Umbrosa lux: Obscuritas in der lateinischen Epistolographie der Spätantike 3515109897, 9783515109895

Die Spätantike ist eine Epoche vielgestaltiger Umbrüche und Neuansätze. Diese lassen sich in der Literatur in gleicher W

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German Pages 350 [352] Year 2015

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INHALT
VORWORT
I. EINFÜHRUNG
1. ZU TITEL UND THEMA
2. OBSCURITAS – BEGRIFF UND KONZEPTION
3. METHODOLOGISCHE GRUNDLEGUNG: ZUR LITERARIZITÄT SPÄTANTIKER PRIVATBRIEFE
3.1. Vorbemerkungen
3.2. Einführung: (Un-)Erwünschte Einsichtnahmen in einen Brief: Sulp. Sev. epist. 3
3.3. Das Grundproblem: Der Brief im Spannungsfeld zwischen Gebrauchstext und Literatur
3.4. Fallbeispiel: Der Privatbrief zwischen literarischem Produkt und historischem Dokument
3.5. Lösungsansatz: Entwurf eines deskriptiv-phasenorientierten Briefmodells
4. DISPOSITION
II. DUNKLER BRIEFSTIL – EINE EXEMPLARISCHE ANALYSE
Beispiel 1: Ennod. epist. 3,10,1
Beispiel 2: Sidon. epist. 5,17,7
Beispiel 3: Avit. epist. 56 ed. Peiper, 85
III. OBSCURITAS IN DER LITERARISCHEN KULTUR DER SPÄTANTIKE
1. SCIENTIA LITTERARUM: SPÄTANTIKE BILDUNGSKULTUR UND BILDUNGSSPRACHE (4.–6. JH. N. CHR.)
2. OBSCURITAS ALS PRODUKTIONS- UND REZEPTIONSPHÄNOMEN IN KAISERZEIT UND SPÄTANTIKE
2.1. Verständlichkeit als Wirkungsziel: Obscuritas und Perspicuitas bei Quintilian und in der rhetorischen Doktrin der Spätantike
2.2. Die Kunst des erudite intellegere: Obscuritas in spätantiker Schultradition und Bildungskultur
2.3. Augustinus und die christliche Perspektive
IV. OBSCURITAS ALS STILMERKMAL UND LITERARISCHE STRATEGIE: DUNKLE BRIEFKUNST ZWISCHEN GELEHRTEM SPIEL ESOTERISCHER VERKLÄRUNG UND POLITISCHER NOTWENDIGKEIT
1. LITTERAE LITTERATAE – DER BRIEF ALS KUNSTFORM IN DER SPÄTANTIKEN BILDUNGSKULTUR
1.1. Cassiodors Variae und die Prävalenz des sermo cultus in der spätantiken Briefkultur
1.2. Der Brief als Medium der Performance: Literarische Kommunikation zwischen Freundschaftskult und Selbstdarstellung
2. KODIERTE KOMMUNIKATION: DUNKLER BRIEFSTIL UND ELITÄRER SPRACHCODE IN DER SPÄTANTIKE
2.1. Affectata obscuritas: Artistische Verdunkelung zwischen Stilideal, ästhetischem Reiz und intellektuellem Spiel
2.2. Obscura disertitudo – Obscuritas als Distinktionsmerkmal der Bildungselite
2.3. Obscure scribam, tu tamen intelleges – Kryptographie und politische Chiffrierung in spätantiken Briefen
V. FAZIT
VI. LITERATURVERZEICHNIS
VII. STELLENREGISTER
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 3515109897, 9783515109895

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Raphael Schwitter

Umbrosa lux Obscuritas in der lateinischen Epistolographie der Spätantike

107 Klassische Philologie Franz Steiner Verlag

HERMES – Einzelschriften 107

Raphael Schwitter Umbrosa lux

H E RME S zeitschr if t f ü r klas si sch e p h i lo lo gi e Einzelschriften

Herausgeber: Prof. Dr. Jan-Wilhelm Beck, Universität Regensburg, Institut für Klassische Philologie, Universitätsstr. 31, 93053 Regensburg (verantwortlich für Latinistik) Prof. Dr. Karl-Joachim Hölkeskamp, Universität zu Köln, Historisches Institut – Alte Geschichte, 50923 Köln (verantwortlich für Alte Geschichte) Prof. Dr. Martin Hose, Ludwig-Maximilians-Universität München, Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften, Griechische und Lateinische Philologie, Schellingstr. 3 (VG), 80799 München (verantwortlich für Gräzistik)

Band 107

Raphael Schwitter

Umbrosa lux Obscuritas in der lateinischen Epistolographie der Spätantike

Franz Steiner Verlag

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2013 auf Antrag von Prof. Dr. Ulrich Eigler und Prof. Dr. Carmen Cardelle de Hartmann als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Satz: abavo GmbH, Buchloe Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10989-5 (Print) ISBN 978-3-515-10992-5 (E-Book)

INHALT VORWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I.

EINFÜHRUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1. Zu Titel und Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2. Obscuritas – Begriff und Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3. Methodologische Grundlegung: Zur Literarizität spätantiker Privatbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3.1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3.2. Einführung: (Un-)Erwünschte Einsichtnahmen in einen Brief: Sulp. Sev. epist. 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3.3. Das Grundproblem: Der Brief im Spannungsfeld zwischen Gebrauchstext und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3.4. Fallbeispiel: Der Privatbrief zwischen literarischem Produkt und historischem Dokument. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3.5. Lösungsansatz: Entwurf eines deskriptiv-phasenorientierten Briefmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 4. Disposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

II. DUNKLER BRIEFSTIL – EINE EXEMPLARISCHE ANALYSE . 67 Beispiel 1: Ennod. epist. 3,10,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Beispiel 2: Sidon. epist. 5,17,7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Beispiel 3: Avit. epist. 56 ed. Peiper, 85 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 III. OBSCURITAS IN DER LITERARISCHEN KULTUR DER SPÄTANTIKE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 1. Scientia litterarum: Spätantike Bildungskultur und Bildungssprache (4.–6. Jh. n. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 2. Obscuritas als Produktions- und Rezeptionsphänomen in Kaiserzeit und Spätantike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2.1. Verständlichkeit als Wirkungsziel: Obscuritas und Perspicuitas bei Quintilian und in der rhetorischen Doktrin der Spätantike . . 93 2.2. Die Kunst des erudite intellegere: Obscuritas in spätantiker Schultradition und Bildungskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2.3. Augustinus und die christliche Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . 116 IV. OBSCURITAS ALS STILMERKMAL UND LITERARISCHE STRATEGIE: DUNKLE BRIEFKUNST ZWISCHEN GELEHRTEM SPIEL, ESOTERISCHER VERKLÄRUNG UND POLITISCHER NOTWENDIGKEIT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

Inhaltsverzeichnis

1. Litterae litteratae – Der Brief als Kunstform in der spätantiken Bildungskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 1.1. Cassiodors Variae und die Prävalenz des sermo cultus in der spätantiken Briefkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 1.2. Der Brief als Medium der Performance: Literarische Kommunikation zwischen Freundschaftskult und Selbstdarstellung. . . 132 1.2.1. Ego tibi parens et amicus: Auson. epist. 12 ed. Green an Symmachus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 1.2.2. Sermo viri mentis est speculum: Paul. Nol. epist. 4 an Augustinus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2. Kodierte Kommunikation: Dunkler Briefstil und elitärer Sprachcode in der Spätantike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 2.1. Affectata obscuritas: Artistische Verdunkelung zwischen Stilideal, ästhetischem Reiz und intellektuellem Spiel . . . . . . . 140 2.1.1. Elocutio artifex: Stilideal und Ornament in der spätantiken Epistolographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 a. Detail, Miniatur und Fragment: Zur Ästhetik der Kleinform . . . . 141 b. Obscuritas als Artefakt: Spätantiker Briefstil zwischen Kunst und Künstlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148

2.1.2. Licht-Blicke: Ästhetik der Illumination . . . . . . . . . . . . . . . 155 a. Licht und Glanz in der ästhetischen Wahrnehmung der Zeit . . . . 155 b. Exkurs: Zur religiösen Symbolik von Licht und Dunkel in der Spätantike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 c. Lichtführung und Schattenwurf: Zur Artistik der Verdunkelung . . . . . . 173 d. Das Auge des Lesers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

2.1.3. Im Irrgarten der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 a. Rätselbriefe im Dienste der Freundschaft: Auson. epist. 14 ed. Green an Theon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 b. Das Otium als Raum dunkler (Brief-)Konversation . . . . . . . . . . . 192 c. Rätselpoesie und labyrinthische Prosa: Literarische Grenzerfahrung als gelehrtes Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 c.1. Rätselpoesie als Gattungstyp: Technopaignion und Carmen figuratum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 c.2. Techniken spielerischer Verrätselung: Dunkle Anspielung, Intertext und Periphrase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

2.2. Obscura disertitudo – Obscuritas als Distinktionsmerkmal der Bildungselite. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 2.2.1. Dunkler Briefstil und kommunikative Macht: Amm. 15,5 und Eugipp. epist. ad Pasch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 2.2.2. Distinktion und Privileg – Obscuritas als soziolinguale Strategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 2.2.3. Indicium nobilitatis – Sidonius Apollinaris’ Narrativ des literarischen Verfalls und die politisch-ideologische Dimension von Obscuritas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228

Inhaltsverzeichnis

2.3. Obscure scribam, tu tamen intelleges – Kryptographie und politische Chiffrierung in spätantiken Briefen . . . . . . . . . . . . . . 237 2.3.1. Αἰνίττεσθαι als politische Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . 237 2.3.2. Non licet, anne pudet? Verbotene Korrespondenz inter amicos: Auson. epist. 21/22 ed. Green an Paulinus von Nola . . . 240 2.3.3. Kryptographie von Nachrichten und der postalische Hintergrund in Antike und Spätantike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 a. Funktionsweise und Sicherheit des Nachrichtentransfers . . . . . . . 245 b. Ἐν αἰνιγμοῖς: Zu den Methoden antiker Brief- und Inhaltssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

2.3.4. Si licet, scribite! – Krieg, Politik und dunkles Schreiben in den Korrespondenzen gallischer Bischöfe (450–510 n. Chr.) . . .257 a. Hoc solum tamen libere gemo – Sidonius Apollinaris und der Kampf um die Auvergne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a.1. Vorbemerkungen: Zur Mehrstimmigkeit der politischen Briefe . . . a.2. Exemplarische Fallstudie: Sidon. epist. 7,6 / epist. 8,9 / epist. 9,3 . . . b. Kodierte Kommunikation im Reich der Burgunder – Im Dialog mit Avitus von Vienne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Das Briefkorpus des Ruricius von Limoges – Bischöfliche Alltagskorrespondenz zwischen rhetorischer claritas und politischer Aphasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

259 259 267 280

288

V. FAZIT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 VI. LITERATURVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 VII. STELLENREGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

VORWORT Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die geringfügig überarbeitete Fassung meiner im Herbstsemester 2013 von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich als Promotionsleistung angenommenen Dissertation. Der erste und wichtigste Dank gebührt meinem Doktorvater Prof. Dr. Ulrich Eigler, der mir über die Jahre hinweg sowohl in wissenschaftlicher wie auch in menschlicher Hinsicht so vieles beigebracht und vermittelt hat. Frau Prof. Dr. Carmen Cardelle de Hartmann möchte ich für die Übernahme des Zweitgutachtens und ihre nützlichen Hinweise und Impulse herzlich danken. Für die kritische Durchsicht des vollendeten Manuskripts und hilfreiche Anmerkungen zu Dank verpflichtet bin ich auch Frau Prof. Dr. Henriette Harich-Schwarzbauer. Danken möchte ich ausserdem den Herausgebern der „Hermes-Einzelschriften“ Prof. Dr. Jan-Wilhelm Beck, Prof. Dr. KarlJoachim Hölkeskamp und Prof. Dr. Martin Hose für die Aufnahme der Arbeit in ihre Reihe sowie dem „Fonds für Altertumswissenschaft, Zürich“ für einen grosszügigen finanziellen Beitrag zum Kauf der vorgeschriebenen Pflichtexemplare. Ohne fremde Hilfe wäre diese Arbeit in der vorliegenden Form nicht zustande gekommen. Dank gebührt hier vor allem Mirjam Reich, die die gesamte Arbeit sorgfältig lektoriert und vor vielen Fehlern bewahrt hat, sowie Rebecca Schmalholz, die in der Frühphase die Korrektur zahlreicher Kapitel übernommen und mich auf so manchen stilistischen Missgriff hingewiesen hat. Ferner möchte ich meinen Freunden und Kollegen vom Klassisch-Philologischen Seminar der Universität Zürich für wertvolle Verbesserungsvorschläge und Denkanstösse danken, die sie mir im Laufe vieler Gespräche gegeben haben: Nicola Schmid-Dümmler, Cornelia Ritter-Schmalz und Dr. Fabian Zogg. Dr. Rudolf Pokorny (MGH) hat geistreiche Übersetzungsvorschläge beigesteuert. PD Dr. Virgilio Masciadri, dessen inspirierende Lehre und wohlwollende Kritik mich über meine Studienzeit begleitet und gefördert haben, wurde es durch Krankheit und frühzeitigen Tod leider verwehrt, die Entwicklung und Fertigstellung des Manuskripts zu erleben. Seiner Freundschaft soll an dieser Stelle gedacht sein. Meine Frau Rahel Reich Schwitter hat mit kritischem Auge die deutschen Übersetzungen durchgesehen, die bisweilen noch unverständlicher waren als ihre lateinischen Vorlagen. Ihr danke ich darüber hinaus für ihre konstante Unterstützung, wertvolle Ratschläge und viele hilfreiche Anregungen. Meine kleine Tochter Salome hat die Entstehung und Vollendung dieser Arbeit begleitet und stets unermüdlich dafür gesorgt, dass ich mich an die wichtigen Dinge des Lebens erinnerte. Ihnen beiden sei diese Arbeit gewidmet. Zürich/München, im September 2014

Raphael Schwitter

I. EINFÜHRUNG 1. ZU TITEL UND THEMA σκότῳ φάος ἀντίμοιρον (Aischylos, Agamemnon, 319)

Kommunikation ist auf Verständlichkeit ausgelegt. Dies gilt für einen Briefverkehr wie für jede andere Form einer sozialen Handlung, die eine zwischenmenschliche Verständigung anstrebt. In diesem Modell wird jegliche Obstruktion des Interaktionsprozesses zu einem potentiellen Störfaktor, wenn dadurch die pragmatische Ausrichtung der Kommunikation selbst behindert wird. Mit „Obscuritas“ ist ein derartiger innersprachlicher Störfaktor zu benennen. Dunkelheit ist der menschlichen Sprache durch ihre Funktionsund Wirkungsweisen inhärent und kann intentionale oder unbewusste Formen annehmen. Ihr Auftreten ist daher grundsätzlich überzeitlich und ubiquitär, doch lassen sich in verschriftlichter Form hinsichtlich Intentionalitätsgrad und Erscheinungsbild epochenspezifische Schwerpunkte ausmachen. Im Folgenden soll mit der lateinischen Epistolographie der Spätantike ein solcher Brennpunkt intendierter Obscuritas definiert, phänomenologisch erfasst und begründet werden. Wenn in schriftlicher Korrespondenz eine sachorientierte Verständigung bewusst hintertrieben und sprachliche Deutlichkeit und inhaltliche Klarheit in Briefen durch ostentatives Verdunklungsstreben sabotiert wird, lohnt es sich nach den dahinter stehenden soziokulturellen Ursachen und Motiven sowie nach den leitenden literarästhetischen Grundlagen und Prinzipien zu fragen. Dunkler Stil ist zwar immer umstritten, bedarf aber besonders bei der Textsorte Brief einer eingehenden Analyse des literatursoziologischen Umfelds. Eine solche will diese Arbeit unter vergleichender Berücksichtigung anderer literarischer Gattungen der Zeit leisten, um die epistolare Dunkelsprache, wie sie sich in der lateinischen Spätantike herausgebildet hatte, in ihren mannigfachen Formen und Funktionen offenzulegen. Bei einer derartigen Untersuchung gilt es stets auch den Kontrast zu bedenken. Das Phänomen sprachlicher Verdunkelung steht in untrennbarer Verbindung mit Klarheit und Verständlichkeit, mit Perspicuitas. Auf das paradoxe Abhängigkeits- und Spannungsverhältnis zwischen Licht und Dunkel, dem die spätantike Literatur wirkungsästhetisch in vielfältiger Weise zu unterliegen scheint, referiert auch der Titel dieser Arbeit.1 Gerade Perspicuitas ist aus Sicht der antiken rhetorischen Doktrin für die Textsorte Brief unab1

Das Oxymoron umbrosa lux entstammt einem Gedicht des Paulinus von Nola: carm. 23,146. Vgl. dazu die Interpretation weiter unten: S. 172.

1. Zu Titel und Thema

11

dingbar.2 Eine Alltagskorrespondenz muss in erster Linie verständlich sein, wird sie doch von den Kommunikationspartnern primär auf Informationsgehalt und mögliche Handlungsziele hin gelesen. In der Appendix seiner Ars rhetorica hat der im 4. Jahrhundert tätige Rhetor Iulius Victor neben der Trainingstechnik (exercitatio) und der Konversation (sermocinatio) auch der Briefkunst (de epistolis) ein Kapitel gewidmet.3 Dort kommt er nach einleitenden Bemerkungen auf den für einen Brief angemessenen Stil zu sprechen: Lucem vero epistolis praefulgere oportet, nisi cum consulto clandestinae litterae fiant (…). ceterum, cum abscondito nihil opus est, cavenda obscuritas magis quam in oratione aut in sermocinando: potes enim parum plane loquentem rogare, ut id planius dicat, quod in absentium epistolis non datur. In Briefen muss das Licht [der Verständlichkeit] hervorleuchten, ausser man schreibt absichtlich vertrauliche Briefe (…). Doch wenn es keinen Grund für Heimlichkeiten gibt, muss Dunkelheit mehr als in einer Rede oder einem Gespräch vermieden werden: Man kann nämlich jemanden, der unklar spricht, bitten, sich deutlicher auszudrücken. Bei Briefen, deren Absender ja abwesend sind, ist diese Möglichkeit nicht gegeben. (Iul. Vict. rhet. ed. Giomini/Celentano, 105,24–31)

Mit der Licht-Metaphorik verdeutlicht Iulius Victor das Postulat sprachlicher Eindeutigkeit und inhaltlicher Klarheit. Einzige Ausnahme bilden Geheimbotschaften (litterae clandestinae), die durch einen vorgängig mit dem Partner ausgemachten Code verschlüsselt sein dürfen. Logisch begründet wird das Gebot sprachlicher Klarheit und Eindeutigkeit durch die spezifische Kommunikationssituation von Briefen, in der klärende Rückfragen nicht möglich sind.4 Auf dieses grundsätzliche Defizit des geschriebenen Worts hat bekanntlich Platon mit Blick auf verschriftlichte Reden hingewiesen, wo der Autor nicht helfend einschreiten kann, wenn diese gewollt oder ungewollt missverstanden werden.5 Bei der Textsorte Brief ist dieses Grundproblem aber gleichsam ein gattungskonstituierenden Faktor. Entsprechend thematisierte Isokrates die hermeneutischen Schwierigkeiten der Briefform, die sich für den Rezipienten aufgrund der zeitlichen und räumlichen Distanz zwischen Absender und Adressaten er2

3 4

5

Vgl. Exc. Rhet. ed. Halm, 589,12–13: observandum est illud in epistolis, primum ut sint dilucidae et breves et significantes und 20–21: quod ad elocutionem attinet, sermo esse debebit purus et simplex, interdum φιλολογίαν redolens aut figura aut apte interpositis sensibus vel poetarum vel historicorum. Die Stellen sind gesammelt bei Koskenniemi (1956) 27–28; Cugusi (1983) 36–37; Malherbe (1988) 13–14; Corbinelli (2008) 26. Vgl. dazu die Beschreibung von Celentano (1994). In der Tat verstärkt aus kommunikationstheoretischer Sicht die „beim Briefschreiben anzusetzende gleichzeitige Ausschaltung bzw. Reduzierung sowohl von unmittelbarem („spontanem“) feed back als auch von semantischer Redundanz (die beide im face-toface-Gespräch in der Tat eine grosse Rolle spielen) die Tendenz zu Missverständnissen geradezu notwendigerweise.“: Bürgel (1976) 288 Anm. 28. Zum „Redundanzschwund“ in persönlicher Briefsituation und den daraus resultierenden Verständnisschwierigkeiten für Dritte auch Thraede (1980) 194–197. Plat. Phaidr. 275. Vgl. dazu etwa Gadamer (1990) 396 f.

12

I. Einführung

gäben.6 Im Gegensatz zu einer mündlichen Rede oder einer Unterhaltung, für welche die rhetorische Theorie in bestimmten Situationen durchaus einen massvollen Einsatz verdunkelnder Techniken anrät,7 müsse, so Iulius Victor weiter, sprachliche Dunkelheit (obscuritas) in Briefen grundsätzlich vermieden werden. Der Einsatz von Techniken, die ein unmittelbares Verständnis obstruieren beziehungsweise den Text verfremden, wie etwa ungeläufige Sprichworte (proverbium ignotius), altertümliche Vokabeln (verbum cariosius) oder gesuchte Metaphern (figura putidior) seien als Kommunikationshindernisse anzusehen und daher zu unterlassen.8 Neben dieser textpragmatischen Begründung kann noch ein weiteres Argument für einen schlichten und verständlichen Briefstil ins Feld geführt werden. Aufgrund seiner quasi-dialogischen Form fungierte der Brief in der antiken Kommunikationskultur als Ersatz körperlichen Zusammenseins9 und galt als verschriftlichtes Gespräch.10 Verbindlicher stilistischer Orientierungspunkt war daher die Umgangssprache, der sermo cotidianus, beziehungsweise dessen diastratische Ausprägungen innerhalb der Bildungsgemeinschaft.11 Zwar ermöglicht der brieftypische zeitliche Phasenverzug im Vergleich zum mündlichen Gespräch prinzipiell eine sorgfältigere Ausgestaltung, doch forderte die rhetorische Theorie gleichwohl dazu auf, einen die Gesprächssituation abbildenden und dem Empfänger angepassten Unterhaltungston zu wählen. Demetrios verweist in seinen auf den Brief bezogenen Ausführungen über den Stil auf die Nähe zum literarischen Dialog, der gemäss Artemon, des Herausgebers der aristotelischen Korrespondenz, auch als stilistische Richtlinie für die Abfassung von Briefen gelten könne. Indes dürfe der Brief, so räumt Demetrios ein, da er grundsätzlich schriftlich und ein Geschenk für einen Freund sei, eine grössere stilistische Ausarbeitung aufweisen als der Dialog.12 Demetrios unterscheidet hier augenscheinlich zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und konzeptioneller Schriftlichkeit. Während sowohl Brief wie Dialog medial schriftlich sind, hält er die Fiktion einer konzeptionellen Mündlichkeit im Dialog für wichtiger als in einem Brief, bei dem die 6 7 8 9 10

11

12

Ironischerweise in einem Brief: Isocr. epist. 1,2–3. Zu Quintilians differenzierter Behandlung der Obscuritas vgl. ausführlich weiter unten: S. 93–103. Iul. Vict. rhet. ed. Giomini/Celentano, 105,31–32. Vgl. Exc. Rhet. ed. Halm, 589,22–23: verba simplicia, verum minime antiqua nec tamen vulgaria ac sordida. Vgl. Demetr. eloc. 223; Cic. fam. 12,30,1. Zum antiken Topos der Begegnung im Brief: Thraede (1970) 146–179. Cic. Att. 8,14,1; Quint. fr. 1,1,16: Sed ego quia, cum tua lego, te audire, et quia, cum ad te scribo, tecum loqui videor; Sen. epist. 75,1. Vgl. auch Quint. inst. 9,4,19: Est igitur ante omnia oratio alia vincta atque contexta, soluta alia, qualis in sermone et epistulis. Zu den kommunikationsstrukturellen Affinitäten zwischen einem mündlichen und einem schriftlich als Brief fixierten Redeakt vgl. Nickisch (1991) 9–11. Cic. fam. 9,21,1: epistulas cotidianis verbis texere solemus. Zum sermo cotidianus vgl. Cugusi (1983) 36–37, 45, 78 ff. Zu den Einflüssen der Umgangssprache in Ciceros Briefen vgl. von Albrecht (2003) 52 ff. Demetr. eloc. 223–224.

1. Zu Titel und Thema

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konzeptuelle Schriftlichkeit prinzipiell erkennbar sein dürfe.13 Auf der anderen Seite betont Iulius Victor zwar die Nähe zur öffentlichen Rede – die zwar medial mündlich, jedoch konzeptuell schriftlich ist – doch solle in Anbetracht der privaten Gesprächssituation übermässiger Sprachschmuck vermieden und der Brief im Ausdruck knapp und prägnant gestaltet sein.14 Von den Korrespondenzpartnern wird demzufolge erwartet, dass sie im brieflichem Kontakt die oralkommunikative Situation im Sinne eines sermo absentium vergegenwärtigen und dem Rollenbild, das diese den Partnern abverlangt, auch in natürlicher Weise entsprechen.15 Eine gewisse stilistische Elastizität ist dem Briefgenus damit inhärent.16 Diese Forderung bleibt eine Konstante in der mittelalterlichen und neuzeitlichen Brieftheorie. In der Unmittelbarkeit des Gesprächstons liegt letztlich „eine Fiktionalisierung vor, die die Schriftlichkeit des Äusserung und die raumzeitliche Trennung der Briefpartner vergessen machen will.“17 In dieser Hinsicht durchaus entscheidend ist die bis in die Neuzeit prägende Vorstellung des Briefs als Spiegel der Seele (εἰκὼν ψυχῆς),18 die eng mit dem Motiv der gegenseitigen Anwesenheit verbunden ist.19 Neben der Offenlegung des „innersten Wesens des Menschen“20 kommt es dem Brief zu, die Spontaneität und Ungezwungenheit einer freundschaftlichen Konversation abzubilden, als deren Grundtenor die φιλοφρόνησις, ein freundlich-familiärer Umgangston, angesehen wird.21 Die Nähe zum Gespräch betont Iulius Victor mehrfach.22 Mit Verweis auf Cicero empfiehlt er daher die Verwendung einzelner metakommunikativer Kolloquialismen zur Verdeutlichung der imaginierten Gesprächssituation: Lepidum est nonnumquam quasi praesentem alloqui, uti „heus tu“ et „quid ais“ et „video te deridere“: quod genus apud M. Tullium multa sunt.

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Der Briefwechsel der spätantiken Bildungselite ist, wie im Laufe dieser Arbeit noch zu erweisen sein wird, konzeptionell als hochgradig schriftlich anzusehen. Stellen zur Vorgabe einfachen Schreibens finden sich u. a. bei Cugusi (1983) 36 ff. Zur antiken Brieftheorie vgl. u. a. Peter (1901) 13–28; Koskenniemi (1956) 18–53; Thraede (1970) 17–27; Malherbe (1988); Conring (2001) 7–16; Poster (2007); Corbinelli (2008) 21–31. Zum Topos des sermo absentium (Ambr. epist. 1,1) vgl. Thraede (1970) 182 f.; Zelzer (1994–1995) 544. Dies ergibt sich anschaulich aus Exc. Rhet. ed. Halm, 589,12–15: Observandum est illud in epistolis, primum (…) tunc deinde ne aut nimium affectatae videantur aut levi cura compositae, sive erga eum ad quem scribuntur, sive erga rem de qua mittuntur. Müller (1994) 61. Demetr. eloc. 227. Zum Topos des Spiegels der Seele vgl. allgem. Müller (1980). Thraede (1970) 158; Müller (1980) 140–141. Müller (1980) 141. Demetr. eloc. 231. Iul. Vict. rhet. ed. Giomini/Celentano, 105,10: Epistolis conveniunt multa eorum, quae de sermone praecepta sunt.

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I. Einführung Es ist anmutig, den Briefpartner bisweilen so anzusprechen, als wäre er gegenwärtig, wie etwa „höre mal!“ und „wie meinst du?“ und „ich sehe, du lachst“; solche Ausdrücke finden sich bei Marcus Tullius sehr häufig. (Iul. Vict. rhet. ed. Giomini/Celentano, 106,16–18)

Insbesondere in Privatbriefen, in den amicorum colloquia absentium (Cic. Phil. 2,4,7), spiegelt sich in der Wahl eines nähesprachlichen Registers zugleich auch die freundschaftliche Verbundenheit der Korrespondenten.23 Die von Iulius Victor Ende des 4. Jahrhunderts bekräftigte Doktrin eines schlichten und verständlichen Briefstils steht in deutlichem Kontrast zum elaborierten Sprachstil der zeitgenössischen Epistolographie, die „oft bis zur völligen Unverständlichkeit verzerrt“ war.24 Statt der Perspicuitas stand die bewusste Verdunkelung des Inhalts im Zentrum stilästhetischer Bestrebungen: „L’obscurissement de la langue est au cœur de la recherche stylistique des correspondances tardoantiques.“25 Im Gegensatz zum schlichten Briefstil Ciceros und im Widerspruch zu den kohärenten Vorgaben der Rhetorik ist die Sprache herausragender lateinischer Epistolographen des 4., 5. und 6. Jahrhunderts durch eine augenscheinliche Überformalisierung gekennzeichnet.26 Autoren wie Sidonius Apollinaris (430/31–480/90 n. Chr.), Alcimus Ecdicius Avitus (Bf. von Vienne 494–518 n. Chr.) oder Magnus Felix Ennodius (473/74–521 n. Chr.) scheinen sich in ihren Briefen luzider Verständlichkeit bewusst verweigert zu haben. Die in den umfangreichen Korrespondenzen erhaltenen Antwortschreiben ihrer Briefpartner weisen in dieselbe Richtung. Wenn sich der vir illustrissimus Heraclius in einem Brief an Avitus gegen den Vorwurf der Feigheit bei der Belagerung von Vienne verwahrt, so tut er dies in gezierter Ausdrucksweise: Ego urbis caveas dedignatus inter vicina discrimini constantiam pectoris planis exposui, ut tamdiu ad patentium locorum aequora pervenirem, ut virtutis audaciam libertate habitationis ostenderem. Da mir die enge Umfriedung der Stadt zuwider war, habe ich die Standhaftigkeit meiner Entschlusskraft im nahen Umland auf offenem Gelände der Gefahr ausgesetzt, um mich solange in die Weiten offenliegender [d. h. unbefestigter] Orte zu begeben, bis ich die Kühnheit meiner Tugend in der freien Wahl meiner Wohnstatt unter Beweis stellen konnte. (Avit. epist. 96 ed. Peiper, 103,1–3)

Der hochtrabende Ton und die sorgsame Stilisierung der zitierten Passage sind innerhalb einer rein privaten Konversation auffällig, entsprechen aber 23 24 25 26

Vgl. Cugusi (1983) 45. Wie sich dies stilistisch niederschlug, zeigt etwa von Albrecht (2003) 61–62. Norden (1918) 639. Gioanni (2006) CXXVIII. van Waarden (2010) 63–66 spricht von einer „formalized prose“. Zur hochkonventionalisierten Sprachform der spätantiken Epistolographie („rhetoric of epistolography“) auch Ebbeler (2009) 272 f.

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durchaus einem gängigen Usus der zeitgenössischen Bildungskultur. Avitus selbst schreibt in eigensinniger, rhetorisch überformter Prosa, deren an der lex artis (epist. 57 ed. Peiper, 86,15) der Bildungsgemeinschaft orientierte dunkel-insinuierende Sprache manchen modernen Interpreten gelegentlich an den Rand der Verzweiflung führte.27 In eine ähnliche Richtung weist auch der Briefstil des Ennodius von Pavia, der nach dem bekannten Urteil Arnulfs von Lisieux eher Innodius („verknotet“) als Ennodius genannt zu werden verdiente.28 Die allegorische Inszenierung des Adressaten als kundigen Seefahrer, der die Klippen der Rhetorik geschickt zu umfahren weiss, liest sich zu Beginn der Briefsammlung wie eine Lektüreanleitung an künftige Leser:29 Dum salum quaeris verbis in statione conpositis et incerta liquentis elementi placida oratione describis, dum sermonum cymbam inter loquellae scopulos rector diligens frenas et cursum artificem fabricatus trutinator expendis, pelagus oculis meis quod aquarum simulabas eloquii demonstrasti. Wenn du das Meer mit Worten befahren willst, die im Hafen entworfen wurden, und mit gefälliger Rede die unsichere Fahrt auf dem flüssigen Element beschreibst, wenn du als Steuermann das Boot deiner Rede mit Umsicht um die Klippen der Rhetorik lenkst und dabei in geschulter Abwägung einen geschickten Kurs einschlägst, dann hast du meinen Augen nicht die echte See, wie du vorgibst, sondern das Meer deiner Eloquenz vorgeführt. (Ennod. epist. 1,1,1)

Das dahinter stehende ästhetische Prinzip der inhaltlichen Verschleierung durch die Macht der Sprache verdeutlicht Ennodius auf ähnlich programmatische Weise in einem Brief an Avienus: Der Leser müsse kraft seines Intellekts den Nebel der Rhetorik lüften und sich seinen Weg zum Verständnis durch das Dickicht der Worte mit der Sichel freischlagen: Scindit nubes eloquii mens dictationis interpres, cito ad intellectum pervenit falcibus suis verborum calle reserato. Der Verstand durchtrennt den Nebel der Beredsamkeit und erklärt den Text; schnell kommt er zur Einsicht, hat er einmal den Weg der Worte mit seiner Sichel freigeschlagen. (Ennod. epist. 3,31,2) 27

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Vgl. das Urteil der englischen Übersetzer: Shanzer/Wood (2002) 78: „One does not read Avitus’ letters; one deciphers them“ sowie Wood (1986) 74: „The reader is faced with a style which can reasonably be described as one of the most obscure in Latin literature.“ Zum Prosastil des Avitus vgl. Goelzer (1909) 692–726; Burckhardt (1938) 35–40; Shanzer/Wood (2002) 70–85, die 70–72 eine ansehnliche Reihe von Negativurteilen aus der älteren Forschung präsentieren. In seinen Dichtungen pflegte Avitus einen ähnlichen extravaganten Stil, vgl. etwa Hecquet-Noti (1999) 53–55. Arnulf. Sag. epist. 27 an Heinrich von Pisa. Vgl. Gioanni (2006) CXXIII: „(…) l’ample métaphore qui ouvre la Correspondance donne une clef pour pénétrer dans les épîtres, un fil d’Ariadne pour avancer dans cette esthétique qui n’est pas sans analogie avec celle du labyrinthe.“ Das Briefkorpus wurde postum durch einen Redaktor zusammengestellt. Gleichwohl dürfte dieser Brief nicht ohne Grund an den Beginn der Sammlung gestellt worden sein.

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I. Einführung

Ennodius hat seine Mitteilungen offensichtlich mittels einer rhetorischen Chiffre in der Weise verschlüsselt, dass sie sein Adressat (und jeder künftige Leser) nur mit entsprechendem Sachverstand und Scharfsinn aufzulösen vermag. Die kompetente Mitarbeit am Text wird für den Interpreten zur zwingenden Voraussetzung für den Erfolg. Diese Mystifizierung der Sprache beschränkte die briefliche Kommunikation damit dezidiert auf einen kleinen Kreis von Eingeweihten. Dieses Verdunklungsstreben scheint auch eine Generation früher bei Sidonius Apollinaris eine literarische Strategie dargestellt zu haben. Schon seinen Zeitgenossen galt der bekannte Literat als dunkel, die Nachwelt folgte diesem Urteil einhellig.30 Die Vorliebe für die artistische Verrätselung des sprachlichen Ausdrucks äussert sich bei Sidonius unter anderem in dunkler Metaphorik,31 gelehrten Anspielungen, kryptischen Periphrasen und lexikalischen Besonderheiten.32 Im Streben nach Neuem und Ungewohntem, nach einer „poetica dell’insolito“, wie Isabella Gualandri es genannt hat,33 vollführt Sidonius auf sprachlich-stilistischer Ebene also genau das, wovon Iulius Victor grundsätzlich abrät.34 Im Eröffnungsbrief der von ihm selbst schrittweise publizierten Briefsammlung nennt Sidonius zwar neben Symmachus auch die für Iulius Victor verbindlichen Stilmodelle Plinius und Cicero als Vorbilder: Diu praecipis (…), ut si quae mihi litterae paulo politiores varia occasione fluxerint (…), uno volumine includam, Quinti Symmachi rotunditatem, Gai Plinii disciplinam maturitatemque vestigiis praesumptuosis insecuturus. nam de Marco Tullio silere melius puto (…). Seit langem forderst du mich auf, (…) jene Briefe, die mir zu unterschiedlichen Anlässen (…) in etwas kunstvollerer Form aus der Hand geflossen sind, in einem Buch zusammenzustellen, um der abgerundeten Rede des Quintus Symmachus und der Gelehrsamkeit und Reife des Gaius Plinius mit dreisten Schritten zu folgen. Von Cicero nämlich schweige ich hier besser (…). (Sidon. epist. 1,1,1–2)

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Vgl. Ruric. epist. 2,26,11–13: Cuius lectio, sicut mihi antiquum restaurat affectum, ita prae obscuritate dictorum non accendit ingenium. Dies war durchaus als Kompliment gemeint. Zur Obscuritas als positivem Stilmerkmal vgl. allgem. weiter unten: S. 140–212. Z. B. Sidon. epist. 7,6,3 (über Sidonius’ Gewissen): cuius stercora tamen sub ope Christi quandoque mysticis orationum tuarum rastris eruderabuntur. Neuere Analysen des Sprachstils des Sidonius Apollinaris liefern Köhler (1995) 18–25; Amherdt (2001) 47–61; van Waarden (2010) 52–66 sowie mit Schwerpunkt auf die Poesie Condorelli (2008). Repräsentativ für die Negativurteile der älteren Forschung ist Loyen (1943). Gualandri (1979) 83. In dieselbe Richtung argumentierte bereits Loyen (1943) 152: „La préciosité de Sidoine, c’est-à-dire cet effort constant du mondain cultivé pour s’arracher au commun, est patente.“ Vgl. ferner Amherdt (2001) 47; van Waarden (2010) 63 f. oder auch Condorelli (2008), die den Aspekt der novitas von Sidonius’ Poetik hervorhebt. Ähnlich auch Quint. inst. 8,3,57: Corrupta oratio in verbis maxime inpropriis, redundantibus, compressione obscura, compositione fracta, vocum similium aut ambiguarum puerili captatione consistit.

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Der Einfluss dieser Vorläufer dürfte sich auf das literarische Genus, die Themenwahl und die strukturelle Gestaltung der Sammlung beschränkt haben, jedoch kaum auf den Sprachstil.35 Die Tendenz steigender Elaboriertheit der brieflichen Form scheint indes einer episto-literarischen Entwicklung zu entsprechen. Cicero, dessen postum veröffentlichte Briefe die lateinische Epistolographie wie auch die rhetorische Brieftheorie entscheidend prägten,36 blieb im Zuge der Literarisierung der Gattung hinsichtlich seines Sprachstils zunehmend isoliert. Seneca propagierte zwar gegenüber Lucilius einen sermo inlaboratus et facilis (epist. 75,1), um seinem Adressaten im Brief „ungekünstelt“ gegenwärtig zu sein,37 äusserte sich aber in hochstilisierter, elegant-urbaner Prosa.38 Ähnliches gilt für Plinius’ Sammlung „besonders sorgfältig geschriebener Briefe“ (epistulae curatius scriptae: epist. 1,1), für Fronto oder Symmachus.39 Letzterer empfahl seinem Sohn die Anwendung eines überlegten und sorgsam gefeilten Stils, der im Gegensatz zur Gerichtsrede aber den Eindruck scheinbarer Nachlässigkeit erwecken soll: Nam ut in vestitu hominum ceteroque vitae cultu loco ac tempori apta sumuntur, ita ingeniorum varietas in familiaribus scriptis neglegentiam quandam debet imitari, in forensibus vero quatere arma facundiae. Denn wie bei den Kleidern und in den übrigen Lebensumständen muss für den Ort und die Zeit das Passende ausgewählt werden. Eine vielfältige Begabung zeigt sich dann, wenn sie in privaten Schreiben auf eine gewisse Nachlässigkeit achtet, vor Gericht aber die ganze Wucht der Eloquenz ertönen lässt. (Symm. epist. 7,9)

Das Beispiel zeigt, dass trotz der gestiegenen Ansprüche an die sprachliche Form das von der rhetorischen Theorie verlangte Stilniveau auch im 4. Jahrhundert massgeblich blieb. Gerade die von Symmachus geforderte Erzeugung einer künstlichen neglegentia, die bereits bei Plinius erkennbar ist,40 verdeutlicht plakativ die Persistenz des genus humile im elaborierten Briefstil der Zeit.41 Dies gilt prinzipiell auch für Sidonius Apollinaris und Ennodius, 35

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Gualandri (1979) 80; Köhler (1995) 25. Zu Plinius’ literarischem Stellenwert und der Rezeption seiner Briefe in der Spätantike vgl. allgem. Gibson/Rees (2013), zu seiner Bedeutung für die Briefsammlung des Sidonius Apollinaris vgl. Gibson (2013a) und Gibson (2013b). Zum literarischen Stellenwert von Ciceros Oeuvre in der Spätantike vgl. allgem. MacCormack (2013). Cugusi (1998) 170 f. Sen. epist. 75,1: Minus tibi accuratas a me epistulas mitti quereris. quis enim accurate loquitur nisi qui vult putide loqui? qualis sermo meus esset si una desideremus aut ambularemus, inlaboratus et facilis, tales esse epistulas meas volo, quae nihil habent accersitum nec fictum. Zum Sprachstil der Briefe Senecas vgl. die schöne Analyse bei von Albrecht (1983) 138–151. Front. M. Caes. 4,3,3: Verum… magnum in ea re periculum est, ne minus apte aut parum dilucide aut non satis decore, ut a semidocto, conlocetur, namque multo satius est volgaribus et usitatis quam remotis et requisitis uti, si parum significet. Sherman-White (1966) 3: „Pliny’s simplicity is decidedly studied.“ Dem entspricht der Topos des Zufalls: z. B. Hier. epist. 85,1: quidquid in buccam venerit. Vorbild ist hier Cicero: Cic. Att. 1,12,4; Att. 7,10; Att. 12,1,2.

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I. Einführung

die beide eilfertig versichern, einfach zu schreiben und auch bewusst Kolloquialismen in ihre Briefe aufnehmen.42 Weder Sidonius’ litterae paulo politiores noch die artifex incuria (epist. 2,13,1) der Briefe des Ennodius dürften indes der rhetorischen Vorschrift des sermo purus et simplex nahe gekommen sein.43 Angesichts der offenkundigen Diskrepanzen zwischen den rhetorischen Vorgaben und der epistolaren Praxis spätantiker Autoren drängt sich die Frage nach den möglichen Deutungen dieses Phänomens auf. Welche Hintergründe, Motivationen und Formen besassen etwaige Verdunkelungsstrategien innerhalb brieflicher Kommunikation? Welche Funktionen können der Obscuritas – wie im Folgenden in Anlehnung an die antike rhetorische Theorie jede Form von textlichen Verdunkelung subsumativ genannt wird –44 in der Bildungskultur der Zeit zugewiesen werden? Für diese Fragestellungen werden im Folgenden in einer kurzen Tour de Force summarisch jene Lösungsansätze angesprochen, denen im weiteren Verlauf dieser Arbeit in systematischer Weise nachgegangen wird. Dieser heranführende Schritt erscheint notwendig, da einerseits zu der hier behandelten Thematik weder für die Epistolographie im Besonderen noch für die antike oder spätantike Literatur im Allgemeinen eine systematische Aufarbeitung vorliegt. Andererseits sind auch die sie bedingenden historischen und literatursoziologischen Kontexte erst ansatzweise aufgearbeitet, was auch im weiteren Verlauf dieser Arbeit immer wieder zu erläuternden Vorbemerkungen und Digressionen zwingt. Im Anschluss an diese erste Präsentation der Lösungsansätze werden nach einem Überblick über den dürftigen Forschungsstand die Methodik und weitere Zielsetzung dieser Untersuchung dargelegt und das ihr zugrundeliegende Textkorpus definiert. Als erster Erklärungsansatz kann ein literarästhetischer Aspekt in den Blick genommen werden.45 Die Prävalenz eines hoch formalisierten, rhetorisch ge42

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Vgl. Ennod. epist. 1,8; epist. 2,13,1: lex est in epistulis neglegentia et auctorem genii artifex se praebet incuria. Zu Ennodius’ Postulat einer „künstlichen Nachlässigkeit“ vgl. weiter unten: S. 130f. Weitere einschlägige Stellen liefert Norden (1918) 638. Häufige brieftypische Kolloquialismen sind rhetorische Zwischenfragen wie quorsum istaec? (Sidon. epist. 4,6,2) oder Interjektionen wie deus bone! (Sidon. epist. 4,1,2). Exc. Rhet. ed. Halm, 589,20–21. Unverständlich erscheint hier die Einschätzung von Kennell (2003) 126, die die Forderungen des Iulius Victor nach Klarheit bei Ennodius als durchaus erfüllt ansieht. Dagegen äusserte sich dezidiert Schröder (2007) 61 sowie 285. Vgl. Quint. inst. 8,2,14. Literarische Texte unterliegen grundsätzlich einer anderen rezeptiven Erwartungshaltung als „nichtliterarische“ Alltagstexte. So haben Untersuchungen der kognitiven Leseforschung gezeigt, dass Verständlichkeit kein primäres Kriterium für die Beurteilung literarischer Texte darstellt. Stattdessen wird ein gewisses Mass an Unbestimmtheit erwartet. Vgl. Groeben (1982) 152 ff. Dies entspricht dem Verfremdungseffekt, den schon Aristoteles für poetische Texte forderte: Arist. poet. 22.

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prägten Prunkstils im literarischen Schrifttum der lateinischen Spätantike ist ein vielbemerktes und von der älteren Forschung ebenso oft beklagtes Phänomen.46 Mit Blick auf die sprachliche Extravaganz der spätantiken Prosa kommt der Epistolographie besondere Bedeutung zu.47 Es kann in diesem Kontext kaum als Zufall gewertet werden, dass die bisher erwähnten obskurantistischen Autoren aus Gallien stammten oder zumindest dort ihre rhetorische Ausbildung erhalten haben.48 Gallien galt traditionell als Hort der Rhetorik.49 In Spätantike und Mittelalter sah man sprachliche Artistik und exaltierten rhetorischen Schmuck als vorrangiges Herkunftsmerkmal gallischer Autoren an.50 Während der Gallicanus coturnus (Hier. epist. 37,3,1) in der zeitgenössischen ästhetischen Wahrnehmung in der Regel positiv bewertet wurde, stiess er in der Neuzeit auf heftige Kritik. Edward Gibbons vernichtendes Urteil fand in der Klassischen Philologie rege Zustimmung.51 Im dekadenten Stil der Zeit sah man das kulturelle Analogon zum politisch-sozialen Niedergang der Römischen Welt. Im Zuge der Aufwertung der Spätantike als Epoche hat die klassisch-philologische Forschung seit den 1970er Jahren indes einen Perspektivenwechsel vollzogen und zunehmend die Bereitschaft gezeigt, bei der Beurteilung spätantiker Autoren nicht einseitig die Abweichung von den Normen der klassischen Epoche zu betonen.52 Für eine Neubewertung der spätantiken Kunstsprache hat sich mit Verweis auf die gewandelten ästhetischen Präferenzen der Zeit mit besonderem Nachdruck Mi46

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Vgl. allgem. Norden (1918) 586–656. Ausgewogener ist das Urteil von Fontaine (1977) 459, der in diesem Zusammenhang u. a. die „tendance à l’hermétisme“ als Merkmal spätantiker Kunstprosa bestimmte. Man hat versucht, den virtuosen und dezidiert „antiklassischen“ Stil dieser Autoren mittels einer Vielzahl antiker und moderner stiltheoretischer Termini zu fassen: Asianismus, Alexandrianismus, baroque, préciocité usw. Vgl. für einen Überblick Delhey (1993) 20 ff. Der aus der Kunstgeschichte stammende Begriff „Manierismus“ wird in der neueren Forschung unterschiedlich beurteilt. Während ihn etwa Consolino (1974) 426; Roberts (1989) 119–121 oder Amherdt (2001) 47 ff. verwenden, lehnt ihn van Waarden (2010) 61–62 ab. In der vorliegenden Arbeit wird auf eine Verwendung dieses Begriffs ebenfalls verzichtet. Auch die durchaus gelungene, neutrale Definition von Zymner (2001) 875 kann die pejorativen Konnotationen, die historisch mit diesem Begriff verbunden sind, letztlich nicht überwinden. Norden (1918) 639–640 deutete den spätantiken „Manierismus“ als spezifisch gallisches Phänomen. Zustimmend äusserten sich etwa Loyen (1943) 163 und Amherdt (2001) 48, während La Penna (1993) 3–4 eine geographische Zuweisung ablehnt. Vgl. Cato orig. frg. II,3 ed. Chassignet: pleraque Gallia duas res industriosissime persequitur, rem militarem et argute loqui. Vgl. Norden (1918) 632–642 und ergänzend Bruhn (1911) 46–49. „The poetical fame of Ausonius condemns the taste of his age.“: Gibbon (1900) 134 Anm. 1. Weitere negative Urteile sind zusammengestellt bei Kaufmann (1995) 64 Anm. 100. Umfangreiche sprachlich-stilistische Untersuchungen sind allesamt älteren Datums: Engelbrecht (1886); Kretschmann (1872); Dubois (1903); Goelzer (1909). Smolak (1985) 12–27; Neuere Arbeiten zu Sprache und Stil der spätantiken Epistolographie (bes. zu Sidonius) sind etwa Consolino (1974); Gualandri (1979); Haverling (1988); Banniard (1992b). Zentral und unverzichtbar sind die Arbeiten von Stéphane Gioanni: Gioanni (2004); Giaonni (2006) XCVI–CXXXIII; Gioanni (2009).

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chael Roberts sowie jüngst Marco Formisano oder Jesús Hernándes Lobato ausgesprochen.53 Roberts gelingt es, durch die Analyse bestimmter wiederkehrender Verbalstrukturen in der spätantiken Dichtung Rückschlüsse auf die immanente Poetik zu ziehen, die sich in ihren Grundzügen mit der Ästhetik der zeitgenössischen bildenden Künste deckt. Die Kompositionskunst der spätantiken Poesie, die im Gegensatz zur Augusteischen Literatur stärker auf die Hervorhebung der einzelnen Teile als auf das Ganze bedacht war, sieht er ebenso wie die Leptologie, der Technik detaillierter descriptio, als wesentliches Charakteristikum des spätantiken „Juwelenstils“ an.54 Diese Verfahrensweise verleiht den Texten grosse Ähnlichkeit mit einem Mosaik, bei dem die Teile neben dem Ganzen eigenständige Geltung besitzen.55 Kleinformen wie Briefgedicht, Epigramm oder Cento56 florierten und auch in Grossformen überwog häufig das Episodische.57 Auch in der zeitgenössischen Kunstprosa sind ähnliche Muster erkennbar. Hier manifestiert sich in gleicher Weise eine Ästhetik des Preziösen, die im Kleinen und im Extravaganten höchsten Gestaltungswillen entfaltete.58 In diesen Werken wurde für die Ausarbeitung stilistischer „Gemmen“, die dem Text auf der Mikroebene Glanz und Farbe verleihen,59 ein beträchtlicher Aufwand betrieben. Auch hier können bestimmte Texte aufgrund ihrer Partikularität mit einem Mosaik verglichen werden. Dadurch ergeben sich gattungsbezogen neue Interpretationsschemata: Gerade die zahlreichen in der Spätantike entstandenen Briefsammlungen müssen aus dieser Perspektive in neuem Licht erscheinen.60 In diesem Zusammenhang verliert auch der häufig erhobene Vorwurf der Oberflächlichkeit und Inhaltsleere, die sich nach gängiger Ansicht der Forschung hinter der floskelhaften Stilisierung spätantiker Briefe verbergen soll,61 in mehrfacher Hinsicht als Erklärungsparadigma an Bedeutung. Zwar 53 54 55

Roberts (1989); Formisano (2008); Hernández Lobato (2012). Roberts (1989) 55 ff. Auf die Analogie zwischen einem Mosaik und der Kompositionsweise der spätantiken Poesie wurde verschiedenlich hingewiesen. Vgl. Fontaine (1977) 440 und bes. Roberts (1989) 70 ff., der das Phänomen eingehend untersucht hat. 56 Schelke (1954) 972–973; Formisano/Sogno (2010). 57 Wittchow (2001); Roberts (1988) 181–195; Cameron (1970) 264 ff. Dies gilt auch für das Werk des Prudentius, vgl. etwa Ludwig (1977). 58 Vgl. dazu ausführlich weiter unten: S. 141–148. 59 Vgl. dazu weiter unten: S. 155–170. 60 Eine umfassende Studie zu den Formen und Funktionen spätantiker und frühmittelalterlicher Briefsammlungen ist weiterhin ein Forschungsdesiderat, vgl. aber Constable (1976); Wood (1993); Gillett (2012) 835–840; Gibson (2012); Allen/Neil (2013) 23–25. 61 Vgl. z.B. die Urteile über Ennodius bei Relihan (1993) 164 oder Zelzer (1997) 348: „Die 297 in gesuchter Sprache geschriebenen Briefe sind (…) ebenso inhaltsarm wie die Freundschaftsbriefe seines Vorbildes Symmachus.“ Ähnlich urteilt Fuhrmann (1998) 270: „Nichts wird in schlichten und eigentlichen Worten ausgedrückt; gestelzte Umschreibungen und blumige Metaphern täuschen eine Bedeutsamkeit und zugleich eine Vertracktheit vor, die durch die banalen Inhalte keineswegs gerechtfertigt ist.“ Vgl. ferner Loyen (1943) 166: „désaccord entre la mièvrerie du fond et la richesse de la forme“

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wandte sich zum Beispiel Augustinus in der Tat dezidiert gegen den Ästhetizismus der zeitgenössischen Literatur und forderte mit der Abwendung von Sprache und Form (verba) die verstärkte Hinwendung zu den Gedanken (res).62 Allerdings folgte er hier einer alten Vorgabe der Philosophie, wie sie auch bei Seneca zum Ausdruck kam:63 Nimis anxium esse te circa verba et compositionem, mi Lucili, nolo: habeo maiora quae cures. quaere quid scribas, non quemadmodum. Ich will nicht, dass du dir allzu grosse Sorgen über deine Worte und deinen Stil machst, mein Lucilius: Ich habe wichtigeres, um das du dich kümmern kannst. Frage mich nicht wie, sondern was du schreiben sollst! (Sen. epist. 115,1)

Sidonius Apollinaris vertrat die Ansicht, dass es besser sei, bei fehlendem Stoff das Briefschreiben gänzlich zu unterlassen, da man ansonsten dem berühmten Urteil Sallusts anheimfalle (Sall. Catil. 5,4: satis eloquentiae sapientiae parum),64 ein Vorsatz, den jedoch schon Cicero in seiner Korrespondenz programmatisch unterwandert hatte. In solchen Fällen stand für Cicero – wie später für Symmachus – das soziale Ritual des Briefeschreibens und nicht die Informationsvermittlung im Vordergrund.65 Die ornamentale Artistik spätantiker Literaturwerke erforderte vom Rezipienten zwangsläufig eine erhöhte Aufmerksamkeit und Konzentration. Es handelte sich um ein „Spiel für Eingeweihte“.66 Der zunehmende Exklusivitätsanspruch hatte Konsequenzen für die stilistische und sprachliche Komplexität der Texte, ein Prozess, der im agonalen Bemühen um möglichst virtuose Formulierungen kontinuierlich potenziert wurde und letztlich zu sprachlicher Dunkelheit führte.67 Eine solche Entwicklung setzte das stillschweigende Einverständnis der Rezipienten voraus. Das anvisierte Publikum musste bereit sein, an der Sinngenese des Textes mitzuarbeiten und die von

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und 167: „subordination de la pensée à la forme“ oder Seeck (1932) 1158: „Symmachus ist sich durchaus bewusst, dass er auch diese inhaltsleeren Kleinigkeiten für die Nachwelt schreibt, und feilt sie daher auf das sorgfältigste.“ Letztlich in dieselbe Richtung zielt auch das Caveat, das Van Dam (2003) 132 mit Blick auf spätantike Epistolographen für den modernen Historiker ausspricht: „authors were concerned more about protocol than candor, more about form than substance and emotion.“ Gegen diese Ansichten wandte sich zu Recht Gioanni (2005) 171: „L’impression de superficialité qui se dégage aujourd’hui de ses lettres résulte avant tout de notre difficulté à comprendre les codes de l’échange épistolaire (…)“. Vgl. Marrou (1995) 295; Müller (2001) 323. Vgl. dazu Müller (2001) 323. Sidon. epist. 9,9,2. Vgl. Cic. Att. 5,5,1: Plane deest quod scribam, nam nec quod mandem habeo… nec quod narrem… nec iocandi locus est; Cic. Att. 12,1,2: Hoc igitur habebis, novi nihil. quid ergo opus erat epistula?; Symm. epist. 1,15,1: deerant digna memoratu. Vgl. Thraede (1980) 193–194. Auerbach (1958) 194. Vgl. Roberts (1989) 121: „In late antiquity the increasing exclusivity of literature as the mark of a cultural elite must have further stimulated the striving for ever more complicated stylistic elaboration.“

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ihm verlangte exegetische Leistung zu vollziehen.68 Aus rezeptionsästhetischer Perspektive impliziert prinzipiell jeder Text die Mitarbeit des Lesers.69 Doch gibt es bestimmte, durch Konventionen geregelte Toleranzgrenzen. Werden diese überschritten, ist es dem Leser überlassen, ob er die Dechiffrierleistung erbringen will oder nicht. Päivi Mehtonen hat in diesem Zusammenhang vom „reader’s consent to torment“ gesprochen.70 Quintilian kritisiert im Kontext seiner Behandlung der Perspicuitas die Rezeptionshaltung eines Publikums, dem unverständliche Ausdrücke (ἀδιαvόητα) Vergnügen bereiteten: „Nachdem sie diese verstanden haben, frohlocken sie über ihren eigenen Scharfsinn und freuen sich so, als wären sie nicht nur Zuhörer, sondern geradezu deren Erfinder.“71 Mit der Ausprägung des „Neuen Stils“ (E. Norden) ging in der spätantiken Bildungskultur eine Rezeptionshaltung einher, die interpretationsbedürftige Texte nicht nur tolerierte, sondern auch schätzte. Dunkelheit provoziert natürlicherweise einen Prozess der Erhellung und Enthüllung: „Was sprachlich dunkel bleibt, eröffnet den Versuchen, es zu verstehen, eine allemal breitere Projektionsfläche als das, was offen zutage tritt.“72 Angeregt vom menschlichen Bedürfnis nach Sinnkonstruktion, dem „semiotischen Trieb“,73 fühlen sich Rezipienten durch das „uralte Widerspiel von Suchen und Finden“74 sowohl angezogen wie herausgefordert. Nur selten führen daher Unsicherheitsmomente in Texten zu schroffer Aversion oder Polemik, wird Obscuritas als leserfeindlich oder als Bruch des impliziten Vertrags zwischen Text und Rezipienten aufgefasst.75 Vielmehr bietet das Undeutliche und Irritierende einen Reiz des Neuen, des noch nicht Routinisierten. Gerade in Kontexten wie der spätantiken Bildungskultur, in welcher immer wieder dieselben normativen Autoren abgearbeitet wurden, gilt dies in besonderem Masse. Der literarische Kanon wird durch Obscuritas variiert und damit zugleich wieder bestätigt. So ist denn trotz aller stilistischer und sprachlicher Eigentümlichkeiten im Schrifttum der Spätantike stets ein klassizistischer Grundton zu vermerken, der das Wechselspiel von imitatio und aemulatio mit den klassischen Bildungsautoren abbildet. Auf eine ästhetische Präferenz für obskure Texte in gewissen Bereichen der spätantiken Bildungskultur verweisen auch die innerliterarischen Refle68 69 70 71 72 73 74 75

Dies ist daher kein ausschliessliches Merkmal „Konstantinischer Literatur“, wie etwa Hose (2007) 535 ff. postuliert. Innerhalb der Rezeptionstheorie wird literarischen Texten per se eine Obscuritas zugesprochen, die durch den Leser aufgehoben wird, vgl. Iser (1970) 230. Mehtonen (2003) 121–122, 165. Quint. inst. 8,2,21. Vgl. Dazu weiter unten: S. 100–101. Laermann (1991) 84. Gross (1994) 46. Maurach (1995) 25–26. Zum Lesen als unausgesprochenes Vertragsverhältnis („Bedeutung wird angeboten und angenommen“), das die Sinnhaftigkeit eines Textes garantiert, vgl. allgem. Gross (1994) 22–25 und 26 ff. spezifisch zum „literarischen“ Vertrag.

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xionen der Zeit. Sprachliche Dunkelheit stellte für Sidonius wie Ennodius eine (in gewissen Kontexten) gesuchte Qualität literarischer Werke dar und wurde von ihnen zu einer erstrebenswerten Darstellungsstrategie des sermo epistolaris erhoben. So bewundert Sidonius Apollinaris den gelehrten Stadtpräfekten von Rom, Flavius Paulus, aufgrund der dunklen Metaphorik seiner Sprache (aenigmata)76 und vernimmt mit Stolz, dass der hochgebildete Petronius seine Briefe mit leidenschaftlicher Ausdauer liesst: Audio, quod lectitandis epistulis meis voluptuosam patientiam inpendas („Ich vernehme, dass du dich mit lustvoller Geduld der Lektüre meiner Briefe widmest.“: Sidon. epist. 5,1,1). Mit diesem Stilideal korrespondierte in der spätantiken Bildungskultur eine rezeptionsästhetische Freude an der Entschlüsselung rätselhafter Passagen, was nicht unerhebliche Konsequenzen für die literarische Produktion der Zeit hatte. Die Ausprägung einer „spielerisch-artistischen Obscuritas“ (M. Fuhrmann) im literarischen Schrifttum der Spätantike wurde von der Schule in dem Masse befördert, wie die gekonnte Auslegung schwieriger Dichterstellen, das erudite intellegere (Mart. Cap. 3,230), zum Auszeichnungskriterium des spätantiken Grammaticus wurde.77 Insbesondere im Otium auf dem Landgut fand man Zeit und Musse für gelehrt-knifflige nugae, für Rätselbriefe und Technopaignia.78 Für die aufgeworfene Frage nach den tieferen Ursachen, die eine sprachliche Verdunkelung innerhalb der spätantiken Epistolographie bedingten, stellen die gewandelten ästhetischen Prinzipien in Kunst und Literatur und die damit einhergehende Rezeptionshaltung also durchaus einen fruchtbaren Erklärungsansatz dar. Dies muss umso mehr betont werden, da in der modernen Bewertung die ästhetischen Komponenten häufig hinter den zweifellos vorhandenen pragmatisch-funktionalen Aspekten zurücktreten. Zwei primäre Ziele pragmatischer Obscuritas sind in der spätantiken Epistolographie fassbar: die politische Kryptographie und das Streben nach elitärer Abgrenzung. Im ersten Fall handelt es sich um eine Form situationsbedingter Obscuritas. Sprachliche Verdunkelung war von der rhetorischen Theorie unter bestimmten Umständen ausdrücklich erlaubt. So empfiehlt etwa Quintilian in politisch heiklen Situationen die Verwendung von Metaphern und Allegorien zur Verhüllung des sprachlichen Ausdrucks.79 Anwendung fand diese Methode in der Antike auch generell in Kontexten, in denen man sich nicht offen zu äussern wagte.80 Iulius Victor erlaubt, wie bereits erwähnt, die Anwendung verdunkelnder Techniken bei der Abfassung von Briefen dann, wenn es sich um vertrauliche Botschaften (clandestinae litterae) handelt, bei denen Vor76 77 78 79 80

Sidon. epist. 1,9,1: Deus bone, quae ille propositionibus aenigmata, sententiis schemata, versibus commata, digitis mechanemata fecit! Vgl. zu diesem Aspekt weiter unten: bes. S. 111. Vgl. dazu ausführlich weiter unten: S. 192–205. Quint. inst. 9,2,65–66. Vgl. dazu weiter unten: bes. S. 237–240. Vgl. dazu etwa Ahl (1984).

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sicht geboten sei (abscondito opus est). Jedoch müsse hier in der Weise auf Verständlichkeit geachtet werden, dass zumindest diejenigen, an welche solche Briefe gerichtet seien, diese auch verstehen könnten: quae tamen ita ceteris occultae esse debent, ut his, ad quos mittuntur, clarae perspicuaeque sint („welche dennoch in der Weise für alle anderen verdunkelt sein müssen, dass sie jenen, denen wir sie schicken, klar und verständlich sind.“: Iul. Vict. rhet. ed. Giomini/Celentano, 105,25–26). Zu diesem Zweck hätten ausser Caesar und Augustus auch Cicero und viele andere mit ihren Korrespondenten geheime Zeichen vereinbart.81 Der Grund für diese kryptographische Verschlüsselung des Briefverkehrs lag in der Unsicherheit des antiken Nachrichtentransfers, dessen Funktionsweise die gefahrlose Übermittlung geheimer Mitteilungen zu einer erheblichen Herausforderung machte.82 In der Forschung der letzten Jahre wurde im Hinblick auf Sidonius Apollinaris mehrfach die Vermutung geäussert, dass es sich bei seinem Briefwerk um eine Form von „kodierter Kommunikation“ handle.83 Die nicht geringe Anzahl von mit Klagen verbundenen tagespolitischen Anspielungen wurde als verhüllte Kritik an Eurich interpretiert.84 Die These hat in der Tat einiges für sich: Sidonius war bei der en bloc-Publikation der Briefbücher 2–7, die frühestens um 477 n. Chr. erfolgte,85 erst vor kurzem aus dem Exil zurückgekehrt. Eine offene Kritik am Westgotenkönig wäre zu diesem Zeitpunkt politisch höchst unklug gewesen. Angesichts der drohenden Gefahren ist es einsichtig, dass sich die Exponenten kirchlich-staatlicher Ordnung in ihrer Korrespondenz zum aktuellen politischen Geschehen nur vorsichtig äusserten. Eine ähnliche Tendenz zur Verschlüsselung seiner Korrespondenz lässt sich auch in der Briefsammlung des Avitus von Vienne beobachten. Obscuritas äussert sich in diesen Kontexten vorwiegend in Form von hintergründigen intertextuellen Anspielungen und dunklen Metaphern.86 Im zweiten Anwendungsbereich pragmatischer Obscuritas steht das soziale und kulturelle Distinktionsbestreben der spätantiken Bildungselite im Vordergrund. Die elaborierte Kunstsprache spätantiker Epistolographen und das damit verbundene literarische Verdunklungsstreben muss als dezidierter Ausdruck eines elitären Codes begriffen werden, der das aristokratische Bedürfnis nach sozialer Abgrenzung bediente.87 Gerade die Textsorte Brief 81 82 83 84 85

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Iul. Vict. rhet. ed. Giomini/Celentano, 105,26–28: Solent etiam notas inter se secretiores pacisci, quod et Caesar et Augustus et Cicero et alii plerique fecerunt. Dazu ausführlich weiter unten: S. 245–253. Vgl. Harries (1994) 11–19; Zelzer (1994–1995) 548; Amherdt (2001) 40–42; Overwien (2009a); Overwien (2009b); van Waarden (2010) 39–40. Vgl. Amherdt (2001) 40–42. Zur Datierung der Briefbücher vgl. u.a. Harries (1994) 7–10; Köhler (1995) 8–9; Amherdt (2001) 27–30; van Waarden (2010) 8–10. Generell zur problematischen Datierung einzelner Briefe sowie des Publikationszeitpunkts einzelner Briefbücher vgl. Mathisen (2013). Vgl. zu diesem Komplex ausführlich weiter unten: S. 257–288. Dabei handelt es sich nicht um ein singuläres soziolinguistisches Phänomen der Spätantike. Bourdieu (1979) hat gezeigt, dass auch in anderen Kontexten Leichtverständliches

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nahm hierzu innerhalb der spätantiken Bildungskultur eine bedeutende Stellung ein. Als zentrales Medium der streng ritualisierten Kommunikationsund Freundschaftskultur der spätrömischen Aristokratie eignete sich ein Brief vorzüglich zur Demonstration von Bildungswissen, das durch rhetorischen Schmuck und vielfältige literarische Anspielungen im Sprachstil abgebildet werden konnte. Dies führte paradoxerweise dazu, dass sich gerade in persönlicher Korrespondenz eine Distanzsprache etablierte. Diese diente den Korrespondenten dazu, ihre Zugehörigkeit zur Bildungselite zu dokumentieren und den damit verbundenen Anspruch auf soziale Anerkennung zu legitimieren. Gleichzeitig forderte die komplizierte Sprache umso grössere Verbundenheit mit den Adressaten ein. Ein elaborierter sermo epistolaris konnte mitunter auch Voraussetzung einer Beamtenkarriere sein, fungierte also für potentielle soziale Aufsteiger gleichsam als billet d’entré in den erlauchten Kreis der spätantiken Aristokratie. Angesichts dieser Vorteile erscheint es nur natürlich, dass der regelmässige briefliche Austausch zwischen gebildeten Aristokraten die Entwicklung einer epistolaren Imponier- oder Prunksprache begünstigte, die als spezifisches Phänomen einer elitären Bildungssprache höchste Ansprüche an Produzenten und Rezipienten stellte. Auch mit Blick auf die Pragmatik der rhetorischen Doktrin muss die Ausprägung einer hermetischen Sprache in persönlicher Korrespondenz durchaus legitim erscheinen, da diese anders als etwa Reden, Predigten oder Lehrschriften,88 die auch von einem Publikum verstanden werden müssen, das über keine höhere Bildung verfügt, für einen klar begrenzten Adressatenkreis bestimmt war.89 Ein Brief erscheint hierfür als ideales Medium, da seine gattungsspezifische Offenheit Raum für vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten und die Verwendung verschiedener Sprachund Stilregister erlaubt. Dies hatte zur Folge, dass Briefe dieses Typs nur einer kleinen Bildungselite überhaupt noch verständlich waren, ein Faktor, der in ostentativem Verdunklungsstreben noch potenziert wurde. Dieses Verdunklungsstreben, das sich unter anderem in einer Kombination von stilistisch-syntaktischer Komplexität, gesuchter Wortwahl und gelehrten Anspielungen äusserte, ist gleichsam als extreme Form des Exklusivitätsanspruchs der Bildungselite aufzufassen, die ihrer sozialen Privilegierung auch sprachlich Ausdruck geben wollte. Die Herausbildung eines hermetischen Sprachstils, der auf der einen Seite Identifikation und Kohärenz, auf der anderen Distanzierung und Ausgrenzung garantierte, ist kein epochales Charakteristikum der lateinischen Spätantike. Thomas Schmitz hat gezeigt, dass in der griechischen Kultur des 2. Jahrhunderts n. Chr. eine in reinstem Attizismus sich äussernde Kunstsprache für eine gesellschaftliche Zweiteilung in Gebildete und Ungebildete instrumentalisiert

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mit sozialen Unterschichten, Schwieriges mit sozialen Oberschichten assoziiert wird. Zu diesem Komplex ausführlich weiter unten: S. 213–227. Vgl. z.B. Pomer. 1,23 ed. Migne 59,438–439. Dazu auch weiter unten: S. 215. Dies betonen etwa van Waarden (2010) 65 und Gioanni (2006) CXII: „L’échange épistolaire définit l’espace d’une communication réservée à ceux qui en possèdent les clefs.“

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wurde.90 Bildung wurde auch hier zum sozialen Merkmal einer kleinen Elite. Gleichwohl besteht zwischen diesen beiden Phänomenen ein wesentlicher Unterschied. Während der Attizismus dazu diente, Gebildete von Nichtgebildeten abzusetzen, trennte Obscuritas zwei Gruppen innerhalb derselben Bildungsschicht. Das Phänomen der literarischen Obscuritas stellte also die besonders radikale Form einer distinktiven Strategie mittels sprachlich-literarischer Mittel dar. Deren Vertreter begnügten sich nicht mit dem an der spätantiken consuetudo orientierten Sprachstil der Bildungsgemeinschaft, sondern bevorzugten eine übersteigerte Form, die den pragmatischen Aspekt der Bildungssprache als Identifikations- und Distinktionsmerkmal einer reichsweiten Elite bereits wieder in Frage stellte.91 Dieser literarische Elitarismus bedeutete für die innere Geschlossenheit der spätantiken Bildungsgemeinschaft eine ähnliche Gefahr wie jener Kreis, die den sermo humilis der Bibel als massgebliche sprachlich-stilistische Referenz ansahen.92 Im Gegensatz dazu stellte das literarische Verdunklungsstreben den klassischen Schulstil jedoch nie in Frage. Vielmehr diente dieser als Gegenmodell, das gerade in der ostentativen Ablehnung wieder bestätigt wurde. Denn nur ein klassisch gebildeter homo litteratus fand sich auch in der Lage, den Schulstil in derart drastischer Weise zu strapazieren. Der hier in knappen Linien skizzierte phänomenologische Befund dunkler Sprache ist für die spätantike Epistolographie durchaus bedeutsam, zumal sich auch im griechischen Osten eine vergleichbare Entwicklung nachweisen lässt.93 Die bisherigen Darlegungen machen deutlich, dass es sich bei diesem Phänomen keineswegs um eine ephemere Randerscheinung handelte. Vielmehr besass literarische Obscuritas in bestimmten Kontexten der spätantiken Bildungskultur einen durchaus überindividuellen Stellenwert. Ihre Wirkungsbreite als präsupponiertes Charakteristikum der Bildungssprache war wie erwähnt nicht auf Briefe beschränkt, sondern zeigt sich in besonderem Masse auch in der zeitgenössischen Epigrammatik, einer Gattung, die traditionell eng mit dem Brief assoziiert war.94 Obscuritas in der definierten, offenen Form ist aber weder ein universelles Phänomen spätantiker Epistolographie oder Epigrammatik im Allgemeinen noch des von der zeitgenössischen Bildungskultur präferierten Sprachstils, des sermo cultus (Pomer. 3,34,2)95 im Speziellen. Auch handelt es sich nicht um ein durchgängiges Stilprinzip, vielmehr kann Obscuritas je nach Autor, Kontext und Wirkungsabsicht häufiger oder nur sporadisch auftreten. Ausmass und Wünschbarkeit sprachlicher Dunkelheit sind eminent an den 90 91 92 93 94 95

Schmitz (1997). Zur spätantiken Bildungssprache vgl. weiter unten: S. 80–93. Vgl. dazu weiter unten: S. 89–90. Müller (1994) 69: „Die teilweise ins Poetische gesteigerte Artistik der byzantinischen Briefe führt mitunter in die Bereiche des komplexen und dunklen Ausdrucks.“ Auf den epigrammatischen Charakter der Briefe des Plinius hat bereits Guillemin (1929) hingewiesen. Dazu weiter unten: S. 126–131.

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sozioliterarischen Kontext und die formalen Möglichkeiten der verwendeten literarischen Gattung gebunden. Der Poesie ist wegen ihrer Gebundenheit an bestimmte Formalia (Rhythmen, Versschemata und Metren) eine gewisse verständnishemmende Dunkelheit a priori inhärent, wobei diese künstlich noch verstärkt werden kann.96 Es gilt also zwischen der konventionellen Dunkelheit literarischer Ausdrucksweise und bestimmten bewusst eingesetzten Extremformen von Obscuritas zu unterscheiden, wobei aber auch hier die Übergänge fliessend sind.97 Ein berühmtes Beispiel einer solchen Extremform ist etwa das Kleinepos Zmyrna des Helvius Cinna, an welchem der Autor nicht weniger als neun Jahre lang gearbeitet haben soll.98 Vorbild und Orientierungspunkt Cinnas und seiner Gesinnungsgenossen waren hellenistische Dichter wie Kallimachos, Lykophron oder Euphorion, für die eine verhüllende Ausdrucksweise zu den Darstellungsstrategien gelehrter Dichtkunst gehörte.99 Interessanterweise beschäftigte sich die moderne Briefforschung bisher nur beiläufig mit dem Phänomen sprachlicher Verdunkelung in der spätantiken Epistolographie,100 obwohl wiederholt auf die hermetische Abgeschlossenheit dieser aristokratischen Kommunikationsform hingewiesen wurde.101 96

Als Mittel poetischer Verfremdung war sprachliche Dunkelheit seit Alters geschätzt. Zur Erlangung der vollkommenen sprachlichen Form (λέξεως ἀρετή) müsse, so Aristoteles, das banal Alltägliche (ταπεινή) durch die Verwendung verfremdender Ausdrücke wie etwa Tropen vermieden werden, vgl. Arist. poet. 22. In der konsequenten Radikalisierung dieser Forderung – als Ausdruck einer Entalltäglichung – liegt letztlich ein entscheidender Faktor des spätantiken Verdunklungsstrebens begründet. 97 Walde (2003) 359. Extremformen stellen Abecedarien, Palindrome, Technopaignia oder Lipograme dar, vgl. Ziolkowski (1996b) 133 f. 98 Catull. 95. Die neun Jahre dauernde Arbeit wird zum festen Topos für das „Feilen“ an einem literarischen Werk: Hor. ars. 388; Serv. in Verg. ecl. 9,35 ed. Thilo, 114,8: quem libellum [Smyrnam] decem annis elimavit. 99 Willamowitz-Moellendorff (1924) 150 ff.; Hutchinson (1988) 257 ff. Die Vorliebe der Neoteriker für die gelehrte Dunkelheit der hellenistischen Dichter bezeugt auch Cicero, wenn er sie als cantores Euphorionis (Tusc. 3,19,45) tituliert. Noch in der modernen Lyrik gilt Textverständlichkeit als sekundäres Zielkriterium und werden Polyfunktionalität und Polyvalenz als notwendige Bedingungen ästhetischen Erlebens verstanden, vgl. Groeben (1982) 157–158. Zur Verfremdung in der modernen Lyrik vgl. etwa den Sammelband von Iser (1966). 100 Vgl. etwa Gioanni (2004) 536–538; Schröder (2007) 53–61. Van Waarden (2010) 33 benennt vier Gründe für Obscuritas bei Sidonius: „First, a deeply felt need to defend the cause of Romanitas by taking Latin to the limits of the possibilities… Second, the need to develop an expressive medium of the first order to curb his emotions as a result of the loss of a familiar and beloved world… Third, the inevitability of having to say things in an encrypted way because of the war going on. Finally – concurrent with all this seriousness – the urge to have a good time and enjoy himself and show off with language, puns, riddles, and improviations.“ Im Übrigen wurde auf das Phänomen besonders mit Blick auf die Poesie hingewiesen, vgl. Loyen (1943) 143 f., 153 und Fontaine (1977) 480. Relativ viel zur Spätantike bietet Goetz (1896) 62–92. 101 Vgl. Gualandri (1989) 528: „una atmosfera di serra“.

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Eingängige Untersuchungen, die über Randbemerkungen zu einzelnen Autoren hinausgehen, fehlen gänzlich.102 Dabei wurde gerade dieser Aspekt im Mittelalter und Humanismus im Zusammenhang mit Briefen regelmässig thematisiert und auch theoretisch erörtert.103 Generell ist in den Altertumswissenschaften sowohl von sprach- wie literaturwissenschaftlicher Seite das Interesse am Phänomen der literarischen Obscuritas eher verhalten. Einschlägige Monographien zum Thema sind im Wesentlichen auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Diskurse beschränkt.104 Relativ umfangreich ist die Forschungsliteratur für die Moderne.105 Epochenübergreifende Synthesen legten John Press mit Fokus auf die Poesie sowie Päivi Mehtonen vor. Letztere zeichnet Theorie und Praxis dunklen Schreibens von der Spätantike bis in die Zeit der Aufklärung in klaren Linien nach.106 In der Klassischen Philologie stehen vornehmlich Einzelaspekte wie Ambiguität,107 Rätsel108 oder vergleichbare Phänomene im Zentrum.109 Jüngere Ausnahmen sind etwa Anna-Maria Kanthak, die Obscuritas als Strategie in der griechischen Wissenschaftsliteratur untersucht,110 oder John Hamilton, der für Pindars Epinikien eine entsprechende, detaillierte Einzeluntersuchung mit Schwerpunkt auf die einflussreiche Wirkungsgeschichte in Antike und Neuzeit vorlegte.111 Ferner wurde der Dunkelheit der Bibel und dem christlichen Umgang mit den aus ihr resultierenden theologischen und hermeneutischen Problemen sowohl von literaturwissenschaftlicher als auch von theologischer Seite besondere Aufmerksamkeit geschenkt.112 Wesentlich umfangreicher ist die Literatur über das Gegenstück der Obscuritas, das Licht,

102 Besonders mit Blick auf Sidonius Apollinaris wurde in neuerer Zeit vermehrt auf kryptographische Intentionen hingewiesen, die seinen Briefen und der Sammlung insgesamt zugrunde liegen soll, vgl. dazu die kritischen Bemerkungen bei van Waarden (2010) 39–40. Zum Thema ausführlich weiter unten: S. 259–280. 103 So rügt etwa Bischof Hinkmar von Reims (ca. 802–882) seinen Amtskollegen Bischof Hinkmar von Laon wegen der Sprache seiner Briefe, die so dunkel sei, dass er selbst sie wohl nicht verstehen könne: Migne 126, 448–449. Vgl. dazu Goetz (1896) 73–74 und Ziolkowski (1996b) 120–122. Erasmus von Rotterdam widmet sich dem Thema ausführlich in seinem Traktat De epistolis scribendis. 104 Vgl. z.B. Ziolkowski (1996a); Lachin/Zambon (2004); Pfeiffer (2009). 105 Moore (1964;) Bruns (1964); Berger (1971); Plett (1977); White (1981); Bode (1988); Mehtonen (2007) sowie die entsprechenden Beiträge in Lachin/Zambon (2004). 106 Press (1958); Mehtonen (2003.) Vgl. auch Göttert (1991). 107 Stanford (1972); Atherton (1993); Moretti (1995); Basset/Biville (2005). 108 Kwapisz et al. (2012); Monda (2012); Kwapisz (2013). 109 Harris (1989). Berührungen ergeben sich auch mit dem Motiv der Nacht. Für einen kulturhistorischen Überblick mit Fokus auf die Antike vgl. etwa Friese (2011). 110 Kanthak (2012). Bei der Dunkelheit von Wissenschaftstexten liegt ein analoges Phänomen zur Dunkelheit in Briefen vor, da in beiden Fällen eine Textsorte vorliegt, die auf eine Informationsvermittlung abzielt. Verständlichkeit ist daher hier wie dort unabdingbare Voraussetzung für den erfolgreichen Wissenstransfer. 111 Hamilton (2003). 112 Vgl. etwa Frye (1982); Turner (1995).

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dem weit über die literaturwissenschaftliche Forschung hinaus Relevanz zugemessen wird.113 Mit Blick auf die spätantike Literatur im Allgemeinen und die Epistolographie im Besonderen besteht also durchaus Handlungsbedarf. An diesem Punkt setzt die vorliegende Arbeit mit der Zielsetzung an, die spezifischen sprachlich-stilistischen Verdunklungsstrategien spätantiker Epistolographen exemplarisch offenzulegen und sie in ihren Funktionen innerhalb der sie befördernden soziokulturellen Rahmenbedingungen verständlich zu machen. Es geht also letztlich um eine Offenlegung des vielfältigen Potentials, das sich hinter dunkler Sprache verbergen kann. Im obskuren sermo epistolaris, so die Hypothese, lassen sich wie in einem Brennglas die gesellschaftliche Wirkung und Relevanz der spätantiken Bildungs- und Imponiersprache im engeren Sinn eruieren. Im weiteren Sinn spiegelt sich im Verdunklungsstreben spätantiker Aristokraten auch ein innerliterarischer Diskurs um die Stellung und Verbindlichkeit des tradierten Literaturkanons, der durch diese sprachlichstilistische Radikalisierung demonstrativ in Frage gestellt wird. Literarisches Verdunklungsstreben diente hier in zwar extremer aber dennoch undogmatischer Weise einer spielerischen Form der Entalltäglichung, welche die spätantike Bildungselite im Kontext des Otium zelebrierte. Diese Zielsetzung offenbart den methodischen Ansatz und die Zugangsweise der Untersuchung. Die Arbeit will sich nicht auf eine philologisch-stilistische Analyse des Phänomens beschränken, sondern bemüht sich zugleich um eine Rekonstruktion des es bedingenden literarhistorischen Kontextes, weshalb sie im Schnittpunkt von Literatur-, Kultur- und Geschichtswissenschaft situiert ist. Dies geschieht auf der einen Seite in der Überzeugung, dass historische, soziokulturelle und literarische Entwicklungen in einem engen und wechselseitigen funktionalen Verhältnis stehen und nur schwer voneinander getrennt werden können.114 Gerade bei der Textsorte Brief erscheint eine „pragmatische“ im Sinne einer kontextgebundenen Interpretation sinnvoll, da hier auch eine in ihrem Kern sachbezogene Kommunikationsform vorliegt, an der sich die literarischen Verfahrensweisen letztlich auch orientierten.115 Darüber hinaus sind auf der anderen Seite Ausmass und Bewertung dunklen Sprachstils eminent an den sozialen Kontext und die literarische Gattung gebunden, wodurch die Interdependenzen zwischen literarischen 113 „Vom Licht wird gesprochen, wann und wo immer der Mensch beginnt, sich über seine Stellung in der Welt klar zu werden.“: Bremer (1976) 3. 114 Zentral ist hier der Ansatz des New Historicism, vgl. dazu etwa die Beiträge in Bassler (1995). In der Klassischen Philologie sind davon methodisch etwa Schmitz (1997) oder Pausch (2004) inspiert. 115 Die pragmatische Interpretation, wie sie in der Klassischen Philologie etwa von Rösler (1980) für die frühgriechische Dichtung vorgenommen wurde, steht im Gegensatz zu einer textimmanenten Interpretation, die einen literarischen Text weitgehend kontextfrei zu verstehen und deuten versucht. Vgl. die kritische Auseinandersetzung mit Rössler bei Schmitz (2002). Zur grundsätzlich pragmatischen Funktion der Textsorte Brief und dem Briefmodell, das der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt, vgl. weiter unten: S. 40–64.

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Werken und soziokulturellen Rahmenbedingungen zwangsläufig in den Fokus der Betrachtung rücken. Das Textkorpus, das der Arbeit zugrunde liegt, weist trotz seiner immensen Grösse relativ enge gesellschaftliche, geographische und zeitliche Grenzen auf. Im Fokus der Analyse stehen mit Ausonius, Sidonius Apollinaris, Avitus von Vienne und Ennodius bedeutende Repräsentanten der gallorömischen Epistolographie. Gattungstypologisch im Mittelpunkt steht dabei mit den Privatbriefen jene Gruppe, die sich in der Spätantike besonderer Beliebtheit erfreute. Weitgehend ausgeklammert bleiben die umfangreichen Briefsammlungen der lateinischen Patristik. Diese Entscheidung erfolgte nicht aufgrund etwaiger stilistischer Differenzen zwischen den lateinischen Kirchenvätern und den erwähnten Autoren, die sich – unabhängig ihrer individuellen Religionszugehörigkeit – zumindest in ihrem literarischen Wirken weitgehend an der überkommenen paganen Bildungskultur orientierten. Obscuritas war kein Phänomen, das sich entlang konfessioneller Grenzen bewegte.116 Vielmehr geschah die Auswahl um der grösseren Konzentration auf das Wesentliche willen, damit durch die Fülle des Materials das Substanzielle nicht überdeckt wird. Nicht nur in dieser Hinsicht ist die nachfolgende Untersuchung erheblichen Beschränkungen unterworfen. Einer allgemein gültigen Aussagekraft steht letztlich auch die thematische Auswahl entgegen, da es sich bei den im Fokus stehenden Privatbriefen um „one very significant type of letter from one social context“ handelt.117 Auch wenn sich also in dieser Hinsicht kein vollständiges Bild wird ergeben können, so ermöglicht allein schon die geographische und soziokulturelle Kohärenz des Korpus,118 verschiedene korrelierende Aspekte spätantiker Bildungskultur und Bildungssprache exemplarisch zu bündeln und in ihrer Komplexität fassbar zu machen. Die pragmatische Eingrenzung des epistolographischen Korpus wird jedoch durch die fallweise Berücksichtigung von gattungsfremden, vornehmlich poetischen Texten, die von denselben Autoren stammen oder in deren literarisches Milieu gehören, in gewisser Weise wieder gesprengt. Die Auswertung und Analyse der reichhaltigen poetischen Erzeugnisse der Spätantike war insbesondere für die literarische Kontextualisierung der spätantiken Briefkultur und der sie bestimmenden ästhetischen Paradigmen ausschlaggebend. Bisweilen zeigen sich gewisse literarische Vorgehensweisen und Prinzipien erst mit klärendem Blick auf eine parallele Erscheinung in der Poesie. 116 Es gilt der Grundsatz von Roberts (1989) 6: „aesthetic, and particularly stylistic, preferences do not follow religious affiliation.“ 117 Stowers (1986) 35. 118 Shanzer/Wood (2002) 27: „The collections of Sidonius, Ruricius, Avitus and Ennodius form a compact group, not least because their overlap in geography, and all four collections com fromm en who were related – Ennodius rather less closely than the other three. The existence of the collections suggest that letters had an importance for the society which produced them.“ In diese Richtung äusserte sich auch Gioanni (2004) 516: „Les correspondance de ces quatre évêques sont un observatoire idéal pour comprendre l’évolution et les modalités de la communication épistolaire dans l’Antiquité tardive.“

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2. Obscuritas – Begriff und Konzeption

Die bewusste selektive Ausweitung des Textkorpus bei gleichzeitiger thematischer Einschränkung erscheint auch methodisch sinnvoll, da dadurch zum einen die kontemporäre Wirkungsbreite des Phänomens Obscuritas offengelegt, zum anderen deren Produktions- und Rezeptionskontext innerhalb einer kleinen Bildungselite lokalisiert werden kann. Dunkle, den Sinn verhüllende Sprache ist gewiss kein typisches Charakteristikum lateinischer Literatur. Das in allen Lebensäusserungen erkennbare sozial-politische Engagement römischer virtus zielte traditionell auf Klarheit und Verständlichkeit, auf Perspicuitas.119 Obscuritas ist aber auch nicht – wie lange angenommen – ausschliesslich ein Paradigma der Moderne, sondern ist als kulturunabhängiges, überzeitlich-ubiquitäres Phänomen aufzufassen, das sich in der antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Literatur gleichermassen manifestiert.120 Im Sinne klärender Vorbemerkungen soll daher die Begrifflichkeit und Konzeption literarischer beziehungsweise textueller Obscuritas, wie sie in dieser Arbeit verstanden wird, im Folgenden kurz umrissen werden.

2. OBSCURITAS – BEGRIFF UND KONZEPTION „Heraklit wurde der Dunkle genannt… daran können wir nichts besonderes finden, da doch jeder Denker, der wahrhaft Denker ist, leicht in den Ruf der Dunkelheit kommt“ (Heidegger, Heraklit)

In Anlehung an die rhetorische Theorie wird im Folgenden mit dem Terminus „Obscuritas“ subsumativ jede Form von (textlichen) Verdunkelungen im sprachlichen Ausdruck benannt.121 Formal zu unterscheiden ist die Dunkelheit eines Textes von der Zweideutigkeit (ambiguitas), der Amphibolie und dem Rätsel (aenigma). Erstere sind Techniken, letzteres eine Erscheinungsform der Obscuritas. Ambiguität meint den Doppelsinn eines syntaktisch eindeutig bestimmbaren Einzelworts, während Amphibolie die Mehrdeutigkeit der Aussage eines ganzen Satzes bezeichnet. Das Rätsel im eigentlichen Sinn stellt eine sprachlich-bildhaft verschlüsselte Frage, zu deren Beantwortung der Rezipient stillschweigend aufgefordert ist. Die Verschlüsselung wird an119 Fuhrmann (1966) 50. 120 Ziolkowski (1996b) 103: „Indeed, obscurity is ubiquitous, both as an intended product and as an unintended byproduct, in the writings of such manneristic movements or styles as Alexandrianism; Asianism; aureation; the baroque; euphuism; geblühmte Rede; grands rhétoriqueurs; Gongorism; hermeticism; Marinism; and preciosity.“ In diese Richtung auch Walde (2003) 358. 121 Da sich diese Arbeit ausschliesslich auf Schrifttexte konzentriert, wird den mündlichen Realisierungen von Sprache im Folgenden keine Aufmerksamkeit geschenkt.

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hand unterschiedlicher Techniken der Obscuritas erreicht, häufig mittels Allegorie oder Periphrase.122 Bis zur Spätantike hat sich das Rätsel, traditionell das spielerisch-artistische Gegenstück des Orakels,123 zu einem eigenen Genre entwickelt, das auch in Sammlungen publiziert wurde. Der Obscuritas verwandte literarische Kategorien sind Vagheit und Nonsense.124 Phänomenologisch lässt sich Obscuritas nach den vier kommunikativen Grundfaktoren (Absender – Adressat – Nachricht – Medium) beschreiben: Mit der intendierten und der nicht-intendierten Dunkelheit sind die zwei massgeblichen Phänotypen der Obscuritas zu unterscheiden, deren Trennlinien jedoch nicht immer genau bestimmt werden können. Dem ersten Typ liegt eine – wie auch immer geartete – Verdunklungsabsicht des Produzenten zugrunde, während beim zweiten eine nicht beabsichtigte beziehungsweise unbewusste Verdunkelung eines Textes vorliegt – sei dies durch Unachtsamkeit oder durch Unvermögen des Autors. Der Erfolg einer sprachlichen Übermittlung liegt jedoch nicht allein in der Verantwortung des Produzenten. Die zweite ebenso wichtige Instanz innerhalb jedes Kommunikationsprozesses stellt der Rezipient dar, der seinerseits durch mangelnde Fähigkeiten, Unachtsamkeit oder Unwillen die Textauslegung scheitern lassen kann. Die dritte Instanz ist die vermittelte Nachricht selbst. Hier sind zwei Aspekte zu unterscheiden: Der erste ist inhaltlich-sachlicher Natur. Gewisse Texte oder besser der in ihnen vermittelte Stoff erfordert aufgrund seiner sachlichen Komplexität vom Produzenten eine sorgfältige Darlegungsweise und einsichtige Darstellungslogik, während er dem Rezipienten bestimmte Vorkenntnisse sowie generell eine erhöhte intellektuelle Aufmerksamkeit abverlangt. Der zweite Aspekt ist historisch-kultureller Art und betrifft den Wandel innerhalb des sprachlichen Referenzsystems: „Ein Text kann durch sein Alter, durch die Änderung des sprachlichen oder kulturellen Hintergrundes „obscur“ oder umgekehrt auch verständlich werden. Diese sekundäre (i. e. vom Verfasser nicht intendierte), historisch bedingte Obscuritas diskreditiert weder den Textproduzenten noch den Rezipienten als unfähig oder unwissend.“125 Schliesslich weist das Phänomen mit dem Medium noch eine vierte Instanz auf: Fehler und Missverständnisse im Tradierungsprozess

122 Quint. inst. 8,6,52–53. Vgl. Isid. etym. 1,37,26: Aenigma est quaestio obscura quae difficile intellegitur, nisi aperiatur, ut est illud: De comedente exivit cibus, et de forte egressa est dulcedo [Idc. 14,14], significans ex ore leonis favum extractum. 123 Die Aufteilung in pathetisch-ernste und spielerisch-artistische Obscuritas geht zurück auf Fuhrmann (1966) 50 ff. 124 Vgl. Stanford (1939) 72, der jedoch die Ambiguität auf die gleiche Stufe wie die Obscuritas selbst stellt. Zu literarischer Vagheit: Stoellger (2012); zum literarischen Nonsense vgl. Horlacher (2003). 125 Walde (2003) 359. Zur Unterteilung in eine „primäre (i. e. intendierte) und [eine] sekundäre (i. e. durch diachrone, sprachgeographische und soziale décalage bewirkte) Verfremdung“ vgl. Lausberg (1960) § 1240.

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können eine nicht-intendierte, sekundäre Verdunkelung eines Textes bewirken.126 In der Antike befassten sich sowohl die Grammatik wie die Rhetorik mit den interpretativen Schwierigkeiten, die durch eine historisch bedingte Textverdunkelung entstanden.127 Aus moderner Perspektive hängt damit auch ein schwerwiegendes methodisches Problem zusammen: So können bestimmte antike oder mittelalterliche Texte schwer verständlich erscheinen, obwohl sie in ihrem Entstehungs- und zeitgenössischen Rezeptionskontext nur bedingt als dunkel aufgefasst wurden.128 In der Textsorte Brief bezieht dieses Caveat seine Berechtigung aus der Tatsache, dass es sich gerade bei Privatbriefen um eine Form der intim-freundschaftlichen Kommunikation handelt, in der vieles vorausgesetzt wird und gedankliche Ellipsen zahlreich sind.129 Da ein Brief häufig lediglich einen kurzen Ausschnitt einer längeren Konversation abbildet, kann zudem auch sein Inhalt für einen sekundären Rezipienten (Zeitgenossen wie moderne Leser) nicht unmittelbar einsichtig sein, wenn beide Briefpartner auf den früheren Briefverkehr implizit Bezug nehmen. Dieses methodische Problem gilt es in den nachfolgenden Untersuchungen zu bedenken. Intendierte Obscuritas kann durch variable literarische Techniken und Textstrategien erreicht werden. Formal kann hier zwischen einer inhaltlichen und einer stilistischen Verdunkelung unterschieden werden. John Press hat anhand der englischen Dichtung drei Verdunklungsebenen herausgearbeitet, mit denen jeweils unterschiedliche Techniken verknüpft sind:130 (1) eine lexikalische und syntaktische Ebene, (2) eine gedankliche Ebene und (3) eine Ebene literarischer, philosophischer und naturwissenschaftlicher Anspielungen.

126 Dieser Aspekt erhält etwa bei der Bewertung der Briefe des Avitus von Vienne besondere Bedeutung, wo der desolate Überlieferungszustand die Texte für den modernen Betrachter (zusätzlich) verdunkelt. 127 Die Grammatik reagierte darauf mit Glossen und Kommentaren, vgl. weiter unten: S. 109–110. Quintilian streift dieses Problem in seiner Erörterung des aenigma, vgl. Quint. inst. 8,6,53: et oratores nonnumquam [utuntur], ut Caelius (…). namque et nunc quidem solvuntur et tum erant notiora, cum dicerentur: aenigmata sunt tamen. 128 Vgl. Ziolkowski (1996b) 135 über die diesbezüglichen Schwierigkeit moderner Analyse von mittelalterlicher Poesie: „Poets and audiences shared so much in the way of educational and cultural experiences that as outsiders we confront a severe disadvantage in trying to follow the nuances of the telegraphic communication this shared culture made possible (…)“. 129 Vgl. etwa von Albrecht (2003) 56: „Generally the frequency of ellipses in the Letters to Atticus is conditioned not only by Cicero’s frame of mind at a given moment, but even more so by motives of social psychology: the greater the familiarity between correspondents, the smaller the risk of misunderstanding; among close friends there is no need of detailed explanations; a few hints are perfectly sufficient. For the same reason, the Letters to Atticus are especially difficult to understand for us.“ 130 Press (1958) 7–67.

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I. Einführung

Während bei (1) etwa Neologismen, Archaismen, Metaphern und eine fehlende beziehungsweise unorthodoxe Syntax verdunkelnd wirken, sind es bei (2) logisch oder vom uneingeweihten Leser nicht nachvollziehbare Gedankengänge und Widersprüchlichkeiten sowie bei (3) das Aufrufen unkonventioneller Texte und Wissensbestände, die einen verdunkelnden Effekt bewirken.131 Die dahinterstehenden Motivationen sind ebenso vielfältig wie die zur Verfügung stehenden Techniken selbst. Drei Hauptmotivationen benennt ein wohl im frühen 7. Jahrhundert tätiger Grammatiker mit dem vielsagenden Pseudonym Virgilius Maro.132 Virgilius hat das vorletzte Buch seiner Epitomae, einer eigenwilligen grammatischen Lehrschrift, der obskuren Chiffriertechnik der scinderatio fonorum („Silbenschneiden“) gewidmet. Zu Beginn seiner Ausführungen lässt Virgilius seinen Lehrer Aeneas erst einmal die Gründe referieren, die deren zweifelhaften Einsatz legitimieren: Primus Aeneas apud nos fona scindere consuetus erat. quod cum ab eo diligentissime percunctarer, cur hoc faceret, ita locutus est: „O fili,“ inquit, „ob tres causas fona finduntur. prima est, ut sagacitatem discentium nostrorum in inquirendis atque inveniendis his quae obscura sunt adprobemus; secunda est propter decorem aedificationemque eloquentiae; tertia ne mistica quaeque et quae solis gnaris pandi debent, passim ab infimis ac stultis facile reperiantur, ne secundum antiquum proverbium sues gemmas calcent.“ Aeneas war der erste von uns, der die Silben zu zerschneiden pflegte. Als ich mich bei ihm in aller Sorgfalt erkundigte, warum er dies täte, gab er mir folgendes zur Antwort: „Mein Sohn, aus drei Gründen werden die Silben zerschnitten: Erstens, um den Scharfsinn unserer Schüler beim Entdecken und Auffinden von Dunkelheiten zu erproben; zweitens, wegen des sprachlichen Schmucks und der stilistischen Erhebung der Rede; drittens, damit nicht Geheimes und, was nur Eingeweihten zugänglich sein soll, von niederen und einfältigen Personen leicht verstanden wird: damit also nicht – gemäss dem Sprichwort – Perlen vor die Säue geworfen werden. (Virg. gramm. epit. 10,1–11)

Aeneas unterscheidet drei Funktionsbereiche: Neben einer pädagogisch-didaktischen Aufgabe misst er der scinderatio einen ästhetischen Wert sowie eine kryptographische Bestimmung zu. Zum einen würden Lerneifer und Scharfsinn der Schüler durch den Anreiz, den die Auflösung dunkler Stellen biete, angeregt und herausgefordert, zum anderen steigere diese Technik die Kunst der Rede, da sie ihr zusätzlichen Schmuck (decor) verleihe. Darüberhinaus biete sie die Möglichkeit, bestimmte Geheimnisse (mistica) vor dem Zugriff Uneingeweihter und Ungebildeter zu schützen.133 Nach dieser Einlei131 Zu den entsprechenden rhetorischen Möglichkeiten: Mehtonen (2003) 67–75. 132 Ziolkowski (1996b) 138 ff. hat mit Blick auf die mittelalterliche Literatur den Katalog möglicher Motivationen noch weiter ausdifferenziert. Zu Virgilius Maro vgl. die Studie von Law (1995). 133 Diese Funktion ist in religiös-mystischen und naturwissenschaftlich-philosophischen Kontexten verbreitet, vgl. z.B. Firm. math. 4,22,1 (über astrologisches „Geheimwissen“): Explicaturo mihi nunc doctrinae istius veneranda secreta, quae divini veteres cum maxime trepidatione dixerunt et quae involuta obscuritatis ambagibus reliquerunt ob hoc, ne publicata divina scientia ad profanorum hominum notitiam perveniret, intento (…) animo et

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tung beginnt Virgilius mit seinen Ausführungen, die er anhand von allerlei Beispielen aus ominösen Autoritäten belegt. Virgilius verbindet Aeneas’ Kategorisierung im Folgenden mit drei spezifischen Varianten der Verschlüsselung, die den definierten Kontexten – Schule, Literatur, Kryptographie – zugeordnet sind: Dieser triplex ordo unterteilt sich in die „Zerschneidung“ einzelner Kola, einzelner Silben und schliesslich einzelner Buchstaben. Letzteres ist fraglos die höchste Stufe der durch diese Technik erreichten Obscuritas und eignet sich abgesehen von einer mässigenden Züchtigung übereifriger Schüler ausschliesslich für kryptographische Zwecke. Als besonders drastisches Beispiel wird in diesem Kontext der Rhetoriklehrer Aemilius zitiert: Emilius quoque rethor eleganter ait: SSSSSSSSSSS PP NNNNNNNN GGGG RR MM TTT D CC AAAAAAA IIIII VVVVVVVV O AE EEEEEEE, cuius haec soluitio: sapiens sapientiae sanguinem sugens sanguissuga venarum recte vocandus est. Folgendes sprach auch der Rhetor Emilius auf elegante Weise: SSSSSSSSSSS PP NNNNNNNN GGGG RR MM TTT D CC AAAAAAA IIIII VVVVVVVV O AE EEEEEEE. Die Lösung lautet wie folgt: Ein Weiser, der das Blut der Weisheit in sich aufsaugt, muss zu Recht „Blutsauger der Venen“ genannt werden. (Virg. gramm. epit. 10,37–42)

Die scinderatio fonorum ist lediglich ein Bestandteil im offenkundig obskurantistischen Programm dieses seltsamen Grammatikers.134 In eine ähnliche Richtung weist seine Doktrin der „Zwölf Latinitäten“, die er im ersten und letzten Buch seiner Epitomae darlegt: Zwölf Varietäten der Latinitas gebe es, doch sei nur die erste in gängigem Gebrauch. Am Beispiel des Wortes ignis werden die übrigen vorexerziert: II. quoquihabin (…); III. ardon (quod ardeat); IV. calax (ex calore); V. spiridon (ex spiramine); VI. rusin (de rubore); VII. fragon (ex fragore flammae); VIII. fumaton (de fumo); IX. ustrax (de urendo); X. vitius (…); XI. siluleus (…); XII. aeneon (…). II. quoquihabin (…); III. ardon (weil es brennt); IV. calax (von calor); V. spiridon (von spiramen); VI. rusin (aufgrund der roten Farbe); VII. fragon (vom Zischen der Flamme); VIII. fumaton (von fumus); IX. ustrax (vom Verbrennen); X. vitius (…); XI. siluleus (…); XII. aeneon (…). (Virg. gramm. epit. 1,64–83)

Virgilius’ etymologische Erklärungen, die er einzelnen Vokabeln beifügt, liefern Hinweise, aber keinen Schlüssel zu deren Dekodierung. Den Rezipienten wird zwar eine Funktionsweise dieser kryptographischen Technik vorgeführt, doch erhält er einen zu beschränkten Einblick in die waltenden Prinzipien, um im Analogieschluss systematisch weitere Beispiele aufschlüsseln oder selbst kreieren zu können. Diese Grundprinzipien müssen aus eigener Kraft erschlossen werden. Im 12. Buch der Epitome, das aus einem Katalog quieto nec aliis rationibus occupato, ut, quicquid dixerim in hoc tractatu, facillimis rationibus intimetur. 134 Der Satz ist in die jeweilige Anzahl Buchstaben zerschnitten. Nach welcher Regel dies erfolgte, ist mir jedoch nicht einsichtig.

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„berühmter“ Grammatiker besteht, kommt Virgilius erneut auf die Zwölf Latinitäten zu sprechen. Hier präsentiert er sie in anderer Form nach dem System eines Virgilius von Asia, der einen eigenen Traktat darüber verfasst habe.135 Virgilius’ Darlegung verschiedener Chiffrierungsmethoden ist eine indirekte Aufforderung und Anleitung zu ihrer aktiven Anwendung. Beides erscheint in einem grammatischen Werk als überaus paradox und kann zumindest aus heutiger Perspektive kaum gelesen werden, ohne einen parodistischen Unterton zu vermuten.136 Das Handbuch ist nur oberflächlich als Hermeneutik getarnt, die dem Grammatikschüler als Hilfestellung bei der Interpretation von Klassikertexten in die Hände gegeben wird. Auffällig ist in diesem Zusammenhang gerade die Gegenläufigkeit seiner Darstellung zur antiken grammatisch-rhetorischen Tradition, welche, wie zu zeigen sein wird, die theoretische Obscuritas-Diskussion in Spätantike und Mittelalter massgeblich bestimmte.137 Sprachliche Klarheit und Deutlichkeit (perspicuitas) sind entscheidende Vorbedingungen für die persuasio. Verständlichkeit ist somit Wirkungsziel jeder Rede. Virgilius’ „systematisch durchgebildete Geheimsprache, die im Schatten der Schule ein dunkles Dasein führt“ 138, ist fraglos als Extrembeispiel zu werten und muss in die Nähe zeitgenössischer enigmatischer Werke wie den Hesperica famina oder Aldhelms Aenigmata gerückt werden. Sein Ansatz reicht jedoch entschieden über eine Parodie des zeitgenössischen Grammatikbetriebs hinaus, auf die man sein Werk zu reduzieren versucht ist. Was Virgilius letztlich thematisiert, sind die grundlegenden Funktionsbedingungen des Systems Sprache und ihrer Fixierung in der Schrift. Sprache versteht Virgilius ganz im Sinne des Saussure’schen Zeichenmodells: Die Ausprägungsmöglichkeiten der Latinitas sind für ihn prinzipiell beliebig und grenzenlos.139 Anhand des extremen Falls des „Silbenschneidens“ verdeutlicht Virgilius seiner Leserschaft die schier endlosen Kombinationsmöglichkeiten von Ziffern, Silben und Wörtern, bei der die Arbitrarität der Sprache unmittelbar hervortritt. Allein durch eingrenzende Normierungen und Konventionen kann Verständlichkeit innerhalb einer Sprachgemeinschaft gewährleistet werden. Jeder Bruch mit einer etablierten Konvention bewirkt Dunkelheit und stellt letztlich eine Gefahr für die Funktionalität des Systems dar. Das Unerhörte von Virgilius’ Vorgehen wird vor diesem Hintergrund erst richtig deutlich: Der grammaticus ist in der spätantiken Bildungskultur der Garant der Sprachrichtigkeit, der durch die normative Vermittlung des usus loquendi den kulturellen Rückbezug der Elite auf eine historisch definierte 135 Virg. gramm. epit. 12,26–79. 136 „No grammarian would wish to encourage a plurality of Latins, and in that sense, taken literally, his teaching is nonsense“: Law (1995) 56. Zu den offenkundigen Parallelen zu Donats Ars maior und Ars minor vgl. Law (1995) 5 f. 137 Vgl. dazu weiter unten: S. 93–103. 138 Goetz (1896) 91 139 Vgl. Law (1995) 53.

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Romanitas gewährleistete.140 Doch anstatt dieser verantwortungsvollen Aufgabe nachzukommen und das systemkonforme Regelsystem in verständlicher Weise zu vermitteln, konzentriert sich Virgilius auf obskure Sprachphantasien, die gerade die Verbindlichkeit der geltenden Regeln provokant in Frage stellen. Auf der anderen Seite kann seine Heterodoxie gerade als Appell für die Einhaltung der Konvention verstanden werden, da er im Kleinen exemplarisch vorführt, wie Normverstösse in Unverständlichkeit und sozialer Aphasie enden. In dieser Hinsicht würde es sich um ein dogmatisches Gegenstück zur spielerischen Form der Entalltäglichung handeln, die der Radikalisierung des sprachlichen Ausdrucks durch die otiosi zugrunde liegt.141 Virgilius vermittelt mit der scinderatio also keineswegs blossen Nonsense, sondern sensibilisiert die Leserschaft für die variablen Möglichkeiten der Sprache. Seine abstrus erscheinenden Bezeichnungen für ignis sind sinntragend, da sie je einen spezifischen Aspekt von „Feuer“, nämlich seine Hitze, Farbe oder sein Geräusch betonen. Es handelt sich also um ergänzende Präzisierungen des sprachlichen Ausdrucks, die die Hervorhebung bestimmter sinnlicher Eindrücke ermöglichen. Sprachkreationen dieser Art sind in der Poesie als Veranschaulichungsstrategie (ἐνάργεια) beliebt, doch entfalten sie ihre Funktion nur, wenn ihr linguistischer Bezug grundsätzlich transparent bleibt und die Begriffe aufgrund gängiger Kriterien analysier- und dekodierbar sind.142 Gerade dies unterbleibt aber bei Virgilius’ Latinitäten weitgehend. Sein Spiel mit fiktiven Sprachvarianten der Latinitas, das den Rezipienten in den Grenzbereich zwischen Regelhaftem und Regellosem, zwischen Verständlichkeit und Unverständlichkeit führt, berührt ein grundsätzliches hermeneutisches Problem, das über die Bereiche von Sprachphilosophie und Semiotik hinausreicht. In der griechisch-römischen Antike war sprachliche Dunkelheit in ihrem Ursprung eine Kategorie des Religiös-Ominösen, das in Mystik, Mantik und dem Orakel seine natürliche Ausprägung fand.143 Früh hielt sie dann Einzug in Teilbereiche der Philosophie, von wo sie über allgemeine Sprachbetrachtungen zu einem festen Terminus der Rhetorik (obscuritas, σκóτος) wurde, ohne aber in einer theoretisch konsistenten Fassung des Begriffs zu münden. Auch in anderen Kontexten, im Rechtswesen sowie in der Literaturästhetik befasste man sich ausführlich mit dem Phänomen der Interpretationsbedürftigkeit von Zeichen und sprachlichen Aussagen. Im ursprünglichen Sinn bedeutet das in der lateinischen Literatur seit Ennius bezeugte obscurus „be140 Vgl. weiter unten: S. 87–88. 141 Zum homo otiosus beziehungsweise zum otiosus lector als Bezeichnung für den Angehörigen der Bildungselite, der mit Zeit und Geduld einen Text rezipiert und stilistische Qualitäten schätzt, vgl. weiter unten: S. 102, 126f., 161. 142 Als Beispiel mag etwa Georg Trakls Wortkreation „Mönchin“ (für Nonne) dienen, die zwar verdunkelnd wirkt, aber gleichwohl verständlich bleibt. Vgl. zu Trakls dunkler Sprache allgem. Berger (1971). 143 Vgl. zum Folgenden Fuhrmann (1966) 51–53; Walde (2003) 359–362.

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deckt, verhüllt“ und daher auch „verdunkelt, dunkel“.144 Die Verbindungen des Adjektivs mit lux neben nox, umbra, nubes und Ähnlichem deuten eher auf ein dämmriges Dunkel als auf eine absolute Finsternis hin.145 Übertragen auf den sprachlich-literarischen Bereich ist der Sinn von Texten, die als „verdunkelt“ beschrieben werden, demzufolge nicht „undurchsichtig“, sondern vielmehr „im Dämmerlicht verborgen“ und somit mittels Adaptation an die Lichtverhältnisse auch erkenn- und sichtbar.146 „Dunkel“ ist Sprache dann, wenn sie die Funktion einer Mitteilung innerhalb der Sprachgemeinschaft nicht unmittelbar erfüllt, obscurus ist also nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit „unverständlich“.147 Auf der anderen Seite wird Licht nicht immer mit „verständlich“ assoziiert. So führt etwa bei Platon und in der von dessen Gedanken inspirierten christlichen Mystik das grelle Licht der Gottesschau paradoxerweise in eine noch tiefere Dunkelheit als jene durch Unkenntnis und Unwissenheit.148 Die antike wie moderne Terminologie unterliegt einer elementaren Dialektik, da „hell“ nur in der Abgrenzung zu „dunkel“ existiert. Entsprechend sind die Grenzlinien zwischen den beiden Bereichen fliessend, wobei selbst die Extremwerte in Relation zueinander stehen und keine absoluten Werte darstellen. Diese schliessen sich nicht aus, sondern bedingen sich vielmehr gegenseitig. Entsprechend hatte sich in der frühneuzeitlichen Literatur mit der Skiagraphie ein Schreibstil herausgebildet, der wie in der Malerei die diesbezüglichen Gegensätze zu vereinen suchte und mit der Technik des Helldunkel ein harmonisches Gleichgewicht der Kontraste im Sinne einer concors discordia anstrebte.149 Die Verständlichkeit oder Unverständlichkeit von Zeichen, Wörtern und Texten stellt ein überzeitlich-ubiquitäres Sprachphänomen dar, das alle Bereiche und Disziplinen, die unmittelbar mit Sprache operieren, betrifft. Sprache bedarf aufgrund ihrer Zeichenhaftigkeit grundsätzlich der Auslegung und einer bestimmten Ordnung – eine Erkenntnis, die besonders in der Moderne prägend wirkte. Die Ambiguität des Zeichensystems Sprache gehört seit Saussure zu den Axiomen der Linguistik. Nichtverstehen wird bei Schleiermacher zur hermeneutischen Regel, bei Luhmann zum Normalfall sozialer Kommunikation.150 Die Schriftlichkeit, die eine Rückverwandlung der Zei144 Die Beziehung zu obscaenus/obscēnus „anstössig“, das ursprünglich „links“ (< ob-scaenus „links, ungünstig“ und nicht < obs-caenum „mit Mist bedeckt“) und wohl auch „schattig“ (vgl. Balto-Slavisch *skeh2-i-n „Schatten“) bedeutete, ist semantisch einleuchtend, morphologisch aber umstritten. Vgl. de Vaan (2008) 422–423. 145 Fuhrmann (1966) 50. 146 Walde (2003) 358. 147 Vgl. Berger (1971) 2. 148 Vgl. Plat. rep. 515. Vgl. zur christlichen Mystik in diesem Zusammenhang etwa von Ivanka (1959) und Turner (1995). 149 Dazu allgem. Mehtonen (2003) 13–15, 17–22. Zum clair-obscur und chiaroscuro in der Malerei vgl. Baxandall (1995) 76 ff. 150 Einen gängigen Überblick über die diesbezüglichen modernen Ansätze bietet Schumacher (2000).

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chen in Sprache und Sinn durch den Leser erfordert, erweitert das Problem um eine zusätzliche Dimension.151 Vor diesem Hintergrund stellen Reflexionen über die Voraussetzungen von Verstehen und Nichtverstehen, über die grundsätzliche Kommunikabilität von Sinn sowie über die Funktionsweisen von Sprache elementare Grundprobleme der Geisteswissenschaften dar. Wenn das Verhältnis von sprachlichen Zeichen (Signifikanten) und Bedeutungen (Signifikaten) oder die Referenzfähigkeit von Sprache diskutiert, die hermeneutische Fähigkeit des Interpreten problematisiert oder Unverständlichkeit als Axiom kommunikativen Handelns postuliert wird, geht es letztlich um unterschiedliche Aspekte desselben Urphänomens. Von Seiten der Literaturwissenschaften von besonderer Relevanz ist in diesem Zusammenhang die Frage nach den Konstruktionsbedingungen von Sinn. Wer generiert Sinn: der Produzent, der Rezipient oder der Text? An diesem Streitpunkt setzt letztlich auch die Mehrzahl der modernen Text- und Lesertheorien an. Mit dieser Frage eng verbunden ist nicht zuletzt die Problematik der Ursachenbewertung. Ist Verständlichkeit ein Textmerkmal oder eine Rezeptionsleistung, ist Unverständlichkeit ein Fehler oder entspricht sie einem bewussten Wunsch des Produzenten oder des Rezipienten? Die Antworten auf solche Grundsatzfragen divergieren je nach methodischem Ansatz und hermeneutischer Zielsetzung, sodass Begriffe wie „Dunkelheit“ und „Klarheit“, „Verständlichkeit“ und „Unverständlichkeit“ seit der Antike zwischen positiver und negativer Bewertung, zwischen polemischer Kritik und affirmativer Wertschätzung oszillieren.152 Aus Sicht der angewandten Linguistik ist die Kommunikationssituation grundsätzlich auf gegenseitige Interaktion ausgelegt: Der Produzent berücksichtigt den Rezipienten, der Rezipient berücksichtigt den Produzenten. So spielen für die Wirkungsintentionen und -ziele des Autors die Rezeptionssituation und Erwartungshaltung seines historischen Publikums eine ebenso grosse Rolle wie umgekehrt das Publikum aussertextliches Wissen (Kenntnisse über Autor, Gattung usw.) in die Textanalyse miteinbezieht. Auch mit Blick auf die Sinnkonstruktion eines Textes bedingen sich Produktions- und Rezeptionsseite.153 So ist denn Textverständnis generell als Resultat eines Wechselspiels von korrelierenden Text- und Lesestrategien zu verstehen, in dem Textpotential und Lesererwartung interaktiv aufeinandertreffen.154 Dieses Interaktionsmodell, in dem literarische Obscuritas als Resultat von Verhandlungen zwischen Autor und Leser beziehungsweise zwischen 151 Voraussetzungen, Bedingungen und Abläufe von Leseprozessen hat Gross (1994) untersucht. Vgl. dazu auch die stärker linguistisch orientierten Ausführungen von Groeben (1982). 152 Mehtonen (2003) 20: „The continuity of theories of obscurity in the sciences of language and literature has doubtless been guaranteed by the impossibility of ever pinning down the point at which lucidity passes into unintelligibility and poetry of genius becomes a waste of paper.“ 153 Spillner (1995) 14. 154 Zur kognitiven Sinnkonstruktion im Leseprozess vgl. Gross (1994) 15 ff.

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Text und Leser aufzufassen ist, bildet die theoretische Grundlage für die vorliegende Untersuchung. Sender und Empfänger werden als Partner in einem wechselseitigen Agon verstanden, in dem die Bedingungen von kommunikativer Verständigung, von rezeptiver Sinnerschliessung und produktivem Sinnverschluss ständig neu verhandelt werden. In den zu untersuchenden Texten stellt die Briefform den vertraglichen Rahmen dieser Interaktion dar, die durch bestimmte kontemporäre Regeln, Lizenzen und Konventionen definiert war. Bei der Annahme der Lektüre akzeptierten der primäre Adressat und der sekundäre Leser das Angebot des Autors und passten ihre Lese- und Interpretationsweisen den vorgegebenen Bedingungen an.

3. METHODOLOGISCHE GRUNDLEGUNG: ZUR LITERARIZITÄT SPÄTANTIKER PRIVATBRIEFE Epistula est, habet quippe in capite quis ad quem scribat. (Augustinus, retract. 2,20)

3.1. Vorbemerkungen Die von der spätantiken Bildungselite in alltäglicher Korrespondenz verfassten elaborierten Kunstbriefe (litterae litteratae155) sind als Kommunikationsform typologisch nicht leicht zu fassen. Einerseits handelt es sich in den meisten Fällen um intime Dokumente, in denen zwei Partner sich in privatem Dialog austauschen. Andererseits sind es hochstilisierte Schriftstücke, die den literarischen Konventionen der Zeit entsprachen und daher zum einen in produktionsästhetischer Hinsicht einem zeitgenössischen Publikum zugänglich gemacht werden konnten, zum anderen aber auch aus rezeptionsästhetischer Perspektive als Literaturform anerkannt wurden. Je nach Ambition und Wirkungsabsicht des Autors war eine spätere Verbreitung eines bestimmten Briefes bereits bei der Abfassung einkalkuliert. Eine nachträgliche Differenzierung zwischen privaten und literarischen Briefen, die für einen grösseren Rezipientenkreis bestimmt waren, war selbst für Zeitgenossen kaum möglich. Im Unterschied zur modernen Briefforschung sah die Antike aber für eine derartige Unterscheidung auch keine Notwendigkeit. Dies gilt prinzipiell auch für poetische Briefe, solange hinsichtlich Adressat und Absender ein Wirklichkeitsbezug auch gewahrt blieb.156 155 Zur spätantiken Briefkunst vgl. ausführlich weiter unten: S. 126–140. Der Verweis auf die die Wendung belegenden Textstellen erfolgt auf S. 131 Anm. 19. 156 Dass die starre Grenzlinie zwischen Poesie und Kunstprosa in der Spätantike weitgehend aufgehoben war, betont u. a. auch La Penna (1995a) 9. Je nach Briefpartner und Bildungsstand war es Usus, auch Privatbriefe gelegentlich mit poetischen Einlagen zu versehen. Dies zeigen auch zahlreiche spätantike Briefe, die ausserhalb einer autorin-

3. Methodologische Grundlegung: Zur Literarizität spätantiker Privatbriefe

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Wenn nun in dieser Arbeit mit Obscuritas ein bestimmter Aspekt der spätantiken Briefkultur genauer ins Auge gefasst wird, so geschieht dies bewusst auf der Grundlage eines heterogenen epistolographischen Textkorpus: Einzelne der analysierten Briefe wurden von ihrem Verfasser als literarische Sammlung herausgegeben, während andere erst postum zusammengestellt oder nur durch Zufall überliefert sind. In quellenkundlicher Hinsicht stehen also historische Überreste neben literarischen Episteln. Im Folgenden gilt es darzulegen, dass die hier gewählte Vorgehensweise über methodologische Stringenz verfügt. Denn Obscuritas ist nicht an eine wie auch immer definierte Literarizität eines Briefes gebunden, sondern stellt vielmehr ein sozioliterarisches Phänomen dar, das in Briefen bestimmter Gesellschaftsschichten generell in Erscheinung treten kann. Aus diesem Grund wird der Analyse ein neues Briefmodell zugrunde gelegt, das dieses moderne Missverhältnis behebt und sich für ähnliche übergreifende Untersuchungen in antiker wie spätantiker Epistolographie gleicherweise anbietet. Darin werden im Unterschied zu den gängigen brieftypologischen Ansätzen die offenkundigen formalen wie inhaltlichen Gemeinsamkeiten unterschiedlich überlieferter Privatbriefe nicht künstlich verwischt, sondern vielmehr als homogene Bestandteile derselben aristokratischen Briefkultur verstanden und als solche hervorgehoben.157

3.2. Einführung: (Un-)Erwünschte Einsichtnahmen in einen Brief: Sulp. Sev. epist. 3 Um das Jahr 397, kurz nach der Fertigstellung seiner Vita s. Martini, wendet sich Sulpicius Severus in einem langen Brief an seine Schwiegermutter und geistige Mentorin Bassula. Der ehemalige Anwalt und überzeugte Asket eröffnet das Schreiben mit einem nicht geringfügigen Vorwurf an die ehrwürdige und aus begüterter Familie stammende Dame: Sulpicius Severus Bassulae parenti venerabili salutem. Si parentes liceret in ius vocari, te plane expilationis furtique ream ad praetoris tribunal iusto dolore traheremus. quid enim non conquerar, quam a te patior iniuriam? nullam mihi domi chartulam, nullum libellum, nullam epistulam reliquisti: ita furaris omnia, ita universa divulgas. si quid ad amicum familiariter scripsi, si quid forte, dum ludimus, quod velim tamen occultum esse, dictavi, omnia ad te prius paene quam fuerint scripta aut dictata perveniunt. nimirum obarratos habes notarios meos, per quos tibi nostrae ineptiae publicantur. (…) tu sola es rea, tu sola culpabilis, quae et mihi insidiaris et illos fraude circumvenis, ut sine dilectu ullo familiariter scripta, aut neclegenter emissa, inlucubrata tibi penitus atque inpolita tradantur. nam ut de reliquis taceam, rogo quemadmodum tam cito tendierten Sammlung überliefert sind, vgl. z.B. Ruric. epist. 2,19; Epistula Rustici ad Eucherium; Epist. Austr. 13; Desid. Cah. epist. 2,1. Zur Fiktion wird ein Brief, wenn einer der briefkonstituierenden Elemente nicht real sind, vgl. dazu weiter unten: S. 46. 157 Die Homogenität der epistolographischen Praxis verdeutlicht etwa der Ansatz von Stowers (1986), der in seiner Darstellung antiker Brieftypen Papyrusbriefe neben handschriftlich überlieferte Briefe stellt.

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I. Einführung ad te epistula illa potuit pervenire, quam nuper ad Aurelium diaconum scripseramus. ego enim Tolosae positus, tu Treveris constituta et tam longe a patria filio inquietante divulsa, qua tandem familiarem illam epistulam occasione furata es? Sulpicius Severus grüsst seine ehrwürdige Mutter Bassula. Wenn es erlaubt wäre, seine Eltern vor Gericht zu bringen, würde ich dich mit berechtigtem Ärger wegen Raubes und Diebstahls vor das Tribunal des Prätors zerren. Wie sollte ich auch das Unrecht, das ich von dir erleide, nicht beklagen? Kein Blatt, kein Heft, keinen Brief hast du in meinem Haus verschont: Alles nimmst du an dich, alles bringst du unter die Leute. Wenn ich etwas vertraulich an einen Freund geschrieben habe, wenn ich etwas nur so zum Spass diktiert habe, von dem ich dennoch nicht will, dass es an die Öffentlichkeit kommt, alles gelangt zu dir, beinahe noch bevor ich es geschrieben oder diktiert habe! Ohne Zweifel hast du meine Sekretäre bestochen, durch welche dir meine Albernheiten zugänglich gemacht werden. (…) Du allein bist schuldig, du allein verantwortlich, du lauerst mir auf und umschleichst jene hinterlistig, damit sie dir wahllos private Briefe oder leichtfertig abgeschickte Schreiben ohne gehörige Bearbeitung und stilistische Glättung aushändigen. Denn wie konnte – um nur ein Beispiel zu nennen – der Brief, den ich kürzlich an den Diakon Aurelius geschrieben habe, so schnell an dich gelangen? Ich befand mich nämlich in Toulouse, du aber warst in Trier, so fern der Heimat – zur Sorge deines Sohnes –, bei welcher Gelegenheit hast du dieses private Schreiben also in deine Hände bekommen? (Sulp. Sev. epist. 3,1–3)

Die in affektierter Entrüstung vorgetragene Anschuldigung gegen die Schwiegermutter beruht auf einer alten Konvention, nach der ein Brief grundsätzlich als vertrauliches Dokument anzusehen ist und dem Briefgeheimnis untersteht. Unrechtmässige Einsichtnahme oder Bekanntmachung des Inhalts galt als Vertrauensbruch und Ehrverbrechen.158 Der Raub – oder besser gesagt – die unrechtmässige Kopie intimer Dokumente durch die Tachygraphen, die Bassula ihrem Schwiegersohn überlassen hatte, soll gemäss Sulpicius auch Privatbriefe (familiariter scripta) in nachlässigem Stil (inlucubrata penitus atque inpolita) umfasst haben, die nicht für die Einsicht von Dritten bestimmt waren. Auch der vorliegende Brief und die darin enthaltenen Ausführungen über den Tod des heiligen Martin seien, so Sulpicius weiter, allein für Bassula bestimmt: Ego tibi statui nihil scribere, ne ubique me publices. tamen, si das fidem nulli te esse lecturam, paucis tuae satisfaciam voluntati (…). Ich habe beschlossen, dir nicht mehr zu schreiben, damit du mich nicht allen zugänglich machen kannst. Wenn du mir aber versprichst, dass du niemandem den Brief vorliest, so werde ich in wenigen Worten deinem Wunsch entsprechen (…). (Sulp. Sev. epist. 3,5)

Nicht nur der gepflegte Stil und die sorgfältigen Formulierungen legen unterschwellig die gegenteilige Bitte an die Adressatin nahe.159 Der Brief ist wie 158 Zum antiken Briefgeheimnis vgl. neben dem vielzitierten Cic. Phil. 2,4,7 weiter unten: S. 47, 251, 253, 300. 159 Zum gepflegten rhetorischen Stil des Sulpicius Severus vgl. u.a. Ghizzoni (1983) 249– 305.

3. Methodologische Grundlegung: Zur Literarizität spätantiker Privatbriefe

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auch der im Text erwähnte Privatbrief (epistula familiaris) an den Diakon Aurelius, der als zweiter Brief der Vita angehängt ist, trotz seiner äusseren Form und der mehrfachen Betonung seiner privaten Verwendung eindeutig für eine breitere „Öffentlichkeit“160 bestimmt. Vieles deutet darauf hin, dass die drei Briefe, die in den Handschriften zusammen mit der Vita tradiert wurden, schon früh zusammen mit den Dialogi der Vita als Ergänzung zugedacht waren.161 Sulpicius scheint hier also in auffallender Weise denselben Topos wie Augustinus zu bemühen, der gelegentlich die private Verwendung seiner Briefe betonte, um an anderen Stellen ausdrücklich für deren Weiterverbreitung zu sorgen.162 Spätestens seit Plinius dem Jüngeren war die Abfassung von Briefen eine anerkannte Form literarischer Betätigung.163 Sulpicius’ ostentative Rückbindung an eine rein private Gebrauchskorrespondenz erscheint damit als Zurückweisung allfälliger literarischer Ansprüche (inlucubrata penitus atque inpolita). Gleichwohl scheint sich hinter seiner rhetorisch effektvoll inszenierter Bescheidenheitstopik ein wahrer Kern zu verbergen, denn die Briefe besitzen mit ziemlicher Sicherheit einen postalischen Hintergrund. Handelt es sich also – wie bei einem Teil von Augustinus’ Korrespondenz – um Briefe, die sich erst sekundär an ein breiteres Publikum richten? Hier wie dort scheint die sorgfältige Stilisierung darauf hinzuweisen, dass der Autor bei der Abfassung seiner Briefe eine mögliche (kleinräumige) Weiterverbreitung prinzipiell zumindest nicht ausschloss – ein Vorgehen, das auch für Cicero nachweisbar ist.164 Oder handelt es sich trotz der gegenteiligen Versicherungen der Verfasser um reine „Literaturbriefe“, die von vornherein als Appendix der Vita konzipiert waren und die Adressaten auf diesem Wege gleichsam als literarische Widmung erreichten? Unabhängig davon, wie diese Frage letztlich beantwortet wird, lassen sich allein aus der Tatsache, dass Sulpicius dieses Problem thematisierte, zumindest Rückschlüsse darauf ziehen, dass die Frage nach dem Intimitätsgrad und Öffentlichkeitsbezug von Privatbriefen in dieser Zeit diskursiv verhandelt wurde. Vom regen Briefwechsel, den Sulpicius zweifellos pflegte, sind nur wenige Relikte erhalten. Anders als bei seinem Freund Paulinus von Nola, dessen epistulae familiares man wie die des Symmachus oder Augustinus bereits zu Lebzeiten sammelte, mit präsupponierter Einwilligung ihres Autors weiterverbreitete und später zu Sammlungen zusammenfasste, wurde die Korre-

160 Die Übertragung des modernen Öffentlichkeit-Begriffs auf die Antike ist zwar problematisch, wird im Folgenden aber mangels Alternativen beibehalten. Verschiedene Formen von Öffentlichkeit in der römischen Gesellschaft unterscheidet etwa Eich (2000). 161 Vgl. Fontaine (1969) 1119–1352. 162 Zur privaten Verwendung vgl. etwa Aug. epist. 220,2, zur Frage privat-öffentlich vgl. Aug. epist. 151,11; epist. 162,1. Die Bitte um Verbreitung ergeht in Aug. epist. 55,39; epist. 58,3; epist. 61,1; epist. 89,8. Vgl. Mratschek (2002) 410. 163 Vgl. dazu etwa das Zeugnis des Symmachus: epist. 8,69: Unum quippe hoc litterarum genus [sc. die Epistolographie] superest, post amaros casus orationum mearum, quod me ad usum scribendi possit adlicere. 164 Vgl. Wulfram (2008) 28 f.

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I. Einführung

spondenz des Sulpicius Severus auch postum nicht veröffentlicht. Interessant ist nun die Begründung, die Gennadius für diesen Umstand angibt: Scripsit ad supra dictum Paulinum Nolanum duas et ad alios alias, sed quia in aliquibus etiam familiaris necessitas inserta est, non digeruntur. Er schrieb zwei Briefe an den oben genannten Paulinus von Nola und weitere an andere Empfänger, doch weil in einigen Briefen auch private Angelegenheiten enthalten waren, wurden diese nicht weiter verbreitet. (Genn. vir. ill. 19 ed. Richardson, 69,18–20)

Mit Rücksicht auf den vermeintlich intim-privaten Charakter gewisser Briefe des Sulpicius sei deren weitere Verbreitung unterblieben.165 Wohl von ihm selbst als Sammlung in Umlauf gebracht war hingegen eine Reihe von Briefen an seine Schwester, die als traktathafte theologische Lehrschreiben (epistulae hortatoriae) offenbar von vornherein zur Veröffentlichung bestimmt waren.166 Der hier skizzierte Vorgang stellt für die wissenschaftliche Erforschung der antiken und spätantiken Epistolographie ein beträchtliches heuristisches und methodologisches Problem dar. Dieses steht in Zusammenhang mit der grundsätzlichen Frage nach der Literarizität der Textsorte Brief und damit letztlich auch mit der Frage nach der Legitimation einer literaturwissenschaftlichen Analyse: Wo verläuft bei den Briefen des Sulpicius Severus die Grenzlinie zwischen Gebrauchstext und Literatur, wo zwischen privat und öffentlich? Für die fachwissenschaftliche Auswertung ist die Antwort nicht irrelevant, wird doch zugleich die Frage nach der Authentizität der Texte aufgeworfen: Wird ein Brief als ein echter Gebrauchstext verstanden, so dürfte er eher aus einer historischen, biographischen oder theologischen Perspektive auf Interesse stossen, als wenn er als Literatur- oder Kunstbrief aufgefasst würde. Ein kohärentes brieftypologisches Modell, das die damit in Zusammenhang stehenden Probleme zufriedenstellend löst, wurde von der Forschung bisher nicht entwickelt. Vielmehr werden je nach antikem Autor und je nach fachwissenschaftlicher Ausrichtung und Analysemethode widersprüchliche beziehungsweise methodisch inkonsistente Ansätze verwendet. Im Folgenden soll daher ein hermeneutisches Modell in seinen Grundzügen umrissen werden, das meines Erachtens am ehesten geeignet ist, zumindest diesen Aspekt der spätantiken Briefkultur und der ihr zugehörigen Briefliteratur methodisch adäquat zu erfassen.

165 Die Zirkulation einzelner Briefe während seiner Lebenszeit ist verbürgt. So kennen Augustinus und Alypius Teile der Korrespondenz zwischen Paulinus von Nola und Sulpicius und können daraus zitieren, vgl. Mratschek (2002) 413. 166 Genn. vir. ill. 19 ed. Richardson, 69,16–17: Nam epistulas ad amorem Dei et contemptum mundi hortatorias scripsit sorori suae multas, quae et notae sunt.

3. Methodologische Grundlegung: Zur Literarizität spätantiker Privatbriefe

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3.3. Das Grundproblem: Der Brief im Spannungsfeld zwischen Gebrauchstext und Literatur Die in der gattungstypischen Veranlagung fussende Variationsbreite der textlichen Realisierungen der Kulturerscheinung Brief hat sowohl in der Klassischen Philologie als auch in den modernen Literaturwissenschaften früh den Wunsch nach einer systematischen Erörterung des erhaltenen Materials hervorgerufen. Die Notwendigkeit einer brieftheoretischen Klassifizierung liegt auf der Hand. Sowohl in der Antike wie in der Moderne ist die Vielfalt der erhaltenen Texte, die gemäss ihrer spezifischen Beschaffenheit der Textsorte Brief zugewiesen werden können, kaum zu überblicken.167 Die antike Bandbreite reicht von ein paar flüchtig auf einen Papyruszettel oder ein ὄστρακον gekritzelten Glückwunschzeilen über in Briefform gebrachte philosophische Traktate zu elegischen Versepisteln und kompletten Briefromanen. Eine eingängige Klassifizierung des Materials gestaltet sich daher äusserst schwierig. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive bereitet bereits die Bestimmung beziehungsweise die Ausgrenzung der fachwissenschaftlich relevanten Texte ernsthafte Probleme. Ein Grund liegt in der generischen Beschaffenheit der Textsorte Brief. Briefe sind in ihrer ursprünglichen pragmatischen Verwendung Gebrauchstexte.168 Sie befriedigen ein unmittelbares Kommunikationsbedürfnis, indem sie in Ersetzung einer mündlichen Transferleistung einer räumlich abwesenden Zielperson eine Nachricht übermitteln. Eine solche Mitteilung kann prinzipiell privat oder amtlich-offiziell sein, sich an eine Einzelperson oder an einen breiteren Rezipientenkreis richten und entsprechend intime, geschäftliche oder andere Informationen transportieren.169 Von seiner kommunikationspragmatischen Veranlagung her eignet sich der Brief neben einer reinen Informationsvermittlung auch zur Wahrnehmung appellativer und selbstmanifestierender Funktionen sowie allgemein zur Pflege von persönlichen Beziehungen.170 Je nach Intention des Briefs steht die eine oder andere Aufgabe im Vordergrund. Diese gattungsspezifischen Vorteile der quasidialogischen Form des Briefs, welche eine persönliche Hinwendung zum Partner mit weitgehender thematischer Freiheit verbindet, machen den Brief für unterschiedliche literarische Anliegen nutzbar. Die Gebrauchstextsorte Brief kann prinzipiell „literarisiert“ werden, also den Grenzbereich zur Literatur überschreiten und als solche rezipiert werden.171 167 Einen Überblick über die aus der Antike erhaltenen Briefe bietet etwa Trapp (2003). Zur Frage nach der Definition des antiken Briefs äussern sich ausführlich Gibson/Morrison (2007). Moderne Ansätze liefern Altman (1982) und Nickisch (1991). 168 Belke (1973) 142–157; Nickisch (1996). 169 Die Unterteilung in private und amtlich-offizielle Briefe entspricht römischem Selbstverständnis, vgl. Cic. Flacc. 23; Flacc. 37; Quint. inst. 1,1,29; Iul. Vict. rhet. ed. Giomini/ Celentano, 105,25–28. 170 Vgl. Belke (1973) 142–157; Nickisch (1991) 13–19 und mit Blick auf antike Briefe auch Thraede (1980) bes. 186–190. 171 Zur Literarisierung von Gebrauchsformen vgl. Belke (1973); Nickisch (1991) 19–22, 93–198; Nickisch (1996).

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I. Einführung

In der Antike gibt es zahlreiche Fälle einer „literarischen“ Nutzbarmachung der Briefform. Ein frühes Beispiel stellt der Lehrbrief dar, der im Laufe der Zeit zu unterschiedlichen Typen ausdiversifiziert und gegebenenfalls als Sammlung veröffentlicht wurde.172 Für den römischen Bereich sei hier exemplarisch auf Varros Epistolicae quaestiones, auf Ciceros rhetorisch-philosophischen Traktat Orator oder auf Senecas Epistulae morales verwiesen, die als offene Lehrbriefe von vornherein an ein breiteres Publikum gerichtet waren, sich formal aber einem spezifischen Adressaten zuwandten.173 In dieser Hinsicht entspricht der Brief auch in einer literarischen Verwendungsweise rein äusserlich der in der Antike etablierten Vorstellung vom Brief als Teil eines Gesprächs, indem der öffentliche Charakter des Briefs den primären Adressaten zur Identifikationsfigur der sekundären Leserschaft werden lässt. Die Gebrauchsform Brief kann im extremsten Fall zur dekorativen Hülle werden, die den vom Verfasser gewählten Inhalt transportiert, sei dieser nun didaktischer, moralischer oder propagandistischer Natur. Der Brief nähert sich in diesen Fällen der Gattung des Traktats.174 Ähnliches gilt mutatis mutandis auch für einen Grossteil der metrischen Briefe, die aus der Antike erhalten sind.175 Die Literarisierung der Briefform erreicht ihren Höhepunkt, wenn ein Briefschreiber eine reale, das heisst eine theoretisch mögliche Briefsituation gar nicht mehr anstrebt, der Brief also vollends zur Fiktion wird.176 Medeas Brief an Jason in Ovids Heroides wird aus verschiedenen Gründen kaum ein Leser als authentisch ansehen, was automatisch zu einer literarischen Lektüre des Textes anregt. Die Literarizität dieses Briefs erschliesst sich dem Rezipienten also in diesem Fall aufgrund der auf der inhaltlichen Ebene angelegten Fiktionalität, die aus der Unmöglichkeit der Briefsituation selbst resultiert. 172 Zum antiken Lehrbrief etwa Peter (1901) 216–225; Sykutris (1931) 202–205; Gigon (1980); Görgemanns (1997) 1167; Langslow (2007). 173 Diese Tradition lebte in der Spätantike fort, vgl. Fuhrmann (1998) 271–274; Gemeinhardt (2007) 187: „In der christlichen Literatur der Spätantike herrschen fliessende Übergänge zwischen Briefen, theologischen Traktaten und exegetischen Kommentaren, insofern auch diese beiden Gattungen, obwohl von vornherein an eine breitere Leserschaft gerichtet, meist bestimmten Empfängern gewidmet waren (…)“. Dass dies von den spätantiken Autoren auch so verstanden wurde, zeigt etwa Aug. retract. 2,56, wo er darlegt, dass das zweite Buch seines Traktates De anima et eius origine eigentlich einen Brief darstellt: sed ad Petrum, quamvis habeat libri prolixitatem, tamen epistula est, quam nolui a tribus ceteris separari. Vgl. auch Aug. retract. 2,20: quorum librorum prior epistula est; habet quippe in capite, quid ad quem scribat. 174 Zahlreiche antike Werke (bes. Gedichte) weisen mit der formal nicht abgetrennten Adressierung des Empfängers eine wesentliche Briefcharakteristik auf, ohne dass man in eigentlichen Sinn von Briefen sprechen kann. Zu diesen Abgrenzungsproblemen etwa Wulfram (2008) 49–50. 175 Zum poetischen Brief allgem. Peter (1901) 178–197. 176 Fiktive Briefe sind in der griechischen Literatur relativ häufig und kommen in den verschiedensten Ausprägungen vor. Einen Überblick bieten Rosenmeyer (2001); Muir (2009) 177–210. Zu den griechischen Briefromanen vgl. Holzberg (1994).

3. Methodologische Grundlegung: Zur Literarizität spätantiker Privatbriefe

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In der Tat erscheint die literarische Beurteilung von Briefen dieser Art weniger problematisch als wenn man es mit Schreiben zu tun hat, die nicht offenkundig eine Öffentlichkeit anvisieren, sondern offensichtlich als reale Gebrauchsbriefe konzipiert waren. Einen besonders häufigen Typ stellt hier der Privatbrief dar.177 Unter Privatbrief ist im engeren Sinn das gemeint, was Cicero vorschwebte, als er Marcus Antonius in der zweiten Philippica Vertrauensbruch vorwarf, da dieser eine persönliche Botschaft dem Senat unterbreitete hatte.178 Im Gegensatz zu einem offenen (politischen) Brief, der neben dem expliziten Adressaten gleichzeitig eine implizite Öffentlichkeit ansprechen will, ist der Privatbrief grundsätzlich als vertrauliches Dokument anzusehen.179 Im Prinzip dürften also eigentlich, wie Paolo Cugusi zu Recht bemerkt hat, ausser auf dokumentarischem Weg keine antiken Privatbriefe erhalten sein:„L’epistola privata è un testo che costituisce uno scambio di idee e notizie tra due interlocutori al di fuori del possibile intervento di estranei: pertanto noi oggi teoricamente non dovremmo possedere, se non occasionalmente e marginalmente, alcun esemplare di tal genere di testi.”180 Diese Feststellung kann gerade mit Blick auf die Briefe Ciceros in gewisser Weise relativiert werden.181 Zum einen lassen sich auch für die Privatbriefe Ciceros verschiedene Öffentlichkeitsgrade rekonstruieren – eine Feststellung, die für literarisch tätige Persönlichkeiten in dieser Zeit wohl allgemeine Gültigkeit haben dürfte. Neben vertraulichen Briefen, die nur für den jeweiligen Adressaten bestimmt waren, schrieb Cicero auch Briefe, deren zeitliche und personelle Weiterverbreitung er gestattete, wenn nicht sogar beförderte, wobei die Aussicht auf eine spätere (kleinräumige) Zirkulation schon bei der Niederschrift des Briefs zweifellos Folgen für dessen stilistische und inhaltliche Gestaltung hatte.182 Zum anderen hat Cicero nachweislich – und möglicherweise als erster antiker Autor überhaupt – mit dem Gedanken gespielt, zumindest Teile seiner Privatkorrespondenz in überarbeiteter Fassung als Sammlung der Öffentlichkeit vorzulegen.183 Sein frühzeitiger Tod hat ihn jedoch an der Durchführung dieses Unterfangens gehindert, worauf sein Sekretär Tiro die editorische Aufgabe übernommen und neben anderen Werken Ciceros auch einen Grossteil von dessen Korrespondenz herausgegeben hat. Als Voraussetzungen einer postumen Veröffentlichung von Gebrauchsbriefen im Allgemeinen und von Privatbriefen im Besonderen ist der in der römischen Gesellschaft offenbar weit verbreitere Usus, neben den erhaltenen auch die selbst verfassten Briefe zu archivieren, anzusehen.184 Der Privatbrief kann also – sei 177 178 179 180 181 182

Ein heuristisches Modell des Privatbriefs liefert Bürgel (1976). Cic. Phil. 2,4,7. Vgl. zu dieser Definition Wulfram (2008) 23–24. Zu den Charakteristika eines offenen Briefs vgl. Essig (2000) 15–17. Cugusi (1989) 379. Zum Folgenden vgl. Steel (2005) 43–47; Wulfram (2008) 23–36. Vgl. Cic. fam. 15,21,4: aliter enim scribimus quod eos solos quibus mittimus, aliter quod multos lecturos putamus (…). 183 Einen konzisen Überblick zum Stand der Forschung bietet Wulfram (2008) 23–35. 184 Peter (1901) 32–35; Sykutris (1931) 198; Cugusi (1983) 139 f.; Cugusi (1989) 415–417.

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I. Einführung

es durch den Autor selbst oder einen Redaktor – wie jede Gebrauchsform die Grenze von einer privat-intimen zu einer öffentlich-literarischen Kommunikation, von einer primären zu einer sekundären Verwendungsweise überschreiten.185 Die Frage ist nur, aufgrund welcher Kriterien man im Einzelfall entscheiden will, wann und in welchem Ausmass eine solche Grenzüberschreitung vorliegt und ob der jeweilige Privatbrief dann als literarisch‚ unliterarisch oder gegebenenfalls als halb- beziehungsweise subliterarisch gelten soll.

3.4. Fallbeispiel: Der Privatbrief zwischen literarischem Produkt und historischem Dokument Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging von der Theologie ein für die Altphilologie wegweisender brieftheoretischer Impuls aus, als Adolf Deissmann vor dem Hintergrund seiner intensiven Beschäftigung mit hellenistischen Papyri die folgenreiche Differenzierung zwischen „Brief“ und „Epistel“ vornahm.186 Ein Brief, so Deissmann, sei etwas Unliterarisches, das vergleichbar einer mündlichen Mitteilung einzig der privaten Nachrichtenvermittlung diene. Davon abzugrenzen sei als eine rein literarische Kunstform die Epistel, die im Gegensatz zum Brief vom Verfasser für die Öffentlichkeit bestimmt sei.187 Zwar bestreitet Deissmann nicht die Existenz einer Mittelgattung, doch diese Zwischenform wird von ihm qualitativ abgewertet und nicht als wirklicher Brief anerkannt.188 Entlang der Demarkationslinie zwischen „literarisch“ und „unliterarisch“ verläuft nach Deissmann also auch diejenige zwischen „echten“ und „unechten“ Briefen. Echte Briefe sind unmittelbare und authentische „Dokumente des Lebens“, während Episteln eine gänzlich entindividualisierte und auf die Öffentlichkeit berechnete „Marktware“ darstellen.189 Massgebend für die Zuweisung eines Briefs in eine der beiden Kategorien war für Deissmann dessen ästhetische Formung, da sich darin die autorintentionale Verwendung spiegle. Deissmanns primäres Anliegen galt dem Versuch, die neutestamentliche Briefliteratur in formaler wie ästhetischer Hinsicht zu ihrem eigenen Recht

185 Zur Unterscheidung von eigentlicher (primärer) und uneigentlicher (sekundärer) Briefverwendung Nickisch (1991) 19 f. 186 Zum Folgenden vgl. die kritischen Auseinandersetzungen bei Koskenniemi (1956) 88– 91; Doty (1969); Thraede (1970) 1–4; Stowers (1986) 17–20; Ludolph (1997) 15–16, 23–24; Conring (2001) 17–23; Rosenmeyer (2001) 5–8; Wulfram (2008) 39–45. 187 Deissmann (1923) 194–195. Deissmann vertrat diese Ansicht in einer Reihe von Publikationen. Ein Überblick bietet Doty (1969) 190. 188 Vgl. Deissmann (1923) 196: „Solche epistolischen Briefe sind schlechte Briefe und können uns (…) lehren, was ein wirklicher Brief nicht sein soll.“ 189 Deissmann (1923) 194–195. Die literaturwissenschaftlichen Konsequenzen einer solchen qualitativen Bewertung sind beträchtlich, bedenkt man, dass ein Grossteil der erhaltenen antiken Briefliteratur zur anormalen Mischgattung gerechnet werden muss, vgl. etwa Thraede (1970) 3.

3. Methodologische Grundlegung: Zur Literarizität spätantiker Privatbriefe

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zu verhelfen.190 In erster Linie richtete er sich dabei gegen die zeitgenössische dogmatisch-literarische Deutung der Paulusbriefe: Die Briefe des Paulus seien weder als Literatur noch als theologische Abhandlungen zu verstehen, denen dogmatisch-systematische Überlegungen zugrunde liegen, sondern vielmehr – so wie Paulus sie verstanden haben wollte – als okkasionelle Privatbriefe, unabhängig ihrer späteren Veröffentlichung.191 Obwohl Deissmanns produktionsästhetischer Ansatz zugleich mit seiner Gegenüberstellung von Brief und Epistel von der modernen Forschung in der Regel abgelehnt wurde,192 setzte seine Unterscheidung zwischen literarischen und unliterarischen Briefen die Koordinaten fest, die für die wissenschaftliche Klassifizierung und Qualifizierung antiker Briefe bestimmend sein sollten.193 Die äussere Form eines Briefs, seine Literarizität im Sinne einer rhetorisch-ästhetischen Stilisierung wurde fortan – unter umgekehrten Vorzeichen – als entscheidendes Distinktionsmerkmal eines „literarischen Briefs“ angesehen.194 Hatte bei Deissmann die Bemühung, die „volkstümliche Umgangssprache“195 des Neuen Testaments gegen die Kunstsprache der klassizistisch geprägten griechischen Literatur zu verteidigen, einen negativen Literaturbegriff zur Folge, galt nun die Literarizität eines Briefs als Qualitätszeichen. In der fachwissenschaftlichen Praxis ist für die gattungstypische Zuordnung eines Briefs neben der Literarizität noch ein weiteres äusseres Kriterium massgeblich, nämlich die handschriftliche Überlieferung. Ist ein Brief auf dokumentarischem Weg überliefert, gilt er aufgrund dieser spezifischen Überlieferungssituation als Überrest eines vollzogenen Kommunikationsaktes und wird von eigentlichen literarischen Texten abgegrenzt. Die auf Papyrus, ὄστρακα, Holz- oder Bleitäfelchen erhaltenen dokumentarischen Briefe werden als ausserliterarische Texte dem Zuständigkeitsbereich der Linguistik oder der Alten Geschichte zugewiesen.196 Hinter dieser Einengung steht der Literaturbegriff der klassischen Philologie, der zwar lange Zeit breiter war als in den modernen Literaturwissenschaften, aber gerade an dieser Stelle tradi190 Doty (1969) hat die Beweggründe offengelegt, die Deissmann zu seiner scharfen Antithese zwischen Brief und Epistel geführt haben. 191 Deissmann (1923) 195. 192 So bereits Sykutris (1931) 187, der sich gegen eine strikte Trennung zwischen echten und unechten beziehungsweise zwischen Privatbriefen und literarischen Briefen ausspricht und betont, „dass die Absicht des Verfassers nicht die einzige massgebende Norm ist, durch die man „Epistel“ und Privatbrief unterscheiden kann.“ Gerade die Briefe Ciceros an Atticus seien ein Beweis dafür, dass Briefe auch gegen den Willen ihres Verfassers Literatur werden konnten. Vgl. die Diskussion dazu bei Conring (2001) 20–22 und Wulfram (2008) 41. 193 So enthält etwa der Neue Pauly neben dem Lemma Brief und Epistolographie auch das Lemma Epistel. Zur Wirkung der Deissmannschen Kategorisierung für die moderne Briefforschung vgl. etwa Rosenmeyer (2001) 8. 194 So auch Conring (2001) 21. 195 Deissmann (1923) 53. 196 Vgl. etwa Cotton (1981); Halla-aho (2009).

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tionell die Grenzlinie zieht. Um Literatur nicht allgemein mit „Texten“ gleichstellen zu müssen, fand man in der Texttradierung ein geeignetes Kriterium, das die Abgrenzung zwischen literarischem und unliterarischem Schrifttum konstituiert. Nur was in einer Rolle oder einem Codex überliefert ist, wird demzufolge als Literatur anerkannt.197 Für die wissenschaftliche Erforschung der antiken Epistolographie hat die Bindung an das Überlieferungsmedium beträchtliche Konsequenzen. Die Funktionsbestimmung eines Briefs wird als Distinktionsmerkmal durch ein externes Kriterium ersetzt. Demzufolge wird ein Brief, der auf einem Papyrusblatt erhalten ist, unabhängig von seiner kommunikationspragmatischen Funktion prinzipiell als ausserliterarischer Text verstanden. Damit wird akzeptiert, dass der klassifizierende Schnitt zwischen literarisch und unliterarisch ohne Rücksicht auf das Briefgeheimnis quer durch die Gebrauchstextsorte Brief geht, was zur Folge hat, dass funktional identische private oder sich an eine breitere Öffentlichkeit richtende Briefe je nach Überlieferungssituation voneinander geschieden werden. So gibt es sowohl handschriftlich wie dokumentarisch überlieferte amtliche Briefe, die im einen Fall als literarisch, im anderen Fall als unliterarisch gelten.198 Demzufolge werden auch die handschriftlich überlieferten Briefe Ciceros an Atticus, die ein unbekannter Redaktor etwa hundert Jahre nach Ciceros Tod an die Öffentlichkeit gebracht hat, aufgrund des Status ihres Verfassers zur Literatur,199 während das auf Papyrusblättern erhaltene Privatbriefarchiv des Claudius Tiberianus zu den nichtliterarischen Texten zählt,200 obwohl in beiden Fällen echte Gebrauchstexte vorliegen. Willkür und Inkonsistenz dieser methodologischen Vorgehensweise zeigen sich mit Blick auf die spätantike Epistolographie in aller Deutlichkeit. Zum einen erscheint das Phänomen des „reuse of letters“ in dieser Epoche besonders ausgeprägt,201 zum anderen ist auch die Überlieferungssituation für diese Zeit wesentlich komplexer als für die Jahrhunderte zuvor. Die eigentliche Herausforderung liegt in der Heterogenität und Varianz der Überlieferung begründet. So gibt es funktional identische Privatbriefe, die in einer vom Autor selbst veröffentlichten Briefsammlung wie bei Sidonius Apollinaris oder Ambrosius, in postum edierten Briefkorpora wie bei Symmachus 197 So fasst Fuhrmann (1999) 14–16 das gängige Literaturverständnis der Latinistik und Gräzistik zusammen. Auch Suerbaum (2002), 9–10 hält zumindest für die Prosa „mangels Alternativen“ weiterhin an der Bindung des Literaturbegriffs an das Überlieferungsmedium fest. Zum erweiterten Literaturbegriff der modernen Philologien seit den 1960er Jahren vgl. Grimm (2000) oder Winko et al. (2009). 198 So bestehen zwischen den dokumentarisch erhaltenen Kaiserreskripten, Cassiodors Variae und dem zehnten Briefbuch des Plinius generisch kaum Unterschiede. Durch die Überführung in das Korpus der Privatbriefe erhielten letztere „literarischen“ Rang. Vgl. dazu auch Eigler (2000) 55 f. 199 Vgl. Hutchinson (1993); Hutchinson (1998); Cugusi (1998); Beard (2002); Schröder (2004/5). 200 CEL 141–142 und 144–147 (= P. Mich VIII 467–472). 201 Gillett (2012) 833–840.

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oder Avitus, in selbständiger oder unselbständiger Einzelüberlieferung wie bei Faustus von Riez oder Claudianus Mamertus oder dokumentarisch erhalten sind wie bei Flavius Abinnaeus.202 Die Frage, welche dieser Texte der Briefliteratur zugerechnet werden und demzufolge eine literaturwissenschaftliche Analyse bedingen können und welche nicht, stellt sich hier in aller Schärfe. Der offene brieftypologische Ansatz, den etwa Michaela Zelzer auf der Grundlage von Johannes Sykutris (1931) und Johannes Schneider (1954) zur Beschreibung der spätantiken Briefliteratur anwendet, löst das Problem nur scheinbar. Ihre Unterscheidung zwischen Briefen, die „von vornherein für einen grösseren Leser- oder Hörerkreis bestimmt waren (primär literarische Briefe)“ und solchen, die „erst durch Publikation zu Literatur geworden sind (sekundär literarische Briefe)“,203 stellt letztlich eine Simplifizierung des Problems dar, die die Entscheidung dem Rezeptionszufall überlässt und auch die drängende Frage nach den formalästhetischen Komponenten der Literarizität ausser Acht lässt. Die Situation ist wesentlich komplexer, wenn man berücksichtigt, dass die grossen Briefkorpora des 4., 5. und 6. Jahrhunderts in der Regel Briefe mit unterschiedlichen kommunikationspragmatischen Funktionen und kontemporär verschiedenen Öffentlichkeitsgraden enthalten. So stehen in der Korrespondenz des Augustinus amtliche Briefe neben „echten“ Privatbriefen und Brieftraktaten,204 wenn man denn angesichts der häufig „hybriden“ Texte des Kirchenvaters überhaupt im Einzelfall eine derartige Unterscheidung vollziehen kann.205 Wie man hier also mit Zelzer zwischen primär und sekundär literarischen, zwischen echten Privatbriefen und sogenannten literarischen Episteln differenzieren will, bleibt ebenso offen wie die Frage, ob man aufgrund dieser Unterteilung die einzelnen Briefe anhand unterschiedlicher literarischer Kriterien analysieren muss. In dieser vertrackten Situation wird von der Forschung mit der Literarizität gerne ein weiteres äusseres Unterscheidungskriterium geltend gemacht. Die an die Überlieferungssituation gekoppelte Differenzierung wird anhand form- und sprachästhetischer Merkmale und gegebenenfalls anhand einer präsupponierten Verfasserintention gerechtfertigt.206 Die Werkästhetik der 202 Zu letzterem CEL 226–228: Mitte des 4. Jahrhunderts n. Chr. aus Dionysias (heute: Qasr Qarum), vgl. dazu Bell (1962). 203 Zelzer (1997) 324: „Zur Literatur wurde ein Brief aber nicht durch seinen Inhalt, sondern erst durch seine Publikation, die des Verfassers oder des Inhalts wegen erfolgen konnte, nach dessen Tod oder schon zu dessen Lebzeiten, von Seiten anderer oder des Verfassers selbst.“ Vgl. Schneider (1954) 569: „Der Brief wird dadurch Literatur, dass er um seines Verfassers willen oder seines die Allgemeinheit interessierenden Inhalts willen veröffentlicht wird.“ 204 Vgl. Schneider (1954) 581; Skeb (1998) 100; Mratschek (2002) 415. Fürst (1999) 170 vertritt dagegen die Ansicht, dass „Augustinus alle seine Briefe im Blick auf ein öffentliches Publikum verfasst [hat].“ 205 Allen/Neil (2013) 21–23. 206 Für die Briefe Ciceros vollzieht dies Hutchinson (1993) und Hutchinson (1998). Vgl. die harsche Kritik an diesem Vorgehen bei Ebbeler (1998).

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Briefe Ciceros sowie der Status ihres Verfassers garantieren also gleichsam den literarischen Rang, der in der handschriftlichen Überlieferung und der antiken Rezeption seine blosse Bestätigung findet. Exemplarisch für dieses Vorgehen ist der brieftypologische Ansatz von Paolo Cugusi, der auf der Basis der antiken Brieftheorie eine Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Briefen vornimmt: „Lettere private sono quelle in cui si stabilisce un commercio epistolare tra due interlocutori, al di fuori di possibili intromissioni di terzi (…) lettere pubbliche sono tutte le altre, che possono capitare nelle mani di terzi senza che venga violato il segreto epistolare.”207 Die öffentlichen Briefe werden von Cugusi wiederum in offizielle („lettere ufficiali“) und Kunstbriefe („lettere d’arte“) unterteilt. Während die Kunstbriefe eine rhetorische Stilisierung auszeichnet, die auch ihre handschriftliche Überlieferung erklärt, seien die privaten Briefe, die dem alltäglichen Gebrauch entstammten und eine „communicazione epistolare vera e propria“ darstellten,208 nicht rhetorisch geprägt. Echte Gebrauchsbriefe unterscheiden sich also durch ein äusseres Merkmal, nämlich ihre fehlende Literarizität, von den literarischen Briefen. Zu den „lettere d’arte“ gehören dementsprechend auch die Privatbriefe von Cicero oder Plinius, deren Lektüre den Rezipienten ästhetischen Genuss verschaffen sollte.209 Neben der Gefahr von ästhetischen Subjektivitätsurteilen übersieht ein solcher Ansatz, dass Literaten wie Cicero alle ihre Schriftstücke in gewisser Weise stilisierten.210 Cugusi ignoriert also ganz offensichtlich den Unterschied zwischen literarischen Briefen und Briefen von Literaten. Die Problematik einer solchen Betrachtungsweise, bei der sich literarästhetische, kommunikationspragmatische und überlieferungstechnische Kategorien überlagern sowie antike mit modernen Vorstellungen überblendet werden,211 hat die Forschung erkannt und Alternativen erarbeitet.212 Einen 207 208 209 210

Cugusi (1983) 105. Cugusi (1989) 403. Cugusi (1989) 381. Nickisch (1991) 101: „Beispiele für literarische Privatbriefe finden sich in erster Linie in der Korrespondenz von Schriftsteller, Poeten und Künstlern, die gleichsam von Berufs wegen auch beim Schreiben privater Briefe ihrem ästhetischen Sinn für Form und Stil eher folgen und Geltung verschaffen als der nichtkünstlerische Briefverfasser.“ Zu Cicero in diesem Sinne etwa Trapp (2003) 14: „However much the letter may be thought as un unoffical kind of writing, Cicero was never truly off duty, as stylist or as self-presenter.“ Auf der anderen Seite betont gerade Plinius die private Natur seines ersten Vesusbriefes, wenn er den Unterschied zwischen epistula und historia im Öffentlichkeitsgrad bestimmt: aliud est enim epistulam, aliud historiam, aliud amico, aliud omnibus scribere (Plin. epist. 6,16,22). 211 Die Unterscheidung zwischen literarischen und unliterarischen Briefen ist eine moderne Projektion. Darauf hat bereits Koskenniemi (1956) 50 hingewiesen und betont, dass eine prinzipielle Unterscheidung zwischen (öffentlichem) literarischem Brief und reinem Privatbrief in der Antike so gut wie unbekannt war. Gegen die Dichotomie privat-öffentlich in der antiken Epistolographie spricht sich auch Steel (2005) 46 aus. 212 Arweiler (2009) 546 hat unlängst auf die methodologische Problematik einer Vermen-

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durchaus fruchtbaren Ansatz hat Matthias Ludolph in seiner Dissertation über die Epistolographie und Selbstdarstellung des jüngeren Plinius gewählt. Vor dem Hintergrund der kontrovers diskutierten Frage nach der Charakteristik der Pliniusbriefe konstatiert Ludolph, dass „allein aufgrund der tatsächlichen kommunikationspragmatischen Situation des jeweiligen Briefs beziehungsweise der jeweiligen Briefsammlung, das heisst unter Berücksichtigung der im Einzelfall anzutreffenden Produktionsbedingungen, eine gültige Unterscheidung von Gebrauchsbrief und literarischem Brief gelingen kann.“213 Dieser methodische Zugang legt das Gewicht wieder auf die produktionsästhetischen Umstände und die intendierte Leserschaft. Anders als Deissmann lässt Ludolph für seine brieftypologische Bestimmung jedoch keine äusseren Kriterien gelten. Allein die Verfasserintention sei massgebend, ob ein Brief als Gebrauchsbrief oder als literarischer Brief gelten könne. Während literarische Briefe an eine prinzipiell unbegrenzte Öffentlichkeit gerichtet seien, müssten als Gebrauchsbriefe solche Briefe angesehen werden, deren Funktion sich in der Vermittlung eines räumlich verhinderten kommunikativen Akts zwischen zwei oder mehr Partnern erschöpfte.214 Folgerichtig sieht Ludolph auch Ciceros Privatkorrespondenzen als Gebrauchsbriefe an, unabhängig ihrer formalästhetischen Elemente und der späteren Veröffentlichung. Denn allein die Tatsache, dass Plinius seine Briefe als Sammlung ediert und mit dem Anspruch zeitlicher Überdauerung einer nicht begrenzten Öffentlichkeit vorgelegt habe, mache diese, so Ludolph, auch zu „ein[em] Erzeugnis gewollter Literatenarbeit,“ und zwar unabhängig davon, ob es sich um tatsächlich abgeschickte Stücke handelt oder nicht.215 Durch die Veröffentlichung seiner Privatbriefe tritt Plinius in ein kommunikatives Verhältnis mit seiner anvisierten Leserschaft. Die ursprüngliche brieftypische direkte Kommunikation zwischen Briefschreiber und Adressaten verwandelt

gung von Überlieferungssituation mit form- und sprachästhetischen Kriterien hingewiesen: „In der Latinistik wird nun aber in Konkurrenz zu dieser vornehmlich auf Schriftlichkeit und das Überlieferungsmedium zielenden Bezeichnung von antiken Texten beliebiger Gestalt und Funktion „literarisch“ auch in der neueren, emphatischen Weise gebraucht. Die Selbstverständlichkeit, mit der Texte oder Elemente als „literarisch“ bezeichnet werden, verdeckt aber, dass wir nicht wissen, wodurch und wovon sich das so Bezeichnete unterscheiden soll. Was ist denn das „nicht-literarische“ Pendant? Manchmal scheint damit gemeint zu sein, dass etwas einer ungeklärten Idee vom sprachlich Schönen nicht entspricht (…).“ 213 Ludolph (1997) 24. 214 Ludolph (1997) 26–27: „Als gültiges Kriterium für die Unterscheidung von Gebrauchsbrief und literarischem Brief bietet sich daher die Verfasserintention an, die sich ihrerseits nach den Kategorien der situativen Einbindung und der intendierten Leserschaft bestimmen lässt. Gebrauchsbriefe müssen solche Briefe heissen, die nur für den oder die Adressaten bestimmt sind und ihre Funktion allein in der aktuellen Kommunikation haben; literarisch müssen solche Briefe heissen, deren Autor eine synchron und diachron nicht eingeschränkte Leserschaft im Auge hat und zeitliche Überdauerung seiner Briefe intendiert oder zumindest mit ihr rechnet.“ 215 Ludolph (1997) 28.

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sich also in eine „kommunizierte Kommunikation“ (J. Radicke),216 wodurch die Briefsammlung gleichsam zu einem Medium der Selbstdarstellung wird.217 Eine stark konventionalisierte Form dieser kommunizierten Kommunikation stellt traditionell die Form des Widmungsbrief dar, der den Leser eines literarischen Werks gleichsam dessen Vorgeschichte nachvollziehen lässt. Durch die an die Verfasserintention geknüpfte Abgrenzung des literarischen Privatbriefs vom echten Gebrauchsbrief hat sich Ludolph die methodisch adäquaten Voraussetzungen für seine Untersuchung von Plinius’ Selbstdarstellung geschaffen, die er gestützt auf die kommunikationstheoretischen Ansätze von Erving Goffman und Karl Bühler vornimmt. Eine weitergehende brieftypologische Klassifizierung nimmt er nicht vor. Eine solche hat vor einigen Jahren Hartmut Wulfram unternommen, indem er Ludolphs produktionsästhetischen Ansatz aufgegriffen und in terminologisch-systematischer Hinsicht weiter ausdifferenziert hat.218 Anders als Ludolph und die Forschung vor ihm lehnt Wulfram eine strikte Trennung zwischen Gebrauchsbriefen und literarischen Briefen ab, „da je nach Momentaufnahme ein und derselbe Text beide damit verbundenen Funktionen zu erfüllen [vermag].“219 Stattdessen wählt er mit der Unterscheidung zwischen kommunizierenden und fingierten Briefen eine Typologie, welche die Frage Literatur/Nichtliteratur erstmals in den Hintergrund rücken lässt. Als Distinktionsmerkmal setzt er die vom Autor intendierte Kommunikationssituation fest, die im Fall eines kommunizierenden Briefes real ist, da der Gesprächpartner im Moment der Abfassung auch real existiert und als solcher brieflich theoretisch auch erreichbar ist.220 Demgegenüber liegt ein fingierter Brief vor, wenn ein Kommunikationsakt als irreal angesehen werden muss, sei es, weil der Adressat gar nicht (mehr) existiert oder aus anderen Gründen bekanntermassen brieflich nicht erreichbar ist. Diese beiden Obergruppen gliedert Wulfram in private und öffentliche Briefe, wobei letztere wiederum in eine literarische und eine „halbliterarische“ Gruppe unterteilt werden. Die Etablierung einer Kategorie von semiliterarischen Briefen, die im Graubereich zwischen Literatur und Nichtliteratur angesiedelt sind, ist eine brieftypologische Neuerung von Wulfram. Seiner Ansicht nach können halbliterarische Briefe weder als reine Gebrauchsbriefe gelten, da sie innerhalb einer beschränkten Öffentlichkeit zirkulierten, noch sind sie als literarische Briefe anzusehen, da sie „von ihrem antiken Verfasser der „Öffentlichkeit“ zu keinem Zeitpunkt im vollen produktionsästhetisch216 Zur „kommunizierten Kommunikation“ bei Plinius vgl. Radicke (2003) 25: „Der Brief selbst wird zu einem Stück Erzählung, der Briefschreiber wird zum Ich-Erzähler, der Adressat zur Figur in der Geschichte“. 217 Der Offenlegung von Plinius’ Selbstdarstellung und seines autobiographischen Schreibens in seinen Briefen gilt seit Ludolph der primäre Impetus der Forschung. Vgl. Hoffer (1999); Henderson (2002); Radicke (2003); Méthy (2007); Marchesi (2008). 218 Wulfram (2008) 36–50. 219 Wulfram (2008) 45. Zum Folgenden vgl. die Ausführungen von Wulfram (2008) 36–51. 220 Ein realer Kommunikationsakt liegt auch dann vor, wenn ein Verfasser erst bei Veröffentlichung eines Briefs mit dem Adressaten in Verbindung tritt, dieser also lebensweltlich gar nie abgeschickt wurde, vgl. Wulfram (2008) 46.

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medialen Sinn als „Literatur“ übergeben [wurden], das heisst in einer den hellenistischen beziehungsweise postarchaisch-römischen Mindeststandards entsprechenden Buchrollengrösse.“221 Wie Ludolph sieht auch Wulfram in der autorintentionalen Veröffentlichung das entscheidende Charakteristikum eines literarischen Briefs. Von beiden wird auf den antiken Brief ein konsequenter medialer Literaturbegriff angewendet, der an die vom Autor selbst vorgenommene Überführung in eine Buchrolle gebunden ist.222 Demzufolge sei die Zusammenstellung in einer Rolle für den literarischen Status eines Briefes unabdingbar, da sich erst dadurch die darin eingeschlossenen Briefe von den intimen und den halböffentlichen Privatbriefen abheben. Damit könnten all diejenigen Briefe, die von ihrem Verfasser nicht in einer Rolle gesammelt und somit auf Dauer einer synchron und diachron unbeschränkten Öffentlichkeit übergeben worden waren, zwar durchaus ein historischbiographisches Interesse bedienen, als Dokumente kämen sie aber für eine literarästhetische Untersuchung nicht in Betracht. In strenger Observanz hat dieser Literaturbegriff, den Wulfram „ausschliesslich für die Textsorte Brief innerhalb eines bestimmten Ausschnitts der mediterranen Kulturgeschichte“ postuliert,223 eine deutliche Einengung der Anzahl „literarischer“ Briefe innerhalb des überlieferten Briefmaterials zur Folge. Neben den Versepistelbüchern von Horaz und Ovid und den Moralepisteln Senecas kann für den Zeitraum, den Wulfram im Auge hat, nur noch die Privatbriefsammlung des Plinius als Literatur im engeren Sinn gelten.224 In dieser Optik kommt Ciceros Briefkorpus ebenso wie Plinius’ zehntes Briefbuch oder der Korrespondenz Frontos als „schriftliche Überreste“ mehr dokumentarisch-biographischer als literarischer Charakter zu. In der Spätantike geht der Schnitt quer durch die Korrespondenzen von Augustinus und Hieronymus, während bedeutende zeitgenössische Epistolographen wie Avitus von Vienne oder Ennodius gänzlich aus dem Blick geraten. Die spätantike Briefforschung hat sich aus diesen Gründen einem anderen, vielversprechenderen Ansatz zugewandt. Exemplarisch soll hier nur auf die Methodik hingewiesen werden, anhand der Bianca-Jeanette Schröder das Briefkorpus des Ennodius analysierte.225 Schröder richtet den Fokus allein auf die Funktionsbestimmung der einzelnen Briefe, unterscheidet also deren kommunikationspragmatische Intention in inhaltlicher und personenorientierter Hinsicht. Briefe unterteilt sie entsprechend in ich-, du-, er/sie-, bezie221 222 223 224

Wulfram (2008) 43. Vgl. Wulfram (2008) 28–29, 37–39 und 44 mit Anm. 125. Wulfram (2008) 44. Wulfram richtet den Fokus auf die römische Literatur, also auf die Zeit zwischen 250 v. Chr. bis 250 n. Chr. Zur Abgrenzung zwischen römischer Literatur und der lateinischen Literatur der Spätantike vgl. Fuhrmann (1998) 38 f.; Fuhrmann (1999) 13–15, 45–56. 225 Schröder (2007). Ähnliche kommunikationspragmatische Ansätze liegen den Untersuchungen von Fernández López (1994) oder Conring (2001) zugrunde. Am Beispiel von Cicero hat bereits Thraede (1980) 186–197 den Vorteil dieses methodischen Ansatzes aufgezeigt.

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hungs- und sachorientiert sowie Mischformen davon. Der unbestreitbare Vorteil dieses Modells liegt in der methodischen Konsistenz. Briefe aller Überlieferungsstufen sind nach denselben Kriterien philologisch analysierbar. Mit diesem Ansatz ist jedoch kein Massstab für die Bestimmung eines „literarischen“ Briefes gewonnen. Unterschiede im Öffentlichkeitsbezug und im Publikationsgrad einzelner Briefe werden nicht erfasst. Sie werden zwar in ihrer unmittelbarer soziokulturellen Funktion beschreibbar, doch erklärt das Modell letztlich nicht, ob und auf welche Weise sie in ihrer Zeit literarisch wirksam wurden. In dieser Hinsicht bedarf Schröders funktional-pragmatischer Ansatz einer Ergänzung.

3.5. Lösungsansatz: Entwurf eines deskriptiv-phasenorientierten Briefmodells226 Der hier als Alternative zum medial-autorintendierten Briefmodell von Ludolph und Wulfram zur Diskussion gestellte Lösungsentwurf liegt in einem historisch-deskriptiven Klassifizierungsmodell, das die spätantike Briefliteratur frei von literarästhetischen Implikationen, autorintentionaler Bestimmung und dem Erhaltungszustand zu beschreiben versucht. Das Modell fokussiert dabei den effektiven Situations- und Öffentlichkeitsbezug eines Briefes und operiert mit den Begriffen „Gebrauchsbrief“ – „Zirkularbrief“ – „Buchepistel.“227 Die einzelnen Termini bezeichnen dabei in gradueller Steigerung eine spezifische öffentlichkeitsrelevante Wirkungsphase eines Briefs. Ein Gebrauchsbrief stellt in diesem Modell die tiefste öffentlichkeitsrelevante Stufe dar, während die Buchepistel die Position einer maximal erreichbaren Öffentlichkeit besetzt. Die dritte Kategorie, der Zirkularbrief, bezeichnet den in informeller Diffusion zirkulierenden Brief. Dieser in der antiken und spätantiken Briefkultur so bedeutenden „Mittelgattung“ zwischen „echtem Brief“ und „literarischer Epistel“,228 wird in den meist binär ausgerichteten brieftypologischen Ansätzen generell zu wenig Beachtung geschenkt. Das Postulat dieser dritten Wirkungsphase ist für ein adäquates Verständnis antiker Veröffentlichungspraxis jedoch unabdingbar. Bekanntlich verfügen literarische Werke in der Antike meist über eine rezeptionelle Vorgeschichte.229 Die in eine Rolle eingeschlossenen Texte haben in der Regel verschiedene Publikationsstufen durchlaufen: Sie wurden vor ihrer regu226 Das im Folgenden skizzierte Briefmodell wurde an der von Gernot Michael Müller am 5.–8. Juni 2013 im Schloss Hirschberg bei Beilngries (D) veranstalteten internationalen Tagung „Zwischen Alltagskommunikation und literarischer Identitätsbildung. Kulturgeschichtliche Aspekte lateinischer Epistolographie in Spätantike und Frühmittelalter“ in einer verkürzten Version vorgestellt. 227 Terminologisch orientiere ich mich an Wulframs kommunikativ-medialer Brieftypologie, wobei ich die von ihm so benannten „halbliterarischen Briefe“ durch den Terminus des „Zirkularbriefs“ ersetzt habe. 228 Deissmann (1923) 196: „halb und halb auf die Öffentlichkeit berechnete Briefe.“ 229 Vgl. zum Folgenden neben Birt (1882) 342–370 und Johnson (2000) bes. Starr (1987), der

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lären Buchpublikation in kleinem Kreis rezitiert und können im Anschluss daran als Einzelstücke herumgereicht worden sein. Auch kleinere Schriften, die keine Rolle zu füllen vermochten,230 konnten aus bestimmten Gründen im engeren Bekannten- und Freundeskreis herumgereicht werden, wobei eine spätere Buchpublikation im Rahmen einer Sammlung im Bereich des Möglichen lag.231 Diese Textgruppe pauschal in einen nicht genauer definierten halbliterarischen Grenzbereich zu stellen, wie Wulfram dies mit den Zirkularbriefen tut, wird also weder ihrer kontemporären noch einer allfälligen späteren literarischen Wirkungsweise gerecht.232 Denn Zirkularbriefe unterscheiden sich gerade in dieser Hinsicht in keiner Weise von Gelegenheitsgedichten.233 Beispiele spätantiker Zirkularbriefe sind etwa der Brief des Paulinus von Nola an Alypius in der Korrespondenz des Augustinus234, der Brief des Rusticus an Eucherius235 oder der Brief des Sulpicius von Bourges an Verus von Rodez in der Briefsammlung von Desiderius von Cahors.236

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die Veröffentlichungsstufen eines literarischen Textes von der Bekanntmachung im Freundeskreis bis zum Buchhandel nachzeichnet. Ein zu kleiner Rolleninhalt wurde vermieden. Zu den Normgrössen des Poesiebuchs ausführlich Birt (1882) 289–307, zu denen des Prosabuchs 307–341, auf den Seiten 337– 339 sind Beispiele von Kleinsteditionen in Prosa genannt. Vgl. Birt (1882) 344. Ein Beispiel stellt etwa Q. Ciceros Commentariolum petitionis dar, das epistolare Formalia aufweist, vgl. dazu Waibel (1969) 58 f. Zu Unrecht hält Laser (2001) 5 das Stück aus inhaltlichen Gründen für ein rein persönliches Schreiben. Vor dem skizzierten rezeptionellen Hintergrund ist nicht ersichtlich, worin sich die von Wulfram bestimmten „halbliterarischen“ Briefe in medialer Hinsicht von den als Einzelstücke kursierenden prosaischen und poetischen Kleinformen unterscheiden sollen, auf die er seinen Literaturbegriff offenbar nicht angewandt wissen will: Wulfram (2008) 44: „Unser Fokus richtet sich vielmehr ausschliesslich auf die Textsorte Brief innerhalb eines bestimmten Ausschnitts der mediterranen Kulturgeschichte.“ Im Übrigen waren Privatbriefe als literarische Subgattung bereits durch die publizierten Exemplare griechischer Philosophen bekannt. Zum Zirkularbrief auch: Reincke (1935) 1532: „Die wichtige Rolle, die der privater Brief bei der Übermittlung von Neuigkeiten spielte, führte dazu, dass der Charakter eines rein persönlichen Nachrichtenaustausches zwischen Absender und Empfänger oft verwischt wurde. Es war durchaus üblich, Briefe, die man empfangen hatte, an andere weiterzugeben oder sie vorzulesen. Häufig liess man von eingegangen Briefen auch Abschriften machen, die man weitersandte.“ Vgl. Cic. fam. 10,31,6: Deinde ex litteris, quas Pansae misi, cognosces omnia. Zu den „offenen“ Briefen Ciceros vgl. Nicholson (1994) 58 f. sowie allgem. Peter (1901) 213–216. Paul. Nol. epist. 3. Der Brief ist auch Bestandteil der Korrespondenz des Augustinus: Aug. epist. 24. Weitere Zirkularbriefe im Briefkorpus des Augustinus finden sich bei Divjak (1996–2002) 949. Epistula Rustici ad Eucherium. Vgl. dazu die Analyse von Vessey (2001). Desid. epist. 2,5.

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Das vorgeschlagene Briefmodell basiert auf den folgenden drei Grundannahmen: 1) Der Öffentlichkeitsgrad eines Briefes ist variabel und historisch veränderbar 2) Jeder Brief verfügt über literarisches Potential 3) Der Öffentlichkeitsgrad eines Briefes entscheidet über die Aktualisierung seines literarischen Potentials 1) Der Öffentlichkeitsgrad eines Briefes ist variabel und historisch veränderbar Briefe können mehrere „Phasen“ der Verwendung durchlaufen: Die archetypische Briefsituation kann durch Einbezug einer partiellen oder uneingeschränkten synchronen oder diachronen Öffentlichkeit aus unterschiedlichen Gründen und durch beliebige Akteure gesprengt werden.237 Da eine solche Grenzüberschreitung von intim-privater zu öffentlicher Kommunikation prinzipiell immer möglich ist, wird die Unterscheidung zwischen literarischen oder unliterarischen Briefen hinfällig. Vielmehr gibt es nur literarische und nichtliterarische Verwendungsweisen. Im Prinzip kann also ein Brief jederzeit aus einer nichtliterarischen Verwendung in eine literarische Verwendung überführt werden. Die Intentionen für den Einbezug einer Öffentlichkeit können dabei je nach Brief und Situation variieren. Nicht jede uneigentliche Verwendung eines intimen Privatbriefs ist automatisch auch eine literarische, während jede literarische aber eine uneigentliche Verwendung darstellt.238 Die äussere Form des Briefs wird von diesem Prozess in der Regel nur am Rande tangiert,239 während sich die Wirkungsweisen und -chancen aber entschieden ändern. Zwischen den Privatbriefen des Sidonius Apollinaris, der 237 Nickisch (1991) 107: „Die Trennlinie zwischen eigentlicher und uneigentlicher Verwendung der Gebrauchstextsorte Brief ist dann überschritten, wenn ein wirklicher Brief in den Dienst nicht-pragmatischer Intentionen gestellt wird, wenn er also seine Qualität als Träger einer aktuellen schriftlich realisierten Sprechhandlung im Rahmen einer individuellen realen Beziehung zwischen räumlich getrennten Partnern verliert.“ 238 Uneigentliche Verwendung liegt bereits dann vor, wenn ein an einen privaten Adressaten gerichtetes Schreiben später (im Extremfall ohne Wissen beziehungsweise Willen des Emittenten) publiziert wird. Dadurch gewinnt der publizierte Brief aber nicht zugleich auch einen „Kunstcharakter“, vielmehr kann eine Veröffentlichung aus verschiedenen Interessen erfolgen, vgl. Nickisch (1991) 100. 239 Sidonius hat seine Briefe ausgewählt und durchgesehen, vgl. Sidon. epist. 1,1,1: omnes retractatis exemplaribus enucleatisque uno volumine includam. Art und Umfang einer sekundären Überarbeitung bei der Selbstpublikation eines Autors bleibt jedoch im Bereich des Spekulativen und muss daher als verlässliche Kategorie ausscheiden. Ferner kann auch bei einer postum erfolgten Publikation eine Überarbeitung nicht ausgeschlossen werden. Dass eine doppelte Version (Kopie des Originals und veröffentlichte Version) wie beim Briefs des Ambrosius an Kaiser Theodosius (Ambr. extra coll. epist. 1a = Ambr. epist. 74) vorliegt, ist ein Einzelfall, vgl. dazu Zelzer (1997) 331, 338, 345. Was sich bei einer Publikation aber in jedem Fall entscheidend ändert, ist die Schrift sowie – damit verbunden – die Präsentation in einer Rolle beziehungsweise einem Codex. Zur hohen Wertschätzung des Buchs in der Spätantike vgl. etwa Mratschek (2000).

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Korrespondenz des Symmachus und den zahlreichen in Einzelüberlieferung erhaltenen Briefen aus der Spätantike besteht also weder typologisch noch generisch ein Unterschied. Der eigentliche Unterschied liegt im kontemporären Öffentlichkeitsgrad. Bei Sidonius war dieser ungleich höher als bei den (bis zu ihrer postumen Veröffentlichung) als Einzelstücken zirkulierenden Briefen des Symmachus oder des Augustinus. Hier zeigen sich die entscheidenden Differenzen zwischen Zirkularbrief und Buchepistel. Zirkularbriefe sind wie Gelegenheitsgedichte, die lediglich für eine synchrone oder punktuelle Rezeption etwa bei einem Gelage bestimmt waren, in der Regel nur dann überliefert, wenn sie vom Autor selbst oder einem Redaktor zusammen mit anderen Stücken in einer Rolle beziehungsweise einem Codex zusammengefasst wurden.240 Da die Briefe des Symmachus historisch also „nur die Öffentlichkeit der eigenen Generation“ im Auge hatten und vom Autor im Moment der Verbreitung „keine Publikation auf Dauer“ beabsichtigt war,241 besagt ihre heutige mediale Präsentation als Buchepisteln nur beschränkt etwas über die potentielle literarische Wirkung, die diese Produkte im Akt ihrer materiellen Präsentation auf einen Rezipienten entfaltet haben. Zum unterschiedlichen Öffentlichkeitsgrad tritt hier also noch ein medialer Aspekt. Die in einer Rolle oder einem Codex präsentierte Epistel eröffnet dem Leser ein weitaus grösseres Interpretationspotential als der zirkulierende Einzelbrief. Der durch die Buchrolle beziehungsweise Codex implizierte wirkungsästhetische Anspruch konditioniert die Leseerwartung des Rezipienten und regt zur Interpretation an. Jetzt kann der Leser das Einzelstück auf ein Gesamtwerk beziehen, Korrespondenzen, Symmetrien und Asymmetrien in der Komposition offenlegen.242 Als Sidonius seine Briefe in Buchepisteln überführte, hat er also nur deren zeitgenössische Rezeptionsweise in qualitativer Hinsicht verändert. Inhaltlich können durch die Herausgabe einer Sammlung die brieftypischen Grundfunktionen der Informationsvermittlung, des Appellierens und der Selbstäusserung ein breiteres, anonymes Publikum anvisieren.243 In gleicher Weise hat Symmachus’ Sohn, als er die immense Briefsammlung seines Vaters nach dessen Ableben herausgab, durch die Anordnung in zehn Briefbücher diese sichtlich in Beziehungen zur Korrespondenz Plinius’ des Jüngeren gestellt, wodurch die weitere literarische Wirkung entsprechend konditioniert und der Verständnishorizont dieser Sammlung erweitert wurde.244 Augustinus’ Briefe zirkulierten zwar innerhalb eines interessierten Publikums, das mitunter auch selbständig Kollektionen 240 Beispiele sind etwa einzelne Gedichte aus der Appendix Vergiliana oder das dritte Buch des Corpus Tibullianum. Vgl. dazu mit weiterführender Literatur Wulfram (2008) 38. 241 Schmidt (1974) 168. Dagegen vertritt Salzman (2004) 81–83 die Ansicht, dass das erste Briefbuch von Symmachus selbst herausgegeben wurde. 242 Hierin liegt letztlich die zentrale Bedeutung des Mediums, auf die sich die autorintendierten-medialen Brieftypologien berufen. 243 In diesem Sinne sind Briefe in uneigentlicher Verwendung also nicht prinzipiell von den okkasionell-pragmatischen Zwecken der primären Briefverwendung entfernt. Hier liegt ein entscheidender Unterschied zur fiktiven Briefliteratur. 244 Zur (bisweilen überschätzten) Bedeutung von Plinius’ Briefsammlung für Symmachus

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zusammenstellte, doch unterschied sich deren Rezeption gleichwohl erheblich von autorintendierten Sammlungen, die allein durch Auswahl und Anordnung der Briefe die Lektüre zu beinflussen vermögen.245 Hier stellt sich aus heutiger Sicht ein heuristisches Grundproblem: Die handschriftliche Überlieferung hat nämlich die Unterschiede in der kontemporären Wirkungsweise zwischen Gebrauchsbrief, Zirkularbrief und Buchepistel weitgehend verwischt. Die durch Redaktoren zusammengestellten spätantiken Briefkorpora vereinen Briefe unterschiedlicher Öffentlichkeitsphasen, sodass Gebrauchsbriefe und Zirkularbriefe real und optisch zu Buchepisteln werden.246 Dies gilt prinzipiell auch für die autorintendierten Veröffentlichungen, wenn man gewillt ist anzunehmen, dass Ambrosius, Hieronymus und Sidonius Apollinaris ihre Sammlungen aus ehemaligen Gebrauchsund Zirkularbriefen zusammengestellt haben. Spätere Generationen rezipieren diese Briefe dann ohne Kenntnis ihres historischen Ursprungs. Gebrauchsbrief, Zirkularbrief und Buchepistel stellen demnach keine sich ausschliessenden Klassifikationen dar; je nach Momentaufnahme kann derselbe Text prinzipiell jede der mit den einzelnen Phasen verbundenen Funktionen erfüllen.247 Dokumentarisch überlieferte Briefe blieben historisch zwar in der Phase der Gebrauchsbriefe, hatten aber jederzeit die Möglichkeit, durch synchrone Verbreitung oder diachrone Überlieferung in den sekundären Bereich zu wechseln und ihr literarisches Potential zu entfalten beziehungsweise einen literarischen Leseprozess zu initiieren. Eine literarisch relevante Differenzierung ergibt sich also weniger aufgrund der sprachlichen Beschaffenheit der Briefe, vielmehr wird sie vorwiegend durch die Wirkungschancen der jeweiligen Phasen und des veränderten Rezeptionsrahmens determiniert. Der epistolare Usus der spätantiken Elite zeigt, dass jeglicher Briefverkehr nach dem Standard bildungsüblicher Kommunikation erfolgte.248 So wollten die hochstilisierten Gebrauchsbriefe des Avitus von Vienne in erster Linie den jeweiligen Adressaten beeindrucken, ohne zwingend auf eine breitere Öffentlichkeit abzuzielen. Ob sie okkasionell in die Phase eines Zirkularbriefs wechselten, hing dann we-

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und ihrer Relevanz für die postume Redaktion von Symmachus’ Briefkorpus vgl. Kelly (2013). Diesen Aspekt unterschlägt etwa Fürst (1999) 172, wenn er den Unterschied zwischen den selbstständig edierten Briefsammlungen des Hieronymus und den „vornherein öffentlichen“ (Zirkular-)Briefen des Augustinus verwischt. Gillett (2012) 833: „The copying of a letter into a manuscript collection changed its form and nature.“ Zur Semantik der Schrift vgl. Eigler (2000). Die Bedeutung der Materialität eines Textes und generell der äusserlichen Details für den Rezeptions- und Leseprozess betont Gross (1994) bes. 58 f. In diese Richtung auch Wulfram (2008) 45. Vgl. zur Spätantike etwa die Urteile von Mratschek (2002) 408 oder Görgemanns (1997) 1166: „auch im privaten Verkehr [wurde] eine kultivierte, öffentlichkeitsfähige Form angestrebt. Ein gut stilisierter Brief war sozusagen ein Geschenk für den Empfänger.“ Auch Thraede (1980) 199–200 erklärt die „zeremonielle Geziertheit“ von Plinius’ Briefen als Ausdruck der zeitgenössischen aristokratischen Umgangsformen.

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sentlich von den Kommunikationspartnern oder vom Inhalt ab. Der postume Einschluss in eine Sammlung verschaffte diesen Briefen schliesslich für die Nachwelt den Rang von Buchepisteln. Die Grundlage dafür bildete die schon bei Cicero nachweisbare Gewohnheit, die aus- und eingehende Korrespondenz sorgfältig aufzubewahren.249 Dies schliesst grundsätzlich auch das Phänomen poetischer beziehungsweise prosimetrischer Formung eines Briefes mit ein.250 Auch hier ist die Form zwar Ausdruck einer bestimmten Konvention, jedoch kein Alleinstellungsmerkmal für die Zuordnung zur Literatur.251 2) Jeder Brief verfügt über literarisches Potential Es wird hier davon ausgegangen, dass grundsätzlich jeder Brief als textliches Erzeugnis prinzipiell über literarisches Potential verfügt. Literarisches Potential wird als Vorhandensein einer potentiell beliebigen Anzahl literarischer Aktualisierungsmöglichkeiten innerhalb von entsprechenden Leseprozessen verstanden.252 Der damit zusammenhängende – zweifellos sehr offene – Literaturbegriff hängt folglich von der Einschätzung des jeweiligen Rezipienten, der Rezipientengruppe beziehungsweise der Interpretationsgemeinschaft ab. Die Entscheidung über Art und Umfang einer solchen Aktualisierung ist damit grundsätzlich kontextbedingt und Ergebnis von Verhandlungen zwischen Autor und Leser beziehungsweise Leser und Text.253 Eindeutig feststellbare stilistische Unterschiede in der spätantiken Briefliteratur konstituieren damit nicht zugleich und zwangsläufig auch unterschiedliche Grade von Literarizität. Sie sind lediglich Ausdruck individueller Fähigkeiten des Autors, der literarischen Sozialisation, die er und sein Umfeld durchlaufen haben, sowie seiner Einschätzung der Belastbarkeit der jeweiligen Kommunikationssituation. Diese Haltung gründet letzten Endes in der 249 Diese Gewohnheit konditioniert natürlich wiederum die Abfassung von Briefen. Insofern kann bei den meisten spätantiken Autoren nicht ausgeschlossen werden, dass sie vor dem Hintergrund der überlieferten Privatbriefkorpora von Cicero, Plinius oder Fronto eine sekundäre Verwendung ihrer Briefe nicht auch a priori ins Auge fassten und diese dementsprechend stilisierten. 250 Eine terminologische Differenzierung nimmt etwa Nickisch (1991) 177 f. vor, wenn er zwischen „metrischen Briefen“, „Gedichtbriefen“, „epistolarer Poesie“ und „poetischer Epistolographie“ unterscheidet. 251 Anders etwa Thraede (1980) 190–192, der im Metrum ein Ausschlusskriterium für „echte“ Privatbriefe erkennt. Die Versform ist per se aber kein Hinweis auf einen erhöhten Öffentlichkeitsgrad des Briefs. Sie kann in der Spätantike wie bereits erwähnt auch in rein privater Korrespondenz als Bildungsauszeichnung oder Freundschaftserweis vorkommen. 252 Ich folge hier den Ausführungen von Gross (1994) 28 ff., welche betont, dass man nicht von literarischen Texten, sondern stattdessen von „literarischen Leseprozessen“ sprechen sollte. Dass prinzipiell jeder Text je nach Umstand von einem Leser als Literatur rezipiert werden kann, hat Stanley Fish in einem bekannten Experiment beschrieben, vgl. Fish (1980) 322–373 (‚How To Recognise a Poem When You See One’). 253 Zum Lesen als Vertrag allgem. Gross (1994) 22–25.

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I. Einführung

rhetorischen Tugend des aptum, das eine kontext- und situationssensible Darstellungsform einfordert.254 Der individuelle Briefstil ist daher immer vom Empfänger und von der vermittelten Sache mitgeprägt. Wirkungsästhetisch sind solche sprachlich-formalen Elemente ebenso wie die mediale Präsentationsform als Einladung an die Leser zu verstehen, bestimmte gattungsspezifische Kontexte und Konventionen aufzurufen und den Text entsprechend zu dekodieren.255 Innerhalb der spätantiken aristokratischen Freundschaftsnetzwerke gehörte eine hochstilisierte, dem sermo cultus entsprechende Ausdrucksweise zur festen und ritualisierten Umgangsform.256 Dieselben Autoren konnten in anderen Kontexten jedoch durchaus andere stilistische Register ziehen, ohne dass sich aus ihrer eigenen, produktionsästhetischen Sicht an der Literarizität des Briefes etwas änderte. Dasselbe gilt auch für die Rezeptionsseite: Der Name des Autors, die Präsentationsform oder andere Umstände konnten unabhängig von formalästhetischen Merkmalen die Bereitschaft aktivieren, den entsprechenden Text literarisch zu lesen. Deshalb sind die affirmative Annahme einer künstlerischen Gestaltungsabsicht des Autors sowie überhaupt formalästhetische Elemente für eine Unterscheidung zwischen Gebrauchstext und Literatur zumindest für die Textsorte Briefe untauglich. Aus diesen Überlegungen leitet sich folgender Grundsatz ab: In eigentlicher Verwendung, in der Phase des Gebrauchsbriefs, ist die Aktualisierung literarischen Potentials prinzipiell minimal, unabhängig einer potentiell maximalen formalästhetischen Stilisierung. Im Gegenzug ist in uneigentlicher Verwendung, als Zirkularbrief oder Buchepistel, die Aktualisierung literarischen Potentials prinzipiell maximal, unabhängig einer potentiell minimalen formalästhetischen Stilisierung. Innerhalb der einzelnen Wirkungsphasen kann der Autor durch Einbezug sprachlicher und formalästhetischer Elemente und anderer Textstrategien also nur beschränkt und im Rahmen der zeitgenössischen Konventionen die Rezeptionsweise beeinflussen.

254 Vgl. Exc. Rhet. ed. Halm, 589,4–12: In epistolis considerandum est, quis ad quem et qua de re scribat. in eo autem, quis ad quem scribat, personarum accidentia spectanda sunt, quae sunt decem: genus sexus aetas instructio ars officium mores affectus nomen dignitas. plurimum enim differt, nobili an seni an magistratui an patri an amico an prospere agenti an tristi scribamus, et his similia. in re de qua scribemus videndum est, privata an publica, sacra an extra religionem, nostra an aliena, magna an modica: sic enim non solum sensus temperandi et adfectiones adfectandae sunt, sed etiam dignitas elocutionis ipsius moderanda. 255 Entsprechend sieht Gross (1994) 28 die Poetizität eines Textes als potentiell in jedem Text enthaltene Einladung an den Leser bzw. eine Erwartungshaltung, mit der Leser potentiell an einen Text herangehen können. 256 Vgl. dazu ausführlich weiter unten: S. 126–131. Diese elaborierten Prosastücke durchbrachen die Unmittelbarkeit des Briefs als „Gesprächsersatz“ in derselben Weise wie es ein Schreiben in metrischer Gestalt tat. Auch in dieser Hinsicht nivellierten sich also die Differenzen zwischen Vers und Prosa.

3. Methodologische Grundlegung: Zur Literarizität spätantiker Privatbriefe

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3) Der Öffentlichkeitsgrad eines Briefes entscheidet über die Aktualisierung seines literarischen Potentials Wenn in diesem Modell formalästhetischen Elementen keine unmittelbare Relevanz für die Aktualisierung literarischen Potentials zugesprochen wird, muss sich die diesbezügliche Entscheidung ganz auf den situationsbezogenen Öffentlichkeitsgrad eines Briefs verlagern. Dies wird aus zwei Überlegungen gerechtfertigt: Erstens ist die Wirkungsweise eines Briefes abhängig vom jeweiligen Kommunikationsraum, in den er von einem beliebigen Akteur zu einem beliebigen Zeitpunkt gestellt wird. Grundsätzlich verfügt nämlich jede Briefphase über einen jeweils anderen oder über mehrere verschiedene Kommunikationsräume.257 Für jeden Kommunikationsraum gelten bestimmte Regeln, Konventionen, Lizenzen und Einschränkungen, die den vertraglichen Rahmen zwischen Text und Leser darstellen. Hier verfügt der Autor prinzipiell über einen gewissen Gestaltungsspielraum. So ist ein an die Mutter geschriebener Trostbrief anders gestaltet als ein Brief an einen befreundeten kaiserlichen Amtsträger, Gelehrten oder Bischof. Gleichwohl kann zum Beispiel ein Brief, der autorintentional als Zirkularbrief in Freundeskreisen konzipiert war, wie etwa der im Stilkapitel analysierte Brief des Sidonius an Eriphius (epist. 5,17), jederzeit durch Übertragung in eine Rolle oder einen Codex zur Buchepistel werden. Dadurch ändert sich aber zwangsläufig die Rezeptionsweise, die sich neben dem textlichen Kontext auch an den entsprechenden Regeln und Konventionen des neuen Kommunikationsraumes orientiert. Ein anderes Beispiel sind die Brieftraktate des Augustinus, die ursprünglich als Einzelstücke zirkulierten, in einem zweiten Schritt aber von Augustinus mit anderen libri zu einem mehrbändigen Traktat zusammengefasst wurden.258 Durch diesen editorisch-publizistischen Vorgang werden die Konventionen des alten Kommunikationsraumes gleichsam in die des neuen miteinbezogen. Aus diesem Spannungsverhältnis wiederum kann ein literarischer Reiz entstehen, der aus der Variantion unterschiedlicher Thematiken, Stilebenen und Adressaten resultiert. Dabei ist es letztlich belanglos, ob diese Sammlung vom Autor selbst oder einem Redaktor zusammengestellt wurde. Zweitens erscheint der Öffentlichkeitsgrad auch daher für die Aktualisierung literarischen Potentials als massgebend, da eine steigende Anzahl Rezipienten tendentiell auch eine steigende Anzahl (variabler) literarischer Aktualisierungen mit sich bringt. So kann etwa eine intertextuelle Anspielung in einem Brief in der Phase des Gebrauchsbriefs vom primären Adressaten aktualisiert werden, doch wird dieser gleichwohl nie das ganze Potential möglicher Bezugnahmen und Assoziationen ausschöpfen können, das weitere Rezipienten im Text zu erkennen glauben. Aus lesetheoretischer Perspektive 257 Von „Räumen literarischer Kommunikation“ in der römischen Republik sprechen Rüpke (2000) 32–36, der verschiedene „Typen von Öffentlichkeit“ und die in ihnen verwendeten Textsorten unterscheidet, sowie Heil (2003). 258 Vgl. Aug. retract. 2,33: in tertio libro, quae est epistula sed in libris habita propter duos quibus eam conectandam putavi; retract. 2,56.

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I. Einführung

gesprochen ist das ausserlinguistische Wissen, die semantische Superstruktur, in die ein Wort, Satz oder Text beim Leseprozess vom Leser automatisch eingefügt werden, bei unterschiedlichen Rezipienten nicht deckungsgleich, was in verschiedene, zeitgebundene Sinnkonstruktionen resultieren kann.259 Die ausschliessliche Bindung der Literarizität an den Öffentlichkeitsgrad eines Textes setzt zweifellos ein relativ offenes Verhältnis zu Literatur voraus.260 Doch unterliegt das deskriptiv-phasenorientierte Briefmodell gleichwohl nicht jener subjektivistischen Willkür, vor der etwa Hartmut Wulfram bei der Anwendung eines vornehmlich auf die Rezipienten ausgerichteten Literaturbegriffs warnt.261 Der Autor besitzt innerhalb eines bestimmten Rahmens Einflussmöglichkeiten auf die Rezeptionssituation und den Leseprozess. So kann er etwa einzelne Briefphasen überspringen oder die Interpretation eines Briefs durch den Einsatz von intra- oder metatextuellen Signalen beeinflussen. Stets ist daher die Rekonstruktion des jeweiligen kontemporären Rezeptionskontextes unabdingbar. Selbst wenn dies im Einzelfall bisweilen schwierig oder unmöglich erscheint, bleibt die Annahme verschiedener Wirkungsphasen und damit unterschiedlicher Rekonstruktionskontexte eine dringende Notwendigkeit, wenn man mit spätantiken Briefen umgeht. Der praktische Mehrwert des Modells liegt also in erster Linie in der Grundlegung einer methodologisch stringenten und theoretisch reflektierten literaturwissenschaftlichen Analyse spätantiker Briefe.

259 Zur Bedeutung des ausserlinguistischen Wissens für den Verstehensprozess bei der Lektüre eines Textes vgl. Gross (1994) 20–22. 260 Dem Modell liegt demzufolge ein „empirischer Literaturbegriff“ zugrunde. Bestimmungsort für Literarizität eines Textes ist nicht der Autor, das Werk oder der Leser, vielmehr verlagert sich die Frage der Literarizität von der Text- auf die Handlungsebene: „Im Literatursystem als einem autonomisierten sozialen System entscheiden die dort agierenden Teilnehmer aufgrund ihres Handelns massgeblich, ob ein Text das Prädikat „literarisch“ oder „nicht-literarisch“ zugewiesen bekommt: Verlagslektoren können Manuskripte als nicht-literarisch ablehnen; Leser können Schriftstellerbiographien als literarisch oder als nicht-literarisch rezipieren. (…) Die Zuschreibung von Literarizität ist keineswegs willkürlich oder beliebig. Sie basiert auf literarischen Konventionen, die im Rahmen der literarischen Sozialisation ausgebildet wurden, auf literarischem (Vor-) Wissen, Zielen und Interessen und nicht zuletzt auf der jeweiligen Situation.“: Barsch (2001) 376–377. 261 Wulfram (2008) 41 (mit Blick auf Sykutris (1931) 187): „Mit einem solchen Ansatz freilich war kein irgendwie verlässlicher Massstab für die Bestimmung des „literarischen“ Briefs gewonnen, vielmehr wurde einer „rezeptionsästhetischen Willkür“ Tür und Tor geöffnet, die letztlich nach zeitgebundenen oder persönlichem Gutdünken das eine zur Literatur adelt, dem anderen diese Ehre vorenthält“.

4. Disposition

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4. DISPOSITION Die Disposition der Arbeit ist der oben dargelegten methodischen Zugriffsweise verpflichtet. Die funktionsgeschichtliche Zielsetzung, der hier nachgegangen wird, erfordert eine umfangreiche und dezidierte Erschliessung des soziokulturellen Kontextes. Allein die synchrone und diachrone Aufarbeitung der Bedeutung, die Bildung und Sprache für die spätantike Elite im Allgemeinen besass und die Obscuritas und Perspicuitas innerhalb der literarischen Kultur im Besonderen zukam, legt die notwendige Grundlage für die nachfolgende Funktionsanalyse, die einem modernen Betrachter das Phänomen literarischer Obscuritas in ihrer historischen Tragweite und Komplexität vor Augen führt. Erst aus ihr kann letztlich das Verständnis für dieses stilistische Phänomen erwachsen, das lange Zeit als typisches Verfallssymptom einer Epoche des politischen und kulturellen Niedergangs missverstanden wurde. Aus dieser Überlegung heraus folgt nach einer kurzen Stilanalyse, in der zur Verdeutlichung des Themas exemplarisch bestimmte Varianten und Ausprägungen dunklen Briefstils aufgezeigt werden, in einem ersten Schritt eine eingehende Beleuchtung der spätantiken Bildungssprache und ihrer Trägerschaft, der spätantiken Bildungselite. In einem zweiten Schritt wird die literarische Dunkelheit als Produktions- und Rezeptionsphänomen in der römischen Kaiserzeit und der lateinischen Spätantike in den Blick genommen, um die spezifischen soziokulturellen und literarhistorischen Kontexte aufzuarbeiten, in denen Obscuritas ihre präsupponierte Wirkungsbreite in der spätantiken Epistolographie entfalten konnte. Der Fokus liegt dabei auf den drei grossen Diskursbereichen, in denen dunkle Sprache traditionell eine hohe Relevanz besass: Rhetorik, Grammatik und christliche Bibelhermeneutik. Hier zeigen sich in der Herangehensweise und den vertretenen produktions- beziehungsweise rezeptionsästhetischen Positionen sowohl Gemeinsamkeiten wie Gegenläufigkeiten, die in unterschiedlicher Weise auf den zeitgenössischen Literaturbetrieb und die Epistolographie eingewirkt haben. Der diachrone Blick erscheint hier auch deshalb notwendig, weil neben den rhetorischen Wurzeln, die auf Quintilian und über ihn hinaus bis auf Cicero zurückreichen, die literarische Rezeption in der Spätantike entscheidend von der Schulpraxis der Jahrhunderte zuvor geprägt war. Erst auf dieser Grundlage kann eine Beschreibung von Obscuritas als Stilmerkmal und literarischer Strategie in der spätantiken Literatur erfolgen. Da die vorliegende Arbeit ihren Schwerpunkt auf die Epistolographie legt, bedarf es auch hier einiger zwingender Vorbemerkungen, um die soziokulturelle Bedeutung von Briefen sowie die allgemeinen gattungstypischen Bedingungen in der Spätantike aufzurufen. Eine adäquate literaturwissenschaftliche Beurteilung der spätantiken Briefkultur und ihrer Ästhetik ist, wie aus den vorangehenden methodischen Erläuterungen hervorgeht, bisher erst in Ansätzen geleistet und steht im Grossen und Ganzen noch aus. Dieser

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I. Einführung

Umstand macht auch an dieser Stelle eine längere Digression notwendig: Zunächst wird exemplarisch die Prävalenz einer hochstilisierten Sprache im Briefverkehr der Zeit nachgewiesen, um im Anschluss daran ihre spezifische Relevanz innerhalb des aristokratischen Freundschaftskults aufzuzeigen. Diese Ausführungen bilden den literarhistorischen Rahmen, in den die eigentliche Analyse gebettet ist. In der Analyse werden anhand zahlreicher Einzelinterpretationen neben verschiedener Verdunkelungsformen und spezifischer Verrätselungsstrategien ausgewählter gallischer Epistolographen auch die dahinterstehenden Wirkungsintentionen offengelegt. Die formale Gliederung orientiert sich dabei an den drei Hauptfunktionen, die in dieser Arbeit Obscuritas innerhalb der spätantiken Epistolographie zugewiesen werden: ästhetisches delectare, elitäre Selbstabgrenzung und politische Kryptographie. Alle drei Bereiche überlagern sich in der Realität der Texte, sodass die hier vorgenommene Klassifizierung von Anfang an als Konstrukt verstanden werden muss, das aus Gründen der Darstellungslogik gewählt wurde. Ausschlaggebend für die Abfolge der einzelnen Hauptaspekte war die bewusste Entscheidung, die gängige Tendenz der Forschung zu durchbrechen und den dominanten pragmatisch-kryptographischen Erklärungsansatz nicht an erster Stelle zu positionieren. Durch die Voranstellung der ästhetischen Dimension sollte die Gewichtung programmatisch verlagert werden. Die Einsicht, dass weitgehend losgelöst von den politischen Umständen, welche die spätantike Epistolographie ohne Zweifel entscheidend beeinflusst hatten, auch rein literarische Zusammenhänge und ästhetische Paradigmen das Wechselspiel von Obscuritas und Perspicuitas begünstigten, mag als Impuls für weiterführende stilästhetische Forschungen dienen, auf welche die Kunstprosa der lateinischen Spätantike seit Eduard Norden bis zum heutigen Tag noch wartet.262

262 Autorenübergreifende Analysen römischer Kunstprosa bieten von Albrecht (1983) und Erren (1983). Zur lateinischen Spätantike finden sich vorwiegend ältere stilistische Einzeluntersuchungen zu bestimmten Autoren, vgl. u.a. Kretschmann (1872); Engelbrecht (1885); Dubois (1903); Goelzer (1909) und Haverling (1988).

II. DUNKLER BRIEFSTIL – EINE EXEMPLARISCHE ANALYSE Pervadit iam multos ista persuasio, ut id demum eleganter atque exquisite dictum putent, quod interpretandum sit. (Quint. inst. 2,8,21)

Briefe waren in der Antike ein Medium pragmatischer Kommunikation, durch die man sich über weite Distanzen verständigen und Informationen austauschen konnte. In der spätantiken Bildungskultur wurden Briefe je nach Produktions- und Rezeptionskontext aber auch als Kunstwerke eigenen Ranges (litterae litteratae) verstanden, an denen als vorrangiges Element der Stil und die Sprache beeindrucken sollten. In der Antike beeindruckte an einem literarischen Kunstwerk als erstes der Stil.1 Über den Stil wird in der Praefatio die Aufmerksamkeit des Rezipienten erlangt und dessen Aufnahmebereitschaft für die zu vermittelnde Sache vorbereitet. Die rhetorische Theorie sieht zur Realisierung dieser Aufgabe traditionell die Redetugenden der sprachlichen Korrektheit (Latinitas), der Angemessenheit (aptum) und der Deutlichkeit (perspicuitas) vor, welche Verständlichkeit gewährleisten und über die Praefatio hinaus grundsätzlich für alle Teile der Rede Geltung besitzen. Der sprachliche Schmuck (ornatus) steht als vierte und am ausführlichsten behandelte Tugend ebenfalls ganz im Dienste dieser Aufgabe der elocutio: Er hilft die vom Produzenten erstrebte Verfassung des Publikums zu erreichen und diese im Verlauf der Rede beziehungsweise des Textes aufrecht zu erhalten.2 Der Anspruch intellektueller Verständlichkeit des sprachlichen Ausdrucks muss jedoch spätestens dann in den Hintergrund treten, wenn der Stil selbst zur vermittelten Sache wird, und wenn die Sprachform nicht primär im Dienste einer Sachaussage oder der persuasio steht, sondern zu einem autonomen Bestandteil des Kommunikationsprozesses wird. Form und Stil eines Briefes waren seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. im Zuge eines ästhetischen Wandels und als Folge gesellschaftlicher Umstrukturierungen immer stärker ins Zentrum produktionsästhetischer Intentionen und rezeptionsästhetischer Erwartungen gerückt, sodass der sprachliche Schmuck den Informationsgehalt eines Briefes an Bedeutung allmählich überflügelte.3 Dies muss nicht grundsätzlich den Vorrang der Form vor dem Inhalt bedeuten, vielmehr kann 1 2 3

Erren (1983) 25. Vgl. Lausberg (1960) § 458 ff. Der ornatus galt dabei als wirkungsvollste Tugend, vgl. Lausberg (1960) § 538. Dieser Aspekt ist ein Kriterium, das Franca Ela Consolino zu ihrer Definition des spätantiken Manierismus heranzieht: Consolino (1974) 458: „manierismo vuol dire rendere

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II. Dunkler Briefstil – Eine exemplarische Analyse

bisweilen die Form den Inhalt substituieren, kann also selbst zum Inhalt werden. Der Stil tritt in diesen Fällen aus dem Dienst der virtutes orationis und löst sich damit aus seiner unmittelbaren funktionalen Verbindlichkeit, die ihm die Rhetorik zugewiesen hat. In der spätantiken Epistolographie war also in bestimmten Kontexten der Stil nicht nur ein Element, durch das ein sprachliches Kunstwerk und die darin enthaltene Botschaft erschlossen wurde, sondern zunehmend bestimmender Teil desselben. Obscuritas war auf der einen Seite natürliche Folge dieser Entwicklung, in der die Tugenden der Latinitas und der Perspicuitas hinter einer ostentativ vorgeführten stilistischen Artistik zurücktraten. Auf der anderen Seite war sie zugleich intendierter Ausdruck einer Sprachkunst, die mit der Vorliebe für das Ungewöhnliche und Entlegene das Dunkle schätzte und auch bewusst anstrebte.4 Die Verdunkelung des sprachlichen Sinns war eine radikale Form der Suche nach literarischer Exklusivität, durch die man sich innerhalb der spätantiken Bildungselite auszeichnen und von weniger Gebildeten abzugrenzen vermochte.5 Modus und Intensität der Aktualisierungen von Obscuritas in Briefen differierte je nach Kommunikationssituation, sozioliterarischem Kontext und den konkreten Wirkungsabsichten des Autors. Dunkler Stil konnte den ganzen Brief bestimmen oder blieb auf geeignete Stellen beschränkt, wo er etwa als Kontrast im Sinne einer Verstärkung der beabsichtigten Lichtwirkung des Textes eingesetzt wurde.6 In aller Regel wurde eine partielle Verdunkelung eines Textes angestrebt. Eine komplette Sinnverdunkelung wurde nur in Ausnahmefällen, etwa einer politischen Notsituation, vorgenommen.7 Im Folgenden werden anhand dreier Texte exemplarisch einzelne Varianten und Ausprägungen des dunklen Briefstils der Spätantike aufgezeigt. Bei der Auswahl der Stellen wurde auf ein graduell möglichst breites Spektrum von Obscuritas geachtet, damit nicht durch einseitige Berücksichtigung besonders drastischer Fälle ein falscher Eindruck vermittelt wird. Zudem wurde versucht, Obscuritas sowohl in Texteinheiten, die unterschiedlichen Briefteilen (captatio, narratio, petitio, conclusio) zugeordnet werden können,8 als auch in einem kompletten Brief in den Blick zu nehmen. Die ausgewählten Passa-

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autonome le forme, fare che il modo della narrazione si ponga come oggetto di essa.“ Zur ästhetischen Formung spätantiker Briefe vgl. ausführlich weiter unten: 140–188. Vgl. dazu ausführlich weiter unten S. 148–155. Zur soziolinguistischen Komponente von Obscuritas in der Spätantike vgl. ausführlicher weiter unten: S. 217–227. Zur beabsichtigten Lichtwirkung in den Texten vgl. weiter unten: S. 155–170. Vgl. dazu ausführlich weiter unten: S. 245–288. Zur verwendeten Terminologie und Klassifizierung der einzelnen Briefteile vgl. Fernández López (1994) 26–29. Ihre Klassifikation übernimmt Amherdt (2001) 33–34, während sie van Waarden (2010) 37–38 wegen ihrer systematischen Starre, die dem flexiblen Vorgehen des Sidonius nicht entspräche, ablehnt. Hier soll sie unter der Annahme Anwendung finden, dass die von Fernández López vorgeschlagene Disposition grundsätzlich als Strukturprinzip Geltung besitzt, ein konkreter Brief jedoch nicht alle Elemente zwangsläufig auch immer aufweisen muss.

II. Dunkler Briefstil – Eine exemplarische Analyse

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gen und Briefe sind in dieser Hinsicht im Ganzen zwar repräsentativ, wollen und können die individuellen verdunkelnden Stilmerkmale der spätantiken Briefautoren aber nicht erschöpfend erfassen. Statt einer vollständigen phänomenologischen Auflistung variabler Formen und Techniken von Obscuritas geht es mit Blick auf die Zielsetzung dieser Arbeit an dieser Stelle im Wesentlichen auch darum, die funktionale Seite des Phänomens zu beleuchten. Das erste Beispiel ist die captatio eines Briefes des Ennodius (Ennod. epist. 3,10,1). Der Briefbeginn ist äusserst kunstvoll ausgestaltet und dient sowohl der Bekräftigung der gegenseitigen Freundschaft wie auch dazu, den Adressaten für ein bestimmtes Anliegen des Autors empfänglich zu machen. Obscuritas als Ausdruck einer künstlich-künstlerischen Stilisierung ist hier Element der Exordialfunktion des argumentum ad attentionem. Das zweite Beispiel entstammt der narratio eines längeren Briefes des Sidonius Apollinaris (Sidon. epist. 5,17,7). Darin wird in affektierter Dunkelheit das Ballspiel eines älteren Aristokraten beschrieben. Obscuritas ist hier in erster Linie Ausdruck einer erstrebten Kontrastwirkung, die den ästhetischen Glanz des Textes verstärkt. Das dritte Beispiel ist ein Brief des Avitus von Vienne (Avit. epist. 56 ed. Peiper, 85). In dieser kurzen salutatio wird in bester kryptographischer Manier sowohl alles wie nichts gesagt. Beispiel 1: Ennod. epist. 3,10,1 Ennodius Luminoso. Posset amicitiarum religio et adultae inter nos planta gratiae nulla discretarum sentire damna regionum, si quod negatur aspectui, pensaretur alloquiis et pigro corporum onere divisi, per illam quam e coelo sumpsimus partem, animis iungeremur. index merae affectionis vota pectorum lingua signaret, si ad desiderii copiam militaret oris officium, et penetrale mentis resignatum teneretur in litteris, tunc nullo caritas neglectu veterasceret, tunc diligenti mutuae devinctionis usu polita fulgeret, nec scabro memoria vestri torpore laederetur. Ennodius dem Luminosus. Es wäre möglich, dass der Kult unserer Freundschaft und der Spross jener Liebe, die zwischen uns entstanden ist, die örtliche Distanz [zwischen uns] nicht als Nachteil empfände, wenn briefliche Gespräche dies ersetzten, was den Blicken verwehrt ist, und wenn wir uns, die wir durch die träge Masse unseres Körpers voneinander getrennt sind, geistig hinsichtlich jenes Teils verbänden, den wir vom Himmel bezogen haben. Unsere Zunge würde als Beweis wahrer Zuneigung die Wünsche unseres Herzens ausdrücken, wenn der Gebrauch der Rede sich in den Dienst unserer Sehnsucht stellte und das Innerste des Herzens in einem Brief offenbarte: Dann würde unsere freundschaftliche Liebe durch keine Nachlässigkeit ermatten, dann würde sie durch die sorgfältige Pflege gegenseitiger Verbundenheit hell erstrahlen und die Erinnerung an dich wäre nicht von bitterer Trägheit betroffen.

Der Adressat des Briefs, Luminosus, war ein langjähriger Freund und Briefpartner des Ennodius.9 Er war hoch gebildet und stand offenbar in engem Kontakt mit Papst Symmachus, dem er verschiedentliche Anliegen des Enno9

Vgl. Ennod. epist. 6,16,1: caritas, quae inter nos ab ipso vitae limine sumpsit exordium. Zu seiner Bildung vgl. epist. 4,11: facundia totius orbis celebrata testimonio.

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II. Dunkler Briefstil – Eine exemplarische Analyse

dius übermittelte. Das vorliegende Schreiben steht in Zusammenhang mit einem solchen Ersuchen: Ennodius bittet Luminosus, beim Papst vorzusprechen und die Rückerstattung eines Darlehens zu verlangen.10 Der Brief wird prunkvoll eröffnet. Die captatio ist sorgfältig stilisiert und syntaktisch ausgewogen strukturiert: Posset … sentire si … negatur … pensaretur … et … divisi… iungeremur. Index … signaret si … militaret … et … teneretur …, tunc … veterasceret, tunc … fulgeret, nec … laederetur.

Der Gedankengang, den Ennodius in Form eines Syllogismus entwickelt, besteht aus drei aufeinander aufbauenden Teilen. In einem ersten Schritt wird die argumentative Grundlage gelegt: Freundschaft überwindet örtliche Distanz, falls sie in der Verbindung der Seelen und nicht des Körpers besteht. Die betonte Voranstellung des Prädikats posse suggeriert anfänglich die Möglichkeit dieser propositio, welche sich im Nachhinein aber als irreal formulierte Hypothese entpuppt. An nachgerückter Stelle folgt das eigentliche Thema, das durch gewählt-verfremdende Formulierungen variierend hervorgehoben ist (amicitiarum religio / adulatae planta gratiae).11 Der zweite Teil enthält wieder in Form eines dreigliedrigen Bedingungssatzes die Fortsetzung der ersten Annahme: Briefe sind das Medium dieser Art Freundschaft, wenn sie denn die Sprache der Seele enthalten. In einem dritten Schritt folgt dann die conclusio, die erneut in drei Glieder zerfällt (tunc… tunc… nec): Eine solche Freundschaft bleibt dank dem Austausch solcher Briefe unverändert erhalten, auch wenn die Partner voneinander getrennt sind.12 Die ganze Passage ist neben der sorgfältigen Stilisierung durch eine beeindruckende lexikalische Variation ausgezeichnet, in der nicht nur das Thema des Briefs, die Freundschaft, auf immer neue Art und Weise angesprochen wird (die Freundschaft: amicitia, gratia, affectio, desiderium, caritas, mutua devinctio / die körperliche Abwesenheit: discretarum damna regionum, pigro corporum onere divisi / die Worte der Seele: vota pectorum, penetrale mentis). Dieses Variationsbestreben führt in Kombination mit der bildhaften Sprache und der eigenwilligen Wortstellung des Ennodius zu einer erhebli-

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Zu den Details vgl. Gioanni (2006) 77–78. Die landwirtschaftliche Metaphorik ist zur Bezeichnung wachsender Freundschaft bei Ennodius relativ häufig, vgl. epist. 4,35 mit den Anmerkung ad loc. von Gioanni (2006) 147. Zu Ennodius’ Ablehnung einer äusserlichen Rhetorik, die echte Freundschaft nur vorspiegle, vgl. weiter unten: S. 152.

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chen Verdunkelung des Ausdrucks: si ad desiderii copiam militaret oris officium / tunc diligenti mutuae devinctionis usu polita fulgeret.13 In der irrealen Konstruktion der Passage liegt ein verhüllter Vorwurf an den Adressaten. Im Gegensatz zu Ennodius hat es Luminosus offenbar versäumt, durch einen Brief die Bande der Freundschaft zu pflegen.14 Diese implizite Kritik dient der Versicherung der gegenseitigen Freundschaft (confirmatio amicitiae: Cic. fam. 15,14,6), eine in der Spätantike neben dem Lob des Briefstils des Adressaten äusserst beliebte Form der Brieferöffnung, da durch sie die freundschaftliche Verbundenheit der räumlich getrennten Briefpartner gleich zu Beginn der Kommunikation aktualisiert wird, was den Adressaten für allfällige, noch zu äussernde Bitten und Ersuche (petitiones) empfänglich macht.15 Die von Ennodius beschworene religio amicitiae bezieht ihre Kraft aus dem regelmässigen Briefkontakt, den prägnant formulierten alloquiis (sc. epistolaribus), weshalb langes Schweigen einem Abbruch der Freundschaft gleichkommt.16 Ennodius’ captatio stellt letztlich also eine äusserst elaborierte Variante des epistolographischen Topos dar, der den Adressaten zur Erfüllung des officium amicitiae auffordert. Die Aufforderung zur Aufrechterhaltung der Brieffreundschaft ist mit den epistolographischen Motiven des εἰκὼν ψυχῆς und der colloquia absentium zu einer moralischen admonitio verwoben, die Luminosus eindringlich an seine Verpflichtung gegenüber Ennodius erinnert. Der gedanklich wie stilistisch hoch komplexe Briefbeginn ist weder mit dem brieftypischen sermo cotidianus noch den rhetorischen Vorstellungen eines vollendeten Exordiums in Einklang zu bringen. Das Prooemium, dessen vornehmliche Aufgabe es ist, die Rezipienten geneigt, aufmerksam und gelehrig zu machen (benevolum, attentum, docilem facere),17 muss zur Erfüllung dieses Zwecks perspicue und ungekünstelt sein.18 Die verdunkelnde Künstlichkeit der Diktion ist aber gerade das vornehmliche Charakteristi13

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Vgl. als Kontrast die Anweisungen von Iul. Vict. rhet. ed. Giomini/Celentano, 105,31–34: nec… aut verbum cariosius aut figura putidior… nec dilatatione verborum et anxio struendi labore lux obruenda. Vgl. die Fortsetzung der captatio: Ennod. epist. 3,10,2: Sed quid faciam quod mihi meritorum meorum nebulae serenitatem bene amantis obducunt, et oblivionem mei peccata mea conciliant? facessat a proposito meo, imitari quod factum doleo, et per silentium sumere de vestra taciturnitate vindictam. Vgl. z.B. Ennod. epist. 4,7,1: Suscepi litteras gemino splendore radiantes, quibus purpura dictatoris vestrae iuncta dignationi crevit in pretium, gratias omnipotenti Deo restituens, qui votorum maciem beneficii ubertate transgreditur, ut quando in desideriis meritorum conscii sectamur angustiam, divitis indulgentiae copias non refrenat. Zur „religion des amitiés“ bei Ennodius vgl. Gioanni (2006) LXXIIIf. Vgl. Lausberg (1960) § 266. Rhet. Her. 1,7,11: Exordienda causa servandum est, ut lenis sit sermo et usitata verborum consuetudo, ut non adparata videatur oratio esse. Vgl. auch Cic. inv. 1,15,20 in terminologischer Abgrenzung zur Technik der insinuatio: Principium est oratio perspicue et protinus perficiens auditorem benivolum aut docilem aut attentum. Die Praefatio war aber zugleich der Ort, wo ein Autor vorführte, wozu er stilistisch in der Lage war. Paradebeispiel ist etwa Livius. Ein besonders drastisches Beispiel aus der Spätantike ist Fulgentius,

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kum von Ennodius’ captatio. Der Brief ist kein Abbild eines Gesprächs unter Abwesenden (sermo absentium), in der ein familiär-freundschaftlicher Grundton, die φιλοφρόνησις, vorherrscht. Ennodius war in keiner Weise gewillt, die Spontaneität und Ungezwungenheit einer freundschaftlichen Konversation mimetisch abzubilden, so wie es die rhetorische Theorie vorschrieb. Vielmehr wollte er die Künstlichkeit des Dialogs im Brief bewusst offenlegen.19 Hier tritt eine spätantike Modifizierung der rhetorischen Exordialdoktrin in aller Deutlichkeit hervor: Die Grundfunktionen des Exordiums blieben sich zwar gleich, doch bestand die technische Realisierung der captatio nun im Wesentlichen darin, dem Adressaten durch eine sorgfältige und besonders zeitintensive Stilisierung, die lucubratio, zu schmeicheln und ihn für sich einzunehmen.20 Ein übersteigerter ornatus, von der Rhetorik in der Regel als mala adfectatio abqualifiziert,21 diente hier als Indikator für die soziale Wertschätzung, die man dem Adressaten entgegen brachte. Die daraus resultierende Dunkelheit der Diktion ist in dieser Hinsicht als argumentum ad benevolentiam zu deuten, da man dem Adressaten implizit eine hohe Bildung attestiert. Zugleich steht Obscuritas im Dienste des argumentum ad attentionem und des argumentum ad docilitatem, da dessen intellektuelle Aufmerksamkeit geweckt und sein Interesse am weiteren Inhalt des Briefs angeregt wird. Denn Ennodius’ Brief hatte neben dem Freundschaftsdienst durchaus eine weitere, pragmatische Funktion, wie er selbst im Übergang zur narratio seinem Adressaten offenbart: Geminis ergo stimulis verba concessi. negare non potui commercium epistolare, quod et causa poposcit et gratia („Zweierlei Beweggründen habe ich also nachgegeben: Einem brieflichen Austausch, den sowohl Anlass als auch Gunst erbeten haben, kann ich mich nicht verweigern“: epist. 3,10,2). Die nachfolgende Bitte um Vermittlung in der delikaten Angelegenheit wird zwar in gewählten, jedoch weniger verdunkelten Formulierungen vorgetragen. Hier stehen Klarheit und intellektuelle Verständlichkeit der kommunizierten Botschaft nun ganz eindeutig im Zentrum. Beispiel 2: Sidon. epist. 5,17,7 Hic vir inlustris Philomathius, ut est illud Mantuani poetae, ausus et ipse manu iuvenum temptare laborem [Verg. Aen. 5,499], sphaeristarum se turmalibus constanter immiscuit. Pulchre enim hoc fecerat, sed cum adhuc essent anni minores. Qui cum frequenter de loco stantum medii currentis impulsu summoveretur, nunc quoque acceptus in aream tam pilae coram praetervolantis quam superiectae nec intercideret tramitem nec caveret ac per catastropham saepe pronatus aegre de ruinoso flexu se recolligeret, primus ludi ab accentu sese removit suspiriosus extis incalescentibus. Hier mischte sich der vir illustris Philomatius mit Elan unter die Reihen der Ballspieler und, wie der Dichter aus Mantua es ausdrückte, „wagte mit eigener Hand die Arbeit

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dessen Praefatio zu den Mythologicarum libri nur schwer verständlich ist, während im Haupttext ein flüssiger und leicht verständlicher Sprachstil vorherrscht. Zur ostentativen Künstlichkeit des spätantiken Briefstil vgl. weiter unten: S. 148–155. Zur Bedeutung der elucubratio vgl. weiter unten: S. 148. Vgl. dazu weiter unten: S. 100–101.

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der Jugend zu rühren“ [Verg. Aen. 5,499]. Er war nämlich ein guter Spieler, doch zu einer Zeit, als er noch jung war. Als er nun wiederholt durch den Anstoss des Mittelläufers aus dem Kreis der Spieler gedrängt wurde, konnte er, in die Mitte des Spielfeldes aufgenommen, weder die Flugbahn des Balls unterbrechen, wenn man diesen vor ihm zirkulieren liess oder über ihn hinauswarf, noch ihr ausweichen [wenn man mit dem Ball auf ihn zielte]. Nur mit Mühe kam er nach einer gewagten Körperbewegung wieder auf die Beine, wenn er jeweils durch einen abrupten Sprung kopfüber hingefallen war. Als Erster zog er sich daher ausser Atem und mit brennendem Seitenstechen aus dem hitzigen Spiel zurück.

Der Adressat Eriphius, ein vir clarissimus aus Lyon,22 bat Sidonius um die Zusendung der Ex-tempore-Verse, die er auf Bitten des Philomatius, seines Schwiegervaters, verfasst hat. Sidonius kommt dem Wunsch nach und berichtet seinem Adressaten zuvor ausführlich den Entstehungskontext (locus et causa) des denkwürdigen Epigramms, das ein Schweisstuch (pannus) thematisiert. Die zitierte Passage ist ein Auszug dieser langen narratio, in der Sidonius vom Fest zu Ehren des heiligen Justus in Lyon erzählt: Während einer Unterbrechung der Feierlichkeiten hatten sich die primi civium zu geselligem Gespräch im Schatten der Gartenanlage eines nahegelegenen Grabmals zusammengefunden. Bald ging man zu Ball- und Würfelspiel über. Eifer und Elan der Spielenden wird von Sidonius, der selbst am Ballspiel teilnahm, karikierend in militärischer Terminologie beschrieben. Der Tonfall, in dem Sidonius die Szenerie schildert, ist entsprechend heiter. Der Brief kann der von Sidonius selbst so titulierten Gruppe der litterae ioco lepidae (vgl. Sidon. epist. 9,3,3) zugerechnet werden.23 Die narratio ist mehr als alle anderen Redeteile auf Verständlichkeit angewiesen. Hier besassen sprachliche Eindeutigkeit, logische Disposition und hinreichende Ausführlichkeit für das Wirkungsziel der Rede insgesamt erhöhte Relevanz, weshalb die Perspicuitas in den rhetorischen Lehrbüchern auch traditionell als Gestaltungsprinzip der narratio abgehandelt wurde.24 Aus der Perspektive der klassischen Rhetorik erscheint gerade in Briefen eine Verdunkelung an dieser Stelle also in zweifacher Hinsicht als Verstoss gegen das Gebot sprachlicher Klarheit. 22 23

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Zur Person vgl. Kaufmann (1995) 300. Fernández López (1994) 48 weist ihn den „cartas de función metalingüística“ zu, die ein literarisches Werk enthalten, das der Briefautor einleiten, vorstellen oder dem Adressaten widmen möchte. In ihrem systematisches Klassifizierungsmodell unterscheidet sie nach dem Kommunikationsmodell von R. Jakobson fünf unterschiedliche Brieffunktionen, die wiederum in diverse Subkategorien unterteilt sind: 1. Cartas de función metalingüística: Cartas de edición y presentación de obras; 2. Cartas de función fática: Cartas de saludo y respuesta; 3. Cartas de función expresiva: Cartas de felicitación y salutación; 4. Cartas de función impresiva: Cartas de exhortación y admonición; 5. Cartas de función declarativa y poética: Cartas descriptivas, vgl. Fernández López (1994) 29–31. Quint. inst. 4,2,35: Sunt quidem hae (…) virtutes [sc. narrandi] aliarum quoque partium; nam et per totam actionem vitanda est obscuritas, et modus ubique custodiendus, et credibilia esse oportet omnia quae dicuntur. maxime tamen haec in ea parte custodienda sunt quae prima iudicem docet: in qua si acciderit ut aut non intellegat aut non meminerit aut non credat, frustra in reliquis laborabimus. Vgl. weiter unten: S. 94.

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Die entscheidende Passage ist durch die Nennung von Protagonisten und Handlungsort deutlich von der Rahmenhandlung abgesetzt (hic vir inlustris Philomathius). Die betonte Endstellung des Prädikats rückt neben der Person auch ihr Handeln in den Mittelpunkt. Der epische Vergleich mit dem greisen Acestes, der am Wettkampf der Bogenschützen teilnahm, irritiert und lässt die Tendenz von Sidonius’ Schilderung noch in der Schwebe.25 Der bissige satirische Unterton des nun folgenden Berichts, in dem die sportliche Selbstüberschätzung des in die Jahre gekommenen Senators karikiert wird, klingt aber bereits an.26 Die Verbindung sphaeristarum turmalibus führt wie der Vergleich das eingangs aufgerufene episch-martialische Geschehen weiter, das sich – in witzigem Kontrast zur friedlich-heiteren Szenerie im Schatten der Gartenanlage – allmählich zu entwickeln beginnt. Das sonst nur in militärischen Kontexten verwendete turmales „einzelne Reiter einer Kavallerieschwadron“ (vgl. Liv. 8,7,1) antizipiert die Art und Weise, in der sich Philomathius in das Gewimmel der Ballspieler stürzt (immiscuit): nämlich als gelte es eine Kavallerieattacke auszuführen.27 Die psychologische Erklärung für dieses Verhalten wird nachgeschoben (pulchre enim…). Das erwartungsgemäss ungeschickte Spielverhalten des Philomatius wird im Folgenden in einer Periode beschrieben, deren schwierige Diktion die peinliche Darbietung zu verschleiern scheint. Die ihr zugrunde liegende syntaktische Struktur ist einfach: Qui cum… summoveretur nec intercideret… nec caveret… ac se recolligeret sese removit.

Die Schwierigkeiten der Passage resultieren aus der rhetorischen Stilisierung sowie der Dichte und Prägnanz der Darstellung, wie sich bereits im ersten Kolon zeigt: stantum bezeichnet prägnant den Kreis der Spieler, in deren Mitte der Läufer steht (medii currentis).28 Die evozierte Spielsituation ist durch chiastische Stellung abgebildet, die natürliche Wortfolge dabei bewusst durchbrochen (de loco stantum medii currentis impulsu): die Ablative bilden zusammen mit den von ihnen abhängigen Genitivattributen (in spannungsreicher Antithese stantum – currentis) einen rahmenden Kreis, in dessen 25

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Acestes, der von Vergil als pater artis bezeichnet wird, schoss seinen Pfeil hoch in die Lüfte, worauf dieser auf wunderbare Weise Feuer fing und am Himmel verglühte. Er erhielt aufgrund dieses göttlichen Zeichens von Vergil den Siegespreis. Sidonius wählt den Vergleich mit Bedacht: Es handelt sich um einen Wettkampf (hier ein Spiel) im Umfeld religiöser Feierlichkeiten (hier der Todestag eines Heiligen). Das Satirische war vom Stoff her nicht vorgegeben. Die Satire war jedoch eine beliebte Darstellungsform des Sidonius, vgl. dazu etwa Blänsdorf (1993). Der Gräzismus sphaerista (σφαιριστής) ist nur bei Sidonius Apollinaris und in den Inscriptiones Latinae belegt. Nachklassisch ist sphaeristerium „Ballspielort“: Plin. epist. 2,17,12; 5,6,27; Suet. Vesp. 20. Vgl. Anderson (1965) 232 Anm. 1: „The players apparently formed up in a circle or a double row, with one man… in the center of the ring or play-space (area).“ Zur Genitivform vgl. Leumann (1977) 438 Zusatz b.

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Mitte medii zu stehen kommt. Das zweite Kolon ist wie das erste hochstilisiert. Mit nunc quoque wird an Philomathius’ ersten Lapsus, den Ausschluss aus dem Kreis, angeschlossen: Philomatius befindet sich nun in der Mitte des Spielfeldes (prägnant: in aream). Der Wandel von einer passiven zu einer aktiven Rolle ist syntaktisch im Genus verbi abgebildet (summoveretur – intercideret/caveret/recolligeret). Gedanklich störend wirkt das frequenter aus dem ersten Glied nach, das eine mehrfache Wiederholung der ganzen Szenerie impliziert. Als medius currens verpasst es Philomathius abermals, den spielerischen Anforderungen gerecht zu werden: Weder gelingt es ihm, den Ball abzufangen noch seiner Bahn auszuweichen.29 Auch hier wirkt sich in Sidonius’ Beschreibung die Kombination von aufwendiger Stilisierung und verknappender Kürze verdunkelnd aus: Sidonius verdichtet drei mögliche Spielsituationen zu einem komplexen Ausdruck (in logischer Folge: nec tam … quam / nec). Stilistisches Charakteristikum ist erneut die mixtura verborum, die Quintilian als vitium taxiert.30 Die Voranstellung des Genitivobjekts wirkt einerseits verdunkelnd, weil durch die unmittelbare Nähe von area die Bezüge nicht sofort einsichtig sind, andererseits wird durch die Sperrung die betonte Emphase der Handlung (Verb-Objekt-Verb) ermöglicht. Auch auf lexikalisch-semantischer Ebene wird unmittelbare Verständlichkeit bewusst obstruiert und ein flüssiger Leseprozess immer wieder behindert. Die Wendung tramitem pilae „Flugbahn des Balls“ ist ebenso gesucht wie die Verbindung mit intercidere, das hier in der Bedeutung von intercipere „unterbrechen“ steht.31 Cavere versteht man am besten als Terminus technicus der Fechtersprache „parieren“: Philomathius konnte die auf ihn gerichteten Schüsse nicht auffangen beziehungsweise ihnen nicht ausweichen.32 In der zweiten Spielsituation müssen die Attribute, die das Genitivobjekt korrelierend umschreiben (tam coram praetervolantis… quam superiectae) logisch weggedacht werden. Auch im dritten Glied der polysyndetischen Verbalreihung (nec… nec… ac ... ), die Bestandteil des cum-Satz ist, steht das Prädikat an betonter Schlussstellung, während das vorangestellte Partizip eine begründende Nebenhandlung enthält. Die Stelle ist durch Sidonius’ Vorliebe für gesuchte Worte und Wendungen beispielhaft verdunkelt. Pronare „vorwärts neigen“ (< pronus) ist eine Wortschöpfungen, die sich unmittelbarem Verständnis ebenso ver29

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Ziel des Spiels, einer Art Fangball (ἁρπαστόν), ist es offenbar, den Läufer in der Mitte entweder mit dem Ball auszuspielen, indem die Spieler im Kreis den Ball untereinander zirkulieren lassen (ohne dass ihn der Läufer erwischt), oder den Läufer mit dem Ball zu treffen. Letzteres muss aus dem nec caveret geschlossen werden. In diesem Sinn auch Loyen (1970) 240 Anm. 58: „Les joueurs se forment en cercle. Un autre joueur est au milieu du cercle; il a un double rôle: intercepter la balle que se passent rapidement entre eux les jouers de la périphérie; éviter d’être frappé de plein fouet par la balle.“ Quint. inst. 8,2,14. Anderson hatte daher die Stelle gegen den consensus codicum konjiziert, was von Warmington aber rückgängig gemacht wurde. vgl. Anderson (1965) 232 Anm. ad loc. Vgl. Quint. inst. 4,2,26: ut in armorum ratione antiquior cavendi quam ictum inferendi cura est.

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schliesst wie die Wendung ruinosus flexus oder der Gräzismus catastropha. Mit catastropha meint Sidonius offenbar eine gewagte Sprungbewegung nach vorne mit dem Ziel, den Ball in der Luft abzufangen.33 Dabei konnte man sich überschlagen und mit dem Gesicht am Boden zu liegen kommen (per catastropham… pronatus).34 Philomathius unterlief dies infolge seiner allzu gewagten Manöver (singulär: ruinosu flexu [sc. corporis]) fortwährend, wobei er jeweils nur mit Mühe wieder auf die Beine kam (aegre… se recolligeret). Nach dieser kurzen, satirisch untermalten Beschreibung des missglückten Ballspiels von Eriphius’ Schwiegervater folgt mit dem Hauptsatz dessen vorzeitiger Austritt aus dem Spiel. Die relative Kürze der Periode, in welcher der Hauptsatz die entscheidende Handlung umrahmt, veranschaulicht die Schnelligkeit des Geschehens: Philomathius zieht sich als erster keuchend und mit brennendem Seitenstechen aus dem Spiel zurück. Sidonius folgt ihm daraufhin, um seinem Freund die Peinlichkeit zu ersparen.35 Auch der Hauptsatz enthält verdunkelnde Elemente: Der Bezug von ludi ist nicht eindeutig. Die Stellung legt primus ludi „als erster der Spielenden“ nahe, wobei ludus dann metonymisch zu verstehen ist.36 Wahrscheinlicher ist aber ab accentu ludi, wobei aber die Bedeutung von accentus Probleme bereitet. Sidonius verwendet den Begriff in seinem Briefwerk dreimal: einmal in eigentlicher Bedeutung „Klang, Ton“ (Sidon. epist. 7,12,3: plausuum maximo accentu) und zweimal – wiederum singulär – in übertragener Bedeutung im Sinn von „lautstarkes Tosen“.37 Die Passage ist in der Hinsicht anspruchsvoll, dass zum einen eine gewisse sachliche Grundkenntnis (des Spiels und der Person) als gegeben angenommen wird, zum anderen die Bereitschaft des Rezipienten vorausgesetzt ist, im Labyrinth der von gesuchten Vokabeln durchsetzten, hochstilisierten Prosa einen Sinn zu generieren. Die Obscuritas von Sidonius’ Diktion ist aber nie absolut. Nur der zweite Teil der Passage ist verdunkelt, während der erste Teil verhältnismässig flüssig lesbar ist. Hier wird im Text durch das Vergilzitat eine Glanzwirkung erzeugt, die kontrastierend zur nachfolgenden Dunkel-

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Vgl. Sidon. epist. 2,9,4: Vix quodcumque vestibulum intratum, et ecce huc sphaeristarum contrastantium paria inter rotatiles catastropharum gyros duplicabantur. Der ThLL 3,598 bleibt vage: de corporis conversione vel casu. Vgl. den Erklärungsversuch bei Anderson (1965) 232 Anm. 1: „I think catastropha („overturning“, „upsetting“) was a technical term, applied to a diving tackle by which the medius currens tried to upset the man who had caught, or was trying to catch, the ball.“ Das saepe verdeutlicht, dass dies nicht immer geschah, sondern eben nur infolge eines ruinosus flexus. Sidon. epist. 5,17,8: destiti protinus et ipse, facturus communione cessandi rem caritatis, ne verecundiam lassitudo fraterna pateretur. Zu ähnlichen Konstruktionen vgl. Hofmann/Szantyr (1965) 54 ff. u.a. mit Verweis auf Hor. carm. 1,35,29–30 (ultimos orbis Britannos) und Apul. met. 4,11 (praecipuus virtutis). Neben dieser Stelle auch in Sidon. epist. 4,6,4: atque hoc in maximo hiemis accentu. Beide Stellen fehlen im ThLL 1,280–281. Loyen (1970) 203 übersetzt „au rythme trop rapide du jeu“; Anderson (1965) 233: „the stress and strain of the game“.

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heit steht. Obscuritas steht hier im Dienste einer Ästhetik, die im Grellen und Gegensätzlichen höchsten Gestaltungswillen entfaltet.38 Beispiel 3: Avit. epist. 56 ed. Peiper, 85 Avitus episcopus viro illustrissimo Messiano. Maximus desiderio nostro cumulus optata gaudiorum ubertate confertur, si magnificum vestrae pietatis statum florenti prosperitate pollentem avida sollicitudinis nostrae vota cognoverint: quia hoc proventibus nostris compendio indubitatae felicitatis adcrescit, quidquid clementiae vestrae caelestium beneficiorum pietas diffusa contulerit. nam in eo metimur felicibus incrementis nostrum prosperari successum, in quo actionis vestrae crescit sine fine suffragium. qua propter honorificum salve persolvens quaeso, ut cupimus, si felicia cuncta erga vos geruntur, magnitudo vestra percurrentis paginae eloquio pandendo perdoceat. Bischof Avitus dem vir illustrissimus Messianus. Meiner Sehnsucht [nach dir] wird ein Übermass an Freude in der erhofften Fülle zuteil, wenn meinen erwartungsvollen Gebeten, die ich in Sorge um dich äusserte, nun die Nachricht zugetragen worden ist, dass sich deine Liebenswürdigkeit in einem kraftvollen Zustand befindet und prächtig gedeiht. Denn, was auch immer uns die umfassende Liebe deiner Mildtätigkeit an göttlichen Wohltaten zuträgt, dient unserem glücklichen Vorankommen in der sicheren Bewahrung unzweifelhaften Wohlbefindens. Daraus nämlich ersehen wir, dass sich unser Erfolg in glücklichem Wachstum befindet, wenn die Unterstützung deiner Tätigkeit ohne Ende anwächst. Deshalb, während ich dir einen ehrenvollen Abschiedsgruss entrichte, bitte ich dich, dass mich deine Hoheit, so wie ich es mir wünsche, in einem kurzen Brief mit einigen informierenden Worten unterrichtet, ob bei dir alles günstig verläuft.

Adressat des Briefs ist der sonst unbekannte vir illustrissimus Messianus, mit dem Avitus offenbar in Freundschaft verbunden ist.39 Die ostentativen Ehrwürdigkeitsbezeugungen (magnificum statum / magnitudo vestra / honorificum salve) und die sorgfältige Stilisierung lassen an eine hochgestellte Persönlichkeit denken, der Avitus eine dem officium amicitiae geschuldete Aufwartung macht. Das kurze Schreiben ist aber wesentlich mehr als eine briefliche salutatio, mit der die Angehörigen der spätantiken Bildungselite sich gegenseitig ihre freundschaftliche Verbundenheit bestätigten.40 Vordergründig scheint Avitus seinem Adressaten mitzuteilen, dass er sich immer freue, wenn er von dessem guten Gesundheitszustand oder beruflichen Erfolg höre. Hinter der Fassade abstrakter Nominalisierungen ist für Uneingeweihte jedenfalls kaum Spezifischeres zu erkennen. Die Tätigkeit des Messianus (actionis vestrae), von dessen himmlischen Wohltaten (caelestium beneficiorum) Avitus selbst oder ihm Nahestehende in irgendeiner Weise zu profitieren scheinen, bleibt ungenannt.

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Zu den ästhetischen Grundlagen spätantiker Obscuritas ausführlich weiter unten: S. 140–188. Martindale (1980) 762. Shanzer/Wood (2002) 330: „An egregiously polite communication, but more than a pure friendship letter. No doubt deliberatly elliptical and allusive in content.“

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Der Brief lässt sich in drei Teile gliedern: 1) captatio (maximus… cognoverint), 2) narratio (quia… suffragium), 3) conclusio (mit integrierter petitio: qua… perdoceat). Wie bei Ennodius ist die captatio aufwendig stilisiert und wirkt dadurch in erheblichem Masse verdunkelnd. Das erste Glied des Bedingungssatzes ist fast unverständlich. Als dominantes Stilprinzip erscheint die Sperrung zusammengehöriger Glieder, welche die ohnehin schwierigen semantischen und syntaktischen Bezüge zusätzlich verdunkelt:41 Maximus desiderio nostro cumulus optata gaudiorum ubertate confertur, si magnificum vestrae pietatis statum florenti prosperitate pollentem avida sollicitudinis nostrae vota cognoverint.

Neben der künstlichen Wortstellung wird besonders mittels redundanter Wendungen (maximus cumulus gaudiorum, florenti prosperitate) und Abstrakta-Häufungen (status pietatis, vota sollicitudinis) eine unmittelbare Verständlichkeit verhindert. Der Leseprozess gerät durch diese virtuose Technik erheblich ins Stocken. Syntaktische Ambiguitäten führen auf Irrwege. Der Satz muss zurückverfolgt, getroffene Wortzusammenhänge korrigiert und neue Hypothesen aufgestellt werden. Die durchgängige Kohäsion der Satzglieder hält das Ganze aber gleichwohl zusammen und suggeriert Sinnhaftigkeit, was den Interpretationsprozess wieder antreibt. Der Lesevorgang nimmt in diesem mühsamen Prozess des Eindeutigmachens jedoch erheblich mehr Zeit in Anspruch als üblich. Als erschwerend hinzu kommt hier noch die verdunkelnde Technik der copiosa loquacitas.42 So wird jedes Substantiv von einem Attribut begleitet. Avitus bietet also gleichsam die Negativfolie der Anweisungen, die Quintilian für Perspicuitas im Satzbau (in verbis coniunctis) gibt: rectus ordo, non in longum dilata conclusio, nihil neque desit nec superfluat (Quint. inst. 8,2,22). Der Rezipient muss sich mühsam durch die vage Begrifflichkeit und das Labyrinth der Bezüge arbeiten, um den Sinn von Avitus’ captatio zu erschliessen: Avitus freue sich immer zu hören, dass es Messianus gut gehe. Damit handelt es sich hier um eine konventionelle Brieferöffnung. Worin dieses Wohlergehen aber genau bestehen soll, bleibt zumindest für jeden sekundären Rezipienten offen: der gesuchte Ausdruck status vestrae pietatis florenti prosperitate pollens „der kraftvolle und in glücklichem Gedeihen befindliche Zustand deiner Liebeswürdigkeit“ ist ambivalent und kann sich sowohl auf den Gesundheitszustand wie einen beruflichen, dienstlichen oder religiösen Erfolg des Adressaten beziehen. Die Kommunikation erscheint willentlich auf zwei Partner beschränkt. Obscuritas dient hier ganz offensichtlich dem Ausschluss eines breiteren Publikums. Avitus’ Bemühen explizite Formulierungen zu vermeiden ist auch in den anderen Briefteilen erkennbar. In der narratio ist die eigentliche Nachricht des Briefs jeweils in zwei korrespondierende Hauptsätze (mit Variation der 41 42

Gaudiorum ist wohl partitiver Genitiv von cumulus. Anders verstehen die Stelle Shanzer/ Wood (2002) 330: „The crowning touch is added to my desire by eagerly awaited rich joys.“ Vgl. Quint. inst. 8,2,17. Dazu auch weiter unten: S. 98. Dieses Stilprinzip zeigt sich auch in Avitus’ Poesie, vgl. Hecquet-Noti (1999) 54.

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Konjunktionen: hoc – quicquid / in eo – in quo) gefasst. Die sorgfältige Strukturierung ist auffällig: Die ersten beiden Gliedsätze enden jeweils auf ein Prädikat, während das zweite Paar mit einem Substantiv in der Weise schliesst, dass sich ein Endreim ergibt (adcrescit – contulerit / successum – suffragium). Inhaltlich scheint Avitus seinem Adressaten verklausuliert mitzuteilen, dass er aus dessen Tätigkeit (in diplomatischer Mission?) irgendwelche Vorteile bezieht, womit er impliziert, dass zwischen beiden in gewisser Weise eine Abhängigkeit besteht. Die sowohl auf nominaler wie verbaler Ebene vollzogene Variierung der weitgehend synonymen Begriffe, in die Avitus seine Botschaft fasst, ist bemerkenswert: proventus, compendium, incrementum, successus / adcrescere, prosperari, crescere. Trotz dieser Häufung ist der kommunizierte Inhalt semantisch nicht eindeutig fassbar: Positiv konnotierte Begriffe wie „Ertrag“, „Gewinn“, „Vorteil“, und „Erfolg“ umschreiben lediglich in abstrakter Weise den erfolgreichen Ausgang der ungenannten Tätigkeit des Messianus. Zusätzlich verdunkelnd wirkt hier die syntaktisch-semantische Ambiguität von clementiae vestrae, das je nach Sinn Dativobjekt zu contulerit oder Genitivobjekt zu pietas sein kann. Am Briefschluss bietet sich ein etwas anderes Bild: Die mit der petitio verschränkte conclusio ist zwar hochstilisiert, aber relativ flüssig lesbar. Avitus vermeidet eher zweideutige Bezüge und unklare Formulierungen. Der Fokus lag hier mehr auf klanglichen Aspekten, die den Brief prunkvoll ausklingen lassen: Wortspiel in salve persolvens, wuchtige Alliterationen und Assonanz in percurrentis paginae eloquio pandendo perdoceat. Der Brief endet mit der Bitte um eine Nachricht über das Wohlergehen des Freundes. Verantwortlich für die verhüllende Ausdrucksweise, der sich Avitus in diesem Brief bediente, dürften mit einiger Wahrscheinlichkeit politische Umstände gewesen sein.43

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Vgl. dazu mit Blick auf Avitus auführlich weiter unten: S. 280–288.

III. OBSCURITAS IN DER LITERARISCHEN KULTUR DER SPÄTANTIKE 1. SCIENTIA LITTERARUM: SPÄTANTIKE BILDUNGSKULTUR UND BILDUNGSSPRACHE (4.–6. JH. N. CHR.) Amo in te quod litteras amas. (Sidon. epist. 2,10,1)

Die Konsolidierung der politischen, militärischen und ökonomischen Verhältnisse des römischen Reichs gegen Ende des 3. Jahrhundert n. Chr. legte die Grundlagen für eine kulturelle Regeneration, die in der vierzig Jahre dauernden aussenpolitischen Ruhephase von 296/8 bis 332/7 n. Chr. einen geeigneten Nährboden fand.1 Dass die Kaiser an der Initiierung und Förderung dieses Prozesses keinen unerheblichen Anteil hatten, bezeugt die zeitgenössische Panegyrik, die das Neuaufleben der Bildung mit der Wiedergeburt des Reichs verband.2 Die von den Tetrarchen und den nachfolgenden Kaiserdynastien beförderte Restauration der Bildungsinstitutionen in Rom und in der Peripherie führte im Westen des Reichs zu einem Aufschwung des Geisteslebens und der Literatur,3 die bis zum Tod des Augustinus eine augenscheinliche Blüte erlebte.4 Gesellschaftlicher Träger und Profiteur dieses kulturellen Aufschwungs war in erster Linie die Oberschicht, welche Bildung und kulturelle Aktivitäten traditionell als festen Bestandteil der aristokratischen Lebensform auffasste. Bereits in der Späten Republik legte die Nobilität Wert auf Erwerb und Ostentation von Bildungswissen, das damals noch weitgehend griechischer 1

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Zur kulturellen Restaurations- und Regenerationsphase seit den diokletianischen Reformen vgl. u.a. Brown (1980) 148–162; Cameron (1984); Cameron (2011) 399–420. Die aussenpolitische Ruhephase erstreckte sich im Westen vom Tod des Usurpators Carausius (296 n. Chr.) bis zu den römischen Gotenfeldzügen (332/34 n. Chr.), im Osten vom Frieden von Nisibis (298 n. Chr.) bis zu den Perserfeldzügen (337 n. Chr.), vgl. Herzog (1989) 44. Vgl. die Rede des Eumenius an Kaiser Constantius Chlorus im Jahr 297 (= Paneg. Lat. 9), bes. 9,18–19. Zum Neubeginn der lateinischen Literatur nach den diocletianischen Reformen etwa Fuhrmann (1982); Fuhrmann (1998) 46–51; Mratschek (2001). Kritisch dazu äusserte sich Hose (2007) 537 f., der auf eine innerliterarische Kontinuität zwischen vor- und nachdiocletianischer Zeit hinweist. Auch die Literatur der Spätantike wurde in die drei Phasen unterteilt, die dem Lebenszyklus eines Lebewesens entsprechen: eine Phase der Restauration und Regeneration (283–350), eine Phase der Blütezeit (350–430) und eine Phase des Verfalls (430–600/650), vgl. Döpp (1988); Fuhrmann (1998) 46–58.

1. Scientia litterarum: Spätantike Bildungskultur und Bildungssprache (4.–6. Jh. n. Chr.) 81

Provenienz war.5 Die politische Marginalisierung der senatorischen Oberschicht, die seit der Alleinherrschaft des Augustus kontinuierlich voranschritt, liess deren Mitglieder in der Folge nach neuen standesgemässen Betätigungsfeldern suchen, die als Ersatz ehemaliger politischer und militärischer Führungsaufgaben ihre Stellung in der Gesellschaft legitimieren und bei der Nachwelt Ruhm und Ehre einbringen konnten. Sie fanden diese im literarischen und kulturellen Bereich, also in Aktivitäten, die zu Ciceros Zeiten der Sphäre des Otium vorbehalten waren.6 Kulturelle Kompetenz und literarische Kennerschaft wurde zu einem spezifischen Erkennungsmerkmal der Oberschicht, die öffentliche Zurschaustellung zu einem Mittel sozialer Distinktion.7 In der Spätantike war das Bildungsstreben, das die Nobilität im Hohen Prinzipat an den Tag gelegt hatte, ungebrochen.8 Das dreistufige Bildungssystem, das Elementar-, Grammatik- und Rhetorikunterricht umfasste,9 legte traditionell den Schwerpunkt auf die literarische Ausbildung.10 Diese selektive Ausrichtung hatte zur Folge, dass die liberalis doctrina mit literarischer Unterweisung und die studia liberalia mit literarischen Aktivitäten gleichgesetzt werden konnten.11 Nur diese spezifische Form der Bildung stiess auf uneingeschränkte gesellschaftliche Anerkennung. Für den Historiker Ammianus Marcellinus war der praefectus urbi Orfitius zwar ein kluger und in rechtlichen Belangen durchaus kundiger Mann, doch fehlte ihm gleichwohl der Glanz standesgemässer literarischer Bildung.12 Und wenn Kaiser Constantius II. die literarische Bildung (litteratura) als omnium virtutum maxima bezeichnete,13 so vertrat er einerseits ein aristokratisches Bildungsideal, welches die Kaiser schon im 1. Jahrhundert n. Chr. übernommen

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Vgl. etwa Rawson (1985) 38 ff. Für die spätere Zeit vgl. Rösger (1978) 30 ff. Vgl. u.a. Lefèvre (1989); Krasser (1995); Stein-Hölkeskamp (2003) 315–334; Pausch (2004) 9–21. Fantham (1998) 50 ff. und 173 ff. Zum griechischen Bereich etwa Schmitz (1997). Dies zeigt sich auch in der aristokratischen Repräsentation, wie sie sich auf Grabinschriften findet: CIL 6,1698; CIL 6,1735; CIL 6,1751, vgl. Kaster (1988) 27; Niquet (2000) und – mit Fokus auf die christliche Grabepigraphik – Gemeinhardt (2007) 165–184. Das dreistufige Modell war nicht zwangsläufig durch eine lineare Abfolge bestimmt, vielmehr handelt es sich um ein binäres System, das unterschiedliche Bereiche der Gesellschaft abdeckte, vgl. Kaster (1988) 24 f. Zur Organisation und Struktur des antiken Schulunterrichts mit Fokus auf die Spätantike vgl. allgem. Gemeinhardt (2007) 27–51. Kaster (1988) 12: „The scope was intolerably narrow, excluding most studies now associated with liberal education. (…) Far from understanding his culture, the man emerging from the schools of grammar and rhetoric would have no overall view of history, only a memory of disjointed but edifying vignettes; no systematic knowledge of philosophy or any philosophic school (…). So schon in der Kaiserzeit, vgl. Plin. epist. 1,10. Amm. 14,6,1: splendore liberalium doctrinarum minus quam nobilem decuerat institutus. Einer ähnlichen negativen Charakterisierung wird auch Kaiser Valens unterzogen: Amm. 31,14,5: subagrestis ingenii, nec bellicis nec liberalibus studiis eruditus. Cod. Theod. 14,1,1.

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hatten,14 andererseits gab er damit der Privilegierung der Literatur nicht nur gegenüber anderen Geistes- und Naturwissenschaften, sondern auch gegenüber allen übrigen virtutes Ausdruck. Die in diesen Urteilen zu Tage tretenden ethischen Implikationen literarischer Bildung sind für die Spätantike symptomatisch.15 So zeigt die in nachkonstantinischer Zeit entstandene Historia Augusta in nicht unerheblichem Mass Analogien zwischen den mores der porträtierten Kaiser und deren Bildungsstand.16 L. Aelius Caesar war gebildet (eruditus in litteris) und war sowohl im privaten wie im öffentlichen Leben ohne Tadel.17 Auch der gleichnamige Sohn des Kaisers Valerian wies neben einer für sein Alter glänzenden Bildung einen einwandfreien Charakter auf.18 Der Usurpator Pescennius Niger war dagegen nur mässig gebildet (eruditus mediocriter litteris) und hatte charakterliche Schwächen (moribus ferox, divitiis inmodicus, vita parcus, libidinis effrenatae ad omne genus cupiditatum), als Soldat aber war er tadellos (miles optimus).19 Bei Commodus gingen alle Bemühungen der disciplinarum magistri ins Leere, sein Charakter war seit frühester Kindheit verdorben.20 Dass eine die mores befördernde Bildung in erster Linie durch die Lektüre literarischer Klassiker erworben werden konnte, gibt Ammianus Marcellinus in einer negativen Charakteri14

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Die entsprechenden Kapitel in Suetons Kaiserviten geben einen guten Eindruck der unterschiedlichen Bemühungen der Angehörigen der julisch-claudischen Dynastie in den studia liberalia. Vgl. etwa Demandt (1996) 180 ff.; Fantham (1998) 131–133. Das Phänomen einer Analogie zwischen Sprachkompetenz, Bildung und Charakter, zwischen Sprachstil und Mensch, die etwa in der Redewendung talis hominibus fuit oratio qualis vita (Sen. epist. 114,1) Ausdruck findet, ist nicht auf die Spätantike beschränkt, sondern fester Bestandteil antiker Literaturkritik, vgl. Möller (2004). So äussert sich auch Quint. inst. 12,2,1 über die Veredelung des Charakters durch die Bildung. Dass die Sprachbeherrschung die innere Haltung eines Menschen ausdrückt, ist gängige Überzeugung und kein „charakteristischer Zug des sidonischen Denkens“ wie etwa Gerth (2013) 166 dies postuliert. Dass der princeps litteratus ein fester Bestandteil des Herrscherideals der Historia Augusta war, hat Rösger (1978) gezeigt. Auf allfällige Analogien zwischen dem Bildungsstand und dem Charakter eines Kaisers ging Rösger aber nicht ein. Andere Kategorien, die das Kaiserbild der Historia Augusta bestimmten, nennt Scheithauer (1987) 19–70. Zum Bildungsstand der Kaiser von Constantius II. bis Gratian vgl. auch Sehlmeyer (2009) 140–148. Hist. Aug. Ael. 5,1–3: Fuit hic vitae laetissimae, eruditus in litteris (…), in vita privata etsi minus probabilis, minus tamen reprehendendus ac memor familiae suae, comptus, decorus (…), in re publica etiam non inutilis. Hist. Aug. Valer. 8,1: Valerianus iunior (…) eruditione pro aetate clarus, moribus periucundus. Hist. Aug. Pesc. Nig. 1,4 und 6,10. Hist. Aug. Comm. 1,7–8: sed tot disciplinarum magistri nihil ei profuerunt. (…) nam a prima statim pueritia turpis, improbus, crudelis, libidinosus, ore quoque pollutus et constupratus fuit. Weitere Beispiele: Hist. Aug. Clod. 5,1: hic ergo omnem pueritiam in Africa transegit, eruditus litteris Graecis ac Latinis mediociter, quod esset animi iam inde militaris et superbi; Hist. Aug. Max. et Balb. 2,7: Maximum igitur atque Balbinum, quorum unus in re militari tantus est…, alter ita clarus nobilitate est, ut et morum lenitate rei publicae sit necessarius et vitae sanctimonia, quam a prima aetate in studiis semper ac litteris tenuit.

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sierung des praefectus praetorio Modestus zu erkennen. Er attestierte dem Mann, der Kaiser Valens von seiner gerechten Richtertätigkeit abriet, ein subagreste ingenium nullius vetustatis lectionibus expolitum („ein bäuerliches Gemüt, das nicht durch die Lektüre alter Autoren verfeinert war“: Amm. 30,4,2). Modestus hatte es nach Ansicht Ammians versäumt, seinen Charakter (ingenium) durch klassizistisch orientierte literarische Studien zu veredeln, was ein besseres Verhalten seinerseits zur Folge gehabt hätte.21 Denn neben der Vermittlung eines vorbildhaften Sprachstils garantiert die lectio von Autoren wie Cicero und Vergil auch den Rückbezug an moralische Werte, die wie selbstverständlich an die Vergangenheit (vetustas) geknüpft sind. Das Fehlen einer an solcher Lektürepraxis orientierter Bildung hat Auswirkungen auf die sittliche Integrität des Betroffenen, was auch seine Eignung für eine sozial herausgehobene Stellung grundsätzlich in Frage stellt.22 Die den Schilderungen Ammians und der Historia Augusta zugrunde liegende Vorstellung eines engen Verhältnisses zwischen Charakter und Bildungsgrad, zwischen Mensch und Sprachstil, ist auch in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhundert noch nachweisbar. Der im Jahr 469 als hoher Verwaltungsbeamter in Gallien tätige Seronatus,23 den Sidonius Apollinaris in einem Brief an einen Freund verächtlich als Catilina saeculi nostri bezeichnete, soll – so die überspitzte Darstellung bei Sidonius – kaum des Schreibens mächtig gewesen sein (ne primis quidem apicibus sufficienter initiatus: Sidon. epist. 2,1,2). Noch im 6. Jahrhundert schätzte man die charakterbildenden Fähigkeiten der Bildung. Cassiodor nennt die moralische Erziehung an erster Stelle jener Vorteile, welche die scientia litterarum bietet,24 und bei Ennodius wird die Literatur gleichsam zur „Führerin des Rechtschaffenen“ (dux littera recti).25 Doch Bildung adelte nicht nur den Charakter, sondern verschaffte Angehörigen tieferer Schichten die Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs.26 Für einen Absolventen des Grammatik- und Rhetorikunterrichts gab es im Schulwesen sowie in der kaiserlichen Verwaltung gute Karrierechancen. So gelang dem aus verarmten Provinzialadel stammenden Augustinus als Rhetorikleh21 22

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Vgl. dazu die Ausführungen von Eigler (2003) 9–10. Vgl. Kaster (1988) 27–28; Eigler (2003) 10 ff.; Brown (1995) 54–55. Die Vorstellung, dass die Beschäftigung mit Literatur einen nützlichen Einfluss auf den Charakter hat, findet sich schon bei Cicero, vgl. Möller (2004) 149 f. Seronatus war möglicherweise vicarius septem provinciarum, vgl. Martindale (1980) 995–996. Zu seinen politischen Absichten vgl. Maier (2005) 119, 244, 277, 291. Cassiod. var. 3,33,3. Ennod. carm. 2,17,7 ed. Vogel, 127: Sic nostrum pande studium, dux littera recti, / ut domus ingenium non taceat domini. Vgl. Hopkins (1961); Nellen (1977) 6–18; Brown (1995) 55–56. In der Spätantike boten vor allem das Militär, die Verwaltung und der Klerus Möglichkeiten eines sozialen Aufstiegs, vgl. Demandt (1989) 275. Zum sozialen Ansehen und der Stellung eines Grammaticus in der spätantiken Gesellschaft: Kaster (1988) 99–134, 201–230; Gemeinhardt (2007) 52–54.

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III. Obscuritas in der literarischen Kultur der Spätantike

rer eine bemerkenswerte Karriere, die ihn bis an den Kaiserhof in Mailand27 und schliesslich, nach seiner Konversion, auf den Bischofsstuhl von Hippo Regius führte. Ein Paradefall sozialer Mobilität ist Ausonius, dessen Vater, ein freigelassener Sklave, es als gut ausgebildeter Arzt bis in die Kurie von Bordeaux schaffte.28 Der Sohn durchlief unter der Leitung seines Onkels mütterlicherseits, der einem verarmten gallischen Adelsgeschlecht angehörte, den Grammatik- und Rhetorikunterricht in Bordeaux, wo er in der Folgezeit eine Anstellung als grammaticus und schliesslich als rhetor innehatte. Der eigentliche Karrieresprung erfolgte im Jahr 368 n. Chr., als er im 58. Altersjahr zum Erzieher des jungen Gratian an den Kaiserhof nach Trier berufen wurde. Dort erhielt er Zugang zu den höchsten Ämtern und den führenden Persönlichkeiten des Reiches.29 Iter ad capessandos magistratus saepe litteris promovetur bemerkt Symmachus anerkennend zur Karriere seines Freundes („Der Weg zu den höchsten Ämtern führt häufig über eine literarische Bildung“: Symm. epist. 1,20,1). Dass Bildung gesellschaftliches Ansehen und soziales Prestige verschaffte und als Kompetenzmerkmal für eine politische oder administrative Karriere galt,30 zeigen auch die zahlreichen Empfehlungsschreiben, in denen regelmässig die gute Bildung des Prätendenten hervorgehoben wird.31 Sidonius verdankte gemäss eigenen Angaben seine Stadtpräfektur der Beihilfe Christi – und seinen eigenen literarischen Fähigkeiten.32 Die scientia litterarum war und blieb indes Statuszeichen einer kleinen Elite. Gewiss haben die durch kaiserliche Förderung eingetretenen günstigen institutionellen Bedingungen und die aufgrund guter Karrierechancen hohe soziale Attraktivität der Bildungsinhalte der Grammatik- und Rhetorikschulen eine Verbreiterung der Basis der Gebildeten bewirkt,33 doch änderte sich dadurch nichts am Elitecharakter der literarischen Bildung.34 Vielmehr hatte sich nach 284 n. Chr. im lateinischen Westen die Bindung des literarischen Lebens an bestimmte gesellschaftliche Gruppen und ihre politischen Instanzen, welche die Produktion und Rezeption der literarischen und kulturellen Erzeugnisse kontrollierten, noch verstärkt.35

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Zu dieser Lebensphase vgl. Fuhrer (2008). Vgl. Hopkins (1961) 239–249. Zur Biographie des Ausonius vgl. Coşkun (2002) 1–99. „Education had become the sine qua non for a rewarding career in the imperial bureaucracy“: Heather (1994) 184. Vgl. zu Symmachus etwa McGeachy (1942) 158–161. Weitere Beispiele nennt Kaster (1988) 23. Sidon. epist. 1,9,8: Igitur cum ad praefecturam sub ope Christi stili occasione pervenerim, iuberis scilicet pro potestate cinctuti undique omnium laudum convasatis acclamationibus ad astra portare, si placeo, eloquentiam, si displiceo, felicitatem. Mazzarino (1974) 74–98 betont den Prozess der „democratizzatione“ der aristokratischen Bildung im 4. Jahrhundert. Beispiele von Grammatikstudenten niederer sozialer Herkunft bieten etwa Hopkins (1961) 239–249; Kaster (1988) 26. Vgl. Eigler (2003) 120–121. Brown (1980) 149–150; Herzog (1989) 49.

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Zum einen erlaubten die hohen Studienkosten, die etwa die Erfordernisse geographischer Mobilität mit sich brachten, nur einer kleinen privilegierten Gruppe den Zugang zu literarischer Bildung,36 zum anderen, und dies ist entscheidend, wurden die sozialen Aufsteiger, wenn sie über die entsprechende höhere Bildung verfügten, von der Nobilität sogleich absorbiert. Denn in gleichem Masse wie die Oberschicht auf eine Abschottung gegen unten bedacht war und versuchte, in der Bemühung um literarische Bildung ihre privilegierte Stellung gegen Emporkömmlinge zu behaupten,37 orientierten sich die homines novi an den traditionellen Lebensformen der Aristokratie, deren exklusives Bildungsinteresse sie in der Folge ebenso übernahmen wie deren vergangenheitsbezogene Romverbundenheit.38 Diese erstaunliche Assimilationsleistung, die das Kraftfeld der Bildung ermöglichte, konnte die Kohärenz der Nobilität bis ins 5. Jahrhundert und darüber hinaus gewährleisten. Weder im 4. noch im 5. Jahrhundert bestand indes eine Deckungsgleichheit zwischen den Mitgliedern der politischen und sozialen Elite und der an der scientia litterarum interessierten Bildungselite.39 Vielmehr existierten verschiedene gesellschaftliche Eliten nebeneinander, die zwar jeweils gegen unten durchlässig waren, sich auf horizontaler Ebene aber kaum überlappten. Die Angehörigen des Militäradels,40 jener Familien, deren Mitglieder den Weg nach oben als Soldaten beschritten hatten, waren tendenziell bildungsfern41 und unterschieden sich auch äusserlich von den zivilen, in der Regel gebildeten Eliten.42 Doch sind weitere Differenzierungen nötig. Denn einerseits waren Militärs wie Ammianus oder Arbogast hochgebildet, während es auf der anderen Seite auch inter summates viros (Sidon. epist. 7,14,1) unzulänglich Gebildete (rustici) gab. Ein Dekret Diocletians aus dem Jahr 293 bezeugt, dass Analphabetismus auch bei städtischen Ratsherren (curiales) vorkommen konnte.43 Selbst hohe Verwaltungsbeamte verfügten nicht 36

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Dass es sich bei den Empfängern literarischer Bildung vornehmlich um Angehörige lokaler städtischer Eliten handelt, betonen Kaster (1988) 23: „Broadly speaking, social mobility occurred only among the portions of urban upper classes (…)“, 24 ff. und 28–29 sowie Jones (1964) 997: „Higher education was for all practical porposes reserved to members of the upper and middle classes, roughly from decurions upwards.“ Vgl. auch Petit (1956) 166–188; Nellen (1977); Brown (1995) 55. Vgl. Matthews (1989) 78: „the function of this [literary] culture was precisely to define an elite against the ordinary run of mankind“ und Brown (1995) 55. Dies zeigen auch die oben kurz skizzierten Lebensläufe von Augustinus und Ausonius. Vgl. Eigler (2003) 121–123. Eigler (2003) 122. Vgl. Demandt (1980a); Castritius (1984). Alföldy (1984) 160. Zur äusseren Repräsentation vgl. von Rummel (2007) 401–406. Die häufig konstatierte „Barbarisierung“ des römischen Heeres im 4. Jahrhundert änderte indes nichts an der Tatsache, dass auch die römische Oberschicht weiterhin an einer militärischen Karriere interessiert war, vgl. Halsall (2007) 109–110, 494–497. Cod. Iustin. 10,31,6 ed. Krueger, 411: Expertes litterarum decurionis munera peragere non prohibent iura. Vgl. Kaster (1988) 39.

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zwangsläufig auch über eine ausreichende literarische Bildung, wie das Beispiel des Modestus und Seronatus zeigt.44 Gleichwohl verdeutlicht gerade die Kritik, die Ammianus und Sidonius an ihren fehlbaren Zeitgenossen äusserten, die soziale Verbindlichkeit, welche die Bildung innerhalb bestimmter Gruppen in der spätrömischen Gesellschaft besass.45 Jener Teil der Oberschicht, der über eine traditionelle Bildung verfügte, partizipierte an einer Gemeinschaft der Gebildeten, die sich während der Kaiserzeit über das ganze Imperium erstreckte.46 Die Mitglieder der spätrömischen Bildungsgemeinschaft waren sowohl Christen als auch Heiden, Angehörige alter Adelsgeschlechter sowie der Unterschicht. Alle verband als liberalibus studiis eruditi (Dig. Iust. 21,1,65,2) ein gemeinsamer traditioneller Bildungshintergrund, der über die Schule vermittelt wurde. Den Bildungsinstitutionen und dem Grammatiker, der diese repräsentierte, kam eine zentrale Rolle zu. Die Schule war das Bindeglied aller Gebildeten des Imperiums. Die bis in die Spätantike bewahrte traditionalistische Ausrichtung der Schule auf die Literatur der griechischen und römischen Klassik im Westen wie im Osten hatte trotz der gewaltigen Entfernungen, welche die Städte des Ostens und Westens voneinander trennte,47 eine bemerkenswerte kulturelle Homogenität der Bildungsschicht zur Folge. Als in Athen Ende der 330er Jahre der aus dem lateinischen Westen stammende Prokonsul von Achaia eine Gruppe Studenten festnehmen liess, gelang es einem der Angeklagten, den gebildeten Amtsträger durch eine kunstvolle Verteidigungsrede derart zu beeindrucken, dass er von seinem Richterstuhl aufsprang und applaudierte.48 Die Zeit der griechisch-römischen Mischkultur, deren primäres Kennzeichen die weitgehende Zweisprachigkeit der Gebildeten war, ging jedoch ihrem Ende entgegen.49 Auf politischer Ebene leistete die im Laufe des 4. Jahrhunderts erkennbare und im 5. Jahrhundert vollzogene Aufspaltung des Reiches in eine West- und eine Osthälfte dieser Entwicklung Vorschub.50 Die hohe Wertschätzung, welche eine vergangenheitsbezogene, an den lectiones vetustatis orientierte und in diesem Sinn klassizistische Bildung in bestimmten Schichten der Gesellschaft genoss, hat neben den erwähnten pragmatischen auch ideologische Gründe. Der tief greifende Wandel der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, der im lateinischen Westen durch die germanische Wanderbewegung Ende des 44 45 46 47 48 49 50

Ein weiteres Beispiel: Sidon. epist. 7,14. Vgl. etwa Amm. 14,6,15. Zur Gemeinschaft der Gebildeten im spätrömischen Reich vgl. mit bes. Berücksichtigung des griechischen Ostens Brown (1995) 51–94. Dass es sich bei der spätantiken Kultur um eine spezifische „Stadtkultur“ handelte, betonen etwa Kaster (1988) 21 und Brown (1995) 53. Eunapios, Vita sophistarum IX, 2. Zur Abnahme der Griechischkenntnisse im Westen etwa Haarhoff (1920) 220–231; Courcelle (1943); Riché (1962) 45–50 und auch Berschin (1980) 97–143. Vgl. zur politischen Entwicklung des Imperium Romanum im 4. und 5. Jahrhundert die Synthesen von: Demandt (1989) 34–210; Wickham (2009) 21–108; Potter (2014). Mit Fokus auf den Westen vgl. bes. Henning (1999); Halsall (2007).

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4.  Jahrhunderts eine neue Dimension erreichte, nötigte die senatorische Oberschicht zur Behauptung beziehungsweise zur Neudefinierung ihrer Statusidentität.51 In dieser Krise fungierten die Bildungsinstitutionen und das von ihnen vermittelte Bildungswissen als Kontinuitätsbrücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit, als Instanz, die den kulturellen Rückbezug der Elite auf eine historisch definierte Romanitas garantierte.52 Die Statusidentität der spätantiken Aristokratie ist somit wesentlich an eine erlernbare kulturelle Norm gebunden, die auf überkommenen Bildungs- und Handlungsmustern beruht. Die Schule wird in diesem Sinne zur „Existenzform kultureller Selbstbehauptung“, eine Entwicklung, die dem Grammatiker ein „goldenes Zeitalter“ bescherte.53 Denn diesem oblag neben der custodia historiae, der Bewahrung des römischen Vergangenheitsbildes, wie es die Normautoren vermitteln,54 auch die Aufsicht über den Sprachstil (sermo), an dem sich die Bildungselite erkannte. Innerhalb der spätantiken Bildungskultur sind diese beiden Aspekte untrennbar miteinander verbunden. Vergangenheitsbild und Sprachstil der Gebildeten sind Ergebnis derselben intensiven Beschäftigung mit einer Reihe klassischer Normautoren, welche als allein gültige Instanz und Orientierungspunkt einer spezifisch römischen Kultur angesehen wurden. Die in der Schule erlernte „Bildungssprache“ spiegelt gleichsam die an der klassischen römischen Kultur orientierte Lebenshaltung der litterati wieder. Sie wird „für den Einzelnen zum Zentrum einer sozialen Identität als Mitglied der Oberschicht und einer historischen Identität als Römer.“55 Die Bildungssprache stellte den von der spätrömischen Bildungsgemeinschaft als normativen Standart festgelegten Sprachgebrauch des Lateinischen (consuetudo) dar.56 Die consuetudo der Bildungsgemeinschaft umfasste verschiedene hierarchisch abgestufte diaphasische Varietäten (sermones), die je 51

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Zur gesellschaftlichen und ökonomischen Situation im Westen im 5. Jahrhundert vgl. etwa Halsall (2007) 320–370. Zum Krisenbewusstsein u. a. Maier (1980) 59–78. Zur „renegotiation of identities“ in der Spätantike wurde in jüngster Zeit viel gearbeitet, vgl. Drinkwater/ Elton (1992); Pohl/Reimitz (1998); Miles (1999); Mathisen/Shanzer (2011) bes. 265–339; Mratschek (2013). Zur post-imperialen Zeit vgl. Pohl/Heydemann (2013). Diese Funktion kam der Schule auch in der Krise des 3. Jahrhunderts zu, vgl. Kaster (1988) 29. Den „rückwärtsgewandten“ Traditionalismus der spätantiken Elite betonte etwa Vittinghof (1964) bes. 566 ff. Zur gesellschaftlichen Funktion der Bildung in Kaiserzeit und Spätantike als sowohl distinktives wie auch integratives Merkmal vgl. Vössing (1997) 595–613; Gemeinhardt (2007) 57–61. Herzog (1989) 12. Wie stark die spätantike Vorstellung der römischen Vergangenheit an die Klassikerlektüre gebunden war, hat Eigler (2003) bes. 29–44 aufgezeigt. Zur custodia als Aufgabe des Grammatikers vgl. Sen. epist. 95,65: custodes Latini sermonis; Aug. soliloq. 2,11,19: vocis articulatae custos; weitere Stellen nennt Kaster (1988) 17 f. Eigler (2003) 33. Diese von der Schule assistierte bemerkenswerte kulturelle Rezeptionsleistung konnte nach dem Untergang des Westreiches den ideellen Fortbestand Roms gewährleisten. Zu den unterschiedlichen, nicht ganz deckungsgleichen Termini des „Sprachgebrauchs“ in der Spätantike (consuetudo, mos, usus) am Beispiel von Servius vgl. Uhl (1998) 309– 310.

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nach Kontext (offiziell, privat, usw.) und Kommunikationssituation (schriftlich, mündlich) aktualisiert werden konnten.57 Ihr in schriftlicher Form besonders elaborierter Kunstcharakter hob die Bildungssprache von den umgangssprachlichen Varietäten des usus loquendi der Zeit in erheblichem Masse ab, ein Faktor, der von den Gebildeten in ostentativem Verdunklungsstreben noch potenziert wurde. Die in der Spätantike als sermo simplex et communis bezeichneten Register der lateinischen Bibelübersetzungen, die an der Umgangssprache orientiert waren, wurden von den Gebildeten (homines litterati), wie Laktanz bezeugt, verschmäht: Adsueti enim dulcibus et politis sive orationibus sive carminibus divinarum litterarum simplicem communemque sermonem pro sordido aspernantur. Da sie an süsse und ausgefeilte Reden und Gedichte gewöhnt sind, verschmähen sie den einfachen und gewöhnlichen Stil der Heiligen Schriften und halten ihn für schmutzig. (Lact. divin. inst. 6,21,5)

Das Gebrauchslatein der indocti wurde auch in früherer Zeit nicht als Massstab für „gutes Latein“ angesehen. Bereits Cicero hat die diastratische Varietät der stadtrömischen Oberschichtssprache zum Standard erklärt. Diese elitäre Denkweise, die lediglich einen kleinen Teil der Sprachgemeinschaft als autoritativ anerkennt, hat Quintilian um einen bildungssoziologischen Aspekt erweitert, indem er innerhalb der Oberschicht die intellektuelle Elite als alleinigen Parameter sprachlicher Norm bestimmte: Ergo consuetudinem sermonis vocabo consensum eruditorum („Also werde ich die gebräuchliche sprachliche Ausdrucksweise die Übereinstimmung der Gebildeten nennen.“: Quint. inst. 1,6,45).58 Das Sprachempfinden der eruditi galt ihm als certissima loquendi magistra und war den anderen Kriterien der Sprachrichtigkeit (ratio, vetustas, auctoritas) übergeordnet.59 Das Desinteresse für den Sprachgebrauch der Mehrheit sowie der starre Konservativismus der Bildungssprache beförderten einen Dualismus innerhalb der Sprachgemeinschaft, eine Entwicklung, die schliesslich zur Spaltung des Lateinischen in die Schriftsprache des Mittelalters und die romanischen Volkssprachen führte.60 Positiv ausgedrückt erfüllte die Bildungselite innerhalb der spätantiken Gesellschaft in doppelter Weise die Funktion einer kulturellen Leitinstanz: zum einen als Garantin der Latinitas, zum anderen, und damit untrennbar verbunden, als Repräsentantin und Bewahrerin der Romanitas. Die in den lectiones vetustatis gründende konservative Romverbundenheit der spätantiken Gebildeten äusserte sich nicht nur in sprachlicher, sondern 57

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Es handelt sich hierbei etwa um die literarischen Formen der Drei-Stil-Lehre: genus humile (= Vergils Bucolica), genus medium (= Vergils Georgica), genus grande (Vergils Aeneis). Register mündlicher und schriftlicher Sprache unterscheidet Banniard (1992a) 41–42. Vgl. auch Uhl (1998) 558–559. Vgl. Müller (2001) 277–282. Quint. inst. 1,6,1–3. Vgl. Müller (2001) 199–204. Müller (2001) 164.

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auch in kultureller und ideologischer Hinsicht. Die Stadt Rom hatte in der Spätantike ihre Stellung als politisches Zentrum des Imperiums längst eingebüsst. Die Kaiser residierten in geostrategisch günstiger gelegenen Städten des Reichs, zudem war im Osten mit Konstantinopel eine namhafte Konkurrentin entstanden. Für die Angehörigen der römischen Oberschicht blieb aber Rom der umbilicus orbis, das unbestreitbare Zentrum der Welt. Ein einziger Vers genügte Ausonius, um in seiner Ordo urbium nobilium der Majestät und dem Vorrang Roms über alle Metropolen des Reichs Ausdruck zu verschaffen: Prima urbes inter, divum domus, aurea Roma („Die erste unter den Städten, die Wohnstatt der Götter, das goldene Rom“: Auson. ordo nob. 1). Rom war weiterhin das sakrale, kultische und kulturelle Zentrum des orbis Romanus, war virtueller Fixpunkt einer Romideologie, die von den Angehörigen der Bildungsgemeinschaft getragen und literarisch verarbeitet wurde.61 Die grossen militärischen Katastrophen des 5. Jahrhunderts, in deren Folge Rom dreimal geplündert wurde, änderte nichts an der traditionellen Überzeugung vom Fortbestand des Römischen Reichs – wohl auch, weil eine Alternative unvorstellbar war.62 Diese Einschätzung teilten in modifizierter Weise auch die gebildeten Christen im Reich.63 Die Christianisierung der Eliten in Italien, Gallien und anderen Teilen des römischen Westreichs hat die Relevanz, welche die literarische Bildung als Bestandteil aristokratischen Selbstverständnisses besass, weder kurznoch mittelfristig beeinträchtigt.64 Die Bildungsgemeinschaft war im 4. und wohl noch zu Beginn des 5. Jahrhunderts überkonfessionell.65 Christen wie Heiden waren Teil derselben Bildungskultur und partizipierten in gleicher Weise an der Produktion und Förderung einer klassizistisch geprägten Literatur.66 Seit dem 4. Jahrhundert zeichnete sich jedoch eine Spaltung innerhalb dieser Gemeinschaft ab. Ein Teil der Gebildeten, der sich einem christlich-asketischen Ideal verschrieben hatte, löste sich aus der Bildungsgemeinschaft der litterati und verzichtete bewusst auf aristokratische Statusidentität und Bildungsverbundenheit.67 Angehörige hochadeliger Familien sagten sich 61 62 63 64

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Zur Romideologie der Spätantike vgl. u.a. Paschoud (1967); Fuhrmann (1968); Brodka (1998). Halsall (2007) 368: „The Empire was so deeply ingrained into ideas of all aspects of social and political action that the simple „rejection“ of Rome was not an option.“ In „irdischen“ Kategorien war für die Christen der Fortbestand Roms unbestritten, erst in der Apokalypse würde die Herrschaft Roms enden, vgl. Aug. civ. 22. Vgl. Eigler (2003) 124–126 mit Literaturhinweisen. Zur Christianisierung des römischen Senats und der römischen Aristokratie im Westen vgl. u.a. Brown (1961); Mazzarino (1974) 378 ff.; von Haehling (1978); MacMullen (1984); Barnes (1995); Salzman (2002); Gemeinhardt (2007) 137–152; Cameron (2011). Zum Christentum und seinem Verhältnis zur pagan-antiken Bildung vgl. allgem. Gemeinhardt (2007), mit Blick auf Geschichtsbewusstsein und Identitätskonzeptionen Sehlmeyer (2009) 214–283 sowie spezifisch zu Augustinus Fuhrer (2008) 77–79. Cameron (2011) 353 ff. hat sich vehement gegen die Ansicht einer Monopolstellung „paganer Zirkel“ bei Förderung einer säkular orientierten Literatur ausgesprochen, ein Postulat, das zumindest in der jüngeren deutschen Forschung auf offene Türen stösst. Zu dieser Entwicklung vgl. z.B. Fontaine (1979); Feichtinger (1997).

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von der Welt und einem Teil des sie bestimmenden Wertesystems los, eine wegweisende Entscheidung, deren bisweilen extrem anmutende Form bei nicht wenigen Standes- und Zeitgenossen auf Unverständnis und Kritik stiess.68 Der entscheidende Bruch mit der spätantiken Bildungsgemeinschaft resultierte aber aus dem Umstand, dass Mitglieder dieser Gruppe mit Verweis auf die am spätlateinischen sermo simplex et communis orientierten lateinischen Bibelübersetzungen sich anstelle der traditionellen Bildungssprache zu einer Sprachvarietät bekannten, die über Jahrhunderte als Substandard definiert gewesen war.69 Wie sehr dieser neue Standard von der consuetudo der Gebildeten abwich, zeigen bekannte Selbstzeugnisse wie das des Hieronymus (sermo horrebat incultus „struppig und ungepflegt war der Stil“: Hier. epist. 22,30). Die Etablierung einer neuen Sprachnorm, welche der alten consuetudo Konkurrenz machte, war aber nicht das Werk der peregrinatio „lichtscheuer Männer“ (lucifugi viri: Rut. Nam. 1,440), sondern Ergebnis eines langwierigen innerchristlichen Diskurses, bei dem sich grundsätzlich zwei Positionen gegenüberstanden.70 Die eine Gruppe hielt ungeachtet des Sprachgebrauchs der Masse in ihrem Schrifttum an den Sprach- und Stilmodellen der Bildungsgemeinschaft fest (u. a. Minucius Felix, Hilarius von Poitier, Avitus von Vienne), während die Mitglieder der anderen Gruppe die Verbindlichkeit der traditionellen consuetudo für die Kirche und ihre Vertreter bestritten und für einen neuen Standard eintraten, der wie die lateinischen Bibelübersetzungen die Volkssprache berücksichtigte (Hieronymus, Sulpicius Severus, Augustinus).71 Für Avitus von Vienne war es nur natürlich, dass sich der vir illustrissimus Heraclius in theologischen Disputen mit dem arianischen König Gunbobad die traditionelle Redekunst (saecularis eloquentia) zu Nutzen machte.72 Die von der Gegenseite vertretene Hinwendung von einer durch die Grammatik gesteuerten zu einer am Volk orientierten Ausdrucksweise bedurfte einer Begründung, verstiess sie doch gegen eine jahrhundertealte Konvention der Bil68

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Oft zitiert wird Rut. Nam. 1,439–442: Processu pelagi iam se Capraria tollit; / squalet lucifugis insula plena viris. / ipsi se monachos Graio cognomine dicunt, / quod soli nullo vivere teste volunt. Dass es sich hierbei um keine heidnische Invektive gegen die Christen handelte, betont Cameron (2011) 207–218. Zur zeitgenössischen Askese-Kritik vgl. etwa Fontaine (1979); Gordini (1983) 19–35. Vgl. z.B. Paul. Nol. epist. 5,6: (…) et inanis gloriae sublimiter neglegens piscatorum praedicationes Tullianis omnibus et tuis litteris praetulisti; Cassian. inst. 12,19: Haec est proprie humilitas erga deum (…). qui simplicem piscatorum fidem corde simplici retinentes non eam syllogismis dialecticis et Tulliana facundia spiritu concepere mundano. Zur Aufwertung dieses sprachlichen Substandards durch die Christen allgem. Müller (2001) 314 ff. Zur „retorica dell’humilitas“ auch Ghizzoni (1983) 252 ff. Vgl. Müller (2001) 64–78, 314–324; Eigler (2003) 128–146. Vgl. die Stellensammlung bei Norden (1918) 529–534. Avit. epist. 53 ed. Peiper, 82,7–9: Os saecularis eloquentiae pompis adsuetum et fluentis exundantibus Romuleae profunditatis irriguum alacritate debita missam sibi de supernis materiam dignae disputationis arripuit. Der Notwendigkeit, je nach Publikum verschiedene sprachlich-stilistische Register zu benutzen, war er sich durchaus bewusst, wie etwa der Widmungsbrief zu den De spiritalis historiae gestis zeigt.

1. Scientia litterarum: Spätantike Bildungskultur und Bildungssprache (4.–6. Jh. n. Chr.) 91

dungsgemeinschaft. Bereits die frühen christlichen Apologeten haben das ἄτεχνον der Bibelsprache mit dem Argument verteidigt, dass die neue Religion eine schlichte, auch ungebildeten Menschen verständliche Ausdrucksweise habe benutzen müssen.73 Gott habe absichtlich auf unnötigen rhetorischen Prunk verzichtet, um sich allen Menschen in gleicher Weise mitzuteilen:74 Summa providentia carere fuco voluit ea quae divina sunt, ut omnes intellegerent quae ipse omnibus loquebatur. In höchster Vorsehung wollte er, dass die göttliche Botschaft frei von rhetorischem Prunk sei, sodass auch alle verstehen können, was er zu allen sagte. (Lact. divin. inst. 6,21,6)

Die das Wort Gottes enthaltende Bibel legitimierte also die Verwendung des sermo simplex et communis. Auch Augustinus trat im Hinblick auf die Vermittlung der Glaubensinhalte für die Aufwertung des sermo simplex zur Gebrauchsnorm ein: Quid ad nos quid grammatici velint? melius in barbarismo nostro vos intellegitis, quam in nostra disertitudine vos deserti eritis. Was habe ich mit den Vorschriften der Grammatiker zu schaffen? Es ist besser, wenn ihr mein mangelhaftes Latein versteht, als wenn ihr meiner gelehrten Rede nicht folgen könnt. (Aug. in Psalm. 36 s. III,6)

Augustinus nahm in dieser Hinsicht gleichwohl eine vermittelnde Position ein, da er versuchte, die rhetorische Tradition mit den pastoralen Anforderungen zu vereinen, indem er die Rhetorik in den Dienst der Inhaltsvermittlung des christlichen Redners stellte.75 Eine strikte Loslösung von der Bildungskultur kam für ihn ebenso wenig in Frage wie für Hieronymus, der sich in seinen Äusserungen zwar restriktiver, in der Praxis aber als pragmatischer Vertreter pluralistischer Stil- und Ausdrucksformen zeigte.76 Einen vergleichsweise kompromisslosen Fundamentalismus vertrat demgegenüber Papst Gregor der Grosse, der einen definitiven Bruch mit der traditionellen Bildungskultur propagierte, wenn er in seinem berühmten Mahnbrief an Bischof Desiderius von Vienne programmatisch verkündete: 73 74

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Eine Sammlung einschlägiger griechischer und lateinischer Stellen findet sich bei Norden (1918) 521–525. Dies heisst aber nicht zugleich, dass die Heilige Schrift auch immer leicht verständlich wäre. Zur Obscuritas der Bibel und ihrer Bewertung durch Augustinus vgl. ausführlich weiter unten: S. 116–125. Dieses Konzept hat Augustinus ausführlich in De doctrina christiana dargelegt, vgl. dazu etwa Prestel (1992). Für ihn gilt in besonderem Masse das abschliessende Urteil von Norden (1918) 529: „Um es kurz zu sagen: in der Theorie haben sie von den ältesten Zeiten bis tief ins Mittelalter hinein fast ausnahmslos den Standpunkt vertreten, dass man schlicht schreiben müsse, in der Praxis haben sie gerade das Gegenteil befolgt.“ Vgl. auch Gemeinhardt (2007) 209 f.

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III. Obscuritas in der literarischen Kultur der Spätantike Nam sic huius quoque epistolae tenor enuntiat, non metacismi collisionem fugio, non barbarismi confusionem devito, situs modosque etiam et praepositionum casus servare contemno, quia indignum vehementer existimo, ut verba caelestis oraculi restringam sub regulis Donati. Denn wie der Fortgang dieses Briefes zeigt, schrecke ich weder vor einem Myotacismus noch einem Barbarismus zurück und auch Satzstellung, Modus und die für die Präpositionen geforderten Kasus beachte ich nicht, denn ich bin der Meinung, dass es völlig unangemessen ist, die göttliche Offenbarung der Regel Donats unterzuordnen. (Greg. M. moral. epist. 5)

Die consuetudo der Gebildeten hat durch diese Entwicklung ihre singuläre gesellschaftliche Verbindlichkeit eingebüsst, konnte aber ihre normative Stellung innerhalb massgeblicher Teile der Bildungsgemeinschaft bewahren. Der Grossteil der Bildungselite blieb auch nach Übertritt zum Christentum der traditionellen Bildungskultur verpflichtet. Als in Gallien im Laufe des 5. Jahrhunderts sich die gallorömische Senatsaristokratie immer mehr der Kirche als willkommener Alternative einer politischen und militärischen Karriere zuwandte,77 blieb die traditionelle Bildung fester Bestandteil ihrer Lebenskultur. Die literarischen Erzeugnisse adliger Bischöfe wie Sidonius Apollinaris, Avitus von Vienne und Ennodius geben davon beredtes Zeugnis. Die parallel dazu wachsende, sich durch Weltabgewandtheit auszeichnende monastisch-asketische Bewegung in Gallien nahm an der „Aristokratisierung“ der offiziellen Kirche Anstoss und weigerte sich, an der traditionellen Bildungskultur zu partizipieren. Die Unvereinbarkeit der Positionen verdeutlicht die Warnung, die Cassianus im 11. Buch seiner Institutiones coenobiorum äussert, das der Ruhmsucht gewidmet ist:78 Quapropter haec est antiquitus patrum permanens nunc usque sententia (…), omnimodis monachum fugere debere mulieres et episcopos. Deshalb ist dies die bis heute gültige Ansicht der Vorväter, dass Mönche unter allen Umständen Frauen und Bischöfe meiden müssen. (Cassian. inst. 11,18)

Innerhalb der säkular geprägten christlichen Bildungsgemeinschaft wurde der überkommene literarische Kanon um christliche Literatur ergänzt, nicht aber durch diese ersetzt. So war um 470 n. Chr. der Presbyter Claudianus Mamertus nach dem Zeugnis des Sidonius in römischer, griechischer und christlicher Literatur gleichermassen bewandert.79 Durch die Aufnahme jüdisch-christlicher Traditionen in den überkommenen griechisch-römischen 77

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Zur Übernahme kirchlicher Ämter durch die gallische Aristokratie vgl. etwa Heinzelmann (1976), 61 ff.; Wormald (1976) 217–226; Van Dam (1985) 141–156; Mathisen (1993) 89–104; Angenendt (1990) 94–96. Eine Charakterisierung der gallischen Senatsaristokratie im 5. Jahrhundert liefert etwa Baumgart (1995) 124–160. Allgem. zur Bischofsherrschaft in Gallien zwischen Spätantike und Frühmittelalter: Diefenbach (2013). Er selbst kann dieser Aufforderung nicht Folge leisten: qui nec germanam vitare nec episcopi evadere manus potui (inst. 11,18). Sidon. epist. 4,11,6 Vv. 4–5: triplex bybliotheca quo magistro, / Romana, Attica, Christiana,

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Bildungsstoff wurde ein alternatives kulturelles Bezugssystem eröffnet, auf das die Autoren referieren konnten. Biblische und heidnisch-mythologische Motive standen in der Literatur des 5. Jahrhunderts programmatisch nebeneinander. Noch für Cassiodor ergänzen sich lectio divina und lectio vetustatis wie selbstverständlich.80 Der Gründer des Vivariums steht aber gleichsam an einem Scheidepunkt zwischen Antike und Mittelalter. Mit fortschreitendem Niedergang des Schulsystems verlor die traditionelle literarische Bildung allmählich ihre Verbindlichkeit, während die lectio divina immer mehr ins Zentrum einer verblassenden Bildungskultur rückte.81 Die Gemeinschaft der Gebildeten wandelte sich in eine Gemeinschaft von Klerikern und Mönchen, welche die studia liberalia als zweckgebundenes Mittel christlicher Unterweisung weitertradierte.

2. OBSCURITAS ALS PRODUKTIONS- UND REZEPTIONSPHÄNOMEN IN KAISERZEIT UND SPÄTANTIKE 2.1. Verständlichkeit als Wirkungsziel: Obscuritas und Perspicuitas bei Quintilian und in der rhetorischen Doktrin der Spätantike Oratio vero, cuius summa virtus est perspicuitas, quam sit vitiosa, si egeat interprete? (Quint. inst. 1,6,41)

Der kaiserzeitliche Rhetoriklehrer Quintilian misst im zweiten Buch seiner Institutio oratoria der Deutlichkeit und Klarheit des sprachlichen Ausdrucks, der Perspicuitas, den ersten Rang innerhalb der Tugenden zu, die er für die Beredsamkeit allgemein als verbindlich erachtet.82 Die Beherrschung eines nüchternen und verständlichen Stils hält er in erster Linie für eine Frage des fachlichen Könnens: „Denn wer sich schwülstig und verderbt und hochtönend ausdrückt und mit irgendeiner anderen Art von Kakozelie Fehler begeht, leidet meiner Meinung nach nicht an einem Überschuss an Kräften, sondern an Schwäche (…). Also wird jemand umso dunkler, je schwächer er ist.“83 Dieses apodiktische Urteil, mit dem sich Quintilian gegen die zeitgenössische Deklamationskunst und die dort gepflegte sprachliche Virtuosität

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fulsit. Bybliotheca meint hier metonymisch die in ihr enthaltene Literatur. Vgl. zu dieser Thematik Vessey (2001). Eigler (2003) 130 f. Zur Ablösung der consuetudo doctissimorum durch die consuetudo imperitorum im Ausgang der Antike vgl. Eigler (2003) 142–146. Quint. inst. 2,3,8: Nam et prima est eloquentiae virtus perspicuitas (…). Quint. inst. 2,3,9: Nam tumidos et corruptos et tinnulos et quocumque alio cacozeliae genere peccantes certum habeo non virium, sed infirmitatis vitio laborare, ut corpora non robore, sed valetudine inflantur (…). erit ergo etiam obscurior, quo quisque deterior.

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richtet, deckt sich mit weiteren Äusserungen dieser Art innerhalb seines Werks. Sprachliche „Durchsichtigkeit“ besass in der antiken rhetorischen Theorie traditionell einen hohen Stellenwert. Als Lehrsystem (ars), das ein wirkungsintentionales, auf Überzeugung (persuasio) ausgerichtetes Sprechen vermitteln will, muss die Rhetorik alle verständniserschwerenden Textelemente prinzipiell ablehnen. Aristoteles hatte die σαφὴς λέξις zum bestimmenden allgemeingültigen Stilprinzip erhoben, nachdem sie bei Isokrates noch vornehmlich als Gestaltungsprinzip der narratio abgehandelt wurde.84 In der Folgezeit wurde diese doppelte Behandlung beibehalten, sodass in den rhetorischen Lehrbüchern die Perspicuitas einerseits im Redeteil der narratio, andererseits als generelle Stilanforderung Erwähnung fand. Gemäss der grundsätzlich bipolaren Systematik des rhetorischen Lehrgebäudes erfolgte jeweils gekoppelt an die Behandlung der virtutes die Aufzählung der diesen gegenüberstehenden vitia, deren Vermeidung bereits als Tugend galt.85 Die Grenzlinie zwischen diesen beiden Polen war jedoch nicht immer leicht zu bestimmen. Je nach Kontext war die Zuordnung eines Stilelements in die Kategorien virtus-vitium erheblichen Wandlungen unterworfen, was in der Gewährung von Lizenzen ihren Ausdruck fand. Aristoteles hatte jede ἀρετή als die Mitte zwischen den beiden Extremen des Zuwenig (ἔλλειψις) und des Zuviel (ὑπερβολή) bestimmt.86 Während die Konzeption einer doppelten Begrenzung der virtus für die Stilprinzipien der Sprachrichtigkeit und des ornatus schnell einleuchtet, ist dies bei der sprachlichen Klarheit nicht unmittelbar einsichtig. Der ihr gegenüberstehende Fehler ist die Οbscuritas.87 Diese beiden Kategorien stehen in skalarem Verhältnis zueinander, sodass die graduelle Abnahme der einen Kategorie die Zunahme der anderen bedeutet. Absolute Klarheit des sprachlichen Ausdrucks sah Aristoteles jedoch nicht in jedem Fall als Ziel des Produzenten an. In der „Poetik“ wird die σαφήνεια als Stilprinzip dichterischen Ausdrucks mit einem sprachästhetischen Anspruch kombiniert. Reine Klarheit, die in der Verwendung gängiger Ausdrücke bestehe, sei banal (ταπεινή). Zur Erlangung einer vollkommenen sprachlichen Form (λέξεως ἀρετή) müsse das banal Gewöhnliche durch die Verwendung verfremdender Ausdrücke (z. B. Metaphern) vermieden werden.88 Die Forderung nach einer ästhetischen Verfremdung gilt in eingeschränkter Form auch für die Rhetorik.89 Die vollkommene Rede sollte also auch hinsichtlich der Perspicuitas den Mittelweg wählen und in einem ausgewogenen Verhältnis zwischen „erhellenden“ und „verdunkelnden“ Elementen bestehen.90 84 85 86 87 88 89 90

Arist. rhet. 3,2. Zu Isokrates: Quint. inst. 4,2,31. Vgl. Asmuth (2003) 814, 820–823. Quint. inst. 8,3,41: Nam prima virtus est vitio carere. Mit Fokus auf die Philosophie: Arist. eth. Nic. 2,6. Lausberg (1960) §§ 1067–1070. Arist. poet. 22. Arist. rhet. 3,2; rhet. 3,11. Orientierungspunkt ist dabei das aptum, die Angemessenheit. Vgl. zu diesem schwieri-

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Unabhängig solcher in ihrer Tendenz eher literarästhetischer Reflexionen, die zumindest Quintilian in nicht unerheblichem Masse beeinflusst zu haben scheinen,91 ist innerhalb der rhetorischen Doktrin eine grundsätzlich negative Beurteilung der Obscuritas bestimmend. Dieser steht eine durchgehend positive Bewertung der Perspicuitas gegenüber. Psychologisch fassbar wird dies nicht zuletzt in der Terminologie. Wie im Deutschen steht in den Wortfeldern, die in der Antike das Phänomen sprachlicher Perspicuitas beziehungsweise Obscuritas bezeichneten, die Metaphorik des Lichts beziehungsweise des Sehens im Vordergrund. Im Griechischen fehlt über den etymologischen Bezug zwischen σαφής „klar“ zu φαίνω „ich leuchte“ die Gewissheit.92 Im Lateinischen dominieren positiv konnotierte optische Begriffe das lexikalische Feld (perspicuus, dilucidus, illustris). Von Bedeutung sind auch Begriffe, welche die örtliche Zugänglichkeit zu einer Sache illustrieren (apertus, planus, manifestus).93 Das Gegenphänomen bestimmen überwiegend negativ konnotierte Begriffe, welche die weitgehende Absenz von Licht bezeichnen (obscurus).94 Innerhalb des rhetorischen Systems sind Obscuritas und Perspicuitas Sammelbegriffe für Textelemente, die das Verständnis des Rezipienten fördern oder mindern. Obscuritas erhält dabei keine eigenständige Betrachtung oder Systematisierung, sondern ist weitgehend an die Behandlung der Perspicuitas gebunden. Eine solche lässt sich aus den verstreuten Aussagen der Lehrbücher aber relativ leicht erschliessen. In der Spätantike ist sie in nuce innerhalb der genera causarum-Behandlung enthalten, die im Rahmen der status-Lehre zu Beginn der artigraphischen Erörterungen steht.95 In einem Interpretament seines Kommentars zu Ciceros De inventione macht der spätantike Rhetor Grillius folgende Ausführungen: Obscuritas autem tribus modis fit, a iudice, ab oratore aut ab ipsa causa. a iudice, si tarde colligat dictam rem; ab oratore, si aut minus dicat aut multa dicendo se involvat (…); ab ipsa causa, si obscurissima sint argumenta, quae vix intellegat iudex (…). Drei Faktoren bedingen Obscuritas: der Richter, der Redner und der Rechtsfall. Der Richter ist verantwortlich, wenn er die vorgetragene Sache zu wenig begreift; der Redner, wenn seine Ausführungen entweder zu knapp oder zu ausschweifend sind (…); der Rechtsfall, wenn die Beweislage selbst so kompliziert ist, dass ein Richter sie kaum verstehen kann (…). (Grill. 1,20,48–53)

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gen Balanceakt die Ausführungen von Mehtonen (2003) 65–67. Fuhrmann (1966) 57. Beekes (2010) 1314. Vgl. Asmuth (2003) 817–820. Vgl. Walde (2003) 358. Zur Assoziation von Dunkelheit mit dem Bösen vgl. weiter unten: S. 171–173. Neben dem Folgenden etwa Victorin. 1,15 ed. Halm, 196, 36–46; Isiod. orig. 2,8,1. Vgl. Ziolkowski (1996b) 135. Zur Rezeption in der mittelalterlichen Theorie vgl. Mehtonen (2003) 75–79.

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Ausgehend von Ciceros Definition der verschiedenen Vertretbarkeitsarten fasst Grillius die Faktoren zusammen, die in einer Gerichtssituation zu Verständnisproblemen führen können. Nur einer dieser Faktoren, die Darlegung, untersteht der direkten Verantwortung und Einflussnahme des Redners. Die beiden anderen sind von aussen vorgegeben und zwingen den Redner zu entsprechenden Gegenmassnahmen.96 Grillius bemerkt noch, dass Cicero nur die beiden äusseren Faktoren des genus obscurum anerkannt habe, da er seiner Theorie den vollkommenen und folglich fehlerlosen Redner zugrunde gelegt habe.97 Grillius’ Unterteilung des genus obscurum in die drei Einflussfaktoren der Obscuritas (iudex-orator-causa) deckt sich mit dem generellen Bild, das die antiken Lehrbücher über dieses Phänomen vermitteln. Die Unterscheidung zwischen äusseren, vom Fall bedingten und inneren, vom Redner abhängenden Faktoren ist Bestandteil der inventio, jenes Bereichs, der sich mit der Auffindung des Stoffes befasst. Hier werden etwa inhaltliche Schwierigkeiten in der Beschaffenheit eines Rechtsfalls oder in Gesetzestexten thematisiert.98 Die Richter, in Grillius’ Unterteilung neben der causa der zweite äussere Faktor, stehen als primäres Zielpublikum der Gerichtsrede und als kommunikative Partner des Redners zwar prinzipiell im Brennpunkt der Betrachtungen, erhalten aber gerade hinsichtlich ihrer kognitiven Kompetenzen kaum Schärfen.99 Quintilian bietet zumindest an einer Stelle eine knappe Charakterisierung dieser Rezipientengruppe, die er als ländlich und ungebildet darstellt.100 Den verständlicherweise grössten Raum der Obscuritas-Referenzen nehmen in der rhetorischen Doktrin die auf den Redner bezogenen, also die inneren Faktoren berücksichtigenden Anweisungen ein, die mit den erwähnten Kategorien virtus-vitium operieren. Formal kann zwischen einem performativen Aspekt, der pronuntiatio, sowie zwei inhaltlichen Aspekten unterschieden werden, dem Gegenstand (res) und dessen sprachlicher Realisierung (verba). Letzterer wird von einem pragmatischen Aspekt überlagert, der in der richtigen Einschätzung der Redesituation beziehungsweise des Publikums besteht. Der Redner muss also seine Gedanken logisch ordnen und sich dem jeweiligen Publikum gegenüber angemessen und sprachlich verständlich ausdrücken können. Dieser Aufgabe gilt es grundsätzlich in allen Teilen der Rede nachzukommen. Besondere Aufmerksamkeit wurde dieser Redeleistung jedoch, wie bereits erwähnt, in der narratio beigemessen, wo sprachliche Zu möglichen Gegenmassnahmen vgl. Quint. inst. 4,1,41; inst. 4,4,4; inst. 4,5,25. Grill. 1,20,54–55: Nunc Tullius dicit a iudice et causa fieri genus, ab oratore autem non, quia praecepta dat, ut orator debeat esse plenissimus. Vgl. Cic. inv. 1,15,20: obscurum, in quo aut tardi auditores sunt aut difficilioribus ad cognoscendum negotiis causa est implicata. 98 Quint. inst. 4,1,40–41; inst. 4,4,4; inst. 7,6,2–4. 99 Die Handbücher begnügen sich in diesem Kontext mit dem Hinweis auf die „geringe Aufnahmefähigkeit“ des Publikums vgl. z.B. Cic. inv. 1,15,20: tardi auditores; Victorin. 1,15 ed. Halm 196,38–39: cui narratur, tardior est. 100 Quint. inst. 4,2,45. Vgl. dazu weiter unten: S. 102. 96 97

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Eindeutigkeit, logische Disposition und hinreichende Ausführlichkeit als Grundqualitäten der Perspicuitas für das Wirkungsziel der Rede insgesamt erhöhte Relevanz besassen.101 Als Tugenden der narratio gelten seit Isokrates Klarheit, Kürze und Wahrscheinlichkeit.102 Zwischen den ersten beiden Bereichen besteht ein innerer Zusammenhang, der sich in einer Überschneidung der diesbezüglichen Anweisungen äussert. Die Klarheit der Erzählung (narratio aperta) gehört systematisch zu den Aufgabenbereichen der inventio (gedankliche Klarheit), der elocutio (sprachliche Klarheit) und der pronuntiatio (Klarheit der Aussprache). Auf der Ebene der Gedanken ist neben der logischen Anordnung der Geschehenselemente auf eine knappe und einsichtige Darstellung zu achten. Auf sprachlicher Ebene wird eine affektfreie und eindeutige Ausdrucksweise empfohlen, ähnliches gilt auch für Gestik und Tonfall während des Vortrags.103 Seit Aristoteles werden jene Anweisungen zur narratio, die dem Verstehen der Zuhörer gewidmet sind, von den Rhetoren im allgemeinen, den Stil betreffenden Teil erneut besprochen. Die Klarheit des Ausdrucks wird hier in der Regel als eine der vier theophrastischen Stiltugenden (virtutes elocutionis) neben der idiomatischen Korrektheit (latine loqui), dem Redeschmuck (ornatus) und der Angemessenheit (aptum) behandelt, wobei Rangfolge und Gewichtung variieren.104 Da die Sprachrichtigkeit formal der Grammatik angehört, stellt die Perspicuitas die erste rhetorische Tugend im eigentlichen Sinn dar.105 Die gründlichste Behandlung der Perspicuitas und ihres Gegenstücks, der Obscuritas, innerhalb der rhetorischen Tradition liefert Quintilian im achten Buch seiner Institutio oratoria.106 Seine Darlegungen haben die spätantike und mittelbar auch die mittelalterliche Rhetorik massgeblich geprägt, weshalb sie in ihren Grundzügen kurz skizziert werden sollen.107 Inhaltlich knüpft Quintilian bei der Behandlung der Obscuritas an seine Ausführungen zur Perspicuitas als Gestaltungsprinzip der narratio im vierten Buch an (inst. 4,2,31–51). Er weitet diese jedoch präzisierend aus, indem er die Obscuritas als vitium elocutionis erstmals einer phänomenologischen Systematisierung unterzieht. Er differenziert zwischen Einzelwörtern und Satzzusammenhän101 Quint. inst. 4,2,35. Vgl. auch Cic. de orat. 2,80,329; Iul. Vict. rhet. ed. Giomini/Celentano, 72,23–73,2. 102 Rhet. Her. 1,9,14: Tres res convenit habere narrationem, ut brevis, ut dilucida, ut veri similis sit. 103 Cic. inv. 1,20,28; Quint. inst. 4,2,64. Vgl. Lausberg (1960) § 315–321. 104 U. a. Quint. inst. 8,2; Fortunat. 3,8. Vgl. dazu Lausberg (1960) §§ 528–537. Zur historischen Entwicklung und der Stellung der Perspicuitas innerhalb der unterschiedlichen rhetorischen Ordnungssysteme vgl. Asmuth (2003) 819–833. 105 Quint. inst. 8,2,22. 106 Quint. inst. 8,2. Vgl. dazu u. a. Fuhrmann (1966) 57–59; Ahlheid (1983); Mehtonen (2002), 95–108. 107 Zu Quintilians Einfluss auf die spätantike und mittelalterliche Rhetorik vgl. Mehtonen (2002) 49–50 mit weiterer Literatur. Zur Spätantike vgl. z.B. Sidon. epist. 5,10,3, wo der Rhetor Sapaudus mit Quintilian verglichen wird.

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gen. Im ersten Bereich dominiert die Sprachtugend der proprietas. Da die Eindeutigkeit einer Aussage aus der sie tragenden Lexik resultiert, definiert Quintilian vor dem Hintergrund der Sprachrichtigkeit (Latinitas) die Verwendung von eigentlichen Bezeichnungen der res als Grundlage des Verstehens. Gleichzeitig weist er auf die Gefahren einer immutatio hin, da uneigentliche Ausdrücke (verba impropria) gerade bei weniger gebildeten Zuhörern eine lexikalische Obscuritas verursachen.108 Im Vergleich zur Ebene der Einzelwörter, wo etwa Archaismen, Provinzialismen, Fachtermini und Homonyme potentiell eine Unklarheit oder Unbestimmtheit (ambiguitas) des Ausdrucks erzeugen können,109 gewichtet Quintilian das vitium der Obscuritas in einer zusammenhängenden Rede ungleich stärker.110 Ausführlich behandelt er verschiedene syntaktische und stilistische Elemente, die dem Textverständnis grundsätzlich abträglich sind (impediri solet intellectus).111 Wie schon in der Behandlung der narratio orientiert sich seine Darlegung hier weitgehend an den Änderungskategorien der adiectio und detractio, die auch Grillius seiner Typologisierung zugrunde legte: obscuritas fit… ab oratore, si aut minus dicat aut multa dicendo se involvat (Grill. 1,20,48–51).112 Im Spannungsfeld dieser beiden Gegenpole stehen Perspicuitas und Obscuritas, vitium und virtus, eng beieinander. Der Redner bewegt sich so zwischen verständniserleichternder und sinnverstellender Redundanz auf der einen Seite und präziser und sinnbehindernder Kürze auf der anderen Seite.113 Die stilistische Leistung sieht Quintilian – der aristotelischen Tugendlehre folgend – auch hier in der Beschreitung des Mittelwegs (media via).114 Neben einer sachorientiert-nüchternen Komponente wird der Perspicuitas in der klassischen Rhetorik auch eine sinnlich-ästhetische Komponente zugemessen.115 Auf die Wirkmächtigkeit eines bildhaften Vor-Augen-Stellens (πρὸ ὀμμάτων ποιεῖν) in der Rede mittels Metaphern und Vergleichen hat be108 Quint. inst. 8,2,1–13. Zur immutatio als eine der vier rhetorischen Änderungskategorien vgl. Lausberg (1960) § 462. 109 Die massvolle Verwendung verfremdender Termini wie Archaismen und Neologismen kann als Schmuck (ornatus) gewertet werden, vgl. Quint. inst. 8,3,15–20; Cic. de orat. 3,38,153. 110 Quint. inst. 8,2,14: Plus tamen est obscuritatis in contextu et continuatione sermonis, et plures modi. Dies stimmt mit den Ergebnissen aus der modernen Leserpsychologie überein, deren Studien ergaben, dass syntaktische Ambiguitäten den Leseprozess stärker verlangsamen als dies lexikalische Ambiguitäten tun, vgl. Gross (1994) 18–19. 111 Quint. inst. 8,2,14–21. 112 Als Beispiele nennt Quintilian überlange Perioden und Sperrungen (inst. 8,2,14) sowie interiectiones (inst. 8,2,15) und Periphrasen (inst. 8,2,17). Die Gefahren der vierten Änderungskategorie, der transmutatio, die den Platzwechsel eines Bestandteils im Ganzen bezeichnet, bespricht Quintilian anhand der mixtura verborum (inst. 8,2,14). 113 Walde (2003) 364. 114 Quint. inst. 4,2,45: ut fortasse ubique, in narratione tamen praecipue media haec tenenda sit via dicendi.Einen anderen Weg ging die stoische Rhetorik, welche die brevitas wegen ihrer affektvermindernden Funktion schätzte und damit verbundene Verdunkelungen des Textes bewusst in Kauf nahm, vgl. Walde (2003) 362. Dazu allgem. Moretti (1995). 115 Asmuth (2003) 815–817.

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reits Aristoteles hingewiesen, da durch die optische Illustration der Gedanken eine zusätzliche Verdeutlichung des Gemeinten erreicht werden kann.116 Die Technik der bildlichen Veranschaulichung (evidentia) ist in der Kaiserzeit fester Bestandteil der Rhetorik und wird von Quintilian der Perspicuitas zugerechnet.117 Qualitativ bewertet er sie jedoch ungleich höher als die sachlich-nüchterne Deutlichkeit, da durch die plastische Visualität der Gedanken eine stärkere emotionale Wirkung auf das Publikum erzielt werden könne.118 Perspicuitas, die über diesen ästhetischen Mehrwert verfügt, nennt Quintilian claritas. Deren stilistische Voraussetzung, die evidentia, diskutiert er am ausführlichsten als Bestandteil des Wortschmucks (ornatus).119 Potenziell verdunkelnde Schmuckmittel wie Metaphern und Vergleiche können also zu einer erhöhten Klarheit des Ausdrucks führen und der Rede einen zusätzlichen Glanz verleihen. Gerade bei einem bedeutenderen Stoff darf auf den ästhetischen Mehrwert einer schmuckvollen Ausdrucksweise nicht verzichtet werden – sofern diese keine Obscuritas erzeugt.120 Das Gebot der Klarheit stellt die natürliche Grenze des ornatus dar. In diesem Sinne ist Schmuck für Quintilian letztlich immer zweckgebunden: Nur wenn die Rede auch verständlich ist, kann sie als schmuckvoll gelten. 121 So vermag man mit einem Gleichnis (similitudo) etwa die Dinge nur dann ins hellste Licht zu rücken, wenn die Ähnlichkeit nachvollziehbar bleibt. Das Kunstmittel „mit Verborgenem Offenbares verdeutlichen“ soll man hingegen ganz den Dichtern überlassen.122 Schliesslich muss der Redner wie in allen Bereichen auch beim Redeschmuck auf Masshaltung bedacht sein.123 Denn wie ein massvoller und passender Gebrauch der Metapher einer Rede Glanz verleiht, so führt ein zu häufiger Gebrauch zu Dunkelheit und Überdruss.124 Schnell droht eine Allegorie, die zwar einer Rede durch ihre Neuartigkeit, Ausgefallenheit und inhärente Dunkelheit durchaus einen Reiz verschaffen kann,125 durch Übereifer 116 117 118 119 120

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Arist. rhet. 3,11. Quint. inst. 4,2,63–64. Zur evidentia in der Rhetorik vgl. Kemmann (1996). Quint. inst. 8,3,3; inst. 8,3,62. Quint. inst. 8,3,61–71. Zu claritas als Terminus technicus: Asmuth (2003) 816 mit Verweis auf Quint. inst. 8,3,70. Zur claritas des Ruricius vgl. weiter unten: S. 294f. Quint. inst. 5,14,34: At si maior erit materia, nullum iis ornatum, qui modo non obscuret, subtrahendum puto. nam et saepe plurimum lucis adfert ipsa tralatio, cum etiam iuris consulti, quorum summum circa verborum proprietatem labor est, „litus“ esse audeant dicere, „qua fluctus eludit“ (…). Zu den Techniken, die diesen ästhetischen Mehrwert erzeugen, zählt Quintilian neben der evidentia die simulitudo (inst. 8,3,72 f.) sowie die emphasis (inst. 8,3,83 f.). Quint. inst. 8,3,11: Numquam vera species ab utilitate dividitur. Quint. inst. 8,3,74: Non idem oratorem decebit, ut occultis aperta demonstret. sed illud quoque de quo in argumentis diximus similitudinis genus ornat orationem facitque sublimem, floridam, iucundam, mirabilem. Quint. inst. 8,3,42: Igitur ante omnia ne speremus ornatam orationem fore quae probabilis non erit. (…) quia vitium est ubique quod nimium est. Quint. inst. 8,6,14: Ut modicus autem atque oportunus eius usus inlustrat orationem, ita frequens et obscurat et taedio complet (…). Vgl. Quint. inst. 5,14,34. So betont etwa Demetr. eloc. 222, dass eine mystisch-verbergende Ausdrucksweise, wie

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(nimia captatio) zu einem aenigma zu werden.126 Bei durchgeführten Metaphern (continuata translatio) empfiehlt Quintilian daher generell die Verwendung von „vermischten“ Allegorien (allegoria permixta), die bereits Signale zu ihrer sinnvollen Entschlüsselung enthalten.127 In diesem Zusammenhang kritisiert Quintilian mit besonderem Nachdruck den Hang zum Gesuchten, die Kakozelie (κακοζηλία, mala adfectatio), die er als schlimmsten aller Fehler in der Beredsamkeit ansieht.128 Wie im eingangs zitierten Verdikt subsummiert er darunter verschiedene Erscheinungsformen stilistischer Manier, was sich wie eine Definition dunklen Sprachstils liest: Corrupta oratio in verbis maxime inpropriis, redundantibus, compressione obscura, compositione fracta, vocum similium aut ambiguarum puerili captatione consistit. Eine verdorbene Rede besteht besonders in unpassenden und überflüssigen Worten, in dunklen Perioden, gebrochenen Wortfügungen oder dem kindlichen Streben nach gleichklingenden oder doppeldeutigen Worten. (Quint. inst. 8,3,57)

Mehrfach äussert Quintilian sein Missfallen darüber, dass eine derartige sprachlich-stilistische Affektiertheit, die letztlich bewusst auf eine textliche Verdunkelung abzielt, in gewissen Kreisen gleichsam den Rang einer Redetugend einnimmt: Ingeniosa haec et fortia et ex ancipiti diserta creduntur, pervasitque iam multos ista persuasio, ut id demum eleganter atque exquisite dictum putent quod interpretandum sit. Man sieht solche Ausdrücke als geistreich, eindrucksvoll und wegen ihres Doppelsinns als rednerisch gelungen an. Viele sind nun der Überzeugung, dass erst das elegant und geschmackvoll sei, was der Deutung bedürfe. (Quint. inst. 8,2,21) At obscuritas fit verbis iam ab usu remotis, ut si commentarios quis pontificum et vetustissima foedera et exoletos scrutatus auctores id ipsum petat ex his, quae inde contraxerit, quod non intelleguntur. hinc enim aliqui famam eruditionis adfectant, ut quaedam soli scire videantur. Obscuritas aber entsteht aufgrund von ungebräuchlichen Worten, wenn etwa jemand absichtlich die Aufzeichnungen der Priester, uralte Bündnisverträge und in Vergessenheit gekommene Autoren durchsucht, nur um gerade das auszuwählen, was nicht verstanden wird. Dadurch streben einige in den Ruf der Gelehrsamkeit zu kommen, dass gewisse Dinge nur sie allein zu verstehen scheinen. (Quint. inst. 8,2,12) die Allegorie, den Effekt und die Wichtigkeit der vorgebrachten Sache erhöht, da das Publikum durch die Deutungsanstrengung aktiviert wird. 126 Quint. inst. 8,6,51–53. Vgl. Cic. de orat. 3,167. Zum aenigma als Begriff in der antiken Rhetorik allgem. König (1992) 188–190. 127 Quint. inst. 8,6,47–48. Quintilian veranschaulicht dies anhand Cic. Mil. 2,5: Illud commixtum frequentissimum: „equidem ceteras tempestates et procellas in illis dumtaxat fluctibus contionum semper putavi Miloni esse subeundas“. Contionum ist hier das Signal. 128 Quint. inst. 8,3,56: omnium in eloquentia vitiorum pessimum. Vgl. Iul. Vict. rhet. ed. Giomini/Celentano, 89,32–90,5.

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A corruptissimo quoque poetarum figuras seu translationes mutuamur, tum demum ingeniosi scilicet, si ad intellegendos nos opus sit ingenio. atqui satis aperte Cicero praeceperat „in dicendo vitium vel maximum esse a vulgari genere orationis atque a consuetudine communis sensus abhorrere“ [Cic. de orat. 1,3,12]. sed ille est durus atque ineruditus. Gerade von den verdorbensten Dichtern wollen wir Figuren und Metaphern entlehnen, denn erst dann sind wir wirklich talentiert, wenn man, um uns zu verstehen, Talent benötigt. Allerdings hat Cicero in ausreichender Klarheit festgesetzt, dass „es beim Reden den wohl grössten Fehler darstellt, wenn man von der üblichen Sprechweise und dem gebräuchlichen Sinn abweicht.“ Doch Cicero ist ja roh und ungebildet. (Quint. inst. 8 praef. 25–26)

Interpretationsbedürftigkeit wird hier zum Kriterium einer gewählten und geschmackvollen Rede, in welcher intendierte Obscuritas als Bildungsnachweis des Produzenten fungiert. Aus diesem Grund würden nach dem Urteil Quintilians gewisse Leute auch bewusst auf ein solches Produkt hinarbeiten, indem sie durch wortreiche Periphrasen oder extreme Kürze den Inhalt verdunkelten. Selbst der Unterricht sei von dieser verkehrten Wertschätzung dunklen Stils infiziert, sodass bereits Schüler zur Verdunkelung von Texten angeleitet würden.129 Quintilian räumt indes ein, dass Obscuritas bei gewissen Rezipienten durchaus auf Anklang stosse, dann nämlich, wenn diese als Nachweis der eigenen Bildung aufgefasst werde: Sed auditoribus etiam nonnullis grata sunt haec, quae cum intellexerunt, acumine suo delectantur, et gaudent non quasi audierint, sed quasi invenerint. Doch auch einigen Zuhörern sind solche Ausdrücke und Wendungen willkommen: Nachdem sie diese verstanden haben, frohlocken sie über ihren eigenen Scharfsinn und freuen sich so, als wären sie nicht nur Zuhörer, sondern geradezu deren Erfinder. (Quint. inst. 8,2,21)

Einer Zuhörergruppe verschafft die Entschlüsselung sprachlich-stilistischer Verdunkelungen eine intellektuelle Genugtuung, da sie durch die Verhüllung des Inhalts an der Sinngenese des Textes gleichsam beteiligt wird. In diesem Kommunikationsmodell, in dem die aktive Sinnerschliessung seitens des Rezipienten vorausgesetzt wird, sind Sender und Empfänger sowohl Partner wie Gegner in einem wechselseitigen intellektuellen Agon. Gegen diese bestimmte Personengruppen bewusst ausgrenzenden Spielereien führt Quintilian eine durchaus pragmatische Argumentation ins Feld, indem er dem eruditus lector den neglegenter audiens als Referenzgrösse des Redners gegenüberstellt: Nam si neque pauciora, quam oportet, neque plura neque inordinata aut indistincta dixerimus, erunt dilucida et neglegenter quoque audientibus aperta: quod et ipsum in concilio est habendum, non semper tam esse acrem iudicis intentionem, ut obscuritatem apud se ipse discutiat et tenebris orationis inferat quoddam intellegentiae suae lumen, sed multis eum 129 Eine berühmte Stelle ist Quint. inst. 8,2,17–19. Über die verdunkelnde „Affektiertheit“ des Tiberius berichtet Suet. Tib. 70,1: Sed adfectatione et morositate nimia obscurabat stilum, ut aliquanto ex tempore quam a cura praestantior haberetur.

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III. Obscuritas in der literarischen Kultur der Spätantike frequenter cogitationibus avocari, nisi tam clara fuerint, quae dicemus, ut in animum eius oratio, ut sol in oculos, etiam si in eam non intendatur, incurrat. quare non, ut intellegere possit, sed, ne omnino possit non intellegere, curandum. Denn wenn wir weder weniger noch mehr als nötig, weder ungeordnet noch undeutlich sprechen, wird unsere Rede klar und auch für jene verständlich, die uns nur nachlässig zuhören. Es muss nämlich bedacht werden, dass die Aufmerksamkeit des Richters nicht immer so hoch ist, dass er eine Unklarheit selbständig klären und die Dunkelheit unserer Rede mit dem Licht seines Intellekts erhellen kann. Vielmehr wird er häufig durch verschiedene Gedanken abgelenkt, wenn nicht das, was wir sagen, so klar ist, dass es in seinen Geist eindringt wie die Sonne in die Augen, selbst wenn er unaufmerksam sein sollte. Deshalb muss nicht unsere Sorge sein, dass er verstehen kann, was wir sagen, sondern dass er dies keinesfalls nicht verstehen kann. (Quint. inst. 8,2,23)

Quintilians Kritik an der zeitgenössischen Schuldeklamation liegt auf seinem Unterrichtsziel begründet, seinen Rezipienten eine lebensnahe Theorie der Rhetorik zu bieten. Angesichts der realen Bedingungen auf dem Gerichtshof muss der Redner darauf achten, dass ein Richter in jedem Fall versteht, was gesagt wird, und nicht nur, dass er es überhaupt verstehen kann. Bereits zuvor hat Quintilian im vierten Buch auf die Diskrepanz zwischen der Rezeptionsform des Zuhörens und des Lesens aufmerksam gemacht. Im Zusammenhang mit der brevitas verweist Quintilian auf die sprichwörtliche Sallustiana brevitas, die es in der Gerichtssituation gerade mit Rücksicht auf die weniger gebildeten Richter zu vermeiden gilt: Quare vitanda est etiam illa Sallustiana (quamquam in ipso virtutis optinet locum) brevitas et abruptum sermonis genus: quod otiosum fortasse lectorem minus fallat, audientem transvolat, nec dum repetatur expectat, cum praesertim lector non fere sit nisi eruditus, iudicem rura plerumque in decurias mittant (…). Aus diesem Grund muss auch jene bekannte Kürze des Sallust – die bei ihm gleichwohl zu seinen Vorzügen zählt – und die lose Art zu reden vermieden werden: Was den Leser, der Zeit hat, vielleicht nicht täuschen kann, entgeht dem Zuhörer, dem sich keine Chance für eine Wiederholung bietet; zudem ist der Leser in der Regel gebildet, der Richter aber meistens von einem Landbezirk in die Dekurie geschickt worden (…). (Quint. inst. 4,2,45)

Quintilian trennt also zwischen verschiedenen Rezeptionsformen literarischer Kommunikation (lector-audiens) einerseits und verschiedenen Aufmerksamkeitsstadien der Rezipienten (neglegens-intentus) andererseits. Beide werden von einer bildungssozialen Kategorie (eruditus-rusticus) in der Weise überlagert, dass sich für die Einsatzmöglichkeiten der Obscuritas etwa folgendes Schema ergibt:130

130 An einer späteren Stelle, an der er Ciceros simplicitatis imitatio als verborgenen Schachzug im Milo-Prozess darlegt, rekurriert Quintilian erneut auf dieses Modell, das die Art der Performance sowie die soziale Stellung des Publikums berücksichtigt: Quint. inst. 4,2,59: Frigida videntur ista plerisque (gemeint sind spätere Kritiker), sed hoc ipso manifestum est quo modo iudicem fefellerit, quod vix a lectore deprenditur.

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lector eruditus

intentus/otiosus ja

neglegens möglich

auditor eruditus rusticus

möglich nein

nein nein

Insgesamt ist Quintilians Bewertung der Obscuritas also durchaus differenziert. Er anerkennt in verschiedener Hinsicht die Vorzüge einer verdunkelnden Ausdrucksweise, deren Ursprünge er letztlich in der Multivalenz sprachlicher Zeichen selbst sieht,131 lehnt sie aber aus pragmatischen Gründen in rhetorischen Kontexten weitgehend ab.132 Der Obscuritas wird hier – anders als in der Literatur, wo Quintilian ihr in weit höherem Mass eine literarästhetische Qualität zubilligt – nur ein eng begrenzter Spielraum als textverfremdendes Kunstmittel zugestanden.133 Die Durchsichtigkeit des Ausdrucks bleibt oberstes Prinzip. Seine Maxime schärft Quintilian dem Leser am Ende des zweiten Kapitels des achten Buches noch einmal mit Nachdruck ein: Nobis prima sit virtus perspicuitas, propria verba, rectus ordo, non in longum dilata conclusio, nihil neque desit neque superfluat: ita sermo et doctis probilis et planus imperitis erit. Als erste und wichtigste Tugend des Ausdrucks gilt uns die Durchsichtigkeit, der eigentliche Gebrauch der Wörter, ihre richtige Anordnung im Satz, kein hinausgezögerter Schluss, nichts, das fehlt oder überflüssig ist. So wird die Rede von den Gebildeten geschätzt und von den Unkundigen verstanden. (Quint. inst. 8,2,22)

Dieser aus produktionsästhetischer Sicht formulierten entschiedenen Ablehnung von sprachlicher und inhaltlicher Obscuritas tritt nun aus einer in gleicherweise institutionalisierten, rezeptionsästhetischen Perspektive, nämlich der des Grammatikers, eine offenkundige Wertschätzung von dunkler Sprache entgegen.

131 Vgl. seine Bemerkungen zur Amphibolie: Quint. inst. 7,9,1: Amphiboliae species sunt innumerabiles, adeo ut philosophorum quibusdam nullum videatur esse verbum, quod non plura significet. 132 Eine Ausnahme stellt die im Sinne der Partei-Utilitas notwendige Verdunkelung einer Sachlage dar. Quintilian rät hier zu sachlicher Verschleierung (obscurare): Quint. inst. 4,2,64–65; inst. 4,2,88. Vgl. Cic. inv. 1,21,30. 133 Dies zeigt etwa sein Urteile über Sallust: Quint. inst. 8,3,82: Ac merito laudatur brevitas integra (…) est vero pulcherrima, cum plura paucis complectitur, quali Sallustii est, „Mithridates corpore ingenti, perinde armatus“. hoc male imitantes sequitur obscuritas.

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III. Obscuritas in der literarischen Kultur der Spätantike

2.2. Die Kunst des erudite intellegere: Obscuritas in spätantiker Schultradition und Bildungskultur Man muss so gut verstehen und besser verstehen als der Schriftsteller. (F. Schleiermacher, Hermeneutik, 56)

Im Jahr 379 trägt der Grammatiker und Rhetor Decimus Magnus Ausonius dem Augustus des Westreichs, Gratian, im kaiserlichen Konsistorium in Trier eine Dankesrede für das ihm verliehene Konsulat vor. Der persönlich anwesende Kaiser ist mit dem Redner seit über einem Jahrzehnt gut bekannt. Wahrscheinlich um 367 wurde der in Bordeaux als Lehrer tätige Ausonius von Valentinian I. nach Trier berufen, um die Erziehung des jugendlichen Prinzen Gratian zu übernehmen. Gratian wurde in der Folge zum Gönner des aus eher bescheidenen Verhältnissen stammenden Ausonius und ermöglichte ihm nach seinem Herrschaftsantritt im Jahr 376 den Zugang zu den höchsten Ämtern. In seiner panegyrisch überhöhten Dankesrede erörtert Ausonius die Gründe seiner Ernennung zum Konsul. Schliesslich könne er weder militärische Verdienste vorweisen noch habe er, von Ehrgeiz getrieben, unter Einsatz eines ja gar nicht vorhandenen Reichtums dieses Amt erstrebt. Allein seine Stellung als Lehrer sei der Grund für diese Ehre, ein in der Geschichte nahezu einzigartiger Fall. Im Kontext dieser Erörterungen finden auch die gemeinsamen Jahre mit dem Kronprinzen in Trier kurze Erwähnung. Unter anderem referiert Ausonius auf die sportlichen Aktivitäten Gratians, im Besonderen sein aussergewöhnliches Talent im Pferdekampf, das bei ihm unvermittelt zum Verständnis bisher nicht verstandener Dichterstellen geführt hatte: Mirabamur poetam, qui infrenos dixerat Numidas [Verg. Aen. 4,41], et alterum, qui ita collegerat ut diceret in equitando verbera et praecepta esse fugae et praecepta sistendi [Nemes. Cyneg. 268]. obscurum hoc nobis legentibus erat; intelleximus te videntes, cum idem arcum intenderes et habenas remitteres aut equum segnius euntem verbere concitares vel eodem verbere intemperantiam coerceres. qui te visi sunt hoc docuisse, non faciunt; immo qui visi sunt docuisse nunc discunt. Wir wunderten uns über den Dichter, der die Numider „zügellos“ genannt hatte, und über den anderen, der zusammenfassend sagte, dass jene beim Reiten mit Schlägen den Befehl zur Flucht und zum Anhalten gäben. Dunkel war uns dies, als wir es lasen. Wir verstanden es, sobald wir sahen, wie du zugleich den Bogen spanntest, die Zügel locker liessest oder das Pferd, wenn es langsamer wurde, mit einem Schlag antriebest oder mit demselben Schlag seinen Übermut bändigtest. Diejenigen, welche dich dies angeblich gelehrt haben, machen es nicht, vielmehr lernen es jetzt die, welche dich darin angeblich unterwiesen haben. (Auson. grat. act. 14,65)

Für den Schüler wie den Lehrer blieb bei der Lektüre der Sinn der beiden Dichterstellen, auf die im Text anspielt wird, im Dunkeln. Die sachliche Unkenntnis der Reitkünste der Numider hatte zur Folge, dass die diesbezüglichen

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knappen Anspielungen der Dichter nicht verstanden wurden. Erst das Sichtbarwerden des Gemeinten, das spontane „Wiedererfinden“ dieser historischen Kampfmethode während der improvisierten Reiterkunststücke des jugendlichen Gratian führte rückwirkend zum eigentlichen Leseverständnis (intelleximus). Die Passage verweist auf die in der antiken Schulpraxis typische Vorgehensweise der enarratio poetarum, die auch in der Spätantike unvermindert gepflegt wurde.134 Im Anschluss an die mit lauter Stimme vorgetragene lectio folgt nach einführenden Bemerkungen über Autor und Werk die Erklärung unverstandener beziehungsweise dunkler Stellen (explanatio obscurorum sensuum quaestionumve: Varro gramm. frg. 236 ed. Funaioli, 266), bei der Wort für Wort, Vers für Vers der Sinn des Gelesenen erhellt und schwer verständliche Passagen meist mittels lexikalischer Erklärungen erläutert wurden.135 Abschliessend wurde das Werk einem sprachlichen und stilistischen Urteil unterzogen (probare).136 Im vorliegenden Fall scheint nun die explanatio infolge mangelhafter Kenntnisse des Lehrers nicht restlos geglückt zu sein. Die unklare Numideranspielungen bei Vergil und Nemesian werden von Ausonius im Nachhinein als obscurus definiert. Diese Bezeichnung entspricht der römischen Schultradition, welche schwer verständliche Stellen literarischer Werke, die korrekt und deutlich vorgetragen sich dem unmittelbaren Verständnis eines fortgeschrittenen, sprachkundigen Schülers entziehen, oft mit dem Adjektiv obscurus oder dem entsprechenden Nominalabstraktum obscuritas bezeichnete.137 Im griechischen Bereich wurden verdunkelnde Verfahrensweisen vorzugweise mit dem Verb αἰνίττεσθαι und entsprechenden Ableitungen bezeichnet.138 Gerade diese Stellen gilt es den Schülern mittels lexikalischer, syntaktischer oder semantischer Hilfestellungen zu erklären. Es kann sich dabei um einzelne Wörter, Wortverbindungen oder ganze Passagen handeln. Wenn sich bei einem Autor solche Stellen häufen oder diese gar die Regel darstellen, kann Obscuritas wie in der Rhetorik auch allgemein eine dominante stilistische Tendenz bezeichnen. 134 Varro gramm. frg. 234 ed. Funaioli, 265 weist der ars grammatica vier Bereiche zu, in denen die Schüler unterrichtet werden sollen: scribere, legere, intellegere, probare. Dasselbe System liegt Mart. Cap. 3,230 zugrunde. Zur ennaratio poetarum vgl. die Zusammenfassung von Kallendorf (1994). Zu den Grundzügen des spätantiken Grammatikunterrichts vgl. u.a. Gemeinhardt (2007) 39–43. 135 Ein schönes Beispiel dieser Vorgehensweise ist etwa Priscians Partitiones duodecim versuum Aeneidos principalium ed. Hertzius. Vgl. auch das Programm, das Servius zu Beginn seines Aeneis-Kommentars entwirft: Serv. in Verg. Aen. praef. 1–3 ed. Rand et al.; Varro gramm. frg. 236 ed. Funaioli, 266 nennt die enarratio an zweiter Stelle der grammaticae officia: grammaticae officia (…) constant in partibus quattuor, lectione enarratione emendatione iudicio. (…) enarratio est obscurorum sensuum quaestionumque explanatio. 136 Gewisse Grammatiker haben sich auf die Literaturkritik spezialisiert, vgl. etwa die Fragmente zu C. Iulius Hyginus ed. Funaioli, 527 ff. 137 Vgl. z.B. Claud. Don. in Verg. Aen. 3,115 ed. Georgii I, 280,6: quod obscurate iam dixit. 138 Damit konnte jede uneigentliche Redeweise gekennzeichnet werden, wie etwa aus der offenen Definition in schol. Arist. ek. 196 A (II): ἂλλα μὲν λέγων, ἂλλα δὲ δηλῶν hervorgeht. Vgl. dazu Nünlist (2009) 233.

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Ausonius benennt keinen expliziten Grund, weshalb die explanatio an der erwähnten Stelle scheiterte. Auf der sprachlich-syntaktischen Ebene dürften ihm aber kaum Probleme entstanden sein: Hinc Gaetulae urbes, genus insuperabile bello, et Numidae infreni cingunt et inhospita Syrtis Auf dieser Seite umgeben dich die Städte der Gaetuler, ein im Krieg unbesiegbares Volk, die zügellosen Numider und die unwirtliche Syrte. (Verg. Aen. 4,40–41) Nam flecti facilis lascivaque colla secutus paret in obsequium lentae moderamine virgae: verbera sunt praecepta fugae, sunt verbera freni. Denn mühelos zu lenken, den losen Nacken folgsam, gehorcht es der Weisung der feinen Peitsche: Schläge geben die Anweisung zur Flucht, Schläge dienen als Zügel. (Nemes. Cyneg. 266–268)

Die erste Stelle entstammt dem Beginn des vierten Buchs der Aeneis, wo Anna ihre Schwester Dido mit Verweis auf die kriegerischen Nachbarvölker zu einer erneuten Heirat ermuntern will. Das Adjektiv infrenus „zügellos“, das noch an einer weiteren Stelle in der Aeneis erscheint (Aen. 10,750: in der Variante infrenis,e) ist möglicherweise eine vergilische Prägung.139 In eigentlicher Bedeutung bezeichnet es die Abwesenheit von frena „Zaumzeug, Zügel“, in metaphorischer Bedeutung eine innere Zügellosigkeit. Dieselbe Ambivalenz liegt auch dem ebenso seltenen, in der Poesie nicht bezeugten Denominativ infrenatus zugrunde, dessen deverbatives Homonym („aufgezäumt“) weitaus häufiger ist.140 Die Junktur Numidae infreni ist zweideutig, da im vorliegenden Kontext dem Epitheton sowohl in wörtlich-prägnanter („auf zügellosen Pferden reitende Numider“) wie in übertragener Bedeutung („wilde, ungezügelte Numider“) durchaus Sinn abgewonnen werden kann.141 Allein das Wissen um die Reittechnik des nordafrikanischen Stamms ermöglicht das Erkennen des Doppelsinns und erlaubt eine Entschlüsselung der gewagten Formulierung in die Richtung, wie sie Vergil vorgeschwebt haben dürfte.142 Es handelt sich also um eine klassische Kommentarstelle, an welcher der mit 139 Vgl. Pease (1935) ad loc. 140 Vgl. ThLL 7,1.2, 1488–1489. 141 Für die wörtlich-prägnante Bedeutung des Synonyms infrenatus „auf ungezäumten Pferden (reitend)“ liegt für die augusteische Zeit eine Parallelstelle vor: Liv. 21,44,1: Quocumque circumtuli oculos, plena omnia video animorum ac roboris, veteranum peditem, generosissimarum gentium equites frenatos infrenatosque (…). 142 Die in der griechischen und lateinischen Literatur durchweg zu konstatierende stereotype Beschreibung der Numider als Reiter ohne Zügel spricht für die Bevorzugung der wörtlich-prägnanten Version, vgl: Liv. 35,11,6–8; Lucan. 4,682–683; Sil. 1,215 (Numidae, gens inscia freni), weitere Stellen zit. bei Paese (1935) ad loc. Gleichwohl ist ein Mitschwingen der übertragenen Bedeutung nicht auszuschliessen, vgl. für letzteres etwa Conington (1884) ad loc.

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entsprechendem Vorwissen ausgestattete Grammatiker den Schülern die Ambiguität des Adjektivs erklären musste – vorausgesetzt, dass er selbst den Doppelsinn erkannte. In den erhaltenen antiken Kommentaren sind die diesbezüglichen Erläuterungen relativ knapp.143 Der auf Aelius Donat zurückgehende Vergilkommentar des Servius, eines Zeitgenossen des Ausonius, nennt zwar die Doppelbedeutung des Adjektivs, jedoch ohne eine Präferenz oder einen erläuternden Hintergrund hinzuzufügen: aut „saevi et feroces“ (…) aut quia equis sine freno utuntur. entweder „unbändig und wild“ (…) oder weil sie ohne Zügel reiten.

INFRENI INFRENI:

(Serv. in Verg. Aen. 4,41 ed. Stocker/Travis, 265)

Noch dürftiger sieht es bei den etwas später entstandenen Interpretationes Vergilianae des Tiberius Donatus aus, der seinem Sohn, an den sich das Werk richtet, lediglich die übertragene Bedeutung vor Augen führt, das semantische Feld des Adjektivs (nach der 3. Deklination) aber zugleich um eine soziale Komponente erweitert:144 Cum dicit infrenis, ostendit indomitos et eos qui nullo iure tenerentur ac suis legibus viverent nec vellent alicuius imperio subiurgari. Wenn Vergil hier „zügellos“ sagt, bedeutet er damit, dass die Numider ungezähmt sind und durch kein höheres Recht eingeschränkt nur nach ihren eigenen Gesetzen leben und sich keiner fremden Herrschaft unterwerfen wollen. (Claud. Don. in Verg. Aen. 4,41 ed. Georgii I, 361,3–5)

Wie Tiberius Donatus scheint auch Julianus, der Erzbischof von Toledo (†690), lediglich die übertragene Bedeutung im Auge gehabt zu haben.145 Es scheint nicht zufällig, dass Ausonius gerade auf diese Stelle anspielt und seine angebliche Unwissenheit hinsichtlich der von Vergil implizierten Reittechnik der Numider zum Kristallisationspunkt der panegyrischen Schilderung der Reitfertigkeiten des jugendlichen Gratian macht. Denn die Ambiguität der vergilischen Junktur erschliesst sich nur dem Fachmann. Indem Ausonius behauptet, der Sinn der Stelle sei ihm unklar gewesen (obscurum), erweist er sich als Grammaticus erster Güte. Denn die Behauptung seiner angeblichen Unkenntnis der Kampfgewohnheiten des nordafrikanischen Volkes ist paradoxerweise nur infolge seiner Vertrautheit mit ebendieser Methode möglich. Andernfalls hätte er die Ambiguität der Stelle überlesen und infrenus als „zügellos, wild“ gedeutet, wie dies Tiberius Donatus getan hat. Die panegyrisch überformte admiratio der Reitkünste des jungen Kaisers entpuppt sich als 143 Einen knappen Überblick der antiken und spätantiken Vergilkommentierung bieten etwa Putnam/Ziolkowski (2008) 626–673. 144 In wieweit die beschriebene Gesetzlosigkeit der Numider bereits bei Servius impliziert war (vgl. saevus), lässt sich nicht entscheiden. Zum Kommentar des Tiberius Donatus allgem. Squillante Saccone (1985). 145 Über die Metapher a quadrupedibus ad homines: ut „et Numidae infreni cingunt inhospita Syrtis“ frena enim non ad homines sed quadrupedes pertinent, zit. nach Funaioli (1930) 427.

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hintergründiges Understatement, das innerhalb der Dankesrede argumentativ auf die Legitimation seiner neuen Stellung hinarbeitet. Die bisherigen Darlegungen haben gezeigt, dass es in erster Linie mehr inhaltlich-sachliche als sprachlich-stilistische Gründe waren, die Ausonius die Aeneis-Stelle als obscurum definieren liessen. Auch Nemesians Formulierung, die im Kontext der Beschreibung einzelner für die Jagd geeigneter Pferderassen steht, bereitet in dieser Hinsicht kaum Probleme. Die Formulierungen erscheinen unklar, weil sie ein bestimmtes Hintergrundwissen voraussetzen, über die ein Rezipient verfügen muss, um den Text in vollem Umfang verstehen zu können. Mangelhafte Kenntnisse der Lebenswelt, in welcher sich der Autor bewegte oder auf welche im Text Bezug genommen wird, können einem zeitgenössischen und in besonderem Mass einem späteren Leser den Sinngehalt verdunkeln.146 Gerade bei poetischen Texten genügte auch einem zeitgenössischen Rezipienten in der Regel die blosse Sprachfertigkeit nicht, um den inhärenten Sinngehalt stets vollständig erfassen zu können. Hier waren weitere Kenntnisse in den Naturwissenschaften, in Metrik, Mythologie und Geschichte gefragt, deren rudimentäre Vermittlung gemäss Quintilian daher bereits im Grammatikunterricht stattfinden sollte.147 Eine durch sachliche Unkenntnis bedingte Obscuritas kann also in den Augen einer positivistisch ausgerichteten Grammatik zumindest teilweise mit entsprechender Ausbildung begegnet werden. Mit zeitlich zunehmendem Abstand zwischen Text und Leser wurden die benötigten Informationen jedoch stets umfangreicher, was sich in der Spätantike quantitativ in immer reicherer Kommentarliteratur niederschlug.148 Die Unkenntnis der res, auf welche die verba referierten, war hier in erster Linie historisch-kulturell bedingt, die daraus entstandene Dunkelheit also sekundär und nicht vom Autor intendiert.149 Im Versuch der pro146 Zeitlicher Abstand als verdunkelndes Moment nennt auch Quint. inst. 8,6,53. Zu Varro vgl. Mehtonen (2003) 38 f. Vgl. auch Dion. Hal. de Thuc. 50–51, der betont, dass die schwer verständliche Sprache im Geschichtswerk des Thukydides nicht die Folge zeitlicher Distanz sei, wie einige dies behaupteten, sondern bewusste Stilisierung des Autors. 147 Vgl. Quint. inst. 1,4,4: Nec poetas legisse satis est: (…) tum neque citra musicen grammatice potest esse perfecta, cum ei de metris rhythmisque dicendum sit, nec si rationem siderum ignoret poetas intellegat, qui, ut alia mittam, totiens ortu occasuque signorum in declarandis temporibus utuntur (…). Abgesehen von der Vermittlung von Grundlagenwissen, das für das Textverständnis notwendig war, war die Schule aber eindeutig literarisch ausgerichtet, vgl. etwa Eigler (2003) 257. So rühmt etwa Ausonius die Grammatiker Crispus und Urbicus für ihre Kenntnisse in Dichtung, Mythologie und Historie: Auson. prof. 21,25–26 ed. Green: Ambo loqui faciles, ambo omnia carmina docti, / callentes μύθους, πλάσματα et historiam (…). 148 Gleichwohl war es nicht immer möglich, das notwendige Sachwissen zu rekonstruieren, vgl. zu den aus heutiger Sicht mangelhaften Geschichtskenntnissen des Servius etwa Zetzel (1984). 149 Zu diesem Phänomen mit Blick auf die moderne Lyrik: Press (1958) 49: „The mere lapse of time may obscure the meaning of a passage which can have presented no difficulties to the original readers.“

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fessionellen Interpreten, die zeitlich bedingte Unverständlichkeit eines Textes zu klären und jenen gleichsam „aus seiner historischen Entrücktheit hereinzuholen in die Gegenwart“, liegt letztlich der Ausgangspunkt antiker wie moderner Hermeneutik.150 Ein gewisses Mass an antiker Realienkunde konnte ein spätantiker Autor bei seinem Publikum gleichwohl voraussetzen.151 Der in den spätantiken Schulen gelesene Kanon literarischer Werke hatte sich seit der frühen Kaiserzeit kaum verändert. Seit vier Jahrhunderten erlernten die Schüler die Regeln der lateinischen Sprache und Stilistik anhand jener Autoren, die Quintilian als Garanten der Sprachrichtigkeit (Latinitas) kanonisiert hatte.152 Das dadurch vermittelte implizite Wissen erleichterte die Sinnfindung und den Interpretationsprozess bei der Lektüre von Texten, die an dieser Literatur orientiert waren. Doch selbst wenn die res prinzipiell bekannt waren, konnte es auf der Ebene der verba zu historisch bedingter Obscuritas kommen, dann nämlich, wenn aufgrund eines erheblichen Abstandes zwischen Produktion und Rezeption bestimmte lexikalische, phonetische oder morphosyntaktische Sprachzustände von späteren Rezipienten nicht mehr aktualisiert und verstanden werden konnten.153 Hierzu zählt etwa die Unkenntnis bestimmter sprachlicher Register und Varietäten, die zur Entstehungszeit des Textes zum usus loquendi gehörten, später aber ausser Gebrauch gekommen sind.154 Auch hier handelt es sich also um eine sekundäre Verfremdung, die vom Autor in dieser Weise nicht beabsichtigt war.155 Historisch bedingte sprachliche Obscuritas ist keineswegs ein Phänomen der Spätantike. Die Grammatiker haben sich seit je her darum bemüht, durch Spezialabhandlungen und glossematische Listen dem Phänomen des fortschreitenden Sprachwandels Rechnung zu tragen.156 Der berühmte augustei150 Szondi (1978) 106. 151 So wendet sich Nemesian mit seinem Lehrgedicht über die Jagd an einen Leser, der aufgrund seiner Ausbildung fähig ist, Leerstellen zu ergänzen und Auslassungen mitzudenken. 152 Das Fehlen eines derartigen kohärenten Bildungshintergrunds, der Produzent und Rezipient verbindet, wird als Ursache der Dunkelheit moderner Lyrik angesehen, vgl. die ausführlichen Literaturhinweise bei Ziolkowski (1996b) 135 mit Anm. 96. In Antike und Mittelalter, wo innerhalb der Bildungselite diese Kohärenz bestand, war die in diesen Kreisen gepflegte Kommunikationskultur für Nicht-Eingeweihte natürlich umso undurchdringlicher. 153 Hierher gehören z. B. Bedeutungswandel, wie sie Varro u. a. am Beispiel von hostis exemplifiziert: Varro ling. 5,2–5. Vgl. dazu Mehtonen (2003) 38. 154 Servius bemüht sich etwa um die Erklärung eines Sonderwortschatzes (u. a. Seefahrt, Militärwesen). Vgl. dazu Uhl (1998) 361 f. 155 Dazu allgem. Lausberg (1960) § 1240. Eine sekundäre Verwendung kann durch aktive Imitation zu einer primären Verfremdung werden. So etwa bei den in homerischer Sprache dichtenden hellenistischen Dichtern. Vgl. zu diesem Problem auch Hor. epist. 2,1. 156 Den Worterklärungen (enodatio verborum) ist neben grammatischen und sachlichen Erläuterungen sowie Darlegungen, die sich auf den sprachlichen Ausdruck beziehen, der Grossteil der Interpretamente lateinischsprachiger Kommentatoren und Grammatiker gewidmet. Auch für antike Fachschriftsteller wurden aus sprachlichen Gründen in

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sche Grammatiker M. Verrius Flaccus hat nach dem Zeugnis des Aulus Gellius eine heute verlorene Monographie über „Sprachliche Schwierigkeiten bei Cato“ (De obscuris Catonis) verfasst, die offenbar der Erklärung nicht mehr gebräuchlicher technischer Begriffe sowie individueller Spracheigentümlichkeiten des älteren Cato diente.157 Die Erläuterung der verba vetera blieb bis in die Spätantike und darüberhinaus ein ebenso notwendiges wie beliebtes Wirkungsfeld gelehrter Fachschriftstellerei.158 Paradoxerweise wurde durch diese glossematische Praxis, die der Texterschliessung diente, die Grundlagen für die Verdunkelungsbemühungen jener spätantiken und mittelalterlichen Autoren geschaffen, die anhand dieser Listen jene nur schwer verständliche Kunstsprache erschufen, wie sie etwa die Praefatio der Anthologia Latina darstellt.159 Die Kommentierung und linguistische Erklärung älterer Literaturwerke war indes nur ein Teilbereich der Tätigkeiten der philologischen Fachgelehrten und Grammatiker.160 Auch zu jüngeren und zeitgenössischen Autoren wurden Schülern und interessierten Laien in entsprechenden commentarii Hilfestellungen zur Texterschliessung geboten.161 Die Kommentarbedürftigkeit variierte auch hier je nach Textsorte und Autor. Während die Interpretation der verba vetera in diesen Schriften ins Abseits rückte, traten andere Abweichungen vom zeitgenössischen Sprachstandart in den Vordergrund. Die überwiegende Mehrzahl lateinischer Kommentare wurde zu poetischen Wer-

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der Spätantike Kommentare erstellt, vgl. etwa die Praefatio des Commentum de agrorum qualitate des Pseudo-Agennius Urbicus, ed. Thulin, 51,7–10: Suscepimus qualitates agrorum (…) plano sermone et lucido exponendas et volumus [ut] ea quae a veteribus obscuro sermone conscripta sunt apertius et intellegibilibus exponere (…). Vgl. Gell. 17,6 (= frg. 2 ed. Funaioli, 511) zu recepticius servus und Gell. 16,14 (= frg. 24 ed. Funaioli, 520) zur Verwendungsweise von festinare und properare. Bereits gegen Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. verfasste Aelius Stilo seine Explanationes zum carmen Saliare, in denen die linguistische Klärung des uralten, den Zeitgenossen nicht mehr verständlichen Vokabulars im Vordergrund stand: frg. 1–3 ed. Funaioli, 57– 58. Auch die libri Musarum des etwa zeitgleich als grammaticus tätigen Aurelius Opillius scheinen vorwiegend aus Worterklärungen älterer poetischer und prosaischer Literaturwerke bestanden zu haben (frg. 1–25 ed. Funaioli, 87–93). Wenige Generationen später schrieb der Antiquar Lucius Cincius eine Spezialabhandlung über „Altertümliche Worte“ (verba prisca: frg. 1–4 ed. Funaioli, 372–373). Doch dürften sich die umfassendsten Ausführungen dieser Art in dem aus 25 Büchern bestehenden Handbuchs eines Zeitgenossen des Cincius befunden haben, in den Libri de lingua Latina des Universalgelehrten M. Terentius Varro. Goetz (1896) hat hierfür den Begriff der „Glossematischen Latinität“ geprägt, vgl. Diom. 430,1. Zu diesem Phänomen auch Ziolkowski (1996b) 109–124. Gängige Bezeichnungen waren litterati, litteratores (vgl. Suet. gramm. 4) oder philologi: Asinius Pollio berichtet nach dem Zeugnis des Sueton (Suet. gramm. 10), dass der Grammatiker und Rhetor L. Ateius sich nach dem Vorbild des Eratosthenes aufgrund seiner vielfältigen Gelehrsamkeit selbst den Beinamen philologus gegeben habe. Vorwiegend natürlich zu Schulautoren, besonders zu epischen und dramatischen Dichtern. Zur Lektüre der Satiren des Lucilius durch befreundete Grammatiker: Suet. gramm. 2. Zum Begriff commentarius im Sinne einer Sammlung erklärend-exegetischer Notizen über ein literarisches Werk vgl. Kaster (1995) 101, 108.

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ken verfasst, also zu Texten, für welche von der antiken Literaturtheorie ein Mindestmass an sprachlichen Abweichungen vom Gewöhnlichen und Deutlichen auch explizit gefordert wurde. Besonderer Aufmerksamkeit bedurften diejenigen Dichter, die sich – in Anlehnung an die hellenistische Konzeption des poeta doctus – durch einen dunklen Sprachstil auszeichneten, ihre Texte also mittels unterschiedlicher sprachlicher und stilistischer Techniken dem unmittelbaren Verständnis des Publikums zu entziehen suchten. Im Gegensatz zur Rhetorik stand die Grammatik dieser spezifischen literarischen Strategie durchaus positiv gegenüber. Die Obscuritas solcher Texte wird von den Kommentatoren nämlich wirkungsästhetisch gedeutet: Die Verrätselung des Textsinns stellt den Rezipienten bewusst vor ein intellektuelles Problem, das ihn zur Auflösung der gelehrten Anspielungen auffordert.162 Die gesuchte Gelehrsamkeit von Cinnas Zmyrna veranlasste bald nach dessen Tod den Grammatiker L. Crassicius Pansa zur Abfassung eines philologischen Kommentars, der ihm grosse Berühmtheit und zahlreiche vornehme Schüler einbrachte.163 Etwa zur selben Zeit hat der Grammatiker und Vergilkommentator Iulius Hyginus ein anderes Kleingedicht Cinnas, das Propempticon Pollionis, kommentiert.164 Da die Auslegung schwer verständlicher Stellen prinzipiell zu den Hauptaufgaben eines Grammaticus gehörte, war ein von gelehrter Obscuritas geprägter Text verständlicherweise ein dankbares Wirkungsfeld für vielfältige exegetische Bemühungen, an denen man die eigenen Fähigkeiten demonstrativ zur Schau stellen konnte. Wie der berufliche Erfolg des L. Crassicius verdeutlicht, waren dunkle Texte gleichsam der Prüfstein eines jeden Grammatikers. Auch Statius rühmte seinen Vater, weil er neben Kallimachos auch den verborgenen Sinn des dunklen Lycophron, die gedanklichen Verwicklungen des Sophron und die Geheimnisse der Corinna zu erklären vermochte; eine Qualität, die im 12. Jahrhundert der Epitaph des Thierry von Chartres (†1149) wieder bewusst ins Zentrum stellte.165 Methodisch wirkungsmächtig war in diesem Zusammenhang die weit über die Antike hinaus beliebte Exegesetechnik der Allegorese. Dieses hermeneutische Modell, das in religiösen und poetischen Texten einen hinter dem Literalsinn verborgenen, bildhaft verschlüsselten Hintersinn (ὐπόνοια) 162 Zur Tendenz der Grammatiker, die von ihnen behandelten Literaturwerke wirkungsästhetisch zu deuten, vgl. allgem. Nünlist (2009) 135–156. 163 Suet. gramm. 18. Sueton überliefert hier auch das Spottgedicht, das ein anonymer Dichter über die einzigartige „Beziehung“ zwischen Crassicius und der Zmyrna verfasst hat: Uni Crassicio se credere Zmyrna probavit: / desinite, indocti, coniugio hanc petere. / soli Crassicio se dixit nubere velle, / intima cui soli nota sua extiterint. Vgl. dazu die Interpretation von Beck (2006). 164 Hyg. frg. 1–2 ed. Funaioli, 527. 165 Stat. silv. 5,3,156–158: (…) tu pandere docti / carmina Battiadae latebrasque Lycophronis atri / Sophronaque implicitum tenuisque arcana Corinnae. Der Epitaph Thierry von Chartres zit. nach Ziolkowski (1996) 136: Omnis ei patuit sermo perplexus et anceps / nec fuit ad quevis abdita sensus hebes. (…) quod Plato, quod Socrates clausere sub integumentis / hic reserans docuit disseruitque palam.

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präsupponiert, blickt auf eine lange Tradition zurück.166 Seit dem späten 6. Jahrhundert v. Chr. wurde Homer sukzessive einer allegorischen Interpretation unterzogen, sodass bereits zu Platons Zeiten Ilias und Odyssee vollständig allegorisiert waren. Je nach Standpunkt des Interpreten war dabei eine ethische, naturwissenschaftliche oder anthropologische Deutungsweise dominierend. In der lateinischen Spätantike war in dieser Hinsicht besonders Vergil, der eminentissimus vates (Amm. 31,4,6), von Bedeutung. Seine Dichtungen waren trotz kritischer Stimmen ein beliebtes Wirkungsfeld der Allegorese heidnischer Schulkommentatoren und der von ihnen beeinflussten christlichen Exegese.167 Selbst wenn nun kaum davon ausgegangen werden darf, dass derart dunkle Texte wie die Zmyrna des Helvius Cinna im Schulbetrieb aktive Verwendung fanden,168 wirkten sich die exegetischen Methoden, welche die Grammatiker auf Schulautoren wie Ennius und Vergil anwandten, prägend auf die Schüler aus. Die während der enarrationes ihrer Lehrer verinnerlichte Überzeugung, dass poetische Texte naturgemäss allegorische Verrätselungen aufweisen und einen tieferen Sinngehalt bergen, hatte entscheidende Konsequenzen für die eigene Rezeption und Produktion literarischer Texte. Wie in einem Vexierbild suchte man in den Texten nach verborgenem Gedankengut und verfasste selbst Werke, die diesem Anspruch gerecht zu werden versuchten. Die allegorische Umrahmung von Martianus Capellas Lehrbuch De nuptiis Philologiae cum Mercurio ist beredter Ausdruck dieses Bestrebens. Die Faszination, die von der Suche nach Anspielungen und versteckten Inhalten in literarischen Texten ausging, blieb in der Folge nicht auf die Berufsgruppe der grammatici beschränkt. Durch den Einfluss der Schule wurden vermehrt auch gelehrte Laien von einer akademischen curiositas erfasst, die für das kaiserzeitliche und spätantike Kulturleben insgesamt als prägend angesehen werden kann.169 Spätestens seit dem Hellenismus gehörte die explanatio obscurorum sensuum quaestionumve zu den Freizeitbeschäftigungen einer an literarischen Fragen interessierten Elite. Ihren festen Platz hatten philologisch-literarische und rhetorische Fragen in besonderem Masse innerhalb jener Ausprägung aristokratischer Diskussionskultur, wie sie vorwiegend an Symposien gepflegt wurde. Neben typischen sympotischen Themen hat man in Griechenland in gelehrter Runde gerne Rätsel (γρίφοι) und wissenschaftliche Probleme (ζητέματα) erörtert. Die Römer sind diesem Brauch 166 Vgl. zum Folgenden die Zusammenfassungen von Pfeiffer (1970) 55 ff.; Pépin (1976) 85 ff.; Freytag (1992) 332–341. 167 Vgl. zu Servius Jones (1960–1961). Eine christlichen Exegese Vergils betrieb etwa Fulgentius in seiner Expositio Virgilianae continentiae. Zur christlichen Mythenallegorese umfassend Pépin (1976) 260–474. 168 Kaster (1995) 200. 169 Vgl. Marrou (1995) 130 f. Der spätantiken curiositas aus der christlich-philosophischen Perspektive des Augustinus hat unlängst Torchia (2013) eine eingehende Untersuchung gewidmet.

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gefolgt. In der Kaiserzeit berichten Autoren wie Athenaios von Naukratis, Plutarch und Gellius über Unterhaltungen grammatisch-philologischer Art,170 während in der Spätantike neben Macrobius’ Saturnalia auch die Carmina XII sapientium die Fortdauer dieser Tradition bezeugen.171 Die solchem Zeitvertreib inhärente curiositas bildet als anthropologische Konstante das sinngebende Gegenstück zur Obscuritas. Ein anschauliches Bild dieser gelehrten Neugier spätantiker Aristokraten liefert Macrobius’ Saturnalien. Der prägende Einfluss der Schule ist hier offenkundig. Auf eine kritische Äusserung des Evangelus über Vergil weist Symmachus seinen Gesprächspartner, dem im Dialog die Rolle des advocatus diaboli zukommt, in pathetisch-ernstem Ton auf die der Dichtkunst Vergils inhärente gedankliche und stoffliche Tiefe hin: Vergil sei mehr als nur Schullektüre für Knaben, auch wenn viele Grammatiker sich auf die verborum explanatio beschränkten und den stofflichen Reichtum (copia rerum) indes nur streiften:172 Sed nos, quos crassa Minerva dedecet, non patiamur abstrusa esse adyta sacri poematis, sed arcanorum sensuum investigato aditu doctorum cultu celebranda praebeamus reclusa penetralia. Doch wollen wir, denen ein dumpfer Verstand nicht ansteht, es nicht dulden, dass das Allerheiligste dieses geweihten Gedichts im Verborgenen bleibt. Vielmehr wollen wir dessen verschlossenes Innerstes, nachdem wir den Zugang zu den geheimen Bedeutungen freigelegt haben, der Verehrung durch die Gelehrten öffnen. (Macr. Sat. 1,24,13)

Die verborgene Substanz des Gedichts wird zum exklusiven Schrein, den es für die Gemeinschaft der Gebildeten freizulegen gilt. Berechtigung erhält dieser hochtrabende exegetische Anspruch vom Dichter selbst, denn Vergil habe in einem Brief an Augustus die Gewichtigkeit der Aeneis seinem Patron gestanden.173 Die Allegorese, ursprünglich Ausdruck spielerisch-geschickter Rezeptionsleistung, wird hier zum gesicherten Erkenntnisweg. Die in der Schule vermittelte und in den Köpfen der Gebildeten eingesenkte Gewissheit, in jedem Detail, in jeder Formulierung Vergils eine tiefere Bedeutung nicht nur entdecken zu können, sondern dies auch zu müssen, findet hier ihre Legitimation und Bestätigung.174 Innerer Antrieb dieser investigativen Beharrlichkeit war nicht zuletzt der Wunsch nach Bestätigung der eigenen Bildung. In der Frei170 Athen. 3,96F-104; Plut. quaest. conv; Gell. 18,2,6. 171 Vgl. Friedrich (2002) bes. 418–448. 172 Vgl. dazu Kaster (1980) 252 f. Eine ähnliche Beschränkung der Grammatik betont auch Fulgentius in seiner Expositio Virgilianae continentiae secundum philosophos moralis ed. Helm, 85–86 gegenüber dem aus der Unterwelt herbeigerufenen Vergil: Nam non illa in tuis operibus quaerimus, in quibus aut Pitagoras modulos aut Eraclitus ignes aut Plato ideas (…) inversat, nec illa quae aut Dardanus in dinameris aut Batiades in paredris (…) cecinerunt, sed tantum illa quaerimus levia, quae mensualibus stipendiis grammatici distrahunt puerilibus auscultantis (…). 173 Vgl. dazu die Interpretation von Sinclair (1982). 174 Macr. Sat. 1,24,12–13. Diese Ansicht ist nicht neu. Schon Homer galt dem griechischen

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legung der reclusa penetralia fällt vom Licht Vergils auch Glanz auf den kundigen Interpreten. Dieser partizipiert gleichsam an der Gelehrsamkeit Vergils, wird selbst in gewisser Weise zum Universalgelehrten. Als Disziplin hatte die Grammatik dadurch endgültig die Grenzen ihres eigentlichen Wirkungsgebiets transgrediert. Gegen diesen Pansophismus der Grammatik wurden nicht nur von Seiten der Philosophie kritische Stimmen laut.175 Die Vorstellung von Vergils Allwissen176 in Poesie und Rhetorik, in römischem Recht, griechischer Philosophie und Mythologie wird für die spätantiken Interpreten zur Prämisse ihrer lectio und zum Leitfaden ihrer Exegese. Als vielleicht prägnantestes Beispiel mag hier Fabius Fulgentius angeführt werden, der neben den Werken Vergils auch Statius’ Thebais durchgängig allegorisch interpretierte und ethisch ausdeutete: Poetarum investigabilem prudentiam ingeniique eorum venam inmarcescibilem non sine grandi ammiratione retracto, qui sub blanditorio poeticae fictionis tegumento moralium seriem institutionum utiliter inseruerunt. Mit grosser Bewunderung lege ich die unerforschliche Klugheit und die unversiegliche Quelle der Weisheit jener Dichter dar, die [ihren Gedichten] unter dem reizvollen Deckmantel poetischer Imagination in nützlicher Weise moralisch Erbauliches eingefügt haben. (Fulg. in Stat. Theb. ed. Helm, 180,3–6)

Wie Symmachus bei Macrobius sieht auch Fulgentius die primäre Aufgabe eines Kommentars in der Offenlegung verdeckter Sinngehalte. Der im poetischen Kleid verborgene Kern ist für den Kenner erfahr- und ergründbar; wie bei einer Nuss, mit der ein Knabe spielt, liegt unter der Schale des Literalsinns der sensus misticus, den der sapiens et adultus durch Zerschlagen der Schale zu geniessen vermag.177 Die eigentliche Kunst des Dichtens liegt somit in der doppelten Strukturierung des Stoffs begründet: Jedes historische Konstitut hat ein moralisches Analogon. So entspricht für Fulgentius der Name der Protagonisten in der Thebais jeweils einer moralischen Kategorie, die vom kundigen Interpreten durch etymologische Analyse aufgeschlüsselt werden kann.178

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Grammatiker Krates von Mollos als ein mit übersinnlichen Kräften ausgestatteter Weiser, vgl. Müller (1924) 18. So schon Cic. Tusc. 3,2,3: Accedunt etiam poetae, qui cum magnam speciem doctrinae sapientiaeque prae se tulerunt, audiuntur, leguntur, ediscuntur et inhaerescent penitus in mentibus. Der der Skepsis verpflichtete Sextus Empiricus wandte sich vehement gegen die angebliche Allwissenheit der Grammatiker, vgl. dazu Mehtonen (2003) 41–47. Vgl. Wlosok (1990); den Boeft (1998) und auch Ziolkowski (2008) 463–468. Fulg. in Stat. Theb. ed. Helm, 180,12–181,1: Quam ob rem, si parva licet componere magnis, non incommune carmina poetarum nuci comparabilia videntur; in nuce enim duo sunt, testa et nucleus, sic in carminibus poeticis duo, sensus litteralis et misticus (…). diligit puer nucem integram ad ludum, sapiens autem et adultus frangit ad gustum (…). Fulg. in Stat. Theb. ed. Helm, 182,21–23: Nascitur enim Edippus id est lascivia. hoc nomen Edippus sumptum est ab edo, quod animal valde lascivum est usw.

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Das angestrengte erudite intellegere liess die gelehrten spätantiken Interpreten bisweilen über ihr Ziel hinausschiessen. So berichtet Ausonius spöttisch von einem Kollegen, der wegen seiner Vorliebe für antiquarische Besonderheiten die eigentliche prompta studia vernachlässigte und dadurch gar nicht erst zu Cicero und Vergil vordringen konnte.179 Auch aus moderner Perspektive geriet die von philologischer Neugier angetriebene Exegese der mutmasslichen adyta sacri poematis nicht selten zu einem intellektuellen Leerlauf, wobei man sich in belanglosen und kuriosen Detailfragen verzettelte.180 Die obigen Darlegungen haben gezeigt, dass der spätantike Schulbetrieb und die Grammatik dem Phänomen sprachlicher Obscuritas durchaus positiv gegenüber standen. Die affirmative Wertschätzung sprachlicher Verdunkelungen hatte nicht unerhebliche Konsequenzen für die Bildungskultur der Zeit. Die positive Rezeptionshaltung stand zwar im offenkundigen Widerspruch zur rhetorischen Theorie, deren Vorgaben die Grammatik als recte loquendi scientia (Quint. inst. 1,4,2) ja traditionell in ihre Textanalyse miteinbezog.181 Dieser Gegensatz in der Beurteilung von Obscuritas führte aber nur scheinbar zu einem Auseinanderdriften von Textanalyse (mit einem positiven Obscuritas-Begriff) und Textkonstitution (mit einem negativen Obscuritas-Begriff). Vielmehr hatte die positive Rezeptionshaltung entscheidende Einwirkungen auf die Textproduktion.182 Spätantike Dichter bemühten sich mit Blick auf die präsupponierte Leseerwartung ihres gelehrten Publikums und in der Nachfolge Vergils und Homers nicht selten um einen sensus misticus, um eine allegorische Tiefenebene in ihren Werken. Allegorisches Schreiben stellte damit eine kunstvolle Form der Textkodierung dar, die den gelehrten Leser implizit zur kunstgerechten Dekodierung aufforderte. Diesen literarischen Anspruch, der im christlichen Bereich durch die Allegorese der Bibel zusätzlich befördert wurde, gab die Spätantike an das Mittelalter und die frühe Neuzeit weiter.183 Auch in der Prosa beförderte der aus 179 Auson. prof. 22 ed. Green. Vgl. Suet. gramm. 24: über einen Grammatiker, der sich nur mit alter Literatur beschäftigte, kaum Schüler hatte und dafür zahlreiche observationes sermonis antiqui publizierte. 180 Vgl. z.B. die Urteile von Williams (1966–1967) 50: „an interest in learning for its own sake (…) at a time when pedantry was unusually pervasive“ und Marrou (1995) 131: „Das Wissen von den geringsten Fakten wird zu einem Zweck an sich“. Damit einher ging eine merkwürdige Vorliebe für mirabilia und spekulative quaestiones, wie die berühmte Frage nach dem Huhn und dem Ei oder – in christlichem Kontext – ob Adam und Eva als Erwachsene erschaffen worden seien oder nicht, vgl. Macr. Sat. 7,16 (basierend auf Plut. mor. 635E–638A); Aug. gen. ad litt. 6,13. Zu den Vorliebe für mirabilia bei Ammianus Marcellinus vgl. etwa Marrou (1995) 514. 181 Vgl. Pollmann (1996) 215 mit weiteren Literaturangaben. 182 Schon Quintilian kritisierte einen Grammaticus, der seine Schüler zu einem literarischen Verdunklungsstreben angehalten hatte: Quint. inst. 8,2,18: qui discipulos obscurare quae dicerent iuberet, Graeco verbo utens σκότισον. unde illa scilicet egregia laudatio: „tanto melior: ne ego quidem intellexi“. 183 Noch Dante betonte explizit den Doppelsinn (allegorisch-literal) seiner Divina Comedia: Dante epist. 13,7, vgl. Freytag (1992) 349 f.

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der (poetischen) Textanalyse gewonnene positive Obscuritas-Begriff ein literarisches Verdunkelungsstreben, das die spätantike Mystifizierung der Sprache in gleicher Weise begünstigte wie fortführte. Die christliche Bibelauslegung ging bei der Beurteilung dunkler Sprache ähnliche Wege wie die spätantike Grammatik, aus der sie wesentliche Impulse erfahren hatte.

2.3. Augustinus und die christliche Perspektive Darum rede ich zu ihnen durch Gleichnisse. Denn mit sehenden Augen sehen sie nicht, und mit hörenden Ohren hören sie nicht; denn sie verstehen es nicht. (Mt. 13,13)

Im antiken Christentum wurde – wie in religiösen Kontexten traditionell – ein positiver Begriff von dunklem und verborgenem Sinn gepflegt. Dies lag nicht zuletzt in den zeitspezifischen Vorstellungen der Bibel begründet: Hinter dem Literalsinn des göttlichen Wortes wurden weitere, mystische Sinndimensionen vermutet, die der unmittelbaren Erkenntnis der Menschen ganz oder teilweise entzogen sind.184 Die Bibel selbst weist zahlreiche Stellen auf, in denen innerhalb des Textes der wesenseigene Rätselcharakter selbstreferenziell reflektiert wird.185 In Kaiserzeit und Spätantike bot dies in gelehrten christlichen Kreisen Anlass für akribische Exegesebemühungen, in denen man die Geheimnisse der Bibel zu ergründen und seinen Mitmenschen zu erläutern suchte.186 Herangehensweise und Arbeitsmethodik spätantikchristlicher Exegetik unterschieden sich bezeichnenderweise kaum von der,

184 Diese Auffassung rückt die Bibel in die Nähe der heidnischen Orakel, deren auf göttliche Inspiration zurückgeführte Dunkelheit ebenfalls eines Interpreten bedurfte. Bereits Cicero hat die Arbeit der Wahrsager mit jener der Philologen verglichen, vgl. Cic. div. 1,18,34: Quorum omnium (sc. sortium) interpretes, ut grammatici poetarum, proxime ad eorum, quos interpretantur, divinationem videntur accedere. Dem hellenistischen Judentum galten ganze Teile der Bibel als „Orakel“, vgl. Pépin (1988) 748. Gemäss Isid. sent. ed. Migne 83, 576C–577A würde die Bibel an Wert einbüssen, wenn in ihr alles offensichtlich wäre: Ideo in libris sanctis quaedam obscura, quaedam aperta reperiuntur, ut intellectus lectoris et studium augeatur. nam si cuncta paterent, statim intellecta vilescerent. 185 Vgl. die Stellen bei Harl (1982) 337–339: u. a. Prv. 1,6; Mt. 13,34: Haec omnia locutus est Iesus in parabolis ad turbas; 1 Cor. 13,12: videmus nunc per speculum in aenigmate. 186 Wie bei den Grammatikern konnte man dadurch bei den Zeitgenossen und der Nachwelt Ruhm erlangen, vgl. z.B. Cassiod. inst. 1,18, wo lobend hervorgehoben wird, dass Hilarius von Poitier neben anderen doctissimi viri sich durch die Erhellung schwieriger Passagen der Bibel verdient gemacht habe: Inter quos sanctus Hilarius Pictaviensis episcopus incedit, altasque divinarum Scripturarum abyssus in medium reverenter adducens, facit praestante Deo illuminata mente conspici, quae prius parabolis velabantur obscuris. Wesentliches Merkmal des Gelehrtenkatalogs ist hier die Auslegung und Erklärung (expositio) der biblischen Schriften als die vornehmliche Aufgabe eines Kirchenführers.

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die in der traditionellen Schulgrammatik vermittelt wurde.187 Im zweiten und dritten Buch seiner Schrift De doctrina christiana, in der in Auseinandersetzung mit Cicero die Umrisse eines christlichen Bildungsprogramms skizziert wird,188 entwirft Augustinus die Leitfäden einer christlichen Bibelhermeneutik. Es ging ihm um den modus inveniendi quae intellegenda sunt (doctr. christ. 1,1,1), um die Methoden der Sinnauffindung und Sinnauslegung.189 Wie beim Grammaticus besteht für Augustinus der erste Schritt in der grundlegenden Texterfassung, der lectio, die mit der Sprache der Bibel vertraut machen und elementare praecepta vivendi vel regulae credendi vermitteln soll. In einem weiteren Schritt werden jene Stellen aufgelöst, die bei der ersten Lektüre dunkel geblieben sind.190 Die Gründe für die entstehenden Schwierigkeiten der lectio demonstriert Augustinus seinen Lesern anhand einer kurzen Typologie biblischer Obscuritas: Duabus autem causis non intelleguntur, quae scripta sunt, si aut ignotis aut ambiguis signis obteguntur. sunt autem signa vel propria vel translata. Aus zwei Gründen aber kann nicht verstanden werden, was geschrieben wurde: nämlich wenn das Geschriebene entweder mittels unbekannter oder mittels zweideutiger Zeichen verhüllt ist. Es gibt aber eigentliche und übertragene Zeichen. (Aug. doctr. christ. 2,10,15)

Augustinus differenziert in doppelter Weise: zwischen unbekannten und mehrdeutigen Stellen sowie zwischen wörtlichem und übertragenem Sinn.191 In kurzen Zügen legt er im folgenden dar, dass die durch Unkenntnis der signa propria hervorgerufene partielle Obscuritas der Bibel in erster Linie historisch-kulturellen Ursprungs ist. Mangelhafte Sach- oder Sprachkenntnisse des Rezipienten stehen der Sinnerschliessung im Wege. Hier können gemäss Augustinus vertiefte Kenntnisse des Lateinischen sowie des Griechischen und Hebräischen Abhilfe schaffen. Zugleich dienten Sprachkenntnisse als wichtige Kontrollinstanz der verwendeten Übersetzungen, da durch sie Übersetzungsfehler emendiert und Solözismen erkannt würden. Viele Übersetzer verwendeten nämlich, so Augustinus weiter, ein Latein, das dem usus Latinae linguae widerspreche, sei es, weil sie nicht über die entsprechenden Fähigkeiten verfügten, sei es, weil sie den Text allzu ursprachenorientiert übertrügen. Gerade zweideutige Stellen in der griechischen Vorlage seien

187 Dazu umfassend Marrou (1995) bes. 349–420. Vgl. auch Schäublin (1992). 188 Vgl. Prestel (1992). 189 Auf die Bibel angewandt verwischen sich die Unterschiede zwischen Hermeneutik und Exegetik, vgl. Pépin (1988) 752. 190 Aug. doctr. christ. 2,9,14. Dies entspricht einem gängigen Vorgehen der Bibel-Kommentatoren, vgl. z.B. Hier. in Zacch. 2,6,8: Ab obscuris ad obscura transimus, et cum Moyse ingredimur in nubem et caliginem; Hier. in Zacch. 2,8,22: manifesta transcurrimus ut in obscurioribus immoremur. 191 In dieser Systematik ist ambiguitas also der Obscuritas untergeordnet. Vgl. Aug. doctr. christ. 3,1,1: sciat ambiguitatem scripturae aut in verbis propriis aut in translatis. Zu dieser vierfachen Systematik vgl. Pollmann (1996) 180–183.

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häufig Fallstricke für manchen lateinischen Übersetzer.192 Augustinus empfiehlt daher die Kollationierung verschiedener Handschriften und Übersetzungen, aus denen seiner Meinung nach die Itala herausrage, da sie textnah und zugleich verständlich sei.193 Auch bei der Deutung unbekannter signa translata sind Sprach- und Sachkenntnisse unabdingbar. Erst durch die Übersetzung von Eigennamen und Orten, wie Adam oder Jericho, sei nämlich an diesen Stellen die figürliche Redeweise der Bibel erkennbar.194 Ebenso verleihe die Unkenntnis bestimmter Steine, Pflanzen oder Tiere sowie der Mathematik und Musiklehre dem Text eine Rätselhaftigkeit, die mit entsprechendem Wissen leicht gelöst werden könne.195 In einem langen Exkurs geht Augustinus anschliessend auf die diesbezügliche Bedeutung der paganen artes liberales für das Studium der Bibel ein.196 Den signa ambigua in eigentlicher und übertragener Bedeutung ist das dritte Buch der De doctrina christiana gewidmet. Fehler des Interpreten bei Interpunktion, Aussprache oder grammatikalischer Analyse erzeugten Unklarheiten in der locutio propria.197 Diese könnten aber in der Regel ohne Mühe aus dem Kontext oder unter Beiziehung des Originaltextes erschlossen werden.198 Unabhängig von dieser in erster Linie dem mangelhaften Verständnishorizont des Rezipienten anzulastenden Obscuritas blieb die Bibel auch in den Augen ihrer gebildeten Leser an vielen Stellen rätselhaft und undurchdringlich. Als entsprechend anspruchsvoll beurteilt Augustinus die Entschlüsselung biblischer ambiguitates in übertragener Rede.199 Am Ende seiner Ausführungen, die in einer Reflexion über verdunkelnde Tropen münden (aenigma, parabola, ironia),200 wird die hermeneutische Methode des Tyconius vorgestellt. Dieser habe in seinem Liber regularum sieben Regeln präsentiert, „mit denen wie mit Schlüsseln die Geheimnisse der Bibel geöffnet werden 192 Aug. doctr. christ. 2,11,16–15,22. 193 Aug. doctr. christ. 2,15,22. Augustinus bezieht sich hier auf die Vetus Latina-Übersetzungen. Der Terminus Itala bezeichnet die Textform, die Augustinus in Italien kennenlernte, vgl. Schulz-Flügel (1998) 1491. 194 Die Anwendung der Etymologie im Dienst der Textauslegung ist als Technik der explanatio verborum fester Bestandteil der antiken Philologie, vgl. Macr. Sat. 5,19,17: interpretationem quoque nominis eorum, quam Graeci ἐτυμολογίαν vocant. 195 Aug. doctr. christ. 2,16,24–28,28. 196 Aug. doctr. christ. 2,29,29–42,63. 197 Aug. doctr. christ. 3,2,4–4,8. 198 Aug. doctr. christ. 3,4,8: Rarissime igitur difficilissime inveniri potest ambiguitas in propriis verbis, quantum ad libros divinarum scripturarum spectat, quam non aut circumstantia ipsa sermonis, qua cognoscitur scriptorum intentio, aut interpretum conlatio aut praecedentis linguae solvat inspectio. Dies gilt selbstverständlich unter Beachtung des vorgegebenen christlichen Auslegungsrahmens beziehungsweise des Normenhorizonts. 199 Aug. doctr. christ. 3,5,9–37,56. 200 Aug. doctr. christ. 3,29,40–41. Dabei handelt es sich überwiegend um Tropen, die der Kategorie der allegoria zugehören, vgl. Quint. inst. 8,6,44 ff. Zur Bedeutung der Rhetorik in der Konzeption des Werks allgem. Pollmann (1996) 215–244.

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könnten“.201 Mit dessen typologisch-figuralexegetischem Ansatz, den er punktuell ergänzt oder korrigiert, schliesst Augustinus mit dem dritten Buch seine Behandlung der Erhellungsmethoden partieller biblischer Obscuritas und des modus inveniendi ab. In der Komposition des zweiten und dritten Buches der De doctrina christiana tritt das stufenweise Vorgehen zur Behebung allfälliger Verständnisprobleme hervor. Die Allegorese erscheint bei Augustinus am Ende einer Reihe hierarchisch gestufter Techniken als gleichsam letztes probables Mittel.202 Dies war bereits mit der Unterordnung der Kategorie propria-translata gegenüber der Kategorie ignota-ambigua festgelegt worden.203 Indem er ihr nicht den ersten Platz innerhalb seines hermeneutischen Systems zuweist, wendet er sich indirekt gegen eine Überbetonung dieser in der christlichen wie in der paganen zeitgenössischen Bildungskultur beliebten Interpretationsmethode.204 Analog zur paganen Dichterauslegung war die Hoffnung auf vollumfängliche Erschliessung der in der Bibel enthaltenen Sinndimensionen kontinuierlicher Antrieb für weitere exegetische Bemühungen. Das Apostelwort kündete von der Inspiration der Heiligen Schrift, dem Wort gewordenen Mysterium Gottes, in dem alles sinntragend und nützlich sei: Omnis scriptura divinitus inspirata et utilis (2 Tim. 3,16). Die Schlussfolgerung, die Augustinus daraus für den Interpreten zieht, ist für seine eigene exegetische Praxis programmatisch:205 (…) quidquid in sermone divino neque ad morum honestatem neque ad fidei veritatem proprie referri potest, figuratum esse cognoscas. Alles, was im göttlichen Wort in eigentlicher Bedeutung weder auf die Ehrbarkeit der Sitten noch auf die Glaubenswahrheit bezogen werden kann, musst du in übertragenem Sinne verstehen. (Aug. doctr. christ. 3,10,14)

Das Postulat ist in seinen Konsequenzen wegweisend. Alles, was sich proprie nicht unmittelbar auf Moral und Glauben beziehen lässt, ist im übertragenen 201 Aug. doctr. christ. 3,30,42: Ticonius quidam (…) fecit librum, quem Regularum vocavit, quia in eo quasdam septem regulas exsecutus est, quibus quasi clavibus divinarum scripturarum aperirentur occulta. Zur hermeneutischen Methode des Tyconius vgl. Pollmann (1996) 32–65 und 196–215 zu Augustinus’ Interpretation des Tyconius. Vgl. zu letzterem auch Vercruysse (2004) 385–389. 202 Mit Ausnahme der dritten Regel setzen alle von Tyconius’ regulae eine übertragene Redeweise voraus: Aug. doctr. christ. 3,37,56: aliud ex alio faciunt intellegi, quod est proprium tropicae locutionis. 203 Pollmann (1996) 183. 204 Bezeichnenderweise findet die Allegorie keine eigenständige Behandlung, sondern wird der Kategorie der signa ambigua untergeordnet. Seit Origines war die Allegorese fester Bestandteil der Bibelauslegung. Kritik erfuhr diese Lesart besonders durch die Schule von Antiochia, vgl. Pépin (1988) 761 f. 205 Vgl. Marrou (1995) 400 f.; Teske (1995).

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Sinn zu verstehen. Dabei sind aber meist mehrere Auslegungen möglich.206 In pragmatischer Verwendung kann ein derartiger interpretatorischer Ansatz der Eliminierung von Widersprüchen und anstössigen Stellen dienen.207 Gleichzeitig wird der Interpret aber implizit zu tieferer Sinnfindung aufgefordert. Dies gilt prinzipiell auch für Stellen, wo der Literalsinn an sich befriedigend sein könnte.208 Doch nicht immer liess sich in jeder Formulierung des sermo divinus auch ein mutmasslicher Hintersinn finden. Im 4. Buch deutet Augustinus diese Erkenntnis – analog zur paganen Inspirationsmantik – funktional: Ubi vero non eos [sc. scriptores divinorum scriptorum] intellego, minus quidem mihi apparet eorum eloquentia, sed eam non dubito esse talem, qualis est, ubi intellego. ipsa quoque obscuritas divinorum salubriumque dictorum tali eloquentiae miscuenda fuerat, in qua proficere noster intellectus non solum inventione, verum etiam exercitatione deberet. An den Stellen aber, wo ich die Verfasser der heiligen Schriften nicht verstehe, tritt mir ihre Beredsamkeit gewiss weniger deutlich hervor, doch hege ich keine Zweifel, dass sie hier in derselben Qualität besteht, wie an den Stellen, die ich verstehe. Denn es war nötig, selbst die Dunkelheit der heiligen und heilbringenden Schriften mit einer derartigen Beredsamkeit zu verbinden, durch die unser Verstand nicht nur durch die Entdeckung, sondern auch durch die Übung Fortschritte machen muss. (Aug. doctr. christ. 4,6,9)

Der immanente Rätselcharakter der Bibel, ihre Obscuritas, entspricht in dieser Auffassung göttlicher Intention.209 Gott hat sich zur Offenbarung der menschlichen Sprache und ihrer eloquentia in unterschiedlicher Weise bedient. Je nach Funktion erscheint sie in einigen Teilen verständlich, in anderen sinnverhüllend. An der gleichmässigen Intensität der rhetorisch-stilistischen Formung des Textes gibt es indes keine Zweifel. Während in bestimmten Passagen eine klare und deutliche Sprechweise dazu dient, grundlegende Glaubenssätze zu vermitteln, steigern dunkle Stellen die interpretatorische Fruchtbarkeit (inventio) und dienen der exercitatio des Interpreten. Schon zuvor hat Augustinus den pädagogischen Wert dunkler Bibelstellen betont. Am Anfang des zweiten Buches wies er nach Präsentation und terminologischer Bestimmung der Zeichentheorie, die er seiner Hermeneutik zugrunde

206 Aug. doctr. christ. 3,27,38: Quando autem ex eisdem scripturae verbis non unum aliquid, sed duo vel plura sentiuntur, etiam si latet, quid senserit ille, qui scripsit, nihil periculi est, si quodlibet eorum congruere veritati ex aliis locis sanctarum scriturarum doceri potest. Vgl. auch Aug. civ. 11,19: Quamvis itaque divini sermonis obscuritas etiam ad hoc sit utilis, quod plures sententias veritatis parit et in lucem notitiae producit, dum alius eum sic, alius sic intellegit (…). 207 Vgl. etwa Pépin (1957). Zur ähnlichen Funktion der Allegorese in der paganen Dichtererklärung, vgl. Joosen/Waszink (1950) 283. Vgl. Gadamer (1990) 78: „Allegorie entsteht aus dem theologischen Bedürfnis, in religiöser Überlieferung – so ursprünglich im Homer – das Anstössige zu eliminieren und gültige Wahrheiten dahinter zu erkennen.“ 208 Zur Konstanz der doppelten Sinnhaftigkeit des Alten Testaments: Aug. doctr. christ. 3,22,32. 209 Dies war eine verbreitete Auffassung. Vgl. zur griechischen Patristik etwa Harl (1982). Zu Augustinus’ Verteidigung der biblischen Obscuritas vgl. Tracy (2008) 280–285.

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legte (doctr. christ. 2,1,1–5,6),210 auf die Schwierigkeiten unbedachter Bibellektüre hin, die in erster Linie durch Unkenntnis der verba entstünden: Sed multis et multiplicibus obscuritatibus et ambiguitatibus decipiuntur, qui temere legunt, aliud pro alio sentientes, quibusdam autem locis, quid vel falso suspicentur, non inveniunt: ita obscure dicta quaedam densissimam caliginem obducunt. quod totum provisum esse divinitus non dubito ad edomandam labore superbiam et intellectum a fastidio revocandum, cui facile investigata plerumque vilescunt. Doch werden jene, die unachtsam lesen, durch zahlreiche und vielfältige dunkle Stellen und Zweideutigkeiten in die Irre geführt und finden an bestimmten Stellen nicht, wonach sie in fälschlicher Meinung suchen, da sie das eine mit dem anderen verwechseln. So führt denn eine dunkle Passage zu noch finstererem Unverständnis. Ich zweifle nicht daran, dass die göttliche Vorsehung dies so eingerichtet hat, damit unsere Hochmut durch Anstrengung gezähmt und unser Verstand vor Überdruss bewahrt wird, denn gewöhnlich erscheint minderwertig, was schnell verstanden wird. (Aug. doctr. christ. 2,6,7)

Der partiellen Sinnvernebelung innerhalb der Heiligen Schrift, die bei unbedachten Lesern zu Missverständnissen führt, weist Augustinus eine doppelte Funktion zu. Einerseits werden dem Menschen dadurch in heilsamer Weise die Grenzen seiner Erkenntnisfähigkeit vor Augen geführt, andererseits stellen die obscure dicta aber eine reizvolle intellektuelle Herausforderung dar, die wiederum auch der Schulung der Geisteskräfte (exercitatio animi) dient.211 Während ein verständlicher Text schnell an Wert einbüsst, verhindert gelehrte Unverständlichkeit das Aufkommen von fastidium und weckt beim Rezipienten den Drang, das Rätsel zu lösen.212 Der intellektuelle Reiz dieser Aufgabe wird anhand einer Allegorese von Ct. 4,2 exemplifiziert. Die Offenbarung Gottes selbst wird indes von der partiellen Obscuritas ihres Mediums nicht tangiert, denn „fast nichts wird dieser Dunkelheit entnommen, was nicht an anderer Stelle vollkommen klar ausgedrückt gefunden werden könnte“ (doctr. christ. 2,6,8).213 Augustinus’ individuelle in stilästhetische Begriffe (suavius, delectat, gratius) gefasste positive Obscuritas-Wahrnehmung erfährt eine bemerkenswerte Universalisierung, indem er ihre Gül-

210 Augustinus reflektiert in doctr. christ. 2,1 eingehend über die Zeichenhaftigkeit des Systems Sprache und deren begrenzter Referenzcharakter. Er gilt daher auch als ein Begründer der Semiotik. Vgl. zu seiner Hermeneutik ausführlich Pollmann (1996) 147–196; Pollmann (2005). 211 Vgl. Aug. doctr. christ. 4,8,22. Augustinus schliesst hier an Origines und griechische Patristik an, vgl. Harl (1982). Zur exercitatio animi bei Augustinus etwa Marrou (1995) 255– 278. 212 Augustinus spricht in diesem Zusammenhang vom „Hunger“ des Interpreten: Aug. doctr. christ. 2,6,8: qui enim prorsus non inveniunt, quod quaerunt, fame laborant. 213 Reflexe darauf finden sich bei Cassiod. inst. praef. 2: quoniam in alio libro clarius positum est, quod alibi dictum constat obscurius. Die Vorstellung, die Heilige Schrift aus ihr selbst erklären zu können, ist eine weitverbreitete Auffassung, die in der paganen (Homer-) Exegese ein Analogon besass, vgl. Pépin (1988) 757 f.

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tigkeit für alle Rezipienten gleichermassen postuliert.214 In dieser Sichtweise übernehmen die obscure dicta – analog zu den Bestimmungen der antiken Literaturkritik – wirkungsästhetisch die Aufgabe des delectare und conciliare des Textes.215 Als spezifische Stilqualität der Bibel erweist Obscuritas dadurch ihre didaktisch-psychologische Nützlichkeit auch in der Unterweisung von gebildeten Laien, die durch die variatio des Ausdrucks und den Rätselcharakter in gleicher Weise angesprochen und vereinnahmt werden.216 Die Wertschätzung, die Augustin im Allgemeinen der biblischen Obscuritas entgegen bringt,217 liegt demnach in erster Linie in den Vorzügen ihrer rhetorischen Funktionalisierung begründet, die eine Wertsteigerung des Textes bewirkt. Darin liegt für ihn letztlich auch ihre ästhetisch-künstlerische Qualität. Indes offenbart seine Einschätzung der Rezeptionshaltung, in der die obscure dicta ihre Wirkung entfalten, auch seine perspektivische Gebundenheit: Augustinus ist sich des Stellenwerts dunkler Sprachkunst innerhalb der Bildungskultur seiner Zeit durchaus bewusst. Er weiss um die Wertschätzung geistreicher nugae und gelehrt-spekulativer quaestiones in aristokratischen Zirkeln.218 Denn erst durch Rückbindung an diese spezifische Rezeptionshaltung gewinnt seine Theorie biblischer Obscuritas an Relevanz. Augustinus steht damit in derselben auf die antike Rhetorik zurückgehende Traditionslinie wie die zeitgenössischen Grammatiker und die Angehörigen der paganen Bildungselite. Analog zur Vergilexegese projiziert er durch den Einbezug rhetorischer Produktionsvorschriften in die Textanalyse eine bestimmte Erwartungshaltung in den zu untersuchenden Text. Dunkle Stellen gelten ihm demzufolge als Rezeptionssignale, die den Leser ansprechen und zur vertieften Sinnfindung, zum erudite intellegere des Textes, auffordern. Das hermeneutische System, das er in De doctrina christiana entwirft, dient Augustinus damit zur Formung des christlichen Modellesers, wie ihn seiner Meinung nach die rhetorische Strategie des Textes auch vorsieht. In dieser Konzeption sind der christlichen curiositas, die mit dem angestrengten erudite intellegere korrespondiert, gleichwohl klare Grenzen gesetzt. Lern- und Wissenseifer müssen der religiös-theologischen Sinn- und Wahrheitsfindung dienen und dürfen nicht zum Selbstzweck werden.219 Diese Auffassung hinderte den Bischof von Hippo aber nicht daran, höflich-beflissen auf bisweilen absurde Sonderfragen 214 Aug. doctr. christ. 2,6,8: Sed quare suavius videam, quam si nulla de divinis libris talis similitudo promeretur, cum res eadem sit eademque cognitio, difficile est dicere et alia quaestio est. nunc tamen nemo ambigit et per similitudines libentius quaeque cognosci et cum aliqua difficultate quaesita multo gratius inveniri. 215 Vgl. Pollmann (1996) 220–221. 216 Aug. catech. rud. 9,13; catech. rud. 10,14–14,22. Vgl. Pépin (1958) 250–253. 217 Weitere Stellen finden sich bei Marrou (1995) 408. Auf Marrou geht auch die Junktur docta obscuritas zurück, die gerne als augustinische Prägung zitiert wird (vgl. etwa Brandt et al. (2003) 370), von ihm aber so meines Wissens nicht bezeugt ist. Zur positiven Bewertung biblischer Obscuritas durch Origines vgl. Harl (1982) bes. 355 f. 218 Vgl. dazu ausführlich weiter unten: S. 188–212. 219 Vgl. die Stellen bei Marrou (1995) 238 f., 394–396.

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hochgebildeter Laien zu reagieren. Auf die briefliche Anfrage des ehemaligen Prätorianerpräfekten Dardanus, warum Johannes der Täufer im Bauch seiner Mutter bei der Anwesenheit Marias freudig hüpfte (Lc. 1,41), si adhuc ignorant parvuli deum, antwortete Augustinus in aller Ausführlichkeit.220 Auch seinem Briefpartner Nebridius, den er an einer Stelle als diligentissimus et acerrimus inquisitor rerum obscurarum (epist. 98,8) an anderer als quaestionum difficillimarum scrutator acerrimus (conf. 6,10,17) darstellt, liess Augustinus mehrfach ausführliche Erläuterungen zukommen. Augustinus’ auf der Rhetoriktheorie fussende philologisch-rationale Erklärung der Obscuritas der Heiligen Schrift stand in Gegensatz zur stärker mystisch-spirituellen Beurteilung desselben Phänomens durch christliche Zeitgenossen. Vertreter dieser Auffassung glaubten weniger an die Möglichkeiten einer rationalen Texterfassung, sondern sahen in einer seelisch-mystischen Texterfahrung den Weg zu wahrer Erkenntnis. Die dunkle Ausdrucksweise der Bibel entsprach in dieser Sichtweise nicht rhetorischem Kalkül, sondern wurde als Ausdruck der theologisch-ontologischen Dimension des Textes verstanden. Die vom Heiligen Geist induzierte Verdunkelung zielte nicht auf einen intellektuellen Anreiz oder die exercitatio des Rezipienten – dies waren bestenfalls willkommene Nebenerscheinungen – sondern war semiologisches Abbild des (unergründbaren) Mysteriums Gottes. Tyconius, der Begründer christlich-abendländischer Bibelhermeneutik, erläutert im Prolog seines Liber regularum, wie ihn die sieben regulae mysticae der Heiligen Schrift zu diesem Werk veranlasst hätten.221 Als „mystische Regeln“ gelten ihm bestimmte strukturelle Prinzipien, die der Komposition der Bibel zugrunde liegen. Durch diese sei die göttliche Botschaft gleichsam versiegelt, sodass sie auch im Wandel der Zeiten unverändert bewahrt und ständig neu aktualisiert werden könne.222 Die Aktualisierung der inneren Wahrheit der Bibel ist nur mit Kenntnis der adäquaten Schlüssel möglich, die Tyconius dem Leser in die Hand zu geben verspricht. Allein die Einsicht in diese esoterischen Regeln (ratio regularum) ermöglicht dem Gläubigen ein gottgefälliges Leben; deren Kenntnis ist also letztlich heilsentscheidend.223 Doch selbst mit entsprechendem Wissen sind die in der Bibel schriftgeworde220 Aug. epist. 187,22 f. 221 Tyc. reg. praef.: Necessarium duxi, ante omnia quae mihi videntur, libellum regularem scribere et secretorum legis veluti claves et luminaria fabricare. sunt enim quaedam regulae mysticae quae universae legis recessus obtinent et veritatis thesauros aliquibus invisibiles faciunt; quarum si ratio regularum sine invidia ut communicamus accepta fuerit, clausa quaeque patefient et obscura dilucidabuntur, ut quis prophetiae inmensam silvam perambulans his regulis quodam modo lucis tramitibus deductus ab errore defendatur. 222 Tyc. reg. 6,1: Inter regulas quibus Spiritus legem signavit quo luminis via custodiretur (…). Tyconius’ sieben Regeln entsprechen dem Buch, das „versiegelt [ist] mit sieben Siegeln“ (Apc. 5,1), vgl. dazu Vercruysse (2004) 36–37. Zur in diesem Kontext ungewöhnlichen Verwendung des Terminus regula: Kannengiesser (1994) bes. 244–249 sowie Pollmann (1996) 33–38. 223 Vgl. Pollmann (1996) 38 mit Verweis auf Tyconius’ Apokalypsen-Kommentar.

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nen göttlichen mysteria rational nur unvollständig ergründbar. Absolute Wahrheitserkenntnis ist nur durch Glaube und die Gnade Gottes möglich.224 Mit der auf den menschlichen Verstand beschränkten ars rhetorica hat seine an der caelestis sapientia ausgerichtete Textanalyse daher höchstens terminologische Gemeinsamkeiten.225 Die Sinnverschlüsselungen der Bibel sind in dieser Optik Bestandteil einer spirituellen Prüfung, die der Leser im Sinne einer Initiation zu bestehen hat. Tyconius’ auf die Heilige Schrift zurückgehende Siegel-Metaphorik verdeutlicht die Schutzfunktion der verhüllenden Ausdrucksweise, welche die göttliche Wahrheit nur jenen zugänglich macht, die fähig sind, sie aufzunehmen – eine ubiquitäre Auffassung, die bereits in der Bibel vorformuliert ist.226 Bewertung und Inanspruchnahme sprachlicher Obscuritas als esoterische Barriere zur Ausgrenzung Nichteingeweihter ist, wie bereits dargelegt, auch ein Merkmal der antiken rhetorisch-philologischen Tradition.227 Diese Überschneidung ist zufällig. Die Einflussnahme der Rhetorik auf die christliche Tradition dürfte erst allmählich erfolgt sein.228 Die unterschiedliche Wertschätzung biblischer Obscuritas durch christliche Gelehrte blieb auf die Rezeptionsebene beschränkt. Trotz seiner positiven literarästhetischen Bewertung dieses Phänomens warnt Augustinus seine Leser im vierten Buch der De doctrina christiana ausdrücklich vor der Nachahmung dieser Ausdrucksweise.229 Seine Argumente unterscheiden sich dabei kaum von den diesbezüglichen rhetorischen Vorschriften. Denn analog zur antiken Theorie zielt Augustinus’ christliche Beredsamkeit in erster Linie auf die durch Perspicuitas erreichte persuasio der Zuhörer.230 Dies hat zur paradoxen Konsequenz, dass gerade ein exklusives stilistisches Charakteristikum 224 Tyc. reg. 4,1: veritatis pretium fides. Diesen wichtigen Aspekt der tyconianischen Hermeneutik betont Vercruysse (2004) 44: „L’Esprit sollicite la foi de son lecteur pour l’inviter à atteindre la vérité divine. Sans elle, les mystères de Dieu resteront impénetrables.“ Dies gilt letztlich auch für Augustinus, vgl. doctr. christ. praef. 8. 225 Vgl. Tyc. reg. 4,1: De specie et genere loquimur, non secundum artem rhetoricam humanae sapientiae, quam qui magis omnibus potuit locutus non est, ne crucem Christi fecisset inanem si auxilio atque ornamento sermonis ut falsitas indiguisset. Zu species und genus als rhetorische Termini vgl. Quint. inst. 7,1,23–28. 226 Vgl. Mc. 4,11–12. Reflexe dieser Auffassung finden sich z. B. bei Ambr. myst. 9,55 (zu Ct. 4,12: hortus conclusus soror mea, sponsa, hortus conclusus, fons signatus): Quo significat signatum debere apud te mysterium manere, ne violetur operibus malae vitae atque adulterio castitatis, ne divulgetur, quibus non convenit, ne garrula loquacitate dispergatur in perfidos. Diese Funktion gesteht auch Augustinus der biblischen Obscuritas zu, vgl. Aug. doctr. christ. 4,8,22. 227 Vgl. etwa das Epigramm, das Sueton zum Zmyrna-Interpreten Crassicius überliefert: Suet. gramm. 18: desinite, indocti, coniugio hanc petere. 228 Pace Pollmann (1996) 220 Anm. 22, die die christliche Tradition auf die antike rhetorische Theorie zurückführen möchte. 229 Aug. doctr. christ. 4,8,22–11,26. 230 Aug. doctr. christ. 4,25,55: finis autem, id quod intenderis, persuadere dicendo; in quocumque istorum trium genere dicit quidem eloquens apte ad persuasionem, sed nisi persu-

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der von Augustinus zum sprachlichen Muster erhobenen Heiligen Schrift vom christlichen Redner nicht nachgeahmt werden darf.231 Dessen vornehmliche Aufgabe sieht Augustinus in der Auflösung und Erläuterung biblischer Dunkelheit und nicht in der Genese von solchen. Die durch den komplexen Gegenstand bedingten Verständnishindernisse bedürfen einer umso deutlicheren Darlegung durch den Interpreten. Davon abgesehen kommt der Bibel und der ihr inhärenten eloquentia jedoch für alle drei Stilebenen ein massgeblicher Modellcharakter zu, da die Heilige Schrift durch „Mischung“ der genera dicendi die adäquate Vermittlung christlicher Inhalte exemplarisch vorführt.232 Trotz der vielfältigen Wertschätzung der gelehrten Dunkelheit der Bibel blieb also in christlichen Kontexten, wenn es um die Vermittlung der Doktrin oder die Auslegung der Bibel ging, eine schlichte und verständliche Ausdrucksweise allgemein verbindlich.233 Nach dem Urteil seiner Zeitgenossen hielt sich Augustinus in seinen theologischen Schriften nicht immer an diese Vorgaben. In einem Brief an Augustinus gestand Consentius seinem Adressaten, dass er dessen Schriften zwar durchaus schätze, jedoch den klaren und schlichten Stil des Lactantius vorziehe.234

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adeat, ad finem non pervenit eloquentiae. Vgl. dazu Prestel (1992) 200 f.; Pollmann (1996) 235–236. Augustinus trifft sich hier mit Hieronymus, vgl. Hier. in Gal. 3 praef. Aug. doctr. christ. 4,22,51. Vgl. Prestel (1992) 240 ff.; Pollmann (1996) 237–241; Kursawe (2000). Auch ein ausgeprägter Stilist wie Avitus von Vienne bemühte sich in seinen theologischen Traktaten an König Gundobad um einen einfacheren Stil, vgl. dazu Wood (2004) 370. Aug. epist. *12,2,2: Lactantius mihi propter planum atque compositum dicendi genus solus placebat. Vgl. Cassiod. inst. 1,22: Augustinus (…) in quibusdam libris nimia difficultate reconditus, in quibusdam sic est planissimus, ut etiam parvulis probetur acceptus, cuius aperta suavia sunt, obscura vero magis utilitatibus farcita pinguescunt. Vgl. dazu die gegensätzliche Charakterisierung der sermones des Hieronymus: Cassiod. inst. 1,21: planus, doctus, dulcis parata copia sermonum ad quamcumque partem convertit ingenium.

IV. OBSCURITAS ALS STILMERKMAL UND LITERARISCHE STRATEGIE: DUNKLE BRIEFKUNST ZWISCHEN GELEHRTEM SPIEL, ESOTERISCHER VERKLÄRUNG UND POLITISCHER NOTWENDIGKEIT 1. LITTERAE LITTERATAE – DER BRIEF ALS KUNSTFORM IN DER SPÄTANTIKEN BILDUNGSKULTUR Loqui nobis communiter datum est; solus ornatus est, qui discernit indoctos. (Cassiod. var. praef. 3)

1.1. Cassiodors Variae und die Prävalenz des sermo cultus in der spätantiken Briefkultur In der Vorrede zum elften und zwölften Buch seiner Variae entschuldigt sich Cassiodor für den mangelhaften Stil der Briefe, die er als praefectus praetorio verfasst habe. Verständnis erhofft er sich in erster Linie von Schicksalsgenossen: Verum hoc mihi obicere poterit otiosus, si verbum improvida celeritate proieci, si sensum de medio sumptum non ornaverim venustate sermonum, si praecepto veterum non reddiderim propria personarum; occupatus autem, qui rapitur diversitate causarum, cui iugiter incumbit responsum reddere et alteri expedienda dictare, non me addicere poterit, qui se in talibus periclitatum esse cognoscit. Ein mit hinreichender Zeit begabter Leser könnte mir dies zum Vorwurf machen, wenn ich ein Wort in achtloser Schnelligkeit vorgebracht, wenn ich ein eher gewöhnliches Sujet nicht in schmuckvoller Sprache ausgedrückt, wenn ich die einzelnen Personen, ohne die Anweisungen der Alten zu beachten, nicht in ihrer spezifischen Eigenart dargestellt habe. Ein vielbeschäftigter Mann aber, der durch unterschiedlichste Angelegenheiten in Anspruch genommen ist, fortwährend Anfragen beantwortet und Anweisungen diktiert, wird mich nicht verurteilen können für etwas, dem er, wie er weiss, selber verfallen ist. (Cassiod. var. 11 praef. 2)

Im editorischen Rückblick auf sein Werk markiert Cassiodor anhand der antithetischen Gegenüberstellung von otiosus und occupatus die Diskrepanz zwischen ästhetischem Anspruch und textlicher Realisierung. Die überwältigende Last der Verpflichtungen, die ihn in seinem Amt am Hof Theoderichs vereinnahmt hätten, liessen ihm nicht die Zeit, seinen Briefen die von ihm

1. Litterae litteratae – Der Brief als Kunstform in der spätantiken Bildungskultur

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gewünschte und von den otiosi geforderte Sorgfalt zukommen zu lassen.1 An seinen grundsätzlichen Fähigkeiten (posse) lässt Cassiodor indes keinen Zweifel aufkommen, bringe doch ein durch Pflichten abgelenkter Geist generell nur eine mittelmässige Rede (tepentia dicta) hervor.2 Noch ein weiterer Aspekt habe sich in dieser Hinsicht negativ ausgewirkt: Aus Zeitmangel habe er auch die lectio vernachlässigen müssen, was unmittelbare Auswirkungen auf seinen Sprachgebrauch mit sich gebracht hätte. Schliesslich habe selbst Cicero, die Quelle der Beredsamkeit (fons eloquentiae), sich einmal vor Publikum entschuldigen müssen, da er am Tag zuvor nicht gelesen habe. Denn wie ein Vorratslager oder eine Schatzkammer sich bei grosser Beanspruchung allmählich leere, wenn die Zufuhr unterbrochen sei, so erschlaffe auch die Schaffenskraft, wenn sie nicht durch beständige Lektüre gestärkt werde.3 Da nun aber schon zehn Bücher mit Briefen zusammengestellt seien, die er im Namen des Königs verfasst habe (ore regio locutus), wäre es unvernünftig, jene Briefe, die er in eigener Person geschrieben habe, nicht auch in die Sammlung miteinzubeziehen.4 Zu den Gründen, die ihn dazu gebracht haben, die Variae trotz ihrer mangelhaften Qualität den Händen einer kritischen Leserschaft zu übergeben, äussert sich Cassiodor im Vorwort zur Gesamtsammlung. Dort erklärt er, dass er nur ungern der beredten Aufforderung zahlreicher Gönner nachgekommen sei, die Briefe seiner Amtszeit als Sammlung zusammenzustellen und zu veröffentlichen. Denn das sprachliche und stilistische Niveau dieser Briefe sei vergleichsweise tief (dictio semper agrestis est), eine Veröffentlichung deshalb kaum zu verantworten. Bekanntlich solle ein Autor neun Jahre an seinem Werk feilen, bevor er damit an die Öffentlichkeit trete.5 Er habe sich aber jeweils kaum eine Stunde für die Abfassung der einzelnen Briefe Zeit nehmen können. Zusätzlich haben Lärm und Ungeduld der Bittsteller eine sorgfältige Ausarbeitung verunmöglicht. Obgleich der Zeitdruck ein wesentliches Element der excusatio darstellt, unterscheidet sich die hier angewandte apologetische Strategie merklich von jener im Vorwort zum elften und zwölften Buch. Das Hauptgewicht der Argumentation liegt auf einem anderen Kausalzusammenhang. Bei der Begründung, warum er der Sammlung den Titel Variae gegeben habe, meint Cassiodor:

1

2 3 4 5

Zur Gleichsetzung des lector otiosus mit dem lector eruditus vgl. Quint. inst. 8,2,23 sowie weiter oben: S. 102. Zu den otiosi als anspruchsvolle Lesergruppe vgl. auch Salv. gub. praef. 3: In scriptiunculis nostris non lenocinia esse volumus sed remedia, quae non tam otiosorum auribus placeant (…). Cassiod. var. 11 praef. 3. Cassiod. var. 11 praef. 8–9. Vgl. Sidon. epist. 4,17,2: si frequenti lectione continuas, experiere per dies, quanto antecellunt beluis homines. Cassiod. var. 11 praef. 6. Cassiod. var. praef. 4: nonus annus ad scribendum relaxatur auctoribus mit Hor. ars. 388: (…) nonumque prematur in annum.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie: (…) quia necesse nobis fuit stilum non unum sumere, qui personas varias suscepimus ammonere. aliter enim multa lectione satiatis, aliter mediocri gustatione suspensis, aliter a litterarum sapore ieiunis persuasionis causa loquendum est, ut interdum genus sit peritiae vitare quod doctis placeat. proinde maiorum pulchra definitio est sic apte dicere, ut audientibus possis concepta vota suadere. (…) denn es war notwendig, mehr als nur einen Stil zu verwenden, da ich es auf mich genommen hatte, an unterschiedliche Personen zu schreiben. Anders nämlich muss man an jene schreiben, die durch regelmässige Lektüre gesättigt sind, als an jene, die nur massvoll davon kosten; wieder anders sind, um etwas zu bewirken, jene anzusprechen, die den Geschmack der Literatur nicht kennen, sodass es bisweilen ein Zeichen von Klugheit sein kann, genau das zu vermeiden, was den Gelehrten gefällt. Daher ist es eine schöne Festsetzung der Alten, in einer solchen Art angemessen zu reden, dass du die Zuhörer im intendierten Sinn überzeugen kannst. (Cassiod. var. praef. 15)

Die Vielfalt der Adressaten seiner Briefe verlangte auch nach einer Vielfalt des Stils. Die Prävalenz eines hohen Stils, des sermo cultus, wird aus textpragmatischen Gründen (persuasionis causa) aufgegeben, da seine Verwendung lediglich auf eine bestimmte Personengruppe, die multa lectione satiati, beschränkt ist.6 Da aber auch andere, weniger gebildete Personengruppen zwangsläufig zu den Adressaten gehörten, musste Cassiodor, um entsprechend auf sie einwirken zu können, sich um eine Sprache bemühen, die auch ihrem jeweiligen Bildungstand angemessen war. In der rhetorischen genera dicendi-Lehre, die je nach Gegenstand eine dem aptum entsprechende Stilhöhe vorschreibt, findet er das legitimative Modell für seine Vorgehensweise: Neque enim tria genera dicendi in cassum prudens definivit antiquitas: humile, quod communione ipsa serpere videatur; medium, quod nec magnitudine tumescit nec parvitate tenuatur, sed inter utrumque positum, propria venustate ditatum suis finibus continetur; tertium genus, quod ad summum apicem disputationis exquisitis sensibus elevatur. Und nicht umsonst haben die Alten in kluger Weise drei Arten der Rede festgelegt: den bescheidenen Stil, der durch die Gemeinsamkeit [mit der Volkssprache] am Boden zu kriechen scheint; den mittleren Stil, der sich weder zur Grossartigkeit aufbläht noch im Kleinen verharrt, sondern vielmehr dazwischen liegt und reich an eigener Schönheit sich mit dem ihm angemessenen Rahmen begnügt; und den dritten Stil, der sich mit erlesener Ausdrucksweise zum Gipfel der Beredsamkeit erhebt. (Cassiod. var. praef. 16)

Nicht der Gegenstand bestimmt mehr den Stil, sondern der Bildungsstand des Adressaten. Dies stellt eine bemerkenswerte Umstrukturierung der Vorschriften der traditionellen rhetorischen Theorie dar.7 Nicht die thematische 6

7

Auch hier wird die lectio als Kennzeichen und Voraussetzung eines homo disertus verstanden. Auerbach (1958) 195 bezweifelte dagegen, dass die Variae für ein literarisches Publikum konzipiert waren: „Cassiodors Stil in den Variae setzt überhaupt kein literarisches Publikum mehr voraus, auch kein italoromanisches; es ist ein rhetorischer Kanzleistil, Urahne der Artes dictandi des Trecento.“ Vgl. Eigler (2003) 114–115 und Kakridi (2005) 72–76, die die Vorwegnahme eines festen Theoriebestands in den mittelalterlichen artes dictaminis betont.

1. Litterae litteratae – Der Brief als Kunstform in der spätantiken Bildungskultur

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Varianz, sondern die an den Adressaten ausgerichtete Vielfalt der sprachstilistischen Realisierungen seiner Briefe ist dementsprechend ausschlaggebend für die Namensgebung des Werks. Mit diesen programmatischen Vorbemerkungen bereitet Cassiodor seine Leser auf die Stilvarianz seines Werkes vor, deren literarische Qualität dadurch gesichert bleibt. Die Verwahrung gegen allfällige Kritiker gehört zu den üblichen Topoi, durch die sich ein antiker Autor seinem Publikum gefällig machte. Es handelt sich um eine Bescheidenheitsbezeugung, die bei objektiver Betrachtung auch auf Cassiodor zutrifft.8 Dennoch ist auffällig, mit welcher Intensität sich Cassiodor bemühte, seinen Lesern Rechenschaft über stilistisch angeblich unzureichend ausgefeilte Schriftstücke abzulegen, bei denen es sich um Geschäftsoder Amtsbriefe handelt, einer Subgattung von Gebrauchsbriefen, deren Literarizität in der Epistolographie-Forschung, wie oben gezeigt, regelmässig bestritten wird.9 Cassiodor postulierte für sein Werk explizit dieselben literarischen Massstäbe, die Horaz für hochpoetische Werke einforderte, obwohl – zumindest vordergründig – das erklärte Ziel der Variae ja nicht darin bestand, die literarischen Fähigkeiten ihres Autors hervorzuheben. Vielmehr strebte Cassiodor gemäss eigener Aussage nach Anerkennung für die officia, die er im Laufe seiner langen Beamtenkarriere absolvierte: Er müsse der Nachwelt die Briefe als Abbild seiner selbst, als speculum mentis suae, darbieten, um ihr dadurch einen Eindruck seiner beschwerdereichen Tätigkeiten zu vermitteln, die er ohne Tadel alleine im Dienste der Gemeinschaft (pro generalitatis commodo) auf sich genommen habe. Dies sei zumindest die Meinung jener prudentes, die ihn zur Publikation überredet hätten.10 Zwar wüssten auch diese um die Minderwertigkeit der Variae in sprachlicher Hinsicht, doch sähen sie keine unmittelbare Gefahr für den Ruf Cassiodors, da er sich auf literarischem Gebiet bereits einen Namen gemacht habe.11 Die Länge der beiden Praefationes sowie die stattliche Anzahl der Argumente, die Cassiodor seinen Fürsprechern in den Mund legt, beleuchtet schlaglichtartig die immense Bedeutung, die Sprache und Stil innerhalb der Brief- und Bildungskultur des 6. Jahrhunderts besassen. Vor dem Hintergrund der antiken Brieftheorie scheint also Cassiodors excusatio die Geltung und Verbindlichkeit der von der Rhetorik vorgegebenen und in der Briefpraxis befolgten Konvention schlichten Sprachstils offenkundig zu unterminieren. Dem mag entgegnet werden, dass sich die Anweisungen der Brieftheoretiker weitgehend auf eine andere Briefgattung, den Privatbrief beziehen. Offizielle Briefe (litterae negotiales), zu denen die in die Variae aufgenommenen Exemplare zweifellos gehören, wurden nur am Rande behandelt, dasselbe

8 9 10 11

Vgl. zur Sprachkunst der Briefe Cassiodors etwa Kakridi (2005) 76–98, 110–127. Vgl. dazu die Ausführungen weiter oben: S. 54f. Cassiod. var. praef. 6–10. Cassiod. var. praef. 11.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

gilt auch für Geschäftsbriefe.12 Für die Ausbildung einer spezifischen Theorie des öffentlichen Briefs bestand indes in der Antike kein dringendes Bedürfnis, da durch die übliche rhetorische Unterweisung dem Beamten das notwendige Rüstzeug in die Hände gelegt war.13 Entsprechend verlauten die diesbezüglichen Anweisungen der Theoretiker lediglich, dass bei hochgestellten Adressaten ein gehobener Stil zu verwenden sei, eine konventionelle Vorgabe, die dem apte dicere der rhetorischen Theorie entspricht.14 Entsprechend lassen sich auch kaum stilistische Unterschiede zwischen der privaten und der öffentlich-amtlichen Korrespondenz spätantiker Epistolographen feststellen.15 Bei den spätantiken Kaiserreskripten und Gesetzen handelt es sich generell um kunstvoll formulierte Texte.16 Wenn nun Cassiodor gegenüber den Rezipienten seiner Sammlung pragmatische Gründe geltend machte, die ihn an einer durchgängigen Verwendung eines hohen Stils gehindert hätten, so bestätigt er dadurch indirekt die Prävalenz des sermo cultus (Pomer. 3,34,2), der von einem Angehörigen der Bildungselite des ostgotischen Reichs auch in amtlicher Korrespondenz in gewissem Ausmass erwartet wurde. Der sermo cultus stellte eine klar definierte und innerhalb der Bildungsgemeinschaft der Zeit verbindliche Sprachform dar, deren Dominanz sich exemplarisch in der Überlagerung der brieftheoretischen Vorschriften der Rhetorik zeigt. Dies wird bei Cassiodor umso deutlicher, da er für die formale Ausgestaltung der Urkunden beträchtliche Mühe aufwandte. Dass seine Beamtenurkunden in einer höchst anspruchsvollen Prosa verfasst sind, die neben einer akkuraten Inhaltsvermittlung auch ästhetische Qualitäten anstrebte, rückt erst allmählich in das Bewusstsein der Klassisch-Philologischen Forschung.17 Die engen Grenzen des Kanzleiformulars sowie die klaren inhaltlichen Vorgaben liessen genügend Freiraum für die individuelle Ausgestaltung eines Autors, der als hochgebildeter homo litteratus am Hof Theoderichs auch in amtlicher Korrespondenz literarische Ansprüche verfolgte.18 Die prägende Bedeutung, die Cassiodor dem sermo cultus zugewiesen hat, ist weder als eine Eigenart dieses Autors noch als eine zeitspezifische Ausprägung der Brief- und Bildungskultur im ostgotischen Italien zu verstehen. Sie 12

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Vgl. Koskenniemi (1956) 48–50. Bei den in die Variae aufgenommenen Briefen Cassiodors handelt es sich um Königs- und Beamtenurkunden, denen als schriftliche Willensäusserung offizieller Charakter zukam, vgl. Kakridi (2005) 22. Vgl. Cic. de orat. 2,12,49: non enim deerit homini diserto in eius modi rebus facultas ex ceteris rebus et causis comparata. Exc. Rhet. ed. Halm, 589,4–12 und entsprechend auch Iul. Vict. ed. Giomini/Celentano, 105,10: Epistolis conveniunt multa eorum, quae de sermone praecepta sunt. Vgl. dazu mit Nachdruck Gioanni (2009) bes. 15–16, 19–20. Vgl. dazu bes. Kakridi (2005) 23 f. Zur Rhetorik der frühen kaiserzeitlichen Urkunden vgl. Benner (1975). Vgl. die Bilanz der Forschung bei Kakridi (2005) 22–24. Zum spätantiken Kanzleistil allgem. Fridh (1956); Viden (1984); Kakridi (2005).

1. Litterae litteratae – Der Brief als Kunstform in der spätantiken Bildungskultur

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spiegelt vielmehr in repräsentativer Weise die hohen ästhetischen Erwartungen, die innerhalb der spätantiken Bildungsgemeinschaft an die Gattung Brief gerichtet wurden. Soweit es Zeit und Können erlaubten, kommunizierten die Angehörigen der Bildungselite in privater wie öffentlich-amtlicher Korrespondenz in Form von hochstilisierten Episteln (litterae litteratae),19 mit denen man sich die gegenseitige Freundschaft sowie die gemeinsame Zugehörigkeit zur privilegierten Gruppe der otiosi et eruditi zusicherte. Der Briefstil besass in diesem Zusammenhang essentielle Bedeutung. Stildiskurse gehören denn auch zu den Gemeinplätzen epistolarer Kommunikation. Überhaupt scheint die Literaturkritik ein natürlicher Bestandteil der spätantiken Epistolographie gewesen zu sein. Wie in kaum einer anderen Gattung wird hier die metapoetische Reflexion durch die dialogische Form des Briefs begünstigt. Der Wert, den man dem Sprachstil eines Autors beigemessen hat, zeigt sich auch in der überaus reich ausgebildeten Metaphorik, mit der man diesen umschrieben hat.20 Das begeisterte Lob, das man dem sermo seines Adressaten unablässig zukommen liess, war ebenso konventioneller Bestandteil spätantiker Freundschaftsbriefe, wie die damit einhergehende Schmälerung der eigenen Fähigkeiten.21 Dabei ist auffällig, dass die literarische Kritik fast immer auf den Stil und nicht den Inhalt eines Werks bezogen ist.22 Die elaborierte Form der literarischen Kommunikation war fester Bestandteil aristokratischer Performance und hatte wesentlichen Einfluss auf die Gemeinschaftsbildung und Kohärenz der Gruppe. Innerhalb dieser streng ritualisierten Briefkultur war Obscuritas eines der entscheidenden Erkennungsmerkmale einer Elite, die sich in einer aetas mundi iam senescentis („im Zeitalter einer schon greisen Welt“: Sidon. epist. 8,6,3) angesichts vielfältiger politischer, sozialer und religiöser Umwälzungen neu definieren musste.23

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22 23

Vgl. zu diesem Terminus etwa Auson. epist. 17,14 ed. Green; Sidon. epist. 4,17,1; Sidon. epist. 8,14,8 sowie negativ als Ausdruck der Bescheidenheit: Sidon. epist. 4,3,10: illitteratissimis litteris, vgl. Plin. epist. 1,10,9: illitteratissimae litterae. Dominant sind hier Metaphern aus Natur und Landwirtschaft (Edelsteine, Wasser, Acker, Pflügen, Blüten, Honig, Obst, Speise) und damit verbunden der menschlichen Sinne (riechen, schmecken, hören, sehen) sowie aus dem Handwerk (Feile, Rost, Schmiede). Eine reiche Stellenauswahl findet sich bei Bruhn (1911). Sidonius gibt dieser Konvention in einem Brief an Petronius Ausdruck: Magnum hoc est et litterarum viro convenientissimum, cum studiis ipse maxumis polleas, ea in aliis etiam minima complecti (Sidon. epist. 5,1,1). Beispiele der Schmälerung des eigenen Stils bei Symmachus: epist. 7,60; bei Sidonius: epist. 8,16,2; epist. 9,3,6; bei Ruricius: epist. 1,2; epist. 1,4; epist. 1,5; bei Avitus: epist. 15 ed. Peiper; bei Ennodius: epist. 2,4,3; epist. 2,7,4. Zur Bezeugung der eigenen rusticitas als Topos der affektierten Bescheidenheit vgl. u.a. Loyen (1943) 99; Curtius (1978) 83–84, 411–412; Kaufmann (1995) 260–263. Vgl. z.B. zu Sidonius Loyen (1943) 129; Amherdt (2001) 49: „lorsque Sidoine loue la production littéraire d’un ami, c’est le style qu’il loue, non le fond.“ Gualandri (1979) 20: „Quest’abitudine aristocratica – la letteratura come un fatto per pochi – diventa quasi necessità di difesa quando si avverte che la cultura in cui si crede rischia di morire.“ Vgl. zu diesem Brief weiter unten: S. 230f.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

1.2. Der Brief als Medium der Performance: Literarische Kommunikation zwischen Freundschaftskult und Selbstdarstellung Ministra affectionis est epistolaris confabulatio. (Ennod. epist. 2,26,1)

Aufgrund seiner doppelten Funktion als literarische Gattung und als kommunikative Gebrauchsform eignet sich der Brief zur zeitgleichen Befriedigung unterschiedlicher Bedürfnisse, die eine Interaktion zwischen mindestens zwei Partnern voraussetzen. Diese Sonderstellung des Briefs bedingt seine variable Einsetzbarkeit. Im Folgenden sollen anhand von Einzelbeispielen zwei für den Kontext dieser Arbeit wesentliche Funktionen aufgezeigt werden, die ein Privatbrief innerhalb der spätantiken Bildungskultur einnehmen konnte: den Kult gegenseitiger Freundschaft sowie die Möglichkeit zur Selbst-Performance. Der Blick liegt dabei auf der Wirkungsebene, speziell auf den individuellen Inszenierungsmöglichkeiten, die dem Autor innerhalb des Kommunikationsraums Brief zur Verfügung standen.24 1.2.1. Ego tibi parens et amicus: Auson. epist. 12 ed. Green an Symmachus Modo intellego quam mellea res sit oratio, quam delenifica et quam suada facundia („Erst jetzt begreife ich, wie honigsüss eine Rede sein kann, wie einnehmend und überzeugend die Beredsamkeit!“). Mit diesen Worten eröffnet Ausonius einen Brief an seinen Freund, den bekannten Redner Q. Aurelius Symmachus.25 Wortwahl (delenifica, suada) und Satzstruktur des gallischen Rhetors und Prinzenerziehers lassen die Ernsthaftigkeit der Aussage schon zu Beginn hinter den Bescheidenheitstopos zurücktreten, ein literarischer Kniff, der weniger als Floskel denn als Referenz auf die traditionellen brieftypischen Konventionen sowie auf den individuellen Briefstil des Adressaten aufzufassen ist. Der Brief ist formal zweigeteilt, auf einen breit ausgeführten argumentativen Teil folgt eine kurze recusatio. Die informelle Anrede und ein knappes Nachwort geben dem Ganzen den brieftypischen Rahmen. Nach dem ersten Satz ist das Thema des Briefes noch offen, Ausonius verbindet das argumentum ad benevolentiam mit einem argumentum ad attentionem. Die mellea oratio, auf die hier angesprochen wird, meint einen Brief des Symmachus, den dieser als Antwort auf ein vorangehendes Schreiben des Ausonius verfasst hat.26 Darin äusserte sich Symmachus lobend über die eruditio von Ausonius’ Schriften, denen er eine festivitas Tulliano melle oblita attestiert. Im selben Atemzug bedankte er sich für die Lobesworte, die Ausonius seinem eigenen Sprachstil (sermo) zugemessen hatte, und deren 24

25 26

Ebbeler (2007) 307: „Letter-exchanges are textualized social performances, carried out in accordance with a scripted set of conventions and coded rhetoric.“ Vgl. auch Ebbeler (2009) 272 f. Zur Korrespondenz zwischen den beiden vgl. u.a. Bowersock (1986); Desmulliez (2011). Symm. epist. 1,31.

1. Litterae litteratae – Der Brief als Kunstform in der spätantiken Bildungskultur

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milde Nachsicht es unmöglich machte, das Kompliment nicht zurückzugeben – wenn auch nicht auf derselben Stufe. Ausonius seinerseits versäumt es nun nicht, das Spiel des gegenseitigen Hofierens auf kunstvolle Weise weiterzuführen, wobei er den von Symmachus vorgegebenen Tonfall einer Parteirede (oratio) übernimmt: Persuasisti mihi quod epistulae meae apud Capuam tibi redditae concinnatio inhumana non esset, sed hoc non diutius quam dum epistulam tuam legi, quae me blanditiis inhiantem tuis velut suco nectaris delibuta perducit. ubi vero chartulam pono et me ipsum interrogo, tum apsinthium meum resipit et circumlita melle tuo pocula deprehendo. Du hast mich zur Überzeugung gebracht, dass mein Schreiben, das dich in Capua erreicht hat, nicht gänzlich ohne Kunst gewesen sei, doch hielt dieser Zustand nur so lange an, wie ich deinen Brief las. Denn dieser ist wie mit Nektar bestrichen und hat mich, der ich deine schmeichelnden Worte gierig einsaugte, zu jener irrigen Ansicht verführt. Denn sobald ich dein Schreiben weglege und mich selbst prüfe, da schmecke ich wieder meinen bitteren Wermut und erkenne, dass der Becher, den du mir gereicht hast, mit Honig bestrichen ist. (Auson. epist. 12,2–8 ed. Green)

Ausonius gibt sich geschlagen. Symmachus’ Briefrede habe ihr Ziel, die persuasio erreicht.27 Doch diese sei nur von kurzer Dauer, denn kaum habe er die lectio beendet, verschwinde auch die persuasive Wirkung. Sobald also Ausonius den Brief seines Freundes weglegt, schmeckt er wieder den bitteren Geschmack seiner eigenen Sprache. Die Erklärung ist schnell gefunden: Der Becher, den Symmachus ihm gereicht habe, sei derart mit Honig bestrichen, dass der bittere Inhalt süss erscheine. Damit wird die im ersten Satz verwendete Sinnesmetapher (mellea oratio) aufgenommen und in anderem Kontext verdeutlicht. Die geistreiche Lukrez-Reminiszenz (Lucr. 1,936–941) offenbart den Brief als Gegenrede des Ausonius, mit der er nun seinerseits Symmachus von dessen stilistischer Superiorität zu überzeugen sucht. Dieses Argumentationsziel ist der Metapher selbst inhärent: Wie ein Arzt, der den Knaben die bittere Medizin in honigbestrichenen Bechern zu trinken gibt, hat auch Symmachus (seinem Schüler!) Ausonius den bitteren Becher der Wahrheit gereicht.28 Ausonius drängt hier Symmachus geschickt in die Rolle des Lehrers. Dieses Machtspiel um die briefliche Rolle ist charakteristisch für die Korrespondenz zwischen den beiden Männern.29 Hier tritt auch das DialogiEin schönes Beispiel einer persuasiven Briefrede ist Sidon. epist. 7,6. Vgl. die Interpretation weiter unten: S. 270–275. 28 Paulinus von Nola machte seinem ehemaligen Lehrer denselben Vorwurf: Paul. Nol. carm. 11,6–7: parce precor, lacerare tuum nec amara paternis / admiscere velis ceu melli absinthia verbis. 29 Die Signale im Text deuten aber gleichwohl auf die Anciennität des Ausonius gegenüber dem jüngeren Symmachus, vgl. Auson. epist. 12,32–33 ed. Green: me tibi parentem et amicum; Auson. epist. 12,25 ed. Green: domine mi fili Symmache. Dabei handelt es sich um dieselbe Anrede wie an Paulinus von Nola, vgl. Auson. epist. 19a,2 ed. Green. Vgl. zu diesem Rollenspiel, das die unanimitas der beiden einschliesst, Desmulliez (2011) 221 f. 27

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

sche der Kommunikationsform Brief unvermittelt ins Blickfeld.30 Symmachus’ manipulative oratio trifft auf die unterschwellige Gegenrede des Ausonius. Die starre Form der Rede wird durch das Medium jedoch aufgehoben. So erweckt das Schreiben zu keiner Zeit den Anschein eines rhetorischen Plädoyers. Stattdessen bietet der brieftypische Rahmen ebenso wie die zeitliche Verzögerung der Kommunikation die Möglichkeit zu persönlichen Stellungnahmen und metapoetischen Reflexionen.31 Diese werden im vorliegenden Brief selbst wieder zu einem Teil der Argumentation, deren Gewicht und Wirkung durch die ethische Komponente der Freundschaftsbezeugung erheblich gesteigert wird. Der Stil von Ausonius’ Brief ist an Ciceros Gerichtsreden orientiert, was ein direktes Zitat noch untermauert.32 Der Aufbau der Rede ist symmetrisch: Nach Einleitung und narratio (1–15) wird der Übergang zur zweigeteilten argumentatio (16–34) mit der intuitiven Feststellung aliud sentio ex epistula tua, aliud ex conscientia mea eingeleitet, deren Richtigkeit durch objektive Tatsachen (pondus testimonii) erhärtet wird. Das Spiel mit der doppelten Bedeutung von sentire („Honig schmecken“ / „urteilen“) ist bedeutsam. Die parallele Struktur, welche die Antithese zwischen epistula tua und conscientia mea hervorhebt, lässt gegen Symmachus den Vorwurf der Schmeichelei (blanditio) aufkommen. Der erste Teil der argumentatio (16–24), eine Reihe affektierter rhetorischer Fragen, gipfelt in der hyperbolischen Charakterisierung des Symmachus, das entscheidende Wort (perfectio) steht emphatisch am Schluss.33 Im zweiten Teil der argumentatio (25–34) unterbleibt dieser rhetorische Elan. Ausonius bemüht sich hier um die refutatio des Schmeicheleiverdachts, den Symmachus im vorangehenden Brief geäussert hat.34 In verbindlichem Ton beteuert er die Aufrichtigkeit seiner Worte und seines Charakters, den Symmachus während der gemeinsamen Zeit am Hof Valentini30

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In spätantiken lateinischen Briefsammlungen sind Antwortschreiben der Adressaten nur selten enthalten. Wäre dies regelmässig der Fall, würden sich dem Leser eigentliche Korrespondenzen erschliessen, die je nach Zusammenstellung literarisch im Sinne von Ovids Doppelbriefen oder als Briefromane, wie sie etwa im griechischen Bereich verbreitet waren, rezipiert hätten werden können. Vgl. zum griechischen Briefroman Holzberg (1994). Diese Leerstelle ist indes durchaus produktiv, wird der Leser doch indirekt zur Rekonstruktion der Vorrede beziehungsweise zur Antizipation der jeweiligen Gegenrede aufgefordert. Ein Beispiel einer historisch rekonstruierbaren Rede-GegenredeBriefkonversation findet sich in der Korrespondenz zwischen Ausonius und Paulinus von Nola (bes. Auson. epist. 22/23 ed. Green und Paul. Nol. carm. 10), vgl. dazu Amherdt (2004a); Rücker (2012). Zu Auson. epist. 22 an Paulinus vgl. auch weiter unten: S. 240– 245 Nicht erst in der Spätantike wurde die Briefform zum vornehmlichen Medium der Literaturkritik inter amicos. Auson. epist. 12,31–32 ed. Green: qui frontes hominum aperit, mentes tegit, vgl. Cic. Planc. 6,16: tabella, quae frontes aperit hominum, mentes tegit. Auson. epist. 12,23–24 ed. Green: Quid enim aliud es quam ex omni bonarum artium ingenio collecta perfectio? Symm. epist. 1,31,1: Erat quippe (…) et sermonis mei non tam vera quam blanda laudatio.

1. Litterae litteratae – Der Brief als Kunstform in der spätantiken Bildungskultur

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ans I. (prägnant: in comitatu) kennen gelernt habe: me tibi et parentem et amicum et, si quid utroque carius est, cariorem fuisse sensisti (32–34). Auf eine peroratio kann verzichtet werden, das gefühlsbetonte sensisti nimmt das sentio von Zeile 15 wieder auf: Ausonius vertraut auf die freundschaftlichen Gefühle seines Adressaten. Damit endet diese Gerichtsrede en miniature. Durch Einbezug eines fremden Kommunikationsraums eröffneten sich dem Brief neue performative Möglichkeiten, die Ausonius geschickt für seine Zwecke einsetzt. Die Gelehrsamkeit, die er wortgewandt bestreitet, wird damit sub littera bestätigt.35 Mit einer Anspielung auf Terenz leitet Ausonius schliesslich zum zweiten Teil des Briefs (35–47) und damit zu seiner Antwort auf die Bitte des Symmachus über, ihm doch eine Lehr- oder Erbauungsschrift (didascalicum opusculum aut sermonem protrepticum) zu senden.36 Auf diese Anfrage reagiert Ausonius mit affektierter Entrüstung, wobei er seinem Adressaten genau diese Verhaltensweise (adfectatio) vorhält. Diese recusatio ist die natürliche Konsequenz der Parteimeinung, die er im ersten Teil vertreten hat („Du bist gelehrter als ich“). Beide Teile sind somit innerlich verbunden. Dem Brief ist ein abschliessendes Nachwort (48–53) angehängt, das den an weiteren Informationen interessierten Adressaten an den Briefträger verweist. Der Text ist ein anschauliches Beispiel freundschaftlicher Briefkommunikation zweier gebildeter Aristokraten der Zeit. Das Zelebrieren von Höflichkeiten sowie das ostentative Bemühen, dem Empfänger in gesuchten Wendungen Achtung zu erweisen, sind Bestandteile der standesgemässen Briefkonvention. Die Briefform bildet hier den literarischen Rahmen einer auf den ersten Blick eher oberflächlichen Konversation. Die Variationsbreite ist zwar erstaunlich, in seiner Substanz aber letztlich trivial.37 Gleichwohl setzt dieses Spiel die hohe Gelehrsamkeit des Adressaten voraus, der die anspielungsgesättigte Sprache zu entschlüsseln und die variantenreichen Formulierungen zu schätzen weiss. Der den Alltagsbrief konstituierende Informationstransfer ist in Briefen dieses Typs oft minimal. Die Kommunikation dient hier weniger einem konkreten Wissens- oder Informationsaustausch, sondern ist 35 36 37

Dies war ein Spiel, das auch sein Schüler Paulinus von Nola beherrschte, vgl. Roberts (1989) 24. Symm. epist. 1,31,2. Am Beispiel des Sidonius Apollinaris hat Loyen (1943) 98–100 das Spiel des gegenseitigen Hofierens als Ausdruck eines aristokratischen Freundschaftsrituals definiert und in drei stereotype Bestandteile unterteilt: 1. caritas: Taten und Schriften des Freundes müssen geschätzt werden: „Du bist so klug“ 2. verecundia/pudor: affektierte Bescheidenheit als Antwort auf die caritas: „Nein, stimmt nicht!“ 3. urbanitas: Schmälerung des eigenen Werks: „Alles nugae, was ich schreibe“. Trotz dieser literarischen Konventionen und Topoi dürfen daraus keine negativen Rückschlüsse auf die Qualität der in diesen Briefen zelebrierten Freundschaft gemacht werden, wie dies etwa noch Everschor (2007) 231 mit Blick auf Ruricius tut: „Zum einen ist zu bemerken, dass Ruricius’ Briefe stark von literarischen Konventionen geprägt sind und zahlreiche Topoi enthalten, so dass seinen Freundschaftsbezeugungen nicht zu viel Wert beigemessen werden darf.“

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

aristokratische Freundschaftspflege und soziales Ritual.38 Diese per Brief vollzogene manifestation d’amitié blickt in der römischen Adelskultur auf eine lange Tradition zurück.39 Schon Cicero sah in der Erfüllung des officium amicitiae einen zentralen Aufgabenbereich brieflicher Kommunikation.40 Noch in der ausgehenden Spätantike verstand man in aristokratischen Kreisen einen Brief als munus, dem man häufig noch weitere Geschenke wie kulinarische Delikatessen, Bücher oder Kleidungsstücke beilegte.41 Briefeschreiben war eine anerkannte Form zur Erfüllung der Freundschaftspflicht. Im oftmals weitgespannten Netz adliger amicitia bedeutete die pflichtgemässe Kontaktpflege eine nicht unbeträchtliche Schreibleistung. Es sind aber diese Korrespondentenzirkel, an die sich die ostentative Inszenierung aristokratischer Freundschaft mittelbar richtet. Neben der Kontaktpflege ist ein Brief immer auch Repräsentationsraum des Autors.42 Dieser erhält durch Zirkulation oder anschliessende Publikation des Briefs die Möglichkeit, sich auch vor einem breiteren Publikum etwa als optimus amicus zu inszenieren und sich zukünftigen Briefpartnern als solcher zu empfehlen. Denn zugleich vermittelt ein Brief, insbesondere sein Sprachstil, den sozialen und ethischen Status des Verfassers und charakterisiert ihn als vir bonus et litteratus.43 Dies gilt besonders bei der ersten Kontaktaufnahme zweier Mitglieder der spätantiken Bildungsschicht. Denn einem brieflichen Kontakt musste nach 38

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Vgl. etwa die Urteile zu Symmachus bei Matthews (1974) 62–65 und Bruggisser (1993) 3: „La lettre de Symmaque n’est pas le support d’une information, mais l’accomplissement d’un rite social et culturel. Alors que très souvent l’information elle-même consiste en instructions confiées oralement au porteur de l’epistula ou consignées dans une pièce annexe, le message n’est pas contenu dans la lettre, il est la lettre elle-même.“ In diese Richtung argumentierten auch Haverling (1988) 14; Fuhrmann (1998) 263 f. und Gemeinhardt (2007) 185 f. An dieser Stelle kann keine umfassende Bibliographie zur antiken Freundschaft geboten werden. Zu diesem Aspekt innerhalb der spätantiken Epistolographie vgl. bes. Mathisen (1981) und Le Jan (2004). Ferner: Loyen (1943) 95 ff.; White (1992); Bruggisser (1993); Klingshirn (1994); Wood (2000); Kennell (2000) 128 ff.; Mratschek (2002) 489 ff.; Shanzer/Wood (2002) 59 f.; Schröder (2007) 150–157, 284 f. U. a. Cic. fam. 6,6,1; fam. 8,1,1; fam. 16,25. Vgl. allgem. Wilkox (2012). Auch in den spätantiken Briefkorpora finden sich zum officium amicitiae zahlreiche Verweise, vgl. etwa Avit. epist. 51 ed. Peiper, 79,18 f.: (epistulae) quaeque in persona vestra dilectioni primum, deinde necessitudini, ad ultimum etiam dignitati a me debentur. Symmachus macht den Terminus zu einem Schlüsselbegriff seiner Korrespondenz vgl. Bruggisser (1993) 4 f. Noch im 7. Jahrhundert versteht Desiderius von Cahors den Brief als officium gegenüber einem Freund: u. a. Desid. epist. 1,11 (pagellari officio); epist. 2,1, vgl. dazu Schwitter (2013). Zum Austausch von Geschenken innerhalb der spätantiken Aristokratie vgl. Wood (2000); Shanzer (2001). Zum Brief als Geschenk der Freundschaft bei Cicero und Seneca vgl. Wilcox (2012). Zum Rollencharakter der am Brief beteiligten Figuren des Schreibers und Lesers vgl. Belke (1973) 154 f.; Nickisch (1991) 10 f. Zur Verbindung von Charakterstärke und amicitia vgl. u.a. Bruggisser (1993) 7. Zur performativen Funktion spätantiker Briefe auch Ebbeler (2009) 272: „Most of our extant late antique letters (…) are sophisticated textual performances intended to advertise their authors’ literary skill to their contemporaries and posterity.“

1. Litterae litteratae – Der Brief als Kunstform in der spätantiken Bildungskultur

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dem Empfinden der Zeit nicht zwangsläufig eine bereits bestehende Freundschaft zugrunde liegen. Vielmehr wurden viele Freundschaften erst über Briefe geknüpft. Deren wesentliche Existenzform lag also – in Anbetracht der oftmals beträchtlichen Distanzen zwischen den Partnern – nicht selten allein in der Schriftlichkeit. Die geistige Begegnung im Brief erschien als reales Zusammensein und war dem körperlichen Kontakt nicht nachgestellt.44 Die Korrespondenten waren also mehr mit dem Porträt befreundet, das ihr Gegenüber innerhalb des Kommunikationsraums Brief von sich entwarf – beziehungsweise je nach Rollenbild von sich entwerfen musste – als mit einer realen Persönlichkeit.45 An dieser Konstellation änderte sich, wie das folgende Beispiel zeigt, auch mit der Christianisierung der Eliten kaum etwas.46 1.2.2. Sermo viri mentis est speculum: Paul. Nol. epist. 4 an Augustinus Zu Beginn des Jahres 395 verfasste Paulinus von Nola einen Brief an Alypius, den Bischof von Thagaste und engen Freund des Augustinus, um ihm die Gründung seiner monastischen Gemeinschaft in Nola bekanntzugeben. Dieser antwortete umgehend und legte Paulinus einige Schriften des Augustinus als Geschenk bei. Zugleich bat er ihn um Übersendung der Chronik des Eusebius.47 Alypius, der Paulinus zuvor nicht bekannt war, stellte die ideale Kontaktperson zur Aufnahme einer brieflichen Korrespondenz mit Vertretern der afrikanischen Kirche dar.48 Noch im selben Jahr wendet sich Paulinus direkt an Augustinus und legt damit die Grundlage einer langjährigen Brieffreundschaft.49 Den Beginn der Korrespondenz mit Augustinus markiert ein langer Brief, in dem Paulinus seinem Wunsch Ausdruck verleiht, den von ihm seit langem

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Zu den antiken Topoi der Begegnung im Brief: Thraede (1970) 146–179. Die spezifischen Briefrollen oder epistolographischen personae werden von der neueren Forschung verstärkt in den Blick genommen. Vgl. zu den brieflichen Rollen des Hieronymus etwa Conring (2001) 72 ff.; zu denen des Ennodius Schröder (2007) passim. Die polyphonen literarischen Rollenbilder und Identitäten des Sidonius Apollinaris hat Egelhaaf-Gaiser (2010) exemplarisch anhand seines Abschlussbriefes (epist. 9,16) untersucht. Christliche Innovationen im epistolographischen Usus der Zeit konstatierten am Beispiel des Paulinus von Nola etwa Conybeare (2000) 41 ff., 60 ff. und Gemeinhardt (2007) 191 f., der jedoch mit Thraede (1970) 158 darin übereinstimmt, dass es sich hierbei um eine sinngemässe Erweiterung der Schultradition handelt. Vgl. dazu auch Müller (2013) 436–438. Für das Herausbilden einer spezifisch christlichen Briefpraxis, die sich in der epistula christiana als eigenständigem Brieftypus niedergeschlagen habe, argumentierte dagegen Ebbeler (2009) 273–277, 282–283. Formale Besonderheiten des „christlichen Briefs“ im lateinischen Westens bespricht Bastiaensen (1964). Beide Briefe sind nicht erhalten. Zur Rekonstruktion und Chronologie des beginnenden Briefwechsels zwischen Paulinus von Nola und Augustinus/Alypius vgl. Skeb (1998) 29–31, 90–91. Vgl. Mratschek (2002) 476 f. Zur Freundschaft zwischen den beiden vgl. Lienhard (1990).

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

bewunderten Adressaten näher kennenzulernen.50 Angesichts dieser Ausgangslage erhält der Brief hohes Inszenierungspotenzial. Nach Art einer Visitenkarte stellt er dem zukünftigen Partner Augustinus das Persönlichkeitsbild des Paulinus vor Augen. Paulinus, ein Meister der Selbstdarstellung, brachte dies einmal gegenüber Pamachius in Kombination zweier bekannter Topoi selbst zur Sprache: sermo viri mentis est speculum („Des Menschen Sprache ist der Spiegel seiner Seele“: epist. 13,2).51 Der ersten Kontaktaufnahme wurde in der spätantiken Briefkultur generell hohe Bedeutung zugemessen. Symmachus betont die Konvention, bei der Eröffnung einer Brieffreundschaft den zukünftigen Partner ausführlich zu loben, ein Usus, der sich auch bei Sidonius Apollinaris und Ennodius nachweisen lässt.52 Paulinus’ Brief an Augustinus, dem ein Eulogienbrot als Freundschaftsangebot beigelegt war,53 beginnt mit der christlichen Variation eines brieflichen Exordialtopos: Die Liebe zu Christus (caritas Christi), die beide verbinde, habe ihm geholfen, seine Scheu abzulegen und Augustinus, dessen honigfliessende Worte er längst inkorporiert habe, persönlich zu schreiben. Schliesslich sei er durch das tägliche Gespräch mit dessen Schriften bereits bestens mit ihm bekannt und ihm sogar schon durch Freundschaft verbunden: Vides, frater unanime admirabilis in Christo domino et suspiciende, quam familiariter te agnoverim, quanto admirer stupore, quam magno amore conplectar, qui cotidie conloquio litterarum tuarum fruor et oris tui spiritu vescor. Du siehst, mein hochverehrter Bruder, mir gleichgesinnt und bewundernswert in Christus dem Herrn, mit welcher Vertrautheit ich dich kenne, mit welcher Bewunderung ich dich bestaune, mit welcher Liebe ich dich umfasse. Ich labe mich am täglichen Briefgespräch mit dir und nähre mich vom Hauch deines Mundes. (Paul. Nol. epist. 4,2)

Im Folgenden bittet Paulinus seinen Adressaten weitere Schriften zu übersenden und wirbt wortgewandt um dessen erfahrene Seelenführung und Freundschaft.54 Die briefliche persona, in der sich der ehemalige Schüler des Ausonius an den ehemaligen Rhetorikprofessor wendet, wurde bereits in der captatio 50 51

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Paulin. Nol. epist. 4 (= Aug. epist. 25). Zu Paulinus’ Selbstdarstellung vgl. Trout (1993). Zu den Topoi epistula speculum mentis und talis hominibus fuit oratio qualis vita vgl. u.a. Thraede (1970) 23 f., 157; Müller (1980) 138–157. Symm. epist. 4,42,1; Sidon. epist. 8,13,1; Ennod. epist. 4,7. Zu Ennodius’ praevius sermo vgl. ausführlich Schröder (2007) 303–317. Sidonius lässt an einer Stelle erkennen, dass der Beginn einer neuen Brieffreundschaft, die ja mit vielfältigen Verpflichtungen einherging, zuvor sorgfältig abgewägt wurde: Sidon. epist. 5,11,1: Multum te amamus; et quidem huiusce dilectionis non est erroneus aut fortuitus affectus. namque ut sodalis tibi devinctior fierem, iudicavi. est enim consuetudinis meae, ut eligam ante, post diligam. Vgl. Paul. Nol. epist. 4,5: Panem unum, quem unanimitatis indicio misimus caritati tuae, rogamus accipiendo benedicas. Zu diesem Brauch vgl. Mratschek (2002) 428–430. Paul. Nol. epist. 4,5: Praesumptione igitur non mea, sed placito et ordinatione domini fraternitatis tuae mihi foedus usurpans, tanto indignus honore me dignor, quia te pro tua sanctitate certo scio (nam veritate sapis) non alta sapere, sed humilibus congruere, ideoque prompte et intime recepturum spero catitatem humilitatis nostrae (…).

1. Litterae litteratae – Der Brief als Kunstform in der spätantiken Bildungskultur

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benevolentiae deutlich. Paulinus, obwohl selbst Priester, inszeniert sich als lernbegierigen Schüler des Augustinus, dessen geistiger Führung er als novus tiro militiae noch bedürfe.55 Diese Selbststilisierung des Paulinus wird durch den erhabenen, mit Bibelzitaten durchsetzten sermo des Briefes aufgehoben und offenbart das Ganze als spezifisches Rollenangebot an Augustinus. Die humilitas, in der sich Paulinus präsentiert, ist Konsequenz der christlichen conversio, die der aus hocharistokratischer Familie stammende Paulinus vollzogen hat. In seinen Briefen ist Paulinus im Allgemeinen darum bemüht, diese innere Bekehrung publikumswirksam darzubieten und einer grösseren Öffentlichkeit zu unterbreiten.56 Mit dem Brief wählte er zur Selbstdarstellung eine andere Form als Augustinus, der demselben Wunsch mit einer monumentalen Autobiographie nachgekommen ist. Doch integrierte er auch diese Gattung in den Kommunikationsraum Brief. So stellte er sich im Brief an Alypius mittels einer Kurzbiographie seinem neuen Briefpartner vor, wobei dieser dann deren weitere Verbreitung besorgte.57 Im Antwortbrief des Augustinus, der Paulinus erst mit beträchtlicher Verzögerung erreichte,58 distanziert sich dieser von dem ihm angetragenen Rollenbild. Stattdessen schlüpft er nun selbst in die Rolle des Schülers und bittet Paulinus am Ende langer Ehr- und Freundschaftsbezeugungen um kritische Lektüre und Korrektur seiner Schriften.59 Durch diese topische Aufforderung wird Paulinus implizit als gleichberechtigter Partner akzeptiert. Wie zwischen Symmachus und Ausonius sind diese Rollenbilder aber nicht festgelegt und bleiben – unter christlichen Vorzeichen – Bestandteil des inneren Diskurses zwischen beiden Partnern. Augustinus’ Antwort zeugt vom Erfolg des brieflichen Freundschaftsangebots des Paulinus, die dieser in der traditionellen und prestigeträchtigen Form der persönlichen commendatio vorgebracht hat. Mit der Zusendung eines Brotes besiegelt Augustinus das Freundschaftsangebot. Dem sich in der Folge entwickelnden Briefwechsel mit Paulinus brachte Augustinus hohe Wertschätzung entgegen. Bereits der erste Brief hinterliess bei ihm einen derartigen Eindruck, dass er ihn den Klerikern und Mönchen seiner Gemeinde vorführte und damit für dessen weitere Verbreitung sorgte: Legi enim litteras tuas fluentes lac et mel, praeferentes simplicitatem cordis tui, in qua quaeris Dominum sentiens de illo in bonitate et afferens ei claritatem et honorem. legerunt fratres et gaudent infatigabiliter et ineffabiliter tam uberibus et tam excellentibus donis Dei bonis tuis. quotquot eas legerunt rapiunt, quia rapiuntur cum legunt.

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Paul. Nol. epist. 4,3: Rege ergo parvulum incerta reptantem et tuis gressibus ingredi doce. Vgl. Mratschek (2002) 415–426. Paul. Nol. epist. 3. Vielleicht war die ausbleibende Antwort der Grund, weshalb Paulinus Alypius erneut um Empfehlung bat: vgl. Paul. Nol. epist. 3,2: itaque (…) ad ipsum scribere ausi sumus, dum nos illi per te et de inperitia excusandos et ad caritatem commendandos praesumimus (…). Paulinus schrieb daraufhin einen weiteren Brief an Augustinus: Paul. Nol. epist. 6, der sich mit Augustinus’ Antwort auf Paul. Nol. epist. 4 kreuzte (Aug. epist. 27). Aug. epist. 27,6: Sane quia multa scripta nostra lecturus es, multo mihi erit gratior dilectio tua, si ex his quae tibi displicuerint, emendaveris me iustus in misericordia et argueris me.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie: Ich las deinen Brief, der von Milch und Honig überströmte und mir die Aufrichtigkeit deines Herzens offenbarte, mit der du zu Gott strebst, indem du in Liebe an ihn denkst und ihm Glanz und Ehre erweist. Auch die Brüder lasen ihn und freuten sich in unermüdlicher und unaussprechlicher Weise über die so fruchtbaren und herausragenden Wohltaten Gottes an dir. Jedes Mal wenn sie den Brief gelesen haben, ergreifen sie ihn wieder, denn sie werden ergriffen, wenn sie ihn lesen. (Aug. epist. 27,2)

Augustinus’ Brief verdeutlicht an dieser Stelle auf exemplarische Weise, dass die Kontaktaufnahme der beiden christlichen Intellektuellen auch stellvertretend im Sinne einer Kontaktaufnahme zweier religiöser Zentren aufgefasst werden kann. Der gepflegte Umgangston beider Korrespondenten entsprach der Forderung nach Adäquanz von Sprache und Stil zum Bildungsniveau des Adressaten. Das Beispiel zeigt also erneut, welche Bedeutung dem sermo epistolaris innerhalb der freundschaftlichen Korrespondenz spätantiker Aristokraten zukam. Die äussere Form des Briefes, Paulinus’ honigfliessenden Sprache (litteras fluentes lac et mel) war für die Rezeption ebenso wichtig wie dessen Inhalt. Für Augustinus bestand daher kein Widerspruch zwischen der elaborierten Form des Briefes und der in ihr vermittelten christlichen humilitas, vielmehr war ein gepflegter Sprachstil für ihn natürlicher Bestandteil standesgemässer Briefkommunikation.

2. KODIERTE KOMMUNIKATION: DUNKLER BRIEFSTIL UND ELITÄRER SPRACHCODE IN DER SPÄTANTIKE Placet actio, causa non intellegitur. (Quint. inst. 4,2,37)

2.1. Affectata obscuritas: Artistische Verdunkelung zwischen Stilideal, ästhetischem Reiz und intellektuellem Spiel 2.1.1. Elocutio artifex: Stilideal und Ornament in der spätantiken Epistolographie Zu den Merkmalen spätantiker Kunstsprache gehört die Vorliebe für das Ornamentale, das sich einerseits in einer kunstvollen Ausgestaltung von formalen, klanglichen und gedanklichen Elementen und andererseits in einer detailverhafteten, variantenreichen Ausdrucksweise äussert. Diese beiden Elemente sind Grundbestandteile der spätantiken elocutio artifex (Ennod. opusc. 6,11), wie sie sich in den litterae litteratae exemplarisch ausgeprägt hat.60 Das Streben nach sprachlicher Ornamentalität muss, wie im Folgenden ausgeführt wird, als entscheidende Vorbedingung für die Entfaltung und Ausprä60

Zum Ausdruck der elocutio artifex bei Ennodius vgl. Gioanni (2006) CVIIIf.

2. Kodierte Kommunikation

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gung von Obscuritas in der spätantiken Literatur verstanden werden. Diese Hypothese gilt für die Epistolographie in besonderem Masse, da sich hier auf kleinstem Raum sprachlich-stilistische Artistik in höchster Virtuosität herausbilden konnte.61 Den ästhetischen und im weiteren Sinn auch gesellschaftlichen Voraussetzungen, die Obscuritas bedingten und beförderten, gelten die ersten Kapitel der nachfolgenden Darlegungen. a. Detail, Miniatur und Fragment: Zur Ästhetik der Kleinform An erster Stelle ist ein Phänomen zu nennen, auf das mit Blick auf die spätantike Literatur bereits mehrfach hingewiesen wurde und das auch die bildenden Künste der Zeit erfasst hatte: die kulturästhetische Vorliebe für das Kleine und Detailhafte.62 Für die vorliegende Fragestellung hat die Präferenz der Kleinform, die mit dem Hang zum Ornamentalen in direkter Verbindung steht, dahingehend Belang, dass zum einen die Epistolographie (wie auch die Epigrammatik) als Gattung das idealtypische Objekt einer Artistik en miniature darstellt,63 und dass zum anderen Obscuritas partikularen Darstellungsformen inhärent zu sein scheint. So bedingt im ersten Fall das Streben nach höchster Formvollendung, dem man in der Kleinform eher nachzugeben gewillt ist, eine Verdunkelung, während im zweiten Fall die blosse Darstellungsform an sich sinnverstellend wirkt: Schnell kann ein Leser im Detail den zugehörigen Kontext und in der Episode das narrative Ganze aus den Augen verlieren. Obscuritas muss demnach als – mitunter intendierte – Folgeerscheinung der spätantiken „esthétique de fragmentation et de miniaturisation“ (J. Fontaine) verstanden werden. Mit dem Buch von Jesús Hernández Lobato hat dieses Phänomen kürzlich eine fundierte wissenschaftliche Darlegung erfahren. Wie André Loyen oder Jacques Fontaine vor ihm hat Lobato die in der spätantiken Literatur phänomenologisch feststellbare „obsesión por el detalle y el fragmento“ im weiteren Sinn als Ausdruck eines esprit de temps gedeutet: „Resulta evidente que la literatura tardoantica – de igual modo que su arte y, en general, su entera cosmovisión (…) – está dominada por la idea diseccionadora de la «parte» sobre el todo.“64 Er verfestigt seine Hypothese mit einem eindrücklichen Gang durch die spätantike Kultur in ihren verschiedensten Facetten, um in der Folge die Ästhetik des Fragmentarischen (estética del fragmento) und den damit verbundenen, in der Literatur vorherrschenden „Centonen-Stil“ (práctica del centón) innerhalb der spätantiken Weltanschauung zu verorten 61 62

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Vgl. Gioanni (2004) 537: „La préciocité [du sermo épistolaire] traduisait une vision ornementale du monde qui conférait à l’obscurité une valeur esthétique et spirituell.“ Dieses Phänomen wurde von der älteren Forschung zwar häufig kritisiert (vgl. etwa Loyen (1943) 119 f.), ist aber erst in jüngster Zeit eingehender untersucht worden, vgl. Fontaine (1977) 479; Roberts (1984) 251 f.; Roberts (1989) 56 f. und bes. Hernández Lobato (2012) 257–449 sowie aus kunstgeschichtlicher Perspektive Elsner (2004) 293–304. In diese Richtung auch Gioanni (2006) CXXXIII: „(…) dans le cadre étroit de l’épître (…) là ou le style monumental (…) est capable de s’exprimer dans une miniature.“ Hernández Lobato (2012) 258.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

und als distinktiven kulturellen Ausdruck des spätantiken Zeitgeistes zu erweisen.65 Der in der zeitgenössischen Ästhetik verankerte Hang zu Miniatur und Fragment ist in literarischer Hinsicht also nicht an ein bestimmtes Thema, eine Gattung oder an eine spezifische Konvention gebunden, sondern zeigt sich in unterschiedlicher Intensität und differierenden Formen und Ausprägungen innerhalb des gesamten literarischen Schrifttums der Spätantike. Zu den spezifischen Ausprägungen dieser Ästhetik gehören literarische Kleinformen wie Brief, Epigramm, Cento und vergleichbare Miniatur-Genres, die in der Spätantike erfunden oder neu entdeckt wurden.66 Aber auch in Grossformen überwog häufig das Episodische, sind Tendenzen einer bewussten Partikularisierungsstrategie feststellbar,67 die bis zum Ausgang der Spätantike massgebend blieben.68 Dies galt nicht nur für die zeitgenössische Epik oder Historiographie, sondern auch für neuere Gattungstypen wie die seit dem 4. Jahrhundert in der literarischen Kultur immer stärker ins Zentrum rückende Heiligenbiographie.69 Vor diesem Hintergrund müssen die zahlreichen, in der Spätantike entstandenen Briefsammlungen in einem neuen Licht erscheinen. Als literarische Gattung entsprachen sie aufgrund ihrer strukturell mit einem Mosaik vergleichbaren Kompositionsweise exakt den zeitgenössischen ästhetischen Vorstellungen: 70 Jeder Brief ist sowohl Miniaturform als auch Fragment. Er erscheint für sich genommen zwar formal als geschlossene Einheit, ist in thematischer Hinsicht – nämlich im Kontext der Sammlung – wiederum lediglich ein bruchstückhafter Partikel. Ähnlich dem Cento werden bei der Lektüre der Sammlung stückweise unterschiedliche epistolare Kontexte (salutationes, 65

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Hernández Lobato (2012) 276: „Tal es el dominio en el seno de la cultura tardoantica de las estrategias de fragmentación, apropiación, recombinación descontextualizada y resemantización que la estética del fragmento y la práctica del centón pusieron en juego, que su presencia non sólo se deja notar en el terreno estrictamente literario, sino que trasciende además a todas las manifestaciones humanas, llegando incluso a modelar la percepción colectiva del mundo circundante (Weltanschauung), como un elemento distinctivo del espíritu de la época (Zeitgeist).“ Vgl. z.B. Wasyl (2011). Zu solchen Kleinformen gehörten auch Praefationes, für deren Ausarbeitung man viel Mühe und Sorgfalt aufwandte, vgl. z.B. Felgentreu (1999). Cameron (1970) 264 f.; Roberts (1988); Wittchow (2001). Dies gilt auch für das Werk des Prudentius, vgl. etwa Ludwig (1977) 303–372. Vgl. z.B. zu Venantius Fortunatus Roberts (2001). Vgl. u.a. Berschin (1986) 182: „Eugippius schreibt Geschichte und Biographie in kleinen, in sich geschlossenen Einheiten. Das Exemplum ist die Kleinform, die Reihe ist die grosse Form seiner Darstellung. Man kann auf die Struktur den Satz anwenden, mit dem man einmal die romanische Baukunst treffend definiert hat: „Die Teile sind wichtiger als das Ganze“ (K. Weiss).“ Auf die Analogie zwischen einem Mosaik und der literarischer Kompositionsweise wurde bisher lediglich mit Blick auf die spätantike Poesie hingewiesen, vgl. Fontaine (1977) 440 sowie bes. Roberts (1989) 70 ff., der das Phänomen eingehend untersucht. Zu Sidonius Apollinaris vgl. etwa Gualandri (1979) 51–52. Bei Briefsammlungen bietet sich der Vergleich aber fast noch offenkundiger an.

2. Kodierte Kommunikation

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adhortationes, gratulationes, commendationes usw.) aufgerufen, um gleich wieder – beim nächsten Brief – zu verblassen oder an anderer Stelle wieder zu erscheinen. Der durch diese Variatio letztlich erzielte literarische „Glanzeffekt“ gehört, wie noch zu zeigen sein wird, zu den zentralen Wirkungsabsichten spätantiker Literaten.71 Die neben dem Fragmentarischen zweite Ausprägung der Ästhetik der Kleinform, die Vorliebe für das Detail, analysierte Hernández Lobato auf ähnliche Weise wie die erste, nämlich mittels eines panoptischen Gangs durch Literatur, Malerei, Plastik und Architektur der Spätantike. Hierbei legte er analoge Techniken und Strategien einer „miniaturización“ offen, die in den unterschiedlichen literarischen und kunsthandwerklichen Arbeiten der Zeit ihre Anwendung fanden.72 Auch hier stellt er den vom ihm in der zeitgenössischen Ästhetik festgemachten Drang zur „Atomisierung“ (atomización) in Beziehung zu grundlegenden gesellschaftlichen Entwicklungen, welche diese bedingten: Der Fokus auf das Detail steht seiner Meinung nach – als Mechanismus einer formalen Atomisierung – in direktem Zusammenhang mit einer Tendenz der sozialen und politischen Individualisierung, einem Prozess, der seit der frühen Kaiserzeit in Gang war und in der Spätantike allmählich kulminierte.73 Das bewusste Zerteilen eines formalen Ganzen (eines Werks, einer Erzähleinheit, eines Satzes) in seine Bestandteile hat zwangsläufig eine intellektuelle Verdunkelung zur Folge. Bei der Beurteilung der äusseren, kontextabhängigen Entstehungsbedingungen von Obscuritas muss dieser ästhetische Faktor also eine zentrale Bedeutung erhalten. Im Gesamtwerk des Sidonius Apollinaris lassen sich die von Hernández Lobato analysierten und hier nur in groben Zügen skizzierten Aspekte spätantiker Ästhetik in exemplarischer Deutlichkeit aufzeigen. Die Ästhetik der Kleinform äussert sich bei ihm auf unterschiedlichen Ebenen: Auf der einen Seite ist die Briefsammlung des Sidonius (in ähnlicher Weise wie seine Gedichtsammlung) als literarisches Werk mehr in seinen Teilen, den einzelnen Briefen beziehungsweise Gedichten, denn als organisches Ganzes im Sinne einer künstlerischen Einheit bestimmend. Gemäss dem plinianischen Grundprinzip „ein Brief – ein Thema“ bildet seine Briefsammlung ein buntes und abwechslungsreiches Panoptikum der epistolographischen Kommunikation eines Angehörigen der spätantiken Bildungselite. Deren einzelne Teile bilden also durch ihre Unterschiede in Tonfall, Thema und Stilregister ein Konvolut variabler und voneinander unabhängiger Texte, die einzeln gelesen werden, 71 72 73

Vgl. dazu ausführlich weiter unten: S. 155–170. Hernández Lobato (2012) 318–449. Hernández Lobato (2012) 376–381. Bei jedem Versuch einer soziopolitischen Rückbindung ästhetischer Trends besteht die Gefahr einer vereinfachenden Generalisierung. In diesem Kontext darf nicht vergessen werden, dass es weder in der Spätantike noch in früheren Epochen einen homogenen Stil gab. Vielmehr ist stets mit einer Vielzahl konkurrierender Stilformen zu rechnen, unter denen bestimmte Trends dominierten. Der epochenübergreifende stilistische Pluralismus in der römischen Kunst betont etwa Elsner (2004) 274 f.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

und erst in einem zweiten Schritt vom Rezipienten verknüpft und in ihrer Gesamtheit beurteilt werden.74 Seine Briefsammlung ist also strukturell wie ein opus sectile gestaltet, in welchem die einzelnen Bestandteile in hohem Mass eigenständige Geltung beanspruchen können.75 Auf der anderen Seite enthalten die einzelnen Briefe und Gedichte des Sidonius selbst wiederum Elemente partikularer Darstellungsformen. Eine episodische, in einzelne Szenenfolgen unterteilte Erzählweise gehört ebenso zu den wesentlichen Charakteristiken seiner Werke wie minutiöse Beschreibungen und Exkurse. Die mosaikhafte Struktur der Sammlung findet so in den einzelnen Stücken ihr literarisches Analogon. Schliesslich ist mit der Lexik noch eine dritte und vielleicht wichtigste Ebene zu nennen: „In un autore che costantemente rivolge l’attenzione al particolare è inevitabile che il lessico assuma un’importanza preminente.“76 Die bereits erwähnte Sorgfalt, mit der Sidonius einzelne Wörter auswählt und platziert, zeugt von seiner Sensibilität für das Detail im sprachlichen Ausdruck. Mit besonderer Deutlichkeit zeigt sich die Verfahrensweise der Atomisierung in den zahlreichen, oftmals minutiösen Beschreibungen, die Sidonius wie viele seiner Zeitgenossen sowohl in den Briefen wie in den Gedichten scheinbar bei jeder Gelegenheit vornahm. Ekphraseis stellen ein idealtypisches Wirkungsfeld der Ästhetik der Kleinform dar. Hier kann der Vorliebe für das Detailhafte auf expressive und exzentrische Weise nachgegangen werden. Michael Roberts hat anhand der Poesie die Technik der detaillierten descriptio als wesentliches Charakteristikum des spätantiken Juwelenstils hervorgehoben.77 In der Prosa zeigen sich ähnliche Muster. So lenkt etwa Sidonius bei seiner Beschreibung Theoderichs II. den Blick des Lesers auf physiognomisch kaum relevante Details wie die struppigen Augenbrauen oder die langen Wimpern des Westgotenkönigs (epist. 1,2,2). Die Vorliebe für eine episodische Darstellungsform steht mit dieser offenkundigen Detailverliebtheit in engem Zusammenhang. Denn eine minutiös ausgeführte Ekphrasis oder eine ausschweifend dargelegte digressio stört die Entstehung eines homogenen Ganzen und befördert die heterogene Partikularität eines Werks. Wie monolithische Blöcke scheinen bisweilen die einzelnen Teile eines Textes in loser Verbindung nebeneinander zu stehen. Dies erklärt auch, warum die Ästhetik der Kleinform in besonderer Weise auch in langen, geschlossenen Texten zum Ausdruck kommen konnte. An einer programmatischen Stelle, dem Prosaepilog zum Burgus Pontii Leontii (carm. 22), verwahrt sich Sidonius gegen allfällige Kritiker, die seine ausschweifende Dar-

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Kanonische Vorbilder solcher partikularer Werke sind Statius und Plinius. Vielleicht ist aus diesem Grund die angestrengte Suche der modernen Forschung nach einer singulären Wirkungsabsicht in Sammlungen dieser Art bisher auch erfolglos geblieben. Zum opus sectile als Ausdruck spätantiker Ästhetik vgl. etwa Hernández Lobato (2012) 339–343. Gualandri (1979) 143. Roberts (1989) 55 ff.

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stellungsweise bemängeln, mit dem beredten Hinweis auf Statius und Horaz:78 Si quis autem carmen prolixius eatenus duxerit esse culpandum, quod epigrammatis excesserit paucitatem, istum liquido patet neque balneas Etrusci neque Herculem Surrentinum neque comas Flavii Earini neque Tibur Vopisci neque omnino quicquam de Papinii nostri silvulis lectitasse; quas omnes descriptiones vir ille praeiudicatissimus non distichorum aut tetrastichorum stringit angustiis, sed potius, ut lyricus Flaccus in artis poeticae volumine praecipit, multis isdemque purpureis locorum communium pannis semel inchoatas materias decenter extendit. Falls aber jemand das Gedicht kritisieren möchte, weil es etwas länger geworden sei und die Kürze eines Epigramms übersteige, wird mit grosser Gewissheit deutlich, dass diese Person die „Bäder des Etruscus“, den „Hercules von Surrentum“, die „Haarpracht des Flavius Earinus“, das „Tibur des Vopiscus“ noch irgend ein anderes Werk aus den „Silvae“ unseres Statius gelesen hat. Denn dieser Autor, dessen guter Ruf seit langem feststeht, hat seine erwähnten Beschreibungen nicht in die Enge eines Zwei- oder Vierzeilers gezwängt, sondern hat stattdessen, wie es der Lyriker Horaz in der „Ars poetica“ vorschreibt, das einmal begonnene Werk durch viele purpurne Lappen von Gemeinplätzen in anmutiger Weise ausgestaltet. (Sidon. carm. 22,5)

Die hier angewandte Legitimationsstrategie, durch die Sidonius seine ausschweifende Darstellungsweise als Befolgen eines horazischen Praeceptums ausgibt, stellt eine nicht unbeträchtliche, positive Ausweitung der ursprünglichen artigraphischen Warnung des Horaz dar: Inceptis gravibus plerumque et magna professis purpureus, late qui splendeat, unus et alter assuitur pannus, cum lucus et ara Dianae et properantis aquae per amoenos ambitus agros, aut flumen Rhenum aut pluvius describitur arcus. sed nunc non erat his locis. (…)

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Gewöhnlich wird an bedeutsame Anfänge und bei grossen Versprechen der eine oder andere purpurne Lappen angebracht, auf dass er weitherum leuchte, wenn etwa der Hain und Altar der Diana, die Windungen eines plätschernden Bachs durch liebliche Felder, der Fluss Rhein oder ein Regenbogen beschrieben wird. Doch war dazu jetzt hier nicht der Platz. (Hor. ars. 14–19)

Während Horaz mit Blick auf die künstlerische Einheit des Werks vor Ekphraseis an unpassenden Stellen (nunc non erat his locis) innerhalb eines gewichtigen Epos (inceptis gravibus … magna professis) warnte,79 hat Sidonius unter nachweislicher Benutzung von Porphyrios’ Horazkommentar die Stelle im Sinne einer Ausgestaltung von Ekphraseis durch „viele purpurne Lappen

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Die Stelle wurde oft behandelt, aber unterschiedlich ausgelegt, vgl. u.a. Loyen (1943) 114; Curtius (1978) 523; Quadlbauer (1980); Delhey (1993) 209–211; La Penna (1995a) 20. Vgl. die Interpretation von Quadlbauer (1980) 2–4.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

von Gemeinplätzen“ umgedeutet.80 Daher bezieht er seine Auslegung auch auf Statius’ Silvae, in denen er die horazische Forderung vorbildlich erfüllt sieht. In der Tat besteht carm. 22 praktisch aus drei grossen Ekphraseis: dem Zug des Bacchus (Vv. 22–63), dem Zug des Apollo (Vv. 64–82) und der eigentlichen Villenbeschreibung (Vv. 101–230).81 Diese zerfallen wiederum in zahlreiche kleinere Detailbeschreibungen, die oft keine direkt erkennbare inhaltliche Sachdienlichkeit besitzen, sondern eben die Ausgestaltung durch die purpurnen Lappen darstellt.82 Daneben ist das Gedicht von einer Vielzahl literarischer Anklänge durchwoben, die – wiederum auf einer anderen Ebene – den mosaikhaften Stil des Textes verstärken: „sul rapporto di emulazione (…) prevale di gran lunga l’uso della ricca tradizione letteraria latina (…) come un materiale da frantumare per ricavarne pietruzze da collocare in un mosaico.“83 Damit in engem Zusammenhang steht das Phänomen der Gattungsinterferenz, wie sie im Briefwerk des Sidonius ohnehin durch die prosimetrische Gestaltung zahlreicher seiner Briefe vorgegeben ist. Diese intertextuelle Mosaikstruktur ist in den Briefen entsprechend häufig. In epist. 2,2 formen sich zahlreiche Anspielungen zu einem diffusen literarischen Puzzle, das der kundige Rezipient zu einem Ganzen zusammenfügen kann, wenn er denn Freude daran findet.84 In epist. 5,17 beschreibt Sidonius seinem Freund Eriphius, wie es zur Produktion eines Epigramms gekommen ist, das er dem Brief beifügte: Der Hergang wird in einzelnen, losen Szenenfolgen erzählt, welche aber detailliert geschildert werden. Diese sprachlich-stilistischen Vorgehensweisen, die seine eigenen Werke auszeichneten, suchte und schätze Sidonius auch innerhalb der Literatur seiner Zeitgenossen. In der langen laudatio, in der er Claudianus Mamertus’ De statu animae preist, hebt Sidonius die teneritudo und dulcedo des Werks hervor, die sich seiner Meinung nach darin ausdrückt, dass Claudian seinen Lesern immer wieder mittels lustvoller Exkurse wohl bemessene Ruhepausen bietet.85 Wie bereits erwähnt, ist Obscuritas solchen Darstellungsformen in natürlicher Weise inhärent, die durch Fokus auf Detail, Miniatur oder Fragment die Entstehung eines einheitlichen Ganzen stören. Mit Blick auf die spätantike Epistolographie ist darüber hinaus noch ein weiterer, mit der Ästhetik der Kleinform aber eng verbundener Aspekt massgebend, der die Ornamentalität eines Textes mitbedingte und die daraus resultierende Verdunkelung gleichsam sekundierte: Der Leitsatz, den Ausonius in seinem Techno80 81 82 83 84 85

So Quadlbauer (1980) bes. 7–8. Vgl. La Penna (1995a) 20–21; Delhey (1993) 13–16. Ein Beispiel bietet Delhey (1993) 25. La Penna (1995a) 5 und 19 mit Beispielen zu carm. 22. Zu dunkler Intertextualität als intellektuellem Spiel vgl. weiter unten: S. 205–209. Sidon. epist. 4,3,4: At vero in libris tuis iam illud quale est, quod et teneritudinem quamquam continuata maturitas admittit interseritque tempestivam censura dulcedinem, ut lectoris intentionem per eventilata disciplinarum philosophiae membra lassatam repente voluptuosis excessibus quasi quibusdam pelagi sui portibus foveat? Vgl. Loyen (1943) 159 mit Beispielen solcher excessus aus Claudians’ Werk De statu animae.

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paignion mit prägnantem Rückgriff auf einen Vers des Vergil programmatisch für die Kleinform benannte, gilt für den spätantiken Kunstbrief in besonderem Masse: In tenui labor; at tenuis non gloria [= Verg. georg. 4,6] („Im Kleinen bewegt sich meine Arbeit, doch gross ist der Ruhm, der sich daraus ergibt.“: Auson. techn. 1,10 ed. Green). Dieser Grundsatz entspricht auch dem ästhetischen Anspruch, den Avitus von Vienne in einem kurzen Brief an Contumeliosus von Riez für ein literarisches Werk im Allgemeinen und einen Brief im Besonderen formulierte. Darin bat Avitus seinen Adressaten um die benedictio für eine reichlich unausgereifte Schrift (einen theologischen Lehrbrief?) von seiner Hand. Zwar liesse sich gewiss eine Entschuldigung für die mangelhafte Qualität finden, wenn denn der schiere Umfang (magnitudo) Avitus’ fehlende Kunstfertigkeit (inertiae meae noxa) überdecken würde. Doch sei sein Werk – was gibt es Schlimmeres? – sowohl kurz (exiguum) als auch noch mangelhaft stilisiert (impolitum).86 Diese affektierte Bescheidenheitsbezeugung von Seiten des versierten Autors verweist erneut exemplarisch auf die hohen formalen Erwartungen, die man einem Brief in der Spätantike entgegenbrachte. Dass dieser Anspruch in gleicherweise für den Privatbrief (familiaris charta) galt, untermauert Symmachus, wenn er an einem knappen Schreiben des Flavianus nicht die Kürze an sich, sondern dessen mangelhafte stilistische Ausgestaltung kritisierte: Redditae sunt mihi primae litterae tuae tam breves, tam festinatae, ut iter tuum viderentur imitari. sed si mihi credis, non est in illis desiderata prolixitas. omnia enim quae de amplitudinis tuae prosperis nosse cupiebam, succincta enumeratione conplexus es. quanta valetudine vigeas, qua celeritate pervectus sis, quid in aeterno principe serenitatis inveneris. ausim dicere uberiorem rebus quam verbis fuisse illius epistulae paginam; nam multa erant quae gaudere deberem, cum essent pauca quae legerem. tu tamen posthac memento etiam familiares chartas rigare facundiae tuae copiis. Ich erhielt deinen ersten Brief, der so eilig und kurz war, dass er deine Reise abzubilden schien. Doch glaube mir, es fehlte ihm nicht an der inhaltlichen Fülle, die ich mir erhofft hatte. All das, was ich über die glücklichen Umstände deiner Erhabenheit zu erfahren verlangte, hast du in knapper Aufzählung angesprochen: Wie es dir gesundheitlich geht, mit welcher Geschwindigkeit du gereist ist, welche Heiterkeit du bei unserem unsterblichen Kaiser angetroffen hast. Ich würde fast sagen, die Seite dieses Briefes war reicher an Inhalt als an Worten, denn er enthielt vieles, über das ich mich freuen musste, obwohl ich nur wenig zu lesen hatte. Dennoch, denke fortan daran, auch Privatbriefe mit der Fülle deiner Beredsamkeit zu benetzen. (Symm. epist. 2,8,1–2)

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Avit. epist. 15 ed. Peiper, 48,3–6: Benedictionem quippe flagito operi imperfecto. esset fortasse quantulacumque excusatio, si in eo inertiae meae noxam velaret at tegeret magnitudo. nunc vero exiguo pariter atque impolito quid potest esse deformius? Im Falle von offiziellen Briefen an den Kaiser macht Avitus eine Ausnahme. Diese müssten weniger ausgefeilt sein (minus expolitus), da sie die Byzantiner ansonsten nicht verstünden: Avit. epist. 49 ed. Peiper. Vgl. dazu auch Malaspina (2001) 21.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

Obscuritas ist, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, sowohl Ausdruck als auch Folgeerscheinung dieses Drangs nach sprachlicher Perfektion und stilistischer Artistik, welcher sich in einer epistolaren elocutio artifex herauskristallisierte. b. Obscuritas als Artefakt: Spätantiker Briefstil zwischen Kunst und Künstlichkeit Nach dem Tod des Lampridius schickt Sidonius einen langen Brief an einen gemeinsamen Freund, den Rhetor und Dichter Lupus von Périgueux, worin er diesem unter anderem die genauen Todesumstände – Lampridius wurde von seinen eigenen Sklaven ermordet – erläutert und eine kurze Skizze der charakterlichen Vorzüge und Mängel des Verstorbenen präsentiert (epist. 8,11). Sidonius kommt darin unter anderem ausführlich auf die herausragende rhetorische und literarische Kunstfertigkeit seines Freundes zu sprechen. Dessen Schriften und Reden habe eine Vorliebe für das Auserwählte und Einzigartige ausgezeichnet. Sidonius verdeutlicht dies exemplarisch anhand des von Lampridius verwendeten Vokabulars: Huc, ut arreptum suaserat opus, ethicam dictionem pro personae, temporis, loci qualitate variabat, idque non verbis qualibuscumque, sed grandibus, pulchris, elucubratis. Dazu kommt, dass er, wie es das jeweilige Werk verlangte, die den Charakter abbildende Diktion seiner Rede der Person, der Zeit und dem Ort anpasste, und dies tat er nicht mit beliebigen, sondern mit grossartigen, prachtvollen und auserwählten Worten. (Sidon. epist. 8,11,6)

Lampridius war nach dem Urteil des Sidonius nicht nur befähigt, Stilregister und Tonfall seiner Werke gemäss der rhetorischen Vorgabe des aptum der jeweiligen Situation anzupassen, sondern tat dies auf lexikalischer Ebene auch auf extravagante Art und Weise (non verbis qualibuscumque). Das asyndetische Trikolon grandia pulchra elucubrata benennt mit der Erhabenheit des Ausdrucks und der formalen Schönheit zwei zentrale Aspekte dieser Sprachkunst. Der entscheidende Schlüsselbegriff ist jedoch elucubrata, mit dem der gewählte Ausdruck bezeichnet wird. Erst das elucubrare, die in zeitraubender Nachtarbeit (lucubratio) durchgeführte, sorgfältige Ausarbeitung eines Textes87 ermöglicht die Extravaganz und sprachliche Einzigartigkeit, die „poetica dell’insolito“, die für Sidonius’ eigene Werke massgeblich war. Anziehung und Reiz eines solchen Stils war in der Spätantike selbst in negativen (christlichen) Kontexten unbestritten.88 Die verba grandia, pulchra, elucubrata, welche die Werke des Lampridius auszeichneten, waren jedoch lediglich ein Bestandteil der sorgsamen sprachlich-stilistischen Ausarbeitung, der „Politur“, welche der sermo cultus gerade auch für litterae litteratae vorsah.89 Dass guter Stil der „Feile“ bedurfte, stand für die Angehörigen der Bildungs87 88 89

So schon bei Cicero, vgl. ThLL 5.2, 428–429. Vgl. z.B. Ennod. carm. 1,8 praef. 6 ed. Vogel, 30,15–16: amove, quaeso, quam adhibes ad invitandum me elucubrati sermonis inlecebram. Sulp. Sev. epist. 3,3: tu sola es rea, tu sola culpabilis, quae et mihi insidiaris et illos fraude

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elite unfraglich fest.90 So ist denn das mit dem Verb polire und seinen Ableitungen bezeichnete Postulat sprachlich-stilistischer Perfektion eine Konstante in der spätantiken Literaturkritik. Die Metaphorik von Licht, Glanz und Farbe dominiert die spätantike Bezeichnung von rhetorischem Schmuck: Nitor, splendor, aurum, brattea, diadema, gemma, ostrum, purpura sind stilästhetische Begriffe, anhand der spätantike Autoren ihre eigene oder fremde Sprachkunst (elocutio) zu bezeichnen pflegten.91 So verstand Sidonius seine Briefsammlung als Zusammenstellung von litterae paulo politiores, die er seinem Widmungsträger Constantius zur kritischen Durchsicht und weiteren Verfeinerung übergab: (…) tuaeque examinationi has non recensendas (hoc enim parum est) sed defaecandas, ut aiunt, limandasque commisi („und ich habe dir diese Briefe nicht zur kritischen Durchsicht – das wäre zu wenig – sondern zur Reinigung und, wie man sagt, zum Schliff mit der Feile übergeben.“: Sidon. epist. 1,1,3).92 Die angestrengte Suche nach ungewohnten Wendungen, kühner Metaphorik und lexikalischen Besonderheiten versah Sidonius’ Briefe und Gedichte zwar mit Glanz und Farbe, doch wurden sie dadurch auch schwer verständlich und dunkel.93 Dabei handelt es sich durchaus um einen intendierten Effekt, wie im Einzelfall noch zu erweisen sein wird. Durch diese Verfahrensweisen, die ziemlich genau Quintilians Definition der Kakozelie entsprechen,94 haftete den Texten etwas Künstliches und Unnatürliches an. Die Künstlichkeit des Stils, die „artificialización de lo natural“ (J. Hernández Lobato)95 ist Folge einer in der Spätantike vorgenommenen Umstrukturierung einer rhetorischen Lehrvorstellung. Das klassische Ideal der Natürlichkeit und Ungezwungenheit, die mit den Mitteln rhetorischer Kunst angestrebt wurde,96 hatte einer neuen Ästhetik Platz gemacht. An die Stelle der dissimilatio artis, die eine Natürlichkeit zweiter Stufe zum Ziel hatte, trat in der Spätantike das Postulat der adfectatio, der ostentativ zur Schau gestellten Künstelei, die sich auch in der bildenden Kunst manifestierte.97 Die in der zeitgenössischen Literatur feststellbare Tendenz einer sprachlich-stilistischen Artistik ist Ausdruck dieses ästhetischen Wandels: „La forma debe dejar de ser

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circumvenis, ut sine dilectu ullo familiariter scripta aut neclegenter emissa inlucubrata tibi penitus atque inpolita tradantur. Vgl. z.B. Sidon. epist. 9,3,5: tropologicum genus ac figuratum limatisque plurifariam verbis eminentissimum. Zu den Stellen: Bruhn (1911) 36–41. Vgl. auch Sidon. epist. 8,16; epist. 9,11. Roberts (1989) 75: „The meaning of a sentence is only with difficulty perceived amid the disconcerting impression of verbal dazzle.“ Quint. inst. 8,3,57. Hernández Lobato (2012) 253 ff. U. a. Arist. rhet. 3,2,4; Quint. inst. 4,2,56–57; Quint. inst. 4,2,58: arte occulta „durch unmerkliche Kunst“. Vgl. dazu Till (2009) und in einem grösseren Rahmen D’Angelo (2005). Vgl. dazu die ausführlichen Darlegungen von Hernández Lobato (2012) 451–518.

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algo discreto y casi transparente, para pasar a convertirse en un objeto ostentible y dominante (…) capaz de poner al descubierto la inherente artificiosidad del gran mecanismo simulador en que consiste la literatura.“98 In dieser Hinsicht wird auch verständlich, warum Symmachus in einem Brief an Ausonius gerade den Fischkatalog der Mosella lobend hervorhebt, erschien ihm Ausonius’ Darstellung der Fische doch geradezu supra naturae dona (Symm. epist. 1,14,4).99 Eindeutig surreale Züge lassen sich auch in Ausonius’ Cupido cruciatus nachweisen, der poetischen Ekphrasis eines wohl fiktiven Gemäldes.100 Die Natur zu übertreffen war auch das künstlerische Ziel, das Theoderich für die neue Marmorierung der Hercules-Basilica in Ravenna vorschwebte: De arte veniat, quod vincat naturam, wie es Cassiodor eloquent ausdrückte („Von der Kunst rührt her, was die Natur übertrifft“: Cassiod. var. 1,6,2).101 Gerade bei Cassiodor tritt die Vorstellung, dass die Kunst die Natur in mimetischer Nachahmung weiterbilden und verbessern kann, regelmässig auf.102 In der spätantiken Epistolographie ist dieser ästhetische Trend wie durch ein Brennglas sichtbar.103 Dies zeigt sich nicht nur in der exzessiven Bildsprache, in der sich die Autoren ausdrücken. Ein so einfaches wie eindringliches Beispiel ist bereits die bewusste Durchbrechung der brieftypischen, ja briefkonstituierenden Gesprächssituation in Ennod. epist. 1,3,3, wo Ennodius sich unvermittelt mit einer Apostrophe an die personifizierte Klage wendet: debeo vobis amicitiam, querimoniae meae! Die Stelle zeigt, dass man in keiner Weise gewillt war, im Brief ein alltägliches Gespräch mimetisch abzubilden, so wie es die rhetorische Theorie vorschrieb. Vielmehr wollte man plakativ auf die Künstlichkeit des brieflichen Dialogs verweisen.104 Die Vorgaben der Rhetorik und der epistolographischen Tradition blieben dabei gleichwohl massgeblich. Als ein Resultat dieser gegenläufigen Prinzipien kann die künstliche Nachlässigkeit, die an die Stelle scheinbar „wirklicher“ Nachlässigkeit trat, bestimmt werden. In einem Brief an Olybrius kommt Ennodius ausführlich auf das Gebot der neglegentia zu sprechen: 98 Hernández Lobato (2012) 456. 99 Das Beispiel zitiert Roberts (1989) 70. Vgl. auch Nugent (1990) 43. 100 Nugent (1990) 42–43. Nugent verweist in diesem Kontext auf Onians (1980), der die realitätstransgredierende amplificatio als entscheidendes Merkmal spätantiker Ekphraseis bestimmte. 101 Zur Interpretation dieses Briefs vgl. Kennell (1988). 102 Cassiod. var. 2,39,3; var. 4,51,3 f.; var. 9,3,4. Vgl. Kakridi (2005) 121. 103 In eine ähnliche Richtung argumentiert auch van Waarden (2010) 62–66, der in diesem Zusammenhang aber stärker den Eigenwert der Briefkunst und ihre innere Abgrenzung zur Realität betont (65): „there are autonomous forms which reduce the impact of reality in order to create a reality of their own.“ 104 Hierin äussert sich nicht zuletzt ein Wunsch nach Abgrenzung von den Alltagsbriefen der illiterati. Dass mit diesem Begriff nicht Analphabeten im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr die „intellectuels de deuxième zone“ bezeichnet wurden, hat Banniard (1992b) 422 gezeigt. Allgem. zu den sozialen Abgrenzungsbestrebung der Bildungselite vgl. S. 80–88, sowie mit Fokus auf Obscuritas weiter unten: S. 213–227.

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Ut tradit quaedam eloquentiae persona sublimis, lex est in epistulis neglegentia et auctorem genii artifex se praebet incuria. in quo opere illud subducitur gratiae quod cruciatuum testis sudor invenerit. caminis excocta fabrilibus verba non flagitat salutis suae nuntius et quaesitor alienae. melius si in his commerciis pura elocutionum fronte congredimur; diademata simplex conloquii cultus abiurat; epistolaris communio, si quando adfectatum decorem fugit, obtinuit. sed magnitudinis vestrae dives et elucubrata narratio mendicis limitibus nescit includi nec oris thesaurum quibuscumque artare confiniis: magnorum more fluminum riparum frena contemnit. Wie es eine in der Beredsamkeit herausragende Persönlichkeit überliefert, ist Nachlässigkeit in Briefen Pflicht und eine kunstvolle Sorglosigkeit zeigt die Begabung des Autors. In dieser Gattung wird dem Beifall entzogen, was der Schweiss als Zeuge qualvoller Arbeit hervorgebracht hat. Die Mitteilung der eigenen Gesundheit und die Frage nach dem Wohlergeben des Adressaten benötigen keine Worte, die in der Esse geschmiedet wurden. Es ist besser, wenn wir uns im Briefverkehr ohne rhetorische Stilisierungen begegnen: Die natürliche Zierde des Gespräch bedarf keines sprachlichen Prunks; ein brieflicher Austausch hat diese dann erlangt, sobald er auf gesuchten Schmuck verzichtet. Doch die kostbare und ausgefeilte Ausdrucksweise105 deiner Erhabenheit kann nicht auf armselige Grenzen reduziert und der Schatz deiner Worte nicht durch irgendwelche Beschränkungen eingeengt werden: nach Art mächtiger Ströme verabscheut deine Rede die Begrenzung durch das Ufer. (Ennod. epist. 2,13,1–2)

Der für das Verständnis des ennodianischen Stilideals wichtige Brief wird mit indirektem Verweis auf Symmachus’ Gebot der neglegentia eingeleitet.106 Ennodius bestätigt zuerst affirmativ dessen Maxime: Die incuria artifex eines Briefs bringe das literarische wie intellektuelle Talent eines Autors (auctorem genii) zum Vorschein. Denn briefliche Grussbotschaften benötigten keine kunstvoll erzeugten Worte noch bedürfe aufrichtige Schönheit (simplex cultus) einer auffallenden Glanzwirkung (diademata). Nach dieser Bestätigung folgt mit starkem sed sogleich die Einschränkung: Der Reichtum von Olybrius’ Worten und sein wertvoller und in ausgefeilter Sprache vorgebrachter Bericht könne natürlich nicht auf solche mangelhaften Grenzen beschränkt werden.107 Denn eine reichhaltige Sprache bezeuge schliesslich die Ernsthaftigkeit, mit der man sich einer Sache annehme.108 Ennodius’ Postulat der künstlichen Nachlässigkeit, von der er die Sprachkunst seines Adressaten dezidiert ausnimmt, wirkt hier im Sinne einer captatio benevolentiae des hochrangigen Amtsträgers, der im Folgenden als idealer Redner und Staatsmann dargestellt wird. Ennodius’ eigener Sprachstil weist indes dieselbe Sorgfalt und verdunkelnde Kunstfertigkeit auf, die er an seinem Adressaten lobt. Die lucubratio seines eigenen Briefes ist hier Ausdruck 105 Zur Bedeutung von narratio in diesem Kontext vgl. weiter unten: S. 210 Anm. 356. 106 So wohl zurecht Gioanni (2006) ad loc. mit Verweis auf Symm. epist. 7,9: ingeniorum varietas in familiaribus scriptis neglegentiam quandam debet imitari. Vgl. dazu weiter oben: S. 17. 107 Die Metaphorik des entfesselten Wassers zur Bezeichnung der Kraft der Rhetorik findet sich auch in Ennod. epist. 1,1; epist. 2,9. Vgl. Gioanni (2006) ad loc. 108 Dies wird im Folgenden weiter ausgeführt: et nisi vobis quietis nostrae testimonio reipublicae gubernacula sentiremus fuisse commissa (…) paene vos sola putaremus paginalis stili cura et adsiduitate macerari.

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der sozialen Wertschätzung, die er seinerseits Olybrius entgegenbringt. Das Beispiel verdeutlicht erneut die entscheidende soziale Bedeutung, die der elocutio artifex in der brieflichen Kommunikation zwischen den Angehörigen der spätantiken Bildungsgemeinschaft zugemessen wurde. Zugleich war sich Ennodius der grundsätzlichen Gefahr, die von einer hochgradigen rhetorischen Stilisierung ausging, durchaus bewusst.109 Mehrfach wendet er sich in seinen Briefen dezidiert gegen eine Rhetorik der reinen Äusserlichkeit, die hinter einer wohlgeschmückten Fassade eine falsche Freundschaft vorspiegelt. Die Aufrichtigkeit der freundschaftlichen Liebe ist der pomposa elocutio und dem cultus linguae (Ennod. epist. 2,17,1) in jeder Hinsicht vorzuziehen, wenn diese der Wahrheit entgegengesetzt sind. Vor diesem letzten Endes christlich-moralischen Hintergrund ist also Ennodius’ verschiedentliche Ablehnung heidnischer Eloquenz zu verstehen.110 Der spätantike Epistolograph und Dichter verstand sich als Handwerker (artifex).111 Leitinstanz war die in der Bildungsgemeinschaft über die Schule vermittelte rhetorische Kunstfertigkeit (lex artis: Avit. epist. 57 ed. Peiper, 86,15). Eines ihrer Stilideale, auf die immer wieder verwiesen wurde, war die proprietas linguae Latinae. Massgeblicher Referenzpunkt waren dabei die klassischen römischen Bildungsautoren.112 Symmachus‘ Sohn gab diesem Selbstverständnis einmal gegenüber seinem Vater in einer einprägsamen Metapher Ausdruck: Unus aetate nostra monetam Latiaris eloquii Tulliana incude finxisti („Als einziger in unserer Zeit hast du der lateinischen Eloquenz ihre Prägung auf dem Amboss Ciceros eingegeben.“: Symm. epist. 1,3,2).113 In dieselbe Richtung weist auch die bekannte Feilen-Metaphorik, die Ennodius an einer Stelle für sich in Anspruch nimmt: In ironischem Ton rechtfertigt er sich gegenüber Pomerius für den mangelhaften Sprachstil seiner Briefe, die er ohne Sorgfalt diktiert habe. Ein aufmerksamer Leser wie Pomerius (sollicitus scrutator: in negativem Sinn „ein Pedant“) müsse in den verba infabricata zwangsläufig auf Stellen stossen, die noch der Feile bedürften.114 Die Sprache wurde also durch Anset109 Ennodius legte in der Paraenesis seinen Lesern die Rhetorik als Machtmittel offen, vgl. dazu Schröder (2007) 96–105. 110 Ennod. epist. 1,3; epist. 2,7; epist. 3,31; dict. 21. Vgl. dazu Gioanni (2010) XVIIf. und 110 Anm. 5. 111 Vgl. etwa Sidon. epist. 4,8,5: (…) sed tuae culpae primus ignosce, qui spatii plus praestitisti argentario quam poetae, cum procul dubio non te lateret intra officinam litteratorum carminis si quid incus metrica produxerit non minus forti et asprata lima poliri. Vgl. dazu Condorelli (2004). 112 Sidon. epist. 2,10,1; epist. 3,14,2; Ennod. epist. 1,15,2 (Romana dote; stilum Latiarem); epist. 7,26,2 (ostrum Latiaris eloquii). Eine Definition der Latinitas in der Spätantike liefert etwa Mar. Victorin. gramm. ed. Keil, 189,1–7: Latinitas quid est? observatio incorrupte loquendi secundum Romanam linguam. quot modis constat latinitas? tribus. quibus? ratione, auctoritate, consuetudine. ratione quatenus? secundum technicos, id est artium traditores. quid auctoritate? veterum scilicet lectionum. quid consuetudine? eorum verborum, quae e medio loquendi usu placita adsumptaque sunt. 113 Zum Ausdruck vgl. Sidon. epist. 9,13,2: Horatiana incude formatos Asclepiadeos. 114 Offenbar hat sich Pomerius stilkritisch über die Briefe des Ennodius geäussert, wie die-

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zen der „Feile der Gelehrsamkeit“ (lima peritiae: Ennod. carm. 1,7 praef. 2 ed. Vogel, 27,21), durch die man die noxa inertiae (Avit. epist. 15 ed. Peiper, 48,4–5) konsequent ausmerzte, nicht nur eruditus, sondern auch artificiosus. Die gelehrte fabricatio zielte also – wieder im zitierten Beispiel des Symmachus – gerade nicht auf eine mimetische Abbildung des historischen Sprachstils Ciceros, sondern war vielmehr dessen künstlich-kunstvolle Reproduktion auf der Folie spätantiker Ästhetik. Vor diesem Hintergrund erscheint verständlich, dass spätantike Epistolographen ihren formalen Kunstanspruch in entsprechenden Formulierungen zum Ausdruck brachten: Das Schreiben von Briefen galt als epistolaris concinnatio (Auson. epist. 12,3 ed. Green; Ennod. epist. 4,9,1) oder als epistolaris confabulatio (Ennod. epist. 2,26,1). Bereits die zu Beginn dieser Arbeit analysierten Beispiele haben erahnen lassen, dass die affektierte fabricatio des sprachlichen Ausdrucks ein entscheidender Faktor bei der Verdunkelung spätantiker Briefe darstellt. Sie ist intendierte Begleiterscheinung jener Kunstfertigkeit, mit der die Angehörigen der Bildungselite – zumindest in bestimmten Kontexten und für bestimmte Kommunikationsräume – ihre Texte „schmiedeten“. Dabei ist das jeweilige „Umarbeiten“ der normativen Stilvorlage zugleich Ausdruck eines ostentativen Emanzipationsstrebens, das nicht nur für die spätantike Epistolographie, sondern für die spätantike Literatur generell als typisch angesehen werden muss: Im Prozess der imitatio entstand auf dem Amboss Ciceros aus der normativen Vorlage etwas dezidiert Neues, das aber immer noch mit dem Alten verbunden und dadurch auch legitimiert war.115 Das Neue oder „Moderne“ dieser Literatur nährte sich zu weiten Teilen aus der provokativen Auseinandersetzung mit den vorgegeben Stil- und Gattungsmodellen, die es zu übertreffen galt.116 Dies zeigte sich unter anderem im Bemühen um neue literarische Untergattungen und Genres117 sowie – auf der Ebene von Stil und Sprache – im Streben nach einer Übersteigerung von formalen Elementen, was sich etwa in Metaphernkonglomeraten, Abstraktahäufungen oder einer künstlichkomplexen Diktion äussern konnte. Innerhalb dieser literarischen Selbstverortung übernahm Obscuritas gerade in der Epistolographie eine entscheiser vom Briefboten erfahren haben will, vgl. Ennod. epist. 2,6,3: Quantum habuit praesentium portitoris sancti Felicis adsertio, in epistulis meis sine cura dictatis Romanam aequalitatem et Latiaris undae venam alumnus Rhodani perquirebas. sollicitus credo scrutator et diligens quid lima poliret invenit, dum per infabricata verba discurreret. 115 Dabei schöpfte man bekanntlich aus dem Vollen: Gemäss Claudianus Mamertus epist. 2 ed. Engelbrecht, 205–206 sind für den Rhetor Sapaudus folgende Autoren massgeblich: Naevius, Plautus, Cato, Varro, Gracchus, Chrysippus, Fronto und Cicero. Für die Briefstellerei werden regelmässig Cicero, Plinius, Fronto und (als einziger spätantiker Autor) Symmachus genannt, vgl. Sidon. epist. 1,1,1–2; epist. 8,10,1. 116 So lobt Sidonius die Sprache seines Freundes Claudianus Mamertus, die an antiquitas selbst die alten Vorbilder übertreffe, vgl. Sidon. epist. 4,3,3: Nova ibi verba, quia vetusta, quibusque conlatus merito etiam antiquarum litterarum stilus antiquaretur. Vgl. dazu auch Köhler (1995) 24. 117 Vgl. z.B. Mart. Cap. 1,2: Dum crebrius istos Hymenaei versiculos nescioquid inopinum intactumque moliens cano (…).

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dende Rolle, da sie in offenem Widerspruch mit der rhetorischen Vorgabe der Perspicuitas stand und damit in direkte Konfrontation mit der Schule und der in ihr vermittelten Stilnormen trat. Sprachliche Verdunkelung muss demzufolge als ostentative Bekundung der literarischen Ambitionen spätantiker Epistolographen verstanden werden. Gesuchte Wendungen und gestelzte Formulierungen wie etwa Sidonius’ Bitte an Domitius: Proinde mihi tribue veniendi celeritatem, nam redeundi moram tibi ipse praestabis („Daher mach mir das Geschenk deiner baldigen Ankunft, denn eine verzögerte Rückkehr wirst du dir selbst zum Geschenk machen.“: Sidon. epist. 2,2,20) oder Ennodius’ kaum übersetzbare Metaphernverbindung faleratis verborum superciliis („durch den Hochmut gekünstelter Worte“: Ennod. epist. 1,5,5) sind Ausdruck der elocutio artifex, die mehr war als artistische Materialbeherrschung und die Vorführung von Bildung,118 sondern vielmehr als Abbild der ästhetischen Überzeugung von der Reichhaltigkeit und wandelbaren Lebendigkeit zeitgenössischer lateinischer Kunstprosa aufzufassen ist.119 Damit in engem Zusammenhang steht ein weiteres Element spätantiker Ästhetik, dem entscheidenden Einfluss bei der Entstehung und Kultivierung von sprachlicher Obscuritas zugemessen werden muss: dem Ekel vor dem „Leichten“. Bereits Quintilian kritisierte, dass eine einfache und verständlich formulierte narratio als ungebildet gelte, weshalb viele sich zu einer übermässigen Stilisierung hinreissen liessen. Die Folge davon sei, dass die Rede zwar Gefallen finde, aber von niemandem mehr verstanden werde: placet actio, causa non intellegitur (Quint. inst. 4,2,39). Die kontinuierliche Suche nach Schwierigem und schwer Verständlichem im sprachlichen Ausdruck kann als Charakteristikum zumindest eines Teils der spätantiken Literatur verstanden werden.120 Die Antithese von „schön“ und „leicht verständlich“ beruht letztlich auf der Gleichsetzung von leicht und oberflächlich, weil die Entzifferung mühelos geschieht.121 Dieses Prinzip begünstigt wiederum Obscuritas: Ein Text kann durch sprachliche oder inhaltliche Verdunkelung bewusst verrätselt werden, um ihm ein gewisses Ansehen zu verleihen. Dadurch steigen aber zugleich die Anforderungen an den jeweiligen Rezipienten, dessen kompetente Mitarbeit am Text zur zwingenden Voraussetzung für den Erfolg der brieflichen Kommunikation wird. Ennodius hat diesen Anspruch an den Kommuni-

118 So etwa das Urteil von Loyen (1943) 124: „Mondanité et érudition, voilà les deux pôles entre lesquelles oscille notre enquête et qui expliquent non seulement l’esprit et la manière de Sidoine, mais aussi de presque tous les poètes paiens du Bas-Empire.“ 119 Gioanni (2004) 537: „La complexité des épîtres ne se réduit pas à la prudence: le style tenebrosus et obscurus des épistoliers montre que la préciocité était considérée comme un signe de richesse et de vitalité de la latinité.“ 120 Nämlich für jene Werke, die innerhalb eines kleinen, elitären Kommunikationsraums produziert und rezipiert werden. Hernández Lobato (2012) 451 spricht von der „busqueda constante de lo mas difficil“. Zur Literatur des aristokratischen Otium vgl. ausführlich weiter unten: S. 188–212, bes. 192ff. 121 Dass es sich dabei um ein überzeitliches soziolinguistisches Phänomen handelt, verdeutlichte etwa Bourdieu (1979).

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kationspartner an mehreren Stellen in programmatischer Weise formuliert.122 Damit fordert der spätantike Epistolograph letztlich von seinem Rezipienten ein, was gemäss Quintilian (inst. 8,2,23) zumindest ein Redner bei seinem Publikum nicht erwarten darf, nämlich ein erudite intellegere.123 Der Drang nach Ornamentalität, nach Perfektion im Kleinen und kunstvollkünstlicher Artistik im sprachlichen Ausdruck einerseits und der Wunsch nach Abgrenzung vom massgeblichen Kanon andererseits erscheinen demzufolge als zentrale Faktoren für die Entstehung und Ausprägung von Obscuritas in der spätantiken Epistolographie. Damit in enger Verbindung steht mit der Vorliebe für Licht und Glanz ein weiteres Grundelement spätantiker Ästhetik, das im Wechselspiel von Hell und Dunkel die Entfaltung literarischer Obscuritas entscheidend begünstigt und befördert hat.

2.1.2. Licht-Blicke: Ästhetik der Illumination a. Licht und Glanz in der ästhetischen Wahrnehmung der Zeit Stilistischer Schmuck (ornatus) wird in der rhetorischen Theorie traditionell mit Hilfe eines umfangreichen metaphorischen Vokabulars umschrieben. Neben den gängigen Geschmacks- und Geruchsmetaphern betonen Begriffe wie color, flos, gemma, claritas oder lumen und ihre Ableitungen in erster Linie eine optische Wahrnehmung von Sprachschmuck. Mit diesen Stilkategorien in natürlicher Weise verbunden ist das Prinzip der varietas, die im Wechsel der Wörter und der grammatikalischen Struktur den Texten ihre Farbe und ihren Glanz verleiht.124 Cicero vergleicht im Orator das stilistische Vorgehen der Sophisten mit der Arbeitsweise von Malern: 125 (…) verba apertius transferunt eaque ita disponunt ut pictores varietatem colorum, paria paribus referunt, adversa contrariis, saepissimeque similiter extrema definiunt. (…) offener verwenden sie Worte in übertragenem Sinn und ordnen diese so an wie es Maler mit unterschiedlichen Farben tun: Gleiches fügen sie parallel, Gegensätze in einer Antithese und sehr häufig lassen sie Satzschlüsse ähnlich enden. (Cic. orat. 19,65)

Horaz bringt diese Analogie auf die bekannte Formel ut pictura poesis.126 Gemeint ist, dass beide Medien, Sprache und Bild, in gleicher Weise Abwesendes sinnlich veranschaulichen, wahrnehmbar machen oder sogar ersetzen 122 Vgl. Ennod. epist. 1,1,1; epist. 2,7,1: itinera aperienda falce doctrinae; epist. 3,31,2. Vgl. dazu auch weiter unten: S. 209f. 123 Vgl. zu diesem Zitat weiter oben S. 23. 124 In der Rhetorik heisst der ornatus mit Akzent auf die varietas in der Regel flos, vgl. Lausberg (1960) § 543,8. Zur späteren Entwicklung vgl. Roberts (1989) 48 ff. 125 Vgl. auch Cic. de orat. 3,25,100. 126 Hor. ars. 361. Zum horazischen Kontext vgl. etwa Trimpi (1978), zum Problemfeld „BildText“ in der antiken Wahrnehmungstheorie etwa Vogt-Spira (2002).

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können. Dabei sind in Texten zwei Wahrnehmungsebenen zu unterscheiden: die Wirkung der Mimesis, bei der ein Abbild eines Gegenstandes oder eines Vorgangs vor dem geistigem Auge der Rezipienten evoziert wird,127 und das ästhetisch-sinnliche Erlebnis selbst, das durch die schmuckvolle Anordnung und Auswahl der Wörter und Sätze im Text erzeugt wird. Von letzterem stammt die Vorstellung eines poetischen Textes als Blumenkranz.128 In der Ekphrastik überlagern sich beide Bereiche. So erhebt etwa Philostrat den Anspruch, dass seine Leser bei der Beschreibung eines Gartens die Äpfel nicht nur vor ihrem inneren Auge sehen, sondern auch riechen können.129 Den Augen kommt bei der sinnlichen Wahrnehmung von Sprache der Vorrang zu. Man hat feststellen können, dass die metaphorische Beschreibung von literarischem ornatus sich bis zur Spätantike zunehmend auf eine visualitätsbezogene Begrifflichkeit verlagerte.130 Für die Menschen der Antike kommt den Augen und der damit verbundenen optischen Wahrnehmung insgesamt eine grosse Bedeutung zu, was weit über den Bereich der Literatur hinaus fassbar ist.131 In Kaiserzeit und Spätantike schliesslich rückt das mit diesem Sinnorgan untrennbar verbundene Phänomen des Lichts immer stärker ins Zentrum eines religiösen und philosophischen Interesses.132 Hier verdichten sich im intellektuellen Diskurs die verschiedenen Lichtmetaphern zu einer regelrechten Lichtmetaphysik, deren Ansätze auf Platons Höhlengleichnis zurückgehen.133 Darüberhinaus zeigt sich in dieser Zeit in vielen Bereichen des Lebens die Ausprägung einer „diffusen, zugleich omnipräsen-

127 Dabei handelt es sich aus der Perspektive der modernen Philosophie (gegen Plat. rep. 596) immer um einen schöpferischen Akt und keine unmittelbare Wiedergabe, vgl. Angehrn (1995). 128 Vgl. u.a. Lucr. 1,928–929; Hor. carm. 1,26,7–8. Für weitere Beispiele vgl. ThLL 6,931,51– 58. In der Spätantike wurde diese Metaphorik auch auf die Kunstprosa übertragen, vgl. Roberts (1989) 49–50. Gemäss Condorelli (2013) 131 verweist Sidonius in epist. 9,13,5 V. 40 mit der Wendung redolentia serta metapoetisch auf die am beschriebenen Symposium entstandenen Kleingedichte. Vgl. zu dieser Terminologie auch weiter unten: S. 165f. 129 Philostr. eik. 1,6,1. Vgl. Schönberger (1995) bes. 167 f.; Vogt-Spira (2002) 31. 130 Vgl. Roberts (1989) 47–55, 66 ff. Daneben blieb die Geschmacksmetaphorik aber weiterhin von Bedeutung: vgl. z.B. Ruric. epist. 1,4,4–5; epist. 1,5,4. Insbesondere Sidonius verwendet regelmässig eine breite Palette an unterschiedlichen Stilmetaphern: Sidon. epist. 9,12,1: Venit in nostras a te profecta pagina manus (…), nam recensenti lucida et salsa est, nec tamen propter hoc ipsum mellea minus. sed sermo dulcis et propositionibus acer; Sidon. epist. 8,11,7: non pauca piperata, mellea multa conspiceres, omnia tamen salsa cernebas; Sidon. epist. 4,16,1: plus mellis an salis habeat incertum est. Vgl. Loyen (1943) 170– 171. Weitere Stellen finden sich bei Bruhn (1911) 31–35, der die Geschmacksmetaphorik auf die compositio, die Lichtmetaphorik hingegen auf die elocutio beziehen möchte. 131 Vgl. mit Blick auf die Griechen etwa das Diktum von Pohlenz (1947) 166: „Die Hellenen sind Augenmenschen.“ Ferner Bremer (1976) 49–50 und Mehtonen (2003) 13. Zum Auge als hermeneutisches Instrument vgl. weiter unten: S. 187–188. 132 Zur vielfältigen Semantik von Licht und Feuer in der Antike und Spätantike, vgl. die einschlägigen Lemmata von Gagé (1969) und Wallraff (2010). 133 Einen Überblick bietet Wallraff (2010) 130–135.

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ten ‚Lichtkultur’“ nicht zuletzt auch in der Ausdifferenzierung der einschlägigen Termini und der zunehmenden Breite der semantischen Spektren.134 Die Einbeziehung des Lichts in die Gestaltung repräsentativer Innenräume ist ein besonderes Charakteristikum der spätantiken Architektur. Für die monumentale Hallenarchitektur der grossen Basilikalbauten aus tetrarchischer und konstantinischer Zeit entwickelte man neue Raumkonzepte, die sich durch ihre herausragende Lichtführung auszeichneten.135 Belichtung und Raumform standen demgemäss in enger Beziehung. Die konsequente Durchfensterung der Trierer Palastaula unter Einbezug der Apsis gewährte einen lichtdurchfluteten Innenraum, während selbst die Aussenwand „nicht in Licht und Schatten differenziert, sondern aus demselben Element, dem Licht bestehend“136 erschien. Die Wandmosaike nahmen das einfallende Licht auf und reflektierten es in der Weise, „dass sich das Verhältnis von Wand- und Lichtöffnungen im Gegensatz zu früheren Bauten völlig umkehrt[e]. Der Bau ist nun nicht mehr von Körpern bestimmt, sondern in völligem Gegensatz dazu von den Reihen der Lichtflächen der Fenster – eine Architektur aus Licht“.137 In der spätantiken Literatur wird der alte Vergleich mit den bildenden Künsten, mit Malerei, Plastik und Architektur, immer wieder aufgerufen und in agonaler Auseinandersetzung mittels der Kunst poetischer Vergegenwärtigung (evidentia) zu überbieten versucht.138 Licht und Glanz sind auch hier entscheidende ästhetische Kategorien. Wenn Sidonius Apollinaris in einem Brief an Hesperius den strahlenden und lichtdurchfluteten Raum der neu geweihten Kirche von Lyon beschreibt, so wird sein Gedicht selbst zum LichtKunstwerk, das mit dem beschriebenen Objekt konkurrenziert: Aedis celsa nitet nec in sinistrum aut dextrum trahitur, sed arce frontis ortum prospicit aequinoctialem. intus lux micat atque bratteatum sol sic sollicitatur ad lacunar, fulvo ut concolor erret in metallo. distinctum vario nitore marmor percurrit cameram solum fenestras, ac sub versicoloribus figuris vernans herbida crusta sapphiratos flectit per prasinum vitrum lapillos.

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Hoch ragt das Gebäude in Glanz empor und wendet sich weder nach links oder rechts, sondern richtet mit mächtiger Fassade den Blick gegen Osten. Das Innere erstrahlt im Licht: Die Strahlen der Sonne brechen sich derart im Gold des Deckengewölbes, dass sie

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Wallraff (2010) 102. Vgl. Wallraff (2010) 113–117. Günter (1968) 9, zit. nach Köhler (1990) 125. Köhler (1990) 125 mit Günter (1968) 97. Vgl. Macr. Sat. 5,11,11 zu Verg. Aen. 3,513 f.: Hoc mire et velut coloribus Maro pinxit; Symm. epist. 1,14,4. Zu den Analogien zwischen Poesie und bildender Kunst in der Spätantike ausführlich Roberts (1989) 66–121. Zur Ekphrasis in der Antike und Spätantike vgl. z. B. Fowler (1991); Graf (1995); Elsner (2002).

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie: schillernd die rötliche Farbe des Metalls aufnehmen. Marmor, der in unterschiedlichen Schattierungen glänzt, erhellt den Raum, den Boden und die Fenster. Saphirsteinchen aus der in vielfarbigen Mustern schillernden Inkrustation der Wände spiegeln sich hellgrün in den lauchgrünen Fensterscheiben. (Sidon. epist. 2,10,4 Vv. 5–15)

Aussen- und Innenraum werden in der Beschreibung voneinander abgegrenzt, sind aber durch den Fokus auf Licht und Glanz semantisch eng miteinander verbunden. Das Gebäude selbst ragt glanzvoll in die Höhe. Die Ausrichtung des Kirchenschiffes gegen Osten, in Richtung der aufgehenden Sonne, ist symbolisch aufgeladen und weckt Assoziationen mit der Wiederkehr Christi. Das prägnant gesetzte prospicit sowie die Verkörperlichung (arce frontis) verdeutlichen die vorausschauende Parusie-Erwartung des personifizierten Kirchengebäudes. Das Licht ist auch für die Beschreibung des Innenraums bestimmend (intus lux micat), wenngleich mit geringerer symbolischer Kraft. Die Strahlen der Sonne brechen sich im glänzenden Gold des Deckengewölbes. Marmor, der in unterschiedlichen Schattierungen leuchtet, erhellt das Gewölbe, den Boden und die Fenster. Saphirsteinchen aus der in vielfarbigen Mustern schillernden hellgrünen Inkrustation der Wände spiegeln sich in den lauchgrünen Fensterscheiben. „Traduire, ce serait décolorer“, meinte Remy de Gourmont mit gewissem Recht zu dieser kunstvoll gestalteten Passage.139 Wie dem Licht wird hier auch der Farbwirkung des Raums besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die in der spätantiken Literatur im Vergleich zur Vorzeit feststellbare Intensivierung der Farbgestaltung verfügt in der bildenden Kunst über eine analoge Entwicklung. Die unter den Severern verlorene Farbenvielfalt der römischen Wandmalerei erlebte in nachkonstantinischer Zeit ein Revival, was sich in den Kodexillustrationen ebenso zeigt wie in der Mosaikdekoration.140 Der optische Reiz des Innenraums wird im Gedicht aufgenommen und weitergeführt. Rhythmik, Klang und Worte sind so gewählt, dass das Gedicht selbst in seinen Einzelteilen leuchtet. Sub versicoloribus figuris vernans ist selbstreferentieller Verweis auf Sidonius’ schillernde descriptio, welche die polychromen Schnörkel der Inkrustation aufnimmt und in konzentrierter Weise zu wiederspiegeln vermag.141 Die Komposition der Passage selbst ist von schlichter Eleganz. Der Innenraum der Kirche wird in je zwei parallel angeordneten Sätzen beschrieben, deren Kola durch eine Konjunktion verbunden sind (atque; ac). Jeweils das zweite Glied ist durch eine weite Sperrung eines Attributs hervorgehoben (bratteatum… lacunar; sapphiratos… lapillos). Diese regelmässige syn139 de Gourmont (1895) 75. 140 Vgl. Vielberg (2005), der die diachron feststellbare Intensivierung in der Farbgestaltung zwischen Sulpicius Severus, Paulinus von Périgeux und Venatius Fortunatus hervorhebt und auf die Analogien mit den bildenden Künsten hinweist. Zur Farbnuancierung und Glanzgestaltung im Vergilius Vaticanus vgl. Geyer (1989) 90 sowie Wright (1993) 37–40. 141 Vernans ist in der Spätantike Terminus technicus für rhetorischen ornatus, vgl. Roberts (1989) 51. Zum Gebrauch bei Sidonius Apollinaris vgl. Gualandri (1979) 77–78.

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taktische Struktur bildet den kontrastierenden Hintergrund für Sidonius’ überaus variantenreiche Gestaltung auf der Wortebene.142 Die Wortwahl ist extravagant: „Sidoine enchâsse, comme des pierres précieuses, des termes rares aux consonnances étranges (…); il offre son lecteur un décor de féerie qui le ’dépayse’, l’arrache au réel (…).“143 Termini aus der Fachprosa (bratteatum lacunar; ortus aequinoctialis144) stehen variierend neben Neologismen (sapphiratus), Poetizismen (vernans) und sonstigen Raritäten (prasinus). Sidonius legte auch grossen Wert auf klangliche Effekte (s-Alliteration und i/o-Assonanz in V. 9: sol sic sollicitatur, mit unvermitteltem Wechsel auf a-Laute: -atur ad lacunar) und Rhythmuswechsel (Kontrast zwischen V. 12: percurrit cameram solum fenestras – wo die Dynamik des Vorgangs in der asyndetischen Reihung der Objekte zum Ausdruck kommt – und V. 13: ac sub versicoloribus figuris). Trotz der Beschreibung eines statischen Objekts dominieren Transitiva und Verben der Bewegung die Passage (trahitur, prospicit, sollicitatur, erret, percurrit, flectit), was der Szenerie eine dynamische Wirkung verleiht. Auch nitet und micat veranschaulichen den beständigen Lichtfluss, der kontinuierlich von der Sonne (lux, sol) einerseits und den glanzvollen Materialien andererseits (marmor, crusta) ausgeht. Hier wird die poetische Anschaulichkeit des von Sidonius evozierten Bildes durch die gedankliche „Verlebendigung“ des Lichts bewusst durchbrochen. Das Epigramm wurde im Auftrag des Bischofs Patiens von Lyon als Inschrift für die Apsis der neu errichteten Kirche konzipiert.145 Obwohl Sidonius gegenüber seinem Adressaten, dem Rhetor Hesperius, mehrfach die Unbedeutsamkeit des Gedichts (epist. 2,10,3: otiositates; epist. 2,10,4: nostra, quantula est cumque… stipula) und die Spontaneität seiner Entstehung (epist. 2,10,3: tumultuarium carmen) beteuert, ist er sich der zu erwartenden Licht-Wirkung bewusst. Dieser Effekt wird von Sidonius mit Blick auf die in der Seitenwand der Basilika eingetragenen hexametrischen Gedichte zweier bekannter Poeten selbst hervorgehoben: Namque ab hexametris eminentium poetarum Constantii et Secundini vicinantia altari basilicae latera clarescunt („denn die Seitenwände der Basilica, die an den Altar angrenzen, erglänzen durch die Hexameter zweier herausragender Dichter, Constantius und Secundinus“: epist. 2,10,3). Seinem eigenen Gedicht gesteht er dieselbe Wirkung zu, wenn auch in beschränkterem Ausmass: quapropter illorum iustius epigrammata micant quam istaec, quae imaginarie tantum et quodammodo umbratiliter effingimus („Deshalb leuchten die Epigramme jener beiden Dichter auf berechtigtere Weise als meine hier, die nur meiner poetischen Imagination entstammen und eher skizzenhaft sind.“: epist. 2,10,4). Der Glanzeffekt der Kirche wird 142 Zur „combination of regularity and variation“ als Grundcharakteristik des spätantiken „Juwelenstils“ Roberts (1989) u. a. 13 ff. 143 Loyen (1943) 111–112. 144 In der lateinischen Dichtung einzig noch belegt bei Catull. 46,2 an metrisch identischer Stelle. 145 Sidon. epist. 2,10,2–3.

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durch jenen ergänzt, der bei der Lektüre des Epigramms entsteht. Das Gedicht tritt damit nicht nur in direkte Konkurrenz zu den glänzenden Materialien, mit denen die Kirche ausgestattet ist, sondern verstärkt auch deren Lichtwirkung wie durch ein Brennglas. In einer Art Mise en abyme bildet es die Kirche in ihrem Leuchten ab und trägt dieses aus eigener Kraft wieder in den Raum. In der Mimesis erhöht sich damit die eigentliche Lichtwirkung des Raums.146 Der Kirchenraum wird durch das ihm eingeschriebene Kunstwerk gleichsam zum Gesamtkunstwerk überhöht.147 Dieses Potentials der Sprache war man sich in der spätantiken Bildungskultur durchaus bewusst:148 In einem Brief an den dux Arigius äussert Avitus von Vienne sein Bedauern darüber, nicht der Einladung seines Adressaten folgen und an die Weihe einer Kirche kommen zu können (epist. 50). Im weiteren Verlauf des Briefs stellt er sich die zu erwartenden Festlichkeiten vor, in deren Zentrum zahlreiche Preisredner die neugeweihte Kirche und den Stifter in den höchsten Tönen loben werden.149 Neben den harmonischen Proportionen, der Grösse und Höhe des Bauwerkes werde wohl besonders der glanzvolle Innenraum hervorgehoben, „in dem das Tageslicht durch menschliche Kunstfertigkeit im Bauwerk gleichsam eingeschlossen ist und im Licht des glänzenden Metalls lebendig erscheint.“150 Dieser natürliche Lichteffekt wird nach Ansicht des Avitus durch die Lobredner noch künstlich gesteigert. Denn erst die Kunst ihrer Rede verhelfe dem Marmor zu seinem vollen Glanz (possent … expolire praeconiis marmorum dignitatem).151 Avitus’ detailreiche Imagination der im Rahmen der bevorstehenden Festhandlung vollzogenen descriptio der Kirche, ein Kunststück rhetorischer inventio, entspringt eigener Erfahrung.152 Anlässlich der Weihe der von Bischof Sanctus gestifteten Kirche in Moûtiers-en-Tarantaise hielt Avitus eine Festrede, in der er in auffallend ähnlicher Weise den Neubau pries (Avit. hom. 21). Der nur fragmentarisch erhaltene Text gibt einen ungefähren Eindruck des Inhalts seiner descriptio. Neben der architektonischen Gestaltung hat er der unterschiedlichen Lichtwirkung des Kirchenraums, der durch natürliches und künstliches Licht gleichermassen erhellt wird, offenbar besondere Aufmerksamkeit geschenkt (sollicitatum arte fulgorem sursum ed. Peiper, 137,2; mittitur dies ed. Peiper, 137,6; plenus inlustret ed. Peiper, 137,7; reproductum de 146 Zur ästhetischen Bewertung der Mimesis vgl. weiter unten: S. 179f.. 147 Zum Prozess der „intersystemischen Hybridisierung“ in diesem Gedicht vgl. Hernández Lobato (2010). 148 Vgl. die Stellenangaben zur klassischen Antike bei Vogt-Spira (2002) 31. 149 Vgl. zu dieser Praxis Wood (1986). 150 Avit. epist. 50 ed. Peiper 78,18–19: collectum quodam modo atque inclusum industria diem emolumento metallorum splendentium luce vegetari. 151 Die Kunst „mehr zu sehen, als die Realität bietet“, gehört zu den ästhetischen Anforderungen spätantiker Ekphrastik, vgl. Onians (1980) bes. 16. 152 In der nur fragmentarisch erhaltenen Homiliensammlung des Avitus lassen sich mindestens elf Stücke mit der Weihe einer Kirche in Verbindung bringen: Avit. hom. 17–22; hom. 24–25; hom. 27–29 ed. Peiper, vgl. Wood (1986) 74.

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se lumen tenebris flamma ed. Peiper, 137,8; contra naturam loca refulsisse ed. Peiper, 137,10). Dies scheint in der Spätantike zur Topik solcher Beschreibungen gehört zu haben.153 Ein Vorbild solcher literarischer Architekturbeschreibungen sind Statius’ Silvae. Auch hier treten Licht und Glanz als entscheidende ästhetische Kategorie hervor.154 Das Motiv des lichtspiegelnden Marmors, das sich in der Spätantike auch bei Claudians Beschreibung des Glitzerpalastes der Venus findet, ist in den descriptiones des Statius von entscheidender Bedeutung.155 Dass Avitus seine eigene Ekphrasis der Kirche von ähnlichem Glanz erfüllt sieht wie das luxuriöse Material, mit dem die Kirche ausgestattet war, zeigt die Art und Weise, wie er in der Praefatio die pflichtgemässe Bescheidenheitsbezeugung formulierte: etiamsi non aequantur verba (…), nec decolorat operis amplitudinem sermonis angustia („selbst wenn meine Worte nicht heranreichen (…), so nimmt die Beschränktheit der Sprache der Herrlichkeit des Bauwerks dennoch nichts an Farbe und Glanz.“: Avit. hom. 21 ed. Peiper, 134,30–31). Durch die gepflegten Formulierungen und kunstvolle Stilisierung seiner Rede fällt zusätzliches Licht auf das neue Bauwerk und verstärkt dessen Farbwirkung. Wo ganze Satzzusammenhänge erhalten sind, zeigt sich, mit welcher Sorgfalt Avitus seine Worte wählte.156 Neben der Lichtwirkung des Innenraums ist in den erwähnten descriptiones sowohl für Sidonius wie für Avitus noch ein weiterer Aspekt von Bedeutung. Beide Autoren verweisen bewundernd auf die Komplexität der architektonischen Gestaltung des jeweiligen Kirchengebäudes. Auch bei diesem Element handelt es sich um ein Merkmal, das in der Sprachästhetik der Zeit ein Analogon besitzt. Die affektierte Obscuritas der beiden Autoren tritt hier für einmal in die Dienste der literarischen Mimesis: Die Komplexität der Sprache spiegelt gleichsam die beeindruckende Architektur des Bauwerks wider.157 Bei der Inszenierung des bildlichen Erschauens eines Textes wird mehr noch als der Farbe den spezifischen Lichtverhältnissen besondere Bedeutung zugemessen. Lux, lumen – in der Rhetorik ursprünglich auf den Bereich der 153 Vgl. z.B. Ven. Fort. carm. 1,12,11–16 und carm. 1,15,55–58, wo der lichthelle Raum einer Marienkirche auf die Patronin selbst zu referieren scheint: Ecce beata sacrae fundasti templa Mariae, / nox ubi victa fugit semper habendo diem. / lumine plena micans imitata est aula Mariam: / illa utero lucem clausit et ista diem. 154 Vgl. Cancik (1965) 78–81. 155 Stat. silv. 1,5,34–50; silv. 2,3; Claud. nupt. 85–96. Vgl. auch Roberts (1989) 73–74 mit Verweis auf die Beschreibung der Hagia Sophia in Procopius’ De aedificiis 1,1,27–49. Zur Spiegelmotivik bei Statius vgl. Cancik (1965) 43–48, 124 mit Anm. 45. 156 Avit. hom. 21 ed. Peiper, 137,30–34: Sic quondam Petrus apostolorum caput, id est principum princeps, quamlibet conmotum ventis pelagus formidaret, adreptum tamen fluvidi itineris callem victor explicuit atque undis ponti furentis velut hostilium turbinum molibus eluctatis flatum temptationis adversae priusquam pede contingeret, fide contrivit. 157 Vgl. Wood (1986) 76: „(…) appreciation of architecture, which ought ideally to be as complex and precious as the literary style used to be.“

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Perspicuitas beschränkt –158 sowie nitere und deren Ableitungen sind entscheidende, positiv konnotierte Grundbegriffe, die von der Wertschätzung des Lichts in der Rede – in Abgrenzung zur verständniserschwerenden Dunkelheit – zeugen. Wie bereits erwähnt, wird von der Rhetorik je nach Situation und Wirkungsabsicht im sprachlichen Ausdruck eine gewisse Schattierung bis hin zu diffusem Dämmerlicht aber durchaus empfohlen. Im Gegensätzlichen treten die Konturen klarer und schärfer hervor. Die Augen werden dadurch auf die entscheidenden Details gelenkt. So ist es kaum erstaunlich, dass Obscuritas häufig in Kombination mit einer Technik des Ins-Licht-Setzens auftritt. Denn Licht erscheint umso heller in dunkler Umgebung. Diese bildet also gleichsam die Folie, vor der Licht inszeniert werden kann. Dieses Paradoxon erklärt sich vor dem Hintergrund der Wirkmächtigkeit des Kontrastes.159 In semantischer Hinsicht hat Ennodius dieses Phänomen in seinem Panegyricus auf den Ostgotenkönig Theoderich für eine topische recusatio nutzbar gemacht:160 Vellem, fateor, ad orationis terminum victus gestorum tuorum enormitate descendere et novellas adoreas hebetatus priscorum luce transire. quemadmodum, si aetherii axis in numerum redigere ornamenta voluissem et trionum fulgore conprehenso caeli decorem inpotenti lingua describerem, cederet divino splendori mortalis obscuritas, iubaris lampadi non sufficeret humilium scintilla sermonum, haec me condicio resignat inparem, quae testata est obsequentem. Gerne wollte ich jetzt, ich bekenne es, besiegt von der ungeheuren Grösse deiner Taten, meiner Rede ein baldiges Ende setzen und vom Glanz deiner früheren Taten geblendet den Preis der jüngsten Siege übergehen. In der Weise, wie wenn ich die Gestirne des Himmelsgewölbes hätte aufzählen wollen und vom Leuchten des Grossen Wagens ergriffen den Schmuck des Himmels mit unzulänglichen Worten beschriebe, würde die Dunkelheit menschlicher Ausdrucksweise vor dem göttlichen Glanz zurückweichen und wäre der Funken meiner bescheidenen Rede dem Licht der Sonne nicht gewachsen. So zeigt dieser Umstand, dass ich zwar gehorsam aber [dieser Aufgabe] gleichwohl nicht gewachsen bin. (Ennod. paneg. 18,82)

Doch nicht nur in semantischer Hinsicht, sondern auch mit Hilfe sprachlichstilistischer Mittel konnte die Wirkung eines Kontrasts in einem Text erzielt werden. Ein mit sprachlichen Mitteln bewirkter optischer Kontrast darf jedoch nur an besonders emphatischen Stellen angestrebt werden. Bei der Behandlung von Sentenzen warnt Quintilian vor einem zu häufigen Gebrauch dieser Gedankenfigur. Eine pointierte Sentenz könne der Rede zwar durch158 Vgl. Iul. Vict. rhet. ed. Giomini/Celentano, 105,24: Lucem vero epistolis praefulgere oportet. Zur Licht-Terminologie vgl. Lausberg (1960) § 543,9 und ThLL 7,2,1820,26–59. 159 Vgl. Mehtonen (2003) 17: „In the case of linguistic and epistemological obscurity a methodological accessory is to be found in the concept of contrast.“ 160 Ein weiteres Beispiel dieser Technik: Ennod. paneg. 5: Cursim multa transcendo, ne pigrioris stili vitio serus advenias, ne Romanae fax curiae diu in umbram coacta tardius elucescat.

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aus zu Glanz verhelfen und sich von den restlichen Teilen abheben, doch solle ihr Leuchten eher einzelnen Funken, die aus dem Rauch hinausblitzten, als einer Flamme vergleichbar sein.161 In dieser Darstellung, mit der er sich gegen stilistische Extravaganzen seiner Zeitgenossen richtet, schwebt Quintilian offenbar ein matter Kontrast vor. Allein im genus grande darf das kontrastwerfende Licht grell sein und wird demzufolge als fulgor oder fulmen charakterisiert.162 Quintilian versteht die klug eingesetzte Pointe als singulären, aber nicht dominanten Blickfänger, als ein Stilmittel, das den Blick der Leser wie ein Aufleuchten im Dunkeln magisch anzuziehen vermag, jedoch nicht vom Ganzen ablenkt. Dieselbe Funktion wird auch anderen Stilmitteln zugesprochen, aber jeweils nur, wenn bei ihnen auf Masshaltung geachtet wird.163 Metaphern beispielsweise bringen wie keine andere Ausdrucksweise in verbis singulis Farbe und Glanz in eine Rede.164 Ähnliches gilt in verbis coniunctis etwa für Klassikerzitate, die als bunte Blüten (flores) einer sprachlichen Ausschmückung (decor) dienen.165 In der rhetorisch geprägten Literaturkritik des 1. Jahrhunderts n. Chr. galten Farbenpracht und Lichtwirkung eines Textes als Kennzeichen eines extravaganten und modernen Stils.166 Auch in der Spätantike wurde, wie im vorausgehenden Kapitel dargelegt, die von Quintilian als normativen Richtwert festgelegte aurea mediocritas (Hor. carm. 2,10,5) zugunsten einer expressiven Ausdrucksweise aufgegeben. Statt einzelner Flämmchen strebte man nun nach einem grellen Feuer und einer möglichst breiten Palettierung buntleuchtender Farben. Diesem formal-ästhetischen Anspruch suchte man im Wesentlichen anhand extravaganter lexikalischer Mittel nachzukommen, einer Methode, die im Übergang zum Frühmittelalter in der glossematischen Latinität der Praefatio des Codex Salmasianus oder den Hesperica famina, den „echt italischen Reden“, einen denkwürdigen Höhepunkt finden sollte.167 Ausgefallenes und auserlesenes Vokabular, die verba caminis fabrilibus excocta (Ennod. epist. 2,13,1), brachte den Texten den erwünschten Farb- und Lichteffekt und bezeugte zugleich die hohe Gelehrsamkeit des Autors. So bewundert Macrobius die homerischen Epitheta, „durch welche die variantenreiche Pracht des göttlichen Gedichts wie von Sternen erstrahlt“, während Augustinus bei einer rhetorischen Analyse der biblischen Sprache in De doc161 Quint. inst. 8,5,29: Quare licet haec et nitere et aliquatenus extare videantur, tamen et lumina illa non flammae sed scintillis inter fumum emicantibus similia dixeris (…). 162 Vgl. Lausberg (1960) § 1079 3). 163 Vgl. Cic. de orat. 3,25,96. 164 Cic. de orat. 3,41,166: Modus autem nullus est florentior in singulis verbis neque qui plus luminis adferat orationi. Der übermässige Gebrauch von Metaphern durch die spätantiken Epistolographen gehört zu den häufigsten Kritikpunkten der älteren Forschung. Vgl. etwa zu Avitus Goelzer (1909) 709–717. 165 Vgl. Macr. Sat. 6,1,2: (…) ostendere cupio quantum Vergilius noster ex antiquiorum lectione profecerit et quos ex omnibus flores vel quae in carminis sui decorem ex diversis ornamenta libaverit. Vgl. für Ausonius und Sidonius Apollinaris La Penna (1995a) 5–6. 166 Roberts (1989) 52–53 mit Beispielen. 167 Vgl. dazu Goetz (1896); Smolak (1985).

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trina christiana auf die eindrücklichen Ortsnamen im Buch Amos hinweist, „durch welche die Rede wie mit Lichtern geschmückt wird.“168 Die Lexik war generell das Feld für stilistische Ambitionen spätantiker Autoren. Während sich im Bereich der Syntax die spätantike Literatursprache in der Regel nur geringfügig von den Regeln der klassischen Latinität unterscheidet, finden sich im Vokabular über alle Gattungen hinweg erhebliche Differenzen.169 Epistolographen wie Symmachus, Sidonius Apollinaris oder Ennodius bedienten sich zur Erzeugung eines farbenreichen Stils im gewaltigen Fundus der tradierten Literatur. Im kunstvollen Arrangement von archaischem, poetischem und kolloquialem Vokabular, das durch zahlreiche Neologismen erweitert wurde, entsprach man im bunten Wechsel von Gattungsspezifika, Stilhöhe und Tonfall der ästhetischen Vorliebe für color und varietas.170 Entsprechend waren in der Spätantike Begriffe wie multicolor, floridus, vernans oder gemmeus gängige literaturkritische Qualitätsbezeichnungen.171 Ein schönes Beispiel für den sprachlichen Einbezug einer anderen Gattung in die Epistolographie ist etwa ein Brief des Sidonius, in dem beschrieben ist, wie er zusammen mit seinem Sohn Terenz’ Hecyra las. Dabei wird ein knapper Wechseldialog, ein typisches Element der Komödiensprache, subtil in die Briefwelt integriert: Legebamus pariter (…) cum repente puer familiaris adstitit vultuosus. cui nos: “quid ita?” et ille: “lectorem,” inquit, “Constantem nomine pro foribus vidi a dominis Simplicio et Apollinare redeuntem; dedit quidem litteras, quas acceperat, sed perdidit quas recepit.” So lasen wir gemeinsam (…), als plötzlich ein Bediensteter mit ernster Miene zu uns hintrat. Zu ihm sprachen wir: „Was ist los?“ Daraufhin meinte er: „Vor der Türe habe ich den Lektor Constans getroffen, der von den Herren Simplicius und Apollinaris zurückgekehrt ist. Er hat den Brief, den er [von euch] empfangen hat, übergeben, doch denjenigen verloren, den er [von ihnen als Antwort] erhalten hat.“ (Sidon. epist. 4,12,2)

Als Paradebeispiele der Technik sprachlicher Illumination können, wie bereits mehrfach verdeutlicht, die Werke des Sidonius Apollinaris gelten. Seine kunstvolle prosaische Beschreibung des feierlichen Einzugs des Burgunderprinzen Sigimer in Lyon (epist. 4,20) präsentiert sich als eindringliche „festa di luce e di colori“,172 die Sidonius anhand einer beeindruckenden lexikali168 Macr. Sat. 5,14,7: (...) et mille talium vocabulorum, quibus velut sideribus micat divini carminis variata maiestas; Aug. doctr. christ. 4,7,17: locorum nominibus tamquam luminibus ornatur eloquium. Weitere Beispiele nennt Roberts (1989) 54–55. 169 Darüber geben zahlreiche Detailanalysen Aufschluss. Vgl. z.B. zu Symmachus Haverling (1988) 257 f. 170 Vgl. dazu allgem. Fontaine (1977). Zur damit einhergehenden semantischen Mehrstimmigkeit der Briefe des Sidonius vgl. weiter unten: S. 259–267. Eine anschauliche Zusammenstellung archaischer, poetischer und seltener Vokabeln zur Erzeugung des erstrebten “mélange des styles” bei Avitus von Vienne bietet Goelzer (1909) 701–709. 171 Die Stellen finden sich bei Roberts (1989) 50–54. 172 La Penna (1995a) 22. Zum Lichtspiel bei Sidonius Apollinaris äusserte sich auch Loyen (1943) 121. Ein weiteres Beispiel: Sidon. carm. 22,154–157.

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schen Variation vollführt. Siebenhundert Jahre später wird Alanus ab Insulis die Farb- und Lichtintensität von Sidonius’ Stil in kritischer Betrachtung auf den Punkt bringen:173 Illic Sidonii trabeatus sermo refulgens 240 sidere multiplici splendet gemmisque colorum lucet et in dictis depictus pavo resultat. Dort funkelt der hochtrabende Stil des Sidonius, schillernd in vielfältigem Glanz und von farbenreichen Edelsteinen leuchtend: Ein bunter Pfau entsteht durch seine Worte. (Alan. Anticl. 3,240–242)

Wie funkelnde Kleinodien oder bunte Blüten haben zahlreiche spätantike Autoren auserwählte Wörter und Ausdrücke – meist in Kombination mit bestimmten syntaktischen Mustern – in bunter Vielfalt aneinandergereiht: „In late antiquity a sense for the literal meaning of variatio was reawakened. The elements of a text were understood chromatically, described as multicolored flowers or jewels. The art of the poet was akin to that of a jeweler – to manipulate brilliant pieces (lumen is a quality of both flowers and jewels) and to throw them into relief by effects of contrast and juxtapunction.“174 Diese stilistischen Verfahrensweisen, die von Michael Roberts als Merkmal der spätantiken Poesie hervorgehoben wurden, gelten in gleicher Weise auch für die zeitgenössische Kunstprosa im Allgemeinen und für die Epistolographie im Besonderen.175 Die vielfach kritisierte „Preziosität“ der spätantiken Epistolographen kann in wesentlichen Teilen auf die von Roberts beschriebenen Grundmuster zurückgeführt werden, deren einzelne Bestandteile eine besondere Licht- und Farbwirkung entfalten.176 Auch ausserhalb von ekphrastischen Kontexten, aus denen die meisten der zitierten Beispiele stammen, stellen Licht, Farbe und Glanz in der spätantiken Poesie und in besonderem Masse in der Epistolographie eine gesuchte literarische Qualität dar, wo sie sich stellenweise zu einer veritablen „Lichtsprache“ („écriture de la lumière“) verdichten konnten, wie dies Stéphane Gioanni mit Blick auf Ennodius treffend formuliert hat.177 Diese epistolare Lichtsprache ist einerseits in der ornamentalen Funktion der oben erwähnten stilistischen Verfahrensweisen abgebildet, andererseits wird sie in zahlreichen stilkritischen Äusserungen der Epistolographen selbst fassbar. So ist es kein Zufall, dass in der Spätantike positiv konnotierte literaturkritische Begriffe 173 Dem Urteil des Alanus folgt Norden (1918) 638. 174 Roberts (1989) 55. 175 Zur Annäherung der gestalterischen Mittel in Poesie und Prosa in der Spätantike u. a. Norden (1915) 263–300; Cameron (1970) 317–321; Roberts (1989) 63–65. 176 Ein weiteres Beispiel elaborierter Ekphrastik in spätantiken Briefen ist eine kurze Epistel des Ausonius, in dem sich Wesenszüge von Poesie und Epistolographie kunstvoll vereinen, vgl. Auson. epist. 1 ed. Green. 177 Vgl. Gioanni (2006) CXXIV-CXXVII.

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wie flos/flores und die semantisch verwandte Lichtmetaphorik vorwiegend in epistolaren Kontexten erscheinen.178 In einem kurzen Brief an seinen Sohn zeigt sich Symmachus erfreut darüber, dass ihm dessen Briefe zugleich Aufschluss über den Gesundheitszustand wie die literarischen Fortschritte geben. Er bittet seinen Sohn, ihm häufiger zu schreiben und ihn mit den Blüten seiner Sprache zu bestreuen.179 Gelegentlich stand bei der Erwähnung von flores auch deren Geruch im Vordergrund, so etwa bei Sidonius, wenn er an einer Stelle den Briefstil des Lampridius anhand von drei unterschiedlichen Sinnesmetaphern lobt: litteras mihi tabellarius tuus obtulit plenas nectaris, florum, margaritarum („dein Briefbote hat mir einen Brief von dir überbracht, der voller Nektar, Blumen und Perlen war.“: Sidon. epist. 8,9,1).180 In der Korrespondenz des Ennodius von Pavia sind beide Elemente Ornament und Stildiskurs in exemplarischer Deutlichkeit verbunden. Zur Bezeichnung von Briefschmuck verwendete Ennodius vorzugsweise eine visualitätsbezogene Terminologie. Bei den diversen stilkritischen Äusserungen im ersten Buch seiner Briefsammlung handelt es sich lediglich an drei Stellen um Geschmacksmetaphern,181 während in den restlichen Fällen eine lichtbezogene, optische Begrifflichkeit vorgezogen wird. Wenn Ennodius von der lux epistolaris alloquii des Avienus (epist. 1,12.2) spricht, meint er damit den künstlich erzeugten Glanz, der von einem gepflegten Briefstil (politi sermonis splendor: epist. 1,8,1) auszugehen pflegt. Auch bei ihm erscheint der Vergleich von Sprachschmuck mit der Glanz- und Farbenpracht eines Juwelendiadems.182 Das Ausbleiben dieses Juwelenstils war für ihn ein Zeichen mangelnder Bildung.183 In Anbetracht der hohen Wertschätzung, die dem Licht in der Spätantike entgegengebracht wurde, kann es kaum erstaunen, dass die positiv konnotierte Lichtmetaphorik auch auf soziale Bereiche übertragen wurde. Auch hier konnten Evokationen von Glanz und Leuchten zusätzliche Sinndimension

178 Zu flos/flores u. a. Amm. 29,1,11; Symm. epist. 4,18,1; epist. 4,36,2 (facundiae suae floribus); Sidon. epist. 9,9,6; Ennod. epist. 1,10,4 (eloquentiae flore); epist. 1,16,4 (verborum floribus). Diese und weitere Stellen finden sich bei Roberts (1989) 50 Anm. 43 sowie im ThLL 6,936,45–937,9. Zur Lichtmetaphorik vgl. u.a. Sidon. epist. 4,3,9. 179 Symm. epist. 7,11: Adsurgit animus meus, quotiens amabilitatis tuae sermo defertur; nam et sanitatis tuae adportat fidem et profectum ostentat ingenii. hortor igitur ut me istiusmodi linguae tuae flosculis frequenter aspergas (…). 180 Vgl. auch Sidon. epist. 4,16,1; epist. 7,4,2; epist. 8,4,2: carmina musicos flores thymumque redolentia sowie Auson. epist. 12,10–11 ed. Green: floridus tui sermonis afflatus. 181 Ennod. epist. 1,9,1: favos loqueris; epist. 1,12,3: quid esset in epistula tua dulcedinis; epist. 1,16,2: vario sapore conloquii. 182 Ennod. epist. 1,4,1: sermonum diademata. Zur farblichen variatio eines Diadems vgl. Ennod. opusc. 6,8 ed. Vogel, 312,25: ex variis gemmis una diadematis solet constare formatio. 183 Ennod. epist. 7,29,2: a rusticantibus verborum diademata non requirit.

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eröffnen.184 Dies zeigt etwa die Metaphorik der Adelstitulatur, die in dieser Zeit ausdifferenziert wurde. Standesbezeichnungen wie spectabilis, illustris und clarissimus verweisen auf den Lichtcharakter ihrer Trägerschaft und entsprechen damit der optischen Terminologie, die auch zur Benennung von sprachlichem Schmuck verwendet wurde. Das analoge Verhältnis zwischen Charakter und Bildungsgrad, zwischen Mensch und Sprachstil, beinhaltet damit auch eine soziale Komponente. So galt ein glanzvoller und farbiger Stil als vornehmliches Zeichen von Adel. In einem Brief an seinen ehemaligen Schüler Johannes äussert Ennodius seine Freude und seinen Stolz darüber, dass Johannes seine edle Herkunft durch den Glanz seines Briefstils noch übertreffe.185 In einem Brief an Faustus lobt Ennodius die literarischen Qualitäten von dessen Sohn Avienus. Ein Schriftstück, das ihm dieser kürzlich habe zukommen lassen, erscheine ihm gleichsam als ostrum nobilitatis (Ennod. epist. 2,11,3). Maximus, von dem Ennodius seit längerer Zeit einen Antwortbrief erwartete, musste sich die Frage gefallen lassen, warum er die purpurne Sprechweise (ostrum loquendi) aufgegeben habe und seine adlige Herkunft (testimonium generis) nicht mehr in einem blütenreichen Sprachstil (flore sermonis) offenbaren wolle.186 In ähnlichem Kontext hat eine Generation früher Sidonius Apollinaris in einem Brief an den Rhetor Hesperius den Glanz von Purpur mit der hervorragenden sprachlichen Kompetenz seines gelehrten Korrespondenten in Verbindung gebracht. Purpur, traditionell ein Symbol kostbarer Auserlesenheit, adliger Abstammung und imperialer Macht,187 wird dort mit dem Ideal der Sprachrichtigkeit, mit der merae linguae Latiaris proprietas in assoziativen Zusammenhang gestellt. Die Sprachrichtigkeit sei vom Rost gängiger Barbarismen bedroht und verliere durch Sorglosigkeit an Farbe.188 In Sidonius’ bildhaft verdichteter Darstellung spiegelt sich eingängig die enge Verbindung zwischen sozialem Stand (nobilis/ vulgus), Sprachstil (Latiaris proprietas/barbarismus) und entsprechender 184 Licht und Glanz war in vielen Kulturen und Epochen herausragendes Merkmal von Herrschern und Mächtigen sowie des Religiös-Kultischen, vgl. für die Spätantike und das Frühmittelalter Bührer-Thierry (2004) 529–530. 185 Ennod. epist. 1,1,4: Gaudia tamen de te mea epistolaris alloquii dotibus adimplesti, dum novitatem sensuum monstras serenitate sermonum et veteris decora prosapiae novelli vincis nitore conloquii. Vgl. Ennod. epist. 1,12,2: sudorem tuum circa ornamentum generis saepe epistolaris alloquii luce tersisti. 186 Ennod. epist. 7,21,2: aut non testimonium generis adnuntias flore sermonis? numquid ostrum loquendi deserit pectoris fecunda dictatio? Vgl. Ennod. dict. 8,9 ed. Vogel 79,18: splendorem familiae prodit lingua. Zu ostrum als Bezeichnung für Sprachschmuck: Ennod. epist. 7,21,2; epist. 7,26,2; carm. 2,44,3 ed. Vogel 148: linguae ostro; epist. 4,9,2: linguae murice. 187 Zum Purpur als Statussymbol in der Antike vgl. allgem. Reinhold (1970), zur Verwendung bei den Römern Schneider (1959). 188 Sidon. epist. 2,10,1: Illud appone, quod tantum increbruit multitudo desidiosorum ut, nisi vel paucissimi quique meram linguae Latiaris proprietatem de trivialium barbarismorum robigine vindicaveritis, eam brevi abolitam defleamus interemptamque: sic omnes nobilium sermonum purpurae per incuriam vulgi decolorabuntur. Vgl. dazu weiter unten: S. 233 sowie ebenda Anm. 452 (zu vulgus).

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Farb- beziehungsweise Lichtwirkung (purpura/robigo). Erst durch das Ansetzen der Feile und im Bemühen um sprachliche Reinheit löst sich der Rost ungepflegter Rede und bringt den Glanz adliger Herkunft zum Vorschein – so der väterliche Ratschlag, den Sidonius, Ruricius von Limoges (ca. 440–507 n. Chr.) und Ennodius ihren jüngeren Korrespondenten zu geben pflegten.189 Soziale, linguistische und optische Begrifflichkeiten und ihre Implikationen sind hier zu einem gedanklichen Ganzen verschränkt. Die Lichtmetaphorik bezog sich indes nicht nur auf den nobilis sermo der Bildungselite, sondern wurde auch im weiteren Sinne zur Bezeichnung von Adel generell in Anspruch genommen.190 Ennodius konnte neben der edlen Geburt (lucidus sanguis: epist. 1,5,6) und der hohen Bildung (lux scientiae: epist. 2,6,1) auch die Ämterlaufbahn (lux honorum: epist. 8,1,3) und die moralische Integrität (lux morum: epist. 7,14,1; lux conscientiae: epist. 9,10,1) der gesellschaftlichen Elite in Kategorien von Licht ausdrücken.191 In gleicher Weise beschrieb er aussergewöhnliche Zeitgenossen als Lichtgestalten.192 Herausragendes Beispiel ist hier sein für ein Lesepublikum konzipierter Panegyricus auf den Ostgotenkönig Theoderich, für den Ennodius sich wesentlich an der imperialen Lichtterminologie der Panegyrici Latini orientierte.193 In der hyperbolischen Beschreibung von Theoderichs äusserer Erscheinung ist Licht und Glanz eine zentrale Kategorie: Der purpurne Glanz des königlichen Gesichts (regii vultus purpura) bestrahlt den Purpur seines Herrschergewands (ostrum dignitatis), die verschiedenfarbigen Edelsteine entfalten erst durch die Schönheit seines Körpers ihren Glanz und mit frühlingshafter Frische leuchten seine Augen in fortwährender Heiterkeit.194 Dass der Glanz von Purpur hier speziell auf die imperiale Macht von Theoderich hinweist, geht auch aus Cassiodors brieflichen Erläuterungen über die Bedeutung der Purpurschnecke für die Repräsentation kaiserlicher Gewalt hervor.195

189 Vgl. Ruric. epist. 1,3,29–40: Te elicitorem et formatorem lapillorum nobilium, te rimatorem auri (…), qui sciris abstrusas lapidibus gemmas propriae reddere generositati (…). aurum quoque harenis vilibus mixtum nisi artificis sollertia eluatur aquis, ignibus eliquetur, nec splendorem poterit retinere nec meritum (…). ita et tenerorum adhuc acies sensuum ignorantiae nubilo quasi crassitate scabrosae rubiginis obsessa, nisi adsidua doctoris lima purgetur, nequit sponte clarescere; Ennod. carm. 1,7 praef. 2, wo er betont, dass die lima peritiae gegen die rubiginosos lingua et sensu hebetes einzusetzen sei. Vgl. dazu auch Banniard (1992b) sowie weiter unten: S. 296. 190 Ein schönes Beispiel aus dem Ende des 6. Jahrhundert ist Ven. Fort. carm. 1,15. 191 Die Stellen bei Gioanni (2006) LXXVIII. 192 So etwa Speciosa = lux ecclesiae (Ennod. epist. 2,2,2); Faustus = lux mea (Ennod. carm. 1,7,69); der Grammatiker Pomerius = lux scientiae (Ennod. epist. 2,6,1). Vgl. dazu Gioanni (2006) LXXVIII. 193 Zu diesem Aspekt Bührer-Thierry (2004) 529–530. 194 Ennod. paneg. 21,89: Sed nec formae tuae decus inter postrema numerandum est, quando regii vultus purpura ostrum dignitatis inradiat. (…) discoloribus gemmis sertum texatur (…). quaecumque ornamenta mundo obsequente transmissa fuerint, decorata venerandi genio corporis plus lucebunt. (…) vernant lumina serenitate continua. 195 Cassiod. var. 1,2,2. Vgl. dazu weiter unten: S. 185f. Zu den spezifisch imperialen Implika-

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Die hier aufgerufene Verbindung von Licht, Farbe und imperialer Macht äussert sich in ähnlich anschaulicher Weise auch in der Beschreibung des Symposiums des Kaisers Maximus in der Martinsvita des Paulinus von Périgueux.196 Der Anlass fand um 385/86 n. Chr. zu Ehren Martins in Trier statt. Der Kern dieser Episode ist die Brüskierung des Kaisers durch Martin, als er das ihm gereichte Trinkgefäss statt dem Kaiser einem einfachen Priester weitergab. Paulinus nutzt die Gelegenheit, um im Gegensatz zu seiner Vorlage, der Martinsvita des Sulpicius Severus, den Tafelluxus und die höfische Pracht ausführlich in Kategorien von Licht und Farbe auszumalen: Stipant subiectas regalia fercula mensas, 90 dives in excelsis splendescit purpura fulchris, mollia puniceo motantur serica fuco, et rutilat docte ductis sine vellere pensis misceturque ostro mollitum in fila metallum. liminibus distenta tremunt aulaea superbis, 95 nutat et in foribus velorum mobile claustrum. cuncta nitent vario cultu sursum atque deorsum, edita pigmentis, sola marmore, tecta metallis. sustentant vitreas crystalla capacia lymphas, cumque ipsa et conchae species videatur et undae 100 nec cohibere putes susceptum claustra liquorem. pocula funduntur gemmis gemmisque bibuntur, electri molis fulvum discriminat aurum. ars erat in pretio, pretium pretiosus arte est. Dicht drängen sich auf den Tischen die königlichen Gerichte, kostbar schimmert Purpur an hochragenden Sockeln, feiner Seidenstoff wogt in purpurnem Glanz und rötlich leuchten auf kunstvoll gefertigtem Gewebe statt Wolle goldene Fäden, mit dem Purpur sich mischend. Ausgebreitete Teppiche liegen auf prachvollen Schwellen und an den Portalgewänden blähen sich schwingende Vorhänge. Alles leuchtet in vielfältigem Glanz von oben bis unten: die bemalten Wände, der marmorne Boden, die vergoldete Decke. Mächtige Kristallkrüge sind mit klarem Wasser gefüllt. Man würde nicht glauben, dass die Gefässe überhaupt Flüssigkeit enthalten, so ähnlich sind sich Wasser und Glas. Wein wird aus Edelsteinkrügen ausgeschenkt und wird aus Edelsteinbechern getrunken. Bernstein variiert rötliches Gold. Handwerkliche Kunstfertigkeit hätte hier seinen Wert, doch ist das verwendete Material ungleich kostbarer. (Paul. Petric. Mart. 3,90–104)

Kostbare Edelsteine, Kristallglas, Marmor und Gold prägen das Bankett. Der mehrfache Verweis auf Purpur verleiht der Szenerie ein imperiales Gepräge. Die latente Kritik an der Äusserlichkeit dieser Pracht, die mit dem „inneren Glanz“ (cordis splendor: 3,83) Martins und seines Begleiters in kontrastierendem Gegensatz steht,197 vermag den ästhetischen Reiz einer solchen Darsteltionen von Purpur in Sidonius’ Panegyricus auf Maiorian vgl. Hernández Lobato (2012) 212 ff. 196 Paul. Petric. Mart. 3,65–134. Vgl. dazu Roberts (1995); Vielberg (2005) 65–67. Eine ganz ähnliche Beschreibung eines Symposiums mit Fokus auf Licht und Farbe findet sich bei Sidon. epist. 9,13,5 Vv. 14–19. Vgl. dazu Condorelli (2013) 124–125. 197 Vgl. Paul. Petric. Mart. 3,83: cordis splendor; Mart. 3,123–124: (…) meritum cordis, non

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lung nicht zu überdecken. Vielmehr ist sie geschickt für die Propagierung einer christlichen Lebenshaltung dienstbar gemacht worden. Literarisches Ornament und moralische Erbauung sind hier keine sich ausschliessenden Kategorien. Die Pracht des Gelages findet in Paulinus’ Sprache ihr ebenbürtiges Abbild: Die sprachlich-stilistische variatio seiner Beschreibung entfaltet denselben Glanzeffekt wie die edelsteinbesetzten, mit Gold und Bernstein ausgelegten Becher des Kaisers (3,102–103).198 Die Kostbarkeit der Materialien, aus denen die Becher gefertigt sind, wird durch die in ihnen ausgedrückte handwerkliche Kunstfertigkeit (ars) noch gesteigert (3,104). Dasselbe gilt für Paulinus’ Poesie, deren Kunstcharakter in der rhetorischen Inszenierung und Präsentation der Gegenstände liegt. Zweihundert Verse weiter tritt der Teufel als Christus im prachtvollen Ornat spätrömischer Kaiser vor Martin. Dieser lässt sich aber von der falschen Parusie nicht täuschen und entlarvt ihn. Der Dichter gibt den Bericht des Sulpicius Severus199 verkürzt innerhalb einer langen Schmährede gegen den Teufel wieder: (…) tune, impie, vultum 366 mentiris domini, tenebris et fallere lucem conaris, (…) ? non penetras purum tetra caligine sensum nec claudunt verum nebularum umbracula solem, et quamvis ostro radians gemmisque coruscans subdideris rutilum plantis mendacibus aurum, 375 insimulans verum falso diademate regem. (…) täuschst du, Gottloser, das Antlitz des Herrn vor und versuchst du mit Dunkelheit das Licht nachzuahmen (…)? Mit schwärzlicher Finsternis wirst du einen klaren Verstand nicht täuschen, denn ein nebliger Schatten verdunkelt die wahre Sonne nicht. Magst du auch mit Purpur glänzen und mit Edelsteinen schillern und deinen falschen Füssen rötliches Gold unterlegen und mit falschem Diadem dich zum wahren König machen wollen. (Paul. Petric. Mart. 3,366–376)

Der Teufel, hier wie alles Böse und Unterweltliche traditionell durch Dunkelheit charakterisiert (tenebris, tetra caligine, nebularum umbraculum), versuchte sich mit Hilfe äusseren Glanzes als Lichtgestalt zu präsentieren.200 Der ewige Kampf zwischen Gut und Böse wird hier symbolisch durch den uralten Dualismus hell-dunkel wiedergegeben, ein Leitmotiv, das in der spätantiken Hagiographie reiche Ausgestaltung fand.201 purpura regis / vicit. Vgl. Vielberg (2005) 66–67. 198 Geminatio und Chiasmus in Vers 102; Antithese und Polyptoton in Vers 104. Vgl. Roberts (1995) 104. 199 Vgl. Sulp. Sev. Mart. 24. 200 Der Teufel war ja als gefallener Engel ursprünglich auch eine Lichtgestalt (lucifer). 201 Zur grundlegenden Bedeutung des Dualismus Licht und Dunkelheit in religiösen Kontexten vgl. z.B. Tröger et al. (2002). Zur Dunkelheit als spezifischem Merkmal des Unterweltlichen in der lateinischen Literatur vgl. Thome (1993) 200–203.

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2. Kodierte Kommunikation

b. Exkurs: Zur religiösen Symbolik von Licht und Dunkel in der Spätantike In der christlichen Literatur ist der Kontrast hell-dunkel traditionell symbolisch aufgeladen. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist das literarische Oeuvre des aus Spanien stammenden Dichters Prudentius, dessen Schriften in eindringlicher Weise vom Dualismus Licht-Dunkel durchdrungen sind.202 In seiner theologischen Konzeption ist das helle Licht der Sonne ein Geschenk Gottes und Symbol für die Erlösung durch Christus, der die Menschen aus der Dunkelheit von Sünde und Tod führte. Dunkelheit (caligo, tenebrae) symbolisiert auf der anderen Seite die Kräfte des Teufels, vor dessen Macht Prudentius seine Leserschaft unablässig warnt.203 Die Suprematie der Mächte des Lichts über die der Dunkelheit zieht sich leitmotivisch durch sein Werk. Im Morgenhymnus (cath. 2) ist diese Konstellation allegorisch verdichtet:204 Nox et tenebrae et nubila, confusa mundi et turbida, lux intrat, albescit polus: Christus venit, discedite! Caligo terrae scinditur, percussa solis spiculo, rebusque iam color redit vultu nitentis sideris. Sic nostra mox obscuritas fraudisque pectus conscium, ruptis retectum nubibus, regnante pallescet Deo.

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Wolken, Nacht und Finsternis, Chaos und Wirrnis dieser Welt, weicht: der Morgen graut, das Licht erscheint, Christus naht! Die Dunkelheit der Erde wird zerteilt, durchbohrt vom Strahl der Sonne. Schon kehrt im Angesicht des glänzenden Gestirns den Dingen ihre Farbe zurück. Bald wird unsere eigene Dunkelheit und unser schuldbewusstes Herz erhellt, wenn Gott regiert und die schützenden Wolken versprengt sind. (Prud. cath. 2,1–12)

In den ersten drei Strophen tritt Christus als personifiziertes Licht im morgendlichen Sonnenaufgang siegreich in eine nachtumhüllte und chaotische Welt. Bei seiner Epiphanie weicht sogleich die Dunkelheit und die Sündhaftigkeit der Menschen verblasst im Angesicht Gottes. In der aufgehenden Sonne ist die geistige Erhellung der in Unwissenheit und Sünde lebenden Menschen symbolisiert. Deren Strahlen treffen damit auch die Augen der 202 Van Assendelft (1976) 32: „The notions of light and darkness pervade his writings to an extent that they need to be considered.“ Vgl. dazu die fundierte Studie von Gosserez (2001). 203 Solmsen (1965). 204 Vgl. dazu Gosserez (2001) 76–84.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

Seele und bringen Licht, wo bis anhin Dunkelheit war. Mit dieser Licht-Taufe werden die Menschen von ihrer inneren Blindheit befreit.205 Für Prudentius war das Licht semiologisches Abbild der Gnade Gottes. Diese Anschauung entspricht damit spiegelverkehrt der mystisch-spirituellen Deutung der Dunkelheit des göttlichen Wortes durch Tyconius. Eine ähnliche Vorstellung wie bei Prudentius liegt auch dem siebten Geburtstagsgedicht (carm. 23) des Paulinus von Nola zu Grunde, in dem er ein Heilungswunder besingt, das sich am Grab des heiligen Felix von Nola ereignet habe:206 Ein Mönch erlitt durch einen Lampenhaken eine schwere Verletzung am Auge. Die Verdunkelung des Sehorgans trat paradoxerweise durch einen Helligkeitsträger ein. Die eingetretene Wunderheilung wird demzufolge auch symbolisch als Heilung der inneren Blindheit des Mönchs gedeutet. Leiden und Erleuchtung, Ursache und Wirkung sind hier durch die Polysemie von lumen („Licht“; „Auge“) geschickt verwoben. Paulinus’ Ekphrasis der Lampe (Vv. 129–147) ist durch einschlägige Termini symbolisch aufgeladen und enthält das beschriebene christliche Deutungsmuster:207 Stuppa madens liquidum tenui face concipit ignem, et circumfusum spatio stagnantis olivi in vitreis exile vadis funale coruscat et tremulo vibrans a vertice lumen acutum 145 leniter umbrosam iacit in penetralia lucem et placido densas aperit splendore tenebras. Der vollgesogene Docht erfasst in feiner Flamme ein helles Feuer, die zierliche Fackel im gläsernen Gefäss leuchtet auf und ein Lichtschein ergiesst sich über das träge Lampenöl. Von der zitternden Flammenspitze zuckt ein helles Leuchten, das zaghaft schattenwerfendes Licht in den Raum verströmt und mit sanftem Glanz die dichte Finsternis durchbricht. (Paul. Nol. carm. 23,142–147)

Die Passage ist kunstvoll gestaltet.208 In drei polysyndetisch verbundenen Hauptsätzen mit wachsenden Gliedern (der letzte mit anaphorisch angeschlossenem Dikolon) wird der Prozess vom Entzünden des Dochts über dessen Widerschein im Öl bis zum Lichtwurf der Lampe in veranschaulichendem Präsens beschrieben. Die innere Geschlossenheit dieser descriptio innerhalb 205 Der Gedanke ist biblisch, vgl. Aug. in Iob 7,9 ed. Migne 34, 832: ut iam non sit nubes, sed in aeram purum extenuetur, tanquam radiis solis expurgata, ut obscuritas carnis et sanguinis non sit in caelo. Dazu van Assendelft (1976) 96. In der dritten Strophe wird noch ein anderer Aspekt theologischer Lichtsymbolik ins Auge gefasst: Die alles durchdringenden Strahlen der Sonne bringen die Wahrheit hervor und lassen die Sünden offen hervortreten. Die Sonne präfiguriert damit den Tag des Jüngsten Gerichts. Dieser Gedanke wird im Folgenden weiter ausgeführt, vgl. Prud. cath. 2,13–16: Tunc non licebit claudere / quod quisque fuscum cogitat, / sed mane clarescent novo / secreta mentis prodita. Vgl. van Assendelft (1976) ad loc. 206 Zum Gedicht vgl. allgem. Surmann (2005). 207 Lampen-Ekphraseis finden sich in Paul. Nol. carm. 18,35–37; carm. 19,407–424; carm. 23,118–155. Weitere Stellen mit spätantiken Lampenbeschreibungen nennt Roberts (1989) 134 mit Anm. 26. 208 Vgl. dazu ausführlich Surmann (2005) 273–274.

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2. Kodierte Kommunikation

der ganzen Ekphrasis zeigt der Beginn mit face concipit igne am Versende und der Schluss mit aperit splendore tenebras in gleicher Position, sodass ignis und tenebrae, Licht und Dunkel, jeweils hervorgehoben sind. Das Licht der Lampe durchbricht dynamisch die statische Finsternis des Raums. Auch hier entfaltet das Licht nur durch Abgrenzung von der raumfüllenden Dunkelheit seine Wirkung. Noch deutlicher bringt Paulinus dies an anderer Stelle zum Ausdruck. Auch hier handelt es sich um eine Ekphrasis der Öllampen, die den Innenraum der St. Felix-Basilika erleuchten und mit mannigfachem Lichtschein die sie umgebende dichte Dunkelheit durchdringen: densaque multicomis imitantur [sc. lumina] sidera flammis distinguntque graves numerosa luce tenebras (…). üppig ahmt die Leuchte in strahlendem Flammenschein die Gestirne nach und durchtrennt die drückende Dunkelheit mit mannigfachem Licht (…). (Paul. Nol. carm. 19,418–419)

Der symbolisch aufgeladene Dualismus von Hell und Dunkel, Gut und Böse spiegelt sich auch im Aufbau der ersten Strophen von Prudentius’ Morgenhymnus. Jeweils die ersten beiden Verse gelten der Dunkelheit (in bemerkenswerter Synonymvariation: nox, tenebrae, nubila, caligo, obscuritas), während die letzten beiden dem Licht vorbehalten sind.209 Wie bei Paulinus verläuft der Übergang von der Dunkelheit ins Licht nicht abrupt, sondern schrittweise. Prudentius konzediert, wie die Inkohativa (albescit, pallescit) verdeutlichen, gewisse Zwischenstufen und Schattierungsebenen, nicht nur in der erhellten Landschaft, sondern auch im Bereich der Seele. Auf diese verschiedenen Schattierungsgrade wird im folgenden Kapitel einzugehen sein. c. Lichtführung und Schattenwurf: Zur Artistik der Verdunkelung Die Wertschätzung von Licht und Glanz, die sich in der spätantiken Literatur gleichsam in einer eigentlichen Lichtsprache manifestierte, liess auch ausserhalb spezifisch religiöser Bereiche deren natürliches Gegenstück, die Dunkelheit, ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Dunkelheit verlangt in natürlicher Weise einen Prozess der Erhellung und der Enthüllung und tritt damit paradoxerweise in den Dienst der erstrebten Illumination eines Textes. Dieser Effekt lässt sich in der zeitgenössischen Epistolographie exemplarisch aufzeigen. Die anspruchsvolle Variante des zeitgenössischen sermo epistolaris verlangte vom Rezipienten grundsätzlich eine erhöhte Aufmerksamkeit und die Bereitschaft, einen komplizierten hermeneutischen Dechiffrierprozess zu vollziehen, um zur Quelle des Lichts vorzustossen. Erst nach der mühsamen 209 Im Folgenden variiert Prudentius dieses Schema, wobei er je eine Strophe ganz der Dunkelheit und eine dem Licht widmet und die nächste wieder zwischen Licht und Dunkel aufteilt.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

Transgredierung der durch die rhetorische ars des Autors erzeugten Dunkelheit öffnet sich dem Leser der Blick auf den darin eingeschlossenen formalästhetischen und semantischen Glanz. In der oben erwähnten Adventus-Beschreibung hat Sidonius zur Steigerung der Lichtwirkung gedanklich wie formal eine kontrastierende Dunkelheit erzeugt: Eo quo comebantur ornatu muniebantur; lanceis uncatis securibusque missibilibus dextrae refertae clipeis laevam partem adumbrantibus, quorum lux in orbibus nivea, fulva in umbonibus ita censum prodebat ut studium. Ihre Ausrüstung war Schmuck und Bewaffnung zugleich: Wurfäxte und Lanzen mit Hackenspitze trugen sie in der rechten Hand, ihre linke Seite wurde von Rundschilden beschattet210, deren weisslicher Glanz auf der Fläche und deren rötlicher Glanz auf dem Buckel den Reichtum und Kampfeswillen [ihres Besitzers] bezeugten. (Sidon. epist. 4,20,3)

Zur Erzeugung eines Kontrastes setzt die Technik des elaborierten InsLicht-Setzens den Einsatz intendierter Obscuritas zwangsläufig voraus. Paradoxerweise wird ja bereits durch den extravaganten Wortschatz, der den erstrebten Lichteffekt in den Texten erzeugt, vorgängig eine gelehrte Verdunkelung erzeugt. Gleichwohl sekundieren die virtuosen Verhüllungs- und Verdunklungstechniken der spätantiken Autoren nicht einfach die Realisierung des Juwelenstils, allein um dessen Glanz wirkungsvoller zur Geltung zu bringen. Ihnen kam in ästhetischer Hinsicht durchaus eigene Geltung zu, was sich auch im artistischen Arrangement von Licht und Dunkel spiegelt. Glänzende Elemente wie prägnante Sentenzen und erlesenes Vokabular stehen in Verbindung mit dunklen Anspielungen, stilistischer Vertracktheit und verdeckten syntaktischen Bezügen. Erst in einer kunstvollen Kombination von lichtspendenden und lichtverdeckenden Komponenten entfalten die Texte die gewünschte Wirkung. Wie die Lichtwirkung war dabei auch die Dunkelheit der Texte – den spätantiken ästhetischen Präferenzen entsprechend – hochgradig artifiziell. Mit steigender Intensität der Verdunkelung, die auch anhand einer partiellen „Überbelichtung“ erzeugt werden kann, werden dem Leser kontinuierlich die Orientierungspunkte entzogen, bis er sich schliesslich im Leseprozess nur noch tastend vorwärtsbewegen kann. Diese ästhetische Grenzerfahrung zwischen Licht und Dunkel, Verständlichkeit und Unverständlichkeit, in die der Rezipient geführt wird, dürfte eines der entscheidenden Wirkungsziele des literarischen Verdunklungsstrebens sein. Metapoetische Aussagekraft kann in diesem Zusammenhang dem Bild des „eingeschlossenen Lichts“ (lux inclusa) zugewiesen werden, auf das in der spätantiken Literatur auffallend häufig rekurriert wurde.211 Zu Beginn seines 210 Adumbrare ist an dieser Stelle pace Loyen und Anderson um des Kontrastes willen wörtlich zu nehmen: „beschatten“ und nicht „beschirmen“. Die Ambiguität ist intendiert. 211 Z. B. Sidon. epist. 2,2,4; Avit. epist. 50 ed. Peiper, 78,18–19; Avit. hom. 29 ed. Peiper, 150,11–13; Ven. Fort. carm. 1,15,55–58.

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2. Kodierte Kommunikation

Epithalamium auf Ruricius und Hiberia (carm. 11) beschreibt Sidonius Apollinaris den Palast der Venus: eine Meeresgrotte, in der sich das Tageslicht in konzentrierter Form sammelt (collecta dies). Diesen Ort des Lichts hat Sidonius mit kaum zu durchdringender, affektierter Dunkelheit beschrieben: Inter Cyaneas, Ephyraea cacumina, cautes, qua super Idalium levat Orithyion in aethram exesi sale montis apex, ubi forte vagantem dum fugit et fixit trepidus Symplegada Tiphys, atque recurrentem ructatum ad rauca Maleam, 5 exit in Isthmiacum pelagus claudentibus alis saxorum de rupe sinus, quo saepe recessu sic tamquam toto coeat de lumine caeli, artatur collecta dies tremulasque per undas insequitur secreta vadi, transmittitur alto 10 perfusus splendore latex, mirumque relatu, lympha bibit solem tenuique inserta fluento perforat arenti radio lux sicca liquorem. (…)212 In dieses Versteck dringt intensivstes Tageslicht, als ob die Helligkeit des ganzen Himmels sich an diesem Ort konzentrierte, und durchdringt auf der Suche nach unbekannten Tiefen die schwankenden Wogen. Von hellem Glanz überströmt wird das Wasser durchdrungen, das Meer trinkt – welch wunderlicher Bericht – die Sonne und eingetaucht ins klare Nass durchstösst sengendes Licht mit dürstenden Strahlen das Wasser. (Sidon. carm. 11,1–13)

Der Aufbau des Gedichts, das durch eine Praefatio in elegischen Distichen über die Hochzeit von Peleus und Thetis eingeleitet wird (carm. 10), ist konventionell und weist grosse strukturelle Ähnlichkeiten mit Claudians Hochzeitslied auf Palladius und Celerina auf.213 Auf die ausführliche Beschreibung des Palastes (Vv. 1–33) und des Gefolges der Venus (Vv. 34–46) folgt ein kurzes Gespräch, in dem die Göttin und Amor sich über die Brautleute unterhalten und schliesslich den Beschluss fassen, die beiden zu vermählen (Vv. 46– 110). Daraufhin reisen sie nach Gallien, wo Venus persönlich die dextrarum iunctio vollzieht (Vv. 111–133). Die ersten fünf Verse, in denen Sidonius die lokale Verortung der heiligen Grotte mit Hilfe geographischer, literarischer und mythologischer Referenzen umschreibt, sind dermassen unverständlich,214 dass man eine handschriftliche Korruptele angenommen hat.215 Die Passage ist in der Tat darauf ange-

212 Textgrundlage für die Vv. 1–6 ist Loyen (1960) XLIX nach dem Zeugnis der Handschriften und ohne Berücksichtigung von Loyens umfangreichen Konjekturen. Die Übersetzung der Verse 1–7a folgt weiter unten: S. 178. 213 Claud. carm. min. 25. Vgl. Horstmann (2004) 191. 214 Anderson (1936) 200: „The first five line of this difficult poem are an unintelligible jumble“; Kindler (2005) 221: „Los cinco primeros versos son ininteligibles.“ 215 Anderson (1936) 200 hält am Text wie ihn die Handschriften liefern fest, konstatiert aber eine Korruptele, während Loyen (1960) XLIX eine Interpolation durch Glossen annimmt und die Verse umstellt.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

legt, den Rezipienten216 im Wirrwar unterschiedlicher Anspielungen und unklarer syntaktischer Bezüge hinters Licht zu führen. Auf der verzweifelten Suche nach Sinn verirrt sich der Leser rasch im Labyrinth der Bezugsmöglichkeiten, zu deren Auflösung der Text selbst keine Hilfestellungen oder semantische Verdeutlichungen bietet. In logisch nicht durchschaubarer Abfolge werden in gelehrten poetisch-mythologischen Verschlüsselungen verschiedene Orte aufgerufen, die in keinen plausiblen Bezug zueinander gebracht werden können und den Interpreten vor ein Rätsel stellen: „Le mélange des données géographiques est, on le voit, inextricable.“217 Die Ephyraea cacumina weisen nach Korinth218, Idalium nach Zypern219, Orithyion nach Athen220, die Symplegaden an den Bosporus221 und Malea an die südliche Peloponnes222. Cyaneas ist zweideutig: κυάνεος bedeutet eigentlich dunkelblau (u. a. Prud. Psych. 858: cyanea… stagna), ist aber zugleich ein gängiger Name für die Symplegaden,223 welche in Vers 4 genannt werden. Die Apposition Ephyraea cacumina steht der Deutung der Cyaneas cautes224 als „Felsen der Kyaneen“ jedoch prima facie entgegen.225 Die Passage enthält zahlreiche Anspielungen an den Argonautenzug: Cyaneas/ Symplegada = Inseln, die durch die Durchfahrt der Argo unbeweglich wurden; Ephyraea = Korinth als späterer Wohnsitz des Jason; Orithyion = Oreithyia war die Mutter zweier berühmter Argonauten, Kalais und Zetes; Tiphys = der Steuermann der Argo; Meleam = Kap am Südende der Peloponnes, wo die Argonauten in einen Sturm gerieten (u. a. Herod. 4,179). Einen direkten Verweis auf Venus, deren Palast ja beschrieben wird, liefert allein die Stadt Idalium auf Zypern, wo sich ein Tempel der Liebesgöttin befand. Dies weckt die Frage nach dem tieferen narrativen Sinn dieser mythologischen Re216 Die folgende Analyse erfolgt unter Annahme eines Lesepublikums. Inwieweit die intertextuellen Anspielungen während des Vortrages des Dichters vom Publikum aktualisiert werden konnten, ist im Weiteren nicht relevant. 217 Loyen (1960) XLIX. 218 Vgl. u.a. Lucan. 6,17: Ephyraeaque moenia; Stat. Theb. 7,105: Ephyraea… litora. 219 Dieselbe Junktur bei Verg. Aen. 1,681: aut super Idalium, vgl. dazu Serv. in Verg. Aen. 1,681: IDALIUM Cypri nemus est (…). 220 Orithyion ist singulär und scheint eine Neubildung des Sidonius zu sein. Möglicherweise handelt es sich um das Heiligtum des Boreas am Ilissos, in dem Oreithyia mitverehrt wurde. Zu Oreithyia vgl. Simon (1994) 64–65. 221 Vgl. Pomp. Mel. 2,99: contra Thracium Bosphorum duae parvae parvoque distantes spatio et aliquando creditae dictaeque concurrere et Cyaneae vocantur et Symplegades. 222 Vgl. die Junktur bei Stat. Theb. 7,16: raucae… Maleae. 223 Vgl. u.a. Val. Flacc. 1,60 sowie Hyg. fab. 21,1: Argonautae cum per Cyaneas cautes, quae dicuntur petrae Symplegades, intrassent mare quod dicitur Euxinum et errarent, uoluntate Iunonis delati sunt ad insulam Diam. 224 Vgl. Lucan. 2,716: Cyaneas tellus emisit in aequora cautes. 225 Loyen (1960) XLIX identifiziert die Ephyraea cacumina als Interpolation einer Marginalglosse und ersetzt die Stelle durch den 3. Halbvers ubi forte vagantem. Dass es sich bei der gelehrten Umschreibung um eine Glosse handeln soll (Was wird denn glossiert? etwa Cyaneas?), halte ich für unwahrscheinlich. Die Alliteration cacumina cautes dürfte vielmehr auf die Echtheit des Verses hinweisen.

2. Kodierte Kommunikation

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ferenzen.226 Gewiss sind Liebe und Hochzeit unter ihrer Vermittlung ein nicht unwichtiges Thema der Argonautensage. Insbesondere beim Männermord der Lemnierinnen und der anschliessenden Hochzeit mit den Argonauten kommt der Liebesgöttin eine entscheidende Bedeutung zu. Doch ist dies ein angemessenes Thema für ein Epithalamium? Gleichwohl gibt es einen Hinweis dafür, dass Sidonius tatsächlich diese Geschichte aufrufen wollte. Der sogenannte zweite Mythographus Vaticanus behandelt an einer Stelle seines mythographischen Handbuchs einige Protagonisten aus dem Kontext der Argonautensage.227 Neben Pelias, Iason und Medea ist hier bemerkenswerterweise Venus als einziger Gottheit ein Kapitel gewidmet, in dem die Geschehnisse auf Lemnos vor und nach der Ankunft der Argonauten ausführlich beschrieben werden.228 Im anschliessenden Kapitel wird dann auch Oreithyia genannt und in den Kontext des Zuges eingeordnet.229 Die auf den ersten Blick eher ungewöhnliche Assoziation der Liebesgöttin mit der Suche nach dem Goldenen Vlies könnte sich demnach auf eine mythographische Tradition stützen, die Sidonius mit grosser Sicherheit gekannt und hier möglicherweise berücksichtigt hat.230 Eine direkte intertextuelle Anspielung auf die literarische Gestaltung des Valerius Flaccus ist jedenfalls nicht festzustellen. Akzeptiert man den überlieferten Text, liegt die eigentliche Schwierigkeit der Passage in der syntaktischen Struktur, die die einzelnen geographischen Verweise zusammenbringt und in Beziehung zueinander stellt. Vers 1 beginnt wie eine typische loci descriptio,231 wobei Subjekt und Prädikat aber erst nach einer ungewöhnlich langen Sperrung auf inter folgen. Das verwinkelte syntaktische Gefüge, das sich insgesamt über dreizehn Verse erstreckt, wird von einem einzelnen Hauptsatz regiert (Vv. 6–7a: exit… sinus), der so positioniert ist, dass er die Periode in zwei symmetrische Glieder teilt. Im ersten Glied wird die äussere Lage der Grotte (V. 1–5) im zweiten deren Inneres beschrieben (Vv. 7b-13). Den ersten Teil hat Anderson auf folgende Weise zu übersetzen versucht: „[Between the Dark-blue Rocks, Ephyra’s peaks, where the summit of a sea-worn mountain raises Orithyion above Idalium to the sky, in which place, as it chanced, the wandering Symplegades were fixed fast by the 226 Rijser (2013) wirft die Frage generell für Sidonius’ Poesie auf und erklärt die (gerade in seinen Ekphraseis) vielfältigen und oft ohne ersichtliche Kohärenz enthaltenen literarischen und mythologischen Referenzen im Sinne der „poetics of inclusion“ als kulturelles Kapital, durch das Sidonius den Rückbezug seiner eigenen Zeit mit der grossen römischen Vergangenheit gewährleisten konnte. Seine Analyse der literarischen Kompetenzen und Interessen des gallischen Publikums, das eher am Klingeln bedeutender Namen interessiert war (90: „jingling bells of grand names and stories“), statt die Bezüge auch semantisch zu aktualisieren, ist meiner Meinung nach aber verfehlt. 227 Mythogr. Vat. II, 135–142 ed. Bode, 121–124. 228 Mythogr. Vat. II, 141 ed. Bode, 123. 229 Mythogr. Vat. II, 142 ed. Bode, 124. 230 Die Hauptquellen der drei Mythographi Vaticani stammen aus der Spätantike, vgl. die Einführung von Zorzetti (1995). 231 Vgl. Stat. silv. 2,2,1–4: Est inter notos Sirenum nomine muros / saxaque Tyrrhenae templis onerata Minervae / celsa Dicarchei speculatrix villa profundi, / qua (…).

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

trembling Tiphys even as he fled from them, …] there emerges into the sea of the Isthmus (…).“ Dazu notiert er: „Corinth is prominent in the Argonautic legend, but it is very surprising to find the Symplegades in its neighbourhood.“232 Den 5. Vers hat er athetiert. Noch radikaler ging Loyen vor, der die Passage komplett umstellte, den 5. Vers nach einer kleinen Konjektur aber beibehielt.233 Wie die unterschiedlichen Ansätze von Anderson und Loyen zeigen, bietet die Frage, auf was sich die Präposition inter bezieht, eine erste Schwierigkeit der Passage. Anderson deutet Cyaneas als „dunkelblau“ und bezieht inter allein auf cautes, um sich mit dem Problem konfrontiert zu sehen, dass dadurch sowohl das Orithyion (qua) als auch die Symplegaden (ubi) in unmittelbare Nachbarschaft Korinths gerückt werden. Loyen wiederum versteht – nach Elision von Ephyraea cacumina – die Cyaneas cautes als „roches Cyanées“ und bezieht inter zusätzlich auf ructatam Maleam, wie es durch den Akkusativ auch angezeigt ist. So öffnet sich für die Verortung der Grotte ein geographischer Raum zwischen dem Bosporus und der südlichen Peloponnes, in dessen Mitte Korinth liegt. Mit dieser Lösung war Loyen jedoch gezwungen, die Verse 3 und 4 sowie den Halbvers 1b in unbestimmter Anordnung nachfolgen zu lassen und eine entsprechende Lücke zu konstatieren. Die Stelle kann jedoch unter Konzession einer kleineren poetischen Lizenz relativ elegant aufgelöst werden: Akzeptiert man et aus Vers 4 als kopulative Konjunktion des ubi-Satzes in extremer Nachstellung (sc. et ubi forte trepidus Tiphys fixit vagantem Symplegada), ergibt sich für das erste Glied der Periode die Struktur inter… et… atque.234 Cyaneas bedeutet dann mit Anderson „dunkelblau“ – die Ambiguität ist intendiert und entspricht von Beginn weg Sidonius’ planvoller Irreleitung des Rezipienten: Zwischen den dunkelblauen Felsen, dem Gebirge Ephyras, wo die Spitze eines vom Salz zerfressenen Berges das Orithyion über den Idalium hinaus zum Himmel erhebt, und [dem Ort], wo Tiphys zitternd vor Angst die unsteten Symplegaden zum Stillstehen brachte, als er vor ihnen floh, und Kap Malea, wo die aufgenommenen [Fluten] im Zurückweichen an den dumpf dröhnenden [Klippen] wieder ausgespien wurden,235 öffnet sich an einer Klippe eine Bucht zum Isthmischen Meer, umgeben von steilen Felswänden.

Nach der mühevollen Dechiffrierung der Verse 1–7 herrscht über die geographische Lage der Meeresgrotte weiterhin Unklarheit. Im gewaltigen Dreieck zwischen Korinth, dem Bosporus und Kap Melea soll sie in einer engen Bucht liegen. Unbestimmter könnte eine geographische Situierung kaum sein. Sido232 Anderson (1936) 201. 233 Loyen (1960) 97: inter Cyaneas cautes, ubi forte vagantem, / dum fugit, et fixit trepidus Symplegada Tiphys, / atque recurrentem ructatam ad rauca Maleam, / [… Ephyraea cacumina… / qua super Idalium levat Orithyion in aethram / exesi sale montis apex, …]. Auf dieser Textgrundlage basiert auch die spanische Übersetzung von Kindler (2005) 222. 234 Et an 5. Stelle auch bei Ov. pont. 1,4,20: ante meum tempus cogit et esse senem. Dazu allgem. Maurach (1995) 34 f. 235 Vers 5 ist nur schwer verständlich, entfaltet aber eine lebhafte Geräuschkulisse, in dem der Klang der Worte das Beschriebene akustisch abbildet.

2. Kodierte Kommunikation

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nius will auf keine konkrete Stelle verweisen, sondern diesen rein imaginativen Ort auch als solchen belassen – ein nicht lokalisiertes, aber auch nicht lokalisierbares secretum, ein sakraler Ort des Lichts, umhüllt von undurchdringbarer Dunkelheit. In Sidonius’ descriptio entsprechen sich Form und Inhalt in harmonischer Weise und treten zugleich in den Dienst der Mimesis: Das Widerspiel von Licht und Dunkel ist in der Sprache selbst abgebildet. In den Versen 7–13 wird der immense Lichtcharakter des Heiligtums beschrieben, „wo sich das Licht des Tages auf engstem Raum in der Weise verdichtet (V. 9 sic… artatur collecta dies), als würde das gesamte Himmelslicht sich dort vereinen (V. 8 tamquam toto coeat de lumine caeli).“ Die Passage wird in auffälliger Weise durch die Metaphorik des Durchbohrens und Durchstossens dominiert. In dreifacher Variation wird ausgedrückt, wie Licht dunkles Wasser durchdringt: V. 10 dies… insequitur secreta vadi; V. 11 transmittitur… splendore latex; V. 13 perforat… lux… liquorem. Ist der Rezipient bis hierher vorgestossen und hat die sprachliche Dunkelheit erfolgreich zu durchdringen vermocht, so erblickt er nun den Glanz der Grotte im gleissenden Licht von Sidonius’ Darstellung. Hier wie dort, im Abbildenden wie im Abgebildeten, wird die natürliche Lichtwirkung durch künstlich-künstlerische Eingriffe verstärkt: Hephaistos (Lemnius236) baute hier für Venus einen Tempel. Der Zyklop Pyragmon verliess für dieses Werk seinen angestammten Amboss.237 Das Heiligtum erstrahlt wie das Gedicht selbst im Glanze unzähliger Juwelen. In einem eindrücklichen Edelstein-Katalog bildete Sidonius in varianten- und klangreicher Darstellung die immense Licht- und Farbwirkung des Innenraums ab (Vv. 17–26). Im Nebeneinander von direkt benannten (beryllus, achates) und metonymisch umschriebenen Steinen (Chalcidicus, Scythicus) wird auch hier ein Kontrast erzeugt, der das von Sidonius inszenierte virtuose Spiel zwischen Hell und Dunkel, zwischen unmittelbarem Verstehen und Nichtverstehen weiterführt. In Vers 24 ist diese Kunst der Skiagraphie in einer Mise en abyme abgebildet: per quas [sc. valvas] inclusi lucem vomit umbra smaragdi („Zwischen den Türflügeln lässt der Schatten das Funkeln der im Raum befindlichen Smaragde hervorblitzen.“). In diesem Bild ist sowohl die unbestimmbare Örtlichkeit der Grotte als auch Sidonius’ nur schwer zugängliche descriptio selbst gespiegelt. Die Kunst ist hier autoreferenziell, das Bild des eingeschlossenen Lichts ein metapoetischer Verweis. 236 Lemnius ist (wie in der unten zitierten Stelle Sidon. carm. 11,29: Mulciber) Epitheton ornans des Vulcan, vgl. z. B. Ov. met. 4,185. Es handelt sich hier wie so oft um einen Grenzfall der Obscuritas: Nur beim Kundigen führt die blosse Nennung des Epitheton zum Verständnis der Passage. Das Problem stellte sich so schon bei den Neoterikern. Ein weiteres schönes Beispiel aus der Spätantike: Sidon. carm. 15,163: Thrax für Orpheus auf der Grundlage von Verg. ecl. 4,55 und Ov. met. 11,92: Thracius Orpheus. 237 Vgl. Serv. in Verg. Aen. 8,425 ed. Thilo/Hagen, 263,19–20: Pyragmon vero, qui numquam a calenti incude discedit, [dictus est] ἀπὸ τοῦ πυρὸς καὶ τοῦ ἄκμονος; nam πῦρ ignis est, ἄκμων incus.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

Allein die grelle Farbenpracht und das diffuse Widerspiel von Licht und Dunkel im Innenraum lassen den Palast der Venus in der poetischen Imagination des Sidonius als locus amoenus erscheinen. Bezeichnenderweise fehlen hier andere typische Motive aus dem reichen Fundus literarischer Topik.238 Ein weiterer entscheidender Unterschied zur antiken Tradition besteht in der Künstlichkeit der Mimesis. Erst die ars des Hephaistos brachte der Natur im Akt ihrer Nachbildung den erwünschten Glanz: Interiore loco simulavit Mulciber auro exstantes late scopulos atque arte magistra ingenti cultu naturae inculta fefellit.

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Im Inneren hat Hephaistos mit Gold weit hervorstehende Felsen nachgeahmt und den Anweisungen der Kunst folgend durch aufwändige Verzierungen die Schmucklosigkeit der Natur täuschend ähnlich nachgebildet. (Sidon. carm. 11,29–31)

Wie Hephaistos in enger Anlehnung an die Natur goldene Felsformationen schuf, um sie vor der Dunkelheit ihrer Vorlage abzusetzen, hat auch Sidonius in Anlehnung an den glanzlosen sermo simplex et communis einen Sprachstil verwendet, der in Kategorien von Licht und Dunkel operiert und seine Vorlage übertrifft. Das Prinzip artifizieller Lichtvermehrung bringt auch Avitus in einer seiner Kirchenbeschreibungen zum Ausdruck: Ein kunstvoll gewobener Stoffvorhang erhellt in der Weise die ihn umgebende Dunkelheit, dass das im Raum eingeschlossene Licht noch heller erscheint als im Freien. Paradox ist hier wiederum, dass ein an sich verdunkelnder Gegenstand eine erhellende Wirkung entfaltet: Fabrica multiformi opificum ingenio nitens expulit noctem, adpulit lucem. quid diu? tristibus tenebris artificio proturbatis laetior intra quoddam claritatis ergastulum felici custodia clausus est dies. Das Gewebe, glänzend durch vielfältige handwerkliche Erfindungsgabe, vertrieb die Finsternis und brachte helles Licht herein. Was ist weiter zu sagen? Da die Dunkelheit durch diese Kunstfertigkeit vertrieben war, erschien das Tageslicht noch heller, eingeschlossen in günstigem Gewahrsam innerhalb eines leuchtenden Gehäuses. (Avitus hom. 29 ed. Peiper, 150,11–13)

Dass in spätantiken Ekphraseis die Aufmerksamkeit der Leser immer wieder auf die Wechselwirkung von Licht und Dunkel gelenkt wird, zeigt auch exemplarisch eine Stelle aus der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts: Venantius Fortunatus’ descriptio des in der Martinsvita des Sulpicius Severus erwähnten Festbanketts weist in auffälliger Analogie die oben offengelegten literarischen Muster auf. Besonders aussagekräftig ist hier die Art und Weise, wie der beschreibende Blick des Dichters selektiert und das Bankett vor dem inneren Auge seiner Leser konstituiert. 238 Vgl. z.B. Schönbeck (1962).

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Bei der Beschreibung der Weinbecher gestaltet Venantius die Vorlage seines Vorgängers Paulinus weiter aus, wobei er das Licht- und Farbenspiel noch stärker in den Blick nimmt:239 Lucida perspicuis certantia vina lapillis, vix discernendis cristallina pocula potis. inde calix niveus variat per vina colores, hinc mentita bibunt patera fucante Falerna.

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Schimmernde Weine wetteifern mit durchsichtigen Edelsteinkelchen, Becher aus Kristall mit ihrem Inhalt, kaum von diesem zu unterscheiden. Hier bricht ein schneeweisser Kelch den Wein in verschiedene Farben, dort trinkt man vermeintlichen Falerner, vom Becher dunkel gefärbt. (Ven. Fort. Mart. 2,82–85)

In den ersten beiden Versen wird derselbe Gedanke zweimal variiert: Getränke und Behälter sind äusserlich kaum voneinander zu trennen. Der gemeinsame Nenner liegt in der Durchsichtigkeit und Klarheit ihrer Materie. In der unspezifischen Wahl der Epitheta (lucida, perspicuis) und in der klingenden Paranomasie pocula potis ist die prinzipielle Austauschbarkeit von Gefäss und Inhalt auch sprachlich abgebildet.240 In den zwei folgenden Versen werden zwei unterschiedliche Lichteffekte beschrieben. In beiden Fällen beeinflusst die Beschaffenheit des Gefässes die Farbe des Getränks.241 Der Effekt ist kontrastiv. Einmal lässt weisses Glas den Wein in verschiedenen Farben hell erleuchten, einmal färbt dunkles Glas ihn schwärzlich. Die visuelle Licht-Illusion täuscht die Trinkenden des Banketts in gleicher Weise wie sie die Leser der Passage irritiert. Das Bild, das Venantius hier verbalisiert, ist überaus artifiziell. Es erscheint in seiner Überbeleuchtung irrational und zugleich hyperrealistisch. Die daraus sich ergebenden semantischen Unklarheiten führen letztlich zu einer Obscuritas. Diese Unfassbarkeit der beschriebenen Szenerie ist zweifellos intendiert und gehört zur literarischen Strategie des Venantius, der das kaiserliche Bankett über das sinnlich Fassbare hinaus transzendieren und mit der Aura des Einzigartigen versehen will. Beispiele dieser literarischen Technik, die Lichtführung und Schattenwurf in kunstvoller Weise verbindet, finden sich bei den meisten spätantiken Autoren.242 Es handelt sich dabei nicht allein um ein Charakteristikum poetischer Sprache, sondern um ein gattungsübergreifendes Phänomen, das sich nachge239 Vgl. Paul. Petric. Mart. 3,99–103; Ven. Fort. Mart. 2,82–92. Vgl. dazu Roberts (1995) 104– 106; Vielberg (2005) 68–69. 240 Roberts (1995) 106. 241 Dass dieser Effekt durchaus realen Begebenheiten entsprach, zeigt der sogenannte Lykurgosbecher aus dem 4. Jahrhundert, der sich im Besitz des British Museum befindet. Die im Kristallglas eingearbeiteten Gold- und Silberpartikel lassen den Becher im Gegenlicht rot und im Frontallicht gelbgrün erscheinen. Vgl. dazu mit Abbildung etwa Elsner (1998) 48–49. Zur Ästhetik spätantiker Kristallbecher auch Hernández Lobato (2012) 333–335. 242 Ein schönes Beispiel ist etwa Auson. Mos. 192–199. Weitere Licht-Beispiele aus der spä-

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rade in der zeitgenössischen Epistolographie manifestierte.243 Natürlich lassen sich auch in der Spätantike hinsichtlich des literarischen Kontexts sowie aufgrund der individuellen Vorlieben eines Autors im Einzelnen erhebliche Unterschiede im Schattierungsgrad feststellen. Während etwa in der Poesie des Prudentius eindeutig die Lichtwirkung überwiegt, bemühten sich Autoren wie Sidonius Apollinaris, Avitus oder Ennodius in ihren Briefen und Gedichten eher um die Erzeugung eines sprachlichen Zwielichts, wo das Gleichgewicht zwischen Hell und Dunkel auf die Seite der Dunkelheit verschoben ist.244 Ein anschauliches Beispiel dafür ist die extravagante Beschreibung eines Siegelrings, den Avitus von Vienne bei seinem Bruder Apollinaris, dem Bischof von Valence, brieflich in Auftrag gab. Das glänzende Schmuckstück wird in dunkler, kaum verständlicher Sprache beschrieben. Kaum zufällig fällt in diesem Zusammenhang das Oxymoron nitore sordebat, das selbstreferentiell auf die diffusen Lichtverhältnisse im Text und Avitus’ obskure Gestaltungsverfahren verweist: Signatorium igitur (…) in hunc modum fieri volo: anulo ferreo et admodum tenui velut concurrentibus in se delphinulis concludendo sigilli duplicis forma gemino cardine volubilis inseratur, quae, ut libuerit, vicissim seu latitabunda seu publica obtutibus intuentum alterna vernantis lapilli vel electri pallentis fronte mutetur. nec quidem talis electri, quale nuper, ut egomet hausi, in sancto ac sincerissimo impollutae manus nitore sordebat, cui corruptam potius quam confectam auri nondum fornace decocti crederes inesse mixturam: vel illam certe, quam nuperrime rex Getarum secuturae praesagam ruinae monetis publicis adulterium firmantem mandaverat;245 sed sit eiusmodi color, quem aequaliter ac modeste ruborem ab auro, ab argento candorem, pretiositatem ab utroque, a cereis246 rapientem fulgorem artificiosa, siquidem medioxima, viroris commendet amoenitas. Den Siegelring aber (…) möchte ich auf folgende Weise gefertigt haben: Einem ziemlich feinen Eisenring247, der in Form von zwei aufeinander zueilenden Delphinen endet, soll auf zwei Angeln ein doppeltes Siegelzeichen angebracht werden, das nach Belieben wechselweise den Blicken der Betrachtenden gezeigt oder vor ihnen verborgen werden kann; auf dem Revers werde dagegen ein grünlich schimmernder Edelstein und ein blass

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tantiken Poesie unter Berücksichtigung der zeitgenössischen Kunst finden sich bei Roberts (1989) 66–121. Die Vorliebe für vielerlei Beleuchtungs- und Schattierungseffekte, für diffuses und künstliches Licht, ist, wie bereits erwähnt, auch ein Kennzeichen der Literatur des 1. Jahrhunderts n. Chr. Auch hier äussert sich eine antiklassische Ästhetik in einer ostentativen Überbeziehungsweise Unterbelichtung entscheidender Passagen. Vgl. zu Statius etwa Cancik (1965) 44 f. Dem artistischen Arrangement von Licht- und Schatten wurde auch in der Malerei des Rokoko besondere Aufmerksamkeit gewidmet. In empirischer Reflexion über das Phänomen des Chiaroscuro entwickelte eine Gruppe von Wissenschaftlern und Künstlern des 18. Jahrhunderts eine Schattentheorie, in der sie die Beziehung von Schatten mit Licht und Raum bestimmten. Vgl. dazu Baxandall (1998) bes. 91–157. Ensprechend spricht auch Gioanni (2006) CIII von der „obscure lumière“ der Briefe des Ennodius. Als Ausnahme erscheint hier Ruricius von Limoges, dessen Briefe das Prinzip der claritas befolgen, vgl. dazu weiter unten: S. 288–297. Peiper hat hier stärker interpungiert und einen neuen Satz begonnen. Konjektur von Shanzer/Wood (2002) 255 Anm. 1 für ceteris. Shanzer/Wood (2002) 254 konjizieren aureo für ferreo in den Handschriften.

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glänzender Bernstein angebracht. Doch soll nicht ein derartiger Bernstein Verwendung finden, wie er vor einiger Zeit – ich habe es selbst gesehen – im heiligen und aufrichtigen Glanze einer unbefleckten Hand trüb und reizlos war: Man hätte glauben können, diesem Ring sei eher eine verderbte Gold-Mischung eingelegt, die noch nicht im Brennofen gereinigt wurde, als eine vollendete, oder jene Mischung – Vorbote des baldigen Untergangs –, die vor einiger Zeit der König der Westgoten den staatlichen Münzstätten zur Bestätigung seiner [Münz-]Verfälschungen aufgetragen hatte. Nein, der Bernstein soll jene Farbe tragen, die den kunstvollen Reiz von Grün, da dieses [in der Fassung des Ringes] in der Mitte liegt, auszeichnet, indem er ausgeglichen und massvoll den rötlichen Glanz von Gold, vom Silber den weissen, von beiden ihre Kostbarkeit, vom Feuer aber das gelbe Leuchten übernimmt. (Avit. epist. 87 ed. Peiper, 96,26–97,3)

Die Schwierigkeit der Passage basiert in erster Linie auf der eigenwilligen syntaktischen Struktur und der Stilistik von Avitus’ Prosa. Avitus verwendet zwar auch erlesenes Vokabular, um im Text einen Glanzeffekt zu erzeugen, jedoch weitaus sparsamer als etwa Sidonius: latitabundus ist ein Neologismus seines entfernten Verwandten (Sidon. epist. 1,6,4), medioximus ein Archaismus,248 während viror „Grün“ ein gesuchter Ausdruck darstellt, der sich nur einmal bei Apuleius und dem spätantiken Grammatiker Palladius findet. Ähnlich selten ist auch das Abstraktum pretiositas.249 Die Artistik von Avitus’ descriptio ist im Wesentlichen auf effektvolle syntaktisch-stilistische Mittel konzentriert: Die Perioden sind zwei-, dreioder höchsten viergliedrig und folgen stets demselben Bauschema, sodass auf den Hauptsatz jeweils ein verdeutlichender Relativsatz folgt. Gleichwohl sind seine Sätze relativ lang und unübersichtlich. Das erste Satzgefüge besteht aus einem Hauptsatz, auf den ein Nebensatz ersten Grades (quae… mutetur) mit eingeschobenem Nebensatz zweiten Grades (ut libuerit) folgt. Der Hauptsatz ist unnötig in die Länge gezogen: anulo wird von zwei Adjektiven (ferreo et admodum tenui) und einer vergleichenden Partizipialkonstruktion (velut… concludendo) definiert, ein Relativsatz scheint hier bewusst vermieden worden zu sein. Die anschliessende Nominalhäufung, die das Subjekt kunstvoll in chiastischer Anordnung umrahmt (sigilli duplicis forma gemino cardine), zögert das klärende inseratur weiter hinaus. Überhaupt verursacht die regelmässige Schlussstellung des Verbum finitum (inseratur, mutetur, sordebat, mandaverat, commendat) weite Längen, die den Rezipienten einen beträchtlichen kognitiven Spannungsbogen aufzwingen.250 Das gleiche Bild bietet der anschliessende Nebensatz, der durch eine Paranomasie (obtutibus intuentum) und ein kunstvolles Hyperbaton mit chiastischer Attributstellung (alterna vernantis lapilli vel electri pallentis fronte) ausgezeichnet ist. Nicht weniger stilisiert ist die zweite Periode, in der Brachiologie, Korrelation und antithetische Vergleiche eine verdunkelnde Wir248 Möglicherweise hat Avitus auch diese Vokabel von Sidonius entlehnt, vgl. ThLL 8,569. 249 Viror: Apul. flor. 10; Pallad. 7,12. Pretiositas: Apul. met. 2,19; Macr. Sat. 7,13,14. 250 Dabei handelt es sich um eine stilistische Eigentümlichkeit des Avitus, vgl. weiter oben: S. 77–79.

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kung erzielen. Nur schwer zu übersetzen ist schliesslich die detaillierte Beschreibung der Farbe des Bernsteins, den Avitus für seinen Ring wünscht: „Doch er soll jene Farbe tragen, welche die kunstvolle Anmut von Grün, da dieses (in der Fassung des Ringes) in der Mitte liegt, auszeichnet, indem sie ausgeglichen und massvoll den rötlichen Glanz von Gold, vom Silber den weissen, von beiden ihre Kostbarkeit, vom Feuer das gelbe Leuchten übernimmt.“ Der Stein soll in verschiedenen Farben oszillieren sowie helle und dunkle Elemente besitzen. Darin zeigt sich im übertragenen Sinn auch die artificiosa amoenitas und pretiositas von Avitus’ Rhetorik. Das Muster ist bekannt: Auch hier bildet die Sprache den beschriebenen Gegenstand mimetisch ab und beansprucht eine vergleichbare Geltung. Am Ende des Briefs führt Avitus seinem Adressaten noch einmal in eindrücklicher Weise diese Technik vor und reflektiert explizit über deren Verwendung: In fine autem epistulae luteo operi, sine quo tamen non transigetur, faeculentus sermo deposcit, ut artificem figulum brevi tenendum e vestigio dirigatis, qui nobis qualibus strui mensuris cribrati cenaculum furni vel intra quod spatium fossilis glaebae scrobis sordibus saeptae animalium pedibus coctilis caeni glutinum lentari possit, instituat.251 Am Ende des Briefs aber möchte ich dich für eine schmutzige Arbeit in einer dunkeltrüben Sprache – denn ohne sie trifft man die Sache nicht – dringlich bitten, mir auf der Stelle einen Töpfermeister für einen kurzen Aufenthalt zu schicken (…)252 (Avit. epist. 87 ed. Peiper, 97,12–16)

Die Bitte um einen Töpfermeister (artifex figulus), der sich mit dem Bau eines Brennofens und der Herstellung von Lehmziegeln auskennt, wird in affektierter Obscuritas vorgetragen. Avitus rechtfertigt seine stilistische Wahl als faktische Notwendigkeit: eine schmutzige Arbeit erfordere einen schmutzig-trüben Stil.253 Bezeichnenderweise wird mit faeculentus „trüb“ der fehlende Glanzeffekt von Avitus’ Sprache bezeichnet – ein entscheidendes Merkmal, das etwa irdene Gefässe von gläsernen oder metallenen unterscheidet. Insbesondere der zweite Relativsatz ist bis zur Unverständlichkeit verdreht. Die Endstellung der beiden Verben sowie die Nominalhäufung in der Mitte verhüllen die im Prinzip einfache syntaktische Struktur: qui instituat qualibus mensuris… strui vel intra quod spatium… lentari possit

Die zweite indirekte Frage (vel intra quod spatium…) ist auch mit Kenntnis der antiken Ziegelherstellung nur schwer verständlich. Shanzer/Wood kons251 Im zweiten Relativsatz bin ich der missverständlichen Interpunktion von Peiper, der ein Komma nach scrobis und pedibus gesetzt hat, nicht gefolgt. 252 Die Übersetzung der folgenden nur schwer verständlichen Passage folgt weiter unten: S. 185. 253 Der Bezug des Relativsatzes ist ebenso unklar wie das Subjekt von transigetur. Entweder bezieht sich sine quo auf opus luteum „ohne beschmutzende Arbeit kann die Aufgabe (nämlich der Bau des Ofens) nicht bewältigt werden“ oder auf den sermo faeculentus „ich kann dies nur in einem trüb-dunklen Stil von dir fordern“.

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tatieren eine verderbte Textstelle nach glaebae.254 Die lectio codicum ist gleichwohl zu retten, wenn man neben der stilistischen Dunkelheit eine erhebliche Unschärfe des verwendeten Vokabulars konzediert: Avitus scheint Fachvokabular bewusst zu vermeiden. Stattdessen verwendet er in austauschbarer Anordnung Begriffe, die Schmutz, Dreck oder Kot bezeichnen (glaeba, sordes, caenum). Dass es sich um Ziegelproduktion handelt, ist zumindest aus dem eingangs erwähnten luteo operi zu erschliessen. Nun ist die semantische Unschärfe seiner Beschreibung beredter Ausdruck des sich hier manifestierenden trüben Stils. Der Leser ist gezwungen, die Stelle durch eigene Interpretationsleistung zu dechiffrieren und sinnvoll zu ergänzen. Erhellt man die diffuse Begrifflichkeit, ergibt sich etwa folgende Übersetzung: (…) der mir zeigen kann, in welchen Abmessungen der obere Teil eines perforierten Brennofens zu errichten ist und innerhalb welcher Ausdehnung eines ausgehobenen und mit Lehm [wieder] aufgefüllten Erdlochs die klebrige Masse der zu brennenden Ziegel durch das Feststampfen von Tierhufen elastisch gemacht werden kann.255

Durch seine Deutung vollzieht der Leser kognitiv den Akt des Feststampfens und verfestigt den gemeinten Sinn, indem er die zähe Prosa elastisch, das heisst verständlich macht. Gleichwohl ist die Dunkelheit von Avitus’ Sprache nicht umfassend. Denn wie Lichtblitze in dunkler Umgebung umso heller erscheinen, wirkt auch Dunkelheit umso eindringlicher, wenn diffuses Licht noch schwach hervorschimmert: Alliterationen, Assonanzen (cribrati cenaculum, scrobibus sordibus saeptae, coctilis caeni), die eindrückliche Synonymvariation (luteus, faeculentus, glaeba, sordes, caenum) sowie eine sorgfältige Rhythmisierung sorgen für kontrastierenden Glanz im Text. Die hier skizzierte epistolare Licht- und Dunkelsprache, wie sie sich in privater Korrespondenz ausgeprägt hatte, besass auch ein politisch-offizielles Seitenstück.256 Deutliches Beispiel hierfür ist Cassiodor, dessen Sammlung amtlicher Briefe dasselbe Phänomen aufweist. Dies wird bereits zu Beginn programmatisch kundgetan. Der im ersten Briefbuch an zweiter Stelle positionierte Brief, den Cassiodor im Namen Theoderichs an den vir spectabilis Theon sandte, definiert in Kategorien von Licht und Dunkel ihren Verfasser und gibt dem Leser implizit das zu erwartende sprachlich-stilistische Register vor. In var. 1,2 beklagt sich der König, dass das Purpurgewand, das er in Auftrag gegeben habe, noch nicht fertiggestellt sei. Nach der kurzen Einleitung werden dem Adressaten der Prozess der Einfärbung und der Purpurgewinnung sowie die allgemeine Bedeutung dieser Farbe für die Repräsentation imperialer Macht vor Augen geführt:

254 Shanzer/Wood (2002) 256–257. 255 Sordes hier für „Lehm“; saeptae (zu scrobis f.) hier „bedecken“; animalium pedibus erg. pulsantibus; coctilis hier „brennbar“ und nicht „gebrannt, getrocknet“; caenum hier „Lehmziegel“. 256 Dass es in stilistischer Hinsicht letztlich keine Unterschiede zwischen privater und offizieller Korrespondenz gibt, betont auch Gioanni (2009) 15–16 und 19–20.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie: Credimus enim aliquem provenisse neglectum, ut aut crines illi lactei, carneo poculo bis terque satiati, pulcherrima minus ebrietate rubuerint aut lanae non hauserint adorandi muricis pretiosissimam qualitatem. quapropter si perscrutator Hydrontini maris intusa conchylia sollemniter condidisset apto tempore, acervus ille Neptunius, generator florentis semper purpurae, ornator solii, aquarum copia resolutus imbrem aulicum flammeo liquore laxaverat. color nimio lepore vernans, obscuritas rubens, nigredo sanguinea regnantem discernit, dominum conspicuum facit et praestat humano generi, ne de aspectu principis possit errari. Wir glauben nämlich, dass es [von deiner Seite] zu einer Nachlässigkeit gekommen ist, sodass jene milchweisen Haare, in fleischfarbenen Behältern zwei bis dreimal gesättigt, zu wenig jenes prachtvolle Rot eingesogen haben, und die Wolle die äusserst kostbare Farbe des verehrenswerten Purpurs noch nicht aufgenommen hat. Denn hätte der Purpurfischer der Hydruntinischen See die aufgebrochenen Schalen zur richtigen Zeit gesammelt, dann hätte diese Ausbeute des Meeres, Erzeuger des ewig strahlenden Purpurs und Zierde der Macht, in Wasser gelöst, bereits die königliche Flüssigkeit von flammender Klarheit hervorgebracht. Die Farbe selbst strahlt in massloser Anmut: ein rötlich schimmerndes Dunkel, ein blutrotes Schwarz kennzeichnet den Regierenden, macht ihn als Herrscher sichtbar und stellt ihn an die Spitze des Menschengeschlechts, sodass niemand Zweifel hegen kann, den König vor sich zu haben. (Cassiod. var. 1,2,1–2)

Purpur ist distinktives Merkmal imperialer Macht, dies macht Theoderich/ Cassiodor hier deutlich. Mit besonderem Nachdruck wird dabei die diffuse Lichtqualität dieser Farbe hervorgehoben: Die anmutig leuchtende Farbe, deren rotschimmerndes Dunkel und blutrotes Schwarz (obscuritas rubens, nigredo sanguinea) bezeichnen den Herrschenden und heben ihn über seine Untertanen hervor. Das doppelte Oxymoron verdeutlicht die Emphase, mit der auf diese Hell-Dunkel-Wirkung von Purpur hingewiesen wird. Bezeichnend ist die Identifizierung königlich-imperialer Macht mit der so beschriebenen Farbe: Die zwischen Licht und Dunkel oszillierende pretiosissima qualitas von Purpur verweist auf die entsprechenden Eigenschaften ihres Trägers. In gleicher Weise gibt auch die in feierlicher und hochstilisierter Sprache vorgetragene Passage wie ein Spiegelbild die in ihr beschriebene metaphorische Selbstcharakterisierung des Ostgotenkönigs wieder. Im Spannungsfeld zwischen Licht und Dunkel, Verständlichkeit und Unverständlichkeit seiner Sprache spiegelt sie die kaum fassbare sakrale Erhabenheit und imperiale Macht Theoderichs: Alles überstrahlender Glanz und undurchdringliche Dunkelheit definieren zugleich auf bipolarer Achse die menschliche Unnahbarkeit des Herrschers. Als Abbild seiner selbst ist auch Theoderichs Sprache purpurfarben. Cassiodors prestigeträchtige „langue de pourpre“ wird in diesem Sinn zum Paradebeispiel und Stilmodell politischer Rhetorik und imperialer Machtbezeugung in der ausgehenden Spätantike.257 Im spätantiken Briefstil ist in der ästhetischen Funktionalisierung von Obscuritas in gewisser Weise auch der hermeneutische Grundsatz abgebildet, der in der zeitgenössischen Bildungskultur für die Bibelexegese wie auch für 257 Vgl. dazu den anregenden Beitrag von Gioanni (2009).

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die Klassikerauslegung bestimmend war: Jeder literarische Text weist aus unterschiedlichen Gründen bestimmte verdunkelnde Elemente auf, die es aufzulösen gilt. Das Licht, hier Symbol für die Klarheit des erudite intellegere, muss also zu einem bestimmten Teil vom Leser selbst in den Text hineingetragen werden. Das Organ, mit dem dies in erster Linie geschieht, ist das Auge. d. Das Auge des Lesers Die untrennbare Verbindung zwischen einer Hell/Dunkel-Metaphorik und der sinnlichen Wahrnehmung, die diese ermöglicht, rückt das Auge als Sinnesorgan auch in hermeneutischer Hinsicht in den Fokus. Denn die Konzeption von Sehen und Verstehen ist in der Antike untrennbar miteinander verknüpft. Nach antiker Vorstellung ist das Auge selbst ein Helligkeitsträger, das Licht ausstrahlt und mittels dieses materiellen Ausflusses die visuelle Wahrnehmung ermöglicht.258 Dies zeigt sich auch in der Polysemie von lumen, das sowohl „Auge“ wie „Licht“ bedeuten kann. In übertragenem Sinn entsprechen die kognitiven Fähigkeiten des Lesers dem Licht, mit dem dieser beim Leseprozess den Text aktiv ausleuchtet und für sich verständlich macht. Die Dunkelheit eines Textes ist also nicht zwangsläufig auch in ihm selbst angelegt. Bisweilen ist sie lediglich Resultat der Unfähigkeit des Lesers beziehungsweise seiner missglückten Mitarbeit bei der Texterhellung. Im sechsten Buch seiner Confessiones beschreibt Augustinus den Prozess einer inneren Erleuchtung, durch die er befähigt wurde, die „alten Schriften des Gesetzes und der Propheten“, die ihm zuvor absurd erschienen seien, mit neuem Auge zu betrachten und so auch zu verstehen:259 Gaudebam etiam, quod vetera scripta legis et prophetarum iam non illo oculo mihi legenda proponerentur, quo antea videbantur absurda, cum arguebam tamquam ita sentientes sanctos tuos; verum autem non ita sentiebant. Auch freute ich mich, dass man mir die alten Schriften des Gesetzes und der Propheten mit einem anderen Auge zu lesen vorgab, als ich es zuvor tat, wo mir diese Texte unsinnig erschienen. Ich war damals nämlich der Überzeugung, dass auch deine Heiligen diese Schriften so verstünden, doch sie verstanden sie nicht so. (Aug. conf. 6,4,6)

Erst in spiritueller Lesart öffnete sich unvermittelt der mystische Schleier, der zuvor die Interpretation hatte scheitern lassen. Die absurditas der ersten Lektüre erscheint damit als alleiniges Verschulden des Augustinus, der die semantische Ebene mit dem falschen Auge betrachtet und den Text fälschlich in literalem Sinn gelesen und ausgedeutet hat. Erst unter der Anweisung des Ambrosius wurde er – obwohl noch nicht Christ – mit der richtigen Lesart

258 Zu den antiken Vorstellungen des Sehens vgl. die Zusammenfassung von Rakoczy (1996) 19–37. Das innere Feuer des Auges, das die Aussenwelt beleuchtet, thematisiert etwa Prud. ham. 874–875, vgl. dazu Gosserez (2001) 50 f. 259 Vgl. zum Folgenden die Ausführungen von Pfeiffer (2009) 28–32.

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bekannt gemacht.260 Nicht der Text selbst war in dieser Optik dunkel oder unverständlich, sondern das Auge des Lesers blind. Die caecitas (animi) bezeichnete in der Spätantike generell eine kognitive Unbedarftheit und war faktisch gleichbedeutend mit stupiditas und imprudentia.261 Leuchtende Augen waren aus Sicht der antiken Physiognomie ein positives Herausstellungsmerkmal, während lichtlose Augen die mentale Defizienz ihrer Träger offenbarten.262 Augustinus’ Blindheit gegenüber dem, was die Bücher des Alten Testaments in christlicher Auslegung sinnvoll werden lässt, führte bei ihm zu erheblichen Irritationen, was letztlich auch das Scheitern der Lektüre nach sich zog. Der Blick des Lesers auf den Text wird damit zum entscheidenden Kriterium für Obscuritas. Dunkelheit wird hier gleichsam vom Text gelöst und personalisiert. Denn aus Sicht der christlichen Interpretationsgemeinschaft um Ambrosius waren die Schriften des Alten Testaments klar und verständlich. Erst als Augustinus von Ambrosius initiiert und damit zur richtigen Lesart hingeführt war, erschlossen sich auch ihm die offenkundigen Glaubenswahrheiten des Textes. Auch ausserhalb dieser christlich-hermeneutischen Zirkel war Obscuritas eine Lektüreerfahrung, die je nach Standpunkt und Lesestrategie des Rezipienten variieren konnte. Ein Rätsel ist nur solange rätselhaft, bis man die richtige Antwort gefunden hat. Der Mehrwert, der bleibt, besteht in der intellektuellen Befriedigung, die aus der erfolgreichen Lektüre resultiert. Verdunkelnde Textstrategien und erhellende Lesestrategien standen innerhalb der spätantiken Bildungskultur in einem wechselseitigen Konkurrenzverhältnis, der im spielerischen Agon zwischen Verdunkeln und Erhellen die Literatur der Zeit erheblich geprägt hat. 2.1.3. Im Irrgarten der Sprache Nescis, puto, quid velim tot versibus dicere. (Auson. epist. 17,11 ed. Green)

Das Spiel mit sprachlichem Sinn und mit Bedeutungen entspringt einem universellen Impuls, der sich in der spätantiken Bildungskultur ebenso äusserte wie in anderen Kulturen und Epochen.263 Es korrespondiert mit der Lust am 260 Aug. conf. 6,4,6: Et tamquam regulam diligentissime commendaret, saepe in popularibus sermonibus suis dicentem Ambrosium laetus audiebam: littera occidit, spiritus autem vivificat [2 Cor. 3,6], cum ea, quae ad litteram perversitatem docere videbantur, remoto mystico velamento spiritaliter aperiret, non dicens quod me offenderet, quamvis ea diceret, quae utrum vera essent adhuc ignorarem. 261 ThLL 3,39–40. Damit in weiterem Zusammenhang steht der epistolare Topos der oculi mentis, mit denen man den Freund im Brief betrachtet, wie etwa in Paul. Nol. epist. 45,1. Vgl. dazu Thraede (1970) 150 f. 262 Vgl. etwa Stat. silv. 1,1,103–104 (die himmlischen Augen des Kaisers): (…) tua sidereas imitantia flammas / lumina; Sidon. epist. 3,13,5 (vom Parasit Gnatho): lumina gerit idem lumine carentia, quae Stygiae vice paludis volvunt lacrimas per tenebras. 263 Vgl. Mehtonen (2003) 60. Zur modernen Spiel-Theorie und ihrer Anwendung auf die

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Suchen, Erkennen und Bewältigen von Schwierigkeiten und dem intellektuellen Reiz des Anspruchsvollen.264 Die vorwiegend im Otium zelebrierte Freude am Entdecken und Aufschlüsseln, am lustvollen Rätselspiel, bei dem die eigene und fremde Wissenskompetenz kompetitiv auf die Probe gestellt wurde, beförderte in der spätantiken Bildungskultur in hohem Masse eine Ästhetik des Obskuren. Im Prozess des gemeinschaftlichen Ver- und Entschlüsselns wurde zugleich ein soziales und kommunikatives Bedürfnis befriedigt. Das gegenseitige Annäherungs- und Mitteilungsbedürfnis der Aristokratie kulminierte in einer Konvivialkultur, in der die Epistolographie als Medium literarischer Kontaktpflege eine Schlüsselstellung einnahm.265 In ihr konnten konviviale Gelegenheiten substituiert, aristokratische Interaktionen über geographische Distanzen und Reichsgrenzen hinweg kompensiert werden.266 Mit Blick auf das Otium als Kommunikationsraum267 erscheint die Produktion und Rezeption von Briefen, die dem freundschaftlichen Austausch aristokratischer Kreise dienten, als hochgradig determiniert. Die Orientierung am Erwartungshorizont gebildeter literarischer Zirkel implementierte in produktionsästhetischer Hinsicht zu einem gewissen Grad eine spielerisch-artistische Verdunkelung. Mit besonderem Fokus auf die Briefliteratur sollen im Folgenden einzelne stilistische Ausprägungen und literarische Formen der mysteria frivola (Auson. epist. 13,67 ed. Green), wie sie sich in der spätantiken Bildungskultur ausgebildet hatten, und die damit korrelierenden Rezeptionshaltungen Betrachtung finden. a. Rätselbriefe im Dienste der Freundschaft: Auson. epist. 14 ed. Green an Theon Der dem officium amicitiae geschuldete Austausch von Briefen wurde von den Angehörigen der spätantiken Bildungsgemeinschaft regelmässig zur Demonstration ihres literarischen Könnens in Anspruch genommen. Wenn ein pragmatischer Anlass fehlte oder kein konkreter Informationsaustausch beabsichtigt war, wurde die Gelegenheit wahrgenommen, um dem Korrespondenten in glanzvollen Paradebriefen aufzuwarten. Kunstbriefe dieser Art entsprachen der spätantiken Ausprägung des genus familiare et iocosum (Cic. fam. 2,4,1) und zeichneten sich durch heiteren Tonfall und sorgsame Stilisierung aus. Inhaltlich transportierten sie häufig witzige Belanglosigkeiten und bissige Scherze (nugae), die aber geschickt mit der Notwendigkeit brieflicher Freundschaftspflege verknüpft und damit auch legitimiert wurden.

Literatur vgl. etwa den Sammelband von Anz/Kaulen (2009). 264 Anz (1998) 69 f. 265 Zur spätantiken convivia-Kultur vgl. bes. Rossiter (1991) und Mathisen (2003–2004), ferner auch Loyen (1943) 77–98; Gualandri (1979) 15–20; Mathisen (1981); La Penna (1995a); Wood (2002) 416–436; Stein-Hölkeskamp (2005). 266 Zu den Problemen reichsübergreifender Briefkommunikation und den entsprechenden Gegenmassnahmen vgl. weiter unten: S. 245–253. 267 Zu diesem „topographischen“ Ansatz vgl. Heil (2003), der in der Nachfolge von Rüpke (2000), das römische Otium als spezifischen Kommunikationsraum definiert.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

In einem Brief an den Dichter Theon beklagt sich Ausonius über das lange Schweigen seines Freundes und nimmt dies zum Anlass, ihn mit einem älteren Schreiben, das er nun neu verwerte, endlich zu einer Antwort zu zwingen: Ausonius Theoni. Exspectaveram ut rescriberes ad ea quae dudum ioculariter luseram de cessatione tua valde impia et mea efflagitatione; cuius rei munus reciprocum quoniam in me colendo fastidisti, inventa inter tineas epistula vetere, quam de ostreis et musculis affectata obscuritate condideram, quae adulescens temere fuderam, iam senior retractavi. sed in eundem modum instaurata est satirica et ridicula concinnatio, saltem ut nunc respondeas novissimae cantilenae, qui illam noviciam silentio condemnasti. Ausonius an Theon. Ich hatte erwartet, dass du mir auf den Brief antwortest, in dem ich vor einiger Zeit über deine recht pflichtvergessene Nachlässigkeit mir gegenüber und mein beständiges Drängen dir gegenüber scherzte. Doch du hast mir die Gegengabe verweigert. So habe ich denn in einer Mottenkiste einen alten Brief gefunden, den ich über Austern und Muscheln in gesuchter Dunkelheit geschrieben habe, und bin, was ich in jugendlichem Übermut verfasste, jetzt im Alter kritisch durchgegangen. Der satirisch-spöttische Charakter ist dem Brief aber dadurch nicht abhanden gekommen, sodass du zumindest auf dieses neueste Gedicht mir eine Antwort schuldest, da du doch meine letzten Verse schmählich mit Stillschweigen übergangen hast. (Auson. epist. 14a,1–9 ed. Green)

Ausonius hat bereits im vorangegangenen Brief das Ausbleiben einer Antwort von Theon (munus reciprocum) auf spasshaft-spielerische Weise angemahnt. Die Schlüsselbegriffe ioculariter und ludere markieren auch für dieses Schreiben die autorintentionale Rezeptionsweise.268 Der scherzhaft-neckische Ton bezieht sich selbstironisch auf Ausonius’ drängende Bitte (efflagitatione) und ist nicht als Beleidigung des Adressaten aufzufassen. Diese Form des epistolaren Austauschs, in welcher ein Partner den anderen in spöttischem Stil (satirica et ridicula concinnatio) zu einer Antwort herausfordert, ist durchaus charakteristisch für Ausonius und Theon.269 Ausonius benennt bei dieser Gelegenheit auch die literarische Strategie, mit der dies geschieht: affectata obscuritate condideram. Es handelt sich hier um eine der seltenen Stellen, an denen spätantike Epistolographen ihre Verdunkelungsabsicht explizit deklarieren. In der polymetrischen Fortsetzung des Briefs stellt Ausonius seinem Adressaten in cento-hafter Sprache ein Zahlenrätsel:270 Ostrea Baianis certantia, quae Medulorum dulcibus in stagnis reflui maris aestus opimat, 268 Zum poetischen lusus bei Ausonius vgl. La Penna (1993). 269 Vgl. weiter unten: S. 219–222. Ein anschauliches Beispiel eines freundschaftlichen Rätselbriefs aus späterer Zeit ist das Briefgedicht, das Petrus von Pisa an Paulus Diaconus sandte: Petrus von Pisa carm. 17 ed. Neff. Vgl. dazu Schwitter (2009) 51–52. 270 Zu den Similien vgl. Mondin (1995) 212: ostrea Baianis = Mart. 10,37,9; dulcibus in stagnis = Verg. georg. 1,384; refluum mare, vgl. Ov. met. 7,267; numerabile munus, vgl. Ov. met. 14,225: memorabile munus.

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2. Kodierte Kommunikation

accepi, dilecte Theon, numerabile munus. verum quot fuerint subiecta monosticha signant. Austern, eine Konkurrenz für jene aus Baiae, die in den üppigen Meeresbänken von Meduli Flut und Ebbe mästen, habe ich, mein lieber Theon, in überschaubarer Zahl erhalten. Die genaue Anzahl erfährst du aus den unten aufgeführten Versen. (Auson. epist. 14b,1–4 ed. Green)

Der lusus über die Anzahl Austern, die Theon ihm einmal zugesandt habe, beginnt mit einem Katalog gelehrter mythologisch-astrologischer Periphrasen (Vv. 5–18): Geryoneus mit zehn multipliziert; dreimal die Dauer des Phrygischen Krieges; die Anzahl Reisetage, die Sol in einem Monat zurücklegt; die Anzahl Nächte, die der Mond (verdunkelt: vaga Cynthia) erhellt, nachdem er sein Horn zum ersten Mal gezeigt hat; die Anzahl Tage, die Titan benötigt, um den Zodiakus (singula signa) zu durchwandern; die Jahre, die Saturn (verdunkelt: Phaenon) für seine Umlaufbahn benötigt usw. Der Katalog wird jäh von einem Einschub mit Metrumwechsel unterbrochen: Quod si figuras fabulis adumbratas numerumque doctis involutum ambagibus ignorat alto mens obesa viscere, numerare saltem more vulgi ut noveris, in se retortas explicabo summulas.

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Doch sollte dein bis ins tiefste Innere verfetteter Verstand diese in der Darlegung dunklen Umschreibungen nicht verstehen und die in gelehrte Rätsel gehüllte Zahl nicht wissen, werde ich dir die Summe in ihre Bestandteile zerlegt erklären, sodass du wenigstens nach Art des Volkes zählen kannst. (Auson. epist. 14b,19–23 ed. Green)

In fünf iambischen Trimetern wird der Rätselcharakter der Passage anhand kryptographischer Schlüsselbegriffe (figuras adumbratas, doctis ambagibus) noch einmal unterstrichen. Der erste Vers endet auf einen Hinkiambus (ădūmbrātās), der irritiert und den entscheidenden Begriff besonders markiert. Mit Nachdruck verweist Ausonius auf die literarische Bildung, die für die Lösung des Rätsels nötig sei. Die entsprechenden Fertigkeiten spricht er dem trägen Verstand seines Adressaten (mens obesa – in Anspielung auf die Korpulenz des Freundes?271) jedoch ab, weshalb er ihm als Hilfestellung einige simple Rechenaufgaben anfügen wolle. An deren Ende gibt Ausonius schliesslich – eine demonstrative Demütigung – seinem Adressaten die Lösung bekannt: Vv. 34–35: aut – ne sim tibi pluribus molestus – / triginta numero fuere cunctae („oder – um dich nicht weiter mit vielen Worten zu belästigen – dreissig waren es an der Zahl“). Der Spott, den Theon über sich ergehen lassen muss, bezieht sich nur vordergründig auf seine mangelhafte Bildung und die ihm unterstellte Unfähigkeit, die ambages seines Freundes zu entschlüsseln. Die Lösung des Rätsels verweist auf die eigentliche Ursache von Ausonius’ Häme, auf die er bereits 271 So Mondin (1995) 214.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

in der Einleitung angespielt hat (V. 3: numerabile munus), nämlich die geringe Anzahl Muscheln! b. Das Otium als Raum dunkler (Brief-)Konversation Die spielerische Art, in der diese Ausprägung spätantiker nugae-Literatur Obscuritas als reziproken Bildungsnachweis des Absenders wie des Adressaten mit der Absicht des risus inszeniert, ist typisch für Ausonius und die Bildungskultur seiner Zeit.272 Der bevorzugte Produktions- und Rezeptionskontext epistolarer nugae ist traditionell das Otium. In diesem geschlossenen Kommunikationsraum wurden in literarischen Zirkeln kleine und lockere Literaturformen (otiositates „Schriften aus der Zeit der Musse“: Sidon. epist. 2,10,3) gepflegt, in denen man der Phantasie, den Gedanken und Emotionen freieren Lauf lassen konnte als in Grosswerken, mit denen man sich prinzipiell an eine breite Gemeinschaft der Gebildeten richtete.273 Dies geschah erst in einem zweiten Schritt durch die Veröffentlichung als Buchrolle oder Codex. So war der Querolus ursprünglich ebenso für die Rezitation bei einem Gelage bestimmt wie die Carmina duodecim sapientium, ein Gedichtzyklus eines spätantiken literarischen Zirkels, der zum Geburtstag eines der ihren verfasst wurde.274 Die Vorteile dieser begrenzten und kontrollierbaren Rezeptionssituation benennt Sidonius einmal an prägnanter Stelle, im Schlussbrief seines achten Briefbuches: Dictio mea, quod mihi sufficit, placet amicis („Meine Ausdrucksweise gefällt meinen Freunden. Dies genügt mir.“: Sidon. epist. 8,16,5).275 Die Vielfalt der Formen und Inhalte epigrammatischer Kleinpoesie (versiculi) und gelehrt-heiterer Geschichten (narratiunculae),276 die unter Freunden und beim Gastmahl als Zeitvertreib produziert und rezipiert wurden, bildet sich programmatisch in der Sammlung der nugae ab, die Sidonius als Buch herausgegeben hat.277 272 Vgl. Auson. epist. 17,48–52 ed. Green nach metrischen Spielereien: haec ad te breviter (…) dictavi. (…) nam si mihi otium fuerit, oblectabile negotium erit ad te prolixius delirare, te ut eliciam, mihi ut satisfaciam. 273 Vgl. Sidon. epist. 9,16,3 Vv. 33 f.: Praeter heroos [= Verspanegyriken] ioca multa multis / texui pannis; elegos frequenter / subditos senis pedibus rotavi / commate bino. Auch Plinius sah im Otium die Voraussetzung für eine bestimmte Art von Literatur, vgl. Plin. epist. 7,2,1. Zur Rezeption von fabulae und narratiunculae in der Freizeit vgl. etwa Sidon. epist. 5,17; epist. 2,9. Loyen (1943) 166 hat diese Literaturform, die er u. a. als „puérilité… d’un esprit superficiel“ bezeichnete, als Ausdruck einer Realitätsflucht der Aristokratie vor den Wirren der Zeit gedeutet. Vgl. seine Darstellung des Otium als Raum solcher Spielereien: Loyen (1943) 56–94 («Sidoine et les amis des jours heureux»). 274 Friedrich (2002). Zum Querolus vgl. etwa Chadwick (1955) bes. 141 f. 275 Damit wird zugleich die exkludierende Wirkung seiner anspruchsvollen Sprachkunst deutlich. Sidonius schreibt für seine In-group, die die anspruchsvolle dictio auch kompetent zu lesen und interpretieren vermag. Vgl. dazu weiter unten: S. 217–227, bes. 227. 276 Sidon. epist. 2,9,6: Inter bibendum narratiunculae, quarum cognitu hilararemur, institueremur, quia eas bifariam orditas laetitia peritiaque comitabantur. Vgl. zu dieser Schlüsselstelle La Penna (1995a) 16 f. 277 Einleitung (carm. 9) und Schlussgedicht (carm. 24) definieren die Sammlung als nugae. Vgl. zu carm. 9 die ausführliche Besprechung von Hernández Lobato (2012) 401–449. Zu carm. 24 vgl. Santelia (2002), zu den carmina minora allgem. Condorelli (2008). Auch

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Die Kultur des gebildeten Otiums, wie sie sich in der Spätantike herausgebildete hatte, besass eine besondere Vorliebe für Rätselfragen. Als Ausdruck akademischer curiositas hatte die in der Schule kultivierte explanatio obscurorum sensuum quaestionumve auch einen festen Platz im dulce otium (Symm. epist. 2,59,1) hochgebildeter Aristokraten. In Villen und auf Landgütern fand man einen legitimen Rückzugsraum für die Rezeption von Literatur, der man sich ansonsten versagte. Symmachus las anspruchsvolle vetera scripta vorzugsweise auf seinem Landgut, eine Gepflogenheit, die auch in den Epigrammata Bobiensia anklingt: hic studia et Musis otia amica colo / vivere sic… iuvat… / docta revolventem scripta virum veterum („Hier widme ich mich literarischen Studien und pflege das den Musen geneigte Otium. (…) Ein solches Leben bereitet mir vergnügen, wenn ich in den gelehrten Schriften der Alten blättere“: Epigr. Bob. 5,2–8).278 Als lector eruditus et otiosus hatte man Zeit und Musse für sorgfältige Lektüre.279 Man fand Gelegenheit für intellektuellen Austausch in geselliger Runde, für religiöse Erörterungen und Diskussionen oder die Produktion von Briefen und Gedichten. Neben dem merum gaudium, das man dabei empfand (Symm. epist. 1,31,1), besass die gemeinsame Lektüre auch eine entscheidende identitätsstiftende Funktion. In den regelmässig stattfindenden convivia versicherten sich die homines litterati gegenseitig ihrer sozialen Zugehörigkeit zur Bildungselite und ihrer historischen Identität als Römer.280 Die Tradition regelmässiger Symposien war auch nach der Christianisierung der senatorischen Aristokratie ungebrochen.281 Dass man sich der gruppendynamischen Bedeutung gegenseitiger Besuche wohl bewusst war, verdeutlicht auch Sidonius an einer eindringlichen Stelle. Sein Lobgesang konvivialer Geselligkeit auf den Landgü-

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Avitus von Vienne hat gemäss seines Widmungsbriefs zu seinem Werk De spiritalis historiae gestis zahlreiche Epigramme verfasst, die er aber nach einer Plünderung nicht mehr habe finden können (ed. Peiper, 201–202): Einige libelli seien im Haus eines Freundes jedoch glücklicherweise aufbewahrt worden. Zur Abfassung von Briefen und Epigrammen als Zeitvertreib vgl. Sidon. epist. 5,17. Vgl. Symm. epist. 3,50; epist. 4,32; epist. 4,44; epist. 5,78; epist. 8,21. Zur aristokratischen Beschäftigung mit Literatur auf dem Landgut von Cicero bis Symmachus vgl. Cameron (2011) 396 f. Vgl. z.B. Sidon. epist. 7,14,10: Lectioni adhibes diligentiam, (…) delectaris contuberniis eruditorum; Sidon. epist. 1,5,3: cantatas saepe comissaliter nobis Phaethontiades (vgl. Ovid, met. 2,340 ff.). Zum otiosus lector vgl. weiter oben: S. 102, 126f. sowie Macr. somn. 2,5,28, wo Macrobius sagen will, dass Ciceros Ausführungen solche Klarheit besitzen, dass sie selbst einem non otiosus lector evident erscheinen: haec omnia non otiosus lector in tam paucis verbis Ciceronis inveniet. Vgl. Sidon. epist. 4,17,2 (an Arbogast): si frequenti lectione continuas, experiere per dies, quanto antecellunt beluis homines; Sidon. epist. 2,10,1; Sidon. epist. 5,10,1. Zur Bedeutung der gemeinsamen Lektüre für die Gemeinschaft der Gebildeten in der Spätantike vgl. Eigler (2003) 114 f., 126 f. Zum Fortbestand von Symposien nach der Mitte des 5. Jahrhunderts vgl. Mathisen (1993) 79 mit Verweis auf einen Beschluss des Konzils von Angers: Verräter dürfen nicht an convivia teilnehmen.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

tern seiner Freunde weitet sich aus zu einem Makarismos auf den Lebensstil der spätrömischen Senatsaristokratie: O dulcis domus, o pii penates, (…) o convivia, fabulae, libelli, risus, serietas, dicacitates, occursus, comitatus unus idem, seu delubra dei colenda nobis tecta illustria seu videnda Livi, sive ad pontificem gradus ferendi, sive ad culmina Martii Myronis, sive ad doctiloqui Leonis aedes.

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Oh süsses Heim, o gottgefällige Penaten, (…) o Gastmähler, Erzählungen und Bücher, Gelächter, Ernsthaftigkeit und Witze, Begegnungen und Freundschaft in einem! Ob nun in einer Kirche ein Gottesdienst zu feiern ist oder die berühmte Villa des Livius besucht werden soll, ob nun ein Bischofspalast aufzusuchen ist, das Anwesen des Martius Myro oder das Haus des redegewandten Leo (…). (Sidon. carm. 23,436–446)

Der idealisierte Aufenthalt in der Landvilla, der im 4./5. Jahrhundert zum Rückzugsraum einer bedrohten Romanitas stilisiert wurde,282 war nur für einen bestimmten Zeitraum als Erholung von den politischen, militärischen oder religiös-kirchlichen Verpflichtungen legitimiert. Ein definitiver Rückzug auf das Landgut (secessus in villam), was eine Vernachlässigung der standesgemässen negotia oder sogar deren Aufgabe bedeutete, war innerhalb der gallorömischen Aristokratie lange Zeit höchst umstritten. Dieser Diskurs, der durch die christliche Askesebewegung um eine zusätzliche Komponente erweitert wurde,283 durchzieht die Korpora praktisch aller bedeutenden gallorömischen Epistolographen.284 Als Beispiel mag der Brief dienen, in dem Sidonius seinen jungen Adressaten Syagrius ermahnt, da dieser statt sich für den Staat einzusetzen lieber sein Landgut pflege:285

282 Vgl. dazu etwa Frye (2002–2003). 283 Aug. retract. 1,1: christianae vitae otium, vgl. dazu Trout (1988); Cameron (2011) 397 f. 284 Vgl. Ennod. epist. 1,24: Das Leben auf dem Land hat Einfluss auf den Sprachstil des Freundes, dem er einen Alpinus sermo attestiert. Zu den Gefahren des Rückzugs aufs Land vgl. Kennell (2000) 87. Zum Vorwurf des Heraclius an Avitus vgl. Avit. epist. 96 ed. Peiper, dazu auch Shanzer/Wood (2002) 277 mit Anm. 6. 285 In eine ähnliche Richtung weist seine Ermahnung an den jungen Eutropius, den er auffordert, sich in den Dienst des Kaisers zu stellen und zu diesem Zweck nach Rom zu reisen: Sidon. epist. 1,6,1–4: Olim quidem scribere tibi concupiscebam, sed nunc vel maxime impellor, id est cum mihi ducens in urbem Christo propitiante via carpitur. scribendi causa vel sola vel maxima, qua te scilicet a profundo domesticae quietis extractum ad capessenda militiae Palatinae munia vocem. (…) ad extremum, quod tu tibi iuventutis exercitium appellas, hoc est otium veteranorum, in quorum manibus effetis enses robiginosi sero ligone mutantur. Vgl. dazu die Ausführungen von Amherdt (2004b).

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Parce tantum in nobilitatis invidiam rusticari. agrum si mediocriter colas, possides; si nimium, possideris. redde te patri, redde te patriae, redde te etiam fidelibus amicis, qui iure ponuntur inter affectus. Hüte dich davor, zum Unmut der Nobilität nur auf deinem Landgut zu leben. Wenn du dich deinen Ländereien massvoll widmest, besitzt du sie; wenn du dich ihnen aber allzu sehr hingibst, ergreifen sie von dir Besitz. Kehre zu deinem Vater zurück, kehre zu deinem Vaterland zurück und kehre zu treuen Freunden zurück, für die du zu Recht Zuneigung empfindest. (Sidon. epist. 8,8,2)

In konvivialen Kontexten war die Demonstration von Bildungswissen eine Form der aristokratischen Selbstinszenierung, die nicht zuletzt der sozialen Selbstvergewisserung innerhalb der Gruppe diente.286 Sidonius antizipiert eine derartige Gelegenheit in einem Brief an Tonantius.287 Darin rät er dem jüngeren Freund für das bevorstehende Gelage neben religiösen Erzählungen (religiosis narrationibus) auch Apuleius’ „Sammlung von Rätselfragen für Symposien“ (formulas convivialium quaestionum) zu konsultieren.288 Diese soll er jedoch nicht nur den Gästen zur Lösung aufgeben, sondern zum eigenen Nutzen auch gleich selber zu lösen versuchen: (…) quoque reddaris instructior, has solve propositas, has propone solvendas hisque te studiis, et dum otiaris, exerce. (…) und, um dich selber weiterzubilden, löse diese auch selbst, wenn du sie ihnen gestellt hast, und gib sie ihnen zur Lösung auf. Übe dich in diesen Studien, auch dann, wenn du unbeschäftigt bist. (Sidon. epist. 9,13,3)

Das Rätsel war im griechisch-römischen Kulturkreis traditionell als intellektuelles Spiel an Symposien geschätzt.289 In der Spätantike bezeugen neben Sidonius Apollinaris auch die Rätselgedichte des Symphosius die Fortdauer dieser Tradition. Diese Sammlung, die vielleicht im 4./5. Jahrhundert entstanden ist, wird in der Praefatio als scherzhafte Gelagepoesie bezeichnet, die an den Saturnalia aus dem Stegreif gedichtet wurde.290 Während die quaestiones conviviales (Macr. Sat. 7,3,3) in den Kreisen des Symmachus oder Ausonius eher literarisch-mythologische, beziehungsweise naturwissenschaftlich-philosophische Fragestellungen beinhalteten, stand in betont christlichen Kontexten wie im Umkreis des Augustinus oder des Ennodius die Auslegung der Bibel und die Erhellung ihrer vielfältigen Dunkelheit im Zentrum des Interesses. Ennodius bittet in einem Brief den Grammaticus Pomerius ihm die Genealogie Melchisedechs, die Allegorie der Arche, die symbolische Bedeutung 286 287 288 289

Zur griechischen Kaiserzeit vgl. Schmitz (1997) 127 f. Sidon. epist. 9,13. Vgl. zu diesem Brief des Sidonius auch Guillaume-Coirier (2000). Beispiele derartiger Rätsel nennt etwa Gell. 18,2. Vgl. dazu allgem. Ohlert (1912); Martin (1931) bes. 167–184; Ernst (1991) 45–50; Beta (2012). 290 Anth. Lat. 281 ed. Shackleton Bailey. Vgl. dazu allgem. Bergamin (2004); Bergamin (2005); Leary (2014).

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

der Beschneidung und den Gehalt der prophetischen Mysterien darzulegen,291 während Sidonius Apollinaris es ablehnte sich als interpres improbus an der Auslegung der heiligen Schriften zu versuchen.292 Er verwies den comes Treverorum Arbogast, der ihn brieflich darum gebeten hat, an kundige protomystae im Umfeld seines Bistums weiter.293 Augustinus wiederum diskutierte mit Nebridius, einem rerum obscurarum inquisitor, in brieflicher Form theologische Sachverhalte „von Müssiggänger zu Müssiggänger“ (ab otioso quaerebat otiosus).294 Tischgenossen, die aufgrund ihrer Bildung und ihres Scharfsinns befähigt waren, vertrackte Rätselfragen zu lösen, genossen grosses Ansehen. In einem Brief an Petreius hebt Sidonius diese Qualität bei dessen kürzlich verstorbenem Grossonkel Claudianus Mamertus besonders hervor: Deus bone, quid erat illud, quotiens ad eum sola consultationis gratia conveniebamus! quam ille omnibus statim totum non dubitans, non fastidiens aperiebat, voluptuosissimum reputans, si forte oborta quarumpiam quaestionum insolubilitate labyrinthica scientiae suae thesauri eventilarentur. Guter Gott, welch grossartiges Ereignis war es jeweils, wenn wir um einer blossen Anfrage willen bei ihm zusammenkamen! Ohne Zögern und Wiederwillen hat er sogleich allen das Ganze eröffnet: Es war ihm höchst vergnüglich, wenn er durch das Auftreten irgendeines unlösbaren und labyrinthhaften Problems die Schätze seiner Kenntnisse voll ausgebreiten konnte. (Sidon. epist. 4,11,2)

Dieselbe Fähigkeit wird im metrischen Epitaphium, den Sidonius dem Brief anhängt, noch einmal wiederholt: doctus solvere vincla quaestionum („kundig, die Knoten schwieriger Fragen zu lösen“: Sidon. epist. 4,11,6 V. 10). Die genussreiche (voluptuosissimus) Erhellung scheinbar unlösbarer labyrinthischer Fragen,295 die Claudianus Mamertus mit dem Schatz seines angesammelten Wissens vornahm, war für Sidonius und seinen Kreis ebenso Ausdruck 291 Ennod. epist. 2,6,6. Die Aufforderung ist nicht ohne Ironie, hatte doch Melchisedech, eine Präfiguration Christi, weder Verwandte noch einen Erzeuger, vgl. Hbr. 7,3. 292 Die ältere Forschung legte diese Ablehnung als theologische Unkenntnis des „Namenchristen“ Sidonius aus, so etwa Stevens (1933) 135–136. Gegen diese Auffassung wandten sich in neuerer Zeit u. a. Harries (1994) 108 f.; Prévot (1995); Kindler (2003); van Waarden (2011); Santelia (2012). 293 Der Begriff, ein Hapax (auch in epist. 2,9,5), verweist auf die notwendige religiöse Initiation, um die Dunkelheit der Bibel verstehen zu können. 294 Aug. epist. 98,8. Mit Hieronymus kam es wegen unterschiedlicher Bibelauslegungen zum Zerwürfnis, weshalb Hieronymus vorschlug, im künftigen Briefwechsel keine kritischen Fragen mehr zu behandeln, sondern stattdessen allein die Freundschaft sprechen zu lassen, vgl. Hier. epist. 115,2: sed facessant istius modi quaerimoniae. sit inter nos pura germanitas et deinceps non quaestionum, sed caritatis ad nos scripta mittamus. 295 Vgl. Sidon. epist. 2,5,1: Iohannes familiaris meus inextricabilem labyrinthum negotii multiplicis incurrit. Der Begriff des Labyrinths taucht in der Spätantike häufig im Kontext philosophisch-vertrackter Fragestellungen auf, vgl. etwa Boeth. cons. 3,12,30: Ludisne, inquam, me inextricabilem labyrinthum rationibus texens (…)?; Macr. Sat. 7,5,2 (über die griechische Philosophie): (…) his loquendi labyrinthis impares nos fatemur.

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eines an die überlieferte Bildungstradition gebundenen Standesbewusstseins wie es die Produktion solcher gelehrt-verrätselter nugae darstellte, die man innerhalb des konvivialen Kommunikationsraums pflegte. Ausonius’ bissiges Rätselepigramm auf den ligurritor Eunus (epigr. 85) steht ebenso in dieser Tradition wie die verrätselte Beschreibung eines Kirchengebäudes durch Ennodius (carm. 2,151 ed. Vogel, 315–316). Der symposiastische Produktionsund Rezeptionskontext wird dabei stets hervorgehoben: Wein war nicht nur für die Entstehung solcher Frivolitäten verantwortlich, sondern bildete auch die Voraussetzung ihrer richtigen Interpretation.296 Dies bringt Ausonius an prägnanter Stelle zum Ausdruck: Bissula in hoc schedio cantabitur, utque Cratinus297 admoneo ante bibas. ieiunis nil scribo; meum post pocula si quis legerit hic sapiet.

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Bissula wird in diesem Stegreifgedicht besungen, und wie Cratinus fordere ich dich auf zuvor zu trinken. Für Nüchterne schreibe ich nichts. Wenn jemand nach dem Genuss von Wein meine Gedichte liest, hat er Geschmack. (Auson. Biss. 2,5–8 ed. Green)

Wie der Epigrammatik kam der Epistolographie als Literaturform im Kontext von Otium und lusus eine besondere Bedeutung zu. Komik, Spass und Scherze (iocari) sind Elemente, auf die in der zeitgenössischen Briefliteratur immer wieder selbstreferentiell Bezug genommen wird.298 Dabei handelt es sich nicht um eine eigene Briefkategorie, sondern um ein Charakteristikum, das in bestimmten Briefsorten (z. B. Gruss- und Dankesschreiben) besonders zum Ausdruck kam.299 Der Brief übernahm auch in diesem Zusammenhang eine Stellvertreterfunktion für den abwesenden Zechgenossen und war zur Erheiterung oder witzreichen Ermahnung der Anwesenden bestimmt.300 Ein anschauliches Beispiel ist etwa Avitus’ witzige Parodie eines Dankesbriefs für ein Essensgeschenk an Bischof Maximus von Genf, den er in der Person des gefrässigen Boten Leonianus an einen gewissen Sapaudus verfasst hatte:301 ein Parade296 Vgl. auch Auson. griph. praef. 25–27. Dazu auch weiter unten: S. 204. 297 Anders Dräger (2011) 120 und 433–434, der das handschriftlich überlieferte haut Erasinus verteidigt. 298 Vgl. z.B. Sidon. epist. 7,7,1, wo Sidonius seinen Briefträger Amantius als nugigerulus noster bezeichnet: per quem ioculariter plura garrirem. Zum spielerisch-unterhaltenden Charakter der Poesie des 5. und 6. Jh. in Gallien vgl. etwa Malaspina (2002) bes. 213–217. 299 Zu diesem Aspekt in der spätantiken Epistolographie vgl. z.B. Amherdt (2001) 39; zu Sidonius Apollinaris bes. Blänsdorf (1993). 300 Beispiele aus späterer Zeit sind die Zirkularbriefe am Hof Karls des Grossen, mit denen abwesende Gelehrte und Freunde bei der Hofgesellschaft vorstellig wurden, vgl. dazu Schaller (1995). 301 Avit. epist. 86 ed. Peiper. Dass es sich, wie Shanzer/Wood (2002) 279 f. vermuten, bei Sapaudus um Bischof Maximus von Genf handelt, ist zu bezweifeln. Vielmehr dürfte sich hinter dem Pseudonym eine Person aus dem Umfeld des Bischofs verbergen. Der Diakon Leonianus wurde von Maximus als Briefbote verwendet, vgl. Avit. epist. 74 ed. Peiper, 91,6–8.

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brief, der mit grosser Wahrscheinlichkeit für die Lektüre bei einem Gelage bestimmt war. Auch Sidonius erwähnt an verschiedenen Stellen den konvivialen Rezeptionshintergrund, den er für seine Briefe und die darin enthaltenen Gedichte vorsieht.302 Bisweilen war ein Brief auch Erlebnisbericht für einen Freund, der aus einem bestimmten Grund nicht an einer Festivität teilnehmen konnte. In epist. 5,17 schildert Sidonius seinem Adressaten Eriphius detailliert die Geselligkeiten am Rande einer religiösen Feier in der St. Justus Kirche in Lyon: Die primi cives versammelten sich im Schatten eines Grabmonuments, um sich in geselliger Atmosphäre zu unterhalten und dann zu Ball- und Brettspiel überzugehen: Verba erant dulcia, iocosa, fatigatoria; praeterea, quod beatissimum, nulla mentio de potestatibus aut de tributis, nullus sermo qui proderetur, nulla persona quae proderet. fabulam certe referre dignam relatu dignisque sententiis quisque potuisset: audiebatur ambitiosissime; nec erat idcirco non distincta narratio, quia laetitia permixta. Die Unterhaltung war heiter, voller Witz und Neckereien; ausserdem gab es – dies war höchst angenehm – keine Gespräche über Amtsträger oder Steuerleistungen, niemand wurde denunziert, niemand hat denunziert. Gewiss hätte jeder eine Geschichte erzählen können, die des Berichtes wert und von würdigem Inhalt gewesen wäre. Man hörte aufmerksam und geneigt zu, doch war die Erzählung deshalb nicht ohne Kunst, weil man froher Stimmung war. (Sidon. epist. 5,17,5)

Die in einem asyndetischen Trikolon genannten Schlüsselbegriffe (dulcia, iocosa, fatigatoria) benennen den positiven Grundton der Unterhaltung, vor dem politische beziehungsweise karrierebedingte Gespräche negativ abgehoben werden: heiter, witzreich und neckisch sind die Geschichten, die man vor geneigtem Publikum vortrug (audiebatur ambitiosissime). Im selben Ton ist der ganze Brief gehalten, dessen Höhepunkt die satirische Beschreibung des vir illustris Philomatius darstellt, der sich trotz seines fortgeschrittenen Alters als Ballspieler versuchte.303 Wie die Eingangs der Arbeit vorgenommene Stilanalyse der Passage zeigte, musste sich Eriphius die Satire im Leseprozess erst mühsam erschliessen, denn die peinliche Szenerie ist in schwer verständlicher Sprache beschrieben. Merkmal solcher geistreich-witziger Briefkonversationen ist neben dem heiteren Inhalt auch die elaborierte Form des sermo epistolaris. Das in der Forschung häufig zitierte stilistische Ideal, das Sidonius für seine Briefe nach dem Vorbild des Plinius formuliert hat, orientiert sich in erster Linie an der Erwartungshaltung des spätantiken otiosus lector: litteras paulo politiores … 302 In epist. 9,13 schickt Sidonius Tonantius zwei Gedichte, die er inter bibendum rezitieren könne. Selbst in einem „pragmatischen“ Empfehlungsbrief ist ein heiterer Ton nicht ungewöhnlich: In epist. 7,2 präsentiert Sidonius seinem Adressaten die Lebensgeschichte des Lektors Amantius als fabulam Milesiae vel Atticae parem. Vgl. dazu den ausführlichen Kommentar von van Waarden (2010) ad loc. 303 Sidon. epist. 5,17,7. Die Stelle dient als Vorbereitung für die Schilderung der Entstehungsumstände eines Epigramms, das Sidonius dem Brief beigefügt hat, vgl. dazu die Stilanalyse weiter oben: S. 72–76.

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vel ioco lepidas vel stilo cultas („etwas kunstvollere Briefe … seien sie anmutig durch ihren Witz oder gepflegt in ihrem Stil“: Sidon. epist. 9,3,3). Die Obscuritas bestimmter Briefe beziehungsweise der in ihnen enthaltenen Epigramme ist also in nicht geringem Masse dem genussvollen erudite intellegere der hochgebildeten Rezipientengruppe geschuldet.304 Gelehrt-verdunkelte Briefe bedienten in diesem Zusammenhang die curiositas eines anspruchsvollen Adressatenkreises, der die intellektuelle Herausforderung (exercitatio mentis) goutierte. Es ist daher kaum zufällig, dass sich verdunkelnde Archaismen im Briefwerk des Sidonius gerade in ironisch-witzigen Kontexten häufen.305 Im literarischen Otium ist traditionell ein starkes agonales Element zu verzeichnen, das in der Spätantike auch den brieflichen Austausch erfasste. Das Motiv des freundschaftlichen Wettstreits (certamen mutuae caritatis), das schon Plinius bekannt war,306 erscheint regelmässig etwa bei Symmachus, während Ennodius derartige certamina mit Verweis auf sein Amt als Diakon programmatisch ablehnte.307 Ein Wettstreit ergab sich sowohl in der Häufigkeit der Briefe (Symm. epist. 1,92) wie auch hinsichtlich ihrer stilistischen Qualität (Symm. epist. 4,72).308 Dass dieser Usus ein Verdunklungsstreben befördern konnte, zeigt exemplarisch der oben analysierte Brief des Ausonius an Theon (Auson. epist. 14 ed. Green). Bei Gelagen kam es häufig zu poetischen Wettstreiten, bei denen über ein beliebiges Thema extemporiert werden musste. Diese etwa von Statius bekannte Gewohnheit war auch in der Spätantike noch lebendig.309 Am Gastmahl des Kaisers Maiorian in Arles gelang es Sidonius, sich den Anschuldigungen des Paeonius geschickt „durch Verse aus dem Stegreif“ (versibus subitis) zu entziehen (epist. 1,11,14). In einem anderen Brief berichtet Sidonius nicht ohne Stolz, wie er anlässlich einer cena zusammen mit Domnulus, Severianus und Lampridius nacheinander über ein neues Buch des magister epistularum Maiorians extemporiert habe, und zwar noch bevor der erste Gang aufgetragen wurde.310 Nach dem Ballspiel, von dem Sidonius in epist. 5,17 berichtet, forderte der erschöpfte Philomatius Sidonius vor Publikum auf, ein 304 Sidonius reagiert mit Stolz auf die Nachricht, dass seine Briefbücher im Otium gelesen werden, vgl. Sidon. epist. 3,14,1: Gaudeo hoc ipso, quod recognovi chartulis occupari nostris otium tuum. Dass Briefe dieser Art vor der Publikation unter Freunden zirkulierten, obwohl sie an einen Adressaten geschickt wurden, bezeugt Sidonius an verschiedenen Stellen, vgl. z.B. Sidon. epist. 9,16,3: quia tibi ad Gelasium virum sat benignissimum missos iambicos (= epist. 9,15) placuisse pronuntias; epist. 9,13,4: Sed quia mentio conviviorum semel incidit tuque sic carmen nobis vel ad aliam causam personamque compositum sedulo exposcis; epist. 8,11,2. 305 Vgl. Amherdt (2001) 51 und Monni (1999) bes. 37 ff. 306 Plin. epist. 7,7,2. 307 Vgl. Schröder (2007) 175, 179–181. 308 Weitere Beispiele finden sich bei Schröder (2007) 174–175. 309 Stat. silv. 1 praef. und silv. 3 praef. Zur Improvisationskunst in Antike und Spätantike vgl. allgem. Hammerstaedt/Terbuyken (1996) 1212–1284, zu Sidonius Condorelli (2013). 310 Sidon. epist. 9,13,4.

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Tetrastichon auf das Schweisstuch zu verfassen, das er gerade benutzt hatte. Nach einem kurzen und neckischen Wortwechsel, der im Brief anregend in dialogischer Form dargelegt wird, kam Sidonius schliesslich der Aufforderung nach.311 Auch von Ennodius ist ein entsprechendes Epigramm erhalten.312 Ausserhalb dieser konvivialen Begebenheiten war man in gleicher Weise um Spontanität bemüht. Ausonius und Sidonius erwähnen die diesbezügliche Entstehung ihrer Briefe und Gedichte an verschiedenen Stellen.313 Der Topos des schnellen und spontanen Dichtens im Kontext des aristokratischen Otiums ist auch bei Plinius fassbar:314 Tu fortasse orationem, ut soles, et flagitas et exspectas; at ego quasi ex aliqua peregrina delicataque merce lusus meos tibi prodo. accipies cum hac epistula hendecasyllabos nostros, quibus nos in vehiculo, in balineo, inter cenam oblectamus otium temporis. his iocamur, ludimus, amamus, dolemus, querimur, irascimur, describimus aliquid modo pressius, modo elatius, atque ipsa varietate temptamus efficere, ut alia aliis, quaedam fortasse omnibus placeant. Vielleicht verlangst und erwartest du von mir, wie so oft, eine Rede, doch schicke ich dir literarische Spielereien, gewissermassen eine exotische und delikate Ware: Du erhältst mit diesem Brief meine Elfsilbler, mit denen ich mir im Reisewagen, im Bad und während der Mahlzeit die Zeit vertrieben habe. Ich scherze, spiele, liebe, leide, beklage und erzürne in diesen und beschreibe einmal kürzer, einmal länger. Durch die schiere Vielfalt versuche ich zu erreichen, dass das eine dem anderen und gewisses vielleicht sogar allen gefällt. (Plin. epist. 4,14,1–3)

Um den Beifall und die Anerkennung des literarischen Zirkels zu erhalten, in dem man sich bewegte, wurde die Technik der improvisierten Rede und der Stegreifdichtung intensiv trainiert. In einem Brief an den jungen Burgundio, seinem Name nach wohl burgundischer Herkunft,315 lobt Sidonius dessen rhetorische Studien, durch die er beim Vortrag einer extemporierten Rede „die Bewunderung der Wohlwollenden, das Staunen der Hochmütigen, die Aufmerksamkeit der Sachverständigen“ erlangt habe.316 Innerhalb der aristokratischen Konvivialkultur fungierten also neben dem Vergnügen am intellektuellen Spiel auch ein ausgeprägtes Konkurrenzdenken und freundschaft-

311 Sidon. epist. 5,17,9–10. 312 Ennod. carm. 2,107 ed. Vogel, 199. 313 Vgl. Sidon. epist. 3,12,4: carmen (…) nocte proxima feci; Sidon. epist. 4,11,7: carmen, cum primum affui, (…) conscripsi; Sidon. epist. 8,11 (Brief und Gedicht auf Reise verfasst); Sidon. epist. 7,9,4 (grosse Rede anlässlich einer Bischofswahl in einer Nacht geschrieben); Sidon. epist. 9,14,3. Vgl. auch Loyen (1943) 101–103. 314 Vgl. die Kritik an solcher Stegreifdichtung bei Hor. serm. 1,4,9–10: nam fuit hoc vitiosus: in hora saepe ducentos, / ut magnum, versus dictabat stans pede in uno. 315 Martindale (1980) 243; Kaufmann (1995) 287–288. 316 Sidon. epist. 9,14,3: Cuius te gloriae pariter ac famae capacem de orationis tuae qualitate coniecto, in qua te decentissime nuper pronuntiante quae quidem scripseras extemporaliter admirabantur benivoli, mirabantur superbi, morabantur periti.

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liche Rivalitäten als entscheidende Katalysatoren spielerisch-artistischer Obscuritas. c. Rätselpoesie und labyrinthische Prosa: Literarische Grenzerfahrung als gelehrtes Spiel c.1. Rätselpoesie als Gattungstyp: Technopaignion und Carmen figuratum Mit der Freude an der Entschlüsselung rätselhafter Passagen korrespondierte in der spätantiken Bildungskultur eine ganze Palette literarischer Erscheinungsformen und Gattungstypen. Spielerisch-artistische Obscuritas war fester Bestandteil dieser preziösen „Salon-Literatur“ (H.-I. Marrou), die sich zwischen schulmässiger Akribie, ingeniöser Artistik und mondäner Witzelei bewegte.317 Es sind literarische Spiele, in denen ars, labor und ludus vereint waren, die oberflächlich gefallen und zugleich als anspruchsvolle Kunstform ernstgenommen werden wollten.318 Beliebt waren virtuose technische Formen wie der Griphus des Ausonius und andere nicht weniger elaborierte Technopaegnia, durch die man die eigene Kunstfertigkeit zur Schau und den Leser auf die Probe stellen konnte.319 Das spätantike Interesse am Ausgefallenen und Exotischen wurde durch diese Literaturform ebenso bedient wie die Vorliebe für das Kleine und Preziöse. Exemplarisch für diese aus moderner Perspektive ebenso verwunderlichen wie belanglosen Spielereien spätantiker Literaten ist das Werk des Publilius Optatianus Porfyrius. Die carmina, die im Korpus des in konstantinischer Zeit lebenden Dichters und Beamten enthaltenen sind, gehören zur Textsorte der „visuellen Poesie“ (carmina figurata), in denen Wort und Bild eine künstlerische Einheit bilden: Akrosticha, Telesticha, Mesosticha sowie geometrische und bildliche Figurengedichte in teilweise erlesenen Versmassen.320 Bei dieser Art technisch-artistischer Kleinpoesie unterwirft sich der Dichter bestimmten selbsterwählten Einschränkungen in Auswahl und Anordnung der Wörter und Buchstaben, um die natürlichen Anforderungen, die sich durch Prosodie, Metrum und Wortwahl in der Dichtung ohnehin ergeben, noch zu erhöhen. Diese zusätzliche Schwierigkeit stellt den eigentlichen 317 Marrou (1995) 83. Vgl. Loyen (1943) 153: „Un aspect scolaire, pédant, (…) qui apporte à la préciocité la lourdeur des jeux d’écoliers et le goût de la docte obscurité.“ 318 Die gesuchte difficultas, die sich durch die Befolgung der ars für den Autor solcher Werke ergab, gehörte zu den bestimmenden Faktoren der ausonianischen Poetik, vgl. dazu Sánchez Salor (1991) 128–130. 319 Weitere Formen sind Palindrome, Abecedarien, Lipo-, Panto- und Tautogramme, Cento, Carmina quadrata und figurata, vgl. Ziolkowski (1996b) 133 f. mit weiterführenden Literaturangaben. Zu den literarischen Formen in der Spätantike vgl. etwa Levitan (1985). Einen allgemeinen Überblick über die Variationsbreite griechischer und lateinischer Rätseldichtung bieten Kwapisz et al. (2012). Zur Kunstform der Technopaignia, die besonders in der griechischen Dichtung verbreitet war, liegen zwei neuere Monographien vor: Luz (2010); Kwapisz (2013). 320 Vgl. dazu Ernst (1991) 95–142.

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Reiz einer solchen Aufgabe dar. Entsprechend gross war die Anerkennung solcher Leistungen innerhalb der literarischen Zirkel, die diese rezipierten und beförderten. Der weiter oben erwähnte Burgundio hat Sidonius brieflich dazu aufgefordert, ihm das Phänomen der versus recurrentes zu erklären und an einem Beispiel zu verdeutlichen.321 Sidonius kommt dieser Aufforderung gerne nach und präsentiert seinem Adressaten nach zwei einführenden Beispielen ein palindromisches Distichon, das er bei der Betrachtung eines über die Ufer getretenen Flusses verfasst habe: Praecipiti modo quod decurrit tramite flumen tempore consumptum iam cito deficiet. Hoc si recurras, ita legitur: Deficiet cito iam consumptum tempore flumen tramite decurrit quod modo praecipiti. Der Fluss, der jetzt in reissendem Strom dahineilt, wird sich schon in einiger Zeit erschöpfen und dann rasch nachlassen. Liest du dies rückwärts, ergibt sich folgendes: Der Fluss, der jetzt in reissendem Strom dahineilt, wird sich schon in einiger Zeit erschöpfen und dann rasch nachlassen. (Sidon. epist. 9,14,6)

Die Aufnahme dieses Briefes in die Sammlung dient auch hier wieder der Selbstinszenierung ihres Autors. Interessant ist in diesem Zusammenhang aber die Prosaparaphrase, die dem Palindrom vorausgeht. Sidonius veranschaulicht hier die Ästhetik zweier Darstellungsprinzipien, über die er in gleicher Weise meisterhaft verfügt: (…) unum distichon (…), quod de rivulo lusi, qui repentino procellarum pastus illapsu publicumque aggerem confragoso diluvio supergressus subdita viae culta inundaverat, quamquam depositurus insanam mox abundantiam, quippe quam pluviis appendicibus intumescentem nil superna venae perennis pondera inflarent. (…) ein Distichon (…), das ich spielerisch über einen Bach verfasst habe, der von plötzlichem Gewittereinbruch angeschwollen mit wogender Flut über das Trassee der öffentlichen Strasse getreten war und die umliegenden Felder überschwemmt hatte, aber bald diese übertriebene Fülle wieder verlieren sollte, denn diese war durch zusätzliche Regengüsse entstanden und wurde nicht am Oberlauf von der Masse einer unversiegbaren Quelle gespiesen. (Sidon. epist. 9,14,5)

Im Gegensatz zur kurzen Dichte des Epigramms ist die entsprechende Prosaparaphrase durch stilistische ubertas gekennzeichnet. Der Satzbau ist durchsichtig, die Erzählweise aber nicht geradlinig. Im Relativsatz wird das Naturphänomen sukzessive nachvollzogen; die Partizipien enthalten die Ursache, während das Verbum finitum die Wirkung benennt. Der untergeordnete 321 Sidon. epist. 9,14,4. Zur literarischen Form des Palindroms vgl. allgem. Polara (1991).

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konzessive Nebensatz referiert auf ein zukünftiges Geschehen, das im folgenden Nebensatz 3. Grades mit Verweis auf den in der Vergangenheit liegenden Auslöser in dunkler Metaphorik begründet wird. Deren Aussage ist natürlich wieder identisch mit der ersten des übergeordneten Relativsatzes. Daneben wurden die üblichen Kunstmittel angewandt: Variationsstreben im Vokabular (agger – via; procellarum illapsu – pluviis), Sperrungen (repentino… illapsu; superna… pondera); Alliteration, Assonanz und entsprechende Rhythmisierung (procellarum pastus illapsu; superna… perennis pondera). Literarische Kunstgebilde wie das Palindrom, die in mühsamer und langwieriger Kleinstarbeit entstanden, waren nicht nur eine Herausforderung an die Leistungsfähigkeit ihres Verfassers, sondern auch eine Probe des kombinatorischen Intellekts des Rezipienten, der die inhärente technische Verfahrensweise (ars) erkennen und nachvollziehen musste. Schon der erste palindromische Vers, den Sidonius Burgundio als bekanntes Beispiel (illud antiquum) zitiert, ist in seiner tieferen Bedeutung änigmatisch: Roma tibi subito motibus ibit amor („Rom, deine Liebe, kommt durch Erschütterungen sogleich zu dir.“: Sidon. epist. 9,14,4).322 Dass eine sinnvolle Auslegung nicht immer gelang, war Bestandteil des Spiels. Am Ende seines Begleitbriefs zum Griphus ternarii numeri benennt und begründet Ausonius gegenüber seinem Adressaten Symmachus explizit die Schwierigkeiten, welche die Lektüre dieses Werks bei einigen Lesern hervorrufen dürfte: Quod si alicui et obscurus videbor, apud eum me sic tuebere: primum eiusmodi epyllia, nisi vel obscura sint, nihil futura; deinde numerorum naturam non esse scirpum, ut sine nodo sint. Sollte ich aber jemandem auch dunkel erscheinen, nimm mich vor ihm auf folgende Weise in Schutz: Erstens hätten Epyllien dieser Art, wären sie nicht dunkel, keine Bedeutung; zweitens sind Zahlen keine Binsen, sodass sie ohne Knoten sind. (Auson. griph. praef. 52–55 ed. Green)

Bei dem Gedicht handelt es sich um eine Spielerei mit der Zahl Drei, die bei einem Festbankett noch ante cenae tempus entstanden sei.323 Symmachus solle ihn mit Verweis auf die solchen Versspielereien inhärente Rätselhaftigkeit gegen die Vorwürfe allfälliger Kritiker in Schutz nehmen und betonen, dass Zahlen keine „Binsen“ seien, sondern über „Knoten“ verfügten.324 Der exklusive Charakter des Werks, das nicht an das profanum vulgus gerichtet 322 Vgl. dazu die Interpretation von Henke (2007), der darin eine versteckte Zeitkritik erkennen will. Er übersetzt den Vers folgendermassen: „Rom, das geliebte, wird dir alsbald durch die Erschütterungen zugrunde gehen.“ Anderson (1965) 582 Anm. 1 und Loyen (1970) 208 Anm. 62 ergänzen den Pentameter mit einem palindromischen Hexameter zu einem Distichon: Signa te signa; temere me tangis et angis und übersetzen: „Suddenly through my movements will Rome, your heart’s desire, come to you.“; „Soudain, grâce à mes mouvements, Rome, l’objet de ton amour, viendra à toi. 323 Auson. griph. praef. 29 ed. Green. Vgl. dazu etwa Hernández Lobato (2007). 324 Ausonius spielt hier auf ein Sprichwort an: quaerere in scirpo nodum (= Schwierigkeiten suchen, wo keine sind). Vgl. Green (1991) ad loc.

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sei (praef. 38), wird zu Beginn des Gedichts noch einmal betont: Ter bibe vel totiens ternos; sic mystica lex est („Trinke dreimal und ebenso oft drei : dies ist ein mystisches Gesetz!“: griph. 1). Die Anspielung an Horaz (carm. 3,19,14–15: ternos ter cyathos attonitus petet / vates) verweist auf die notwendige Initiierung in die mystica lex, welche die Lektüre des Griphus gleichsam voraussetzt.325 Symmachus ist als Adressat und Widmungsträger ohne Zweifel Myste. Falls jedoch auch er, obwohl er alles gelesen und alles erforscht habe, Verständnisprobleme haben sollte, sei Ausonius zufrieden, denn dann habe er sein Ziel erreicht: me ut requiras, me desideras, de me cogites („dass du nach mir verlangst, mich vermisst, an mich denkst.“: griph. praef. 58 ed. Green).326 Hinter dem Trikolon, das das Spiel mit der Zahl Drei in der Prosa fortführt, offenbart sich die eigentliche Absicht, die hinter der Zusendung des Gedichts steht. Das Werk dient wie epist. 14 in erster Linie der gegenseitigen Kontaktpflege, die durch provokante Herausforderung des Adressaten mittels Obscuritas am Leben erhalten wird.327 Mit der Aufforderung ter bibe lädt es den Adressaten gleichsam ein, an seiner symposiastischen Entstehung teilzuhaben.328 Ausonius pflegte noch eine weitere Kunstform, in der ludus, labor und ars sich zu einem „scherzo d’ arte” vereinen: das Technopaegnion.329 In diesem Werk gibt Ausonius seinen Rezipienten die den hexametrischen Gedichten zugrundeliegende Spielregel bekannt.330 Im ersten Gedicht stellt jeder Vers eine Periphrase für einen Einsilbler dar, mit dem der folgende Vers dann als Anadiplose beginnen muss.331 In den folgenden Gedichten ist der Versbeginn dann frei. Eines dieser Gedichte besteht aus einer Reihe monostichischer Rätselfragen, wobei der Monosyllabon am Ende die Lösung enthält: Quis subit poenam capitali iudicio? vas. quod si lis fuerit nummaria, quis dabitur? praes. quis mirmilloni contenditur aequimanus? Thraex. inter virtutes quod nomen Mercurio? fur.

325 Zum Kreis der „Initianten“, an die sich Ausonius nugae richten, vgl. weiter unten: S. 220– 223. 326 Auson. griph. praef. 55–58 ed. Green: Postremo si etiam tibi obscurus fuero, cui nihil neque non lectum est neque non intellectum, tum vero ego beatus quod affectavi assequar, me ut requiras, me desideras, de me cogites. 327 Nach der Meinung von Green (1991) 445 dürfte zumindest Symmachus die Entschlüsselung nicht allzu schwer gefallen sein: „There is not very much in the poem that would not be obvious and familiar to a well-educated contemporary.“ 328 Vgl. dazu Lowe (2013). 329 Der Begriff selbst geht auf Ausonius zurück, vgl. Auson. techn. 1,13–15 ed. Green: Libello Technopaegnii nomen dedi, ne aut ludum laboranti aut artem crederes defuisse ludenti. Zu Ausonius’ „scherzo d’arte“ vgl. Di Giovine (1996) 27 sowie allgem. Squillante (2009). 330 Ähnliche Lektüreanweisungen in Prosa wurden auch den Stücken des Optatianus Porfyrius beigegeben, jedoch nicht vom Autor selbst, vgl. Smolak (1989) 243. 331 Auson. techn. 3,1–2 ed. Green: Res hominum fragiles alit et regit et perimit – fors, / fors dubia aeternumque labans, quam blanda fovet – spes.

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2. Kodierte Kommunikation Wen trifft die Strafe bei einem Prozess auf Leben und Tod – Den Bürgen. Wen stellt man, wenn eine Geldangelegenheit verhandelt wird? – Den Haftenden. Wer ist im Kampf dem Mirmillo ebenbürtig? – Der Thraker. Wie wird Merkur unter anständigen Leuten genannt? – Dieb.

(Auson. techn. 13,1–4 ed. Green)

Aber auch in Prosa bot sich vielfältige Gelegenheit für artistische Virtuosenstücke. Extremes Beispiel ist Fulgentius’ unvollendetes Projekt De aetatibus mundi et hominis, ein Abriss der Weltgeschichte in 23 Lemmata, in denen jeweils ein bestimmter Buchstabe des Alphabets vermieden werden musste (Leipogramm).332 c.2. Techniken spielerischer Verrätselung: Dunkle Anspielung, Intertext und Periphrase Auch ausserhalb dieser festen literarischen Formen war die Verschlüsselung und Entschlüsselung von Sinn ein Spiel, das zum Zeitvertreib der litterati und als Nachweis und Bestätigung ihrer Gelehrsamkeit (eruditio) gepflegt wurde. Eine in der literarischen Tradition fest verankerte Ausprägung spielerischartistischer Obscuritas stellen Anspielungen und Andeutungen unterschiedlichster Art dar, die in die Texte eingewoben wurden. Eine erste Form wurde bereits mehrfach angesprochen: Verweise auf kaum bekannte Namen, Orte oder Ereignisse aus Mythologie, Naturwissenschaft oder Geschichte wirken verdunkelnd und beeinträchtigen das Textverständnis.333 Eine zweite Art der Verrätselung des Ausdrucks beeinträchtigt nicht grundsätzlich das Verständnis, sondern verbirgt vielmehr einen impliziten Teil der Aussage, den der Rezipient aktiv finden und erhellen muss. Hierbei kann es sich um politische Andeutungen oder zeitkritische Bemerkungen handeln, die in verhüllender Rede (oratio figurata) einem kundigen Publikum dargeboten werden.334 Eine spielerische Form der verhüllenden Rede sind kaum identifizierbare intertextuelle Bezüge, die im Text verborgen liegen. Der Produzent solcher Werke setzt das in der Schule erlernte Rezeptionsverhalten voraus, das die Suche nach mutmasslich verborgenen Inhalten antreibt. Unmarkierte Intertextualität wird hier produktionsästhetisch zur Obscuritas-Strategie.335

332 Vgl. dazu Hernández Lobato (2012) 462–463 mit weiteren Literaturangaben. 333 Vgl. etwa die änigmatische Umschreibung von Sidonius’ eigener Epiphanie als Apollo: Sidon. epist. 8,9,5 Vv. 7–10: ac si Delphica Delio tulissem / instrumenta tuo novusque Apollo / cortinam, tripodas, chelyn, pharetras, / arcus grypas agam duplaeque frondis / hinc bacas quatiam vel hinc corymbos? 334 Zur rhetorischen Technik der verhüllenden Rede vgl. weiter unten: S. 237–240. 335 Das gilt schon für die neoterische Dichtung. Hier wie dort stellen die oft nur schwer identifizierbaren intertextuellen Anspielungen aus moderner Sicht ein methodisches Problem dar, da nie eindeutig feststellbar ist, ob es sich um eine intendierte Anspielung oder eine im natürlichen Sprachfluss sich ergebende Similie handelt. Zur Intertextualität in der Spätantike vgl. die Bemerkungen von Hernández Lobato (2012) 536 ff.

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Isabella Gualandri hat diese Kunst der textlichen Allusion bei Sidonius Apollinaris exemplarisch herausgearbeitet.336 Sie versteht sie als Ausdruck eines „compiacersi del possesso di un sapere nascosto, riservato a pochi iniziati“ von Seiten des Autors.337 Wie natürlich setzt dieses gelehrte Spiel die betriebsame curiositas eines gebildeten Publikums voraus. Dieses wird durch die dunklen Anspielungen, das Resultat von Sidonius’ minuziöser und zeitintensiver Arbeitsweise, zur sorgfältigen lectio herausgefordert und entwickelt sich zum artifex lector (Sidon. epist. 2,2,19). Akzeptiert ein Rezipient diese, tritt er in einen Agon mit dem Autor und macht sich auf die Suche nach im Text verborgenen imitationes. Der lange Brief an Domitius (epist. 2,2), in dem Sidonius sein Landgut in Avitacum beschreibt, ist durchwoben mit versteckten Anklängen an die traditionelle Bildungsliteratur.338 Von der Form her handelt es sich um einen Einladungsbrief. Sidonius möchte seinen Freund Domitius davon überzeugen, dem heissen Sommer in der Stadt zu entfliehen und zu ihm nach Avitacum zu kommen, wo sich bereits eine Reihe von gemeinsamen Freunden eingefunden habe. Um Domitius die Einladung schmackhaft zu machen, will er ihm sein Anwesen kurz beschreiben. Was folgt, ist eine der umfangsreichsten prosaischen Villenbeschreibungen der antiken Literatur.339 Vor dem geistigen Auge des kundigen Lesers lässt Sidonius eine literarische Topographie entstehen, in der sich zwei Schichten überlagern: Die Villa und die weitläufige Bäderlandschaft sind wie mit einem losen Netz von Klassikerbezügen bedeckt, deren textliche Spuren bisweilen ebenso dunkel sind wie die Beschreibung der Villenanlage selbst.340 Ein Grund dafür liegt in der erwähnten Funktion, welche den aufgerufenen Texten innerhalb von Sidonius’ Darstellung zukommt. Es handelt sich weniger um das typische Vorgehen einer aemulatio mit der Absicht der Überbietung des Vorbilds, sondern vielmehr um einen bewussten Akt spielerischen Verbergenwollens.341 Dabei geht es nicht 336 Gualandri (1979) 84–104. Vgl. auch Egelhaaf-Gaiser (2010) 258 f. sowie van Waarden (2010) 52–55. Eine Zusammenstellung (möglicher) literarischer Einflüsse in den Werken des Sidonius Apollinaris bietet Colton (2000). 337 Gualandri (1979) VI. 338 Vgl. zu den verschiedenen Bezügen den Index bei Gualandri (1979) 189–190. 339 Eine derartige Beschreibung einer villa rustica findet sich in der erhaltenen lateinischen Prosaliteratur nur noch an einer Stelle, nämlich im Briefkorpus des jüngeren Plinius. Es handelt sich um die berühmten Villenbeschreibungen in den Briefen 2,17 (Laurentinum) und 5,6 (Tusci), wo Plinius seine Villa mit Meeranstoss in Laurentum beziehungsweise sein Landgut in der Toscana beschreibt. Zeitlich etwas früher entstanden sind die poetischen Villenbeschreibungen des Statius: silv. 1,3 (Villa des Manlius Vopiscus in Tibur) und silv. 2,2 (Villa des Pollius Felix in Sorrent). 340 Vgl. den Kommentar von Anderson (1936) 416: „Some of the „fine writing“ in this letter is rather obscure, and the description does not supply adequate material for a plausible plan of the buildings.“ 341 Gualandri (1979) 94: „non troviamo quindi in Sidonio un attaggiamento di aemulatio nel senso più proprio del termine, che implichi il porsi di fronte ad un modello con cui competere…“. In eine ähnliche Richtung argumentieren Consolino (1974) 453; Amherdt (2001) 56 Anm. 228; van Waarden (2010) 52.

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um den Versuch, eine aussertextliche Realität abzubilden, vielmehr sind es eigenständige Stimmungsbilder, die Sidonius auf diese Weise erzeugt. Dabei wird auch nicht auf ein bestimmtes Vorbild rekurriert, sondern bewusst einzelne literarische Bruchstücke mosaikartig zusammengefügt. Die Beschreibung der drückenden Sommerhitze, die ihn aus der Stadt auf sein Landgut habe flüchten lassen, verschmilzt Sidonius zu einem intertextuellen Puzzle:342 Quid plura? mundus incanduit: glacies Alpina deletur et hiulcis arentium rimarum flexibus terra perscribitur; squalet glarea in vadis, limus in ripis, pulvis in campis; aqua ipsa quaecumque perpetuo labens tractu cunctante languescit; iam non solum calet unda sed coquitur. et nunc, dum in carbaso sudat unus, alter in bombyce, tu endromidatus exterius, intrinsecus fasceatus, insuper et concava municipis Amerini sede compressus discipulis non aestu minus quam timore pallentibus exponere oscitabundus ordiris: „Samia mihi mater fuit.“ Was ist weiter zu sagen? Die Welt erglüht: Die Gletscher der Alpen schmelzen und die ausgetrocknete Erde ist von den Windungen klaffender Risse durchzogen; Kies starrt schmutzig in den Flussbetten und die Ufer sind mit Schlamm, die Felder mit Staub bedeckt; selbst Flüsse, die beständig fliessen, quälen sich in trägem Lauf; schon ist das Meer nicht mehr warm, sondern kocht förmlich. Und zu dieser Jahreszeit, in der der eine in einem feinen Gewand aus Baumwolle schwitzt, der andere in einem aus Seide, trägst du darüber einen Wollmantel, darunter einen Schurz und, in den gewölbten Sessel eines Bürgers von Ameria gezwängt, beginnst vor Schülern, die vor Hitze wie vor Angst leichenblass sind, gähnend die Rezitation: „Aus Samos stammt meine Mutter.“ [Ter. Eun. 107] (Sidon. epist. 2,2,1–2)

Die ländliche Szenerie ist ein Echo auf Vergils Georgica,343 während die Darstellung der Stadt satirische Züge aufweist.344 Ein Anklang auf Plinius’ Beschreibung des Nils durchbricht markant den poetischen Grundton der ersten Passage und unterbindet die frühzeitige Entstehung einer vergilischen Matrix.345 Mit dem jüngeren Plinius ist auch das massgebliche literarische Modell des Briefes aufgerufen. Gleichwohl sind auch hier direkte Referenzen nur schwer erkennbar.346 Im Kontext eines Einladungsbriefes sind die vielschichtigen intertextuellen Anspielungen und Reminiszenzen nicht zuletzt

342 Vgl. zum Folgenden Gualandri (1979) 94–96 und 159–160. 343 Sidon. epist. 2,2,1: mundus incanduit, vgl. Verg. georg. 3,479: tempestas totoque autumni incanduit aestu; Sidon. epist. 2,2,1: glacies Alpina, vgl. Claud. carm. min. 35,1: glacies Alpina; Sidon. epist. 2,2,1: hiulcis arentium… terra perscribitur, vgl. Verg. georg. 2,353: ubi hiulca siti findit… arva; Sidon. epist. 2,2,1: non solum calet aqua sed coquitur, vgl. Verg. georg. 4,427–428: flumina… tepefacta coquebant. 344 Sidon. epist. 2,2,2: in carbaso sudat unus, alter in bombyce, vgl. Iuv. 6,259–260: hae sunt quae tenui sudant in cyclade, quarum / delicias et panniculus bombycinus urit; Sidon. epist. 2,2,2: Samia mihi mater fuit = Ter. Eun. 107. 345 Sidon. epist. 2,2,1: aqua… tractu cunctante languescit, vgl. Plin. paneg. 30,2: piger Nilus cunctanter alveo sese ac languide extulerat. 346 Etwa bei der Beschreibung des Teiches, wo der Kontext und die seltene Verwendung von fovere die Verbindung herstellt: Sidon. epist. 2,2,18: simulque pingues ulvarum paginae natant salicumque glaucarum fota semper dulcibus aquis amaritudo, vgl. Plin. epist. 5,6,20: Inter has marmoreo labro aqua exundat circumiectasque platanos et subiecta platanis leni adspergine fovet. Vgl. Gualandri (1979) 98–99.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

als lockender Hinweis auf die zu erwartenden, gemeinschaftlichen lectiones vetustatis im dulce otium von Sidonius’ Landgut zu verstehen.347 Für diese Technik benutzte Sidonius nicht nur Klassikertexte sondern auch die heiligen Schriften.348 Häufig beschränkte er sich jeweils auf wenige Schlüsselworte, um biblische Kontexte zu evozieren.349 Ein schönes Beispiel findet sich in einem Brief, den Sidonius wohl um 476 an Faustus von Riez schrieb. Sidonius hielt sich zu dieser Zeit in Bordeaux auf, wo er am Hof des Westgotenkönigs Eurich als Bittsteller auftrat. In dunklen Anspielungen verweist er auf seine missliche Lage und den Verlust seiner Güter.350 In diesem Kontext bittet er seinen Adressaten, ihn durch seine wirksamen Gebete doch zu unterstützen: His igitur, ut supra dixi, precatibus efficacissimis obtine, ut portio nostra sit dominus atque ut ascripti turmis contribulium levitarum non remaneamus terreni, quibus terra non remanet inchoemusque ut a saeculi lucris, sic quoque a culpis peregrinari. Halte also an diesen – wie ich sie zuvor nannte – äusserst wirksamen Gebeten fest, damit Gott mein Anteil sei und ich, jetzt den Reihen des Stamms der Leviten zugewiesen, nicht ein Erdbewohner bleibe, dem keine Erde verbleibt, und beginne, nicht nur frei von vergänglichem Besitz, sondern auch frei von Sünden zu sein. (Sidon. epist. 9,3,4)

Neben einem direkten Zitat (portio nostra… dominus vgl. Ps. 118,57: portio mea Dominus) weist die Passage noch einen anderen, weit weniger offenkundigen Bezug auf die Bibel auf, den Sidonius geschickt mit seiner persönlichen Lage verquickt:351 Non habebunt sacerdotes et Levitae et omnes qui de eadem tribu sunt partem et hereditatem cum reliquo Israhel (…). Dominus enim ipse est hereditas eorum sicut locutus est illis. Die Priester und die Leviten und alle, die von diesem Stamm sind, werden weder Teil noch Erbe haben mit dem übrigen Israel (…). Denn der Herr selbst ist ihr Erbe, wie er es zu ihnen gesagt hat. (Dt. 18,1–2)

In diesem Zusammenhang sei erneut auf den literarischen Cento verwiesen, der in der Spätantike eine Blüte erlebte. Im Begleitbrief zu seinem Cento nuptialis, in dem mit Versen aus Vergil eine Hochzeit in teilweise allegorischer Verschlüsselung (Vv. 101–131: die obszöne imminutio) geschildert wird, kommt Ausonius neben den Spielregeln und parodistischen Zielen dieses 347 Die Annahme, dass Sidonius die in seinen Briefen erscheinende Fülle von Klassikerzitaten erst nachträglich für die Publikation eingefügt habe (so etwa Cameron (2011) 369), ist zu verwerfen. Durch die Publikation der Sammlung wird das literarische Spiel lediglich einem grösseren Rezipientenkreis eröffnet, an der Substanz ändert sich dadurch nichts. Die gemeinsame Lektüre ist noch im Gallien des 7. Jahrhunderts für Desiderius und seine Freunde ein zentrales Element identitärer Gemeinschaftsbildung, vgl. dazu Schwitter (2013). 348 Jedoch in weit geringerem Umfang, vgl. Horváth (2000) 161–162. 349 Vgl. Harries (1994) 108, 113–115; van Waarden (2010) 53. 350 Zu diesem irritierenden Brief vgl. weiter unten: S. 267–270. 351 Vgl. Harries (1994) 115.

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Dichtungstyps auch kurz auf den Entstehungskontext zu sprechen.352 Das Werk sei innerhalb eines Tages auf Aufforderung Kaiser Valentinians in Konkurrenz zu dessen eigenem Versuch entstanden. Ein poetischer Wettstreit wird auch hier als Anlass dieses frivolum opusculum vorgegeben. Während für Ausonius die artistische Herausforderung in der mnemotechnischen Reproduktion einer auswendig gelernten Vorlage lag, bestand für den Rezipienten des Textes die Kunst darin, möglichst alle verwendeten Versatzstücke erkennen und zuordnen zu können.353 Das Wissen um eine programmatisch vertretene furtiva lectio im Werk spätantiker Autoren konditionierte also die Leseerwartung der Rezipienten und regte bei der Lektüre zur sorgfältigen Suche nach literarischen Reminiszenzen und motivischen Parallelen an. Wie in der „Grotte der Venus“ (carm. 11) lässt Sidonius bisweilen seine Leser auf ihrer Suche im labyrinthischen Bezugssystem der literarischen Verweise bewusst in die Irre laufen. Er setzt falsche Fährten, enttäuscht Erwartungen und spielt mit der investigativen Rezeptionshaltung, die er seinen Lesern unterstellt. Exakt diese Rezeptionshaltung setzte auch Ennodius für die Lektüre seiner Briefe voraus. Die kompetente Mitarbeit des Lesers am Text wird bei ihm zum aktiven Beitrag an der Sinngewinnung. In epist. 3,31 verdeutlicht er dies anhand der bereits erwähnten Sichelmetaphorik: Der Leser müsse sich kraft seines Verstandes den Weg zum textlichen Sinn durch das Dickicht der Worte gleichsam mit einer Sichel freischlagen.354 Dieselbe Metapher erscheint in epist. 2,7, einem Paradestück der Aufforderung zur Erfüllung des officium amicitiae. Ennodius kontrastiert den gehobenen Briefstil des gebildeten Adressaten, des Redners Firminus, mit seiner eigenen literarischen Unfähigkeit. Seine Zuneigung für den entfernten Verwandten (epist. 2,7,2 als Oxymoron: absentis propinqui) liess ihn dennoch „durch waghalsiges Reden das vielversprechende Schweigen brechen“ (epist. 2,7,1); ein impliziter Vorwurf an Firminus, der aufgrund seiner literarischen Qualitäten umso mehr zur Abfassung einer Grussepistel verpflichtet wäre. Der Brief zeichnet sich im Sinne der „humilité savante“ spätantiker Epistolographen durch eine stilistische und semantische Komplexität aus.355 Bereits der erste Satz offenbart den anspruchsvollen Duktus des Briefs: Exigat licet amor quod non potest implere perfectio et inpetret caritas ut per loquellae audaciam quae ornare poterat pereat spes tacendi, maxime cum sit dicendi, ut Tullius refert, nisi cum necessaria nimis inepta condicio, sed inter narrationum vias et itinera aperienda falce doctrinae teneri nescius virium consideratione regnat affectus. Mag denn die Liebe fordern, was die Ausführung nicht zu erfüllen vermag, und die Zuneigung verlangen, dass durch waghalsiges Reden die Aussicht zu schweigen vergeht. Dies hätte schmuckvoll sein können, besonders, weil es, wie Cicero darlegt, höchst un352 Auson. cent. praef.. 353 Zusammengestellt bei Green (1991) 522–524. 354 Ennod. epist. 3,31,2: scindit nubes eloquii mens dictationis interpres, cito ad intellectum pervenit falcibus suis verborum calle reserato. Vgl. dazu weiter oben: S. 15f. 355 Zur „humilité savante“ vgl. Bruggisser (1993) 55–59.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie: passend ist zu reden, wenn kein notwendiger Anlass dazu besteht, doch gebietet im Bewusstsein ihrer Kräfte allein die freundschaftliche Hingabe, der es unbekannt ist, sich im Zaum zu halten zwischen den Wegen und Bahnen rhetorischer Eloquenz, die durch die Sichel der Gelehrsamkeit erschlossen werden müssen. (Ennod. epist. 2,7,1)

Die lexikalische Variation (amor, caritas, affectus), die chiastische Antithese (spes tacendi – dicendi condicio) und das Klassikerzitat (Cic. de orat. 1,24,112) veranschaulichen in Kombination mit einer äusserst komplexen syntaktischen Struktur die Sprachkunst eines Autors, der mit den Mitteln der Rhetorik eine artifizielle Ausdrucksweise356 schafft, die der Rezipient mit der Sichel seiner Gelehrsamkeit zu entschlüsseln hat. Sie bildet wie die Metaphernverschmelzung des Hauptsatzes (narrationis vias et itineras; falce aperienda; virium consideratione regnat), die sich in ihrer diffusen Bildhaftigkeit zu einem semantischen aenigma verdichtet, ein Kernelement des ennodianischen sermo difficilis et obscurus. Ein weiteres Merkmal der „esthétique du labyrinthe“ (St. Gioanni), die sich im Briefstil der Zeit abbildet, ist die Vorliebe für obskure „Umwege“ (ambages).357 Eine ihrer Ausprägungen ist die verdunkelnde Periphrase.358 Die bewusste Vermeidung beziehungsweise die Umgehung direkter Formulierungen ist ein Merkmal der Mantik. In zweiten Satirenbuch parodiert Horaz dieses typische Element der Orakelsprache im Dialog zwischen Odysseus und Tiresias. Der Seher ist unfähig auf die einfache Frage seines Gegenübers eine direkte Antwort zu geben, worauf Odysseus nach mehrfachen Rückfragen in Zorn gerät: Num furis? an prudens ludis me obscura canendo? („Bist du rasend oder verspottest du mich mit Absicht, indem du Dunkles verkündest?“: Hor. serm. 2,5,58). Auf ähnlich satirische Weise wird die verdunkelnde Periphrase als Merkmal pathetisch-ernster Obscuritas in der Spätantike von Fulgentius in der Praefatio seiner Mythologicarum libri thematisiert. In elf Hexametern wird der Anbruch der Nacht auf hochpoetische Weise umschrieben, um dann in glossierender Prosa die Banalität der Aussage in knappen Worten zu benennen: (…) et ut in verba paucissima conferam: nox erat („und um es in aller Kürze zu sagen: Es war Nacht.“). Begründet wird die Umständlichkeit der poetischen Formulierung mit dem Hinweis auf ihre ekstatische 356 Narratio ist hier als Synonym von loquella und condicio dicendi zu verstehen und bedeutet die sprachlich-stilistische Ausdrucksweise. 357 Der Frage, ob sich eine vom Autor intendierte labyrinthische Textstruktur in antiken Texten finden lassen, sind Doob (1990) anhand von Vergils Aeneis und Boethius’ Consolatio Philosophiae sowie Romer (1998) nachgegangen. Vgl. zu diesen Arbeiten die – zu Recht – sehr kritischen Ausführungen von Burrichter (2003) 21 f. 358 Quint. inst. 8,2,17–18. Ein schönes Beispiel ist der weiter oben besprochene Brief des Ausonius an Theon (Auson. epist. 14 ed. Green): S. 189–192. Zu entsprechenden Beispielen bei Sidonius Apollinaris vgl. Loyen (1943) 143–145; La Penna (1995a) 11. Die Technik ist besonders in witzig-geistreicher Poesie beliebt, vgl. z. B. Carm. Priap. 3,1–10: Obscure poteram tibi dicere…/ simplicius multo est: ‚da pedicare’ Latine / dicere.

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Entstehung: ut insanus vates versibus delirabam („wie ein entrückter Seher war ich rasend in meinen Versen“).359 Ein spielerisches Seitenstück dieser ironischen Charakterisierung der Orakelsprache ist Auson. epist. 17 ed. Green an Paulinus.360 Darin verspottet Ausonius die überschäumende Poesie seines damaligen Schülers. Der Brief beginnt nach der Grussformel direkt mit einer anspielungsreichen, gelehrtverrätselten Umschreibung des Anbruchs einer Dezembernacht in zehn Hexametern. Daraufhin meint Ausonius hämisch in Prosa: Nescis, puto, quid velim tot versibus dicere. medius fidius neque ipse bene intellego: tamen suspicor. Ich vermute, du verstehst nicht, was ich dir mit all diesen Versen sagen will. Ganz ehrlich, ich weiss es selbst nicht so recht, doch habe ich eine Ahnung. (Auson. epist. 17,11–12 ed. Green)

Ohne weitere Erklärung bestätigt Ausonius daraufhin den Empfang eines äusserst gepflegten Briefes (litterae… oppido litteratae) des Paulinus, den er zusammen mit einem neuen Werk, einer Versifizierung von Suetons De regibus, erhalten habe. Dieses ganz wunderbare Gedicht (longe iucundissimum poema) habe Paulinus mit solcher Eleganz in die Form einer auswählenden Epitome gebracht, dass er als einziger vollbracht habe, was gegen die Natur der Dinge verstösst: nämlich, dass Kürze nicht dunkel sei.361 Die Ironie, die in den übersteigerten Lobesworten des Ausonius anklingt, wird in der folgenden Passage offenkundig.362 Einige Verse wolle er hierfür als Beispiel bringen. Was nun folgt, spottet jeder brevitas. Die neun Verse, die er aus Paulinus’ Gedicht zitiert, erscheinen als Paradebeispiel entgleister poetischer prolixitas. Nach der Nennung der beiden Kontinente Europa und Asien, denen er mit Verweis auf einen gelehrten Disput noch Afrika beifügt, versteigt sich Paulinus in einer diffusen Aufzählung unbekannter Barbarenkönige, die in mythischer Vorzeit diese Erdteile regiert haben sollen: Illibanum Numidamque Avelim Parthumque Vononem et Caranum, Pellaea dedit qui nomina regum, quique magos docuit mysteria vana Nechepsos, et qui regnavit sine nomine mox Sesoostris.

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Illibanus, den Numider Avelis, den Parther Vonones und Caranus, den Urvater des mazedonischen Königsgeschlechts, sowie Nechepsos, der die Magier ihre gehaltlosen Geheimnisse lehrte, und schliesslich auch Sesoostris, der ruhmlos regierte. (Auson. epist. 17,25–28 ed. Green)

Der Katalog erscheint diffus, weil er sprunghaft von Kontinent zu Kontinent wechselt und einer rubrizierenden Struktur zu entbehren scheint – kein typi359 Fulg. myth. praef. 1 ed. Halm, 13,17–19. 360 Vgl. auch Sen. apocol. 2: puto magis intellegi si dixero (…). 361 Hor. ars. 25–26: brevis esse laboro, / obscurus fio; Cic. de orat. 1,41,187: hoc video, dum breviter voluerim dicere, dictum a me esse paulo obscurius. 362 Keine Ironie verzeichnen dagegen Green (1991) ad loc. und Mondin (1995) ad loc.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

sches Charakteristikum für Sueton.363 Überhaupt ist fragwürdig, ob der für seine Kürze bekannte Sueton diese obskuren Könige überhaupt behandelt hat.364 Dessen Werk scheint im Zuge von Paulinus’ Versifizierung daher eine beträchtliche augmentatio erfahren zu haben, über die sich Ausonius hier mokiert. Bei der von ihm zitierten Passage dürfte es sich um eine aus dem Ruder gelaufene topische excusatio handeln, in der sich Paulinus gegen die Schwierigkeiten verwahrt, welche sich bei der Übertragung der barbarischen Namen ins Lateinische (und ins Versmass) ergeben hätten.365 Dies erklärt auch, weshalb Ausonius dann im Folgenden – mit ironischem Unterton – die gekonnte metrische Übertragung dieser „überaus bedeutenden“ Namen (quos fama oblitterat; „welche Fama aus dem Gedächtnis streicht“) explizit lobte.366 Die Sinnfrage, die Ausonius seinem Adressaten bezüglich seiner vielen Verse über die Dezembernacht in den Mund legte (nescis… quid velim tot versibus dicere; „Du fragst dich, was ich mit diesen vielen Versen sagen möchte.“), scheint er seinem Schüler nun indirekt mit Blick auf die zitierten ambages selbst zu stellen: nescio, quid velis tot versibus dicere… („Ich frage mich, was du mit diesen vielen Versen sagen möchtest.“). Der Brief ist ein weiteres Beispiel für Ausonius’ satirica et ridicula concinnatio. Die ironisch gebrochene Literaturkritik, deren witzig-provokativer Charakter er am Ende des Briefes eingesteht,367 ist selbst wiederum ein Beispiel verhüllender Rede, in welcher der eigentliche Kritikpunkt nicht explizit ausgesprochen, sondern als Periphrase und über Umwege insinuiert wird.368 Die Verschlüsselung literarischer Kritik war im freundschaftlich geprägten Briefwechsel zwischen Ausonius und Paulinus keine Notwendigkeit, sondern Ausdruck einer neckischen Konversation, in welcher Verdunkelungen als Bestandteil der aristokratischen Konvivialkultur einen festen Platz besassen.

363 Green (1991) 638 unterteilt daher die Passage in zwei Teile: den erste Teil (epist. 17,19– 23) sieht er als Auszug aus der Einleitung an, der zweiten Teil (epist. 17,24–27) sei eine „pastiche“ aus unterschiedlichen Teilen des Werks. Anders Mondin (1995) 116, der die Passage als geschlossenes Zitat ansieht. 364 Zu diesem verlorenen Werk vgl. die Fragmente und Testimonien bei Reifferscheid (1860) 315–321. 365 Auson. epist. 17,23–24 ed. Green: quos / barbara Romanae non tradunt nomina linguae. Mondin (1995) 116 sieht dies als poetischen Reflex auf eine längere methodologische Passage bei Sueton. 366 Auson. epist. 17,29–32 ed. Green: Haec tu quam perite et concinne, quam modulate et dulciter, ita iuxta naturam Romanorum accentuum enuntiasti ut tamen veris et primigeniis vocibus sua fastigia non perirent! 367 Auson. epist. 17,48–52 ed. Green: Haec ad te breviter et ilico vesperis illius secuto mane dictavi. ita enim tabellarius tuus ut epistulam referret instabat. nam si mihi otium fuerit, oblectabile negotium erit ad te prolixius delirare, te ut eliciam, mihi ut satisfaciam. 368 Vgl. zur rhetorischen Technik der „verstellten Rede“ weiter unten: S. 237–240.

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2.2. Obscura disertitudo – Obscuritas als Distinktionsmerkmal der Bildungselite Boswell: Well, I admire Gray prodigiously. I have read his odes till I was almost mad. Goldsmith: They are terribly obscure. We must be historians and learned men before we can understand them. Davies: And why not? He is not writing to porters or carmen. He is writing to men of knowledge.369

2.2.1. Dunkler Briefstil und kommunikative Macht: Amm. 15,5 und Eugipp. epist. ad Pasch. Im 15. Buch seiner res gestae berichtet Ammianus Marcellinus zum Jahr 355 von der Palastintrige einiger Höflinge gegen den Heermeister Silvanus, die, obwohl sie fehlschlug, zu dessen Usurpation und anschliessend zu dessen Ermordung führte:370 Ein gewisser Dynamius, damals Aufseher über die kaiserlichen Packpferde, habe einmal von Silvanus, ohne diesen jedoch näher zu kennen, einige Empfehlungsbriefe an Freunde erbeten. Jene Briefe gedachte Dynamius für eine günstige Gelegenheit aufzubewahren. Als er diese durch Silvanus’ Aufenthalt in Gallien kommen sah, wischte er mit einem Schwamm die Tinte von den Briefen ab und liess nur die Unterschrift ihres Autors stehen. Die freigewordenen Zeilen beschrieb er in der Weise, dass Silvanus seinen Freunden gegenüber in zweideutigen Worten (verbis obliquis) seine Absicht bekundete, in Kürze die Macht ergreifen zu wollen. Dieses Briefbündel übergab Dynamius seinem Mitwisser, dem Reichspräfekten Lampadius, der sie Kaiser Constantius vor Augen führte. Für die anschliessende vom Kaiser einberufene Untersuchung wollte Dynamius ein noch handfesteres Beweismittel gegen Silvanus und dessen Anhänger schaffen. So verfasste er in dessen Namen einen Brief an den Vorsteher der kaiserlichen Waffenfabrik (tribunus fabricae) in Cremona.371 Darin wies er diesen wie einen Mitwisser an, „alles schleunigst bereitzustellen“ (parare propere cuncta). Da jener verständlicherweise nicht wusste, auf welches vertrauliche Geschäft (negotium interius) im Brief angespielt wurde, liess er dem ebenfalls als Absender genannten tribunus gentilium Malarich den Brief zusammen mit einem Begleitschreiben retournieren, worin er diesen um Erhellung bat: (…) obsecrans, ut doceret aperte, quae vellet, non ita perplexe; nec enim intellexisse firmabat ut subagrestem et simplicem, quid significatum esset obscurius. (…) und er beschwor [Malarich], doch in klaren Worten und nicht auf so verdeckte Weise auszudrücken, was er verlange, denn da er selbst ein ungebildeter und einfacher Mann sei, könne er nicht verstehen, was in so dunkler Sprache angedeutet werde. (Amm. 15,5,10) 369 J. Boswell, Boswell’s London Journal, 1762–1763, ed. Pottle, 106, zit. nach Press (1958) 69. 370 Amm. 15,5. Zum historischen Kontext vgl. den Boer (1960). 371 Diese wurden wegen ihres Zugangs zu Waffen offenbar häufig von Verschwörern und angehenden Usurpatoren um Mithilfe angegangen, vgl. Amm. 14,9,4.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

Nun wurde die Intrige bekannt und misslang. Nach eingehender Prüfung konnten auch die anderen Briefe als Fälschungen erkannt werden. Doch für eine Deeskalation war es bereits zu spät. Silvanus, der zu dieser Zeit in Köln residierte, war über die Vorgänge am kaiserlichen Hof und die eigene Sicherheit zunehmend besorgt und liess sich von seinen Soldaten zum Kaiser ausrufen. Für die hier behandelte Fragestellung durchaus interessant ist die Reaktion des Fabrikvorstehers. Dieser soll sich – so Ammian – mit Verweis auf seine niedere Stellung und mangelhafte Bildung bei Malarich dafür entschuldigt haben, dass er die unklaren Andeutungen des Briefes nicht verstanden habe. Er hat also nicht etwa Verdacht geschöpft, sondern die dunkle, insinuierende Ausdrucksweise des angeblichen Verschwörerbriefs fälschlicherweise als spezifisches Element des elaborierten Sprachcodes der Bildungselite, des sermo cultus, gedeutet. Höflich bat er daher seinen Adressaten, ihm das Gewünschte in eine verständliche Form zu transferieren und aperte… non ita perplexe darzulegen. Der Kommunikationsvorgang ist also in seinen Augen gescheitert, weil die Botschaft, die mittels des Mediums Brief an ihn herangetragen wurde, in einem soziolektalen Subcode verfasst war, über dessen linguistisches Repertoire er nicht vollumfänglich verfügte. Seine Reaktion ist im Kontext der spätantiken Kommunikationskultur durchaus verständlich. Es ist hinlänglich bekannt, dass sich die innerhalb der Bildungsgemeinschaft in schriftlicher Korrespondenz gepflegten diaphasischen Varietäten des Lateinischen erheblich vom entsprechenden Sprachgebrauch der bildungsfernen Schichten unterschieden. Gerade die hochsprachliche Realisierung des usus loquendi in Kunstbriefen trug als rituell befolgte gruppenspezifische Kommunikationsform in entscheidender Weise zur Exklusivität dieser Gemeinschaft bei.372 Die Reaktion des Fabrikvorstehers zeigt, dass auch von Seiten der Ausgegrenzten ein hoher Stil als Erkennungsmerkmal der Bildungselite verstanden wurde. Mit der Bekennung seiner rusticitas gesteht er Malarich sein literarisches Defizit ein und erwartet von ihm eine entsprechende Anpassung seines statusbezogenen sprachlichen Registers.373 In den Augen des Fabrikvorstehers ist sein Adressat als präsupponiertes Mitglied der Bildungselite für den aus seiner Sicht notwendigen 372 In wieweit diese Hierarchisierung in der Spätantike auch in mündlicher Rede zum Ausdruck kam, kann aus Mangel an Zeugnissen nicht mehr eruiert werden. Soziolinguistische Studien haben aber gezeigt, dass in vielen Kulturen eine bestimmte verdunkelnde Sprechweise das öffentliche Gebaren einer Elite kennzeichnen kann. Vgl. etwa Bourdieu (1979). Zur schwer verständlichen modernen Wissenschaftsprosa als Mittel der Abgrenzung von weniger Gebildeten vgl. Scrivener/Finkelmann (1994) 33 f. 373 Es scheint unwahrscheinlich, dass es sich hierbei nur um eine Form spielerischer Untertreibung handelt. Fabrikvorsteher (tribuni, primicerii fabricae) waren Angehörige des Heeres. Nach zwei Jahren Dienst wurden sie im Rang eines protector entlassen. Entsprechend dürften sie aus dem Curialienstand rekrutiert worden sein, vgl. Demandt (1989) 234. Selbst wenn es sich hier um einen Bescheidenheitstopos handeln sollte, bezeugt dieser doch die geläufige Vorstellung, dass die Bildungselite in einem eigenen, für Aussenstehende schwer zugänglichen Code miteinander kommunizierten.

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Codewechsel durchaus in der Lage. Um in der Terminologie des Soziolinguisten Basil Bernstein zu sprechen, verfügt Malarich über einen elaborierten Code, der ihm Anpassungen an die veränderte Kommunikationsform erlaubt, während der Fabrikvorsteher selbst nur über einen restringierten Code verfügt, der als Stigma zugleich auch seine soziale Inferiorität offenlegt.374 Demnach bildet die sprachliche Ebene nicht nur das soziale Gefälle zwischen den beiden Briefpartnern ab, sondern zeigt auch die kommunikative Machtposition, über die der eine Partner verfügt. Dieser steuert und kontrolliert die Kommunikationssituation. Er kann sie zum Erfolg führen oder auch scheitern lassen.375 In ähnlicher Weise wie im neuzeitlichen England oder Frankreich sind hier soziale Stellung, linguistische Kompetenz und kommunikative Dominanz eng miteinander verwoben.376 In christlich-asketischen Kreisen wurde als Reaktion auf diese einseitige Privilegierung einer kleinen Elite eine radikale Gegenposition vertreten. Durch die Favorisierung des sermo simplex et communis in literarischer Kommunikation wurde ein dezidiertes Gegenmodell zur Obscuritas der Bildungssprache geschaffen.377 Legitimation für diesen Bruch mit der Tradition, der, wie weiter oben erwähnt, schliesslich zu einer Spaltung innerhalb der spätantiken Bildungsgemeinschaft führte, fand man in der pastoralen Verpflichtung, die christlichen Glaubensinhalte einem möglichst breiten Publikum zu vermitteln.378 Der gegen Ende des 5. Jahrhunderts in Arles als Rhetoriklehrer tätige Priester Pomerius rechtfertigt sich im Epilog seines Werks De vita contemplativa für seinen schlichten Sprachstil und wendet sich im Folgenden generell gegen eine verdunkelnde stilistische adfectatio und den von der Bildungselite gepflegten sermo cultus:379 Et tamen cum sententiarum vivacitatem sermo ex industria cultus enervet, et totam vim dictorum splendor elaboratus evacuet, quis non iudicet me adfectationem compositionis debuisse contemnere, etiam si eam potuissem, velut dicendi peritus, implere? quapropter ea mihi visa est compositio satis ornata, quae conceptiones animi cum necessaria quadam perspicuitate proferret, non quae illecebris aurium deserviret. Und dennoch, wenn ein gepflegter Stil, das Ergebnis fleissvoller Arbeit, den Gedanken ihre Frische nimmt und eine kunstvolle sprachliche Pracht den Worten ihre Aussage374 Zur Terminologie vgl. Bernstein (1971) 76 f.; 123 f. 375 Die Kommunikationswissenschaft spricht hier von einer asymmetrischen Kommunikationssituation. 376 Vgl. dazu etwa Grillo (1989) und mit Fokus auf England Jones (2004). 377 Auch diese Varietät ist letztlich eine Kunstform, da sie die mündliche „Alltagssprache“ imitiert. Zum Komplex „Mündlichkeit-Schriftlichkeit“ in Spätantike und Frühmittelalter allgem. Banniard (1992a). 378 Vgl. z.B. Hier. epist. 48,4; Pomer. 1,23; Greg. Tour. Hist. 1 praef. 379 Vgl. auch Salv. gub. praef. 3: Nos autem, qui rerum magis quam verborum amatores utilia potius quam plausibilia sectamur neque id quaerimus, ut in nobis inania saeculorum ornamenta sed ut salubria rerum emolumenta laudentur, in scriptiunculis nostris non lenocinia esse volumus sed remedia, quae scilicet non tam otiosorum auribus placeant quam aegrotorum mentibus prosint (…).

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie: kraft, wer wäre da nicht auch der Meinung, dass ich gekünstelte Perioden hätte vermeiden müssen, selbst wenn ich diese als ausgebildeter Redner zustande gebracht hätte? Deshalb scheint mir ein Satz ausreichend geschmückt zu sein, wenn er die Gedanken mit einer gewissen notwendigen Klarheit ausdrücken kann, und nicht, wenn er den Ohren gefallen will. (Pomer. 3,34,2 ed. Migne 59,520)

Die alte Sprachnorm der Bildungselite blieb in gewissen Kontexten aber weiterhin massgeblich, so etwa in der brieflichen Korrespondenz zweier christlicher Intellektueller wie Eugippius, dem Abt des Klosters Lucullanum bei Neapel, und dem römischen Diakon Paschasius. Im Begleitbrief zu seiner Lebensbeschreibung des heiligen Severinus bittet Eugippius seinen Adressaten, das beiliegende commemoratorium über Leben und Wunder des Severinus in eine literarisch angemessene Darstellung zu bringen. Es handle sich dabei um eine Materialsammlung, die er zuhanden eines vornehmen Laien (laicus nobilis) zusammengestellt habe, mit dessen Hilfe dieser ein Büchlein über das Leben des heiligen Severinus verfassen wolle. Dieser habe bereits in einem Brief, der vielfach rezipiert werde, das Leben des Mönches Bassus beschrieben. Indes seien ihm, Eugippus, Zweifel gekommen, ob jener für diese Aufgabe tatsächlich die richtige Wahl sei: (…) ne forsitan saeculari tantum litteratura politus tali vitam sermone conscriberet, in quo multorum plurimum laboraret inscitia et res mirabiles, quae diu quadam silentii nocte latuerant, quantum ad nos attinet ignaros liberalium litterarum, obscura disertitudine non lucerent. (…) denn vielleicht würde er, da er nur der weltlichen Schriften kundig ist, das Leben [des heiligen Severin] in einem Stil verfassen, den viele aus Unkenntnis kaum verstünden. Die Wunder, die lange Zeit in nächtlicher Stille verborgen waren, würden aufgrund der dunklen Beredsamkeit nicht in klarem Licht hervortreten – zumindest für jene wie mich, die der höheren Bildung entbehren. (Eugipp. epist. ad Pasch. 2)

Eugippius befürchtet also, dass der ungenannte Laie – zweifellos ein Angehöriger der Bildungselite – trotz bester Absichten die Vita in einem elitären Sprachstil abfassen werde, was zur Folge hat, dass sie für Menschen ohne höhere Bildung (ignaros liberalium litterarum) kaum verständlich sein wird. Die dunkle Eloquenz (obscura disertitudo) der zeitgenössischen Bildungssprache verhindert also eine weitere Verbreitung und verfehlt damit genau jene Wirkung, die sich Eugippius für die res mirabiles des Severinus in erster Linie wünscht. Daher will er nun lieber Paschasius bitten, den Stoff in eine angemessene literarische Form zu bringen. Im Gegensatz zu seinem hochstilisierten Begleitbrief ist Eugippius’ commemoratorium – die Titelwahl erfolgt wie bei Caesar in bewusster Ablehnung einer gängigen Gattungsbezeichnung380 – in einfachem und klarem Latein verfasst, das gleichwohl viele Elemente der literarischen Kunstprosa auf380 Der Terminus ist neben Eugippius noch bei Optatianus und Palladius bezeugt, vgl. ThLL 3,1830.

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weist.381 Angesichts der Redegewandtheit seines Korrespondenten (peritiae tuae facundia) sieht Paschasius seinerseits keinen Handlungsbedarf, wie er in seinem Antwortbrief erläutert: Et ideo, quia tu haec, quae a me narranda poscebas, elocutus es simplicius, explicasti facilius, nihil adiciendum labori vestro studio nostro credidimus. (…) und daher, weil du den Bericht, den du von mir forderst, selbst in recht einfachem Stil abgefasst und recht einsichtig dargelegt hast, glaube ich deinem Werk durch eigene Leistung nichts hinzufügen zu müssen. (Pasch. epist. ad Eugipp. 3)

Je nach Kommunikationssituation wechselt Eugippius pragmatisch zwischen den beiden in der zeitgenössischen Bildungskultur anerkannten Stilregistern. In den einzelnen sermones wählte er jeweils einen Mittelweg. Er bediente sich der stilistischen Möglichkeiten, die beide Register boten, also nicht in voller Radikalität: So ist sein Begleitbrief weder mit der dunklen Prosa seines Zeitgenossen Avitus zu vergleichen noch entspricht sein commemoratorium dem sermo simplex et communis der lateinischen Bibelübersetzungen. In der Hagiographie ist Eugippius’ doppeltes Vorgehen spätestens seit Sulpicius Severus, dessen Martinsvita sich in Stilistik und syntaktischer Komplexität erheblich vom einleitenden Widmungsbrief unterscheidet, gängige Praxis. Der Widmungsbrief dient ähnlich einer Praefatio als paratextuelle Legitimationsgeste, in der sich der Autor durch entsprechende Stilisierung als ein Angehöriger der Bildungsgemeinschaft vorstellt und letztlich damit auch die Verlässlichkeit des Inhalts garantiert. Das Beispiel verdeutlicht erneut die kommunikative Machtposition der spätantiken Bildungselite, die in der Wahl des sermo eine Inklusion oder Exklusion von bestimmten Rezipientenkreisen bewirkten konnte. Zugleich wird erneut in aller Klarheit deutlich, dass sich selbst in christlich-asketischen Kreisen in brieflicher Korrespondenz ein hochsprachliches Register in der Regel zu behaupten vermochte. 2.2.2. Distinktion und Privileg – Obscuritas als soziolinguale Strategie Literarische Dunkelheit spielt in ihren unterschiedlichen Facetten und Ausdrucksformen in verschiedenen Zeiten und Kulturen eine entscheidende Rolle in der Distinktion zwischen Eingeweihten und Aussenstehenden. Der Wunsch einer bestimmten Gruppe nach gesellschaftlicher Absonderung geht oft mit der Entstehung einer Art Sondersprache oder Slang einher, anhand der sich die einzelnen Mitglieder erkennen. Dies gilt für das Phänomen der Jugendsprache ebenso wie für literarische Zirkel. Als soziolinguale Strategie der Ausgrenzung wurde Obscuritas von der modernen Lyrik ebenso instrumentalisiert wie in okzitanischer Hofpoesie, war die programmatische Kultivierung einer hochgradig komplexen Literatursprache im jüdischen piyyuṭ 381 Zu Eugippius’ Stil vgl. allgem. Ruprechtsberger (1976).

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ebenso wie in der klassischen islamischen Dichtung Ausdruck eines Distanzierungsbestrebens.382 Je nach Kontext und Rezipientenkreis, den es auszugrenzen galt, genügte bereits die Verwendung eines bestimmten sprachlichen Registers, um unverständlich zu erscheinen, wie etwa in einem anonymen spanischen Text aus dem 10. Jahrhundert in ironischer Brechung deutlich wird: Ille est vituperandus qui loquitur latinum circa romançum, maxime coram laicis, ita quod ipsimet intelligunt totum; et ille est laudandus qui semper loquitur latinum obscure, ita quod nullus intelligat eum nisi clerici. Jener ist zu tadeln, der unter Romanen und besonders in Anwesenheit von Laien Latein in der Weise spricht, dass diese alles verstehen können; jener aber ist zu loben, der Latein verdunkelnd spricht, sodass ihn nur Kleriker verstehen können. (Bibl. Nac., Ms. S-164 fol. 65v)383

In Spanien des 10./11. Jahrhunderts war die romanische Volkssprache bereits so weit von ihrer Muttersprache entfernt, dass gesprochenes Latein nicht mehr verstanden wurde. Für gebildete Kleriker bot dies die Möglichkeit, sich von ihrem ungebildeten Umfeld durch eine Art Geheimsprache abzugrenzen. In der Antike waren sich Produzenten wie Rezipienten in gleicher Weise über die Ausgrenzungsfunktion dunkler Sprache einig: Von Heraklit hiess es, er habe mit Absicht eine dunkle Ausdrucksweise verwendet, um der Menge unverständlich zu sein. Ähnliches wurde Thukydides unterstellt.384 Horaz schliesslich wollte seine Gedichte programmatisch vor dem Zugriff des Pöbels verwahrt wissen (carm. 3,1,1). Obscuritas wird hier zum Garanten für Exklusivität und schützt zugleich die Erhabenheit der eigenen Poesie vor profanem Zugriff. Dies gilt, wie bereits erwähnt, in besonderem Masse auch für religiöse Kontexte. Innerhalb der spätrömischen literarischen Kommunikationskultur erfuhr intendierte Obscuritas eine Funktionalisierung als idiolektales Distinktionsmerkmal hochgebildeter Kreise. Teile der Bildungsgemeinschaft erkannten sich an der elaborierten Dunkelheit ihrer Sprache, die automatisch mit Bildung und Sozialstatus assoziiert wurde. Aus produktionsästhetischer Sicht erhellten sprachliche Verdunkelungen in literarischer Kommunikation somit die erfolgte Sozialisation des Individuums. Soziale Identität und Hierarchie waren damit gleichsam grammatikalisiert. Obscuritas war Bestandteil eines social act, einer auf der sprachlichen Ebene realisierten Zurschaustellung der

382 Vgl. mit Blick auf das Mittelalter die Beiträge in Ziolkowski (1996a). Zur modernen Lyrik vgl. u.a. Press (1958) 134–162, der die Dunkelheit der modernen englischen Lyrik mit der Isolation des Poeten innerhalb der Gesellschaft in Zusammenhang bringt. 383 Zit. nach Ziolkowski (1996b) 117 nach R. Menendez Pidal, Origines del espanol, 3. korr. u. erg. Aufl., Madrid 1950, 459 Anm. 1. 384 Zu Heraklit vgl. die Urteile bei Cic. nat. 3,13,35; de fin. 2,5,15. Zu Thukydides vgl. Marcellin. vita Thuk. 35.

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Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe385 und war damit konsensualer Bestandteil des prestigeträchtigen hochsprachlichen Registers, des sermo cultus. In besonderem Masse gilt dies wieder für die Epistolographie, die von ihrer generischen Anlage her ohnehin eine geschlossene Kommunikationssituation voraussetzt. Die stellenweise hochgradige Komplexität der in der Bildungselite ausgetauschten Briefe gewährleistete in zusätzlicher Weise die selektive Kommunikationsweise, von der die indocti grundsätzlich ausgeschlossen waren. Dem ästhetischen Ideal, das der hochstilisierte sermo epistolaris der spätantiken Bildungselite transportierte, kam in diesem Kontext eine funktionale Komponente zu, indem der Sprachschmuck symbolisch aufgeladen als Strategie einer sozialen Hierarchisierung fungierte.386 Die artifizielle Lichtsprache der Bildungselite trat damit in den Dienst sozialer Distinktionsstrategien.387 Mittels Stil und Sprachform wurde in Briefen in hohem Grad über Statusidentität, soziale Stellung und Klassenzugehörigkeit der beteiligten Personen verhandelt, wobei die festzustellenden Rollen- und Codewechsel ein lebendiges Abbild der unterschiedlichen sozialen Schichtungen innerhalb der spätrömischen Eliten ergeben. In Briefen sind gelehrte Anspielungen und Verrätselungen auf lexikalischer, syntaktischer oder inhaltlicher Ebene demnach nicht nur Ausdruck aristokratischer Freizeitvergnügungen oder epochenspezifischer ästhetischer Präferenzen, sondern markieren als gruppenspezifische Sprachregelungen auch eine bestimmte soziale Identität.388 In einem Brief, den Ausonius wohl kurz nach seiner Berufung an den Kaiserhof in Trier an den bei Bordeaux lebenden Dichter Theon richtete, wird mittels affektierter Obscuritas exemplarisch dessen Zugehörigkeit zum exklusiven Briefzirkel des Absenders provokant in Frage gestellt.389 Bei der polymetrischen Versepistel handelt es sich um einen typischen Zirkularbrief, 385 Zur Terminologie vgl. Ochs (1993) 287–306. 386 Vgl. Gioanni (2004) 542: „Nous croyons donc que la préciocité de plus en plus complexe des correspondances tardo-antiques définit une sorte de langage, l’idiome d’une noblesse chrétienne à laquelle ces épîtres offrent l’espace fermé d’une communication.“ Und Gioanni (2009) 20: «Expressions privilégiées de la culture aristocratique, ces correspondances entretiennent les vieilles solidarités à travers une langue précieuse qui apparaît comme un mode de communication, une stratégie de distinction et une pratique du pouvoir.» 387 Gioanni (2009) 22: „Véritable moyen de distinction social, la langue de „pourpre“ permettait aussi de développer une communication sélective. Du fait de leur complexité stylistique, certaines epistulae étaient en effet de véritables textes cryptés auxquels ne pouvaient que les personnes qui possédaient une parfaite maîtrise de la langue: la préciocité du sermo epistulaire excluait donc à la fois les indocti et une bonne partie des élites gothiques.“ 388 Über die kulturellen und linguistischen Konventionen, die diese social acts definierten, herrschte innerhalb der traditionell orientierten spätantiken Bildungsgemeinschaft zumindest in dem Sinne Übereinkunft, dass sie am überkommenen, in der Schule tradierten literarischen Kanon orientiert waren. Dies unterscheidet diese Epoche von der Moderne, der ein derartiger Kanon als festes Referenzsystem fehlt, vgl. Press (1958) 66–67. 389 Auson. epist. 13 ed. Green.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

der durch vielfältige intertextuelle Anspielungen sowie stilistische und metrische Variation herausragt und den Adressaten durch den provokanten Ton zu einer Replik herausfordert.390 Der Brief beginnt bereits in der Titulatur mit einer Spitze gegen Theon: Ausonius, cuius ferulam nunc sceptra verentur, paganum Medulis iubeo salvere Theonem. Ausonius, dessen strafende Rute nun Herrscher fürchten, lässt den Bauer Theon in Meduli grüssen. (Auson. epist. 13,1–2 ed. Green)

Durch die semantische Polyvalenz des Attributs paganus wird Theon in mehrfacher Weise von seinem am Kaiserhof tätigen Briefpartner negativ abgehoben. Bäuerlich, unkultiviert und ohne standesgemässes officium, so charakterisiert Ausonius seinen Adressaten.391 Thema und Ton des Briefes sind damit vorgegeben. Eine begriffliche Schärfung von paganus erfolgt zwei Verse später in der Apostrophierung des Adressaten als vates, dessen feierlicher Unterton in ironischem Kontrast zu den fruchtlosen und uninspirierten poetischen Versuchen Theons steht: Quid geris extremis positus telluris in oris, cultor harenarum vates (…)? Was treibst du, ansässig am äussersten Gestade der Welt? Pflügst du, ein [göttlich inspirierter] Dichter, den Sand? (Auson. epist. 13,3–4 ed. Green)

In Médoc an der Mündung der Garonne sind die Musen und Apollo fern (Vv. 8–9). Hier ist Theon ein Oxymoron, ein paganus vates. Die Junkturen cultor harenarum und litus arare nehmen die semantische Amphibolie von paganus vates auf und desavouieren die Bemühungen des vorgeblichen Dichters im Vornherein als sinnlose Plackerei.392 Doch welche Alternativen bleiben ihm? In parodistischer Brechung lässt Ausonius verschiedene Lebensentwürfe Theons an sich vorüberziehen: Handel (Vv. 17–21), Rechtspflege (Vv. 22–27), Jagd (Vv. 28–51), Fischfang (Vv. 52–62). Am Ende steht erneut die Dichtkunst, deren Göttinnen Theon jedoch durch seine unsachgemässen Bemühungen in schändlicher Weise „beflecke“ (incestare V. 63).393 Wegen dieser Dreistigkeit lässt sich Ausonius zu einer Digression hinreissen, in der er Theon den Unterschied zwischen kultivierter und lächerlicher Dichtkunst darlegt.394 Hintergrund dieser Episode sind offenbar 390 Literarische Anspielungen und Reflexe sind bei Green (1991) 627–632 aufgeführt. Vgl. ferner Smolak (1978). 391 Zu den Bedeutungen von paganus vgl. ThLL 10.1,78–84. 392 Zur sprichwörtlichen Bedeutung von litus arare vgl. die Stellen bei Smolak (1978) 176–177. 393 Vgl. Auson. epist. 16,1–2 ed. Green: Aurea mala, Theon, sed plumbea carmina mittis; / unius massae quis putet has species? 394 Auson. epist. 13,65–66 ed Green: et quoniam huc ventum, si vis agnoscere quid sit / inter doctrinam deridendasque Camenas (…).

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im Freundeskreis kursierende Plagiatsvorwürfe gegen Theon. Aus Mangel an Inspiration habe er einen gewissen Clementinus plagiiert und sich dadurch zum allgemeinen Gespött gemacht (Vv. 10–15; 103–104).395 Doch nicht nur das folgende Lehrstück über Hendecasyllabi (Vv. 82–93), sondern der ganze Brief kann als Paradestück subtiler poetischer Imitationstechnik gelesen werden, indem einschlägige Stellen aus Horaz und Persius – dem poeta obscurus par excellence – miteinander verquickt wurden.396 Während Ausonius die Halbbildung seines Adressaten demaskiert, führt er zugleich beispielshaft vor, wie kunstgemässe Imitation anderer Poeten vor sich gehen müsste. Voraussetzung dieser Belehrung ist jedoch, dass Theon sie als solche erkennt. Unterschwellig verhandelt der Brief also dessen Zugehörigkeit zum gelehrten Kreis um Ausonius. Auf sprachlicher Ebene wird dies konventionell mittels literarischen Anspielungen, gelehrten Wendungen und semantischer Ambivalenz vollzogen. Theons literarische Kompetenz wird von Ausonius aber auch explizit in Frage gestellt: Accipe congestas, mysteria frivola, nugas, quas tamen explicitis nequeas deprendere chartis, scillite decies nisi cor purgeris aceto Anticyramque bibas, Samii Lucumonis acumen.

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Nimm hier diese locker aus der Hand geschüttelten Rätselspiele, die du trotz offen aufgeschlagener Seite nur dann verstehen kannst, wenn du deine Brust zehnmal mit Meerzwiebelessig reinigst und dir mit Nieswurzsaft aus Ancyra den Scharfsinn des samischen Lucumo antrinkst. (Auson. epist. 13,67–70 ed. Green)

Diese Provokation, die Ausonius mit Referenz auf die poetische Tradition in gelehrter Periphrase verrätselt,397 wird alternierend und durch einen Metrumwechsel übersteigert im Folgenden weiter ausgeführt: Aut adsit interpres tuus, aenigmatum qui cognitor fuit meorum, cum tibi Cadmi nigellas filias, Melonis albam paginam notasque furvae sepiae Cnidiosque nodos prodidit.

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395 Das dies möglicherweise im Cento-Stil geschah, legt Vers 5 nahe, der ein unverändert übernommener Vergilvers darstellt (= Aen. 4,480). Ausserhalb des Cento nuptialis ist dies im Werk des Ausonius eine Seltenheit und deshalb besonders markant, vgl. Green (1991) 628; Smolak (1978) 177. 396 Vgl. Smolak (1978) 185–186. 397 Anticyra, hier metonymisch für sucus Anticyranus, war berühmt für seinen Nieswurz, der als Heilmittel gegen Wahnsinn galt, vgl. Porph. in Hor. ars. 300: SI TRIBUS ANTICYRIS CAPUT INSANABILE. Locus est in Achaia Anticyra, ubi elleborum nascitur, quo sumpto dementes sanantur. Vgl. ferner Hor. serm. 2,3,83; Ov. pont. 4,3,54; Pers. sat. 4,16. Beide Heilmittel stehen nebeneinander bei Verg. georg. 3,451. Auch Meerzwiebelessig galt in der Antike als Allerweltsheilmittel, vgl. Plin. nat. 20,97–101; nat. 23,59. Samius Lucumo ist eine gelehrte Paraphrase für Pythagoras, vgl. Green (1991) ad loc.; Mondin (1995) ad loc.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

nunc adsit et certe, modo praesul creatus litteris, enucleabit protinus quod militantes scribimus.

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Oder aber dein kundiger Ausleger kommt dir zu Hilfe, der meine Rätsel kennt und dir die schwarzen Töchter des Cadmus, das weisse Blatt des Melos, die Zeichen des dunklen Tintenfischs und die knidischen Knoten beibrachte. Nun soll er, gerade zum Lehrmeister der literarischen Studien ernannt, dir zur Seite stehen. Sicherlich wird er sogleich entschlüsseln, was ich kampfeslustig schreibe. (Auson. epist. 13,71–81 ed. Green)

Interpres, aenigma, cognitor und enucleare bilden eine Kette einschlägiger Schlüsselbegriffe, die den Hermetismus von Ausonius’ Sprache benennen und im Mysterien-Kontext verorten. Mit derselben Initiations-Metaphorik bezeichnet Ausonius auch an anderen Stellen seines Werks die Exklusivität adäquater Rezeption.398 So wird im Widmungsbrief zur Bissula der Rhetor Axius Paulus, der auf die Veröffentlichung dieses Gedichtzyklus’ insistierte, zum Eindringling ins Innere von Ausonius’ Musentempel (operta Musarum mearum) stilisiert. Bisher lag das Werk nämlich im Dunkel des Mysterienkults verborgen (quae initiorum obscuritas velabat).399 Freilich wird sofort klargestellt, dass Paulus, einem engen Freund und Mitglied des inneren Briefzirkels, dieser Zugang prinzipiell offen steht. Er sei kein profanus aus dem gemeinen Volk, wie ihn auch Horaz von seinen Gedichten fern wissen wollte.400 Anders verhält es sich nun beim paganus vates Theon, der einen eingeweihten interpres benötigt, um Ausonius’ aenigmata zu entschlüsseln.401 Damit wird er implizit zum profanus erklärt und ist faktisch vom inneren Briefzirkel ausgeschlossen. An der Ernsthaftigkeit dieser Drohung darf freilich gezweifelt werden. Die Versepistel will kaum mehr sein als neckische Provokation, mit der Ausonius seinen Freund zu einer ebenso geistreichen Antwort herausfordert. Trotz gegenteiliger Ansichten in der Forschung gehörte Theon fraglos zum Zirkel des Ausonius und beherrschte den hier gepflegten Subcode.402 398 Es handelt sich dabei bezeichnenderweise um Kleinformen: Auson. Biss. praef.; griph. praef. 47: profanum vulgus. 399 Der Brief ist voller Anspielungen auf die Mysterienkulte (Kybele, Isis, Mithras), wie sie besonders in der Spätantike verbreitet waren. Die Vorstellung vom Buch als eines Tempels, an dessen Wänden Gedichte eingeritzt sind, findet sich in Carm. Priap. 2, von wo Ausonius dieses Motiv neben anderen Anklängen auch übernommen hat, vgl. Dräger (2002) 184. 400 Auson. Biss. praef.: quamquam non profanus (…). quamvis enim te non eius vulgi existimem quod Horatius arcet ingressu. 401 Über die Person dieses interpres herrscht Uneinigkeit: Green (1991) ad loc. identifiziert ihn mit Bacchus, während Pastorino (1971) ad loc. in ihm Clementinus erblickt. 402 Dies zeigen u. a. die zahlreichen Briefe an ihn (epist. 14; epist. 15; epist. 16 ed. Green). Anders Pastorino (1971) 47 und Smolak (1978) 175, die ihn als zimbello des AusoniusKreises bezeichnen, der trotz mangelnden literarischen Fähigkeiten dazugehören will, aber nicht ernst genommen wird. Mondin (1995) 84 sieht in ihm einen „emblematico rappresentante della borghesia rurale aquitanica.“

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Die Epistel verdeutlicht in anschaulicher Weise, wie mittels Androhung und Realisierung von dunkler Sprache der Exklusivitätsanspruch einer bestimmten sozialen Gruppe innerhalb der spätantiken Gesellschaft inszeniert wurde. Affektierte Obscuritas diente in diesem Kontext nicht der Ausgrenzung des Adressaten, sondern war vielmehr ostentative Selbstvergewisserung, inszenierter social act einer Elite, die sich über literarische Andeutungen, gesuchte Ambivalenz und geistreiche Verrätselungen definierte. Klassischer Bildungshintergrund und Sprachkompetenz sind die entscheidenden Voraussetzungen für die Zugehörigkeit zu dieser privilegierten In-group.403 Nicht alle spätantiken Epistolographen haben zu diesem Zweck das Textverständnis bewusst manipuliert. Die Briefe des Symmachus zeichnet wie jene des Ruricius eine offene, jedem zugängliche Form aus.404 Das Wesentliche bestand hier nicht darin, einen solchen Brief zu verstehen, sondern ihn zu erhalten. Der Empfang eines Briefes bestätigte dem Adressaten implizit seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe.405 Ab Mitte des 5. Jahrhunderts, als Bildung immer stärker zum vornehmlichen Zeichen von Adel wurde,406 gewann gelehrtes Verstehen aber zunehmend an Bedeutung. Vor diesem Hintergrund erklären sich die intensiven Anstrengungen, die gebildete Aristokraten wie Sidonius Apollinaris, Ruricius und Ennodius für die Ausbildung ihrer Söhne und Neffen aufbrachten.407 Die bei spätantiken Epistolographen leitmotivisch erscheinende Schul-Metaphorik zeugt vom Engagement, mit dem man bei der Vermittlung von literarischem Wissen und römischer Kultur zu Werke ging.408 Ennodius dankt dem Grammatiker und Rhetor Deuterius in einer gratiarum actio für die erfolgreiche Ausbil-

403 Innerhalb dieser Zirkel erschien der jeweilige Sprachstil natürlich weniger obskur. Die einzelnen Mitglieder verbindet ein gemeinsamer Hintergrund, der sich in ihrer Ausdrucksweise spiegelt. Vgl. dazu mit Fokus auf das Mittelalter die Bemerkungen von Ziolkowski (1996b) 117–118: „Many medieval texts were written for small courts – monastic, episcopal, noble, or royal – where the audience had often progressed through the same basic education, had heard many of the same texts read aloud for entertainment and edification, and had shared many of the same recent experiences. These circles would have resembled what we know as cliques. The authors of texts written for such restricted audiences would almoust involuntarily have used a shorthand of references and words (…). What may have been meant as philological amusements among scholars who shared the same vocabularies and readings can sometimes becomes philological nightmares to us. Furthermore, they would sometimes have deliberately cultivated the exclusivity of inside jokes, inside or in-words and even inside or in-constructions as a means of reinforcing or demonstrating their unity as a group.“ 404 Zu Ruricius ausführlich weiter unten: S. 288–297. 405 Vgl. Fuhrmann (1998) 264 ff. 406 Dazu etwa Mathisen (2001) 102–103; Gioanni (2006) LXXVIff. 407 Zu Sidonius ausfühlich Gerth (2013) 160–171. Vgl. etwa Ruric. epist. 1,3,29–40. Vgl. zu dieser Thematik u. a. auch Loyen (1943) 172; Mathisen (1988) 51. 408 Gioanni (2006) LXIV: „L’enseignement et la transmission culturelle restent une véritable obsession.“

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

dung seines Neffen Parthenius.409 Dieser verfüge nun über eine seiner vornehmen Herkunft angemessene Bildung, ohne welche seine adlige Abstammung nicht zur Geltung gekommen wäre, denn: nullo enim teste nobilitatis utitur, cuius sanguinem non prodit instructio („Keinen Beweis seines Adels hat der, dessen vornehme Abstammung nicht durch Unterweisung offenbart wurde“: dict. 10,4 ed. Vogel, 118,19).410 Den Prozess dieser Unterweisung verdeutlicht Ennodius mit einem Gleichnis: Deuterius habe wie ein Goldschmied das ungeschliffene ingenium seines Neffen bearbeitet und dem Ertrag verborgener Adern (latentium fetibus venarum) eine feste Form gegeben. Erst die Formung des Lehrers lässt bei seinem Neffen den Glanz adliger Geburt hervortreten, welche andernfalls von Unwissenheit verdunkelt geblieben wäre.411 Dieselbe Auffassung tritt uns in einem seiner Epigramme entgegen. Auch hier vergleicht er das menschliche ingenium mit Gold, das erst, wenn es entdeckt, gereinigt und poliert wird, seinen wahren Glanz entfaltet. Auch hier ist der Sprachstil ein Indikator für gute Herkunft und Charakter: Eloquium certus naturae constitit index, perfecti fontem quaerere qui sitiat. libertas semper studiis reseratur honestis, infabricata latet nobilitas tenebris. captivum venis servasset terra metallum, ni daret inventor quod vocat in medium. scrutator fulvum concessit pallidus aurum: qui polit ingenium, sic facit esse suum.

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Die Beredsamkeit ist ein sicherer Hinweis der Herkunft, da sie danach dürstet, die Quelle der Vollendung aufzuspüren. Freie Geburt offenbart sich während ehrenvoller Studien; im Dunkeln verborgen ist der Adel, solange er keine Ausbildung erhält. Die Erde hätte das Gold, in ihrem Innern verschlossen, für sich behalten, hätte der Goldsucher nicht dafür gesorgt, dass sie das Metall ans Licht bringt. Wer kraftlos sucht, gibt das rötlichglänzende Gold verloren; nur wer an seiner Begabung arbeitet, macht sie zu seinem Besitz. (Ennod. carm. 2,16,1–8 ed. Vogel, 124)

Adlige Geburt und Bildung bedingen einander. Die Qualitäten, über die Parthenius verfügt, sind ihm durch seine Abstammung von Natur aus gegeben, sie benötigen aber den Schliff der Schule, um sich zu entfalten. In dieser Auffassung wird Bildung zu einem exklusiven Zeichen eines Geburtsadels, der allein über die natürliche Veranlagung verfügt, um mit Hilfe des Lehrers das traditio-

409 Ennod. dict. 10. Vgl. zum Folgenden die präzise Studie von Kennell (2000) 51–55. 410 Vgl. Ennod. dict. 9,5 ed. Vogel, 113,9–10 (über einen Lehrer): libertatis index, boni testimonium sanguinis, ingeniorum lima. 411 Ennod. dict. 10,5–6 ed. Vogel, 118,21–27: quia bonorum semper meritorum labes est habere lucem sanguinis et nocte rusticitatis includi, prodi stemmatum vocibus et imperitia fuscante delitiscere. aurum nihil est, nisi manu conponatur artificis et fulvo pretium metallo lima fabricante iungatur. (…) fornacis beneficio de latentium fetibus venarum quod in solidi transit speciem ferro dominatur et effera hominum corda domitrice adfectione captivat. Ganz ähnlich ist auch in Ruric. epist. 1,3 die Aufgabe des Lehrers geschildert.

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nelle römische Bildungsgut zu erlernen und weiterzutradieren.412 Der barbarischen Oberschicht hingegen fehlt damit schon a natura die Rückbindung an das römische Bildungssystem und deren Inhalte. Damit ist trotz einer politisch aus den Fugen geratenen Welt das adlige Selbstbewusstsein wieder hergestellt. Der gebildete römische Senator unterscheidet sich von seinem ungebildeten germanischen Nachbarn „wie der Mensch vom Vieh“,413 eine Einschätzung, die dem traditionellen römischen Germanenbild vollauf entsprach.414 War die Ausbildung erfolgreich und entsprachen die literarischen Werke der jungen Aristokraten den hohen stilästhetischen Ansprüchen der Zeit, erhielten sie die Wertschätzung der Standesgenossen.415 Generell waren spätantike Autoren mit ihrem Lob für fremde literarische Leistungen nicht zurückhaltend. Die überschwenglichen Glückwünsche, mit denen Literaten wie Sidonius Apollinaris die Briefkunst ihrer Freunde regelmässig überschütteten,416 waren zugleich eine Form der Bestätigung ihrer Zugehörigkeit zur Bildungselite im Allgemeinen und der jeweiligen In-group im Besonderen. Neben literarischer Obscuritas zählte im Kreis des Ausonius auch das Phänomen des Code-Switching zu den Techniken der Distanzierung oder Ausgrenzung von Aussenstehenden. Der fliessende Wechsel zwischen Griechisch und Latein, der sowohl in der literarischen wie in der epistolographischen Tradition Vorläufer besass,417 erzielte angesichts schwindender Griechischkenntnisse im Westen des römischen Reiches einen erheblichen Verdunkelungseffekt.418 Bereits lange vor der Spätantike fehlten ausserhalb eines kleinen Kreises hochgebildeter Aristokraten oftmals die Grundlagen für eine adäquate Partizipation an einer derartig elaborierten Kommunikationsform.419 412 Zur allgemeinen Bedeutung der Bildung für den Adel nach Ansicht des Ennodius vgl. Schröder (2007) 88–96 413 Sidon. epist. 4,17,2. 414 Zur römischen Vorstellung der Germanen als Tiere in menschlicher Gestalt vgl. etwa Vell. Pat. 2,117,2: homines qui nihil praeter vocem membraque habent hominum; Liv. 29,17,11: nec hominis quicquam est, patres conscripti, praeter figuram et speciem. Zum römischen Barbarenbild in der Spätantike allgem. Ladner (1976); Heather (1999). Everschor (2007) hat die Beziehungen zwischen Römern und Barbaren im 4. und 5. Jh. auf der Grundlage des epistolographischen Kontakts untersucht. 415 Vgl. Sidon. epist. 9,14,3 an den jungen Burgundio, der trotz seines Namens ein Angehöriger der gallorömischen Aristokratie war, vgl. Heinzelmann (1982) 572. 416 Die Stellen sind zahlreich. Vgl. für Sidonius Apollinaris etwa die Zusammenstellung und Analyse bei Fernández López (1994) 70–84 („Cartas de juicio literario“). 417 Eine allgem. Einführung in das Phänomen bietet etwa Adams (2003) 297–416. Zu Ausonius umfassend Rochette (2007). 418 Rochette (2007) 194: „Le grec est une sorte de code, une „langue de connivence“, entre membres de la haute société.“ Zu den Griechischkenntnissen im Westen des Imperiums in der Spätantike vgl. weiter oben: S. 86. Spezifisch zu Ausonius: Green (1990). Die spätantike Epistolartheorie empfielt eine massvolle Verwendung von Gräzismen, vgl. Iul. Vict. rhet. ed. Giomini/Celentano, 106,14–15: Graece aliquid addere litteris suave est, si id neque intempestive neque crebro facias. 419 Dass gerade bei literarischen Anspielungen selbst gute Griechischkenntnisse nicht im-

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

Code-Switching in Briefen ist somit nicht nur ein gelehrtes literarisches Spiel, sondern auch esoterische Verschlüsselung mit nicht unerheblichen sozialen und kulturellen Implikationen. So wird bei Ausonius durch emblematischen Codewechsel zugleich auch eine bestimmte Gruppenidentität markiert, für welche die literarische Zweisprachigkeit der griechisch-römischen Kulturwelt weiterhin als Leitinstanz galt.420 Auch wenn je nach Umständen die Motivationen und Funktionen dieses interlingualen Wechsels in Briefen im Einzelfall variierten und Obscuritas nicht immer im Vordergrund stand, gehörte diese Technik doch zu den elementaren, einem unmittelbaren Textverständnis entgegenstehenden manipulativen Strategien der Bildungselite.421 Die durch Kodierungsmethoden dieser Art erreichte Distanzierung oder Ausgrenzung bestimmter Rezipientenkreise zielte indes nicht nur auf die bildungsferneren Schichten, sondern konnte sich auch gegen Angehörige der Bildungsgemeinschaft selbst richten. So ermöglichten bestimmte Realisierungsformen von Obscuritas gewissen Zirkeln, sich dem Zugang von aussen weithin zu entziehen. Dabei handelt es sich um eine Radikalisierung jener Tendenzen, die brieflicher Kommunikation ohnehin schon inhärent sind. Dieses horizontale Abgrenzungsstreben stellte die Verbindlichkeit einer gemeinsamen, reichweiten Bildungssprache als elitäres Distinktions- und Integrationsmerkmal aber letztlich ebenso in Frage, wie es der sermo humilis tat. Eine einfache und effektive Methode einer derartigen esoterischen Verschlüsselung war die Kodierung von Eigennamen oder von Gesprächstgegenständen. Die Wahl des Codes verrät dabei einiges über die spezifische Gruppe und ihre Identitätskonzeptionen. Schon Cicero hatte in seinen Briefen bestimmte Eigennamen mittels griechischer und lateinischer Substitute verdunkelt.422 Einer anderen Tradition zugehörig, jedoch prinzipiell demselben Zweck verpflichtet sind literarische Pseudonyme, wie sie etwa in der römischen Liebeselegie oder in der Satire Verwendung fanden.423 Von einiger Bekanntheit ist das Spiel mit den literarischen Spitznamen, die am Hof Karls des Grossen von Alkuin und seinem Kreis vorwiegend in literarischer Korrespondenz gepflegt wurde.424 Eine ähnliche, zeitlich limitierte Verwendung von Spitz- oder Übernamen in Briefzirkeln lässt sich in der Spätantike für

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mer zur vollständigen Dechiffrierung genügten, betont mit Blick auf Cicero etwa Adams (2003) 330. Rochette (2007) 188–190, 194. Der Adressat von epist. 2–8 ed. Green, der Rhetor Axius Paulus, war wie Ausonius zweisprachig. Zur Terminologie vgl. Wenskus (1998). Zu den verschiedenen Funktionen von brieflichem Codewechsel am Beispiel von Ciceros Korrespondenz vgl. Adams (2003) 308–347. Vgl. dazu weiter unten: S. 255. In epist. 3,13 entwirft Sidonius gegenüber seinem Sohn das Negativbild des Parasiten Gnatho. Die reale Person, auf die hier zweifellos angespielt wird, trägt als satirischen Decknamen den Namen des Parasiten aus Terenz’ Eunuchus. Zu den satirischen Elementen des Briefs vgl. Blänsdorf (1993). Dazu ausführlich Garrison (1998).

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Sidonius Apollinaris nachweisen.425 Auch hier fungierten Spitznamen gegen innen als Integrationsmechanismus, gegen aussen als Distanzierungsmerkmal. Dass eine derartige inhaltliche Kodierung für Nicht-Eingeweihte erhebliche Verständnisschwierigkeiten erzeugte, zeigt ein Brief des Sidonius an Lupus von Périgueux. Darin sieht Sidonius sich genötigt, seinen Adressaten, der ihn um eine Probe seiner Dichtkunst gebeten hatte, erst in das dem beigelegten Gedicht zugrundeliegende Versteckspiel einzuweihen. Das Gedicht habe er einst auf dem Weg nach Bordeaux als „Einquartierungsbrief“ (pagina metatoria) an Lampridius vorausgeschickt: Hic [sc. Lampridius] me quondam, ut inter amicos ioca, Phoebum vocabat ipse a nobis vatis Odrysii nomine accepto. quod eo congruit ante narrari, ne vocabula figurata subditum carmen obscurent. Dieser nannte mich einst – es war ein Spass unter Freunden – Phoebus; ich gab ihm den Namen des Odrysischen Sehers [Orpheus]. Dies vorher zu erwähnen, war angebracht, damit die verstellten Namen das unten aufgeführte Gedicht nicht verdunkeln. (Sidon. epist. 8,11,3)

Lupus gehörte offenbar nicht zum engen Freundes- und Verwandtenkreis, zur In-group des Sidonius, weshalb er nachträglich über diese private literarische Konvention informiert werden musste.426 Gerade dem engeren Kreis dürften Scherze dieser Art (ioca inter amicos), die auch in anderen Kontexten anklingen, aber durchaus bekannt gewesen sein.427 Das Spiel mit Decknamen findet sich möglicherweise auch im Briefkorpus des Avitus von Vienne.428 Als radikales Element einer soziolingualen Strategie der Abgrenzung gegen aussen und der Absicherung gegen innen fungierte Obscuritas als ein vorrangiges Distinktionsmerkmal der spätantiken Bildungselite. In Gallien erhielt das Phänomen ab Mitte des 5. Jahrhunderts neben einer soziologischen zusätzliche noch eine politisch-ideologische Dimension, als man sich mittels Sprache und Stil immer stärker gegen einen politisch und militärisch überlegenen Gegner abschottete.

425 Vgl. bes. Mathisen (1991). Ferner Loyen (1943) 53 Anm. 27; Kaufmann (1995) 287; Fo (1999) 24 f. 426 Wenn die Mitglieder dieser In-group anhand der Anzahl an sie gerichteter Briefe und Gedichte des Sidonius rekonstruiert werden können, gehörten dazu u. a. Magnus Felix (5 Briefe, carm. 9); Graecus von Marseille (5 Briefe, 1 eigener Brief, alias erwähnt); Simplicius (5 Briefe); Apollinaris (5 Briefe); Constantius von Lyon (4 Briefe); Lupus von Troyes (4 Briefe, alias erwähnt); Ruricius von Limoges (3 Briefe, carm. 10–11); Petronius (3 Briefe, alias erwähnt); Ecdicius (2 Briefe, carm. 20); Faustus von Riez (2 Briefe, carm. 16). 427 Mathisen (1991) 34. 428 Vgl. die vieldiskutierte Stelle in Avit. epist. 51 ed. Peiper, 81,2–3: etiam senem quandocumque Arcadium non pudebit. Während Mathisen (1981) 99 den senex Arcadius als Apollinaris’ Schwiegervater identifiziert, halten Shanzer/Wood (2002) 346–348 die Bezeichnung als Decknamen für Sidonius Apollinaris, den Vater des Adressaten. Wieder anders ist die Interpretation von Prévot (2004) 256 Anm. 60 und Hecquet-Noti (2005), die beide Arcadius für den Sohn des Apollinaris halten.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

2.2.3. Indicium nobilitatis – Sidonius Apollinaris’ Narrativ des literarischen Verfalls und die politisch-ideologische Dimension von Obscuritas In der Spätantike hatten sich mit den Briefzirkeln regelrechte speech communities herausgebildet, die über eine komplexe, elaboriert-verdunkelte Kunstsprache miteinander kommunizierten. Diese stand nicht nur in Konkurrenz zum simplex communisque sermo, wie ihn Lactantius dezidiert für christliche Erbauungsliteratur eingefordert hatte,429 sondern strapazierte infolge affektierter Obscuritas auch die consuetudo der Bildungsgemeinschaft in nicht unerheblichem Masse. Diese diastratische Varietät, die von einer kleinen Elite in Kleingedichten und Briefen gepflegt wurde, scheint nun im Gallien des 5. Jahrhunderts zunehmend ideologisch aufgeladen und von ihren Mitgliedern als Vehikel zur Abgrenzung gegen den Einfluss einer fremden (d. h. germanischen) Kultur instrumentalisiert worden zu sein. In diesem Prozess kam der klassischen Bildung als zentraler Referenzpunkt einer textlich überlieferten und damit gleichsam virtuellen Romanitas entscheidende Bedeutung zu. Sie garantierte die identitäre Festigung der privilegierten Gruppe, die wesentlich mit der von ihr gepflegten Sprachkultur verknüpft war. Für die gallorömische Bildungselite war der von ihr vornehmlich in brieflicher Kommunikation gepflegte sermo cultus als elitäres Kondensat römischer Literatur und Sprache also nicht mehr nur elitäres Distinktionsmerkmal gegenüber anderen gallorömischen Bevölkerungsgruppen oder Eliten, sondern wurde gleichzeitig zu einem kulturellen Rückzugsraum, der vor einer Einflussnahme der politisch immer dominanter auftretenden Germanen sicher zu sein schien.430 Diese These soll im Folgenden vor dem Hintergrund einer viel diskutierten Thematik, dem Narrativ des literarischen Verfalls in Gallien, genauer ins Auge gefasst und argumentativ gefestigt werden. Um das Jahr 478, bald nach dem endgültigen Zusammenbruch der kaiserlichen Zentralgewalt in Gallien, dem ein mehrere Jahrzehnte dauernder schleichender Rückzug der militärischen und administrativen Behörden vorausgegangen war, schrieb Sidonius Apollinaris einen kurzen, aber denkwürdigen Brief an den gallischen Rhetoriklehrer Johannes: Credidi me, vir peritissime, nefas in studia committere, si distulissem prosequi laudibus, quod aboleri tu litteras distulisti, quarum quodammodo iam sepultarum suscitator, fautor, assertor concelebraris, teque per Gallias uno magistro sub hac tempestate bellorum Latina tenuerunt ora portum, cum pertulerint arma naufragium. Ich glaubte, mein äusserst gelehrter Freund, an den literarischen Studien ein Unrecht zu verüben, wenn ich es aufgeschoben hätte, dich dafür zu loben, dass du den Verfall der li429 Lact. divin. inst. 6,21,5. Vgl. weiter oben: S. 88. 430 Amherdt (2001) 16: „En défandant une tradition culturelle à laquelle elle seul peut accéder, l’aristocratie se distingue nettement du reste de la population et des barbares.“; Gioanni (2006) CXXIX: „La préciocité du sermo épistolaire vise donc autunt à rassembler la nobilitas chrétienne qu’à exclure les indocti et sans doute aussi une bonne partie des élites gothiques.“

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terarischen Bildung hinausgezögert hast; sie lag ja in gewisser Weise schon begraben. Als ihr Erwecker, Gönner und Beschützer wirst du nun gefeiert: Bei dir, dem letzten Rhetoriklehrer Galliens, hat in dieser kriegerischen Zeit die lateinische Beredsamkeit einen sicheren Hafen gefunden, während die Waffen Roms bereits Schiffbruch erlitten haben. (Sidon. epist. 8,2,1)

Sidonius rückt in seiner captatio zwei zeitgenössische Diskurse in einen unmittelbaren Kausalzusammenhang: Die militärische Katastrophe, die über das Römische Reich im Allgemeinen und über Gallien im Besonderen hereingebrochen war, hatte direkte Konsequenzen für das kulturelle Leben der Gallorömer. Der politische Machtverlust war nach Sidonius’ Ansicht gleichsam der Auslöser für den Niedergang von Bildung und Gelehrsamkeit in Gallien. Diese negative Einschätzung seiner Zeit ist an dieser Stelle nicht singulär, sondern durchzieht geradezu leitmotivisch sein Briefkorpus.431 Dieses vordergründige Krisen- und Dekadenzbewusstsein, das sich sporadisch auch bei anderen spätantiken Autoren findet,432 wurde von der älteren Forschung als Bestätigung ihrer eigenen negativen Bewertung dieser Epoche angesehen.433 In diesem Kontext wurde auch die „manierierte“ Dunkelheit der zeitgenössischen Literatur gerne als Verfallssymptom434 beziehungsweise als Ursache des Niedergangs435 ins Spiel gebracht. Der erste Deutungsansatz stösst dann an seine Grenzen, wenn literarische Obscuritas nicht als Unvermögen, sondern als autorintendierter Ausdruck einer zeitgebundenen Sprachästhetik verstanden wird. Der zweite missachtet einerseits, dass es sich dabei in der 431 Vgl. u.a. Sidon. epist. 2,10,1; epist. 4,17,2; epist. 5,10,4; epist. 8,6,3; epist. 9,7,2; epist. 9,9,16. Zur Thematik des Bildungsverfalls mit Fokus auf Sidonius Apollinaris vgl. etwa Mathisen (1988); Mathisen (1993) 105–110; Gerth (2013) 183–199. 432 Namentlich in der 1. Praefatio in Gregor von Tours’ Decem libri historiarum: Decedente atque immo potius pereunte ab urbibus Gallicanis liberalium cultura litterarum (…) nec repperire possit quisquam peritus dialectica in arte grammaticus, qui haec aut stilo prosaico aut metrico depingeret versu: ingemescebant saepius plerique, dicentes: Vae diebus nostris, quia periit studium litterarum (…). Vgl. auch Claud. Mam. epist. ad Sapaudum ed. Engelbrecht, 203–206. Gleichwohl ist Sidonius Apollinaris der hervorragende Vertreter des gallischen Dekadenzbewusstseins. Wie stark er mit diesem Narrativ sein Umfeld beziehungsweise Gregor von Tours beeinflusste, bedarf der weiteren Abklärung. Ungleich positiv ist aber das Bild, das Venatius Fortunatus in seinen Werken von der Kultur des Merowingerreichs gezeichnet hat, vgl. dazu etwa Stroheker (1948) 132 f. 433 U. a. von Chadwick (1955) 296. Kritisch dazu etwa Mathisen (1988) 47–48. Noch für Kaufmann (1995) 263 bestanden die literarischen Studien der spätantiken Autoren in der „Konservierung des Erbes der Vorfahren“, da bei ihnen selbst „der schöpferische Geist… verschwunden [war].“ 434 Vgl. Auerbach (1958) 194. Die Verbindung zwischen einem kulturellen Verfall und einem dunklen Sprachstil erfolgt traditionell aus „klassizistischer“ Perspektive, vgl. Mehtonen (2003) 49 mit Verweis auf Giambattista Vico (1711–1741), der den Niedergang der lateinischen Literatur im 1. Jh. n. Chr. beginnen liess, als ein improprium et obscurum sermonis genus in Mode gekommen sei. 435 In diese Richtung etwa Mathisen (1988) 50 Anm. 16: „One might at least wish to consider the possibility that the Gallic litterateurs even helped the „decline“ along, in one sense, by affecting an obscure litterary style intelligible only by those versed in current Gallic literary usages.“

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

Literaturgeschichte um kein singuläres Phänomen handelt, und andererseits, dass in dieser Zeit durchaus auch „verständliche“ Literatur produziert wurde. Nun scheint der Verfallsdiskurs, den Sidonius in seiner Briefsammlung so wirkungsvoll inszenierte, aus mehrfacher Hinsicht einer neuen Lesart zu bedürfen. Im Folgenden wird in einem ersten Schritt die Frage nach der spezifischen literarischen Funktion dieses Narrativs innerhalb der jeweiligen brieflichen Kommunikationssituation, in der er geäussert wurde, gestellt (1). Es ist nämlich durchaus auffällig, dass Sidonius seine diesbezüglichen zeitkritischen Äusserungen stets innerhalb eines panegyrischen Kontextes vollzog. Auf Grundlage dieser Erkenntnisse kann dann die allgemeine Bedeutung und Relevanz, die Sidonius dem kulturellen Niedergang in Gallien zumass, generell angezweifelt werden (2). Seine Klage scheint weniger auf einer kontemporären linguistischen Realität zu gründen, vielmehr ist der hyperbolisch inszenierte Niedergang appellativ als Ermunterung zur Pflege des sermo cultus im Sinne eines exklusiven Elitencodes zu verstehen.436 1. Die im Brief an Johannes gezogene Verbindung zwischen der politischen Krise des Reichs und dem kulturellen Verfall in Gallien ist nicht das einzige Deutungsparadigma, mit dem Sidonius den Niedergang zu erklären sucht. In einem Brief an Namatius rekurriert er in einem ganz ähnlichen Kontext auf die antike Vorstellung der Weltzeitalter: Licet quis provocatus nunc ad facta maiorum non inertissimus, quis quoque ad verba non infantissimus erit? namque virtutes artium istarum saeculis potius priscis saeculorum rector ingenuit, quae per aetatem mundi iam senescentis lassatis veluti seminibus emedullatae parum aliquid hoc tempore in quibuscumque, atque id in paucis, mirandum ac memorabile ostentant. Zugegeben, wer würde heutzutage, wenn er zu einem Vergleich aufgefordert wäre, angesichts der Taten der Vorväter nicht als Schwächling erscheinen, wer im Vergleich zu ihren Worten nicht als sprachunfähiges Kind? Denn die Tauglichkeit zu diesen Künsten hat der Lenker der Jahrhunderte jener alten Zeit in vorzüglicherer Weise eingepflanzt. Nun sind sie im Zeitalter einer ergreisenden Welt kraftlos geworden und bringen, da der Samen erschöpft ist, kaum noch Erstaunliches und Denkwürdiges bei irgendjemandem hervor – und wenn, dann auch nur bei ganz wenigen Menschen. (Sidon. epist. 8,6,3)

Die Kräfte der Welt sind erschöpft, die Menschen zu keinen bedeutenden Leistungen mehr fähig. Jeglicher Vergleich mit den Leistungen der Vorfahren wäre daher töricht. Diese fatalistische Vorstellung verlegt die Verantwortung auf die göttliche Vorhersehung, die im Anfang befruchtend im Hintergrund waltete und den weiteren organischen Verlauf der Dinge vorbestimmte. Der Topos der Roma senescens war in der Spätantike ebenso verbreitet wie der Gedanke von einer Erkrankung des Staatswesens, beides Vorstellungen, die traditionell mit der Idee der Roma aeterna konkurrierten.437 In der Neuzeit 436 Zur Hyperbole als literarischen Strategie des Sidonius vgl. auch weiter unten: S. 273. 437 Zur Roma senescens vgl. die Stellen bei Demandt (1980b) 179–180; Vittinghoff (1964)

2. Kodierte Kommunikation

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wurden diese Erklärungsmodelle aufgegriffen und mit der politischen Situation des ausgehenden Altertums in Verbindung gebraucht. So verwendeten sowohl Theodor Mommsen wie Jacob Burckhardt die Altersmetaphorik, um die Schwäche des spätantiken Staates gegenüber dem erfolgreichen Ansturm der „jungen“ Germanen zu erklären.438 Da Sidonius in den beiden erwähnten Briefen zwei durchaus differierende zeitgenössische Deutungsansätze zur Erklärung des kulturellen Niedergangs heranzog, zu denen in epist. 2,10 mit der allgemeinen Trägheit der Oberschicht konkurrierend noch ein dritter Ansatz trat,439 liegt die Vermutung nahe, dass es ihm an den jeweiligen Stellen weniger darum ging, eine analytische Interpretation der Zeitumstände zu bieten – geschweige denn eine konsistente Niedergangskonzeption zu entwerfen. Vielmehr scheint sich hinter seinem Verfallsnarrativ in erster Linie eine bestimmte kontextgebundene literarische Strategie zu verbergen. Diese Annahme wird zum einen mit Blick auf die brieflichen Kontexte seiner zeitkritischen Äusserungen bestätigt: Als zentral scheint hier das Motiv der Einzigartigkeit der jeweiligen Person, deren literarische Leistungen Sidonius ins Schlaglicht rücken will.440 So wird denn durch die gekonnte Überspitzung der politischen und kulturellen Situation regelmässig eine laudatorische Wirkung erzielt.441 Motive und Argumentationsweisen sind trotz einer gewissen Variationsbreite jeweils identisch: Eine in möglichst dunklen Farben geschilderte Kulturkrise dient jeweils der kontrastierenden Hervorhebung einer bestimmten „Licht-Gestalt“, deren literarische Leistungen besonders betont wird. Die Verwendung einer rhetorischen Hyperbole wird von der Sachlage selbst gefordert und entspricht der spätantiken Vorliebe für starke Kontraste: Je dunkler die Situation geschildert wird, desto glanzvoller erscheinen auch die Ausnahmen. Arbogast wird ebenso wie Sapaudus, der Rhetor Johannes oder Bischof Remigius von Rheims zum letzten Verteidiger der La-

557 ff. Zur Vorstellung der Roma aeterna vgl. etwa Vittinghoff (1964) 547 ff. 438 Die diesbezüglichen Urteile der Forschung von Herder bis in die Moderne hat Demandt (1980b) 180–184 zusammengestellt. 439 Sidon. epist. 2,10,1, dazu ausführlicher weiter unten: S. 233. Vgl. Claud. Mam. epist. ad Sapaudum ed. Engelbrecht, 204,22–24: Video enim os Romanum non modo neglegentiae, sed pudori esse Romanis, grammaticam uti quandam barbaram barbarismi et soloecismi pugno et calce propelli (…). Das Motiv der Trägheit ist zwar innerlich mit der Vorstellung des Alters oder der Erkrankung verbunden, wird aber weder bei Sidonius noch bei Claudianus Mamertus explizit vereinigt. 440 Vgl. den Brief an Johannes, epist. 8,2,1: teque per Gallias uno magistro. 441 Sidon. epist. 2,10,1: Lob des Hesperius; epist. 4,17,2: Lob des Arborgast; epist. 5,10,3–4: Lob des Sapaudus; epist. 8,6,3: Lob des Flavius Nicetius; epist. 9,7,2: Lob des Remigius von Rheims. Dies betont auch Gerth (2013) 186: „Das Lob der Fähigkeiten nimmt dabei… einen grossen Teil ein, an dessen Ende dann die Aussage zur Einzigartigkeit der Leistung des Adressaten fällt. Daher erscheint es so, als ob die Betonung der allgemein schlechten Bildungslage ein literarischer Kniff sei, das Verdienst des Adressaten besonders zu betonen.“ Dasselbe gilt für die zeitkrischen Bemerkungen in Claud. Mam. epist. ad Sapaudum.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

tiae eruditio stilisiert.442 Im Kontext seiner Briefsammlung ist Sidonius letzten Endes also von einer ganzen Reihe von glanzvollen Kulturträgern umgeben, die den Fortbestand der pompa sermonis Romani und damit der Romanitas sicherten.443 Der Kontrast zur historischen Realität wird umso deutlicher, wenn man bedenkt, dass es sich um eine der literarisch fruchtbarsten Epochen Galliens handelte.444 Die seiner affektierten Klage über die litterae vanescentes zugrundeliegende Strategie der rhetorischen Übertreibung findet in den innerhalb der Bildungsgemeinschaft üblichen hyperbolischen Bescheidenheitsbezeugungen ihre negative Entsprechung.445 Sie wird damit von zeitgenössischen Lesern in das übliche Repertoir panegyrisch-laudativer Rhetorik eingefügt. 2. Vor diesem Hintergrund kann auch die relativ häufig gezogene Schlussfolgerung, dass Sidonius in den erwähnten Briefen einen allgemeinen Bildungsverfall in Gallien konstatiert hätte, deren leuchtende Ausnahmen die erwähnten Aristokraten darstellten, mit Blick auf seine perspektivische Gebundenheit innerhalb der jeweiligen spezifischen Kommunikationssituation entkräftet werden: Mit der von ihm beschworenen Rettung der mera proprietas linguae Latiaris hatte Sidonius nicht etwa die Bewahrung von Lateinkenntnissen im Allgemeinen, sondern vielmehr den Erhalt einer spezifischen hochsprachlichen Varietät, des sermo cultus, im Auge.446 Dies verdeutlicht schon die Emphase mera proprietas, die sich hier auf die Bevorzugung eines an den lectiones vetustatis orientierten „echt römischen“ Vokabulars bezieht.447 Denn trotz aller Klagen über ihren mangelhaften Stil wurden Sidonius und seine Korrespondenten nicht müde, sich beständig und euphorisch ihre Ebenbürtigkeit mit den klassischen Vorbildern und deren Sprache zuzusichern.448 Es ging dieser Gruppe also keinesfalls um die lateinische Sprachkompetenz der gallorömischen Bevölkerung, die im Zuge 442 Der endgültige Verfall sei gleichwohl unvermeidlich und wird nur temporär verzögert, vgl. Sidon. epist. 8,2,1: distulisti; epist. 4,17,2: quo vel incolumi vel perorante. 443 Zur pompa sermonis Romani vgl. Sidon. epist. 4,17,2 an Arbogast: Quocirca sermonis pompa Romani, si qua adhuc uspiam est… in te resedit und Hier. epist. 22,2,2, der es dezidiert ablehnt, diesen Sprachstil in seinen Briefen zu verwenden: nulla erit in hoc libello adulatio (…) nulla erit rhetorici pompa sermonis. 444 Vgl. Mathisen (1988) 47–48. 445 Sidonius sieht auch seine eigenen mangelhaften Fähigkeiten als Ausdruck dieses Kulturverfalls, vgl. u.a. Sidon. epist. 8,3,6 (von seiner Übersetzung der Vita des Apollonius von Tyane): fors fuat an philosophi vitae scriptor aequalis maiorum temporibus accesserit. 446 So war denn schon in der Kaiserzeit ein illiteratus kein Analphabet, sondern einer, der nicht zu einer höheren (rhetorischen) Bildung vorgedrungen ist, vgl. Sen. benef. 5,13,3: sic [dicimus] inlitteratum non ex toto rudem, sed ad litteras altiores non perductum. Zu den Termini litteratus und illiteratus in diachroner Perspektive allgem. Grundmann (1958). 447 So kann denn Claudianus Mamertus gegenüber dem Rhetor Sapaudus verkünden, dass nur wer Naevius, Plautus, Cato, Varro, Gracchus, Chrysipp, Fronto oder Cicero gelesen habe, auch literarische Werke verfasse, die der Erinnerung wert seien (dignum memoria). Vgl. zur Bedeutung der Latinitas weiter oben: S. 152. 448 Vgl. die Stellen bei Mathisen (1988) 48.

2. Kodierte Kommunikation

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der Germaneneinfälle an linguistischer Qualität eingebüsst hätte oder sogar gänzlich verloren gegangen wäre449 – Sidonius’ Interesse an nicht-adligen Bevölkerungsgruppen war generell minimal – sondern allein um die glanzvolle Stilvariante der elocutio artifex, deren Vertreter er lobend herausheben und deren legitimative Verbindlichkeit für die Bildungselite er implizit betonen wollte.450 In seinem Brief an den Rhetor Hesperius beklagt Sidonius, dass viele vor dem Aufwand einer standesgemässen Bildung zurückschreckten, sodass sich Barbarismen einschlichen und der Glanz der Sprache naturgemäss verblasse: Illud appone, quod tantum increbruit multitudo desidiosorum ut, nisi vel paucissimi quique meram linguae Latiaris proprietatem de trivialium barbarismorum robigine vindicaveritis, eam brevi abolitam defleamus interemptamque: sic omnes nobilium sermonum purpurae per incuriam vulgi decolorabuntur. Bedenke ferner, dass die Anzahl Müssigänger dermassen zunimmt, dass wir die reine Eigentümlichkeit der lateinischen Sprache in kurzer Zeit als vergangen und vernichtet beklagten, wenn nicht ein paar wenige wie du sie vom Rost gemeiner Barbarismen befreiten. So wird durch die Unsorgfalt des Pöbels der ganze Purpur der adligen Sprache seinen Glanz verlieren. (Sidon. epist, 2,10,1)

Im Fokus dieser pointierten Kritik stehen jene Söhne der Oberschicht, die von ihren Vätern zu Hesperius in den Unterricht geschickt wurden, um ebendiesen Stil zu erlernen.451 Der glänzende „Purpur der Adelsprache“ droht jedoch infolge ihrer mangelhaften Sorgfalt zu verblassen.452 In der Fortsetzung des oben zitierten Briefes an den Rhetor Johannes wird deutlich, weshalb dieser Umstand Sidonius besonders beunruhigte: Debent igitur vel aequaevi vel posteri nostri universatim ferventibus votis alterum te ut Demosthenen, alterum ut Tullium nunc statuis, si liceat, consecrare, nunc imaginibus, qui te docente formati institutique iam sinu in medio sic gentis invictae, quod tamen alienae, natalium vetustorum signa retinebunt: nam iam remotis gradibus dignitatum, per quas solebat ultimo a quoque summus quisque discerni, solum erit posthac nobilitatis indicium litteras nosse. Überhaupt müssten also unsere Zeitgenossen wie unsere Nachkommen dich in eifrigen Dankesgebeten als zweiten Demosthenes, dich als zweiten Cicero hier mit Statuen und dort mit Bildnissen verehren – wenn dies denn erlaubt wäre. Sie werden, von dir unter449 So etwa Gerth (2013) 190 mit Blick auf epist. 2,10. 450 In anderen Kontexten konstatierte er im Vergleich seiner Zeitgenossen mit den maiores keinen Niveauverlust, vielmehr erscheinen diese den Vorbildern als ebenbürtig, vgl. u.a. Sidon. epist. 5,5,1. Weitere Stellen finden sich bei Mathisen (1988) 48. Die Originalität seiner Poesie betont Sidonius selbstbewusst im Widmungs- und Schlussgedicht seiner Gedichtsammlung: Sidon. carm. 9,16: non nos currimus aggerem vetustum; carm. 24,5: antiquus tibi nec teratur agger. 451 Hesperius war u. a. der Lehrer von Ruricius’ Söhnen, vgl. Martindale (1980) 552. 452 Mit vulgus ist hier nicht das gemeine Volk gemeint. Vielmehr bezeichnet Sidonius proleptisch die Konsequenz, die den jungen Aristokraten bei mangelndem Fleiss droht: der Abfall auf die Stufe nicht-adliger Bevölkerungsgruppen. Purpur und Glanz sind Hauptmerkmale des guten und standesgemässen Stils. Vgl. dazu allgem. weiter oben: S. 155–170.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie: wiesen und unterrichtet, in Mitten eines zwar unbesiegbaren aber dennoch fremden Volkes die Zeichen ihrer alten Geburt behalten. Denn nachdem die Laufbahn der Ämter aufgehoben wurde, durch die sich der Höchste vom Geringsten zu unterscheiden pflegte, sind literarische Kenntnisse das letzte Zeichen adliger Herkunft. (Sidon. epist. 8,2,2)

Nach dem Wegfall der politischen Ämterlaufbahn wird literarische Bildung zum letzten Unterscheidungsmerkmal adliger Herkunft. Johannes wird wie Hesperius zum letzten Vermittler der signa natalium vetustorum stilisiert und an die Seite der berühmtesten Redner des klassischen Altertums gestellt. Diese ostentative Wertschätzung verdeutlicht erneut den hohen Status von klassischer Rhetorik und ihrer Lehrmeister innerhalb der gallorömischen Bildungselite. Entscheidend ist nun die Antwort auf die Frage, was in Hesperius’ Unterricht vermittelt wird: Die Wendung litteras nosse ist hier prägnat gesetzt, bezeichnet also weder die Fähigkeit des Lesens und Schreibens noch allgemeine Literaturkenntnisse, sondern vielmehr die Kenntnis der von der Bildungselite gepflegten Hochsprache, der pompa sermonis Romani. Allein die Beherrschung dieser anspruchsvollen soziolektalen Varietät gewährleistet die Distinktion der gallorömischen Elite von der politisch dominierenden gens aliena. Es ist letztlich dieser elitäre Exklusivitätsanspruch, den Sidonius anhand des rhetorisch eindringlichen Verfallsnarrativ sowohl den primären Adressaten wie den sekundären Lesern seiner Briefsammlung vorführen will. Die Pflege des sermo cultus garantiert den Fortbestand der gallorömischen Bildungselite auch in der veränderten Umwelt. Die Einzigartigkeit ihres Sprachstils ist ein Abbild der Einzigartigkeit der gesellschaftlichen Stellung ihrer Mitglieder, wie er am Ende seines Briefs gegenüber Hesperius auch eindringlich betont: Igitur incumbe, neque apud te litterariam curam turba depretiet imperitorum, quia natura comparatum est ut in omnibus artibus hoc sit scientiae pretiosior pompa, quo rarior. Deshalb leg dich ins Zeug! Nicht soll die Menge der Ungebildeten dir die Pflege der literarischen Bildung in ihrem Wert schmälern, denn die Natur hat es so eingerichtet, dass in allen Künsten die Pracht des Wissens umso wertvoller erscheint, je seltener sie ist. (Sidon. epist. 2,10,6)

Mag nun die panegyrische und appellative Funktion des Verfallsnarrativs in dieser Hinsicht ausreichend bestimmt sein,453 so bleiben die ursächlichen Gründe, die zu dessen literarischer Inanspruchnahme geführt haben, aber weiterhin offen. In wieweit man nun gewillt ist, dem von Sidonius Apollinaris so anschaulich inszenierten Niedergang der Bildung in Gallien eine realhistorische Grundlage zu gewähren, hängt im Wesentlichen davon ab, wie hoch man den Realitätsgehalt seiner Briefe gemeinhin einschätzt.454 Die Vorstel453 Die Rolle des Sidonius Apollinaris als „Bildungsförderer“ seiner Zeit betont Gerth (2013) 190–198. 454 Die in der Forschung gelegentlich geäusserte Vorstellung, die Briefe des Sidonius spie-

2. Kodierte Kommunikation

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lung, dass seine Klage über schwindende Sprachkompetenzen – wenn nicht im gemeinen Volk, so doch innerhalb der Bildungselite – einer historischen Tatsache entsprach, mag aus der Ex-eventu-Perspektive der neuzeitlichen Forschung plausibel erscheinen. Ob diese sich aber tatsächlich auch mit der Optik der Zeitgenossen deckt, bleibt angesicht der äusserst aktiven literarischen Periode im 4. und 5. Jahrhundert und der bis ins 6./7. Jahrhundert ungebrochenen Kontinuität produktiver Literaturzirkel eher zu bezweifeln. Die Annahme eines rein imaginativen Charakters des Bildungszerfalls in Gallien wird ferner durch die Tatsache bestärkt, dass der literarisch inszenierte Kulturpessimismus keine spezifische Zeiterscheinung der Spätantike darstellt, sondern Motive aufweist, hinter denen eine Jahrhunderte alte Tradition stand.455 So war die Vorstellung eines politisch-sozialen und moralischen Niedergangs bekanntlich bereits in jener Zeit besonders ausgeprägt, in der nach Überzeugung spätantiker Literaten das kulturelle Leben der Römer seinen Höhepunkt erreicht hatte. Die kontemporären Erklärungsmodelle der spätrepublikanischen Zeit decken sich dabei in auffälliger Weise mit denen des 1./2. und denen des 4./5. Jahrhunderts n. Chr.456 Dabei wurden – wie bei Sidonius – moralische, politisch-soziale und kulturelle Kategorien zu einem unauflösbaren Konglomerat vermengt. Trotz aller diesbezüglichen Klagen scheint nun in der Spätantike die reale Auflösung des politischen Systems und der Gesellschaft in letzter Hinsicht nicht zum vollen Bewusstsein gekommen zu sein.457 So lässt denn auch Sidonius Apollinaris zumindest stellenweise den fingiert-hyperbolischen Charakter seines Verfallsnarrativs durchscheinen: In der conclusio seines Briefs an Johannes bricht er augenzwinkernd den ernsten Grundton, wenn er die Leistungen des „letzten“ Rhetoriklehrers Galliens zu seinem persönlichen Nutzen ummünzt: Nos vero ceteros supra doctrinae tuae beneficia constringunt, quibus aliquid scribere assuetis quodque venturi legere possint elaborantibus saltim de tua schola seu magisterio competens lectorum turba proveniet. Aber mich verpflichten die Verdienste deines Unterrichts mehr als alle übrigen zur Dankbarkeit, denn ich bin das Schreiben gewohnt und bemühe mich etwas zu verfassen,

gelten ungebrochen die Realität seiner Zeit, kritisierte etwa Percival (1997). Auf deren literarische Konstruktion hat auch Wood (1992) 12 ff. hingewiesen. Percival (1997) 287 zieht das Krisenbewusstsein selbst nicht in Zweifel, vielmehr sei dieses hinter der literarischen Fassade verborgen. Dasselbe Problem stellt sich auch bei der Bewertung des angeblich desolaten Zustandes der gallischen Kirche unter Eurich, vgl. dazu weiter unten: S. 270–275. 455 Döpp (1989) 80: „Dass die eigene Zeit als Phase der Dekadenz betrachtet wird, begegnet in fast allen Perioden der Geschichte; es ist geradezu eine Invariante der Selbstanalyse von Epochen.“ 456 Dazu allgem. Mazzarino (1973), der – leider ohne kritische Anmerkungen – das Motiv des politischen und kulturellen Zerfalls seit Lukrez nachgezeichnet hat. Spezifisch zum 1./2. Jh. vgl. Bracher (1987); Döpp (1989). 457 Zu diesem Ergebnis kommt Maier (1980) 71.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie: das die Nachwelt lesen kann: So erwächst mir denn wenigstens aus deiner Schule oder unter deiner Unterweisung eine Gruppe kundiger Leser. (Sidon. epist. 8,2,3)

Auch hier geht es nicht um den allgemeinen Zustand des Bildungssystems in Gallien, vielmehr tritt an dieser Stelle erneut der abgeschlossene, elitäre Charakter der Produktions- und Rezeptionssituation, wie sie Sidonius vorschwebte, hervor: Johannes’ Unterricht generiert eine turba, welche die anspruchsvolle Literatur, die Sidonius verfasst (elaborantibus), kompetent zu rezipieren vermag (competens). Unabhängig davon, wie nun die Antwort auf die Frage nach dem Realitätsgehalt ausfällt, verweist die Verbindung, die Sidonius zwischen der von den Zeitgenossen unbestreitbar wahrgenommenen politischen Krise des Reichs458 und seinem kulturellen Verfallsdiskurs zieht, in jedem Fall auf eine politisch-ideologische Dimension, die er der aristokratischen Hochsprache und damit auch der Obscuritas als integralem Bestandteil der elocutio artifex beimessen wollte. In einer Zeit der militärischen Niederlagen und des zunehmenden Legitimationsverlustes von aristokratischen Herrschaftsansprüchen verweist Sidonius auf die politische Kraft eines dezidiert hochsprachlichen Registers. Durch die Pflege der elocutio artifex, in der sich die obscura disertitudo der Bildungselite spiegelte, war eine legitimatorische Selbstabgrenzung gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen weiterhin möglich. Die Kontinuität des aristokratischen Lebensstils in Gallien erschien unter diesen Voraussetzungen auch für zukünftige Generationen als gesichert.459

458 Zu den Stimmen der Zeit zwischen 370 bis 470 n. Chr. vgl. etwa Maier (1980) 63–69. 459 Im 6. Jh. wurde die (epistolare) Hochsprache der Aristokratie aus politischen Gründen auch auf einen germanischen Herrscher wie Theoderich übertragen, vgl. dazu etwa Rohr (2012).

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2.3. Obscure scribam, tu tamen intelleges – Kryptographie und politische Chiffrierung in spätantiken Briefen Nihil te fugiet, si meas litteras diligenter legeris. (Cic. fam. 11,13,1)

2.3.1. Αἰνίττεσθαι als politische Notwendigkeit Eine pragmatische Form situationsbedingter Obscuritas stellt die aus Gründen der Vorsicht vorgenommene Kodierung des sprachlichen Ausdrucks dar. Quintilian hält die Verwendung einer verhüllenden Gedanken-Emphase (schema), die zu seiner Zeit allzu sehr in Mode gekommen sei, unter drei Umständen für gerechtfertigt: wenn es unsicher sei offen zu sprechen, wenn dies unschicklich oder aber elegant sei.460 Der erstgenannte Punkt, die Verwendung der Emphase aus Angst, komme besonders in Schuldeklamationen häufig vor: „Denn dort erfindet man Bedingungen, unter denen Tyrannen ihre Herrschaft ablegen, sowie Senatsbeschlüsse nach einem Bürgerkrieg, und es ist höchstgefährlich, jemandem seine Taten vorzuwerfen, sodass, was auf dem Forum nicht förderlich ist, in diesen Schulübungen nicht gestattet ist.“461 Nicht erst in fingierten Schulszenarien oder dem kaiserzeitlichen Forum diente eine verhüllende Rede dem Selbstschutz des Redners. In den griechischen Poleis der Klassischen Zeit galt Meinungsfreiheit (παρρησία) zwar als auszeichnendes Privileg eines freien Staates, doch hütete man sich im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. davor, heikle religiöse, moralische oder politische Themen offen anzusprechen. Die rhetorische Theorie war daher schon früh darum bemüht, in der verstellten Rede (oratio figurata) die Kunst des taktvollen und gefahrlosen Sprechens zu propagieren.462 In seiner Schrift „Über den Stil“ sieht der Rhetor Demetrios für einen Redner, der unter einem Tyrannen oder Despoten lebt, drei Alternativen, von denen letztlich aber nur eine akzeptabel sei: Tὸ μὲν οὖν κολακεύειν αἰσχρόν, τὸ δὲ ἐπιτιμᾶν ἐπισφαλές, ἄριστον δὲ τὸ μεταξύ, τοῦτ´ ἔστι τὸ ἐσχηματισμέvoν. Schmeicheln ist schändlich, Kritik aber gefährlich; das Beste ist der Mittelweg, nämlich sich verstellt auszudrücken. (Demetr. eloc. 294)

Wenn eine freie Meinungsäusserung nicht möglich sei, werde der Redner zur Verwendung einer verstellten Rede (σχήματος λόγου) gleichsam gezwungen, 460 Quint. inst. 9,2,66: Eius triplex usus est: unus si dicere palam parum tutum est, alter si non decet, tertius qui venustatis modo gratia adhibetur et ipsa novitate ac varietate magis quam si relatio sit recta delectat. Vgl. Lausberg (1960) § 906. Zu dieser engen Definition von schema, vgl. Quint. inst. 9,1,14. 461 Quint. inst. 9,2,67. Zu den Gefahren einer literarischen Kritik in der frühen Kaiserzeit vgl. etwa Döpp (1989) 83 ff. 462 Vgl. für das Folgende bes. Ahl (1984) 174–208.

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falls er beabsichtige einen Tyrannen zu kritisieren (ὀνειδίσαι ὁρμῶντες).463 Der Reiz der verstellten Rede bestand also darin, etwas aus unterschiedlichen Gründen nur schwer Kommunizierbares seinen Zuhörern auf vertretbare und sichere Weise mitteilen zu können. In seiner Definition der Gedankenemphase hebt Quintilian gerade diesen Aspekt besonders hervor: Est emphasis etiam inter figuras, cum ex aliquo dicto latens aliquid eruitur („Auch die Emphase gehört zu den Figuren; bei ihr kann in einem bestimmten Ausdruck ein verborgener Hintersinn entdeckt werden.“: Quint. inst. 9,2,64). Die Mitarbeit des Rezipienten am Interpretationsprozess wird hier vorausgesetzt. Der versteckte Sinn bedarf der Entschlüsselung. In Gegenwart eines Tyrannen, den man kritisieren will, spricht Quintilian entsprechend von der „Notwendigkeit zu schweigen“ (silentii necessitas: Quint. inst. 9,2,68).464 In echten Gerichtssituationen (vera negotia) sei dieses ostentative Nichtsagen, das etwa durch kurzes Innehalten in der Rede angezeigt werden könne, ein effektives Mittel der persuasio. Die Tatsachen selbst sollen einem Richter Argwohn einflössen, denn „ein Richter vertraut den Figuren [gemeint der verstellten Rede] dann am meisten, wenn er glaubt, dass wir darüber gar nicht sprechen wollen.“465 Auch hier ist aber Masshaltung gefragt: Die verstellte Rede dürfe keinesfalls offenkundig sein. Amphibolien und zweideutige Wortverbindungen seien daher zu vermeiden.466 Verläuft die Entschlüsselung erfolgreich, ist die Wirkung der Aussage meist eindringlicher, als wenn der Redner selbst das Gemeinte direkt ausgesprochen hätte. Demetrios beschreibt diesen Effekt anhand eines Beispiels aus Platons Phaidon, worin Aristippus und Cleombrotus indirekt der Vorwurf gemacht wird, Sokrates vor seiner Exekution nicht im Gefängnis besucht zu haben: Auf die Frage, wer alles bei Sokrates vorbeigekommen sei, nennt Phaidon die Reihe der Besucher. Auf Aristippus und Cleombrotus angesprochen, meint er nur: „Die waren in Aegina.“467 Aegina ist kaum eine Tagesreise von Athen entfernt. Ohne dass Platon es explizit aussprechen musste, verstanden seine Zeitgenossen den impliziten Tadel an der unterlassenen Visite.468 Die Existenz und Verbreitung dieser Form der verdeckten Meinungsäusserung und Kritik innerhalb der antiken Literatur darf aus heutiger Perspektive nicht unterschätzt werden.469 Das rhetorisch gebildete, zeitgenössische Publikum war nicht nur darin geschult, implizite Anspielungen zu erkennen 463 Demetr. eloc. 289. 464 Vgl. Demetr. eloc. 293, der die verstellte Rede als unverzichtbar im Umgang mit Tyrannen ansieht. 465 Quint. inst. 9,2,72: sic maxime iudex credit figuris, si nos putat nolle dicere. 466 Quint. inst. 9,2,69–70. 467 Demetr. eloc. 288. 468 Vgl. dazu und zu weiteren Beispielen aus der griechischen Literatur Ahl (1984) 179 f. 469 Kritik am modernen Interpretationsmuster der Emphase, das zu erheblichen Missverständnissen antiker Autoren führte, übt Ahl (1984) 192 f., 204 f. Vgl. in diesem Sinne auch Döpp (1989) 87: „So hat der moderne Interpret bei kaiserzeitlicher Literatur stets eine Tendenz zu verhüllendem, zu allegorischem Sprechen mitzudenken (…).“

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und auszudeuten, sondern verlangte auch nach solchen Formen der Rede.470 Selbst wenn keine direkte Veranlassung für eine verstellte Rede bestand, wurde sie aus rein ästhetischen Gründen, „nur um der schönen Form willen“ (venustatis modo gratia), wie Quintilian es nennt, angewandt.471 Hier berührt Quintilian am Rande einmal mehr den positiven zeitgenössischen Obscuritas-Diskurs, dessen Ausprägungen er, wie weiter oben ausgeführt, innerhalb der engen Grenzen der Schuldeklamatorik anerkennt, in echten Gerichtsreden jedoch aus Rücksicht auf den neglegens audiens mit Vehemenz ablehnt.472 Seine Behandlung des dritten Einsatzbereichs der oratio figurata, „bei der man nur darauf aus ist, einen besseren Ausdruck anbringen zu können“, ist daher auch entsprechend kurz gehalten.473 Politik und Gerichtswesen stellen zwei Systeme dar, in denen in der Antike die Technik der verstellten Rede zum Einsatz kam. Zur Zeit der ausgehenden Republik war es wie in der Spätantike für die am tagespolitischen und gesellschaftlichen Geschehen partizipierenden Eliten häufig notwendig, sich angesichts einer sich schnell verändernden politischen Lage vorsichtig über gewisse Ereignisse zu äussern. Obscuritas war in solchen Kontexten nicht selten eine notwendige Vorbedingung der Kommunikation.474 Auch ausserhalb des Sichtfeldes der genera dicendi, die von der rhetorischen Theorie und der Schuldeklamation abgedeckt wurden, gab es Situationen, in denen man genötigt war, sich zum Selbstschutz in der Kunst des wortreichen Schweigens zu üben oder seine Kritik in verstellter Rede zu äussern.475 Ein in der Antike wie in der Moderne überaus fruchtbares Feld solcher Betätigungen ist das Nachrichtenwesen.476 In der lateinischen Epistolographie ist die Kodierung des sprachlichen Ausdrucks aus Gründen der Vorsicht und der persönlichen Sicherheit seit Cicero belegbar. Angesichts der Unwägbarkeit und Unsicherheit des zeitgenössischen Nachrichtenwesens war Cicero verschiedentlich darum bemüht, in seinen Briefen Privates und politisch Bedenkliches zu verschleiern. Die verstellte Rede war dabei lediglich eine unter zahlreichen kryptographischen Techniken.477 Dasselbe Bild 470 Quintilian verweist explizit auf die Verbreitung und Beliebtheit dieser Technik in seiner Zeit, vgl. Quint. inst. 9,2,65: Iam enim ad id genus quod frequentissimum est et expectari maxime credo veniendum est. 471 Quint. inst. 9,2,66. 472 Vgl. dazu weiter oben: S. 102. 473 Quint. inst. 9,2,96–99. Das Zitat stammt aus inst. 9,2,96. 474 Dabei handelt es sich auch um einen Diskurs des 20. Jahrhunderts, vgl. Scrivener/Finkelmann (1994) 23 f. 475 Für die lateinische Literatur fehlt bisher eine Untersuchung, wie sie Ahl exemplarisch für den griechischen Bereich vorgenommen hat. Einige lateinische Beispiele bieten Ahl (1984) 205 f. sowie Döpp (1989) 85 ff. 476 Seit dem Kalten Krieg ist ein breites Interesse am Thema „Geheimes Nachrichtenwesen und Kryptographie“ festzustellen, vgl. z.B. die in mehrere Sprachen übersetzten Bücher von Wrixon (1989) und Singh (1999), ferner Kahn (1996); Rosenheim (1997). 477 Vgl. dazu ausführlich weiter unten: S. 253–257.

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zeigt sich auch in der spätantiken Epistolographie, wo neben unterschiedlichsten privaten Gründen auch eine diffizile politische Situation gelegentlich zu einer verhüllenden Meinungsäusserung zwang. 2.3.2. Non licet, anne pudet? Verbotene Korrespondenz inter amicos: Auson. epist. 21/22 ed. Green an Paulinus von Nola Im Briefwechsel zwischen Ausonius und Paulinus von Nola, der in der Forschung in den letzten Jahren auf grosse Beachtung gestossen ist,478 bilden die inhaltlich eng aufeinander bezogenen Briefgedichte 21 und 22 des Ausonius ein konzeptuelle Einheit.479 In ihnen beklagt sich Ausonius über das lange Schweigen des Paulinus, der dadurch die Gesetze der amicitia und der pietas verletze. Die Briefe stehen am Beginn der epistolaren Auseinandersetzung, die sich zwischen den beiden durch den Rückzug des Paulinus in die Einsamkeit der Hispania Terraconensis und seiner Hinwendung zu den Ideen der christlichen Askese ergab. Der erste der beiden Briefe beginnt mit der Klage des Ausonius über das Ausbleiben eines Antwortbriefes des Paulinus. Nachdem er ihm bereits vier Briefe geschrieben habe ohne Antwort zu erhalten, sucht Ausonius nach den Gründen für das lange Schweigen seines Freundes: Unde istam meruit non felix charta repulsam, spernit tam longo cessatio quam tua fastu?

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Aus welchem Grund stösst mein unglücklicher Brief, den deine ausbleibende Antwort durch lange Zurückweisung so geringschätzt, auf diese Ablehnung? (Auson. epist. 21,5–6 ed. Green)

Woher kommt dieses Schweigen? Selbst Feinde grüssen sich und nichts hat die Natur stumm erschaffen (Vv. 7–19). Gibt es da also vielleicht jemanden, der den Freund von der Aufrechterhaltung des Briefkontakts abhält? Gleich zweimal äussert Ausonius seinen Verdacht, Verse 32–33: Quis prohibet „salve“ atque „vale“ brevitate parata / scribere felicesque notas mandare libellis? („Wer verbietet dir ein „Grüss dich!“ und ein „Auf Wiedersehen“ in geschulter Kürze zu schreiben und einer Seite glückbringende Worte anzuvertrauen?“) und Vers 62: quis tamen iste tibi tam longa silentia suasit? („Doch wer hat dir zu diesem langen Schweigen geraten?“). Ausonius schweigt sich hier noch über die Identität des quis aus und beschränkt sich auf die poetische Verfluchung des unbekannten Missetäters (Vv. 63–68). Im folgenden Brief wird das Motiv des aufgezwungenen Schweigens erneut aufgenommen und weiter ausgestaltet: Non licet? anne pudet, si quis tibi iure paterno vivat amicus adhuc, maneasque obnoxius heres? 478 Vgl. u.a. Amherdt (2004a); Amherdt (2004c); Knight (2005); Filosofini (2008) und Rücker (2012), der auf S. 24–41 einen umfassenden Forschungsüberblick bietet. 479 Vgl. zu den beiden Briefgedichten grundlegend Rücker (2012).

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ignavos agitet talis timor; at tibi nullus sit metus et morem missae acceptaeque salutis audacter retine. vel si tibi proditor instat aut quaesitoris gravior censura timetur, occure ingenio, quo saepe occulta teguntur.

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Ist es dir nicht erlaubt? Oder schämst du dich, wenn ein Freund mit väterlichem Recht noch am Leben ist, dem du als Erbe verpflichtet bist? Nur Feiglinge beunruhigt eine solche Furcht, du aber habe keine Angst und setze beherzt die Gewohnheit fort, Briefe zu verschicken und zu empfangen. Falls dir jedoch ein Verräter auflauert oder du den strengeren Tadel eines Untersuchungsrichters fürchtest, so behilf dir mit deinem Verstand, durch welchen Geheimes oft verborgen wird. (Auson. epist. 22,6–12 ed. Green)

Furcht oder Scham seien keine legitimen Gründe für den Abbruch einer Brieffreundschaft. Die Angst vor dem immer noch ungenannten proditor oder quaesitor sei darüberhinaus unbegründet.480 Mit etwas Scharfsinn könne ein solches Hindernis leicht überwunden werden. Ausonius eröffnet in der folgenden Passage seinem Adressaten in Form eines kurzen Lehrgedichts die vielfältigen Möglichkeiten des geheimen Nachrichtentransfers:481 Threicii quondam quam saeva licentia regis fecerat elinguem, per licia texta querellas edidit et tacitis mandavit crimina telis. et pudibunda suos malo commisit amores virgo nec erubuit tacituro conscia pomo. depressis scrobibus vitium regale minister credidit idque diu texit fidissima tellus; inspirata dehinc vento cantavit harundo. lacte incide notas: arescens charta tenebit semper inaspicuas, prodentur scripta favillis. vel Lacedaemoniam scytalen imitare, libelli segmina Pergamei tereti circumdata ligno perpetuo inscribens versu, qui deinde solutus non respondentes sparso dabit ordine formas donec consimilis ligni replicetur in orbem. innumeras possum celandi ostendere formas et clandestinas veterum reserare loquellas, si prodi, Pauline, times nostraeque vereris crimen amicitiae. (…)

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Die Frau, der einst die wilde Zügellosigkeit des thrakischen Königs die Zunge raubte, liess geknüpfte Fäden ihren Kummer anzeigen und vertraute das an ihr begangene Unrecht verschwiegenem Gewebe an. Und die züchtige Jungfrau vertraute einem Apfel ihre Liebesgeheimnisse an und errötete nicht, da sie um die Verschwiegenheit der Frucht wusste. Ein Diener übergab tiefen Gruben den königlichen Makel und lange bewahrte ihn die Erde in äusserster Treue: Schliesslich sang davon das Schilf, vom Wind 480 Green (1991) 654 denkt hier an eine Anspielung an die Anklage gegen Paulinus wegen der angeblichen Ermordung seines Bruders, was in diesem Kontext aber höchst unwahrscheindlich ist. Zur Auflösung vgl. Auson. epist. 22,31 ed. Green: (…) Tanaquil tua nescit istud. 481 Vgl. dazu die ausführliche Interpretation bei Rücker (2012) 314–339.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie: behaucht. Schreibe mit Milch: Die getrocknete Seite wird deine Zeichen für immer unsichtbar aufbewahren, erst mit der Hilfe von Asche offenbaren sich die geschriebenen Worte. Oder ahme die spartanische Skytale nach, indem du Stücke pergameischen Bastes in fortlaufendem Vers beschreibst, der um den glatten Stab gewickelt ist. Ist das Band gelöst und die Ordnung der Zeichen aufgehoben, gibt es solange keine Auskunft über den Inhalt, bis es wieder auf einen identischen Stab aufgewickelt wird. Unzählige Arten des Verbergens könnte ich dir zeigen und die geheimen Mitteilungen der Alten enthüllen, Paulinus, falls du fürchtest, verraten zu werten, und dich vor dem Vorwurf ängstigst, mein Freund zu sein. (Auson. epist. 22,13–31 ed. Green)

In Form eines Katalogs zeigt Ausonius seinem Adressaten Paulinus exemplarisch auf, wie jener verhindern könne, dass ihm der Briefkontakt zu seinem väterlichen Freund (vgl. V. 6–7: iure paterno amicus) zum Vorwurf gemacht werde (V. 31a: crimen amicitiae). Auf drei Beispiele aus der Mythologie folgen zwei weitere, die der antiken kryptographischen Praxis entstammen.482 Jedoch beinhaltet die Aufrufung der mythischen Geschichten von Philomela (Vv. 13–15), von Cydippe (Vv. 16–17) und König Midas (Vv. 18–20), die inhaltlich wie strukturell auf Ovid verweisen,483 keine praktischen Ratschläge für, sondern vielmehr Alternativen zu einer Briefkommunikation: einen Teppich weben, Obst einritzen, in eine Grube sprechen. Schon eher echte Anweisungen stellen die daran anschliessenden kryptographischen Praktiken dar, auf die in entsprechenden literarischen Kontexten häufig verwiesen wird.484 Indes scheint – und dies wurde bisher noch nicht bemerkt – die eigentliche Geheimlehre, die Ausonius hier in der Rolle des Lehrers vermitteln will, weniger in den aufgeführten Exempla selbst, als vielmehr in den sprachlichen und stilistischen Techniken zu bestehen, die er zu deren Beschreibung anwendet. Die wahren formae celandi (v. 28) werden von Ausonius nicht explizit genannt, sondern müssen von Paulinus vielmehr indirekt aus dem Text erschlossen werden: Die mythologischen Exempel sind durch gelehrte Periphrase und Antonomasie verdunkelt. Durch die Unterdrückung der Eigennamen der Protagonisten (quam; pudibunda virgo; vitium regale) demonstriert Ausonius seinem Adressaten also gleich zu Beginn eine der gängigsten Methoden epistolarer Kryptographie. Eng damit verwandt ist eine weitere effiziente Methode, die in der intendierten Irreleitung des Rezipienten durch unklare Bezüge besteht: Das zweite mythologische Exempel verweist nach Meinung der meisten Interpreten auf die Geschichte von Cydippe und Acontius.485 Nach Ov. epist. 20/21 verläuft 482 Es handelt sich dabei nicht eigentlich um „antike Geheimsprachen“ wie Rücker (2012) 315 es etwas ungenau formuliert, sondern vielmehr um Formen der geheimen Nachrichtenübermittlung, die ursprünglich aus einem militärischen Kontext stammen. Vgl. dazu weiter unten: S. 253–257. 483 Vgl. die Auslegung des ovidischen Prätextes durch Knight (2005) und Rücker (2012) 321–339. 484 Zum Motiv des Schreibens mit Milch, vgl. u.a. Ov. ars. 3,627–628; Plin. nat. 26,62. 485 Vgl. Green (1991) 654; Amherdt (2004a) 94–95; Dräger (2002) 205. Vgl. zum Folgenden die Ausführungen von Rücker (2012) 329 f.

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die Geschichte folgendermassen: Acontius trifft am Strand von Delos auf Cydippe und verliebt sich in sie. Er ritzt in gelehrten Zeichen (Ov. epist. 20,212: doctis notis) einen Liebesschwur in einen Apfel und wirft ihn Cydippe vor die Füsse. Deren Amme hebt ihn auf und reicht ihn verwundert Cydippe. Diese liest die Inschrift laut vor und ist damit Acontius verbunden. In der Version des Ausonius ist es nun aber Cydippe, die ihre Liebe zu Acontius einem Apfel anvertraut und nicht errötet, da sie um die Verschwiegenheit der Frucht weiss (V. 17: nec erubuit tacituro conscia pomo). In der Darstellung Ovids ist das Erröten ein wesentliches Merkmal der Cydippe, was durchaus als Signal für den ovidischen Prätext und Cydippes Identifizierung mit der pudibunda virgo gelesen werden kann.486 Wie sind dann aber die inhaltlichen Abweichungen bei Ausonius zu erklären? Während die meisten Kommentatoren und Herausgeber über die Verwendung einer anderen Mythen-Variante durch Ausonius mutmassten,487 sehen neuere Ansätze die Lösung des Problems in einer komplexen Manipulierung der ovidischen Vorlage durch Ausonius. Nach der These von Gillian Knight habe Ausonius durch Einbezug einer Catull-Reminiszenz, die auf Ovid zurückgeht, die Rolle der Cydippe bewusst umgedeutet. Die Handlungsumkehrung sei Resultat dieser Umdeutung, da Ausonius wie schon Catull Cydippe weniger unschuldig habe darstellen wollen, als sie selbst erscheinen wolle.488 Schlüssiger erscheint der Lösungsvorschlag von Nils Rücker. Auf der Grundlage von Knight versucht er die Vertauschung der Rollen von Cydippe und Acontius in der Weise zu erklären, dass Ausonius über eine zusätzliche intertextuelle Referenz auf Ov. am. 1,11 auf eine spätere Phase in der Geschichte habe anspielen wollen, nämlich die Situation, in der Cydippe ihren Antwortbrief an Acontius geschrieben habe (= Ov. epist. 21). Ausonius meine nicht den Apfel, dem die virgo ihre Liebe gesteht, vielmehr bezeichne pomum hier metonymisch die hölzerne Schreibtafel.489 In dieser Diskussion durchaus interessant ist nun der Ansatz von Luca Mondin. Mondin bezweifelt, dass Ausonius mit der pudibunda virgo überhaupt auf die Geschichte von Cydippe und Acontius angespielt habe. Vielmehr vermutet er, dass es sich bei den Versen 16–17 um eine Anspielung auf Briseis und Achilleus handle. In der Liebesgeschichte der beiden gibt es nämlich eine Episode, in der Briseis ihre Heimatstadt Pedaso mit Hilfe eines beschriebenen Apfels, den sie Achilleus zukommen liess, verraten hat.490 Diese Episode wird auch in einem Epigramm der Anthologia Latina erwähnt,491 woraus Mondin den Schluss zieht, dass die heute unbekannte Episode in der Spätantike durchaus bekannt gewesen sei und dass Ausonius auf diese Geschichte verweise. Die ovidische Folie, auf der sich das Lehrgedicht unbe-

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So Green (1991) 654. Zustimmend äusserten sich Knight (2005) 382; Rücker (2012) 332. Vgl. Dräger (2002) 205, Amherdt (2004a) 94–95. Knight (2005) 382. Rücker (2012) 336–339. Mondin (1995) 245 mit Verweis auf Schol. Ven. A in Hom. Il. 6,35. Anth. Lat. 124 ed. Shackleton Bailey.

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streitbar bewegt, lässt aber begründete Zweifel an dieser These aufkommen.492 Mondins Vorschlag ist jedoch deswegen bemerkenswert, weil Ausonius an dieser Stelle wohl tatsächlich an die Geschichte mit Briseis und dem Apfel gedacht haben dürfte. Die bewusste Uneindeutigkeit des aufgerufenen Mythos, dessen Rätsel sich erst nach einer minutiösen Analyse und nach Auffinden der unterschiedlichen ovidischen Prätexte auflöst, stellt eine weitere kryptographische Strategie dar, die er seinem Adressaten exemplarisch vorführt. Der Trick besteht darin, den Rezipienten durch bewusste Amphibolie einen falschen Verständnisrahmen aktualisieren zu lassen, in den die aufgerufene Geschichte eingebettet wird. Das aussertextliche Schema gibt dann die entsprechende Deutungsweise vor und lenkt von einer Botschaft ab, die nur in dem vom Autor intendierten Verständnisrahmen aktualisiert werden kann. Der im Kontext des Briefgedichts wirksame tiefere Sinn der aufgerufenen mythischen Geschichten und liebeselegischen Referenzen, der darin besteht, dass Ausonius in verschiedene elegische personae schlüpfen und damit auch Paulinus bestimmte Rollen aufoktroyieren kann,493 wird davon selbst nicht tangiert. Auch hier zeigt sich die Vielschichtigkeit der ausonischen Poesie. In den nachfolgenden der kryptographischen Praxis entstammenden topischen Anweisungen, die Ausonius in den Versen 21–27 darbietet, ist eine weitere Verschlüsselungstechnik epistolarer Kommunikation verborgen, die der syntaktischen und stilistischen Komplexität. Seine Beschreibung der spartanischen Scytale, die sich über fünf Verse zieht, ist im Vergleich zu den anderen Beispielen des Katalogs ungewöhnlich komplex. Der deutliche Kontrast markiert diese Spezialform spätantiker Obscuritas. Nach dieser umfänglichen Unterweisung über geheime Nachrichtenvermittlung, die den Hauptteil des Briefes ausfüllt, öffnet Ausonius endlich den Schleier und enthüllt seinem Freund, wer sich seiner Meinung nach hinter dem schlechten Ratgeber aus Brief 21 und dem angefeindeten proditor und quaesitor verbirgt: Tanaquil tua nesciat istud („deine Tanaquil soll nichts davon erfahren“: V. 31b). Hier folgt zugleich die letzte indirekte Anweisung kryptographischen Schreibens: die Verwendung von Decknamen: Tanaquil, Ehefrau des Tarquinius Priscus, war nach dem Bericht des Livius für die Auswanderung ihres Mannes von seiner Heimatstadt nach Rom verantwortlich, da ihnen ein Vogelprodigium dort eine ruhmreiche Zukunft verheissen hatte.494 Dass Paulinus Ausonius’ Anspielung auf seine Ehefrau Therasia versteht, wird aus dem umfangreichen Briefgedicht deutlich, das er seinem ehemaligen Lehrer als Antwort zusandte und in dem er sich gegen diese Unterstellung zur Wehr setzte.495 492 Vgl. Rücker (2012) 331. 493 Dazu zusammenfassend Rücker (2012) 339 mit Knight (2005) 364. 494 Vgl. Liv. 1,34,4–35,6. Zur möglichen Bedeutung dieser Evokation vgl. Rücker (2012) 117–119. 495 Vgl. Paul. Nol. carm. 10,192: (…) nec Tanaquil mihi, sed Lucretia coniunx.

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Ausonius bietet also seinem Adressaten mit Hilfe dieses Lehrgedichts eine Korrespondenzmethode an, die sich auf der Ebene anspruchsvoller intertextueller Anspielungen und vieldeutiger Bezüge bewegt und auf diese Weise die kommunizierte Botschaft vor dem Zugriff Unberechtigter schützt. Die Mehrdeutigkeit der ausonischen Briefgedichte, auf die insbesondere Knight mit Nachdruck hinweist, die dem Rezipienten auf spielerische Weise unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten bietet, tritt hier in den Dienst einer geheimen Nachrichtenübermittlung. Das gelehrt-literarische Spiel mit verborgenen Anspielungen, unklaren Bezügen und Rätselhaftem, in dem die intellektuellen Anreize des erudite intellegere mit impliziten Bildungsnachweisen kombiniert sind, ist Paulinus aus seiner Zeit im Zirkel des Ausonius hinlänglich bekannt. „Deine Tanaquil soll nichts davon wissen.“ Therasia ist nicht Teil der In-group des Ausonius und partizipiert nicht an den kommunikativen Codes dieser Interpretationsgemeinschaft. Paulinus braucht sich also keine Sorgen zu machen. Sein Briefwechsel mit Ausonius ist vor unerlaubten Einblicken geschützt. Ausonius’ vermeintliche Hilfestellung ist letztlich also nicht viel mehr als eine äussert elaborierte Ausgestaltung der topischen Bitte um einen Antwortbrief. Bemerkenswert ist der spielerische Umgang mit einem Diskurs, der in seiner Zeit durchaus Relevanz besass. Sein Briefgedicht ist eines der wenigen Beispiele, in denen die Möglichkeiten und Vorgehensweisen eines geheimen Nachrichtentransfers innerhalb des betroffenen Mediums selbst behandelt werden. Das kompositorische Vorbild fand er in Ovids ars amatoria.496 Der Verweis auf die Welt der römischen Liebespoesie, die er evokativ in seine Briefgedichte miteinbezieht, ermöglicht ihm die Thematisierung von Freundschaft und Treue auf einer rein literarischen Ebene vor dem Hintergrund klassischer Prätexte, die beiden vertraut waren und deren Kenntnis sie miteinander verband. Gut hundert Jahre später erforderten die Zwänge der Zeit in bestimmten Situationen die Anwendung kryptographischer Massnahmen in brieflicher Kommunikation. Hauptverantwortlich dafür waren neben der veränderten politischen Lage in erster Linie die spezifischen Funktionsweisen und Methoden des antiken Nachrichtentransfers. 2.3.3. Kryptographie von Nachrichten und der postalische Hintergrund in Antike und Spätantike a. Funktionsweise und Sicherheit des Nachrichtentransfers In der Antike war der Brief in zivilen Belangen neben dem Boten das alleinige Medium nicht-oraler, das heisst sich in Abwesenheit des Rezipienten

496 Vgl. Rücker (2012) 317–319 mit Verweis auf Ov. ars. 3,611–612 sowie 617–630. Der direkte Bezug ist vergleichsweise schwach und basiert lediglich auf dem Motiv, Geschriebenes durch die Verwendung von Milch zu verbergen.

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manifestierender Kommunikation.497 Wenn der Austausch privater Nachrichten in persönlichem Kontakt nicht möglich oder erwünscht war, etwa weil eine räumliche Distanz die Partner voneinander trennte oder bestimmte soziale oder politische Verhältnisse dies nicht gestatteten, konnte der erstrebte Informationsaustausch nur mündlich per Bote oder schriftlich im Briefverkehr vonstatten gehen. Im Alltag bedeutete dies, dass man mitunter höchst vertrauliche, den Absender oder Adressaten kompromittierende Informationen einem Brief anvertrauen musste, dessen Ankunft am Bestimmungsort ungewiss war. Da in der Antike ein den heutigen Verhältnissen vergleichbares Postwesen nicht bestand, waren Privatleute bei der Übermittlung ihrer Post weitgehend auf sich selbst gestellt. In Rom war wie in anderen antiken Staaten der private Briefverkehr eine langwierige, unsichere und kostspielige Angelegenheit.498 Während die begüterte Oberschicht sich für Briefzustellungen in der Regel auf Hausklaven, Freunde oder professionelle Briefboten (tabellarii) stützen konnte, blieb den weniger vermögenden Gesellschaftsschichten oft nur die Möglichkeit, den Brief einem Händler oder Reisenden mitzugeben, der diesen am Bestimmungsort ablieferte. In der Regel kannte man den Mittelsmann, im Idealfall handelte es sich um ein Familienmitglied, dem man seine Post anvertrauen konnte.499 Eine Gewähr für eine erfolgreiche Übermittlung gab es aber nicht. Vor Problemen postalischer Natur waren auch die privilegierten Kreise nicht gefeit. Je nach Bedarf und Gelegenheit mussten Angehörige der Nobilität Kuriere heranziehen, die ihrer Botentätigkeit bisweilen nur unzureichend nachkamen. Cicero, dessen reger Briefwechsel eine reichhaltige Quelle für die Rekonstruktion des römischen Nachrichtenwesens in der Republik darstellt, bezeugt an einigen Stellen seiner Korrespondenz, dass Briefe ihre Adressaten entweder gar nicht erreichten500 oder aufgrund mangelnder Eilfertigkeit ihrer Überbringer erst mit erheblicher Verzögerung eintrafen.501 Zumindest was die Verfügbarkeit und Verlässlichkeit der Boten für kürzere Distanzen betrifft, hatte Cicero offenbar kaum Probleme, einen mitunter täglichen Briefwechsel mit zahlreichen Korrespondenten zu unterhalten.502 Er scheint jede sich bietende Gelegenheit genutzt zu haben, um Atticus einige

497 In militärischen Belangen (Flotten- und Heerwesen) griff man auch auf andere Hilfsmittel und Medien des Nachrichtentransfers zurück: optische Signaltechniken (Signale per Feuer, Flaggen, Rauch); akustische Signaltechniken (Signale mit Hörnern, Rufen) sowie andere Medien (Tauben, Geschosse etc.), vgl. Riepl (1913) 25 ff.; Reincke (1938) 1496–1506; Pekary (1965) 2051–2054. 498 Zum römischen Nachrichten- und Postwesen vgl. u.a. Riepl (1913); Kolb (2000); Drecoll (2006), zur Spätantike bes. Mratschek (2002) 274 ff. 499 Zum Botenwesen allgem. Riepl (1913) 242 ff.; Nikitinski (2001); Mratschek (2002) 302– 324; Drecoll (2006) 46–55. 500 Z. B. Cic. fam. 2,10,1: fam. 2,13,1; Att. 4,15,3. 501 Z. B. Cic. fam. 8,12,4 502 Dies betont Nicholson (1994) 34–38 und 62.

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Zeilen zukommen zu lassen,503 selbst wenn dieser erst kurz zuvor Ciceros Haus verlassen hatte.504 Über weite Distanzen gestaltete sich die Postübermittlung äusserst personalintensiv und war mit hohen Kosten verbunden.505 Aus diesen Gründen haben Boten oft mehrere Briefe einzelner oder verschiedener Absender zu Paketen (fasciculus) zusammengefasst, was sich aber negativ auf die Dauer der Transferleistung auswirkte.506 Die Dauer variierte überdies je nach Transportmethode, Distanz, Jahreszeit und Beschaffenheit der Route, was der Kommunikation zwischen örtlich weit entfernten Partnern bisweilen lange Pausen bescherte.507 Der Funktionstüchtigkeit und Verlässlichkeit des Systems privater Nachrichtenvermittlung waren in der Antike aufgrund ihres improvisierten Charakters also klare Grenzen gesetzt. Wo staatliche Interessen tangiert waren, bemühte man sich jedoch früh um ein Nachrichtenwesen, das die effektive überregionale Kommunikation zwischen Machtzentrale, Verwaltungsinstanzen und militärischen Befehlshabern gewährleistete. In Mesopotamien wurden zu diesem Zweck effiziente staatlich organisierte Botensysteme entwickelt.508 In späterer Zeit rief das persische Kurierwesen Bewunderung hervor, von dem Herodot berichtet, dass „weder Schnee noch Regen noch Hitze noch Nacht sie [abhält], die vorgeschriebene Entfernung so schnell wie möglich zurückzulegen.“509 In Rom wurde erst in der Kaiserzeit mit dem cursus publicus eine Institution geschaffen, welche den gestiegenen Anforderungen der Monarchie an den staatlichen Nachrichtentransfer und Gütertransport nachkam.510 Zur Zeit der Republik hatte kein vergleichbares System bestanden.511 Zur Informationsübermittlung konnten die römischen Magistrate auf professionelle Boten (viatores, geruli) oder andere Amtsdiener aus ihrem Stab zurückgreifen. Darüber hinaus kamen besonders für grosse Distanzen regelmässig eigene Sklaven der Amtsinhaber oder die von Freunden oder Bekannten zum Einsatz.512 Auch die regelmässig in die Provinzen reisenden tabellarii der Pächtergesellschaften wurden gegen entsprechendes Entgelt mit der Übermittlung offiziöser Nachrichten nach Rom betraut.513 Aufgrund dieser für ein 503 Cic. Att. 2,9,1: Subito cum mihi dixisset Caecilius quaestor puerum se Romam mittere, haec scripsi raptim. 504 Vgl. Nicholson (1994) 36 Anm. 6. 505 Zu den Kosten äussert sich etwa Riepl (1913) 244 f. 506 Riepl (1913) 250–253. 507 Vgl. dazu etwa Klauck (1998) 68–69. 508 Neumann (2000) 665. 509 Hdt. 8,98 in der Übersetzung von Feix (1988) 1121. 510 Dazu ausführlich Kolb (2000) 49–226. Der Terminus, der erst in konstantinischer Zeit regelmässig verwendet wurde (u. a. Paneg. Lat. 6,7,5), wird von der Forschung aber üblicherweise auch für die kaiserzeitliche Organisation verwendet. 511 Zum staatlichen Nachrichtentransfer in der Republik vgl. Kolb (2000) 20–27. 512 Kolb (2000) 21: „Die Verwendung von privaten Sklaven und Dienern durch Magistrate auch in offizieller Angelegenheiten war allgemein üblich und kann als Folge der Honoratiorenverwaltung gewertet werden (…)“. Vgl. dazu u. a. Cic. Att. 5,20,9; Cic. fam. 2,7,3; fam. 3,3,1. 513 Vgl. Cic. Att. 5,15,3; Att. 5,16,1; Att. 5,21,4; Cic. fam. 8,16,1. Weitere Stellen finden sich

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

Weltreich unbefriedigenden Zustände richtete Augustus, vom Wunsch nach schneller und sicherer Orientierung über die Geschehnisse in den Provinzen geleitet, ein Kuriersystem ein, das aus in angemessenen Abständen bereitstehenden iuvenes bestand, die in Eilmärschen eine Nachricht vom einen zum nächsten Posten überbringen konnten.514 Dieses Stafettensystem, das schon Caesar in ähnlicher Weise für militärische Zwecke angewandt hatte,515 wurde offenbar bald wieder zugunsten des älteren Systems aufgegeben, bei dem ein einzelner Kurier die Nachricht überbrachte, jedoch mit der Neuerung, dass der Bote an staatlichen Relaisstationen auf frische Transportmittel (vehicula) zurückgreifen konnte. Dies hatte den Vorteil, dass die Nachricht vom selben Boten überbracht wurde, dem sie der Sender übergeben hatte, und der daher auch für allfällige Rückfragen zur Verfügung stand.516 Der cursus publicus war folglich kein eigentlicher Kurierdienst, sondern stellte lediglich die Infrastruktur zur Verfügung, die dem Transport und der Unterkunft von Reisenden in staatlichem Auftrag diente. Demzufolge wurde die staatliche Kuriertätigkeit nicht vom Personal des cursus publicus, sondern von Angehörigen der Verwaltung und des Militärs durchgeführt, sofern sie über eine entsprechende Nutzungsberechtigung (diploma) verfügten.517 In der Spätantike hatte sich das System zu einem reichsüberspannenden Netz von staatlichen Rast- und Wechselstationen (mansiones) entwickelt, das für Beamte und Kuriere in staatlichem Dienst sowie Angehörige einer privilegierten Elite eine schnelle und bequeme Reise- und Transportmöglichkeit darstellte.518 Da die Übermittlung von Privatkorrespondenz sowie überhaupt private Nutzung strikt untersagt war,519 verlief die private Briefzustellung in der Spätantike auf den gleichen Wegen wie in den Jahrhunderten zuvor.520 Wie zu Ciceros Zeiten rekrutierten aristokratische Kreise für die Übermittlung ihres in der Regel überaus dichten Briefverkehrs Boten aus dem persönlichen Umfeld, ferner Gäste, Bekannte und Freunde sowie deren Personal. In christlichem Umfeld wurden häufig Mönche, bei Bischöfen auch Angehörige des Klerus, für Botendienste eingesetzt. So standen im weitläufigen Freundschaftszirkel des Paulinus von Nola zur Aufrechterhaltung einer regelmässigen Korrespondenz mehrere Dutzend Kuriere aus drei sozialen Gruppen zur Verfügung (pueri – famuli – filii sancti), wobei Paulinus persönlich der dritten etwa bei Badian (1997) 99. 514 Suet. Aug. 49,3. 515 Vgl. Kolb (2000) 289. 516 Suet. Aug. 49,3: (…) iuvenes primo modicis intervallis per militaris vias, dehinc vehicula disposuit. commodius id visum est, ut qui a loco idem perferunt litteras, interrogari quoque, si quid res exigant, possint. Vgl. Klauck (1998) 67; Kolb (2000) 54. 517 Kolb (2000) 64 und 295–299. Zum Personal des cursus publicus vgl. Stoffel (1994) 18–21. 518 Zum spätantiken cursus publicus vgl. Stoffel (1994). Spezifisch zum Nutzungsrecht in Kaiserzeit und Spätantike: Kolb (2000) 71–122. Auch Sidonius Apollinaris gehörte als Gesandter seiner Provinz zu den Nutzniessern dieses Systems, vgl. Sidon. epist. 1,5,2. 519 Zu den Missbräuchen vgl. Stoffel (1994) 25–27; Kolb (2000) 117–122. 520 Vgl. die detaillierte Darlegung des Post- und Botenwesens des Zirkels um Paulinus von Nola bei Mratschek (2002) 274–324.

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Gruppe den Vorzug gab.521 Beim geographisch engeren, personell aber weiter gefassten Korrespondentenkreis des Sidonius Apollinaris fungierten nach Möglichkeit Freunde oder Bekannte als Übermittler, ansonsten übernahmen Sklaven (pueri), Klienten, Kaufleute oder Kleriker die Aufgabe eines tabellarius,522 wobei zwischen zwei Korrespondenten häufig dieselben Boten hin und her eilten.523 Empfehlungs- und Petitionsschreiben wurden den jeweiligen Bittstellern selbst mitgegeben.524 Für Reisende und Kaufleute brachte die gelegentliche Übernahme von Kurierdiensten für reiche Aristokraten oder Bischöfe durchaus Vorteile, da sich die Empfänger in der Regel erkenntlich zeigten. So spottet Sidonius in einem Brief an Simplicius über den baiulus apicum, der sich freiwillig für den Botendienst gemeldet habe, nur um anschliessend Simplicius’ Gastfreundschaft geniessen zu können.525 Die Probleme postalischer Übermittlung blieben sich über die Jahrhunderte gleich. Briefe gingen auf dem Weg verloren oder kamen verspätet an, etwa weil der Adressat in der Zwischenzeit seinen Aufenthaltsort gewechselt hatte.526 Die Organisation von Nachsendeaufträgen wie sie etwa von Symmachus oder Augustinus bezeugt sind,527 konnte zumindest dieser Eventualität erfolgreich entgegenwirken. Im Winter kam die Briefbeförderung in Gallien regelmässig zum Erliegen, sodass sich etwa Paulinus von Nola überrascht zeigte, als er zu dieser Jahreszeit einen Brief aus Bordeaux erhielt.528 Auch waren in politisch unruhigen Zeiten, in denen das Reisen mit grossen Gefahren verbunden war, die Postverbindungen häufig eingeschränkt. Nach der Eroberung Roms 410 n. Chr. durch Alarich waren die Strassen Italiens kaum mehr passierbar. Nur noch über den Seeweg konnte Paulinus seinen Briefverkehr aufrechterhalten, der Kontakt ins innere Gallien war schon einige Jahre 521 Mratschek (2002) 307–316. 522 Vgl. Amherdt (2001) 32–33; Kaufmann (1995) 244 Anm. 747. Zu den vielfältigen Bezeichnungen für den Boten bei Sidonius Apollinaris vgl. den Index bei Luetjohann (1887) 481 s. v. tabellarius. 523 So pendelte Amantius zwischen Sidonius und Graecus von Marseille (vgl. Sidon. epist. 6,8; epist. 7,7; epist. 7,11); Gozolas zwischen Sidonius Apollinaris und Magnus Felix (Sidon. epist. 3,4; epist. 4,5); Capillutus zwischen Ruricius und seinen Adressaten in der Provence (Ruric. epist. 2,40,5; Caesar. Arel. epist. ad Ruric. ed. Demeulenaere, 402). Zu Paulinus von Nola vgl. ausführlich Mratschek (2002) 283–286. 524 Wenn bei Sidonius Apollinaris die Überbringer im Brief thematisiert werden, geschieht dies meist in diesem Kontext, vgl. Sidon. epist. 1,10; epist. 3,9; epist. 3,10; epist. 4,6, epist. 5,1; epist. 6,4; epist. 6,8; epist. 6,10; epist. 6,11; epist. 7,4; epist. 8,13; epist. 8,14. Ausnahmen sind etwa: Sidon. epist. 4,2; epist. 4,8; epist. 7,2; epist. 7,7; epist. 8,9; epist. 9,3; epist. 9,4; epist. 9,8; epist. 9,14. 525 Sidon. epist. 4,7. 526 Vgl. Sidon. epist. 4,12,2–3 (ein Brief ging verloren); Sidon. epist. 9,9,1 (ein Brief kam nicht an, da der Adressat verreist war); Paul. Nol. epist. 6,1 (ein Brief kam wegen Bequemlichkeit des Boten nicht an): sed morante adhuc puero (…). scripsimus itaque iterato nunc. Vgl. dazu auch Mratschek (2002) 296 f. 527 Symm. epist. 9,45; Aug. epist. 149,2. 528 Paul. Nol. epist. 19,1: multo magis tempus hibernum in tuo nobis silentio transigendum putabamus.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

zuvor abgebrochen.529 Ende des Jahres 470 n. Chr. bekundete Claudianus Mamertus gegenüber Sidonius seine Mühe einen Briefboten zu finden, der den Weg vom sicheren Vienne in die von den Goten bedrängte Auvergne unternehmen wollte.530 Sidonius musste warten, bis die Reisewege wieder sicher waren.531 Die mangelhafte Sicherheit des Transfers gehörte in allen Epochen der Antike zu den schwerwiegenden Problemen privater wie staatlicher Nachrichtenübermittlung.532 Briefe mit vertraulichem oder geheimem Inhalt waren ganz der Verlässlichkeit der Boten überlassen. Stets bestand die Gefahr, dass ein Brief verloren ging, unberechtigterweise geöffnet oder abgefangen wurde. So entschuldigt sich Cicero in einem Brief an Atticus für die Verzögerung seiner überfälligen Antwort. Er habe keinen zuverlässigen Boten (fidelis tabellarius) gefunden, der einen Brief mit freimütigerem Inhalt (paulo liberiores litteras) hätte überbringen können: Sunt autem post discessum a me tuum res dignae litteris nostris, sed non committendae eius modi periculo, ut aut interire aut aperiri aut intercipi possint. Seit du mich verlassen hast, haben sich durchaus wichtige Dinge ereignet, die ich dir in einem Brief gerne berichten würde, doch kann ich das Risiko nicht eingehen, dass dieser verloren geht, geöffnet oder abgefangen wird. (Cic. Att. 1,13,2)

Damit sind die drei wesentlichen Störfaktoren antiker Briefübermittlung genannt. Während der erste Fall, der Verlust infolge äusserer Umstände wie Unwetter, Schiffbruch533 oder Überfall534 eine ärgerliche, aber in der Regel ungefährliche Angelegenheit darstellte, konnte das unrechtmässige Öffnen oder Abfangen eines vertraulichen Briefs beträchtliche Konsequenzen für Absender und Adressaten nach sich ziehen.535 Cicero, dessen Korrespondenz häufig politische Informationen enthielt,536 war daher gerade in politischen Krisenzeiten darauf bedacht, für Briefe dieser Art möglichst verlässliche Übermittler zu finden, auch wenn dies mit einer Wartezeit verbunden war.537 Klagen 529 Mratschek (2002) 299–301. 530 Sidon. epist. 4,2,1. 531 Sidon. epist. 6,6,1. Weitere Stellen zur Reisesicherheit nennt Kaufmann (1995) 183 Anm. 538. 532 Über die Risiken bei der Übermittlung ausführlich Riepl (1913) 279–322. 533 Cicero sandte wichtige Briefe sicherheitshalber in doppelter Ausführung, so etwa einen offiziellen Brief, den er aus Furcht vor einem Schiffbruch zwei verschiedenen Boten übergab, vgl. Cic. Att. 6,1,9: propter casum navigandi per binos tabellarios misi Romam publice litteras. Weitere Beispiele finden sich bei Nicholson (1994) 54. 534 Cic. fam. 2,9,1. Vgl. Riepl (1913) 283–284. 535 Es gilt zu betonen, dass die im Folgenden behandelte unrechtmässige Öffnung und Enteignung von Briefen ein Phänomen darstellte, das wohl mehrheitlich, wenn nicht ausschliesslich, bedeutende Persönlichkeiten betraf. 536 Vgl. Drecoll (2006) 191–198. 537 Cic. Att. 5,17,1. Zu den Problemen Ciceros mit einer sicheren Nachrichtenübermittlung

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über Unsicherheiten und Unzulänglichkeiten des Nachrichtentransfers gehören folglich zu den Leitmotiven seiner umfangreichen Korrespondenz. Sein Misstrauen war durchaus berechtigt, denn es kam offenbar nicht selten vor, dass neugierige Kuriere seine Briefe öffneten und lasen.538 Im Jahr 54 v. Chr. schrieb Cicero an seinen sich im Heerlager Caesars befindlichen Bruder Quintus: De publicis negotiis (…) neglegentius ad te ante scribebam, quod omnia minima maxima ad Caesarem mitti sciebam. Über die Angelegenheiten, die das Staatswesen betreffen, habe ich dir zuvor nur ganz beiläufig geschrieben, denn ich weiss, dass jede Kleinigkeit zu Caesar gelangt. (Cic. Quint. fr. 3,1,10)

Offenbar hatte Cicero davon Kenntnis, dass bisweilen die Boten Caesars, die regelmässig Ciceros Briefe an seinen Bruder transportierten, diese durchlasen und Caesar darüber Bericht erstatteten. Daher ermahnt er seinen Bruder, in Briefen nichts Verfängliches zu äussern, „viele Dinge will ich lieber nicht wissen, als diese unter Gefahr zu erfahren.“539 In Kriegszeiten wurde das Briefgeheimnis regelmässig gebrochen.540 Um an sensible Informationen zu gelangen, haben in Rom zur Zeit der Bürgerkriege beide Seiten Boten abgefangen und durchsucht. Die Briefe politischer Gegner wurden beschlagnahmt oder in der Weitervermittlung erheblich verzögert.541 Im März 43 v. Chr. schrieb Asinius Pollio, damals Statthalter in Spanien, an Cicero: Minime mirum tibi debet videri nihil me scripsisse de re publica postea quam itum est ad arma. nam saltus Castulonensis, qui semper tenuit nostros tabellarios, etsi nunc frequentioribus latrociniis infestior factus est, tamen nequaquam tanta in mora est quanta qui locis omnibus dispositi ab utraque parte scrutantur tabellarios et retinent. Es dürfte dich keineswegs erstaunen, dass ich dir, nachdem der Krieg ausgebrochen ist, nichts mehr über die politische Lage geschrieben habe. Denn das Waldgebiet von Castulo, das schon immer unsere Briefboten aufgehalten hat, ist jetzt gewiss durch häufige Raubüberfälle noch gefährlicher geworden. Doch verursacht dies keineswegs eine derartige Verzögerung wie die von beiden kriegführenden Parteien an allen Orten aufgestellten Militärposten, welche die Boten durchsuchen und zurückhalten. (Cic. fam. 10,31,1)

vgl. allgem. Nicholson (1994) sowie Jenkins (2006) 37–50. 538 Vgl. Cic. Att. 1,13,1: quotus enim quisque est qui epistulam paulo graviorem ferre possit, nisi eam perlectione relevarit. Zahlreiche Beispiele dazu nennt Nicholson (1994) 39–40. 539 Cic. Quint. fr. 3,6,2: Multa sunt quae ego nescire malo quam cum aliquo periculo fieri certior. 540 Vgl. Riepl (1913) 279 mit Beispielen aus unterschiedlichen Zeiten. Allgem. zur Bedeutung der Epistolographie in Kriegszeiten vgl. Jenkins (2006) 51–67. 541 Vgl. Cic. fam. 12,12,1, in dem Cassius die Unterschlagung seiner Briefe durch Dolabella beklagt. Die republikanische Seite verfuhr ebenso, vgl. Cic. fam. 11,11,1; fam. 12,15,2.

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Die Obstruktion der Kommunikationswege blieb in diesem Fall nicht ohne Folgen, wie aus dem Brief hervorgeht, den Pollio zwei Monate später an Cicero sandte:542 Quo tardius certior fierem de proeliis apud Mutinam factis Lepidus effecit, qui meos tabellarios novem dies retinuit. Lepidus, der meine Briefboten neun Tage lang festhielt, hat dafür gesorgt, dass ich von den Kämpfen bei Mutina erst mit erheblicher Verzögerung erfuhr. (Cic. fam. 10,33,1)

Nachrichten aus Rom benötigten ohnehin schon mindestens vierzig Tage nach Corduba,543 wenn sie dann noch aufgehalten wurden, minimierten sich Pollios Handlungsmöglichkeiten in beträchtlicher Weise – dies zu einer Zeit, in der schnelles Handeln erforderlich gewesen wäre. Auch für die Kaiserzeit ist in Krisensituationen das Abfangen von Briefen bezeugt.544 Die Gefahr, sich durch unüberlegte briefliche Äusserungen zu kompromittieren, blieb in der Monarchie auch in Friedenszeiten bestehen. Man hat die Briefsammlung des jüngeren Plinius, in der sich Nachrichten de re publica weitgehend in der Darstellung politischer Prozesse erschöpfen, als Hinweis dafür interpretiert, dass in der Kaiserzeit im Vergleich mit der Republik politische Themen im Briefwechsel aristokratischer Kreise deutlich zurückgingen.545 Widerrechtlich in Besitz genommene Briefe führten auch Jahrhunderte später zu brisanten Enthüllungen. Laut Bericht des Ammianus Marcellinus erfuhr der in Gallien stationierte Caesar Julian von den Machenschaften des Constantius durch einen an diesen adressierten abgefangenen Brief des alamannischen Königs Vadomar.546 Einige Jahre darauf wurde der Prokonsul von Afrika Hymetius in die Verbannung geschickt, nachdem man im Haus des Wahrsagers Amantius einen Brief des Statthalters mit Anschuldigungen gegen Kaiser Valentinian gefunden hatte.547 Ein abgefangener Brief war auch der Grund, weshalb die Verschwörung des praefectus praetorio Galliarum Arvandus bekannt wurde, von der Sidonius Apollinaris berichtet.548 Ein Jahrhundert später wurden dem Bischof Aegidius von Reims jene Briefe, die er

542 Der erste Brief (epist. 10,31) wurde erst am 14. April aufgegeben, dem ersten Tag, als das Meer wieder schiffbar wurde, vgl. Shackleton Bailey (1977) 506. 543 Vgl. Cic. fam. 10,33,5: Maxime tamen doleo adeo et longo et infesto itinere ad me veniri, ut die quadragesimo post aut ultra etiam quam facta sunt omnia nuntientur. 544 Beispiele finden sich bei Riepl (1913) 280. 545 Riepl (1913) 422–429; Drecoll (2006) 56–69. Im Anschluss an einen solchen Bericht reklamiert Plinius das Recht, über Politik in Briefen berichten zu dürfen, bekennt aber gleichzeitig, dass im Vergleich zu den maiores nur selten auch die Gelegenheit dazu bestehe, vgl. Plin. epist. 3,20,10–12. 546 Amm. 21,3. Vgl. dazu Szidat (1981) 88–90. 547 Amm. 28,1,19–23. 548 Sidon. epist. 1,7,5. Vgl. dazu Teitler (1992).

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mit Chilperich in verschwörerischer Absicht ausgetauscht hatte, zum Verhängnis.549 b. Ἐν αἰνιγμοῖς: Zu den Methoden antiker Brief- und Inhaltssicherung Angesichts der Risiken und Gefahren brieflicher Kommunikation ist es nicht erstaunlich, dass Vorsichtsmassnahmen getroffen wurden, um die Aufdeckung kompromittierender Nachrichten so gut wie möglich zu verhindern. Das Sicherste war zweifellos einen entsprechenden Briefkontakt gänzlich zu unterlassen oder zumindest Briefe politisch-vertraulichen Inhalts gar nicht erst zu schreiben, wie Mahnungen sowohl von Cicero als auch von Sidonius Apollinaris verdeutlichen.550 War dies keine Option, gab es in der Antike bestimmte Mittel und Wege, um Informationen relativ sicher zu übermitteln.551 Eine probable Methode war das mündliche Instruieren eines Boten, dem ein Schreiben lediglich als eine Art Visitenkarte mitgegeben wurde, ein Vorgehen, das in der Spätantike gängigem Usus entsprach.552 Die mündliche Berichterstattung durch einen Boten hatte, wie Ruricius von Limoges in einem Brief an Victorinus von Fréjus betont, den Vorteil, dass „kein Räuber sie stehlen, kein Verbrecher sie entreissen, kein Unwetter sie zerstören, noch Alter sie zersetzen kann.“553 Wollte man eine Nachricht aber nicht mündlich, sondern schriftlich per Brief übermitteln, boten sich zwei Formen der Briefsicherung an, die besonders in Kombination eine relativ hohe Sicherheit versprachen: eine äussere (1) und eine innere Form der Briefsicherung (2). 1. Zu den äusseren Vorsichtsmassnahmen gehört neben der Suche nach einem verlässlichen Boten die Anbringung eines Siegels. Dieser bot jedoch nur eine begrenzte Sicherheit, dann nämlich, wenn der jeweilige Interzipient das Briefgeheimnis achtete und den Siegel intakt liess.554 Cicero, der seine eigenen Briefe in der Regel siegelte, hatte selbst keine Skrupel, bei einer sich 549 Greg. Tour. Hist. 10,19. 550 Cic. Quint. fr. 3,6,2: Etiam illud te admoneo, ne quid ullis litteris committas quod si prolatum sit moleste feramus. Vgl. Cic. fam. 2,5,1: Haec negotia quo modo se habeant ne epistula quidem narrare audeo und fam. 13,68,2: Ego ad te de re publica summa quid sentiam non saepe scribam propter periculum eius modi litterarum (…); Sidon. epist. 9,3,1: cautissimum reor ac saluberrimum (…) tantisper (…) curam potius assumere conticescendi; Sidonius kann 475 n. Chr. den unterbrochenen Briefwechsel mit Iulianus kurzzeitig wieder aufnehmen, quoniam cessant esse suspecti (epist. 9,5,1). 551 Reiches Material bieten Riepl (1913) und spezifisch zu Cicero Nicholson (1994) 39 ff. 552 Vgl. zu Cicero Nikitinski (2001) 229–247; Nicholson (1994) 42 ff. und mit Blick auf die Spätantike Zelzer (1997) 331; Mratschek (2002) 302–307. Mündliche Nachricht per pugillatorem erwähnt Sidonius Apollinaris etwa in epist. 6,11,2; epist. 4,12,4; epist. 9,14,4 und epist. 9,3,1. 553 Ruric. epist. 2,40,7–8: unde eos nec fur auferre nec violentus eripere nec imber eluere nec vetustas possit abolere. 554 Vgl. etwa Plut. Demetr. 22, wo berichtet wird, dass die Athener einen abgefangenen Brief des Olympias an Philipp von Makedonien mit intaktem Siegel dem König zukommen liessen, obwohl dieser in den Krieg gegen sie zog.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

bietenden Gelegenheit die Post anderer zu öffnen und zu lesen.555 Erfolgversprechender waren geheime Übermittlungsverfahren, von denen der griechische Militärschriftsteller Aineias Taktikos zu Beginn des 4. Jahrhunderts v. Chr. seinem Publikum eine breite Palette präsentierte.556 Zur heimlichen Briefbeförderung empfiehlt er etwa das Einnähen der Nachricht in die Sohle des Kuriers und andere Methoden, die sich auch für eine zivile Nutzung eigneten. Die Verwendung solcher Tricks ist auch für die Spätantike bezeugt. Im Vorfeld des Perserkriegs 359/60 n. Chr. haben Kundschafter unentdeckt ein geheimes Schreiben Prokops, der sich als Gesandter am Perserhof aufhielt, in der Schwertscheide verborgen ins römische Amida gebracht.557 Weniger Erfolg hatte ums Jahr 583 n. Chr. ein Abt aus Cahors, der einen Brief des Usurpators Gundowald in einem mit Wachs bezogenen ausgehöhlten Schreibtäfelchen verborgen hatte. Das Schreiben wurde entdeckt, der Abt gefoltert und in den Kerker geworfen.558 2. Im Gegensatz zur äusseren Briefsicherung, die lediglich auf die Art und Weise des Nachrichtentransfers Einfluss nimmt, operiert die innere Briefsicherung mittels Verschlüsselung des zu übermittelnden Textes.559 Die Verwendung eines kryptischen Zeichensystems, mit dem Nachrichten sprachlich (Geheimsprache) oder graphisch (Geheimschrift) kodiert wurden, versprach eine relativ hohe Sicherheit, da diese lediglich von einem eingeweihten Adressatenkreis dechiffriert werden konnten. Dies hatte aber zur Folge, dass der Brief zwar gegen unberechtigte Einsichtnahme geschützt war, es jedoch einer vorgängigen Absprache zwischen Sender und Empfänger bedurfte, ohne die der Nachrichtentransfer misslang.560 Berühmtheit erlangte in der Antike die Geheimschrift der spartanischen Euphoren, deren aus durcheinander gewürfelten Buchstaben bestehende Nachricht nur gelesen werden konnte, wenn man den auf einem schmalen Riemen geschriebenen Brief um einen bestimmten Stab, die σκυτάλη, wickelte.561 Sowohl für Caesar als auch für Augustus ist in brieflicher Korrespondenz die gelegentliche Verwendung einer Chiffre (notae) überliefert, in der jeweils ein Buchstabe des Alphabets regelmässig durch einen anderen ersetzt wurde.562 Für den Briefwechsel des ersteren hat in späterer Zeit der Gram555 Cic. Att. 5,11,7. Vgl. Nicholson (1994) 42–43. 556 Ain. Takt. 31,1–35. Zur Bedeutung, die Aineias einer brieflichen Kommunikation in einer Belagerungssituation zumass, und seinen konkreten Anweisungen, vgl. Jenkins (2006) 51–59. 557 Amm. 18,6,17. 558 Greg. Tour. Hist. 7,30. 559 Zur Kryptographie in der griechisch-römischen Antike vgl. allgem. Collard (2004). 560 Besonders wenn zusätzlich Techniken der äusseren Briefsicherung angewandt werden, vgl. Ain. Takt. 31,1. 561 Plut. Lysand. 19; Gell. 17,9,6–15; Cic. Att. 10,10,3. Vgl. Riepl (1913) 313 ff. 562 Dabei handelt es sich, wenn das Schriftstück in Scriptura continua gehalten war, um eine durchaus effektive Methode. Vgl. Suet. Div. Iul. 56: Exstant [epistulae] et ad Ciceronem, item ad familiares domesticis de rebus, in quibus, si qua occultius perferenda erant, per notas scripsit, id est sic structo litterarum ordine, ut nullum verbum effici posset; quae si qui

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matiker Probus eigens eine Entschlüsselungstafel erstellt.563 Nicht weniger komplex sind die wohl vorwiegend für militärischen Gebrauch konzipierten kryptographischen Systeme, die Aineas Taktikos in seinem Handbuch darlegt.564 Eine wesentlich einfachere Technik stellte demgegenüber die rückläufige Schreibung der einzelnen Wörter dar, deren Verwendung Isidor von Sevilla bezeugt.565 Zweifellos häufiger als graphische Kodierungen dieser Art kamen im alltäglichen Gebrauch sprachliche Verrätselungen zum Einsatz. Eine eigentliche Geheimsprache wurde dabei in den seltensten Fällen entwickelt. Vielmehr begnügte man sich damit, sensible Sachverhalte privater oder politischer Natur in obskuren Andeutungen zu verschleiern, die nur einem mit dem verhandelten Gegenstand vertrauten Insider verständlich waren. Ein durchaus probables Mittel war hierbei, wie weiter oben erwähnt, die Kodierung des Inhalts mittels Verwendung von Decknamen und Allegorien. Angesichts heikler Themen entpuppte sich Cicero in seinen Briefen an Atticus als regelrechter Meister in dunkler und anspielungsreicher Ausdrucksweise.566 Im Sommer 59 v. Chr. schrieb er in zunehmender Besorgnis über die politische Entwicklung in Rom in einem Postskript an Atticus: Sed haec scripsi properans et me hercule timide. posthac ad te aut, si perfidelem habebo cui dem, scribam plane omnia aut, si obscure scribam, tu tamen intelleges. in iis epistulis me Laelium, te Furium faciam; cetera erunt ἐν αἰνιγμοῖς. Doch dies schreibe ich in Hast und, beim Hercules!, mit Vorsicht. Ich werde dir später alles offen mitteilen, falls ich einen in jedem Fall verlässlichen Boten finde. Falls ich mich aber verdunkelt ausdrücke, wirst du es dennoch verstehen. In diesen Briefen nenne ich mich Laelius und dich Furius, alles andere wird in Geheimnisse gehüllt. (Cic. Att. 2,19,5)

Die hier angekündigte Verwendung von Decknamen567 und verrätselten Formulierungen (αἰνιγμοί), deren sich auch Atticus und andere Briefpartner bedienten,568 kam in Ciceros Korrespondenz selbst bei familiären Angelegenheiten relativ häufig zum Einsatz.569 Gelegentlich waren Ciceros für heu-

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investigare et persequi velit, quartam elementorum litteram, id est D pro A et perinde reliquas commutet; Suet. Aug. 88: Quotiens autem per notas scribit, B pro A, C pro B ac deinceps eadem ratione sequentis litteras ponit; pro X autem duplex A; Gell. 17,9,3–5. Vgl. Gell. 17,9,5: est adeo Probi grammatici commentarius satis curiose factus De occulta litterarum significatione in epistularum C. Caesaris scriptura. Ain. Takt. 31,2–3 (geheime Buchstabenmarkierung); Ain. Takt. 31,30 (Vokalpunkturschrift). Isid. etym. 1,25: quidam etiam versis verbis scribunt. Zahlreiche Beispiele nennt Nicholson (1994) 43 ff. Eine Anpassung erfuhr dieses Decknamensystem in Cic. Att. 2,20,5. Cic. Att. 2,7,4: sed illud quid sit scire cupio, quod iacis obscure; Att. 7,13,3; Att. 12,38,2: Asinius Pollio ad me scripsit de impuro nostro cognato. quod Balbus minor nuper satis plane, Dolabella obscure, hic apertissime. In der Erfindung von Decknamen war Cicero durchaus phantasievoll: Pompeius wird z. B. als „Sampsiceramus“ (Cic. Att. 2,14,1); „Hierosolymarius“ (Cic. Att. 2,9,1) oder „Arabarches“ (Cic. Att. 2,17,3) umschrieben. Ein schönes Beispiel eines familiären Prob-

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tige Interpreten oft mühsam zu entschlüsselnde Kodierungen (tecta verba: fam. 9,22,5) auch den jeweiligen Rezipienten selbst kaum verständlich.570 In der Regel konnte man sich aber auf die Fertigkeit des Adressaten verlassen, entsprechende Anspielungen zu verstehen und erfolgreich zwischen den Zeilen zu lesen.571 Bei hochgradigen Verschlüsselungen war man aber auf vorgängige Absprachen angewiesen. Auch Griechisch wurde zu Ciceros Zeit als Kodierungstechnik angewandt, was erstaunlich ist, dürfte diese Methode doch angesichts der weitgehend bilingualen römischen Oberschicht eher von beschränkter Wirkung gewesen sein.572 Die grösste Sicherheit versprach zweifellos eine Kombination der erwähnten Techniken. In militärischen Kontexten waren die Sicherheitsvorkehrungen in der Regel maximal. Prokop hat den oben genannten, von den römischen Kundschaftern in der Schwertscheide überbrachten Brief nicht nur in einer Geheimschrift abgefasst (notarum figuris), sondern ihn zusätzlich unter Verwendung von Decknamen und Allegorien sprachlich derart verdunkelt, dass selbst wenn der Brief abgefangen und die Chiffre entziffert worden wäre, der Inhalt kein Unheil angerichtet hätte.573 Selbst die Adressaten des Briefes, der magister militum per Orientem Ursicinus und Ammian konnten die Botschaft nur mit Mühe auflösen.574 Allerdings erzielten allegorische Verschlüsselungen bei kundigen Interzipienten nicht immer die vom Absender erhoffte Ratlosigkeit, wie das oben erwähnte Beispiel des Bischofs Aegidius von Reims zeigt. Laut Gregor von Tour stand in einem Brief Chilperichs an den Bischof lediglich der folgende landwirtschaftliche Lehrsatz: Si radix cuiuslibet rei incisa non fuerit, culmis, qui terris est editus, non ariscit („Wird einer Sache nicht die Wurzel zerschnitten, verdorrt auch nicht der Halm, der der Erde entspross.“)575 Daraus sei nach Meinung der Ankläger aber durchaus ersicht-

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lems, das Cicero mit Atticus brieflich in verschleierter Form bespricht, hat Nicholson (1994) 51–52 nachgezeichnet (über Finanzprobleme im Zusammenhang mit Philotimus, dem Verwalter der Terentia). Vgl. Cic. Att. 2,7,4: sed illud quid sit scire cupio, quod iacis obscure, iam etiam ex ipsis quinque viris loqui quosdam. quidnam id est? und Cic. Att. 7,13,3: Aenigma „sacconum ex Velia“ plane non intellexi; est enim numero Platonis obscurius. Im Folgebrief hat er das Rätsel dann gelöst: Iam intellexi tuum aenigma; Oppios enim „de Velia saccones“ dicis. in eo aestuavi diu. quo aperto reliqua patebant et cum Terentiae summa congruebant (Cic. Att. 7,13a,1). Vgl. Cic. fam. 11,13,1: Attendere te volo, quae manibus sunt; qua enim prudentia es, nihil te fugiet, si meas litteras diligenter legeris. Vgl. etwa Cic. Att. 6,4,3: Illud praeterea μυστικώτερον ad te scribam, tu sagacius odorabere (es folgt auf Griechisch der Verdacht, den Cicero gegen Philotimus hegt). Erheblich wirkungsvoller war diese Technik natürlich in einem Umfeld, wo Griechischkenntnisse fehlten, vgl. Caes. Gall. 5,48. Amm. 18,6,17: quem (…) haec consulto obscurius indicantem, ne captis baiulis sensuque intellecto scriptorum excitaretur materia funestissima. Amm. 18,6,19: his ob perplexitatem nimiam aegerrime lectis consilium suscipitur prudens. Zum Inhalt des Briefs und seiner Auslegung, vgl. Amm. 18,6,18–19. Greg. Tour. Hist. 10,19.

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lich gewesen, dass die Verschwörer zuerst Brunichild und anschliessend ihren Sohn Childebert II. ermorden wollten. Die von Johannes van Waarden bei modernen Briefinterpreten angemahnte Obsession, überall geheime Nachrichten zu sehen,576 trifft also, wenn man so will, in gewissem Masse bereits auf die Spätantike zu. Die realhistorische Grundlage für diesen Verdacht bildet hier wie dort die Praxis dunklen Schreibens. 2.3.4. Si licet, scribite! – Krieg, Politik und dunkles Schreiben in den Korrespondenzen gallischer Bischöfe (450–510 n. Chr.) Spätestens nach dem Tod Valentinians III. (455 n. Chr.), als sich die politische Lage in Gallien weiter zuspitzte, gewann ein Leben im Dienst der Kirche für Angehörige der gallorömischen Aristokratie zunehmend an Attraktivität. Eine kirchliche Laufbahn bot zumindest für eine privilegierte Gruppe innerhalb der Senatsaristokratie eine standesgemässe Alternative, um ihre angestammte Führungsposition in der Gesellschaft zu wahren.577 Im 5. Jahrhundert verfügte ein Bischof neben der Entscheidungsgewalt in religiösen Dingen auch über eine beträchtliche weltliche Machtposition. Im Machtvakuum, das der sukzessive Rückzug der staatlichen Organe in weiten Gebieten Galliens hinterlassen hatte, übernahmen sie zunehmend administrative Funktionen, standen als Patrone ihrer Gemeinde in Kontakt mit den römischen und germanischen Machthabern und organisierten in Krisensituationen die militärische Verteidigung. Auch vom Standpunkt der jeweiligen civitas aus war die Wahl eines begüterten, lokal verwurzelten und in zivilen und militärischen Belangen erfahrenen Aristokraten zum Bischof durchaus zweckdienlich, vermochte dieser doch infolge Vermögensverhältnis, Führungsqualität und vielfältiger sozialer Kontakte und Beziehungen die Eigen- und Partikularinteressen der Diözese gegen aussen politisch wirkungsvoll zu vertreten.578 Als Patrone ihrer civitas partizipierten die gallischen Bischöfe aktiv am politischen Geschehen der Zeit, was infolge der instabilen Lage der 460/70er sowie der 480/90er Jahre erhebliche Loyalitätskonflikte mit sich bringen konnte. Der Wechsel von einer imperialen zu einer „barbarischen“ Obödienz und vice versa, sowie von einer germanischen Gruppe zur nächsten bedeutete eine beträchtliche Herausforderung für den gallorömischen Episkopat und erforderte in nicht geringem Masse politischen Sachverstand und Anpassungsfähigkeit, zumal dieser politische Prozess zusätzlich von einer religiösen Komponente überlagert wurde.579 Nicht selten wurden aristokratische Brief576 Vgl. van Waarden (2010) 40 und 66. 577 Die Übernahme kirchlicher Ämter durch die gallorömische Aristokratie behandeln u. a. Heinzelmann (1976) 61 ff.; Wormald (1976) 217–226; Van Dam (1985) 141–156; Angenendt (1990) 94–96; Mathisen (1993) 89–104; Rapp (2000) 379–399. 578 Baumgart (1995) 152–153. Zu Sidonius Apollinaris als Bischof vgl. u.a. Rousseau (1976); Näf (1995) 160–165; Amherdt (2001) 17–21. 579 Mathisen (1993) 77–85; Harries (1992) bes. 306 f. zum „climate of confusion over loyalties“.

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freundschaften durch Kriege und territoriale Auseinandersetzungen feindlicher Parteien getrennt, sodass die Aufrechterhaltung des Kontakts für die Beteiligten unter Umständen gefährlich sein konnte.580 Die Aufforderung des Avitus von Vienne an den vir illustrissimus Aurelianus erscheint daher als symptomatisch für diese diffizile Situation: Si licet scribite, sin alias, quod prohiberi non potest, vel amate! (Avit. epist. 37 ed. Peiper, 67,4–5). Aus dieser Perspektive gewinnt die in der Forschung vertretene Annahme an Plausibilität, dass sich die Exponenten kirchlich-staatlicher Ordnung in ihrer Korrespondenz zum aktuellen politischen Geschehen, wenn überhaupt, nur vorsichtig äusserten. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, inwiefern zu dieser Zeit tatsächlich sensible Angelegenheiten brieflich in verhüllter Form kommuniziert wurden und – falls ja – mit Hilfe welcher Art von Verschlüsselungen und Verklausulierungen dies vonstatten ging.581 Der Fokus liegt dabei auf Sidonius Apollinaris, Avitus von Vienne und Ruricius von Limoges. Durch diese Auswahl rücken auch allfällige zeitliche Divergenzen stärker ins Blickfeld, da sich die Entwicklung über zwei Generationen verfolgen lässt. Die folgende Analyse sieht sich mit zwei unmittelbaren methodologischen Problemen konfrontiert. Schwierigkeiten ergeben sich zum einen durch den unterschiedlichen kontemporären Öffentlichkeitsgrad der behandelten Briefe. Die Privatbriefe des Ruricius waren ebenso wie die des Avitus in erster Linie an einen primären Adressaten gerichtet, während sich die veröffentlichte Privatbriefsammlung des Sidonius Apollinaris an ein sekundäres Leserpublikum wandte.582 Diese Differenzen gilt es zu bedenken, wenn einer politisch motivierten Obscuritas in den Briefkorpora dieser Autoren nachgegangen wird. Ferner liegt diesem Vorgehen die Gefahr eines Zirkelschlusses nahe, da nicht nur die Existenz, sondern auch Anlass und Notwendigkeit dunklen Schreibens vorwiegend aus den Briefen selbst rekonstruiert werden müssen. Der realhistorische Hintergrund, der Obscuritas in der Folge bedingte, stellt analog zum weiter oben behandelten Bildungsverfall letztlich wieder nur eine erzählte Wirklichkeit dar, die mit der historischen Realität 580 Vgl. Sidon. epist. 9,5,1: nisi quod per regna divisi a commercio frequentiore sermonis diversarum sortium iure revocamur. Auch gegen Sidonius wurden Anschuldigungen (wegen Verschwörung?) laut, vgl. Sidon. epist. 3,4,2: licet apertis ipsi poenis propter criminum occulta plectamur. Wenn es die Situation zuliess, wurde die Korrespondenz aber auch während der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den germanischen Königreichen aufrechterhalten, vgl. Sidon. epist. 7,11,1: Sed quoniam fraternae quietis voto satis obstrepit conflictantium procella regnorum, saltim inter discretos separatosque litterarii consuetudo sermonis iure retinebitur (…). 581 Der Einsatz fachmännischer krypographischer Methoden wie die Verwendung einer Geheimschrift oder von geheimen Übermittlungstechniken ist nicht bezeugt, für privaten Gebrauch aber auch unwahrscheinlich. 582 Bei Ruricius wird neuerdings eine zumindest geplante Publikation seiner Briefe in Betracht gezogen, deren Spuren sich im erhaltenen Briefkorpus nachweisen lassen. Vgl. dazu weiter unten: S. 292 Anm. 724.

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nur bedingt deckungsgleich sein musste. In diesem Zusammenhang wirft insbesondere die Bewertung der zeitkritischen Bemerkungen in den Briefen des Sidonius Apollinaris Fragen auf, die in der Forschung zu einer Reihe recht unterschiedlicher Antworten geführt haben. a. Hoc solum tamen libere gemo – Sidonius Apollinaris und der Kampf um die Auvergne a.1. Vorbemerkungen: Zur Mehrstimmigkeit der politischen Briefe583 Als Sidonius Apollinaris auf dem Gipfel seiner zivilen Ämterlaufbahn wohl Ende 470 n. Chr. zum Bischof der civitas Arvernorum mit Sitz in Clermont gewählt wurde, standen die Zeichen der Zeit seit längerem auf Krieg. Die Westgoten hatten unter ihrem König Eurich im Jahr zuvor das Bündnis mit den Römern gebrochen und waren in die Aquitania prima eingefallen. Zum Reich gehörte zum Zeitpunkt von Sidonius’ Amtsantritt nur noch Clermont, das mit Hilfe burgundischer Truppen hartnäckig Widerstand leistete.584 Ab 471 fielen im Frühjahr regelmässig westgotische Verbände in die Auvergne ein, belagerten Clermont und zogen im Herbst wieder ab. Vier Jahre später wurde die Auvergne auf Veranlassung des Kaisers Julius Nepos an die Westgoten zediert. Sidonius ging für zwei Jahre ins Exil nach Carcassone und kehrte anschliessend in sein Amt zurück, das er bis zu seinem Tod um 482/86 innehatte. Vor dem Hintergrund seiner aktiven Mitwirkung bei der Abwehr der Westgoten ist es nicht erstaunlich, dass Sidonius auch in seinen Privatbriefen die Ereignisse dieser Zeit regelmässig thematisierte585 – anders als Plinius und nach dessen Vorbild auch Ambrosius hatte Sidonius auf eine Zusammenstellung amtlicher Schreiben in einem zehnten Buch verzichtet.586 Trotz einer eindeutig negativen Haltung gegenüber den westgotischen Aggressoren, die sich im antigotischen Tenor einzelner Briefe spiegelt, sind seine diesbezüglichen Äusserungen in der Regel aber erstaunlich zurückhaltend. Zu Beginn 583 Mit dem Terminus „politisch“ sind hier jene Briefe bezeichnet, in denen im weiteren Sinn Politisches thematisiert wird. Dies ist in (spät-)antiken Privatbriefen nichts Ungewöhnliches. Naturgemäss variiert diese Thematik quantitativ entsprechend der individuellen Partizipation des Autors am zeitgeschichtlichen Geschehen. Die im Folgenden exemplifizierte Mehrstimmigkeit ist nicht als spezifisches Charakteristikum der „politischen“ Briefe anzusehen, vielmehr handelt es sich um eine Strategie, die einen Grossteil von Sidonius’ Werken auszeichnet. 584 Sidon. epist. 7,5,3. Zur Chronologie der Belagerung Clermonts vgl. Loyen (1970) XIIIf., XVIII-XXI; Stevens (1933) 139 ff., 197–207; Kaufmann (1995) 170–214. 585 Vgl. die Übersicht bei Kaufmann (1995) 213–214 und Fernández López (1994) 98–102. Darauf gründet letztlich auch die verbreitete Forschungsmeinung, dass Sidonius seine Briefbücher als politische Rechtfertigung vor seinen Zeitgenossen verfasst habe, vgl. dazu etwa Harries (1994) 11–19; Goldberg (1995) 1; Zelzer (1995) 548; Zelzer/Zelzer (2002) 404–405. 586 Zur Plinius’ Nachfolge des Ambrosius vgl. Zelzer (1987); Savon (1995); Zelzer/Zelzer (2012). Zu Plinius’ Bedeutung für die Briefsammlung des Sidonius vgl. weiter oben: S. 17 Anm. 35.

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der Auseinandersetzungen scheint Sidonius, der in früheren Jahren den Westgoten gegenüber durchaus positiv gesinnt war,587 noch auf eine friedliche Lösung des Konflikts gehofft zu haben. Mit entsprechender Zurückhaltung äussert er sich in einem Brief an seinen Verwandten Avitus über die Kriegszüge der Goten über ihre angestammten Gebiete hinaus.588 Im Winter 471/472 spricht er bereits von der gens foedifraga, ohne die Goten aber namentlich zu nennen.589 Selbst in Briefen, die in die Kriegsjahre 472–475 zu datieren sind,590 sucht man vergeblich nach offen ausgesprochenem Unmut gegen den Kriegstreiber Eurich. So werden in der ausführlichen Schilderung der heldenhaften Befreiung Clermonts durch Sidonius’ Schwager Ecdicius die Goten zwar als hostes bezeichnet, eine darüberhinaus führende explizit negative Charakterisierung findet aber nicht statt.591 Dass Sidonius in seinen Briefen zu kritischen Äusserungen durchaus in der Lage war, zeigen die gehässigen Ausfälle gegen den römischen Kollaborateur Seronatus, der zum Erzverbrecher stilisiert und mit Schmähungen überzogen wurde.592 Offene Meinungsäusserung galt ihm denn auch als Zeichen eines freien Mannes, wie er gegenüber Constantius in jenem wichtigen Brief betonte, mit dem er die ersten sieben Briefbücher abschloss.593 Demgegenüber ist nun Sidonius’ Zurückhaltung in der Beurteilung der gotischen Aggressionspolitik mehr als auffällig. In den Briefen jener Jahre finden sich zwar zahlreiche Anspielungen auf die politische Situation, doch trotz klagendem Ton wird Kritik nie direkt geäussert.594 Die nicht geringe Anzahl von mit Klagen verbundenen tagespolitischen Anspielungen hat die Forschung der letzten Jahre als verhüllte Kritik an Eurich interpretiert.595 In der Tat war Sidonius bei der en-bloc-Publikation der

587 Berühmt ist das positive Porträt des Westgotenkönigs Theuderich II., auf dessen Betreiben Sidonius’ Schwiegervater Avitus zum Kaiser ausgerufen wurde. Zur Darstellung der Westgoten in den Werken des Sidonius vgl. allgem. Kaufmann (1995) 106–139. 588 Sidon. epist. 3,1,5. Die hier anklingende Vermittlungstätigkeit des Avitus zwischen den Goten und dem Imperium Romanum war offenbar erfolglos, vgl. dazu Kaufmann (1995) 179 589 Sidon. epist. 6,6,1. 590 Vgl. Loyen (1970) XVII-XXI. 591 Sidon. epist. 3,3,7. In epist. 6,10,1 spricht er vom depraedationis Gothicae turbinem. 592 Sidon. epist. 2,1,1: Catilina saeculi nostri; epist. 5,13,1: belua; epist. 5,13,3: bestia. 593 Sidon. epist. 7,18,3: Et si me uspiam lectitavisti in aliquos concitatiorem, scias volo Christi dextera opitu-lante numquam me toleraturum animi servitutem (…). nam ut timidi me temerarium, ita constantes liberum appellant. inter quae ipse decerno satis illius iacere personam, cuius necesse est latere sententiam. 594 Krieg erscheint häufig in der Periphrase, vgl. epist. 4,5,2: de temporum statu. An einer Stelle äussert er den Wunsch Lyon zu besuchen, „wenn es die öffentliche Situation erlaubt“ (epist. 4,4,2: si per statum publicum liceat), an einer anderen seinen Unmut über ausbleibende Briefe tempore hostilitatis (epist. 5,3,1). Die Westgoten werden häufig als barbari umschrieben, vgl. epist. 3,7,3. Zur Äusserung von Kritik vgl. weiter unten: S. 270–275. 595 Vgl. zusammenfassend Amherdt (2001) 40–42. Zurückhaltender äussert sich van Waarden (2010) 39–40.

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Briefbücher 2–7, die frühestens um 477 n. Chr. erfolgte,596 erst vor kurzem aus dem Exil zurückgekehrt. Eine offene Kritik am Westgotenkönig wäre zu diesem Zeitpunkt gewiss unklug gewesen. Sidonius selbst erklärt an einer Stelle, dass er sich zu Eurichs Politik nicht offen äussern dürfe: nec … accusare nec … discutere permissum est („weder Vorwürfe (…) noch Untersuchungen sind uns gestattet“: Sidon. epist. 7,6,4).597 In diesen Zusammenhang dürfte auch seine explizite Ablehnung eines zeitgeschichtlichen Werks einzuordnen sein, da solche Schriften dem Autor meist wenig Dank, dafür aber Missgunst und Gefahren einzubringen pflegten:598 Praecipue gloriam nobis parvam ab historia petere fixum, quia per homines clericalis officii temerarie nostra, iactanter aliena, praeterita infructuose, praesentia semiplene, turpiter falsa, periculose vera dicuntur. Besonders deshalb aber steht fest, dass ich mir von einem historischen Werk nur geringen Ruhm verspreche, weil es für Kleriker anmassend ist, von eigenen Angelegenheiten zu erzählen, und prahlerisch, wenn fremde Taten berichtet werden; von Vergangenem berichten sie ohne Nutzen, von Gegenwärtigem nur unvollständig; die Unwahrheit zu erzählen ist schändlich, die Wahrheit aber gefährlich. (Sidon. epist. 4,22,5)

Die Stelle ist eine der seltenen expliziten Referenzen auf die Anwendung politisch motivierter Obscuritas (praesentia semiplene dicuntur) durch die gallorömische Bildungselite.599 Durch die recusatio einer Grossform war aber die Möglichkeit, auf diskrete Weise die Politik und Geschichte seiner Zeit mittels publizierter Privatbriefe zu thematisieren, nicht grundsätzlich ausgeschlossen, zumal Sidonius schon zuvor in ähnlicher Weise literarisch tätig geworden war.600 Trotz dieser offenkundigen Instrumentalisierung literarischer Mittel scheint die daraus abgeleitete These, Sidonius habe nach der Übergabe Clermonts mittels seiner Briefbücher in erster Linie den Abwehrkampf gegen die Goten mit anderen Mitteln fortführen und seine Zeitgenossen zum geistigen Widerstand gegen Eurich aufrufen wollen,601 doch entschieden zu weit zu gehen, auch wenn die politische Thematik bestimmte Briefbücher vordergründig zu dominieren scheint.602 Die Vorstellung, das Briefkorpus sei 596 Zur Datierung der en-bloc-Publikation der Bücher 2–7 vgl. weiter oben: S. 24 Anm. 85. 597 Diese vielzitierte Passage verliert indes an Aussagekraft, wenn man den Kontext näher betrachtet, vgl. weiter unten: S. 272f. 598 Dazu etwa Cugusi (1991); Näf (1995) 133 ff.; Amherdt (2001) 451–455 und auch Gualandri (1979) 29 ff., welche die stilästhetischen Komponenten von Sidonius’ Ablehnung betont. 599 Derselbe Schlüsselbegriff erscheint in ähnlichem Kontext in Avit. epist. 36 ed. Peiper, 66,17. Vgl. dazu weiter unten: S. 287. 600 Die positive Charakterisierung seines Vorgängers Theoderichs II. in epist. 1,2 kann durchaus als indirekte Kritik an Eurich gelesen werden, wie etwa Köhler (1995) ad loc. dies tut. Das bedeutet aber nicht, dass seine ganze Briefsammlung oder auch nur ein Briefbuch allein diesem Zweck untergeordnet gewesen wäre. 601 So explizit Overwien (2009a); Overwien (2009b). Die radikale Position Overwiens wird von van Waarden (2010) 40 zumindest in Frage gestellt. 602 Dies gilt etwa für das siebte und achte Briefbuch. Gibson (2013b) bes. 211–217 sieht ei-

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in seiner Gesamtheit einer politischen Intention untergeordnet und Sidonius habe „um den Anschein einer Auswahl einer regen Korrespondenz zu erwecken“603 die intendierte Botschaft geschickt „in einer Mixtur aus scheinbar ganz banalen Inhalten“604 versteckt, wird der konzeptionellen Breite und der literarischen Qualität dieses Werks in keiner Weise gerecht. Jenseits der politischen Dimension, in der besonders die autobiographischen Referenzen ihre Bedeutung entfalten,605 stehen literarästhetische, kulturpolitische, soziale und religiöse Themenkreise. Diese polythematische Segmentierung, die das Werk ebenso wie seine damit unmittelbar verbundene Mehrstimmigkeit in die Nachfolge Plinius’ des Jüngeren stellt, spiegelt sich in der inhaltlichen und typologischen Vielfalt der Briefsammlung, in der verschiedene Kernbereiche ineinander greifen, ohne dass weder bei Plinius noch bei Sidonius einer einzigen Thematik durchgehende Dominanz zuerkannt werden könnte.606 In der Diskussion um die Verortung zeitkritischer Äusserungen innerhalb von Sidonius’ Briefkorpus fand nun ein wichtiger Aspekt bisher kaum oder nur am Rande eine differenziertere Betrachtung. Die Tatsache, dass Sidonius die Briefbücher in Eigenregie zusammenstellte und edierte, ist für die diesbezügliche Beurteilung der einzelnen Briefe durchaus entscheidend. Die Buchpublikation setzt eine Auswahl von überarbeiteten Briefen voraus und bietet keinen unverstellten Blick in seine Privatkorrespondenz. Daher ist die Frage, ob es sich um eine primäre oder erst um eine sekundäre Verhüllung seiner Kritik an Eurich handelt, nicht irrelevant. Offensichtliche chronologische und thematische Lücken innerhalb des Korpus lassen jedenfalls bei der Auswahl auf selbstverständliche „meccanismi autocensori“ schliessen,607 die der Autor selbst auch an keiner Stelle bestreitet.608 Vor diesem editorischen Hintergrund kommen drei Szenarien in Frage: Entweder handelt es sich (1) rundweg um fingierte Briefe, die, wie die Vertreter der politischen These zu implizieren scheinen, einzeln oder en bloc in der erwähnten Intention verfasst wurden, oder (2) die ausgewählten Briefe wurden erst im Nachhinein zensiert, im Sinne, dass verfängliche antigotische Äusserungen weitgehend eliminiert oder verschleiert wurden. Schliesslich ist (3)

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nen möglichen Grund dafür in Sidonius’ struktureller Imitation des plinianischen Modells. Zelzer (1994–1995) 549. Overwien (2009a) 94. Vgl. Harries (1992) 299: „character of a modern politician’s memoirs or diaries: they present the writer in the most favourable light, while appearing franker than they really are“. Zum autobiographischen Gehalt vgl. Küppers (2005). Vgl. Sidon. epist. 9,11,3 (über das 7. Briefbuch, so Loyen (1970) 207 Anm. 34): Scripseram librum… plenum onustumque vario causarum, temporum personarumque congestu. Auch Amherdt (2001) 24 definiert die Ziele der Briefsammlung breiter: „plaire à une elite, défendre une langue et une culture, et délivrer un message politique“. Alciati (2008) 68. So ist in den Widmungsbriefen (Sidon. epist. 1,1; epist. 7,18; epist. 8,1; epist. 8,16; epist. 9,1; epist. 9,16) stets von einer (stilistisch motivierten) Auswahl die Rede.

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vorstellbar, dass Sidonius lediglich solche Briefe für die Publikation auswählte, die ohnehin schon eine verhüllende Ausdrucksweise aufwiesen. Während die erste Variante aus den gerade genannten Gründen abzulehnen ist, machen gewisse Indizien das dritte Szenario wahrscheinlicher als das zweite. Denn einerseits fehlen jegliche Hinweise für eine systematische, manipulative Glättung der für die Publikation ausgewählten Briefe – die zahlreichen Lücken und Inkonsistenzen lassen insgesamt keine klare Programmatik in der Gesamtkonzeption der Briefsammlung erkennen609 – zum anderen werden in den Briefen selbst die Gefahren einer allzu offenen Kommunikation thematisiert, ein Argument dafür, dass Sidonius bei Bedarf durchaus Briefe bereits in primärer Verwendung kodierte, wenn er denn überhaupt zu schreiben wagte.610 Geht man also vom dritten Szenario aus und postuliert, dass Sidonius vorwiegend solche Briefe in seine Sammlung aufnahm, die ohnehin Politisches nur in verhüllter Form thematisierten, stellen sich wiederum neue Probleme. So sind etwa in jenen Briefen, in denen Sidonius die Gefahren einer Briefkommunikation direkt anspricht, die ausgesendeten Signale keineswegs eindeutig. Oft scheint die Ernsthaftigkeit der literarisch inszenierten Dramatik spielerisch wieder in Frage gestellt zu werden. Ein Beispiel ist etwa epist. 5,12 an Calminius, der offenbar von den Westgoten gezwungen wurde, auf ihrer Seite gegen seine Landsleute zu kämpfen.611 Sidonius bedauert den seltenen Briefkontakt mit Calminius, der infolge fremder Machtgier (aliena impotentia) – eine unverfängliche Anklage gegen die Goten – leider kaum mehr zustande komme. Mehr dazu könne er aus Furcht nicht sagen, Calminius wisse, was er damit meine. Zu einer Sache wolle er aber offen sein Bedauern aussprechen (hoc solum tamen libere gemo), nämlich, dass so gar keine Freude aufkommen könne, wenn sie einander – in den feindlichen Linien stehend – erblickten!612 Trotz der betrüblichen Situation, in der sich die beiden Freunde befinden, ist der Brief kunstvoll gestaltet und voll von sprachlichem Witz und stilistischen Spielereien, die zumindest aus moderner Perspektive den Ernst der Lage zu unterminieren scheinen.613 Auch die Beurteilung jener scherz609 Vgl. das Urteil von Harries (1992) 300: „and, whatever polishing may have taken place, it did not extend to ironing out inconsistencies between one letter and the other.“ 610 Vgl. Sidon. epist. 6,11,2; epist. 4,12,4; epist. 9,3,1–2; epist. 9,5,1. 611 Zur Person vgl. Kaufmann (1995) 288. 612 Sidon. epist. 5,12,1: Quod rarius ad vos a nobis pagina meat, non nostra superbia sed aliena impotentia facit. neque super his quicquam planius quaeras, quippe cum silentii huius necessitatem par apud vos metus interpretetur. hoc solum tamen libere gemo, quod turbine dissidentium partium segreges facti mutuo minime fruimur aspectu (…). Letztendlich ist aber die Klärung der Frage, ob es sich um eine authentische, fingierte oder erst im Nachhinein erfolgte textliche Verdunkelung handelt, für die vorliegende Untersuchung nicht zentral, da der Zeitpunkt des Arbeitsvorgangs auf die Methoden und Strategien, deren sich Sidonius zur Thematisierung und Verschleierung politischer Inhalte bediente, eher einen geringen Einfluss gehabt haben dürfte. 613 Sidon. epist. 5,12,1: ut pharetras sagittis vacuare, lacrimis oculos implere cogaris. Vgl. dazu die Bemerkung von Auerbach (1958) 193: „Solch ein Spiel, in solcher Lage, wirkt auf uns

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haften Bemerkung angesichts der burgundischen Einquartierungen in carm. 12,8–11, wo Sidonius klagt, dass es ihm unmöglich sei, sechsfüssig zu dichten, wenn er von siebenfüssigen (sc. sieben Fuss grossen) „Beschützern“ umgeben sei, hängt wesentlich vom individuellen Erfahrungs- und Erwartungshorizont des modernen Interpreten ab, der zwangsläufig der einen Stimme mehr Gewicht gibt als den anderen.614 Wenn also dargelegt wird, dass die Briefe des Sidonius eine „resignative Selbstdarstellung“ (R. Henke) des alternden Bischofs enthielten,615 oder dass in ihnen hinter dem Vorhang literarischer Obscuritas zum „Kampf um Gallien“ (O. Overwien) aufgerufen werde, so sind das grundsätzlich legitime Auslegungsweisen, doch erscheinen sie spätestens dann als fragwürdig, wenn sie Allgemeingültigkeit beanspruchen wollen. Ist man gewillt zu akzeptieren, dass die einzelnen Privatbriefe inszenierte Rollenbilder präsentieren, in welchen sich die Person „Sidonius“ in unterschiedlicher Formen manifestiert, gilt es auch die darin evozierte Mehrstimmigkeit zu ihrem Recht kommen zu lassen.616 So bleibt denn jede Interpretation, die einen spezifischen Aspekt hervorhebt, lediglich eine Teilinterpretation. Die vielschichtige Aufspaltungen der Ich-Person in realen Autor, erzählende Brieffigur und spezifisches epistulares Rollenbild – die durch die Anlage als Privatbriefsammlung in der Nachfolge des Plinius als durchaus beabsichtigt erscheint – erschwert darüber hinaus nicht nur generell konkrete Aussagen über politische Überzeugungen oder appellative Handlungsanweisungen, welche die Briefen vermitteln wollen, sondern behindert auch weitgehend jede Art von psychologisch-biographischen Deutungsansätzen, die an die historisch fassbare Person des Sidonius Apollinaris zurückgebunden werden.617 Dies heisst nicht, dass der Einbezug einer aussertextlichen Realität grundsätzlich abzustreiten wäre, vielmehr muss das Ineinandergreifen von Realität und literarischer Fiktion erkannt und in angemessener Weise in die jeweilige Analyse miteinbezogen werden. In diesem Kontext ist auch das Prinzip der „Selbst-Konstitution“ innerhalb des epistolaren Austauschs zu erwähnen, das im Zusammenhang mit der

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gespenstisch.“ Dass Sidonius angesichts einer derarten Situation sich ostentativ zu künstlerischen Leistungen befähigt zeigt, widerlegt die von der modernen Forschung ins Spiel gebrachte (poetische) Aphasie, die man ihm unterstellte. So argumentiert etwa Overwien (2009b) 258 f. damit, dass Sidonius seinem Adressaten Faustus von Riez vorwarf, angesichts der gotischen Eroberungen kunstgerechte Briefe schreiben zu können, während er selbst dazu nicht mehr in der Lage sei. Vgl. dazu weiter unten: S. 267–270. Sidon. carm. 12,8–11: Vis dicam tibi, quid poema frangat? / ex hoc barbaricis abacta plectris / spernit senipedem stilum Thalia. Vgl. dazu die Auslegung von Henke (2008) 165, der Sidonius eine „depressive Stimmungslage “ attestiert. Henke (2008) 169 Anm. 61, vergleicht Sidonius gar mit Gottfried Benn. So ansatzweise Harries (1992) 300: „With Sidonius we are dealing with constantly changing situations and different perspectives“ sowie Mratschek (2013) bes. 268–271 und Egelhaaf-Gaiser (2010). Die Diskussion über die Deckungsungleichheit zwischen Autor und literarischer Figur ist alt. In der Klassischen Philologie entspann sie sich mit Blick auf die Epistolographie vornehmlich beim (Exil-)Briefkorpus Ovids.

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performativen Qualität der Textssorte Briefs bereits angesprochen wurde:618 „Jeder Briefschreiber übernimmt (…) je nach der Sprechhandlung, die er mit dem Brief ausführen will, bewusst oder unbewusst eine entsprechende Rolle.“619 Je nach Briefanlass, Adressat und Wirkungsinteresse kann ein Autor also in eine bestimmte persona schlüpfen, beziehungsweise seinen Partner in eine bestimmte Rolle drängen. Zu diesem letztlich rhetorischen Grundsatz hat sich Sidonius auf programmatische Weise bekannt, wenn er in der Widmungsepistel an Constantius schreibt, dass die vorliegende Sammlung Briefe enthalte, „so wie der Umstand, die Person und die Zeit es verlangten“.620 Bei gleichgestellten Partnern und in Briefen mit einer politischen Thematik ist die beständige Auseinandersetzung mit den eigenen Vorstellungen, Interessen und Ideologien und denen des Partners die Regel, dies zeigt auch der Briefwechsel zwischen Cicero und M. Brutus. Höfliche Rücksichtnahme, verärgerter Widerspruch und Suggestivappelle definieren das agonale Verhältnis, in denen ein Identitäts- oder Rollenwechsel nicht selten einer rhetorischen Strategie geschuldet ist. Damit wird in sekundärer Rezeption die historische Person Sidonius von der Figur des epistolaren Ichs vollständig überlagert. Wie bei Plinius dem Jüngeren tut man daher gut daran, sich mit historisch-biographischen beziehungsweise psychologisierenden Rückschlüssen zurückzuhalten, weniger weil es sich um fingierte Texte handelt, sondern vielmehr, weil je nach Kontext und Wirkungsintention des Einzelbriefes den Lesern der Sammlung mitunter ein divergierendes Persönlichkeitsbild entgegen tritt.621 Als ursächlich für die divergierende Mehrstimmigkeit in den politischen Briefen erscheint nun das spannungsvolle Wechselspiel zwischen rhetorischer simulatio und dissimulatio. Sidonius chargiert virtuos zwischen diesen beiden eng verwandten Manipulationstechniken. Während die eine Wahres verbirgt, gibt die andere Falsches vor. Diese Vorgehensweisen, die Quintilian in seiner Behandlung des Lachens (risus) als genus decipiendi opinionem (inst. 6,3,84–95) bespricht, ermöglichen dem Redner, mit dem Vorwissen des Publikums zu spielen und auf einer weiteren semantischen Ebene mit diesem zu kommunizieren. Der auf diese Weise insinuierte Hintersinn ist in seiner Wirkung multifunktional. Er kann Lachen erzeugen oder aber auch suggestiv ein Gefühl der Bedrohung vermitteln. Es handelt sich damit also um eine Erscheinungsform der oratio figurata. Die beträchtlichen Interpretationsschwierigkeiten, vor welche die politischen Briefe des Sidonius den modernen Betrachter stellen, erscheinen in 618 619 620 621

Vgl. weiter oben: S. 132ff. Nickisch (1991) 10. Sidon. epist. 1,1,1: prout eas causa, persona, tempus elicuit. Dies bedeutet nicht, dass die Persönlichkeit des Sidonius ganz hinter der Rhetorik zurücktreten würde, wie auch Harries (1992) 300 betont: „Sidonius was not merely a mirror-image of his correspondents. Behind the shifting facade and the distortions of rhetoric was a set of coherent beliefs.“

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

dieser Deutung als Resultat eines willentlichen αἰνίττεσθαι: Hinter jedem Wortsinn eröffnet sich dem Leser – wenn er sich denn auf das Spiel einlässt – ein sekundäres (politisches) Bedeutungsfeld, das die entsprechende Aussage ergänzt oder aber in ihr Gegenteil verkehrt. Auch Ironie ist in diesem Zusammenhang durchaus ein Thema.622 So unterliegen die Texte des Sidonius einer grundsätzlichen Spannung, die in Kombination mit sprachästhetisch motivierter Obscuritas die Suche nach Doppeldeutigem und Hintersinnigem zusätzlich befeuert. Das dadurch stimulierte Fahndungsinteresse des Lesers nach ironischen Spitzen, verborgenen Anspielungen oder geheimen Inhalten wird von Sidonius mittels unterschiedlicher auktorialer Signale auch bewusst angeregt.623 Denn das Wissen um die (politische) Hintergründigkeit seiner Aussagen kann den Lesegenuss seiner Briefsammlung zusätzlich steigern. Auch in dieser Hinsicht wird das erudite intellegere eines anspruchsvollen Rezipientenkreises bedient. Die konkrete Auslegung seiner Brief überliess Sidonius gleichwohl nicht der Willkür des Publikums, vielmehr griff er mitunter aktiv, wenn auch dezent, in den Interpretationsprozess mit ein, um die Rezipienten zu einer Bedeutungskonstruktion in seinem Sinne anzuregen. Die Art und Weise der Leserlenkung ist beim primären Adressaten grundsätzlich kontextgebunden und von dessen individuellen Vertrautheit mit Sidonius abhängig, sodass Sidonius entweder mit bestimmten innertextlichen Signalen oder externen Hilfsmitteln, etwa einem mündlich instruierten Boten, die Rezeptionsweise direkt beeinflussen konnte.624 Ein weitaus grösserer – und für den modernen Leser nachvollziehbarer – Spielraum bot sich dem Briefautor aber beim Anlegung einer Sammlung, da sich hier die Möglichkeit ergab, die Interpretation durch gezieltes Arrangement der Texte zu beeinflussen und in bestimmte Richtungen zu lenken. Der Kontext, in dem ein Brief steht, prägt den geistigen Zugriff des Rezipienten in nicht unerheblichem Masse. Dieser Prozess, der in der Regel auf der Ebene des Unterbewusstseins abläuft, kann selbst die Interpretation einzelner Wörter beeinflussen.625 Die Politik und Geschichte seiner Zeit ist wie andere Diskurse, die Sidonius literarisch verarbeitete, über die ganze Briefsammlung verstreut, sodass sich erst im Prozess sukzessiver Lektüre all622 Vgl. Overwien (2009b), der in seiner Analyse jedoch meines Erachtens über das Ziel hinausschiesst. 623 Die entsprechenden Signale sind über das gesamte Briefkorpus verteilt und können im Metrum oder bestimmten intertextuellen Anspielungen liegen. Für ein anschauliches Beispiel vgl. weiter unten: S. 275–280. 624 Ein schönes Beispiel der Beeinflussung der Rezeptionssituation durch den Überbringer des Briefs ist Cic. fam. 11,16,1 an Brutus: Permagni interest quo tibi haec tempore epistula reddita sit, utrum cum sollicitudinis aliquid haberes an cum ab omni molestia vacuus esses. itaque ei praecepi quem ad te misi, ut tempus observaret epistulae tibi reddendae. nam quem ad modum coram qui ad nos intempestive adeunt molesti saepe sunt, sic epistulae offendunt non loco redditae. 625 Dies zeigen etwa psychophysiologische Untersuchungen des Leseprozesses, vgl. Gross (1994) 10 ff.

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mählich aus einzelnen (manipulativ angeordneten) Mosaiksteinchen ein gleichwohl heterogenes und vielstimmiges Gesamtbild ergibt.626 Diese Mehrstimmigkeit, die je nach Rezipient und Hintergrundwissen potentiell eine andere Auslegung oder Handlungsanweisung von Sidonius’ politischen Briefen zulässt, soll im Folgenden anhand von drei einschlägigen Briefen exemplarisch herausgearbeitet werden. a.2. Exemplarische Fallstudie: Sidon. epist. 7,6 / epist. 8,9 / epist. 9,3 Trotz der oben dargelegten methodologischen Unwägbarkeiten werden im Folgenden drei politisch besonders einschlägige Briefe aus der Zeit um 475/476 im Sinne eines close-reading nach politisch motivierten Verdunklungen oder Verschleierungen befragt. Dabei wird nach Möglichkeit versucht, unterschiedliche semantische Ebenen und Lektürevarianten voneinander abzuheben, um die potentielle Mehrstimmigkeit von Sidonius’ Briefen zu veranschaulichen. Die Analyse der Briefe erfolgt nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern richtet sich nach argumentativen Gesichtspunkten. Epist. 9,3 Bei epist. 9,3 handelt es sich, wie der kunstvolle Einstieg zu erkennen gibt, um einen Antwortbrief an Faustus von Riez.627 Sidonius kommt dabei ohne grosse Umschweife direkt auf das Thema des Briefs zu sprechen: (…) cautissimum reor ac saluberrimum per has maxume civitates, quae multum situ segreges agunt, dum sunt gentium motibus itinera suspecta, stilo frequentiori renuntiare dilataque tantisper mutui sedulitate sermonis curam potius assumere conticescendi. (…) ich halte es gerade in diesen Gebieten, die weit voneinander entfernt liegen, für das Vorsichtigste und Dienlichste, sich häufigen Schreibens zu enthalten, die Geschäftigkeit wechselnder Korrespondenz für eine Weile aufzuschieben und sich eher in Schweigen zu hüllen, solange die Wege durch die Wirren der Völker unsicher sind. (Sidon. epist. 9,3,1)

Der Brief datiert wahrscheinlich in Sidonius’ Exilzeit in Bordeaux, wohin er nach der Übergabe Clermonts an die Westgoten verbannt worden war.628 Das 626 Die wirkungsästhetische Analyse dieser Arbeitsweise des Sidonius Apollinaris, die auch die Briefsammlung des jüngeren Plinius auszeichnet, gehört meines Erachtens zu den dringlichen Forschungsdesideraten. Gibson (2013a) und Gibson (2013b) leistete hier Pionierarbeit. In diesem Desiderat liegt letztlich auch der Grund, weshalb isolierte Einzeluntersuchungen wie die von Henke (2007) oder Overwien (2009b) generell dazu tendieren, Einzelaspekte zu stark zu betonen und die Vielstimmigkeit der Texte zu überhören. Ein wesentlicher Bestandteil der Manipulation seiner sekundären Leserschaft lag indes in der Auswahl der Briefe. Dass Sidonius spezifische Themen und Zeitperioden gänzlich überging, betont etwa Harries (1992) 300. 627 Zur Person vgl. Kaufmann (1995) 304–306. Auch an Faustus sind Sidon. epist. 9,9 und carm. 16 gerichtet. 628 Zur Datierung vgl. Anderson (1965) 509; Loyen (1970b) 217.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

Einstellen der Korrespondenz war, wie bereits mehrfach erwähnt, in der aristokratischen Bildungskultur kein Kavaliersdelikt, sondern ein ernsthafter Verstoss gegen das officium amicitiae, das die Aufrechterhaltung der Freundschaftsbeziehungen selbst über grosse Distanzen verlangte.629 Auch Sidonius reagiert regelmässig mit affektierter Entrüstung, wenn ein Briefpartner längere Zeit nichts mehr von sich hören liess.630 Um nun selbst einem derartigen Vorwurf zu entgehen, bemüht er sich in der sorgfältig strukturierten narratio um eine detaillierte Rechtfertigung seiner Entscheidung, die, wie er minutiös darlegt, auf einer Vielzahl triftiger Gründe basierte: Als ersten Grund (calculo primore) nennt Sidonius die Unsicherheit des Nachrichtentransfers. Die tabellarii würden auf den Überlandstrassen regelmässig von Wachposten durchsucht und, falls der Verdacht aufkäme, dass sie mündliche Botschaften übermittelten, mit inquisitiven Fragen belästigt. Ein solcher Verdacht rücke auch den Briefsteller selbst in ein schiefes Licht, insbesondere in einer so schwierigen Zeit wie dieser, „in der die festgelegten Verträge einander seit langem beargwöhnender Reiche von neuem durch aufwieglerische Umstände unsicher gemacht werden” (quo aemulantum invicem sese pridem foedera statuta regnorum denuo per condiciones discordiosas ancipitia redduntur: epist. 9,3,2). Die auf einen Insider berechneten vagen Formulierungen eröffnen einen relativ breiten Interpretationsspielraum, was einem sekundären Rezipienten die Erschliessung der Bezüge erschwert. Handelt es sich um Auseinandersetzungen zwischen Goten und Burgundern oder will Sidonius im Kampf des Imperium Romanum gegen die Westgoten keine Stellung beziehen und äussert sich deshalb gleichsam wie ein Unbeteiligter? Anders wäre seine auffallend passive Haltung kaum nachvollziehbar. In der Forschung sind beide Thesen vertreten worden.631 Vollends an einer politischen Deutung zweifelte indes Harries, die davon ausgeht, dass Sidonius hier auf sein kirchliches Exil, nämlich den Verlust des Bischofsamtes, Bezug nimmt.632 Der zweite Grund (praeter hoc), den Sidonius für die vorübergehende Einstellung des Briefverkehrs vorbringt, ist persönlicher Natur. Aus Kummer (animus afflictus) sei er unfähig, wie bisher litteras paulo politiores zu schreiben (epist. 9,3,3).633 Die eigentliche Ursache seines Leids bleibt jedoch im Dunkel der Umschreibung verborgen: Eine Pflicht oder vielmehr eine Notwendigkeit haben ihn aus der Heimat weggeführt. Die Wortwahl impliziert Verbannung (solo patrio exactus / relegatus / peregrini) und Enteignung (domesticis dispendiis / proscripti / terra non remanet). Diese Angabe wurde als 629 Vgl. dazu u. a. Thraede (1970) 125–146; Näf (1995) 142–144. Spezifisch zu Sidonius vgl. etwa Loyen (1943) 56 ff.; Amherdt (2001) 36. 630 Vgl. u.a. Sidon. epist. 4,10; epist. 4,14; epist. 4,19; epist. 5,3; epist. 5,4. 631 Loyen (1970b) 204 Anm. 9 sieht entsprechend seiner Datierung des Briefs auf 476 in den regna aemulantia die Westgoten und Burgunder, die sich um den Besitz der Provence streiten, in diese Richtung argumentieren auch Kaufmann (1995) 183, Anm. 538 und Kaiser (2008) 66. Nach Anderson (1965) 323 Anm. 4, sowie 510 Anm. 1 und Overwien (2009b) 254 handelt es sich dagegen um das Römische Reich und die Westgoten. 632 Harries (1994) 174 ff. 633 Dasselbe Argument erscheint auch in Sidon. epist. 8,9.

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Hinweis für die Datierung des Briefs verwendet: So dürfte sich Sidonius bei der Abfassung des Briefs in Bordeaux aufgehalten haben, wo er nach seinem Exil bei Carcasonne als Bittsteller in eigener Sache am Hof des Westgotenkönigs auftrat.634 Die narratio wird an dieser Stelle passend durch Sidonius’ petitio um die Fürbitte des Faustus unterbrochen, der als ehemaliger Abt von Lérin gewiss Erfahrung in der Unterstützung derjenigen habe, die sich von weltlichen Dingen losgesagt hätten (epist. 9,3,4) – eine geschickte Umdeutung seiner eigenen, nicht ganz freiwilligen peregrinatio pro Christo. Als drittes und wichtigstes Argument für den Unterbruch der Korrespondenz (tertia est causa vel maxuma) führt Sidonius einen sprachlich-stilistischen Grund ins Feld: Da die Bewunderung für die Sprachfertigkeit des Faustus ihn entmutigt verstummen liess, musste er sich erst den Studien widmen, um wieder schreiben zu können (epist. 9,3,5).635 Damit verbunden ist die topische Bitte um Nachsicht für den minderwertigen Stil des Briefs (epist. 9,3,6: donate venia paginam rusticanter vobis obsecundantem). Die Beteuerung der eigenen literarischen Inkompetenz im Vergleich mit jener des Partners gehört, wie weiter oben ausgeführt, zum Standardrepertoir eines spätantiken Briefautors. Hierin mit Oliver Overwien anklagende Ironie zu sehen, erscheint nicht plausibel, zumal in diesem Fall dann die vorangestellte Petitio um christliche Führbitte als bitterböse Spitze gegen den Adressaten aufgefasst werden müsste.636 Dies wäre ein Affront, den Sidonius gegenüber einer so ehrwürdigen und von ihm geschätzten Person wie Faustus von Riez kaum gewagt hätte, selbst wenn man gewillt ist anzunehmen, dass der Brief erst später fingiert wurde.637 Eine genauere Betrachtung der Textstruktur des Briefes legt indes eine andersgeartete literarische Strategie zu Tage, die Sidonius gekonnt zur Bagatellisierung der politischen Wirren einsetzte: Strukturell sind in der Narratio die Beweggründe, die zum Abbruch des Briefkontakts geführt haben, in stetig wachsender Bedeutung aufgeführt. Parallel dazu ist eine steigende Subjektivierung der Motive zu verzeichnen, was in einer proportionalen Entwertung der politischen Beweggründe resultiert: Während der erste und damit unbedeutendste Grund, die Sicherheit der Nachrichtenübermittlung, einem objektiv-äusseren Hindernis entspricht, ist mit der Exilierung des Sidonius ein äusseres Ereignis die Ursache seiner inneren Unfähigkeit zu schreiben. Mit dem topischen Hinweis auf die Furcht vor der peritio seines Partners wird schliesslich als letztes und gewichtigstes Argument ein rein subjektiv-inneres Hindernis angeführt, mit dem der Unterbruch gerechtfertigt wird. 634 Vgl. Loyen (1970b) 204 Anm. 8–11, der in dem im Text erwähnten officium die Ablegung eines Treueeids vermutete. Vgl. auch Anderson (1965) 509. Der Brief wäre demnach in dieselbe Zeit wie epist. 8,9 zu datieren. Anders Overwien (2009b) 252 ff., der den Brief kurz nach Abschluss des Friedensvertrags von 475 datiert. 635 Dasselbe Motiv erscheint in Sidon. epist. 4,10; epist. 4,14; epist. 5,3. Vgl. dazu Fernández López (1994) 92. 636 Overwien (2009b) 258 ff. 637 Zum freundschaftlichen Verhältnis zwischen den beiden vgl. etwa Santelia (2012) 40–46.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

Sidonius’ Bagatellisierung der desolaten politischen Situation und seine gleichzeitige Überbewertung der Bildungsrelevanz wird im Rückblick auf seine eingangs getätigten Reflexionen über die gewandelten Bedingungen brieflicher Korrespondenz offenkundig. Dass der Abbruch des Briefkontakts zwischen Sidonius und Faustus aus äusserer Notwendigkeit geschah, ist trotz der gegenläufigen literarischen Strategie des Verfassers kaum zu bestreiten. Nicht nur die erhöhte Vorsicht der Formulierungen und der auf Anspielungen beschränkte Informationsgehalt weisen in diese Richtung. Schon in der einleitenden Inhaltsangabe zu Beginn des Briefs wird der objektiv wichtigste Grund genannt: cautissimum ac saluberrimum reor. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich hierbei nicht zuletzt um eine indirekte Warnung an Faustus handelte. Sidonius hält es auch mit Blick auf seinen Briefpartner für das Klügste, die gegenseitige Korrespondenz für eine gewisse Zeit auszusetzen.638 Möglicherweise kam diese Warnung zu spät. Faustus musste einige Zeit später Riez verlassen und ins Exil gehen.639 Zumindest vordergründig wollte es sich Sidonius mit dem neuen Machthaber also nicht verscherzen. Seine Entscheidung dürfte indes aus pragmatischen Gründen erfolgt sein: Möglicherweise versuchte er bereits zu dieser Zeit, seine ehemalige Machtposition im Bistum von Clermont wiederzuerlangen. Die Fähigkeit, sich den neuen Umständen anzupassen, war letztlich wohl eine der entscheidenden Gründe für die Kontinuität der gallorömischen Elite in den germanischen Königreichen.640 Epist. 7,6 Der Brief ist an Basilius, den Bischof von Aix, gerichtet und datiert in die Monate der römisch-gotischen Friedensverhandlungen des Jahres 475, an denen Basilius als kaiserlicher Unterhändler teilnahm.641 Sidonius, der zu diesem Zeitpunkt noch nichts vom Ausgang der Verhandlungen ahnte, wandte sich in diesem Brief, an dessen Ende eine dringliche Petitio steht, in der Rolle eines Bittstellers an den langjährigen Freund.642 Den Beginn markiert eine längere Captatio, in der die gegenseitige freundschaftliche Beziehung angesprochen 638 Während seines Exils in Livia unterbrach Sidonius die Korrespondenz mit Freunden, etwa mit Magnus Felix, vgl. Sidon. epist. 4,10,1: Erumpo in salutationem licet seram, domine meus, annis ipse iam multis insalutatus, frequentiam veteris officii servare non audens, postquam me soli patrii finibus eliminatum peregrinationis adversa fregerunt. 639 Zu seiner Person vgl. Heinzelmann (1982) 607. 640 Dies gilt besonders für die nachfolgende Generation, vgl. Stroheker (1948) 298; Mathisen (1984) 167 Kaufmann (1995) 139. Zur politischen Anpassungsfähigkeit der gallorömischen Aristokratie vgl. etwa Chianéa (1969); Mathisen (1979a); Harries (1992); Näf (1995) 136. 641 Der Brief ist sprachlich durch den ausführlichen Kommentar von van Waarden (2010) 272–333 erschlossen. 642 In der von ihr erstellten strukturalistischen Klassifizierung der Briefe des Sidonius ordnet Fernández López (1994) 124 den vorliegenden Brief der Subkategorie „Salutatio publica eclesiastica con peticion de auxilio“ zu.

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und der Adressat mit Lobesworten bedacht wird (epist. 7,6,1).643 Das Thema ist noch nicht genannt, der Ton macht aber eine Bittschrift wahrscheinlich. Mit dem folgenden Satz, der die Adressierung an Basilius umständlich begründet (er ist ein Spezialist für arianische Häresie), setzt die Narratio ein (non iniuria tibi defleo, qualiter). In ihr berichtet Sidonius in rhetorischer Hyperbole über den misslichen Zustand der gallischen Kirche (spiritalis ruina) im Machtbereich der arianischen Westgoten (epist. 7,6,1–9). Die Narratio zerfällt in drei Teile: Im ersten und kürzesten Teil wird in biblisch-pastoraler Allegorie allgemein die Bedrohung der Kirche und ihrer Vorsteher, der Bischöfe, beklagt (epist. 7,6,2–3). Der Teufel (hostis antiquus) in Gestalt der Häretiker stellt wie ein Wolf den Schafen und ihren Hirten nach.644 Der mittlere Teil beginnt mit der Nennung des vermeintlich Schuldigen (Evarix, rex Gothorum).645 In drei biblischen Gleichnissen wird die prekäre Situation der Gläubigen geschildert, um dann in ambivalenten Formulierungen Eurichs antikatholische Gesinnung anzusprechen (epist. 7,6,4–6). Im dritten und längsten Teil wird der Ton allmählich drängender, die Petitio kündigt sich an: In pathetisch-persuasivem Stil wird der stille Zerfall der katholischen Kirche (catholici status valetudinem occultam) imaginativ in Szene gesetzt (epist. 7,6,7–9). Mit einer emphatischen Ansprache des Adressaten setzt dann die Petitio ein, in der Basilius und die an den Verhandlungen beteiligten Bischöfe aufgefordert werden, sich für die Ordination katholischer Bischöfe auf gotischem Territorium einzusetzen (epist. 7,6,10). Die Bewertung des Briefs erscheint auf den ersten Blick einfach: Sidonius’ implizite Anklage gegen Eurich ist im Spiegel der literarischen Exempel nur allzu offensichtlich. Die Anspielungen entstammen der Bildungsliteratur christlicher Prägung. Die allegorische Verschlüsselung und die biblischen Gleichnisse richten sich daher in erster Linie an einen gebildeten Rezipientenkreis.646 Durch die Bekanntheit der biblischen Geschichten ist die darin implizierte Botschaft jedoch relativ leicht dekodierbar. Zudem erleichtert die namentliche Nennung Eurichs die Bezugnahme und Gleichsetzung mit dem hostis antiquus. Hier scheint Sidonius seine Kritik am Westgotenkönig fast unverhohlen und nur hinter einem dünnen Schleier verborgen zum Ausdruck zu bringen. Der Brief klagt an und wird zum Kronzeugen der antikatholischen Aktivitäten Eurichs.647 643 Vgl. zur Struktur von epist. 7,6 die unterschiedlichen Ansätze bei Fernández López (1994) 124–134 und van Waarden (2010) 278. Ich folge hier der Unterteilung von Fernández López. 644 Anspielungen an Verg. Aen. 9,59–61. Zur politischen Auslegung dieser Stelle vgl. Fo (1999) 19 ff. 645 Die Namensform Evarix ist singulär und wird von Greg. Tour. Hist. 2,25 bei seiner Beschreibung von Alarichs „Christenverfolgung“ aufgenommen, was auf seine direkte Abhängigkeit zu Sidonius hinweist, auf den er auch explizit Bezug nimmt. Vgl. dazu Kaufmann (1995) 209 Anm. 636. 646 Zum eingängigen Bild lupus arrodat ecclesiasticas caulas istius aetatis vgl. die Similien bei van Waarden (2010) 287–289. 647 Der historischer Gehalt dieser Passagen wurde von der Forschung intensiv diskutiert,

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

Das Bild, das Sidonius von Eurich zeichnet, enthält jedoch auch positive Elemente, die nur zum Teil der rhetorischen Stilisierung des Textes geschuldet sind. Die zentrale Stelle ist Eurichs Darstellung als idealen Feldherrn. Eurichs einziger error liege, so Sidonius, nämlich darin, dass er weltliches Glück (felicitate terrena) mit religiöser Orthodoxie (religione legitima) verwechselt habe: Sein Schlachtenerfolg verdanke der Gotenkönig seiner hervorragender Veranlagung (in kunstvoller Emphase: armis potens, acer animis, alacer annis) und nicht etwa seinem Glauben.648 Hier öffnet sich dem primären wie sekundären Rezipienten unversehens eine neue Interpretationslinie: Eurich erscheint als fähiger weltlicher Herrscher, der aber verkennt, dass er König eines Volkes und nicht Oberhaupt einer Glaubensrichtung ist. Dies mag erklären, dass im dritten Teil der Narratio konkrete Schuldzuweisungen an Eurich fehlen. Ein direkter Bezug zwischen dem Priestermangel in Gallien und Eurich lässt sich im Text jedenfalls nicht herstellen.649 Sidonius Kritik beschränkt sich auf den religiösen Bereich. So betont er denn auch explizit, dass mit Blick auf Eurichs Eroberungen in Gallien weder ihm noch Basilius ein Wort der Anklage zustünden: Evarix, rex Gothorum, quod limitem regni sui rupto dissolutoque foedere antiquo vel tutatur armorum iure vel promovet, nec nobis peccatoribus hic accusare nec vobis sanctis discutere permissum est. Die Tatsache, dass Evarix, der König der Goten, die Grenzen seines Reichs mit Waffengewalt schützt oder ausweitet, nachdem er die alten Bündnisverträge gebrochen und aufgelöst hat, ist mir, einem Sünder, zu diesem Zeitpunkt nicht erlaubt zu kritisieren, noch steht es einem Heiligen wie dir zu, dies in Frage zustellen. (Sidon. epist. 7,6,4)

In dieser strikten Trennung zwischen einer weltlichen und einer geistlichen Sphäre zeigt sich der Kern von Sidonius’ Narratio, deren Zielsetzung nicht in der leidlich verschlüsselten Darstellung Eurichs als Feind der katholischen Kirche liegt, sondern vielmehr eine konkrete Handlungsanweisung zu vermitteln scheint: Als König sollte sich Eurich auf den ihm zustehenden weltlichen Bereich konzentrieren, im Gegenzug würden sich die Bischöfe Galliens nicht in die grosse Politik einmischen. Was sich dem primären Adressaten als mögliches Argumentationsschema für die bevorstehenden Verhandlungen präsentiert, erscheint in sekundärer Rezeption als suggestive adhortatio des Buchpublikums. Weit davon entfernt zum „inneren Widerstand“ aufzurufen, wendet sich Sidonius in der tröstenden Rolle des Bischof an seine Leser, die sich unvermittelt in der Rolle frommer Katholiken wiederfinden, und rät ihnen die Abfindung mit dem weltlichen Schicksal: Wie einst die Juden zur Zeit der babylonischen Gefangenschaft müssten nun die gallischen Christen die irdischen Kümvgl. Schäferdiek (1967) 23 ff.; Wood (1992) 12–13; Kaufmann (1995) 129–130; 207 f. Zu den antikatholischen Aktivitäten Eurichs äusserte sich nur noch Gregor von Tours. Zur zweifelhaften Glaubwürdigkeit dieser Passagen vgl. Wood (1985). 648 Sidon. epist. 7,6,6. 649 Greg. Tour. Hist. 2,25.

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mernisse ertragen, um später mit dem ewigen Leben belohnt zu werden (epist. 7,6,4–5). Diese implizite Aufforderung seiner Leser zu Passivität und zur Akzeptanz der neuen Verhältnisse ist gleichwohl nicht als Einverständnis mit den Invasoren zu werten. Sidonius lässt seinen Kummer über den Verlust der römischen Selbstbestimmung deutlich genug durchscheinen. In seinem Brief an Basilius inszeniert er sich jedoch als Pragmatiker, der aufgrund seiner Sorgen um das Wohlergehen der katholischen Kirche an einem guten Verhältnis mit den neuen Machthabern interessiert ist. Diese Lesart, die mit der politisch-subversiven Deutung des Briefs in deutlichem Kontrast steht, offenbart erneut die erheblichen Schwierigkeiten, die sich dem modernen Interpreten bei der Lektüre der Briefsammlung des Sidonius Apollinaris aus quellenkundlicher Perspektive stellen.650 So sind denn Aussagen über den historischen „Quellenwert“ seiner Briefe grundsätzlich problematisch. Epist. 7,6 ist ein Musterbeispiel für die konsequente Vergegenwärtigung der Kommunikationssituation im Prozess literarischen Schreibens. Wie auch an anderen Stellen zeigt sich hier die geschickte Rhetorik, nach deren primärer Zielsetzung, der persuasio, Sidonius seinen Brief stilistisch wie inhaltlich ausgerichtet hat. Literarische Strategie und Argumentationsweise sind vollständig auf den Rezipienten und die spezifische Briefsituation zugeschnitten. Sein Brief wird damit zur politischen Parteirede (genus deliberativum). Ihrer Wirkungsabsicht ist nicht nur der stilistische ornatus, mit dem Sidonius als Briefautor glänzen wollte, sondern auch die Faktizität der historischen und biographischen Referenzen untergeordnet, die Sidonius in seiner Rolle als Redner zwecks Untermalung seiner Argumentation verwendete. Es entsprach in der Antike schulmässiger Praxis, dass Beschreibungen von Ereignissen oder Zeitumständen markiert oder unmarkiert – in stillweigender Übereinkunft mit dem Publikum – zur Veranschaulichung bestimmter Argumente der Imaginationskraft des Redners entspringen durften.651 Masslose Übertreibungen dienten – solange sie wahrscheinlich blieben – ebenso der Erzeugung von Affekten wie ein klug gesetztes Understatement. Wenn Sidonius eindringlich ausführt, wie in den verlassenen Kirchen Galliens die Dächer einstürzen, wie Dornengestrüpp deren Zugänge überwachse und Kühe die moosbewachsenen Altarwände abfressen,652 imaginiert er seinem Publikum ein Schreckenszenario, das dessen Urteil in die von Sidonius gewünschte Richtung lenken soll. Dieser persuasiven Strategie ist auch die Per650 Wood (1992) 12–13 wählte diesen Brief zum Ausgangspunkt seiner Diskussion über die Problematik, welche die literarische Qualität der Quellen für die historische Rekonstruktion des 5. Jh. darstellt. Vgl. auch weiter oben die Diskussion über den angeblichen Bildungszerfall in Gallien: S. 228–236. 651 Vgl. etwa Quint. inst. 8,3,70 (die Beschreibung der Einnahme einer Stadt): Consequemur autem ut manifesta sint si fuerint veri similia, et licebit etiam falso adfingere quidquid fieri solet. 652 Sidon. epist. 7,6,8: Videas in ecclesiis aut putres culminum lapsus aut valvarum cardinibus avulsis basilicarum aditus hispidorum veprium fruticibus obstructos. ipsa, pro dolor, videas armenta non modo semipatentibus iacere vestibulis sed etiam herbosa viridantium altarium latera depasci.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

sönlichkeit des Redners selbst untergeordnet. So hat Sidonius sein Bittschreiben ganz an der persona seines Adressaten ausgerichtet, dessen antiarianische Haltung ihm offenbar wohlbekannt war.653 Auf dieser empfänglichen Seite sprach er Basilius an. Sich selbst wies er die eher ungewohnte Rolle des besorgten Bischofs zu, der angesichts von Eurich weniger um die politische Situation als um die katholische Orthodoxie in Gallien fürchtet: Sed, quod fatendum est, praefatum regem Gothorum, quamquam sit ob virium merita terribilis, non tam Romanis moenibus quam legibus Christianis insidiaturum pavesco. tantum, ut ferunt, ori, tantum pectori suo catholici mentio nominis acet, ut ambigas ampliusne suae gentis an suae sectae teneat principatum. Ich muss aber eingestehen, dass ich weniger darum fürchte, dass der erwähnte König der Goten den Mauern Roms auflauert, obwohl er durch die Verdienste seiner militärischen Macht furchterregend ist, sondern stattdessen eher die christlichen Gesetze bedroht. Man sagt, dass die Erwähnung des Katholizimus seiner Miene und seinem Herzen dermassen unangenehm sei, dass man sich fragen kann, ob er seines Volkes oder eher seines Glaubens Anführer ist. (Sidon. epist. 7,6,6)

Dass Eurich im Brief zum Katholikenverfolger stilisiert wird, ist ein konsequenter Bestandteil von Sidonius’ rhetorischer Strategie der affektgeladenen Dramatisierung, durch die er die Verhandlungsführung des Basilius politisch zu beeinflussen suchte. Zweifel am Realitätsgehalt und an den Arianisierungsbestrebungen der Westgoten sind daher berechtigt.654 Für die katholischen Bischöfe scheint der Machtwechsel jedenfalls ohne gravierende Konsequenzen vonstatten gegangen zu sein. Exilierungen gab es zwar vereinzelt, auch zogen es gewisse Aristokraten vor, in die Provence oder nach Italien zu emigrieren,655 doch dürfte es im Allgemeinen zu keinen religiös motivierten Verfolgungen oder Vertreibungen gekommen sein.656 Darüberhinaus erscheint es fraglich, in wiefern die Arianergefahr, die Sidonius in epist. 7,6 so bildmächtig inszenierte, den primären Adressaten tatsächlich in seiner Entscheidungsfindung beeinflusst hatte. Dirk Henning hat wohl zurecht darauf hingewiesen, dass die Delegation der Bischöfe nicht mit Eurich selbst, sondern mit (katholischen) Amtsträgern seiner Kanzlei verhandelt haben dürfte.657 Gleichwohl gehört dieser Brief zu den Glanzstücken der Sammlung. 653 Vgl. Sidon. epist. 7,6,2: qui viderim Modaharium, civem Gothum, haereseos Arianae iacula vibrantem quo tu spiritualium testimoniorum mucrone confoderis (…). 654 Vgl. bes. Kaufmann (1995) 208–210. Van Waarden (2010) 274–276, der dazu einen kurzen Forschungsüberblick bietet, hält die Angst vor religiösen Repressionen indes für grundsätzlich berechtigt. 655 Dazu allgem. Mathisen (1984). 656 Ausnahmen waren Bischöfe, die durch ihre antiarianische Polemik auffielen. So musste etwa Faustus von Riez, der gemäss Genn. vir. ill. 86 ed. Richardson, 91,12–13 eine Schrift gegen die Arianer verfasst hatte, ins Exil gehen. Vgl. Ruric. epist. 1,2; Faustus epist. ad Ruric. 2 ed. Demeulenaere, 408–412. 657 Henning (1999) 309–310. Dass die Westgoten zur Administration ihres Reiches gallorömische Aristokraten und bei religiösen Fragen sogar katholische Bischöfe heranzogen,

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Dem kontemporären Lesepublikum wurde einerseits Sidonius’ eindrucksvolle Rhetorik vor Augen geführt, andererseits wurde das über mehrere Briefe hinweg verfolgte Narrativ der Verteidigung von Clermont um eine religiöse Komponente bereichert.658 Der Arianerdiskurs spielt für den weiteren Verlauf der Briefsammlung keine Rolle mehr. Mit dem Folgebrief, epist. 7,7 an Bischof Graecus von Marseille, der wie Basilius ein Mitglied der kaiserlichen Delegation war, stand die Politik wieder ganz im Zentrum des Interesses: Sobald Sidonius vom Ausgang der Verhandlungen erfahren hatte, machte er seinem Adressaten bittere Vorwürfe: Facta est servitus nostra pretium securitatis alienae. Arvernorum, pro dolor, servitus… („Unsere Knechtschaft ist der Preis fremder Sicherheit. Die Knechtschaft der Auvergne, oh welcher Schmerz!“: epist. 7,7,2). In der eindringlichen, rhetorisch überhöhten Klage über die in der Belagerungszeit erlittenen Qualen seiner Landsleute und über deren zukünftiges Schicksal fehlen jegliche Verweise auf religiöse Konsequenzen der Übergabe Clermonts an die Goten.659 Im Rückblick waren solche auch gar nicht von Nöten. Der von Eurich über die Auvergne gestellte (katholische) comes Victorius amtete nämlich zur vollen Zufriedenheit des Sidonius.660 Epist. 8,9 In ungefähr dieselbe Zeit wie epist. 9,3 ist epist. 8,9 an den Dichter und Rhetor Lampridius zu datieren.661 Es handelt sich formal um ein echtes Prosimetrum, bei dem sich die inhaltlichen Ebenen von Vers und Prosa ergänzen, selbst wenn die das Gedicht umrahmenden Prosateile vordergründig die Funktion einleitender Paratexte übernehmen. Diesselbe Form wies möglicherweise bereits der Aufforderungsbrief des Lampridius auf, als dessen Antwort sich das vorliegende Schreiben ausgibt.662 Der Aufbau ist durchaus kunstvoll. Die rahmende Stellung der Prosa wird im Gedicht aufgenommen, sodass der eigentliche Kern des Gedichts (Vv. 21–54) selbst wieder über einen metrischen Paratext verfügt, der den Prosatext teils ergänzt, teils konterkariert, wie im Folgenden im Detail aufgezeigt wird. Zu Beginn des Briefs reagiert Sidonius auf die Bitte des Lampridius um ein Gedicht erwartungsgemäss mit einer recusatio (epist. 8,9,1).663 Lampridius

658 659 660 661 662

663

zeigt auch ein Brief des Caesarius von Arles an Ruricius: Caesar. Arel. epist. ad Ruric. ed. Demeulenaere, 402–403), vgl. dazu Mathisen (2001) 111–112. Zur Struktur des 7. Briefbuches vgl. van Waarden (2010) 41–44. Sidon. epist. 7,7,3. Vgl. Sidon. epist. 7,17,1–2 mit Loyen (1970) XXII. Zur Person vgl. Kaufmann (1995) 316–317; La Penna (1995b) 211 f.; Fo (1999) 24–25. Sidon. epist. 8,9,1: Cum primum Burdigalam veni, litteras tabellarius tuus obtulit (…), quibus silentium meum culpas et aliquos versuum meorum versibus poscis.Vorstellbar wäre natürlich auch ein rein metrischer Brief. Zu diesem Brieftyp bei Sidonius Apollinaris vgl. Fernández López (1994) 42–47.

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möchte einige Verse aus der Hand des Sidonius lesen – gemeint sind, wie immer in diesem Kontext, versus hilares.664 Dazu fühlt sich Sidonius angesichts seiner derzeitigen Lage aber kaum imstande, gleichwohl möchte er dem Freund den Wunsch nicht abschlagen. Er bittet daher Lampridius um milde Kritik, denn bekanntlich seien Sorgen (maerores) der Produktivität von Dichtern abträglich (epist. 8,9,2). Hier erscheint dasselbe Motiv wie in epist. 9,3: die poetische Aphasie angesichts eines Schicksalsschlages.665 Ein Zitat aus Juvenal (Iuv. 7,62) ruft den entsprechenden, in der Bildungskultur verankerten literatursoziologischen Hintergrund (armer Poet – reicher Patron) auf666 und lenkt den Blick des Lesers geschickt auf den materiellen Aspekt der Sorgen des Sidonius, dem offenbar die ererbten Besitzungen vorenthalten werden.667 Die ungleiche Situation zwischen Absender und Adressat wird anhand einer tu-nos-Gegenüberstellung, der leitmotivische Funktion zukommt, zusätzlich verdeutlicht: Lampridius, der sich der Grosszügigkeit des Königs (munificentia regia) erfreue, führe das glückliche Leben eines Bürgers (civis), während Sidonius, den Kummer und Sorgen (angor, sollocitudo) plagten, die Existenz eines Verbannten (exul) führen müsse (epist. 8,9,3). Im aufgerufenen Kontext entspricht Lampridius dem gut saturierten Dichter, Sidonius dem armen Poeten, der seinen Freund um den Patron beneidet: et ob hoc inaequalia cano, quia similia posco et paria non impetro („und deshalb sind meine Gedichte nicht auf deinem Niveau, weil ich zwar Ähnliches verlange aber nicht dasselbe erreiche“: epist. 8,9,3). Da Sidonius die erstrebte politisch-soziale Gleichstellung mit Lampridius verwehrt bleibe, können auch seine Gedichte kaum denen des Freundes gleichkommen. Zur Abstraktion sei er indes nicht fähig, die Gedichte spiegelten gleichsam die traurige Situation, in der er sich befinde, seien folglich otii et hilaritatis expertes („ohne Musse und Heiterkeit“). Daraufhin wird erneut die Bitte um Nachsicht bei der Kritik geäussert (epist. 8,9,4–5). Es gilt an dieser Stelle zu betonen, dass sich der im Brief behandelte Diskurs bisher im Wesentlichen auf der poetologisch-literarischen Ebene abspielte. Lediglich im Hintergrund schwingen die politischen Umstände im Bewusstsein des Lesers mit, der wie Lampridius aus eigener Kenntnis oder aufgrund der Lektüre des Briefkorpus um die Verbannung des Sidonius weiss und die vereinzelten Andeutungen einzuordnen vermag. Das Gedicht führt den begonnenen Diskurs (Armut bedingt poetische Aphasie) weiter, ergänzt ihn aber um einen entscheidenden Aspekt. Im ers664 Vgl. Sidon. epist. 8,9,4: otii aut hilaritatis expertes, die im üblichen aristokratisch-freundschaftlichen Rezeptionskontext keinen Anklang finden. 665 Zum Motiv der Sprachlosigkeit bei Sidonius und seinen poetischen Vorbildern vgl. Henke (2008). 666 Sidon. epist. 8,9,1: Sed hoc tu munificentia regis satis abutens iam securus post munera facis, quia forsitan satiricum illud de satirico non recordaris: satur est, cum dicit Horatius „euhoe“ mit Iuv. 7,59–62: (…) neque enim cantare sub antro / Pierio thyrsumque potest coniungere maesta / paupertas atque aeris inops, cum nocte dieque / corpus eget: satur est cum dicit Horatius „euhoe!“. 667 Sidon. epist. 8,9,2: Necdum enim quicquam de hereditate socruali vel in usum tertiae sub pretio medietatis obtinui.

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ten Teil der aus 59 Hendecasyllabi bestehenden Dichtung wird die Unangemessenheit von Lampridius’ Forderung aufgegriffen und anhand des tu-nosVergleichs erneut bekräftigt (Vv. 1–20). Auch hier wird durch eine literarische Anspielung ein spezifischer Kontext aufgerufen, der sich in den im Prosatext evozierten Bezugsrahmen nahtlos eingliedert, diesem aber eine dezidiert politische Dimension zuweist: Tu iam, Tityre, rura post recepta myrtos et platanona pervagatus pulsas barbiton atque concinentes ora et plectra tibi modos resultant, chorda, voce, metro stupende psaltes.

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Du, Tityrus, streifst nun schon durch Myrtenbüsche und Platanenhaine und zupfst die Laute, nachdem du deine Landgüter zurückerhalten hast. Dein Mund und deine Zither lassen im Einklang Lieder erschallen. O du, welch ein Saitenspieler, bewundert aufgrund des Klangs deiner Laute, deiner Stimme und aufgrund deines Rhythmusgefühls! (Sidon. epist. 8,9,5 Vv. 12–16)

Die im Prosatext erfolgte Stilisierung des Adressaten als civis felix steigert sich hier zum bukolischen Makarismos. Mit der Apostrophe des Lampridius als Tityrus bedient sich Sidonius eines Interpretaments der Vergilauslegung: Unter der Maske des Tityrus bedankt sich der junge Vergil in der ersten Ekloge beim deus iuvenis Oktavian für die Rückerstattung seines bei den Enteignungen des Jahres 42 v. Chr. verlorenen Landguts.668 Das der Situation durchaus angemessene poetische Analogon besitzt eine vorbereitende Funktion.669 Gemäss der zeitgenössischen Schulauslegung kommt dem erstem Gedicht im Korpus der zehn Eklogen Vergils eine Sonderstellung zu, da der Dichter hier über die Grenzen eines carmen bucolicum hinausgeht, um eine Danksagung an Augustus zur Sprache zu bringen.670 Vor diesem panegyrisch gefärbten Hintergrund liegt die Vermutung nahe, dass nun auch Sidonius wie Lampridius zu einem Tityrus werden möchte und zu diesem Zweck ein Enkomion auf den deus iuvenis hält. In diese Rolle schlüpfte er nach dem Sturz seines Schwiegervaters Avitus bereits erfolgreich im Jahr 458 in seinem Panegyricus auf dessen Nachfolger Maiorian.671

668 Serv. in Verg. ecl. 1,1 ed. Thilo, 4,21–22: et hoc loco Tityri sub persona Vergilium debemus accipere. Zum deus iuvenis vgl. Serv. in Verg. ecl. 1,42 ed. Thilo, 11,6: IUVENEM Caesarem dicit Octavianum Augustum. 669 Die Evokation fügt sich gut in den Juvenalischen Kontext ein, denn erst die materielle Sicherheit durch die Zuwendung eines vermögenden Patrons ermöglichte Vergil die Abfassung seines Epos. 670 Vgl. Serv. in Verg. ecl. praef. ed. Thilo, 2,14–19 und 3,20–25. 671 Flavius Eparchius Avitus wurde vom magister militum Rikimer gestürzt, der daraufhin Flavius Julianus Maiorianus zum Augustus ausrufen liess. Die politische Situation war für Sidonius als Anhänger des Avitus zu dieser Zeit überaus gefährlich, doch gelang es ihm, sich aufgrund seines Panegyricus bei Hof zu rehabilitieren. Zur Situation in Gallien nach dem Sturz des Avitus vgl. Mathisen (1979b).

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

Mit der Stilisierung des Lampridius zum Tityrus/Vergil, die ansatzweise schon im Prosatext angedeutet ist,672 wird implizit die Frage nach dem deus iuvenis aufgeworfen, dem Lampridius seine Lage verdankt. Dass es sich hierbei um eine durchaus hintergründige Schlüsselfrage handelt, wird erst am Ende des Gedichts deutlich. Soweit ist die Identifikation mit Eurich aber offenkundig; der neue Augustus residiert nicht in Rom, sondern in Bordeaux, wo Sidonius auf weitere Bittsteller aus aller Welt trifft (V. 20). Der mit dieser enkomiastischen Hyperbole eingeleitete Katalog der Bittsteller am Hof des Westgotenkönigs erscheint erwartungsgemäss als Panegyricus (Vv. 21–54), mit dem sich Sidonius nun seinerseits um die Gunst und Patronage des deus iuvenis/Eurich zu bemühen scheint, den er in V. 42 auch persönlich anspricht. Diese lange Zeit akzeptierte Lesart673 ist von der jüngeren Forschung im Hinblick auf die präsupponierte Widerstandshaltung innerhalb des sidonianischen Briefkorpus jedoch abgelehnt und mit guten Argumenten dekonstruiert – oder besser – um eine andere Stimme ergänzt worden.674 In der Tat entpuppt sich die Passage als geschickt eingefädelte oratio figurata. Hinter der vordergründigen Preisung des Westgotenkönigs verbirgt sich eine gegenläufige literarische Strategie, die sich dem aufmerksamen Leser erst am Ende des Gedichts in denkwürdiger Pointe offenbart:675 Sed tu Tityre, parce provocare; nam non invideo magisque miror, qui, dum nil mereor precesque frustra impendo, Meliboeus esse coepi. Aber du, Tityrus, reize mich nicht länger, denn ich empfinde keinen Neid, sondern wundere mich eher: Ich werde, während ich nichts bekomme und vergebliche Bitten äussere, allmählich zum Meliboeus. (Sidon. epist. 8,9,5 Vv. 56–59)

Parallel zur Gleichsetzung des Lampridius mit Tityrus/Vergil verläuft die unterschwellige Selbstidentifizierung des Sidonius mit Meliboeus, die schliesslich durch ein Vergilzitat eingeleitet wird.676 Diese pointierte Wendung bringt mit Blick auf den vergilischen Intertext einen frappierenden Perspektivenwechsel mit sich. Denn Tityrus’ bukolischer Konterpart ist ein Exilant auf dem Weg in eine unsichere Zukunft: 672 Neben dem tu-nos-Gegensatz auch das Schlüsselwort otium (Verg. ecl. 1,6: deus nobis haec otia fecit). Vgl. auch Fo (1999) 32. 673 So Stevens (1933) 165–167; Harries (1994) 240–241; La Penna (1995b) 213 sowie Kaufmann (1995) 136, der einen gewissen Widerwillen von Seiten des Sidonius aber nicht ausschliessen will. 674 Fo (1999); Henke (2008) 168; Gualandri (2000) 118 f.; Overwien (2009) 108 ff. 675 Dies hat Fo (1999) schön herausgearbeitet. 676 Vgl. Sidon. epist. 8,9,5 V. 57: nam non invideo, magisque miror mit Verg. ecl. 1,11–12: Non equidem invideo; miror magis: undique totis / usque adeo turbatur agris (…). Dazu Fo (1999) 31–32.

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En umquam patrios longo post tempore finis pauperis et tuguri congestum caespite culmen, post aliquot, mea regna, videns mirabor aristas? Werde ich jemals nach langer Zeit die väterlichen Fluren und das rasengedeckte Dach der ärmlichen Hütte, mein Königreich, wieder sehen und mich dann über die spärlichen Ähren wundern? (Verg. ecl. 1,67–69)

Die Fortsetzung aus dem Munde des Meliboeus wendet den scheinbaren Panegyricus zur Invektive gegen Eurich: Impius haec tam culta novalia miles habebit, barbarus has segetes. (...)

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Ein gottloser Soldat wird diese gepflegten Felder besitzen, ein Barbar diese Saaten. (Verg. ecl. 1,70–71b)

Dieser innere Bruch trifft den Leser nicht ganz unvorbereitet. Anstelle von Hexametern, die einem Panegyricus angemessener wären, wählte Sidonius ein Versmass, das dem kundigen Leser von vornherein den satirisch-polemischen Inhalt signalisiert. Bereits in carm. 12 an Catullinus hat er nach dem Vorbild von Catull und Martial phaläkische Elfsilbler als Ausdruck poetischer Indignation verwendet. Auch dort liessen die Umstände keine Hexameter zu: Die in Lyon stationierte burgundische „Schutztruppe“ hätte das Dichten eines Epithalamium schlicht unmöglich gemacht.677 Der Brief lässt also zwei durchaus gegensätzliche Interpretationen zu: eine eher offenkundige und eine verborgene, die nur ein Insider wie Lampridius zu erkennen vermag. Literarische Obscuritas wird hier in ihrer unmittelbaren Funktion fassbar. Sie dient an dieser Stelle erneut der Verkündigung eines politischen Pragmatismus: Indem Sidonius seine „wahre“ Meinung auf eine Ebene transferiert, die nur einem Angehörigen der Bildungselite zugänglich ist, kann er vordergründig Eurich als deus iuvenis bestätigen und somit auf die Deeskalation seiner Lage hinarbeiten, ohne aber dadurch seine Würde und Integrität als gallorömischer Aristokrat zu verlieren.678 Hier zeigt sich einmal mehr das Paradox des verhüllten, aber gerade in seiner Verhüllung umso deutlicheren Sprechens. Obscuritas wurde bewusst zur Mitteilung von Unaussprechlichem instrumentalisiert. Die durch literarische Anspielungen erreichte Hintergründigkeit und Polysemie ist gänzlich in der Bildungskultur der Zeit aufgehoben und für Angehörige der Bildungsgemeinschaft dechiffrierbar.

677 Datierung und Ort sind umstritten. Zum Gedicht vgl. Kaufmann (1995) 141–144; Henke (2008) 159–165. Den satirischen Unterton der Hendekasyllabi bekennt Sidonius selbst in carm. 12,20–22: Sed iam Musa tacet tenetque habenas / paucis hendecasyllabis iocata, / ne quisquam satiram vel hos vocaret. 678 Fo (1999) 34: „Su quel piano mantenere salva la propria dignità di spirito libero.“

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

Das im Brief enthaltene Gedicht war kaum dazu bestimmt, mittels Zirkulation oder Vermittlung durch Lampridius unter die Augen Eurichs zu kommen. Vielleicht handelt es sich um einen literarischen Reflex eines echten laus Eurichi, den er am Hof gehalten hat oder zum Zeitpunkt des Briefes noch halten wird. Die zentrale Botschaft des Briefs liegt in der Bestätigung der Überlebensstrategie des Lampridius, der weder in primärer noch sekundärer Rezeption als „Kollaborateur“ blossgestellt wird.679 Zusammenfassend lässt sich für Sidonius Apollinaris also Folgendes sagen: In primärer Briefkommunikation galt auch für ihn die Parole des Avitus von Vienne: si licet scribite. Wenn er schrieb, thematisierte er politische Themen eher zurückhaltend, doch scheute er sich nicht davor, bisweilen auch einen schärferen Ton anzuschlagen. Dahinter stand aber keine subversive Intention. Auch in sekundärer Kommunikation, im Kontext einzelner Briefbücher oder der vollständigen Sammlung, ist kein verborgener Kampf gegen die Westgoten erkennbar, zu dem er hinter vorgehaltener Hand seine anvisierte Leserschaft hätte anstacheln wollen. Viel eher wird deutlich, dass Sidonius offenbar relativ schnell die politische Superiorität der Westgoten anerkannt hatte und sowohl seine primären Adressaten wie seine sekundären Rezipienten aufforderte, sich auf pragmatische Weise mit den neuen Zeitumständen zu arrangieren. Zugleich wird den Briefpartnern und der sekundären Leserschaft aber die Pflege der eigenen, dezidiert römischen Kultur nahegelegt. Mit seinen Briefen war Sidonius also tatsächlich in gewisser Weise politisch aktiv, jedoch vertrat er keine antigotische Politik, sondern eher eine prorömische Kulturideologie. Die Mehrstimmigkeit und Multiperspektivität seiner Texte korrespondiert mit einer differenzierten Vielgestaltigkeit der Person „Sidonius“, die dem Leser in unterschiedlichen Formen und Intentionen entgegentritt. Dadurch entziehen sich seine Briefe generell monokausalen Erklärungsansätzen und eindimensionalen Deutungen. Zeitkritik, innerer Widerstand, Resignation, Kulturpessimismus oder Aphasie sind lediglich Einzelaspekte, die in bestimmten Kontexten aufblitzen, um dann hinter anderen Diskursen wieder zurückzutreten. Die Techniken dunklen Schreibens bleiben sich indes gleich. Die funktionale Vielgestaltigkeit von Obscuritas ist auch in dieser Hinsicht beachtenswert. b. Kodierte Kommunikation im Reich der Burgunder – Im Dialog mit Avitus von Vienne Wie sein Verwandter Sidonius Apollinaris war auch der aus hochadliger Familie stammende Alcimus Ecdicius Avitus eng in die politischen und kirchli679 Dies gegen Overwien (2009) 109: „Sidonius ist geschickt darin anzudeuten, nur von Kollaborateuren und Verrätern umgeben zu sein.“ Es handelt sich hier nicht um eine Anschuldigung an Lampridius vor den Augen der Leser des Briefkorpus, die dann im übernächsten Brief von dessen unrühmlichem Tod lesen (vgl. Sidon. epist. 8,11). Was im Brief des Lampridius stand ist ungewiss. Falls er eine Aufforderung zur Kooperation enthielt, so wird er diese in ein ähnliches literarisches Spiel gehüllt haben, wie Sidonius dies in seinem Antwortbrief tat.

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chen Prozesse des ausgehenden 5. Jahrhunderts einbezogen. Als Bischof von Vienne (ca. 490/91–518), der Metropolis der ehemals gleichnamigen römischen Provinz, nahm er an den kirchlich-theologischen Auseinandersetzungen seiner Zeit sowie den politischen Machtkämpfen, die in Gallien zwischen den germanischen Nachfolgereichen entstanden, in gleicher Weise regen Anteil. Das seit der Mitte des 5. Jahrhunderts im Rhône- und Saône-Becken um Genf und Lyon sich konsolidierende Burgunderreich, zu dem die civitas Vienne gehörte, befand sich – im Norden von Franken und Alamannen, im Süden und Westen von West- und Ostgoten bedrängt – in einer strategisch ungünstigen Lage. Diese konnte durch eine geschickte Heirats- und Bündnispolitik des Königs Gundobad (reg. 480–516) zumindest für eine gewisse Zeit ausgeglichen werden.680 Innenpolitisch waren die Burgunder auf einen Ausgleich mit der gallorömischen Mehrheit ausgerichtet, an deren kulturellen Errungenschaften zumindest das Königshaus reges Interesse zeigte.681 Die Beziehungen zwischen der arianischen Herrscherfamilie und den Vertretern der katholischen Kirche waren verhältnismässig eng und unproblematisch.682 Avitus war als Metropolit von Vienne neben dem von Lyon der ranghöchste Bischof im regnum Burgundionum und wurde von König Gundobad in brieflicher Form wiederholt um Auskunft in theologischen Fragen gebeten, die Avitus in umfangreichen brieflichen Lehrschreiben beantwortete. Möglicherweise wurde dieses gelehrte Wechselgespräch nachträglich von Avitus in Gestalt eines Dialogus zusammengefasst und ediert.683 In dieser lockeren Atmosphäre des kulturellen und religiösen Austauschs waren Avitus offenbar auch kritische Bemerkungen gegenüber dem homöischen Bekenntnis des Königs erlaubt. Trotz der Bemühungen seines Gesprächspartners blieb Gundobad im Gegensatz zu seinem Sohn Sigismund, dem Gründer von St. Maurice, aber bis zu seinem Tod Arianer.684 Abgesehen von seinem intensiven Kontakt mit dem burgundischen Königshof, für den er verschiedentlich auch die offizielle Korrespondenz erledigte,685 war Avitus in einen überregionalen Zirkel hochgebildeter gallorömischer Aristokraten, Laien wie Bischöfen, eingebunden, mit denen er zur Pflege der amicitia in regelmässigem Briefwechsel stand.686 Es sind vor680 Zur Geschichte des Burgunderreichs vgl. Kaiser (2004). 681 Vgl. dazu Wood (2004); Wood (2008). 682 Neben Bischöfen wie Avitus von Vienne waren nachweislich auch katholische Berater am Hof der Burgunderkönige tätig, vgl. Burckhardt (1938) 53 ff.; Kühneweg (2004) 130 f.; Wood (2008) 227. 683 Vgl. Vita Aviti ed. Peiper, 177,15–16: scribit enim dialogum haeresim illam oppugnans (…) ad Gundebadum Burgundionum regem, filium Gundovei. Vgl. dazu die Diskussion bei Shanzer/Wood (2002) 187–193. 684 Greg. Tour. Hist. 2,34 berichtet von den angeblichen Bekehrungsversuchen Gundobads durch Avitus. Vgl. dazu Avit. epist. 6 ed. Peiper mit Heil (2001) 405–409. Zur Bekehrung Sigismunds vgl. Avit. epist. 8 ed. Peiper. 685 Avit. contr. Arr. 30 ed. Peiper (= ein Brief an König Gundobad). 686 Einen guten Überblick über die brieflichen Aktivitäten des Avitus bieten Shanzer/Wood (2002).

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

nehmlich diese Freundschaftsbriefe, in denen Avitus auf die wechselvolle politische Lage zu sprechen kommt. Im Vergleich mit Sidonius Apollinaris sind seine Bezugnahmen äusserst zurückhaltend und stets mit Bedacht formuliert. Dasselbe gilt – soweit erkennbar – auch für seine Briefpartner. Im Gegensatz zu seinem Verwandten finden sich bei ihm keine feststellbaren Aversionen gegen die germanischen Machthaber. Diese Divergenzen scheinen weniger in charakterlichen oder ideologischen Unterschieden zwischen den beiden Männern als in der grundsätzlich veränderten politischen Lage in Gallien ihre Begründung zu finden. Als nach Absetzung des letzten weströmischen Kaisers sich mit Billigung Ostroms die ostgotische Herrschaft in Italien etablierte, gab es für die Generation nach Sidonius keinen Anlass mehr, an der Persistenz und Kontinuität der germanischen Nachfolgereiche im Westen zu zweifeln. In Gallien, Italien, Spanien und Nordafrika begannen sich die römischen Eliten mit der neuen Situation zu arrangieren und nicht wenige Aristokraten begaben sich in den Dienst der neuen Herren und übernahmen neben Verwaltungsaufgaben auch militärische Funktionen.687 Über Konflikte, die zwischen den gallorömischen Aristokraten und den neuen Machthabern im regnum Burgundiorum entstanden, gibt es kaum Zeugnisse. Erst über ein halbes Jahrhundert später wird Gregor von Tours in tendenziöser Darstellung von einem angeblich religiös motivierten Eklat berichten.688 Was seine Stellung anbelangte, dürfte sich Avitus angesichts seiner guten Beziehungen zum burgundischen Königshaus in relativer Sicherheit befunden haben. Mit Blick auf seine Korrespondenz, die ein Redaktor postum zusammen mit den offiziellen Kanzleibriefen als Sammlung kompiliert hat,689 scheint aber auch er sich bei politischen Angelegenheiten kaum Freiheiten erlaubt zu haben.690 Einen singulären Grenzfall stellt das berühmte Gratulationsschreiben an Chlodwig (epist. 46 ed. Peiper) dar, in dem Avitus den König der Franken zu dessen Bekehrung zum katholischen Christentum beglückwünschte.691 Auch wenn das burgundische Königshaus Avitus’ offene Propagierung des katholischen Glaubens durchgehen liess, handelte es sich bei diesem Brief um ein politisches Wagnis.692 687 So etwa Apollinaris, der Sohn des Sidonius Apollinaris, vgl. Avit. epist. 24; epist. 36; epist. 56 ed. Peiper sowie Greg. Tour. Hist. 2,37. Vgl. auch weiter unten: S. 285f. Dies gilt v. a. für die nachfolgende Generation, dazu Stroheker (1948) 298; Mathisen (1984) 167; Kaufmann (1995) 139. Zu den Verhältnissen im vandalischen Nordafrika vgl. die vorzügliche Studie von Conant (2012). 688 Vgl. Greg. Tour. Hist. 2,23 zum Schicksal des Bischof Aprunculus von Langres, der von den Burgundern der Konspiration mit den katholischen Ripuariern verdächtigt wurde. 689 Dazu Burckhardt (1938) 16 f.; Shanzer/Wood (2002) 63–64. 690 Shanzer/Wood (2002) 79: „Avitus had to be vague when alluding to political circumstances in the Burgundian and Visigothic kingdoms.“ 691 Es handelt sich um ein Antwortschreiben auf die Taufankündigung Chlodwigs. Vgl. Shanzer/Wood (2002) 362–373 mit Hinweisen auf die neuere Literatur. Immer noch lesenswert ist von den Steinen (1963) bes. 61–78. 692 Vgl. Kühneweg (2004) 132: „[Der Brief] zeugt weniger von politischer Klugheit als von

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Wenn Avitus in privater Korrespondenz auf politische Ereignisse zu sprechen kommt, geschieht dies stets in kodierter Form. Als die civitas Vienne durch ungenannte Feinde (Franken, Goten?) bedroht war, kam es zu einem gehässigen Briefwechsel zwischen Avitus und dem vir illustrissimus Heraclius, in welchem der eine den anderen der Feigheit bezichtigte (epist. 95–96 ed. Peiper). Die genauen Umstände werden nur angedeutet (incursibus formidandis) und bleiben daher weitgehend im Dunkeln. Auf ähnlich diskrete Weise äusserte sich Avitus in einem Brief an seinen Bruder Apollinaris, dem Bischof von Valence, über die Einfälle der Ostgoten ins burgundische Rhônetal (epist. 87). Wie bei keinem anderen Autor wird die politisch motivierte Obscuritas durch den eigensinnigen Prosastil des Avitus begünstigt. Sein Latein verlangt dem Rezipienten auch an politisch unverfänglichen Stellen bisweilen detektivische Kleinstarbeit ab. Die ausgeprägte Vorliebe für substantivierte Wendungen und Periphrasen sowie seine anspielungsreiche und gedanklich-abstrakte Ausdrucksweise eignen sich hervorragend zur Kommunikation oder gekonnter Nicht-Kommunikation politisch heikler Nachrichten. Ein anschauliches Exempel dieses hintergründigen Briefstils bietet Avitus’ Schreiben an den vir illustrissimus Aurelianus, das hier vollständig zitiert wird: Avitus episcopus viro illustrissimo Aureliano. Indicium quidem quantulaecumque prosperitatis esse manifestum est, quod amicorum affectu tantisper illucescente temporariae pacis colore visitamur. verum tamen aestus ille diluvii, quem procellis temporalibus comparastis, humanis rebus, dum per mundanum pelagus curritur, fluctu adsiduae perturbationis insistit. quandoquidem hoc ipsum, quod inter adversitates temporum respiramus, discriminum, quae patimur, intervallum magis debemus putare quam terminum. nam idcirco tantum incommodis calamitatum circumscribendis potius quam sanandis pax quaedam videtur adludere, ut mentes fallaci securitate laxatas instaurato gravius metu succiduus gemitus adficiat. quo circa desiste, vir optime, in malis ferventibus [S mala ferventia] credere finem malorum, et cum se motu dissimili tempestate mollita facies tantillae serenitatis alternat, varietate proventuum non delectare, sed utere. nec sic te aut prosperitas erigat aut frangat adversitas, ut animis tuis tam amicorum mutetur causa quam temporum. mementote semper propositae caritatis; si licet scribite: sin alias, quod prohiberi non potest, vel amate. et post gurgites, quos litteris descripsistis, in eo magis saeculo sperate portum, quo timere non poterit tranquillitas optata naufragium. Bischof Avitus dem vir illustrissimus Aurelianus. Es ist gewiss als Anzeichen eines noch so kleinen Aufschwungs zu werten, dass, während die Liebe unter Freunden einstweilen erstrahlt, uns der Glanz eines zeitlich begrenzten Friedens erreicht. Dennoch aber bedrohen die Wogen jener Sintflut, die du mit vorüberziehenden Stürmen vergleichst, die Menschen im Brausen einer beständigen Unruhe, während sie die Meere dieser Welt befahren. Denn die jetzigen Umstände, da wir zwischen den Widrigkeiten unserer Zeit aufatmen können, müssen wir eher als Unterbrechung jener Gefahren einschätzen, unter denen wir leiden, denn als ihr Ende. Der jetzige Frieden nämlich scheint mir mehr durch blosses Bemänteln der unheilvol-

überschwenglicher Freude“. Der Impetus des Briefs ist in erster Linie religiös und nicht politisch. In diesem Sinn ist auch der berühmte Satz vestra fides nostra victoria est (epist. 46 ed. Peiper, 75,7) zu deuten, vgl. dazu Philippe (1996). Zu den vorhandenen politischen Implikationen des Briefs vgl. von den Steinen (1962) 69 ff.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie: len Lage als durch ihre Heilung sein Spiel mit uns zu treiben, sodass den in falscher Sicherheit entspannten Geist verstärkt eine noch unablässigere Betrübnis befallen wird, sobald die Furcht wiederkehrt. Aus diesem Grund, mein Bester, hör auf zu glauben, in brodelndem Übel das Ende des Übels zu sehen, und, wenn sich einmal in ungleichartiger Abfolge der Sturm gelegt hat und sich das Antlitz froher Heiterkeit zeigt, nutze die Vielfalt der günstigen Lage statt sich an ihr zu erfreuen! Und nicht in der Weise sollen dich glückliche Umstände erheben oder eine ungünstige Lage entmutigen, dass für dich die Sache deiner Freunde sich so schnell wendet wie das Wetter. Erinnere dich an [meine dir] angetragene Liebe; schreib mir, wenn es möglich ist, falls nicht, was nicht verhindert werden kann, so sei mir wenigstens zugetan! Und erwarte jetzt nach der reissenden Flut, die du in deinem Brief geschildert hast, den sicheren Hafen umso mehr in jener Zeit, in der die erhoffte Ruhe keinen Schiffbruch zu fürchten braucht. (Avit. epist. 37 ed. Peiper, 66–67)

Der kurze sentenzenhafte Einstieg bestätigt als argumentum ad benevolentiam ein wohl von Aurelianus im Brief zuvor geäussertes Urteil, wobei dessen Gültigkeit jedoch bereits eine erste Einschränkung erfährt (quantulaecumque). Das verum tamen eröffnet dann die gegenläufige Einschätzung des Avitus, in der zuerst allgemein auf die Fortdauer der die Menschen bedrohenden perturbationes auf Erden, dann in antithetischen Formulierungen auf die Episodenhaftigkeit des derzeitigen Friedens (pax) hingewiesen wird. Der mahnende Ton der narratio mündet schliesslich in eine drängende adhortatio. Der kunstvolle Aufbau des Briefs zeigt sich in den proportional zu ihrer Bedeutung wachsenden Redeteilen (captatio, narratio, adhortatio/petitio) als auch in der Rahmenstellung der freundschaftlichen Verbundenheit der beiden Korrespondenten (amicorum affectu / caritatis), die dadurch besondere Gewichtung erhält und den belehrenden Ton des Briefes auffängt. Der sachliche Inhalt ist fast vollständig verschlüsselt. Hinter der offenbar von Aurelianus inaugurierten Sturm- und Schifffahrtsmetaphorik (aestus ille diluvii, quem procellis temporalibus comparastis / gurgites, quos descripsistis), die als literarisches Vehikel biographischer Bezüge traditionell Verwendung fand, wird in diskreter Weise Politisches verhandelt – überdies ein wichtiger Hinweis, dass auch Avitus’ Briefpartner ihre Schreiben kodierten. In der Gemengelage unspezifischer Abstrakta (perturbatio, adversitas, calamitas, serenitas, prosperitas, tranquillitas) gelingt es Explizites zu vermeiden und Realitätsbezüge bewusst zu verwischen. Deutlich wird zumindest, dass Aurelianus Avitus gegenüber seiner Freude über die Lösung gewisser politischer Probleme, in denen er sich befand, Ausdruck verliehen hat. Avitus erinnert ihn nun an die Unbeständigkeit dieser Lage und mahnt ihn zur Vorsicht. Seine eigentliche Handlungsanweisung ist aber wie auch die übrigen politischen Implikationen nur schwer zu dechiffrieren. So liegt die genaue Bedeutung der ersten Ermahnung an Aurelianus, zweifellos ein Schlüsselsatz für das tiefere Verständnis des Textes, weitgehend im Dunkeln; die andeutende Allegorie wird hier zum Aenigma.693 Neben der bewussten Verschleierung des Inhalts mittels 693 Statt sich des kurzweiligen Friedens zu erfreuen, solle Aurelianus die Vielfalt der sich

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bildhafter allusio, die hier als einzig mögliche Redeweise erscheint, wirken sich in sekundärer Rezeption die fehlende Kenntnisse über die Person und den Aufenthaltsort des Adressaten aus, was eine historische Kontextualisierung faktisch verunmöglicht. Es gibt zumindest Hinweise, die Aurelianus im regnum Francorum verorten lassen, was etwa die Schwierigkeiten der Korrespondenz erklären würde (si licet, scribite).694 Die pax temporaria, auf die Avitus zweimal referiert, bliebe aber auch in diesem Kontext zweideutig. Handelt es sich um einen Friedensvertrag zwischen Burgundern und Franken oder ist im übertragenden Sinn der trügerische Frieden zwischen zwei Stürmen beziehungsweise politischen Intrigen gemeint? Ein weiterer Fall bewusster semantischer ambiguitas stellt der Begriff des saeculum am Ende des Briefs dar, mit dessen Ambivalenz Avitus bewusst spielt: Vordergründig scheint er sich auf den sicheren Hafen im Jenseits zu beziehen, doch mag es sich zugleich um eine hintergründige Anspielung auf einen zu erwartenden Machtwechsel handeln.695 In ähnlich kryptographischer Manier äusserte sich Avitus im eingangs dieser Arbeit analysierten Brief an den vir illustrissimus Messianus (epist. 56 ed. Peiper).696 Die in der spätantiken Briefliteratur feststellbare, von der Forschung oft beklagte Diskrepanz zwischen den hypercharakterisierten Freundschaftsund Höflichkeitsbezeugungen und der denkwürdigen Ellipse des kommunizierten Inhalts erhält hier eine tiefere, kryptographische Bedeutung. Schliesslich zeugen auch Avitus’ Briefe an den vir illustrissimus Apollinaris, den Sohn des Sidonius, von seiner Vorsicht in der Thematisierung politischer Diskurse. Das Dossier umfasst vier Briefe, die ungefähr aus demselben Zeitraum stammen dürften (epist. 24; epist. 36; epist. 51 und epist. 52 ed. Peiper).697 Apollinaris, der mit Avitus entfernt verwandt war,698 bekleidete unter dem Westgotenkönig Alarich II. hohe Ämter, die ihn auch zum Kriegsdienst verpflichteten. In einem Brief an ihn äussert Avitus seine Besorgnis über ein erneutes Aufgebot seines Verwandten, von dem er von unterschiedlichen Seiten erfahren habe: Nam revera nuntio vestri discessus accepto in summo metu et trepidatione pependimus; quia nobis diversis nuntiis dicebatur vos dominorum, quibus observatis, accitu cunctos pariter evocatos.

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bietenden Gelegenheiten nutzen: quo circa desiste, vir optime, in malis ferventibus credere finem malorum, et … varietate proventuum non delectare, sed utere. Ist mit in malis ferventibus credere finem malorum eine gefährliche Allianz gemeint, von der Avitus seinem Adressaten abrät? Vgl. zur möglicherweise verderbten Textstelle die knappe Diskussion bei Shanzer/Wood (2002) 325 Anm. 5. Vgl. Shanzer/Wood (2002) 324 mit Verweis auf Fredegar 3,18. Zu Aurelianus vgl. Heinzelmann (1982) 564. Vgl. Shanzer/Wood (2002) 326 Anm. 1. Vgl. weiter oben: S. 60–62. Dazu Burckhardt (1938) 32–34; Shanzer/Wood (2002) 337–349; Prévot (2004) 255 f. Vgl. dazu Hecquet-Noti (2005).

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie: Denn als uns die Nachricht über deinen Weggang ereilte, waren wir wirklich in grosser Angst und Sorge; uns wurde nämlich von unterschiedlicher Seite zugetragen, dass du und alle anderen durch den Ruf jener Machthaber, in deren Dienst ihr steht, aufgeboten wurdet. (Avit. epist. 24 ed. Peiper, 56,15–17)

Die Übermittlung von Nachrichten ins benachbarte Westgotenreich war angesichts der politischen Spannungen zwischen den beiden rivalisierenden Reichen eine heikle Angelegenheit und daher nur zeitweise möglich. Avitus trägt diesem Umstand mittels einer Periphrase Rechnung. Während die Herren, denen Apollinaris dient, aus dem historischen Kontext erschlossen werden können, bleiben Ziel und Absicht des zu präsupponierenden Feldzugs, für den Apollinaris aufgeboten wurde,699 wie viele von Avitus’ kryptischen Anspielungen und Umschreibungen für die Nachwelt im Dunkeln. Die Briefe 51 und 52 stehen im Zusammenhang mit den politischen Schwierigkeiten des Apollinaris, von denen Avitus durch einen Mittelsmann erfahren hatte. Den offenbar durch eine Palastintrige entstandenen Verdächtigungen gegen Apollinaris, die Avitus in eine klassische Feuer/Rauch-Metapher fasste,700 folgte die vollständige Rehabilitation durch Alarich. Avitus gratuliert seinem Verwandten daraufhin erleichtert (epist. 51 ed. Peiper) und gibt ihm Ratschläge für das weitere Verhalten gegenüber seinen Verleumdern am Hof (epist. 52 ed. Peiper). Die genauen Umstände sind nicht rekonstruierbar, möglicherweise hat man Apollinaris die Paktierung mit Franken oder Burgundern vorgeworfen.701 Eine Kommunikation, die in derartigem Grade kodiert ist, stellt an beide Briefpartner höchste Ansprüche. Während der Sender ständig bemüht ist, kompromittierende Nachrichten in obskuren Anspielungen zu verhüllen, hinter metaphorischen Ausdrücken zu kaschieren oder bedeutsam zu umschreiben, muss der Empfänger die inhaltlichen Kodierungen erkennen, auflösen und deuten können. Zweifellos ist dieser Dekodierungsvorgang wie im oben erwähnten Beispiel von Cicero702 gelegentlich auch in Avitus’ Korrespondentenkreis misslungen. Eine indirekte Spur davon findet sich möglicherweise in epist. 36 an Apollinaris, einem weiteren schönen Beispiel einer aus politischen Gründen kodierten Briefkommunikation.703 Avitus zeigt sich darin erfreut, von Domnulus, einem Aristokraten, über dessen Vermittlung Avitus’ Briefkontakt ins Westgotenreich im Wesentlichen verlief,704 vom Wohlbefinden der Familie des Apollinaris zu hören. Avitus schreibt, wie er im ersten Teil der narratio darlegt, verspätet, da ihn eine Augenerkrankung Die Verwendung militärischer Termini (evocatos, accitu) verweist auf einen Kriegszug. Avit. epist. 51 ed. Peiper, 79,24–26. Dies der Vorschlag von Prévot (2004) 257. Cic. Att. 2,7,4 und Cic. Att. 7,13,3. Vgl. dazu weiter oben: S. 256 Anm. 570. Vgl. Shanzer/Wood (2002) 82–84, die anhand dieses Briefs die sprachlichen und textlichen Schwierigkeiten von Avitus exemplarisch vorführen; Gioanni (2004) 536–537. 704 Zu seiner Person vgl. Shanzer/Wood (2002) 338 Anm. 5. 699 700 701 702 703

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von der Abfassung des nun vorliegenden Briefes längere Zeit abgehalten habe.705 Die frohe Botschaft habe ihm aber unversehens Licht in jene „nachtdunkle Wohnstatt finsterer Zurückgezogenheit“ gebracht (epist. 36 ed. Peiper, 66,14–15: contenebrati recessus nocturnali habitatione). Der Doppelsinn der ganzen Passage wird spätestens an dieser Stelle offensichtlich. Avitus spielt mit der Metaphorik von hell-dunkel, das sowohl sein Augenlicht als auch seine Unwissenheit über die Situation seines Freundes und Verwandten bezeichnet. Interessant ist nun, mit welchen Worten er die conclusio des Briefes einleitet: Quocirca nec vos iam de nobis aliquid semiplenum putetis: quorum contubernio divinitate propitia etiam oculi mei per praesentiam paginae satis facientes adcrescunt (…). Daher sollst du nicht glauben, dass du unvollständige Nachrichten über mich hast; in der [geistigen] Gemeinschaft mit euch verstärkt sich – mit Gottes Beistand – auch die Kraft meiner Augen, ausreichend für diese Seite. (Avit. epist. 36 ed. Peiper, 66,17–18)

Es handelt sich hier um eine der wenigen expliziten Leseanweisungen des Avitus. Semiplenum ist ein kryptographischer Schlüsselbegriff.706 Apollinaris soll nicht glauben, dass er unvollständige Nachrichten über ihn erhalten habe: Es gehe seinen Augen allmählich besser. Ein baldiger Antwortbrief wird sicher vollständige Genesung bringen. Offenbar versucht hier Avitus einer allfälligen interpretativen Missdeutung von Seiten seines Adressaten entgegenzuwirken, der hinter der kodierten Fassade des Briefs eine verborgene Schreckensbotschaft erkennen könnte: Spricht Avitus in einer Allegorie? Die Krankheit befiel ihn in Lyon, am Königshof also. Ist die dunkle Nacht, in er sich befindet, ein versteckter Hinweis auf eine politische Isolation am Burgunderhof? Bezeichnet die Unfähigkeit zu Sehen seine Handlungsunfähigkeit, die ihn auch schriftlich verstummen liess? Hier tritt unvermittelt ein Grundproblem politischer Obscuritas zum Vorschein, das nicht nur moderne Interpreten betrifft. Wenn kodiert geschrieben wird, zieht der Rezipient zwangsläufig aus jedem Detail Rückschlüsse auf allfällige Umstände, in denen sich der Partner befindet oder befinden könnte. Jede unspezifische Äusserung erhält Bedeutsamkeit, jeder bildliche Ausdruck wird zur bedeutungsschweren Allegorie, deren tieferen Sinn es zu entschlüsseln gilt. Dies gerade ist ja das literarische Potenzial von

705 Avit. epist. 36 ed. Peiper, 66,4–13. Die genaue Rekonstruktion der postalischen Vorgeschichte und des Informationstransfers bereiten Probleme. Entscheidend ist u. a. die Deutung der in der captatio gemachten Aussage coram me „erzählt (euch) von mir“ (Burckhardt) oder „erzählt mir (von euch)“ (Shanzer/Wood). Folgende Möglichkeiten ergeben sich daraus: 1. Domnulus ist gekommen, gegangen und wieder gekommen und hat von Arcadius erzählt, worauf nun Avitus einen Brief schickt. 2. (so offenbar Burckhardt): Domnulus ist gekommen, hat von Arcadius erzählt, ist gegangen und etwas später schreibt Avitus den Brief. 706 Vgl. die weiter oben zitierte Stelle aus Sidon. epist. 4,22,5: per homines clericalis… praesentia semiplene… dicuntur.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

Obscuritas. An dieser Stelle gibt Avitus jedoch bewusst Gegensteuer: Apollinaris brauche sich nicht um ihn zu sorgen. Wie jener des Sidonius Apollinaris war auch der Briefverkehr des Bischofs von Vienne hochgradig kodiert, wenn die politische Situation es seiner Meinung nach erforderte. Avitus nutzte die vielfältigen Techniken literarischer Obscuritas zur Verschlüsselung seiner Korrespondenz. Auf einer zweiten Ebene transportierten seine Briefe regelmässig eine Botschaft, deren direkte Äusserung er als zu unsicher erachtete. Im Allgemeinen handelte es sich dabei – zumindest soweit erkennbar – jedoch nicht um kompromittierende oder gar verschwörerische Inhalte. Meist standen Fragen der persönlichen Sicherheit und der Gesundheit der einzelnen Briefpartner im Vordergrund. Die Hintergründigkeit vieler seiner Briefe beschränkte sich also auf unmittelbare Alltagsprobleme und ist nicht als Ausdruck einer politisch, religiös oder ideologisch motivierten gallorömischen Résistance zu verstehen. c. Das Briefkorpus des Ruricius von Limoges – Bischöfliche Alltagskorrespondenz zwischen rhetorischer claritas und politischer Aphasie Im erhaltenen Zustand gibt die aus zwei quantitativ ungleichen Büchern bestehende Briefsammlung des Ruricius, des Bischofs von Limoges, Einblick in die scheinbar zeitlose Landschaft christlich geprägter Kommunikationskultur der gallorömischen Bildungselite gegen Ende des 5. Jahrhunderts n. Chr.707 Die Pflege der Freundschaften, der mutua caritas708 kann als primäre Aufgabe des Briefverkehrs zwischen dem Autor und seinem adligen Korrespondentenkreis angesehen werden, der trotz seiner zeitlichen Verschiebung eine gewisse Überlappung mit dem Zirkel des Sidonius Apollinaris, eines entfernten Verwandten des Ruricus, aufweist.709 Zur Pflege des traditionell streng ritualisierten Freundschaftskults legten der Autor und seine Korrespondenten710 entsprechend ihrer Verankerung in der spätantiken Bildungskultur grossen Wert auf ästhetische Form und rhetorische Gestaltung.711 Im Vergleich mit 707 Das relativ umfangreiche Briefkorpus des Bischofs von Limoges ist erst in neuerer Zeit in den Blick der Forschung gekommen, vgl. Mathisen (1999); Mathisen (2001); Moussy (2002); Neri (2006); Neri (2007); Alciati (2008); Neri (2009); Müller (2013). Die Briefsammlung ist zusammen mit dem Briefkorpus des Desiderius von Cahors einzig in der Handschrift Cod. Sangallensis 190 erhalten, vgl. dazu Demeulenaere (1985) 307–308; Mathisen (1998–1999); Mathisen (1999) 71–74. Zur möglichen Entstehung der Sammlung auch Alciati (2008) 70–74. 708 Ruric. epist. 2,26,2; epist. 2,36,5. Zur Bedeutung der Freundschaft im Briefkorpus des Ruricius vgl. allgem. Müller (2013) bes. 425–438. 709 Zu den gemeinsamen Korrespondenten vgl. Mathisen (1999) 31–33. 710 Deren Briefe wurden als Appendix an die Sammlung angehängt (ed. Demeulenaere, 395–405). 711 Davon zeugt nicht zuletzt auch ein in der Sammlung erhaltenes Briefgedicht: Ruric. epist. 2,19. Zum Sprachstil des Ruricius vgl. Rimini (1912); Loyen (1943) 169–173; Hagendahl (1952); Mathisen (1999) 53–56; Moussy (2002). Die mehrheitlich negativen Werturteile der älteren Forschung sind mittlerweile überwunden. Einen guten Überblick über die Urteile der Forschung bietet Neri (2009) 16–20.

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einem so bedeutenden Epistolographen des 4. Jahrhunderts n. Chr. wie Paulinus von Nola erscheint der Kreis der aktiven Briefpartner jedoch verhältnismässig klein und die geographische Ausdehnung begrenzt. Auch der Inhalt der Sammlung sprengt kaum je den Rahmen provinzieller Alltagskorrespondenz. Sie enthält neben den üblichen Briefen an Freunde und Verwandte auch zahlreiche bischöfliche Bitt- und Empfehlungsschreiben. Auf Ruricius scheint nun auf den ersten Blick zuzutreffen, was Sidonius im weiter oben diskutierten Brief an Basilius von Aix (Sidon. epist. 7,6) für Angehörige des gallischen Episkopats als realpolitische Option insinuiert hatte, nämlich politische Abstinenz. Im Gegensatz zum Briefkorpus seines politisch eher umtriebigen Verwandten finden sich in der relativ umfangreichen Korrespondenz des Bischofs von Limoges kaum Bezugnahmen auf kirchliche, politische oder zeitgeschichtliche Ereignisse. Hier zeigen sich Ähnlichkeiten mit dem Briefkorpus des Symmachus, der offenbar kein Interesse zeigte, politische oder religiöse Fragen in seinen Privatbriefen zu diskutieren, sondern in ihnen vielmehr seine Individualität und sein „persönliches Fühlen“ ins Zentrum rücken wollte.712 Bei Ruricius ist die Absenz zeithistorischer Bezüge umso bemerkenswerter, da sein Episkopat in jene kriegserfüllte Zeit fiel, in der die Franken unter Chlodwig die Westgoten allmählich aus Gallien zu verdrängen suchten (ca. 490–507 n. Chr.) – eine krisenhafte Situation, die auch das kirchliche Leben erheblich tangierte.713 Indes scheint im Spiegel seiner Briefe die christlich-aristokratische Alltagswelt kaum von diesen Ereignissen berührt worden zu sein.714 Die Westgoten, zu deren Herrschaftsgebiet sein Bistum gehörte, werden an keiner Stelle erwähnt, auch die in aller Regel negativ konnotierte Bezeichnung barbarus fehlt gänzlich.715 Die Korrespondenz erinnert inhaltlich an die innen- und aussenpolitische Ruhephase des 2. Jahrhunderts n. Chr., wie sie sich in der etwas jüngeren Briefsammlung des Plinius literarisch spiegelt, als vorwiegend Probleme des Alltags das Geschehen zu dominieren schienen. Wenn überhaupt, so ist bei Ruricius das Grollen des Krieges nur aus der Ferne zu hören: Gelegentlich scheint er in vagen Anspielungen auf die Wirren seiner Zeit zu verweisen. So spricht er einmal von den „Unruhen der Zeit“ (sollicitudines saeculi), die ihn an der Lektüre erbaulicher Bücher hindern würden (epist. 1,6).716 Indes liegt zumindest in einigen dieser Äusserungen die Vermutung nahe, dass es sich dabei nicht um Referenzen auf die politische Lage, sondern vielmehr um all712 Fuhrmann (1998) 264 f. 713 Zum historischen Kontext vgl. Mathisen (1999) 13–17 sowie 33 ff. zur Datierung von Ruricius’ Episkopat. 714 Die 82 Briefe sind nur schwer zu datieren. Der zeitliche Rahmen der Sammlung ist wesentlich durch Ruricius’ Amtszeit vorgegeben (ca. 485–507). Die Briefe des ersten Buches entstammen weitgehend der Zeit vor Ruricius’ Amtsantritt. Zur Datierung der Sammlung vgl. Mathisen (1999) 56 f. 715 Bei zwei Korrespondenten dürfte es sich indes um Westgoten handeln: Vittamerus (epist. 2,63) und Freda (epist. 1,11). 716 Vgl. Ruric. epist. 1,13,8–9: in saeculi turbinibus; epist. 2,52,20–21: vitae istius turbines ac procellas.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

tägliche Probleme oder eine topische Abwertung des irdischen Lebens handelt, das dem himmlischen Jenseits gegenübergestellt wird.717 Überhaupt weisen die Briefe des Ruricius einen dezidiert christlichen Charakter auf, der auch in den Briefen aus der Zeit vor seinem Episkopat in bezeichnender Weise hervortritt.718 In den anderen Fällen, wo Ruricius von den „Wirren und Stürmen dieses Lebens“ (turbidines et procellae istius vitae) spricht, handelt es sich ganz offensichtlich um Verweise auf Reiseschwierigkeiten, die einem gegenseitigen Besuch der Korrespondenten im Wege standen.719 Im zweiten Buch ist zweimal von „Feinden“ (hostes) die Rede, jedoch ohne dass diese eindeutig identifiziert werden könnten. Im Brief an Bischof Aeonius von Arles (epist. 2,8) empfiehlt er diesem den Priester Possessor, der zur Auslösung seines Bruders (pro fratris redemptione) seinen ganzen Besitz verkaufen musste. Possessor war ganz offensichtlich auf der Durchreise. Er besass einen Empfehlungsbrief von Bischof Eumerius von Angers an Ruricius und bat wiederum Ruricius, ihm einen solchen für Aeonius auszustellen. Zur Befreiung des Bruders aus den Händen der „Feinde“ musste er hohe Schulden aufnehmen, denen er sich nun offenbar durch Flucht zu entziehen suchte. Ruricius vermeidet Pathos im Ton. Die Paranomasie mit dem Namen des Unglücklichen sowie die klingenden Homoioteleuta am Schluss des Briefs lassen keine direkte persönliche Betroffenheit erkennen.720 Mit den hostes, über deren Identität sich Ruricius ausschweigt, sind kaum die Westgoten zu identifizieren, eher dürfte es sich um Banditen oder Franken handeln.721 Die Wahl des relativ starken hostis ist rhetorisch begründet. Die Vokabel dient zur anti-

717 Die verschiedenen Interpretationsansätze der Forschung fasst Neri (2009) 193–194 zusammen: „Le sollicitudines saeculi possono essere riferite alla Gallia invasa ormai dai Visigoti, oppure a un fatto particolare legato alla sfera privata, oppure ancora alla condizione esistenziale dell’uomo sulla terra.“ Für die christliche Deutung des Ausdrucks hat sich Hagendahl (1952) 8 Anm. 1 ausgesprochen. In diesem Kontext ist die Verwendung der Schifffahrtsmetaphorik häufig: Ruric. epist. 1,12,25–31; epist. 1,13,8–9; epist. 2,15. 718 Vgl. Hagendahl (1952) 9; Moussy (2002) 99: „quel que soit le genre de la lettre, celle-ci comporte presque toujours une réflexion de spiritualité.“ In diese Richtung auch Neri (2009) 14 und Müller (2013) 423–424, der diesbezüglich auf den auffallenden Kontrast zur Briefsammlung des Sidonius hinweist. 719 Vgl. Ruric. epist. 2,52,18–23: (…) rogo incessanter communi Domino supplicetis, ut (…) etsi in hoc saeculo nos propter vitae istius turbedines ac procellas et regionum intervalla saepius videre non possumus, vel ad illam urbem, quae aedificatur ut civitas (Ps. 121,3), faciat convenire; epist. 2,41,14–17: Praestabit itaque divina misericordia, ut tumultibus temporis huius vel necessitatibus aut dilatis in perpetuum aut parumper oppressis citius fructus nos faciat de nostra capere praesentia; epist. 2,14; epist. 2,65. 720 Ruric. epist. 2,8,22–25: Qui ut fratrem ab hostibus redderet liberum, se creditorum maluit esse captivum et, ut ille crudelissima morte non privaretur vita, ipse extorris est factus e patria. Zu dieser stilistischen Eigenheit des Ruricius (Häufung von Isocola mit Endreim) vgl. etwa Moussy (2002) 88. Ähnliche Wortwitze in ernsten Kontexten finden sich auch in Avit. epist. 18 ed. Peiper, 49,26 (Vincomalus); epist. 95 ed. Peiper, 102,18 (pedibus). 721 Wahrscheinlich stand im Empfehlungsbrief des Eumerius Genaueres. Verschiedene Identifizierungshypothesen bieten Mathisen (1999) 146 Anm. 6 und Neri (2009) 267–268.

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thetischen Diffamierung der creditores und ist keine Anspielung auf ein allfällig prekäres Verhältnis zwischen Gallorömern und Germanen. In einen ähnlichen, politisch entschärften Kontext gehört auch die zweite explizite Nennung von hostis: Im Brief an Volusianus, den Bischof von Tours, ärgert sich Ruricius über das Verhalten seines Freundes. Dieser habe sich für die schlechte Behandlung von Ruricius’ Briefträgern durch dessen Frau, eine zügellose domina, nicht entschuldigt. Stattdessen scheint Volusianus gegenüber Ruricius erwähnt zu haben, dass ihn die Angst vor Feinden lähme. In diesem Punkt könne Volusianus, so Ruricius, aber ganz beruhigt sein: Nam quod scribis te metu hostium hebetem factum, timere hostem non debet extraneum, qui consuevit sustinere domesticum. Doch zu dem, dass du schreibst, du seist aus Angst vor den Feinden wie gelähmt: Wer es gewohnt ist, den Feind im eigenen Haus zu ertragen, braucht sich vor auswärtigen Feinden nicht zu fürchten. (Ruric. epist. 2,65,15–17)

Diese spöttische Sentenz, mit der Ruricius seinen Brief abschliesst, nimmt dem brisanten Thema das Gewicht. Das Eindringen allfällig politischer Konflikte in die Briefwelt wird augenscheinlich unterbunden. Das durch eine Bagatelle getrübte persönliche Verhältnis zwischen den beiden Korrespondenten kann wieder in den Vordergrund rücken. Ruricius ist offensichtlich nicht gewillt, per Brief über die necessitates temporis zu sprechen. Sein Brief dient als Vehikel zur Wiederherstellung der mutua caritas, die ihn seit langem mit Volusianus verbindet. Die Feinde, vor denen sich Volusianus fürchtete, waren höchstwahrscheinlich Franken. Sein Bistum grenzte im Norden an fränkisches Gebiet. Zu den Reaktionen der primären Adressaten auf Ruricius’ konsequente Ausklammerung politischer Themen fehlen uns die Zeugnisse. Für die sekundären Leser der Briefe resultiert aus den fast gänzlich fehlenden Erwähnungen aktueller Geschehnisse eine merkwürdige Zeitlosigkeit dieser christlich geprägten Geisteswelt, die keine Generation zuvor das Ende der römischen Administration in Gallien miterlebt hatte. Dieser auffällige Befund, der mit dem Hinweis auf ein generelles politisches Desinteresse des Ruricius oder fehlender Gelegenheit zu entsprechender Partizipation722 wohl kaum befriedigend erklärt werden kann, bietet Raum für unterschiedliche Interpretationsansätze: 1. Die fehlenden Zeitbezüge gehen auf die Redaktion der Sammlung zurück: Da es sich um ein Briefkorpus handelt, das offenbar nach bestimmten Kriterien als Sammlung zusammengestellt wurde,723 kann eine bewusste Unter722 Vgl. Mathisen (1999) 40: „His letters omit reflect political affairs because, unlike Sidonius, Avitus, or Ennodius, he was not a statesman.“; Mathisen (2001) 105; Moussy (2002) 87. Trotz der relativ engen lokalen Gebundenheit seiner Korrespondenz und der Provinzialität seines Bistums stand Ruricius mit bedeutenden Zeitgenossen wie Caesarius von Arles, Faustus von Riez oder Sidonius Apollinaris in Briefkontakt. 723 Dies legt zumindest das erste Buch nahe, in der sowohl eine thematische wie eine adressatenbezogene Anordnung der Briefe feststellbar ist.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

drückung von politisch verfänglichem Material seitens des Autors oder des postumen Herausgebers in Betracht gezogen werden.724 Auswahl und Redaktion müssten in diesem Fall von Ruricius selbst oder zumindest bald nach dessen Tod erfolgt und die entsprechende Ursammlung sodann in Umlauf gebracht worden sein. Doch selbst wenn dies der Fall sein sollte, vermag dann die Selektion oder gegebenenfalls sogar die Retouche einzelner Briefe einen derart frappanten Befund zu erklären?725 Erklärungsmodelle, die beim Autor selbst ansetzen, scheinen hier erfolgsversprechender zu sein. 2. Die fehlenden Zeitbezüge sind Ausdruck eines pragmatischen Verzichts seitens des Autors: Mit Rücksicht auf die heikle Situation katholischer Bischöfe im Westgotenreich und im Wissen um die Unsicherheit der Postübermittlung könnte Ruricius aus politischer Umsicht konsequent jegliche desavouierenden Mitteilungen in primärer Korrespondenz vermieden haben. Gemäss dieser These hätte dann Ruricus – anders als etwa Sidonius Apollinaris oder Avitus – auch gänzlich auf literarische Verschlüsselungen verzichtet und seine Briefe ostentativ dem Ideal der Perspicuitas unterstellt. Diese Vorsicht wäre nicht unbegründet gewesen. Das Bistum in Limoges war vor Ruricius’ Amtsantritt für unbestimmte Zeit vakant und konnte möglicherweise erst nach Eurichs Tod (484/85?) wieder neu besetzt werden. Zudem kam es zumindest nach dem Zeugnis des Gregor von Tours nach der Konvertierung der Franken zum Katholizismus (um 497/99) auf gallorömischer Seite offenbar zu Loyalitätskonflikten, in deren Folge besonders die grenznahen Bischöfe unter strenger Aufsicht der westgotischen Machthaber standen.726 So wurden der oben erwähnte Volusianus von Tours sowie sein Nachfolger Verus angeblich der Konspiration mit den Franken verdächtigt und ins Exil gezwungen.727 3. Die fehlenden Zeitbezüge sind Ausdruck einer eskapistischen Tendenz des Autors: Dieser psychologische Interpretationsansatz steht nicht im Widerspruch zu den oben genannten pragmatisch-historischen Erklärungsmodellen, sondern kann ergänzend zu ihnen hinzutreten. Ein auffälliges Fehlen politischer Referenzen in literarischen Zeugnissen wird in der modernen Forschung gerne als Eskapismus, als intendierte Abkehr eines Autors von der Wirklichkeit gewer-

724 Alciati (2008) bes. 79 ff. hat mit guten Gründen dafür argumentiert, dass das im Codex Sangallensis 190 erhaltene Briefkorpus des Ruricius zumindest Ansätze einer autorindentierten Sammlung aufweisen könnte. 725 Ablehnend äusserte sich diesbezüglich Hagendahl (1952) 8. 726 Greg. Tour. Hist. 2,35: Multi iam tunc ex Galleis habere Francos dominos summo desiderio cupiebant. 727 Greg. Tour. Hist. 10,31,7 (Volusianus): Huius tempore iam Chlodovechus regnabat in aliquibus urbibus in Galliis. et ob hanc causam hic pontifex suspectus habitus a Gothis, quod se Francorum dicionibus subdere vellit, apud urbem Tholosam exilio condempnatus, in eo obiit. Ferner Greg. Tour. Hist. 10,31,8 (Verus) und Greg. Tour. Hist. 2,36 (Quintianus von Rodez).

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tet.728 Aus dieser Perspektive mögen Ruricius’ Briefe durchaus in neuem Licht erscheinen. Sie werden zu einem geistigen Refugium, zu einem zeitlosen Traditionsraum spätantik-christlicher Bildungskultur, der ungeachtet der politischen Realitäten generiert und innerhalb eines bestimmten Zirkels beliebig reaktiviert werden kann.729 Durch Flucht in diese literarische Ersatzwelt, deren Staffage die antik-christliche Bildungskultur bereitstellte, verweigerte Ruricius, so müsste man meinen, die diskursive Reflexion bestimmter gesellschaftlicher Kernbereiche, die im politischen Umfeld seiner Zeit mit einem Tabu belegt waren. Wie in den Briefen des Plinius bliebe dann bei Ruricus das Unsagbare auch auf der Ebene der Literatur ausgespart und ein anderer Aspekt, die Freundschaft, tritt in den Vordergrund.730 In der nostalgischen Kultivierung eines zeitlosen Traditionsbildes aristokratischer Lebensform, die zwischen Villen, Bibliotheken und Freundschaftspflege ihren angestammten Platz in der Gesellschaft beibehält, offenbart sich die kontinuitätsbildende Kraft seiner Briefe. Die Antwort auf die Frage nach den Ursachen des Ausbleibens von zeitpolitischen Referenzen hängt nicht zuletzt mit der formalen Präsentation der Briefe des Ruricius zusammen. Ein stilistischer Vergleich mit „obskuren“ Autoren wie Sidonius, Avitus oder Ennodius bringt neben offensichtlichen Differenzen indes auch viele Gemeinsamkeiten zutage. So weist sein Briefstil wesentliche Elemente der zeitgenössischen epistolaren Kunstprosa auf. Wie bei vielen spätantiken Autoren zeigt sich eine ausgeprägte Vorliebe für ordnende Strukturierungselemente wie Parallelismus und Reim. Isokolaketten, die durch Antithese, Chiasmus oder Anapher variierend ausgestaltet sind, sorgen für durchgängige Symmetrie im Duktus.731 Trotz der sorgsam durchdachten Künstlichkeit des Stils (adfectatio), in der auch vielfältige Wortspiele nicht fehlen dürfen,732 scheint den Briefen jedoch die sprachliche und ge728 Ansatzweise bereits von Hagendahl (1952) 8. Über eskapistische Tendenzen in der Poesie des Sidonius Apollinaris diskutieren etwa Henke (2008) und Hernández Lobato (2012) 159–168. Bildung als Realitätsflucht gallorömischer Aristokraten ziehen Loyen (1943) 55 und 166 sowie Amherdt (2001) 16 in Betracht. 729 In diesen Zusammenhang gehört neben seinem Interesse an der Erziehung seiner Söhne (u. a. epist. 1,3; epist. 1,5) auch die relativ häufige Thematisierung der Lektüre antiker und spätantiker Literatur sowie die Erwähnung eines Büchertauschs. Zu den Stellen vgl. Neri (2009) 193. 730 Vgl. zu dieser Geisteshaltung in der Spätantike mit Bezug auf Symmachus etwa Brown (1995) 63: „Paideia zeigte sich in der philia, einer sorgsam gepflegten Form der Freundschaft, die darauf abzielte, inmitten der Sorgen des öffentlichen Lebens etwas von dem leichtherzigen Frohsinn einer jeunesse dorée zu bewahren.“ 731 Dies besonders in Aufzählungen, vgl. Ruric. epist. 1,18,6–10: Nec animum tuum iam Deo dicatum aut a coepto itinere blandior visus avocet aut modulatior corrumpat auditus aut dulcior gustus inficiat aut mollior sollicitet tactus aut suavior odoratus inliciat et per fenestras corporis mors intromittatur ad animam (…). Vgl. dazu die zahlreichen Beispiele bei Hagendahl (1952) 51–66. Zur Antithese als Stilmittel vgl. Hagendahl (1952) 67–71. 732 Vgl. Ruric. epist. 1,11,18–19: siquidem inibi torridae fervor aestatis tam umbrarum quam undarum rigore depellitur. Zahlreiche Beispiele nennt Hagendahl (1952) 71–80.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

dankliche Obscuritas zu fehlen, die die Texte des Sidonius, Avitus oder Ennodius zumindest partiell auszeichnete.733 Verdunkelnde Elemente wie ungewohntes Vokabular, Ellipsen, Gedankensprünge oder hintergründige Anspielungen finden sich in seinem Briefkorpus jedenfalls kaum. Die im Vergleich mit Avitus fast gläserne syntaktische Tektonik von Ruricius’ Briefen lässt in der Tat auch wenig Raum für semantische Ambiguität und Doppelbödigkeiten. Das Vokabular seiner Briefe ist zwar stets gewählt, erscheint aber nie als gesucht. Zahlreiche Zitate, Anspielungen und Similien verweisen auf die Heiligen Schriften als einen zentralen sprachlich-stilistischen Referenzpunkt. Während auch die lateinische Patristik verschiedentlich aufgerufen wird, fehlen explizite Klassikerverweise fast vollständig, was der Korrespondenz des Ruricius einen dezidiert christlichen Charakter verleiht.734 Seine Briefsammlung fiel also trotz ihrer elaborierten Kunstprosa in bestimmten Bereichen aus dem extravaganten Rahmen, den die zeitgenössischen Briefsammlungen der erwähnten Autoren vorgaben. Dunkelheit war ganz offensichtlich für Ruricius kein primäres literarisches Darstellungsziel. An der Erzeugung eines spannungsvollen Hell-Dunkel-Kontrasts, durch den Autoren wie Sidonius oder Avitus brillierten, scheint er kein Interesse gehabt zu haben. Das Gleichgewicht zwischen hell und dunkel ist bei ihm eindeutig auf die Seite des Lichts verschoben. Entsprechend ging von seinen Briefen, deren Stil Sidonius in den höchsten Tönen lobte,735 auch ein beträchtlicher Glanzeffekt aus.736 Ihre intendierte Lichtwirkung scheinen die Texte hier – neben der 733 Zur Künstlichkeit des Stils vgl. weiter oben: S. 148–155. Ein Beispiel aus Ruricius: epist. 1,3,19–20 (an Hesperius): Sed dabitis, ut reor, veniam venienti ex necessitudine necessariae necessitatis (…). 734 Eine Similiensammlung findet sich bei Hagendahl (1952) 12–31. Vgl. auch Neri (2009) 19. Dies heisst aber nicht, dass Ruricius in der klassischen Bildungstradition weniger gewandt gewesen wäre. Vgl. dazu etwa Ruric. epist. 1,10. Dies bezeugt nicht zuletzt auch das Epithalamium, das Sidonius anlässlich der Hochzeit des Ruricius und der Hibernia dichtete (Sidon. carm. 11) und dessen gelehrt-mythologische Verschlüsselungen der Adressat nach Meinung des Dichters sicher aufzulösen vermochte. Zu diesem Gedicht weiter oben: S. 175–180. 735 Vgl. Sidon. epist. 4,16,1 (als Antwort auf Ruric. epist. 1,8): Accepi per Paterninum paginam vestram, quae plus mellis an salis habeat incertum est. ceterum eloquii copiam hanc praefert, hos olet flores, ut bene appareat non vos manifesta modo verum furtiva quoque lectione proficere; Sidon. epist. 8,10,1: Esse tibi usui pariter et cordi litteras granditer gaudeo. nam stilum vestrum quanta comitetur vel flamma sensuum vel unda sermonum, liberius assererem, nisi, dum me laudare non parum studes, laudari plurimum te vetares. 736 Ruricius selbst schätzte Farbe, Glanz und Geschmack als stilästhetische Qualität in den Briefen seiner Korrespondenten, vgl. u.a. Ruric. epist. 1,4,1–5; epist. 1,5,1–9; epist. 1,8,20– 21: nam cum de dapibus ipsius adhuc pauca libassem, taliter me gustu inlecebrosi saporis inlexit. Hervorzuheben ist auch epist. 1,12, in welchem er das Werk eines Glasbläsers für die Freundschaftspflege zwischen dem Adressaten und ihm zur Nachahmung empfielt: vitrarium (…) me destinasse significo, cuius opus nitore, non fragilitate oportet imitemur (…) nam sicut auri atque argenti pretiosa sinceritas, si aeris aut plumbi vel cuiuslibet alterius materiae vilioris fuerat admixtione corrupta, nisi ignium examinatione purgetur, nec splendorem naturalem poterit habere nec sonum, nam nec visui claritatem nec tinnitum reddit auditui magisque raucum resonat (…).

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syntaktischen Symmetrie und der eingängigen Rhythmik737 – in erster Linie aufgrund der konsequent durchgeführten Perspicuitas in der glanzvollen Variante der claritas entfaltet zu haben. Claritas entsteht durch die bildhaftsinnliche Veranschaulichung der Gedanken, die dadurch in höherer Deutlichkeit und Klarheit als in sachlich-nüchterner Rede erscheinen können.738 Vorrangiges Stilmittel zur Erlangung einer solchen Wirkung sind Vergleiche und Metaphern. Die Sprache von Ruricius’ Briefen ist – wie die des Sidonius, Avitus und Ennodius – äusserst bildreich, erscheint aber dennoch kaum je als dunkel.739 Die evozierten Bilder stammen in den meisten Fällen aus der Natur und der Landwirtschaft und stehen häufig im übertragenen Sinne für Bildung und entsprechende literarische Erzeugnisse: Sicuti in ieiunio atque otioso caespite magis strenuitas cultoris apparet, cum aut rebellionem glaebarum tenacium repetita saepius inpressione vomeris domat aut ariditatem nimiam stercoris aspersione fecundat, ut fructuum copiam, quam soli natura negat, industria producat, ita et tu egestatem epistulae meae eloquentiae tuae ubertate ditasti (…). In gleicher Weise wie sich in einem unfruchtbaren und brachliegenden Boden die Beharrlichkeit des Landwirts zeigt, wenn er den Widerstand der zähen Scholle unter wiederholtem Einsatz des Pfluges bricht oder die allzu karge Erde mit Mist düngt, um eine reiche Ernte, die die Natur nicht von sich aus erbringt, durch Fleiss zu erzeugen, so hast auch du die sprachliche Dürftigkeit meines Briefes mit der Fülle deiner Beredsamkeit bereichert. (Ruric. epist. 1,4,14–19) Spoponderas, fili carissime, ut mihi aliquos de ramusculo, quem ex amaritudine in domesticum saporem vertendum transferendum susceperas, flosculos destinares, quorum odore cognoscerem, quam spem spei gerere deberem, utrumnam ipsi flores germina aut rursus ipsa germina fructus sui qualitate promitterent idemque iterum fructus utrum possent te excoquente mitescere et dulci eloquentiae cibo audientium corda satiare. Mein liebster Sohn, du hast versprochen, mir einige Blüten jenes Zweiges zu schicken, den du erhalten hast, um ihn von seinem bitteren Geschmack zu befreien und ihm die Süsse einer kultivierten Pflanze zu geben. An deren Duft könnte ich erkennen, welche Hoffnung ich in das Erhoffte setzen kann, ob diese Blüten Triebe versprechen oder umgekehrt diese Triebe Früchte von gleicher Beschaffenheit, und schliesslich ob diese Früchte, wenn du [die Pflanze] wärmend pflegst, auch reifen und durch die süsse Speise der Beredsamkeit die Herzen der Zuhörer sättigen können. (Ruric. epist. 1,5,3–9)

Das zweite Beispiel entstammt einem Brief an den Rhetor Hesperius, dem Ruricius die Erziehung seines Sohnes anvertraut hatte. Die Allegorie, in welcher Begabung und Fähigkeiten seines Sohnes als pflanzlicher Trieb (ramus737 Dazu eingehend Hagendahl (1952) 32–50 sowie auch Moussy (2002) 93 ff. 738 Zur claritas in der rhetorischen Theorie vgl. weiter oben: S. 295. 739 Vgl. Hagendahl (1952) 81: „Comme on peut s’y attendre d’après sa critique de Sidoine [Ruric. epist. 2,26,11–13: cuius lectio… prae obscuritate dictorum non accendit ingenium], Ruricius ne pousse pas la métaphore jusqu’à l’énigme, mais enfin il en abuse assez fréquemment, et hardiment.“ Beispiele für den metaphorischen Ausdruck des Ruricius finden sich bei Hagendahl (1952) 81–89.

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IV. Obscuritas als Stilmerkmal und literarische Strategie:

culus) beschrieben werden, ist nicht durchgängig, sondern enthält am Ende den Schlüssel zu ihrer Interpretation (dulci eloquentiae cibo).740 In einem anderen Brief an denselben Adressaten wird in einer Allegorie die Aufgabe des Lehrers geschildert, die in der Suche, der Bergung und im glanzbringenden „Schliff“ der verborgenen Talente des Schülers bestehe:741 Te elicitorem et formatorem lapillorum nobilium, te rimatorem auri, te repertorem aquae latentis elegi, qui sciris abstrusas lapidibus gemmas propriae reddere generositati, quae utique in tanta rerum confusione amitterent nobilitatem, si indicem non haberent. aurum quoque harenis vilibus mixtum nisi artificis sollertia eluatur aquis, ignibus eliquetur, nec splendorem poterit retinere nec meritum. (…) ita et tenerorum adhuc acies sensuum ignorantiae nubilo quasi crassitate scabrosae rubiginis obsessa, nisi adsidua doctoris lima purgetur, nequit sponte clarescere. Dich habe ich auserwählt, um edle Steine zu suchen und zu schleifen, um Gold zu schürfen und unbekannte Wasserquellen zu entdecken. Denn du weisst, wie man im Gestein verborgenen Edelsteinen zu ihrem Ansehen verhilft. Im ganzen Durcheinander der Elemente würden diese gewiss ihren vornehmen Stand einbüssen, gäbe es nicht jemanden, der auf sie hinweist. Auch Gold besässe, da es mit wertlosem Sand vermischt ist, weder Glanz noch Wert, wenn nicht das Geschick eines Handwerkers es mit Wasser herauswaschen und mit Feuer reinigen würde. Auf diese Weise kann auch die [mangelnde] Schärfe der noch jugendlichen Sinne, die im Nebel der Unwissenheit wie von einer Schicht schmutzigen Rosts bedeckt ist, nicht aus eigener Kraft erstrahlen, wenn sie nicht durch den beharrlichen Schleifstein des Lehrers gereinigt wird. (Ruric. epist. 1,3,29–40)

Die evozierten Bilder sind klar und verständlich und stehen damit nicht in verdunkelndem Kontrast zur luziden symmetrischen Syntax. Beide Bereiche ergänzen sich vielmehr in der Weise, dass sowohl der sprachliche Ausdruck als auch die Struktur und der Gedankengang seiner Briefe insgesamt an Deutlichkeit gewinnen. Die strukturelle Regelmässigkeit in Kombination mit der in sich geschlossenen und kohärenten Bildwelt gewährleistet eine Perspicuitas, die über einen ästhetischen Mehrwert verfügt. Ruricius’ metaphorischallegorische Ausdrucksweise bleibt damit innerhalb der Grenzen, die Quintilian für dieses Schmuckmittel auch vorgab.742 In dieser Hinsicht scheint sich Ruricius der zeitgenössischen obscura adfectatio verweigert zu haben: Die handgreifliche Plastizität seiner bildlichen Ausdrucksweise, die nicht selten an die Bibel gemahnt, unterscheidet ihn deutlich von Sidonius, als dessen Epigone Ruricius zu Unrecht bezeichnet wurde.743 740 Dies entspricht der Empfehlung Quintilians, vgl. Quint. inst. 8,6,47–48 (allegoria permixta), vgl. dazu weiter oben: S. 100. 741 Zur Bedeutung der Feile vgl. weiter oben: S. 148f., 152f.. Eine ganz ähnliche Vorstellung von der Aufgabe des Lehrers finden sich bei Ennodius: Ennod. dict. 10,5–6, vgl. dazu weiter oben: S. 224 Anm. 411. 742 Quint. inst. 5,14,34. 743 Loyen (1943) 173: „Ruricius évidemment s’applique, mais il n’est malgré tout qu’un pâle reflet du maître.“ Der Vorwurf des Epigonentums und des Plagiats brachten Ruricius seine zahlreichen Similien an Korrespondenten sowie fremde wie eigene Versatzstücke ein, vgl. die Aufstellung bei Hagendahl (1952) 12–31 („Ruricius plagiaire“).

2. Kodierte Kommunikation

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Man mag sich nach diesen Überlegungen erneut die Frage stellen, in wieweit die vergleichsweise Klarheit von Ruricius’ Briefstil mit der augenscheinlichen Absenz zeitpolitischer Referenzen in Verbindung steht. Vor dem Hintergrund der politischen Lage ist man versucht, den zweiten der oben präsentierten Deutungsansätze dem ersten vorzuziehen. Der Befund wäre dann weniger als Ausdruck eines politischen Desinteresses oder eines damit verbundenen literarischen Eskapismus zu deuten, sondern müsste vielmehr im Sinne eines dezidierten Statements verstanden werden: als vollendete Form der oratio figurata, in der das wortreiche Schweigen bisweilen lautstärker sein kann als ein direkt oder implizit geäusserter Vorwurf. In dieser Lesart würde die Unfähigkeit zu sprechen, eine politisch bedingte Aphasie, den Briefen des Ruricius in seiner Zeit zweifellos ein erhöhtes soziopolitisches Sprengpotential zukommen lassen. Befeuert wird diese These durch die Eventualität einer autorintendierten Sammlung, die dem überlieferten Briefkorpus zumindest teilweise zugrunde liegen könnte. Die ostentativ apolitische Inszenierung von aristokratischem Otium und christlicher amicitia, mit welcher sich der Bischof von Limoges in eine lange epistololographische Traditionslinie stellte, erhielte in diesem Fall einen subversiven Grundton, der jedoch bereits wenige Generationen nach seinem Tod kaum mehr erkennbar gewesen sein dürfte. Die stilistischen Differenzen zwischen den Briefen des Ruricius und denen der untersuchten Autorengruppe verweisen unvermittelt auf die Grenzen von Obscuritas als distinktives Merkmal spätantiker Epistolographie. Denn wie Ruricius haben auch andere gallische Autoren wie Faustus von Riez oder Claudianus Mamertus in ihren Briefen und Schriften das wahlweise politisch, sozial oder ästhetisch motivierte Verdunkelungsstreben bestimmter Zeitgenossen nur ansatzweise geteilt und stehen insgesamt der patristischen Briefliteratur näher.744 Die dezidiert christliche Ausrichtung dieser Korrespondenzen mit ihrer auf allgemeine Verständlichkeit abzielenden pastoralen Grundtendenz überlagerte die aristokratische Komponente mit ihrem Hang zum Dunklen und Elitären. Die Bandbreite der stilistischen Register war hier ungleich enger, doch blieb die elocutio artifex in der Künstlichkeit der Diktion gleichwohl bestehen. Obscuritas wird damit ex negativo in seiner Funktion als Distinktionsmerkmal einer elitär ausgerichteten Literatur bestätigt. Ruricius verzichtete darauf, Sidonius in dieser Hinsicht zu folgen. Seine literarischen Ambitionen schmälerte dies aber ebenso wenig, wie es das Ansehen seiner Briefkunst in den Augen seiner Zeitgenossen beeinträchtigte.

744 Dies liegt in erster Linie in der häufig traktathaften Ausrichtung ihrer Briefe begründet. Von beiden Autoren sind nur Reste ihrer zweifellos umfangreichen Privatkorrespondenzen erhalten. Ein stilistisches Urteil ist daher nur in begrenztem Umfang möglich.

V. FAZIT Ausgehend von der Annahme einer intentionalen Obscuritas in der lateinischen Epistolographie der Spätantike und der damit verbundenen doppelten Fragestellung nach den Entstehungsbedingungen dieses Verdunklungsstrebens auf der einen und seiner unterschiedlichen Erscheinungsformen und Funktionen innerhalb der spätantiken Bildungskultur auf der anderen Seite wurde in der vorliegenden Arbeit ein thematisch einschlägiges Textkorpus genauer ins Auge gefasst. Die spätantike Briefliteratur bot sich mit ihren Vertretern Ausonius, Sidonius Apollinaris, Avitus von Vienne, Ennodius und Cassiodor für eine solche Untersuchung in besonderer Weise an, weil sich in ihr – im deutlichen Gegensatz zu den Vorgaben der rhetorischen Theorie – dunkler Stil zu einem hervorragenden stilistischen Charakteristikum herausgebildet hatte. Die durchaus vielfältigen Ursachen und Intentionen, die zu einer bewussten Obstruktion von sprachlicher Verständlichkeit in brieflicher Kommunikation geführt hatten, konnten anhand der umfangreichen und kohärenten Korrespondenzen dieser Autoren phänomenologisch bestimmt und analytisch erfasst werden. Vereinzelte und stichprobenhafte Einblicke in die Briefsammlungen der lateinischen Patristik ergaben, dass hier durchaus dieselben obscuritasrelevanten Diskurse aktiv waren, jedoch ging man in der Briefpraxis teilweise recht unterschiedliche Wege. Tiefergehende Untersuchungen könnten hier durchaus ein partielles Gegenstück zum skizzierten Bild offenlegen, dies hat ein Blick auf die Kunstprosa des Ruricius von Limoges bereits ansatzweise deutlich gemacht. Die konsequente Berücksichtigung der Briefe weiterer gallischer Autoren, deren Korrespondenzen nur in Resten erhalten sind, würde das Bild weiter vervollständigen und Obscuritas tiefer in seinem kontemporären epistolographischen Kontext einzuordnen helfen.1 Auf der anderen Seite hat der konsequente Einbezug von anderen literarischen Gattungen in die Untersuchung das Phänomen der Obscuritas über den engen Rahmen der Epistolographie hinausgehoben und die gattungsübergreifende Bedeutung aufgezeigt, die diese Kategorie in bestimmten literarischen Kontexten der lateinischen Spätantike generell besass. Die allgemeinen Entstehungsbedingungen dieses Stilphänomens wurden vor dem Hintergrund zeitgenössischer Obscuritas-Diskurse zu Beginn der Arbeit näher beleuchtet. Der tendenziell negativen Bewertung durch die Rhetorik 1

Zu denken ist hier an Autoren wie Faustus von Riez, Claudianus Mamertus, Salvian von Marseille, Eucherius von Lyon oder Caesarius von Arles. Jedoch stellt der Grossteil der erhaltenen Briefe dieser Autoren epistolare Traktate und nicht Privat- oder Freundschaftsbriefe im engeren Sinne dar. Die Kommunikationssituation ist also eine andere. In einer pastoral geprägten Sprechhaltung war Obscuritas prinzipiell kein Darstellungsziel, wie die Ausführungen über Augustinus zeigten.

V. Fazit

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stand eine positive Grundhaltung auf Seiten der Schulgrammatik gegenüber, die dunkle Ausdrucksweisen als Anreiz für tiefergreifende Interpretationen schätzte. Beide Bereiche wurden in Augustinus’ Konzeption einer christlichen Bildung synthetisch vereint und für die gewandelten Bedingungen einer christianisierten spätrömischen Gesellschaft fruchtbar gemacht. Augustinus deutete die biblische Obscuritas funktional im Sinne einer Wertsteigerung des Textes. Er wies den obscure dicta als spezifischer Stilqualität der Bibel intendierten Charakter zu, die wirkungsästhetisch die Aufgabe des delectare und conciliare des Textes übernahmen. Entsprechend der doppelten Fragestellung können die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung im Wesentlichen zwei Bereichen zugewiesen werden: einem pragmatisch-historischen (1) und einem literarästhetischen Feld (2). Obwohl die in der Analyse gewonnenen Resultate kaum mehr als blosse Annäherungen an den komplexen Gegenstand darstellen, gelang es mit Hilfe von unterschiedlichen Interpretationsansätzen, zumindest exemplarisches Licht auf spezifische briefliche Manifestationen dieses sprachlichen Phänomens zu werfen. 1. Im ersten Bereich stehen die politischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen im Vordergrund, welche die Entstehung und Ausprägung von intendierter Obscuritas begreiflich und in ihrer unmittelbaren Funktionalität innerhalb der spätantiken Bildungskultur fassbar machen lassen. Obscuritas erscheint in diesem Kontext als briefimmanente literarische Strategie, die von Anfang an für ein limitiertes Publikum bemessen war. Die ohnehin für einen begrenzten Rezipientenkreis konzipierte Textsorte – speziell in der Unterart des Privat- und Freundschaftsbriefs – schien sich für diese Zwecke geradezu anzubieten. Das ostentative Streben nach elitärer Selbstabgrenzung erwies sich hier als ebenso ursächlich wie die Notwendigkeit kryptographischer Verschleierung des Inhalts in politisch heiklen Situationen. In linguistischer Hinsicht standen zu diesem Zweck durchaus unterschiedliche Techniken zur Auswahl. Die aus soziokulturellen oder politischen Gründen vorgenommene intendierte Ausgrenzung bestimmter Rezipientenkreise konnte sowohl auf einer syntaktisch-grammatikalischen als auch auf einer inhaltlich-gedanklichen Ebene erfolgen. Ungewohntes Vokabular, eine komplexe syntaktische Struktur oder verwinkelte Gedankengänge waren einer unmittelbaren Verständlichkeit ebenso abträglich wie dunkle Metaphorik, gelehrte literarische Anspielungen oder vage Umschreibungen. Die zahlreichen Detailanalysen haben gezeigt, dass grundsätzlich alle untersuchten Texte sich an bestimmten Regeln orientierten, die ihre sinnvolle Entschlüsselung letztlich auch gewährleisteten. Es fehlen grammatikalische und syntaktische Normverstösse und orthographische „Fehler“, die ein zeitgenössischer Leser auch als solche erkannt hätte. Obscuritas blieb damit innerhalb der Grenzen des von der Schule vorgegebenen Regelsystems, sodass die reale Kommunikationsabsicht trotz aller autorintendierten Obstruktionen und

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V. Fazit

textimmanenten Hindernissen prinzipiell immer erkennbar war. Der implizite Vertrag zwischen Text und Leser blieb auf diese Weise intakt. Die Dunkelheit der elocutio artifex konnte als ein Bestandteil des vertraglichen Abkommens akzeptiert werden. Im Kontext der einzelnen Verdunkelungstechniken nur am Rande thematisiert werden konnten Aspekte der textlichen Medialität. Denn bereits die Schrift selbst ist potentiell verdunkelnd und bedarf einer erlernten „visuellen“ Kompetenz. Hier ergaben sich erste Möglichkeiten, Unbefugten den Zugang zu bestimmten Texten zu erschweren oder gänzlich zu verschliessen. Die Anwendung entsprechender Geheimschriften erscheint als extremste Form medialer Verschlüsselung, verursachte doch bereits die konventionellkomplexe Schriftform der spätrömischen Kaiserreskripte eine Verdunkelung, die sich nur dem erfahrenen Spezialisten mühelos erschloss.2 Durch die moderne Edition wird generell die Grenzlinie zwischen unterschiedlichen optischen Erscheinungs- und Inszenierungsformen antiker und mittelalterlicher Texte verwischt,3 die je nach historischem Entstehungs- und Wirkungskontext auch kontemporär über einen intendierten Verfremdungs- beziehungsweise Störeffekt verfügen konnten. Gerade mit Blick auf den Brief konnte die textliche Medialität die Rezeptionshaltung mitunter entscheidend beeinflussen. Eine in Buchschrift in einem Codex präsentierte Epistel verfügte wirkungsästhetisch über anderes Potential als ein in der Handschrift des Autors oder dessen Sekretärs verfasster Papyrusbrief. Die persönliche Schrift war durchaus sinnstiftend. Sie vermittelte Nähe, Intimität und nicht zuletzt Authentizität. Die Privatbriefe des Symmachus zirkulierten als Abschriften, nur der Adressat selbst besass den originalen Text, den einige auf dem Forum stolz präsentierten. Da auch Fälschungen nicht ausgeschlossen werden konnten,4 war die Handschrift wie ein Siegel ein optischer Hinweis auf die Echtheit des Briefs und mitunter auch auf die Vertraulichkeit des Inhalts. Je nach individuellem Usus und gesellschaftlicher Konvention konnten solche äusseren Faktoren die Wahrung des Briefgeheimnisses implizieren oder zur Weitergabe an Freunde anregen. In diesem Punkt besteht also durchaus noch Bedarf an weiterführender Forschung, die den optisch-medialen Aussagewert und das damit zusammenhängende Inszenierungspotential der spätantiken Briefe eingehend in den Blick nimmt. Dem brieflich anvisierten Adressatenkreis kam bei der vom Absender intendierten Anwendung von Obscuritas die mitunter anspruchsvolle Aufgabe zu, die jeweiligen Kodierungsformen und unterschwelligen Botschaften zu erkennen und kunstgerecht aufzulösen. Dieser vom Produzenten vorgegebene Prozess der Entschlüsselung setzte im Prinzip ein gegenseitiges Einvernehmen der Briefpartner voraus, jedoch eher im allgemeinen Sinn, da zwischen 2 3 4

Ein schönes Beispiel aus dem 5. Jh. bietet Steffens (1929) Tafel 16. Vgl. hierzu die grundlegenden Überlegungen von Eigler (2000). Vgl. Symm. epist. 2,12.

V. Fazit

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den Angehörigen der Aristokratie eine diesbezügliche Verdunkelung der Briefsprache bereits konventionellem Usus entsprach und in der Regel keiner spezifischen Sonderabsprachen bedurfte, wie sie etwa Cicero und Atticus nachweislich untereinander getroffen hatten. Gerade im Kontext des spätantiken Freundschaftskultes stellte Obscuritas oftmals eine spielerisch-provokative Herausforderung des Partners dar, dessen Geduld und intellektueller Scharfsinn bewusst auf die Probe gestellt wurden. Durch dieses Ritual bestätigte man sich letztlich affirmativ der gegenseitigen Zugehörigkeit zum auserwählten Kreis der gallorömischen Bildungselite, welche die obscura disertitudo als textualisiertes Kennzeichen der historisch definierten Romanitas ihrer Trägerschaft verstand. Die durch sprachliche Verdunkelungen vorgenommene hermetische Abschottung einer Gruppe gegen aussen mit zeitgleicher Absicherung gegen innen war indes kein spezifisches Phänomen der Spätantike, sondern entsprach in verschiedenen Zeiten und Kulturen dem Wunsch nach sozialer Distinktion. Dunkle Sprache fand in der Antike in unterschiedlichen Kontexten als valables Mittel der Ausgrenzung von Unbefugten und zur inneren Absicherung bestimmter Inhalte Anwendung. Angesichts der schwierigen politischen Situation, in der sich viele gallorömische Aristokraten nach der zweiten Hälfte des 5. Jahrhundert befanden, wurde dieses Potential auch aus Gründen des Selbstschutzes regelmässig in Anspruch genommen. Die elaborierte Bildungssprache bot mit ihrer Tendenz zur dunklen Diktion genügend Ansatzpunkte für eine unverfängliche Korrespondenz mit entfernten Freunden und Verwandten, die die Technik des αἰνίττεσθαι in gleicher Weise beherrschten. Dabei kam es aber einerseits immer wieder zu Missverständnissen, die der klärenden Nachfragen bedurften, während andererseits selbst unverfängliche Mitteilungen von einer interzepierenden Seite als verschwörerische Dokumente ausgelegt werden konnten. Gelegentlich schien es daher ratsamer, zumindest zeitweise ganz auf die Aufrechterhaltung eines Briefkontakts zu verzichten. Neben dieser pragmatischen, produktionsästhetischen Komponente verfügte die Dunkelheit des sermo epistolaris auch über ein rezeptionsästhetisches Gegenstück. Literarische Obscuritas entsprach der literarischen Erwartungshaltung der anvisierten hochgebildeten otiosi lectores. Die oftmals in agonalen Kontexten betriebene Entschlüsselung textlicher Schwierigkeiten und sprachlicher Rätsel stellte eine immer wieder postulierte Kernkompetenz des gallorömischen Aristokraten dar. Diese Konstellation beeinflusste wiederum die literarische Produktion. Die sich daraus entwickelnde Wechselwirkung ist weder singulär noch situativ an den spätantiken Kontext gebunden. Die curiositas des Rezipienten bildet als anthropologische Konstante vielmehr das sinngebende Gegenstück der Obscuritas. Die aristokratischen Konvivialkultur diente in diesem Sinne geradezu als Katalysator literarischer Verdunkelungen, da sie in nicht geringem Masse dem genussvollen erudite intellegere der hochgebildeten Rezipientengruppe geschuldet war. In diesem Kontext

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V. Fazit

zeigten sich im Laufe der Untersuchung besonders viele Berührungspunkte mit der zeitgenössischen Epigrammatik, die in der Regel auf dieselben Kommunikationsräume wie die litterae litteratae zugeschnitten war. Kunstvolle Rätseldichtungen dienten in diesen spezifischen Produktions- und Rezeptionsräumen ebenso der Erheiterung und Unterhaltung der hochgebildeten literarischen Zirkel wie dies die wahlweise in satirischer, panegyrischer oder paränetischer Absicht geschriebenen Freundschaftsbriefe taten. Das gegenseitige Überlappen von poetischen und prosaischen Elementen in diesen Werken wies darüberhinaus auf die in der Spätantike weitgehend durchlässigen Grenzlinien zwischen Vers und Prosa hin, was wiederum Rückschlüsse auf die gattungsübergreifende Relevanz von Obscuritas ermöglichte. Die Wirkmächtigkeit des sermo cultus als textualisiertes Bildungs- und Elitenmerkmal, dem sprachliche Verdunklungen inhärent waren, blieb zu keiner Zeit auf die zeitgenössische Epistolographie oder die Kunstprosa beschränkt, sondern besass auch in der spätantiken (Klein)Poesie entscheidende Relevanz. 2. Der dunklen Eloquenz der zeitgenössischen Bildungselite wurde in dieser Arbeit eine dominante literarästhetische Komponente zugewiesen, welche auf der Ebene der Texte die historisch-pragmatischen Aspekte überlagerte. Die überformalisierte Distanzsprache, welche die Angehörigen der spätantiken Bildungsgemeinschaft in privater Briefkommunikation pflegten und zelebrierten, zielte auf unterschiedlichen Ebenen auf ein ästhetisches delectare des eng umgrenzten und hochgebildeten Adressatenkreises. In dieser Hinsicht erwies sich das Spannungsverhältnis zwischen Obscuritas und Perspicuitas als besonders wirkmächtig. Im Kontrast von hell und dunkel wurde ein ästhetischer Reiz empfunden, der in der verstärkten Lichtwirkung des Textes seinen Ausdruck fand. Obscuritas trat hier in den Dienst einer ornamentalen Licht- und Glanzästhetik, die man nicht nur in literarischen Texten, sondern auch in anderen Bereichen des kulturellen Lebens, in der bildenden Kunst oder der Architektur anstrebte. In der Literatur kam in diesem Zusammenhang der Intertextualität eine besondere Bedeutung zu. Durch die meist implizit-verdunkelnde Aufrufung von bestimmten normativen Schulautoren und von christlichen Referenztexten erzeugten spätantike Autoren in ihren Briefen und Gedichten jenen erstrebten Licht-Schatten-Effekt (umbrosa lux), der in dieser Untersuchung als wesentliches Charakteristikum spätantiker Kunstprosa hervorgehoben werden konnte. Das beständige Oszillieren zwischen erhellenden und verdunkelnden Elementen war fester Bestandteil jener ostentativen Künstlichkeit, mit der spätantike Autoren zu Werke gingen und auf die sie in ihren Texten auch metapoetisch verwiesen. Dabei trat insbesondere die Mosaikstruktur einzelner Briefe und von ganzen Briefsammlungen hervor, die als spezifischer Ausdruck einer in der zeitgenössischen Ästhetik verankerten Partikularisierungsstrategie verstanden werden kann. Bei diesen durchaus reflektierten Verfahrensweisen, mit denen man häufig auf der Folie einer literarischen Vorlage Neues aus Altem erschuf, handelte es

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sich nicht zuletzt um eine Form der spielerischen Auseinandersetzung mit dem von der Schule vorgegebenen literarischen Kanon. Das produktive Wechselspiel zwischen imitatio und aemulatio generierte hier wichtige Impulse für die Entfaltung und Ausprägung von literarischer Obscuritas, die als Strategie einer dezidierten Überwindung und Überbietung des verbindlichen Sprachstils eine Form der kulturellen Selbstbehauptung der spätantiken Literaten darstellte. Die Betonung der epochalen literarischen Eigenständigkeit wurde den Lesern gerade durch die textlichen Schwierigkeiten immer wieder ins Bewusstsein gerufen. Die bewusste Obstruktion des Leseprozesses verhinderte die Einkehr eines eingeschliffenen Automatismus, der sich im multiplen Konsum von klassisch-konventioneller Literatur und ihrer spätantiken Reproduktionen allmählich einstellte. Ungewohntes und Unerhörtes weckten den erfahrenen Leser aus seiner Lethargie und versprachen ihm im Jenseits der von Kommentaren gesättigten Schulliteratur eine echte Partizipation an der Sinnkonstruktion der Texte. Der Verfremdungseffekt ist literarischen Texten grundsätzlich inhärent und entspricht traditionell einer Erwartungshaltung des Publikums. In brieflicher Alltagskommunikation ist verfremdende Dunkelheit jedoch auffallend und verstörend. Diese Textstrategie ermutigt zur Transgredierung der konventionell-informationsbasierten Lektüre und öffnet den Weg zu literarischen Rezeptionen des Briefes. In der programmatisch vertretenen elocutio artifex spätantiker Epistolographen finden sich neben der Vorliebe für Licht- und Glanzeffekte noch weitere Aspekte einer spezifisch spätantiken Ästhetik in konzentrierter Form gebündelt. Insbesondere das Streben nach sprachlicher Ornamentalität und stilistischer Artistik erwies sich als weitere entscheidende Vorbedingung für die Entstehung von Obscuritas. Auch in dieser Hinsicht stellte die offenkundige Radikalisierungstendenz des sermo epistolaris, die sich in einer formalen Hypertrophie manifestierte, nicht nur die Verbindlichkeit der rhetorischen Doktrin, sondern auch jene des tradierten Literaturkanons demonstrativ in Frage. Insgesamt erwies sich das hier behandelte Sprach- und Stilphänomen trotz des verhaltenen Interesses der bisherigen Forschung als überaus fruchtbaren Ansatzpunkt, um entscheidende Wesenszüge der spätantiken Kunstprosa sichtbar werden zu lassen. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive ergaben sich zudem einige sinnvolle Ergänzungen oder Korrekturen zur modernen Sichtweise des zeitweise spannungsvollen Verhältnisses zwischen der gallorömischen Aristokratie und der politisch dominanten germanischen Elite. Dabei kam neben der autorintendierten Mehrstimmigkeit bestimmter Briefe, die neben den brieftypischen rhetorischen Gesichtspunkten auch als Inszenierungsform eines αἰνίττεσθαι aufzufassen ist, insbesondere das Narrativ des Bildungsverfalls zur Sprache, das einer neuen Bewertung unterzogen werden konnte. Der bewusst offene Obscuritas-Begriff, welcher der Analyse zugrundegelegt wurde, trug dazu bei, die vielfältigen Formen und Funktionen sprachli-

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cher Verdunkelungen auch über das Bezugssystem der Rhetorik hinaus innerhalb der spätantiken Epistolographie zu erfassen und eingehender zu beleuchten. In Aufbau und Methodik der Arbeit war der stichprobenhafte, gattungsdifferente Einbezug der Poesie von Anfang an gezielt berücksichtigt. Da sich alle untersuchten Autoren jeweils auch als Dichter betätigten, wurden auch ihre Dichtungen, wo es sich anbot, in die Analyse miteinbezogen. Dadurch konnte verhindert werden, dass das Phänomen der Obscuritas auf den isolierten Rahmen der Epistolographie beschränkt blieb, statt sie in ihrer zwar generellen aber kontextabhängigen Bedeutung für die Literatur der Spätantike manifest werden zu lassen. Diese Vorgehensweise findet in den im Zuge der Untersuchung zutage geführten Resultaten ihre Bestätigung. Die Funktionalität, die Obscuritas in den poetischen und prosaischen Werken zugewiesen werden konnte, erwies sich in weiten Zügen als identisch. Die Wirkungsbreite dunkler Ausdrucksweise wurde damit als gattungsübergreifendes Phänomen erst recht deutlich. Dadurch gelang es, die in der Forschung lange Zeit dominierenden Negativurteile hinsichtlich der stilistischen und sprachlichen Eigenheiten der lateinischen Spätantike zumindest in diesem Aspekt zu revidieren. Diese Einschätzungen kamen zustande, weil man in der Regel auf der Folie eines Verfallsnarrativs nur die Abweichung von der literarischen Tradition und der rhetorischen Theorie konstatierte, ohne passiv wirksame Gründe und Ursachen näher zu erörtern oder nach aktiven Motiven und Wirkungsintentionen zu suchen. Tatsächlich ist die dunkle Diktion spätantiker Epistolographen kein Anzeichen für mangelnde linguistische Kompetenzen, literarisches Unvermögen oder zerfallende Bildungsinstitutionen, sondern Ausdruck eines intentionalen Prozesses der kulturellen Selbstverortung und damit Abbild einer lebendigen und kreativ gestaltenden Literaturepoche. Die Ergebnisse der Analyse sind nicht zuletzt das Resultat eines in methodologischer Hinsicht neuen Ansatzpunktes, der mit dem Fokus auf spätantike Privat- und Freundschaftsbriefe unternommen wurde. Die Beschränkung auf einen spezifischen Brieftypus, der an bestimmte elitäre Kommunikationsräume gebunden war, ermöglichte erst die minutiöse und konsequent kontextbezogene Aufarbeitung von Obscuritas, ohne dabei die Rückbindung an eine konkrete, historisch rekonstruierbare soziale Gemeinschaft zu verlieren. Es ist folglich allein das beschriebene literatursoziologische System der spätantiken Bildungskultur, für die die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit letztlich volle Geltung beanspruchen dürfen.

VI. LITERATURVERZEICHNIS 1. Textausgaben, Kommentare und Übersetzungen An dieser Stelle wird bei klassischen und nachklassischen Autoren jeweils nur auf jene Textausgaben, Kommentare und Übersetzungen verwiesen, die in der Arbeit explizit erwähnt sind. In den anderen Fällen wurden als Textgrundlage jeweils die massgeblichen Oxford- beziehungsweise Teubner-Ausgaben verwendet. Bei den spätantiken und mittelalterlichen Autoren sind hier – mit Ausnahme der Kirchenväter – sämtliche für die Untersuchung konsultierten Titel aufgeführt. Für die Werke von Augustinus, Ambrosius, Cassianus, Hieronymus und Lactantius wurden, wenn nicht anders vermerkt, die Ausgaben des CCSL (= Corpus Christianorum. Series Latina) beziehungsweise des CSEL (= Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum) herangezogen. Pseudo-Agennius Urbicus: Thulin, C., Corpus agrimensorum Romanorum, Vol. 1: Opuscula agrimensorum veterum, Leipzig 1913, 51–70. Alanus ab Insulis: Sannelli, M., Alani de Insulis Anticlaudianus, Lavis 2004. Ammianus Marcellinus: Seyfarth, W., Ammianus Marcellinus. Römische Geschichte, lat.-dt., mit einem Kommentar, 4 Bde., Berlin 1968–1978. Seyfarth, W., Ammiani Marcellini rerum gestarum libri qui supersunt, Leipzig 1978. Szidat, J., Historischer Kommentar zu Ammianus Marcellinus, Buch XX-XXI, 2. Bd, Stuttgart 1981. Anthologia Latina: Shackleton Bailey, D. R., Anthologia Latina. I: Carmina in codicibus scripta, Stuttgart 1982. Arnulf von Lisieux: Barlow, F., The Letters of Arnulf of Lisieux, London 1939. Augustinus: Migne, J.-P., Augustini Hipponensis episcopi Annotationum in Job liber unus, Patrologia Latina, Bd. 34, Paris 1845, 825–886. Moreau, M., Saint Augustin. La doctrine chrétienne – De doctrina christiana, texte critique du CCL, revu et corrigé, introduction et traduction, Paris 1997. Pollmann, K., Aurelius Augustinus. Die christliche Bildung (De doctrina christiana), Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort, Stuttgart 2002. Ausonius: Amherdt, D., Ausone et Paulin de Nole. Correspondance, introduction, texte latine, traduction et notes, Bern 2004. Di Giovine, C., Decimus Magnus Ausonius. Technopaegnion, introduzione, testo critico e commento, Bologna 1996. Dräger, P., D. Magnus Ausonius. Mosella, Bissula, Briefwechsel mit Paulinus Nolanus, lat.-dt., Düsseldorf-Zürich 2002.

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VII. STELLENREGISTER Die Zitierweise der antiken und mittelalterlichen lateinischen Autoren orientiert sich an den Vorgaben des Thesaurus Linguae Latinae (ThLL) beziehungsweise des Mittellateinischen Wörterbuchs (MLW). Die griechischen Autoren sind nach den Vorgaben des Neuen Pauly (DNP) zitiert. Ps.Agenn. ed. Thulin grom. 51,7-10 110

Anth. Lat. ed. Shackleton Bailey 124 243 281 195

Ain. Takt. 31,1 31,1-35 31,2-3 31,30

Apul. flor. 10

183

met. 2,19 4,11

183 76

Arist. eth. Nic. 2,6

94

poet. 22

18; 27; 94

rhet. 3,2 3,2,4 3,11

94 149 94; 99

Alan. Anticl. 3,240-242

165

Arnulf. Sag. epist. 27

15

254 254 255 255

Ambr. epist. 1,1 74

13 58

myst. 9,55

124

Amm. 14,6,1 14,6,15 14,9,4 15,5 15,5,10 18,6,17 18,6,18-19 18,6,19 21,3 28,1,19-23 29,1,11 30,4,2 31,4,6 31,14,5

81 86 213 213ff. 213 254; 256 256 256 252 252 166 83 112 81

334 Athen. 3,96F-104

VII. Stellenregister

113

Aug. catech. rud. 9,13 10,14-14,22

122 122

civ. 11,19 22

120 89

conf. 6,4,6 6,10,17

187; 188 123

doctr. christ. praef. 8 1,1,1 2,1 2,1,1-5,6 2,6,7 2,6,8 2,9,14 2,10,15 2,11,16-15,22 2,15,22 2,16,24-28,28 2,29,29-42,63 3,1,1 3,2,4-4,8 3,4,8 3,5,9-37,56 3,10,14 3,22,32 3,27,38 3,29,40-41 3,30,42 3,37,56 4,6,9 4,7,17 4,8,22 4,8,22-11,26 4,7,17

124 117 121 121 121 121; 122 117 117 118 118 118 118 117 118 118 118 119 120 120 118 119 119 120 164 121; 124 124 164

4,22,51 4,25,55

125 124

epist. 24 25 27 27,2 27,6 55,39 58,3 61,1 89,8 98,8 149,2 151,11 162,1 187,22 220,2 12*,2,2

57 138 139 140 139 43 43 43 43 196 249 43 43 123 43 125

gen. ad litt. 6,13

115

in Iob ed. Migne 34 7,9 172 in Psalm. 36, s. III,6

91

retract. 1,1 2,20 2,56 2,33

194 46 46; 63 63

soliloq. 2,11,19

87

Auson. ed. Green Biss. praef. 222 2,5-8 197

335

VII. Stellenregister

cent. praef. 101-131

209 208

22,31 22,13-31 23

241 242 134

epigr. 85

197

grat. act. 14,65

104

epist. 1 2-8 12 12,2-8 12,3 12,10-1 12,23-24 12,25 12,31-32 12,32-33 13 13,1-2 13,3-4 13,65-66 13,67 13,67-70 13,71-81 14 14a,1-9 14b,1-4 14b,19-23 16,1-2 17 17,11-12 17,14 17,23-24 17,25-28 17,29-32 17,48-52 19a,2 21 21,5-6 21,7-19 21,32-33 21,62 21,63-68 22 22,6-12

165 226 132ff. 133 153 166 134 133 134 133 219 220 220 220 189 221 80 189ff.; 199; 204; 210 190 191 191 220 211 211 131 212 211 212 192; 212 133 240ff. 240 240 240 240 240 134; 240ff. 241

griph. praef. 25-27 praef. 29 praef. 47 praef. 52-55 praef. 55-58 praef. 58 1

197 203 222 203 204 204 204

Mos. 192-199

181

ordo nob. 1

89

prof. 21,25-26 22

108 115

techn. 1,10 1,13-15 3,1-2 13,1-4

147 204 204 205

Avit. carm. praef.

90; 193

contr. Arr. ed. Peiper 30 281 epist. ed. Peiper 6 8 15 18 24

281 281 131; 147; 153 290 282; 285; 286

336

VII. Stellenregister

36 37 46 49 50 51 52 53 56 57 74 86 87 95 96

361; 282; 285; 286; 287 258; 284 282; 283 147 160; 174 136; 227; 285; 286 285; 286 90 69; 77ff.; 282; 285 15; 152 197 197 183; 184; 283 87; 283; 290 14; 194; 197; 283

hom. ed. Peiper 17-22 21 24-25 27-29 29

160 160; 161 160 160 180

Boeth. cons. 3,12,30

196

Cassiod. inst. praef. 2 1,18 1,21 1,22

121 116 125 125

var. praef. 4 praef. 6-10 praef. 11 praef. 15 praef. 16 1,2,1-2 1,2,2 1,6,2 2,39,3 3,33,3 4,51,3f. 9,3,4 11 praef. 2 11 praef. 3 11 praef. 6 11 praef. 8-9

127 129 129 128 128 186 168 150 150 83 150 150 126 127 127 127

Cato orig. ed. Chassignet frg. 2,3 19

Caesar. Arel. epist. ad Ruric. 249; 275

Caes. Gall. 5,48

Catull. 46,2 95

159 27

Cic. Att. 1,12,4 1,13,1 1,13,2 2,7,4 2,9,1 2,14,1 2,17,3 2,19,5

18 251 250 255; 256; 286 247; 255 255 255 255

256

Carm. Priap. 2 3,1-10

222 210

Cassian. inst. 11,18 12,19

92 90

337

VII. Stellenregister

2,20,5 4,15,3 5,5,1 5,11,7 5,15,3 5,16,1 5,17,1 5,17,7 5,20,9 5,21,4 6,1,9 6,4,3 7,10 7,13a,1 7,13,3 8,14,1 10,10,3 12,1,2 12,38,2

255 246 21 254 247 247 250 254 247 247 250 256 18 256 255; 256; 286 12 254 18; 21 255

div. 1,18,34

116

fam. 2,4,1 2,5,1 2,7,3 2,9,1 2,10,1 2,13,1 3,3,1 6,6,1 8,1,1 8,12,4 8,16,1 9,21,1 9,22,5 10,31 10,31,1 10,31,6 10,33,1 10,33,5 11,11,1 11,13,1 11,16,1 12,12,1 12,15,2

189 253 247 250 246 246 247 136 136 246 247 12 256 252 251 57 252 252 251 256 266 251 251

12,30,1 13,68,2 15,14,6 15,21,4 16,25

12 253 71 47 136

de fin. 2,5,15

218

Flacc. 23 37

45 45

inv. 1,15,20 1,20,28 1,21,30

71; 96 97 103

Mil. 2,5

100

nat. 3,13,35

218

orat. 19,65

155

de orat. 1,3,12 1,24,112 1,41,187 2,12,49 2,80,329 3,25,96 3,25,100 3,38,153 3,41,166 3,42,167

101 210 211 130 97 163 155 98 163 100

Phil. 2,4,7

14; 42; 47

Planc. 6,16

134

338

VII. Stellenregister

Quint. fr. 1,1,16 3,1,10 3,6,2

12 251 251; 253

Tusc. 3,2,3 3,19,45

175 27

Claud. nupt. (= carm. 9) 85-96 161 carm. min. 25 35,1

Claud. Don. in Verg. Aen. 3,115 4,41

238 238 238 237

Desid. Cah. epist. 1,11 2,1 2,5

136 41; 136 57

Dig. Iust. 21,1,65,2

86

Dion. Hal. de Thuc. 50-51

108

Ennod. carm. 1,7 praef. 2 1,7,69 1,8 praef. 6 2,16,1-8 2,17,7 2,44,3 2,107 2,151

153; 168 168 148 224 83 167 200 197

epist. 1,1 1,1,1 1,1,4 1,3 1,3,3 1,4,1 1,5,5 1,5,6 1,8 1,8,1 1,9,1 1,10,4

151 15; 155 167 152 150 166 154 168 18 166 166 166

175 207

105 107

Claud. Mam. epist. ad Sap. ed. Engelbrecht 203-206 229 204,22-24 231

Cod. Iustin. 10,31,6

288 289 293 294

85

Cod. Theod. 14,1,1

81

Demetr. eloc. 222 223 223-224 227 231

99 12 12 13 13

339

VII. Stellenregister

1,12,2 1,12,3 1,15,2 1,16,2 1,16,4 1,24 2,2,2 2,4,3 2,6,1 2,6,3 2,6,6 2,7 2,7,1 2,7,2 2,7,4 2,9 2,11,3 2,13,1 2,13,1-2 2,13,2 2,17,1 2,26,1 3,10,1 3,10,2 3,31 3,31,2 4,7 4,7,1 4,9,1 4,9,2 4,11 4,35 6,16,1 7,14,1 7,21,2 7,26,2 7,29,2 8,1,3 9,10,1

166; 167 166 152 166 166 194 168 131 168 153 196 152; 209 209; 210 209 131 151 167 18; 163 151 15; 209 152 153 69ff. 71; 72 152, 209 15; 155; 209 138 71 153 167 69 70 69 168 167 152; 167 166 168 168

21

152

opusc. 6,8 6,11

166 140

paneg. 5,22 18,82 21,89

162 162 168

Epigr. Bob. 5,2-8

193

Epist. Austr. 13

41

dict. 8,9 9,5 10 10,4 10,5-6

167 224 224 224 296

Faust. Rei. ed. Demeulenaere epist. ad Ruric. 2 274

Epist. Rustici ad Eucherium 41 Eugipp. epist. ad Pasch. 2 216

Eun. vit. soph. IX,2

86

Exc. Rhet. ed. Halm 589, 4-12 62; 130 589, 12-13 11 589, 12-15 13 589, 20-21 11; 18 589, 22-23 12

340

VII. Stellenregister

Firm. math. 4,22,1

34

Front. M. Caes. 4,3,3

17

Fulg. aet. mund.

205

Greg. Tour. Hist. 1 praef. 2,23 2,25 2,34 2,35 2,36 2,37 7,30 10,19 10,31,7 10,31,8

215 282 271; 272 281 292 292 282 254 253; 256 292 292

Grill. 1,20,48-53 1,20,48-51 1,20,54-55

95 98 96

Virg. cont. ed. Helm 85-86 113

Hdt. 8,98

247

Gell. 16,14 17,6 17,9,3-5 17,9,5 17,9,6-15 18,2 18,2,6

Hier. epist. 22,2,2 22,30 37,3,1 48,4 85,1 115,2

232 90 19 215 17 196

in Gal. 3 praef.

125

in Stat. Theb. ed. Helm 180,3-6 114 180,12-181,1 114 182,21-23 114 myth. ed. Helm 13,17-19 210; 211

110 110 255 255 254 195 113

Genn. vir. ill. 19 86

44 274

in Zacch. 2,6,8 2,8,22

117 117

Greg. M. moral. epist. 5

92

Hist. Aug. Ael. 5,1-3

82

341

VII. Stellenregister

Clod. 5,1 Comm. 1,7-8

82

Isid. etym. 1,25 1,37,26

255 32

82 sent. ed. Migne 83 576C-577A 116

Max. et Balb. 2,7

82

Pesc. Nig. 1,4 6,10

82 82

Valer. 8,1

82

Hor. ars. 14-19 25-26 361 388

145 211 155 127

carm. 1,26,7-8 1,35,29-30 2,10,5 3,19,14-15

156 76 163 204

epist. 2,1

109

serm. 1,4,9-10 2,3,82 2,5,58

200 221 210

Isocr. epist. 1,2-3

12

Iul. Vict. rhet. ed. Giomini/Celentano 72,23-73, 2 97 89,32-90,5 100 105,10 13 105,24 162 105,24-31 11 105,25-26 24 105,25-28 45 105,26-28 24 105,31-32 12 105,31-34 71 106,14-15 225 106,16-18 14

Iuv. 6,259-260 7,59-62 7,62

207 276 276

Lact. divin. inst. 6,21,5 6,21,6

88, 228 91

Liv. 1,34,4-35,6 8,7,1 21,44,1

244 74 106

Hyg. ed. Funaioli frg. 1-2 111

Hyg. fab. 21,1

223

342

VII. Stellenregister

29,17,11 35,11,6-8

225 106

Lucan. 2,716 4,682-683 6,17

176 106 176

Lucr. 1,928-929 1,936-941

Macr. Sat. 1,24,12-13 1,24,13 5,11,11 5,14,7 5,19,17 6,1,2 7,3,3 7,5,2 7,13,14 7,16 somn. 2,5,28

Marcellin. vita Thuk. 35

156 133

113 113 157 164 118 163 195 196 183 115

193

218

Mar. Victorin. ed. Keil gramm. 189,1-7 152

Mart. Cap. 1,2 3,230

153 23; 105

Mythogr. Vat. II ed. Bode 135-142 177 141 177 142 177

Nemes. Cyneg. 268 266-268

104 106

Ov. am. 1,11

242

ars. 3,611-612 3,617-630 3,627-628

245 245 242

epist. 20 20,212 21

242 243 242; 243

met. 4,185 7,267 11,92 14,225

179 190 179 190

pont. 1,4,20 4,3,54

178 221

Pallad. 7,12

183

Paneg. Lat. 6,7,5 9,18-19

247 80

343

VII. Stellenregister

Pasch. epist. ad Eugipp. 3 217

Philostr. eik. 1,6,1

156

Paul. Nol. carm. 10 10,192 11,6-7 18,35-37 19,407-424 19,418-419 23 23,118-155 23,142-147 23,146

134 244 133 172 172 173 172 172 172 10

Plat. Phaidr. 275

11

rep. 515 596

38 156

epist. 3 3,2 4 4,2 4,3 4,5 5,6 6 6,1 13,2 19,1 45,1

Plin. nat. 20,97-101 23,59 26,62

221 221 242

57; 139 139 137ff. 138 139 138 90 139 249 138 249 188

Paul. Petric. Mart. 3,65-134 3,83 3,90-104 3,99-103 3,123-124 3,366-376

Plin. epist. 1,10 1,10,9 2,17 2,17,12 3,20,10-12 4,14,1-3 5,6 5,6,20 5,6,27 6,16,22 7,2,1 7,7,2

81 131 206 74 252 200 206 207 74 52 192 199

169 169 169 181 169 170

paneg. 30,2

207

Plut. Demetr. 22

253

Lysand. 19

254

Pers. sat. 4,16

221

344

VII. Stellenregister

mor. 635E-638A

115

quaest. conv.

113

Pomer. 1,23 3,34,2

215 216

Porph. in Hor. ars. 300

221

Procop. aed. 1,1,27-49

161

Prud. cath. 2 2,1-12 2,13-16

171f. 171 172

ham. 874-875

187

psych. 858

176

Quint. inst. 1,1,29 1,4,2 1,4,4 1,6,1-3 1,6,45 2,3,8 2,3,9 4,1,40-41 4,1,41 4,2,26

45 115 108 88 88 93 93 96 96 75

4,2,31 4,2,31-51 4,2,35 4,2,39 4,2,45 4,2,56-57 4,2,58 4,2,59 4,2,63-64 4,2,64 4,2,64-65 4,2,88 4,4,4 4,5,25 5,14,34 6,3,84-95 7,1,23-28 7,6,2-4 7,9,1 8 praef. 25-26 8,2 8,2,1-13 8,2,12 8,2,14 8,2,14-21 8,2,15 8,2,17 8,2,17-18 8,2,17-19 8,2,18 8,2,21 8,2,22 8,2,23 8,3,3 8,3,11 8,3,15-20 8,3,41 8,3,42 8,3,56 8,3,57 8,3,61-71 8,3,62 8,3,70 8,3,72 8,3,74 8,3,82

94 97 73; 97 102; 154 96; 98; 102 149 149 102 99 97 103 103 96 96 99; 296 265 124 96 103 101 97f. 98 100 18; 75; 98 98 98 78; 98 210 101 115 22; 100; 101 78; 97; 103 102; 127 ; 155 99 99 98 94 99 100 16; 100; 149 99 99 99; 273 99 99 103

345

VII. Stellenregister

8,3,83 8,5,29 8,6,14 8,6,44 8,6,47-48 8,6,51-53 8,6,52-53 8,6,53 9,1,14 9,2,64 9,2,65 9,2,65-66 9,2,66 9,2,67 9,2,68 9,2,69-70 9,2,96-99 9,2,72 9,4,19 12,2,1

99 163 99 118 100; 296 100 32 33; 108 12; 237 238 239 23 237; 239 237 238 238 239 238 12 82

1,11,18-19 1,12 1,12,25-31 1,13,8-9 1,18,6-10 2,8 2,8,22-25 2,14 2,15 2,19 2,26,2 2,26,11-13 2,36,5 2,40,5 2,40,7-8 2,41,14-17 2,52,18-23 2,52,20-21 2,63 2,65 2,65,15-17

293 294 290 289; 290 293 290 290 290 290 41; 288 288 16; 295 288 249 253 290 290 289 289 290 291

Rhet. Her. 1,7,11 1,9,14

71 97

Rut. Nam. 1,440 1,439-442

90 90

Sall. Catil. 5,4

21

Salv. gub. praef. 3

127; 215

Sen. apocol. 2

211

benef. 5,13,3

232

Ruric. ed. Demeulenaere epist. 1,2 131; 274 1,3 224; 293 1,3,19-20 294 1,3,29-40 168; 223; 296 1,4 131 1,4,1-5 294 1,4,4-5 156 1,4,14-19 295 1,5 131; 293 1,5,1-9 294 1,5,3-9 295 1,5,4 156 1,6 289 1,8 294 1,8,20-21 294 1,10 294 1,11 289

346

VII. Stellenregister

epist. 75,1 95,65 114,1 115,1

12; 17 87 82 21

Serv. in Verg. ecl. praef. 1,1 1,42 9,35

277 277 277 27

in Verg. Aen. praef. 1-3 1,681 4,41 8,425

105 176 107 179

Sidon. carm. 9 9,16 10 11 11,1-13 11,29 11,29-31 12 12,8-11 12,20-22 16 15,163 20 22 22,5 22,154-157 23,436-446 24 24,5

192; 227 233 227 175ff.; 209; 227; 294 175 179 180 279 264 279 227; 267 179 227 144f. 145; 233 164 194 192 233

epist. 1,1 1,1,1

262 58; 265

1,1,1-2 1,1,3 1,2,2 1,5,2 1,5,3 1,6,1-4 1,6,4 1,7,5 1,9,1 1,9,8 1,10 1,11,14 2,1,1 2,1,2 2,2 2,2,1 2,2,1-2 2,2,2 2,2,4 2,2,18 2,2,19 2,2,20 2,5,1 2,9 2,9,4 2,9,5 2,9,6 2,10 2,10,1 2,10,2-3 2,10,3 2,10,4 2,10,6 3,1,5 3,3,7 3,4 3,4,2 3,7,3 3,9 3,10 3,12,4 3,13,5 3,14,1 3,14,2 4,1,2

16; 153 149 144 248 193; 248 194 183 252 23 84 249 199 260 83 146; 206f. 207 207 207 174 207 206 154 196 192 76 196 192 231; 233 152; 167; 193; 229; 231; 233 159 159; 192 157ff. 234 260 260 249 258 260 249 249 200 188 199 152 18

VII. Stellenregister

4,2 4,2,1 4,3,3 4,3,4 4,3,9 4,3,10 4,4,2 4,5 4,5,2 4,6 4,6,2 4,6,4 4,7 4,8 4,8,5 4,10 4,10,1 4,11,2 4,11,6 4,11,7 4,12,2-3 4,12,2 4,12,4 4,14 4,16,1 4,17,1 4,17,2 4,19 4,20 4,20,3 4,22,5 5,1 5,1,1 5,3 5,3,1 5,4 5,5,1 5,10,1 5,10,3 5,10,3-4 5,10,4 5,11,1 5,12 5,12,1 5,13,1

249 250 153 146 166 131 260 249 260 249 18 76 249 249 152 268; 269 270 196 92; 196 200 249 164 253; 263 268; 269 156; 166; 294 131 127; 193; 225; 229; 231; 232 268 164 174 261; 287 249 23; 131 268; 269 260 268 233 193 97 231 229 138 263 263 260

5,13,3 5,17 5,17,5 5,17,7 5,17,8 5,17,9-10 6,4 6,6,1 6,8 6,10 6,10,1 6,11 6,11,2 7,2 7,4 7,4,2 7,5,3 7,6 7,6,1 7,6,2 7,6,1-9 7,6,2-3 7,6,3 7,6,4 7,6,4-5 7,6,4-6 7,6,6 7,6,7-9 7,6,8 7,6,10 7,7 7,7,1 7,7,2 7,7,3 7,9,4 7,11 7,11,1 7,12,3 7,14 7,14,1 7,14,10 7,17,1-2 7,18 7,18,3 8,1 8,2,1

347 260 146; 192; 193; 198 198 69; 72ff.; 198 76 200 249 250; 260 249 249 260 249 253; 263 198; 249 249 166 259 133; 267; 270ff.; 289 271 274 271 271 16 261; 272 273 271 272; 274 271 273 271 249; 275 197 275 275 200 249 258 76 86 85 193 275 262 260 262 229f.; 232

348 8,2,2 8,2,3 8,3,6 8,4,2 8,6,3 8,8,2 8,9 8,9,1 8,9,2 8,9,3 8,9,4 8,9,4-5 8,9,5 8,10,1 8,11 8,11,2 8,11,3 8,11,6 8,11,7 8,13 8,13,1 8,14 8,14,8 8,16 8,16,2 8,16,5 9,1 9,3 9,3,1 9,3,1-2 9,3,2 9,3,3 9,3,4 9,3,5 9,3,6 9,4 9,5,1 9,7,2 9,8 9,9 9,9,1 9,9,2 9,9,6 9,9,16 9,11 9,11,3

VII. Stellenregister

233f. 235f. 232 166 131; 229; 230; 231 195 249; 267; 268; 275ff. 166; 275; 276 276 276 276 276 205; 277; 278 153; 294 200; 280 199 227 148 156 249 138 249 131 149; 262 131 192 262 249; 267ff.; 275; 276 253; 297 263 268 199; 268 208; 269 149; 269 131; 269 249 258; 263 229; 231 249 267 249 21 166 229 149 262

9,12,1 9,13 9,13,2 9,13,3 9,13,4 9,13,5 9,14 9,14,3 9,14,4 9,14,5 9,14,6 9,15 9,16 9,16,3

156 195; 198 152 195 199 169 249 200; 225 202; 203; 253 202 202 199 137; 262 192; 199

Sil. 1,215

106

Stat. silv. 1 praef. 1,1,103-104 1,5,34-50 2,2,1-4 2,3 3 praef. 5,3,156-158

199 188 161 177 161 199 111

Theb. 7,16 7,105

176 176

Suet. Aug. 49,3 88

248 255

Div. Iul. 56

254

Tib. 70,1

101

349

VII. Stellenregister

Vesp. 20

74

gramm. 2 4 10 18 24

110 110 110 111; 124 115

Sulp. Sev. epist. 3 3,1-3 3,3 3,5 Mart. 24 Symm. epist. 1,3,2 1,14,4 1,15,1 1,20,1 1,31 1,31,1 1,31,2 1,92 2,8,1-2 2,12 2,59,1 3,50 4,18,1 4,32 4,36,2 4,42,1 4,44 4,72 5,78 7,9 7,11 7,60 8,21

41ff. 42 148 42

8,69 9,45

Ter. Eun. 107

43 249

207

Tyc. reg. praef. 4,1 6,1

123 124 123

Varro gramm. ed. Funaioli frg. 234 105 frg. 236 105

170

152 150; 157 21 84 132 134; 193 135 199 147 300 193 193 166 193 166 138 193 199 193 17; 151 166 131 193

ling. 5,2-5

109

Ven. Fort. carm. 1,12,11-16 1,15 1,15,55-58

161 168 161; 174

Mart. 2,82-85 2,82-92

181 181

Verg. Aen. 1,681 3,513 4,41 4,40-41 5,499 9,59-61 10,750

176 157 104 106 72; 73 271 106

350 ecl. 1,6 1,11-12 1,67-69 1,70-71 4,55

VII. Stellenregister

1 Cor. 13,12

116

2 Cor. 3,6

188

Ct. 4,2 4,12

121 124

Dt. 18,1-2

208

Hbr. 7,3

196

Lc. 1,41

123

Mc. 4,11-12

124

Mt. 13,34

116

Prv. 1,6

116

Vita Aviti ed. Peiper 177,15-16 281

Ps. 118,57 121,3

208 290

Biblia Sacra Vulgata Apc. 5,1 123

2 Tim. 3,16

119

georg. 1,384 2,353 3,451 3,479 4,6 4,427-428

278 278 279 279 179

190 207 221 207 147 207

Victorin. ed. Halm 1,15 95; 96

Virg. gramm. epit. 1,64-83 10,1-11 10,37-42 12,26-79

35 34 35 36

Die Spätantike ist eine Epoche vielgestaltiger Umbrüche und Neuansätze. Diese lassen sich in der Literatur in gleicher Weise ablesen, wie sie Auskunft darüber gibt. Raphael Schwitter richtet ein Schlaglicht auf die Briefliteratur dieser Zeit und nimmt erstmals die von der älteren Forschung als Dekadenzphänomen gewertete Verdunkelung des sprachlichen Ausdrucks (obscuritas) als intendiertes epochenspezifisches Stilphänomen in den Blick. Er geht – auch im Vergleich mit anderen Gattungen  – den soziokulturellen Ursachen, den politischen Motiven und den literaturästhetischen Paradigmen  nach,

die Autoren wie Sidonius Apollinaris (430/31–480/90 n. Chr.), Alcimus Ecdicius Avitus (Bf. von Vienne 494–518  n. Chr.) oder Magnus Felix Ennodius (473/74– 521  n.  Chr.) den Bruch mit den Stilprinzipien der klassischen Briefliteratur und den rhetorischen Lehrvorstellungen suchen liessen. Ausserdem nimmt der Autor mit der Grammatik, der Rhetorik und der Bibelhermeneutik die drei Diskursbereiche in den Blick, in denen dunkle Sprache traditionell relevant war. Dabei werden für die wissenschaftliche Erforschung der antiken und spätantiken Epistolographie methodologisch neue Wege beschritten.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-10989-5

9 7 8 3 5 1 5 1 09895