namen bet modernen Theologie nur sagen, daß unser Wissen von Jesu Gedanken über seinen Tod leider recht un­ sicher fei; z. B. bei jenem wort vom „Lösegeld" sei es un­ sicher, ob es auf den Tod Jesu geht/) ja ob er es überhaupt so gesprochen hat. Den Gedanken des stellvertretenden Gpfertodes hielt Weitz a. zuletzt a. (D. für recht wohl möglich im Selbstbewutztsein Jesu; nur sei er nicht als heilsnotwendig für die Jünger gedacht: „denn nach der Voraussetzung der gesamten Ver­ kündigung Jesu bedürfen sie, die in Glauben und Butze die Botschaft vom Reiche Gottes angenommen haben, eines solchen besonderen Trrettungsmittels nicht mehr". Darin dürsten allerdings wohl sämtliche modernen Theologen übereinstimmen, datz sie nicht annehmen, Jesus habe alle von ihm verkündigte und vollzogene Sündenvergebung für bedingt durch" seinen bevorstehenden (vpfertod gehalten. Ruch ich finde ein entsetz­ liches Mitzverständnis Jesu und seines Evangeliums - einschlietzlich des Wortes vom Lösegeld, wenn er es so gesprochen in dem, was während des Apostolikumstreits von 1892 der mecklenburgische Gberkirchenrat Bard gepredigt hat?): „was mich dem Heiland zu Mtzen warf, was mich bis heute bei ihm festhält ... ist vor allem dies, daß Cr. für mich bezahlte. Tat er das nicht - was immer sonst Cr leisten *) vgl. Spitta, Streitfragen der Geschichte Iesu. 1907; 219 f. — Sehr irreführend erweckt Uautzsch S. 18/19 den Schein, als ob mit der Tatsache, daß INatth. 26, 28 die Worte „zur Vergebung der Sünden" eine Zutat des Evangelisten sind, schon bewiesen wäre, datz Jesus in den Einsetzungsworten des Abendmahls seinen Tod und die Sündenvergebung nicht in Zusammenhang gebracht habe. Dies wäre erst dann bewiesen, wenn Jesus nachweislich nicht von dem vergießen seines Blutes gesprochen hätte, oberx falls er davon ge­ sprochen oder auch bloß von seinem Blut, nachweislich von seinem Gpferblut angenommen hätte, daß es die Sündenvergebung nicht mit be­ wirke. Cs glaube doch niemand dem Verfasser, daß die moderne Theologie sich einbildet,' schon durch die Streichung ber# Zutat „zur Vergebung der Sünden" das „Hauptstück im Sakrament" aus Jesu Abendmahlsgedanken gestrichen zu haben. Gewiß, manche streichen es auf schwererwiegende Gründe hin - aber das ist kein „gesichertes Ergebnis der wissenschaftlichen Forschung". 2) „Der Güter höchstes!" predigt usw. 1892, 12.

31 mag! — keine Stunde bleibe ich bei Ihm. Venn trotz Seiner bin ich dann ein verlorner Mensch. Nur wenn Seine Versicherung der Vergebung der Sünden auf der Be­ zahlung gründet, finde ich da§ herz ihr zu glauben." Jesu Versicherung der Sündenvergebung, der zu glauben seine Jünger das herz fanden, und die auch uns, die wir außerdem sein Kreuz haben, zu Herzen zu gehen sortfahren soll, gründete nicht auf seinem Erlösungstod. Und wir Christen sollen um jeder seiner berufsmäßigen Leistungen willen in Seit und Ewig­ keit bei ihm bleiben wollen! Uber obwohl Iesus sich- nicht als Gekreuzigten in jede Sündenvergebung hineindachte, so hielt er doch alle von ihm verkündigte und vollzogene Sündenvergebung für bedingt durch seine niederbeugende und erhebende — vgl. oben S. 28/29 — Reue und Glauben wirkende Person. Kautzsch fährt nach dem dort angeführten Satz S. 17 fort, nur daraus sehe Jesus bei all seinem Verkehr mit Sündern - wie bei Zachäus, bei der Sünderin — „daß das Gefühl der Reue über die be­ gangenen Sünden wie auch die Sehnsucht nach einem neuen, reineren Leben ehrlich und aufrichtig ist. Und sobald er dies festgestellt hat, verkündet er ohne Einschränkung die vergebende Liebe Gottes, die auch ohne blutige Sühnopfer sich mit den Menschen freundlich versöhnen will". Aber nicht ohne Christus will sie sich mit ihnen versöhnen! Sie wollte sich schon vor und ohne seinen Tod mit Zachäus und der Sünderin versöhnen, aber dies ermöglichte ihr der niederbeugende und erhebende Eindruck der Person Jesu auf diese Menschen, wenn Kautzsch S. 26 ganz richtig schreibt: „allen denen, die sich ihm anschließen, verheißt er Sie Freuden des kommenden Himmelreichs, wo . . . alle nach der Gerechtigkeit hungernden satt werden sollen", so hätte er doch auch $.17 andeuten sollen, daß diejenigen, welche Jesus schon zuvor mit Sündenvergebung sättigte, sich an ihn irgendwie angeschlossen halten. Sie glaubten an ihn und seine predigt vom nahen Keich und von der Umkehr und kraft dessen hatten sie ehrliche und aufrichtige Reue und Sehn­ sucht nach einem neuen Leben. Die Ehrlichkeit und Aufrich­ tigkeit ihrer Reue und Sehnsucht kam aus ihrem Glauben an Jesus. Dieser sah bei all seinem Verkehr mit Sündern auf zeitgemäße (vgl. oben S. 14 unten) d. h. an seiner Person entzündete, aus dem Glauben an sie und an die Nähe des

32 Keichs geflossene Reue und Sehnsucht nach einem neuen Leben. Kautzsch' trefflicher Satz von Jesu „versöhnlichem wirken, das allen verzweifelnden, schuldgequälten Seelen wieder eine Brücke schlagen will zum Herzen der himmlischen Vaters" gilt doch zunächst von Jesu Wirken in seinem 'persönlichen Verkehr mit Sündern und Schuldbeladenen: sein „im besten Sinne ver­ söhnliches Wirken" illustrieren die Fälle Zachäus und große Sünderin. Ich muß denen, die sich darauf kaprizieren, daß die Person Jesu gar nicht in das Evangelium gehöre, allerdings zugeben, daß das „um Christi des Gekreuzigten willen" nicht in das Evangelium Jesu von der Sündenvergebung hinein­ gehört. Wohl aber gehört ein „um Christi willen" in dem Sinne in das Evangelium hinein, daß es die göttliche Ver­ gebung bedingt sein läßt von dem Glauben an den, der sie durch sein Niederbeugen und Erheben ermöglicht. Die vergebende Liebe Gottes will sich, seit sie Jesum Christum gesandt hat, nie ohne ein „versöhnliches Wirken" Jesu Christi „mit den Menschen freundlich versöhnen". Nun aber wird Kautzsch sein schweres Geschütz auffahren: das Gleichnis vom verlorenen Sohn. In diesem soll Jesus nach S. 16 f. geschildert haben, wie die Versöhnung zwischen Gott und den Menschen zustande kommt: ohne Sühneleistung, ohne stellvertretendes Strafleiden eines Unschuldigen. Es sei bedauerlich, wenn man das Gleichnis als die volle, richtige Lehre von der Versöhnung nicht anerkenne, weil darin die versöhnende Tat eines Mittlers zwischen dem Vater und seinem Kind fehle. Über liegt dem Gleichnis wirklich jedes „um Christi willen" fern? Als Jesus das Gleichnis vom verlorenen Sohn schuf, da wollte er allerdings nicht, wie orthodoxe Theologen behaupten, seinen Glauben an die erst durch seinen bevorstehenden Sühnetod ermöglichte Sünderliebe Gottes einmal einseitig darstellen, d. h. abgesehen von dieser ihrer Ermöglichung. Denn er hatte gar nicht diesen Glauben, daß nur sein Tod die Sünderliebe Gottes ermögliche. Er hielt diese nur durch ein solches niederbeugende und erhebende, „versöhnliche" wirken seiner selbst für bedingt, wie er es bereits an den Sündern mit Erfolg ausübte. Aber ein Äquivalent dieses seines versöhnlichen wirkens schuf er des­ halb nicht in einem Einzelzug des Gleichnisses, weil ja das ganze gar keine andere Sünderliebe schildern sollte, als die

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damals in Jesu versöhnlichem wirken wirksame, sei nun Gott oder Jesus, sein Bevollmächtigter, als ihr Subjekt gedacht. Rautzsch sagt einmal (S. 22): „Jesus weiß sich eins mit Gott in Freude und Leid, wie ein rechtes Rind mit dem Vater im Geiste sich eins wissen soll." Mit dem „Himmel", d. h. mit Gott weiß er sich eins in der Freude über einen Sünder, der Butze tut —mit der Sünderliebe Gottes weiß er sich eins in seinem „erhabenen Liebesgeiste" (S. 36). Rautzsch kann nichts dagegen einwenden, datz die in jenem Gleichnis geschil­ derte Sünderliebe die Seele des „versöhnlichen Wirkens" Jesu ist, „das allen verzweifelnden, schuldgequälten Seelen wieder eine Brücke schlagen will zum herzen des himmlischen Vaters". Möglicherweise bezog sich das Gleichnis vom verlorenen Sohn gar nicht auf das herz des himmlischen Vaters, sondern gerade auf das vrückeschlagen Jesu, auf sein mittlerisches Mühen. Vas Gleichnis steht bei Lukas Kap. 15. Der Evangelist erzählt V. 2, datz die Pharisäer und Schriftgelehrten über Jesus murrten: „Vieser nimmt die Sünder an und itzt mit ihnen." Daraufhin hat Jesus nach Lukas die drei Gleichnisse vom verlorenen Schaf, Groschen und Sohn gesprochen. Jene Einleitung des Lukas würde zunächst nur darauf führen, datz Jesus sein eigenes Tun an den Sündern durch das eines Vaters an seinem, verlorenen Sohn rechtfertige, datz er gar nicht die Ge­ sinnung Gottes habe abmalen wollen. Aber gesetzt auch, datz das Gleichnis von der Zünderliebe Gottes redet, so darf man nicht etwa schließen, datz es deshalb die Sünderliebe Jesu und ihr „versöhnliches wirken" nicht betreffe. Eben weil er Gott so lieben glaubt, wie das Gleichnis schildert, getraut sich auch Jesus jetzt so zu lieben: die Sünder anzunehmen und mit ihnen zu essen. Denn Jesu Liebe hat an Gottes Liebe ihre Vollmacht. Vie Gnade, die Jesus schildert, kennt er nicht nur an Gott, sondern er selbst übt sie in Seinem Namen. Das Gleichnis drückt eben nicht nur eine Idee Jesu von Gott aus, sondern es erklärt ein gegenwärtiges Geschehen: ein jetzt durch den „einigen Sohn" hindurch geschehendes Tun Gottes: Gott vergibt den schuldbewußten Sündern ihre Sünde, indem er seinen „einigen Sohn" (im oben S. 24 f. angegebenen Sinne) mit ihnen verkehren und ihnen das Reich predigen läßt. Denn als Sündenvergebung galt den Sündern und den Pharisäern und Jesus selbst nicht nur ausdrückliche Absolution, sondern Unterne, Heilstatsachen. 3

34 auch schon sein leutseliger Verkehr mit- den Sündern, seine Freudenbotschaft an sie, daß sie nicht untauglich seien für das Reich, wenn sie umkehren im Glauben an seine Nähe und an ihren Verkündiger. Das Gleichnis vorn verlorenen Sotyn1) scheint mir also nicht jedes „tim Christi willen" aus d.ern Evangelium Jesu von der Versöhnung zwischen Gott und den Menschen hinaus­ zuweisen. Denn es ging auf die versöhnliche Sünderliebe Gottes, wie sie damals mittelst Jesu Person und Werk ein Versöhnungswerk betrieb. Das Gleichnis berührte sich mit der Wirklichkeit, aus die es ging, erst in den Worten „jam­ merte ihn, lief" Luk. 15, 20. Vas Laufen des Vaters zum Sohne, der ihn jammerte, entspricht der Aktion Gottes, die (abgesehen von ihren Vorbereitungen) mit dem öffentlichen Auftreten Jesu einsetzte. Der tatsächliche Eindruck Jesu und seiner predigt — niederbeugend und erhebend auf die Sünder, die sich den Glauben an ihn abgewinnen ließen - war von Gottes versöhnlicher Sünderliebe beabsichtigt: sie hat dadurch sich selbst das vergeben der Sünden ermöglicht. Rautzsch lehrt natürlich richtig dessen Bedingtsein durch Reue und Glaube, aber daß Gott mittelst Jesu für Reue und Glaube gesorgt hat, das hebt er nicht klar hervor. Rann denn nun aber nicht auch ein moderner Theologe das Leiden und Sterben Ehristi als Fortsetzung und Steige­ rung, als Höhepunkt seines niederbeugenden und erhebenden, versöhnlichen Wirkens begreifen, mittelst dessen Gott 3: B. bei Zachäus und der Sünderin für Reue und Glaube gesorgt hatte? Läßt Rautzsch' Satz S. 19, ohne Zweifel habe Jesus den Ge­ danken ausgesprochen, daß sein Tod seinen Jüngern irgendwie zum heil dienen werde, nicht ein weniger verschwommenes Wort über seinen Rreuzestod erwarten wie das 5. 21, man fasse diesen „nur immer als ein tiefsinniges Symbol mensch­ lichen Leidens auf, das keinem von uns völlig erspart bleibt"? Doch mag sein, daß ich es nicht richtig erfasse, und darauf x) (Es wäre gut, wenn mehr moderne Theologen vergleichen wollten Rnoke, 3um Verständnis des Gleichnisses vom verlorenen Sohne, Neue kirchl. Zeitschr. 1906, 407ff.; Lütgert, Die Liebe im Neuen Testament. 1905, 73. Auch das Gleichnis vom Schalksknecht mahnt Jesu Jünger an die ihne.n selbst durch ihn hindurch wider­ fahrene Crbarmung Gottes.

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folgt ja jener treffliche, e§ überbietende Satz (vgl. oben S. 25 unten). Zudem weiß ich bei der gegenwärtigen Oage der Evangelienkritik auch nicht jenes „irgendwie" — wird nach Jesus sein Tod seinen Jüngern zum heil dienen — wissenschaft­ lich zu vermeiden, und wenn ich im folgenden ein paar dog­ matische Sätze über den heilswert des Todes Jesu herschreibe^ die ich dem Evangelium für kongruent halte, so halte ich es doch nicht für „gesicherte Ergebnisse der wissenschaftlichen For­ schung", daß Jesus gerade so und nicht anders darüber ge­ dacht habe und daß gerade dies der eigentliche apostolische Gemeinglaube sei. 3n der Todesübernahme betätigte Jesus am erhebendsten die ganze Größe der Sünderliebe, in der er mit Gott eins war. Unter seinem Kreuz erhält ein jeder die niederbeugendsten Eindrücke von seiner eigenen Ferne von dem Ideal und von seiner eigenen Neigung zur Kreuzigung eines Jesu. So ist der Gekreuzigte zugleich das tröstlichste Kommt her zu mir! und das erschrecklichste Kehrt um! Damit aber ermöglicht er am meisten dem heiligen Gott die Vergebung der Sünden, weil er damit am stärksten die Umkehr der Sünder verbürgt. Indem Jesu Tod so von der Sünde erlöst, erlöst er auch von ihrer Strafe, dem ewigen Tode. Jesus starb, anstatt daß diejenigen jenen Tod sterben, welche, in Kraft des Todes Jesu umkehren. Das ist durchaus modern-theologische Dogmatik, auch der letzte Satz mit einem Stellvertretungsgedanken. So etwas lernte man aber auch beim alten Delitzsch, der in § 104 seiner Vor­ lesung über „Mttestamentliche Heilsgeschichte" diktierte: „Dieser eine war dazu ersehen, die Versöhnung mit der Weltsünde zu werden, nicht etwa bloß, damit der göttlichen Gerechtigkeit Genüge geschehe, sondern um in der Tat seiner Selbstaufopfe­ rung ein ethisches Rettungsmittel1) zu beschaffen, an welchem die Menschheit sich aus ihrem Falle aufrichten könne." Daß die „wichtigste Heilstatsache der evangelischen Kirche" wichtige Übereinstimmungen und Zusammenhänge zwischen den dogma*) Nach einem oben S. 30 angeführten Satz von Joh. weiß be­ dürfen Jesu Jünger des besonderen Crrettungsmittels seines (Vpfertodes nicht mehr. (Es ist allerdings nicht von vornherein die Voraus­ setzung der gesamten Verkündigung Jesu, aber ihm am Ende als heilsnotwendig aufgegangen. Jedenfalls hat dieser sehr moderne Theologe in einem sehr modernen Buche (Die Nachfolge Christi, 1895, 3*

36 tischen Theorien über sie, den alten und den modernen, er­ zwungen hat, ließe sich gut dem gegenüberstellen, daß darüber „trotz aller Kämpfe seit fast 2000 Jahren keine Einigung er­ zielt worden ist" (Kautzsch S. 18). Doch wir können uns nur noch über das evangelische Empfinden äußern, das, wie nach Kautzsch' ($. 20) Überzeugung „einmal offen ausgesprochen werden muß", an dem kirchlichen Dogma von Jesu stellver­ tretendem Strafleiden „nachgerade den schwersten Anstoß nehmen muß". Mr scheint von den altgläubigen Theologen zu beleidigend oft das Wort Anselms zitiert zu werden: nondum considerasti, quanti ponderis sit peccatum — Du hast noch nicht erwogen, von wie großem Gewicht die Sünde ist! Aber es heißt doch unnötigerweise dies Klagen über die moderne Theo­ logie herausfordern, wenn der Vortragende den verlorenen Sohn als „irrenden Menschen", als „leichtsinnig", als „jungen Toren" einführt (S. 16). Man wird darüber klagen, wie wenig dies dem sittlichen und religiösen Empfinden Jesu inner­ halb seines Gleichnisses unb. sonst entspreche. Man wird dazu höhnische Bemerkungen machen über das „geläuterte sittliche Empfinden unserer Zeit". Man wird fragen, ob denn die moderne Theologie von „mich verlorenen und verdammten Menschen" heruntergekommen sei auf „mich irrenden und törichten Menschen". Kautzsch mag etwa in dem seinem Vater gewidmeten Buch Tlemen's über „Vie christl. Lehre von der Sünde" (I, 1897, 80) gelesen haben, daß in einer wohl um 100 vor Christi Geburt verfaßten jüdischen Schrift die Hurerei Judas mit Thamar und auch Jugend- und Qbereilungssünden wie die Blutschuld Rubens und die Hehlerei Sebulons als „Unwissenheitssünden" bezeichnet werden, was für das Ver­ ständnis des Neuen Testaments sehr wichtig sei. Er mag vor allem an Ritschls Behauptung gedacht haben, daß Jesus ver­ gebbare Sünden, die aus Unwissenheit oder Irrtum entspringen, von unvergebbaren unterscheide. Aber diese Behauptung nennt 54ff., 121 ff.) „die innere ethische Möglichkeit des Gedankens klar zu machen versucht, daß Gott uns Sünder liebt um Christi willen." „Man kann ja sagen, daß er besonders der Tod Christi gewesen sei, der Gott zu dieser Milde gegen Christi Jünger bewöge." Die moderne Theologie kann wahrlich über das „um Christi willen" ganz anders reden, als Kautzsch ahnen läßt.

37 (Kernen S. 82 „unbeweisbar", sie ist kein „gesichertes Ergeb­ nis der wissenschaftlichen Forschung", und diese hochgelehrten Nuancen „irrend" und „Tor" statt „verloren" und „tot", wie Luk. 15 geschrieben steht, wirken hier eher schädlich, beunruhigend, machen sich schlecht am Anfang des Ansturms gegen das „anstößige" jüdische Empfinden im Versöhnungs­ dogma. Diesem soll folgender vergleich $. 20 in unserm sittlichen Empfinden schaden. „Wenn ich 10 Mark gestohlen habe und es wird ein anderer, Unschuldiger dafür bestraft, der sich frei­ willig gemeldet hat, um mich zu retten, so werde ich diese Wendung der Dinge sicherlich nicht als eine Erlösung und innere Befreiung empfinden, vielmehr, je größer der Rest von sittlichem Feingefühl ist, der noch in mir schlummert, desto drückender und quälender werde ich es empfinden, daß ich durch meine Schuld noch eine andere, unschuldige Person mit ins verderben gezogen habe". 3n diesem vergleich kann man den erhebenden Eindruck des freiwilligen Retters auf den Dieb oermisien und die Einsicht, daß der niederbeugende, drückende, quälende Eindruck des verderbens des Unschuldigen dem Dieb gerade heilsam ist. Gestatten wir uns doch auch einmal einen vergleich! Wenn ich meinem Vater 10 Mark gestohlen habe und er kommt mit meinem unschuldigen Bruder überein, ihn statt meiner dafür zu „bestrafen", so werden die Eindrücke ihres Leidens und ihrer Liebe eine Erlösung und innere Be­ freiung in mir herbeiführen. Je größer mein sittliches Fein­ gefühl noch ist, desto niederbeugender werde ich es empfinden, daß ich durch -meine Schuld mannigfache Vater- und Bruder­ schmerzen verursacht habe: meine Sünde wird mir dadurch sehr verleidet werden. Und des Vaters und Bruders große Liebe zu mir, die mich durch ihre eigenen Schmerzen von meiner Sünde, sie mir verleidend, erlösen und befreien wollen, die wird, wenn ich dahinter gekommen, wirklich einen erhebenden, überwältigenden, erlösenden, innerlich befreienden Eindruck auf mich machen und mich für das Gute „erwerben und gewinnen", in dem Vater und Bruder leben. Ich bitte diesen vergleich nicht im einzelnen durchzu­ hecheln, weil ich ihn gern im ganzen preisgebe. So etwas wirkt unter dem Rreuze immer besonders trivial. „Wir ziehen einen Schleier über diese Leiden, eben weil wir sie so hoch ver-

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ehren, wir halten es für eine verdammungswürdige Frechheit, . ... mit diesen tiefen Geheimnissen, in welchen die göttliche Tiefe des Leidens vLrborgen liegt, zu spielen, zu tändeln, zu verzieren und nicht eher zu ruhen, bis das würdigste ge­ mein und abgeschmackt erscheint." So goethisch war es wohl auch Kautzsch zumute bei dem Satz, den wir - dann ungerechterweise! — vorhin verschwommen nannten: „Fassen wir Jesu Kreuzestod nur immer als ein tiefsinniges Symbol menschlichen Leidens auf, das keinem von uns völlig erspart bleibt." Mythologisch und kindisch im Sinne von „angehörig dem Kindheitsalter christlichen Denkens" (vgl. Kautzsch S. 31) scheint auch mir das Versöhnungsdogma, so wie die Kirche es lehrt. Jener oben S. 30 erwähnte Gberkirchenrat fuhr hinter den dort angeführten schauerlichen Sätzen fort: „Bezahlt mutz die Schuld, quittiert mutz die Rechnung werden, hat Gott in Christo nicht gezahlt, dann mutz ich zahlen und ich werde es ewig nicht Können." Mit andern Worten: Strafe mutz sein! Nein, Strafe mutz nicht sein und Strafe an einem Unschul­ digen Kann und darf gar nicht sein?) Sittliche Schuld und Strafe können nicht vom Schuldigen auf einen Unschuldigen übertragen werden. Nach dem Rechte unsrer Zeit ist es un­ denkbar, daß die Strafe eines Schuldigen an einem Unschul­ digen, auch wenn er sich dazu erböte, in der Meinung voll­ streckt wird, damit der Rechtsordnung Genüge zu schäffen. 3m Altertum empfand man anders. Da tritt die Einzelpersönlich­ keit hinter dem Familien- und volksganzen zurück. Deshalb gilt auch in Israel die Sünde des Einzelnen - als die Schuld des Ganzen und so können und müssen für die Sünde des einen Teils andere Teile Strafe leiden, die nicht persönlich mitgesündigt haben. Aber nachdem die wahre Bedeutung der Einzelpersönlichkeit zumeist aus dem Evangelium Jesu ver­ standen ist, sollte es für den jüdischen Clansgeist keinen Boden mehr im christlichen Dogma geben. Es kann zwar ein an einer Missetat Unschuldiger die Leiden mit erdulden müssen, die den Missetäter als Strafleiden treffen; es können auch frei­ willige Leiden eines Unschuldigen anstatt des Schuldigen, z. B. *) 3um folgenden vgl. h. Schultz, Der sittl. Begriff des Ver­ dienstes usw. Theol. Stud. u. Hrit 1894, 598ff.

39 tut Familienleben, wie in unserm vorigen vergleich, vor­ kommen. Aber nach unserm sittlichen Urteil sind das keine Strafleiden, keine Leiden, die der Unschuldige als Strafe empfinden könnte. So könnte er sie nur beurteilen, wenn er sich doch irgendwie mitschuldig fühlte. Das kirchliche Dogma lehrt — mit Recht — die abso­ lute Sündlosigkeit Jesu und dennoch sein stellvertretendes Strafleiden. Kraft Rechtsurteils der göttlichen Strafgerechtig­ keit soll er, der Unschuldige, an unserer Statt alle von uns ver­ dienten Strafleiden erduldet haben, damit ihr Genugtuung ge­ schähe. Es habe voller Austausch der Strafe zwischen uns und ihm stattgefunden, sein Todesleiden, in dem er den Zorn Gottes schmeckte, sei voller Strafersatz des ewigen Todes, den wir ver­ dient hätten. Daß diese Theorie in unterchristlicher, Jesus widersprechen­ der weise mit der Idee der Strafe eines Unschuldigen operiert, ist eine heilige Überzeugung der modernen Theologie auch des­ halb, weil sie dem Vater Jesu Christi nicht zutraut, daß er strafen mutzte, um vergeben zu können. Nicht seiner Straf­ gerechtigkeit mutz Genüge geschehen, sondern seiner Heiligkeit, die niemandem vergibt, der nicht gläubig umkehrt. Gott ist nicht infolge seiner Strafgerechtigkeit gebunden, obgleich die Schuldigen umkehren, an ihrer Statt einen Unschuldigen zu bestrafen. (Er sorgt nur aus Heiligkeit für die Umkehr, in­ dem er in Jesus, zuhöchst dem Gekreuzigten, ein ethisches Rettungsmittel ohnegleichen beschafft, das die Umkehr der Seinen verbürgt. Leiden Jesu mutz sein, aber nicht Straf­ leiden. wenn Kautzsch (vgl. S. 20/1) unser „Leiden muh sein" nicht modern-theologisch und unsern heiligen Gott „grausam" und „ungerecht" finden sollte und in ihm den „zornigen Gott des Alten Testaments" wiedererkennen, so würde mich das doch wieder mißtrauisch machen gegen den Sinn seiner Auf­ fassung des Kreuzestodes Jesu als „eines tiefsinnigen Symbols menschlichen Leidens, das keinem von uns völlig erspart bleibt". Ich behaupte nicht, daß die ganze moderne Theologie auf Grund des Evangeliums die Erlösung lehre als ein auf Leiden an­ gelegtes Drama zwischen einem heiligen Gott, einer unheiligen Menschheit und einem unschuldigen Mann der Schmerzen, der sie durchheiligt. Aber ich erinnere daran, wie laut bei mo-

40 dernen Theologen^) und Nichttheologen jenes „ungerecht") übertönt wird durch den Preis des Segens, den Gottes Welt­ regierung mit dem Leiden Unschuldiger stiftet. Es ist doch be­ kannt, daß Paulsens Ethik als die dritte große Wahrheit, die das Lhristentum uns eingeprägt habe, rühmt: „Die Welt lebt durch den freiwilligen Gpfertod des Unschuldigen und Ge­ rechten." Könnte doch hierüber gleich Paulsen ^) ein jeder lesen, den Kautzsch beunruhigt, weil er ihm keine Einfühlung vormacht in das „mit seinem heiligen, teuern Blut und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben"! Kautzsch erwähnt io diesem Zusammenhänge als mythologisch den „fleischgeworde­ nen Mittler", freilich ist die Fleischwerdung Mythologie, aber eine auch für den modernen Lhristen noch „wahrhaft erbau­ liche", wie Paulsen in diesem Zusammenhangs bewährt: „Das Ehristentum erkennt Gott in der Gestalt des niedrigsten aller Menschenkinder; er war der allerverachtetste und unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Diese Gestalt hat Gott er­ wählet, da er Fleisch wurde. . . Das ist das Bild des HB« guten in Menschengestalt. . . »Gut sein heißt Gutes tun und Böses leiden und darin nicht müde werden bis zum Ende'." Ein anderer feinsinniger Philosoph, Diltheq,**) hat gerade in der Kombination der Ideen des metaphysischen Gottessohns und seines Leidens, in der Idee vom „leidenden Gott" die spezifisch christliche Idee erkannt und die darin sich ausdrückende tiefe Veränderung im menschlichen Seelenleben als die Stärke der neuen Religion hingestellt — ein Kommentar zu Kautzsch' Satz von der Erbaulichkeit der ersteren Idee für viele Heiden­ christen, aber auch zu seinem kurzflchtigeren Generalurteil über die UnKrast der mythologischen Krücken des Evangeliums, vgl. oben S. 8f. Mit folgendem sekundiert Dilthey der modernen Dogmengeschichte, während für den Nichtchristen „aller Schmerz nichts als Husdruck der Unvollkommenheit und Ohnmacht" sei, habe „das tiefe christliche Seelenleben die Derbindung der Vor­ stellungen von Vollkommenheit mit denen von Glanz, Macht x) vgl. etwa harnack, Wesen des Christentums, 9. Vorlesung. •) Kautzsch S. 20: „Und wäre das nicht ein ungerechter Gott, der gerade den Unschuldigsten von allen leiden ließe, um durch seine (Qualen die Sünden der Menschheit zu sühnen?" •) System der Ethik' I, 1906, 161 f. *) Einleitung in die Geisteswissenschaften I, 315 f.

41 und Glück des Lebens zerrissen . . . Nun soll die Vollkommen­ heit der Gottheit selber mit Knechtsgestalt und Leiden zusam­ mengedacht werden oder vielmehr nicht gedacht: sie sind im religiösen Erlebnis eins. Das vollkommene hat nicht nötig, in Glück und Macht sich zu sonnen", wenn man beobachtet, wie feinfühlig die moderne Dogmengeschichte die Dogmen der Kirche zu analysieren und sich mit ihren mythologischen Schalen zu versöhnen weiß, so findet man es gar nicht modern, wie grob sie meist in diesem Vortrag abgekanzelt werden, z. B. das Versöhnungsdogma fast bloß im Stile der Sozinianer. Nur gut, daß zu guter Letzt Jesu ganzes Leben und wirken doch noch als „versöhnliches Wirken" zu stehen kommt, das die Brücke zum himmlischen Vater für alle wiederherstellt, was ist das anders als eine gute Lehre von einer Heilstatsache?

Auch Kautzsch' Kritik des kirchlichen Dogmas von der leiblichen Auferstehung Jesu, worauf wir nur noch kürzer ein­ gehen können, darf man nicht so mißdeuten, als ob er dabei gar nicht an eine Heilstatsache denken könnte. Er sieht den religiösen Kern dieses Dogmas „ohne Zweifel in der unerschütterlichen Hoffnung Jesu, daß seine Seele nicht im Tode bleiben werde, daß er zu ewiger, ungetrübter Ge­ meinschaft mit seinem Gotte berufen sei" (S. 26). Diese Hoff­ nung Jesu, dieser unverwüstliche Lebensglaube gehört natürlich zu seinem Evangelium. Etwas Neues war er aber nicht: Jesus hat ihn „mit so vielen anderen frommen Denkern vor ihm und nach ihm geteilt" (S. 27). Darum gilt er auch nicht als das einzige, zu dessen Preise man Gstern feiert, sondern Gautzsch nennt S. 30 an erster Stelle: „die unvergängliche Geisteskraft" Jesu - da hätten wir die ^esttatsache! Das ist der (vsterglaube des Vortragenden, daß Gott den letzten Seufzer Jesu am Kreuz: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist", der beruhigenderweise S. 22 als echt behandelt wird, erhört und der „Geisteskraft", „dem erhabenen Liebesgeiste" Jesu Ehristi gegeben hat, was dieses Geistesleben wert war, Unvergänglichkeit. Jesus lebt durch eine Heilstat Gottes, der ihn „zu ewiger, ungetrübter Gemeinschaft" mit sich „berufen" und wirklich erhoben hat. Sollte aber die Heilstat Gottes an Jesus nicht als Heilstatsache für andere gelten können, als Bürg-

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schäft des von Jesus „allen denen" verheißenen Heils, „die sich ihm anschließen" (S. 26)? Rautzsch muß nicht etwa das „auferstanden von den Toten, aufgefahren gen Himmel" ersetzen durch „der gehofft hat auf­ zuerstehen von den Toten, aufzufahren gen Himmel". Denn er glaubt selbstverständlich, daß Jesu Seele nicht im Tode ge­ blieben ist, sondern „lebet in Ewigkeit". Das „und regieret" dazwischen, womit Luther in seiner Erklärung des 2. Artikels dessen „sitzend zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters" be­ kennt, bekennt nur noch ein kleiner Teil der modernen Theo­ logen ungefähr im kirchlichen Sinne. Auch Jesus selbst hat demütiger darüber gedacht als schon seine ersten Jünger?) wie wir bereits S. 16 sahen, rechnet Rautzsch das Messianische in der Zukunftshoffnung Jesu zwar zu dessen echten Über­ zeugungen, aber nicht zum Evangelium. 3n dieses läßt er nur Jesu unverwüstlichen Lebensglauben, den er „mit so vielen anderen frommen Denkern vor ihm und nach ihm geteilt hat", hineingehören. Aber alle modernen Theologen, die nicht auf jenen kapriziösen Satz harnacks eingeschworen sind?) den Rautzsch als „gesichertes Ergebnis der wissenschaftlichen Forschung" über­ schätzt, können mit Jesus und seiner irgendwie von ihm be­ anspruchten Einzigartigkeit zusammen auch seine nicht von „so vielen anderen frommen Denkern geteilte" Hoffnung auf irgend­ eine zukünftige, himmlische Sonderstellung ins Evangelium hineinrechnen. Mindestens diese können sie meinen bei „sitzend zur Rechten Gottes". Und wer nun des Glaubens wäre, daß in Jesu himmlischer Sonderstellung ihn seine „unvergängliche Geisteskraft", sein „erhabener Liebesgeist" nicht ruhen ließe, sondern zum Wirken dränge, zu „einem im besten Sinne ver­ söhnlichen wirken", als welches wir „sein ganzes Leben und wirken" nach Rautzsch auffassen dürfen, dürfte der sich noch zur modernen Theologie zählen, die das Evangelium als Glaubensnorm handhabt? Sollte Rautzsch selbst bei „sein ganzes Leben und Wirken" an ein „lebet und versöhnet in x) vgl. Mark. 10, 40. — Thieme, Die christliche Demut I, 1906, 135 f. 161 ff. 2) Es werden immer weniger! So läßt mein verehrter Kollege Hans windisch in Leitsätzen zu einem am 25. Februar gehaltenen vor­ trag über „Jesus und Paulus" den Sohn „freilich auch in dies Evan­ gelium hineingehören"; doch stehe er „nur im Hintergründe".

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Ewigkeit" gedacht haben? Schwerlich! Und man begreift die Sorge, hier die Mythologie zu begünstigen, der am schlimmsten verfällt, wer sich den Fürsprecher gnädiger denkt als Gott. Über begünstigen möchte auch der moderne Theologe die For­ derung des Evangeliums Jesu, nie an seiner Person vorbeizu­ glauben. Diese Sonderstellung hat er behalten, daß aller rechte Glaube an Gott durch ihn hindurch empordringen mutz. Der Glaube gewinnt bei diesem Durchgang ein Moment der Zutrau­ lichkeit, dessen Berechtigung Jesus zeitlich geoffenbart hat und ewig verbürgt. Über lassen wir die Erwägung, wie weit in der modernen Theologie das „sitzend zur Rechten Gottes" als Heilstatsache gilt! Wodurch bei Kautzsch die Heilstat Gottes an Jesus, die ihn leben machte in Ewigkeit, als Heilstatsache für uns zu stehen kommt, wurde vorhin schon angedeutet. Man sieht ihn zwar keine himmlische Sonderstellung Jesu anerkennen, sondern vielmehr sofort betonen, datz Jesus die Hoffnung auf ewiges Leben ebensowenig wie die Gotteskindschaft für sich allein in Anspruch genommen habe. Über diejenigen, für welche Jesus laut seiner Verheißungen mit hoffte, werden richtig bestimmt als „alle die, die sich ihm anschließen". Damit ist doch jene irdische Sonderstellung Jesu anerkannt, daß er als Führer den Seinen als Nachfolgern das ewige Leben verhieß, hätte er es nun nicht selbst durch Gottes Heilstat erhalten, so hätte Gott ihn und damit seine Verheißungen verleugnet. Statt dessen hat sich Gott zu ihm und damit zu seinen Verheißungen durch die Heilstat an ihm bekannt, die wir zu Dstern feiern. Ülso feiern wir auch zu Dstern als Heilstatsache den göttlichen Er­ weis Jesu als Bürgen des ewigen Lebens der Seinen. Worauf sich dieser modern-theologische Gsterglaube gründet, der die Heilstat an Jesus doch auch als Heilstatsache für uns umfaßt, spricht der Vortrag damit aus, daß er „jenen Lebens­ glauben am Bilde Jesu in uns sich entzünden" (S. 31) läßt und „den Lebensglauben und die Unsterblichkeitshoffnung als religiösen Kern der Gedanken Jesu mächtig aus allen seinen Worten hervorleuchten" ($. 30) sieht. Jesus und seine Worte des ewigen Lebens sollen uns also allen Lebensglauben ein­ flößen. „Die wundersamen Üuferstehungsberichte" nennt Kautzsch S. 31 „zweifelhafte Stützen". Bei ihrer Besprechung heißt es S. 28: „Dagegen weiß

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Paulus, wohlgemerkt der älteste Zeuge, in 1. Kot. 15 noch nichts vom leeren Grabe." Diese Ansicht gilt aber in der modernen Theologie nicht etwa als ein „gesichertes Ergebnis der wissenschaftlichen Forschung"?) Sehr sachverständig ist es, daß Kautzsch sich nicht verlocken läßt zur Herleitung des Glau­ bens der Jünger an die Auferstehung Jesu aus heidnischen Religionen vorderasiens. Man hat schon in einer Tageszeitung lesen müssen, der Semitist Völlers habe als Grundlage des Auferstehungsglaubens den Adoniskult nachgewiesen. Auch „Altmeister" Pfleiderer und Brückner empfahlen der Forschung diese Richtung?) und dieser vermied leider nicht „verfrühte"8*)* * Popularisierung des Problems in dem Religionsgeschichtlichen Volksbuch „Der sterbende und auferstehende Gottheiland in den orientalischen Religionen und ihr Verhältnis zum Christentum" (November 1908). Wenn Kautzsch etwa dies mitgemacht hätte, könnte man berichten, er habe seinen Standpunkt auf der äußersten Linken der religionsgeschichtlichen Schule genommen. Er benutzt vielmehr als Schlüssel für den Auferstehungsglauben der ältesten Christenheit die zweifellos echten (aber außer­ evangelischen, s. oben S. 16) Worte Jesu darüber, daß er nach seinem Tode leibhaftig wieder auf Erden erscheinen würde (S. 28/29). Diese Erwartung sei nicht eingetreten, habe aber Visionen einiger Jünger und Jüngerinnen Jesu bestimmt'(5.28). Wenn Kautzsch S. 30 klagt, daß „die kirchliche Dogmatik den Gedanken nicht preisgeben wolle, daß Jesus auch leib­ haftig wiedererweckt und in dieses Leben zurückgekehrt sei", so berechtigt ihn dazu, daß sie Legenden von der vollen Kör­ perlichkeit des Auferstandenen wie Luk. 24, 39 ff. nicht preis­ gibt. Daß Jesus selbst sein Wiedererscheinen auf (Erbest so 1) vgl. von Dobschütz, Ostern upb Pfingsten. Line Studie zu L Korinther 15. 1903, 7 ff. 2) vgl. Prot. Monatshefte X, 1906, 361 ff. 8) So urteilt h. Windisch (Lvangel. Freiheit 1909,2) und weiter: „Die Eigenart des christlichen Auferstehungsglaubens ist nicht gewür­ digt." - Religiöse Vorstellungen und Bräuche wie die von Völlers genannten mögen manche Gemüter zur Annahme des christlichen Auferstehungsglaubens prädisponiert haben. Aber an historischen Unfug streift die Behauptung, sie hätten ihn geschaffen. Ge­ schaffen hat ihn nur ein tiefstes religiöses Ligenerlebnis der Jünger, wie Paulus am unwiderleglichsten beweist, der seinen Glauben immer wieder dem Wunder seiner Bekehrung dankt.

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grobsinnlich gedacht habe, ist Kein „gesichertes Ergebnis der wissenschaftlichen Forschung". Vie moderne Theologie mutz nicht etwa schon deswegen in der Zukunstshoffnung Jesu alles Messianische als vergängliche Schale des unvergänglichen Evan­ gelischen verwerfen, weil es durch und durch so abergläubisch sei, wie einige Legenden vom Auferstandenen. Die moderne Theologie streift natürlich manche allgemein antike und manche spezifisch jüdische Vorstellung als vergänglich von der Messias­ hoffnung Jesu ab, aber sie kann diese im wesentlichen als Evangelium gelten lassen. Ins Evangelium Jesu gehört mehr als „der Lebensglaube und die Unsterblichkeitshoffnung". Ich halte es für modern-theologisch, Jesus auf Grund seines zum Evangelium gehörigen Glaubens von sich selbst zu würdigen als den einzigen Sohn Gottes, der das Wesen dazu hatte, sein Stellvertreter in Gegenwart und Zukunft zu sein. Ich halte es aber auch für modern-theologisch, die Hoffnung Jesu im Evan­ gelium stehen zu lassen, datz Gott ihn nach seinem Tode als diesen seinen Sohn „Kräftiglich erweisen" (Röm. 1, 4) werde. Dieses Glauben und hoffen Jesu ist der eigentliche Grund des christlichen Glaubens an die Gstertat Gottes. Schon der urchristliche Glaube an sie erklärt sich in der Tat nicht ohne den Glauben der Jünger an das, was ihr Meister hatte sein und werden wollen. Der Gsterglaube des Paulus erklärt sich auch nicht nur aus seinem Schauen (1. Kor. 9, 1. 15, 8), son­ dern auch aus jener Offenbarung „in ihm" (Gal. 1, 16), die seinen Jesushaß zum Glauben umschuf, der das Schauen mit bedingte. Sein Jesushatz entsprang nicht zUm wenigsten aus dem ihm natürlich wohlbekannten Messiasbekenntnis Jesu vor dem Hohenpriester: zumeist daran wurde Paulus gläubig ge­ macht. Und was unsern eigenen Glauben an die Auferstehung Jesu Christi von den Toten anbetrifst, ruht er auf den.Auf­ erstehungsgeschichten etwa mehr als darauf, datz uns der irdische Jesus durch all seine Herrlichkeit seines eigenen Glaubens an feine Erhöhung teilhaftig gemacht hat? Wer überwältigt von jener an diese glaubt, wundert sich nicht, daß „Wundersames" davon berichtet wird. Vie Verwirklichung des „Lebensglaubens und der Unsterblichkeitshdffnung" Jesu, an die Kautzsch glaubt, ist ja auch ein wunder. Er steht nicht grundsätzlich auf dem profanhistorischen Standpunkt, wo man die theologische Hypo­ these ablehnen mutz, datz jene Visionen nicht ohne besonderes

46 Mitwirken Gottes abgelaufen sind. Und bedurfte Gott zu jenem „kräftiglichen Erweis" des leeren Grabes - ich halte z. B. trotz der Erhaltungsgesetze die Annahme Seiner Macht, Masie zu vernichten, für keinen Skandal angesichts der „ge­ sicherten Ergebnisie der wissenschaftlichen Forschung". Einen solchen Skandal, womit man, um mit Üautzsch S. 30 zu reden, „manchem frommen Christen... einen unüberwindlichen Stein des Anstoßes bereitet", sehe ich dagegen darin, wenn man uns modernen Christen zumuten will, Auferstehungslegenden wie jene bei Lukas in dem' massiven Sinne, wie sie gemeint sind, für wahr zu halten. Gölte dieser Sinn als der allein maß­ gebende im kirchlichen Dogma von der leiblichen Auferstehung Jesu, so müßte man es in dieser Beziehung ablehnen, sogar wenn bewiesen wäre, daß es in dieser Beziehung mit dem Evangelium Jesu übereinstimme. Denn wir wären nicht an das darin auf die väseinsweise der himmlischen und der zu­ künftigen Dinge Bezügliche gebunden, wie es bedingt ist durch die Irrtümer der antiken Welterkenntnis. Aber wissenschaft­ lich wahrscheinlicher ist, daß jene Massivität nicht nur ein Ab­ weg von Paulus ist, sondern auch vom Evangelium Jesu. Je nachdem wie der moderne Cheologe über die Verbindung jener Massivität mit dem kirchlichen Dogma einerseits, mit dem Evan­ gelium anderseits denkt, behauptet er, das Dogma von der leiblichen Auferstehung Jesu, so wie die Mrche es lehrt, sei ein Abweg, oder: kein Abweg vom Evangelium Jesu. Aber sofern jemandem das Dogma Größeres als unserm Vortragenden auf­ rechterhält, nämlich den Messtaserweis — mir z. B. den Erweis Jesu als des einzigen Stellvertretersohnes Gottes — ist es meiner Meinung nach kein Abweg vom echten Evangelium Jesu.

Man muß eben, wie wir oben S. 7 getan haben, sehr vorsichtig mit einem „größerenteils" reden, wenn es sich darum handelt, ob jene drei Dogmen, so wie die Kirche sie lehrt, ein Abweg vom Evangelium seien oder nicht. Beim Versöh­ nungsdogma ist die Antwort deshalb etwas unsicher, weil es unsicher ist, was Jesus vom Heizwert seines Todes geglaubt

hat (vgl. oben S. 30). Ich meinerseits halte das Dogma, daß Christus uns mit Strafleiden von der Strafgerechtigkeit Gottes

47 erlöst habe,*) für ganz unevangelisch. Über die Dogmen von der wahrhaftigen Gottheit Christi und von seiner vaterlosen Geburt wiederhole ich, daß der Weg von ihren Anknüpfungs­ punkten im Evangelium bis zu ihrem wahren geschichtlichen Sinn ein Abweg vom echten Evangelium Jesu ist. Aber es ist unrichtig, wie ich gezeigt zu haben glaube, Evangelium und „Heilstatsachen" auseinander zu reißen. Denn wir fanden bei Rautzsch?) selbst folgende Heilstatsachen: Jesu Gotteserlebnis (vgl. oben S. 28), sein versöhnliches Wirken (vgl. besonders oben S. 27) und sein vorangehen ins ewige Leben (S. 43). Die Theologie dieser Heilstatsachen hat dem Religionsunterricht die Aufgabe zu stellen, das Rind zu Jesus zu führen, unserm „Versöhner im besten Sinne", der Gott als die Liebe „am mächtigsten" erlebt hat und in „ewiger, unge­ trübter Gemeinschaft mit seinem Gott" lebt. Wenn diese Theo­ logie nicht einmal von diesen ihren Heilstatsachen behaupten sollte, daß sie „wirklich den Kernpunkt des Evangeliums Jesu ausmachen", so befände ich mich damit in Übereinstimmung. Denn auch ich wage nicht einmal von denjenigen Heilstatsachen, welche nach meiner Überzeugung auf Grund des Evangeliums an die Stelle der echt kirchlichen zu rücken sind, zu behaupten, daß sie das Allerheiligste des Evangeliums sind. Zwar ge­ hört nicht der Vater allein, sondern auch der Sohn in das Evangelium hinein, wie es Jesus verkündigt hat. Er steht auch meiner Ansicht nach nicht „nur im Hintergründe". Aber der Stellvertretersohn, durch den allein man zum Vater kommt, ist doch nicht der Vater selber: nur die Runde vom Vater ist *) Wie sich dazu der echte geschichtliche Sinn von Luthers Er­ klärung des zweiten Artikels verhält, darüber vgl. Theodosius harnack, Luthers Theologie II, 1886, § 48. 52. 55. a) Ihm erlaube ich mir zum Abschied etwas von „Altmeister" Jülicher (Paulus und Jesus. 1907, 68) ins Stammbuch zu schreiben: „In der Persönlichkeit des Erlösers treffen ja die Theologie der Tat­ sachen, deren erster großer Vertreter Paulus ist, und die Frömmigkeit des von Gott geläuterten Gewissens, für die Jesus auf den Plan ge­ treten war, friedlich zusammen. Was moderne Menschen als Ent­ artung empfanden, hat die gesamte alte Rirche als heilsame Entwick­ lung begrüßt: insofern mit Recht, als die Lhristustheologie um Jesu willen erdacht worden ist und wahrlich nicht um Jesus zu stürzen. Es ist ein schwerer Fehler, wenn wir nur auf den Gegensatz achten und nicht auf das vereinende, nur auf die neuen Schläuche und nicht auf den alten Wein."

48 allerheiligstes Evangelium. Eher im Vordergründe seines Evangeliums verkündigt Jesus sich als Erlöser und sein gegen­ wärtiges und zukünftiges Werk als Erlösungswerk; als Heils­ tatsachen stellt er sich und sein werk vornan. Aber er ver­ kündigt sich nicht als den letzten Grund und als das letzte Ziel der Erlösung, sondern gibt als abhängiges Mittel zum Zweck allein Gott in der höhe die Ehre des höchsten Gutes. Das, was er vom himmlischen Vater künden darf, der selbst es ihm allein geoffenbart hat, das gilt ihm höher als das, womit er sich selbst beschreibt: die Barmherzigkeit des Herrn Himmels und der Erde ist ihm noch etwas Seligeres als seine eigene Sanftmut. 3m Allerheiligsten des Evangeliums stehen nicht die Heilstatsachen, sondern der Heilsgott. Aber nur durch den Heiland hindurch beten wir 3hn an.