Umbildende Erfahrung: Goethes Begriff von Selbstbildung [1 ed.] 9783412512408, 9783412511425


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Umbildende Erfahrung: Goethes Begriff von Selbstbildung [1 ed.]
 9783412512408, 9783412511425

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Jörg Soetebeer

Umbildende Erfahrung Goethes Begriff von Selbstbildung



Jörg Soetebeer

UMB I LDEN DE ER FAH RU NG Goethes Begriff von Selbstbildung

2018 B Ö H L AU V E R L A G

KÖ L N W E I M A R W I E N

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildungen: Goethes Farbenkreis, Foto des Autors als Vorlage

© 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Lindenstraße 14, D-50674 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Umschlaggestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz: Bettina Waringer, Wien Korrektorat: Sara Zarzutzki, Düsseldorf

ISBN 978-3-412-51240-8



I N H A LT

E I N L E I T U N G. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1 VO R Ü B E R L E G U N G E N. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2 FA C H W I S S E N S C H A F T L I C H E R Z U S A M M E N H A N G U N D F O R S C H U N G S L I T E R AT U R. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 3 2.1 Bildungs- und erziehungswissenschaftliche Untersuchungsperspektiven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.2 Untersuchungsperspektiven im Spiegel der Goetherezeption. . . . . . . 58 3 B I L D U N G – » WO H L D E R G R Ö S ST E G E DA N K E D E S 1 8 .  JA H R H U N D E RT S «. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 7 3.1 Ideengeschichtliche Aspekte des Bildungsbegriffes – eine forschungskritische Annäherung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3.2 Perspektiven des bildungsphilosophischen Diskurses der Goethezeit.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3.2.1 Bildung – das Paradigma der Goethezeit.. . . . . . . . . . . . . . 84 3. 2.2 Die Begründung des Bildungsbegriffs im Sinnbezirk ästhetischer Anschauung – Moritz als Beispiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 3.2.3 Ästhetische Bildung als Spezifikation des Bildungsbegriffes – Schiller als Beispiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 4 U M B I L D U N G A L S P E R S P E K T I V I E R U N G VO N S E L B ST B I L D U N G B E I M J U N G E N G O E T H E . . . . . . . . . 1 1 3 4.1 »... und fing an Betrachtungen zu machen, dazu ich bissher nicht Zeit gehabt hatte.« – Selbstbildung als Suchbewegung im Medium der Philosophie.. 113 4.2 Zum Shakespears Tag – Von Deutscher Baukunst. . . . . . . . . . . . . . 127 4.2.1 Untersuchungsperspektiven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 4.2.2 »Wie sich aber Begriff und Anschauung wechselweise fordern...« – Aisthesis als Erkenntnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 4.2.3 »...alles Gestalt, und alles zweckend zum Ganzen...« – Der Gestaltbegriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 4.2.4 »... der erste aus dessen Seele die Teile, in Ein ewiges Ganze zusammen gewachsen, hervortreten« – Der Geniegedanke im Kontext moderner Identitätsproblematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

6

Inhalt

5 S E L B ST B I L D U N G I N D E R T R A N S F O R M AT I O N VO N A I ST H E S I S Z U R M E T H O D E A N S C H AU E N D E R B E T R A C H T U N G.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die Bedeutung von Natur für Aisthesis und biographische Reflexion – Goethes Reisen 1775–1777. . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Das Entstehungsmoment wissenschaftlicher Betrachtungsweise am Beispiel der Geognostik/Geologie. . . . . . . . 5.3 Ontologische und epistemologische Begründung der Naturforschung: Die Philosophie Spinozas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Der Granit: Das Subjekt modelliert seine Identität im Erkennen des Objektes.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

167 . 167 . 192 . 207 . 221

6 G O E T H E S S E L B ST B I L D U N G I M KO S M O S I TA L I E N . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 3 9 6.1 Zur Bedeutung des Reisens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 6.2 Ekstasen der Elemente – Amplifikation von Aisthesis – Selbstbildung. . . . . . . . . . . . . . . . 241 7 D E N K M U ST E R U N D B E K E N N T N I S S E D E S BETRACHTERS. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Naturforschung als Medium biographischer Reflexion – das Subjekt und seine Anschauung. . . . . . . . . . . . . 7.2 Epistemische Methodenkonzeptionen der Naturforschung. 7.3 Die Ontologie offener Ganzheit und widerständige Selbstbildung. . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

271

. . . . . . . 273 . . . . . . . 287 . . . . . . . 324

Z U S A M M E N FA S S U N G.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

339

L I T E R AT U RV E R Z E I C H N I S.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 4 5 1 Siglen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 2 Editionen und Einzelausgaben der Werke Goethes. . . . . . . . . . . . 346 3 Verwendete Literatur der Goethezeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 4 Bibliographien, Periodika, Hand- und Wörterbücher, Nachschlagewerke.. 348 5 Literatur zu Bildung, zur Ideen- und Begriffsgeschichte, zu sachlich relevanten Fachbereichen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 6 Forschungsliteratur zu Leben und Werk Goethes. . . . . . . . . . . . . 361 A B B I L D U N G S N A C H W E I S.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

372

P E R S O N E N R E G I ST E R . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

374

EI N LEITU N G

»Mache ein Organ aus dir«, fordert Montan in den Wanderjahren1 und meint damit ein Anschauen der Welt, das verändernd auf den Betrachter wirkt. Meine These ist, dass er eine Bildungserfahrung formuliert, die grundlegend für Goethes Denken ist. Werden Goethes bildungsphilosophische Ideen erforscht, ist denn meist auch der Wilhelm Meister das exemplarische Muster, das die verschiedenen Momente einer Bildung des Menschen literarisch thematisiert und durchspielt. Vieles ist zu diesem Entwicklungs- und Bildungsroman von der Forschung zusammengetragen und diskutiert worden. Der Fokus meiner Untersuchung orientiert sich demgegenüber auf andere Bereiche von Goethes Produktivität. So sind seine Gedanken zu ästhetischen Bildungserfahrungen in der Rezeption und Produktion von Kunst interessant. In den ästhetischen Schriften finden sich eine entsprechende Disposition des Betrachters ebenso wie komplementäre Muster einer produktiven Arbeit mit unterschiedlichen ästhetischen Medien und Mitteln, welche lohnen, einmal genauer betrachtet zu werden. Goethes naturwissenschaftliches Forschen kreist zentral um die Frage von Bildungsprozessen im Naturzusammenhang, und sein Anschauen der Welt arrangiert er mit einer spezifischen Erkenntnismethodik. Nach langer Zeit überwiegend kritischer Distanz wird ihm deshalb aktuell ein verstärktes neues Interesse von Naturwissenschaftlern entgegen gebracht; dabei finden Goethes Arbeiten zur Farbenlehre ebenso Aufmerksamkeit2 wie sein morphologischer Forschungsansatz zur phänotypischen Entwicklung, für den sich die moderne Entwicklungsbiologie verstärkt zu interessieren scheint. Mich interessiert bei meiner Untersuchung, ob in den fachlichen Kontexten der ästhetischen und naturwissenschaftlichen Schriften in der besonderen Art von Goethes Betrachten und Denken ein Bildungsbegriff zu rekonstruieren ist, der über eine autobiographische Bedeutung hinaus als Muster von Selbstbildung einen originären Beitrag zum bildungsphilosophischen Diskurs beisteuern kann. Die naturwissenschaftlichen sowie die ästhetischen Schriften Goethes enthalten zwar keine explizite Bildungstheorie, dokumentieren aber eine Bildungspraxis. Für diese ist Aisthesis als hybride Erkenntniskonzeption eines anschauenden Denkens 1 2

FA 10: 295. Hier sind zwei Arbeiten zu nennen, die seit Annahme meiner Dissertation erschienen sind: Olaf Müller: Mehr Licht. Goethe mit Newton im Streit um die Farben, Frankfurt/M. 2015, sowie Matthias Rang; Oliver Passon; Johannes Grebe-Ellis: Optische Komplementarität. Experimente zur Symmetrie spektraler Phänomene, in: Physik Journal 16 (2017), Nr. 3, S. 43–49.

8

Einleitung

bedeutsam, welche sinnlichkeitsbasierte Wahrnehmung und denkbasierte innere Anschauung umgreift. Goethe orientiert sich mit dieser Erkenntniskonzeption an Kants Erfahrungsbegriff; wo dieser aber allein regulative Erkenntnisprinzipien des Verstandes gelten lässt, wird Wahrnehmung für Goethe zu einer spezifischen Form von Erkenntnis vor allen rationalen Verarbeitungsprozeduren. Unter diesen Vorzeichen haben die Schriften Goethes nicht nur fachwissenschaftlich sowie autobiographisch relevante Bedeutung, sondern dokumentieren einen Bildungsanspruch, der sich in der Begegnung mit den Dingen als umbildende Erfahrung realisiert. Dabei intendiert Goethe ein Netz sich wechselseitig bedingender und ergänzender Erkenntnismodalitäten, in deren Fusion u.a. eine rational unterlegte Intuition entscheidende Optionen für Erkenntnis in der Perspektive von Bildung bietet, die auf partizipative Identität und Weltorientierung ebenso zielt wie auf widerständige Selbstbildung. Die vorliegende Arbeit ist 2015 von der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock als Dissertation angenommen worden. Der Text ist für die Publikation nahezu unverändert geblieben; Kürzungen wurden nicht vorgenommen, weil mir die Aspekte der verschiedenen fachlichen Kontexte für eine differenzierte Gesamtschau notwendig erscheinen. Erstes und letztes Kapitel bieten dem schnellen Leser wesentliche Orientierungen und Resultate. Mein herzlicher Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Wolfgang Nieke für die wegweisenden Gespräche, die tatkräftige Unterstützung und Begleitung meiner Dissertation; seine Anregungen gehen weit über den Rahmen dieser Arbeit hinaus. Dank sagen möchte ich auch den Teilnehmern seines Doktorandenkolloquiums für die lebhaften und bereichernden Diskussionen. Prof. Dr. Harm Paschen danke ich für den Austausch über Bildungsfragen über viele Jahre hinweg, dessen Ertrag zwischen den Zeilen meiner Arbeit lebendig ist. Posthum danken möchte ich besonders auch Dr. Olaf Oltmann, mit dem mich ein tiefes Interesse verbunden hat, philosophisch forschend immer wieder auf Goethe zu schauen. Dem Vorstand und Beirat der Forschungsstelle im Bund der Freien Waldorfschulen danke ich für die interessierte und wohlwollende Begleitung meiner Arbeit sowie die großzügige Unterstützung ihrer Publikation, die besonders Christian Boettger betreut hat. Gleicher Dank gilt der Ernst-Michael-Kranich-Stiftung und ihrem Vorstandsvorsitzenden Frank Linde. Harald S. Liehr und dem Böhlau Verlag danke ich für den Zuspruch und die Bereitschaft, die Arbeit in das Verlagsprogramm aufzunehmen, ein herzlicher Dank auch an Julia Beenken für ihren Einsatz beim Editing und Korrektorat.

Vorbemerkung

9

... denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern. Rilke: Archaïscher Torso Apollos

1 VOR Ü B ER L E G U N G E N

Zum bildungsphilosophischen Diskurszusammenhang

Bildung ist ein zentrales Orientierungsmuster pädagogischen Handelns und ein Grundbegriff der Bildungs- und Erziehungswissenschaft1. Dabei wird kaum ein Begriff ähnlich kontrovers diskutiert. Neben dem Verhältnis von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung2 geht es insbesondere darum, in welcher Weise eine Begründung von Bildung im Kontext gegenwärtiger gesellschaftlicher Bedingungen möglich ist. Meine Auseinandersetzung lotet die Möglichkeiten programmatischer Begründung von Bildung unter bildungsphilosophischer Perspektive aus. Aisthesis in ihrer Bedeutung für Selbstbildung wird als ein Leitmotiv von Goethes Denken erschlossen, das in epistemologischer Praxis und Methodik von Naturforschung und ästhetischem Denken Selbstbildung als Umbildung modelliert. Damit wird eine neue Lesart der Schriften zur Naturforschung und Ästhetik möglich, die Goethes inno1 2

Vgl. Christian Rittelmeyer: Bildung. Ein pädagogischer Grundbegriff, Stuttgart 2012. Dabei ist Bildungstheorie ihrem Selbstverständnis nach »primär Philosophie«, wie auch Philosophie sich historisch und systematisch in Bildungsparadigmen verorten kann. Vgl. dazu G. Jäger; H.-E. Tenorth: Pädagogisches Denken, in: K. E. Jeismann; P. Lundgreen (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 3, München 1987, Zitat S. 73. Vgl. zu Bildungstheorie und dem Stellenwert philosophischer Reflexion für die Erziehungswissenschaft Yvonne Ehrenspeck: Philosophische Bildungsforschung: Bildungstheorie, in: Rudolf Tippelt; Bernhard Schmidt (Hrsg.): Handbuch Bildungsforschung, Wiesbaden 32010, S. 155–169. Es muss betont werden, dass Bildungsphilosophie sich gegenüber empirischer Bildungsforschung gegenwärtig in der Defensive befindet. Dabei werden im Spektrum von gegenseitiger Akzeptanz bis deutlicher Abgrenzung verschiedene Spielarten des Gegen- und Miteinanders praktiziert. Vgl. dazu Ewald Terhard: Bildungsphilosophie und empirische Bildungsforschung – (k)ein Missverhältnis?, sowie Hans-Christoph Koller: Das Mögliche identifizieren, und Rudolf Tippelt: Bildung und Handeln – Möglichkeiten empirischer Bildungsforschung, alle in: Ludwig Pongratz; Michael Wimmer; Wolfgang Nieke (Hrsg.): Bildungsphilosophie und Bildungsforschung, Bielefeld 2006, S. 9–36, 108–124 und 138–155.

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1 Vorüberlegungen

vatives Bildungsdenken aufdeckt. Im aktuellen bildungsphilosophischen Diskurs bieten Hans-Christoph Kollers Konzeption transformatorischer Bildungsprozesse3, Käte Meyer-Drawes Theorie von Lernen als Erfahrung4 sowie Christiane Thompsons Begriff bildender Erfahrung5 dazu Anschlussmöglichkeiten. Die genannten Theoriekonstruktionen konzeptionieren mit ihrem jeweiligen Begründungsansatz Bildung als verändernde, dekonstruierende Erfahrung. Goethe wird in diesem Diskurs, wenn überhaupt, nur randständig rezipiert. Zwar findet man ihn erwähnt, doch wird nicht untersucht, ob sich in seinen Werken und Schriften eine originäre Theoriekonzeption von Bildung finden ließe. Mit meiner Arbeit rekonstruiere und diskutiere ich demnach erstmals im Zusammenhang der genannten bildungsphilosophischen Perspektive einen programmatischen Ansatz von Goethes Denken über Bildung, der in den Theoriekonzeptionen des gegenwärtigen Diskurses noch kaum berücksichtigt ist, der diesen aber um neue Sichtweisen und Perspektiven bereichern kann, weil Goethes Bildungsansatz expansiv über aktuell diskutierte Denkmuster hinausgeht; o.g. Konzeptionen dienen mir deshalb in dem Sinne als Referenztheorien, als sie einen thematischen Problemaufriss des fachspezifischen Diskurszusammenhangs ermöglichen, in welchem Goethes Konzeption mit ihrem innovativen Potential rekonstruiert wird. Nachdem im Anschluss an diese Vorüberlegungen Gegenstand, Ertragserwartung und Methode in bildungsphilosophischer Absicht weiter zu differenzieren und zu perspektivieren sind, sollen im folgenden Kapitel Konstituenten der genannten Bildungskonzeptionen kritisch diskutiert werden6, um auf dieser Folie unter Berücksichtigung der spezifischen Fachliteratur7 und des ideengeschichtlichen Kontextes8 Konzeption und Tragweite des Goethe’schen Bildungsbegriffs zu rekonstruieren. Gegenstand und Ertragserwartung

Mit einem Gedanken Georg Friedrich Hegels möchte ich zunächst Gegenstand und Ertragserwartungen konturieren. In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Kunst von 1823 untersucht er die ästhetische Erfahrung des Schönen und erläutert

3 4 5 6 7 8

Hans-Christoph Koller: Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Stuttgart 2012. Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, München 22012. Christiane Thompson: Bildung und die Grenzen der Erfahrung. Randgänge der Bildungsphilosophie, Paderborn 2009. Vgl. dazu Kap. 2.1. Vgl. zur Goetherezeption Kap. 2.2. Vgl. dazu die Kap. 3.1 und 3.2.

1 Vorüberlegungen

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in diesem Zusammenhang Elemente eines Erfahrungswissens durch den Begriff der »sinnvolle[n] Anschauung«9: Sinn ist nämlich dies wunderbare Wort, welches zwei entgegengesetzte Bedeutungen hat; denn Sinn ist einmal unmittelbares Organ des sinnlichen Auffassens, und andererseits heißen wir Sinn: die Bedeutung, d.h. das Andere des Sinnlichen, das Innere, den Gedanken, das Allgemeine der Sache. Das eine ist die Sache als Unmittelbares, das andere der Gedanke der Sache. Und beides nennen wir Sinn. Eine sinnvolle Naturbetrachtung ist nun also einerseits sinnlich, andererseits den Gedanken der Sache habend. Die sinnvolle Betrachtung schaut an mit einer Ahnung des Begriffs, der nicht als solcher, sondern als Ahnung ins Bewußtsein kommt. Wenn wir z.B. nur davon reden, wieviel Reiche es in der Natur gebe, so wird gesagt: drei, das Mineral-, Pflanzen- und Tierreich. In dieser Stufenfolge ahnt man einen inneren Zusammenhang, der keine bloß äußere Zweckmäßigkeit ist, sondern ein solcher, der die Ahnung gibt, daß er ein Begriffsmäßiges, Wesentliches sei. Auch bei der Mannigfaltigkeit der Pflanzen wird man ahnen, daß hier, wie Goethe sagt, eine geistige Leiter sei, eine äußere Verschiedenheit, die eine innere Notwendigkeit habe. Die Gebilde in ihrer Ordnung des Begriffes zu fassen und zu ahnen, ist das Sinnvolle. Eine solche Betrachtung hat Goethe vielfach gemacht in der Ahnung des Begriffs, einer höheren Ordnung als der äußerlichen. Dies ist der große Sinn Goethes, mit dem er naiverweise sinnlich an die Naturbetrachtung ging mit der Ahnung eines begriffsmäßigen Zusammenhangs.10

Vier Aspekte dieses Gedankens Hegels greife ich für die Perspektivierung meiner Untersuchung auf: • Sinn in der epistemologisch hybriden Bedeutung von sinnlicher Anschauung und Begriffsdenken, von Aisthesis und Noesis. Aisthesis ist nach dieser Auffassung neben Noesis Erkenntnis11. 9

Georg Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (1823). Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho, in: ders.: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte Bd. 2, hrsg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Hamburg 1998, S. 59. 10 Georg Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (1823), a.a.O., S. 59 f. 11 In Hegels Vorlesungen über die Ästhetik wird der Wortlaut etwas modifiziert, aber auch der enge Anschluss des Begriffes an die Anschauung herausgestellt: »Eine sinnvolle Betrachtung nun scheidet die beiden Seiten nicht etwa, sondern in der einen Richtung enthält sie auch die entgegengesetzte und faßt im sinnlichen unmittelbaren Anschauen zugleich das Wesen und den Begriff auf. Da sie aber eben diese Bestimmungen in noch ungetrennter Einheit in sich trägt, so bringt sie den Begriff nicht als solchen ins Bewußtsein, sondern bleibt bei der Ahnung desselben stehen.« In: G.W.F. Hegel: Vorlesungen über Ästhetik, Bd. 1, in: ders.: Werke, hier Bd. 13, Frankfurt/M. 41994, S. 173. Aisthesis kann einseitig als

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1 Vorüberlegungen

• Ahnung: In sinnvoller Anschauung/Betrachtung geht der Sinn einer Sache auf. Aisthesis begrenzt sich bei sinnvoller Anschauung nicht auf bloß sinnliche Wahrnehmung im Sinne Kants12, sondern umfasst als vielfältig differenzierte Form von Erkenntnis auch ein implizites begriffliches Wissen13. Diese mit dem Begriff der Ahnung im Gegensatz zu den analytischen Operationen des diskursiven Verstandes gesetzte Form natürlicher Erkenntnis, zu der auch Intuition14 zählt, rechnet »auf äußere Sinnesdaten bezogene Wahrnehmung« [so in: Mollenhauer, Klaus; Wulf Christoph (Hrsg.): Aisthesis/Ästhetik. Zwischen Wahrnehmung und Bewußtsein. Pädagogische Anthropologie, Bd. 1, Weinheim 1996, Vorwort S. 7] verstanden werden. Über diese Definition hinaus ergeben sich jedoch andere semantische Implikationen. Vgl. zu aktuellen Begründungen von Erkenntnis als Aisthesis Wolfgang Welsch: Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre, Stuttgart 1987. Ders.: Ästhetisches Denken, Stuttgart 62003. Ders.: Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart 1996; darin u.a.: »Als Wahrnehmung richtet sich die aisthesis auf die genuinen Sinnesqualitäten wie Farben, Töne, Geschmäcke, Gerüche. Sie dient der Erkenntnis. Als Empfindung hingegen verfolgt sie eine Gefühlsperspektive. Sie bewertet Sinnhaftes im Horizont von Lust und Unlust.« (S. 109) Zur über die emotionale Bedeutung hinausgehenden epistemischen Relevanz von Aisthesis, die sich nach meiner Auffassung eben nicht in einer dienenden Funktion für Erkenntnis erschöpft, vgl. das Folgende sowie die Ausführungen zu Aisthesis in Kap. 2.1 und Kap. 4. Eine aktuelle Einführung zum Thema, bezogen auf die leibliche Komponente, bietet Christian Rittelmeyer: Pädagogische Anthropologie des Leibes. Biologische Voraussetzungen der Erziehung und Bildung, Weinheim und München 2002, besonders S. 54 ff. 12 Die Bestimmung Kants lautet: »Vermittelst der Sinnlichkeit […] werden uns Gegenstände g e g e be n , und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie g e d a c ht , und von ihm entspringen Begriffe. Alles Denken aber muß sich […] zuletzt auf Anschauungen, mithin bei uns, auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann. […] Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken.« (Kritik der reinen Vernunft, B 33-75). 13 Zur Bedeutung von Ahnung als philosophischem Begriff vgl. Wolfgang Nieke: Ahnung, in: Joachim Ritter u.a. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel 1971, S. 522–528. Während Nieke noch 1971 feststellen muss: »[A]ls philosophischer Terminus hat der Begriff [Ahnung, J.S.] seine Relevanz verloren« (Sp. 526), und u.a. die Kritik Kants hervorhebt, wird die Bedeutung des Begriffes aktuell wieder diskutiert. Vgl. Wolfram Hogrebe: Ahnung und Erkenntnis. Brouillon zu einer Theorie des natürlichen Erkennens, Frankfurt/M. 1996, zu Goethe insbesondere S. 75–78. 14 Zum Sinnbezirk von Ahnung sowie Bezügen zu Anschauung und Intuition vgl. Wolfgang Nieke: Ahnung, a.a.O., sowie Wolfram Hogrebe: Ahnung und Erkenntnis, a.a.O. Die Begriffe Anschauung und Intuition haben in der Geschichte der Philosophie eine zweifache, einander ähnliche Bedeutung. Anschauung meint den gerichteten Blick auf etwas; das unmittelbare Innewerden eines geistigen (z.B. geistige Schau der Ideen) oder eines materiellen (Wahrnehmung sinnlich gegebener Eindrücke) Gegenstandes. Diese sowohl gr. θεωρία (theoría) als auch αἴσθησιϛ (aísthēsis) umfassende Bedeutung hat auch Intuition (gr. ἐπιβολή). Sie meint Anschauung eines unmittelbar Gegebenen a) als ganzheitliche sinnliche Wahrnehmung, b) als geistigen Akt unmittelbarer Einsicht

1 Vorüberlegungen

13

Hegel nicht zu einem Wissen, wie es durch Modelle generiert wird15, misst dieser bis heute in der Erkenntnistheorie randständig diskutierten Komponente aber heuristische Orientierung in einem beweglich offenen Erkenntnisprozess zu16. über einen Gegenstand als Ganzen (im Gegensatz zu diskursiven Operationen). Anschauung und Intuition verweisen damit als Begriffe auf die von Hegel in Bezug auf Goethe thematisierte enge Korrespondenz der zwei Seiten von Erkenntnis. Vgl. zu den Begriffen Friedrich Kaulbach: Anschauung, in: Joachim Ritter u.a. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel 1971, Sp. 340–347, sowie Th. Kobusch: Intuition, in: Joachim Ritter u.a. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Basel 1976, Sp 524–540. Mit beiden Begriffen in ihrer erkenntnistheoretischen Bedeutung sind zentrale Untersuchungsaspekte meiner Arbeit genannt, die sich insbesondere im Anschluss an Aisthesis ergeben. Dass Intuition heute randständig diskutiert wird und welche Bedeutung sie haben könnte, erläutert: Wolfgang Nieke: Intuition aus philosophischer und erziehungswissenschaftlicher Sicht, in: Maximilian Buchka (Hrsg.): Intuition als individuelle Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit in der Heilpädagogik, Luzern 2000, S. 11–23. Lambert Wiesing diskutiert im Rahmen seiner Phänomenologie Intuition randständig als »phänomenologisches Wissen« und als »phänomenologische Gewißheit« (Lambert Wiesing: Das mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, Frankfurt/M. 2009, u.a. S. 74); auf seinen phänomenologischen Ansatz, der sich dominant auf sinnliche Wahrnehmung bezieht, werde ich wiederholt zurückkommen, denn an ihm kann Goethes Programmatik innerer oder geistiger Anschauung kontrastiv und ergänzend entwickelt werden. Vgl. auch Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken, München 202011. Kahneman untersucht Denkmuster von Verstand/Vernunft (langsames Denken) und von Intuition (schnelles Denken). Für Intuition bestimmt Kahneman die Bedeutung von Heuristik, Übung in bestimmten Denkmustern, Sachverstand und Fachwissen dahingehend, dass bei entsprechenden Voraussetzungen bei einem Urteil oder in einer Entscheidungssituation ein besonderer erkennender Zugriff auf die Situation vorliege; er zitiert zur Erläuterung Herbert Simon: »Die Situation liefert einen Hinweisreiz; dieser Hinweisreiz gibt dem Experten Zugang zu Informationen, die im Gedächtnis gespeichert sind, und diese Informationen geben ihm die Antwort. Intuition ist nicht mehr und nicht weniger als Wiedererkennen« (S. 23). Im Anschluss an diese Bestimmung wähle ich Mustererkennung als Bezeichnung für den entsprechenden Sach- und Aktivierungszusammenhang bei Goethe, übernehme aber nicht die enge Bestimmung von Intuition, sondern diskutiere weitere Optionen im Kontext von Aisthesis. Vgl. auch Jost Schieren (Hrsg.): Rationalität und Intuition in philosophischer und pädagogischer Perspektive, Frankfurt/M. u.a. 2008. Darin eine Reihe von Aufsätzen zum Thema. 15 Vgl. zu Formen von Gewißheit modellfreier Phänomenologie Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., besonders S. 73–75. 16 Im Kontext des obigen Zitates heißt es dazu: »Der Zusammenhang also ist nur auf unbestimmte Weise, eine bloß innere Einheit, die wir ahnen, ohne ihn bestimmt denkend zu erkennen [...]. Der Gang, den wir nehmen, ist nun, daß dieser unbestimmte Zusammenhang eigentümlichen Inhalt bekommt, sich in sich bestimmt« (Georg Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (1823), a.a.O., S. 61). Dieser Erfahrungsprozess wird von Hegel als Erkennen der Schönheit als einer lebendigen Einheit von Form und Ma-

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1 Vorüberlegungen

Unter diesen Vorzeichen wird insbesondere der Atmosphärenbegriff Gernot Böhmes für die Rekonstruktion zu berücksichtigen sein17. • Äußere Vielfalt und innere »Einheit der Bildung«18: Im Rahmen der Relation innen/außen19 betont Hegel, dass in einer »Stufenfolge« (der scala naturae), der »geistige[n] Leiter« Goethes20, eine universelle Gesetzlichkeit von Bildung in der »Ordnung des Begriffes« äußere Verschiedenheit und Vielfalt bewirkt21. • Goethe ist mit seinen naturwissenschaftlichen (und im Kontext des Zitats seinen historisch- ästhetischen) Denkformen Repräsentant eines solchen Erfahrungswissens und eines solchen Begriffs von Bildung. Zum einen konturiert Hegel demnach einen epistemischen Sinnbezirk22, in welchem erfahrungsbasierte Aisthesis mit ihren Konstituenten als Matrix von Erkennen bestimmt wird; dabei bleibt die Ertragsleistung von Intuition im Sinne Goethes unterbestimmt. Goethe konzeptioniert Anschauung konsequent epistemisch hybrid: Neben äußerer sinnlicher Anschauung ist Intuition ein Erkenntnisvermögen innerer Anschauung. Erkenntnis wird von ihm als ein Prozess zentrifugal-zentripetaler Wechselwirkung23 zwischen Objekt und Subjekt verstanden. »Soweit Goethe Philosoph ist, ist sein ständiges Thema das [ambivalente; J.S.] Verhältnis von Idee und Erscheinung«24, betont Hermann Schmitz. Goethe selbst bezeichnet seine Betrach-

17 18 19 20 21 22 23

24

terie erläutert (»die Form wohnt der Materie in[ne]«; ebd.). Auf intuitive und diskursive Formen des Erkennens und Urteilens ist damit hingewiesen. Deren jeweilige Bedeutung wird für Goethes Epistemologie zu erschließen sein. Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Berlin 72013. Böhmes Ästhetik als eine »allgemeine Theorie der Wahrnehmung« (S. 47) ist in dieser Hinsicht die entscheidende Referenztheorie meiner Arbeit. Georg Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (1823), a.a.O., S. 58. Zur Relation von innen/außen vgl. Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, a.a.O., S. 202–207. Zur Bedeutung der scala naturae bei Goethe vgl. Margrit Wyder: Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformation, Köln, Weimar, Wien 1998. Vgl. den Bezug zu ästhetischen Denkmustern (Kap. 3.2) sowie auch die Ausführungen zur hermeneutischen Methode (Wilhelm Dilthey, Eduard Spranger) am Ende dieses Kapitels. Zur Bedeutung und Verwendung des Begriffes Sinnbezirk vgl. Jost Trier: Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes, Heidelberg 21973. Die ursprünglich aus der Physik stammenden Begriffe zentrifugal-zentripetal verwende ich im Anschluss an die von Jürgen Gerigk für die Hermeneutik erläuterte Bedeutung. Vgl. Jürgen Gerigk: Unterwegs zur Interpretation. Hinweise zu einer Theorie der Literatur in Auseinandersetzung mit Gadamers »Wahrheit und Methode«, Hürtgenwald 1989, S. 13 f. und S. 158–185. Hermann Schmitz: Das Ganz-Andere. Goethe und das Ungeheure, in: Peter Matussek (Hrsg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur, München 1998, S. 414.

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tungsweise unter methodologischer Perspektive als »anschauende[n] Begriff«25; seinem Selbstverständnis als Forscher, »daß mein Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen sei«26, korrespondiert die, von Schiller formulierte, Auffassung in Bezug auf sein Erkenntnisvermögen: »Ihr Geist wirkt in einem außerordentlichen Grade intuitiv, und alle Ihre denkenden Kräfte scheinen auf die Imagination, als ihre gemeinschaftliche Repräsentantin gleichsam kompromittiert zu haben«27. Dabei bildet die Betrachtungsweise besondere Muster aus, die in neuen Anwendungssituationen als solche operieren und lenkende Funktion im epistemischen Prozess als Mustererkennung haben28. Zum anderen perspektiviert Hegel Goethes Bildungsbegriff, dessen morphologischer Begründungszusammenhang auf einen Gestaltbegriff hindeutet, in dessen Spektrum Ganzheit modelliert ist und der damit neben der epistemischen eine ontologische Option enthält. Diese nehme ich zum Ausgangspunkt, um den Ertrag des programmatischen Zusammenhangs von Selbstbildung als Leitmotiv Goethe’schen Denkens zu umreißen. Als entscheidender Ertrag meiner Rekonstruktion kann gelten, dass Goethe über den Gestaltbegriff und den Geniebegriff Möglichkeiten von Ganzheit und in diesem Zusammenhang von Identität und Partizipation modelliert, wobei sich sein 25

Brief vom 27. Dezember 1780 an den Herzog von Sachsen-Gotha und Altenburg, in: FA 29: 320; vgl. zum hier nur angedeuteten Gesamtkomplex dieses Determinativkompositums ausführlich Kap. 4 und 5. 26 Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort, in: FA 24: 595, eine Charakteristik durch Johann Christian Friedrich August Heinroth in dessen »Lehrbuch der Anthropologie« von 1822, die Goethes Selbstverständnis zum Ausdruck bringt (vgl. Kommentar FA 24: 1124). Frank Fehrenbach spricht in diesem Zusammenhang von einem »empfangend-gestaltenden Doppelwesen des Sehens«, in welchem sich »aisthetische und epistemologische Fragestellungen [vermischen]«. Frank Fehrenbach: »Das lebendige Ganze, das zu allen unsern geistigen und sinnlichen Kräften spricht«. Goethe und das Zeichnen, in: Peter Matussek (Hrsg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur, München 1998, S. 128–156, Zitate S. 133. Fehrenbach klärt dabei nicht, was er unter dieser Vermischung versteht und belässt es bei dieser Feststellung. 27 Brief vom 31. August 1794, in: MA 8.1: 19. 28 Goethe versteht u.a. die systematische Anlage von Sammlungen »geognostischer Folge[n]« im Sinne von »belehrenden Mustern«; vgl. Tag- und Jahreshefte FA 17: 304, sowie zur Rekonstruktion besonders Kap. 5.4. In Bedenken und Ergebung problematisiert Goethe das Verhältnis von Idee und Erscheinung und führt die Tätigkeit der Weberin als Analogon für Denkmuster/Mustererkennung an: »So schauet mit bescheidnem Blick/Der ewigen Weberin Meisterstück,/Wie ein Tritt tausend Fäden regt/[…]/Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt« (FA 24: 450); vgl. dazu Uwe Pörksen: Deutsche Naturwissenschaftssprachen. Historische und kritische Studien, Tübingen 1986, S. 90 ff. Vgl. zu Intuition und Mustererkennung Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken, a.a.O.

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Denkmuster der »Kluft«29 als innovative Perspektive von widerständiger bildender Erfahrung im Sinne produktiver Realitätsverarbeitung (Klaus Hurrelmann30) zeigt. Bei dieser fungiert auch Aisthesis als irritierender Faktor, der auf den Eigenwert von Erkenntnis insistiert und sich nicht an einem möglichen funktionalen Nutzen, sondern an den immanenten Bedürfnissen und Möglichkeiten der Betrachtung orientiert. Wenn sich in dieser epistemischen Hinsicht Goethes Leitmotiv schon konsequent fremdbestimmter sowie nutzen- und anwendungsbezogener Vereinnahmung entzieht – und damit interessante Potentiale für den bildungsphilosophischen Diskurs birgt –, so begreift Goethes Kluftbegriff die Irritationen bildender Erfahrung nicht allein als Dekomposition, sondern als Aktivierungspotential für Transformationsprozesse von Selbstbildung. Das Klufterlebnis erzeugt eine Ambiguität, deren Überschusspotential von der Person der Erfahrung in mehrfacher Hinsicht produktiv verarbeitet wird. In diesem Zusammenhang verbindet Goethe bspw. mit Forschung eine für postmoderne Denkmuster im Zeitalter umfassender ökonomischer Vereinnahmung interessante Optionen von Widerständigkeit; Wissenschaft sei die Sache von Individuen: Diese [die Individuen der Forscher; J.S.] ... verhalten sich immer auf dieselbe Weise gegen jedes Jahrhundert [...]. Sie stehen […] im Gegensatz, ja im Widerstreit.31

Dieser produktive Konflikt, der exemplarisch für das grundsätzliche Verhältnis von Individuum und Welt angesehen werden kann, motiviert eine besondere Form von Bildung: Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird. Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.32 29 Bedenken und Ergebung, in: FA 24: 449. Goethe geht davon aus, dass es eine prinzipielle Kluft zwischen Erscheinung und Idee gebe. Diese Diskrepanz betont er auch für andere Zusammenhänge. 30 Klaus Hurrelmann: Sozialisation. Das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung, Weinheim und Basel 102012. 31 Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, in: FA 23/1: 613 f. Vgl. auch Bezüge zum Denkmuster wissenschaftlicher Revolutionen bei Thomas Samuel Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962), Frankfurt/M. 222011. 32 Bedeutendes Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort, in: FA 24: 595 f. Fernab von präformativen Denkmustern liegt hier ein primär epigenetisch orientierter Bildungsbegriff vor, dessen Komponenten in meiner Rekonstruktion in ihren jeweiligen Aktualisierungszusammenhang erschlossen werden. Vgl. zu angeblich präformativen Denkmus-

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Goethe modelliert mit diesem Gedanken Erfahrung als Umwandlung oder Umbildung mit konstitutiver Funktion für das Individuum. In dieser Perspektive findet Erfahrung auch in ihrer dekonstruktivistischen Variante ihr Ziel in einer spezifischen Selbstbildung33, die als leitmotivisches Denkmuster Goethes gegenüber aktuell diskutierten Konzepten transformatorischer Bildung und bildender Erfahrung als umbildende Erfahrung im Sinne des Metamorphosebegriffes verstanden werden kann – als Organbildung des Subjektes mit konstitutiver Funktion: »Mache ein Organ aus dir«34. Ein solcher Bildungsbegriff scheint zwar vormodernen Denkmustern35 zu folgen, doch kann er auch als eine Art Spiegel fungieren, in welchem eventuell vernachlässigte und weiterführende Optionen von Bildung unter den Bedingungen der Moderne diskutiert werden können36. In mehrfacher Hinsicht werden in dem aufgezeigten Denkmuster solche Optionen von mir rekonstruiert und in ihrem Ertrag als innovative Denkmuster im aktuellen Bildungsdiskurs diskutiert. Zum einen geht Goethe von einer Vielzahl unterschiedlicher Potentiale aus, die den Menschen ausmachen. Konkret realisieren diese sich immer in spezifischer Weise, Auswahl und Gewichtung. Goethe wendet sich in diesem Zusammenhang aber entschieden gegen jede verallgemeinernde Hierarchisierung. Es

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tern bei Goethe die meiner Ansicht nach kaum haltbaren Erläuterungen von Andreas Anglet im Goethe-Handbuch Bd. 4/1, S. 381–383. Selbstbildung verstanden als alternatives Konzept zu Allgemeinbildung; vgl. dazu unten über Wilhelm von Humboldt sowie Kap. 3.2. Goethe verwendet den Begriff Selbstbildung in Bezug auf seine Person meines Wissens nur einmal zwischen dem 12.10.1809 und Juli 1810, und zwar in den Paralipomena zu Dichtung und Wahrheit, wo er für das Jahr 1767, also sein achtzehntes Lebensjahr, notiert: »Alles nach innerer Erfahrung / Selbstbildung durch Verwandl des Erlebten in ein / Bild« (FA 14: 864, vgl. zur Entstehung den Kommentar S. 1304). So Montan in Wilhelm Meisters Wanderjahren, zweite Fassung von 1829, in: FA 10: 295. Vgl. u.a. Jost Schieren: Goethes meditatives Naturerkennen, in: ders. (Hrsg.): Rationalität und Intuition in philosophischer und pädagogischer Perspektive, Frankfurt/M. u.a. 2008, S. 65–82, besonders S. 73 f. und S. 80 zum Begriff des Gefäßes, mit dem Schieren das beschreibt, was ich mit Goethes Worten als Organ beschreibe. Mir scheint ein solcher Bildungsbegriff, auch wenn aktuell der transformatorische Bildungsbegriff Kollers als Referenz gelten muss, noch am ehesten vergleichbar mit dem, was Iwan Illich als Bildung anhand des Lektürebegriffs des mittelalterlichen Hermeneutikers Hugo von St. Viktor rekonstruiert. Dieser begreift in noch vormoderner Weise Bildung als Organbildung und nicht als funktionales Instrument inventarisierten Wissens; vgl. Iwan Illich: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand, Frankfurt/M. 1991. Vgl. die entsprechende Rekonstruktion und Diskussion von z.T. vormodernen Komponenten und ihrer aktuellen Relevanz bei Goethe in dieser Arbeit.

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gebe keine oberen und unteren Potentiale, alle haben »gleiche Rechte«37. Goethe nennt ausdrücklich »Sinnlichkeit und Vernunft, Einbildungskraft und Verstand, […] eine exakte sinnliche Phantasie«38. Dieses Verständnis des ganzen Menschen steht widerständig zu vernunftorientierten anthropologischen Bestimmungen des Menschen der Aufklärung und wird hinsichtlich seiner Möglichkeiten zu befragen sein. Zum anderen gehört für Goethe zur umbildenden Erfahrung des Subjektes, dass dieses als bewusst operierendes Realitätsprinzip der Person eine spezifische Differenzerfahrung zum Unbewussten hat, Goethe spricht gegenüber Schiller einmal von einer »Art Dunkelheit«39 und verweist damit auf jene widerständige Schicht des Bewusstseins, die u.a. Aktionspotential von Kreativität und Intuition ist40: Jede Produktivität höchster Art, jedes bedeutende Aperçu, jede Erfindung, jeder große Gedanke der Früchte bringt und Folge hat, steht in Niemandes Gewalt und ist über aller irdischen Macht erhaben. […] Es ist dem Dämonischen verwandt, das übermächtig mit ihm [dem Menschen; J.S.] tut wie es beliebt […] [,] während er [der Mensch; J.S.] glaubt, er handele aus eigenem Antriebe.41

Das Dämonische, der innere Dämon/ΔΑΙΜΩΝ, kann als ein »Leitbegriff« im Denken Goethes42 angesehen werden. Der Geniegedanke, jede Art Produktivität, aber 37 Ernst Stiedenroth Psychologie zur Erklärung der Seelenerscheinungen erster Teil. Berlin 1824, in: FA 24: 614. 38 Ebd. 39 Brief vom 27. August 1794, in: MA 8.1: 17 40 Jean Paul hat in seiner Vorschule der Ästhetik (1803/04) diesen Bereich schon als das Unbewußte bezeichnet: »Das Mächtigste im Dichter […] ist gerade das Unbewußte. […]. [E]twas Dunkles, was nicht unser Geschöpf, sondern unser Schöpfer ist [...]« (Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. Nach d. Ausg. von Norbert Miller hrsg., textkrit. durchges. und eingel. von Wolfhart Henckmann, Hamburg 1990, S. 60.). 41 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, in: FA 39: 637, Gespräch vom 11. März 1828. 42 So Theo Buck im Artikel Dämonisches in: Goethe-Handbuch, 4/1, S. 179. Dieser Begriff Goethes umfasst sowohl eine äußere, Welt, Natur (vgl. zu Welt und Natur als einem entelechischen Organismus u.a. den Brief vom 18. Juli 1828 an Heinrich Emil Friedrich August von Beulwitz: »Die vernünftige Welt ist als ein großes unsterbliches Individuum zu betrachten, welches unaufhaltsam das Notwendige bewirkt und dadurch sich sogar über das Zufällige zum Herrn erhebt«, in: FA 38: 18 und Kommentar S. 592) und Einzelschicksal umgreifende (vgl. »Urworte orphisch: ΔΑΙΜΩΝ«, in: FA 24: 439) als auch eine innere Dimension, diese als verborgene Tiefenstruktur des Individuums, die als inneres Energiezentrum verstanden werden kann, das widerständig Einspruch gegen die Operationen des Subjekts erheben, aber auch kreatives Aktionspotential zu dessen

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auch epistemische Vermögen wie Ahnung und Intuition, gehören in diesen Sinnbezirk des Dämonischen, das von mir an exemplarischen Werken Goethes rekonstruiert wird. So steht sein »poetischer Bildungstrieb«43 bspw. in spannungsreichem Verhältnis zu seiner Produktivität als bildender Künstler. Die Wechselwirkungen von ästhetischer Formung – »wörtlich und bildlich«44 – sind aktiv und programmatisch von Goethe gestaltete Bereiche seiner Selbstbildung, mit denen er neue Sehweisen und Denkmöglichkeiten erprobt. Das Klufterlebnis als Differenzerfahrung der Prozeduren des inneren kreativen Aktzentrums und der Gestaltungen des bewusst agierenden Subjekts ermöglicht, eine kreativ-widerständige Selbstbildung zu praktizieren, die eine perspektivisch offene Identität auf der Folie prinzipieller Kontingenzerfahrung modelliert. Diese Identitätsmodulationen konzeptionieren perspektivische dynamische Differenzzusammenhänge offener Ganzheit. Damit ergibt sich ein ontologisch begründeter Sinnhorizont von Identität, in welchem labile Ich-Kohärenz in einer dialektischen Dynamik und im Modus eines radikal offenen Strebens auf der Folie prinzipieller Kontingenzerfahrung in veränderbaren Kontexten generiert wird. In den Diskurs über Bildung werden mit diesen Komponenten Handlungsmustern beisteuern kann. Buck hebt denn auch in dem Handbuch-Artikel u.a. das produktiv-kreative Potential, die »unerforschliche innere Gesetzlichkeit des Menschen« mit semantischen Schnittmengen zum Entelechiebegriff hervor (S. 180). In seiner aktuell viel beachteten Biographie über Goethe geht u.a. auch Rüdiger Safranski auf das Dämonische ein; ich erwähne das an dieser Stelle, weil Safranski nur einen konkreten Anlass für eine Reflexion Goethes über das Dämonische darstellt (Napoleon), dabei aber die Bedeutung als Leitmotiv ganz außer Acht lässt, dessen Spur sich, wenn man dessen Sinnbezirk erschließt, durch Goethes Leben und Werk zieht. Vgl. Rüdiger Safranski: Goethe. Kunstwerk des Lebens, München 2013, S. 536 f. Vgl. im Gegensatz dazu differenzierend und plausibel Hermann Schmitz: Das Ganz-Andere. Goethe und das Ungeheure, a.a.O., S. 424–435; vgl. auch: ders.: Goethes Altersdenken im problemgeschichtlichen Zusammenhang (1959), Bonn 2008, S. 217–231. Zur Bedeutung und genaueren Begründung des Dämon- Begriffes u.a. ausführlich Kap. 2.1 und Kap. 4.2.4 sowie zum Entelechiebegriff auch Kap. 7. 43 In der autobiographischen »Selbstschilderung«, wahrscheinlich um den 25. August 1797, ist die Rede davon, dass ein »[i]mmer tätiger nach innen und außen fortwirkender poetischer Bildungstrieb« das Aktzentrum seiner, Goethes Existenz sei, vgl. MA 4.2: 515, zur Datierung vgl. den Kommentar MA 4.2: 1135. 44 Heißt es in Tag- und Jahreshefte, FA 17: 304; Goethe reflektiert an dieser Stelle 1820 anlässlich seiner Untersuchungen der Granitformationen der sogenannten Luisenburg den Zusammenhang von Wort und Bild. Vgl. zum Wandel von Goethes Selbstverständnis als Zeichner u.a. Frank Fehrenbach: »Das lebendige Ganze, das zu allen unsern geistigen und sinnlichen Kräften spricht«. Goethe und das Zeichnen, a.a.O., S. 129–133, sowie Uwe Pörksen: Raumzeit. Goethes Zeitbegriff aufgrund seiner sprachlichen Darstellung geologischer Ideen und ihrer Visualisierung, in: Peter Matussek (Hrsg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur, München 1998, S. 101–127.

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neue Denkmuster eingebracht. Im Sinnbezirk des Kluftbegriffs wird transformatorische Bildung neu orientiert, weil über diesen Identitätskonzeptionen möglich werden, die bei Dekompositionskonstruktionen vernachlässigt oder bestritten werden oder nicht erklärbar sind. Weitere fachwissenschaftlich bisher nicht berücksichtigte Perspektiven ergeben sich auch durch die Kreativitätspotentiale. Kreatives Handeln ist nicht zu verordnen oder planbar zu veranlagen. So liegt der besondere Reiz von Goethes Bildungskonzept gerade darin, mit ihm einen besonderen Raum für Bildung zu fordern. Bildung als Selbstbildung findet bei ihm in Gegenräumen zu den historisch-gesellschaftlichen und sozio-kulturellen Bedingungen statt45. Nicht allein in ästhetischer Betrachtung und Produktivität, wie heute z.T. im Bildungsdiskurs thematisiert46, sondern insbesondere auch durch das Hinaustreten in den Erfahrungsraum der Natur, der dabei auch zum Forschungsraum werden kann: Ein Muster für Bildung mit innovativem Potential, das, soweit ich sehe, bisher nur randständig in seiner Bedeutung, die auf Teilhabe zielt, diskutiert worden ist. Von besonderer Bedeutung sind dabei auch die für Bildung privilegierten Gegenstände: Ihnen wird keine kulturell sanktionierte und allgemeingültige erbaulich-vorbildhafte Bedeutung zugesprochen, sondern sie entfalten ihre Wirkung je aktuell in konkreter Erfahrung, in der sie zur Autorität für das erlebende Subjekt werden47. Die hermeneutische Prämisse meiner Rekonstruktion verdanke ich einem Hinweis Goethes zum Umgang mit seinem Werk anlässlich der zweiten Gesamtausgabe in einem Brief an Karl Friedrich Zelter vom 22. Juni 1808: Die Fragmente eines ganzen Lebens nehmen sich freilich wunderlich und inkohärent genug neben einander aus; deswegen die Rezensenten in einer gar eigenen Verlegenheit sind, wenn sie mit gutem oder bösem Willen das Zusammengedruck45 Als soziologische Referenztheorie für diesen Themenkomplex ist Klaus Hurrelmann: Einführung in die Sozialisationstheorie, Weinheim und Basel 92006, zu nennen. Hurrelmanns Modell der produktiven Realitätsverarbeitung differenziert für die Persönlichkeitsentwicklung nach persönlicher Individuation und sozialer Integration (vgl. dazu die »Sieben Thesen zur Sozialisation«, S. 23–39) und bietet damit ein soziologisches Modell für die Rekonstruktion von Selbstbildung bei Goethe. Dabei wird sich zeigen, dass Goethes Selbstbildungsansatz interessante Realisierungsvarianten mit durchaus neuen Perspektiven anbietet. Vgl. auch Klaus Hurrelmann: Sozialisation. Das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung, Weinheim und Basel 102012, besonders S. 54–70. 46 So u.a. Eckart Liebau; Jörg Zirfas: Die Sinne, die Künste und die Bedeutung. Ein Vorwort, in: dies. (Hrsg.): Die Sinne und die Künste. Perspektiven ästhetischer Bildung, Bielefeld 2008, S. 13. 47 Vgl. dazu aus philosophischer Sicht Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik (2009) Frankfurt/M. 2011, S. 37–51.

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te als ein Zusammengehöriges betrachten wollen. Der freundschaftliche Sinn weiß diese Bruchstücke am besten zu beleben.48

Nach diesem Hinweis bietet es sich an, die »Bruchstücke« des Ganzen in der Genese von Leben und Werk anhand exemplarischer Dokumente in konkreten Verwendungssituationen zu rekonstruieren, ohne vorschnell zugunsten einer vermeintlich kohärenten Einheit die Differenzen des Sinnzusammenhangs zu verwischen. Die Rekonstruktion von Aisthesis in ihrer Bedeutung für Selbstbildung will deshalb verschiedene Realisierungsvarianten in jeweils konkreten Aktivierungszusammenhängen freilegen, um in deren Spiegelung Optionen und Dimensionen von Bildung ausloten zu können. Zum historischen Kontext

Mit den angedeuteten Gesichtspunkten der spezifischen Ausprägung des Leitmotivs Bildung bewegt sich Goethe im Kontext eines intensiven Diskurses, der in z.T. kritischer Differenz historisch-systematischer Bezugspunkt seiner Überlegungen ist. Unter soziologischer Perspektive betrachtet, spricht Niklas Luhmann geradezu vom »Take-off der Pädagogik als Wissenschaft«49 im 18. Jahrhundert. Bildung ist seither ein Leitbegriff, der zum »Kernbestand pädagogischer Reflexion«50 gehört. Auch philosophische Reflexion über Bildung betont, dass der in der Goethezeit entwickelte Begriff von Bildung »wohl der größte Gedanke des 18. Jahrhunderts«51 sei und ein »SichBilden«52 des Individuums in Auseinandersetzung mit der Welt meine. Hans-Georg Gadamer interpretiert den Begriff Bildung der Goethezeit bspw. nicht in erster Linie als Kultivierung bestimmter Funktionsmuster (Ausbildung), er sei auch nicht nur und primär als das Erlernen und Anwenden von Instrumentarien, Techniken und Methoden zur Bewältigung von Aufgaben und Problemen (Kompetenzen) zu verstehen, Bildung erschöpfe sich nicht in Aufklärung (Emanzipation, Autonomie, Mün48 FA 33: 326. 49 Niklas Luhmann, K.-E. Schnorr: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, Frankfurt/M. 1988, S. 140–150. 50 Yvonne Ehrenspeck: Philosophische Bildungsforschung: Bildungstheorie, in: Rudolf Tippelt; Bernhard Schmidt (Hrsg.): Handbuch Bildungsforschung, Wiesbaden 32010, S. 155–169, S. 155. 51 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), Tübingen 41975, S. 7. Vgl. dazu Arnd Kerkhecker: Die Bedeutung der humanistischen Tradition für die Geisteswissenschaft (GW 1,9-47), in: Günter Figal (Hrsg.): Hans-Georg Gadamer. Wahrheit und Methode, Berlin 2007, S. 9–28. 52 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 8.

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digkeit, kritisches Bewusstsein) oder Wissen (Fundus von Kenntnissen). Im Sinne des Selbstverständnisses der philosophischen Hermeneutik als einer »Grundbewegtheit des Daseins«53, die »das Ganze der menschlichen Welterfahrung und Lebenspraxis«54 umgreift, bedeute Bildung das entscheidende Kompositionsprinzip des als einmalig unvergleichlich verstandenen Individuums, die gebildete Persönlichkeit das Ziel des Bildungsprozesses55. Bildung ist unter diesen Vorzeichen von Ausbildung abzugrenzen: »Der Begriff Bildung ruft Einheits-, Universalitäts- und Totalitätsideale auf und tritt mit dieser Aura als Ergänzung und Korrektiv neben das gezielte Erwerben von Spezialwissen und Sachkompetenz«56. Ich werde die Ideengeschichte des Bildungsbegriffs und exemplarischer Paradigmen der Bildungsphilosophie des 18. Jahrhunderts als Folie nutzen, um das spezifische Denkmuster Goethes zu profilieren. So sehr sich auch Goethe im Rahmen der Denkmuster bewegt, wird doch zu zeigen sein, dass er den Optimismus der Identitätskonzepte des 18. Jahrhunderts, insofern diese ein mit sich selbst identisches kohärentes Subjekt konstituieren, nicht teilt. Goethe denkt, wie für das Verhältnis von Subjekt und Dämon im Vorherigen angedeutet, eine Kluft zwischen anvisiertem Selbst und weiteren Facetten der Person. Die sich als Resonanzraum ihrer Potentiale vielfach konkretisierende und konstituierende Person entzieht sich eindeutiger Erkenntnis und kohärenter Beschreibung57. Mit Aisthesis liegt zudem ein Konzept vor, das im Vergleich zu ästhetischer Bildung (Schiller) sich nicht auf die Rezeption von Kunst begrenzt58, sondern den Erfahrungsraum der Natur als Gegenraum für 53 Ebd., S. XVIII. 54 Ebd., S. XVII. An anderer Stelle hebt Gadamer hervor: »Bilden ist nicht Machen. Das Wort Bildung läßt immer ein organisches Bedeutungsganzes anklingen, auch wenn wir das oft nicht genug realisieren. Bildung meint nicht primär, daß wir einem rohen Stoff eine Form aufzwingen, sondern daß etwas auf seine Form herausgeführt wird.« Hans-Georg Gadamer: Verlust der sinnlichen Bildung als Ursache des Verlustes von Wertmaßstäben, in: Hans Wichmann u.a. (Hrsg.): Der Mensch ohne Hand oder Die Zerstörung der menschlichen Ganzheit. Ein Symposion des Werkbundes Bayern, München 1979, S. 23. 55 Vgl. als exemplarische Begriffsbestimmung mit gleicher Semantik im Rahmen geschichtlicher Grundbegriffe auch: Rudolf Vierhaus: Bildung, in: Otto Brunner; Werner Conze; Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 2004, S. 515–518. Vierhaus diskutiert die angedeutete Semantik des Bildungsbegriffs insbesondere für Herder und Goethe. 56 Aleida Assmann: Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt/M. 1993, S. 9. 57 Zur Differenzierung von Subjekt und Dämon sowie Individuum vgl. Kap. 2.1. 58 Im aktuellen bildungs- und erziehungswissenschaftlichen Diskurs wird die Rezeption von Kunst als konstitutiv für ästhetische Bildung angesehen. Die Künste bieten etwa für Eckart Liebau und Jörg Zirfas im Vergleich zu den Gegenständen der Alltagswelt

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Bildung erschließt, das Spektrum einer widerständigen Bildung also maßgeblich erweitert und differenziert59. In diesem Sinne ist o.g. Selbstbildung ein bedeutendes Bildungskonzept, weil es in Bezug auf die »Individualitätsproblematik der Moderne«60 entscheidende Alternativen zu Allgemeinbildungskonzepten bietet, deren Anspruch in der zeitgenössischen Bildungswirklichkeit immer fragwürdiger zu werden scheint. Im Rahmen der Erziehungs- und Bildungswissenschaft beruft sich bildungsphilosophische Reflexion und Theoriekonstruktion jedoch nach wie vor auf die philosophischen Systeme61 Immanuel Kants, Johann Gottlieb Fichtes und Georg Wilhelm Friedrich Hegels sowie auf die humanistisch und idealistisch geprägten Theorien Johann Gottfried Herders und Friedrich Schillers, dessen Konzept ästhetischer Bildung62, vor allem aber auf Wilhelm von Humboldts Konzept von Allgemeinbildung63 als paradigmatischem »Referenzpunkt für [...] Bildung«64. Goethe

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die Vorteile, im zweckfreien dialektischen Spiel der Rezeption u.a. Selbstbegegnung und »Erfahrungen der Offenheit, Mehrdeutigkeit, Differenzierung und Kontingenz« zu ermöglichen: Eckart Liebau; Jörg Zirfas: Die Sinne, die Künste und die Bedeutung. Ein Vorwort, in: dies. (Hrsg.): Die Sinne und die Künste. Perspektiven ästhetischer Bildung, Bielefeld 2008, S. 13. Wenn von mir Goethes Konzept von Aisthesis im Rahmen seiner naturwissenschaftlichen Schriften rekonstruiert wird, folge ich nicht dieser Eingrenzung von ästhetischer Bildung auf Rezeption von Kunst, sondern verorte die Programmatik von Aisthesis in einem weiter gefassten epistemischen Spektrum, vgl. dazu u.a. Kap. 3.2 sowie meine Rekonstruktion unterschiedlicher Aktivierungszusammenhänge bei Goethe. Vgl. zur Transformation des Ästhetischen Gernot Böhme: Atmosphäre, a.a.O. Dirk Kemper: »ineffabile«. Goethe und die Individualitätsproblematik der Moderne, München 2004, Zitat S. 2. Kemper sieht die Ursache der Individualitätsproblematik u.a. in der »Dekonstruktion der Korrespondenztheorie zwischen der Ordnung des Seins und der Ordnung des Denkens, wie sie […] durch die Transzendentalphilosophie [von Kant; J.S.] vollzogen« (S. 6) worden ist. Vgl. u.a. auch Rüdiger Safranski: Goethe. Kunstwerk des Lebens, a.a.O., S. 15. Safranski betont an dieser Stelle seiner Vorbemerkung, dass heute, wo »die Zeiten nicht günstig für die Entstehung von Individualität« seien, Goethes Biographie als exemplarisches Beispiel für ein in dieser Hinsicht gelingendes Leben verstanden werden kann. Vgl. den historisch-systematischen Abriss bei Andreas Dörpinghaus, Andreas Poenitsch, Lothar Wigger: Einführung in die Theorie der Bildung, Darmstadt 32009, S. 54–93. Vgl. Jörg Soetebeer: Selbsttätige Bildungskraft heute. Schiller, Stuttgart 2010, S. 114–158. Vgl. bspw. zum Bezug zu aktuell diskutierter transformatorischer Bildungsprozesse HansChristoph Koller: Bildung anders denken, a.a.O., S. 11–15. Christiane Thompson: Bildung und die Grenzen der Erfahrung. Randgänge der Bildungsphilosophie, a.a.O. S. 34. Seit Ende der 80er Jahre vertritt bspw. Wolfgang Klafki die modifizierte und erweiterte kritisch-konstruktive Didaktik verstärkt als ein »zeitgemäßes Konzept allgemeiner Bildung«. Vgl. Wolfgang Klafki: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik, (1985) Weinheim 62007. Klafki versucht empirische Forschung und Sozialtheorie in sein Konzept von Allgemeinbildung zu integrieren, den »historisch- hermeneutischen Ansatz […]

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bildet dabei eine Ausnahme. Seine Ideen spielen im Diskurs über Bildung durchaus eine Rolle, primär an den literarischen Schriften orientiert und hier besonders am Wilhelm Meister65, dennoch liegen von fachwissenschaftlicher Seite heute kaum systematische Anschlussversuche vor, vergleicht man die Rezeption Goethes bspw. mit der Friedrich Schillers oder Wilhelm von Humboldts – welche sich freilich auf einen tradierten Kanon von Schriften begrenzt, aber interessante Perspektiven von Selbstbildung in den Aufzeichnungen des jungen Humboldt finden könnte66. Das hier von mir versuchte Unterfangen, Konstituenten bildender Erfahrung des Leitmotivs Bildung in den naturwissenschaftlichen und den ästhetischen Schriften Goethes zu erschließen, ist also erstaunlicher Weise im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs bisher kaum verfolgt worden67. Meiner Untersuchung bietet sich damit auch in dieser Hinsicht die Möglichkeit, einen durchaus neuen Beschreibungsansatz zu erproben, der für die Reflexion über Bildung anregende Deutungsmit dem erfahrungswissenschaftlichen (empirischen) und dem gesellschaftskritisch-ideologiekritischen Ansatz« zu verbinden (S. 9). 65 Vgl. u.a. in jüngster Zeit Andreas Lischewski: Meilensteine der Pädagogik. Geschichte der Pädagogik nach Personen, Werk und Wirkung, Stuttgart 2014. In dem Kapitel Die klassisch-idealistische Epoche (S. 163–207) werden Schiller, Humboldt, Fichte, Hegel und Pestalozzi aufgeführt, zu Goethe gibt es dagegen nur einen kurzen Hinweis S. 163, und dieser betrifft seine Bedeutung für den Bildungsroman. 66 Diesem Konzept Humboldts in seinem Bezug zu Goethes Konzept wird nachzugehen sein. Dazu wird im Kap. 3.2 Humboldts Verständnis von Individualität, von Lage, die Einbeziehung von Empfindsamkeit, Emotionalität und Reflexion in eine Ganzheitskonzeption diskutiert. Die Ideen des jungen Humboldt schließen sich eng an persönliche Erfahrungen an. Er erlebt die Ideen der Vernunft, die Leidenschaften der Seele und die Bedürfnisse des Leibes in ihrer Differenz, lehnt aber eine einseitig vernunftgestützte Sonderung und Stilisierung von Bildung ab und plädiert für eine Ganzheit des Individuums, das sich seiner Differenzen bewusst ist und diese als Chance begreift. Hier soll der in einem Brief an Georg Forster formulierte Selbstbildungsgedanke einen ersten Hinweis dazu bieten: »Die Sätze, dass nichts auf Erden so wichtig ist, als die höchste Kraft und die vielseitigste Bildung der Individuen, und dass daher der wahren Moral erstes Gesetz ist: bilde dich selbst und nur ihr zweites: wirke auf andre durch das, was du bist, diese Maximen sind mir [so] zu eigen, als dass ich mich je von ihnen trennen könnte«. In: Georg Forsters Werke, Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 18: Briefe an Forster, bearb. von B. Leuschner, S. Scheibe, H. Fiedler, K.-G. Popp, A. Schneider, Berlin 1982, S. 454. Vgl. zu den biographischen Umständen Humboldts Lothar Gall: Wilhelm von Humboldt. Ein Preuße von Welt, Berlin 2011, S. 15–137. Gall verdanke ich entsprechende Hinweise. 67 Vgl. aber die vergleichende Untersuchung von Philipp Mehne: Bildung versus Self-Reliance? Selbstkultur bei Goethe und Emerson, Würzburg 2008, sowie Christian Rittelmeyer: Bildung. Ein pädagogischer Grundbegriff, Stuttgart 2012, S. 19 f., und ders.: Pädagogische Anthropologie des Leibes, Weinheim 2002, S. 29 ff.

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perspektiven von Goethe gewinnen kann. Die weiteren Vorüberlegungen stellen dazu grundlegende Perspektiven bereit. Noch einmal – der bildungsphilosophische Diskurszusammenhang

Bildungsphilosophie hat eine Fülle von Paradigmen generiert68. Eine »Pluralisierung des Bildungsgedankens«69 bestimmt den wissenschaftlichen Diskurs. Dabei ist Bildung wie kaum ein anderer Begriff umstritten und wird von unterschiedlichen bildungs- und erziehungswissenschaftlichen Positionen verschieden gedeutet und gewichtet. In seiner Semantik oszillierend vieldeutig und atmosphärisch unscharf70, »Bildung ruft auch heute […] eine Reihe unbestimmter Assoziationen hervor«71, zudem ideologisch aufgeladen, wird Bildung denn auch als »Problemtitel« eingestuft72, verschiedentlich als ein für den wissenschaftlichen Diskurs untaugliches »Containerwort« verstanden, verbunden mit dem Vorschlag, es durch andere Begriffe, etwa den der Autopoiesis zu ersetzen73 oder ganz auf Bildung zu verzichten, zeitgemäß sei allein Lernen und Ausbildung74. Unter solchen Bedingungen erscheinen Bildungskonzepte nicht in einem vormodernen Sinne als verbindliche, unveränderliche und ewig gültige Ideen75, sondern als Konstrukte, denen bestimmte Orientierungsmuster 68 Rudolf Tippelt; Bernhard Schmidt (Hrsg.): Handbuch Bildungsforschung, Wiesbaden 32010. 69 Yvonne Ehrenspeck: Philosophische Bildungsforschung: Bildungstheorie, a.a.O., S. 161. 70 Käte Meyer-Drawe: Bildung als Selbstgestaltung. Grenzen und Möglichkeiten einer modernen Idee, in: Manfred Fassler u.a. (Hrsg.): Bildung – Welt – Verantwortung, Festschrift 50 Jahre ev. Studienwerk Villigst, Gießen 1998, S. 123–143, S. 140. 71 Aleida Assmann: Arbeit am nationalen Gedächtnis, a.a.O., S. 9. 72 Christiane Thompson: Bildung und die Grenzen der Erfahrung. Randgänge der Bildungsphilosophie, a.a.O., S. 9. 73 Dieter Lenzen: Lösen die Begriffe Selbstorganisation, Autopoiesis und Emergenz den Bildungsbegriff ab?, in: Zeitschrift für Pädagogik 43 (1997), S. 949–967, Zitat S. 949.Vgl. zum Autopoiesisbegriff Humberto R. Maturana; Francisco J. Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens, Frankfurt/M 42011, S. 55. 74 So bspw. Jürgen Oelkers: Und wo, bitte, bleibt Humboldt? Der Pisa-Studie wird vorgeworfen, sie messe keine Bildung – Das stimmt. Doch Schule ist keine Bildungs-, sondern eine Lehranstalt, in: Die Zeit, Nr. 27, 2002, S. 36. 75 Aleida Assmanns Fazit zum deutschen Bildungsbegriff lautet: »Festzustellen ist immerhin, daß der Bildungsbegriff keineswegs von der Bildfläche der bundesrepublikanischen Kultur verschwunden ist, sondern weiterhin verwendet wird und prestigiöser Gegenstand von Debatten und Untersuchungen ist. Dennoch scheint der Bildungsbegriff heute seine zentrale und zentrierende gesellschaftliche Funktion eingebüßt zu haben. Das Zentrum, auf das er verwies, die Mitte der Person oder die Mitte der Nation, existiert nicht mehr.« In: Aleida Assmann: Arbeit am nationalen Gedächtnis, a.a.O. S. 110 f. Zur soziologischen Orientie-

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und Leitideen in Konkurrenz zu anderen Konstrukten zugrunde liegen; als solche werden sie in den Diskurs eingebracht. Zwar erfolgt Theoriekonstruktion durchaus in den methodischen Grenzen eines Modells im Horizont des Anspruchs auf Wahrheit, aber im Sinne von Karl Poppers Prinzip der Falsifizierbarkeit, das Theorien und Modelle nur unter der Option ihrer möglichen argumentativen Widerlegbarkeit gelten lässt, kann es nach meinem Verständnis bei Theoriekonstruktionen nur um plausibel stimmige, nicht aber notwendig absolute Letztbegründung gehen76. Die Pluralität unterschiedlicher und gegensätzlicher Konzepte muss nicht als Gefahr wissenschaftlicher Beliebigkeit verstanden werden, sondern bietet auch interessante Chancen einer offenen Diskussion. Wenn vielleicht einmal in einer bestimmten historisch-gesellschaftlichen Situation dominierende Bildungskonzeptionen nun gleichzeitig miteinander konkurrieren, können sie in ihrer Verschiedenheit produktiv genutzt werden, indem sie bestimmte Aspekte der Bildungswirklichkeit speziell beleuchten, sich als Konzeptionen gegenseitig spiegeln, ein Konzept in seiner spezifischen Eigenart sich im Kontext abgrenzt und profiliert. Ich begreife Bildung im Sinne dieser Überlegungen als eine Reflexionsform, die ein Nachdenken darüber ermöglicht, was unter Bildung verstanden werden kann; durch einen solchen Zugriff eröffnet sich ein Feld, auf dem Goethes Leitmotiv seinen Ort im begründenden Zusammenhang seiner Komponenten, der Genese seiner kontextuellen Verwendungssituation sowie in der Auseinandersetzung mit anderen Konzepten in obigen Sinne finden kann. In meiner Untersuchung wird es demnach nicht darum gehen, den Bildungsbegriff Goethes zu extrapolieren, sondern die vielschichtigen differenzierten Dimensionen der Bildungsphilosophie Goethes anhand jeweils aktivierter Facetten in konkreten Verwendungszusammenhängen zu rekonstruieren. Dieser Erschließungsansatz erlaubt einerseits kritische Interpretation situationsbedingter Konstruktionsmuster; andererseits können Tragweite und Grenzen sowie Entwicklungstendenzen im Rahmen einer genetisch-biographischen Roadmap in holistischer Absicht ausgelotet werden. Der Kontext mit anderen Positionen erzeugt eine Pluralität, die zum »Instrument des Sehens, Denkens und Urteilens« wird77; es lassen sich Möglichkeiten und Grenzen, Ideale und Werte ideologierung meiner Arbeit vgl. Kap. 2.1, dort zu Niklas Luhmann und Klaus Hurrelmann sowie Hartmut Böhme: Natur und Subjekt, Frankfurt/M. 1988. 76 Vgl. zu Fragen von Wahrheit und Gewißheit im Sinne eines cartesischen Skeptizismus gegenüber Denkmodellen in der aktuellen Diskussion philosophischer Phänomenologie exemplarisch Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 73–91, besonders S. 76. 77 Roland Reichenbach: Philosophie der Bildung und Erziehung. Eine Einführung, Stuttgart 2007, S. 15.

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kritisch markieren, an denen Goethes Ideen von Bildung orientiert sind und durch die seine Position inhaltlich bestimmt ist. – Ein Diskurs über Bildung im Sinne der wissenschaftstheoretischen Paradigmen einer Reorganisation von Wissen (Ludwik Fleck) sowie wissenschaftlicher Revolution (Thomas Samuel Kuhn)78. Konstituenten des Bildungsbegriffs

Sinnbezirke von Bildung konstituieren sich in der wechselseitig verschränkten Auseinandersetzung von Bildungssubjekt und »bildender Erfahrung«79. Ich verwende für die Relation der sich gegenseitig bedingenden Komponenten die Begriffe zentrifugal und zentripetal 80; drei Facetten bildender Erfahrung können im Anschluss an Humboldts Bildungsdenken81 unterschieden werden: • das Bildungssubjekt und sein Bezug zu Objekten, • das Bildungssubjekt in sozialer Interaktion mit anderen Subjekten, • das Bildungssubjekt in seiner Selbstreflexion. Dabei können drei Zieldimensionen von Bildung unterschieden werden: • Aneignung von relevanten Kulturgütern, • Ausbildung von Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kompetenzen, Qualifikationen, • Bildung der Persönlichkeit. Theoriekonstruktionen von Bildung konzeptualisieren und diskutieren im Rahmen dieser Zusammenhänge mögliche Formen von Identitätsstiftung. Der wissenschaftlichen Reflexion kommt dabei im Kontext der »Individualitätsproblematik der Moderne«82 die Funktion zu, selbstreferentielle Subjektkonstitution, bildende Erfahrung und Differenzerfahrung als das Spektrum für die Bedingung der Möglichkeit von Identität zu vermessen.

78 Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre von Denkstil und Denkkollektiv (1935), Frankfurt/M. 82010. Thomas Samuel Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962), Frankfurt/M. 222011. 79 Christiane Thompson: Bildung und die Grenzen der Erfahrung. Randgänge der Bildungsphilosophie, a.a.O., S. 20; zum Verhältnis von »Ich« und »Anderssein«, das die bildende Erfahrung als ein »destruierendes wie Möglichkeitsräume eröffnendes Geschehen« konstituiert, vgl. zusammenfassend S. 76. 80 Vgl. Jürgen Gerigk: Unterwegs zur Interpretation, a.a.O., S. 13 f. und S. 158–185. 81 Vgl. dazu Andreas Dörpinghaus; Andreas Poenitsch; Lothar Wigger: Einführung in die Theorie der Bildung, a.a.O., S. 10., sowie Christiane Thompson: Bildung und die Grenzen der Erfahrung. Randgänge der Bildungsphilosophie, a.a.O., S. 34–50. 82 Dirk Kemper: »ineffabile«, a.a.O.

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Weitere Begründungszusammenhänge der Rekonstruktion

Meiner Auseinandersetzung mit der Bildungsphilosophie Goethes liegen unter den genannten Voraussetzungen folgende Annahmen zugrunde. Bildungsphilosophie bietet nach meinem Verständnis keine direkten Antworten auf konkrete Probleme und stellt deshalb auch kein funktional einsetzbares Wissen zur Verfügung, sie will vielmehr für Fragestellungen der Bildungswirklichkeit Begriffe, Einsichten und Perspektiven eines Orientierungswissens bereit stellen, das Sinnhorizonte diskutiert. Die heutige Debatte dreht sich um die Frage, welche Bildungsangebote in modernen Gesellschaften bestehen müssten83. Die ökonomischen Verhältnisse sind durch einen sich beschleunigenden Fortschritt in einem immer rascheren Wandel begriffen. Welche Bildung überhaupt Orientierung ermöglicht, lässt sich immer weniger aus den aktuellen Verhältnissen ableiten, denn Wissen und Kompetenzen haben in dieser Dynamik immer kürzere Halbwertszeiten. Folgt man dieser Einschätzung, müssten Konzeptionen von Wissen und Bildung entwickelt werden, welche von aktuellen Erfordernissen emanzipierte Orientierungsmuster für »moderne Nomaden«84 aufzeigen; zudem werden durch die funktional-instrumentellen Forderungen und ökonomischen Vereinnahmungen immer mehr die Schattenseiten des Fortschritts sichtbar, gefragt sind Kompensationsmöglichkeiten85. Es ist zu erwarten, dass ein widerständiges Bildungskonzept mit subversivem Potential interessante Varianten ins Spiel bringt. Denn es besteht ein »Bedarf an nachdenklichen Fokussierungen«86, um eine kritisch-konstruktive Debatte über Bildung führen zu können, die möglichst differenziert Perspektiven eines Orientierungswissens bereitstellt. Meiner Lektüre der Schriften Goethes liegt unter dieser Voraussetzung kein allein retrospektives Verfahren zugrunde, sondern ich rekonstruiere die Programmatik Goethes im Sinne von Max Webers wissenschaftstheoretischem Ansatz einer denkenden Ordnung von Tatsachen als ein bisher vernachlässigtes Konzept von Bildung. Dergestalt sich eröffnende Spielräume können als Spiegel dienen, das aktu83

Vgl. Konrad Paul Liessmann: Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft, Wien 2006. 84 Vgl. Heiner Hastedt: Moderne Nomaden. Erkundungen, Wien 2009. Hastedt erkundet die Konsequenzen, die sich aus einer globalisierten Welt ergeben, die Flexibilität und Mobilität verlangt und so zu einem modernen Nomadentum führe. Ihn interessiert dabei besonders, welche Orientierungsmöglichkeiten bestehen, nach dem Verlust tradierter Ordnungssysteme die Lage des modernen Menschen »existentiell und gedanklich bewältigen« (S. 12) zu können. 85 Vgl. u.a. Odo Marquard: Narrare necesse est, in: ders.: Philosophie des Stattdessen, Stuttgart 2000. 86 Heiner Hastedt: Moderne Nomaden. Erkundungen, a.a.O., S. 19.

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elle Nachdenken über Bildung anzuregen. Bildungsphilosophie wäre so verstanden keine nur reaktive Disziplin87; sie hätte nicht nur eine retrospektive, sondern auch eine prospektive Perspektive, welche die Diskussion um Bildung bereichern und ein diesbezügliches Orientierungswissen bereitstellen könnte88. Roland Reichenbach schlägt für die Auseinandersetzung mit Konzepten der Bildungsphilosophie vier grundlegende Orientierungsmuster vor, auf die ich, ergänzt um ein fünftes und sechstes, in meinen Ausführungen zurückgreifen werde. Diese sind: 1. erkenntnistheoretisch und metaphysisch, 2. ethisch und metaethisch, 3. methodisch und methodologisch, 4. ästhetisch 5. kulturell und historisch, 6. anthropologisch orientiert89. Methodenkonzeption

Die Methodenkonzeption der Hermeneutik90 bietet das Instrumentarium, das eine gegenstandsadäquate Rekonstruktion erlaubt. Ich orientiere mich an den drei Stufen hermeneutischer Interpretation: 87 Im Sinne einer Bestimmung der philosophischen Anthropologie durch Habermas. Vgl. Jürgen Habermas: Philosophische Anthropologie (ein Lexikonartikel) [1958], in: ders.: Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze, Frankfurt/M. 1973, S. 89–111. 88 Das sicherlich nicht mit Absolutheitsanspruchs sondern in dem Sinne, dass sie für ihren Anspruch als Grundlagenwissenschaft durchaus auf die Ergebnisse positiver Wissenschaft zurückgreift. Vgl. zum kontroversen Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung Ludwig Pongratz; Michael Wimmer; Wolfgang Nieke (Hrsg.): Bildungsphilosophie und Bildungsforschung, Bielefeld 2006. Der Sammelband enthält eine Reihe von Aufsätzen zum Thema. Sowie Rudolf Tippelt, Bernhard Schmidt (Hrsg.): Handbuch Bildungsforschung, Wiesbaden 32010, und Andreas Dörpinghaus; Andreas Poenitsch; Lothar Wigger: Einführung in die Theorie der Bildung, Darmstadt 32009. 89 Roland Reichenbach: Philosophie der Bildung und Erziehung, a.a.O., S. 23. Die anthropologische Fragestellung sowie die für die Identität wichtigen historisch-kulturellen Prägungen halte ich für die Systematik von Bildungsphilosophie für unverzichtbar. 90 Christian Rittelmeyer; Michael Parmentier (Hrsg.): Einführung in die pädagogische Hermeneutik, Darmstadt 32007. Zum durchaus problematischen Verhältnis von fachwissenschaftlicher pädagogischer Hermeneutik und philosophischer Hermeneutik im Sinne Gadamers in Hinsicht des Methodenverständnisses vgl. Käte Meyer-Drawe: Grenzen pädagogischen Verstehens. Zur Unlösbarkeit des Theorie-Praxis-Problems in der Pädagogik, in: Vierteljahreszeitschrift für wissenschaftliche Pädagogik 60 (1984), H. 3, S. 249–259.

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• »Verstehen heisst, Gegebenheiten in Beziehung auf ein Ganzes als sinnvoll aufzufassen«91, definiert Eduard Spranger. Nach Wilhelm Dilthey ist Verstehen ein Vorgang, »in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen«92. Erkenntnis bemüht sich demzufolge einerseits darum, innere Bezüge von Erscheinungen zu erschließen, andererseits Zusammenhänge im Rahmen einer Relation von Teil und Ganzem aufzuzeigen. Dieses Erfassen von Sinn zielt auf die Erschließung von kulturellen Gegebenheiten, deren integraler Bestandteil auch der Verstehende ist; Verstehen ist damit immer auch Verständigung des Verstehenden mit sich selbst (Gegensatz: Erklären in den Naturwissenschaften). • Unter der Prämisse, dass kulturelle Phänomene auslegungsbedürftig sind, versucht Hermeneutik, sie und ihren historischen Kontext zu interpretieren. Der Sprachlichkeit und historischen Bedingtheit allen Geschehens korrespondiert in der Auslegung die linguistisch wie historisch »unaufhebbare Differenz«93. Der Verstehende bemüht sich mit seinen Vorkenntnissen und von seinem Horizont aus (das ist »der Gesichtskreis, der all das umfaßt und umschließt, was von einem Punkte aus sichtbar ist«94) um das Andere des Fremden. Verstehen ist unter diesem Blickwinkel ein integrativer Prozess. Nach Maßgabe eines Vorverständnisses werden die Gegebenheiten eines neuen Phänomens im Aneignungsprozess Schritt für Schritt aufgehellt, differenziert in ihren Teilen erschlossen und zu einem Bedeutungsganzen verbunden. Jeder Erkenntnisakt verändert Fundus und Konstitution des Verstehenden. Im Zirkel des zentrifugal-zentripetalen hermeneutischen Prozesses zwischen den Polen von Auslegung des Gegenstandes und Selbstauslegung bedarf es einer Übersetzungsleistung; Gadamer versteht sie nicht als ein bloß reproduktives Verfahren, sondern als »produktives Verhalten«95. So umfasst bspw. der Sinn eines Textes immer mehr, als ein Autor in ihn legt. Die hermeneutische Differenz von Auslegendem und Auszulegendem bietet die Möglichkeit, diese Potentiale

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Vgl. zur Reflexion des Problems und zu instruktiven Forschungsansätzen im Rahmen der Problematik Christian Rittelmeyer; Michael Parmentier: Einführung in die pädagogische Hermeneutik, a.a.O. Eduard Spranger: Verstehen und Erklären. Thesen (1927), in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 4, Psychologie und Menschenbildung, hrsg. von Walter Eisermann und Hans Walter Bähr, Tübingen 1974, S. 197. Wilhelm Dilthey: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. V, Göttingen 81990, S. 318. Dilthey und auch Gadamer grenzen den Verstehensbegriff der Geisteswissenschaften vom Erklären der Naturwissenschaften ab. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 280. Ebd., S. 286. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 280.

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durch Interpretation offenzulegen – ein offener Prozess, weil sich das Andere einer vollständigen Aneignung prinzipiell widersetzt. Interessant sind in diesem Zusammenhang ästhetische Erfahrungen mit moderner Kunst, welche per se Bedeutung und Sinn als Kategorien hinter sich lässt, deren »Ereignishafte[s]«96 als »atmosphärisch getönte[r] Raum« aber »dramatische Erfahrungen«97 ermöglicht. Eine der interessantesten Fragen der Auslegung ist, wie Verstehenspotentiale des Rezipienten und das Andere sich wechselseitig bestimmen. Einsicht in und Reflexion über die historische Eingebundenheit von Autor und Text einerseits und Rezipienten andererseits eröffnen die Perspektive einer »Wirkungsgeschichte«98. • Anwendung als applikative Konzeption von Hermeneutik bezieht sich auf konkret praktische Folgen von Verstehens- und Auslegungsprozeduren99. Im vorliegenden Fall könnte das im Anschluss an die Rekonstruktion eine »kategoriale Selbstaufklärung« auf der Folie der »Historizität des Gegenstandes«100 über dessen Bedeutung für das Ganze des Denkens über Bildung sein. Hermeneutik begreift sich mit diesen Merkmalen einerseits als Grundlagenwissenschaft, als Metareflexion fachwissenschaftlicher Forschung101. Andererseits ist sie selbst, etwa schon in der Konzeption Diltheys, wissenschaftliche Forschungsmethode. Ihr Methodenbewusstsein lässt sich nach heutigem Verständnis als diejenige [Forschungsmethode; J.S.] einer Reflexion beschreiben, deren Ziel darin besteht, die naiven Dogmatismen oder perspektivischen Engführungen der wissenschaftlichen Methodik jeweils deutlich zu machen und dadurch neue Fragedimensionen zu öffnen und insgesamt die Fragwürdigkeit und Andersartigkeit der Sache gegenüber dem methodischen Zugriff weiter aufrechtzuerhalten.102

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Gernot Böhme: Atmosphäre, a.a.O., S. 9. Ebd., S. 8. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 283 ff. Vgl. dazu ebd., S. 290–323. Gadamer erörtert in Anschluss an Aristoteles Phronesis, die praktische Vernünftigkeit, als zentralen Begriff der Hermeneutik. Vgl. dazu Friederike Rese: Phronesis als Modell der Hermeneutik, in: Günter Figal (Hrsg.): Hans-Georg Gadamer. Wahrheit und Methode, Berlin 2007, S. 127–149. 100 Mollenhauer, Klaus; Wulf Christoph (Hrsg.): Aisthesis/Ästhetik. Zwischen Wahrnehmung und Bewußtsein. Pädagogische Anthropologie, Bd. 1, Weinheim 1996, S. 10. 101 So u.a. schon Friedrich Schleiermacher und Friedrich Ast. Vgl. Erwin Hufnagel: Einführung in die Hermeneutik, St. Augustin 2000. 102 Gottfried Boehm: Zu einer Hermeneutik des Bildes, in: Hans-Georg Gadamer; Gottfried Boehm (Hrsg.): Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, Frankfurt/M. 1978, S. 8.

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1 Vorüberlegungen

Hermeneutik in diesem Sinne will praktische Vernunft sein: will in einer komplexen Welt labyrinthischer bzw. ozeanischer Verfassung (ďAlembert) Orientierung ermöglichen. Im Sinne eines kritischen Methodenbewusstseins ist denn auch »Interdisziplinarität« eine der zentralen methodischen Forderungen, die Christian Rittelmeyer an eine pädagogische Hermeneutik stellt103. Er begründet dies aus den Untersuchungsfeldern erziehungs- und bildungswissenschaftlicher Forschung selbst. Wenn pädagogische Hermeneutik als spezifisch bildungs- und erziehungswissenschaftlich ausgerichtete Forschung versuche, Texte, Bilder, Dinge und Objekte sowie Verhalten und Handlungen zu verstehen, so teile sie ihr Interesse mit einer Reihe von anderen Wissenschaften. Eine klare Abgrenzung zu Forschungsansätzen der sprachwissenschaftlichen und literaturwissenschaftlichen Textinterpretation, der kunstwissenschaftlichen Ikonographie und Ikonologie, der Phänomenologie und der Sozialforschung könne im Einzelfall recht schwer fallen104. Ich verstehe die Hinweise Rittelmeyers so, dass hermeneutische Verstehens- und Interpretationsverfahren anderer Disziplinen – Philosophie, Literaturwissenschaft, Geschichte und auch der Naturwissenschaften – das Untersuchungsinstrumentarium der pädagogischen Hermeneutik ergänzen können und gerade dem Verstehen komplexer Bedeutungszusammenhänge wertvolle Anregungen zu geben vermögen105. In diesem Sinne werden die skizzierten Felder und Denkmuster der Untersuchung im Sinne von interdisziplinärer Pluralität gegenstandsspezifisch mit dem methodischen Instrumentarium der Hermeneutik rekonstruiert und ausgelegt.

103 Christian Rittelmeyer; Michael Parmentier (Hrsg.): Einführung in die pädagogische Hermeneutik, Darmstadt 32007, S. 2 ff. Vgl. auch Birgit Bisping: Bildung und Interdisziplinarität, Darmstadt 2005. 104 Christian Rittelmeyer; Michael Parmentier (Hrsg.): Einführung in die pädagogische Hermeneutik, a.a.O. Es kann bei dieser Aufzählung unterstellt werden, dass Rittelmeyer exemplarisch verfährt und keine Vollständigkeit anstrebt. Zu nennen wären in diesem Kontext zumindest auch noch die Verhaltensforschung, die Neurobiologie, die Kulturwissenschaften, und die Liste ließe sich noch um Einiges ergänzen. Vgl. auch Christian Rittelmeyer: Was kennzeichnet hermeneutische Forschung?, in: ZfE, 6. Jg., H. 4 (2003), S. 532–549. Zur Bedeutung der Empirie vgl. Wolfgang Klafki: Hermeneutische Verfahren in der Erziehungswissenschaft, in: Einführung in die pädagogische Hermeneutik, a.a.O., S. 125–148. 105 Vgl. Fotis Jannidis: Analytische Hermeneutik, in: Uta Klein; Katja Mellmann; Stefanie Metzger (Hrsg.): Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur, Paderborn 2006, S. 131–144.

2.1 Bildungs- und erziehungswissenschaftliche Untersuchungsperspektiven

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2 FAC HWIS S E N S C HAF TL I C H E R ZU SA M M E N H A N G U N D FORS C H U N G S L ITE RATU R

2.1 Bildungs- und erziehungswissenschaftliche Untersuchungsperspektiven Zur soziologischen Orientierung

Das als Goethezeit (u.a. Hans-Georg Gadamer) oder auch als Sattelzeit (Reinhart Koselleck) bezeichnete 18. Jahrhundert verstehe ich als eine janusgesichtige Umbruchszeit, in der sich die vormoderne zur modernen Gesellschaft wandelt1. Ein soziologisches Modell für einen entsprechenden historisch-gesellschaftlichen Problemaufriss findet man in Niklas Luhmanns Theorie des Zusammenhangs von »Gesellschaftsstruktur und Semantik« und seiner Theorie sozialer Systeme2, deren relevante Systematik ich im Folgenden skizziere. Meiner Rekonstruktion von Goethes Selbstbildungskonzeption liegt Luhmanns Modell als orientierendes soziologisches Beschreibungsmuster zugrunde, ohne dass es explizit in den Erschließungsprozeduren erscheint. Klaus Hurrelmanns Modell der produktiven Realitätsverarbeitung3 nutze ich als Referenztheorie, um Goethes Selbstbildungsbegriff zu rekonstruieren. Hurrelmann differenziert für die Person nach Individuation und sozialer Integration4 und bietet damit ein soziologisches Modell für die Rekonstruktion von aktivem kreativen Handeln bei Goethe. Es wird sich zeigen, dass Goethes Selbstbildungsansatz interessante Realisierungsvarianten mit durchaus neuen Perspektiven anbietet.

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Vgl. Reinhart Kosseleck: Einleitung, in: Otto Brunner; Werner Conze; Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, 1. Auflage der Studienausgabe, Stuttgart 2004, S. XV. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt/M. 1989. Ders.: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1993. Vgl. Klaus Hurrelmann: Einführung in die Sozialisationstheorie, Weinheim und Basel 9 2006. Ders.: Sozialisation. Das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung, Weinheim und Basel 102012. Klaus Hurrelmann: Einführung in die Sozialisationstheorie, a.a.O., vgl. dazu die »Sieben Thesen zur Sozialisation«, S. 23–39.

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2 Fachwissenschaftlicher Zusammenhang und Forschungsliteratur

Der Differenzbegriff ist das entscheidende methodische Inventar Luhmanns, um verschiedene Systeme voneinander abgrenzen sowie vergleichen zu können. Unter diesen Prämissen grenzt Luhmann die moderne funktional-differenzierte Gesellschaft von einer vormodernen stratifikatorisch organisierten Gesellschaft ab und bestimmt deren Modell von Individualität. Stratifikatorische Gesellschaften zeichnen sich durch zentrale Orientierungsund Ordnungssysteme (Gott, Ordo-Gedanke der Feudalgesellschaft) aus. Status und Sozialisation sind in solchen Gesellschaften relativ eindeutig vorgezeichnet; u.a. durch Geburt und Stand bestimmt, bewegt sich die Individualexistenz in relativ festen Bahnen und definiert sich als »Inklusionsindividualität« in gesellschaftlich sanktionierten Rollenmustern in Bezug und in Abgrenzung zu anderen Rollenmustern. Diesen Mustern korrespondiert z.B. in der Literatur die Typisierung von bestimmten Identitätsmustern, nach deren Konstituenten das Individuum ein Exemplar darstellt. Diese Gesellschaften lösen sich in der Neuzeit auf. Seit dem 18. Jahrhundert organisieren sich unter der Signatur beschleunigter Dynamik moderne rekursiv-funktional differenzierte Gesellschaften. Sie gliedern sich in verschiedene Subsysteme mit spezifischen Funktionen auf: Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, etc. Zwar gibt es Schnittmengen und Überschneidungen der Subsysteme, sie stehen auch in Austausch und Auseinandersetzung, prinzipiell konstituieren diese sich aber gemäß ihrer Funktion sowie je spezifischer Aktions- und Kommunikationsmuster und systemspezifischer Modi als relativ geschlossen operierende, nicht aufeinander abgestimmte Systeme (Wechselwirkung rekursiver Systeme untereinander). Damit ist eine orientierende Zentralinstanz ebenso verloren, wie eine relativ einheitlich konstituierte Identität problematisch wird. Denn vom Individuum wird eine Teilnahme an unterschiedlichen Subsystemen verlangt, es selbst wird damit zum strukturellen Außenseiter; als Einzelnes muss es durch Synchronisation der Subsysteme seine Identität aufbauen. Mit der Differenzierung der Gesellschaft erhöht sich einerseits der Freiheitsgrad eines Sich-Bildens, andererseits ist Differenzerfahrung die Signatur moderner Identität. Der für diesen Sachverhalt von Luhmann geprägte Begriff der »Exklusionsindividualität«5 zielt auf eine neue Semantik von Individualität im 18. Jahrhundert, die Luhmann als »Hochsemantik des Subjekts« interpretiert, als Subjekt, »das sich durch die Welt, die ihm im Bewußtsein erscheint, selbst bestimmt«6. Exklusionsindividualität ist demzufolge in hohem Grade selbstreferentielle Identität, die sich in Abgrenzung zur Umwelt als eigenständiges beständiges System bildet, dessen Grenzen je nach Immunität oder Aufgeschlossenheit mehr durchlässig offen oder mehr undurchlässig geschlossen sein 5 6

Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, a.a.O., S. 158. Ebd., S. 211.

2.1 Bildungs- und erziehungswissenschaftliche Untersuchungsperspektiven

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können. Selbstreferenzielle Systeme sind für Luhmann »Systeme mit der Fähigkeit, Beziehungen zu sich selbst herzustellen und diese Beziehungen zu differenzieren gegen Beziehungen zu ihrer Umwelt«7. Luhmann verwendet für diesen Zusammenhang auch den Begriff »Autopoiesis«, dieser hat bei ihm jedoch eine differenzierte Semantik. Über die von Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela für lebendige Organismen beschriebene Autopoiesis hinaus muss man für soziale Systeme, psychische Systeme, also insbesondere Exklusionsindividualität, berücksichtigen, dass diese im Modus von Sinn operieren8, sie dürfen deshalb nicht mit organischen oder mit mechanischen Systemen gleichgesetzt werden9. So definiert Niklas Luhmann in verallgemeinernder Absicht: »Autopoietische Systeme können ihre Struktur nicht als Fertigprodukte aus ihrer Umwelt beziehen. Sie müssen sie durch ihre eigenen Operationen aufbauen und das erinnern – oder vergessen«10. Bewusstsein einerseits sowie andererseits dessen Erfahrungen, Kommunikation sowie Interaktion sind die Elemente solcher Systeme; Luhmann verzichtet bewusst darauf, ein Substrat zu identifizieren11, spricht von selbstreferentieller Identität als organisierter Negativität12. Ich interpretiere das soziologische Beschreibungsmuster Luhmanns dergestalt, dass ich Sozial- und Individualsysteme als in ständigem Austausch und aktiver Auseinandersetzung mit anderen Systemen ihrer Umgebung stehend verstehe. Individualsysteme konstituieren sich nach dieser Lesart in Wechselwirkung, d.h., sie sind einerseits auf ständige Selbsterzeugung und stabile Selbsterhaltung angewiesen, andererseits von Außeneinflüssen geprägt, die destabilisierend wirken. Erfahrungen haben je nach Immunität oder Aufgeschlossenheit für ein System mehr konstruktive oder mehr dekonstruktive Bedeutung. Sie werden nach systeminternen Bedingungen operational integriert, wirken dabei ergänzend, erweiternd, verändernd, erschütternd, etc. Weder gibt es nach dieser Auffassung eine allein sich immun konstituierende Identität, noch ist diese bloß von zufällig zusammentretenden Komponenten bestimmt, entscheidender Modus ist die Wechselwirkung. Luhmann selbst hält in 7

Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1993, S. 31. 8 Ebd., S. 18. 9 Niklas Luhmann: Soziale Systeme, a.a.O., S. 18: »Maschinen und Organismen [lassen sich nicht] durch Sinngebrauch charakterisieren«. 10 Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Wiesbaden 32008, S. 13. 11 Ebd., S. 292: »Ereignisse (Handlungen) sind keineswegs Elemente ohne Substrat. Aber ihrer Einheit entspricht keine Einheit des Substrats; sie wird im Verwendungssystem durch Anschlußfähigkeit erzeugt.« 12 Vgl. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frühneuzeitliche Anthropologie. Theorietechnische Lösungen für ein Evolutionsproblem der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1993, S. 162–234.

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2 Fachwissenschaftlicher Zusammenhang und Forschungsliteratur

diesem Zusammenhang eine tatsächliche Synthese von Sozial- und Individualsystemen für schwierig, wenn nicht gar ausgeschlossen. Es wird sich deshalb erweisen müssen, inwieweit Versuche von Goethe, eine solche Identität in der Differenz zu konstituieren, im Sinne meines Zugriffs Alternativen und Korrektive dieses Denkmusters von Luhmann bieten13. Über Luhmanns Kennzeichnung der Exklusionsindividualität als organisierter Negativität hinaus lassen sich die interpersonalen und intrapersonalen Bedingungen mit dem Personbegriff im Anschluss an Klaus Hurrelmanns Modell der produktiven Realitätsverarbeitung beschreiben. Während die Person (das Ich, das Bewusstsein) als nach außen agierendes Subjekt eine Integrationsleistung hinsichtlich der gesellschaftlich-sozialen Gegebenheiten vollzieht, dabei alle Spielarten von Gelingen und Misslingen im Kontext seiner gesellschaftlich-sozialen Existenz erfahren und gestalten muss, steht es auch bei seiner Individuationsleistung in einem steten Differenzzusammenhang zu einem inneren Widerständigen, nämlich dem Es, dem Über-Ich, den Gefühlen, spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen von Temperament und Charakter. Es macht die Souveränität der Person aus, diese Strebungen und Prägungen als Subjekt aktiv zu modellieren und zu organisieren: je nach Modus und Gegebenheit zu überwinden, zu perspektivieren, zu nutzen, zu beherrschen. In dieser Richtung nach innen liegt aber auch das Aktzentrum von Spontaneität und Kreativität. Es ist, wie die o.g. Komponenten auch, nur partiell aktiv und bewusst modellierbar, entzieht sich einer generellen Bestimmbarkeit durch das Subjekt und lässt sich zunächst als zentrifugales Zentrum beschreiben, das besondere produktive Leistungen generiert. Als ein solches wird es durch Goethes Begriff des Dämonischen zu perspektivieren sein14. Diese Ertragsperspektive verspricht eine Differenzierung des Personbegriffs des soziologischen Beschreibungsmusters stabil-labiler Konstitution15. In diesem Zusammenhang bietet der aktuell in der Bildungswissenschaft diskutierte Begriff von Erfahrung Anschlussmöglichkeiten für einen thematischen Problemaufriss16.

13

Vgl. dazu die Ausführungen zum Selbstbildungskonzept Goethes in Kap. 4 zu seiner ersten Weimarer Zeit und entsprechenden Differenzerfahrungen, die Goethe verarbeitet; für Goethes widerständiges Selbstbildungskonzept vgl. u.a. Kap. 6 und 7. 14 Dabei ist zu differenzieren: Hurrelmanns Begriff des biopsychosozialen Systems ist nicht mit Goethes Begriff des Dämonischen mit seinen kreativen Potentialen gleichzusetzen. 15 Zu Korrektiven zum systemtheoretischen Paradigma einer durch Rekursivität von Sozialisationsprozessen sich konstituierenden Identität vgl. am Schluss des Kapitels die Hinweise zur Ertragswartung: Goethes Bildungsbegriff als exemplarisches Paradigma eines widerständigen Konzeptes, das individuelle Freiheitspotentiale aufzeigt. 16 Damit dient dieser Problemaufriss nicht als Referenztheorie, sondern einer thematischen Perspektivierung und Differenzierung.

2.1 Bildungs- und erziehungswissenschaftliche Untersuchungsperspektiven

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Fachwissenschaftlich-thematischer Problemaufriss

Im bildungs- und erziehungswissenschaftlichen Diskurs wird Erfahrung als ein zentraler Begriff für Lernen vorgeschlagen, der auch für das Denken über Bildung von Bedeutung ist17. U.a. von Käte Meyer-Drawe in »Diskurse des Lernens«18 aktiviert, dient er Meyer-Drawe dazu, einem ihrer Meinung nach dominant kognitionspsychologisch und neurobiologisch beherrschten Diskurs über Lernen sowie konstruktivistisch motivierten Lerntheorien ein Konzept gegenüber zu stellen, das an der Phänomenologie und Leibphänomenologie Maurice Merleau-Pontys und Bernhard Waldenfels orientiert ist19. Meyer-Drawe folgt damit nicht dem für die Bildungswissenschaft paradigmatischen Erfahrungsbegriff der experience von John Dewey20, sondern setzt auf eine eher bisher randständig diskutierte Referenztheorie. »Lernen ist in

17 Vgl. Hans-Christoph Koller: Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Stuttgart 2012, S. 15 f. zur Abgrenzung des Bildungsbegriffes vom Lernbegriff. Vgl. auch unten zum Konzept transformatorischer Bildung. 18 Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, München 22012. 19 Wenn Meyer-Drawe diesen Begründungsansatz von Leiberfahrung in Anschlag bringt, um gemäß ihrem Verdikt, neuere Lernpsychologien seien mentalistisch verkürzt, einen alternativen Lernbegriff zu diskutieren, übersieht sie, dass seit geraumer Zeit von verschiedenen Lerntheoriekonzepten die affektiv-leiblichen Komponenten mitmodelliert werden. 20 Vgl. zur Orientierung Roland Reichenbach: Philosophie der Bildung und Erziehung, a.a.O., S. 132–153. Pragmatische Erziehungsphilosophie in der Variante des Instrumentalismus von John Dewey rückt Instrumente des Lösens von Problemen in das Zentrum bildungsphilosophischer Begründung; Instrument kann dabei alles das sein, was zur Lösung eines Problems beiträgt (Erfahrungen, Wissen, Fähigkeiten, Kompetenzen etc.). Ein Instrument erweist seinen Nutzen durch Erfolg oder Misserfolg. Wirksame Instrumente ermöglichen, dass durch Handeln eine Veränderung herbeigeführt wird: ein Ergebnis, ein neuer Zustand, neue Fähigkeiten etc. Dewey weist auf zwei Aspekte solcher Problemlösungsprozesse hin: »Die aktive Seite der Erfahrung ist Ausprobieren, Versuch – man macht Erfahrungen. Die passive Seite ist ein Erleiden, ein Hinnehmen.« (John Dewey: Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik (1916), zitiert nach Roland Reichenbach: Philosophie der Bildung und Erziehung, a.a.O., S. 136). Diese aktiven und passiven Formen der Interaktion bewirken wechselseitige Veränderungen bei Subjekt und Objekt von Handlungen. In diesem Zusammenhang begründet Dewey Lernen als ein »Problemlösen in der Umwelt« (ebd., S. 137): »Durch Erfahrungen lernen heißt das, was wir den Dingen tun, und das, was wir von ihnen erleiden, nach rückwärts und nach vorwärts miteinander in Verbindung bringen. Bei dieser Sachlage aber wird das Erfahren zu einem Versuchen, zu einem Experiment mit der Welt zum Zwecke der Erkennung. Das bloß passive wird zum ›Belehrtwerden‹, d.h. zur Erkenntnis des Zusammenhangs der Dinge.« (ebd., S. 137).

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2 Fachwissenschaftlicher Zusammenhang und Forschungsliteratur

pädagogischer Perspektive und in strengem Sinne eine Erfahrung«21, lautet ihre These, deren Implikationen sie in sieben Kapiteln nachgeht, die jeweils für sich einen mit der zentralen These verbundenen Diskurs verhandeln. Für die fachwissenschaftliche Perspektivierung meiner Untersuchung im Sinne eines thematischen Problemaufrisses diskutiere ich insbesondere konzeptionelle Anschlussmöglichkeiten und Differenzen an das erste (Diskurse des Lernens), das vierte (Der Zauber der Ganzheit), das sechste (Der Einspruch der Dinge) und das siebte Kapitel (Lernen als Erfahrung)22. Erfahrung wird von Meyer-Drawe im ersten Kapitel nicht bloß als Ausgangspunkt und Anlass für die erkenntnismäßige Verarbeitung des Erfahrenen verstanden, »Lernen ist nicht nur Erkennen«23, sondern es gibt ein Lernen aus Erfahrung. Dabei wird das Vertraute zurückgelassen und aufgegeben. Das Neue einer Erfahrung in diesem Sinne bietet Widerstand, verunsichert, stellt Vertrautes infrage, verändert Wissensbestände. Für Meyer-Drawe zeichnet sich Erfahrung unter diesen Vorzeichen nicht so sehr dadurch aus, eine Kumulation von Wissen durch Lernprozeduren zu generieren, zielt nicht auf immer effektivere Möglichkeiten von Informationsverarbeitung mit klarer Leistungs- und Zieloption im Sinne neuronal begründeter Lerntheorien, sondern hat im Gegenteil die »subversive« Tendenz, Bekanntes verstörend zu erschüttern: Das Subjekt der Erfahrung wird mit dem solcherart neu Erfahrenen verändernd hervorgebracht24. Es ist ein zentripetal verlaufender Prozess äußerer sinnlichkeitsbasierter Erfahrung der Person, in dessen Verlauf Wissen und Erfahrungshorizont zerspringen25. Meyer-Drawe plädiert vor dem Hintergrund dieser Optionen für eine »Rehabilitierung der Dingwelt«, deren Wirkungen die Modi einer Konstitution der Person bestimmen26. Die vornehmlich auf Dekonstruktion des Subjekts zielende Diskussion von Erfahrung erscheint mir die zentrale intentionale Stoßrichtung Meyer-Drawes zu sein. Die leibphänomenologische Basierung des Erfahrungsbegriffs nutzt MeyerDrawe als Argumentationsmuster, um gegen konstruktive Denkoperationen der Person zu opponieren. Gemäß dieses Ansatzes strukturieren vom Bewusstsein gesetzte Denkmuster eine Erfahrung nicht intentional vor, sondern ein leibliches Sich-Verhalten als integraler Bestandteil der Lebenswelt generiert Erfahrung und Erkennen (Merleau-Ponty). Gegenwärtig wird in dieser Richtung mit dem Konzept des embodiment bzw. embodied cognition oder embodiment research die Bedeu21

Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, a.a.O., S. 15. Die genannten phänomenologischen Positionen bilden die generelle Grundlage der Argumentation des Buches. 22 Ebd., S. 13–39, 103–121, 159–183 und 187–214. 23 Ebd., S. 15. 24 Ebd., S. 15 25 Ebd., 7. Kap., S. 188. 26 Ebd., zur Bedeutung der Dinge vgl. S. 159 ff., Zitat S. 175.

2.1 Bildungs- und erziehungswissenschaftliche Untersuchungsperspektiven

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tung der Sensomotorik des Körpers als verkörperte Erkenntnistätigkeit (Christian Rittelmeyer)27 untersucht28. Ich werde den leibphänomenologischen Begründungsansatz nicht aufgreifen, ihn deshalb an dieser Stelle auch nicht weiter argumentativ verfolgen, weil die damit aufgeworfene Frage eines Gegensatzes von Leib und Ich nicht das Grundanliegen meiner Untersuchung tangiert29. Dagegen sind der alleinige Fokus auf äußerer sinnlichkeitsbasierter Erfahrung sowie der radikal einseitig vertretene Dekonstruktionsgedanke, den Meyer-Drawe ihrem Erfahrungsbegriff unterlegt, unten genauer zu hinterfragen. Mit ihrem Erfahrungskonzept opponiert Meyer-Drawe zudem gegen Diskurse, die das Gesamte der Bewusstseinsphänomene als einen autopoietisch vom neuronalen System generierten Komplex beschreiben, und sie erhebt Einspruch gegen naive Gleichsetzungen und Verwechslungen: Die phänomenologische Erfahrung des Subjekts sei kategorial verschieden von chemisch-physikalischen Prozessen30. Diesem Befund geht Meyer-Drawe in verschiedenen Richtungen nach und verteidigt den für das Subjekt phänomenologisch realen Erfahrungskomplex gegenüber dem Paradigma des neuronalen Netzes31. Dabei bleibt in einer letzten Konsequenz jedoch unbestimmt, ob ihre Auseinandersetzung eine grundsätzliche Kritik gegen einen materialistischen Monismus darstellt, der Bewusstsein naturalisiert und zu einem Epiphänomen des Physischen reduziert, obgleich im Einzelnen eine solche Kritik die Argumentation durchzieht32. Meyer-Drawe variiert mit diesen Aspekten 27 Christian Rittelmeyer: Leibliche Erfahrung und Lernen. Über den Sinn einer allseitigen Sinnesbildung, in: Schulpädagogik heute 6 (2012), S. 1–16. 28 Vgl. Arthur M. Glenberg: Language and Action: Creating Senible Combination of Ideas, in: M. Gareth Gaskell (Hrsg.): The Oxford Handbook of Psycholinguistics, Oxford 2009, S. 361–369. 29 Vgl. unten zur Grundarchitektur meines Ansatzes, Goethes Bildungsbegriff zentrifugalzentripetal zu interpretieren und dabei die Widerständigkeit von innen gegenüber Weltorientierungen der Person und gesellschaftlichen Ansprüchen zu betonen. 30 Meyer-Drawe variiert damit u.a. die bekannte Diskussion um den subjektiven Erlebnisgehalt von Bewusstsein. Zu diesen Qualia (subjektiver Erlebnisgehalt phänomenalen Bewusstseins) vgl. exemplarisch den Aufsatz von Thomas Nagel: What Is it Like to Be a Bat?, in: The Philosophical Review, LXXXIII 4 (Oktober 1974), S. 435–450 [dt.: Thomas Nagel: Wie ist es, eine Fledermaus zu sein, in: Thomas Metzinger (Hrsg.): Grundkurs Philosophie des Geistes, Bd. 1: Phänomenales Bewusstsein, Paderborn 22009, S. 62–78.]. Thomas Nagel legt dar, dass materialistisch-reduktionistische Kognitionstheorien vor der unlösbaren Aufgabe stehen, sich mit einer methodisch bedingten Außenperspektive in die Emotionalität eines fremden Bewusstseins hineinzuversetzen. 31 Vgl. Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, a.a.O., zur Netzmetaphorik S. 36 f. Vgl. auch die Auseinandersetzung Meyer-Drawes in den Kapiteln Der neue Mensch, S. 41–67, Die neuronale Maschine, S. 71–99 und Der hochtourige Lerner«, S. 125–155. 32 Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, a.a.O., vgl. zu einer solchen Kritik exempla-

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die altbekannte Auseinandersetzung, die Freiheits- und Vernunfttheorien in dieser Hinsicht führen33, die ich nicht weiter verfolge. Durch die Problematisierung monistischer Theoriekonzeptionen bietet Meyer-Drawes Beschreibungsansatz eine insofern nutzbare Anschlussmöglichkeit für die Rekonstruktion des Goethe’schen Bildungsansatzes, als bei Goethe u.a. durch seinen Gestaltbegriff keine subsumierend umgreifende Konzeption vorliegt, sondern eine, die versucht, die Kluft unter Wahrung der Differenz zusammenzudenken34. Damit bietet Goethes Konzeption einen aktuell nicht diskutierten Beschreibungsansatz mit neuen Deutungsperspektiven35. Weiterhin insistiert Meyer-Drawe auf Dekonstruktion des Subjekts durch zentripetale sinnlichkeitsbasierte Erfahrung36, um der Gefahr eines intrapersonalen Selbstbegründungszwangs37 vorzubeugen: dass im Paradigma organisch-mechanisch organisierter autopoietischer Systeme das sich selbst kontrollierende Subjekt als mitverantwortlicher »Knotenpunkt in einem Netz« in die Verfügungsgewalt gesellschaftlich-ökonomischer Ansprüche gezwungen werde38. Diese Gefahr besteht unter bestimmten Bedingungen zweifellos. Doch die gegen solche Vereinnahmungen in Anschlag gebrachte bildungsstrategische Alternative einer Dekomposition des Subjektes durch zentripetal basierte Erfahrung greift meiner Meinung nach zu kurz ob ihres eindimensional konstruierten Beschreibungsansatzes, der den tatsächlich vielschichtigen Wirkungszusammenhang konkreter Handlungssituationen ebenso verfehlt, wie er das Spektrum von möglichen Handlungsmustern sowie strategischer Modi des Bewusstseins vernachlässigt. Es gibt keine in ihrer tatsächlichen Wirkung

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risch S. 43 f. Goethe wird an dieser Stelle mit seiner Kritik an der Forschungsmethodik der Naturwissenschaften erwähnt. Zum Paradigma des materialistischen Monismus und möglichen Gegenentwürfen vgl. Wolfgang Nieke: Intuition aus philosophischer und erziehungswissenschaftlicher Sicht, in: Maximilian Buchka (Hrsg.): Intuition als individuelle Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit in der Heilpädagogik, Luzern 2000, S. 11–23. Vgl. zu einer phänomenologisch begründeten Zurückweisung der Naturalisierung des Bewusstseins Hermann Schmitz: Bewusstsein, Freiburg und München 2010, S. 77–85. An dieser Stelle sei erwähnt, dass von Hermann Schmitz ein für die vorliegende Thematik interessanter Entwurf einer Neuen Phänomenologie vorliegt. Vgl. Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Freiburg und München 32012, sowie ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 32007. Vgl. dazu unten zu Gestalt und Ganzheit. Vgl. zu Goethes Konzeption u.a. Kap. 4 und Kap. 7. Vgl. unten die Ausführungen zum Atmosphärenkonzept Böhmes für Anschlussmöglichkeiten an die Phänomenologie. Vgl. Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, a.a.O., u.a. S. 188 f., wo Meyer-Drawe diesen engen Erfahrungsbegriff zentripetal sinnlichkeitsbasierter Welterfahrung diskutiert. Dirk Kemper: »ineffabile«, a.a.O., S. 11. Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, a.a.O., S. 190 und S. 207 ff. (Zitat S. 208).

2.1 Bildungs- und erziehungswissenschaftliche Untersuchungsperspektiven

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plan- und prognostizierbare Erfahrungssituation. Aktivierte Handlungsmuster treten in ein antagonistisches Wechselspiel mit den Bedingungen der Welt. Gegenüber diesbezüglich strategisch-funktionaler Bestimmung Meyer-Drawes erweist sich schon ihr eigener Erfahrungsbegriff als widerständig. Bei diesen Überlegungen ist zudem die Einsicht moderner Anthropologie zu berücksichtigen, der zufolge es keine verändernde Erfahrung geben kann, sondern nur bei entsprechender Resonanzmöglichkeit durch ein Subjekt39. Unter diesen Voraussetzungen ist der Mensch in der Lage, kraft des Spektrums distanzierender Modi seines Bewusstseins die Matrix zu entwerfen, mit der er Realität verarbeiten und produktive Konstitutionsleistungen bewirken kann40. Erfahrung ist demzufolge nicht auf die von Meyer-Drawe diskutierten Optionen begrenzt und es ist nicht ausgemacht, dass zentripetal motivierte Erfahrung per se und allein die von Meyer-Drawe prognostizierten Konsequenzen hat. Zudem erscheint es fragwürdig, zentrifugal verlaufenden Modulations- und Gestaltungsleistungen der Person – auch von deren inneren zum Subjekt widerständigen Aktzentrum initiierte – notwendig und allein mit den von Meyer-Drawe konstatierten negativen Konsequenzen zu beschreiben. Nicht nur den anthropologischen Denkmustern zufolge, sondern auch nach soziologischer Auffassung kann Erfahrung sowohl stabilisierend als auch destabilisierend wirken und sie kann sich in der produktiven Realitätsverarbeitung der Person mehr selbstbestimmt oder fremdbestimmt vollziehen und müsste in diesem Spektrum diskutiert werden. Unter diesen Perspektiven betrachtet, wird deutlich, dass die von Meyer-Drawe zugunsten des anvisierten Begründungszusammenhangs dekonstruktiver Wirkung 39

Zur Notwendigkeit von symbolischer Repräsentation und der Bedeutung von Reflexion sowie Objektivation für die Subjektkonstitution Thomas Fuchs: Leib – Raum – Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Stuttgart 2000, besonders S. 253–301. 40 Wie und in welcher Ausrichtung das geschehen kann, hängt u.a. davon ab, was dem Menschen durch Sozialisation und Bildung eingeprägt worden ist: Der Mensch wird, was er wird, durch Bildung. Dabei werden es offensichtlich nicht die den vorzüglich zeitgebundenen Bedingungen und Notwendigkeiten geschuldeten Komponenten von Bildung sein, die innovativ wirken, sondern solche, die diese Begrenzung durchbrechen. Vgl. zu entsprechenden Beschreibungsmustern moderner Anthropologie Christian Dries: Das Zeitalter der positiven Anthropologie. Überlegungen zur Dialektik des Fortschritts, in: Scheidewege. Jahresschrift für skeptisches Denken 41, 2011/2012, S. 86–94, sowie insbesondere Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in eine philosophische Anthropologie (1928), Berlin und New York 31975, der die »exzentrischen Positionalität« von Ich/der Person beschreibt als »der ›hinter sich‹ liegende Fluchtpunkt der eigenen Innerlichkeit, der jedem möglichen Vollzug des Lebens aus der eigenen Mitte entzogen den Zuschauer gegenüber dem Szenarium dieses Innenfeldes bildet, der nicht mehr objektivierbare, nicht mehr in Gegenstandsstellung zu rückende Subjektpol« (S. 292).

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2 Fachwissenschaftlicher Zusammenhang und Forschungsliteratur

von Erfahrung verkürzte Semantik von Erfahrung das Problem von Identitätskonstitution im Zuge von Exklusionsindividualität und produktiver Realitätsverarbeitung ausblendet: wie ein stabil-labiler Träger von Erfahrung – und nur wenn eine solche Instanz existiert, ist es überhaupt sinnvoll, von Erfahrung sprechen, sie darf nur nicht mit kohärenter Identität verwechselt werden41 – zu denken ist. Meyer-Drawe scheint zwar an eine solche Instanz zu denken, wenn sie mit Bernhard Waldenfels (»In der Erfahrung selbst öffnen sich Spalten und Klüfte, in denen das Selbst sich von sich selbst entfernt«42) zumindest im Ansatz mögliche Formen von Identität thematisiert. Sie greift dabei aber nicht das Potential des Waldenfels’schen Gedankens auf: Das Zusammendenken einer Kluft, ohne diese aufzuheben – kontingent modellierte narrative Identität43 in der Differenz bei Individuationsleistungen und Integrationsleistungen der Person. Dieses Potential aber erst deutet Perspektiven narrativer Identität durch produktive Realitätsverarbeitung an44. Das dergestalt angesprochene Paradoxon – ein im Gestaltwandel45 mit sich selbst Identisches – bestimmt in eminenter Weise das Bildungsdenken Goethes. Im Rahmen dessen Rekonstruktion werden über gesellschaftlich sanktionierte Selbstbegründungszwänge hinaus Tragweite und Grenzen einer widerständigen Konzeption von Selbstbegründungsfreiheit46 bei Goethe zu diskutieren sein. Die Weltbezüge des Subjekts spielen dabei eine entscheidende Rolle. Doch es wird sich auch zeigen, dass es intrapersonal gesehen nicht nur um vom Subjekt bestimmte Handlungsvollzüge gehen kann, sondern um Spielräume des inneren Widerständigen, des Dämonischen im Sinne Goethes, die über die für das Subjekt verfügbaren Kompetenzen und Vermögen hinaus Gestaltungs- und Aktionspotentiale bieten – ein Erfahrungs- und Handlungskomplex, dem sich Meyer-Drawe nicht zuwendet, der aber für die in Rede stehende Frage entscheidende Perspektiven bietet. In den Vorüberlegungen im

41 Vgl. zur Kritik an einer »Entsubjektivierung des Bewusstseins« Hermann Schmitz: Bewusstsein, Freiburg und München 2010, S. 9–18, Zitat dieser Anmerk. S. 13. 42 Bernhard Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie – Psychoanalyse – Phänomenotechnik, Frankfurt/M. 2002, S. 204, zitiert nach Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, a.a.O., S. 190. 43 Vgl. zu Identitätskonzepten (u.a. narrativen Identitätskonzepten) Heiner Keupp: Diskursarena Identität, in: ders.; Renate Höfer (Hrsg.): Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung, Frankfurt/M. 1998, S. 11–39. Vgl. auch unten zur Bedeutung narrativer Identität Hans-Christoph Koller. 44 Vgl. für diesen Zusammenhang auch die Ausführungen unten zum Ganzheitsdiskurs Meyer-Drawes im Anschluss an Waldenfels. 45 Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, a.a.O., vgl die Ausführungen zur Gestaltpsychologie S. 107–111. 46 Dirk Kemper: »ineffabile«, a.a.O., S. 11.

2.1 Bildungs- und erziehungswissenschaftliche Untersuchungsperspektiven

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Anschluss an Hegels Bestimmung »sinnvolle[r] Anschauung«47 habe ich auf für diesen Komplex bedeutende Formen natürlicher Erkenntnis und impliziten Wissens hingewiesen: Ahnung48 sowie Intuition49. Beide Erkenntnisformen werden aktuell als Gestaltwahrnehmung und Mustererkennung50 modelliert, die nicht notwendig auf Leibwirkungen basieren51, und können über phänomenologische52 und leibphänomenologische Konzeptionen hinaus als denkbasierte Formen von innerer Anschauung oder Aisthesis verstanden werden. Ein solcher Beschreibungsansatz weitet also das Spektrum von Erfahrung über den sinnlichen Komplex in eine geistige Dimension aus. Für beide Erkenntnisformen ist kennzeichnend, dass sie nicht vom Subjekt konstruiert werden, keine Vollzüge und Handlungen desselben darstellen, sondern bezogen auf das Subjekt kann man sagen: »sie stellen sich ein«, eine »Eigenmächtigkeit in der Ankunft«53. Sie sind demnach in den widerständigen Sphären von Erfahrung anzusiedeln. Dabei versteht Goethe solche Erfahrungen – wie jede Erfah-

47 Georg Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (1823). Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho, in: ders.: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte Bd. 2, hrsg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Hamburg 1998, S. 59. 48 Vgl. Wolfgang Nieke: Ahnung, in: Joachim Ritter u.a. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel 1971, S. 522–528, sowie Wolfram Hogrebe: Ahnung und Erkenntnis. Brouillon zu einer Theorie des natürlichen Erkennens, Frankfurt/M. 1996. 49 Th. Kobusch: Intuition, in: Joachim Ritter u.a. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Basel 1976, Sp. 524–540. Dass Intuition heute randständig diskutiert wird und welche Bedeutung sie haben könnte, erläutert Wolfgang Nieke: Intuition aus philosophischer und erziehungswissenschaftlicher Sicht, in: Maximilian Buchka (Hrsg.): Intuition als individuelle Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit in der Heilpädagogik, Luzern 2000, S. 11–23. 50 Vgl. u.a. Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken, a.a.O., (dazu die Vorüberlegungen in Kap. 1), vgl. auch Gerd Gigerenzer: Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, München 2013, und ders.: Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition, München 2007. 51 Ob und in welcher Weise Leibwirkungen eventuell bei Intuition mitmodellieren, untersucht schon Friedrich Schiller (vgl. dazu Kap. 3). 52 Dazu exemplarisch Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., (vgl. dazu die Vorüberlegungen in Kap. 1, Wiesing berücksichtigt Intuition nicht als Komponente der Phänomenologie, sondern modelliert diese sinnlichkeitsbasiert). 53 Wolfram Hogrebe: Ahnung und Erkenntnis, a.a.O., S. 14. Hogrebes Definition lautet an gleicher Stelle: »Ahnungen sind individuelle und situationsabhängige Resonanzen unserer sensorischen und semantischen Registratur, Empfindungen auf dem Wege zu Sätzen, Gefühle, denen schon ein semantisches Auge eingesetzt ist. Ich ahne, daß p, aber ob wirklich p, bleibt dunkel und beeinflußt mich doch.«

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2 Fachwissenschaftlicher Zusammenhang und Forschungsliteratur

rung54 – als Aktivität55, geht also nicht von der Person als einem in dieser Hinsicht bloß passivem Medium aus: Eine besondere Herausforderung für die Begründung des epistemischen Zusammenhangs, bei der es u.a. darum geht, welche Alternativen es zu schematisierender Begriffsbildung, zu Konstrukten und Modellen diskursiven Denkens geben kann: Modellfreie Begriffsbildung, welche die Infrastruktur des Phänomens erfasst, indem sie von diesem geleitet wird56. Mit diesen Anmerkungen ist zunächst der Begründungszusammenhang von Erfahrung von Goethes Paradigma von Bildung perspektiviert. Die historische Verortung ihres Erfahrungskonzeptes konzipiert Meyer-Drawe retrospektiv. Ausgehend von den erwähnten phänomenologischen Ansätzen von Waldenfels und Merleau-Ponty, dabei sowohl ergänzend als auch abgrenzend hermeneutische Positionen und die Gestaltpsychologie (Berliner Schule, Kurt Lewin) berücksichtigend57, folgt sie in einer historischen Entwicklungslinie philosophischen Begründungsstrategien hauptsächlich erkenntnistheoretisch gestützter Konzepte seit der Antike (u.a. Platon, Sophisten, Aristoteles). Sie zeigt dabei auf, dass empirisch orientierte Erfahrungsparadigma mit Vernunftkonzepten konkurrieren – eine seit der Antike andauernde Kontroverse um das erkenntnistheoretische Primat von Erfahrung oder Idee58. Für mein Anliegen einer Rekonstruktion des Bildungsparadigmas von Goethe ist nun interessant, dass Meyer-Drawe im Zuge der Aufklärung für das philosophische Denken über Bildung eine »Abwertung der Erfahrung« ausmacht (David Hume als ein letzter Verfechter eines Erfahrungskonzepts)59, die im Kontext von Vernunftkonzepten allenfalls noch als Anlass und Gelegenheit verstanden wird, die Dinge der Erfahrung in Gedachtes, Verstandenes und Gewusstes gemäß der Konstitution von Verstand und Vernunft zu überführen (exemplarisch begründet durch Immanuel Kants Vernunftkonzept). Zwar wird man dieser Einschätzung Meyer54

Vgl. zu Goethes Erfahrungsbegriff Hans Adler: Erfahrung, in: Bernd Witteu.a. (Hrsg.): Goethe-Handbuch, Bd. 4/1: Personen, Sachen, Begriffe, Stuttgart und Weimar 1998, S. 272–274. 55 In Der Sammler und die Seinigen von 1798/99 heißt es: »Es gibt keine Erfahrung die nicht produziert, hervorgebracht, erschaffen wird.« (FA 18: 712) Hintergrund dieses in einem Dialog geäußerten Gedankens ist die Annahme, dass eine Erfahrung nicht absolut passiv erfolgen kann; um erfahren zu können, bedarf es einer Disposition dazu im Subjekt – im Gespräch als ein aktiv operierendes »Organ« bezeichnet. Vgl. dazu insbesondere Kap. 7. 56 Vgl. dazu Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 80. 57 Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, a.a.O. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Hermeneutik vgl. insbesondere S. 27 f., zu Anschlussmöglichkeiten an die Gestaltpsychologie vgl. S. 107–111. 58 Ebd., vgl. den historischen Abriss zu Diskursen des Lernens S. 18–33. 59 Ebd., S. 14.

2.1 Bildungs- und erziehungswissenschaftliche Untersuchungsperspektiven

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Drawes grundsätzlich folgen können; es wäre nun aber gerade lohnend, zurückgedrängte, jedoch eminent ertragreiche Erfahrungskonzepte des 18. Jahrhunderts, die zudem bis heute eher randständig rezipiert werden, in den Fokus zu nehmen. Doch wird von Meyer-Drawe erst an späterer Stelle der in einer solchen Entwicklungslinie bedeutende Alexander Gottlieb Baumgarten mit seiner Ästhetik einmal nur kurz erwähnt60, Johann Wolfgang Goethes Konzeption von Erfahrung bleibt gänzlich ohne Berücksichtigung. Ich hoffe, diesen blinden Fleck auf der historischen Landkarte tilgen und die Bedeutung des philosophischen Denkens über Bildung von Goethe in dieser Hinsicht freilegen zu können61. Die Ertragsperspektive kann an dieser Stelle in Abgrenzung zum o.g. Erfahrungskonzept David Humes formuliert werden. Während Hume vom Menschen in epistemischer und anthropologischer Absicht behauptet, dass er »nichts […] als ein Bündel oder eine Sammlung verschiedener Perzeptionen [sei]«62, wird sich erweisen, dass Goethes Erfahrungsparadigma sowohl durch Aisthesis als Erkenntnis als auch durch biographische Reflexion ein spezifisches Selbstbildungskonzept im Sinne o.g. Identitätskonzeption von Individualität generiert. Im Anschluss an die Abhandlung von Meyer-Drawe ergeben sich zwei weitere Komponenten für eine Rekonstruktion der Programmatik Goethes: Zum einen der von ihr kritisch reflektierte Begriff von Ganzheit (Kap. 4), zum anderen der in Kap. 7 diskutierte Aίsthēsis-Begriff. Zur Kritik an Konzeptionen mit der Signatur von Ganzheit: »Was wir Moderne nennen, das läßt sich beschreiben als die Infragestellung [von] Ganzheitsvisionen«63. Bernhard Waldenfels beschreibt damit Bedingungen einer Exklusionsindividualität, die in einer sich ausdifferenzierenden, immer komplexeren Gesellschaft keine umgreifenden Ganzheiten64 konzeptionieren kann, wie oben schon für Formen kontingenter narrativer Identität thematisiert. Nun böte gerade auch im Sinnbezirk von Ganzheit der für den Identitätskomplex o.g. Begriff der Kluft65 die Möglichkeit, 60 Ebd., S. 195. 61 Es sei noch ergänzt: Die Debatte wird, so Meyer-Drawe, im 20. Jahrhundert zwischen Konstruktivismus und Phänomenologie ausgetragen (vgl. ebd., S. 176 ff.). Meyer-Drawe lässt mit einer solchen Zuspitzung freilich Positionen wie bspw. den Pragmatismus John Deweys weitgehend unberücksichtigt (er wird von Meyer-Drawe nur zweimal marginal erwähnt, vgl. S. 15 und 112). 62 David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur, dt. von Theodor Lipps, neu hrsg. von Reinhard Brandt, Hamburg 1973, S. 327. 63 Bernhard Waldenfels: Verfremdung der Moderne. Phänomenologische Grenzgänge, Göttingen 2001, S. 16, zitiert nach Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, a.a.O., S. 111. 64 Vgl. dazu unten auch die Kritik postmoderner Denkmuster an Metaerzählungen als Ganzheitskonzeptionen. 65 Bernhard Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie – Psychoanalyse – Phä-

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2 Fachwissenschaftlicher Zusammenhang und Forschungsliteratur

Ganzheit als ein Zusammendenken der Kluft zu modellieren, ein Ansatz, den ich für Goethe als offene Ganzheit unter Berücksichtigung seines Kluftbegriffes diskutieren werde66. Meyer-Drawes Argumentation zielt jedoch auf vier andere Diskursvarianten von Ganzheit, die sie kritisch beleuchtet: • Ganzheit als Gegenbild, mit z.T. irrationalen Versprechungen, z.T. naiven Hoffnungen, einer heilen Welt gegenüber den Defiziten und Beschädigungen moderner Gesellschaften: zum einen als Beschwörung eines verlorenen Paradieses, zum anderen als Utopie, als zukünftiger Entwurf67. • Ganzheit als Anspruch umfassender Totalität im Sinne der Kritik Adornos an den universellen Systementwürfen des dt. Idealismus (Hegel); ein System ohne Lücke68. • Ganzheit im Sinne einer perfekten neurobiologischen Maschine (Paradigma selbstreferentieller autopoietischer Systeme): »Das Gehirn lernt, und zwar immer«69. • Ganzheit als Metapher politischer Sprache, meist nationalistischer und rassistischer Couleur70. Die Auseinandersetzung mit dem Ganzheitsbegriff wird u.a. dadurch bestimmt, dass Meyer-Drawe die von ihr vertretene phänomenologische Richtung gegenüber der Gestaltpsychologie der Leipziger Schule abgrenzt und sie z.T. an die Berliner Schule (Kurt Lewin) anschließt, auch von dem Ziel geleitet, dem Irrationalismusvorwurf gegenüber der Phänomenologie zu begegnen71. Es ist nun hier nicht der Raum, der Kritik und Apologie Meyer-Drawes im Einzelnen nachzugehen. Im Verlauf der Begriffsgeschichte lassen sich, bezogen auf o.g. Kritikpunkte, viele Realisierungsvarianten finden. Doch ist es für die Rekonstruktion von Goethes Ganzheitsbegriff von Bedeutung, dass Meyer-Drawe die verschiedenen disparaten Sinnbezirke von Ganzheit im aktuell gültigen Paradigma des materialistischen Monismus diskutiert. Sie vernachlässigt zudem neben o.g. Optionen offener Ganzheit auch die im Vorherigen entwickelte Perspektive von Gestaltwahrnehmung und Mustererkennung bei Intuition und Ahnung, welche eine

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nomenotechnik, Frankfurt/M. 2002, S. 204, zitiert nach Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, a.a.O., S. 190. Vgl. im Folgenden. Vgl. für die Rekonstruktion Kap. 4, 5 und 7. Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, a.a.O., vgl. S. 104, 110. Ebd., S. 105 f. Ebd., S. 107, Zitat S. 120. Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, a.a.O., S. 109 f. Ebd., insbesondere S. 108–121.

2.1 Bildungs- und erziehungswissenschaftliche Untersuchungsperspektiven

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epistemische Methodologie für Ganzheit und Gestalt bietet72, und verfehlt damit in ontologischer und epistemischer Hinsicht den Ganzheitshorizont von Erfahrung, den Goethe modelliert. Goethe modelliert Ganzheit u.a. über den Gestaltbegriff und unterscheidet die Entelechie, im Sinne von Aristoteles ein inneres immateriell geistiges Aktprinzip (griech. έντελέχεια, entelechia, das, was sein Ziel in sich trägt)73, und ein von dieser wirkenden Kraft dem gestaltlosen, aber gestaltbaren materiellem Stoff (griech. ὕλη, hyle) eingeprägtes Ausdrucksphänomen, die Gestalt (griech. μορφή, morphé), die als ein die Differenz von geistigem Aktprinzip und materieller Stofflichkeit zwar wahrendes, aber ganzheitlich komplementäres Prinzip verstanden wird74. Das Verhältnis von innen und außen denkt Goethe ineinander verschränkt, im Sinne einer Dialektik des Sich-Zeigens und Sich-Verbergens75; damit differenziert Goethe nicht kategorisch nach Begriff/Idee und Erscheinung (bspw. im Sinne Kants), sondern betont die Indifferenz der Oberfläche76. Im Sinne ästhetischer Anschauung kann sich das entelechische Prinzip verkörpern: »Natur hat weder Kern / Noch Schale, / Alles ist sie mit einemmale«77. Dieses Denkmodell von Gestalt, das die Idee als Bewirkendes für den Stoff auffasst, unterscheidet sich von materiell-monistisch orientierten Denkansätzen78, wie sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Zuge der Evolutionsthe72 Dazu an dieser Stelle noch einmal die diesbezüglichen Theoriekonzeptionen: Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken, a.a.O.; Gerd Gigerenzer: Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, München 2013; ders.: Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition, München 2007. 73 Nach Hermann Schmitz sind aristotelischer und Goethe’scher Entelechiebegriff insofern zu unterscheiden, als Entelechie bei Goethe eine innere schöpferische Motivation zu Gestaltung ist, während diese Aristoteles noch fremd sei. Vgl. Hermann Schmitz: Goethes Altersdenken im problemgeschichtlichen Zusammenhang, Bonn 1959, S. 278–285. 74 Zur Differenzierung von Idee und Erfahrung heißt es in Bedenken und Ergebung: »Die Schwierigkeit Idee und Erfahrung mit einander zu verbinden erscheint sehr hinderlich bei aller Naturforschung: die Idee ist unabhängig von Raum und Zeit, die Naturforschung ist in Raum und Zeit beschränkt, daher ist in der Idee Simultanes und Sukzessives innigst verbunden, auf dem Standpunkt der Erfahrung hingegen immer getrennt, und eine Naturwirkung die wir der Idee gemäß als simultan und sukzessiv zugleich denken sollen, scheint uns in eine Art Wahnsinn zu versetzen. Der Verstand kann nicht vereinigt denken was die Sinnlichkeit ihm gesondert überlieferte, und so bleibt der Widerstreit zwischen Aufgefaßtem und Ideiertem immerfort unaufgelöst« (FA 24: 449 f.). 75 Zur Relation und Unterscheidung von innen vs. außen sowie der damit verbundenen »Dialektik von Sich-Zeigen und Sich-Verbergen« im Rahmen einer »Physiognomik in der Naturwissenschaft« vgl. Gernot Böhme: Atmosphäre, a.a.O., S. 202. 76 Vgl. in Kap. 3.2 die Ausführungen zu ästhetischer Bildung. 77 Unwilliger Ausruf, in: FA 24: 523. Dazu Goethe-Jahrbuch 2011, S. 98 ff. 78 Vgl. dazu Kap. 4.2.3.

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2 Fachwissenschaftlicher Zusammenhang und Forschungsliteratur

orie paradigmatischen Status haben, aktuell u.a. von dem Prinzip autopoietischer Organisation79, teilt mit diesen aber den Gedanken der Selbstbildung. Indem meine Rekonstruktion den in dieser Hinsicht eine Seinsdualität implizierenden ganzheitlichen Gestaltbegriff Goethes aktiviert, kann er als ein Gegenkonzept zu den aktuellen materiell- monistisch orientierten Konzepten verstanden werden und verspricht neue Einsichten in Selbstbildungsprozesse80, die mit dem Autopoiesisbegriff verbunden sind. Das Argumentationspotential für ihre Kritik an Ganzheitskonzepten bezieht Meyer-Drawe u.a. von Paradigmen der Postmoderne. Entsprechende Denkmuster lassen sich im Beschreibungsansatz Meyer-Drawes in der Auffassung Jean-François Lyotards vom Ende der großen »Meta-Erzählungen«81 finden, ohne dass MeyerDrawe diese explizit thematisiert. Lyotard versteht darunter die universellen Systementwürfe u.a. der Aufklärung und des Idealismus82, die mit ihren Einheits- und Ganzheitsprojekten – bspw. den teleologischen motivierten Entwürfen von Geschichte und Fortschritt, der Idee des souveränen Subjektes oder auch einen an exklusiven Inhalten mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit orientierten Bildungsbegriff – sowie den damit verbundenen oder unterstellten Universalisierungsansprüchen und Formen des Essentialismus ihre Geltung verloren haben. Pluralität kennzeichnet postmodernes Denken83. Lyotards Bild dafür ist der »Archipel«. Wie »Inseln« sind einzelne Diskursvarianten (bspw. Denkströmungen und ihre Wissensbestände) darin verstreut. Zwar kann man sich im »Medium« des Wassers von Insel zu Insel bewegen, aber es gibt keine essentielle Verbindung, allenfalls eine konstruierte, welche die Differenz und Heterogenität nicht aufheben kann84. Der von 79 Der von Humberto R. Maturana geprägte Begriff der Autopoiesis bezog sich zunächst auf die Biologie, hat aber generelle Bedeutung für gegenwärtige Denkansätze gewonnen. Vgl. Humberto R. Maturana; Francisco J. Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens, Frankfurt/M 42011, S. 55. Niklas Luhmann definiert z.B. in verallgemeinernder Absicht: »Autopoietische Systeme können ihre Struktur nicht als Fertigprodukte aus ihrer Umwelt beziehen. Sie müssen sie durch ihre eigenen Operationen aufbauen und das erinnern – oder vergessen.« In: Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Wiesbaden 32008, S. 13. 80 Vgl. zu epistemischen und ontologischen Implikationen des Gestaltbegriffes Kap.  7.2. 81 Roland Reichenbach: Philosophie der Bildung und Erziehung, a.a.O., vgl. S. 218 ff. 82 Eine der großen Erzählungen in diesem Sinne wäre z.B. die Idee der Ganzheit, wie sie von der Bildungsphilosophie der Goethezeit geprägt wird. 83 Vgl. Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne, Berlin 72002. 84 Zitate in Jean-François Lyotard: Der Enthusiasmus. Kants Kritik der Geschichte, Wien 1988, S. 33. Lyotard grenzt sich mit dem Archipel-Motiv explizit von Kants Überlegungen einer »Affinität«, »Kommensurabilität« und »Anziehungskraft« der Vernunftarten ab (vgl. S. 112 f.). Vgl. zum Bild des Archipels und den damit verbundenen Denkmustern Wolfgang Welsch: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt/M. 1996, S. 328–338; zum Begriff der »Verkettung« S. 326–328.

2.1 Bildungs- und erziehungswissenschaftliche Untersuchungsperspektiven

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Lyotard für diesen Modus geprägte Begriff des Widerstreits85 betont nicht nur die Inkommensurabilität unterschiedlicher Denkmuster, sondern ist das Aktivierungspotential gegen den »Terror des Ganzen«86. Schon Theodor Adorno kritisiert in Negative Dialektik87 im Sinne solcher Denkmuster die Idee von Ganzheit, wie sie seiner Auffassung nach in den philosophischen Bildungskonzeptionen der Goethezeit entwickelt worden ist. Geschlossene Systementwürfe mit Anspruch auf letztbegründbare Wahrheiten – Adorno unterstellt Idealismuskonzeptionen u.a. den Allmachtsanspruch aufgeklärter Vernunft – bergen für ihn die Gefahr einer Totalität universeller Geltungsansprüche88. Adorno geht demgegenüber von einer unabschließbaren Vielfalt aus, die nicht durch synthetisierende und systematisierende Konzeptionen verengt werden dürfe, sondern in ihren antagonistischen Disharmonien reflektiert werden soll – aphoristisches Denken ist hier die entscheidende Alternative zum Systemdenken89. Pluralität, Differenz und Widerstreit bieten Denkfiguren für eine Nomadisierung des Denkens (Hastedt), sich jeweils nach Maßgabe spezifischer Modalitäten im Kontext multivalenter Diskursvarianten zu bewegen. Damit zeichnet sich bspw. – neben der Gefahr von Beliebigkeit, die Bedeutungslosigkeit zur Folge hätte – durchaus auch die Möglichkeit ab, Dimensionen eines Sachzusammenhangs, bspw. von Bildung, sehr viel intensiver ausloten zu können, als man es im Rahmen nur einer Spielart vermag90. Wenn jedoch Lyotards und Adornos Konzeptionen im Horizont solcher Optionen divergierende Denkfiguren favorisieren, Differenz und Widerstreit betonen, lässt sich zeigen, dass bei Goethes Erkenntnismethodik eine multiperspektivische 85 Jean-François Lyotard: Der Widerstreit, München 1989. 86 Wolfgang Welsch: Vernunft, a.a.O., S. 309, zum Begründungszusammenhang vgl. S. 305–328. 87 Theodor Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1966. 88 Auch Goethes Gestaltbegriff mit seinen Optionen von Ganzheit wird als »Totalitätsmuster« interpretiert (Annette Simonis: Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin, Köln u.a. 2001, S. 366), eine Auffassung, die von mir für Goethes Gestaltbegriff kritisch hinterfragt wird, um dessen Semantik offener Ganzheit aufzuzeigen (vgl. dazu Kap. 4). 89 »[Das] ganze ist für Adorno keine systematisch zu erfassende Totalität [mehr], sondern eine unabschließbare Vielfalt von Aspekten; und diese Vielfalt besteht nicht in einer sich gegenseitig harmonisch ergänzenden Komplementarität, sondern in einer spannungs- und widerspruchsvollen Disharmonie der verschiedenen Aspekte.« Hans-Christoph Koller: Bildung und Widerstreit. Zur Struktur biographischer Bildungsprozesse in der (Post-)Moderne, München 1999, S. 132. 90 Vgl. dazu Wolfgang Nieke: Zur geistigen Situation der Gegenwart: Sich modernisierende Moderne oder postmoderne Beliebigkeit?, in: Heiner Hastedt; Dieter Thomä (Hrsg.): Nachwendliche Orientierung. Modernisierung in Deutschland. Rostocker Philosophische Manuskripte, Neue Folge H. 2, 1995, S. 29–44.

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2 Fachwissenschaftlicher Zusammenhang und Forschungsliteratur

Betrachtungsweise vorliegt, welche verschiedenartige Denkmuster als epistemische Modi dafür nutzt, Dinge der Erfahrung als Teile einer offenen Ganzheit zu modellieren, welche Zusammenhänge denkt, aber unter Wahrung der Kluft. Die Differenz motiviert ein produktives Verstehen, das den Fundus von Wissen durch neue Erkenntnisse erweitert und, wenn nötig, verändert. Die Welt ist dabei nicht nur das Erfahrungs- und Handlungsfeld, sondern auch die Instanz der Korrektur eines viablen Wissens91. Es geht also nicht um die Konstruktion von Korrelationen und um absolute Einheitsmuster, sondern um Korrespondenzen in der Differenz. Damit wird die Möglichkeit gewonnen, Wechselwirkungen der Teile und des Ganzen in zentrifugal-zentripetalen Erschließungsvariationen zu erproben: sowohl für das Einzelne wie für das Ganze sinnstiftende Zusammenhänge zu modellieren, ohne in imperialistische Attitüden zu verfallen. Im Anschluss daran ergeben sich auch Perspektiven für ein modernes Nomadentum. Dieses müsste sich nicht durch die Abdankung des Subjektes definieren, sondern könnte dessen Identität im Spektrum von Selbstbehauptung und bildender Erfahrung in produktiver Realitätsverarbeitung konstituieren. Auch bezogen auf den ideengeschichtlichen Kontext der Bildungsprogrammatik Goethes empfiehlt sich ein genauer Blick, der bei unterschiedlichen Autoren einen überraschend differenzierten Gebrauch des Ganzheitsbegriffes mit modifizierenden Implikationen gegenüber den von Meyer-Drawe bestimmten Konstituenten zeigt. An dieser Stelle seien exemplarisch Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater92 und besonders Friedrich Schillers Über naive und sentimentalische Dichtung93 mit ihrem entwicklungsgeschichtlich motivierten Konzept von Ästhetik genannt. Der Kerngedanke Schillers in Bezug auf die Entfremdungsproblematik der Moderne – [d]as Gegentheil der naiven Empfindung ist nehmlich der reflektierende Verstand, und die sentimentalische Stimmung ist das Resultat des Bestrebens, auch unter den Bedingungen der Reflexionn die naive Empfindung, dem Inhalt nach, wieder herzustellen94 91

Viabilität kennzeichnet im Sinne des Konstruktivismus Wissensstrukturen. Dabei wird Theorie als flexibles Erklärungsmuster verstanden, welches ein Resultat von Anpassung ist. Vgl. Ernst von Glasersfeld: Radikaler Konstruktivismus, Frankfurt/M. 1997, S. 43, sowie: Ernst von Glasersfeld: Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität, in: Heinz von Foerster u.a. (Hrsg.): Einführung in den Konstruktivismus, München und Zürich 122010, S. 9–39, vgl. besonders S. 29 f. 92 Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, auf der Grundlage der Brandenburger Ausgabe hrsg. von Roland Reuß und Peter Saengle, München und Frankfurt/M. 2010, S. 425–433. 93 Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung, hrsg. von Klaus L. Berghan, Stuttgart 2002. 94 Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung, a.a.O., S. 75. Vgl. dazu

2.1 Bildungs- und erziehungswissenschaftliche Untersuchungsperspektiven

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– verortet die Utopie geradezu in den Bedingungen moderner Existenz und überwindet mit seinem dialektischen Geschichtskonzept Ansprüche auf Totalität und universelle Geltung, indem er nicht auf eine metaphysische Ursprungslogik oder ein fixierbares Ziel insistiert, sondern die perspektivische Konstruktion des Sentimentalischen betont und damit als Spielart offener Ganzheit verstanden werden kann95. Aisthesiserfahrung diskutiert Meyer-Drawe vor dem Hintergrund von Subjekttheorien, die im Zuge des deutschen Idealismus die Sinnstiftung von Exklusionsindividualität der Moderne durch Vernunftkonzeptionen favorisieren96. Die schon in der historischen Rekonstruktion vollzogene Abgrenzung von vernunft- und erfahrungsgestützten Erkenntnistheorien greift sie für Aisthesiskonzeptionen im Rahmen der Opposition Logos (λόγος – lógos, rationale Kognition) vs. Aísthēsis (αῐσθησις – aίsthēsis, sinnliche Kognition) auf, um vormoderne Auffassungen von Aisthesis, besonderes der vorsokratischen Philosophie, auf ihre Tragfähigkeit für moderne Konzeptionen zu befragen. Dabei wird die Unterscheidung von Erfahren und Erleben in der hybriden Semantik des Verbs aisthanomai (αίσθάνεσθαι) aufgesucht97. Im Spektrum von zentrifugaler Wahrnehmung, die im Sinne Meyer-Drawes mehr geistig intentional und interpretativ motiviert ist, und zentripetal verlaufender Sinnlichkeit (»passive Dimension«98) besteht die Möglichkeit, dass nicht nur das Subjekt seine Aufmerksamkeit auf ein Objekt richtet, sondern dass vielmehr das Objekt die Aufmerksamkeit des Subjekts auf sich zieht. Wenn Platon die von Parmenides betonte Differenz von Wahrnehmung und Denken endgültig in dem Sinne vollzieht, dass die Rolle der Sinne für die Erkenntnis als unzuverlässig beurteilt wird, muss man für die vorsokratische Philosophie davon ausgehen, dass Aisthesis und Noesis noch einander durchdringen: Bewusstsein und Denkprozeduren sind unter diesen Vorzeichen kein exklusiver Bezirk, sondern über die Sinnlichkeit in die Welt involviert99. Etymologisch betrachtet, ist die Semantik von αίσθάνομαι freilich komplexer, als von Meyer-Drawe aktiviert; neben den sinnlichen umfasst sie auch die emotionalen und rationalen Vermögen: empfinden, wahrnehmen, bemerken, erfahren, verstehen, einsehen100. Mit Ahnung und Intuition habe ich auf die Bedeutung dieses epistemischen Ensembles für die Goethe’sche Aisthesiskonzeption schon hingewiesen.

95 96 97 98 99 100

Peter Szondi: Das Naive ist das Sentimentalische. Zur Begriffsdialektik in Schillers Abhandlung, in: Euphorion 66 (1972), S. 174–206. Vgl. dazu Kap. III. Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, a.a.O., vgl. S. 193–200. Ebd., S. 195 f. Ebd., S. 195. Ebd., S. 195 ff. Vgl. den Artikel Wahrnehmungstheorie in: Hubert Cancik; Helmuth Schneider (Hrsg.): Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 12/2, Stuttgart und Weimar 2002, Sp. 373– 378, hier besonders Sp. 373.

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2 Fachwissenschaftlicher Zusammenhang und Forschungsliteratur

Indem sie den hybriden Sinnbezirk von Aisthesis der vorsokratischen Philosophie aktiviert, plädiert Meyer-Drawe für eine Rehabilitierung sinnlicher Wahrnehmung als Erkenntnismodell und gewinnt historisch-systematische Anschlussmöglichkeiten für eine Konzeption von Aisthesis als Erkenntnis101. Nicht allein die Erkenntnis strukturierende Vernunft, welche Erfahrung in diskursiv orientierten Konzepten unter ihre Kategorien subsumiert, sondern Sinnlichkeit und Wahrnehmung selbst generieren Erkenntnis. Damit strukturiert das Subjekt nicht einen rein konstruktivistischen Bezug zur Welt, sondern verändernde Erfahrung kann als eine Form produktiver Realitätsverarbeitung verstanden werden. Aisthesis wird unter diesen Bedingungen zur »Grundlage einer Kritik an der Moderne«102. Das insbesondere von Gernot Böhme für die Ästhetik vorgeschlagene Paradigma der Atmosphären103 bietet in diesem Sinne für den Aisthesis-Sinnbezirk interessante Perspektiven, wird von Meyer-Drawe aber nicht berücksichtigt. In der Auseinandersetzung mit den Konzeptionen von Ludwig Klages und Hermann Schmitz diskutiert Böhme Atmosphären im Spektrum der Subjekt-Objekt-Dichotomie104: In der Wahrnehmung der Atmosphäre spüre ich, in welcher Art Umgebung ich mich befinde. Diese Wahrnehmung hat also zwei Seiten: auf der einen Seite die Umgebung, die eine Stimmungsqualität ausstrahlt, auf der anderen Seite ich, indem ich in meiner Befindlichkeit an dieser Stimmung teilhabe und darin gewahre, daß ich jetzt hier bin. Wahrnehmung qua Befindlichkeit ist also spürbare Präsenz. Umgekehrt sind Atmosphären die Weise, in der sich Dinge und Umgebungen präsentieren.105

Dabei kritisiert Böhme Auffassungen von Atmosphäre als konstruktivistischer Projektion des Subjektes (»[...] die Heiterkeit eines Tales oder die Melancholie eines Abends als […] Projektionen von Stimmungen« eines Subjektes106):

101 Einen Einblick in aktuelle Fragestellungen und Wahrnehmungskonzepte bieten Martin Basfeld; Thomas Kracht (Hrsg.): Subjekt und Wahrnehmung. Beiträge zu einer Anthropologie der Sinneserfahrung, Basel 2002, darin besonders Gernot Böhme: Wahrnehmung von Atmosphären, S. 19–37. 102 Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, a.a.O., S. 200. Vgl. dazu Hans- Jürgen Scheurle: Die Gesamtsinnesorganisation. Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung in der Sinneslehre, Stuttgart 21984. 103 Gernot Böhme: Atmosphäre, a.a.O. 104 Ebd., vgl. besonders S. 28–31. 105 Ebd., S. 96. 106 Ebd., S. 29.

2.1 Bildungs- und erziehungswissenschaftliche Untersuchungsperspektiven

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Diese Auffassung ist sicherlich phänomenwidrig, insofern die Heiterkeit eines Tales oder die Melancholie eines Abends gerade dann auffällig werden, wenn man in sie mit einer ganz anderen Stimmung hineingerät und durch diese Atmosphären ergriffen und gegebenenfalls ›umgestimmt‹ wird.107

Unter den Bedingungen dieser Option hat der Atmosphärenbegriff konzeptionelle Funktion für das Paradigma von Aisthesis als Erkenntnis. Wahrnehmung wird auch als sich aktiv aufdrängende Realität verstanden, die eine Umstimmung des Subjektes bewirken kann. Ich nutze das Denkmuster Böhmes für die Rekonstruktion von Aisthesis in Goethes Programmatik von Bildung108. Es hat eine inhaltliche Nähe zur Theoriekonstruktion transformatorischer Bildung109 und bietet die Möglichkeit, die im Vorherigen unter verschiedenen Fragestellungen thematisierte Wechselwirkung von Ich und Welt sowie von Subjekt widerständigem inneren Aktzentrum angemessen zu beschreiben, u.a. weil es die einseitige Fixierung auf eine Subjektdekonstruktion vermeidet. Dabei wird das im Anschluss an Meyer-Drawe und Böhme konstruierte Denkmuster von Aisthesis sinnlichkeits- und denkbasiert zu modellieren sein: Raum und Resonanzraum wechselseitig wirkender zentrifugaler und zentripetaler Bewegung, wie es nicht nur der Begriffsgebrauch einiger Vorsokratiker nahe legt110, sondern auch für Goethes Verständnis von Erfahrung konstitutiv ist: »Es gibt keine Erfahrung die nicht produziert, hervorgebracht, erschaffen wird.«111 Es wird zu zeigen sein, dass Goethe ein Paradigma von Aisthesis als Erkenntnis konzeptioniert112, das Wahrnehmung als Aktivität versteht, den Konstruktivismus regulativer Verstandes107 Ebd., S. 29 f. 108 Vgl. unten den Bezug zu bildender Erfahrung (Thompson) und transformatorischer Bildung (Koller). 109 Vgl. Hans-Christoph Koller: Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Stuttgart 2012. Zur genaueren Perspektivierung des Konzepts in Hinsicht auf das vorliegende Thema vgl. unten. 110 Vgl. Thomas Schirren: Aisthesis vor Platon. Eine semantisch-systematische Untersuchung zum Problem der Wahrnehmung, Stuttgart und Leipzig 1998, S. 131–133. 111 Der Sammler und die Seinigen, in: FA 18:712. Hintergrund dieses in einem Dialog geäußerten Gedankens ist die Annahme, dass eine Erfahrung nicht absolut passiv erfolgen kann; um erfahren zu können, bedarf es einer Disposition dazu im Subjekt – im Gespräch als ein aktiv operierendes »Organ« als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung bezeichnet. 112 Vgl. zu aktuellen Begründungen von Erkenntnis als Aisthesis Wolfgang Welsch: Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre, Stuttgart 1987. Ders.: Ästhetisches Denken, Stuttgart 62003. Vgl. zum weiteren Kontext auch Gernot Böhme: Atmosphäre, a.a.O., S. 7–12.

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2 Fachwissenschaftlicher Zusammenhang und Forschungsliteratur

begriffe dabei durchaus nutzt, aber auf weitere epistemologische Optionen innerer Anschauung (Intuition) rekurriert. Für Christiane Thompson ist Erfahrung die zentrale Kategorie von Bildung. Wenn sie Randgänge der Bildungsphilosophie113 unternimmt, geht es ihr in Anschluss an aktuelle philosophische Referenztheorien (Jean-François Lyotard, Theodor Adorno, Michel Foucault) darum, Bildung als Erfahrungsprozess zu begreifen mit dem Untersuchungsziel, Grenzen der Erfahrung und damit Grenzen der Bildung auszuloten: »Bildung wird […] als durch Grenzen konturierter Erfahrungsprozess in den Blick gebracht und auf die die Moderne leitende Unterscheidung von empirisch versus intelligibel bezogen«114. Im Anschluss an den Differenzbegriff Lyotards geht Thompson von einer dialektischen, aber inkompatiblen Bezüglichkeit von »Subjekt« und »Welt« unter der Bedingung prinzipieller »Unmöglichkeit des ungebrochenen Selbstbezugs des Subjekts«115 aus: »Erfahrung ist keine Leistung des Subjekts«, dieses wird vielmehr ausschließlich »von Erfahrung her verständlich«116. Folglich verneint Thompson ein Ich als kohärentes Substrat von Erfahrung, sie diskutiert »bildende Erfahrung«117 als Dekomposition des Subjekts, als »Möglichkeitsraum«118 einer Selbstüberschreitung in einem offenen, nicht auf ein Telos ausgerichteten Prozess119; Thompson konzeptioniert mit dem Begriff bildender Erfahrung das, was im Vorherigen als Dekonstruktion durch Erfahrung diskutiert worden ist. Thompson verortet sich mit ihrer Untersuchung in historisch-soziologisch argumentierenden Begründungszusammenhängen (u.a. Günther Buck)120, welche identitätstheoretische Konzepte kritisieren, die Bildung als Möglichkeit begreifen, die Entfremdung der Moderne tatsächlich aufheben und harmonische Identität realisieren zu können. Mit Foucault geht Thompson vielmehr von »historischen Subjektivationskonstellationen« aus121, deren Theoriekonstruktionen sie rekonstruiert. Unter diesen Voraussetzungen interpretiert Thompson Erfahrungsbegriff und Subjektkonzeption u.a. bei Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. In deren Theoriekonzeptionen sei das Ich kein einheitlicher Referenzpunkt122 von Er113 Christiane Thompson: Bildung und die Grenzen der Erfahrung. Randgänge der Bildungsphilosophie, Paderborn 2009. 114 Christiane Thompson: Bildung und die Grenzen der Erfahrung, a.a.O., S. 16. 115 Ebd., S. 13. 116 Ebd., S. 15. 117 Ebd., vgl. u.a. S. 17, 20, 45 und 50. 118 Ebd., S. 50. 119 Ebd., vgl. S. 75–77. 120 Ebd., S. 15. 121 Ebd., S. 189. 122 Ebd., S. 31.

2.1 Bildungs- und erziehungswissenschaftliche Untersuchungsperspektiven

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fahrung. Indem Kant zwischen transzendentalem und empirischen Ich unterscheide, werde von ihm ein »unüberbrückbarer Riss«123 konstatiert; Hegel gehe von einem dialektischen Prozess aus, in welchem sich Bewusstsein immer nur am Anderen erfahre, d.h. an dem, was es gerade nicht ist. Demnach könne Identität allenfalls negativ bestimmt werden, sowohl Kant als auch Hegel gingen von der »Unmöglichkeit eines identischen Ich«124 aus. Unter dieser Perspektive rekonstruiert Thompson den Bildungsbegriff Wilhelm von Humboldts. Sie erschließt dessen Programmatik als »Desubstantialisierung«125 des Ich durch bildende Erfahrung, die mit dem »Verlust einer vormaligen Weltsicht verbunden«126 sei, und interpretiert für Humboldts Bildungsbegriff dort, wo er Freiheitspotentiale monadologischer Selbst-Identität und ursprungsmetaphysisch orientierte Begründungen im Bedeutungsspektrum von Entelechie und Teleologie aufweist, das als bloß perspektivische Richtung und konstruktiv transzendentalen Bezugspunkt der Bildungsprogrammatik127. Bezogen auf die für meine Arbeit leitende Untersuchungsperspektive bleibt festzuhalten: Im Anschluss an die philosophischen Referenztheorien der anderen Moderne entwirft Thompson eine Programmatik bildender Erfahrung als »Entsubjektivierung«128, die Kants, Hegels und Humboldts Erfahrungskonzeptionen ausschließlich als subjektdestruierend versteht. Diese Stoßrichtung Thompsons zielt darauf, Erfahrung als einen »subversiven Begriff, der Unsicherheit in unser Verhältnis zur Welt und uns selbst bringt«129, abzusichern, der jede instrumentelle und funktionelle Vereinnahmung von Bildung ebenso abwehrt wie Identitätskonzeptionen als Heilsversprechen gegen die Moderne. Fragwürdig an diesem Argumentationsansatz Thompsons ist, ob ein Begriff bildender Erfahrung, der mehr darüber sagt, was Bildung nicht sein soll, als dass er positive Perspektiven von Bildung entwirft, produktiv zielführend sein kann130. Die Instanz, auf die der gesamte gedankliche Aufwand zielen müsste, bleibt derart unterbestimmt, dass sie selbst im Sinne Luhmanns kaum negativ in ihren Umrissen kon123 124 125 126 127

Ebd., S. 32. Ebd., S. 32. Ebd., S. 50. Ebd., S. 48. Ebd., vgl. S. 49. Vgl. in Kap. 3 dazu das davon abweichende Selbstverständnis Humboldts, das seinem Selbstbildungsbegriff entspringt. 128 Christiane Thompson: Bildung und die Grenzen der Erfahrung, a.a.O., S. 189. 129 Ebd., S. 143. 130 Vgl. Ralf Beuthan: [Rezension zu:] Christiane Thompson: Bildung und die Grenzen der Erfahrung. Rundgänge der Bildungsphilosophie, Paderborn 2009, in: Kritikon, 24.03.2010. , letzter Zugriff: 17.9.2010.

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2 Fachwissenschaftlicher Zusammenhang und Forschungsliteratur

turiert wird. Ich füge nur ein, dass ich in diesem Kontext den interpretatorischen Zugriff auf die Konzeptionen Kants, Hegels und Humboldts als einseitig verkürzend einschätze, doch hier nicht der Platz für eine genauere diesbezügliche Untersuchung sein kann. Unter dem im Vorherigen entwickelten Gesichtspunkt der Wechselwirkung betrachtet, bleibt unverständlich, dass Thompson bildende Erfahrung in bewusster Engführung ausschließlich im semantischen Spektrum von Verlust/Verunsicherung begründet und damit die Möglichkeiten positiver Bestimmung ausblendet, die bildende Erfahrung auch hat – etwa im Sinne des Umschichtungsparadigmas von Ludwik Fleck sowie dem Revolutionsparadigma Thomas Samuel Kuhns als Veränderung und Umwandlung verstanden, die neben Verlust und Verunsicherung einen weitgefassten Sinnbezirk eröffnet, wie ihn u.a. auch das Konzept transformatorischer Bildung im Kontext der Bildungsphilosophie diskutiert131. Die Alternative, dass Neues bloß kumulativ in etablierte Wissensbestände integriert oder diese durch das Neue erschüttert werden, greift zu kurz. Ob Erfahrung mehr beeindruckt oder aneignend genutzt wird, ist situativ zu klären. Es findet eine je konkret geartete und als solche zu bestimmende Umwandlung statt, die etablierte Wissensbestände und Erkenntnisoptionen sowohl kumulativ füllen als auch destruieren kann. Eine prinzipiell gedachte Alternative wird der komplexen Wirklichkeit kaum gerecht. Die Kritik an Thompson, zu einseitig und eng zu argumentieren, gilt insbesondere auch für den anvisierten Untersuchungsbereich: Bildende Erfahrung wird ausschließlich als Erfahrung von Anderem und in der Interaktion mit Anderem diskutiert. Individuationsleistungen produktiver Realitätsverarbeitung bleiben weitgehend unberücksichtigt. Deshalb greift auch hier der im Vorherigen von mir gegenüber der Konzeption von Meyer-Drawe gemachte Einwand. Es wäre zu klären, was bildende Erfahrung im Sinne von Selbstbildung und Selbstbegründungsfreiheit (Kemper) auszeichnet. Dabei sind insbesondere die Spielräume zu bedenken, die dem widerständigen inneren Aktzentrum gegenüber den Vollzügen des Subjekts zur Verfügung stehen. Über die Vermögen und Kompetenzen des Subjekts hinaus verfügt jenes über ein Aktions- und Gestaltungspotential in Differenz zu Konstitutionsleistungen von diesem, aus dem sich nicht nur Kreativität und künstlerische Produktivität speisen, sondern auch denkbasierte Wahrnehmung, Intuition und Ahnung. Mit meinen Einwänden ist angedeutet, wie ich den Begriff bildender Erfahrung aufgreife, um Goethes Bildungsprogrammatik zu rekonstruieren. Meiner Ansicht nach kann es nicht darum gehen, eine prinzipielle Alternative selbstbestimmte 131 Vgl. dazu auch meine Kritik an Meyer-Drawe oben sowie im Folgenden die Diskussion zu transformatorischer Bildung im Anschluss an Hans-Christoph Koller.

2.1 Bildungs- und erziehungswissenschaftliche Untersuchungsperspektiven

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selbstgewisse Identität vs. Dekonstruktion des Subjekts durch bildende Erfahrung bei der Begründung von Bildungsprozessen zu konstruieren, sondern sie sind als korrelativ aufeinander abgestimmte Polarität zu denken, in der bildende Erfahrung als Metamorphose bewirkende Umbildung begriffen wird132. Wie im Vorherigen schon hervorgehoben, ist das dergestalt angesprochene Paradoxon – ein im Gestaltwandel mit sich selbst Identisches – ein konstitutives Motiv im Bildungsdenken Goethes. Es wird zu zeigen sein, dass Goethe damit weder ein heute kaum anschlussfähiges Präformationskonzept noch einen Essentialismus vormoderner Ursprungsmetaphysik vertritt, sondern unter immer neuen Fragestellungen der labilen Wechselwirkung von bildender Erfahrung und Ich-Konstitution nachspürt, die im Modus eines radikal offenen Suchens operiert: bildende Erfahrung als Resonanzraum eines sich zentrifugal-zentripetal konkretisierenden Ich, das nicht als solches, sondern in der Brandungszone von Aisthesis und Reflexion gespiegelt erscheint. In diesem Zusammenhang wird Goethes Bildungsparadigma als ein Korrektiv zu Thompsons Verständnis von bildender Erfahrung zu diskutieren sein, das Freiheitspotentiale von Selbstbildung beansprucht. Im Kontext der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse in Anschluss an Rainer Kokemohr führt Hans-Christoph Koller mit seinem Buch Bildung anders denken133 in dieses Theoriekonzept von Bildung ein. Er geht davon aus, dass Bildung ein zentraler Begriff pädagogischen Denkens und Handelns ist. Dabei ist Humboldts Theorie allgemeiner Bildung die entscheidende Referenztheorie134. Humboldt denkt Bildung als Veränderung135. In diesem Sinne ist Transformation die entscheidende Kategorie von Bildung. Koller hebt hervor, mit der Theorie transformatorischer Bildung in zweierlei Hinsicht über Humboldt hinauszugehen: Er betont als Bildungsanlass die Krisenerfahrung136 und er geht von Anschlussmöglichkeiten der Bildungstheorie an empirische Bildungsforschung aus137. Unter diesen Bedingungen entwirft Koller die Programmatik transformatorischer Bildung, indem er deren Gegenstand, mögliche Anlässe und die Theoriekonzeption entwickelt. Wenn Koller mit der Theorie transformatorischer Bildung eine aktuelle Konzeption vorlegt, die 132 Zum Begriff Steigerung, der in diesen Zusammenhang von Polarität gehört, vgl. die Ausführungen zum Untersuchungsgegenstand. 133 Hans-Christoph Koller: Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Stuttgart 2012. 134 Ebd., S. 11 ff. 135 Vgl. zu den Dimensionen die Vorbemerkungen in Kap. 1: Bezug zu Welt, anderen Menschen und Selbstbezug. 136 Vgl. dazu Kap. 3.1, wo ich zeige, dass Humboldt sehr wohl die Krisenerfahrung kennt und sie zum Ausgangspunkt von Bildungsprozessen wird. 137 Hans-Christoph Koller: Bildung anders denken, a.a.O., S. 16 f.

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2 Fachwissenschaftlicher Zusammenhang und Forschungsliteratur

vom Allgemeinbildungsbegriff Humboldts ausgeht, werde ich mit meiner Untersuchung zeigen, dass Goethe Bildung ebenfalls als Veränderung begreift, diese aber konsequent als Selbstbildung basiert.

2.2 Untersuchungsperspektiven im Spiegel der Goetherezeption Die Literatur zu Goethes Leben und Werk ist unüberschaubar. Deswegen mag es erstaunen, dass die bildungstheoretische Dimension in Goethes Denken nur einen recht bescheidenen Teil des wissenschaftlichen Interesses gegenüber der überwältigenden Fülle des Ganzen ausmacht138. Ältere Arbeiten bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts konzentrierten meist auf die Wilhelm-Meister-Romane und die Konzeption der pädagogischen Provinz, nicht selten verbunden mit dem Vorsatz, Goethes Leben und Werk je nach ideologischem Zugriff als idealtypisches normatives Vorbild für Erziehung und Gesellschaft in Anspruch zu nehmen139.

138 Vgl. für einen Überblick über die Rezeption bis in die 80er Jahre Karl Robert Mandelkow: Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland, 4 Bde., München 1975–1984, sowie ders.: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers, 2 Bde., München 1980 und 1989. 139 An sehr frühen Untersuchungen wären zu nennen die Arbeiten von Adolf Langguth: Goethes Pädagogik, Halle 1886; ders.: Goethe als Pädagog, Halle 1887; ders.: Goethe als pädagogischer Schriftsteller und seine Stellung zu den Erziehungs- und Unterrichtsfragen der Gegenwart, Halle 1888; Langguth interpretiert Goethes Werk aus der Perspektive herbartianischer Erziehungsprinzipien und der damals aktuellen Darwinismusdiskussion. Weiterhin zu nennen ist Wilhelm Rein: Goethe als Pädagog, in: Friedrich Mann’s Pädagogisches Magazin H. 495 (1912). Für Rein ist Goethe der Repräsentat einer neuen Gesellschaftsordnung, die durch entsprechende Erziehung geformt werde, Herbarts Erziehungsprinzipien sind auch hier das Leitbild. Langguth und Rein insistieren auf der Basis normativer ethischer Zielsetzung einer spezifischen Ideologie und unterziehen von hier aus Goethes Leben und Werk einer Deutung, sie ignorieren damit die Eigenarten des Bildungsdenkens Goethes völlig. Vgl. weiterhin die geisteswissenschaftlich orientierte Sammlung von Wilhelm Flitner: Goethes pädagogische Ideen. Die Pädagogische Provinz nebst verwandten Texten, Düsseldorf und München 21962. Als frühe Arbeit wäre außerdem anzuführen die vom Neukantianismus geprägte Untersuchung von Max Wundt: Goethes Wilhelm Meister und die Entwicklung des modernen Lebensideals, Berlin und Leipzig 1913, in der Goethe als Repräsentat der Epochenschwelle in die Moderne interpretiert wird. Wundts idealistische Deutung berücksichtigt die mit der Moderne verbundenen Entfremdungstendenzen, stilisiert Goethes Bildungsdenken aber zu einer sittlichen Synthese, die entfremdeten Verhältnisse der Moderne durch die Lehre von den Formen der Ehrfurcht zu überwinden.

2.2 Untersuchungsperspektiven im Spiegel der Goetherezeption

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Als eine erste fachwissenschaftliche Auseinandersetzung, welche Goethes Bildungsdenken konsequent in eine naturphilosophisch basierte Interpretation einbindet, ist Ludwig Kiehns Abhandlung Goethes Begriff der Bildung von 1932 zu nennen140. Kiehn will »vom Begriff der Bildung als Goethes pädagogischem Kernbegriff aus die Einheitlichkeit seiner Gedankenwelt [aufzeigen]«141 und arbeitet heraus, dass es zwar keine Systematik des Bildungsbegriffes bei Goethe gebe, wohl aber einen umfassenden Fundus verstreut über die literarischen Werke und naturphilosophischen Schriften. Von der Morphologie als »organischer Bildungslehre«142 und deren grundlegenden Begriffen aus erschließt Kiehn die Bildungskonzeption Goethes in der Perspektive der Leibniz’schen Monadenlehre und kommt damit zu Akzentuierungen, denen ich nicht folge. Zum einen vertritt Kiehn einen Optimismus, dass durch eine allgemeine Pädagogisierung der Einzelne seinen Ort in der Gemeinschaft finde, und sieht in Goethe einen Repräsentanten eines solchen Bildungsdenkens, das den Harmonie- und Versöhnungsgedanken als tatsächlich realisierbar erachtet143, zum anderen wertet er den Realismus Goethes ab – Natur und Welt hätten nur eine »Bedeutung zweiten Grades«144. Dass ich Goethes Denken über Bildung als Selbstbildungskonzept mit deutlich skeptischer Tendenz interpretieren werde, ist in den Vorbemerkungen und bildungsphilosophischen Untersuchungsperspektiven dargestellt; die von mir verfolgte Erschließung eines Konzeptes umbildender Erfahrung wird die wechselseitigen Implikationen der Ich-Welt-Relation aufzeigen. Für die Nachkriegszeit wären exemplarisch die geisteswissenschaftlich-hermeneutisch orientierten bildungsphilosophischen Untersuchungen wie der Sammelband von Eduard Spranger145 und die Arbeit von Wilhelm Flitner146 zu nennen. Spranger verbindet das Werk mit der Biographie und dem historischen Kontext und arbeitet gegen ein idealisiertes Goethebild an: Goethes Weg zu sich selbst ist voll von Abirrungen und Krisen gewesen. Man muß es geradezu als Blicktäuschung verwerfen, daß Goethe stets unter dem Zeichen existiert habe: »Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.« Das ist eine irreführende Analogie aus der Naturwissenschaft, mit der er nachträglich zu seinem Lebenswege Ja sagt.147 140 141 142 143 144 145 146 147

Ludwig Kiehn: Goethes Begriff der Bildung, Hamburg 1932. Ebd., S. 2. Ebd., S. 82. Ebd., vgl. u.a. S. 187. Ebd., S. 132. Eduard Spranger: Goethe – seine geistige Welt, Tübingen 1967. Wilhelm Flitner: Goethe im Spätwerk – Glaube, Weltsicht, Ethos, Hamburg 1947. Eduard Spranger: Goethe, a.a.O., S. 129.

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2 Fachwissenschaftlicher Zusammenhang und Forschungsliteratur

Unter diesen krisenhaften Vorzeichen interpretiert Spranger dann aber Goethes Bildungsdenken im Sinne des Neuplatonismus148 mit dem teleologischen Vorsatz einer Versöhnung und Harmonie der Existenz. Liebe149 und Entsagung150 seien deren konstitutive Prinzipien. Flitner deutet Goethe als großen Philosophen und Protagonisten humanistischer Lebensform151 und in diesem Zusammenhang Wilhelm Meister als didaktischen Roman mit sittlich-ethischem Anspruch: »Entsagung und Beschränkung werden zu Bedingungen der Produktivität«152 im Zirkel der Verantwortung des Einzelnen, die sich in der Spannung von Betrachten/Denken und Handeln/Tätigkeit konstituiert153. Die Autoren verfolgen mit ihrer Interpretation ethisch-moralische Zielsetzungen der Aktivierung humanistischer Bildungsideale, die sicherlich im Kontext der damaligen historisch-gesellschaftlichen Lage Deutschlands verstanden werden müssen154, aber bis heute, z.B. in der Kontroverse um eine von ökonomischen Interessen vereinnahmte Bildungswirklichkeit, als konstitutiv für europäisch-abendländische Tradition und als konservativ-pessimistische Kritik an der Moderne verfochten werden155. Mein Ansatz grenzt sich insofern von diesen Deutungen ab, als dass ich Goethes Bildungsprogrammatik in einem ontologischen Sinnbezirk von Bildung mit naturphilosophischen, ästhetischen, epistemologischen und biographisch-selbstreflexiven Implikationen verorte156 und diese gerade nicht als pädagogisch-didaktische Idee mit Allgemeingültigkeitsanspruch, sondern als ra-

148 149 150 151 152 153 154

Ebd., S. 282. Ebd., u.a. S. 66. Ebd., u.a. S. 205. Wilhelm Flitner: Goethe im Spätwerk, a.a.O., S. 15. Ebd., S. 322. Ebd., vgl. u.a. S. 323. Vgl. dazu u.a. die kritische Rede von Karl Jaspers anlässlich der Verleihung des Goethepreises in Frankfurt/M. 1947: Karl Jaspers: Unsere Zukunft und Goethe, in: Karl Robert Mandelkow: Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland, a.a.O., Bd. 4, S. 288–304. Jaspers kritisiert die von der Bildungsphilosophie beanspruchte Vorbildfunktion von Goethe für die Moderne (vgl. S. 297), weil Goethe die »moderne [...] Denkungsart, aus der die Naturwissenschaft und Technik [...] hervorgegangen sind« (S. 295) abgelehnt und sich vor der Moderne verschlossen habe (vgl. S. 294). Diese bewusste Begrenzung vertrage sich nicht mit modernem Bewusstsein vor der historischen Situation zweier von Deutschland verschuldeter Weltkriege. 155 Vgl. u.a. Manfred Fuhrmann: Bildung. Europas kulturelle Identität, Stuttgart 2002, sowie Günther Böhme: Goethe. Naturwissenschaft, Humanismus, Bildung. Ein Versuch über die Gegenwart klassischer Bildung, Frankfurt/M. u.a. 1991; eine Arbeit, auf die ich unten genauer eingehe. 156 Vgl. dazu die Vorbemerkungen in Kap. 1.

2.2 Untersuchungsperspektiven im Spiegel der Goetherezeption

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dikales Selbstbildungskonzept verstehe. In dieser Perspektive wird sich dann auch das spezifisch Moderne der Goethe’schen Bildungsprogrammatik aufzeigen lassen. Als weitere Arbeiten zu Goethes Werk bis in die 60er Jahre wären zu nennen Hermann August Korffs Geist der Goethezeit157, eine umfassende Abhandlung zur Epoche, zudem das entsprechende Kapitel in Ernst Cassirers Freiheit und Form158, eine philosophische Untersuchung zentraler Prinzipien im Kontext der Deutschen Geistesgeschichte, wie es im Untertitel heißt, sowie Hermann Schmitz’ Goethes Altersdenken im problemgeschichtlichen Zusammenhang159, eine breitangelegte philosophisch-systematische Arbeit. Diese Arbeiten befassen sich nicht explizit mit dem Thema Bildung, bieten aber interpretatorische Ansätze, auf die ich an entsprechender Stelle zurückgreifen werde. In neuerer Zeit haben Hans-Jochen Gamm160 und Claus Günzler161 Studien zum Bildungsdenken Goethes vorgelegt. Gamm arbeitet 1980 als einer der ersten konsequent mit seiner Studie gegen das Klassikerklischee an, Goethe realisiere mit seinem Werk und seinem Lebensentwurf humanistische Ideen in idealtypischer Weise. Gegen einen »Goethekult«162 bildungsbürgerlicher Couleur zeichnet er mit einem soziologischen Interpretationsansatz die Goethe’sche Biographie in ihren »Entwicklungslinien und Widersprüchen«163 nach. Das Werk deutet er in seiner biographischen Bedeutung als einen Goethe »eigentümlichen Befreiungsprozeß«164. Gamm rückt mit diesem Ansatz von jeder Pädagogisierung Goethes mit allgemeinverbindlichem Anspruch ab und begreift ihn im Kontext der Umbruchszeit in die Moderne. Anhand exemplarischer Einzelaspekte – insgesamt gewinnen die allgemein gehaltenen Ausführungen selten einmal analytische Tiefe – wird Goethe zum Repräsentanten einer im Vorherigen im Anschluss an Luhmann als Exklusionsindividualität bezeichneten Existenz der Moderne. Claus Günzler entwickelt Anfang der 80er Jahre in kritischer Distanz zur vorherrschenden gesellschaftstheoretisch orientierten Bildungstheorie – und damit auch 157 Hermann August Korff: Geist der Goethezeit, 4 Bde. mit Registerband, Leipzig 61962– 1966. 158 Ernst Cassirer: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916), Darmstadt 41961, S. 171–268. 159 Hermann Schmitz: Goethes Altersdenken im problemgeschichtlichen Zusammenhang (1959), Bonn 2008. 160 Hans-Jochen Gamm: Das pädagogische Erbe Goethes. Eine Verteidigung gegen seine Verehrer, Frankfurt/M. und New York 1980. 161 Claus Günzler: Bildung und Erziehung im Denken Goethes. Philosophische Grundlagen und aktuelle Perspektiven einer Pädagogik der Selbstbeschränkung, Köln und Wien 1981. 162 Hans-Jochen Gamm: Das pädagogische Erbe Goethes, a.a.O., Klappentext. 163 Ebd., S. 10. 164 Ebd.

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2 Fachwissenschaftlicher Zusammenhang und Forschungsliteratur

zum Interpretationsansatz Gamms – den Bildungsbegriff Goethes einerseits anhand naturphilosophischer Kategorien, andererseits in Abgrenzung zu Wilhelm von Humboldts Allgemeinbildungskonzept. Günzler rekonstruiert mit diesen Untersuchungsperspektiven das »Mensch-Welt-Verhältnis«165 des Goethe’schen Bildungsdenkens in philosophisch-systematischer Absicht, verengt das Ganze dann aber letztlich im Kontext der Ehrfurchtsthematik der pädagogischen Provinz auf eine Lehre der »Selbstbeschränkung«, um diese als »Korrektiv« in die »Gegenwartsdiskussion«166 einbringen zu können. Selbstbeschränkung zielt dabei einerseits auf eine von Günzler skizzierte Pädagogik des Verzichts, andererseits ist sie Konsequenz der konstitutiven Bedeutung der Kategorien von Welt für die Exklusionsindividualität. Bei aller Stringenz der Einzelbefunde kann die These Günzlers, mit einer Pädagogik der Selbstbeschränkung das Zentrum des Goethe’schen Bildungsdenkens freigelegt zu haben, meiner Ansicht nach nicht überzeugen. Zwar ist nicht von der Hand zu weisen, dass in Goethes Werken dieses Thema latent virulent ist, ich würde ihm aber nicht diese dominante Bedeutung zusprechen. Meine Untersuchung zeigt dagegen auf, dass Goethes Selbstbildung auf Expansion angelegt ist, man also nicht von einer leitenden pädagogisch-teleologischen Idee des Verzichts sprechen kann, die das gesamte Œuvre von Goethes Denken bestimmt. In den 90er Jahren betont Günther Böhme die Bedeutung von Naturwissenschaft, Humanismus und Bildung im Denken Goethes167. Damit berührt Böhme zweifellos zentrale Aspekte, doch seinem Essay fehlt analytische Stringenz. Das Ganze ist mehr eine Sichtung erbaulicher Prinzipien, denn philosophische Auseinandersetzung. Das hängt sicherlich auch mit dem leitenden Gesichtspunkt seiner Betrachtung zusammen. Indem Böhme auf kritische Distanz zu Moderne und Postmoderne geht, verfällt er in ahistorische Argumentationsmuster, in deren Bahnen Goethe zu einem exemplarischen Beispiel für die Notwendigkeit der »Gegenwart klassischer Bildung«, wie es im Untertitel heißt, stilisiert wird. Böhme vermeidet bewusst die Zusammenhänge historisch-gesellschaftlicher Reflexion; ihm geht es vielmehr um die Typisierung von Idealen der europäischen Tradition mit Vorbildfunktion, insbesondere der auch für Goethe bedeutenden Antike168. Dabei fällt Böhmes Versuch insgesamt hinter die philosophische und argumentative Konsequenz zurück, die den Arbeiten von Günzler, Flitner und Spranger eigen ist. Zudem kann er sich nicht auf Goethe selbst berufen, wenn es um die Bedeutung und den Stellenwert exemplarischer Bildungsinhalte mit Vorbildfunktion geht. Ich werde zeigen, dass, 165 166 167 168

Claus Günzler: Bildung und Erziehung im Denken Goethes, a.a.O., S. 21. Ebd., S. 163. Günther Böhme: Goethe. Naturwissenschaft, Humanismus, Bildung, a.a.O. Ebd., vgl. u.a. S. 127 f.

2.2 Untersuchungsperspektiven im Spiegel der Goetherezeption

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im Kontext diesbezüglicher bildungsphilosophischer Ideen seiner Zeit betrachtet169, Goethe gegenüber kulturgeschichtlich normativ legitimierten Autoritäten eine aktuelle Erfahrung der Dinge privilegiert, indem er im konkreten Erlebnis ihre Exemplarität für seine Bildung erfährt und modelliert170. Goethe spricht damit den für sein Selbstbildungskonzept bedeutenden Gegenständen nicht die Allgemeingültigkeit zu, die Böhme in ihnen sieht. Indem die für umbildende Erfahrung privilegierten Dinge ihre Exemplarität einem aktuellen Vollzug verdanken, zeichnen sich dagegen mögliche heute zu diskutierende Perspektiven von Selbstbildung ab, die nicht auf restaurativ aktivierte Autoritäten setzt, sondern ihre Bildung in einer offenen Suchbewegung findet: Dabei kann jeder Gegenstand bildende Funktion gewinnen171. Philipp Mehne spürt 2008 im Rahmen eines Vergleichs mit Ralph Waldo Emerson dem Bildungsbegriff Goethes nach, den er im Anschluss an Foucault unter dem »provisorische[n] Begriff« der »Selbstkultur« sowie deren »Praktiken des Selbstentwurfs« rekonstruiert172. Ich werde im Rahmen meiner Sichtung dieses Forschungsbeitrages nicht auf Mehnes Hauptanliegen des Vergleichs eingehen, sondern nur die für meine Auseinandersetzung relevanten Aspekte beleuchten173. Mehnes Untersuchung konzentriert sich auf Werke und Schriften nach der Italienreise, die erste Schaffensperiode der Jugendjahre und des Weimarer Jahrzehnts wird kaum berücksichtigt. Insbesondere die Reisetagebücher, Briefe und weiteren Texte der Italienreise liest Mehne als Dokumente eines mühsamen Wegs der Selbsterziehung, den er einleitend schon als prinzipiellen Bildungsansatz Goethes bestimmt hat174. Skizzen zu einer Schilderung Winkelmanns175 thematisiert nach Mehnes Verständnis Bildung als Erfüllung eines universell gültigen Musters in Abgrenzung zu den historischen Gegeben-

169 Vgl. zur Bedeutung exemplarischer Bildungsinhalte für die Goethezeit Kap. 3. 170 Vgl. dazu u.a. meine Rekonstruktion der ästhetischen Erfahrung des Straßburger Münsters in Kap. 4. 171 Vgl. zum weiteren Zusammenhang unten Hartmut Böhme: Lebendige Natur. Wissenschaftskritik, Naturforschung und allegorische Hermetik bei Goethe, in: ders.: Natur und Subjekt, Frankfurt/M. 1988, S. 145–178. 172 Philipp Mehne: Bildung versus Self-Reliance? Selbstkultur bei Goethe und Emerson, Würzburg 2008, Zitate S. 9. 173 Mehne zeigt mit seinem Vergleich durchgängig eine Differenz zwischen Goethe und Emerson auf. Während Selbstkultur bei Goethe mit dem Begriff Bildung auf Harmonisierung von Individuum und Welt angelegt sei, betone Emerson mit Self-Reliance die Opposition des Individuums zur Welt. 174 Ebd., vgl. u.a. S. 10: »Das eigene Bildungsunternehmen stilisiert Goethe […] zu einer mühevollen und systematischen Arbeit an sich selbst.« 175 FA 19: 176–212, sowie MA 6.2: 348–400. Zur Entstehung vgl. den Kommentar in FA 19: 762 ff.

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2 Fachwissenschaftlicher Zusammenhang und Forschungsliteratur

heiten des Bildungssubjekts. Auch dieses Bildungsziel dehnt Mehne auf das Ganze von Leben und Werk Goethes in verallgemeinernder Absicht aus: Vereinfachend lässt sich sagen, dass Bildung nach Goethe einerseits auf bestimmte tradierte Kenntnisse und Schönheitsideale setzt und andererseits die Art der Rezeption oder Aneignung dieser Inhalte theoretisch reflektiert.176

Zur vermeintlichen Autorität kultureller Tradition verweise ich auf meine obigen Anmerkungen zu Böhmes Auffassung. In dieser Perspektive untersucht Mehne ausgewählte naturwissenschaftliche Schriften Goethes – auch in ihrer autobiographischen Bedeutung177 – im Rahmen der Opposition von Typus und Metamorphose und lotet den Spielraum von historischen und a-historischen Konstituenten aus. Im Rahmen des letzten Themenkreises geht Mehne der Frage nach, ob die Distanz Goethes zu nationalistischen Ideen aus einer liberalen Grundhaltung zu verstehen sei178. Mehne verortet im Kapitel Die Weimarer Kunstfreunde als Modell einer transnationalen Gesellschaft179 Goethes Bildungsdenken im Kontext der aristokratischen Gesellschaft, die entgegen der tatsächlichen Tendenzen des Zeitalters für Goethe der Garant einer freien Bildung sei180. Goethes Modell des »Freundeskreises«181 ermögliche als Alternative zum Kollektiv und seinen Forderungen wechselseitige Förderung des Einzelnen. Goethes Konzept einer Weltliteratur sei in diesem Zusammenhang eine Projektion des Modells Freundeskreis auf den Verkehr der Nationen untereinander. Insbesondere bei diesem Themenkreis ist Mehnes Untersuchung insofern ambivalent, als ungeklärt bleibt, inwieweit er Goethes Bildungsdenken im Spektrum des Harmoniegedankens einer tatsächlich möglich erscheinenden Versöhnung von Individuum und gesellschaftlicher Realität diskutiert. Auch wenn Mehne immer wieder die inneren Widersprüche und unaufgelösten Oppositionen der von ihm analysierten Themenfelder aus Leben und Werk Goethes aufzeigt und sich mit ihnen auseinandersetzt182, typisiert er bestimmte Muster des Bildungsdenkens von Goethe im Zuge seines Vergleichs in einer Weise, die zu Einseitigkeiten und Verkürzungen des vielschichtigen Ganzen tendieren. Wo bei Goethe heterogene Stufen eines Entwicklungsganges in der Auseinandersetzung mit den Themenkreisen zu finden sind, gerinnen diese bei Mehne in verallgemeinernde 176 177 178 179 180 181 182

Philipp Mehne: Bildung versus Self-Reliance?, a.a.O., S. 10. Ebd., vgl. S. 133 ff. Ebd., vgl. S. 166. Ebd., vgl. S. 179–185. Ebd., vgl. S. 166 ff. Ebd., S. 182 f. Ebd., vgl. u.a. exemplarisch S. 136.

2.2 Untersuchungsperspektiven im Spiegel der Goetherezeption

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Modelle, welche der Vielschichtigkeit und Entwicklungsdynamik im Einzelnen nicht gerecht werden. Im Zuge des Vergleichs mit Emerson taucht damit die seit je mit der Goetherezeption verbundene Problematik auf, Goethes Bildungsdenken zur Synthese mit exemplarisch-musterhafter Funktion zu stilisieren. Schon der von Mehne verwendete Leitbegriff Selbstkultur muss in diesem Zusammenhang kritisch hinterfragt werden. Verbinden sich doch mit ihm im Gegensatz zu Bildung eher Vorstellungen von Ausbildung, dem planmäßig betriebenen Vorhaben, Fertigkeiten und Kompetenzen für die Bewältigung bestimmter Aufgaben zu erwerben. Wenn Mehne von einer unterstellten Selbstkultur aus ein Erziehungskonzept bei Goethe statuiert, unterstellt er implizit ein mehr oder weniger organisiertes Vorgehen in diesem Sinne als durchgängiges Konzept eines vermeintlich geplanten Lebensentwurfs. Verstärkt wird diese Tendenz der Auseinandersetzung Mehnes durch o.g. Ausrichtung seiner Rekonstruktion, welche Muster mit Vorbildfunktion (Winckelmann) und Typisierung (Kunstfreunde) als durchaus maßgeblich für Goethes Bildungsdenken hervorhebt und diese auch in die Perspektive eines Ganzheitsgedankens stellt, der Versöhnung und Harmonie von Ich und Welt zu unterstellen scheint. Tatsächlich lassen sich Belege für eine solche Deutung in den verschiedensten Äußerungen Goethes auch finden. Insofern berührt Mehne durchaus Motive des Bildungsdenkens Goethes. Doch ist Misstrauen hinsichtlich einschlägiger Äußerungen Goethes angebracht; man muss durchaus bei ihm u.U. mit Stilisierungen rechnen und deren biographische Bedeutung entziffern183. Ich versuche im Sinne anderslautender Äußerungen Goethes das »Inkalkulable, das Inkommensurable«184 in seiner Bedeutung für ein »congruentes Ganze«185 und damit das Spektrum von Deutungsmöglichkeiten sowohl für das Bildungsdenken als auch für dessen biographische Bedeutung genauer zu vermessen. Vereinfachend synthetisierende Verallgemeinerungen finden sich auch in Mehnes Untersuchung der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes. Wenn Mehne bspw. recht pauschal auf die Bedeutung der Morphologie hinweist186, in deren Denkoptionen der Mensch in der Reihe des Lebendigen eine Sonderstellung durch 183 Vgl. zur Komplexität von Selbstverständnis und biographischer Fragestellung u.a. Kap. 4 und 7. 184 Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, in: FA 23/1: 613. 185 FA 17: 238. Goethe reflektiert hier in den Tag- und Jahresheften im Zusammenhang seines Versuchs, eine Biographie Jakob Philipp Hackerts zu verfassen, über das Problem, das vielschichtige Ganze nicht in ein erzähltes Kontinuum fassen zu können. Ich verdanke den Hinweis Rüdiger Nutt-Kofoth: Erzähltes Leben zwischen Überlieferung und Konstruktion. Goethes »Hackert«-Biographie und das Problem des ›congruenten Ganzen‹, in: Goethe-Jahrbuch 128 (2011), S. 198–216. Vgl. zu diesem Komplex Kap. 4. 186 Philipp Mehne: Bildung versus Self-Reliance?, a.a.O., vgl. insbesondere S. 123 ff.

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2 Fachwissenschaftlicher Zusammenhang und Forschungsliteratur

die Freiheit im Kontrast zur Natur einnehme, so werde ich anhand epistemischer Denkmuster Goethes entsprechende Bedingungen, Formen und Folgen genauer rekonstruieren. Dabei wird sich u.a. zeigen, dass sich Goethes Konzept einer Morphologie im Laufe seiner Auseinandersetzung mit diesem Thema in bedeutsamer Weise wandelt und gerade die Differenzen zwischen Naturbegriff und Denkmodell der Jugendjahre gegenüber dem Altersdenken ein reizvolles Spektrum von Deutungsperspektiven bietet.187 Im Kontrast zu Mehnes Ansatz strebe ich unter den genannten Aspekten als Ertrag meiner Untersuchung an, zu zeigen, dass Bildung in Goethes Bildungsdenken zwar eine Selbstkultur einschließt, sich aber nicht in ihr erschöpft, sondern über sie hinaus in Selbstbildung ihr entscheidendes Kompositionsprinzip findet. Durch die Berücksichtigung exemplarischer Zeugnisse unterschiedlicher Schaffensperioden werde ich bei meiner Rekonstruktion ein differenzierteres Bild von Goethes Bildungsdenken im Sinne umbildender Erfahrung zeichnen, welches eine Programmatik offener Ganzheit konstituiert, in welcher Kohärenzen nur in dialektischen Umwandlungsprozessen und im Modus prinzipieller Entwicklungsoffenheit gedacht werden. Die »Individualitätsproblematik der Moderne«188, thematisiert in autobiographischen Aufzeichnungen, u.a. der Italienreise, und die mit den ästhetischen und den naturwissenschaftlichen Schriften aufgeworfenen Fragen der Epistemologie und Ontologie sind weitere Themen, die mit Goethes Denken über Bildung eng verbunden sind und die ich mit meiner Untersuchung rekonstruiere. Ich gehe an dieser Stelle zunächst exemplarisch auf von mir nicht weiter berücksichtigte aktuelle Fachliteratur ein, sofern sie sich auf literarische Werke bezieht, sodann auf die Goetherezeption, die an jeweils relevanter Stelle in meine Untersuchung einfließt. Zunächst zur Individualitätsproblematik: In der Rezeption ist die Forschung in Bezug auf Bildung von jeher auf die literarischen Werke Goethes und hier speziell auf die Wilhelm-Meister-Romane fixiert. Dabei interessiert sich die Germanistik seit Diltheys Bezeichnung als »Bildungsroman«189 mehr für die Fragen dieser literarischen Gattung, befasst sich aber auch mit zentralen Motiven, etwa dem Entwicklungsund Metamorphose-Gedanken oder der »Individualitätsproblematik der Moderne«190. 187 Vgl. zu einer notwendigen Differenzierung des morphologischen Konzepts in Abgrenzung zum Modell einer Scala naturae Margrit Wyder: Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformation, Köln u.a. 1998, vgl. dazu auch weiter unten. 188 Dirk Kemper: »ineffabile«, a.a.O., Zitat S. 2. 189 Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin. Leipzig und Berlin 81922. Vgl. zur Bedeutung von Diltheys Definition und zum Bildungsroman Kap. 3. 190 Dirk Kemper: »ineffabile«, a.a.O., S. 2. Kemper sieht die Ursache der Individualitätsproblematik u.a. in der »Dekonstruktion der Korrespondenztheorie zwischen der Ordnung des

2.2 Untersuchungsperspektiven im Spiegel der Goetherezeption

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Der literarisch verarbeiteten Identitätssuche widmeten sich in letzter Zeit u.a. Dirk Kemper191 und Stefan Keppler192. Keppler behauptet pauschal für das 18. Jahrhundert Identitätsmodelle, die durchweg von Kohärenz- und Harmoniegedanken bestimmt seien. Hier würde ich differenzieren193. Goethe zweifle demgegenüber an einem unteilbaren Personenkern und sei skeptisch gegenüber Einheitskonzepten194, wie Keppler durch seine Analysen literarischer Werke aufzeigt. Eine Untersuchung der autobiographischen Schriften mit gleichem Themenschwerpunkt liegt exemplarisch anhand Dichtung und Wahrheit durch Fotis Jannidis195 vor. Die an literarischen Werken diskutierten Themenkreise werde ich in o.g. Perspektive in anderen Werkzusammenhängen rekonstruieren. Im Zeichen des für idealistische Bildungskonzeptionen zentralen Gedankens von Ganzheit196 – Individualität, die in die Weltzusammenhänge verflochten ist und in Wechselwirkung mit dieser ihre Identität aufbaut –, sind die Implikationen der Ganzheitskonzepte in ihrer Besonderheit offener Ganzheit bei Goethe in den Blick zu nehmen: Identität in der Differenzerfahrung als Widerlager zu idealen Versöhnungsentwürfen; Bildung im Sinne von Selbstbildung, die nicht in harmonischer Verbundenheit aufgeht. Zwar thematisiert Goethe immer wieder ein Zentrum von Identität, versteht das Subjekt aber als Schauplatz einer Suchbewegung, die nicht in Einheit und Harmonie aufgeht. Dabei bildet die Verteidigung der Eigenheiten des Subjektes gegenüber jeglichen Bevormundungen und feudalistischen Ansprüchen gesellschaftlicher Moral und Macht die Stoßrichtung seiner Gedanken zu diesem Sinnbezirk. Bezogen auf Autobiographisches: Umbrüche, Umwandlungen in ganz neue Formen der Existenz sind in der Biographie Goethes die interessanten und im eigentlichen Sinne produktiven Lebensphasen. Beispielhaft zeigt das u.a. auch Norbert Miller in seiner maßgeblichen Monographie zur Italienreise Der Wanderer. Goethe in Italien197. Goethe finde auf seiner Flucht nicht das Italien seiner Phantasie, aber er

191 192 193 194 195 196 197

Seins und der Ordnung des Denkens, wie sie […] durch die Transzendentalphilosophie [von Kant; J.S.] vollzogen« (S. 6) worden ist. Dirk Kemper: »ineffabile«, a.a.O. Stefan Keppler: Grenzen des Ich. Die Verfassung des Subjekts in Goethes Romanen und Erzählungen, Berlin und New York 2006. Vgl. dazu Kap. 3. Stefan Keppler: Grenzen des Ich, a.a.O., S. 1 ff. Fotis Jannidis: Das Individuum und sein Jahrhundert. Eine Komponenten- und Funktionsanalyse des Begriffs »Bildung« am Beispiel von Goethes »Dichtung und Wahrheit«, Tübingen 1996. Vgl. dazu Roland Reichenbach: Philosophie der Bildung und Erziehung, a.a.O., S. 118– 126. Norbert Miller: Der Wanderer. Goethe in Italien, München 2002.

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erfinde sich neu. Bildung und Wiedergeburt durch Reisen – ein Bedeutungskomplex, der für autobiographische Selbstreflexion und Epistemologie gleichermaßen entscheidende Neuausrichtungen bietet, wie meine Rekonstruktion zeigen wird. Zur Perspektivierung der Untersuchung der wissenschaftlichen Schriften sei vorausgeschickt: Goethes Verfahren, verschiedene Interessengebiete und Tätigkeitsbereiche zu synchronisieren, führt immer wieder dazu, dass naturphilosophische, ästhetische und epistemologische Fragestellungen bei ihm ineinander über gehen. Goethe gestaltet wissenschaftliche Schriften nicht selten als poetische Texte, ästhetische sowie naturwissenschaftliche Einsichten finden sich als Leitmotive literarischer Werke. Wissensbereiche und Praxisfelder begegnen sich in der Person Goethes und stehen in einem regen Austausch198. Dieses Verfahren, bestimmte Arbeiten vielschichtig zu motivieren, verschiedene Interessengebiete miteinander zu kombinieren, ermöglicht uns u.a. auch Einsichten in autobiographische Zusammenhänge199, hat darüber hinaus aber, wie ich zeigen werde, eine generelle Bedeutung für das Selbst- und Weltverständnis des modernen Menschen. Den naturwissenschaftlichen Schriften Goethes wird heute ein zunehmendes Interesse entgegen gebracht200 – es geht um Alternativen naturwissenschaftlicher 198 Schon Wilhelm von Humboldt hat diesen Zusammenhang betont: »Goethes Dichtungstrieb[...]und sein Drang, von Gestalt und dem äußeren Objekt aus dem inneren Wesen der Naturgegenstände und den Gesetzen ihrer Bildung nachzuforschen, sind in ihrem Prinzip eins und eben dasselbe und nur verschieden in ihrem Wirken.« Zitiert nach dem Nachwort von Herbert von Einem in HA 12: 551. 199 Vgl. Dorothea Kuhn: Das Prinzip autobiographischer Form in Goethes Schriftenreihe »Zur Naturwissenschaft, besonders zur Morphologie«, in: dies.: Typus und Metamorphose. Goethe-Studien, hrsg. von Renate Grumach, Marbach 1988, S. 51–69. Dies.: Geschichte, begriffen als Beschreibung, als Biographie und als Historie. Goethes Konzepte, in: Peter Matussek (Hrsg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur, München 1998, S. 44–57. Auch Hendrik Birus: Im gegenwärtigen Vergangenes. Die Wiederbegegnung des alten mit dem jungen Goethe (19.1.2004), in: , letzter Zugriff: 10.2.2011, geht auf die Verbindung der Arbeitsfelder ein, vgl. insbesondere S. 4 f. Vgl. auch Stefan Blechschmidt: Goethes lebendiges Archiv. Mensch – Morphologie - Geschichte, Heidelberg 2009, der mit seiner Untersuchung aufzuzeigen versucht, dass Goethe u.a. mit seinen naturwissenschaftlichen Schriften eine Dokumentation seiner Entwicklung betreibe. 200 Ein zentraler Angriffspunkt einer Kritik an Goethe war schon zu seinen Lebzeiten seine Naturforschung und der mit ihr verbundene Anspruch. Vgl. dazu Karl Robert Mandelkow: Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland, a.a.O. Zu den radikalsten Kritikern gehörten im 19. Jahrhundert insbesondere Hermann von Helmholtz: Über Goethes naturwissenschaftliche Arbeiten (1853), in: Goethe im Urteil seiner Kritiker, Bd. 2, S. 401–416, sowie Emil Du Bois-Reymond mit seiner berühmten Berliner Rektoratsrede von 1882: Goethe und kein Ende, in: Goethe im Urteil seiner Kritiker, Bd. 3, S. 103–117. Im Kern besagt die Kritik, Goethe habe sich

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Forschung in Goethes Anschauen der Welt, wie sie schon u.a. von Werner Heisenberg, Adolf Portmann oder Adolf Meyer-Abich diskutiert worden sind und aktuell bspw. von Hartmut Böhme und anderen thematisiert werden201. Goethes Naturbild und Forschungsansatz steht ideologisch und konzeptionell in Opposition zum methodologischen Instrumentarium der Naturwissenschaften der Neuzeit: Dem naturwissenschaftlichen Reduktionismus, welcher seinen Untersuchungsgegenstand durch Einschaltung von Apparaturen und unter Ausschaltung des Subjektes des Forschers methodisch herstellt und beobachtet, der nicht mehr das Naturphänomen im Naturkontext untersucht, sondern in einer Laborsituation künstlich erzeugt, isoliert und analysiert202, stellt Goethe eine Forschungsmethode gegenüber, die von korrelativen Implikationen zwischen empirisch wahrnehmbarem Phänomen und Gedanken-/Ideenbildung ausgeht und unter dieser Prämisse versucht, eine besondere Partizipation des forschenden Subjektes zu den Objekten der Natur herzustellen203. Wenn sich nach Ludwik Fleck wissenschaftliche Erkenntnis generell durch auf Abwege gewagt und musste mit seinem subjektivistischen Vermögen als Dichter am Anspruch objektiver Naturwissenschaft scheitern. Er sei eben auf jedem Tätigkeitsfeld Dichter geblieben, ihm gehe jedes Verständnis von Wissenschaft ab. Goethes Naturforschung sei die »totgeborene Spielerei eines autodidaktischen Dilettanten« (Goethe und kein Ende, a.a.O., S. 113). 201 Werner Heisenberg: Das Naturbild Goethes und die technisch-naturwissenschaftliche Welt, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 2, hrsg. von Walter Blum, Hans- Peter Dürr und Helmut Rechenberg, München 1984. Heisenberg stellt Goethes Forschungsansatz als Alternative zum Paradigma der Naturwissenschaften dar und hebt die Gegensätzlichkeit hervor. Adolf Portmann: Goethes Naturforschung, in: ders.: Biologie und Geist (1956), Göttingen 31998, S. 238–255, benutzt den Vergleich mit einem Schauspiel, um Goethes Anschauen zu verdeutlichen. Es gebe eine Betrachtungsart, die auf das Bühnengeschehen als sinnvolles Ganzes blicke, wie es die Anschauung zeigt, und ein Bemühen der Naturwissenschaft, den Mechanismus und die Technik hinter der Bühne zu begreifen. Goethe verkörpere mehr die erste Haltung (vgl. S. 239 ff.). Adolf Meyer-Abich: Goethes Kompensationsprinzip, das erste holistische Grundgesetz der modernen Biologie, in: ders.: Biologie der Goethe-Zeit, Stuttgart 1949, S. 282–302, arbeitet die Bedeutung von Ganzheit heraus, wie sie Goethe in die moderne Biologie eingeführt hat. Hartmut Böhme: Lebendige Natur. Wissenschaftskritik, Naturforschung und allegorische Hermetik bei Goethe, in: ders.: Natur und Subjekt, Frankfurt/M. 1988, S. 145–178. Vgl. als aktuelle Auseinandersetzung mit Goethes Forschungskonzepten auch Peter Matussek (Hrsg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur, München 1998. Darin eine Reihe von Beiträgen zur Bedeutung der naturwissenschaftlichen Arbeiten Goethes für aktuelle Fragestellungen. Man bemerkt insofern eine Neubewertung Goethes, als Goethes Forschungsansatz nicht mehr nur als Alternative, sondern auch als in das naturwissenschaftliche Paradigma integriert verstanden wird. 202 Vgl. dazu bspw. das Experimentum crucis von Newton und Goethes Kritik daran. 203 An dieser Stelle ist eine Anmerkung zu Goethes Verständnis der Philosophie Kants zu

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2 Fachwissenschaftlicher Zusammenhang und Forschungsliteratur

Modellbildung und quantitative analytische Verfahren im Rahmen eines vom wissenschaftlichen Denkkollektiv verabredeten Geltungsbereichs generiert, dann wird man die besondere Stellung Goethes zu diesem Erkenntnisbegriff als Naturforscher einer »nicht-instrumentalen Beziehung zwischen den Dingen und den Augen«, wie Michel Foucault es einmal für Linnés naturwissenschaftliches Forschen exemplarisch hervorhebt, betrachten müssen204. Dieses Spezifikum in Goethes Anschauen der Welt hat über epistemologische Fragen der Naturforschung hinaus generelle Bedeutung für das Weltverhältnis des modernen Menschen. Hartmut Böhme bestimmt im Rahmen einer umfassenderen Analyse in dem schon erwähnten Band gesammelter Aufsätze durch die Begriffe Subjekt und Natur auch den Beitrag Goethes und hebt für die geschichtliche Entwicklung der Neuzeit und für die Moderne hervor: Ursprüngliche Natur ist so wenig wiederzugewinnen wie das authentische Subjekt – wenn es beide denn je gegeben hat. Natur ist historisch umgearbeiteter und gestalteter Lebensraum, den jede Generation neu als mangelhaft empfunden hat; das Ich (Identität) ist historisch erzeugtes, soziokulturell stilisiertes und funktional differenziertes Produkt, nicht Ursprung des Handelns.205

Im Zuge dieses Verständnisses geht es Böhme bei seinen Untersuchungen um Erinnerung und Rekonstruktion von Konzepten und Modellen der Überlieferung, deren Wissensbestände er in die Debatte um aktuelle Tendenzen der Wissenschaft machen. Goethe hat den von Kant bestimmten Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis, zwischen Subjekt und Objekt zu unterscheiden, große Bedeutung zugesprochen, so u.a. in einem Gespräch mit Victor Cousin im Oktober 1817: »Le systéme de Kant n’est pas détruit. Ce systéme, ou plutôt cette méthode, consiste à distinguer le sujet de ľobjet [...]«. In: Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang, auf Grund der Ausgabe u. des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann ergänzt und hrsg. von Wolfgang Herwig, a.a.O., hier Bd. 3.1, Nr. 4497, S. 29. Doch sucht Goethe nach Möglichkeiten der Überwindung dieser Trennung. Nachdem er gegenüber Christoph Ludwig Friedrich Schulz in einem Brief vom 18. September 1831 für die Kunst hervorhebt, »daß ohne unmittelbare Vereinigung von Objekt und Subjekt kein lebendiges Kunstwerk zu Stande kommen kann«, fährt er fort: »Ich danke der kritischen und idealistischen Philosophie, daß sie mich auf mich selbst aufmerksam gemacht hat, das ist ein ungeheuer Gewinn; sie kommt aber nie zum Objekt, dieses müssen wir so gut wie der gemeine Menschenverstand zugeben, um am unwandelbaren Verhältnis zu ihm die Freude des Lebens zu genießen.« In: FA 38: 466. Bei meiner Untersuchung der Zusammenhänge werden die Konsequenzen dieser Äußerungen zu berücksichtigen sein. 204 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/M. 1971, S. 175. Vgl. auch Hartmut Böhme: Lebendige Natur, a.a.O., S. 151 ff. 205 Hartmut Böhme: Natur und Subjekt, a.a.O., im Vorwort S. 7.

2.2 Untersuchungsperspektiven im Spiegel der Goetherezeption

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und historisch-gesellschaftliche Entwicklungen einbringen möchte, als »Bild eines Widerstands gegen diese Zivilisation, das Bild auch einer Sehnsucht, die den Zerstörungen und Entfremdungen der Moderne«206 kritisch begegnet. Dieses Widerständige als Spiegel für eine Reflexion der Moderne zeigt Böhme an anderer Stelle exemplarisch am Beispiel der auch für Goethes Denken bedeutsamen antiken Elementenlehre als umfassendem Ordnungsmuster der Naturphilosophie – die »Einheit des großen Natur Ganzen« zu denken –, deren Ende er mit den Kosmos-Vorlesungen Alexander von Humboldts 1827/28 markiert207. Insbesondere mit den Begriffskonzeptionen von Natur und Subjekt stellt Böhme eine Heuristik in Aussicht, auf die ich für die entsprechenden Untersuchungszusammenhänge meiner Arbeit zurückgreifen werde; sie weist semantische Schnittmengen zu den soziologischen Konzepten Luhmanns und Hurrelmanns auf und bietet ein soziologisches Beschreibungsmodell der Goethezeit. Dabei werde ich versuchen zu zeigen, dass sich Identität in der Auseinandersetzung von Ich und Welt durch spezifisch Goethe’sche Varianten und Denkmuster von Ganzheit realisiert, die nicht nur – wenn ich Böhme hier richtig verstehe – die Alternative »enthusiastische[r] Setzung kosmischer Ganzheit« und weitgehender historischer Relativierung derselben kennt208, sondern eine immanente Differenz modellierende offene Ganzheit. In bewusstem Gegensatz zu Fragen möglicher Aktualität untersucht Margrit Wyder das aus heutiger Perspektive eher »Befremdliche« und »Unmoderne«209 von Goethes Ansatz der Naturforschung. Dabei richtet Wyder ihr Augenmerk auf ein Naturmodell – die Scala naturae –, das sie als »das Ganzheitsparadigma der abendländischen Wissenskultur«210 bestimmt, welches das naturphilosophische und wissenschaftliche Denken bis ins 18. Jahrhundert geprägt habe. Wyder untersucht den Anteil Goethes an diesem Modell im Kontext der Diskursgeschichte seiner Zeit (u.a. Leibniz, Spinoza, Herder) und arbeitet dessen Transformation durch das Morphologiekonzept heraus. Gemeinsam ist den Untersuchungsansätzen von Wyder und Böhme, dass sie die Goethezeit als eine Übergangsphase zur Moderne deuten, in der ein letztes Mal der 206 Ebd., S. 9. 207 Gernot Böhme; Hartmut Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente, München 1996, Zitat S. 9. Vgl. auch für den Paradigmenwechsel zum Periodensystem S. 131–142 und auf S. 135 die Tabelle der chemischen Elemente nach Antoine Laurent de Lavoisier. 208 Hartmut Böhme: Lebendige Natur, a.a.O., S. 145. 209 Margrit Wyder: Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformation, Köln u.a. 1998, S. 3. 210 Margrit Wyder: Goethes Naturmodell, a.a.O., S. 4. Inwieweit Elementenlehre und ScalaGedanke Bezüge und Korrelationen aufweisen, soll hier nicht weiter verfolgt werden.

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2 Fachwissenschaftlicher Zusammenhang und Forschungsliteratur

Versuch unternommen wurde, Ganzheitskonzeptionen zu begründen, die Mensch und Natur zusammenbinden, den Kulturprozeß in der Naturgeschichte zu verankern und die Geschichte der Natur ihrerseits als ein einheitliches Ganzes zu sehen.211

Diesen Zusammenhang zeigt auch Olaf Breidbach mit der Abhandlung Goethes Metamorphosenlehre212 auf. Breidbach diskutiert dabei eine Programmatik ästhetischer Bildung bei Goethe213 und hebt eine »universelle Ästhetik«214 der Metamorphosenlehre Goethes hervor. Er markiert sie dann als Alternative zu anderen Begründungsansätzen: Goethes Theorie werde durch die »Bestimmbarkeit des Anschauens«215 dominiert, im Gegensatz zu Hegels Vernunftkonzept216. Diese Auffassung birgt meiner Meinung nach die Gefahr, das umfassende Konzept von Aisthesis als Erkenntnis zu verkürzen. Mein Interpretationsansatz versucht dagegen eine Produktivität durch wechselseitige Bezüglichkeit von Anschauung und Begriff in Goethes Programmatik nachzuweisen (vgl. unten zum Konzept einer rationalen Empirie). Während Böhme, Wyder und auch Breidbach Goethes Naturforschung im Kontext seiner Zeit verorten, zeichnet Wolf von Engelhardt in Goethe im Gespräch mit der Erde die Genese des naturphilosophischen und naturwissenschaftlichen Denkens von Goethe anhand der einschlägigen naturwissenschaftlichen Schriften und den relevanten Werkzusammenhängen nach und zeigt die Verbindung und Bedeutung der Naturforschung zu anderen Tätigkeitsfeldern auf: zu philosophischer Anschauung, zur Ästhetik, zu den literarischen Werken, für die autobiographische Selbstreflexion217. Engelhardt greift seine Untersuchung in Goethes Weltansichten. Auch eine Biographie auf, erweitert die Perspektive aber, indem er intensiver »Goethe in seinen Zeitverhältnissen« darstellt218. Besonders mit dieser Abhandlung rekonstruiert Engelhardt methodische und epistemologische Fragestellungen Goethes in ihrer biographischen Genese und stellt sie im Kontext der philosophischen und wissen211 212 213 214 215 216

Gernot Böhme; Hartmut Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft, a.a.O., S. 11. Olaf Breidbach: Goethes Metamorphosenlehre, München 2006. Vgl. ebd., S. 268–304. Ebd., S. 302 ff. Ebd., S. 304. Vgl. auch mit gleicher Ausrichtung Olaf Breidbach: Gedanken zu Goethes Metamorphosenlehre, in: Goethe-Jahrbuch 125 (2008), S. 95–109, sowie: ders.: Goethes Naturverständnis, München 2011. 217 Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine, Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, Weimar 2003. 218 Wolf von Engelhardt: Goethes Weltansichten. Auch eine Biographie, Weimar 2007, S. VI.

2.2 Untersuchungsperspektiven im Spiegel der Goetherezeption

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schaftlichen Auseinandersetzungen der Zeit, ohne in eine differenzierte Analyse und Diskussion einzusteigen. Meine Arbeit verdankt Engelhardts Untersuchungen eine Reihe von Anregungen; wiederholt werde ich von Engelhardts Darstellung ausgehen, ohne dass ich ihm bei einer Reihe von Deutungen folgen kann219. Methodische und philosophische Grundlagen von Goethes naturwissenschaftlichem Erkennen untersucht Jost Schieren, dessen Abhandlung Anschauende Urteilskraft220 den Titel von Goethes programmatischer Schrift als Leitmotiv der Untersuchung aufgreift. Indem Schieren Goethes Wissenschaftsverständnis freilegt, zeigt er diesen als einen Wissenschaftler und Philosophen, der, maßgeblich im Kontext der kritischen Philosophie Kants reflektierend221, einen ernstzunehmenden Beitrag zur Epistemologie gerade da vorlege, wo er versuche, die von Kant bestimmten Grenzen des Erkennens zu verschieben222. Das zeige sich besonders in der »Erfahrungsbezogenheit«223. Goethe sei es aber im Gegensatz zu Kant nicht um prinzipielle, sondern um faktisch relevante Erkenntnisfragen gegangen. In diesem Zusammenhang lote er den Bezug des Menschen zur Wirklichkeit – zwischen Objekt und Subjekt224 – im Spektrum der Möglichkeiten anschauender Urteilskraft aus. Schieren rekonstruiert anschauende Urteilskraft als einen Prozess von Erkenntnis, die keine Letzterkenntnis anstrebe225; unter dieser Bedingung sei die Abgrenzung Goethes gegenüber Kant zu verstehen, die Möglichkeit eines »intuitiv-anschauenden Verstandes«226 anzunehmen. Schieren geht auf Differenzierungen des komplexen Sinnbezirks von Aisthesis nur randständig ein. Er hebt hervor, dass anschauende Urteilskraft als methodisches Forschungsprinzip zu verstehen sei und betont dabei eine an Kants Auffassung orientierte Programmatik. Seine Rekonstruktion der Zusammenhänge von anschauender Urteilskraft erläutert er im Anschluss an seine Analyse: 219 An dieser Stelle ist auf weitere Arbeiten hinzuweisen, die sich mit speziellen Themen auseinandersetzen und die in meine Untersuchung eingeflossen sind. Martin Bollacher: Der junge Goethe und Spinoza. Studien zur Geschichte des Spinozismus in der Epoche des Sturm und Drangs, Tübingen 1969; Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe, 2 Bde., München 22002, sowie der schon erwähnte Hermann Schmitz: Goethes Altersdenken im problemgeschichtlichen Zusammenhang (1959), Bonn 2008. 220 Jost Schieren: Anschauende Urteilskraft. Methodische und philosophische Grundlagen von Goethes naturwissenschaftlichem Erkennen, Düsseldorf und Bonn 1998. 221 Vgl. ebd., S. 29–80. 222 Ebd., vgl. insbesondere S. 125–210. 223 Ebd., S. 225. 224 Vgl. den programmatischen Aufsatz Goethes: Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt von 1793, in: FA 25: 26–36, der Gegenstand genauerer Untersuchung sein wird. 225 Jost Schieren: Anschauende Urteilskraft, a.a.O., vgl. S. 230. Vgl. auch zu »Bescheidenheit des Erkenntnisanspruchs« und Erkenntnis letzter Prinzipien S. 59 f. 226 Jost Schieren: Anschauende Urteilskraft, a.a.O., vgl. S. 226.

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2 Fachwissenschaftlicher Zusammenhang und Forschungsliteratur

Das Denken wird gegenüber einer wahrnehmlichen Gegebenheit so entfacht, daß es nicht eine Urteilsfunktion innerhalb der Wahrnehmungen verfolgt, sondern daß es als blicklenkende Aufmerksamkeit den qualitativen Eigentümlichkeiten der Wahrnehmungen nachgeht. Es stellt Begriffsangebote zur Verfügung, die von Seiten der Erfahrung experimentell verifiziert bez. falsifiziert werden. […] Es liegt in diesem Vorgehen eine Umkehrung des sonst üblichen Gebrauchs von Denken und Anschauen vor. Das Denken, das sich sonst mittels der Begriffe urteilend in die Erfahrung eingibt, staut sich zurück und wird Blicklenkung bzw. Anschauung, d.h. begriffsgeführte Anschauung. Die Anschauung, die sonst gewöhnlich passiv rezipiert, wird auf diese Weise aktiv, während sich das Denken in seiner Urteilsfunktion passiv verhält. Die Urteilsbildung wird dann von den im denkaktiven Licht der Anschauung erscheinenden Erfahrungen selbst geleistet.227

Im Prinzip ist Schieren hier wie auch seiner Rekonstruktion anschauender Urteilskraft zuzustimmen228. Doch plädiere ich für Differenzierungen und perspektivische Erweiterungen: • Die Semantik von anschauender Urteilskraft muss über den von Schieren vermessenen Rahmen hinaus im Spektrum von Ahnung und Intuition ergänzt und differenziert erschlossen werden, nur so wird die eigentliche Leistung Goethes in epistemischer Hinsicht deutlich. • Die Forschungspraxis führt Goethe nicht nur in epistemisch-methodischer Hinsicht dazu, über die durch den diskursiven Verstand markierten Grenzen hinaus den Spielraum offenzuhalten, sondern er diskutiert – bei allen Vorbehalten gegenüber metaphysischen Konzepten der Philosophie – auch ontologische Optionen im Sinnbezirk naturphilosophischer Anschauung. Deren Bedeutung für die Bildungsprogrammatik wird zu erschließen sein. • Verfolgt man die Entwicklung von Goethes Anschauen der Welt in den konkreten Lebenszusammenhängen, wird der Ertrag nicht nur interessante Hinweise auf die Genese von Werk und Biographie ergeben, sondern insbesondere sind spezifische Spielarten von Epistemologie und philosophischem Denken durch 227 Ebd., S. 211. 228 Dass Schieren bei anschauender Urteilskraft von einer gleichzeitig im Anschauen der Gegebenheiten vollzogenen Anschauung des Denkens seiner selbst spricht (ebd., vgl. S. 210), wirkt im Ganzen seiner ansonsten sehr informativen Untersuchung eigentümlich konstruiert und kann sich meiner Meinung nach nicht auf Goethe selbst berufen, sondern eher auf Herbert Witzenmann und dessen epistemische Referenztheorie. In dieser Hinsicht bietet der von Schieren kaum berücksichtigte Begriff der Intuition, wie ich ihn im Kontext der Aisthesis-Programmatik erschließen werde, Klarheit über den tatsächlichen Sachverhalt.

2.2 Untersuchungsperspektiven im Spiegel der Goetherezeption

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die Rekonstruktion zu erwarten, die in ihrer jeweiligen Eigenart dann auch eine Bedeutung für systematische Überlegungen haben: Durch Kontingenz der jeweiligen Konzepte lässt sich der Zusammenhang systematisch-differenziert mit seinen möglichen Varianten diskutieren. Zur Perspektivierung meiner Untersuchung in dieser Hinsicht dienen die folgenden Hinweise. Sinnliche Anschauung und Intuition229 markieren das erkenntnis- und forschungsmethodische Spannungsfeld, in welchem Goethes Betrachtungsweise ein höheres Gesetz sucht. Dass sein »Denkvermögen gegenständlich tätig sei«230, ist verschiedentlich festgestellt worden, Goethe spricht einmal von den Möglichkeiten einer »zarte[n] Empirie«231; Friedrich Schiller prägt die Formel einer »rationale[n] Empirie«232, welche prägnant auf die Verbindung von Anschauung und Denken für Aisthesis hinweist. Nach Goethes Auffassung ist der Mensch in der Lage, im Betrachten der empirischen Phänomene der gegebenen Natur ein partizipierendes Verhältnis zur natura naturata zu entwickeln, das zu einem Wissen der natura naturans fortschreitet, welches in holistischem Verstehen der bewirkenden Kräfte und letztlich in Selbstreflexion des Erkenntnissubjektes aufgeht, ohne in vorkritische Denkmuster metaphysischer Letztbegründung zu verfallen. Damit ist ein komplementäres Verhältnis zwischen Wissensbeständen des Denkens und der Ordnung des Seins der Dinge angestrebt, mit dem Goethe eine zentrale Denkfigur der Ontologie des Parmenides – »Das Selbe nämlich ist Vernehmen (Denken) sowohl als auch Sein«233 – 229 Zu den Begriffen Anschauung und Intuition vgl. die Vorüberlegungen in Kap. 1. 230 Bedeutendes Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort, in: FA 24: 595. In diesem Kontext erscheint der Gedanke von Ganzheit unter dem Aspekt des ganzen Menschen, der Verbindung leiblich-sinnlicher, emotionaler und geistig-vernünftiger Vermögen. Vgl. zu diesem Aspekt von Ganzheit auch Ernst Lichtensein: Bildung, in: Joachim Ritter; Karlfried Gründer; Gottfried Gabriel (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel 1971, Sp. 923–925, zur Wirkungsgeschichte, über Dilthey vermittelt, bis ins 20. Jahrhundert besonders 929 f. 231 FA 13: 149: »Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht, und dadurch zur eigentlichen Theorie wird. Diese Steigerung des geistigen Vermögens aber gehört einer hochgebildeten Zeit an.« Auch wenn man von einem Gedankensplitter wird sprechen müssen, klingt in dieser Maxime doch der Versuch an, empirische Methodik mit holistischem Wesensverständnis zu verbinden und damit die erkenntnistheoretische Spaltung von Subjekt und Objekt zu überwinden. In welcher Weise sich Goethe mit Fragen der Erkenntnistheorie im Rahmen seiner Spinoza- sowie Kantrezeption auseinandersetzt, wird an späterer Stelle in Rahmen der Auseinandersetzung mit den naturwissenschaftlichen Schriften Goethes auszuloten sein. 232 Brief vom 12. Januar 1798, in: MA 8.1: 492. 233 Zitiert nach Martin Heidegger: Identität und Differenz, Pfullingen 81986, S. 14. In der neusten Ausgabe der Vorsokratiker griechisch und dt. Übersetzung: »τò γάϱ αὐτὸ υοεῖν ἐστίν τε χαὶ εἷναι«, »Denn dasselbe ist, zu denken und zu sein.« In: Die Vorsokratiker

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2 Fachwissenschaftlicher Zusammenhang und Forschungsliteratur

als ein Denkmuster für die Moderne aktiviert, um die prinzipielle Differenz offener Ganzheit zu modellieren: Denken und Sein »wie zwei gut aufeinander abgestimmte Gegensätze zu verbinden«234 – ein Gegenentwurf labiler Partizipation gegenüber einem unglücklichen Bewusstsein des Fremdseins in der Welt. Unter diesen Vorzeichen ist der Bildungswert des Konzeptes offener Ganzheit u.a. in dem Gestaltbegriff des morphologischen Denkens von Goethe zu verorten, wie aktuell von Annette Simonis gezeigt235. Dabei wird sich ein materialistischmonistisch konstruierter Gestaltbegriff als untauglich erweisen, den mit diesem Denkmuster bei Goethe verbundenen Entelechiegedanken zu rekonstruieren236. Die für den Gestaltbegriff bedeutende der Relation außen/innen ist von Gernot Böhme untersucht worden. Wenn Physiognomik versucht, »Wesenserkenntnis aus der äußeren sichtbaren Form«237 zu gewinnen, folgt sie dem Grundgedanken einer »Dialektik von Sich-Zeigen und Sich-Verbergen«238. Der für meine Untersuchung entscheidende Hinweis Böhmes besteht darin, dass man ein diesbezügliches Denkmuster, das den Ausdruckscharakter betont, von einem phänomenologischen, das auf das Eindruckspotential zielt, unterscheiden sollte, was für die epistemische Rekonstruktion von Bedeutung ist, wenn es darum geht, dass die Dinge selbst den anschauenden Blick auf sich ziehen (Ekstasen der Dinge; Böhme239).

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(Bd. II), Parmenides, Zenon, Empedokles, griechisch – lateinisch – deutsch. Auswahl der Fragmente und Zeugnisse, Übersetzung und Erläuterungen von M. Laura Gemelli Marciano, Düsseldorf 2009, S. 14 f. Gaston Bachelard: Die Psychoanalyse des Feuers, München und Wien 2007, S. 6. Bachelard kennzeichnet mit dieser Formulierung das Bestreben der Philosophie, Poesie und Wissenschaft in ihrer Differenz als komplementär zu begreifen. Annette Simonis: Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin. Diskursgeschichte einer deutschen Denkfigur, Köln u.a. 2001, S. 23–83. Vgl. auch Adolf Meyer-Abich: Goethes Kompensationsprinzip, das erste holistische Grundgesetz der modernen Biologie, in: ders.: Biologie der Goethe-Zeit, Stuttgart 1949, S. 282–302. Vgl. dazu Kap. 4. Zu erschließende Merkmale wären im Sinnbezirk von Naturmodellen u.a. die Denkfigur einer scala naturae [eine alle Wesen hierarchisch verortende Kette oder Stufenleiter (vgl. dazu Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, Frankfurt/M. 1985, sowie Margit Wyder: Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformation, a.a.O.)] sowie der damit verbundene Gedanke eines Kontinuums (ein alle Wesen verbindendes Band) in seiner Transformation zur Morphologie (Wyder), der für das Verständnis von Natur als einem lebendigen Gesamtorganismus von Bedeutung ist; vgl. die Kap. 4, 5 und 7. Gernot Böhme: Atmosphäre, a.a.O., S. 202–207, Zitat S. 202. Ebd., S. 202. Vgl. Kap. 2.1.

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3 B I LDU NG – » WO H L D E R G RÖ S STE G E DA N K E DES 18. JAH R H U N D E RTS «

3.1 Ideengeschichtliche Aspekte des Bildungsbegriffes – eine forschungskritische Annäherung Bildung ist »wohl der größte Gedanke des 18. Jahrhunderts«1, ist ein »Schlüsselbegriff«2, wird in Goethezeit3 und Idealismus zum »Leitbegriff eines in der geschichtlichen Situation des Übergangs zu einer offenen Gesellschaft sozial ermöglichten Ideals geistiger Individualität, freier Geselligkeit und ideennormativer Selbstbestimmung«4. In der Forschung herrscht seltene Übereinstimmung darüber, dass sich im 18. Jahrhundert ein neues, spezifisches Paradigma von Bildung konstituiert und diesem eine besondere Signatur verleiht. Schon im Selbstverständnis der Zeit findet sich diese Einschätzung. Moses Mendelssohn analysiert 1784: Die Worte Aufklärung, Kultur, Bildung sind in unserer Sprache noch neue Ankömmlinge, sie gehören von der Hand bloß zur Büchersprache […]. Indessen hat der Sprachgebrauch […] noch nicht Zeit gehabt, die Grenzen derselben festzusetzen. Bildung, Kultur und Aufklärung sind Modifikationen des geselligen Lebens, Wirkungen des Fleißes und der Bemühungen der Menschen, ihren geselligen Zustand zu verbessern. Bildung zerfällt in Kultur und Aufklärung. Jene scheint mehr 1 2 3

4

Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), Tübingen 41975, S. 7. Ortrud Gutjahr: Einführung in den Bildungsroman, Darmstadt 2007, S. 10. Dieser Begriff bezeichnet die Zeitspanne von Aufklärung – Empfindsamkeit, Sturm und Drang – Klassik – Idealismus. Vgl. dazu Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. a.a.O., S. 7–16. Für die Zeit um 1800 gibt es noch andere Vorschläge einer Kennzeichnung. So verwendet Reinhart Koselleck den Begriff »Sattelzeit«, er meint damit eine janusgesichtige Wendezeit, in der sich unserer Zeitalter in Abgrenzung zu vergangenen Zeiten konstituiert. Vgl. Reinhart Kosseleck: Einleitung, in: Otto Brunner; Werner Conze; Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, 1. Auflage der Studienausgabe, Stuttgart 2004, S. XV. Ernst Lichtenstein: Bildung, in: Joachim Ritter u.a. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel 1971, Sp. 921.

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3 Bildung – »wohl der größte Gedanke des 18. Jahrhunderts«

auf das Praktische zu gehen[...]. Aufklärung hingegen scheinet sich mehr auf das Theoretische zu beziehen.5

Philosophische Konzeptionen (»Büchersprache«) siedeln demnach Bildung in einem vielschichtigen begrifflichen Zusammenhang (»Aufklärung, Kultur, Bildung«) an, verbunden mit einem breiten Verwendungsspektrum (»Modifikationen des geselligen Lebens«). Was sich in der Einschätzung Mendelssohns andeutet – ein komplexer Begriff, vielseitig und vieldeutig, dessen Potential in konkreten Verwendungssituationen in unterschiedlichen semantischen Konstellationen aktiviert wird –6, liegt der Möglichkeit nach etymologisch schon im Wort selbst begründet. Bildung als Wort leitet sich aus dem alten germanischen Wortstamm bil ab, was so viel wie Wunderkraft oder Wunderzeichen bedeutet. Ahd. bilidi, ursprünglich auch im Sinne von Wesen, Wunder oder Omen, Zauberzeichen (das, wodurch etwas zu dem wird, was es ist)7 umfasst als ahd. bildunga zwei Bedeutungen. Zum einen Nachbildung, Nachahmung (lat. imitatio) und Bild, Abbild, Ebenbild (lat. imago) – einem Vorbild nachfolgen, streben; Ausdruck von etwas sein. Daneben taucht es in der Bedeutung von Gestaltung (lat. formatio) und Gestalt (lat. forma) auf8 – Prozess einer Formung, Produkt einer Formung sein. Der Formgedanke umfasst semantisch sowohl eine mehr von innen selbstbestimmte, als auch eine von außen geprägte Gestaltung. Die Etymologie deutet damit auf einen komplexen begrifflichen Zusammenhang, der Prinzip, Prozess, Produkt und Zielvorstellungen in dem Wort Bildung integriert. Dessen Gebrauch scheint demzufolge per se vieldeutig und vielseitig motiviert zu sein. 5

6

7

8

Moses Mendelssohn: Über die Frage: Was heißt aufklären? (1784). Zitiert nach Rudolf Vierhaus: Bildung, in: Otto Brunner; Werner Conze; Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, a.a.O., S. 508. Dort auch weitere Hinweise zum spezifisch deutschen Paradigma von Bildung. Vgl. zu diesem Analyseansatz auch Fotis Jannidis: Das Individuum und sein Jahrhundert. Eine Komponenten- und Funktionsanalyse des Begriffs ›Bildung‹ am Beispiel von Goethes »Dichtung und Wahrheit«, Tübingen 1996. Hier zitiert nach: , letzter Zugriff 19.5.2011, S. 7–11. Jannidis’ Arbeit verdanke ich eine Reihe von Literaturhinweisen zum Bildungsbegriff. Vgl. Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 2 (1860), Nachdruck München 1999, Sp. 8 zu Bild und Sp. 22 f. zu Bildung. Vgl. auch Dietmar Kamper: Bild, in: Christoph Wulf (Hrsg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim 1997, S. 589. Vgl. Ilse Schaarschmidt: Der Bedeutungswandel der Worte »bilden« und »Bildung« in der Literaturepoche von Gottsched bis Herder (Diss. Königsberg 1931), Neudruck in: Wolfgang Klafki (Hrsg.): Beiträge zur Geschichte des Bildungsbegriffs, Weinheim 1965, S. 33. Vgl. auch Rudolf Vierhaus: Bildung, a.a.O., S. 509.

3.1 Ideengeschichtliche Aspekte des Bildungsbegriffes – eine forschungskritische Annäherung

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Fokussiert auf die historische Lage der Goethezeit konstruiere ich Komplexität und Funktion des Bildungsbegriffes hier zunächst durch Sichtung der Forschungslage. In den 1960er Jahren erschienen drei maßgebliche Arbeiten zum Bildungsbegriff, die auf schon ältere Studien aufbauten9. Alle drei Arbeiten gehen davon aus, dass der Begriff Bildung im Rahmen theologisch-mystischer Überzeugungen zunächst im Begründungszusammenhang der »Imago-Dei-Theologie« (»Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei«10), erweitert zu einem »naturphilosophisch-spekulativen Bedeutungsfeld«11, im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit seine spezifische Signatur bekam, vielschichtig und vielseitig orientiert im weiten Feld der Imago-Imitatio-Relation12. Hans Schilling arbeitet 1961 insbesondere Konstituenten, Funktion und Bedeutung dieses Bildungsbegriffes in der christlich begründeten Traditionslinie seit dem Mittelalter heraus, grenzt neuhumanistische Ideen von Bildung im 18. Jahrhundert scharf davon ab und bestätigt dabei weitgehend die Resultate der älteren Forschung: So erscheint das alte biblisch fundierte pietistische Erziehungs- und Lebensziel der Bildung zur Christusbildlichkeit auf der ganzen Linie abgelöst durch das neue, 9

Zu nennen sind: Hans Weil: Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips, Bonn 1930. Weil erarbeitet insbesondere die Konstituierung des Bildungsprinzips bei Herder und Humboldt und geht der Verwendung und Funktion des Begriffes in der soziologischsozialen Entwicklung nach; ästhetische, psychologische und philosophische Fragestellungen perspektivieren die Untersuchung. Sodann: Ilse Schaarschmidt: Der Bedeutungswandel der Worte »bilden« und »Bildung« in der Literaturepoche von Gottsched bis Herder, a.a.O. Schaarschmidt geht u.a. auf die Bedeutung ästhetischen Denkens für Bildungskonzepte des Neuhumanismus ein (vgl. S. 86), Goethe ist in diesem Zusammenhang das »Symbol der Bildung« (S. 68). Zudem demonstriert sie die vielseitige Verwendung des Bildungsbegriffs (vgl. die tabellarische Übersicht S. 82). Außerdem: Ernst Stahl: Die religiöse und die humanitätsphilosophische Bildungsidee und die Entstehung des deutschen Bildungsromans im 18. Jahrhundert, Bern 1934. Stahl verfolgt die Säkularisierung des christlichen theologischmystischen Bildungskonzepts. Interessant sind insbesondere seine Ausführungen zur Bedeutung der naturwissenschaftlichen Modelle von Präformation und Epigenesis für Bildung, inwieweit Bildung eine Entfaltung von Anlagen oder nachträglich sich bildende Strukturen bedeute (vgl. S. 51). Die Befunde, dass eine naturwissenschaftliche Orientierung den Bildungsbegriff präge (vgl. S. 98) und dass er eine große Spanne von Bedeutungs- und Verwendungsmöglichkeiten aufweise (S. 102), ist auch eine der Kernaussagen von Emmy Constantin: Die Begriffe »Bild« und »Bilden« in der deutschen Philosophie von Eckehardt zu Herder, Blumenbach und Pestalozzi, Heidelberg 1944. 10 Gen 1,26. 11 Ernst Lichtenstein: Bildung, a.a.O., Sp. 922. 12 Zu begriffsgeschichtlichen Überblicken vgl. neben Ernst Lichtenstein: Bildung, a.a.O., Sp. 922–924, auch R. Vierhaus: Bildung, a.a.O., S. 509–515, sowie Hermann Röhrs: Bildungsphilosophie, Bd. 2, Frankfurt/M. 1968, S. XII f.

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am Naturhaft-Organischen und Ästhetischen orientierte Ideal der »Bildung zur Humanität«.13

Günther Dohmen kommt 1964 zu dem Ergebnis, dass in den Bildungsideen der Goethezeit drei Traditionsstränge des Bildungsbegriffes aufgehen. Für die Renaissance und frühe Neuzeit identifiziert Dohmens Untersuchung, wie andere vor ihm, zwei Bedeutungsfelder, ein mystisch-theologisches (u.a. Heinrich Seuse, Meister Eckhart; »Bildwerdung Gottes im Menschen«), welches bis in die protestantische Mystik und den Pietismus fortwirkt, und ein naturphilosophisch-spekulatives (u.a. Paracelsus; Bildung ist im Sinne pantheistischer Vorstellungen die Signatur allen Seins, im Rahmen der Mikrokosmos-Makrokosmos-Relation ist der Mensch gemäß seiner Bildung ein Teil des Ganzen, dazu disponiert, mit seinem Wissen das Ganze zu erkennen). Einen dritten, davon abgegrenzten Traditionsstrang verortet Dohmen im Bildungsbegriff der Aufklärung. Er sei, wie es auch das Mendelssohn-Zitat oben andeutet, von einer spezifisch pädagogischen Ausrichtung, bewusst werde von außen erziehend auf ein Bildungssubjekt eingewirkt (»Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß«14), was sich in der Form nicht in den vorangehenden Konzeptionen finden lasse. In vielfältiger Ausprägung gehen diese Traditionsstränge nach Dohmens Befund in den humanistischen Bildungsbegriff der Goethezeit ein15. Ernst Lichtenstein zeichnet 1966 in seiner philosophisch orientierten Untersuchung eine Entwicklungslinie des Bildungsbegriffes von Meister Eckhart bis Hegel nach. Dabei hebt er besonders, darin Hans Weil und Ilse Schaarschmidt folgend, eine paradigmatische Bedeutung Herders für die Bildungsideen der Goethezeit hervor; Herder synthetisiere die Bedeutungsvielfalt des Bildungsbegriffs: […] ästhetische und moralische Bildung, sich nach einem Muster bilden […]. Verbesserung, Vervollkommnung, Erleuchtung, Aufklärung, cultura animi [...]16.

13

Hans Schilling: Bildung als Gottesebenbildlichkeit. Eine motivgeschichtliche Studie zum Bildungsbegriff, Freiburg i.Br. 1961, S. 80 14 Immanuel Kant: Über Pädagogik, in: Hermann Röhrs (Hrsg.): Bildungsphilosophie, Bd. 2, Frankfurt/M. 1968, S. 11. Kant fährt fort: »Unter Erziehung nämlich verstehen wir die Wartung (Verpflegung, Unterhaltung), Disziplin (Zucht) und die Unterweisung nebst der Bildung.« (Ebd.) 15 Günther Dohmen: Bildung und Schule. Die Entstehung des deutschen Bildungsbegriffs und die Entwicklung seines Verhältnisses zur Schule, 2 Bde., Weinheim 1964 f., vgl zur Begriffsgeschichte Bd. 1; zum Umkreis Paracelsus vgl. S. 68 ff., zu protestantischer Mystik und Pietismus vgl. S. 88 ff. 16 Ernst Lichtenstein: Zur Entwicklung des Bildungsbegriffs von Meister Eckhart bis Hegel, Heidelberg 1966, S. 17.

3.1 Ideengeschichtliche Aspekte des Bildungsbegriffes – eine forschungskritische Annäherung

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In anderem Zusammenhang führt er aus, dass bei Herder Bildung »stets das Doppelte: ›Ausbildung gegebener Anlagen‹ und ›sich zum Bilde machen‹«17 bedeute, eine Aktivierung sowohl der Forma- als auch der Imago-Variante des Wortes. Schilling, Dohmen und Lichtenstein weisen u.a. auf die europaweite Wirkung der Ideen Lord Shaftesburys im 18. Jahrhundert hin18. Sie gehen auf unterschiedliche Bildungskonzeptionen Herders, Lessings, Goethes, Schillers und Humboldts ein und auf die Arbeitszusammenhänge, die bestanden haben19. Einen Stand der Forschung zum Bildungsbegriff bis in die 70er Jahre bietet der o.g. Lexikonartikel von Rudolf Vierhaus; Ralph Fiedler legt zu gleicher Zeit eine soziologisch-sozialgeschichtliche Untersuchung vor, die Aspekte weiter verfolgt, die schon Hans Weil thematisiert hat, dabei eher die Differenzierung und Abgrenzung gesellschaftlicher Gruppen durch Bildung betonend20. In den 90er Jahren sind es die Arbeiten von Aleida Assmann und Georg Bollenbeck, welche den Bildungsbegriff des 18. Jahrhunderts unter soziologischen und sozialgeschichtlichen Fragestellungen in seiner Funktion untersuchen21. So verfolgt Georg Bollenbeck die Begriffe Bildung und Kultur in ihrer historischen Entwicklung. Er analysiert die Verwendung von »hochkomplexe[n] Konzepte[n] zu einem Deutungsmuster«22, das die Gesellschaft als Ganze, Identität des einzelnen und »Bewußtseins- und Wissensbestände«23 strukturiert, dabei betont er den integrativen Einfluss von Bildung; Gesellschaft definiere sich durch entsprechende Deutungsmuster24. 17 18

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Ernst Lichtenstein: Bildung, a.a.O., Sp. 924. Shaftesbury (1671–1713) entwickelte besonders durch seine gesammelten Abhandlungen in Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times von 1711 eine außerordentliche Wirkung in Europa. Optimismus und Pantheismus sind die entscheidenden Merkmale seiner Philosophie. Reflexionen über die Harmonie des Universums und die harmonische Ausbildung des Menschen prägen seine Abhandlungen. Vgl. Ilse Schaarschmidt: Der Bedeutungswandel der Worte »bilden« und »Bildung« in der Literaturepoche von Gottsched bis Herder, a.a.O., S. 55. Ernst Lichtenstein: Bildung, a.a.O., Sp. 924 f. Rudolf Vierhaus: Bildung (1972), a.a.O., S. 508–551. Ralph Fiedler: Die klassische deutsche Bildungsidee. Ihre soziologischen Wurzeln und pädagogischen Folgen, Weinheim 1972, vgl. u.a. S. 23 ff. Zu Hans Weil vgl. oben. Aleida Assmann: Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt/M., New York 1993. Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt/M. 1994. Ebd., S. 26 f. Ebd., S. 159. Ebd., S. 193 ff. Ähnlich argumentiert Assmann, wenn sie hervorhebt, dass Gesellschaft sich über Bildungsdiskurse selbst thematisiere (vgl. Aleida Assmann: Arbeit am nationalen Gedächtnis, a.a.O., u.a. S. 42 und 105).

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Aleida Assmann weist für die Wirkungsgeschichte darauf hin, dass universalistische Deutungsmuster der Aufklärung schon bald partikular und zusehends national umgedeutet wurden: Die Aufklärung hatte davon geträumt, Menschen zum Menschen schlechthin bilden zu können. Aber an die Stelle des offenen und universalistischen Ideals – und das ist die andere Seite des Bildungsdiskurses, die wir in Rechnung stellen müssen – sind sehr bald distinktive, kollektive, exklusive Menschenbilder getreten.25

Im Anschluss an Assmann muss man für den spezifisch deutschen Begriff26 von Bildung differenzieren zwischen einer ursprünglichen Konzeption, einem problematischen Deutungsmuster nationalistischer und rassistischer Couleur seit Mitte des 19. Jahrhunderts, das u.a. durch Eduard Spranger in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts propagiert, zum Ideal der Deutschheit27 stilisiert wurde, und einer Revision und Neubestimmung in der Bundesrepublik, die insbesondere mit der Person Wolfgang Klafkis verbunden ist28. Die Untersuchung von Reinhart Koselleck geht ebenfalls historischen Entwicklungslinien nach, setzt aber noch einen anderen Akzent29. Koselleck arbeitet heraus, dass es zu kurz greife, Konzepte des Bildungsbegriffes nur auf ideologische, soziale 25 Aleida Assmann: Arbeit am nationalen Gedächtnis, a.a.O., S. 33. 26 Ebd., S. 40–47. Assmanns Fazit zum deutschen Bildungsbegriff lautet: »Festzustellen ist immerhin, daß der Bildungsbegriff keineswegs von der Bildfläche der bundesrepublikanischen Kultur verschwunden ist, sondern weiterhin verwendet wird und prestigiöser Gegenstand von Debatten und Untersuchungen ist. Dennoch scheint der Bildungsbegriff heute seine zentrale und zentrierende gesellschaftliche Funktion eingebüßt zu haben. Das Zentrum, auf das er verwies, die Mitte der Person oder die Mitte der Nation, existiert nicht mehr.« (S. 110 f.) 27 Vgl. K. Himmelstein: Eduard Sprangers Bildungsideal der »Deutschheit« – Ein Beitrag zur Kontingenzbewältigung in der modernen Gesellschaft?, in: Jahrbuch f. Pädagogik 1996. Pädagogik in der multikulturellen Gesellschaft, Frankfurt/M. u.a., 1996, S. 179–196. 28 Seit Ende der 80er Jahre vertritt Wolfgang Klafki eine modifizierte und erweiterte kritisch-konstruktive Didaktik als ein zeitgemäßes Konzept allgemeiner Bildung (vgl. Wolfgang Klafki: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch- konstruktive Didaktik (1985), Weinheim 62007). Klafki versucht insbesondere, empirische Forschung und Sozialisationstheorie in sein Konzept von Allgemeinbildung zu integrieren, den »historisch- hermeneutischen Ansatz […] mit dem erfahrungswissenschaftlichen (empirischen) und dem gesellschaftskritisch-ideologiekritischen Ansatz« zu verbinden (S. 9). 29 Reinhart Koselleck: Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung, in: ders. (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil 2: Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart 1990, S. 11–46; hier S. 14.

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und ökonomische Faktoren zu reduzieren, er ist überzeugt, dass Bildung eine anthropologische Kategorie ist; der Mensch könne »nur in seiner Individuation er selbst sein und werden«30, Bildung sei ein individueller, selbstreflexiver Prozess – eine These, die im Kontext soziologischer Konzeption produktiver Realitätsverarbeitung (Hurrelmann31) kritisch hinterfragt werden muss. Im gegenwärtigen Diskurs über Bildung wird neben der Kritik am humanistischen Begriff und Konzept von Bildung, etwa durch Walter Hammel32, die Forderung nach einer Besinnung auf humanistische Konzepte vor dem Hintergrund der Ökonomisierung aller Lebensbereiche erhoben, etwa durch Günther Böhme33. Meiner Meinung nach kann es bei der Rekonstruktion von bildungsphilosophischen Konzeptionen jedoch nicht um eine wie auch immer geartete restaurative Installation einer wertvollen Tradition humanistischer Bildung im Sinne Günther Böhmes gehen, sondern primär darum, Denkmuster zu gewinnen, welche im plural organisierten Diskurs um Bildung produktiv und innovativ wirken34. Dafür bietet u.a. Christian Rittelmeyers Buch Bildung. Ein pädagogischer Grundbegriff35 eine aktuell fundierte Grundlage, indem es »Problemstellungen«36 und »Denkformen«37 von Bildung aufzeigt, die zu einem intensiven Denken über Bildung anregen sollen38. 30 Ebd., S. 21 31 Vgl. zu soziologischen Referenztheorien Kap. 2.1. 32 Walter Hammel: Wege der Bildung: Geschichte des Bildungsverständnisses, Hamburg 1996. Hammel geht auf den Humanismusbegriff und die Geschichte des Humanismus von der Antike bis zur Gegenwart ein, um dann dieses Konzept in Bezug auf seine mögliche gegenwärtige Bedeutung zu kritisieren. 33 Günther Böhme: Kultur und pädagogische Reform. Zur Aktualität einer humanistischen Bildung, Idstein 2008. Böhme will den neuzeitlichen Humanismus für die Gegenwart aktivieren. Seine Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation und der Debatte um Bildung – Stichworte sind Bologna-Prozess und Pisa-Studie – führt zu einer Forderung nach einer humanistisch geprägten Bildung, die primär an den Inhalten des Humanismus orientiert ist. Vgl. zur Kritik an Böhme Kap. 2.2. 34 Vgl. zu einem solchen Ansatz, Pluralität als Kriterium des Bildungsdiskurses zu begründen, Hans-Christoph Koller: Bildung und Widerstreit. Zur Struktur biographischer Bildungsprozesse in der (Post-)Moderne, München 1999. Koller führt u.a. aus, » […] die Respektierung von Differenzen zwischen den Diskursarten […] und die Zurückweisung aller totalisierenden und vereinheitlichenden Versuche einzelner Diskursarten, die Rolle eines Metadiskurses einzunehmen« (S. 152), sei Kennzeichen postmoderner Bildungsdiskurse. Vgl. dazu unten das Kapitel über Bildungsphilosophie heute. 35 Christian Rittelmeyer: Bildung. Ein pädagogischer Grundbegriff, Stuttgart 2012; vgl. auch die Vorbemerkungen. 36 Ebd., S. 11. 37 Ebd., S. 12. 38 Zu entsprechenden Konzeptionen, an denen meine Untersuchung orientiert ist, vgl. Kap. 2.1.

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Resümee

Nach dieser Sichtung lässt sich resümieren, dass der Bildungsbegriff • schon als Wort vieldeutig und vielseitig ist; • seine Prägung einerseits aus einer sich säkularisierenden theologischen, andererseits aus einer mehr naturphilosophischen Tradition erklärbar ist; • in den Konzeptionen des 18. Jahrhunderts seine bis heute anhaltende wirkungsgeschichtliche Bedeutung erhalten hat; • problematische Ideologisierungen erfahren hat, welche eine kritische Diskussion in Deutschland prägen; • im aktuellen Diskurs erneute Aufmerksamkeit erfährt. Unter den damit umrissenen Voraussetzungen sollen im folgenden Kapitel Konstituenten des Bildungsbegriffes des 18. Jahrhunderts in Deutschland offengelegt und speziell Konzeptionen von ästhetischer Bildung erschlossen werden. Wie zum methodischen Vorgehen ausgeführt, wird damit ein kontrastiver Vergleich möglich, der spezifische Muster von Goethes Denken über Bildung profilieren kann.

3.2 Perspektiven des bildungsphilosophischen Diskurses der Goethezeit 3.2.1 Bildung – das Paradigma der Goethezeit

In Über naive und sentimentalische Dichtung geht Friedrich Schiller auf einen Zug modernen Lebensgefühls ein: Es gibt Augenblicke in unserem Leben, wo wir der Natur in Pflanzen, Mineralien, Thieren, Landschaften, so wie der menschlichen Natur in Kindern, in Sitten des Landvolks und der Umwelt, nicht weil sie unsern Sinnen wohltut, auch nicht weil sie unsern Verstand oder Geschmack befriedigt […] sondern bloß w e i l s i e N a t u r i s t , eine Art von Liebe und von rührender Achtung widmen. […] Diese Art des Interesse an der Natur findet aber nur unter zwey Bedingungen statt. Fürs erste ist es durchaus nöthig, daß der Gegenstand, der uns dasselbe einflößt, N a t u r s e y oder doch von uns dafür gehalten werde; zweytens daß er (in weitester Bedeutung des Wortes) n a i v s e y, d.h. die Natur mit der Kunst im Kontrast stehe und sie beschäme. Sobald das letztere zu dem ersten hinzukommt, und nicht eher, wird die Natur zum Naiven.39 39

Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96), hrsg. von Klaus L.

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Schiller spricht von einem besonderen Interesse (»Liebe«, »rührender Achtung«) gegenüber Natur. Es gelte nicht so sehr einem bestimmten Gegenstand, diesen oder jenen besonderen Gegebenheiten oder Umständen, unter denen der Mensch ihm begegne, sondern der Tatsache, dass dieser Gegenstand über seine besonderen Merkmale und konkreten Erscheinungsformen hinaus etwas über Natur im Sinne einer natura naturans ausdrücke. Dieses Interesse stelle sich unter bestimmten Bedingungen ein. Der Gegenstand müsse objektiv oder zumindest subjektiv vermeint als Natur identifiziert werden können. Der Gegensatz von Natur und Kunst – Kunst bezeichnet an dieser Stelle ganz allgemein Artefakte und kulturelle Leistungen – sei die Bedingung der Möglichkeit einer Identifikation von Natur als »naiv«. Im Kontext der anthropologischen Diskussion des 18. Jahrhunderts wird unter naiv eine unbefangene, kindlich unschuldige, ungekünstelte naturhafte Identität, etwa im Sinne des Naturalismus Rousseaus, verstanden. Für Schiller ist der Begriff nicht unproblematisch, denn eine naive Existenz kann nicht ein Bewusstsein ihrer selbst haben, kann also keine selbst erlebte Charaktereigenschaft des Naiven sein. Erst wenn sich der Mensch der Natur gegenüber zu stellen vermag und über sie gedanklich reflektieren kann, wird das Naive von der reflektierenden Vernunft als Begriff generiert40. Wenn Schiller unter diesen Voraussetzungen vom Naiven spricht, betreibt er Kulturkritik im Sinne der Aufklärung. Das bis in das 17. Jahrhundert für die europäische Kultur gültige christlich geprägte Paradigma von Eschatologie und apokalyptischer Endzeitvision als Telos geschichtlicher Entwicklung ist zusehends abgelöst worden von historischen Konzepten, die, auf Vernunft gegründet, Fortschritt als entscheidenden Motor von Geschichte begreifen und Emanzipation sowie Freiheit des Menschen als entscheidende Zielorientierung formulieren. Ein spekulativ angenommener ursprünglicher Naturzustand ist durch das Wirken der Vernunft verloren. Verlust und Entfremdung sind die Wunden, die durch den Paradigmenwechsel geschlagen worden sind, Sehnsucht ist die entscheidende Kategorie des Verhältnisses zur Natur.

Berghan, Stuttgart 2003, S. 7. Die Ausführungen zu Friedrich Schiller in diesen Kapiteln sind z.T. entlehnt aus Jörg Soetebeer: Selbsttätige Bildungskraft heute. Schiller, Stuttgart 2010. 40 Vgl. Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung, a.a.O., Kommentar S. 132 ff., sowie den § 54 der Kritik der Urteilskraft von Immanuel Kant. Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, in: ders.: Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie, Werke Bd. III, hrsg. von Manfred Frank und Vèronique Zanetti, Frankfurt/M 1996, S. 686–694. Vgl. besonders S. 692, wo Kant über »Naivität« und die »unverdorbne, schuldlose Natur« reflektiert.

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In diesem Kontext ist das Naive bei Schiller durch seinen Komplementärbegriff des Sentimentalischen mit bestimmt, der ein gebrochenes Wirklichkeitsgefühl bezeichnet. Das sentimentalische Bewusstsein erlebt den Kontrast zwischen einer ideell gedachten ursprünglichen Natur und den realen Lebensverhältnissen, ist also per se ein unglückliches Bewusstsein, das sich unter den Bedingungen der Reflexion nach Einheit und Harmonie sehnt. Schiller beurteilt diese Entwicklung auch als Chance: Wir waren Natur, […] und unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freyheit, zur Natur zurückführen.41

Die Menschheit hat sich aus einem ursprünglichen naturhaften Leben gelöst und der antagonistische Zustand der Entfremdung eröffnet die Chance, mit dem kulturellen Fortschritt eine zweite Natur zu schaffen, die das Produkt freier Wahl ist. Für den damals aktuellen Gesellschaftszustand hebt Schiller hervor: Was ihren Charakter ausmacht [der ersten Natur; J.S.], ist gerade das, was dem unsrigen zu seiner Vollendung mangelt; was uns von ihnen unterscheidet, ist gerade das, was ihnen selbst an Göttlichkeit fehlt. Wir sind frey und sie sind nothwendig; […] [a]ber nur, wenn beides sich mit einander verbindet – wenn der Wille das Gesetz der Nothwendigkeit frey befolgt und bey allem Wechsel der Phantasie die Vernunft die Regel behauptet, geht das Göttliche oder das Ideal hervor.42

Schiller denkt den Vollzug der dialektisch verstandenen Entwicklung teleologisch; Ziel der gesamten Entwicklung ist die Vervollkommnung des Subjekts als eines zu höherer Entwicklung fähigen Wesens gemäß seiner Entelechie (Einzigartigkeit des Individuums) im Sinne der Bestimmung des Menschen, Freiheit und Notwendigkeit in ein harmonisches Verhältnis zu bringen und im Menschen die Menschheit auszubilden43. Der hergestellte Zusammenhang von individueller Entwicklung des Einzelnen und der Entwicklung der Gattung verbindet sich bei Schiller insbesondere mit einem gesellschaftskritisch angelegten emanzipatorischen Programm von Bildung44. 41 Ebd., S. 8. 42 Ebd., S. 9. 43 Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, hrsg. von Klaus L. Berghan, Stuttgart 2000, insbesondere den 14. Brief. 44 In diesem Zusammenhang sei betont, dass Schiller neben dem Feld der Moralität und des Historisch-Gesellschaftlichen das Physisch-Natürliche eindringlicher Analyse und Bestimmung in Anerkennung der dualistischen Verfassung des Menschen nach Geist

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Im kulturellen und wissenschaftlichen Kontext der Goethezeit findet man eine ganze Reihe von Theoriekonstruktionen, die bei aller Verschiedenheit die aufgezeigten Merkmale aufweisen. In philosophisch-systematischer Absicht wird nach historischen Entwicklungsbedingungen, anthropologischen Konstituenten, nach den Bezügen von Natur und Geist/Vernunft für Bildung gefragt. Neben den entsprechenden Abhandlungen Schillers eint u.a. die Arbeiten Immanuel Kants, Johann Gottfried Herders, Wilhelm von Humboldts und Goethes dieses Anliegen, »denn […] hinter der Edukation steckt das große Geheimnis der Vollkommenheit der menschlichen Natur«45. Bildung wird unter diesen Vorzeichen zu der zentralen Kategorie menschlicher Existenz; eine Erschließung der mit dem Begriff verbundenen semantischen Implikationen verspricht, teleologische Fragestellungen über Sinn und Ziel menschlichen Daseins zu erhellen. Bspw. hat Georg Anton Friedrich Ast als einer der zu dieser Zeit profiliertesten Vertreter der Hermeneutik die zentralen Kategorien hermeneutischen Denkens – Einheit, Vielheit, Allheit – ganz im Lichte von Bildung begriffen: Der Anfang der Bildung ist Einheit, die Bildung selbst Vielheit (Gegensatz der Elemente), die Vollendetheit der Bildung oder das Gebildete Durchdringung der Einheit und Vielheit, d.i., Allheit.46

Der Begriff der Allheit (universitas), verstanden als »Totalität«, in der die »Vielheit als Einheit betrachtet« wird, deutet einen weitreichenden Anspruch an; dessen umfassend erscheinender Geltungsbereich muss im aktuellen Diskurs über Bildung selbstverständlich Fragen und Zweifel provozieren47. Um argumentativ nicht im Allgemeinen zu bleiben, lassen sich Bedeutungsperspektiven im Folgenden im Konkreten exemplifizieren48. Vorläufig sei festgehalten: Dieser Bildungsbegriff umfasst einerseits die Ausbildung der natürlichen und geistigen Anlagen, andererseits die Vermittlung und Aneignung kultureller Modi. Er zielt darüber hinaus aber insbe-

45

46 47 48

und Leib unterzieht, mit dem Ziel einer Versöhnung durch ästhetische Bildung; vgl. dazu im Folgenden. Immanuel Kant: Über Pädagogik, in: Hermann Röhrs (Hrsg.): Bildungsphilosophie, Bd. 2, Frankfurt/M. 1968, S. 13. Dort heißt es u.a.: »Zwei Erfindungen der Menschen kann man wohl als die schwersten ansehen; die der Regierungs- und die der Erziehungskunst[...]«. Ebd., S. 15. D. Friedrich Ast: Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, Landshut 1808, S. 188. Vgl. dazu u.a. die in Kap. 2.1 von Käte Meyer-Drawe vorgebrachte Kritik und meine Einwände dagegen. Vgl. zu Einheit, Vielheit, Allheit auch die Bestimmung von Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781/87), tr. Anal. § 11, Hamburg 1956, S. 121–123, Zitate auf S. 122.

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sondere auf eine Verfeinerung (Veredelung der Seele, cultura animae, humanitas), die man mit einer Formulierung Gadamers als eine »besondere Feinheit des Geistes« bezeichnen kann49. Dazu exemplarisch zwei Positionen der Goethezeit, die richtungweisend auf die Entwicklung und die Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff gewirkt haben. Sie werden im Rahmen meiner Auseinandersetzung dazu dienen, Goethes Konzeption in Abgrenzung von ihnen zu profilieren. Man findet bei Wilhelm von Humboldt die idealistische Maxime des Sich-Bildens zu einer Ganzheit, das über eine Ausbildung hinaus das dynamische Lebensund Aktzentrum des Subjekts ist: Im Mittelpunkt aller besonderen Arten der Thätigkeit nemlich steht der Mensch [...]50. Der wahre Zweck des Menschen […] ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste, und unerlassliche Bedingung. Allein ausser der Freiheit erfordert die Entwikkelung [!] der menschlichen Kräfte noch etwas andres, obgleich mit der Freiheit eng verbundenes, Mannigfaltigkeit der Situationen.51

Während in den Bildungsideen der frühen Neuzeit und durchaus auch noch der Aufklärung bis ins 18. Jahrhundert im Feld der Imitatio-Relationen und den Varianten des Formatio-Gedankens allgemeingültige Muster und kulturell-gesellschaftlich geprägte Ziele das Denken über Bildung Beherrschen, steht bei Humboldt von Anfang an das Individuum in seiner Einzigartigkeit im Mittelpunkt. Dieses Individuum strebt nach möglicher Vollendung und harmonischer Verbindung seiner Teile zu einem Ganzen (»höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen«) – neben der intellektuellen ausdrücklich auch der sinnlichen und emotionalen Facetten der Persönlichkeit, freilich ohne auf die allgemein-menschheitliche Dimension (Konzept einer Allgemeinbildung) verzichten zu wollen: ein vermeintlicher Widerspruch, den Humboldt zeitlebens produktiv nutzte52. Immer wieder 49 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 291. Gadamer verwendet diese Formulierung, um Hermeneutik als eine besondere Art von Bildung zu bestimmen und sie von einer Hermeneutik, verstanden als Methode, abzugrenzen. 50 Wilhelm von Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen. Bruchstück I, in: ders.: Werke, 5 Bde. (Studienausgabe), Bd. 1, hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Stuttgart 31980, S. 235. 51 Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792), in: ders.: Werke, a.a.O., S. 64. 52 Vgl, dazu Lothar Gall: Wilhelm von Humboldt. Ein Preuße von Welt, Berlin 2011, S. 9 ff.,

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wurde auch in der Geschichte der Bildungsphilosophie dieser Gedanke aufgegriffen, indem universelle und individuelle Bildung gegenübergestellt und/oder ineinander verschränkt wurden, wobei Erstere humane Weite, Verständnis und umfassendes Interesse für die großen Lebensfragen betont, Letztere die individuelle Art und Weise, wie sich kulturelle Prägung im Subjekt und seiner Sinngebung zu manifestieren vermag – Humboldt spricht im Zusammenhang konkreter Lebenssituationen von »Lagen«53. Humboldt scheint in der frühen Phase seiner Überlegungen zu Bildung deutlich eine individuelle Bildung betonen zu wollen, die freilich nicht absolut autonom selbstbezüglich verstanden wird – das Subjekt bedarf eines Widerparts, der Interaktion von Welt und Ich: Wenn man sich zu den Gegenständen selbst begibt, hält man nichts anderes eher für wahr als bis man es selbst angeschaut hat, so mag der Weg vielleicht langsamer sein, aber er ist auch sicherer und reizender und der Stoff des Nachdenkens ebenso unerschöpflich als die Menge der Gegenstände in der Natur [...]54.

Konkrete Begegnung und Interaktion des Individuums mit der Welt werden dabei zum entscheidenden Mittel der Bildung: Die letzte Aufgabe unseres Daseyns: dem Begriff der Menschheit in unsrer Person [...] einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen, diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt [...]55.

Bildung in diesem Sinne ist ein Sich-Bilden an der Welt, ist Selbstvollendung, die sich nicht von der Welt zurückzieht, sich nicht kontemplativ isoliert, sondern Welt als den Raum für Denken und Handeln begreift und zu humanistischer Weite (»dem Begriff der Menschheit in unsrer Person [...] einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen«) reift. Dabei verschränken sich zentrifugale, auf Welt orientierte Suchbewegungen des Subjektes und zentripetale, von der Welt ausgehende Anregungen für das Subjekt zu einem wechselseitig zu verstehenden Prozess von Bildung. Es Gall sieht in dieser Disposition ein Grundmuster der Biographie Humboldts. Dabei sei für Humboldt »Individualität die eigentliche Aufgabe und das eigentliche Ziel dieses Lebens« (S. 37). Ich folge Gall in seiner Interpretation und lege sie hier auch meinen weiteren Ausführungen zu Humboldt zugrunde. Vgl. u.a. zum Komplex der Ganzheit auch S. 43 f. 53 Lothar Gall: Wilhelm von Humboldt. Ein Preuße von Welt, a.a.O., u.a. S. 13 und 37. 54 Zitiert nach ebd., S. 44. 55 Wilhelm von Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen. Bruchstück I., a.a.O., S. 235.

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gehört zu den Besonderheiten dieses Bildungskonzeptes, dass es nicht allein einer Idee am Schreibtisch entspringt, sondern zu einem guten Teil vom Leben selbst geschrieben wird. Das sei an einem Detail veranschaulicht. Man findet im Tagebuch einer Bildungsreise nach Paris und in die Schweiz 1789 folgende Beschreibung und Reflexion: Auf der fähre [Überquerung des Rheins, J.S.] arbeitete ein mädchen mit, äußerst häslich, aber stark, männlich, arbeitsam. Es ist unbegreiflich, wie anziehend für mich solch ein anblik, und ieder anblik angestrengter körperkraft bei weibern – vorzüglich niederen standes – ist. Es wird mir beinah unmöglich, meine augen wegzuwenden, und nichts reizt so stark iede wollüstige begier in mir. Dies rührt noch aus den iahren meiner ersten kindheit her […]. Wie zuerst diese richtung in mir entstand, bleibt mir immer ein räthsel […] aber das ist gewiss, dass sie, nur verbunden mit den lagen, in die ich kam, meinen ganzen iezigen charakter gebildet hat [...]56.

Humboldt führt dann weiter aus, dass sich u.a. wohl von solchen sexuell-erotischen Phantasien ausgehend sein umfassendes Interesse für alles Menschliche – Liebe, Freundschaft, Charakter, Ideen – gebildet habe, was man mit dieser Tendenz als Umwandlung ursprünglicher Veranlagungen von Begierde und Leidenschaft in idealistisch-humanistisch orientierte allgemein menschliche Ideale deuten kann, wobei Selbstbildungskonzept und Allgemeinbildungskonzept – »dem Begriff der Menschheit in unsrer Person [...] einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen«57 (eines der bis heute prägenden Begründungsmuster für Bildung und Erziehung) – mit ihrer kontrastiven Spannung von Humboldt selbst produktiv genutzt worden sind58. Im Zusammenhang des Allgemeinbildungsbegriffes spielen repräsentative Inhalte, Muster und Vorbilder, insbesondere der großen sinnstiftenden Erzählungen59 in Kunst und Literatur eine entscheidende Rolle. Sie stellen Paradigmen zur Verfü-

56 Zitiert nach Lothar Gall: Wilhelm von Humboldt. Ein Preuße von Welt, a.a.O., S. 47 f. 57 Wilhelm von Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen. Bruchstück I., a.a.O., S. 235. 58 Vgl, dazu Lothar Gall: Wilhelm von Humboldt. Ein Preuße von Welt, a.a.O. Das beim frühen Humboldt vorliegende Programm von Selbstbildung, welches gerade, weil es nicht konsequent in einem Allgemeinbildungsbegriff aufgeht, Bezüge zu Goethes Programmatik von Selbstbildung aufzuweisen scheint, soll an späterer Stelle vergleichend genutzt werden. 59 Zu diesem Begriff in postmodernem Verständnis vgl. Roland Reichenbach: Philosophie der Bildung und Erziehung, a.a.O., S. 218–223. Vgl. zur Kritik an Ganzheit als Totalitätsmuster Kap. 2.1.

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gung, anhand derer das Individuum in sich übersubjektiv gültige Orientierungen, die Wahrheit und Werte vermitteln, veranlagen soll: Wie die Pflanze die Kräfte ihrer Reproduktion an Licht und Luft nicht nur übt, sondern in diesem Prozesse zugleich ihre Nahrung einsaugt, so muß der Stoff, an dem sich der Verstand und das Vermögen der Seele überhaupt entwickelt und übt, zugleich eine Nahrung sein. Nicht jener sogenannte nützliche Stoff, jene sinnliche Materiatur, wie sie unmittelbar in die Vorstellungsweise des Kindes fällt, nur der geistige Inhalt, welcher Wert und Interesse in und für sich selbst hat, stärkt die Seele und verschafft diesen unabhängigen Halt, diese substantielle Innerlichkeit, welche die Mutter von Fassung, von Besonnenheit, von Gegenwart und Wachen des Geistes ist; er erzeugt die an ihn großgezogene Seele zu einem Kern von selbständigem Werte, von absolutem Zwecke, der erst die Grundlage von Brauchbarkeit zu allem ausmacht und den es wichtig ist, in allen Ständen zu pflanzen.60

Geistige Inhalte, die ihren Eigenwert in sich tragen, sind nach dieser Auffassung Hegels die entscheidenden Elemente von Bildung. Hegel aktiviert mit ihnen Spielräume der Imago-Variante in der Bedeutung von Archetypen, die hiermit zum zentralen Mittel werden, um den Menschen durch Bildung zu orientieren – auf Ziele, die auf Bestimmung und Vollendung des Menschen ausgerichtet sind. Wenn Hegel in diesem Zusammenhang von »einem Kern von selbständigem Werte« spricht, klingt dabei zumindest an, was u.a. ein zentrales Konzept des Bildungsromans61 ist: dass orientierendes Wissen durch exemplarische Muster zu Auseinandersetzung anregt, die neben der Nachfolge auch den Widerspruch kennt. Hier sollen nun weder das Bildungs- und Geschichtskonzept Hegels noch Humboldts Allgemeinbildungsbegriff in differenzierter Form vertieft verhandelt werden. Es bleibt, das für meine Untersuchung relevante Diskursmuster festzuhalten: Welche konkreten Perspektiven sich aus diesen Konzepten einer Allgemeinbildung ergeben, berührt die großen Metaerzählungen des deutschen Idealismus, bei Schiller begegnete uns schon die Vorstellung des Subjekts, das sich gemäß seiner Entelechie bildet. Begriffe wie Freiheit, Emanzipation, Souveränität, Entwicklung/Fortschritt, Identität, Sinnstiftung und Ganzheit gehören in diesen Diskurs62.

60 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Rede zum Schuljahrsabschluß am 29. September 1809, in: ders.: Werke Bd. 4, Nürnberger und Heidelberger Schriften 1808–1817, Frankfurt/M. 21993, S. 319. 61 Vgl. dazu Ortrud Gutjahr: Einführung in den Bildungsroman, Darmstadt 2007. 62 Vgl. Roland Reichenbach: Philosophie der Bildung und Erziehung, a.a.O., S. 113–131 und 218–223.

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Auch Johann Gottfried Herder betont Selbstbildung anlässlich seines im Journal meiner Reise im Jahr 1769 vorgestellten Bildungsparadigmas, setzt aber deutlich andere Akzente: [U]nd so ward ich Philosoph auf dem Schiffe – Philosoph aber, der es noch schlecht gelernt hatte, ohne Bücher und Instrumente aus der Natur zu philosophieren. Hätte ich dies gekonnt, welcher Standpunkt, unter einem Maste auf dem weiten Ocean sitzend, über Himmel, Sonne, Sterne, Mond, Luft, Wind, Meer, Regen, Strom, Fisch, Seegrund philosophieren, und die Physik alles dessen, aus sich herausfinden zu können. Philosoph der Natur, das sollte dein Standpunkt seyn, mit dem Jünglinge, den du unterrichtest! Stelle dich mit ihm aufs weite Meer, und zeige ihm Fakta und Realitäten, und erkläre sie ihm nicht mit Worten, sondern laß ihn sich alles selbst erklären. Und ich, […] auch ich will mich unter den Mast stellen, wo ich saß, und den Funken der Elektricität vom Stoß der Welle, bis ins Gewitter führen, und den Druck des Waßers, bis zum Druck der Luft und der Winde erheben, und die Bewegung des Schiffes, um welche sich das Wasser umschließt, bis zur Gestalt und Bewegung der Gestirne verfolgen, und nicht eher aufhören, bis ich m i r s e l b s t alles weiß, da ich b i s j e t z t mir selbst Nichts weiß.63

Herder betont: Ohne materiale Bildung keine Bildung. Er hebt den Bildungswert der res hervor, er will »Himmel, Sonne, Sterne« erforschen und über konkrete Erfahrung und Handlung zur Erkenntnis der Zusammenhänge fortschreiten. Der Schlüssel zu formaler Bildung liegt bei den Realien. Diese erklären sich selbst und regen dazu an, beim aufmerksamen Betrachter die adäquaten Gedankenformen zu bilden. Das Subjekt bildet in der zentrifugal-zentripetal verschränkten Auseinandersetzung mit der Welt sein Weltverständnis und Selbstverständnis aus: Der Anspruch ist universell (vom »Mast« bis zu den »Gestirnen«) und individuell (»mir selbst«) formuliert64. Die vier Elemente individueller und universeller, formaler und materialer Bildung verschränken Aspekte sowohl der Imago- als auch der Formatio-Variante des Bildungsbegriffes; sie lassen sich auch in weiteren Schriften Herders für die Theoriekonstruktion nachweisen65. 63

Johann Gottfried Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769, historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Katharina Mommsen, Stuttgart 2002, S. 13 f. 64 Zu Konzeptionen genetischen Lernens in diesem Sinne vgl. u.a. Martin Wagenschein: Naturphänomene sehen und verstehen. Genetische Lehrgänge, hrsg. von Hans Christoph Berg, Stuttgart 21988. 65 Vgl. zu Herders Bildungsphilosophie Nicole Welter: Herders Bildungsphilosophie, St. Augustin 2003.

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An den unterschiedlichen Konzeptionen wird deutlich, dass die Frage nach exemplarischen Formen des Wissens und ihrer Bedeutung für Bildung nicht losgelöst von der Frage möglicher repräsentativer Inhalte (die »geistigen Inhalte« Hegels, die »res« bei Herder, aber auch die »Universitas« von Ast sowie Humboldts Begriff von »allgemeiner Bildung« zielen auf Exemplarisches) beantwortet werden kann. Auch wenn im Rahmen der jeweiligen Konzeption verschiedene Wege zu solchen Inhalten vorgeschlagen werden, bleibt festzuhalten: Ohne Möglichkeiten inhaltlicher Orientierung scheint jedes nur formale Wissen für die hier diskutierten Konzeptionen problematisch zu sein. Es könnte nicht hinreichend begründet werden, warum ein bestimmtes Wissen überhaupt Bedeutung haben, wozu es dienen soll66. Resümee

Zusammenfassend lassen sich aus den exemplarischen Mustern bildungsphilosophischer Programmatik von Schiller, Kant, Humboldt, Hegel und Herder zentrale Konstituenten des Bildungsbegriffes der Goethezeit ableiten: 1. Individualität. Ein fragiles als einzigartig verstandenes Bildungssubjekt, dessen Identität sich aus dem Wechselspiel von Individuations- und Integrationsleistungen bildender Erfahrung ergibt, den fördernden oder hemmenden Einflüssen, die im zentrifugal-zentripetal verschränkten Prozess von Bildung ins Spiel kommen. 2. Repräsentative Inhalte. U.a. repräsentieren klassische Stoffe der Kunst und Literatur im Sinne Hegels Paradigmen, die übersubjektiv gültige zentrale Wahrheiten und Werte menschlicher Bestimmung vermitteln und einen Kanon von Bildung konstituieren67. 3. Raum-Zeit-Koordinaten von Identität. Bildung vollzieht sich immer in bestimmten Zeitverhältnissen und hat eine konkrete Umwelt. Beide Bedingungen haben verändernden und prägenden Einfluss auf Entwicklung: Einflüsse einer bestimmten Kultur, die politisch-gesellschaftliche Zeitlage, besondere geographische Verhältnisse. Leitend ist u.a. der Gedanke, dass sich ein Subjekt unter anderen Bedingungen als den jeweils gegebenen auch ganz anders entwickeln würde – es also ein Zeitfenster gibt, das den begünstigenden oder hemmenden Rahmen absteckt, in welchem sich Entwicklungspotentiale entfalten können. 66 Meine Rekonstruktion wird zeigen, dass für Goethes Selbstbildung derart exemplarische Gegenstände nicht normativ-kulturell sanktioniert sind und einer allgemeinen Bildung dienen, sondern in einem je besonderen Aktivierungszusammenhang als exemplarisch für Selbstbildung privilegiert werden: Jeder Gegenstand kann diese Bedeutung erlangen. Vgl. u.a. Kap. 4 zum ästhetischen Erlebnis des Straßburger Münsters. 67 Im Anschluss an Herders Ideen wäre zu klären, in welcher Weise auch die res eine solche Exemplarität besitzen können. Zu Goethes situativer Erfahrung exemplarischer Bedeutung an Gegenständen vgl. u.a. Kap. 4.

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4. Entwicklung = Bildung. Bildung ist die zentrale Kategorie menschlicher Existenz und bedeutet Wandlung und Umwandlung. Das von Natur aus zunächst Unbestimmte wird durch den Bildungsprozess im Wechselspiel von innerem Bildeprinzip/Bestimmung und äußeren Bedingungen zu einem Bestimmten modelliert. 5. Polarität/Antagonismus. Nicht allein das Gegenüber von Ich und Welt, sondern Vielheit und Gegensätzliches in der Welt selbst (bspw. Mast und Gestirne bei Herder), insbesondere die antagonistischen Verhältnisse (Entfremdungsproblematik der Moderne) sowie intrapersonale Gegebenheiten motivieren Entwicklung, sind die Bedingung der Möglichkeit von Fortschritt und dialektischer Veränderung der Verhältnisse (Emanzipation). 6. Steigerung/Veredelung. Stufen einer sukzessiven Entwicklung, durch welche der Grad von Individualisierung und Verfeinerung zunimmt. Vervollkommnung wird dabei nicht als endgültig zu erreichender Zustand verstanden, sondern als prinzipiell offener Prozess68. 7. Teleologie. Die Frage einer Bestimmung des Menschen wird nicht mehr im Kontext der Imago-Idee beantwortet. Es gibt kein von vornherein festgelegtes inhaltlich konkretes, wohl aber das in Prozessverlauf sich modellierende Ziel einer Bestimmung und Vervollkommnung. Teleologisch ist der Bildungsbegriff insofern, als sich der Mensch als Projekt seiner selbst versteht. Natur und Kultur sind die anregenden Faktoren, die veranlagten Potentiale im Individuum zu entwickeln. 8. Ganzheit. Entfaltung aller Kräfte des Individuums. Expansion des Subjektes zu Welt und Menschheit (universelle Humanität bei Humboldt) sowie Freiheit (insbesondere bei Schiller) werden als Momente einer Vervollkommnung gemäß der Bestimmung des Menschen angesehen. Gesichtspunkte für die Rekonstruktion

Die Konstituenten bilden ein Muster der Konzeptionen Humboldts, Herders, Hegels, Schillers und Kants. Sie stimmen in der Auffassung überein, dass Bildung sich nicht in der Aneignung und Kultivierung gegebener und vorgegebener Prinzipien

68 Karl Viëtor: Goethe. Dichtung – Wissenschaft – Weltbild, Bern 1949, S. 469, deutet den Begriff der Steigerung im Kontext eines Perfektibilitätsdenkens im 18. Jahrhundert. Sowohl bei Herder und Schiller, insbesondere aber auch bei Goethe kann man meiner Auffassung nach die Bedeutung dieses Kontextes nur so verstehen, als dass der zunächst paradox erscheinende Begriff einer dynamisch offenen Vervollkommnung zugrunde liegt. Zudem finden sich bei Schiller und Goethe explizit eher fortschrittskritische Analysen in Bezug auf die gesellschaftlich-historische Entwicklung.

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erschöpft und ihr Ziel mit dem Erwerb erreicht hat, sondern ein Konzept des gesamten Lebens ist, Zentrum des Erkennens und Handelns. Interessant ist nun, dass Goethes literarische Werke für diesen Diskurs über Bildung exemplarische Muster mit Vorbildfunktion sind. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf den Bildungsroman hinweisen. In ihm realisieren sich nach dem Fazit gegenwärtiger Forschung die wesentlichen Merkmale idealistischer Konzeption von Bildung in literarischer Form69: Bildung als zentrale Kategorie menschlicher Existenz – dabei die konfliktreiche Auseinandersetzung des Einzelnen mit der historisch-gesellschaftlichen Realität –, die Erzählung der Geschichte eines Individuums als stufenweise, sukzessive Entwicklung, durch die ein einzigartiges Subjekt seiner Bestimmung und Vollendung entgegenstrebt, indem es als einzelnes universelle Humanität entwickelt. Dabei thematisiert der Bildungsroman der Goethezeit schon die entscheidende Frage, wie diese Auseinandersetzung von Selbst und Welt ausgehen wird. Sentimentalisches Bewusstsein wird in ihm literarisch verarbeitet70. Goethes Wilhelm-Meister-Romane verkörpern in Bezug auf die genannten Merkmale den stilbildenden Typus. Schon Diltheys paradigmatische Bestimmung des Bildungsromans weist auf diese Funktion hin: Von dem Wilhelm Meister und dem Hesperus ab stellen sie [die Bildungsromane; J.S.] alle den Jüngling jener Tage dar; wie er in glücklicher Dämmerung in das Leben eintritt, nach verwandten Seelen sucht, der Freundschaft begegnet und der Liebe, wie er nun aber mit den harten Realitäten der Welt in Kampf gerät und so unter mannigfachen Lebenserfahrungen heranreift, sich selber findet und seiner Aufgabe in der Welt gewiß wird.71

Auch Goethes philosophisch begründete Programmatik von Bildung verortet sich in dem aufgezeigten Diskurs. Doch fügt sie sich im Unterschied zum literarischen Werk, dessen Rezeption daraufhin kritisch hinterfragt werden müsste, keineswegs selbstverständlich und ohne Brüche in den Diskurs ein. Wie sich zeigen soll, nimmt Goethes Konzeption insofern eine Sonderstellung ein, als sie

69 Vgl. dazu Ortrud Gutjahr: Einführung in den Bildungsroman, Darmstadt 2007. 70 Diese Aspekte nach Wilhelm Voßkamp: Bildung im Widerstreit. Die Bildungsdiskussion im Goethe- Jahr in historischer Perspektive, Vortrag an der Sophia-Universität Tokyo 1999, zitiert nach: , letzter Zugriff: 1.9.2004. 71 Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin. Leipzig und Berlin 81922, S. 393 f.

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• die Komponenten des Diskurses zwar aufgreift, diese jedoch in eigener Weise sowohl als einzelne semantisch spezifiziert als auch im Zusammenhang des Konzeptes vernetzt und damit eine originäre Programmatik von Bildung begründet, • Ideen einer Allgemeinbildung ablehnend gegenübersteht und eine konsequente Selbstbildung betreibt, • skeptisch gegenüber universalistischen Ansprüchen ist. Aufgrund der eben genannten besonderen Merkmale der Programmatik von Bildung bei Goethe werden sich bisher wenig beachtete Begründungszusammenhänge für den aktuellen Diskurs ergeben. Um deren Profil noch von einer anderen Perspektive aus hervorheben zu können, seien Konzepte der Ästhetik und Grundlinien ästhetischer Bildung aufgezeigt. Goethes spezifische Wahrnehmungskonzeption – Aisthesis – kann in Abgrenzung zu diesen Begründungszusammenhängen rekonstruiert werden72.

3. 2.2 Die Begründung des Bildungsbegriffs im Sinnbezirk ästhetischer Anschauung – Moritz als Beispiel

Die aufgelisteten Konstituenten und ihre Bedeutung für die Diskussion über Bildung in der Goethezeit sind maßgeblich durch die Denkmodelle ästhetischer Bildung geprägt, die damit eine paradigmatisch begründende Rolle im damaligen Bildungsdiskurs spielt. Im geistigen Klima der Goethezeit entwickelt sich der Bildungsbegriff auf der Folie ästhetischer Anschauung, nach der ein Inneres sich in äußerer Form ausdrückt: »Das leuchtet mir aber doch immer mehr ein, daß in der körperlichen Gestalt im Grunde alles liegt«, schreibt Karl Philipp Moritz in einem Brief vom 7. Juni 1788 an den wieder nach Weimar zurückreisenden Goethe73. Er berichtet darin von einem neuen Aufsatz In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können?, später unter dem Titel Die Signatur des Schönen veröffentlicht74, den er im Anschluss 72 Zu Schnittmengen der zunächst unterschiedlichen Begründungszusammenhänge einer Bildung an den Realien im Sinne des Journals von Herder und einer Bildung bevorzugt an Kunst und Literatur vgl. das unten entwickelte ästhetische Paradigma von Karl Philipp Moritz und Friedrich Schiller sowie seine Nähe zum morphologischen Denken Goethes. 73 Zitiert nach: Hugo Eybisch: Anton Reiser. Untersuchungen zur Lebensgeschichte von K. Ph. Moritz und zur Kritik seiner Autobiographie (im Anhang sind Briefe von und an Moritz abgedruckt), Leipzig 1909, S. 232. Zur Relation und Unterscheidung von innen vs. außen sowie der damit verbundenen »Dialektik von Sich-Zeigen und Sich-Verbergen« im Rahmen einer »Physiognomik in der Naturwissenschaft« vgl. Gernot Böhme: Atmosphäre, a.a.O., S. 202–207., Zitat S. 202. 74 Karl Philipp Moritz: Die Signatur des Schönen, in: ders.: Schriften zur Ästhetik und Poe-

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an die allgemein als ästhetische Hauptschrift angesehene Abhandlung Über die bildende Nachahmung des Schönen75 gerade konzipiert. Moritz und Goethe lernten sich zwischen dem 17. und 20. November 1786 in Rom kennen76 und waren seitdem in regem Austausch über Fragen der Ästhetik und Naturforschung. Nun entwickelt Moritz, wohl noch im Nachklang der Gespräche mit Goethe, als Signatur des Schönen die Formel von der »Klarheit […] auf der Oberfläche«77: Eine deutliche Absage an mystisch motivierte Entgrenzung, an eine »Metaphysik ohne Physik«78; »was durch seine äußere Form zugleich sein innres Wesen uns enthüllt«79, ist schön in seiner sinnlich erscheinenden »Prägnanz«80, ist ein aus sich selbst heraus tätiges Inneres, welches autonome Selbstbildung betreibt und dadurch »Welthaltigkeit«81 entwickelt: »[D]as Gebildete […] ist nur in so fern gebildet, als es durch die Bestimmtheit seiner Form, sich aus seiner nächsten Umgebung sondert, und das Zufällige von sich ausschließt«82. Singularität und Individualität sind hier ebenso Kennzeichen wie Autonomie und vollendete Ganzheit der sinnlichen Gestalt83, die ein Innen repräsentiert. Folglich

75 76 77 78 79

80

81 82 83

tik, kritische Ausgabe, hrsg. von Hans Joachim Schrimpf, Tübingen 1962, S. 93–103. Vgl. zur Ästhetik Moritz’ und ihrem philosophischen Kontext im 18. Jahrhundert Karl Philipp Moritz: Beiträge zur Ästhetik, hrsg. und kommentiert von Hans Joachim Schrimpf und Hans Adler, Mainz 1989; darin das Nachwort S. 116–140 und Erläuterungen zu Die Signatur des Schönen S. 152 ff. Karl Philipp Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen, in: ders.: Schriften zur Ästhetik und Poetik, a.a.O., S. 63–93. Goethe hat die Abhandlung in seine Italienische Reise aufgenommen, vgl. FA 15/1: 572–581 sowie FA 15/2: 905–910. Rose Unterberger: Die Goethe-Chronik, Frankfurt/M. und Leipzig 2002, S. 118. Karl Philipp Moritz: Die Signatur des Schönen, a.a.O., S. 95. Karl Philipp Moritz: Über Mystik, in: ders.: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde, hrsg. von Heide Hollmer und Albert Meier, Frankfurt/M. 1999, S. 897. Karl Philipp Moritz: Die Signatur des Schönen, a.a.O., S. 96. In Apollo in Belvedere. Kritik an Winckelmann heißt es: »Die Kunst […] soll in das Reich der körperlichen Schönheiten immer tiefer dringen, und alles Geistige bis zum Ausdruck durch den Körper führen; sie soll den Geist mit Schönheiten, die in der Natur würklich sind, erfüllen, um sich bis zum Ideal der höchsten Körperschönheit zu erheben.« In: Schriften zur Ästhetik und Poetik, a.a.O., S. 245. Ein Begriff, den Alexander Gottlieb Baumgarten 1739 in seiner Metaphysica, § 517, genauer bestimmt. Vgl. auch Hans Joachim Schrimpf: Von der Allegorie zum Symbol. Karl Philipp Moritzens Winckelmann-Kritik, in: Studi germanici (nuova serie) XXXIV, 2–3, 1996, S. 303–327, hier S. 304. Vgl. bei Schrimpf Genaueres zum Begründungszusammenhang der Ästhetischen Schriften von Moritz. Ebd., S. 304. Karl Philipp Moritz: Die Signatur des Schönen, a.a.O., S. 97. So schon bei Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (Philosophische Gedanken von einigen zum Gedicht gehörigen Stücken, 1735). Vgl. zur Relation von innen/außen Gernot Böhme: Atmosphäre. a.a.O.

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bedarf die Betrachtung wahrer Kunstwerke keiner außerhalb derselben liegenden Elemente: Denn darin besteht ja eben das Wesen des Schönen, daß ein Teil immer durch den andern und das Ganze durch sich selber, redend und bedeutend wird – daß es sich selbst erklärt – sich durch sich selbst beschreibt.84

Mit solchen Gedanken gibt Moritz der Ästhetik der Goethezeit entscheidende Anregungen: das Kunstwerk verstanden als ein Ganzes, dessen Teile untereinander und im Ganzen einen sich wechselseitig konstituierenden Zusammenhang bilden – ein in sich selbst Vollendetes sind, das Vorbildcharakter besitzt. Konzeptionen einer Autonomie und Zweckfreiheit der Kunst – u.a. von Schiller und Goethe, der Begriff des Schönen als »Zweckmäßigkeit« ohne Zweck sowie das von keinem Interesse erzwungene ästhetische Urteil im Sinne Kants85 – sind von Moritz’ ästhetischen Vorstellungen impulsiert. Wenn Moritz die autonome Komposition der Gestaltzusammenhänge von Kunstwerken betont, ist demgegenüber offensichtlich, dass er im Sinnbezirk naturwissenschaftlicher Überlegungen Goethes argumentiert. Dieser hatte ihm seine ersten Ideen zu einem »Pflanzensystem«86 in Rom während seines zweiten Aufenthalts dort erläutert, und unschwer lassen sich Grundgedanken von Morphologie

84 Karl Philipp Moritz: Die Signatur des Schönen, a.a.O., S. 95. 85 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, in: ders.: Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie, Werke Bd. III, hrsg. von Manfred Frank und Vèronique Zanetti, Frankfurt/M 1996. In § 17 heißt es zum Schönen: »Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen wird.« (S. 564). In § 5 heißt es zum ästhetischen Urteil, dass es »am Schönen einzig und allein ein uninteressiertes und freies Wohlgefallen sei [...]« (S. 530). Vgl zum Thema Gerhard Sauder: Ästhetische Autonomie als Norm der Weimarer Klassik, in: Friedrich Hiller (Hrsg.): Normen und Werte, Heidelberg 1982, S. 130–150. 86 Italienische Reise; in: FA 15/1: 429, vgl. auch den Kommentar S. 1392 sowie FA 15/1: 429. Vgl dazu den Kommentar in MA 15: 1125, nach dem es sich wahrscheinlich um erste konzeptionelle Ideen zur »Metamorphose der Pflanzen« handelt. Über die Bedeutung einer ästhetischen Programmatik für die Naturforschung zeugt u.a. Goethes Hinweis in Einwirkungen der neueren Philosophie, 1820 erstmals veröffentlicht, wo es heißt: »Über Kunst und ihre theoretischen Forderungen hatte ich mit Moritz, in Rom, viel verhandelt; […] Fernerhin bei Darstellung des Versuchs der Pflanzen-Metamorphose mußte sich eine naturgemäße Methode entwickeln; denn als die Vegetation mir Schritt für Schritt ihr Verfahren vorbildete, konnte ich nicht irren, sondern mußte, indem ich sie gewähren ließ, die Wege und Mittel anerkennen wie sie den eingehülltesten Zustand zur Vollendung nach und nach zu befördern weiß.« (FA 24: 442)

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und Metamorphosenlehre, insbesondere zum Gestaltbegriff87, in den Formulierungen von Moritz ausmachen88. Wie nachdrücklich Moritz auch das Kunstschöne als singulär, autonom und unvereinbar mit der Welt außerhalb desselben bestimmt, so stellt er es doch immer wieder in einen sich wechselseitig erhellenden Begründungszusammenhang mit dem Naturschönen, dabei sowohl von Herders Ideen89 als auch unmittelbar von Goethe angeregt: Diese hohen Kunstwerke [der antiken Kunst; J.S.] sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen, da ist die Notwendigkeit, da ist Gott.90

Im Gegensatz zu im Sinne Moritz’ verstandener Kunst verortet sich Gestalt im Kontext von Natur aber prinzipiell in einem vielgestaltigen, sich wechselseitig durchdringenden und bedingenden Zusammenhang und ist in ihrer wahren Vollendung nur Gott zugänglich, wie Moritz in Die metaphysische Schönheitslinie91 betont. Doch nimmt der Mensch darin eine Sonderstellung ein – in der Prägnanz seiner Gestalt findet das Naturschöne seine bedeutendste Ausprägung: Eben darum rührt uns die Schönheit der menschlichen Gestalt am meisten, weil sie die inwohnende Vollkommenheit der Natur am deutlichsten durch ihre zarte 87 Vgl. zu diesem in fachspezifischer Perspektivierung Kap. 2.1 sowie im Zusammenhang ästhetischer Anschauung Kap. 4, wo der aktuell monistisch-materiell diskutierte Gestaltbegriff von Goethes Konzeption abgegrenzt wird. 88 Dieser Sachverhalt ist für die Überlegungen zu aktuellen Paradigmen von Ästhetik und ästhetischer Bildung des nächsten Kapitels festzuhalten: Möglichkeiten einer Überschreitung des Sinnbezirks von Kunst und Kunstwerk hin zu Natur und Welterfahrung generell auszuloten für eine ästhetische Theorie und für Konzeptionen ästhetischer Bildung. Vgl. dazu Gernot Böhme: Atmosphäre, a.a.O. 89 Bei Herder fand Moritz als ein »Hauptgesetz« von Geschichte: »[D]aß allenthalben auf unserer Erde werde, was auf ihr werden kann, Teils nach Lage und Bedürfnis des Orts, Teils nach Umständen und Gelegenheiten der Zeit[...] «. In: Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: ders.: Werke Bd. III/1, hrsg. von Wolfgang Pross, München und Wien 2002, 12. Buch, S. 465. Vgl. zur Lektüre von Moritz den Brief Goethes vom 10. Januar 1788 an Herder: »Der dritte [Teil der Ideen, J.S.] ist uns ein heilig Buch, […] erst jetzt hat es Moritz zu lesen gekriegt, der sich glücklich preist, daß er in dieser Epoche der Erziehung des Menschengeschlechts lebt. Er [...]war über das Ende ganz außer sich.« (FA 15/1: 511) 90 Italienische Reise, 6. September 1787, in: FA 15/1: 424. Zum Einfluss Herders vgl. das Nachwort in: Karl Philipp Moritz: Beiträge zur Ästhetik, a.a.O., S. 136 f. 91 Karl Philipp Moritz: Schriften zur Ästhetik und Poetik, a.a.O., S. 154.

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Oberfläche schimmern, und uns, wie in einem hellen Spiegel, auf den Grund unsres eignen Wesens, durch sich schauen läßt.92

Von der Gestalt des Menschen aus findet sich eine Brücke vom Naturschönen zum Kunstschönen. Es gehört zu den Grundüberzeugungen der Ästhetik seit Winckelmann, dass das vollendete Kunstwerk ein Modell im Kleinen für das große Ganze der Natur ist. Auf der Skala sukzessive zunehmender Bestimmtheit und Vollendung in der Natur eröffnet ästhetische Produktivität einen ganz neuen Vollendungsraum, ist es das vom Menschen geschaffene Kunstwerk, in dem der Mensch sich als Teil des Ganzen von Natur selbst als Ganzes schafft und schaut: »Das Auge blickt dann, sich selber spiegelnd, aus der Fülle des Daseyns auf«93. Das ist: Die souveräne Selbstbestimmung des Menschen aus ästhetischer Programmatik abgeleitet. Die zentralen Konstituenten dieses Modells sind: • Oberfläche/Gestalt: keine »Metaphysik ohne Physik«94; Ausdruck des Ideals in vollkommener »Körperschönheit«95 (Relation von innen und außen); • der Wert des Individuellen im Zusammenhang des Ganzen; • damit verbunden Autonomie; • individuelle Vollkommenheit als Möglichkeit der Teilhabe am Ganzen und als Repräsentation des Ganzen – ein Kriterium für Exemplarität; • Prägnanz: Merkmal des autonomen Kunstschönen (im Sinne Kants als Zweckmäßigkeit ohne bestimmten Zweck verstanden) als repräsentativer Ausdruck des ganzen Menschen (im Sinne Kants als in sich selbstbestimmter Zweck verstanden). Zwar ist das Kunstschöne damit als das bedeutende »Refugium«96 einer Bildung zur Vollkommenheit des ganzen Menschen bestimmt; Karl Philipp Moritz beschränkt Bildung aber nicht allein auf den Bereich der Kunst. Ganz im Sinne der morphologischen Ideen Goethes ist Bildung ein universelles Prinzip (»In dem Begriff des Isolierens, des Aussonderns aus der Masse, beruht alle Bildung«97) und umfasst alle selbstgestalteten Formen des Subjekts, das mit seiner Kraft zu Bildung und Selbstbildung seine individuelle »Bestimmtheit« sichert.

92 93 94 95

Karl Philipp Moritz: Die Signatur des Schönen, a.a.O., S. 96. Karl Philipp Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen, a.a.O., S. 92. Karl Philipp Moritz: Über Mystik, a.a.O. Karl Philipp Moritz: Apollo in Belvedere. Kritik an Winckelmann, in: ders.: Schriften zur Ästhetik und Poetik, a.a.O. 96 Nachwort in: Karl Philipp Moritz: Beiträge zur Ästhetik, a.a.O., S. 139. 97 Karl Philipp Moritz: Zufälligkeit und Bildung. Vom Isolieren, in: ders.: Schriften zur Ästhetik und Poetik, a.a.O., S. 116.

3.2 Perspektiven des bildungsphilosophischen Diskurses der Goethezeit

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Mit dieser Konzeption betreibt Moritz keine weltabgewandte Philosophie; die gesellschaftlich-sozialen Verhältnisse seiner Zeit sind integrale Bezugspunkte seiner Überlegungen und er erweist sich als genau beobachtender und analysierender Psychologe98. Während dabei aber der Entwicklungsbegriff kaum berücksichtigt wird und die Kategorie der Zeitlichkeit sowohl für die einzelnen Komponenten als auch für den Begründungszusammenhang als Ganzem argumentativ (anders als bei Schiller und Goethe, wie sich zeigen wird) unbestimmt bleibt – wie ist Vollkommenheit in ihrer je spezifischen historischen Lage und in ihrem Verhältnis zu anderen Formen von Vollkommenheit in anderen historischen Kontexten zu verstehen? Wie lässt sich der Begriff einer offenen Ganzheit, der invariante und variante Konstituenten verbindet, denken? –, erfährt der Begriff des ganzen Menschen eine Präzisierung. Im Verständnis dieser ästhetischen Programmatik ist die Kunst ein Doppeltes, gebildet und bildend. Mit solchen Denkmustern aktiviert die Ästhetik weiter reichende Orientierungsmodelle, als sie die auf Vernunft fixierte Philosophie der Aufklärung bietet. Karl Philipp Moritz begreift den Menschen nicht allein als ein vernunftbegabtes Wesen unter Vernachlässigung der sinnlich-leiblichen Substanz, wie es seit Descartes selbstverständliches Begründungsmuster einer Philosophie ist, die Sinnlichkeit, Empfindungen und Einbildungskraft/Phantasie abwertet und von wahrer Erkenntnis ausschließt, sondern als allseitig begabtes Wesen. Moritz bewegt sich in einem Paradigma, das mit den Schriften Alexander Gottlieb Baumgartens Bedeutung gewann. Schon Baumgarten wertete den felix aetheticus99 auf, der mit seinen sinnlichen, emotionalen und kognitiven Begabungen als ganzer Mensch verstanden wird. Im ersten Paragraphen seiner Aesthetica von 1750 wird Ästhetik bestimmt als: »AESTETICA (theoria liberalium artium, gnoseologia inferior, ars pulcre cogitandi, ars analogi rationis) est scientia cognitionis sensitivae«100. Die Kraft zu Bildung und Selbstbildung umfasst in dieser Konzeption ausdrücklich neben der Denkkraft auch Empfindungskraft, neben einer Logik der Vernunft auch eine Logik der sinnlichen Erkenntnis101. Mit diesem Erkenntnismodell sind in Ergänzung zu den schon ge98 Zu erwähnen sind sein Roman Anton Reiser sowie das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Vgl Karl Philipp Moritz: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde, hrsg. von Heide Hollmer und Albert Meier, Frankfurt/M. 1999. 99 Vgl. zur Konzeption der Ästhetik als Anthropologie, wie sie auch in einer aktuellen Bedeutung verstanden werden kann, Steffen W. Groß: Felix Aestheticus. Die Ästhetik als Lehre vom Menschen. Zum 250. Jahrestag des Erscheinens von Alexander Gottlieb Baumgartens »Aesthetica«, Würzburg 2001. 100 Alexander G. Baumgarten: Ästhetik, lateinisch-deutsch, 2 Bde., übersetzt, mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern hrsg. von Dagmar Mirbach, Hamburg 2007, Bd. 1, S. 10. 101 Vgl. Hans-Rudolf Schweizer: Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, Basel, Stuttgart 1973. Vgl. zum in dieser Hinsicht bedeutenden anthropologischen Dis-

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nannten Konstituenten ästhetischer Bildung zwei zentrale Komponenten genannt, deren Paradigma im Spektrum von Kants Ästhetik und Vernunftkritik maßgeblich von Friedrich Schiller geprägt wird.

3.2.3 Ästhetische Bildung als Spezifikation des Bildungsbegriffes – Schiller als Beispiel

Dieser Erfinder des deutschen Idealismus (Safranski) zeigt sich an exponierter Stelle in Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, bei aller Bedeutung, die er der Vernunft zuspricht, skeptisch gegenüber einer einseitig theoretischen Kultur der Aufklärung und tritt für eine Bildung emotionaler und sinnlicher Erkenntnisvermögen ein. Schiller ist überzeugt, daß alle Aufklärung des Verstandes nur insoferne Achtung verdient, als sie auf den Charakter zurückfließt, sie geht gewissermaßen von dem Charakter aus, weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muß geöffnet werden. Ausbildung des Empfindungsvermögens ist als das dringendere Bedürfnis der Zeit, nicht bloß weil sie ein Mittel wird, die verbesserte Einsicht für das Leben wirksam zu machen, sondern selbst darum, weil sie zu Verbesserung der Einsicht erweckt.102

Das Empfindungsvermögen, hier verstanden als eine Instanz der wechselseitigen Durchdringung von außen und innen, von Auffassen und Wirken, von Sinnlichkeit kurs Hans-Jürgen Schrings (Hrsg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992, Stuttgart und Weimar 1994. Im Kontext von Descartes Zwei-Substanzen-Lehre, die Körper und Geist voneinander unterscheidet, entwickelt sich im späten 18. Jahrhundert eine diesbezügliche Anthropologie, deren zentrales Anliegen z.B. Ernst Platner 1772 formuliert: »Endlich kann man Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen betrachten, und das ist es, was ich Anthropologie nenne.« Zitiert nach Schrings, ebd., Vorbemerkung S. 5. Eine Übersicht über das Diskursspektrum heute bietet Heiner Hastedt: Das LeibSeele-Problem, Frankfurt/M. 1988, S. 9–18. Hastedt diskutiert insbesondere auch die mit einer einseitig wissenschaftsorientierten Lösung des Problems verbundene Gefahr einer »Eindimensionalität« von Orientierung, plädiert für interdisziplinäre, auch außerwissenschaftliche Erkenntnisse einbeziehende Forschungsansätze (besonders S. 221–235) und entwickelt einen Deutungsansatz, inwiefern von »kausale[r] Interaktion von Geist und Körper« gesprochen werden könne (S. 293–305). Vgl. darüber hinaus auch Hartmut Böhme; Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt/M. 1983. 102 Achter Brief, in: Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, a.a.O., S. 33. Vgl. auch WB 8: 582

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und Emotionalität, wird damit – die philosophischen Prämissen der Aufklärung überschreitend – zum kategorialen Orientierungsmuster für Erkennen und Handeln des ganzen Menschen. Sinnliche Erkenntnis ist ein sinnlich-synästhetisch emotional multifunktionales Tasten im Mannigfaltigen der sinnlichen Welt und enthält solche Momente wie Offenheit, Interesse, Beweglichkeit und Hinwendung, Orientierung und Aufmerksamkeit, Sensibilität für Anmutungen der Wahrnehmung, Spontaneität, Staunen und Entdecken103. Mit diesen Komponenten stellt sinnliche Erkenntnis einen Fundus bereit, der eine Grammatik von Erkenntnis ermöglicht, die über einseitig vernunftorientierte Konzepte hinaus geht, denn diese Ergänzung zu Logik und Kategorien des Verstandes entfaltet ihre Wirkung bei der Unterscheidung, Fixierung und Identifizierung von Erkenntnisobjekten im Wechselspiel zwischen Anschauung und Begriff104. Ästhetische Bildung strebt unter diesen Vorzeichen eine Versöhnung von Anschauung und Begriff an. Die epistemischen Implikationen begründen nicht nur maßgebliche Komponenten für ein Urteilsvermögen praktischer Vernunft, sondern sie haben begründende Funktion für die conditio humana. Mit dieser Konzeption werden die anthropologischen Ideen Schillers im Umriss erkennbar. Der Mensch ist nicht allein durch Verstand und Vernunft in einer geistigen Dimension bestimmt, sondern durch seine Natur in die Sinnlichkeit orientiert105. Das Ziel von Bildung – Freiheit – wird durch die synchronisierte Interaktion beider Bereiche erreicht. Erst die Integration beider Dimensionen in ein wechselseitiges Zusammenspiel sichert die anthropologische Begründung der Idee des ganzen Menschen für eine Bildungsprogrammatik, die zu freier Reflexivität, Selbstbewusstheit und Selbstbestimmung führt. Wenn Schiller mit diesen Überlegungen die Möglichkeit einer harmonischen Verbindung und Wechselwirkung verschiedener Vermögen des Menschen zu einer Ganzheit andeutet, so diagnostiziert er schon in

103 Vgl. dazu Jörg Soetebeer: Selbsttätige Bildungskraft heute. Schiller, Stuttgart 2010. Die Ausführungen zu Schiller orientieren sich an dieser Schrift. 104 Mir scheint für diesen epistemischen Komplex die aktuelle Diskussion in der Phänomenologie ertragreich zu sein; vgl. Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, Frankfurt/M. 2009; darin u.a. S. 107: »Die Phänomenologie ist der Versuch, in der Offenbarung [sich zeigender Phänomene; J.S.] logische Strukturen zu finden; sie verwendet dafür die Eidetische Variation; sie ersetzt die philosophischen Mythen durch rationale Mystik.« Damit verbundene Wahrnehmungskonzepte werden bei der Untersuchung der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes besondere Berücksichtigung finden, vgl. dazu Kap. 7. Vgl. zur Bedeutung ästhetischer Komponenten für eine »transversale Vernunft« Wolfgang Welsch: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt/M. 1996, S. 796–802. 105 Inwieweit Schiller damit einem Konzept wie Embodiment vorarbeitet, untersuche ich nicht weiter, vgl. dazu meine Hinweise in Kap. 2.1.

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den Augustenburger Briefen dieser Harmonie entgegenstehende problematische antagonistische Tendenzen seines Zeitalters: Dies dringendere Bedürfniß unseres Zeitalters scheint mir die Veredlung der Gefühle und die sittliche Reinigung des Willens zu seyn, denn für die Aufklärung des Verstandes ist schon sehr viel gethan worden. Es fehlt uns nicht sowohl an der Kenntniß der Wahrheit und des Rechts, als an der Wirksamkeit dieser Erkenntniß zu Bestimmung des Willens, nicht sowohl an L i c h t als an W ä r m e , nicht sowohl an philosophischer als an ästhetischer Kultur. Diese letztere halte ich für das wirksamste Instrument der Karakterbildung [...]106.

Zwei Sinnbezirke menschlicher Ganzheit lassen sich zunächst auch in dieser Äußerung unterscheiden. Das Licht der Vernunft – ein zentrales Symbol der Aufklärung für das erkennende Vermögen – konzipiert begrifflich-logische Zusammenhänge, gewinnt Wahrheit; Philosophie kultiviert dieses Vermögen. Die Wärme – ich verstehe darunter das »Andere der Vernunft«, den ganzen emotional-sinnlichen Komplex und den Leib107, in dessen Kontext praktische Vernunft operiert – von Gefühl und Willen motiviert Beziehung und Interaktion mit der Welt; ästhetische Kultur fördert diese Dynamik. Damit wird der Kunst eine exzeptionelle Rolle für Bildung zugesprochen108. Dass Schiller ästhetische Bildung im letzten Satz als das entscheidende Instrument einer Bildung des Charakters bestimmt, zeigt seinen konsequenten Ansatz, die Potentiale des Menschen als ein ästhetisch zusammenspielendes Ganzes zu begreifen, das als Ensemble erst seine Kraft zu wirken entfaltet. Schiller postuliert damit eine Identität, die sich in einer Vielheit von Begabungen konstituiert; »Mannichfaltigkeit« in der »Einheit« erst erfüllt die Forderung einer »vollständigen anthropologischen Schätzung« des ganzen Menschen auf seinem Weg zur Freiheit109. Verbindet man die vorher thematisierte Forderung einer Bildung des Empfindungsvermögens mit der o.g. Einschätzung, deuten Schillers kritische Äußerungen auch hier auf die Gefahr einseitiger Ausprägungen des einen oder anderen Vermö106 Briefe an den Prinzen Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, in: Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, a.a.O., Brief vom 13. Juli 1793: S. 141 f. WB 8: 505. 107 Hartmut Böhme; Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft, a.a.O. Vgl. insbesondere dazu auch Hermann Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle, Ostfildern 22009 sowie Thomas Fuchs: Leib, Raum, Person: Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Stuttgart 2000. 108 Vgl. dazu die Ausführungen zum Schönen und zum Erhabenen am Ende des Kapitels. 109 Vierter Brief, in: Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung in einer Reihe von Briefen, a.a.O., S. 15.

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gens hin. Nach dieser Diagnose Schillers bleiben die Erkenntnisse der Vernunft ein bloßes Wissen ohne bestimmenden Einfluss auf das Handeln, u.a. weil die Bildungskonzepte der Aufklärung einseitig theoretisch auf Vernunft ausgerichtet sind. Das vernachlässigte Empfindungsvermögen verfällt der Schwärmerei110. Positiv gewendet: Klare Begrifflichkeit soll die Empfindungen durchleuchten, Empfindungen ermöglichen belebt-differenzierte Begrifflichkeit. Wechselwirkung zwischen beiden Bereichen führt zu Synchronisation und Steigerung. Schillers Kritik bleibt nicht auf die epochalen Prinzipien der Aufklärung begrenzt. Die gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen im Blick, erweist er sich als analytischer Vordenker moderner Entfremdungsproblematik im Rahmen des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts und arbeitsteiliger industrieller Produktionsverhältnisse: Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft.111

Im Kontext der eingangs in diesem Kapitel hervorgehobenen Freiheitsmaxime und der teleologisch motivierten Bildungsideen Schillers gewinnt diese Kritik ihre Durchschlagskraft. Der einzelne Mensch als Fragment in einem undurchschaubaren Getriebe ist einer Spezialisierung gemäß den Produktionsbedingungen, die in einem Staat existieren, unterworfen. Er gehorcht den Notwendigkeiten des »Geschäfts«, er wird Mittel, wo er ganz Zweck sein sollte. Weder kann er sich als Teil eines Ganzen identifizieren, noch kann er sich selbst als Ganzer (»Harmonie seines Wesens« und »Menschheit« als maßgebliche Ziele einer Bestimmung des Menschen) realisieren. Der Mensch steht damit unter der Verfügungsgewalt der Ökonomie. Durch die Ausprägung nur einzelner funktional nutzbarer Potentiale besteht die Gefahr, den Menschen zu vereinseitigen, seine Ganzheit zu verengen. Hervorgerufen durch die nötigenden Verhältnisse, bleiben die Potentiale des Menschen dabei nicht nur unverbunden, sie treten vielmehr immer weiter auseinander und wirken als unausge-

110 Vgl. Carsten Zelle: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795), in: Matthias Luserke-Jaqui u.a. (Hrsg.): Schillerhandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart und Weimar 2005, S. 409–445, besonders S. 415–418 und das Schema S. 444. 111 Sechster Brief, in: Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, a.a.O., S. 23.

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glichene Gegensätze: Entfremdung in modernen Produktionsverhältnissen bedeutet auch Selbstentfremdung. Noch in anderer Hinsicht ist Friedrich Schillers Forderung einer ästhetischen Bildung zeitkritisch und gesellschaftskritisch motiviert und von einem anthropologischen Interesse geleitet. Als aufmerksamer Beobachter der Französischen Revolution nimmt er einerseits die zunehmende Brutalität der Massen wahr, andererseits den Terror der Jakobiner und Robespierres. Diese Eindrücke konfrontieren ihn mit dem Schrecken, der von der Triebnatur des Menschen ausgehen kann. Anlässlich des Verlaufs der Französischen Revolution diagnostiziert Schiller zwei durch die anthropologische Verfasstheit der Menschennatur verursachte mögliche Fehlentwicklungen: Durch »Verwilderung […] rohe[r] gesetzlose[r] Triebe« werde der sinnliche Mensch zum Tier, durch die Barbarei der Vernunft falle der aufgeklärte »bis zum Teuflischen herab«112. Man sieht: Wenn Schiller drei der das 18. Jahrhundert in Europa prägenden Einflüsse historischer Entwicklung kritisch betrachtet – die Kultur der Aufklärung, sich abzeichnende moderne Entfremdungsproblematik, die Französische Revolution –, bedingen zentrale Begründungszusammenhänge seiner Diagnose anthropologische Grundannahmen. Diese sollen im Folgenden noch einmal aufgegriffen werden. Zu den anthropologischen Grundannahmen gehört, dass der »Zustand des menschlichen Geistes vor aller Bestimmung […] eine Bestimmbarkeit ohne Grenzen« ist113. Nach dieser Auffassung gibt es keine oder zumindest nicht ausschlaggebende prädestinierende Anlagen. Man kann sich einen solchen Zustand weitgehender Unbestimmtheit, Schiller nimmt ihn sowohl für die Individualentwicklung als auch die Gattungsgeschichte an, bspw. bei einem neugeborenen Kind vorstellen. Wenn für Schiller dieser Anfang von Entwicklung durch »Bestimmungslosigkeit«, durch »leere Unendlichkeit« gekennzeichnet ist, was »mit einer unendlichen Leere keineswegs zu verwechseln ist«114, versteht er den Menschen prinzipiell als ein für unendlich vielfältige Bestimmbarkeit offenes Wesen. In der Berührung und Auseinandersetzung mit Welt und Wirklichkeit fixiert sich diese anfangs unbegrenzte Bestimmbarkeit zu einer immer spezifischer werdenden Signatur. Durch sinnliche Eindrücke wird der 112 Briefe an den Prinzen Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, in: Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, a.a.O., Brief vom 13. Juli 1793: S. 138 f. Vgl. zur Bedeutung der Französischen Revolution als Folie der Analyse anthropologischer Konstanten Carsten Zelle: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795), a.a.O., S. 414, dort auch weitere Literaturhinweise. 113 Neunzehnter Brief, in: Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, a.a.O., S. 73. 114 Ebd., S. 74.

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Mensch passiv geprägt, aktiv bildet er sich durch Denkprozeduren. Betrachtet man unter diesen Vorzeichen die Entwicklung des Menschen, bildet sich im Rahmen der jeweiligen Sozialisationsbedingungen immer prägnanter eine spezifische Identität aus, die sich den Nötigungen und Forderungen der Verhältnisse beugen und sich in sie einfügen muss. Die Beschränkungen historisch-gesellschaftlicher Realität müssen dabei kontraproduktiv in Bezug auf das erklärte Ziel der Freiheitsphilosophie Schillers wirken, seine Diagnose bestätigt das eindrücklich. Die Frage muss also sein, wie der Mensch unter den jeweils gegebenen Verhältnissen und in Auseinandersetzung mit ihnen überhaupt Freiheit realisieren kann. Der erste Schritt einer Antwort liegt darin, dass Schiller die phylogenetische Entwicklung dialektisch begreift: Die mannichfaltigen Anlagen im Menschen zu entwickeln, war kein anderes Mittel, als sie einander entgegen zu setzen. Dieser Antagonism[us] der Kräfte ist das große Instrument der Kultur, aber nur das Instrument; denn solange derselbe dauert, ist man erst auf dem Wege zu dieser.115

Demnach müssen die verschiedenen Potentiale des Menschen im historischen Verlauf in ein antagonistisches Wechselspiel treten, damit sich die Vielheit von Begabungen des ganzen Menschen realisieren kann. Erst das Auseinander, Gegeneinander, Miteinander und Ineinander der einzelnen Vermögen bewirkt Entwicklung116. Hat der Mensch im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung den Zustand der Bestimmungslosigkeit prinzipiell hinter sich gelassen, muss er im Weiteren unter den jeweils herrschenden Bedingungen einen Weg finden, ein freies Verhältnis zu den bestehenden Gegebenheiten zu gewinnen. Für diesen emanzipatorischen Schritt konzipiert Schiller eine Art Gegenraum ästhetischer Bildung zu den bestehenden Verhältnissen, in welchem der Mensch sein gesamtes Ensemble von Sinnlichkeit, Empfindungen, Emotionen, Verstand und Vernunft in ein freies Zusammenspiel bringen kann. Jenseits aller nötigenden Forderungen, Einseitigkeiten und äußeren Zwecke kehrt der Mensch in einen Zustand reiner Bestimmbarkeit zurück, in welchem seine Potentiale »zugleich«117 aktiv tätig sind. Eine dergestalt agierende Produktivität folgt nicht den eingefahrenen Spuren der Produktionsverhältnisse und orientiert sich nicht an den Notwendigkeiten der Ökonomie, sondern operiert spie-

115 Sechster Brief, in: Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, a.a.O., S. 26. 116 Vgl. zum Aspekt des Antagonismus und der damit verbundenen Konzeption von Geschichte Jörg Soetebeer: Selbsttätige Bildungskraft heute. Schiller, a.a.O., S. 132 ff. 117 Zwanzigster Brief, in: Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, a.a.O., S. 81.

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lerisch kreativ in einem zeitlich separierten autoreferentiellen Gegenraum118. Dabei neben der Geschichte der Gattung die Individualentwicklung im Blick, zielt Schiller auf Freiheit; das sentimentalische Bewusstsein transformiert sich im ästhetischen Zustand zur Selbstvergewisserung des Individuums, das sich immer mehr als sein eigenes Projekt begreift: Solange der Mensch, in seinem ersten physischen Zustande, die Sinnenwelt bloß leidend in sich aufnimmt, bloß empfindet, ist er auch noch völlig Eins mit derselben, und eben weil er selbst bloß Welt ist, so ist für ihn noch keine Welt. Erst, wenn er in seinem ästhetischen Stande, sie außer sich stellt oder b e t r a c h t e t , sondert sich seine Persönlichkeit von ihr ab, und es erscheint ihm eine Welt, weil er aufgehört hat, mit derselben Eins auszumachen.119

Genau diese Entwicklungsdynamik hat Schiller im Blick, wenn er seine Kritik am Zeitalter in ein anthropologisch begründetes Konzept ästhetischer Bildung münden lässt, das humane Alternativen gegen reale Prozesse geschichtlicher Entwicklung setzt. Er lenkt damit die Aufmerksamkeit auf vernachlässigte Facetten des Menschen, deren Entfaltung durch Bildung aber überhaupt erst erlaubt, dass der Mensch selbstbestimmt handeln lernt und seiner Bestimmung zur Freiheit folgt. Ästhetische Bildung muss beim einzelnen ansetzen, muss zu »selbsttätiger Bildungskraft«120 führen, einem produktiven Wissen im Sinne von Selbstbildung. Gerade weil Schiller mit seiner Freiheitsmaxime eine teleologisch motivierte Entwicklung des Menschen postuliert, die im historischen Kontext verfehlt zu werden droht, versteht er die Bildung des Einzelnen als Voraussetzung für die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse. Im Einschluß des Augustenburger Briefes vom 11. November 1793 spricht Schiller erstmals ausführlich über die Mittel einer solchen ästhetischen Bildung. Und zwar 118 Vgl. zur Diskussion von Kunstrezeption als »Partizipationspause« Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 195–228. Vgl. zu meinen Einwänden unten sowie im Sinne von Goethes Betrachtungsweise Kap. 4. 119 Fünfundzwanzigster Brief, in: Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, a.a.O., S. 102. Vgl. dazu Schillers Anmerkung auf der gleichen Seite, in welcher er die Periodisierung als Gedankenexperiment darstellt, mit dem eine Typologie und Grammatik von Erkenntnisprozessen möglich ist. Dort heißt es u.a.: »[Die Epochen; J.S.] lassen sich auch bey jeder einzelnen Wahrnehmung eines Objekts unterscheiden, und sind mit einem Wort die nothwendigen Bedingungen jeder Erkenntniß, die wir durch die Sinne erhalten.« 120 Friedrich Schiller: Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen, in: WB, Bd. 8: 692. Als zentrales Motiv der bildungsphilosophischen Schriften Schillers interpretiert bei Jörg Soetebeer: Selbsttätige Bildungskraft heute. Schiller, a.a.O.

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führt er aus, dass das Schöne den »rohen Sohn der Natur verfeiner[n]« und »erziehen« und dass das erhabene Schöne dem »verfeinerten Kunstmenschen« in seiner apathischresignativen Haltung »Federkraft« verleihen solle121. Die im 18. Jahrhundert diskutierte doppelte Ästhetik von Schönem und Erhabenem nutzt Schillers Programmatik, um mit dem harmonisch formvollendeten Schönen die Natur des Menschen zu kultivieren, Spannungen auszugleichen, und mit dem kontrastreichen formsprengenden Erhabenen anzuregen, grenzüberschreitende Begeisterung zu wecken122. Das Schöne und das Erhabene sind die Medien sowohl einer Versöhnung von Sinnlichkeit und Vernunft – Anschauung und Begriff – als auch der Entwicklung zur Vollendung des Menschen: Die Kunst ist das entscheidende Instrument ästhetischer Bildung und diese hat anthropologisch begründende Funktion für die conditio humana. Die jeweils spezifische Wirkung von Schönheit und Erhabenheit ermöglicht, dass ästhetische Bildung differenziert und jeweils individuell ausgerichtet auf je konkret aktualisierte Mischungsverhältnisse der Potentiale in einem Menschen eingehen kann. Schiller konzipiert also eine Programmatik, die mit ihren Varianten verschiedenste Modifikationen bildender Prozesse ermöglichen kann. Selbsttätige Bildungskraft ist nach diesem Verständnis nicht in erster Linie angeeignetes vorbildhaftes Verhalten im Rahmen von kulturellen Bedingungen, meint nicht nur und primär Kultivierung bestimmter Verhaltensmuster, das Erlernen und Anwenden von Instrumentarien, Techniken und Methoden zur Bewältigung von Aufgaben und Problemen, sie meint auch nicht bloße Aufklärung und Wissen über Sachverhalte: Wissenskonzeptionen und Wissen sollen sich dergestalt in der Persönlichkeit sedimentieren, dass sie grundsätzlich in ihr als Disposition zu Denken und Handeln wirken. Selbsttätige Bildungskraft scheint unter diesen Vorzeichen prädestiniert, offene Wissenskonzeptionen zu begünstigen: experimentell offene Strategien des Denkens und Handelns, neue Entdeckungen durch spielerische Haltung im Umgang Objekten, Kreativität bei der Bewältigung von Aufgaben, sinnstiftende Begründung von Identität. Schiller versteht unter einer solchen Bildung eine souveräne Gestaltungskraft im Denken und Handeln des Menschen, mit der er sich produktiv konstituieren kann. Die exemplarische Konzeption ästhetischer Bildung Schillers erweist sich als eine offene Programmatik: Schillers Konzeption fußt auf einen anthropologisch begründeten Begriff des Menschen, ihr liegt auch ein bestimmtes Geschichtsmodell zugrunde 121 Friedrich Schiller: Briefe an den Prinzen Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, a.a.O., S. 157 f. Vgl. auch Jörg Soetebeer: Selbsttätige Bildungskraft heute. Schiller, a.a.O., S. 117 (Aspekte dort in differenzierter Darstellung). 122 Vgl. als Übersicht zu möglichen Varianten Carsten Zelle: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795), a.a.O., Schemata 3 und 4 auf S. 445.

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und sie hat eine teleologische Ausrichtung; indem dieser Begründungszusammenhang aber auf Individualität und Freiheit des Menschen durch einen prinzipiell offenen Entwicklungsprozess zielt, meint er ein Wechselspiel von varianten und invarianten Elementen. Er entzieht sich damit deterministischer Bestimmung und vermeidet die Gefahr eines Allmachtsanspruches, der universalen Denkmustern anhaften kann123. Resümee

Für ästhetische Bildung als Spezifikation des Bildungsbegriffes der Goethezeit sind durch die Rekonstruktion exemplarischer Konzeption die folgenden Komponenten zu nennen124: 1. Der innen und außen verschränkende Gestaltbegriff – Prägnanz der Oberfläche repräsentiert den semantischen Gehalt eines Innen – als Modell von Selbstbildung, das im Sinne Schillers auf selbsttätige Bildungskraft zielt. 2. Der Wert des Individuums, seine Autonomie/Freiheit, sein Streben nach individueller Vollkommenheit und harmonischer Teilhabe am Ganzen. 3. Der anthropologische Begriff des ganzen Menschen umfasst das gesamte Ensemble von Begabungen. Die Grammatik des Gesamtkomplexes betrifft Facetten der Sinnlichkeit, Empfindungen, Emotionen und geistigen Vermögen in ihren Wechselwirkungen und in ihrer Entwicklungsdynamik; diese Grammatik fordert eine auf den ganzen Menschen zielende ästhetische Bildung. Die Sprengkraft dieses Konzepts liegt in der Überwindung nur einseitig fixierter Bildungskonzeptionen. 4. Ästhetische Bildung will in besonderem Maße Selbsttätige Bildungskraft (Schiller) veranlagen, experimentell offenes Suchen sowie zweckfreie Strategien von Denken und Handeln, den spielerisch entdeckenden Umgang mit Objekten und Kreativität zu fördern. 5. Ästhetische Bildung hat mit den genannten Optionen eine anthropologisch relevante Funktion. 6. In Abgrenzung zu institutionalisierten Paradigmen und als Gegenraum von Bildung zu realen Verhältnissen ist ästhetische Bildung von ihrem Selbstverständnis her als widerständiges Konzept gegenüber funktionalen Ansprüchen von Gesellschaft zu verstehen. 7. Primäres Medium ästhetischer Bildung ist die Kunst. 123 Vgl. zu diesem zentralen Begründungsaspekt im Rahmen moderner offener Gesellschaften und Demokratien die Auseinandersetzung in Kap. 2.1 (Adorno). 124 Vgl. oben die vorläufige Aufzählung im Anschluss an die Rekonstruktion der Konzeption von Moritz, die hiermit ergänzt und erweitert ist.

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Gesichtspunkte für die Rekonstruktion

Die skizzierten Konzeptionen ästhetischer Anschauung (Moritz) und ästhetischer Bildung (Schiller) liefern für meine Auseinandersetzung das Material historischer Verortung der Konzeption Goethes, deren Kontext damit in Umrissen sichtbar geworden ist. Sie haben damit die Funktion, sowohl Begriffe des philosophischen Bildungsdiskurses bereitzustellen als auch mit ihnen die spezifische Profilierung der Goethe’schen Programmatik aufzeigen zu können. Die historische Betrachtung zeigt, dass ästhetische Anschauung und ästhetische Bildung sich primär im Medium der Kunst vollziehen und von dieser aus begründet werden. Dieser Bezug prägt den Diskurs bis heute. So wird bspw. im aktuellen bildungs- und erziehungswissenschaftlichen Diskurs die Rezeption von Kunst als konstitutiv für ästhetische Bildung und damit intendierter Wirkungsabsicht angesehen. Das Medium der Kunst bietet etwa für Eckart Liebau und Jörg Zirfas im Vergleich zur Realitätserfahrung den Vorteil, im zweckfreien dialektischen Spiel u.a. Selbstbegegnung und »Erfahrungen der Offenheit, Mehrdeutigkeit, Differenzierung und Kontingenz« zu ermöglichen125 und wird in dieser Hinsicht phänomenologisch als »Partizipationspause«126 interpretiert. Damit wird den Werken der Kunst in besonderer Weise eine Exemplarität und Vorbildfunktion zugesprochen, die im Vorherigen als repräsentative Inhalte von Bildung diskutiert worden sind. Doch kann zumindest als umstritten angesehen werden, ob die von Zirfas allein für die Kunstrezeption reklamierten Wirkungspotentiale tatsächlich auf diesen Bereich beschränkt sind. Gernot Böhme legt mit Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik127 einen Ansatz umfassender Ästhetisierung der Gegenstände der Erfahrungswelt vor, dem meine Arbeit verpflichtet ist und der sich – wie ich zeigen möchte – insbesondere auf Goethe stützen kann, wenn es um eine Begründung widerständiger Selbstbildung in den Weltzusammenhängen geht, bei der entsprechend privilegierte Dinge ihre Bedeutung erst durch aktuelle Erfahrung erhalten. Selbstverständlich finden sich auch bei Goethe eine Fülle von Belegen einer Bildung durch Kunst, aber eben auch ein lebenslanges Interesse an den Zusammenhängen von Natur und Welt. Wenn ich Goethes Aisthesis-Betrachtungsweise im Rahmen seiner naturwissenschaftlichen und ästhetischen Schriften sowie autobiographischen Zeugnisse rekonstruiere, wird sich zeigen, dass ihr im epistemischen 125 Eckart Liebau; Jörg Zirfas: Die Sinne, die Künste und die Bedeutung. Ein Vorwort, in: dies. (Hrsg.): Die Sinne und die Künste. Perspektiven ästhetischer Bildung, Bielefeld 2008, S. 13. 126 So Lambert Wiesing in seinem phänomenologischen Ansatz. Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, a.a.O., S. 195–228. 127 Vgl. Gernot Böhme: Atmosphäre, a.a.O.

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Spektrum von Anschauung und Begriff128 eine Ästhetik zugrunde liegt, die über ästhetische Anschauung im Medium der Kunst hinaus multivalente Erfahrungen in der Perspektive von Selbstbildung ermöglicht. Der zu erwartende Ertrag meiner Rekonstruktion wird also sein, dass mit Goethes Aisthesiskonzeption eine umfassendere Bildungskonzeption gegenüber ästhetischer Bildung vorliegt, weil sie bei ähnlich intendierter Wirkungsabsicht auf Welterfahrung zielt und nicht auf einen exklusiven Erfahrungsbereich begrenzt ist. Als ihr zentrales Anliegen kann die Organbildung des Subjekts angesehen werden129, das man hinsichtlich eventueller Anschlussmöglichkeiten im aktuellen Diskurs über Fähigkeits- und Kompetenzerwerb diskutieren kann.

128 Vgl. zu einem solchen Deutungsansatz Olaf Breidbach: Goethes Metamorphosenlehre, München 2006, S. 268–304. Breidbach hebt eine »universelle Ästhetik« (S. 302 ff.) der Metamorphosenlehre Goethes hervor. Er markiert diese als Alternative zu anderen Begründungsansätzen: Goethes Theorie werde durch die »Bestimmbarkeit des Anschauens« (S. 304) dominiert, im Gegensatz zu Hegels Vernunftkonzept. Diese Auffassung birgt meiner Meinung nach zumindest potentiell die Gefahr, die epistemische Tragweite des Aisthesiskonzepts Goethes durch Überbetonung der einen und Vernachlässigung der anderen Seite zu verkürzen. Mein Verstehensansatz versucht dagegen eine Produktivität durch wechselseitige Bezüglichkeit von Anschauung und Begriff in Goethes Programmatik im Sinne rationaler Empirie nachzuweisen. Vgl. zur Begründung meines Interpretationsansatzes auch Kap. 2.2. 129 Vgl. dazu den in Kap. 1 herangezogenen Gedanken Goethes: »Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird. Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.« In: Bedeutendes Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort, FA 24: 595 f.

4.1»..undfinganBetrachtungenzumachen,dazuichbisshernichtZeitgehabthatte.«–SelbstbildungalsSuchbewegungimMediumderPhilosophie

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4 UMB I LDU N G A LS P E RS P E KTI V I E R U N G VO N SELBSTB I LDU N G B E I M J U N G E N G O E TH E

4.1 »... und fing an Betrachtungen zu machen, dazu ich bissher nicht Zeit gehabt hatte.«1 – Selbstbildung als Suchbewegung im Medium der Philosophie Goethe befindet sich in der Zeit um 1770/71 in einer biographischen Umbruchsituation. Emanzipationsversuche gegenüber dem Elternhaus, problematisch verlaufendes Studium in Leipzig, Krankheit, Zweifel in »unablässige[r] Selbstsuche«2 sowie Suche nach Orientierung3 bestimmen seine Jahre seit 17654: Ich binn jung und auf einem Weege der gewiss hinaus aus dem Labyrynte führt, wer ist’s der mir versprechen könnte, das Licht wird dir immer leuchten wie jetzt, und du wirst dich nicht wieder verirren. Sorgen! Sorgen!5

Die bei dem 20-jährigen Goethe biographisch motivierte Reflexion über Denkwege, über Natur als einem ganzheitlichen Organismus, über Konstitution und letzte Fragen des Menschen gibt sich nicht mit einem bloßen Wissen um die Dinge zufrieden, sondern dokumentiert eine Suche nach Sinn, die sich immer intensiver als Bildung seiner selbst ausgestaltet, ohne freilich einem vorgefasstem Konzept oder Plan zu folgen. Vor dem Erscheinen der ersten veröffentlichten Schrift Von deutscher Baukunst

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FA 28: 156; Brief vom 13. Februar 1769 an Friederike Oeser. Karl Otto Conrady: Goethe, Leben und Werk, Bd. 1, Frankfurt/M. 1981, S. 147. Vgl. zum Wandel Goethes vom Leipziger Studenten zum Dichter und Philosophen der Empfindsamkeit, des Sturms und Drangs: Karl Eibl; Fotis Jannidis; Marianne Willems (Hrsg.): Der junge Goethe. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Schriften bis 1775, 2 Bde., Frankfurt/M. und Leipzig 1998. Vgl. zum Überblick über diese Zeit exemplarisch Karl Otto Conrady: Goethe, Leben und Werk, Bd. 1, a.a.O. Brief vom 13. Januar 1769 an Ernst Theodor Langer, in: FA 28: 149 f. Vgl. zum Kontext des Pietismus und zum persönlichen Verhältnis zu Christus, beides Themen, die der Wortlaut des Briefes andeutet, Wolf von Engelhardt: Goethes Weltansichten. Auch eine Biographie, a.a.O., S. 30 f.

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1773 kann man diesem Erkenntnismuster in den Ephemerides6 und den Briefen des jungen Goethe nachspüren. Das Manifest des empfindsamen Denkers7 in einem Brief vom 13. Februar 1769 an Friederike Oeser, welches enthusiastisch formulierte Programmatik mit optimistischer Prognose und Reflexion ob des eingeschlagenen Weges verschmilzt, sei in dieser Hinsicht ausführlich interpretiert: O, meine Freundinn, das Licht ist die Wahrheit, doch die Sonne ist nicht Wahrheit, von der das Licht quillt. Die Nacht ist Unwahrheit. Und was ist Schönheit? Sie ist nicht Licht und Nacht. Dämmerung; eine Gebuhrt von Wahrheit und Unwahrheit. Ein Mittelding. In ihrem Reiche liegt ein Scheideweg so zweydeutig, so schielend, ein Herkules unter den Philosophen könnte sich vergreiffen. Ich will abbrechen; wenn ich in diese Materie komme, da werd’ ich zu ausschweifend, und doch ist sie meine Lieblings Materie. Wie möchte ich ein Paar hübsche Abende, bey Ihrem lieben Vater seyn; ich hätte ihm gar viel zu sagen. Meine Gegenwärtige Lebensart ist der Philosophie gewiedmet. Eingesperrt, allein, Cirkel, Papier, Feder und Dinte, und zwey Bücher, mein ganzes Rüstzeug. Und auf diesem einfachen Weege, komme ich in Erkenntniss der Wahrheit, offt so weit, und weiter, als andre mit ihrer Bibliothekarwissenschafft. Ein groser Gelehrter, ist selten ein grosser Philosoph, und wer mit Mühe viel Bücher durchblättert hat, verachtet das leichte einfältige Buch der Natur; und es ist doch nichts wahr als was einfältig ist; freylich eine schlechte Rekommendation für die wahre Weisheit. Wer den einfältigen Weeg geht, der geh ihn, und schweige still. Demuth und Bedächtigkeit, sind die nothwendigsten Eigenschafften unsrer Schritte darauf, deren jeder endlich belohnt wird. Ich dancke es Ihrem lieben Vater; Er hat meine Seele zuerst zu dieser Form bereitet, die Zeit wird meinen Fleis seegnen, dass er ausführen kann was angefangen ist.8

6 Diese Eintagsfliegen sind Aufzeichnungen Goethes mit vielfältiger Funktion: u.a. »Exzerpte der gelesenen Bücher«, (FA 28: 702, Kommentar), notierte Lektüreeindrücke, schriftliche Fixierung und Reflexion über Ideen und Gedanken. Darüber hinaus finden sich Notizen zu späteren Werken (Götz, Urfaust, vgl. FA 28: 703 f., Kommentar). 7 Mein Verständnis von Empfindsamkeit als Haltung: Sie will die einseitige Orientierung und anthropologische Fixierung des Menschen auf Vernunft erweitern, indem sie die komplexe innere und äußere Erfahrungswelt – Vernunft, Empfindungen, Emotionen, Sinnlichkeit – als konstitutiv für den Menschen reklamiert und damit auf eine Selbstkonstitution des Individuums insistiert. Zum Thema in Bezug auf Goethe vgl. Thorsten Valk: Der junge Goethe. Epoche – Werk – Wirkung, München 2012. 8 Brief vom 13. Februar 1769 an Friederike Oeser, in: FA 28: 160. Zu der im Folgenden diskutierten Fachliteratur vgl. auch den Kommentar, S. 685 ff.

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Ich unterscheide und untersuche bei meiner Interpretation als Themenkreise dieser Briefsequenz • die Gedanken zu Schönheit, welche naturphilosophisches und ästhetisches Denken verschränken, • die Art des Philosophierens, • die auf Stilisierung und Abgrenzung zielende Reflexion über methodische Bedingungen und hoffnungsvolle Optionen des eingeschlagenen Denkweges, • sowie formalästhetische Gesichtspunkte hinsichtlich Denkmustern und Stil. Zunächst also einige Bemerkungen zu sprachlichem Stil und Mustern der Gedankenführung der vorliegenden Briefsequenz, deren Besonderheiten und funktionale Bedeutung für den gedanklichen Gehalt ich für nicht ganz unwesentlich erachte. Man kann – und das mit einer Reihe von Gründen – bspw. in der Interjektion (»O, meine Freundinn«), den wiederholten Ellipsen (u.a. »Eingesperrt, allein, Cirkel, Papier, Feder und Dinte, und zwey Bücher, mein ganzes Rüstzeug«), den langen, meist parataktischen Satzperioden (Parallelismus), der rhetorischen Frage (»Und was ist Schönheit?«), im Räsonieren über »wahre Weisheit«, in der sprunghaften Gedankenführung, die wiederholt in ein unbestimmtes Raunen übergeht, in dem appellativen Duktus, man kann in alle dem allein die Hybris eines unreifen empfindsamen Stürmers und Drängers sehen, der in der Illusion, demnächst die letzten Fragen philosophischen Denkens zu bewältigen, blind für seine eigene Überwältigung durch das komplexe Ideengebilde ist. Da ist jemand den intellektuellen Anforderungen des gewählten Themas noch nicht gewachsen; auch die inhaltlichen Ausführungen können nach diesem Muster beurteilt werden: Mit begrenzten Mitteln und nur auf sich gestellt versucht jugendliche Begeisterung allzu unbekümmert die Welt zu erklären. Demzufolge würde hier jemand, fasziniert von einem Diskurs, dessen Dimensionen mehr identifikatorisch geahnt, denn distanziert reflektiert und als abgeklärtes Wissen verfügbar gemacht worden sind, sein Credo formulieren und dabei in der Materie stecken geblieben sein. Ich würde eine solche einseitige Deutung modifizieren wollen. Zunächst muss einer solchen Auffassung gegenüber betont werden, dass Goethe sich zu dieser Zeit bewusst darum bemüht hat, seinen Briefen ganz im Sinne der in Leipzig kennengelernten Mode Unterhaltungscharakter zu verleihen9. »Natürlichkeit und Lebendigkeit« im Sinne der Stilkunde Gellerts10, »Spontaneität« und »extreme Themenwechsel«11 nutzt Goethe demnach als »Beschwörungsversuch«, um »die rei-

9 Vgl. dazu den Kommentar in FA 28: 494. 10 Vgl. dazu den Kommentar in FA 28: 495. 11 Vgl. dazu den Kommentar in FA 28: 497.

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zende Atmosphäre im Umkreis der Oeserschen Familie«12 unter den Bedingungen der Krankheitssituation in Frankfurt zu aktivieren – das Schreiben aus der Distanz als Simulation einer ersehnten Gesprächssituation. Indem mit diesem Erklärungsmuster der erstgenannte Vorwurf entkräftet erscheint, impliziert es aber auch, dass Goethes Ausführungen im Bereich der unverbindlich unterhaltsamen Plauderei anzusiedeln seien. Nun können solcherart Schreibmotive für Goethes Korrespondenz der damaligen Zeit sicherlich nicht ganz ausgeschlossen werden, sie greifen für ein Verständnis der persönlichen Beweggründe der vorliegenden Briefsequenz meiner Ansicht nach aber zu kurz. Ich möchte entgegen einer solchen verkürzenden Deutung einen anderen Gesichtspunkt verfolgen: Ob nicht im Modus der Darstellung eben auch die Dynamik und Begeisterung einer komplexen inneren Erfahrungswelt zum Ausdruck kommt, die deutliche Kennzeichen einer einsetzenden Emanzipation aus der Diskursgebundenheit zeigt, welche mit dem performativen Impetus zu eigenständiger Selbstbildung die Perspektivierung zukünftiger Denkmuster veranlagt. Diese Sichtweise auf den Stil der Briefsequenz führt für die Interpretation des Inhalts zu der Ertragserwartung, durch die exemplarische Analyse des Goethe’schen Philosophierens im Modus des Fragmentarischen diesen Charakter von Selbstbildung zu entziffern. Nun zum naturphilosophischen und ästhetischen Themenkomplex: Wenn der junge Goethe das Philosophieren als seine gegenwärtige »Lieblings Materie« bestimmt und im Rahmen einer spekulativen Lichtmetaphorik Schönheit als eine »Gebuhrt von Wahrheit und Unwahrheit« kennzeichnet, sie weiterhin mit »Dämmerung« identifiziert, bewegt sich sein Denken in einem spekulativen hermetisch-alchemistischen Diskurs, wie er für den Pietismus typisch ist. August Langen bemerkt zu diesem Begriff, dass er »im Sinne eines fruchtbaren und keimerfüllten Chaos, der ahnungsvollen Stimmung« verwendet werde, es sei ein »Lieblingsbegriff [...]des jungen Goethe«, der die »Verschmelzung aller Gegensätze« impliziere13. Nach Rolf Christian Zimmermanns Ansicht nutzt Goethe die hermetische Naturphilosophie an dieser Stelle, um aus deren spekulativen Argumentationsmustern Gesichtspunkte für eine Ästhetik des Schönen abzuleiten. Zimmermann hebt in diesem Zusammenhang den »labilen Mittelding-Charakter der Schönheit«14 hervor und versteht dabei Goethes Ausführungen als eklektische Aneignung von pietistisch-hermetischen Standpunk-

12 Vgl. dazu den Kommentar in FA 28: 521. 13 August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus, Tübingen 21968, S. 128. 14 Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts, Bd. 1, München 1969, S. 206

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ten (»›Temperanz‹ der vermittelten Gegensätze«15); Schönheit sei für Goethe in diesem Kontext »die Vermittlung der Gegensätze von Wahrheit und Unwahrheit«16. Einerseits wird also in der Literatur die psychologisch-emotionale Bedeutung von Dämmerung in einer konkreten Verwendungssituation betont (Ahnung und Ekstase), andererseits besteht die Tendenz, Schönheit in diesem Zusammenhang als funktional-zweckhafte Instanz von Vermittlung im Rahmen eines naturphilosophisch-ästhetischen Diskurskontextes zu verstehen. Beide Erklärungsmuster sind im Rahmen ihrer jeweiligen Fragestellung sicherlich plausibel, blenden dabei aber philosophische Dimensionen aus, die auf genuin eigenständige Gedanken Goethes verweisen. Meiner Ansicht nach sollte eine Deutung von Dämmerung den Prozess der Umwandlung betonen und weder auf eine allzu statisch-starre Fixierung eines Zustandes (»Mittelding-Charakter der Schönheit«) zielen, noch »Dämmerung« als Chaos im Sinne des Wortes begreifen17. Ich werde im Folgenden die Identifizierung von Dämmerung und Chaos kritisch hinterfragen sowie Dämmerung als einen Durchdringungszusammenhang im Sinnbezirk von Atmosphäre interpretieren18; der Kern des Gedankens von Goethe ist im Begriff der Bezüglichkeit zu suchen19. Ich setze mit meiner Interpretation bei dem von Goethe betonten Gegensatz von Licht und Nacht in ihrem Bezug zu Wahrheit und Unwahrheit an. Den Bezug Licht/Wahrheit charakterisiert Goethe, indem er im Rahmen der Lichtmetaphorik die Sonne zwar als Ursache des natürlichen Lichts bestimmt, ihr aber den Bezug zu Wahrheit abspricht. Das Licht als immanentes Phänomen erscheint damit als nicht dinghaft identifizierbar, sondern als eine mehr atmosphärische Gegebenheit. Goethes lebenslanges Unbehagen gegenüber der Nacht (genauer der Nachtseite der Existenz), gegenüber dem gesamten Komplex der Exotik des Unbewussten und Unterbewussten ist bekannt20. Findet sich in den Ausführungen zur Lichtmetaphorik noch der Ansatz einer gedanklichen Differenzierung, heißt es im Verhältnis dazu für den Bezug Nacht/Unwahrheit lapidar kurz: »Die Nacht ist Unwahrheit.« Die Frage nach der Schönheit und ihr Bezug zu Dämmerung führt die mehrschichtige Thematik (Naturmotive, ästhetische Idee) zu einem verschlungenen Zu15 Ebd. 16 Ebd., S. 206 ff. 17 Ich werde unten zeigen, dass dieser Begriff besser auf den Pol der Nacht anzuwenden ist. 18 Vgl. zu diesem schon in den einleitenden Kapiteln eingeführten Begriff Gernot Böhme: Atmosphäre, a.a.O. 19 So auch Friedmar Apel in seinem Kommentar zu den ästhetischen Schriften Goethes; vgl. FA18: 1019 f. 20 Vgl. zu Goethes Orientierung an der Realität und seiner Kritik an Weltverlust und Subjektivität Hans Joachim Schrimpf: Goethe. Spätzeit, Altersstil, Zeitkritik, Pfullingen 1966.

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sammenhang von Wechselwirkungen. Im indifferenten Übergang von Licht und Nacht – gemeint ist offensichtlich der optische Modus von Finsternis – gestaltet sich Schönheit als konkret sichtbares Phänomen aus: ein Spiel und Zusammenwirken von Licht und Finsternis komponiert das Schöne in Raum- und Körperwelt. Dabei ist Schönheit offensichtlich nicht Vermittlungsinstanz, sondern vielmehr ein Produkt der Durchdringung; erst als dergestalt durch die Bezogenheit von Licht und Finsternis in einem Durchdringungszusammenhang Geborene ist sie »Mittelding«21. Im Duktus des Briefstils bleibt es bei den Ideenfragmenten, deren gedanklicher Umkreis einen assoziativen Spielraum eröffnet, den der Schreiber zwar andeutet, aber nicht weiter ausleuchtet. Es lohnt unter diesen Voraussetzungen ein Blick auf spätere Überzeugungen Goethes; zum einen um das Vorläufige, kaum systematisch durchdachte des Entwurfs der Jugend, zum anderen um den in der biographischen Distanz wiederzufindenden gedanklichen Sinnbezirk aufzeigen zu können. Dieser Bezug zu späteren Konzepten ermöglicht u.a. auch, den in der Briefsequenz angedeuteten Eigenschaften der polaren Prinzipien Licht/Nacht in ihrer gedanklichen Dimension nachspüren zu können, die ihnen inhärent ist. Die Bedingungen der Wechselwirkung, welche die Ästhetik der Gegenstandswelt generieren, werden auf diese Art genauer gefasst. Es wird sich in den weiteren Kapiteln zur StraßburgEpisode zeigen, dass diese Zusammenhänge, obwohl nicht explizit ausgeführt, mit einiger Berechtigung als implizite Muster des Goethe’schen Denkens dieser Zeit verstanden werden können. Auch wenn man kaum Anklänge an die wissenschaftlichen Zusammenhänge der späteren Farbenlehre wird annehmen wollen, zeigt deren Begriff von Licht die Dimension der Lichtmetaphorik der Briefsequenz auf: »Die Farben sind Taten des Lichts, Taten und Leiden«, heißt es im Vorwort zum Didaktischen Teil der Farbenlehre22. Licht bewirkt die Sichtbarkeit der Erscheinungswelt; in diesem Sinne ist es konkret in Raum und Körperwelt in seinen Wirkungen erlebbar. Die Identifikation von Licht = Wahrheit in der Lichtmetaphorik23 der Briefsequenz spricht im Kontext die21

Vermittlung kann unter diesen Bedingungen dann als eine Frage der Wirkungsästhetik verstanden werden. 22 FA 23/1: 12. In den Beiträgen zur Optik heißt es dann für den Wirkungszusammenhang von Licht und Körperwelt: »Das Licht […] können wir uns niemals in abstracto denken, sondern wir werden es gewahr als die Wirkung eines bestimmten Gegenstandes, der sich im Raum befindet und durch eben diese Wirkung andere Gegenstände sichtbar macht« (Beiträge zur Optik, § 23, in: FA 23/2: 23). 23 Selbstverständlich spreche ich von Lichtmetaphorik im Kontext des Themas meiner Rekonstruktion. Goethes Verständnis von Licht ist durchaus von wissenschaftlichem Interesse. So rezipiert heute z.B. die Quantenphysik Goethes Farbenlehre, wenn sie versucht, das Phänomen Licht zu erklären. Dabei interessieren u.a. die Nichtlinearität der Farbenlehre Goethes, deren Symmetriegedanke und mit diesem verbundene Annahmen, ge-

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ser Lesart der Wahrheit analog zu, ein immanentes, nichtsinnliches Bewirkendes der sinnlich wahrnehmbaren Welt zu sein. Wenn man dieser Erläuterung, im Bewusstsein der historischen und systematischen Differenz zwischen Brief und wissenschaftlicher Schrift, eine sachliche Berechtigung zuspricht, kann man in der damit implizierten ontologischen Bestimmung von Wahrheit ein spekulativ-philosophisches Verständnis des jungen Goethe sehen, das Wahrheit als immanent-nichtsinnliches Ursache-/Schöpfungsprinzip veranlagt24. Das würde auch den Gedanken der Natur als einem lebendigen Gesamtorganismus, der sich nach natura naturans und natura naturata differenziert25, einschließen. Eine Annäherung an den Bezug Nacht/Unwahrheit ist über den kontrastiven Vergleich mit der Gegenseite denkbar. In »Beiträge zur Optik« heißt es zur Nacht in ihrem optischen Modus als Finsternis, dass wir sie »abstrakt ohne Gegenstand als eine Verneinung«26 denken. Während Licht Sichtbarkeit bewirkt, löscht Finsternis Sichtbarkeit aus. Licht scheint und gestaltet produktiv das Sinnlich-Sichtbare der Körper. Gleichzeitig grenzt es damit Körper voneinander ab, macht Unterscheidung möglich und schafft eine differenzierende Ordnung im Raum. Finsternis verneint die Ordnung durch Differenz, d.h., sie bringt die vom Licht geschaffene differenzierte Raumordnung zum Verschwinden und bewirkt in diesem Sinne eine abstrakte, jeder konkreten Merkmale beraubte einförmige Realität. Gemäß dieser Überlegungen hat Nacht keine positiv konstitutive Kraft, wohl aber kann sie in der Funktion eines Widerparts als der Gegenspieler im Differenzzusammenhang mit Licht gedacht werden. Unwahrheit ist semantisch deshalb nicht einfach nur das Gegenteil von Wahrheit, sondern unter Berücksichtigung des Sinnbezirks von abstrakt und Verneinung durchaus als ein aktiv operierender Gegenspieler zu verstehen.

genüber der linearen Erklärung im analytischen Zugriff Newtons. Vgl. dazu u.a. Arthur Zajonc: Die gemeinsame Geschichte von Licht und Bewußtsein, Reinbek 1994. Vgl. auch Michael Mandelartz: Goethe, Newton und die Wissenschaftstheorie. Zur Wissenschaftskritik und zur Methodologie der Farbenlehre, 2005, in: , letzter Zugriff: 1.9.2011. 24 Spinozas Einfluss kann hier noch nicht angenommen werden. 25 Zur naturphilosophischen und naturwissenschaftlichen Traditionslinie, in der Goethe damit schon zu Beginn seiner philosophischen Bemühungen steht, vgl. Arthur Zajonc: Die gemeinsame Geschichte von Licht und Bewußtsein, a.a.O., zu Goethe besonders S. 223–254. Auch der Gedanke der Natur als Organismus bewegt Goethe sein ganzes Leben. In einem Brief an Friedrich August von Beulwitz vom 18. Juli 1828 ist zu lesen: »Die vernünftige Welt ist als ein großes unsterbliches Individuum zu betrachten, welches unaufhaltsam das Nothwendige bewirkt und dadurch sich sogar über das Zufällige zum Herrn erhebt.« (FA 38: 18) 26 FA 23/2: 23, § 22.

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In der Dämmerung kommt es nach dem Verständnis Goethes in der vorliegenden Briefsequenz zur Begegnung und Durchdringung von unter umgekehrten Vorzeichen agierenden Prinzipien. Das dialektische Spiel von Licht und Finsternis bewegt sich dabei in einer indifferenten Zone des Übergangs. Die Konturen und Oberflächen von Körpern, auch die Farben werden diffus, die Raumverhältnisse verlieren ihre Klarheit, verschwimmen, lösen sich auf. In Dämmerung werden die Teile eines Raumganzen atmosphärisch durch eine labil-ausgewogene Verschränkung von Licht und Finsternis verbunden. Das Ineinander kann als Bezüglichkeit der im Licht getrennten und in der Finsternis verborgenen Körper im Raum verstanden werden27. Entsprechend des Bezugs Dämmerung/Schönheit ist Schönheit aus polaren Gegensätzen generiert; ihr Erscheinungszusammenhang ist von Indifferenz, Durchdringung und Wechselwirkung bestimmt. Das Ästhetische wird damit von Goethe als Phänomen einer Übergangszone im Modus von Bezüglichkeit diskutiert. Schönheit ist verkörperter Ausdruck des Zusammenhangs der Dinge im Raum, denn die Einzeldinge erscheinen in der Dämmerung als Teile eines naturgemäßen Ganzen28. Im Spektrum von Wahrheit/Unwahrheit wäre dementsprechend einer Bestimmung von Schönheit im Zusammenhang von Schein und Scheinen als zentralen Begriffen der Ästhetik (im Sinne Hegels) nachzugehen29. Unter beiden Diskursbedingungen ist das Ästhetische zweckhafter Funktionalität entzogen; der »Scheideweg, so zweydeutig«, entzieht sich begrifflicher Fixierung ebenso, wie er der Rezeption mehrdeutige Spielräume eröffnet. In einem Briefkonzept an Hetzler den Jüngeren legt Goethe 1770 kategorisch dar, dass Schönheit der Empfindung entspringe und grenzt diese ausdrücklich von verstandesmäßiger Definition ab30. Im Kontext des Briefes liegt dem die Auffassung zugrunde, dass nicht metaphysisch-systematische Begrifflichkeit Schönheit erschließe, sondern vielmehr das konkrete sinnliche Erlebnis. In einem Vergleich von Schönheit mit einem Schmetterling verdeutlicht Goe27 Vgl. auch FA 23/2: 23, § 24: »Licht und Finsternis führen einen beständigen Streit miteinander. Wirkung und Gegenwirkung beider ist nicht zu verkennen.« Vgl. auch die Einführung in MA 1.2: 680: »[N]och spät wird [Goethe; J.S.] die Dichtung mit dem Bild des ›Schleiers‹“ und des ›Nebels‹ verbinden«. 28 Vgl. dazu die Einführung von Gerhard Sauder in: MA 1.2: 680. Sauder thematisiert einen engen Bezug von Dämmerung und Empfindung. Dieser Bezug wird für die Aisthesiskonzeption in Von Deutscher Baukunst von Bedeutung sein. 29 Vgl. zu Scheinen als ästhetischem Begriff Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über Ästhetik, Bd. 1, in: ders.: Werke (in 20 Bde.), hier Bd. 13, auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/M 41994, S. 151: »Das Schöne bestimmt sich […] als das sinnliche Scheinen der Idee«, heißt es im Kontext einer Diskussion des Bezugs von Wahrheit und Schönheit. 30 Briefkonzept vom 14. Juli 1770, in: FA 28: 211.

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the, dass normativer Ästhetik die »schönsten Farben« der Schönheit verloren gingen, sie nur den »Leichnam« erfasse, während empfindende ästhetische Wahrnehmung das »Hauptstück« von Schönheit erkenne – »das Leben, de[n] Geist der alles schön macht«31: es kündigt sich Aisthesis als epistemisches Leitmotiv an. Empfindung ist in diesem Zusammenhang ein schillernder Begriff, der in der Fachliteratur z.T. einseitig verkürzend hinsichtlich seiner rein gefühlsmäßigen Dimension verstanden wird32. Mit dieser Reduktion wird die vielschichtige Verwendung des Begriffes bei Goethe verkannt, die schon früh sinnliche Wahrnehmung mit an ihr sich entzündenden Gefühlen und mit anschauendem Denken verklammert. Zeichnet sich dieser Sachverhalt schon im vorliegenden Brief ab, wird die Vielschichtigkeit von Empfindung im Kontext des Wahrnehmungskonzeptes sich im Folgenden insbesondere bei Von Deutscher Baukunst erweisen. Goethe schätzt offensichtlich schon früh das subversive Potential ästhetischer Erfahrung, denn mit dem damit verbundenen Wahrnehmungskonzept wird der Deutungsanspruch der Vernunftmodelle der Aufklärung erfolgreich unterlaufen und es entfaltet sich in ihr eine kreative Widerständigkeit von innen. Im Horizont dieser Bezüge müssen Goethes Gedanken nicht als bloße unverbindliche philosophische Spielereien im Kontext pietistischer Spekulation verstanden werden, auch nicht als alleiniger Gefühlsenthusiasmus, sondern können als frühes Konzept ästhetischen Denkens, u.a. im Geiste Hamanns gelten33, das auf Selbstbildung und Emanzipation angelegt ist, freilich ohne diese Dimensionen zu konzeptualisieren. Die Art des Philosophierens konzentriert sich des Weiteren auf geometrische und schriftliche Versuche des Denkers (»Cirkel, Papier, Feder und Dinte«), der durch Krankheit gezwungenermaßen zurückgezogen lebt, aber in der Einsamkeit aktive geistige Tätigkeit als Krisenbewältigung34 nutzt. Nur mit wenigen Büchern hermetisch-alchemistischer Couleur ausgestattet (wenn man die Wendung »zwey Bücher« metonymisch versteht35), steht dabei nicht die Aneignung von Wissen im Vordergrund, sondern ein Philosophieren, das sich die Geheimnisse des Daseins durch 31

FA 28: 211 f. Es liegt nahe, hier einen ersten vorbereitenden Ansatz von Goethes Gestaltbegriff zu sehen. Vgl. dazu unten zu Von deutscher Baukunst. 32 Vgl. exemplarisch Reiner Penter: Goethes naturwissenschaftliche Methode – zur Einheit von Natur und Forscher -, Diss. Freiburg 1996, S. 6 ff. 33 Vgl. den Kommentar in FA 18: 1019 f. 34 So Bernd Hamacher: Johann Wolfgang von Goethe. Entwürfe eines Lebens, Darmstadt 2010; für Hamacher ist das ein Grundmotiv im Leben Goethes. 35 Vgl. Der junge Goethe. Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Schriften bis 1775, a.a.O., Bd. 1, Fußnote S. 628. Nahe liegt die Vermutung, wenn man die Wendung wörtlich versteht, dass es sich um Wellings Opus mago-cabbalisticum sowie Franciscus Mercurius van Helmonts Paradoxal Discourse handelt, vgl. ebd. sowie FA 28, Kommentar S. 687.

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Selbstdenken zu erschließen sucht. Ephemerides und verstreute Gedanken in Briefen drücken diese Suchbewegung aus – Momentaufnahmen, im Vorbeigehen notierte Gedanken fragmentarischen Charakters, die auf komplexere Denkbewegungen schließen lassen. Im Rückblick auf die Jugend schildert Goethe im achten Buch des zweiten Teils von Dichtung und Wahrheit darüber hinaus seine experimentellen Versuche in der Alchemie im »alten Giebelzimmer«36 des Vaterhauses. Seine von alchemistischer Begrifflichkeit durchzogene Darstellung verdeutlicht, dass die Bemühungen um eine Art Elixier des Lebens mit mineralischen »Ingredienzen des Makrokosmos und Mikrokosmos«37 vergeblich blieben: Es fand sich nichts, »woran man hätte hoffen können diese jungfräuliche Erde in den Mutterstand übergehen zu sehen«38. Wenn die Bewältigung der krisenhaften Lebensumstände nun als ein Ausgangspunkt dieser alchemistischen Bemühungen gelten kann, dann ist Motivation dieses Philosophierens und Experimentierens die o.g. begründende Selbstkonstitution durch Denken – freilich als eine noch recht unspezifische Suchbewegung zu verstehen39; u.a. sind Zusammenhänge des Lebendigen, speziell des beseelten Lebens und dessen Dynamik in der Verschränkung von Leib und Seele40, Gegenstand des Interesses. Angeregt durch entsprechende Lektüre zielen die Teile-Ganzes-Spekulationen des jungen Goethe nicht auf harmonisierende und subsumierende Konzeptionen von Ganzheit, sondern vielmehr auf deren spezifische Entelechie in einer Dialektik von Einheit und Differenz (eine »Harmonie [sei] nichts thätiges«41, heißt es u.a., verbunden mit der Frage nach einer dynamisch wirkenden Kraft), sowie auf Metamorphose (Umwandlung jungfräulicher Erde in den Mutterstand), im vorliegenden Kontext letztlich auf die Frage nach Ursprung, Bildung und Bestimmung des Menschen. Mit solchen Überlegungen grenzt sich der junge Goethe gegenüber metaphysischen Konzepten ab, die einen deterministischen und präformativen Entwicklungsgedanken vertreten42. Über den biographischen Anlass hinaus werden mit dieser Suchbewegung auch bestimmte Denkmuster begründet. Lesen im Buch der Natur ist das Konzept des 36 FA 14: 374. 37 FA 14: 375. 38 Ebd. Vgl. in Bezug auf die Bedeutung von Alchemie als Verwandlungswissen für den Faust die interessanten Untersuchungen von Gernot Böhme: Goethes Faust als philosophischer Text, Zug 2005, S. 49–79. 39 Karl Otto Conrady: Goethe, Leben und Werk, Bd. 1, a.a.O., S. 147. 40 Vgl. die Ephemerides vom März 1770 in FA 28: 201 f. 41 FA 28: 202. 42 Zu Perspektiven des Entelechiegedankens vgl. unten. Zu Präformation und Epigenese als Denkmuster im Kontext der Morphologie und des Metamorphosegedankens vgl. Kap. 6 und 7.

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Philosophierens – im Sinne des vorliegenden Briefes freilich noch im Kontext alchemistischer Zeichensysteme, die geometrisch-literarisch und experimentell durchgespielt werden. Diese Art Beschäftigung mit Natur spielt das gelehrte Bücherwissen aus. Ein dergestalt Gelehrter sei »selten ein grosser Philosoph«, ja verachte das »einfältige Buch der Natur«, in welchem allein Wahrheit liege43. Damit ist das Denkkonzept des Philosophen in Abgrenzung zu anderen Konzeptionen umrissen. Erfahrung wird zum Leitbegriff des Philosophierens: »[U]nd halte die Erfahrung für die einzige ächte Wissenschaft«44. Methodische Prinzipien und Praxis eines erfahrungsbasierten Wissens fasst Goethe im August 1770, also schon in Straßburg studierend, in einem Briefkonzept an Hetzler den Jüngeren zusammen: Die Sachen anzusehen so gut wir können, sie in unser Gedächtniss schreiben, aufmerksam zu seyn und keinen Tag ohne etwas zu sammeln, vorbeygehen lassen. Dann, ienen Wissenschaften obliegen, die dem Geist eine gewisse Richte geben, Dinge zu vergleichen, iedes an seinen Platz zu stellen, iedes Wehrt zu bestimmen |:eine ächte Philosophie meyn ich, und eine gründliche Mathesin:| das ists, was wir ietzo zu thun haben. Dabey müssen wir nichts seyn, sondern alles werden wollen, [...]45.

Mit diesem Appell formuliert Goethe die Eckpunkte einer Programmatik von Erkenntnis. Erkenntnispraxis soll von dem Bemühen getragen sein, aufmerksam und beständig die Objekte des Interesses zu beobachten, zu sammeln, vergleichen, ordnen, bewerten nach Maßgabe leitender Prinzipien. Die konkret persönliche Bedeutung dieser Grundsätze mit Aufforderungscharakter zeigt sich im aktuellen Bezug (»ietzo«) und den verwendeten Personalpronomina (»wir«, »ich«). Mit diesen Gedanken sind schon 1770 programmatische Denkmuster konzeptionell veranlagt, die später in Forschungspraxis46 und in Texten zu Wissenschaft und Forschung wie u.a. in Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt (179347) oder in Anschauende Urteilskraft (8.–10. September 181748) methodenkritisch konzeptioniert und am wissenschaftlichen Diskurs orientiert49 immer wieder in Goethes Schriften zu finden 43 44 45 46 47 48 49

FA 28: 160. Brief vom 8. April 1769 an Friederike Oeser, in: FA 28: 164. Briefkonzept an Hetzler den Jüngeren vom 24. August 1770, in: FA 28: 217. Vgl. dazu Kap. 5. FA 25: 26–36. Vgl. Kap. 7. FA 24: 447 f.; vgl. S. 1071, Kommentar. Vgl. Kap. 7. Hier ist in erster Linie Goethes Beschäftigung mit der Vernunftkritik Kants zu nennen. Vgl. dazu Wolf von Engelhardt: Goethes Weltansichten. Auch eine Biographie, a.a.O., S. 167–186, der die Lektüre Goethes der Kant’schen Schriften rekonstruiert.

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sind. Im Genaueren betrifft dies das Forschungsdesign, das man im philosophischen Kontext regulativer Verstandesbegriffe im Sinne Kants in Anschauende Urteilskraft sehen kann50. Verglichen mit »Anschauende Urteilskraft« wird damit aber auch das spezifische Gepräge des Gedankens von 1770 deutlich. Während es Goethe in Anschauende Urteilskraft um eine Erweiterung des Erkenntnisfeldes im Sinnbezirk von Intuition geht, bleibt diese Dimension in der noch unreflektierten Begrenzung auf diskursive Urteilskraft unberücksichtigt. Das ist bemerkenswert, denn in der intensiven Auseinandersetzung des 19-Jährigen mit dem Pietismus im Umkreis der Frankfurter Gemeinde der Herrnhutter, insbesondere in den Begegnungen mit Katharina von Klettenberg sowie dem Arzt Johann Friedrich Metz begegnet Goethe Vorstellungen, auf die er später in Dichtung und Wahrheit eingeht51. Er beschreibt aus der Distanz des Alters kritisch-ironisch den dort gepflegten Diskurs über Erweckungserlebnisse im Sinne von Offenbarungen, die er in einen bestimmten Bezug setzt zu dem, was er erst im Kontext seiner Forschungen zur Farbenlehre ab 1790 Aperçu genannt hat52. In der Literatur ist nun wiederholt der Bezug von pietistischem Erweckungserlebnis und Aperçu bei Goethe diskutiert worden53, dessen Semantik auf Intuition als zentralem Begriff deutet54. Nach meiner Einschätzung ist einem dabei z.T. geäußerten 50 Vgl. dazu Kap. 7. Muster dieses Forschungsdesigns finden sich immer wieder verstreut in den Schriften Goethes. Vgl. dazu abweichend die Deutung als konventionell gefasste »Gedankenzucht« bei Martin Bollacher: Der junge Goethe und Spinoza. Studien zur Geschichte des Spinozismus in der Epoche des Sturms und Drangs, Tübingen 1969, S. 121. 51 Vgl. zu den Anregungen des Pietismus für das Weltbild des jungen Goethe: Hans-Georg Kemper; Hans Schneider (Hrsg.): Goethe und der Pietismus, Tübingen 2001. Die Beiträge des Sammelbandes beleuchten die Bezüge aus verschiedenen Perspektiven. 52 Dichtung und Wahrheit, in: FA 14: 743: »Wovon sich nun solche Sinnesverwandten am liebsten unterhalten sind die sogenannten Erweckungen, Sinnesänderungen, denen wir ihren psychologischen Wert nicht absprechen. Es sind eigentlich was wir in wissenschaftlichen und poetischen Angelegenheiten aperçu’s nennen: das Gewahrwerden einer großen Maxime, welches immer eine genialische Geistesoperation ist; man kommt durch Anschauen dazu, weder durch Nachdenken noch durch Lehre oder Überlieferung. Hier ist es das Gewahrwerden der moralischen Kraft, die im Glauben ankert und so in stolzer Sicherheit mitten auf den Wogen sich empfinden wird.« 53 Bspw. von Albrecht Schöne: Goethes Farbentheologie, München 1987, S. 11–23 (dort weitere Literaturhinweise). Schöne hebt für Goethes Naturforschung generell hervor: »Goethe benutzt das Strukturmodell des pietistischen Erweckungserlebnisses, um eine bestimmte Erfahrung im Bereich naturwissenschaftlicher Bemühungen kenntlich zu machen.« (S. 20 f.) Schöne nennt als Sinnbezirk von Aperçu ausdrücklich »Intuition, Inspiration und Offenbarung« (S. 21). 54 Vgl. dazu aktuell Eckart Förster: »Zum Schauen bestellt« – Goethes Naturreligion, Goethe-Jahrbuch 130 (2013), S. 65–74, besonders S. 70 ff. Goethes Begriff von Aperçu unter-

4.1 »... und fing an Betrachtungen zu machen, dazu ich bissher nicht Zeit gehabt hatte.«

125

direkten Bezug von pietistischem Gedankengut und wissenschaftlichem Begriff mit Vorsicht zu begegnen. Man beruft sich bei solchen Überlegungen auf bloße Strukturgleichheiten, ohne die in konkreten Verwendungssituationen aktivierte Semantik der Begriffe zu differenzieren, und kommt zu eher fragwürdigen Deutungsansätzen55. Zu diesem frühen Zeitpunkt gehört das spannungsvolle Verhältnis von diskursivem und intuitivem Erkennen, soweit ich den Sachverhalt überblicken kann, noch nicht zu den erkenntnistheoretischen Fragestellungen Goethes56, ist auch nicht strukturell veranlagt; beide Erkenntniskonzeptionen werden insbesondere noch nicht im Zusammenhang eines differenzierenden Gesamtkonzeptes aufeinander bezogen, wie es dann ab Frühjahr und insbesondere September 1817 in Anschauende Urteilskraft ausgeführt ist57. Zudem reflektiert Goethe meines Wissens erstmals im Anschluss an seine intensive Spinozalektüre 1784/85 in philosophischer Absicht über Intuition, ein implizierter Gebrauch als Denkmuster erscheint im Baukunstaufsatz von 177358.

55

56 57

58

sucht Hermann Schmitz: Goethes Altersdenken im problemgeschichtlichen Zusammenhang (1959), Bonn 2008, S. 168–179 und 394–416. So z.B. Schöne in Goethes Farbentheologie, a.a.O. Ausgehend von dem Gedanken aus der Konfession des Verfassers, »[e]in entschiedenes Aperçu ist wie eine inokulierte Krankheit anzusehen: man wird sie nicht los bis sie durchgekämpft ist« (FA 23/1: 980) und einer Äußerung in den Tag- und Jahresheften von 1790, in der Goethe davon spricht, ihm sei eine »Entwicklungskrankheit eingeimpft« (FA 17: 18), legt Schöne den Bezug von Erweckung, Aperçu und pathologischen Implikationen trotz einiger thematisierter Bedenken nahe (vgl. S. 19 f.). Weil Goethe aber offensichtlich in beiden Fällen im übertragenen Sinne von Krankheit spricht und eine Synchronisation von Erweckung und Aperçu aus Goethes ironisierendem Eingehen auf Erweckung in Dichtung und Wahrheit nicht abgeleitet werden kann, wirkt das Insistieren Schönes auf ein pathologisches Element bei Goethes Intuitionsbegriff, den er zudem zu einem Offenbarungsglauben in Bezug setzt, der als unwissenschaftlich gelten muss, merkwürdig konstruiert. Ich denke, dass Schönes in Rede stehende Deutung von dem Leitmotiv seines Buches geprägt ist, Goethes Farbenlehre als einen von Goethe verfochtenen Glauben zu interpretieren (»›Farbenlehre‹ als eine im Medium der Wissenschaft operierende ›Farbentheologie‹«, S. 114), und dabei das Detail dem Erklärungsansatz unterzuordnen. Vgl. dazu im Folgenden das Resümee, dass die vielfältigen Interessen Goethes kaum einem einheitlichen Orientierungsmuster zugeordnet werden können. Goethe reflektiert erst im Kontext seiner Kantlektüre über entsprechende Eigenarten und Differenzierungen. Vgl. dazu FA 24: 1070 f. den Kommentar, der die Tagebuchnotizen Goethes vom 8.– 10. September 1817 hervorhebt: »Einwirkungen der Kantischen Philosophie« (8.9.), »Intuitiver Verstand (Kants) auf Metamorphose der Pflanze bezüglich« (9.9.), »Anschauender Verstand« (10.9.). Vgl. im folgenden Kapitel die Aisthesiskonzeption als ein erster Schritt zu einem Begriff von Anschauung. Vgl. dazu Martin Bollacher: Baruch de Spinoza, in: Goethe-Handbuch Bd. 4/2, hrsg. Von Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto, Stuttgart und Weimar 2004, S. 1001. Vgl.

126

4 Umbildung als Perspektivierung von Selbstbildung beim jungen Goethe

Dichtung und Wahrheit gibt uns Auskunft darüber, wie Goethe sein philosophisches Denken während der Straßburger Zeit von anderen Denkansätzen im Rückblick abgegrenzt wissen will. Er geht im elften Buch auf seine Lektüre des Systême de la Nature von Paul Thiry d’Holbach ein. Seine Kritik an dem Buch betrifft dessen Materialismus (er spricht von einer »tristen atheistischen Halbnacht«59) und dessen metaphysische Anlage, die als »so grau, so cimmerisch, so totenhaft«60 verworfen wird. Goethes Abneigung und Kritik zielt vor allem auf den materialistischen Determinismus, dass alles einer materiell verursachten Notwendigkeit unterworfen sei; das schließe Freiheit aus, und: Könne man nicht auch ein geistiges Prinzip als verursachend gelten lassen61? Goethe sah gegenüber den metaphysischen Konstruktionen eines Holbach sein Interesse »aufs lebendige Wissen, Erfahren, Tun und Dichten [...]«62 gerichtet, getragen von der »Hoffnung immer vernünftiger zu werden, […] von äußeren Dingen, ja von [sich selbst; J.S.] immer unabhängiger zu werden«63. Was als vorläufiges Resümee dieser Rekonstruktion zusammengefasst werden kann: Bis 1770 bewegt sich Goethes Denken offensichtlich in heterogen verlaufenden Bahnen. Die tendenziell disparat verlaufenden Diskurse lassen Ansätze späterer Erkenntnis- und Forschungskonzeptionen erkennen. Neben dem ästhetischen Denken im Spektrum der Lichtmetaphorik – Empfindung in epistemologischer Bedeutung – sowie den Überlegungen zu Ganzheit in der Perspektive von Entelechie und Metamorphose (in Abgrenzung zum Materialismus) können Erfahrung (Lesen im Buch der Natur) und Selbstdenken (im Gegensatz zu Rezeption, Bücherwissen und Metaphysik) schon zu dieser Zeit als Leitbegriffe Goethes gelten: Das Ganze jedoch mehr als Sehnsuchtspotential in literarisch-schriftlicher Erprobung denn konsequent gelebte Praxis oder philosophische Systematik64. Es lässt sich dabei sehr deutlich ein persönlich-biographisch bedeutsamer Fluchtpunkt der Bewegung durch verschiedene unterschiedliche Diskurse ausmachen: »[A]uf einem Weege der gewiss hinaus aus dem Labyrynte führt«, wie der von Zweifeln geplagte Goethe hofft65, modelliert

59 60 61 62 63 64 65

auch Kap. 5, in welchem u.a. die Studie nach Spinoza rekonstruiert wird, deren Autorenschaft neuerdings angezweifelt wird: Wolf von Engelhardt: Goethes Weltansichten. Auch eine Biographie, a.a.O., S. 164–166. FA 14: 535. FA 14: 534. Vgl. FA 14: 535. Dieses Verständnis Goethes wird für den Gestalt- und den Entelechiebegriff von Bedeutung sein (vgl. den Exkurs zum Gestaltbegriff in Kap. 2.3). FA 14: 536. FA 14: 535. Zu einem ähnlichen Befund, aber bezogen auf naturphilosophische und philosophischspekulative Interessen, kommt Wolf von Engelhardt: Goethes Weltansichten. Auch eine Biographie, a.a.O., S. 42. Aus dem eingangs zitierten Brief vom 13. Januar 1769 an Ernst Theodor Langer, in: FA

4.2 Zum Shakespears Tag – Von Deutscher Baukunst

127

sich Selbstbildung als umbildende Selbstkonstitution (»Dabey müssen wir nichts seyn, sondern alles werden wollen«66) im Modus ahnungsvoller Suche. Selbstbildung ist damit von Jugend an ein Leitmotiv im Leben Goethes.

4.2 Zum Shakespears Tag – Von Deutscher Baukunst 4.2.1 Untersuchungsperspektiven

Von den neueren Herausgebern der Werke Goethes wird die Bedeutung dieser frühen Schriften in ihrem programmatischen Charakter gesehen. Friedmar Apel deutet Zum Shakespears Tag als Ausdruck eines »vitalistischen Neubeginns und eines visionären Wirklichkeitsentwurfs«67 Goethes 1771. Gerhard Sauder spricht von einer Art »Sendschreiben«68: Der Appell-Charakter der Schrift überwiege gegenüber dem Informationsgehalt zu Person, Dramentheorie und Wirkungsästhetik Shakespeares. Zum Shakespears Tag sei eines der »Genie-Manifeste des Sturm und Drang«69 und feiere die Natur, Ursprünglichkeit und das Prometheische an Shakespeare als exemplarischem Muster des Genies. Ähnlich wird auch Von Deutscher Baukunst (in mehreren Phasen zwischen 1771 und 1773 entstanden, Erstdruck 177370) sowohl von Sauder als auch von Apel kaum als sachliche Abhandlung denn als pathetischer Hymnus71 in Prosa verstanden. Goethe verherrliche den Dombaumeister Erwin von Steinbach als »Prometheus der Gotik«72; die kunsttheoretische Auseinandersetzung sei Polemik73, um ein nordisches Baukunstkonzept zu propagieren, hebt Sauder in seinem Kommentar hervor. Ernst Beutler vertrat schon 1943 die Auffassung, dass man sprachlich-ästhetische Anlage und Theoriekonzeption aus qualitativen Gründen trennen müsse; Beutler wertet einen seiner Meinung nach fragwürdigen Inhalt gegenüber einer ganz von dem Gefühl bestimmten lyrisch-musikalischen Sprachform ab74 und nimmt sei66 67 68 69 70 71 72 73 74

28: 149 f. Aus dem Briefkonzept an Hetzler den Jüngeren vom 24. August 1770, in: FA 28: 217. Kommentar, in: FA 18: 1054. Kommentar, in: MA 1.2: 833. Ebd. In ähnlicher Ausrichtung auch Helmut Koopmann: Zum Schäkespears Tag, in: Goethe-Handbuch Bd. 3, Stuttgart und Weimar 2004, S. 518–526. MA 1.2: 836 f., Kommentar. Vgl. Detlef Kremer: Von deutscher Baukunst, in: Goethe-Handbuch Bd. 3, Stuttgart und Weimar 2004, S. 565. Kommentar, in: MA 1.2: 835. Kommentar, in: MA 1.2: 836. Ernst Beutler: Von deutscher Baukunst, Goethes Hymnus auf Erwin von Steinbach, seine

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4 Umbildung als Perspektivierung von Selbstbildung beim jungen Goethe

nerseits damit eine Selbstkritik Goethes aus Dichtung und Wahrheit75 unter umgekehrten Vorzeichen auf. Es wird zu diskutieren sein, wie über eine solche für die Auseinandersetzung mit dem Text typische Differenzierung hinaus76 nicht doch die Relation von Form und Inhalt eine bedeutende Rolle in Von Deutscher Baukunst spielt77. Dieser Bezug von Konzeption und sprachlicher Realisierung wird wiederholt Thema sein. Zuletzt hat Thorsten Valk für beide Schriften entscheidende Aspekte dazu vorgestellt78. Ganz überwiegend konzentriert sich die Fachliteratur auf die kunstästhetische Theorie und Auseinandersetzung sowie den Geniegedanken der beiden Schriften, zuletzt in substantieller Weise durch Thorsten Valk79. Friedmar Apel dagegen betont in seiner Einführung in die ästhetischen Schriften, dass es Goethe in der Ästhetik von Anfang an um das »Projekt einer grundsätzlichen Revision der Wahrnehmungsstrukturen des Zeitalters der Aufklärung mit dem Ziel einer Restitution der sinnlichen Wahrnehmung der Wirklichkeit«80 gehe. Von Deutscher Baukunst sei im Rahmen dieses Wahrnehmungsprojektes ein »ziemlich freihändiger Versuch, komplexitätsreduzierendes Sehen einzuüben«81, das Ganze ziele darauf, Wahrnehmung als »individuelle Produktionsleistung«82 zu konstituieren. Ernst Osterkamp deutet Ähnliches an, wenn er für Goethe eine »integrale« in Abgrenzung zu einer »dissoziativen« Betrachtungsweise hervorhebt83. Auffällig ist, dass sowohl Apel als auch Sauder die Bedeutung beider Texte für den Goethe’schen Geniegedanken und für Ästhetikkonzeption hervorheben, Apel Entstehung und Wirkung, in: ders. (Hrsg.): Freies Deutsches Hochstift Frankfurt a.M., Reihe der Vorträge und Schriften, München 1943, vgl. besonders S. 41–42. 75 Vgl. FA 14: 553; vgl. auch S. 547 Goethes Reflexion im Kontext des Eindrucks des Mannheimer Antikensaals. Vgl. auch Detlef Kremer: Von deutscher Baukunst, in: Goethe-Handbuch Bd. 3, a.a.O., S. 566: »G.s […] Distanzierung verfehlt […] seine frühe ästhetische Kampfschrift notwendigerweise, da die stürmerisch-drängerische ›Staubwolke‹ der genialischen Selbstinszenierung mindestens ebenso wichtig ist wie die solchermaßen vernebelten kunsttheoretischen Urteile.« 76 Vgl. die ironisch-spöttische Rezension von Matthias Claudius im Wandsbecker Boten, in: FA 18: 1107 f. 77 Vgl. dazu Reinhard Liess: Goethe vor dem Straßburger Münster. Zum Wissenschaftsbild der Kunst, Leipzig 1985, S. 19–71. 78 Thorsten Valk: Der junge Goethe. A.a.O., S. 212–226. Vgl. dort zum Diskurs ästhetischer Theorie S. 220 ff. 79 Ebd. 80 FA 18: 1007. 81 FA 18: 1020. 82 FA 18: 1023. 83 Ernst Ostkamp: Im Buchstabenbilde. Studien zum Verfahren Goethescher Bildbeschreibungen, Stuttgart 1991, S. 17–21.

4.2 Zum Shakespears Tag – Von Deutscher Baukunst

129

zudem das Wahrnehmungskonzept als integralen Teil eines Gesamtprojekts von Wahrnehmung betont, andere Zusammenhänge und Implikationen aber weitgehend vernachlässigen, bspw. die Bedeutung des Gestaltbegriffs. Einigkeit besteht in der Forschung darin, dass Goethes Straßburger Zeit einen Umbruch zu neuen Paradigmen bringt. Meine Auseinandersetzung setzt im Folgenden in kritischer Würdigung dieser Forschungslage an, thematisiert (im Sinne der methodischen Entscheidungen in Kap. 1) zunächst das Wahrnehmungskonzept – Aisthesis als Erkenntnis ausgehend vom Begriff der Empfindung – und rekonstruiert den Gestaltbegriff in Von Deutscher Baukunst, erschließt den darin entworfenen Geniegedanken und stellt diesen in Bezug zu Zum Shakespears Tag. Meine Rekonstruktion geht dabei auch auf die erwähnten vernachlässigten und strittigen Aspekte ein; es werden insbesondere Gestalt- und Ganzheitskonzept, naturphilosophische Vorstellungen sowie ontologische Implikationen (die Bedeutung Spinozas für Goethes philosophisches Denken) zu diskutieren sein. Für die kunsttheoretische Auseinandersetzung Goethes verweise ich auf die erwähnte Arbeit von Thorsten Valk, ich gehe nur randständig auf diesen ansonsten in der Forschung dominant diskutierten Aspekt ein. Ich werde die Schriften als erste Versuche eines Anschauens der Welt rekonstruieren, mit denen Goethe seinem Denken einen methodisch-konzeptionellen Rahmen und seiner biographisch motivierten Suchbewegung eine perspektivische Richtung gibt. Man wird die Schriften im Weiteren sicherlich im Kontext des Gesamtwerkes als programmatische Schriften eines übergreifenden Wahrnehmungskonzeptes (Apel) auffassen können – auch dieser nicht nur für Goethes Denken, sondern für den ideengeschichtlichen Kontext überhaupt interessante Horizont wird zu berücksichtigen sein (u.a. anhand von Dichtung und Wahrheit sowie Texten zur Physiognomie) –; doch spreche ich im Folgenden von Aisthesis als einem epistemischem Leitmotiv Goethes und verstehe darunter, dass dieses in je besonderer Form – und nicht in der Folge einer Programmatik – in konkreten Verwendungssituationen aktiviert wird und dabei primär auf Selbstbildung, gestaltgebende Umbildung der Individualität zielt. Von Deutscher Baukunst

Goethe hat die Schrift in fünf Abschnitte gegliedert84. Wenn er im ersten den Baumeister Erwin von Steinbach als ursprüngliches schöpferisches Genie von Ganzheit preist und im zweiten eine Kunstkonzeption entwirft, die eine genuin nordische Baukunst gegenüber einer nachahmenden Regelästhetik französisch-italienischer 84 Zur Datierung vgl. MA 1.2: 836.

130

4 Umbildung als Perspektivierung von Selbstbildung beim jungen Goethe

Prägung in der Tradition der »Baukunst der Griechen und Römer«85 unterscheidet, bewegt er sich im Medium der von ihm rezipierten kunstphilosophischen Diskurse86. Goethe entwickelt dann im dritten Abschnitt aus persönlicher Anschauung des Straßburger Münsters Aisthesis als Erkenntnis – diese Betrachtungsweise generiert auch Grundsätze von Gestaltbegriff und Ganzheitskonzeption; dieser Abschnitt ist Ausgangspunkt meiner Rekonstruktion87. In den Abschnitten vier und fünf greift Goethe Kunstkonzeption und Geniegedanken in ihrer Bedeutung für das Zeitalter wieder auf: Die Opposition von Empfindung vs. Witz auf der Ebene des Bewusstseins, die Aspekte der Charakterisierung des Genies sowie Erwin von Steinbach als nordischer Prometheus mit Vorbildfunktion. Man erkennt leicht, dass in der gedanklichen Komposition der Mittelteil zentrale Bedeutung hat, um ihn gruppieren sich Abschnitt zwei korrespondierend mit dem vierten (überwiegend ästhetische Theorie) sowie Abschnitt eins mit fünf (überwiegend Geniegedanke)88.

4.2.2 »Wie sich aber Begriff und Anschauung wechselweise fordern...«89 – Aisthesis als Erkenntnis

Der dritte Abschnitt von Von Deutscher Baukunst inszeniert Erlebnis und Wirkung des Straßburger Münsters auf den jungen Goethe. Aus ihm lässt sich exemplarisch ein Muster phänomenologischer Betrachtung und hermeneutischer Wahrnehmungskonzeption ableiten90. Goethe berichtet zunächst, mit welchem Vorverständnis er sich dem Bauwerk nähert. Er hat den »Kopf voll allgemeiner Erkenntnis guten Geschmacks«91, ist durch einen dominant theoretisch-intellektuell ausgerichteten Diskurs geschult, der als normative Ästhetik, als eine »Theorie der Beurteilung von Kunstwerken«92, das Schön85 FA 14: 553. Zur Reflexion Goethes in Dichtung und Wahrheit über seinen Baukunstaufsatz vgl. unten in diesem und den folgenden Kapitel. 86 Vgl. FA 18: 1107 ff. sowie MA 1.2: 835 f. 87 Vgl. zur konkreten Erfahrung des Münsters unter kunsthistorischer Perspektive ausführlich Reinhard Liess: Goethe vor dem Straßburger Münster, a.a.O., S. 94–147. 88 Vgl. zu dieser konzeptionellen Anlage Thorsten Valk: Der junge Goethe, a.a.O., S. 219 f. 89 Dichtung und Wahrheit, in: FA 14: 347. 90 Vgl. zu meinem methodisch-systematischem Verständnis von Hermeneutik Kap. 1. 91 FA 18: 113. 92 So Gernot Böhme: Atmosphäre, a.a.O., S. 15; Böhme spricht hier von der Ästhetik im Allgemeinen. Für Goethes Kunstverständnis ist neben dem Einfluss der Erziehung im Vaterhaus die Begegnung mit verschiedensten ästhetischen Konzepten in Leipzig zu nennen, so übte Adam Friedrich Oeser bedeutenden Einfluss auf Goethe aus (vgl. u.a. MA 1.2: 835, Kommentar zu Von deutscher Baukunst sowie HA XII: 556 f., Nachwort von

4.2 Zum Shakespears Tag – Von Deutscher Baukunst

131

heitsideal klarer Formensprache (»Harmonie der Massen, die Reinheit der Formen«93) in Abgrenzung zu »verworrnen Willkürlichkeiten gothischer Verzierungen«94 stilisiert. Dementsprechend ist er emotional konditioniert: »[S]o graute mirs im Gehen vorm Anblick eines mißgeformten krausborstigen Ungeheuers«95 (Vorverständnis/Vorurteile im hermeneutischen Verständnis). Umso unerwarteter und überraschender ist dann die tatsächliche »Empfindung«, welche eine Enttäuschung im Sinne des Wortes ist und Veränderung bewirkt: Ein, ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele, den, weil er aus tausend harmonisierenden Einzelheiten bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte.96

Im Moment der Wahrnehmung erscheint das Wahrnehmungsobjekt derart mit Bedeutung aufgeladen, dass es eine starke zentripetale Wirkung auf den Betrachter ausübt und damit zu einem exemplarischen Objekt privilegiert wird. Die geschilderte Erfahrung ist ein anschauliches Beispiel dafür, was im Sinne von Aisthesis als repräsentativer Gegenstand mit Vorbildfunktion für Bildung gelten kann: eine aktuelle Erfahrung, die im vorliegenden Fall bezeichnender Weise das vorgefasste Konzept unterläuft. Eine solche Erfahrung von Repräsentanz steht im Kontrast zu Konzeptionen allgemeiner Bildung, die von kulturell sanktionierten repräsentativen Bildungsinhalten mit Vorbildfunktion ausgeht97. Der Betrachter vermag nicht, das Objekt zentrifugal in den Grenzen seines Vorwissens zu verorten, sondern es findet, ausgelöst von der Ekstase des Objektes, eine zentripetal motivierte Erschütterung der bisherigen Orientierungsmuster ästhetischen Denkens statt. Der Überwältigung korrespondiert eine innere Widerständigkeit, ein Differenzbewusstsein von einem im Anblick zwar geahnten, aber noch nicht durch Verstehen konstruierbaren ganzheitlichen Zusammenhang. Wahrgenommene bauliche Gegebenheit und wahrnehmende Befindlichkeit treten unter Erich Trunz), durch ihn lernte er u.a. die frühen Schriften Winckelmanns kennen – Ausgangspunkt einer lebenslangen Beschäftigung mit diesem. Zur Bedeutung normativer Ästhetik heißt es in Dichtung und Wahrheit bezogen auf die Straßburger Zeit: »Denn junge Leute bringen von Akademien allgemeine Begriffe zurück [und legen; J.S.] solche als Maßstab an die vorkommenden Gegenstände, welche denn meistens dabei verlieren müssen.« (FA 14: 388) 93 FA 18: 113. 94 Ebd. 95 FA 18: 114. 96 FA 18: 114. 97 Vgl. dazu den fachwissenschaftlichen Diskurs in Kap. 2 sowie die Rekonstruktion des Bildungsdiskurses im 18. Jahrhundert in Kap. 3.

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diesen Bedingungen in ein Wechselspiel, konstituieren eine Atmosphäre, in der der Betrachter ergriffen und in mehrfacher Hinsicht »umgestimmt«98 wird. Das Stadium einer produktiven Unruhe ist eingeleitet. Sowohl die Enttäuschung/Umstimmung als auch die damit ausgelöste innere widerständige Bewegungsdynamik bewirken, dass sich das Subjekt mit einem neuen Sinnzusammenhang auseinandersetzt und sich in diesem Prozess umbilden wird. Ich sehe in solchen konkreten sinnlichen Erfahrungen den biographisch motivierten Ausgangspunkt des Goethe’schen Leitmotivs von Aisthesis im Interesse von Selbstbildung. Für ein genaueres Verständnis desselben möchte ich, ausgehend vom Empfindungsbegriff, Dimensionen des epistemischen Sinnbezirks und erste Ansätze eines methodischen Forschungsdesigns differenzieren. Goethe synchronisiert mit dem Begriff der Empfindung explizit für die erste Wahrnehmung des Kunstobjektes sinnliche Anschauung (»Anblick«99) mit Emotion (»... Eindruck füllte meine Seele«) und denkender Betrachtung: »[I]ch wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte«. Letztere Wendung im Besonderen betont die Korrelation von Wahrnehmen, Fühlen und denkendem Erkennen, dieses freilich zunächst als Ahnung eines sich abzeichnenden Zusammenhangs. Goethe greift – ob bewusst oder unbewusst, ist für mich nicht verifizierbar – mit dieser Wendung auf Denkmuster der Philosophie und Mystik des späten Mittelalters zurück und aktiviert die Relation von sapientia (Weisheit) und sapor (Schmecken), die Vorstellung eines schmeckenden Wissens (sapida scientia)100. Dieser Kontext deutet die vielschichtige Semantik von Empfindung an und bezeichnet mögliche Optionen. Empfindung ist keinesfalls auf das mit ihr verbundene emotionale Spektrum begrenzt, sie ist auch nicht »visionäres Offenbarungsgeschehen«101, sondern Goethe betont mit ihr einen Erkenntnisansatz, der sich gegenüber einseitig rationalen Konzepten und Prämissen der Aufklärung abgrenzt102. Deshalb scheint mir Empfindung unter den von mir diskutierten Voraussetzungen in dieser Verwendungssituation epistemisch darauf zu zielen, mit dem Begriff den differenzierten Zusammenhang konkreter ästhetischer Anschauung zu modellieren. Für diese Lesart und Überlegungen sprechen u.a. auch die Ausführungen 98 Gernot Böhme: Atmosphäre, a.a.O., S. 30. 99 FA 18: 114. 100 Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Basel 2004, Sp. 378 und 384. Im Übrigen eine Beobachtung, die nicht überrascht, bedenkt man die Fülle biblischer und religiöser Anspielungen im Text. 101 So Thorsten Valk: Der junge Goethe, a.a.O., S. 218; Valk geht von einer »Vergegenwärtigung eines künstlerischen Erweckungserlebnisses« (S. 217) aus. 102 Vgl. eine Deutung von Empfindung, welche mehr das Unbestimmte betont, im Kommentar MA 1.2: 680.

4.2 Zum Shakespears Tag – Von Deutscher Baukunst

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Goethes zu Empfindung als Quelle von Schönheit im Briefkonzept vom 14. Juli 1770 an Hetzler103. Meine Ausführungen dazu aufgreifend104, möchte ich zunächst betonen: Mit der Inszenierung der janushaften Situation im dritten Abschnitt von Von Deutscher Baukunst werden die Resultate und Prinzipien bisheriger Reflexion über (normative) Ästhetik des Betrachters abgelöst, an ihre Stelle tritt Sinnlichkeit – konkrete Erfahrung generiert ästhetische Anschauung105. Indem Goethe mit Empfindung und schmeckendem Wissen Konstituenten wie Wahrnehmung, Gefühl und Denken in epistemischer Absicht synchronisiert, versteht er sinnliche Anschauung nicht mehr ausschließlich als Ausgangspunkt und Veranlassung von Erkenntnisprozeduren des Verstandes, sondern als Form von Erkenntnis. Im wechselseitigen atmosphärischen Zusammenspiel der synchronisierten Komponenten bewirkt Aisthesis als Erkenntnis die erwähnte Umstimmung des Betrachters. Dessen Wahrnehmung konstituieren Eigenschaften wie Offenheit, Sensibilität und Spontaneität für Anmutungen und Entdeckungen. Auf der emotionalen Ebene verwandelt sich Skepsis in Faszination und Interesse. Diese emotional verankerte produktive Unruhe motiviert in der weiteren Betrachtung ein »forschendes Schauen«; in »leisen Ahndungen« offenbart sich dem Betrachter »der Genius des großen Werkmeisters«106: Sinnliche Anschauung und damit verbundene diskursive Verstandestätigkeit gehen in geistige Anschauung107 über. Der Betrachtungsprozess bewirkt als Ganzer eine Umbildung des Betrachters. Mit den Komponenten sinnlicher und geistiger Anschauung ist Aisthesis als janushaftes epistemisches Leitmotiv in seinem zeitlichen Vollzug perspektiviert, dessen Design anhand des Prozessverlaufs von Anschauung im Folgenden differenziert wird. Leuchtet man das Spektrum sinnlicher Wahrnehmung aus, so treten zentripetal die Ekstasen des Dinges hervor, seine besondere Form, aber auch wie diese mit ihrer Umgebung in Wechselwirkung steht: Nähe/Ferne; Lichtverhältnisse zu unterschiedlichen Tageszeiten. Über das zu Empfindung Ausgeführte hinaus wird dabei deutlich, dass die konkrete sinnliche Anschauung von sich aus für den Betrachter ein Überschusspotential birgt, das die Atmosphäre bestimmt. Das in den Vorüberlegungen von mir konzeptional eingesetzte Hegel’sche Verständnis von ästhetischer Erfahrung ist für diesen Zusammenhang ein hilfreiches Erklärungsmuster. Wenn nach 103 FA 28: 211 f. 104 Vgl. Kap. 1. 105 Vgl. zu aktuellen Konzeptionen von Aisthesis Wolfgang Welsch: Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart 1996. 106 Alle Zitate in FA 18: 114. 107 Goethe verwendet den Begriff der Intuition an dieser Stelle nicht explizit, der Gedanke impliziert ihn aber. Über Intuition als Begriff und als Form von Erkenntnis reflektiert Goethe erst im Kontext seiner intensiven Spinozalektüre 1784/85. Vgl. dazu im Kap. 5.

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4 Umbildung als Perspektivierung von Selbstbildung beim jungen Goethe

diesem in sinnvoller Anschauung der Sinn einer Sache aufgeht, so korrespondiert im Erkennen dem Überschusspotential der Sinnlichkeit im Betrachter eine Ahnung vom Ganzen. Diese Ahnung ist keine bloße Phantastik, sondern eine realistische Perspektive zur Tiefenstruktur des Wahrgenommenen. Dabei gilt: a. In der Natur ist alles was im Subjekt ist. y. und etwas drüber. b. Im Subjekt ist alles was in der Natur ist. z. und etwas drüber. b kann a erkennen, aber y nur durch z geahndet werden. Hieraus entsteht das Gleichgewicht der Welt und unser Lebenskreis in den wir gewiesen sind.108

Wie Wolfram Hogrebe dazu anmerkt, bedeutet das: »Was in der Natur mehr ist als in uns, kann also nur geahnt werden über das, was in uns mehr ist als in der Natur«109. Aisthesis begrenzt sich demnach bei sinnvoller Anschauung nicht auf bloß sinnliche Wahrnehmung im Sinne Kants110, sondern sinnliche Wahrnehmung expandiert an ihren Rändern und motiviert eine Form von Erkenntnis, die ein implizites begriffliches Wissen umgreift111. Mit dieser Lesart ist die zentrifugal-zentripetale Auseinandersetzung zunächst nur in ihren Umrissen skizziert; sie kann unter den bisherigen Vorgaben als ein janushafter Betrachtungsprozess differenziert rekonstruiert werden.

108 Goethe in einem Brief vom 19. Februar 1825 an Christian Heinrich Schlosser als Teil seines allgemeinen Glaubensbekenntnisses in: WA IV,25: 299–311, Zitat S. 311. 109 Wolfram Hogrebe: Ahnung und Erkenntnis. Brouillon zu einer Theorie des natürlichen Erkennens, Frankfurt/M. 1996, zu Goethe insbesondere S. 75–78, Zitat S. 76. 110 Die Bestimmung Kants lautet: »Vermittelst der Sinnlichkeit […] werden uns Gegenstände g e g e be n , und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie g e d a c ht , und von ihm entspringen Begriffe. Alles Denken aber muß sich […] zuletzt auf Anschauungen, mithin bei uns, auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann. […] Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken.« (Kritik der reinen Vernunft, B 33–75). 111 Zur Bedeutung von Ahnung als philosophischem Begriff vgl. Wolfgang Nieke: Ahnung, in: Joachim Ritter u.a. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel 1971, Sp. 522–528. Während Nieke noch 1971 feststellen muss, »als philosophischer Terminus hat der Begriff [Ahnung, J.S.] seine Relevanz verloren« (Sp. 526), und u.a. die Kritik Kants hervorhebt, wird die Bedeutung des Begriffes aktuell wieder diskutiert. Vgl. Wolfram Hogrebe: Ahnung und Erkenntnis. Brouillon zu einer Theorie des natürlichen Erkennens, Frankfurt/M. 1996.

4.2 Zum Shakespears Tag – Von Deutscher Baukunst

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Eine Amplifikation der Betrachtung erfolgt multiperspektivisch (»von allen Seiten«112) durch Wiederholung (»Wie oft bin ich zurückgekehrt«113), Variation und Modifikation. Die Tages- und Nachtzeiten werden in ihrer Eigenart genutzt (»Abenddämmerung« lässt mehr die Form hervortreten; im »Morgenduftglanz« differenziert sich die Gestalt in ihre vielgliedrigen Teile114); Nähe und Ferne eröffnen jeweils Perspektiven einer immer differenzierteren Erfassung; die in der sinnlichen Wahrnehmung blicklenkende Denkbewegung, die Goethe 1824 »exakte sinnliche Phantasie«115 nennen wird, modelliert ein in sich strukturiertes Ganzes, das sich als Fusion der sinnlich wahrnehmbaren Vielfalt herausbildet. Dabei simulieren Interjektionen (»Aber, ach...«116) einen konkret situativen Charakter des Betrachtungsprozesses und korrespondieren damit dem stark emotional geprägten sprachlichen Stil. Der emotionale Raum erstreckt sich zwischen »teilnehmende[r] Traurigkeit« und »Wonneruh des Geistes«117: deutliche Hinweise auf Bezug und Bedeutung der Person des Betrachters für den sich in vielfältigen Variationen wiederholenden Wahrnehmungsprozess. Nicht verobjektivierende Distanz, sondern involvierte Nähe – Partizipation – kennzeichnet seine Eingebundenheit. Eine andersartige Orientierung des Betrachtungsprozess mit entscheidender Bedeutung für Aisthesis als Erkenntnis zeigt sich da, wo Erkenntnis über den Bereich von diskursivem Wissen und regulativer Verstandesaktivität hinaus in einer Grenzregion des Denkens operiert, wo Ahnung in epistemischer Funktion versucht, diesen Grenzbereich aufzuhellen, um an den Rändern sicherer Erkenntnis Licht ins Dunkel zu bringen. Nach meiner Auffassung kann man diese epistemische Suchbewegung, wie sie Goethe darstellt, so verstehen, dass an besagter Grenze der Versuch vorliegt, nicht mehr durch den konstruierend operierenden Verstand, sondern durch Tastversuche einer nach innen gerichteten Anschauung wahrnehmenden Denkens – Intuition – die Idee der Sache zu generieren. Es ist dann gerade der Übergang von sinnlicher zu innerer/intellektueller Anschauung, welcher ermöglicht, über ein funktional-klassifizierendes Wissen des diskursiven Verstandes hinaus die Idee der 112 FA 18: 114. 113 Ebd. Vgl. dazu Dichtung und Wahrheit, in: FA 14: 388–544, insbesondere 388–390; 407 f.; 417–420. 114 FA 18: 114. 115 Ernst Stiedenroth Psychologie zur Erklärung der Seelenerscheinungen erster Teil. Berlin 1824, in: FA 24: 615. Vgl. dazu das Kap. 7, in dem die exakte sinnliche Phantasie von mir als ein Vermögen bestimmt wird, das im Horizont der konkreten Erfahrung der Dinge der Welt mit sinnlichkeitsbasierten Denkmustern operiert, die von Mustern des diskursiven Verstandes unterschieden werden können. 116 FA 18: 115. 117 FA 18: 115.

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Sache zu modellieren. Die Aufmerksamkeit des Betrachters richtet sich dabei weniger auf die sinnliche Gestalt, sondern vielmehr auf deren Eidos (εῐδος, das zu Sehende, Gestalt, im Sinne Edmund Husserls das Wesen). Die Komponenten des Phänomens werden nun im Bezirk des Denkens experimentell in Fusionsvarianten durchgespielt. Dabei konturieren sich die ideellen Umrisse durch Grenzerfahrungen: Es zeigt sich, dass Intuition nicht beliebig konstruktiv modellieren kann, sondern immer bestimmter ein Feld konturiert, in dem sich ein ideeller Zusammenhang abzeichnet. Bezogen auf die Betrachtung des Münsters lässt sich ein solcher Erkenntnisprozess Goethes rekonstruieren. Er vermisst als Betrachter schon bald nach seiner Ankunft bei dem realisierten einen der geplanten zwei Türme den »fünfgetürmten Hauptschmuck«, den der Baumeister »ihm bestimmte, daß ihm und seinem königlichen Bruder die Provinzen umher huldigten«118. Diese durch Intuition generierte Gestalt wird als konzeptionierte, aber unvollendet realisierte Gestalt des Ganzen verstanden. Die gesamte Zeit in Straßburg spielt Goethe dann offensichtlich gedankliche Varianten seiner Mutmaßung durch, bis er gegen Ende Gewissheit über die Sache erlagt119. Aisthesis in diesem Sinne ist ein heuristischer Ansatz mit holistischer Perspektive. Im epistemischen Prozess erscheint die wahrnehmbare Gestalt als Repräsentation eines Bildegesetzes. Das wird möglich, weil die verwirrende Vielfalt der Erscheinung nicht nur in der Fusion eines äußeren Gestaltzusammenhangs organisiert, sondern immer prägnanter als Ausdruck einer inneren »Einheit der Bildung«120 erkannt wird, einem inneren generativen Prinzip, von dem aus sich das Ganze konfiguriert. Im Sinne dieser Lesart verstehe ich die rekonstruierte Betrachtungsweise Goethes als epistemisch hybride Differenzierung von Aisthesis durch Transformation sinnlicher Anschauung zu Intuition. Diese janushafte Modulation von Aisthesis bietet Anschlussmöglichkeiten an das, was Lambert Wiesing für die Phänomenologie aktuell als eidetische Variation diskutiert121, mit dem Unterschied, dass beim jungen Goe118 FA 18: 115. 119 Vgl. dazu weiter unten. Für den Straßburger Kontext vgl. FA 14: 544. 120 Georg Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (1823). Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho, in: ders.: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte Bd. 2, hrsg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Hamburg 1998, S. 58. 121 Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, Frankfurt/M. 2009. Wiesings Beschreibungsansatz konzentriert sich jedoch im Unterschied zu meiner Rekonstruktion eines hybriden Ansatzes von Aisthesis bei Goethe allein auf den Bereich äußerer sinnlicher Wahrnehmung. Wiesing führt aus, dass Zufälligkeiten eines gegebenen Gegenstandes so betrachtet werden, dass ein Wissen des Notwendigen und des Wesens aufgebaut wird. »Der Ausgangspunkt einer Eidetischen Variation ist die bewußte Reflexion auf eigene Vorstellungen; man wendet sich selbstreflexiv der Situation zu, in der man sich weiß. […] Der entscheidende nächste Schritt besteht nun darin, von dieser selbst erfahrenen Situ-

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the zwar eine konzeptionierte, aber nicht systematisch reflektierte Forschungsmethode vorliegt; sein Vorgehen ist in hohem Maße situativ motiviert. Dennoch ist zu betonen, dass der Rezeptionsprozess zwar »jugendlich spontaner Produktivität«122 entspringt, aber eben schon Ansätze dessen zeigt, was Goethe 1823 als Wiederholte Spiegelungen konzipiert hat123. Die intuitiv generierte Idee ist meiner Auffassung nach dabei der entscheidende Schlüssel zum Ganzen, noch nicht das vollständig aufgehellte Ganze; dieses erschließt sich vielmehr durch das weitere Studium des Phänomens mit den o.g. Mitteln der Betrachtung124. Diese Betrachtungsweise Goethes ist nach meiner Lesart nicht allein darauf angelegt, »komplexitätsreduzierendes Sehen einzuüben«125 (Friedmar Apel), bleibt auch nicht allein integrale Betrachtung (Ostkamp), allenfalls auf die sinnliche Anschauung begrenzt kann diese Funktion angenommen werden, sondern sie führt in intellektueller Anschauung/eidetischer Variation zu Expansion von Erkenntnis und zu Konstitution von komplexer Wirklichkeit durch Aisthesis. Die Aisthesis-Programmatik hat eine besondere Bedeutung für umbildende Erfahrung in biographischer Hinsicht bei Goethe. Die nachschaffende Partizipation deutet auf ein kongeniales Rezeptionsvermögen126, dessen Optimismus darin besteht, dem Ideal nahe kommen zu können. Goethe hat diese Konzeption zentrifugal-zentripetaler Betrachtungsweise schon kurz nach seiner Straßburger Zeit beschrieben, sie kann als ein von ihm methodenkritisch praktiziertes Aneignungs- und Verste-

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ation in der Phantasie Variationen herzustellen. […] Man kann hier durchaus von einem Gedankenexperiment sprechen, da der Prozeß der Variationenbildung mit einer bestimmten Erkenntnisabsicht gestartet wird: Es sollen Grenzen der Variierbarkeit erkannt werden [...]« (S. 102). So Nach Hendrik Birus’ Auffassung das Merkmal des jungen Goethe. Vgl. Hendrik Birus: Im Gegenwärtigen Vergangenes. Die Wiederbegegnung des alten mit dem jungen Goethe (19.1.2004), in: , letzter Zugriff: 10.2.2011, S. 2–10, Zitat S. 9. FA 17: 370 f. Weitere Variationen dieser Methodik werden u.a. in Kap. 5 rekonstruiert; dort insbesondere als dialektische Methode, mit verschiedenen Hypothesen Aussagen über ein Phänomen zu generieren. Vgl. den in dieser Hinsicht wichtigen Hinweis Goethes an Carl Jacob Ludwig Iken im Brief vom 27. September 1827: »Da sich gar manches unserer Erfahrung nicht rund aussprechen und direkt mitteilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenüber gestellte und sich gleichsam in einander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren.« (FA 37: 548) Ich stimme in dieser Hinsicht Eckart Förster zu: »Zum Schauen bestellt« – Goethes Naturreligion, a.a.O., S. 72, dass intuitives und diskursives Erkennen in ihrer Relation bei Goethe verstanden werden müssen. Kommentar, in: FA 18: 1020. So Thorsten Valk: Der junge Goethe, a.a.O., S. 226.

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hensmuster umbildender Erfahrung verstanden werden. Im Kontext physiognomischer Reflexion heißt es dazu im Januar 1775: Was den Menschen umgibt, wirkt nicht allein auf ihn, er wirkt auch wieder zurück auf selbiges, und indem er sich modifizieren läßt, modifiziert er wieder rings um sich her. […] Die Natur bildet den Menschen, er bildet sich um, und diese Umbildung ist doch wieder natürlich; er, der sich in die große weite Welt gesetzt sieht, umzäunt, ummauert sich eine kleine drein, und staffiert sie aus nach seinem Bilde.127

Goethe scheint das konstitutive, nachschaffend-schöpferische Element von Aisthesis, komplexe Wirklichkeit sichtbar zu machen, wesentlich bedeutender gewesen zu sein als das mehr ordnend taxonomische einer ästhetischen Systematik und Theorie. Dieses erfasst die realisierte Gestalt strukturiert systematisch und generiert wahrscheinliche Resultate mit Methodenkonzeptionen induktiver Logik und kategorischen Begriffsinstrumentarien128, die als Raster von außen den Dingen angelegt werden. Jenes versucht die Anschauung eines von innen bildenden Prinzips in seiner ideellen Vollendung durch Ahnung und Intuition zu modellieren: Eine epistemologische Produktivität, erzeugt durch atmosphärische Spannung und Unruhe, welche Modifikationen sinnlicher Erfahrung in einen Grad von Differenzierung generiert, den reine Vernunftkonzepte allein nicht erreichen können, und welche in ihrer ideellen Dimension den Dingen nicht konstruktivistisch, sondern anschauend gegenüber tritt. Es ist deutlich, dass damit der Betrachter ein persönliches Verhältnis zum Betrachteten entwickelt. Goethe betont die Wechselwirkungen der zentrifugalzentripetalen umbildenden Erfahrung im biographischen und im Weltbezug: ein Weg, den individuell passenden Ort im Zusammenhang eines Ganzen zu suchen. Aisthesis als Leitmotiv bewährt sich in unterschiedlichen Verwendungszusammenhängen unter verschiedensten Bedingungen. Nimmt man, als Ausblick129, bspw. den in der Italienischen Reise geschilderten Eindruck der Tempel von Paestum, weisen Amplifikation und Expansion der Betrachtungsweise eine hohe Übereinstimmung mit dem in Straßburg erprobten Modell auf, Voraussetzung und Aktualisierung in dieser Situation sind jedoch ganz andere. Wenn Goethe am 17. Mai 1787 zu Herder über Paestum äußert, »es ist die letzte und fast möchte’ ich sagen herrlichste Idee, 127 FA 18: 142. 128 Der damit hier nur angerissene Vergleich von anschaulichem und wissenschaftlichem Begriff (Brief Goethes an den Herzog Ernst II. vom 27. Dezember 1780) wird Gegenstand ausführlicher Rekonstruktion im Kap. 5 sein. 129 Vgl. in Kap. 6 den ersten Abschnitt über die Lichtimpressionen Siziliens.

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die ich nun nordwärts vollständig mitnehme«130, so ist der erste erlebte Eindruck ein ganz anderer: Ich befand mich in einer völlig fremden Welt. Denn wie die Jahrhunderte sich aus dem Ernsten in das Gefällige bilden, so bilden sie den Menschen mit, ja sie erzeugen ihn so. Nun sind unsere Augen und durch sie unser ganzes innere Wesen an schlankere Baukunst hinangetrieben und entschieden bestimmt, so daß uns diese stumpfen, kegelförmigen, enggedrängten Säulenmassen lästig ja furchtbar erscheinen. Doch nahm ich mich bald zusammen, erinnerte mich der Kunstgeschichte, gedachte der Zeit deren Geist solche Bauart gemäß fand, vergegenwärtigte mir den strengen Styl der Plastik und in weniger als einer Stunde fühlte ich mich befreundet, ja ich pries den Genius daß er mich diese so wohl erhaltenen Reste mit Augen sehen ließ, da sich von ihnen durch Abbildung kein Begriff geben läßt. Denn im architektonischen Aufriß erscheinen sie eleganter, in perspektivischer Darstellung plumper als sie sind, nur wenn man sich um sie her, durch sie durch bewegt, teilt man ihnen das eigentliche Leben mit, man fühlt es wieder aus ihnen heraus, welches der Baumeister beabsichtigte, ja hinein schuf.131

Der erste Eindruck der Tempel von Paestum enttäuscht die offensichtlich hohen Erwartungen des Betrachters: Abstoßend und fremd wirken die so gar nicht den Vorstellungen von schlanker Formung entsprechenden dorischen Säulen. Die im Vergleich mit dem Münstererlebnis umgekehrten Vorzeichen lösen besagte Umstimmung und produktive Unruhe aus. Diese aktualisiert nun ausgehend von einer Reflexion über angeeignete Muster von Anschauung und gegenwärtige Rezeptionsbedingungen das Wissen um den kulturellen Kontext der Tempelanlagen, und unter dieser Perspektive realisiert sich ein Wechselspiel zentrifugal-zentripetaler lebendiger Anschauung, in welchem erinnernd aktivierte Bauprinzipien und konkretes Erlebnis einander so bedingen, dass der Betrachter einen Begriff des Ganzen durch Intuition generiert (was der »Baumeister beabsichtigte, ja hinein schuf«), der durch Abbildungen nicht ausgedrückt werden kann. Goethe sieht in solcher Art Genuss132 das Ziel seines Reisens; ein Ziel, das er in der Gegenwart der Dinge im Wechselspiel von Erwartung, Enttäuschung und Umstimmung verfolgt, wie er im Tagebuch der Italienischen Reise für Frau von Stein darlegt:

130 Italienische Reise, in: FA 15/1: 345. 131 FA 15/1: 236 f. 132 Zur Bedeutung von Genuss vgl. den Kommentar in: FA 15/2: 1058 f.; Goethe meint mit Genuss eine Umwandlungsdynamik im Erleben, die den Menschen als Ganzen erfasst.

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Jeder denckt doch eigentlich für sein Geld auf der Reise zu genießen. Er erwartet alle die Gegenstände von denen er so vieles hat reden hören, nicht zu finden, wie der Himmel und die Umstände wollen, sondern so rein wie sie in seiner Imagination stehen und fast nichts findet er so, fast nichts kann er so genießen. Hier ist was zerstört, hier was angekleckt, hier stinckts, hier rauchts, hier ist Schmutz pp so in den Wirthshäusern, mit den Menschen pp. Der Genuß auf einer Reise ist wenn man ihn rein haben will, ein abstrakter Genuß, ich muß die Unbequemlichkeiten, Widerwärtigkeiten, das was mit mir nicht stimmt, was ich nicht erwarte, alles muß ich bey Seite bringen, in dem Kunstwerck nur den Gedancken des Künstlers, die erste Ausführung, das Leben der ersten Zeit da das Werck entstand heraussuchen und es wieder rein in meine Seele bringen, abgeschieden von allem was die Zeit, der alles unterworfen ist und der Wechsel der Dinge darauf gewürckt haben. Dann hab ich einen reinen bleibenden Genuß und um dessenwillen bin ich gereißt, nicht um des Augenblicklichen Wohlseyns oder Spases willen. Mit der Betrachtung und dem Genuß der Natur ists eben das. Triffts dann aber auch einmal zusammen daß alles paßt, dann ists ein großes Geschenck, ich habe solche Augenblicke gehabt.133

Goethe kommt auf solche Zusammenhänge von Aisthesis immer wieder zurück, so auch in Dichtung und Wahrheit. Als sich am Ende seiner Straßburger Zeit seine Idee in Bezug auf die geplante Gestalt durch die nachträgliche Einsichtnahme in die alten Baupläne bestätigt, wird das Rätsel der Gestalt mit der bekannten Formel des Alters als das »offenbare Geheimnis«134 bezeichnet; zum Prozess der Aneignung heißt es: Aber so sollte es mir immer ergehn, daß ich durch Anschaun und Betrachten der Dinge erst mühsam zu einem Begriffe gelangen mußte, der mir vielleicht nicht so auffallend und fruchtbar gewesen wäre, wenn man mir ihn überliefert hätte.135

Die erfahrungsbasierte ästhetische Anschauung in ihrer biographischen Bedeutung hinsichtlich Umbildung ist damit vom alten Goethe nachdrücklich bekräftigt. Mit ihr wird nicht nur Wissen generiert, sondern sie hat transformatorische Bedeutung für den Betrachter: In den Wiederholungen und Varianten der Anschauungsaktivität über einen längeren Zeitraum hinweg prägen sich immer bestimmter Konfigurationen und Muster im Betrachter aus, und: Immer neue Erfahrungen fokussieren 133 FA 15/1: 668 f., Hervorhebung vom Verfasser. Vgl. in Kap. 6 die exemplarische Rekonstruktion einer Variation von Aisthesis im Zusammenhang der Italienischen Reise. 134 FA 14: 544; vgl auch die Darstellung in Paralipomena 75, S. 966 ff. 135 FA 14: 544.

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keine teleologisch bestimmte Richtung, sondern eine offen skeptische Perspektive von Selbstbildung. Goethe hat immer wieder über diesen Zusammenhang reflektiert; im Zuge seiner Forschungen zum Granit sprechen an dieser Stelle Erfahrung und Einsicht anlässlich der Beobachtungen auf einer Reise durch den Harz im Bodetal im Jahre 1805 für sich: Von der übrigen Rückreise darf ich nur vorüber eilend sprechen. Wir suchten das Budethal und den längstbekannten Hammer; von hier ging ich, nun zum dritten Male in meinem Leben, das von Granitfelsen eingeschlossene rauschende Wasser hinan, und hier fiel mir wiederum auf daß wir durch nichts so sehr veranlaßt werden über uns selbst zu denken, als wenn wir höchstbedeutende Gegenstände, besonders entschiedene charakteristische Naturscenen, nach langen Zwischenräumen endlich wiedersehen und den zurückgebliebenen Eindruck mit der gegenwärtigen Einwirkung vergleichen. Da werden wir denn im ganzen bemerken, daß das Object immer mehr hervortritt, daß wenn wir uns früher an den Gegenständen empfanden, Freud’ und Leid, Heiterkeit und Verwirrung auf sie übertrugen, wir nunmehr bey gebändigter Selbstigkeit ihnen das gebührende Recht widerfahren lassen, ihre Eigenheiten zu erkennen und ihre Eigenschaften, sofern wir sie durchdringen, in einem höhern Grade zu schätzen wissen. Jene Art des Anschauens gewährt der künstlerische Blick, diese eignet sich dem Naturforscher, und ich mußte mich, zwar anfangs nicht ohne Schmerzen, zuletzt doch glücklich preisen daß, indem jener Sinn mich nach und nach zu verlassen drohte, dieser sich in Aug’ und Geist desto kräftiger entwickelte.136

Selbstbildung besteht nach dieser biographischen Reflexion darin, dass in den Variationen von Aisthesis über einen langen Zeitraum immer prägnanter bestimmte Erkenntnismuster das eigene Sehen bestimmen. Diese Mustererkennung führt zusehends zu einer Perspektivierung von Erkenntnis, verengt nun aber nicht, wie man eventuell vermuten könnte, die Erkenntnismöglichkeiten, sondern bewirkt eine Innovation, die darin besteht, dass das Subjekt sich von seinem zentrifugalen Bezug zum Objekt zu emanzipieren vermag und dadurch das Objekt sachlich angemessen in den Blick bekommt. Dabei verändert sich nicht nur das Wissen um das Objekt, sondern der Betrachter bildet sich um – Selbstbildung als sukzessive Organbildung. 136 Tag- und Jahreshefte, in: FA 17: 178. Diese Gedanken Goethes verweisen schon auf den in Kap. 5 diskutierten Diskurs von Aisthesis als Wissenschaft, in dessen Kontext Goethe wiederholt kritisch das methodische Muster des anschauenden Begriffes von anderen Erkenntnismethoden abgrenzt. Goethes Differenzierung von Blick des Künstlers und Blick des Forschers wird sowohl für Aisthesis als Erkenntnismethode als auch für die Selbstbildung des erkennenden Subjekts von Bedeutung sein.

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Die oft geäußerte Skepsis des späten Goethe verdankt sich, wie ich denke, solchen Einsichten; abgeklärt kennt Goethe die Fallstricke der Forschung, weiß um die Vorläufigkeit aller Erkenntnis, bevorzugt die vorsichtige distanzierte Relativierung aller Standpunkte. Goethes Resümee mit 56 Jahren spricht freilich mit einem ganz anderen Überblick als der Traktat der Jugend. Dennoch hat die um 1771 durch Gelegenheit sich situativ entwickelnde Betrachtungsweise einen biographisch bedeutsamen Horizont. Wenn Goethe im Brief vom 13. Januar 1769 an Ernst Theodor Langer vom Labyrinth seiner derzeitigen Lebenssituation spricht137, so erlebt er, ausgelöst durch seine Krankheit, die heterogene Disposition seiner momentanen Existenz. Mit der neu gewonnenen Betrachtungsweise deutet die optimistische Perspektive eines Weges an, disparate Teile in einen Zusammenhang führen zu können138. Die Rekonstruktion von Aisthesis als epistemisch hybride Betrachtungsweise zeigt in ihrem Verhältnis zu Vernunftkonzepten, dass mit differenzierender Modifikation durch sinnlichkeitsbasierte und denkbasierte Anschauung Aisthesis perspektivische Möglichkeiten von Erkenntnis eröffnet, die den Rahmen konstruktivistischer Vernunftkonzepte hinter sich lassen. Auch wenn Wahrnehmungskonzeptionen wie die Goethe’sche bis heute im Diskurs vernunftorientierter Konzeptionen der Erkenntnistheorie randständig als Anomalie (Thomas Samuel Kuhn) diskutiert werden, deuten sich verschiedentlich Paradigmenwechsel an. So hebt Wolfgang Welsch hervor: Als Wahrnehmung richtet sich die aisthesis auf die genuinen Sinnesqualitäten wie Farben, Töne, Geschmäcke, Gerüche. Sie dient der Erkenntnis. Als Empfindung hingegen verfolgt sie eine Gefühlsperspektive. Sie bewertet Sinnhaftes im Horizont von Lust und Unlust.139

Die epistemische Relevanz von Aisthesis, die sich nicht allein in dienender Funktion von Wahrnehmung sowie Gefühlsperspektive für Erkenntnis erschöpft, wird in aktuellen anthropologischen Konzeptionen ebenso diskutiert140 wie in der Phänomenologie141 und im Kontext des Atmosphärenbegriffs von Gernot Böhme.

137 FA 28: 149 f. 138 Zur Konzeption im Kontext des Gestaltbegriffs vgl. Kap. 2.3, im Kontext des Geniegedankens vgl. Kap. 2.4. 139 Wolfgang Welsch: Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart 1996, S. 109. 140 Thomas Fuchs: Leib, Raum, Person: Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Stuttgart 2000. 141 Neben den mehrfach genannten Arbeiten von Hermann Schmitz hier aktuell Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, Frankfurt/M. 2009.

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4.2.3 »...alles Gestalt, und alles zweckend zum Ganzen...«142 – Der Gestaltbegriff

Der dritte Abschnitt von Von Deutscher Baukunst entfaltet mit Aisthesis als Leitmotiv ästhetischer Anschauung die Facetten des Sinnbezirks Gestalt und Ganzheit. Beide Begriffe ermöglichen von Seiten des Objektes her, die zentripetalen Komponenten von Aisthesis zu rekonstruieren. Eine Sammlung deutet die Perspektiven an: Ein »ganzer, großer Eindruck [...] aus tausend harmonierenden Einzelheiten« steht am Anfang; in der Abenddämmerung werden die »unzähligen Teile, zu ganzen Massen [ver]schmolzen […], einfach und groß«; die »Maßen waren notwendig«; im Morgenduftglanz erscheinen die »großen, harmonischen Massen, zu unzählig kleinen Teilen belebt; wie in Werken der ewigen Natur […], alles Gestalt, und alles zweckend zum Ganzen; wie das festgegründete und ungeheure Gebäude sich leicht in die Luft hebt; wie durchbrochen alles und doch für die Ewigkeit.«143

Die erste Verwendung des Gestaltbegriffs findet sich im zweiten Abschnitt, wenn es vom Genius heißt: »Er ist der erste aus dessen Seele die Teile, in Ein ewiges Ganze zusammen gewachsen, hervortreten.«144 Im vierten Abschnitt wird der Geniegedanke variiert, durch den Meister seien im Kunstwerk »zuerst die zerstreuten Elemente, in ein lebendiges Ganze zusammen[geführt]«145. Systematisch differenziert umfasst der Gestaltbegriff • die morphologische Relation von Teil und Ganzem, • den Begriff Ganzheit: 1. mit den Attributen groß, harmonisch und notwendig, 2. sowohl einer entelechischen als auch teleologischen Perspektive (»zweckend«), 3. mit der Opposition Leichte vs. Schwere als internem immanenten Gegensatz (»wie das festgegründete und ungeheure Gebäude sich leicht in die Luft hebt; wie durchbrochen alles und doch für die Ewigkeit«), • ein naturphilosophisch orientiertes Beschreibungskonzept (»lebendiges Ganze«, »zusammen gewachsen«, »wie in Werken der ewigen Natur«), das Kunstwerke analog Natur ganzheitlich begreift und im Sinnbezirk von Bildung operiert146. Die Übersicht zeigt: Im Zuge des biographisch motivierten epistemischen Leitmotivs praktiziert Goethe hier erstmals im Sinnbezirk von Gestalt die morphologische Betrachtungsweise, die konzeptionell und methodisch das naturwissenschaftliche 142 143 144 145 146

Von deutscher Baukunst in: FA 18: 115. FA 18: 114 ff. FA 18: 112. FA 18: 116. Für die Bezüge zum Geniegedanken vgl. das folgende Kapitel.

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Forschen wie seine ästhetischen Betrachtungen Zeit seines Lebens ebenso prägen wird. Besondere Aufmerksamkeit soll deshalb den in dieser Verwendungssituation aktivierten Bedeutungsperspektiven von Gestalt und Ganzheit gelten. Der Forschung fällt es schwer, Goethes Gestaltbegriff zu bestimmen. Im Goethe-Handbuch erwähnt Hans Joachim Becker für den Begriff des Organismus zwar den zeitgenössischen Diskurs von Präformations- und Epigenesis-Lehre, nennt Johann Friedrich Blumenbachs Begriff des Bildungstriebs, bleibt dann aber wage, wenn er ausführt, dass sich Goethe »hier«147 , gemeint ist der Diskurs insgesamt, anschließe. Wiederholt ist die Auffassung vertreten worden, dass Goethes Gestaltbegriff in der Präformationslehre begründet sei148. Annette Simonis vertritt die These, dass der Gestaltbegriff generell eine »holistische Figur« mit einem »spezifischen Einheits- und Identifikationsversprechen«149 sei, und diskutiert speziell den Gestaltbegriff des Baukunstaufsatzes als ein »Totalitätsschema«150, das als Modell eines ästhetischen »Totalitätsmuster[s] … sich gegen den Trend der Moderne« behaupte151. Simonis leitet ihre These aus zwei Beobachtungen ab. Der »ästhetischen Beschreibungsintention«152 liege ein entelechisches Konzept von Organismus zugrunde und beim frühen Goethe dominiere ein »unverkennbarer Hang zum Monumentalen«; Ansätze von »Dekomposition« und »Defiguration« berücksichtigt sie in letztgenanntem Zusammenhang randständig als »Widerspruch«153. Vergleicht man den Befund von Simonis mit der obigen Systematik des Gestaltbegriffs, so zeigt sich zunächst eine weitgehende Übereinstimmung hinsichtlich der identifizierten Komponenten. Diese, auch im ideengeschichtlichen Zusammenhang, interpretierend, komme ich zu anderen Ergebnissen. Die Bewertung als Totalitätsschema durch Simonis resultiert offensichtlich aus einem präformativen Verständnis von Entelechie sowie einem ontologischen Konzept von subsumierender und umgreifender Ganzheit. Simonis bewegt sich mit dieser Interpretation in einem Diskurs über Ganzheit, dessen Argumentationsmuster im Anschluss an Meyer-Drawe in Kap. 2.1 thematisiert worden sind154. Kritisch wird 147 Hans Joachim Becker: Organismus, in: Goethe-Handbuch, Bd. 4/2, Stuttgart und Weimar 2004, S. 812. 148 So u.a. im Goethe-Handbuch Andreas Anglet: Gestalt, in: Goethe-Handbuch, Bd. 4/1, Stuttgart und Weimar 2004, S. 381 ff. Vgl. Kap. 7.2 zur Bedeutung von Präformationsund Epigenesebegriff. 149 Annette Simonis: Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin. Diskursgeschichte einer deutschen Denkfigur, Köln, Weimar, Wien 2001, S. VII. 150 Ebd., S. 29. 151 Ebd., S. 366. 152 Ebd., S. 27. 153 Annette Simonis: Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin, a.a.O., S. 29. 154 Vgl. dort im Anschluss an die Konzeption von Meyer-Drawe die Ausführungen zum

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gegen Ganzheitsparadigmen eingewendet, dass sie geschlossene Systementwürfe mit Anspruch auf universelle Gültigkeit und Letztbegründung seien, die auf eine Ursprungslogik und/oder ein Telos insistieren. Unter diesen Voraussetzungen sind sie in der Moderne als metaphysische Begründungsmuster nicht mehr diskursfähig. Hier soll auf genauere Zusammenhänge dieses Moderne-Diskurses nicht näher eingegangen werden. Bemerkenswert erscheint mir aber, dass Simons mit ihrer Argumentation unreflektiert einem Denkmuster der Moderne folgt, das Ganzheit monistisch diskutiert – und das paradigmatisch im Kontext materieller Verursachung. Präformativ verstandene Entelechie und umgreifende Ganzheit sind dann die Optionen eines materialistischen Monismus, die ideologiekritisch diskutiert werden. Damit legt Simonis jedoch ein Rekonstruktionsmodell auf den Goethe’schen Ansatz, das diesen aus historischen und systematischen Gründen verfehlen muss. Zunächst möchte ich einwenden, dass die unter ontologischen Prämissen argumentierende Bewertung von Simonis die Bedeutung des Begriffes Ganzheit in Von Deutscher Baukunst einseitig verkürzend auslegt und seine eigentliche Dimension ausblendet. Um das zu verdeutlichen, greife ich noch einmal die entsprechende Sequenz des Baukunstaufsatzes auf: Wie frisch leuchtet er [der Turm; J.S.] im Morgenduftglanz mir entgegen, wie froh konnt ich ihm meine Arme entgegen strecken, schauen die großen, harmonischen Massen, zu unzählig kleinen Teilen belebt; wie in Werken der ewigen Natur, bis aufs geringste Zäserchen, alles Gestalt, und alles zweckend zum Ganzen; wie das festgegründete und ungeheure Gebäude sich leicht in die Luft hebt; wie durchbrochen alles und doch für die Ewigkeit.155

Mit Simonis könnte man in den letzten Satzteilen unter rein ontologischer Prämisse Totalitätsmuster mit Anspruch auf absolute Geltung ausmachen (»alles Gestalt, und alles zweckend zum Ganzen«). Man müsste dann, ihr argumentativ folgend, einen präformativen Entelechiebegriff sowie einen metaphysisch konstruierten Teleologiebegriff annehmen und konsequenter Weise die Widersprüche der beiden letzten Teilsätze als Ansätze von »Dekomposition« und »Defiguration« auffassen, die der zentralen Aussage untergeordnet sind. Tatsächlich mag »alles Gestalt, und alles zweckend zum Ganzen« in seiner Wirkung auf den Leser prägnant hervortreten, die Grammatik des Satzes motiviert eine solch exponierte Bedeutung jedoch nicht. Die Dualismus im Kontext der Leib-Geist-Relation sowie zu Adorno und zur Postmoderne. Die folgende Argumentation nimmt insbesondere auch für Goethes Aisthesiskonzept auf Kap. 2.1 Bezug. 155 FA 18: 115.

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letzten Satzteile sind grammatikalisch gleichwertig. Auf semantischer Ebene müsste demnach die Opposition Leichte vs. Schwere als intern immanenter Differenz-Zusammenhang von Gestalt/Ganzheit interpretiert werden. Mit solchen widersprüchlichen Optionen wäre Ganzheit dann aber kein Totalitätsmuster, sondern ein holistisch viables Konzept, die gegensätzlichen Komponenten zusammen zu denken, ohne die Differenz aufzuheben. Für diese Lesart spricht, dass Goethe Zeit seines Lebens für Natur- und Kunstbetrachtung jede Art metaphysisch motivierter Präformation und transzendenter Zweckkonstruktion ablehnt und eine Immanenzphilosophie kultiviert, die sowohl den Eigenwert des Ganzen wie des Individuellen betont. Es zeichnet sich ab, dass die Lesart als Totalitätsmuster nicht zu halten ist156. Im Satzbau drängt sich aber noch eine andere Besonderheit auf: die Wie-Konstruktionen, welche einen elliptischen Satzbau motivieren, der semantisch auf Unmittelbarkeit hinweist157. Diese Beobachtung auf der syntaktischen Ebene aktiviert weiterführende semantische Varianten. Die in Rede stehende Textsequenz inszeniert im »Morgenduftglanz« (man beachte die Synästhesien) multiperspektivisch eine Atmosphäre zwischen Beobachter und Beobachtungsobjekt. In den ersten Satzteilen wird das ästhetische Phänomen durch sinnliche Anschauung erfasst (»Wie frisch leuchtet er im Morgenduftglanz mir entgegen«). Mit dem Wandel der Lichtverhältnisse von Nacht zu Tag verliert sich der Eindruck harmonischer Form des Ganzen zugunsten einer erlebten lebendigen Differenzierung der Teile. Die unterschiedlichen Eindrücke in der zeitlichen Folge des Betrachtungsprozesses spielen in der Erzählung ineinander und werden durch diese zu einer Ganzheit verbunden. Keinesfalls ist von einer synchron erfassten, subsumierend und übergreifend verstandenen absoluten Ganzheit die Rede. Die Form der Darstellung ist erzählte Verbindung unterschiedlicher Wahrnehmungen, die als unterschiedliche nicht aufgelöst, sondern in ihrer Differenz als ein Ganzes modelliert werden. Dem Zusammenschauen der einzelnen Wahrnehmungen korrespondiert eine entsprechende Form gedanklicher Auseinandersetzung: Die sinnliche Anschauung löst im Betrachter eine innere Belebung aus (»wie in Werken der ewigen Natur, bis aufs geringste Zäserchen, alles Gestalt, und alles zweckend zum Ganzen«). Man greift sicherlich zu kurz, in dem Zusammendenken der einzelnen Komponenten nur eine rhapsodisch mäandernde Assoziation zu sehen158. Zwar vermeidet Goethe Stil und Form systematischer Abhandlung, spricht in Andeutungen und ohne argumenta156 Vgl. Martin Bollacher: Baruch de Spinoza, in: Goethe-Handbuch Bd. 4/2, hrsg. von Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto, Stuttgart und Weimar 2004, S. 999–1003 sowie zum Begriff Pantheismus S. 828–831. Vgl hier das Kap. 5. 157 Zur Bedeutung der Sprache der Begeisterung vgl. das Kap. 4 im Folgenden. Valk spricht von szenischer Gestaltung. Thorsten Valk: Der junge Goethe, a.a.O., S. 218. 158 So Thorsten Valk: Der junge Goethe, a.a.O., S. 218.

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tive Zielführung. Aber er vollzieht ein Gedankenexperiment (Wiesing), mit dem morphologische Methodik, Naturauffassung und Ästhetik verbunden und zu einem integrativen Gesamtkomplex der Auseinandersetzung modelliert werden – das Ganze ist von Bildung als konstitutiver Kategorie in dem Sinne durchzogen, dass sie sowohl als gestaltendes Prinzip als auch als Gestaltetes im Hintergrund mitgedacht werden muss. Berücksichtigt man Aisthesis als Kontext des Ganzheitsbegriffs, so liegt es gemäß dieser Überlegungen näher, gegenüber der ontologischen die epistemische Bedeutung dieser Sequenz stärker zu betonen. Das entspricht den Intentionen des jungen Goethes, erfahrungsgestützte Anschauung zu praktizieren, die kaum in systematische Theoriekonzeption aufgehen soll, dafür aber ganz im Zeichen von Selbstbildung steht. Nach dieser Lesart wird die ontologische Option des epistemischen Ansatzes keinesfalls von mir geleugnet, sie wird aber unter eine perspektivische Bedingung gestellt. In dieser zeigt sich eine prinzipielle Offenheit, die systematische Geschlossenheit unterläuft. Als Resümee der bisherigen Rekonstruktion verstehe ich den Gestaltbegriff Goethes als offene Ganzheit und werde ihn als solche weiter diskutieren. Ideengeschichtliche Bezüge, sofern diese Goethes Denken in der Zeit um 1770– 1773 betreffen159, können die vorgeschlagene Lesart von Gestalt/offener Ganzheit im Zusammenhang von Immanenzphilosophie differenzieren und weisen auf Referenztheorien und Abgrenzungsstrategien Goethes. Wenn man dem alten Goethe folgen darf, so wird ein bestimmter Entelechiebegriff perspektivisch schon in der Straßburger Zeit angelegt. Im Vorherigen habe ich für diesen Zusammenhang auf das elfte Buch von Dichtung und Wahrheit verwiesen. Wenn dort der Materialismus von Paul Thiry d’Holbachs Systême de la Nature verworfen wird, so zielt diese Ablehnung vor allem auf den materialistischen Determinismus, der ein freies, ursächliches geistiges Prinzip leugnet160. Ein solches wird nun aber von Goethe als entelechische Denkoption offensichtlich schon um 1770 ins Spiel gebracht161. Auch die Ephemerides vom Frühjahr 1770 mit ihren Spekulationen über eine »Kraft des Zusammenhaltens im Menschen«162 in einer Dialektik von Differenz und Einheit weisen in die gleiche Richtung. Entelechie wird als ein inneres Aktprinzip für eine erscheinende Gestalt verstanden. Das Verhältnis von innen und außen denkt Goethe ineinander verschränkt, im Sinne einer Dialektik 159 Vgl. zu genaueren und ergänzenden Rekonstruktion systematischer und ideengeschichtlicher Aspekte Kap. 7. 160 FA 14: 534 f. 161 Vgl. FA 14: 535. 162 FA 28: 202.

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des Sich-Zeigens und Sich-Verbergens163; dieses Denkmodell von Gestalt, das die Idee als Bewirkendes für den Stoff auffasst, unterscheidet sich mit seinem spezifischen Monismus164, der Differenziertes in ein Ganzes modelliert, von materialistisch monistisch orientierten Denkansätzen, wie sie der junge Goethe kritisiert und wie sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Zuge der Evolutionstheorie für die Naturwissenschaften paradigmatischen Status haben, aktuell u.a. im Diskurs von autopoietischer Organisation165. Goethe lehnt nun aber, wie eben erwähnt, jede Art metaphysisch oder theologisch begründeter Transzendenz- und Teleologiekonzepte ab, denkt also strikt immanent. Für den als offene Ganzheit konzeptionierten Gestaltbegriff muss deshalb das Verhältnis von Immanenz und Dualismus markiert werden. Dieser Zusammenhang lässt sich beleuchten, wenn der bedeutende Einfluss der Philosophie Baruch de Spinozas auf Goethe berücksichtigt wird. Zwar setzt eine nachweisbar erste interessiert intensive Rezeption des Spinozismus erst um 1773 ein – noch 1770 steht Goethe Spinoza kritisch gegenüber, dann wird dieser zusehends

163 Zur Relation und Unterscheidung von innen vs. außen sowie der damit verbundenen »Dialektik von Sich-Zeigen und Sich-Verbergen« im Rahmen einer »Physiognomik in der Naturwissenschaft« vgl. Gernot Böhme: Atmosphäre, a.a.O., S. 202–207, Zitat S. 202. Ob Goethe damit kategorisch nach Begriff/Idee und Erscheinung (bspw. im Sinne Kants) differenziert oder schon zu dieser Zeit die Indifferenz der Oberfläche betont – im Sinne ästhetischer Anschauung kann sich das entelechische Prinzip verkörpern: »Natur hat weder Kern/Noch Schale,/Alles ist sie mit einemmale« (Unwilliger Ausruf, in: FA 24: 523. Dazu Goethe-Jahrbuch 2011, S. 98 ff.) – muss hier offen bleiben. 164 Zur Verwendung des Begriffs Monismus: Da Goethe stark vom Substanzmonismus Spinozas angeregt ist, ist zu bedenken, dass Spinoza die Substanz Gottes sowohl als denkenden Geist als auch als ausgedehnten Körper bestimmt, deshalb pantheistisch Natur=Gott behauptet. Goethe versteht diesen Substanzmonismus in der Weise, dass das geistige Prinzip letztlich verursachend ist. Damit modelliert Goethe einen Differenzzusammenhang in monistischer Konzeption: einen immanenten Seins-Dualismus. Das ist deutlich zu markieren, um das Goethesche Konzept von materialistisch monistischen Konzepten abgrenzen. Vgl. Baruch de Spinoza: Ethik, in: ders.: Werke Bd. 2, hrsg. von Konrad Blumenstock, Darmstadt 22011, 2. Teil, die sieben Definitionen am Anfang und die beiden ersten Lehrsätze, S. 161 ff. Vgl. auch die folgenden Ausführungen. 165 Der von Humberto R. Maturana geprägte Begriff der Autopoiesis bezog sich zunächst auf die Biologie, hat aber generelle Bedeutung für gegenwärtige Denkansätze gewonnen (vgl. dazu Kap. 2). Vgl. Humberto R. Maturana, Francisco J. Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens, Frankfurt/M 42011, S. 55. Indem meine Lesart in historisch-rekonstruktiver Weise den differenziert ganzheitlichen Gestaltbegriff Goethes aktiviert, kann er als ein Gegenkonzept zu den aktuellen materiell monistisch orientierten Konzepten verstanden werden und verspricht neue Einsichten in Selbstbildungsprozesse, die mit dem Autopoiesisbegriff verbunden sind.

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die philosophische Instanz einer Befreiung vom Glauben166 –, doch treten in seinem Denken Maximen hervor, die den fundamentalen Prinzipien des Spinozismus sehr nahestehen167 und sich in ihn als philosophischem Medium um 1773 und dann 1784/85 durchaus transformatorisch eigenständig entwickeln.168 Das betrifft besonders Goethes philosophische Reflexion über die Freiheit von Zwecken in Natur und Kunst, die das Ganze perspektivisch denkt, indem sie extern zweckhafte Ursachen ablehnt. Goethe äußert sich in einem späten Brief vom 29. Januar 1830 an Zelter darüber: [E]s ist ein grenzenloses Verdienst unseres alten Kant um die Welt, und ich darf auch sagen um mich, daß er, in seiner Kritik der Urteilskraft, Kunst und Natur nebeneinander stellt und beiden das Recht zugesteht: aus großen Prinzipien zwecklos zu handeln. So hatte mich Spinoza früher schon in dem Haß gegen die absurden Endursachen gegläubiget. Natur und Kunst sind zu groß um auf Zwecke auszugehen, und haben’s auch nicht nötig, denn Bezüge gibt’s überall und Bezüge sind das Leben.169

Dem korreliert die pantheistische Überzeugung von der »Einheit Gottes und der Natur«170; »Pan! Universum!« (Herder)171, der Deus-sive-Natura-Gedanke als ein Leitmotiv der Naturauffassung Goethes. Im Kontext dieser Immanenzphilosophie erkennt er das »göttliche Wesen […] nur in und aus den rebus singularibus«172 – der erwähnte Differenzzusammenhang, der den Substanzmonismus Spinozas transformiert173. Im Begründungszusammenhang der Immanenzphilosophie betont Goethe 166 Vgl. zu Goethes Spinozarezeption grundlegend Martin Bollacher: Der junge Goethe und Spinoza. Studien zur Geschichte des Spinozismus in der Epoche des Sturms und Drangs, Tübingen 1969; vgl. S. 17–22 und 121 ff. Vgl. auch Hermann Schmitz: Goethes Altersdenken im problemgeschichtlichen Zusammenhang (1959), Bonn 2008, darin den Spinozaexkurs S. 11 ff. 167 Martin Bollacher: Der junge Goethe und Spinoza, a.a.O., S. 116. 168 Bollacher berücksichtigt meiner Auffassung nach diese durchaus eigenständig eigenwillige Aneignung Goethes zu wenig und geht in der Tendenz über offensichtliche Differenzen hinweg, welche ich in Kap. 5 rekonstruieren werde. 169 Brief vom 29. Januar 1830 an Zelter, in: FA 38: 223. Vgl. Martin Bollacher: Baruch de Spinoza, in: Goethe-Handbuch Bd. 4/2, S. 1002. Vgl. Baruch de Spinoza: Ethik, a.a.O., den Anhang des 1. Teils, besonders S. 151: »[U]nd dass alle Endursachen nur menschliche Erdichtungen sind«. 170 Martin Bollacher: Baruch de Spinoza, a.a.O., S. 1000. 171 Martin Bollacher: Der junge Goethe und Spinoza, a.a.O., S. 167–175, Zitat S. 167. 172 Brief vom 9. Juni 1785 an F. H. Jacobi, in: FA 29: 583, Hervorhebung vom Verfasser. 173 Vgl. zum Substanzbegriff Spinozas, der Gott als zugleich denkendes als auch ausgedehntes Wesen bestimmt, den 1. und 2. Lehrsatz des 2. Teils der »Ethik«: Baruch de Spinoza:

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den Eigenwert des Diesseitigen in seiner Bezüglichkeit, was für Goethe bedeuten wird, Bezüglichkeit in der Wahrung der Differenz zusammenzudenken. Ich möchte an dieser Stelle zunächst nur darauf hinweisen, dass sich mit diesem Sachverhalt eine kontrastive Spannung zwischen der Ganzheit eines Individuums und dem Ganzen als Kontext ergibt (wie Goethe den Spinozismus 1784/85 eigenwillig auslegt); die Kompatibilität dieser Polarität wird noch zu diskutieren sein, denn der Eigenwert des einzelnen ist in Spinozas Philosophie randständig diskutiert und widerspricht dieser174. Es bleibt im ideengeschichtlichen Kontext festzuhalten: Jede teleologisch motivierte Letztbegründung ist Goethe verdächtig; Ganzheit kann für ihn nur als perspektivisch offene Ganzheit konzeptioniert werden. Goethe leitet aus Spinozas Substanzmonismus keinen materialistischen Monismus ab, sondern greift besonders den Immanenzgedanken auf und versteht die Idee-Erscheinungs-Relation ohne »[m]etaphysische Vorstellungsart«175. Goethe grenzt sich demnach sowohl von metaphysischen als auch materialistisch monistischen Konzepten ab. Der innen und außen verschränkende Gestaltbegriff der Immanenz erweist sich als frühe Grundkategorie im Denken Goethes, er begründet die Denkform offener Ganzheit, welche die Theoriekonstruktion der Morphologie und ästhetisches Denken entscheidend bestimmt.

4.2.4 »... der erste aus dessen Seele die Teile, in Ein ewiges Ganze zusammen gewachsen, hervortreten«176 – Der Geniegedanke im Kontext moderner Identitätsproblematik

In der Rezeptionsästhetik von Aisthesis erschien der Betrachter des Kunstwerkes durch »intuitive Teilhabe«177 als kongenialer zweiter Schöpfer der Werkgestalt. Als ein solcher »second maker«178 wurde im Diskurs der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts Ethik, a.a.O., S. 163 ff. 174 Vgl. dazu Kap. 5.3 und Wolf von Engelhardt: Goethes Weltansichten. Auch eine Biographie, a.a.O., S. 164–166, wo Widersprüche zwischen Spinozas Philosophie und Goethes Auffassung aufzeigt werden, wobei Engelhardt die Autorenschaft Goethes für die Skizze bestreitet. 175 Brief vom 9. Juni 1785 an F. H. Jacobi, in: FA 29: 583. 176 Von deutscher Baukunst, FA18: 112. 177 Thorsten Valk: Der junge Goethe, a.a.O., S. 226. Ich folge an dieser Stelle den Ausführungen Valks. 178 Thorsten Valk: Der junge Goethe, a.a.O., S. 225. Vgl. für den Kontext der Genieästhetik, auf den ich nur randständig eingehe, die Ausführungen Valks.

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allgemein eigentlich der Künstler aufgefasst; Goethe nun stilisiert den Baumeister im Baukunstaufsatz als einen ersten Schöpfer, im ersten Abschnitt im Motivzusammenhang der Genesis, im fünften erscheint er als nordischer Prometheus179. Der Bedeutung dieser Konzeption geht meine Rekonstruktion des Geniegedankens in Von Deutscher Baukunst nach, die ich durch eine Rekonstruktion der Fassung in Zum Shakespears Tag ergänze; den Geniegedanken in seiner Leitbildfunktion für Selbstbildung durch Umbildung zu bestimmen, motiviert die Ertragsperspektive180. Ich stelle zunächst die entscheidenden Textsequenzen zusammen, die für sich und in ihrer Anordnung schon bezeichnend sind. Im ersten Abschnitt heißt es zum Genie des Baumeisters: Wenigen ward es gegeben, einen Babelgedanken in der Seele zu zeugen, ganz, groß, und bis in den kleinsten Teil notwendig schön, wie Bäume Gottes; wenigern, auf tausend bietende Hände zu treffen, Felsgrund zu graben, steile Höhen drauf zu zaubern, und dann sterbend ihren Söhnen zu sagen: ich bleibe bei euch, in den Wolken meines Geistes, vollendet das begonnene in die Wolken.181

Der zentrale dritte Abschnitt wird durch zwei Varianten eines Gedankens im zweiten sowie vierten Teil umrahmt: Er [das Genie; J.S.] ist der erste aus dessen Seele die Teile, in Ein ewiges Ganze zusammen gewachsen, hervortreten.182 […] [D]as Werk des Meisters, der zuerst die zerstreuten Elemente in Ein lebendiges Ganze zusammen schuf.183

Das Genie erschafft aus seiner Empfindung originäre Entwürfe »lebendige[r] Schönheit«184 ohne Vorbild, ist kein Konstrukteur, der im Rahmen von Strukturen nachahmend gestaltet, ergänzt der zweite Abschnitt, im vierten wird der enge Bezug

179 FA18: 110 und 118. Johann Peter Eckermann zitiert aus seinem Gespräch mit Goethe über den Geniegedanken am 11. März 1828: »Derjenige, der zuerst die Formen und Verhältnisse der altdeutschen Baukunst erfand, so daß im Laufe der Zeit ein Straßburger Münster und ein Kölner Dom möglich wurde, war auch ein Genie« (FA 39: 652). 180 Ich vernachlässige bei meiner Rekonstruktion die religiös anmutende Inbrunst der Verehrung und Verklärung der Künstler. 181 FA 18: 110. 182 FA 18: 112. 183 FA 18: 116. 184 FA 18: 111.

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von »Wahrheit und Schönheit«185 betont. Er enthält die grundsätzliche anthropologische Begründung allen ästhetischen Schaffens: Denn in dem Menschen ist eine bildende Natur, die gleich sich tätig beweist, wann seine Existenz gesichert ist.186

Der fünfte Abschnitt unterscheidet Empfindung von Witz und grenzt mit der Bestimmung dieser Vermögen das originäre Schaffen von eklektischer Nachahmung ab187; abschließend wird durch das sich steigernde Konditionalsatzgefüge der nordische Prometheus noch einmal stilistisch und inhaltlich prägnant stilisiert188. Die schon erwähnte gedankliche Konstruktion des Baukunstaufsatzes tritt unter der Rekonstruktionsperspektive des Geniegedankens prägnant hervor. Um das zentrale Paradigma von Selbstbildung durch Umbildung im Medium von Aisthesis sind, sich gegenseitig spiegelnd, Komponenten des Geniegedankens angeordnet, wobei zweiter und vierter sowie erster und fünfter Abschnitt korrespondieren. Goethe entscheidet sich offensichtlich bewusst gegen eine linear-systematisch argumentierende Abhandlung und für eine ästhetisch anmutende symmetrische Anordnung, mit der sich im Motivgefüge wechselseitige Relationen und Spiegelungen ergeben189. Die in der Literatur wiederholt problematisierte Relation von Form und Inhalt des Aufsatzes ist in diesem Lichte zu betrachten. Zeigt sich doch nicht nur in Goethes literarischen Produktionen (u.a. Sesenheimer Lieder) dieser Zeit eine besondere individuelle Formkraft in Sprache, Stil und Komposition, die neue Ausdrucksformen sucht. Auch in philosophischen Texten zur Ästhetik durchbricht er formal-stilistisch Rhetorik und Argumentation von Philosophie und Aufklärung, indem er neue Formen erprobt. Entgegen anderer Deutungen meine ich, dass durch das alttestamentarische Motiv das menschliche Genie mit seinem »Babelgedanken« nicht mit dem christlichen Schöpfergott identifiziert wird oder gleichgesetzt werden darf, sondern dass das alte 185 FA 18: 116. 186 Ebd. 187 FA 18: 117 f., vgl. zu Witz als Kraft des Verstandes, mit gedanklicher Schärfe und Schlagfertigkeit Beziehungen zwischen Dingen herzustellen in Opposition zu Empfindung als Vermögen, Ganzheit und Einheit zu denken, MA 1.2: 844 (Kommentar) und FA 18: 1110 (Kommentar). 188 Vgl. FA 18: 118, den letzten Absatz des Textes. Vgl. den Kommentar zu Herders Emotionalstil in FA 18: 1107. 189 Zu dieser formalen Anlage, aber mit anderen Interpretationsakzenten, vgl. Thorsten Valk: Der junge Goethe, a.a.O., München 2012, S. 219 f. Valk spricht von einem »ringkompositorischen Muster« (S. 220). Vgl. in Kap. 2.2 die Ausführungen zu Wiederholte Spiegelungen, welche sich als Kompositionsprinzip an dieser Stelle deutlich zeigen.

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Motiv menschlicher Hybris von Goethe uminterpretiert wird190. Das Genie schafft das Außerordentliche und hebt sich damit nicht allein von anderen menschlichen Tätigkeiten ab, sondern emanzipiert sich auch von einem allmächtigen Schöpfergott191. Seine Kreativität gestaltet umfassend (vom »Felsengrund« bis zu den höchsten »Höhen«) ein grundsätzlich Neues, und über seinen Tod hinaus lebt es für die Nachwelt unsterblich in seinen Werken fort: Ich erkenne in dieser Bestimmung des Genies den außerordentlichen Menschen, sein Wirken in der Immanenz, mit dem er sich von jeder Art externer Autorität und Führung emanzipiert (pikanter Weise an einem christlichen Bauwerk realisiert) und souverän sich selbst entwirft. Die semantische Konstruktion des »Babelgedanken[s]« wird mit »ganz, groß, und bis in den kleinsten Teil notwendig schön« bestimmt und im Sinne naturphilosophischer Ideen als lebendige Ganzheit verstanden, die als Kompositionsmuster den Schaffensprozess durchzieht. Entscheidend ist hier, dass es sich um das Leitmotiv des Schaffens handelt, nicht um das Bauwerk als Produkt192. Natur ist für Goethe grundsätzlich in ihren Teilen wie auch als Ganzes lebendiger Organismus und damit nie ganz realisiert und vollendet, sondern immer im Prozess; in diesem Zusammenhang von einem Totalitätsmuster zu sprechen, ist insofern abwegig. Um so mehr, als Goethe (und es ist unerheblich, ob bewusst oder unreflektiert) in der vorliegenden Textsequenz zwischen Idee und Realisierung differenziert sowie ästhetische Rezeption und gestalterische Weiterentwicklung/Vollendung, entsprechend der naturphilosophischen Auffassung, als einen offenen Prozess thematisiert193. Bemerkenswert ist dabei, dass schon im Enthusiasmus des jungen Goethe Natur und Kunst, Bildung in der Natur und ästhetische Gestaltung, korrelativ gedacht sind und ein Grundmotiv seiner Weltanschauung prägen. Korrespondierend verkörpert Prometheus als mythologische Gestalt im fünften Abschnitt nachdrücklich Selbstbehauptung und Selbstentwurf in Horizont von Immanenz – der Rebell, der sich von alten Autoritäten lossagt. Im Hymnus Prometheus von 1774 verdichtet sich das Motiv. Es herrschen Zeit und Schicksal, die Götter existieren dagegen »kümmerlich« durch religiöse Rituale und haben alle Gestaltungskraft 190 Thorsten Valk: Der junge Goethe, a.a.O., S. 225, geht von einer blasphemischen »Gleichsetzung des künstlerischen Genies mit dem christlichen Schöpfergott« aus. 191 Wenn die Ideen des Genies »wie Bäume Gottes« erscheinen, ist die Differenz zwischen Subscriptio und Pictura des Vergleichs zu beachten. Es geht nicht um eine Gleichsetzung (Valk), sondern um das prinzipiell Neue, was das Genie schafft. 192 So auch sinngemäß Annette Simonis: Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin. Diskursgeschichte einer deutschen Denkfigur, Köln u.a. 2001, S. 26. 193 Annette Simonis: Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin, a.a.O., S. 27 sowie S. 30, wo es zu Kreativität und Bildung generell heißt, sie könne »nichts anderes erzeugen als ästhetische Ganzheiten und Totalitätsmuster.« Vgl. auch Kap. 2.3 zum Gestaltbegriff.

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eingebüßt, Prometheus jedoch modelliert die Erde, das Menschengeschlecht und stiftet das Feuer194. Er ist Schöpfer einer neuen Ära und Stifter ihrer Kultur. Der Baukunstaufsatz betont für das Genie, dass es dies kraft seiner Empfindung vermag, die im Gegensatz zu in Erkenntnisgrenzen operierendem Witz/Scharfsinn des Verstandes als ein multifunktionales Vermögen ein Ganzes modellieren kann. Mit ähnlicher Aussageabsicht geht Goethe auf das Prometheusmotiv auch im 15. Buch von Dichtung und Wahrheit ein. Er verweist dabei auf die persönliche Bedeutung (Bezug zur Naturgabe des eigenen produktiven Talents)195 und hebt auch in autobiographischer Hinsicht hervor, dass sich Kreativität aus der gleichen Quelle speist, aus der heraus die lebendige Natur schafft. Im zweiten und vierten Abschnitt dient die Teile-Ganzes-Relation dazu, die Produktivität des Genies als ganzheitlich zu charakterisieren. Während die zitierte Textsequenz des zweiten Abschnitts die kreative Kraft es Genies betont, Teile in einem Zusammenhang so modellieren zu können, dass dieser als Ganzheit gestaltet erscheint, wird in der von mir dazu gestellten Sequenz des vierten Abschnitts das Produkt als ganzheitliche, dabei vielgliedrig aus Teilen gefügte Gestalt dargestellt. Auch in dieser Spiegelung wird die Produktivität des Genies aus natürlicher Quelle betont und gegenüber konstruierender Nachahmung abgegrenzt. Dieses Naturhafte charakterisiert Goethe differenziert196. Das Genie rezipiert nicht, ist vielmehr »unbekümmert, ja unwissend«197 in Bezug auf konkret existierende Diskurse und tradierte Handlungsmuster; es strebt zu einer Sphäre von Ewigkeit, Wahrheit und Schönheit, aus der heraus es seine Gestaltungsimpulse als Intuition198 empfängt – d.h. für Goethe, das Genie schöpft unmittelbar aus natura naturans. Wenn Goethe in diesem Kontext davon ausgeht, dass Bildung eine zentrale anthropologische Kategorie ist, hat das Genie auf der Skala unzähliger Grade von Bildung eine exklusive Stufe erreicht, die es befähigt, emanzipiert von allen gesellschaftlich- historischen Gegebenheiten, ein Neues unmittelbar aus der Natur zu gestalten, während sich Bildung in den meisten Fällen im Kontext kultureller Bedingungen vollzieht. Quellort ist ein geistiger Raum zentrifugal-zentripetaler Kommunikation des Genies mit einem Absoluten, von dem aus ein Funke überspringt, der zu originärem Schaffen anregt.

194 FA 1: 203 f. 195 FA 14: 695 f. 196 Vgl. FA 18: 116 ff. Ich fasse im Folgenden die Gedanken Goethes interpretierend zusammen. 197 FA 18: 117. 198 Goethe verwendet den Begriff der Intuition an dieser Stelle nicht explizit, der Gedanke impliziert ihn aber. Über Intuition als Begriff und als Form von Erkenntnis reflektiert Goethe erst im Kontext seiner intensiven Spinozalektüre 1784/85. Vgl. dazu im Kap. 5.

4.2 Zum Shakespears Tag – Von Deutscher Baukunst

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Entscheidend ist für Goethe in systematischer Hinsicht, dass »Hauptakkorde«199 des Absoluten sehr wohl nach rationalen Kriterien zu klassifizieren sind, dessen Geheimnisse aber allein durch Empfindung erfasst werden; eine letzte Einsicht ist unmöglich. Es bleibt eine unüberwindliche Kluft zwischen Anschauendem und Angeschauten. In der Perspektive dieses nicht zu überwindenden Missing Link ist das originäre Schaffen ein prinzipiell offener Prozess. Es wird immer neue Versuche und Annäherungen an natura naturans geben; in einer Werkgestalt kann ein Gestaltungsprozess seinen wie immer gearteten Abschluss gefunden haben: Jeder Gestaltungsprozess und jede Gestalt wird Bildung als Veränderung und Umgestaltung erfahren. Das Werk eines Prometheus unterliegt der Zeitlichkeit, wird nie real vollendet sein. Es kann nach der Rekonstruktion des Geniegedankens des Baukunstaufsatzes als sicher gelten, dass Goethe die schöpferische Produktivität des Genies unmittelbar aus der Natur besonders betonen wollte. Originäres Schaffen und Umgestaltung unter den Bedingungen von Zeitlichkeit sind die sich wechselseitig bedingenden Komponenten. Wenn Goethe maßgebliche Theoriekonstruktionen des zeitgenössischen Diskurses über Bildung und Ästhetik aufgreift, zeigt der Geniegedanke in seiner Prägung die konzeptionelle Offenheit seiner Programmatik200. In den Gesprächen mit Eckermann kommt Goethe am 11. März 1828 auf die hier rekonstruierten besonderen Merkmale des Genies zurück und differenziert seinen Geniebegriff in entscheidender Weise. Er betont zunächst ganz im Sinne des Baukunstaufsatzes, dass dessen außerordentliche Begabung immer etwas jugendliches, und dass dessen »Produktivität«201 etwas von Inspiration (»Erleuchtung«202) und Intuition (»Aperçu«203) habe. »Wiederholte Pubertät«204 sei das Geheimnis dieser Jugendlichkeit des Genies. Dann präzisiert er die Quelle dieser schöpferischen Kraft: Jede Produktion höchster Art, jedes bedeutende Aperçu, jede Erfindung, jeder große Gedanke der Früchte bringt und Folge hat, steht in Niemandes Gewalt und ist über aller irdischen Macht erhaben. Dergleichen hat der Mensch als unverhoffte Geschenke von oben, als reine Kinder Gottes, zu betrachten, die er mit freudigem Dank zu empfangen und zu verehren hat. Es ist dem Dämonischen verwandt, das übermächtig mit ihm tut wie es beliebt und dem er sich bewußtlos hingibt, während er glaubt, er handele aus eigenem Antriebe.205 199 200 201 202 203 204 205

FA 18: 117. Vgl. zu Konzeptionen ästhetischer Bildung das Kap. 3.2. FA 39: 652. FA 39: 651und 652. FA 39: 653. FA 39: 656. FA 39: 657.

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4 Umbildung als Perspektivierung von Selbstbildung beim jungen Goethe

Goethe verbindet demnach seinen Geniebegriff mit dem Begriff des Dämonischen, für ihn eine Art Urphänomen206, ein Leitbegriff in seinem Denken207. Der Begriff des Dämonischen umfasst für Goethe sowohl eine äußere, Welt, Natur208 und Einzelschicksal umgreifende209 als auch eine innere Dimension, diese als verborgene Tiefenstruktur des Individuums, die als inneres Energiezentrum verstanden werden kann, das widerständig Einspruch gegen die Operationen des Subjekts erheben, aber auch kreatives Aktionspotential zu dessen Handlungsmustern beisteuern kann210. An dieser Stelle ist ein Hinweis auf die Hymne Der Wanderer, wahrscheinlich um 1771 entstanden211, zur Erläuterung und Bedeutung des kreativen Potentials des Dämonischen hilfreich, welche den Geniegedanken variiert und eine interessante Parallelität zur kunsttheoretischen Diskussion sowie zum Gestaltbegriff des Baukunstaufsatzes aufweist. Ein Wanderer, geleitet von Natur212, begegnet in der Nähe von Cumae, einer frühen griechischen Kolonie in Italien, einer Frau; es entspinnt sich ein Gespräch, in dessen Verlauf der Wanderer erstaunt entdeckt, dass sich die Hütte der Frau in einer von der ewig schaffenden mütterlichen Natur213 überwucherten Ruine eines antiken Tempels befindet (»Frau: Das ist meine Hütte!/Wandrer: Eines Tempels Trümmern!«214). Dort findet der Wanderer »[v]on dem Moos gedeckt ein Architrav!/Ich erkenne dich. Bildender Geist/Hast dein Siegel in den Stein geprägt«215. Natur erscheint hier als das verbindende Band von antikem Erbe, Pflanze, Tier und Mensch. Dabei wird auch im Gedicht des Baumeisters, nicht der Funktion des Bauwerks als Wohnung einer wirkenden Gottheit gedacht. Die Säule erscheint als zentrales architektonisches Element216. Noch in den Trümmern lebt der Genius: 206 FA 36: 164; Brief vom 13. April 1821 an Georg Wilhelm Friedrich Hegel. 207 So Theo Buck im Artikel Dämonisches, in: Goethe-Handbuch, 4/1, S. 179. 208 Vgl. zu Welt und Natur als einem entelechischen Organismus u.a. den Brief vom 18. Juli 1828 an Heinrich Emil Friedrich August von Beulwitz: »Die vernünftige Welt ist als ein großes unsterbliches Individuum zu betrachten, welches unaufhaltsam das Notwendige bewirkt und dadurch sich sogar über das Zufällige zum Herrn erhebt«, in: FA 38: 18 und Kommentar S. 592. 209 Vgl. »Urworte orphisch: ΔΑΙΜΩΝ«, in: FA 24: 439. 210 Buck hebt denn auch in dem Handbuch-Artikel u.a. das produktiv-kreative Potential, die »unerforschliche innere Gesetzlichkeit des Menschen« mit semantischen Schnittmengen zum Entelechiebegriff hervor; Theo Buck Dämonisches, a.a.O., S. 180. 211 Der Wanderer, in: FA 1: 208–214; zur Datierung vgl. den Kommentar S. 935. 212 FA 1: 214: »O leite meinen Gang / Natur; den Fremdlingsreisetritt«. 213 FA 1: 213. 214 FA 1: 210. 215 FA 1: 209. 216 Vgl. FA 1: 211, vgl. dazu den 2. Abschnitt des Baukunstaufsatzes: FA 18: 111 ff.

4.2 Zum Shakespears Tag – Von Deutscher Baukunst

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Glühend webst du über deinem Grabe Genius! Über dir Ist zusammengestürzt Dein Meisterstück O du unsterblicher.217

Goethe modelliert demnach auch in einem poetischen Werk dieser Zeit den Bezug von Genie, Natur und geschaffener Gestalt. Und offensichtlich hat der Dualismus des Gestaltbegriffs in diesem Zusammenhang eine konstitutive Funktion und kann als ein Leitmotiv auch in der Dichtung Goethes verfolgt werden, wenn man bedenkt, dass es noch in den am 25./26. September 1826 entstandenen Terzinen über Schillers Schädel heißt: Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen Als das sich Gott=Natur ihm offenbare Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre.218

Noch in anderer Hinsicht ist die Hymne aufschlussreich, sah Goethe doch in ihr ein Zeichen dichterischer Ahnung und »Antizipation«219 von Wirklichkeit, also einer poetischen Gestaltung eines Weltzusammenhangs in Absenz der Sache selbst, wie sie für sein kreativ-dämonisches Aktzentrum kennzeichnend sei: Mein ganzes inneres Wirken erwies sich als eine lebendige Heuristik, welche eine unbekannte geahnete Regel anerkennend, solche in der Außenwelt zu finden und in die Außenwelt einzuführen trachtet.220

An Carl Friedrich Zelter äußert sich Goethe am 28. Juni 1821 in diesem Sinne zur Entstehung von Der Wanderer und zu seiner Fähigkeit als Dichter, weit vor der Italienreise die Wirklichkeit Italiens als Ahnung zu antizipieren:

217 FA 1: 210. 218 Zitiert nach Albrecht Schöne: Schillers Schädel. München 2002, S. 79. Vgl. dort auch zur Rekonstruktion und Interpretation. Vgl. auch FA 2: 684 sowie den Kommentar S. 1200 ff. 219 So im Gespräch mit Eckermann am 26. Februar 1824 über den Goetz von Berlichingen, in welchem Goethe den »echten Dichter« (FA 39: 96 f.) durch dessen Vermögen an Einbildungskraft charakterisiert. 220 FA 13: 35.

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4 Umbildung als Perspektivierung von Selbstbildung beim jungen Goethe

Das ist aber der Vorteil des Dichters, daß er das voraus ahnet und wert hält, was der die Wirklichkeit Suchende, wenn er es im Dasein findet und erkennt, doppelt lieben und höchlich daran erfreuen muß.221

Zum Shakespears Tag bietet weiterführende Perspektiven und neue Varianten. Zunächst eine Bemerkung zu Stil und formalästhetischer Anlage. Goethe arrangiert mit der »rhetorisch inszenierten Spontaneität«222 seiner Hommage an Shakespeare die unterschiedlichsten Textsorten und Gattungen mündlicher und schriftlicher Kommunikation, spielt mit verschiedenen Appellstrategien mündlicher Rede sowie Argumentationsmustern von Abhandlungen, als ob er formalästhetisch die eigene Anverwandlung und Begeisterung für das Genie durch Entgrenzung aus allem Regelwerk demonstrieren wollte. Den programmatischen Text des Sturm und Drang mit seinem »rhapsodischen Stil«223 zentriere ich mit meiner Rekonstruktion um den Geniegedanken, indem ich dessen Komponenten markiere224. Eingangs wird die Würdigung Shakespeares in eine anthropologische Perspektive gerückt: Die Klage, dass es im Bildungsgang des Menschen durch die zu kurz bemessene Lebensspanne unmöglich sei, Ziele des Strebens vollkommen zu erreichen und dass das Schicksal immer wieder durchkreuze, dass sich Potentiale voll entfalten können. Dagegen begehrt das Individuum auf: »Ich! Der ich mir Alles bin, da ich Alles nur durch mich kenne!«225. Die Selbstbildung des Ich wird als Selbstkonstitution und Identität in eine widerständige, modifizierende Lebens- und Schicksalsperspektive gestellt. Jeder Mensch hat sein Maß in sich, die Welt ist Horizont und Widerpart des Bildungsweges zugleich; Selbstbildung ist so differenziert vielfältig, wie es Menschen gibt. Unter diesen Vorzeichen erscheint Shakespeare als begeisterndes Vorbild, das eine Expansion der Persönlichkeit Goethes bewirkte – er habe die »Seele feuriger und größer«226 gemacht. Ausgelöst von einer grundlegenden Umstimmung, welche die Rezeption der Werke Shakespeares in ihm ausgelöste, erschien alles verwandelt in einem neuen Licht. Er habe neu sehen lernen müssen, berichtet der Verfasser227. Indem Goethe hier mit dem Impetus der Aufklärung seine biographisch-weltanschau221 FA 38: 419. 222 Thorsten Valk: Der junge Goethe, a.a.O., S. 214; z.T. übernehme ich mit meiner Analyse hier die Ausführungen Valks. 223 Thorsten Valk: Der junge Goethe, a.a.O., S. 214 224 Zu den dramenästhetischen Aspekten vgl. ebd., S. 212 ff. 225 FA 18: 9. 226 Ebd. 227 Valk spricht von der Lichtmetaphorik der Aufklärung: Thorsten Valk: Der junge Goethe, a.a.O., S. 214.

4.2 Zum Shakespears Tag – Von Deutscher Baukunst

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liche Neuorientierung durch Shakespeares Einfluss als Umbildung kennzeichnet, wendet er sich gegen jede normative Ästhetik und wertet das klassizistische Drama polemisch ab. Die Regelästhetik sowie das nachahmende französische Theater erreichen nicht die großen griechischen Vorbilder in ihrer ästhetischen Wirkung228 und werden verspottet. In einem Absatz werden die Prinzipien der Wirkung Shakespeares konzentriert zusammengefasst: Shakespeares Theater ist ein schöner Raritätenkasten in dem die Geschichte der Welt vor unsern Augen an dem unsichtbaren Faden der Zeit vorbeiwallt. […] [S] eine Stücke drehen sich alle um den geheimen Punkt (den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat) in dem das Eigentümliche unseres Ichs, die prätendierte Freiheit unsres Wollens mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstoßt.229

Dergestalt den zentralen Indifferenzpunkt der Person benennend, erscheinen die Shakespeare’schen Figuren als Verkörperung der Natur des Menschen: »Natur, Natur! Nichts so Natur als Shakepears [sic!] Menschen.«230: Shakespeare als Prometheus des modernen Theaters, der Orientierung in der modernen Welt bietet. Die dergestalt exponierte Exemplarität des Genies für moderne Individualität erscheint durchgängig als Folie der biographischen Suchbewegung und Selbstvergewisserung Goethes »auf [dem] Weege der gewiss hinaus aus dem Labyrynte führt«231. Mit dem Geniegedanken des Baukunstaufsatzes und von Zum Shakespears Tag liegen Schlüsseltexte des jungen Goethe zur Individualitätsproblematik der Moderne232 vor, wie sie für die bildungsphilosophische Untersuchungsperspektive und bei der Sichtung der Forschungsliteratur konzeptioniert wurde233. Dort wurde diskutiert, wie idealistische Bildungskonzeptionen im Zeichen von Ganzheit234 operieren. Nun sind die genaueren Implikationen des Ganzheitskonzeptes in seiner Be228 Ich vernachlässige an dieser Stelle eine genauere Rekonstruktion und Auseinandersetzung mit der dramenästhetischen Theorie sowie mit dem zeitgenössischen Diskurs, der von Goethe in Anspielungen fortwährend zitiert wird, vgl. dazu ebd., S. 212–217; sowie die Kommentare FA 18: 1053–1057 und MA 1.2: 833–835. 229 FA 18: 11. 230 FA 18: 11. 231 Brief vom 13. Januar 1769 an Ernst Theodor Langer, in: FA 28: 149. 232 Dirk Kemper: »ineffabile«. Goethe und die Individualitätsproblematik der Moderne, München 2004, Zitat S. 2. 233 Vgl. Kap. 2. 234 Individualität, die in die Weltzusammenhänge verflochten ist und in Wechselwirkung mit dieser ihre Identität aufbaut. Vgl. dazu Roland Reichenbach: Philosophie der Bildung und Erziehung, a.a.O., S. 118–126.

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sonderheit bei Goethe in den Blick zu nehmen: »Individuum est ineffabile«, heißt es programmatisch im Brief vom 20. September 1780 an Lavater235. Ob als »Ausdruck eines Ich-Kultes« verstanden oder als Problematik des modernen Ichs, hinter seiner Rolle verborgen zu sein236: Identität bildet sich nach dieser Auffassung in einer Differenzerfahrung sowohl nach innen als auch nach außen. Genau dieses Konzept fasziniert Goethe an Shakespeare: [S]eine Stücke drehen sich alle um den geheimen Punkt (den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat) in dem das Eigentümliche unsres Ichs, die prätendierte Freiheit unsres Wollens mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstoßt.237

Es ist zu vermuten, dass der Antagonismus der widerstrebenden Kräfte als entscheidender Motor für kreative Entwicklung und Gestaltung verstanden wird. Es ist das »Rätselhafte, das dem Menschen in ihm selbst jederzeit übrig bleibt«238 und immer wieder neu erforscht sein will. Ein solches Konzept feiert das Original-Genie, steht aber quer zu idealen Versöhnungs- und Harmonieentwürfen, suggeriert nicht reale Vollkommenheit, sondern Entwicklungsoffenheit. Zwar thematisiert Goethe immer wieder in seinen Schriften und Werken einen unteilbaren Kern von Identität und die Verflechtung des Individuums in die Weltzusammenhänge; das Subjekt ist aber Schauplatz einer Suchbewegung, die nicht in Einheit und Harmonie aufgeht. Auch in Dichtung und Wahrheit thematisiert Goethe ähnliche Modelle von Identität des Individuums in Bezug auf Ganzheit. Die von Goethe so bestimmte Maxime Johann Georg Hamanns deutet Dimensionen des Begriffes an: »Alles was der Mensch zu leisten unternimmt, es werde nun durch Tat oder Wort oder sonst hervorgebracht, muß aus sämtlichen vereinigten Kräften entspringen; alles Vereinzelte ist verwerflich.« Eine herrliche Maxime! aber schwer zu befolgen.239

Die Fusion intrapersonaler Potentiale des Menschen zu gemeinsamer Aktivität bezeichnet Goethe demnach als ganzheitlich. Er weist gleichzeitig auf die nicht zu vermeidenden Schwierigkeiten hin, dieses Ideal zu erreichen.1824 hebt Goethe, angeregt durch Ernst Stiedenroths Psychologie zur Erklärung der Seelenerscheinungen, als 235 236 237 238 239

FA 29: 300. Vgl. den Kommentar S. 912 f. mit weiteren Verwendungshinweisen. FA 29: 913. FA 18: 11. So Goethe am 19. Oktober 1830 an Wilhelm von Humboldt, in: FA 38: 322. FA 14: 560, vgl. auch Paralipomenon 79, S. 973.

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Quintessenz in dieser Hinsicht hervor, er habe wiederholt seinen »Unmut« darüber geäußert, den ihm die Lehre von den untern und obern Seelenkräften erregte. In dem menschlichen Geiste so wie im Universum ist nichts oben noch unten, alles fordert gleiche Rechte an einem gemeinsamen Mittelpunkt, der sein geheimes Dasein eben durch das harmonische Verhältnis aller Teile zu ihm manifestiert.240

Ziel müsse sein, »alle Manifestationen des menschlichen Wesens, Sinnlichkeit und Vernunft, Einbildungskraft und Verstand, zu einer entschiedenen Einheit«241 auszubilden. Neben exakter Wissenschaft gebe es eine »exakte sinnliche Phantasie«242. Man erkennt, dass Goethe jede Art Hierarchie intrapersonaler Potentiale ablehnt; in epistemischer Hinsicht wird Aisthesis ein gleichwertiger Status neben Rationalität gegeben. Goethe bekräftigt damit die Forderung Alexander Baumgartens243. Neben denkbasierten (u.a. induktiven und deduktiven Denkmustern) wird sinnlichkeitsbasierten Erkenntnisformen gleiche epistemische Bedeutung zugesprochen244; sinnliche Wahrnehmung wird nicht als bloßer Anlass von Erkenntnismodalitäten des Verstandes interpretiert, sondern als Erkenntnismuster, das im Horizont konkreter Erfahrung Erkenntnisleistungen modelliert. Wiederholt insistiert Goethe in diesem Zusammenhang auch auf ein widerständiges inneres dämonisch-kreatives Aktzentrum, das sich nur in seinen Vermögen und Ausdrucksformen zeige, und stellt in Hinsicht dessen Ertragsleistung eine Analogie zwischen Mikrokosmos Mensch und Makrokosmos Universum her. Ein Bezug produktiv modellierter kontingenter Erfahrung im Horizont einer Korrespondenzannahme, der das gesamte Denken Goethes durchzieht; exemplarisch seien erwähnt: die frühen philosophischen Spekula240 Ernst Stiedenroth Psychologie zur Erklärung der Seelenerscheinungen erster Teil. Berlin 1824 in: FA 24: 614 f. 241 FA 24: 615. 242 Ebd. Vgl. dazu Kap. 7. 243 Vgl. zu diesem Kontext Kap. 3.2. 244 In Kap. 2 habe ich darauf hingewiesen, dass Käte Meyer-Drawe mit ihrer historischen Rekonstruktion des Erfahrungsbegriffs diese Konzeption Goethes nicht berücksichtigt (vgl. Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, München 22012). Meine Rekonstruktion von Aisthesis, Gestaltbegriff und Geniebegriff verdeutlicht, dass Goethe im Sinne Baumgartens den ganzen Menschen im Blick hat. Wenn Goethe diesen in seinen antagonistischen Vermögen und kontingenten Persönlichkeitsmerkmalen beschreibt, liegt ein auch aktuell interessanter Beschreibungsansatz vor, Formen produktiver Realitätsverarbeitung zu erproben. Vgl. zur weiteren Rekonstruktion von Aktivierungszusammenhängen dieser Programmatik die folgenden Kapitel. In Kap. 7 wird der epistemische Sinnbezirk rekonstruiert.

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tionen, die ästhetischen Vorstellungen245, der Faust246, der anschauende Begriff247 der Naturforschung sowie das Verhältnis des Menschen zum Kosmos im Kontext des Ganzheitsgedankens248. Goethe fragt darüber hinaus im Sinne des Gedankens »Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt«249 in verschiedener Hinsicht danach, wie der einzelne Mensch in sich die ganze Menschheit ausbilden könne: Ganzheit als Universalisierung des Individuums, Aspekte von Weltbürgertum250. Dabei bildet die Verteidigung der Eigenheiten des mündigen Subjektes gegenüber jeglichen Bevormundungen und feudalistischen Ansprüchen gesellschaftlicher Moral und Macht die Stoßrichtung seiner diesbezüglichen Denkbewegungen. Individualität drückt sich für Goethe darin aus, dass Einzelne prinzipiell gegen das »Jahrhundert [agieren], in welchem sie vorkommen. Sie stehen nämlich mit der Menge im Gegensatz, ja im Widerstreit«251. Folgt man der Spur des Motivs von Universalisierung, ergibt sich aber eine interessante Variante von ganzheitlicher Selbstbildung unter den Bedingungen der Differenz, die einen Ausblick auf Wandlungen des Geniegedankens ermöglicht. In biographisch-autobiographischer Hinsicht heißt es in einem Paralipomenon zu Dichtung und Wahrheit zum Verhältnis von Biographie und Geschichte: 245 Bspw. heißt es in der Italienreise von den Kunstwerken der Antike: »Diese hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen, da ist die Notwendigkeit, da ist Gott.« FA 15/1: 424. 246 Vgl. dazu im Rahmen meiner Untersuchung den Hinweis in Kap. 6. zu Fragen von Erkenntnisgrenzen des Menschen im Kontext von Fausts Erlebnis des Sonnenaufgangs und des Regenbogens im Lichtspiel des Wasserfalls am Anfang des II. Teils. 247 Vgl. dazu ausführlich Kap. 5.2. 248 Vgl. dazu besonders Kap. 6.2. 249 Sprüche in Prosa, in: FA 13: 422. 250 In diesen Zusammenhang gehört Goethes Forderung nach einer »Epoche der Welt-Literatur« im Gespräch mit Eckermann am 31. Januar 1827, in: FA 39: 224 f., die man im Kontext seines Interesses für Entwicklungstendenzen der modernen Welt verstehen muss; markantestes Beispiel dafür ist sicherlich seine Prognose hinsichtlich der Bedeutung des Baus von Panama- und Suez-Kanal sowie einer Verbindung von Rhein und Donau im Gespräch mit Eckermann am 21. Februar 1827, in: FA 39: 580 f. Vgl. dazu insbesondere Hans Joachim Schrimpf: Goethes Begriff der Weltliteratur, Stuttgart 1968, und Dieter Borchmeyer: Welthandel – Weltfrömmigkeit – Weltliteratur. Goethes AltersFuturismus (28.04.2004), in: , letzter Zugriff: 1.9.2010. Eine umfassende Untersuchung liegt neuerdings vor durch Dieter Lamping: Die Idee der Weltliteratur. Ein Konzept Goethes und seine Karriere, Stuttgart 2010 251 Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, in: FA 23/1: 613.

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Die Biographie sollte sich einen großen Vorrang vor der Geschichte erwerben, indem sie das Individuum lebendig darstellt und zugleich das Jahrhundert wie auch dieses lebendig auf jenes einwirkt.252

In diesem Sinne die bildende Dimension im Blick, betrachtet Goethe einzelne Persönlichkeiten gerne als geschichtliche Gestalten. Deren Bildungsgang beleuchtet er durch »aphoristische Skizzen [der] Umwelt«, erschließt die »Bildungskräfte« und »Lebensstationen«253, wie Herbert von Einem zu den Skizzen zu einer Schilderung Winkelmanns erläutert. Offensichtlich geht es Goethe dabei um exemplarische Biographien, denen eine bildende Wirkung in der Auseinandersetzung mit ihnen zugesprochen wird. In diesem Zusammenhang besteht für Goethe jedoch zusehends das Problem, vielschichtige biographische Begebenheiten und deren zeitlichen Verlauf in eine erzählte Ganzheit zu komponieren, ein »congruentes Ganze zusammenzufügen«254. Das Erzählen einer Biographie als Ganzer im Sinne eines Kontinuums stößt an Grenzen des Sagbaren, wie Goethe im zurückgehaltenen Vorwort zum dritten Teil von Dichtung und Wahrheit feststellt, wenn er einsieht, dass das Schreiben seiner Autobiographie nach dem Denkmuster von Morphologie und Metamorphosegedanken – unter der Bedingung nicht nur kontinuierlich, sondern auch kontingent verlaufender Entwicklung – unvollendet bleiben muss255. Eine Einsicht, die auch Goethes Verständ252 FA 14: 934. Vgl auch das Vorwort in FA 14: 13 f.: »Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, in wiefern ihm das Ganze widerstrebt, in wiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abspiegelt. Hiezu [!] wird aber ein kaum Ereichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, in wiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den willigen als unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt daß man wohl sagen kann, ein Jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein.« 253 HA 12: 609 f. Kommentar des Herausgebers. 254 FA 17: 238. Goethe reflektiert hier in den Tag- und Jahresheften im Zusammenhang seines Versuchs, eine Biographie Jakob Philipp Hackerts zu verfassen, über das Problem, das vielschichtige Ganze nicht in ein erzähltes Kontinuum fassen zu können. Insofern enthält der Titel Philipp Hackert. Biographische Skizze, meist nach dessen eigenen Aufsätzen entworfen (FA 19: 411) eine Programmatik biographischen Erzählens. Ich verdanke den Hinweis Rüdiger Nutt-Kofoth: Erzähltes Leben zwischen Überlieferung und Konstruktion. Goethes »Hackert«-Biographie und das Problem des ›congruenten Ganzen‹, in: Goethe-Jahrbuch 128 (2011), S. 198–216. 255 In Paralipomenon 78 heißt es dazu: »[D]en[n] in der nächsten Epoche zu der ich schreiten müßte fallen die Blüten ab, nicht alle Kronen setzen Frucht an und diese selbst, wo sie sich

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nis von Geschichte entscheidend prägt256; man könne die Bildung der Menschen unter den verschiedensten Bedingungen historisch betrachten, immer werde man auf das »Inkalkulable, das Inkommensurable der Weltgeschichte«257 verwiesen. Damit sind im Muster offener Ganzheit weitere Varianten modellierter Kluft, Kontingenz und Differenz erkennbar. Bezogen auf Autobiographisches heißt das: Umbrüche, Umwandlungen in ganz neue Formen der Existenz werden wohl im Leben Goethes die interessanten und im eigentlichen Sinne produktiven Lebensphasen sein. Das hat kürzlich Bernd Hamacher demonstriert. Hamacher findet interessante Zugänge zu Goethe, indem er nicht versucht, eine sich kontinuierlich harmonisch entwickelnde »Konstante« von Identität nachzuweisen, sondern indem er Goethe, auch gegen manche autobiographisch-literarischen »Selbststilisierungen«, als Persönlichkeit mit vielen Facetten in einer Umbruchszeit begreift258, die vieles ihrer Bildung den Anregungen eines ganzen Lebens verdankt. Hamacher zitiert in seiner Übersetzung aus einer französischen Aufzeichnung eines Gespräches mit Frédéric Soret vom 17. Februar 1832 Goethe mit den Worten: »Mein Werk ist das eines Kollektivwesens und trägt den Namen Goethe«259. Hamacher leitet aus dieser und ähnlichen Äußerungen sein Credo ab, dass bei Goethe im Rahmen einer Strategie des »Krisenmanagements«260 an der Schwelle zur Moderne ein »Bekenntnis zu einer multiplen Identität«261 vorliege. Wenn ich Hamacher an dieser Stelle richtig verstehe, meint er damit, dass sich Identität allein aus der Summe der Erfahrungen konstituiere262. Doch muss man den Kontext

256 257 258 259

260 261 262

findet, ist unscheinbar, schwillt langsam und die Reife zaudert. Ja wie viele Früchte fallen schon vor der Reife durch mancherlei Zufälligkeiten, und der Genuß, den man schon in der Hand zu haben glaubt, wird vereitelt.« (FA 14: 972) Vgl. Carsten Rohde: Spiegeln und Schweben. Goethes autobiographisches Schreiben, Göttingen 2006, sowie Bernd Hamacher: Johann Wolfgang von Goethe. Entwürfe eines Lebens, Darmstadt 2010, S. 153, der in diesem Zusammenhang von »multidisziplinären und multiperspektivischen Biographien« spricht. Vgl. dazu Ernst Cassirer: Goethe und die geschichtliche Welt, in: ders.: Goethe und die geschichtliche Welt, hrsg. von Rainer A. Bast, Hamburg 1995, S. 1–26. Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, in: FA 23/1: 613. Bernd Hamacher: Johann Wolfgang von Goethe. Entwürfe eines Lebens, a.a.O., Zitate S. 11. Ebd., Zitate S. 10.Vgl. Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang, auf Grund der Ausgabe u. des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann ergänzt und hrsg. von Wolfgang Herwig, 5 Bde., Bd. 1–3.2: Zürich und Stuttgart, Bd. 4 und 5: Zürich und München 1965–1987; hier Bd. 3.2, S. 839, Nr. 6954: »Mon œuvre est celle d’un être collectif et elle porte le nom de Goethe«. Vgl. auch FA 38: 522. Bernd Hamacher: Johann Wolfgang von Goethe. Entwürfe eines Lebens, a.a.O., S. 12. Ebd., S. 10. Das im Sinne David Humes. Vgl. dazu meine Anmerkungen in Kap. 2.1.

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des Brieftextes beachten. Goethe äußert sich ausgehend von einer Betrachtung zu Mirabeau zu Eigenschaften des Genies und sagt, bezogen auf sich selbst: Was bin denn ich selbst? Was habe ich denn gemacht? Ich sammelte und benutzte alles was mir vor Augen, vor Ohren, vor die Sinne kam. Zu meinen Werken haben Tausende von Einzelwesen das ihrige beigetragen, Toren und Weise, geistreiche Leute und Dummköpfe, Kinder, Männer und Greise, sie alle kamen und brachten mir ihre Gedanken, ihr Können, ihre Erfahrungen, ihr Leben und ihr Sein; so erntete ich oft, was andere gesäet; mein Lebenswerk ist das eines Kollektivwesens, und dies Werk trägt den Namen Goethe.263

Wenn man im Sinne dieses Selbstverständnisses der integrativen Verfahrensweise Goethes näher kommen will, kann man nicht allein den Aspekt der multiplen Identität für Goethes Biographie und Schaffen hervorheben; das wäre meiner Ansicht nach eine der Tendenz nach zu einseitige Perspektive der Betrachtung, die letztlich den angesprochenen komplexen Arbeitszusammenhängen gegenüber nicht gerecht wird. Vielmehr deutet Goethe eine Fusion vielfältiger Anregungen verschiedener Erfahrungsmomente durch seine Person an. Folgt man dieser Einschätzung, so ist weniger die Identität als vielmehr deren extra- und interpersonale Anregung multipel. Demnach muss auch für Goethes Selbstverständnis von 1832 gelten: Aus den Differenzerfahrungen gewinnt die Person Anregungen mit umbildender Wirkung und aktiviert im antagonistischen Wechselspiel der Kräfte aus ihrem dämonischkreativen Aktzentrum eine Bildungsbewegung, welche auf Bewältigung, letztlich auf Expansion ins Ganze zielt, indem sie ihre Selbstbildung modelliert. In seiner Jugend setzte Goethe, wie im Vorhergehenden gezeigt, andere Akzente. Im Verlauf seines Lebens vollzieht er eine bemerkenswerte Wandlung vom Prototyp des »Originalgenies« schöpferischer Produktivität zum »Universalgenie«, das in »kollektiven Arbeitsformen«, Rezeption, Rekonstruktion und »Sammlung« sich selbst konstituiert. So z.B. überzeugend dargelegt von Hendrik Birus264. Dass auch dieser Befund hinsichtlich der Merkmale des Universalgenies nicht unumschränkt gelten kann, zeigen u.a. die Umstände der Entstehung der Novelle im Jahre 1826. Neben der Arbeit an »langfristigen Projekten«, neben »abgeklärter Distanz« und »souveräner 263 FA 38: 521 f. 264 Hendrik Birus: Im Gegenwärtigen Vergangenes. Die Wiederbegegnung des alten mit dem jungen Goethe (19.01.2004), in: , letzter Zugriff: 10.2.2011, Zitate in ihrer Folge S. 2,6, 4 und 9. (Vgl. auch in ähnlicher Deutung als »Archivautobiograhie« bezeichnet bei Stefan Blechschmidt: Goethes lebendiges Archiv. Mensch – Morphologie – Geschichte, Heidelberg 2009, S. 46 und passim.)

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Formbeherrschung« ist Goethe auch im hohen Alter durchaus kreativ, seine Tätigkeit trägt alle Kennzeichen dämonisch-schöpferischer Produktivität265. Indem Hamacher allein den Aspekt der multiplen Identität für Goethes Biographie und Schaffen hervorhebt, Birus die Motivationen verschiedener Lebensphasen zu stark voneinander abgrenzt, nehmen beide meiner Ansicht nach eine der Tendenz nach zu einseitige Perspektive ein, die letztlich dem komplexen Zusammenhang des Geniegedankens gegenüber nicht gerecht wird. Ein mit zunehmendem Alter variantenreich modelliertes Muster originären Schaffens durch universale Anregung gestaltet Goethe im Konkreten jeweils so aus, dass bestimmte Komponenten dieses Musters zentrifugal-zentripetalen Schaffens aktuell ausschlaggebend werden, ineinander greifen und dergestalt in unterschiedlichen Verwendungssituationen in je verschiedener Weise komponiert werden. Auch die Identität des schaffenden Subjekts ist durch den immer wieder neu zu modellierenden Gestaltungsprozess fragil und konstituiert sich in jedem Moment gemäß aktueller Bedingungen. Für die biographische Reflexion Goethes deutet sich mit diesen Perspektiven eine reizvoll wandlungsreiche Verschränkung von Geniegedanke und Individualitätsproblematik an266.

265 Jörg Soetebeer: Des Orpheus lebendige Wirkung in der Natur. Betrachtungen zu Goethes »Novelle«, in: Die Drei, H. 3 (2007), S. 23–34, alle Zitate S. 24. 266 An dieser Stelle kann zur Profilierung dieser Lesart auf die Goethe-Biographie von Rüdiger Safranski verwiesen werden. Nimmt man den Beschreibungsansatz seiner Vorbemerkungen, so liegt der Eindruck nahe, Safranski konzipiere sein exemplarisches Beispiel für ein gelingendes Leben allzu sehr nach einem Muster oder vorgefassten Lebensplan, der sich dann durch das Leben erfülle. Das mag vom Ende her betrachtet durchaus plausibel sein, im Detail zeigen die biographischen Lagen bei Goethe jedoch immer wieder, dass Selbstbildung auch in dieser Hinsicht Umbildung durch die zentripetalen Wirkungen von Welt ist. Vgl. Rüdiger Safranski: Goethe. Kunstwerk des Lebens, München 2013, S. 15.

5 SELBSTB I L D U N G I N D E R TRA N S FO R M ATIO N VON AISTH E S I S ZU R M E TH O D E A N S C H AU E N DE R B ETRAC HTU N G

»...Muth, mein ganzes Leben der Betrachtung der Dinge zu widmen...«1

5.1 Die Bedeutung von Natur für Aisthesis und biographische Reflexion – Goethes Reisen 1775–1777 Zwei Wochen nach seiner Ankunft in Weimar schreibt Goethe an seine Bekannte Johanna Fahlmer: Wie eine Schlittenfahrt geht mein Leben, rasch weg klingelnd und promenirend auf und ab. Gott weis wozu ich noch bestimmt bin, daß ich solche Schulen durchgeführt werde. Diese giebt meinem Leben neuen Schwung.2

Vordergründig reflektiert Goethe mit diesem Schicksalsmotiv seine ersten Erfahrungen im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisennach. Schnell ist er zum Favoriten der höfischen Welt aufgestiegen, hat die Enge bürgerlicher Existenz in Frankfurt hinter sich gelassen. Im Hintergrund modelliert er damit aber gleichzeitig eine deutlich empfundene ambivalente tiefer verankerte Umbruchsituation: Ist die persönliche Krise und damit die innere Widerständigkeit ambivalenter Gefühle überwunden? Eine neue Lebensdynamik zeichnet sich ab3; diese lässt jedoch keine orientierende Richtung erkennen. Schon zwei Monate säter treten dann konkrete Tendenzen hervor. An Johann Heinrich Merck schreibt er am 22. Januar 1776:

1 2 3

Brief vom 5. Mai 1786 an Friedrich Heinrich Jacobi, in: FA 29: 629. FA 29: 9 f., Brief vom 22. November 1775. Vgl. die in Dichtung und Wahrheit beschriebene Flucht nach der Trennung von Lili Schönemann (FA 14: 842). Vgl. zu den Umständen der Liebesgeschichte mit Lili Schönemann Barbara Schnyder-Seidel: Goethe in der Schweiz: anders zu lesen. Von der Wahrheit in der Dichtung letztem Teil, Bern und Stuttgart 1989, S. 16–23, sowie Karl Otto Conrady: Goethe, Leben und Werk, Bd. 1, Frankfurt/M. 1981, S. 259–331.

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5 Selbstbildung in der Transformation von Aisthesis zur Methode anschauender Betrachtung

Ich bin nun ganz in alle Hof- und politische Händel verwickelt und werde fast nicht wieder weg können. Meine Lage ist vortheilhaft genug, und die Herzogthümer Weimar und Eisenach immer ein Schauplatz, um zu versuchen, wie einem die Weltrolle zu Gesicht stünde. Ich übereile mich drum nicht, und Freiheit und Gnüge werden die Hauptconditionen der neuen Einrichtung seyn, ob ich gleich mehr als jemals am Platz bin, das durchaus Scheisige dieser zeitlichen Herrlichkeit zu erkennen.4

Es deutet sich an, dass der Besuch des Weimarer Hofes in eine dauerhafte Lebensperspektive münden wird. War es zum Jahreswechsel 1775/76 noch das ungezügelte und ausschweifende Leben des jungen Herzogs Karl August, an dem Goethe teilnahm, so forderten schon bald Regierungsgeschäfte ihr Recht. Der um einige Jahre ältere Jurist erweist sich nicht nur als Ratgeber, sondern lenkt den jungen Landesherrn zusehends in allen wichtigen Entscheidungen seines politischen Handelns und formt ihn immer bestimmter in der Entwicklung seiner Persönlichkeit5: Ich werd auch wohl dableiben und meine Rolle so gut spielen als ich kann und so lang als mir’s und dem Schicksaal beliebt. Wär’s auch nur auf ein paar Jahre, ist doch immer besser als das untätige Leben zu Hause wo ich mit der grössten Lust nichts thun kann. Hier hab ich doch ein paar Herzogthümer vor mir. Jetzt bin ich dran das Land nur kennen zu lernen, das macht mir schon viel spaas. Und der Herzog kriegt auch dadurch Liebe zur Arbeit, und weil ich ihn ganz kenne bin ich über viel Sachen ganz und gar ruhig.6

Goethe scheint entschlossen, in seiner Rolle am Hof, als Landesbeamter sowie als Erzieher des Fürsten eine gute Figur machen zu wollen. Schon bald ernennt der Herzog Karl August ihn zum Geheimen Legationsrat, Goethe wird Mitglied des Geheimen Conseils und bekleidet mehrere Ministerposten. Eine bemerkenswerte Lebensentscheidung, wenn man ihre Vorgeschichte und den Kontext der durchaus naheliegenden Alternativen des Jahres 1775 betrachtet. Auf der ersten Reise in die Schweiz im Sommer 1775 stellt sich mit dem Scheideblick 4 5

6

FA 29: 19. Vgl. zu Goethes Leben in Weimar 1775 bis zur Italienreise 1786 die Darstellungen bei Wolf von Engelhardt: Goethes Weltansichten. Auch eine Biographie, a.a.O., S. 104–147, sowie ders.: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine, Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, Weimar 2003, S. 16–118. Aus der Vielzahl der Publikationen zu Goethes Leben wähle ich diese exemplarisch für die erste Weimarer Lebensperiode, weil Engelhardt seine Darstellung um die naturwissenschaftlichen Interessen und Arbeiten Goethes, insbesondere zur Geologie und Mineralogie, zentriert. Brief vom 14. Februar 1776 an Johanna Fahlmer, in: FA 29: 22.

5.1 Die Bedeutung von Natur für Aisthesis und biographische Reflexion

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1 Scheideblick vom Gotthard nach Italien d. 22. Juni 1775

vom St. Gotthard nach Italien d. 22. Juni 17757 unvermittelt ein janushaftes Grenzerlebnis an der äußersten Peripherie der Existenz ein. Die Ahnung eines Italiens als fremdartig magischer Sehnsuchtsort hinter dem Horizont hat erstaunlicher Weise keine zwingende Anziehungskraft8. In der unvollendeten Zeichnung sind die abgrenzenden Berge bemerkenswert detailliert ausgeführt; es bleibt aber unklar, was letztlich den Ausschlag zur Umkehr in die bekannten prekären Frankfurter Verhältnisse gibt9. In der labilen Situation der Folgezeit 7 8 9

In: FA 14, Abb. 38. Vgl. zur Italiensehnsucht Goethes Kap. 6. Vgl. die Schilderung in Dichtung und Wahrheit, in: FA 14: 810 f. Vgl. zur Italiensehnsucht Goethes in Kindheit, Jugend und Straßburger Studienjahren und in diesem Kontext zur zweimaligen Umkehr am Gotthardpass den Kommentar zur Italienischen Reise FA 15/2: 1049–1054. Zum Kontext der Zeichnung vgl. auch den Begleittext in: Johann Wolfgang Goethe: Landschaftszeichnungen, im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar hrsg. von Javier Arnaldo und Hermann Mildenberger, Frankfurt/M. und Leipzig 2009, S. 108, sowie im gleichen Band Petra Maisak: Zeichnen an den Rändern der Sprache. Zum Verhältnis von Wort und Bild bei Goethe, S. 45 f.

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kommt es nicht zu der vom Vater beförderten Bildungsreise eines Patriziersohnes auf den väterlichen Spuren nach Italien10, schon gar nicht zu einer Grand Tour bürgerlicher Eliten im 18. Jahrhundert11, sondern die Wahl fällt auf höfisches Leben und Fürstendienst in einer provinziellen Residenzstadt in der Mitte Deutschlands. Goethe lässt den angenehmen, aber perspektivlosen Müßiggang seiner gegenwärtigen Existenz hinter sich, folgt auch nicht der Option einer bürgerlichen Karriere in Frankfurt; ihn reizt die neue Herausforderung, mit durchaus ungewissem Ausgang Erfolg im tätigen Leben suchen zu können. Ein vielfältig anspruchsvolles und aufreibendes Wirken für die nächsten zehn Jahre ist damit vorgezeichnet. Soziologisch betrachtet erscheint Goethe an diesem Punkt seines Lebens als ein Prototyp von Exklusionsindividualität (Niklas Luhmann), der sich in einer modernen rekursivfunktional differenzierten Gesellschaft und in deren verschieden sich ausgestaltenden Subsystemen orientieren muss und entsprechende Strategien entwickelt12. Die Wiederaufnahme des Bergbaus in Ilmenau, beschlossen im Geheimen Concil am 13. Februar 177613, ist eine der ambitionierten Unternehmungen, mit denen Goethe die wirtschaftliche Situation des Herzogtums verbessern will. Im Folgenden soll nicht in erster Linie Goethes Verhältnis zu Bergbau sowie Geognostik, wie man zu seiner Zeit Geologie und Mineralogie nannte, rekonstruiert werden, vielmehr 10 FA 14: 847. 11 Vgl. zur Reisekultur im 18. Jahrhundert Uli Kutter: Reisen – Reisehandbücher – Wissenschaft. Materialien zur Reisekultur im 18. Jahrhundert, Neuried 1996; Kutter beschreibt den Umfang einer Grand Tour: »Meist hatte eine solche Reise den Rhein zum Ausgangspunkt. Von Köln fuhr man nach Holland und Belgien, oft wurde ein Abstecher nach London gemacht. Das nächste Ziel war Paris, das eine große Anziehungskraft ausübte. […] Dann mußte Bordeaux, Madrid, Sevilla und Barcelona besucht werden. Über Genf und Florenz ging es nach Italien. Rom war das Kernstück des Italienbesuchs, Venedig der Glanzpunkt. Eventuell reiste man über Neapel nach Sizilien. Über Wien, Böhmen, manchmal Petersburg und Kopenhagen trat man die Heimreise an.« (S. 9 f.) Gotthardt Frühsorge: Goethes Harzreisen im Spiegel der Europäischen Reiseliteratur des späten 18. Jahrhunderts, in: Christian Juranek: Abenteuer – Natur – Spekulation. Goethe und der Harz, Halle an der Saale 1999, S. 225–236, bemerkt dazu, dass Goethe keines der großen europäischen Zentren, Amsterdam, London, Paris, je besucht habe (vgl. S. 234 f.). Vgl. zu Goethes Italiensehnsucht und der prinzipiell anderen Motivierung seiner Italienreise als »Kennzeichen einer neuen Wahrnehmungsweise in der Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts« den Kommentar in FA 15/2: 1059–1063 (Zitat S. 1060) sowie den entsprechenden Abschnitt in Kap. 6, in welchem das Leitmotiv Aisthesis im Sinne einer Organbildung für Modi der Anschauung im Dienst von Selbstbildung rekonstruiert wird und wo Italien als ganzheitlicher Kosmos und besonders exponierter Ort für Bildung erscheint. 12 Vgl. zur soziologischen Orientierung das Kap. 2.1. 13 Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine, Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, a.a.O., S. 21.

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eignet sich dieses Projekt exemplarisch dazu, die Bedeutung von Natur für Aisthesis und biographische Reflexion Goethes zu rekonstruieren14, denn: Wo der Mensch im Leben hergekommen, die Seite von welcher er in ein Fach hereingekommen läßt ihm einen bleibenden Eindruck eine gewisse Richtung seines Ganges für die Folge, welches natürlich und notwendig ist. Ich aber habe mich der Geognosie befreundet, veranlaßt durch den Flötzbergbau.15

Um zu markieren, was denn nun das Besondere einer solchen Unternehmung ist, ein neues Verhältnis zur Natur zu entwickeln, eignet sich ein weiterer Blick auf Goethes erste Reise in die Schweiz: Noch im Sommer 1775 ist die Natur der Schweizer Alpen überwiegend Bühnenraum des ambivalenten Innenlebens des Wanderers, der sich als Original-Genie in arkadischer Landschaft gebärdet und dessen WertherKostüm16 treffend die seelische Verfassung verkörpert. Melancholie, schwankend zwischen persönlichen Verstrickungen und Zweifeln sowie euphorischer Hingabe, verhindert einen unbefangenen Blick auf die Natur. Die Landschaft überwältigt den Wanderer, löst je nach Gegebenheit die unterschiedlichsten Gefühle aus; Gedanken über die Beziehung zu Lili Schönemann und die zukünftige Lebensperspektive belasten das Gemüt. Primär erlebt Goethe sich selbst – die antagonistisch widerstrebenden Ekstasen seiner Innenwelt – an einer überwältigenden Naturkulisse. Rückblickend bekennt er seine damalige Unzulänglichkeit, die Natur in ihrer Eigenart

14 Es würde für die Rekonstruktion der Bedeutung von Natur für Goethe u.a. auch die Option geben, Goethes Interesse an Haus und Garten an der Ilm zu beleuchten. Das kleine Anwesen erwarb Goethe mit Unterstützung des Herzogs im April 1776. Mit der Einrichtung des Gartens entwickelt sich ein immer intensiveres Interesse Goethes an Landschafts- und Gartengestaltung sowie an Pflanzen und Botanik; bald setzt die Lektüre der Schriften Carls von Linné ein, dessen Systema naturae per regna tria naturae (Differenzierung der Naturreiche nach Tieren, Pflanzen und Mineralien sowie deren Klassifizierung und Systematik) seit 1768 in deutscher Übersetzung vorlag. Zugunsten einer exemplarischen Darstellung verzichte ich hier auf diesen Themenkomplex und beschränke meine Rekonstruktion auf den Bereich der Geognosie, also der Geologie, Mineralogie und angrenzender Interessengebiete Goethes. Was im gesamten Kap. 5 als Goethes Betrachtungsweise der Natur von mir rekonstruiert wird, ließe sich neben Goethes botanischen Forschungen (Urpflanze) auch an seinen zoologischen Untersuchungen (Typus der Wirbeltiere), der Farbenlehre (Urphänomen) sowie zur Meteorologie (Wolkenbildung) aufzeigen. 15 FA 25: 648. Geognosie: eine Vorstufe der Geologie als Wissenschaft. 16 Goethe und seine Gefährten hatten sich in Frankfurt eine Werther-Tracht für die Reise anfertigen lassen.

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zu fassen17; weder zeigt er Interesse an »zerstückende[r] Geognosie«18, noch ist er nach eigenem Urteil in der Lage, seine Eindrücke produktiv zeichnerisch zu verarbeiten19. Weil wissenschaftliche Prozeduren keine Option sind, aber auch keine ästhetischen Mittel zur Verfügung stehen, die Reiseeindrücke als stimmigen Zusammenhang zu modellieren, greift Goethe zu einem »wunderbaren Hülfsmittel«, anhand dessen er sich später die Erlebnisse ins Gedächtnis rufen will: [K]aum hatte ich einen interessanten Gegenstand erfaßt, und ihn mit wenigen Strichen im allgemeinsten auf dem Papier angedeutet, so führte ich das Detail, das ich mit dem Bleistift nicht erreichen noch durchführen konnte, mit Worten gleich darneben aus.20

Gemäß dieser autobiographischen Reflexion ist das empfundene Defizit ästhetischen Vermögens als eine umbildende Erfahrung zu verstehen, die eine produktive Suchbewegung auslöst, Möglichkeiten einer Kompensation zu finden. Das Besondere des Hülfsmittels besteht nun darin, dass zwar visuelle und narrative Modi medial kombiniert werden21, das Ganze des Erlebten damit jedoch zunächst einmal in unterschiedliche Medien aufgespalten und festgehalten wird. Diese Differenzierung ermöglicht offensichtlich die Dokumentation einer aktuell unsagbaren Erfahrung in der Hoffnung, diese bei einer zukünftigen vergegenwärtigenden Spurensuche in eine zusammenhängende Darstellung überführen zu können. Damit unterläuft das gefundene ästhetische Verfahren das aktuelle Scheitern; dieses ist nicht endgültig, sondern wird in einen offenen Prozess überführt. Das Verfahren stellt den Moment in eine Zeitlichkeit oszillierend variabler Selbstbildung, die den Erlebnisgehalt als 17 Vgl. Wolf von Engelhardt: Goethes Weltansichten. Auch eine Biographie, a.a.O., S. 97 f., wo Engelhardt darauf hinweist, dass in der letzten Strophe des Gedichtes Auf dem See »Natur zum ersten Mal in ihrem eigenen Für-sich-Sein« erscheine. Vgl. zur Fassung im Reisetagebuch Juni 1775, in: FA 16: 10: »Rings die türmende Ferne/ Morgenwind umflügelt/ Die beschattete Bucht/ Und im See bespiegelt/ Sich die reifende Frucht«. 18 FA 14: 803. 19 Vgl. in Dichtung und Wahrheit Goethes Hinweis auf die »fruchtlose Bemühung« des »Dilettanten«, die Szenerie am Morgen des 22. Juni am Gotthardpass zeichnerisch festzuhalten (FA 14: 810). 20 FA 14: 813. 21 Vgl. zum Verhältnis von Wort und Bild bei Goethe bezogen auf den Kontext meiner Untersuchung Uwe Pörksen: Raumzeit. Goethes Zeitbegriff aufgrund seiner sprachlichen Darstellung geologischer Ideen und ihrer Visualisierung, in: Peter Matussek (Hrsg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur, München 1998, S. 101–127. Ders.: Raumzeit. Goethes Zeitbegriff, abgelesen an seinen sprachlichen und zeichnerischen Naturstudien, Stuttgart 1999.

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biographisches Identitätssegment zu sichern versucht. So betrachtet, variiert das in dieser Verwendungssituation eingesetzte Verfahren die Methodik Wiederholter Spiegelungen der in Straßburg erprobten Betrachtungs- und Darstellungsweisen im Kontext des Konzeptes von Aisthesis als Erkenntnis22, bei dem im Bezirk eines vielgliedrig Ganzen (Fassade des Münsters) oder zwischen unterschiedlichen Gegenständen der Betrachtung (Erwin von Steinbach – Prometheus) Beziehungen hergestellt werden, die in ihrer medialen Verknüpfung innere Bilde- und Sinnzusammenhänge erschließen. Dort hatte das Konzept transformatorische Bedeutung sowohl für das Bildungssubjekt selbst als auch für eine gegenstandsadäquate Erkenntnis. Hier gilt es zunächst einmal, in autobiographischer Absicht Darstellungsmodi kompensatorisch einzusetzen, um den Erlebniszusammenhang in kontingenten Teilen zu sichern. Die angewandte Methode, Zeichnung und Erzählung zu kombinieren, wird im Folgenden in unterschiedlichen Verwendungszusammenhängen zu beachten sein. Korrelationen von Wort und Bild sind offensichtlich nicht, wie Wilhelm von Humboldt vermutet23, erst mit der Italienreise ein Projekt Goethe’scher Selbstbildung, sondern poetischer Bildungstrieb und bildende Kunst wurden von Goethe spätestens seit seiner Straßburger Zeit immer wieder, und u.a. auch während seiner Reise in die Schweiz, als Aktionsformen des Dämonischen kombiniert, der rätselhaften Quelle24 der verschiedensten Vermögen kreativer Produktivität25. Die konkrete Umsetzung des Konzeptes während der Reise lässt sich an den Dokumenten ablesen. Von der Reise sind neben ca. 18 Zeichnungen, welche Eindrücke der Landschaft sowie einzelne Besonderheiten (Felsformationen) festhalten26, 22 23 24 25

Vgl. Kap. 4.2.2 sowie FA 17: 370 f. Vgl. dazu das Humboldt-Zitat im Kommentar von FA 38: 778. So Goethe in seinem Brief vom 19. Oktober 1830 an Wilhelm von Humboldt, in: FA 38: 322. Goethe kommt im historischen Teil seiner Farbenlehre in der Konfession des Verfassers auf das Verhältnis von seinem poetischen Talent, das ihm als Begabung in die Wiege gelegt sei (FA 23/1: 969), und seinen Übungen in der bildenden Kunst in selbstbildender Absicht zu sprechen: »Ich war in einsamen Stunden früherer Zeit auf die Natur aufmerksam geworden, wie sie sich als Landschaft zeigt, und hatte, da ich von Kindheit auf in den Werkstätten der Maler aus- und einging, Versuche gemacht, das was mir in der Wirklichkeit erschien, so gut es sich schicken wollte, in ein Bild zu verwandeln; ja ich fühlte hiezu, wozu ich eigentlich keine Anlage hatte, einen weit größern Trieb als zu demjenigen was mir von Natur leicht und bequem war. […] Je weniger also mir eine natürliche Anlage zur bildenden Kunst geworden war, desto mehr sah ich mich nach Gesetzen und Regeln um; ja ich achtete weit mehr auf das Technische der Malerei, als auf das Technische der Dichtkunst: wie man denn durch Verstand und Einsicht dasjenige auszufüllen sucht, was die Natur Lückenhaftes an uns gelassen hat.« (FA 23/1: 970) 26 Vgl. Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine, Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, a.a.O., S. 8–16. Dort weitere Literaturangaben.

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2 Getuschte Federzeichnung Goethes: Der Wasserfall der Reuß

das Reisetagebuch Juni 1775 und die Beschreibung einer Schweizer Landschaft27 überliefert, die jeweils auf ihre Art eindrücklich Stimmung und Atmosphäre mit z.T. skizzenhaften Wortformationen festhalten; ein Auszug aus dem Reisetagebuch: 21. halb 7. aufwärts. allmächtig schröcklich. G e s c h t e n . gezeichnet. Noth und Müh und schweis. Teufelsbrücke u. der Teufel. Schwizen u. Maten u Sincken biss ans Urner Loch hinaus u belebung im Thal. an der M a t t e trefflicher Käss. Sauwohl u Projeckte.28

Die Aufzeichnungen und Zeichnungen dokumentieren die unmittelbare Wirkung der umgebenden Natur auf den Wanderer: einen »in allen Abstufungen grandios mannigfaltigen Wasserfall«29 mit der Zeichnung als Momentaufnahme, die mit impulsiven Federstrichen30 das atmosphärische des Naturmotivs skizziert; die unheimliche ab27 FA 16: 9–13. 28 FA 16: 11. 29 So die Schilderung in Dichtung und Wahrheit, in: FA 14: 808; vgl. Barbara SchnyderSeidel: Goethe in der Schweiz: anders zu lesen. Von der Wahrheit in der Dichtung letztem Teil, Bern und Stuttgart 1989, S. 83 f. 30 So der Begleittext zur Zeichnung in: Johann Wolfgang Goethe: Landschaftszeichnungen,

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weisende Felsregion des Aufstiegs, die beklemmend enge Schlucht, die befreiende Heiterkeit des Hochtals das Tagebuch. Am Tag vor dem symbolhaften Scheideblick auf dem Gotthard, der, von unspezifischen Stimmungen geprägt, den Lebenskreis abzirkelt, bewegen momentane Gefühlseindrücke und Phantasien über Projekte ohne reale Perspektive das Gemüt; eine intrapersonale Instanz mit Strategien, eine gestaltete Tiefendimension des Erlebten zu modellieren, ist kaum auszumachen. Im Gegenteil: Äußere und innere Überwältigungen lösen eine prekäre Differenzerfahrung aus, die das gesuchte Arkadienerlebnis für den Augenblick verhindert. Insofern drücken Zeichnung und Erzählung jeweils auf ihre Art große, aber unbewältigte Gefühlsbewegungen aus; beide Modi lassen kaum korrelative Ergänzungen erkennen. Das erstmalig im Sommer 1775 in der Schweiz erprobte ästhetische Verfahren setzt Goethe nun im Juli/August 1776 im Rahmen des Bergbauprojektes in Ilmenau ein; es modelliert ein spezifisches Verhältnis zur Natur, das im Kontrast zu den Schweizer Reiseerfahrungen eine neue Stufe von Aisthesis als Erkenntnis in biographischer Dimension generiert. An Merck berichtet Goethe am 24. Juli 1776 über diese Angelegenheiten: Wir sind hier und wollen sehen, ob wir das alte Bergwerk wieder in Bewegung setzen. Du kannst denken, wie ich mich auf dem Thüringer Wald herumzeichne; der Herzog geht auf Hirsche, ich auf Landschaften aus und selbst zur Jagd führ ich mein Portefeuille mit.31

Der Bericht an den Freund deutet neben den Tätigkeiten um das Bergbauprojekt und den gesellschaftlichen Vergnügungen ein Inkognito an: das Erleben und Zeichnen der Landschaft als ein persönliches Anliegen Goethes. Selbstverständlich dient die Erkundung der Natur dem Bergbauprojekt: aus den landschaftlichen Gegebenheiten die Bedingungen der Tiefe abzuleiten. Konzepte und Methoden der Chemie32 sowie der Geologie als einer sich gerade erst konstituierenden Wissenschaft und technische Verfahren des Bergbaus bestimmen das Naturverständnis Goethes zu dieser Zeit. Doch zielt Goethe mit seinem ästhetischen Interesse offensichtlich über die Belange des Projektes hinaus auf die Atmosphären der Landschaft. Mit dieser Expansion vom Nützlichen zum Ästhetischen verfolgt Goethe ein ureigenes persönliches Geschäft: im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar hrsg. von Javier Arnaldo und Hermann Mildenberger, Frankfurt/M. und Leipzig 2009, S. 106. 31 FA 29: 53. 32 Vgl. dazu Georg Schwedt: Goethe als Chemiker, Berlin und Heidelberg 1998, S. 37–49, vgl. exemplarisch S. 42 zum Verhältnis von Mineralogie und Chemie sowie zum »Feuersetzen« als Abbauverfahren im Erzbergbau.

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[W]ir sind in Ilmenau, seit 3 Wochen wohnen wir auf dem Thüringer Wald, und ich führe mein Leben in Klüfften, Höhlen, Wäldern, in Teichen, unter Wasserfällen, bey den Unterirdischen, und weide mich aus in Gottes Welt.33

In den Naturerlebnissen abseits von herzoglicher Gesellschaft und politischer Verpflichtung nur eine entlastende Funktion sehen zu wollen34, greift demnach sicherlich zu kurz. In den vielfältigen Atmosphären der Mittelgebirgslandschaft – »Klüfften, Höhlen, Wäldern, in Teichen, unter Wasserfällen, bey den Unterirdischen« – findet Goethe offensichtlich entscheidende Umstimmungen, die der Erforschung seiner selbst dienen: »und weide mich aus« – der Versuch einer Erkundung des eigenen Inneren, das sich immer wieder widerständig gegenüber der bewusst ergriffenen Weltrolle zur Geltung bringt. Goethe deutet mit dem Abgründigen (»Klüfften«), der dunklen Tiefe (» Höhlen«, »bey den Unterirdischen«), der geheimnisvollen Weite (» Wäldern«) und dem Wasser (»in Teichen, unter Wasserfällen«) unterschiedliche atmosphärische Erlebnisse in Natur an, mit denen die verschiedensten Empfindungen assoziiert werden können35. Die Formulierung »und weide mich aus« ist insofern von großer Bedeutung, als Goethe ein Jahr später in einer Fassung des Gedichtes »Harzreise im Winter« vom Brocken sagen wird: »Du stehst unerforscht die Geweide«36 – gemeint sind die verborgenen Tiefen des Gebirges, die mit dem Bergbau erschlossen werden37. Für Natur wie personales Zentrum deutet sich an, dass durch Anschauung das innere Bedingungsund Wirkungsgefüge erkennend freigelegt werden soll. Dazu ist anzumerken, dass Goethe auch in diesem Kontext nicht im Sinne des Wesensbegriffs der Metaphysik oder Kants Ding an sich nach einem Inneren forscht, sondern schon 1777 mit der Formel des Alters »Du stehst unerforscht die Geweide/Geheimnisvoll offenbar«38 auf eine konstitutive Wirkungsweise in den Naturgegebenheiten insistiert. Diese Bezüge bieten erste Hinweise darauf, was sich denn nun gegenüber der Reise in die Schweiz verändert hat: Goethe entwickelt Strategien, das Widerständige seiner inneren Natur in den Blick zu nehmen, indem er äußere Natur als solche wahrnimmt. In sinnlicher Anschauung verschränken sich zentrifugale und zentripetale Erfahrungen. Wenn dergestalt die Atmosphäre von äußerer Natur durch Aisthesis in ihrem Eigensein erfasst wird, erlebt das Subjekt in einer Differenzerfahrung die eigene Natur am anderen der äußeren Natur. Aisthesis wandelt sich, wie schon 33 34 35 36 37

Brief an Herder vom 9. August 1776, in: FA 29: 57. So der Kommentar FA 29: 756. Vgl. zum Begriff der Empfindung Kap. 4.1 und 4.2.2. FA 1: 322 ff., vgl. den Kommentar S. 1044 zu Z. 82, S. 324. Vgl. zu einer interpretatorischen Kontroverse um diese Verszeile Wolf von Engelhardt: Goethes Weltansichten. Auch eine Biographie, a.a.O., S. 117. 38 FA 1: 1044 und 324.

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für die Aisthesis-Programmatik in Straßburg rekonstruiert, von sinnlicher Anschauung zu innerer Anschauung. Der Unterschied: Dort war es ästhetische Anschauung eines Kunstwerks, hier das atmosphärische Erleben von Natur. Mit dieser kann das Subjekt Widerständiges des eigenen Inneren sowohl überwinden als auch neue Perspektiven in ihm wahrnehmen: eine neue Variante umbildender Erfahrung. Erst der bewusst aufgesuchte Raum der Natur sowie die gewollte Einsamkeit ermöglichen in Abgrenzung zum tätigen Leben der Weltrolle die bewusste Hinwendung zur Wirklichkeit und zum eigenen personalen Zentrum. Die Entdeckung und Erforschung von Wirklichkeit und Ich wird nach den Einsichten des Leitmotivs von Aisthesis in Straßburg ein prinzipiell unabschließbarer offener Prozess sein. Natur und Landschaft erweisen sich mit ihren Bedingungen als idealer Ort der Verhandlung mit den unausgeloteten Tiefen der eigenen Person. Anhand des Briefes vom 22. Juli 1776 an Charlotte von Stein lässt sich rekonstruieren, welche Strategien Goethe bei dieser Erforschung von Geweiden erprobt, die zu einem neuen Verhältnis von Natur und zu neuem Selbstverständnis führen. Er schreibt von seinen Zeichnungen: »Das mahlerischte Fleck geräth mir nicht«39, mit der Befürchtung, dass er wohl nie Künstler werde. Auch in dieser Situation erkennt er, dass das Erlebte »über alle Beschreibung und Zeichnung ist«40. Die Einsicht anlässlich der Reise in die Schweiz scheint bekräftigt: Zeichnung und Erzählung müssen nach dem eigenen Urteil bei der Wiedergabe des Erlebten zurück bleiben. Goethe leitet aus dieser Einsicht eine Maxime ab: Sich zu beschräncken, Einen Gegenstand, wenige Gegenstände, recht bedürfen, so auch recht lieben, an ihnen hängen, sie auf alle Seiten wenden, mit ihnen vereint werden das macht den Dichter den Künstler – den Menschen.41

Goethe forscht in biographischer Reflexion offensichtlich danach, was man in der Bildungsphilosophie des 18. Jahrhunderts die Bestimmung des Menschen nennt. Die Maxime implizit, dass eine solche Bestimmung nicht im Sinne einer Ursprungsmetaphysik präformativ42 festgeschrieben ist, sondern dass sie sich als individuelle 39 FA 29: 52. 40 Ebd. 41 FA 29: 52 f. Indem Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine, Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, a.a.O., S. 23, die Selbstzweifel Goethes aus seiner Interpretation ausklammert, erkennt er nicht die persönlich bedeutende Dimension, dass Goethe seinem Brief die Zeichnung Dampfende Wälder bei Ilmenau beilegt. Vgl. dazu das Folgende. 42 Zur Bedeutung von Präformation im Kontext des Gestaltbegriffes und der Metamorphosenlehre vgl. Kap. 7.

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Konstruktionsleistung von Selbstbildung realisiert. In diesem Paradigma zeichnen sich aus dem Spektrum der Möglichkeiten, Hoffnungen und Wünsche bestimmte Richtungen ab, Optionen müssen eventuell aufgegeben werden, unerwartet ergeben sich neue; das Leben konzentriert sich zunehmend auf bestimmte Perspektiven, die realisiert werden: bewusste Beschränkung, aktive Zuwendung, vielfältiger Zugang und Verbindung sind dabei Leitmotive43 modellierender Konstruktion des Selbst in der Auseinandersetzung mit den Objekten der Selbstbildung. Goethe steht, sicherlich wohl auch angesichts der Fülle der politischen Aufgaben, der gesellschaftlichen Verpflichtungen am Hofe und der persönlichen Verhältnisse (Beziehung zu Charlotte von Stein), vor der Frage, in welche Richtung seine Bestimmung weist, wo sich das tatsächliche Feld persönlichen Wirkens im Weltgefüge befinden könnte. In diesem Zusammenhang inszeniert der Brief seine eigentliche Brisanz im letzten Abschnitt, wenn Goethe über Erlebnis und Aktivität weiter zu erzählen weiß: – Addio ich will mich an den Felsenwänden und Fichten umsehen. – Es regnet fort – Hoch auf einem weit rings sehenden Berge. Im Regen sizz ich hinter einem Schirm von Tannenreisen Warte auf den Herz‹og› der auch für mich eine Büchse mit bringen wird. Die Thäler dampfen alle an den Fichtenwänden herauf. |: NB. das hab ich dir gezeichnet:| 44

Beigelegte Zeichnung (3) Dampfende Wälder bei Ilmenau. Auf dem Blatt der Zeichnung hat Goethe angemerkt: »Ewiges Denkmal. An jedem Gegenstand suche erst die Art ihn auszudrücken. Keine allgemeine Art gilt«45. Diese Gedanken sind schon für sich bemerkenswert, betonen sie doch einerseits die persönliche Bedeutung des Erlebten, andererseits wird die Methodik des Zeichnens als Mittel entdeckt, durch eine gegenstandsadäquate Ausdrucksform das individuelle Objekt in den Blick zu bekommen und damit eventuell vorhandene allgemeine Darstellungsmuster des Zeichners zu transformieren46: Goethe dokumentiert explizit am 22. Juli 1776 den Anspruch von Selbstbildung durch eine methodisch zeichnerisch perspektivierte Betrachtungsweise!

43 44 45 46

Vgl. das entsprechende Muster von Aisthesis, wie es in Kap. 4.2.2 rekonstruiert ist. FA 29: 53. FA 29; Kommentar S. 751. Vgl. dazu auch den Begleittext zur Zeichnung in: Johann Wolfgang Goethe: Landschaftszeichnungen, im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar hrsg. von Javier Arnaldo und Hermann Mildenberger, Frankfurt/M. und Leipzig 2009, S. 112.

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3 Dampfende Täler bei Ilmenau

Erzählung und Zeichnung realisieren im letzten Abschnitt des Briefes die eingangs angezweifelte Programmatik, visuelle und narrative Modi zu kombinieren, um in der Spiegelung beider die Atmosphäre eines Erlebnisses einzufangen. In der Zeichnung modellieren die Bergrücken und Nebelschwaden plastisch die Tiefendimension der Landschaft; vom Vordergrund bis zum Horizont in der Ferne sind Standort und Perspektive des Betrachters ikonographisch prägend. Nimmt man die narrative Schilderung dazu, verstärkt sich der Eindruck einer aktiv gestaltenden Natur (»Die Thäler dampfen alle an den Fichtenwänden herauf«, Personifikation), die von einem erhöhten Standort aus betrachtet wird (»Hoch auf einem weit rings sehenden Berge. Im Regen sizz ich hinter einem Schirm von Tannenreisen«). Das Ganze vermittelt also nicht allein das Bild einer »harmonisch in sich ruhende[n] Welt«47, sondern gestaltet eine Dynamik von Ruhe und Bewegung zwischen Landschaft und Betrachter, in der interessanter Weise die Natur als handelnder lebendiger Organismus empfunden wird, als differenzierte Ganzheit von in Wechselwirkung stehenden Teilen. In der Perspektive des zeichnend-schreibenden Betrachters wird Natur zur Unendlichkeitsmetapher (Petra Maisak) für die unbestimmt-bewegte Spur des Lebens. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Bemerkung Goethes auf einem Begleitzettel zur Zeichnung an Charlotte von Stein, welche auch ihr gegenüber die Selbstreflexion im Naturraum betont: »Dachtest du an mich wie ich an dich dencke! Nein ich wills nicht! – Will mich in der Melancholie meines alten Schicksals weiden,

47 Petra Maisak: Johann Wolfgang Goethe. Zeichnungen, a.a.O., S. 68.

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nicht geliebt zu werden wenn ich liebe.«48 Mit zeichnerischer und narrativer Gestaltung des Motivs modelliert Goethe meiner Auffassung nach den o.g. Anspruch von Selbstbildung – und über die künstlerische ist die persönlich biographische Bedeutung offensichtlich, im ästhetisch erschlossenen und dargestellten Naturerleben die unausgeloteten Tiefen der eigenen Person zu erforschen. Ich würde nicht so weit gehen, mit Petra Maisak und Wolf von Engelhardt von einer grundsätzlich veränderten künstlerischen Qualität der Landschaftsdarstellung in der Zeichnung gegenüber den Zeichnungen der Schweizer Reise zu sprechen49, dafür scheinen mir die Zeichnungen im ästhetischen Vergleich doch zu ähnlich zu sein. Die Veränderung betrifft vielmehr die ästhetische Differenzierung des Motivs, das Verhältnis von Zeichnung und Erzählung sowie das mit den Gestaltungselementen zum Ausdruck kommende Verhältnis des Betrachters zur Natur, das auf den Selbstbildungsimpuls zurückweist: • Auslöser für die neuen Differenzierungsmöglichkeiten scheint mir zu sein, dass Goethe sich in der ihm fremden Materie von Bergbau und Geologie orientieren lernen muss. Indem er sich dabei nicht nur akademisch mit dem neuen Aufgabengebiet befasst, sondern die Gegend erkundet, die Landschaft durchstreift, erfährt er die einzelnen Gesteinsarten, Mineralien und geologische Gegebenheiten differenziert und in ihrem natürlichen Wirkungszusammenhang in der Natur. • Zeichnung und Erzählung sind trotz aller von Goethe geäußerten Zweifel ob der künstlerischen Qualität als unterschiedliche Medien sehr viel intensiver als die Schweizer Versuche aufeinander bezogen und ergänzen sich in ihrer Aussage zu einem korrelativen Ganzen50. • Das neue Verhältnis Goethes zur Natur dokumentiert sich sowohl in der ästhetischen Differenzierung als auch in der Korrelation der Darstellungsmodi. • Das neue Verhältnis zu Natur hat eine biographische Bedeutung für Selbstbildung – auch die Gegebenheiten des Persönlichen können nun als individuelle Konstruktionsleistung modelliert sowie differenzierter erlebt und reflektiert werden. Natur und Landschaft sind exponierter Ort dieser Verhandlung mit den Tiefenschichten der eigenen Person.

48

Zitiert nach Petra Maisak: Johann Wolfgang Goethe. Zeichnungen, a.a.O., S. 68. Vgl. auch den oben zitierten Brief an Herder vom 9. August 1776, in: FA 29: 57. 49 Petra Maisak: Johann Wolfgang Goethe. Zeichnungen, a.a.O., S. 68. Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine, Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, a.a.O., S. 23. 50 Vgl. zu späteren Verwendungssituationen der Kombination von Zeichnung und Erzählung die entsprechenden Abschnitte in Kap. 6, wo unter dem Gesichtspunkt des Schematisierens das ästhetische Verfahren variiert und erweitert wird.

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• Im Medium des Zweifels entfaltet sich ein offener Bildungsprozess im Horizont der Frage nach Bestimmung und Feld der individuellen Entwicklung. Johann Heinrich Merck charakterisierte im Frühsommer 1775 vor der Reise in die Schweiz die Signatur von Goethes Persönlichkeit: Dein Bestreben […] [,]deine unablenkbare Richtung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben; die andern suchen das sogenannte Poetische, das Imaginative, zu verwirklichen und das gibt nichts wie dummes Zeug.51

Ein gutes Jahr später im Sommer 1776 zeigen sich deutlich die Konturen dieser Bestimmung durch den Freund, die Wirklichkeit nicht durch Konstrukte des eigenen Innenlebens, sei es Einbildungskraft oder Verstand, zu überformen. Doch nicht allein auf eine ästhetische Formung von Wirklichkeit zielt Goethe. Aus landschaftlichen Gegebenheiten die Bedingungen der Tiefe abzuleiten, wird zu einem wissenschaftlichen Interesse an Geologie und Entwicklungsgeschichte der Erde (Verzeitlichung: Ursprung und Umwandlungsprozesse) werden, das Goethe intensiv verfolgt52. Die von Goethe eingeschlagene Richtung individueller Selbstkonstruktion bekommt in den Folgejahren eine besondere Dynamik, indem Goethe seine verschiedenen Aufgaben-, Arbeits- und Interessengebiete so miteinander synchronisiert, dass sich für das Leitmotiv von Aisthesis sowie für naturphilosophische Überzeugungen immer deutlicher konzeptionelle Konturen entwickeln53. So befasst sich Goethe 1777, ergänzend zu den Exkursionen im Thüringer Waldgebirge, mit denen er die landschaftlichen Gegebenheiten für das Bergbauprojekt erforscht, zunehmend mit den technischen Voraussetzungen des Bergbaus. Das Studium einschlägiger Fachliteratur kann ihm dabei nicht die unmittelbare Anschauung ersetzen: Ich dachte mir unerläßlich vor allen Dingen das Bergwesen in seinem ganzen Komplex, und wär’ es auch nur flüchtig, mit Augen zu sehen und mit dem Geiste zu fassen.54

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Dichtung und Wahrheit, in: FA 14: 787. Vgl. Kap. 2. Zu entsprechenden ästhetischen Konzeptionen vgl. Kap. 6. So in dem Bericht über die Harzreise 1777 in Aus meinem Leben. Zweiter Abteilung fünfter Teil. Campagne in Frankreich 1792 von 1822, in: FA 16: 532.

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Das Tagebuch notiert am 8. Oktober:» – – Regieren!!«55; zwei Gedankenstriche und zwei Ausrufezeichen rahmen das Wort ein, deutlicher kann die mit allem Ernst ergriffene politisch-ökonomische Aufgabe der Regierungsgeschäfte nicht hervorgehoben werden. Wäre da nicht ein interessanter Hinweis auf die Erlebnisse dieses Tages, der ein besonderes Licht auf diese Bekräftigung wirft. Goethe hatte sich bei einer Gesellschaft als Fremder erlebt, eine »Klufft zwischen mir und denen Menschen allen fiel mir so grass in die Augen, da kein Vehikulum da war«56, und sich in die Einsamkeit eines abgelegenen Raumes zurückgezogen, von wo er am Fenster bei Mondschein die Ruhe des Winters in seinem Haus herbeisehnt – »vor den Menschen mit denen ich doch nichts zu theilen habe«57. Widerstrebend antagonistische Tendenzen scheinen Goethe in dieser Zeit belastet zu haben; seine Fremdheit im gesellschaftlichen Umgang will nicht recht zur angestrebten Weltrolle passen. Am 16. November heißt es dann: »Projeckte zur heimlichen Reise«58, der erste konkrete Hinweis auf eine geplante Reise in den Harz im Spätherbst/Winter 1777, die in der Literatur als eines der zentralen biographisch bedeutsamen Ereignisse des ersten Weimarer Jahrzehnts angesehen wird59. Neben dem Bergbauprojekt nennt Goethe als zweite Intention seiner Reise einen »wunderlichen Korrespondenten persönlich«60 sehen zu wollen. Es 55

FA 29: 106. Vgl. die interpretatorische Zuspitzung allein auf regieren bei Albrecht Schöne: Götterzeichen: Harzreise im Winter, in: ders.: Götterzeichen, Liebeszauber, Satanskult. Neue Einblicke in alte Goethetexte, München 31993, S. 34. 56 FA 29: 106. Hervorhebungen durch den Verfasser. 57 Ebd. 58 FA 29: 111. 59 Vgl. zu einer detaillierten Darstellung der Reise Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine, Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, a.a.O., S. 27–48. Als Quelle zu dieser Reise liegt das Tagebuch Goethes vom 16. November bis 15. Dezember 1777 vor (in FA 29: 111 ff. und 121 f.), des Weiteren fünf Briefe an Frau von Stein vom 2. bis 11. Dezember 1777 (in FA 29: 113–120) sowie seine Reisebeschreibung in Aus meinem Leben. Zweiter Abteilung fünfter Teil. Campagne in Frankreich 1792 von 1822, in: FA 16: 532–543. Bedeutendstes Zeugnis der Reise ist sicherlich das Gedicht Harzreise im Winter von 1777 (FA 1: 322 ff.). Ich werde meine Rekonstruktion der Harzreise der Übersicht wegen auf den Umkreis der Besteigung des Brockens begrenzen und dabei um das Bildungsmotiv zentrieren; auf das Gedicht gehe ich nur randständig ein, obwohl es reizvoll wäre, exemplarisch die Bestimmung Mercks an dem Gedicht aufzuzeigen. Vgl. Goethes eigene Bemerkungen zu dem Gedicht in Über Kunst und Altertum, in: FA 21: 131–139. Das Gedicht wird kontrovers interpretiert. Vgl. neben der Deutung Engelhardts (siehe oben) weitere kontroverse Deutungen: Albrecht Schöne: Götterzeichen: Harzreise im Winter, a.a.O., S. 13–52; darin die Rekonstruktion der Fassungen und Lesarten S. 16–23; und Jochen Schmidt: Goethes Bestimmung der dichterischen Existenz im Übergang zur Klassik: »Harzreise im Winter«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 57 (1983), S. 613–635. 60 FA 16: 533.

5.1 Die Bedeutung von Natur für Aisthesis und biographische Reflexion

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handelt sich um Friedrich Viktor Lebrecht Plessing, der Goethe in depressiv selbstquälerischer Art geschrieben hatte. Unter der Hand befördert Goethe neben den ausgewiesenen Zielen in der Einsamkeit der Bergnatur des Harzes heimlich ein persönliches Geschäft: den Brocken im Winter als real-symbolischen Ort seiner Selbstbildung zu besteigen, um ein Zeichen über die Perspektive zukünftiger Existenz zu erhalten61. Goethe selbst betont noch 1821 die »allerbesondersten Umstände« einer bedeutenden »Epoche«62 seines Lebens. Auch das für die Reise gewählte Inkognito – »es ist mir als wenn ich mein Verhältniss zu den Menschen und den Sachen weit wahrer fühlte«63 – deutet auf die exponierte Raum-Zeit-Konstellation der Unternehmung und verstärkt den Eindruck von Fremdsein in der aktuellen Rolle. Goethe widmet dem ersten Geschäft eine beträchtliche Zeit. Während der Reise vom 29. November bis zur Rückkehr nach Weimar am 16. Dezember reitet und wandert Goethe dreizehn Tage vom 1. bis 13. Dezember durch den Harz64 und nimmt dabei beachtliche Strapazen auf sich65. Während dieser Zeit besucht er an insgesamt sechs Tagen Berg- und Hüttenwerke des Harzes: • am 5. Dez. den Silber- und Erzbergbau im Rammelsberg bei Goslar: »früh in Rammelsberg den ganzen Berg bis ins tiefste befahren«66; • am 6. Dez. besucht Goethe den 5 km von Goslar entfernt liegenden Hüttenort Oker: »Gesehn die Messing Arbeit und das Hüttenwerk«67; • am 8. Dez. »früh eingefahren in der Caroline Dorothee und Benedickte«68, ein Erzbergwerk bei Clausthal, was bedeutet, dass Goethe zu Schächten in über 500 Meter Tiefe über Leitern ab- und aufsteigt; 61 Dieses Ziel bezweifelt Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine, Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, a.a.O., S. 43 ff. und geht von einer spontanen Entscheidung Goethes unmittelbar vor der Besteigung aus. Legt man dagegen den Brief vom 10. Dezember an Charlotte von Stein zugrunde (FA 29: 119), in dem Goethe davon spricht, den Plan der Brockenbesteigung schon seit acht Tagen mit verschiedenen Personen besprochen zu haben, so plant er spätestens seit dem 2. Dezember, dem Tag, an dem er in der Baumannshöhle war, das Unternehmen. Spätestens seitdem gehört der Brocken zum Projekt. Dass ein Plan früheren Datums angenommen werden muss, rekonstruieren meine folgenden Erörterungen. 62 Über Kunst und Altertum, in: FA 21: 132. 63 Brief vom 6. Dezember 1777 an Charlotte von Stein, in: FA 29: 115. 64 Tagebuch, in: FA 29: 112 f. und 121 f. 65 Vgl. Albrecht Schöne: Götterzeichen: Harzreise im Winter, a.a.O., S. 24 f. Schöne errechnet ca. 500 km, die Goethe zu Fuß und zu Pferd zurücklegt. 66 Tagebuch FA 29: 121. Vgl. Georg Schwedt: Goethe als Chemiker, Berlin und Heidelberg 1998, S. 41 ff. zu speziellen Abbautechniken wie dem Feuersetzen, die Goethe in Augenschein nahm. 67 Tagebuch, in: FA 29: 121. 68 Ebd.

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• am 9. Dez. in Clausthal Besuch der Silberhütte sowie Besichtigung der Gesteinsund Mineraliensammlung des Apothekers Ilsemann69; • am 12. Dez. »Abends eingefahren in Samson […] ward mir sehr sauer diesmal«70 – hier überwindet Goethe 810 Höhenmeter per Leiter, nachdem er den Tag über von Clausthal nach Andreasberg geritten war; • am 13. Dez. besichtigt er die Königshütte, eine Eisenhütte, bei Lauterberg. Das zweite Geschäft erledigt Goethe am 3. Dezember in Wernigerode. Ohne seine wahre Identität offenzulegen, besucht er den etwa gleichaltrigen Friedrich Viktor Lebrecht Plessing, der, psychisch labil, Gefahr läuft, völlig zu vereinsamen, weil er keine Aufgaben- und Handlungsfelder im tätigen Leben findet. Goethe begegnet der Werthermentalität von Plessing mit dem Rat, dass man sich »aus einem schmerzlichen, selbstquälerischen, düstern Seelenzustande nur durch Naturbeschauung und herzliche Teilnahme an der äußern Welt retten und befreien«71 könne. Der Therapievorschlag entspricht Goethes momentaner Aktivität, nicht in Plessing’scher Weise in seiner Identitätskrise versinken zu wollen. Seine Reise ist »wie ein kaltes Bad, das einen aus der bürgerlich wollüstigen Abspannung, wieder zu einem neuen kräfftigen Leben zusammen zieht«72 – ein Akt von Selbstbildung nach dem Muster des ästhetisch Erhabenen, freilich ohne diese ideengeschichtliche Dimension im Blick zu haben73. Zur dritten Intention: Die »allerbesondersten Umstände« einer bedeutenden »Epoche«74 seines Lebens zeugen von der Hoffnung Goethes, mit der Brockenbesteigung im Winter ein »Befestigungs Zeichen«75 der Götter zu erhalten. In dem Brief vom 6. Dezember an Charlotte von Stein vermittelt er seinen Plan im Horizont kosmischer Bezüge: »Es ist erstes viertel, ich hab einen Wunsch auf den Vollmond wenn ihn die Götter erhöhren, wärs grosen Dancks werth. Ich nehm auch nur mit der Hälfte vorlieb«76. Am 10. Dezember »Nachts gegen 7« nach der Besteigung des Brockens schreibt er:

69 Ebd. Vgl. Georg Schwedt: Goethe als Chemiker, Berlin und Heidelberg 1998, S. 46 ff., der vermutet, dass dieser Besuch Goethe anregt, eigene Sammlungen anzulegen. 70 Tagebuch, in: FA 29: 122. 71 Aus meinem Leben. Zweiter Abteilung fünfter Teil. Campagne in Frankreich 1792 von 1822, in: FA 16: 539. 72 Brief vom 9. Dezember 1777 an Charlotte von Stein, in: FA 29: 117. Vgl. dazu Albrecht Schöne: Götterzeichen: Harzreise im Winter, a.a.O., S. 40 ff. 73 Vgl. zur doppelten Ästhetik von Schönem und Erhabenen die Ausführungen zur ästhetischen Bildung bei Schiller in Kap. 3.2. 74 »Über Kunst und Altertum«, in: FA 21: 132. 75 Brief vom 10. Dezember 1777 an Charlotte von Stein, in: FA 29: 119. 76 Brief vom 6. Dezember 1777 an Charlotte von Stein, in: FA 29: 115.

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Ich sagte: ich hab einen Wunsch auf den Vollmond! – Nun Liebste tret ich vor die Türe hinaus da liegt der Brocken im hohen herrlichen Mondschein über den Fichten vor mir und ich war oben heut und habe auf dem Teufels Altar meinem Gott liebsten Danck geopfert.77

4 Brocken im Mondlicht, vom Torfhaus her gesehen

Derart in kosmischer Dimension und im konkreten Raum-Zeit-Gefüge der Landschaftsnatur inszeniert (»da liegt der Brocken im hohen herrlichen Mondschein«, vgl. die Zeichnung, deren Ästhetik ihn förmlich schweben lässt78), tritt die symbolische Bedeutung der Unternehmung hervor (»und habe auf dem Teufels Altar meinem Gott liebsten Danck geopfert«: Felsblöcke auf dem Brocken heißen Teufelskanzel und Hexenaltar79 – eine Verknüpfung geologisch-mineralogischer und mythologischreligiöser Motive80). Albrecht Schöne sieht diese Bedeutung in dem »augurium imperativum«, dem Zeichen der Götter81, die Besteigung des Brockens wird damit 77 Brief vom 10. Dezember 1777 an Charlotte von Stein, in: FA 29: 119. Albrecht Schöne: Götterzeichen: Harzreise im Winter, a.a.O., S. 32, merkt dazu an, dass am 7. Dezember 1777 der Mond im ersten Viertel stand und folglich auch erst für den 14. Dezember Vollmond anzunehmen sei. Ich plädiere dafür, zwischen dem »Wunsch auf den Vollmond« und dem geschilderten »hohen herrlichen Mondschein« zu unterscheiden, auch unter diesen Bedingungen behält die grundsätzliche zeitliche Einbettung ihre Bedeutung. 78 So der Begleittext zur Zeichnung in: Johann Wolfgang Goethe: Landschaftszeichnungen, a.a.O., S. 94. 79 Kommentar FA 29: 808. 80 Vgl. zum Teufelsmotiv Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine, Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, a.a.O., S. 46. 81 Albrecht Schöne: Götterzeichen: Harzreise im Winter, a.a.O., S. 33.

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5 Selbstbildung in der Transformation von Aisthesis zur Methode anschauender Betrachtung

zum bloßen Mittel zu diesem Zweck; Wolf von Engelhardt betont gegenüber vermeintlicher »prometheischer Selbstgewißheit« die von Goethe erlebte »›übermütterliche Leitung‹ höherer Mächte«82. Nun ist an keiner Stelle bei Goethe von einer solchen Selbstgewissheit die Rede. Vielmehr spricht Goethe in dem erwähnten Brief vom 10. Dezember von einer »übermütterliche[n] Leitung zu meinen Wünschen« und davon, dass er das »Ziel« seines »Verlangens«83 erreicht habe. Ich sehe darin eine zentripetal-zentrifugale Dynamik, vergleichbar dem Leitmotiv des Faust – dem Streben des Menschen korrespondiert eine Erlösung durch höhere Mächte84. Demnach setzt das »Befestigungs Zeichen« das Streben als konstitutive Bewegungsdynamik voraus, wie diese sich erst durch das Zeichen der Götter ihres Sinns versichern kann: also ein sich wechselseitig ergänzendes Bedingungsgefüge. Diese korrelative Bewegungsdynamik scheint mir konstitutiv für die von Goethe empfundene biographische Bedeutung der Situation zu sein. Sie ergänzt und erweitert die bisher rekonstruierte individuelle Konstruktionsleistung. Betrachtet man die genaueren Umstände dieser Zeit, so wirft schon ein Ereignis zwei Tage zuvor ein bezeichnendes Licht auf solcherart Korrespondenzen. Am 8. Dezember notiert Goethe in Clausthal: »[F]rüh eingefahren in der Caroline Dorothee und Benedickte«85. Unter Tage will sich Goethe ein Bild von den konkreten Gegebenheiten des Bergbaus machen. Einen Tag später berichtet er abends, nun schon in Altenau, an Charlotte von Stein: Dass ich iezt um und in Bergwercken lebe, werden Sie vielleicht schon errathen haben. Gestern Liebste hat mir das Schicksaal wieder ein gros Compliment gemacht. Der Geschworne ward einen Schritt vor mir von einem Stück Gebürg das sich ablöste zu Boden geschlagen, da er ein sehr robuster Mann war so stemmte er sich da es auf ihn fiel, dass es sich in mehr Stücken auseinander brach, und an ihm hinabrutschte es überwältigte ihn aber doch, und ich glaubte es würde ihn wenigstens die Füsse sehr beschädigt haben, es ging aber so hin, einen Augenblick später so stund ich an dem Fleck, denn es war eben vor einem Ort den er mir zeigen wollte, und meine schwancke Person hätt es gleich niedergedrückt, und mit der völligen Last gequetscht. Es war immer ein Stück von fünf, sechs Zentnern.86 82 Wolf von Engelhardt: Goethes Weltansichten. Auch eine Biographie, a.a.O., S. 120. Vgl. den Brief Goethes an Charlotte von Stein vom 10. Dezember 1777, in: FA 29: 119. 83 Ebd. 84 Vgl. im Prolog im Himmel, V. 317 »Es irrt der Mensch solang’ er strebt« sowie 2. Teil, 5. Akt, V. 11936 f.: »Wer immer strebend sich bemüht,/Den können wir erlösen«. 85 Tagebuch, in: FA 29: 121. 86 Brief vom 9. Dezember an Charlotte von Stein, in: FA 29: 118. Der Brief ist über mehrere Tage zwischen 7. und 9. Dezember geschrieben.

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In über 500 Meter Tiefe entgeht Goethe nur knapp einem wahrscheinlich sehr schweren Unfall. Er spricht vom Schicksal. Für ihn also ist die unerwartete plötzliche Begebenheit kein isolierter Vorfall, auch nicht unerklärlich, sondern in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Goethe stellt darüber keine distinkte Reflexion an. Unter den gegebenen Umständen der Reise und mit der spezifischen Form schriftlicher Kommunikation durch einen Brief modelliert Goethe jedoch eine besondere Art der Auseinandersetzung in einem rhapsodischen Duktus sich spiegelnder Motive des biographischen Zusammenhangs. Er spricht u.a. von einer momentanen inneren Unruhe, über die er ablehnt tiefer nachzudenken; allein in der Einsamkeit erkenne er sich selbst wieder; das kalte Bad der Anstrengungen der Reise kräftige ihn, lasse ihn das Leben intensiver spüren; inkognito, in der »freywilligen Entäuserung« erlebe er sich als einen »Probirstein«, auf den sich die Eigenheiten der Menschen, die ihm begegnen, eingravieren87. Auf der Reise lerne er, was er »bey sich«88 nicht finden könne. Was dergestalt verstreut an Gedankensplittern im Brief verteilt ist, offenbart eine labil offene zentrifugale Suchbewegung des Wanderers, der, auf sich allein gestellt, bewusst die Herausforderung und Begegnung sucht, um sich in ihnen spiegelnd zu finden. Man kann das Ganze zunächst als weitere Variation individueller Konstruktionsleistung verstehen, wie sie anlässlich der Thüringer Reisen zu finden ist. Sehr indirekt, durch die Erinnerung an eine Episode während seiner Krankheit am 7. Dezember 1768, deutet Goethe gegenüber seiner Adressatin jedoch tiefere Zusammenhänge und Ziele der Suchbewegung an: Es ist eben um die Zeit, wenig Tage auf ab, dass ich vor neun Jahren kranck zum Todte war, meine Mutter schlug damals in der äusersten Noth ihres Herzens ihre Bibel auf und fand, wie sie mir nachher erzählt hat: »Man wird wiederum Weinberge pflanzen an den Bergen Samatiä, pflanzen wird man und pfeifen.« […] Sie sehn was für Zeug mir durcheinander einfällt.89

Was Goethe mit der letzten Wendung halb andeutet, halb kaschiert, scheint ihn zwischen dem 7. und 9. Dezember 1777 intensiv zu beschäftigen: Erleben, Erinnerung und Reflexion bilden ein Amalgam geahnter Lebenszusammenhänge im Horizont religiös anmutender Todes- und Geburtssymbolik. Die unerwartete Be87 FA 29: 117, alle Zitate sind sinngemäße Wiedergaben. 88 FA 29: 116; der gleiche Brief, allerdings am 7. Dezember abends geschrieben. 89 FA 29: 118 und Kommentar S. 807: Goethe hatte am 7. Dezember 1768, dem Geburtstag seiner Schwester Cornelia, in Frankfurt eine schwere Kolik im Zusammenhang seiner Krankheit, die er sich in Leipzig zugezogen hatte.

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gebenheit deutet zeichenhaft auf eine Fügung, eine Gestalt des Lebens, in der das aktuelle Unternehmen als ein Teil steht. Was Goethe dergestalt »tiefer ins Gebürg gesenckt«90 widerfährt, ist, so die Hoffnung, zentripetal verlaufende ahnungsvolle Wahrnehmung einer optimistischen Prognose in Bezug auf zukünftige Bestimmung im Zusammenhang individueller Konstruktionsleistung und Rollengestaltung: bildende Erfahrung als Expansion in übergreifende biographische Zusammenhänge. Unter diesen Vorzeichen bekräftigt Goethe seine Suche: »[U]nd will morgen von da in seltsame Gegenden streifen, wenn ich einen Führer durch den Schnee finde«91. Von der Besteigung des Brockens berichtet das Tagebuch vom 10. Dezember: [F]rüh nach dem Torfhause in tiefem Schnee [Wanderung von Altenau zum Torfhaus; J.S.]. 1 viertel nach 10 aufgebrochen von da auf den Brocken. Schnee eine Elle tief, der aber trug, 1 viertel nach eins droben. heitrer herrlicher Augenblick, die ganze Welt in Wolcken und Nebel und oben alles heiter. Was ist der Mensch dass du sein gedenckst. Um viere wieder zurück. Beym Förster auf dem Torfhause in Herberge.92

Am gleichen Tag »Nachts gegen 7« schreibt Goethe von Torfhaus aus, wie oben erwähnt, an Charlotte von Stein von der Besteigung des Brockens, seinem »Wunsch auf den Vollmond« und seinem Dankopfer93. Im gleichen Brief, aber einen Tag später (11. Dezember) und nun schon wieder in Clausthal, berichtet Goethe ausführlich: [W]ie ich gestern zum Torfhause kam sas der Förster bey seinem Morgenschluck in Hemdesärmeln, und diskursive redete ich vom Brocken und er versicherte die Unmöglichkeit hinauf zu gehen, und wie offt er Sommers droben gewesen wäre und wie leichtfertig es wäre iezt es zu versuchen – Die Berge waren im Nebel man sah nichts, und so sagt er ists iezt oben, nicht drey Schritte vorwärts können Sie sehn. Und wer nicht alle Tritte weis ppp. Da sas ich mit schweerem Herzen, mit halben Gedancken wie ich zurückkehren wollte. Und ich kam mir vor wie der König den der Prophet mit dem Bogen schlagen heisst und der zu wenig schlägt. Ich war still und bat die Götter das Herz dieses Menschen zu wenden und das Wetter, und war still. So sagt er zu mir: nun können Sie den Brocken sehn, ich trat ans Fenster und er lag vor mir klar wie mein Gesicht im Spiegel, da ging mir das Herz auf und ich rief: Und ich sollte nicht hinaufkommen! Haben Sie keinen Knecht, 90 91 92 93

FA 29: 117. FA 29: 118. FA 29: 121. FA 29: 119.

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niemanden – Und er sagte ich will mit Ihnen gehen. – – Ich habe ein Zeichen in’s Fenster geschnitten zum Zeugniss meiner Freuden Trähnen und wärs nicht an Sie hielt ich’s für Sünde es zu schreiben. Ich habs nicht geglaubt biss auf der obersten Klippe. Alle Nebel lagen unten, und oben war herrliche Klarheit und heute Nacht bis früh war er im Mondschein sichtbaar und finster auch in der Morgendämmerung da ich aufbrach.94

Goethe erzählt dieses für ihn außerordentliche Ereignis mittels eines dramaturgischen Spannungsbogens. Auf die hoffnungsvolle Wanderung von Altenau zum Torfhaus folgt dort der Umschlag – Wetterlage und Skepsis des Försters scheinen das Unmögliche der Unternehmung zu bestätigen. Das Aufklaren des Wetters bringt die Wende; ein erneuter Impuls setzt sich in Rede und Gegenrede durch: der Entschluss zur Brockenwanderung ist gefasst. Bis zum Gipfel bleibt eine Unsicherheit ob des tatsächlichen Gelingens; dort differenziert sich in der Wahrnehmung des Wanderers die Klarheit des Lichts am Himmel gegenüber dem Nebel, der die Landschaft verdeckt. Nach der Rückkehr bleibt der Berg dominantes Wahrnehmungsobjekt auch in den Lichtverhältnissen der Nacht. Im Vorherigen habe ich auf die korrelative Bewegungsdynamik von Streben und Innewerden eines schicksalhaften Zeichens im Kontext der Brockenwanderung hingewiesen, die mir konstitutiv für die von Goethe empfundene biographische Bedeutung der Situation zu sein scheint. Auch die obige Sichtung der entsprechenden Passagen von Tagebuch und Brief verdeutlicht, wie für Goethe individuelle Konstruktionsleistung und sich zeigender Zusammenhang gemeinsam erst Selbstbildung in eine Perspektive von Ganzheit stellen. Die Bedeutung von Aisthesis erweitert sich damit im Kontext des mit der Harzreise heimlich verfolgten persönlichen Anliegens von Goethe in: Wahrnehmung von sinnlich erscheinenden Zeichen, die, auf das Eigene bezogen, den Verlauf des Lebens als Gestalt erahnen lassen. Ich möchte noch eine sich abzeichnende naturphilosophisch-naturwissenschaftliche Perspektive des Erlebnisses auf dem Brocken aufzeigen. Dass Goethe auf dem Brocken nicht in ein diffus sentimentales ozeanisches Einheitsgefühl abgleitet, ist sofort deutlich, wenn man das versteckte Zitat des 8. Psalms (»Was ist der Mensch dass du sein gedenckst«) in der Tagebuchnotiz berücksichtigt und dieses in den Kontext der folgenden Verszeilen der Harzreise im Winter stellt: Du stehst unerforscht die Geweide Geheimnißvoll offenbar Ueber der erstaunten Welt, 94 FA 29: 120, Brief an Charlotte von Stein vom 11. Dezember 1777.

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Und schaust aus Wolcken Auf ihre Reiche und Herrlichkeit Die du aus den Adern deiner Brüder Neben dir wässerst.95

Der zitierte Psalm weist, wie Albrecht Schöne gezeigt hat96, auf eine religiöse Dimension des Erlebten. Ich würde darüber hinaus betonen, dass mit dem Psalm insbesondere auch auf die Bestimmung des Menschen hingedeutet wird, die Natur als Werk Gottes zu erkennen. Ich möchte jedoch daran erinnern, dass dieser Gott für Goethe nicht das transzendentale Wesen im Sinne traditioneller Metaphysik und christlicher Theologie ist, sondern ein der Natur immanentes Wirkensprinzip97. Unter dieser Voraussetzung wird mit den Versen des Gedichtes ein klares Ziel formuliert: Das in der Natur geheimnisvoll offenbare innere Wirkungsprinzip ist noch unerforscht98. Konkrete sinnliche Anschauung der Natur evoziert hier eine Perspektive zukünftiger Forschung. Vier Prinzipien dieser Forschung kann man schon in ihren Umrissen erkennen: • Goethe erforscht das Phänomen in seinem Naturkontext99; • Die Formel des geheimnisvoll Offenbaren folgt dem ontologischen Prinzip des Deus-seu-Natura-Gedankens; • Aisthesis wird zu einer Forschungsmethode transformiert, in der Anschauen selbst ein Denken und Denken ein Anschauen in zentrifugal-zentripetaler Relation ist100; • Naturforschung ist eine Form von Selbstbildung101.

95 96 97 98

Hier zitiert nach Albrecht Schöne: Götterzeichen: Harzreise im Winter, a.a.O., S. 22. Vgl. Ebd., S. 46 ff. Vgl. dazu die Rekonstruktion in Kap. 4.2.3. Was Goethe bei seiner zweiten Spinozalektüre als Differenzierung von natura naturata (geschaffene Natur) und natura naturans (schaffende Natur) intensiv studieren wird; vgl. dazu meine Ausführungen in Kap. 4. 99 Dass sich Goethe damit vom wissenschaftlichen Instrumentarium der Naturwissenschaften abgrenzt (Laborsituation und experimentum crucis von Newton), ist in Kap. 2.2 dargestellt. 100 So Goethe in Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort, einem Aufsatz, mit dem er auf einen der ersten Interpreten seiner wissenschaftlichen Methode, Johann Christian Friedrich August Heinroth und dessen Lehrbuch der Anthropologie (1822), eingeht, der Goethe ein gegenständliches Denken zusprach. Vgl. FA 24: 595 sowie den Kommentar in MA 12: 1021 f. Vgl, auch Kap. 4.2.2 (Aisthesis im Kontext des Baukunstaufsatzes). 101 Vgl. zu den vier Prinzipien auch die Perspektivierung in Kap. 2.2.

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In Sinne dieser Prinzipien hat Goethe wiederholt auf die Bedeutung seiner Brockenerfahrung im Winter 1777 für die Farbenlehre hingewiesen102. In § 75 schildert er ca. 1810 sein Erlebnis farbiger Schatten beim Abstieg vom Brocken: Auf einer Harzreise im Winter stieg ich gegen Abend vom Brocken herunter, die weiten Flächen auf- und abwärts waren beschneit, die Heide von Schnee bedeckt, alle zerstreut stehenden Bäume und vorragenden Klippen, auch alle Baum- und Felsmassen völlig bereift, die Sonne senkte sich eben gegen die Oderteiche hin-

unter. Waren den Tag über, bei dem gelblichen Ton des Schnees, schon leise violette Schatten bemerklich gewesen, so mußte man sie nun für hochblau ansprechen, als ein gesteigertes Gelb von den beleuchteten Teilen widerschien. Als aber die Sonne sich endlich ihrem Niedergang näherte, und ihr durch die stärkeren Dünste höchst gemäßigter Strahl die ganze mich umgebende Welt mit der schönsten Purpurfarbe überzog, da verwandelte sich die Schattenfarbe in ein Grün, das nach seiner Klarheit einem Meergrün, nach seiner Schönheit einem Smaragdgrün verglichen werden konnte. Die Erscheinung ward immer lebhafter, man glaubte sich in einer Feenwelt zu befinden, denn alles hatte sich in die zwei lebhaften und so schön übereinstimmenden Farben gekleidet, bis endlich mit dem Sonnenuntergang die Prachterscheinung sich in eine graue Dämmerung, nach und nach in eine mond- und sternhelle Nacht verlor.103

Gegenüber Tagebuch und Brief fallen besonders Duktus und Stil der im Abstand von 33 Jahren entstanden Erzählung auf104. Atmosphäre der Landschaft und Anschauung derselben werden mit poetischen Stilmitteln in höchst differenzierter Weise veranschaulicht, welche die Perspektive der o.g. Methode der Betrachtungsweise erkennen lassen. Nach der Exposition von Ort, Zeit und näheren Umständen wird ein aktueller Eindruck (»so mußte man sie nun für hochblau ansprechen, als ein gesteigertes Gelb von den beleuchteten Teilen widerschien«) erinnernd mit einem vergangenen (»Waren den Tag über, bei dem gelblichen Ton des Schnees, schon leise 102 Es lag Schnee! Erst die folgenden Wanderungen zu anderen Jahreszeiten ließen dann auch eine genauere Betrachtung der Gesteine zu. Deshalb sollte man die Erfahrung 1777 nicht in einen direkten Bezug zu Aufsätzen über den Granit stellen, wie es Albrecht Schöne nahelegt, vgl. Albrecht Schöne: Götterzeichen: Harzreise im Winter, a.a.O., S. 48 f. 103 Zur Farbenlehre, Didaktischer Teil, 1. Abt. Physiologische Farben § 75, in: FA 23/1: 54 f. 104 Vgl. zum epischen Präteritum und seiner Bedeutung für den Text Albrecht Schöne: Goethes Farbentheologie, a.a.O., S. 27.

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5 Selbstbildung in der Transformation von Aisthesis zur Methode anschauender Betrachtung

violette Schatten bemerklich gewesen«) durch die Satzbaukonstruktion verbunden. Während denkende Anschauung hier Bezüge zwischen verschiedenen Erscheinungen generiert, ist sie doch maßgeblich von den Ekstasen der Dinge angeregt (»so mußte man«). Mit episch inszenierter Unmittelbarkeit (»Als aber«) wird sodann das Farbenspiel bei untergehender Sonne modelliert. Dem denkenden Anschauen differenziert sich in kausaler Ursache-Wirkungs-Relation die Welt nach Purpur und Grün; das anschauende Denken differenziert das Grün nach Klarheit und Schönheit als Meergrün sowie Smaragdgrün. Das Erlebnis löst intensive Empfindungen aus (»man glaubte sich in einer Feenwelt zu befinden«), bis die aktiv handelnd erscheinende Natur (Personifikationen, transitive Verben) mit ihren Ekstasen das Subjekt erneut beeindruckt. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch, was Goethe in dieser Erinnerung verschweigt: Die ganz andere Art von Finsternis im Gebirge, wo er unter Tage dem Tod begegnet, gegenüber dem Sternenhimmel, der offensichtlich eine Expansion ins Ganze evoziert.

5.2 Das Entstehungsmoment wissenschaftlicher Betrachtungsweise am Beispiel der Geognostik/Geologie Johann Wolfgang Goethe hatte in dem im Harz tätigen Geologen und Vizeberghauptmann Friedrich Wilhelm Heinrich von Trebra seit dem Beginn des Bergbauprojektes in Ilmenau 1776 einen Freund gefunden, mit dem er sich über Fragen der Geologie und des Bergbaus rege austauschte. Trebra erinnert sich in seinen Aufzeichnungen an eine geologische Exkursion beider am 22. September 1783 zum Rehberger Graben im Harz, bei der an Rehberger Klippe Goethes Herangehens- und Betrachtungsweise, sich den Phänomenen der Natur zu nähern und sich mit ihnen auseinander zu setzen, exemplarisch deutlich wird: Diese hohe, nahe am Graben ganz senkrecht dastehende Felswand war mit einem großen Haufen heruntergestürzter Bruchstücke von Tisch- und Stuhl- und Ofengröße verschanzt, von welchen sogleich viele zerschlagen wurden. Unter ihnen fanden sich mehrere von jenen Doppelgesteinsarten: Granit mit aufgesetztem, eingewachsenen dunkelblauen, fast schwarzem, sehr hartem (jaspisartigem) Tongestein. »Die können nirgends anders herkommen als von jener Klippe da vor uns.« »Dahin müssen wir«, antwortete mein Freund. »Behutsam! vorsichtig!«, schrie ich ihm nach, »die moosbedeckten, schlüpfrigen Felsstücke liegen gefahrvoll durcheinander, wir können die Beine dazwischen brechen.« »Nur fort! nur fort!«, ant-

5.2 Das Entstehungsmoment wissenschaftlicher Betrachtungsweise

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wortete er voraneilend, »wir müssen noch zu großen Ehren kommen, ehe wir die Hälse brechen!«; und wir kamen zusammen heran an den Fuß der Felswand, wo wir nun gar deutlich den Abschnitt des schwarzen Gesteins auf dem blaß fleischroten Granit in gar langer Linie sich hinziehend erkennen konnten. Aber, unserer ziemlichen Größe ungeachtet, erreichen mit unsern Händen konnten wir sie doch nicht. »Wenn du dich fest hinstellen wolltest«, sagte mein Freund zu mir, »so wollte ich jene in den Felsen eingewachsene Strauchwurzel ergreifen, mich im Anhalten an sie behend auf deine Schultern schwingen, und dann würde ich den so kenntlichen Abschnittsstrich wenigstens mit der Hand erreichen können.« So geschahs, und wir hatten das seltne Vergnügen, den merkwürdigen Abschnittsstrich von hier eingewurzeltem Urgebirge roten Granits und draufstehendem dunkel-, fast schwarzblauen Tongestein nahe zu sehen, sogar mit Händen zu greifen.105

Die Exkursion mit geologischen Impetus führt die Wanderer zu einer Geröllhalde, in deren Gewirr verschiedene Exemplare einer Doppelgesteinsart gefunden und untersucht werden (typisch rötlicher Brockengranit und dunkler Hornfels106). Als Trebra vermutet, dass die Gesteinsbrocken von einer nahen Klippe stammen, verfolgt Goethe unbeirrt sein Ziel, die Gesteinsgrenze am Aufschluss mit »Händen zu greifen«. Ihm reicht es nicht, die Entdeckung in Augenschein zu nehmen und Exponate der geologischen Besonderheit zu haben, erst die unmittelbare Nähe durch taktile Berührung der Gesteinsgrenze am Aufschluss selbst macht das »seltne Vergnügen« der Entdeckung für ihn vollkommen. Auch in den Äußerungen gegenüber Trebra wird deutlich, dass für Goethe das Greifen nicht nur eine symbolische Bedeutung für das Begreifen zu haben scheint (»wir müssen noch zu Ehren kommen, ehe wir die Hälse brechen«). In der Atmosphäre des Naturerlebnisses lösen die Ekstasen des Objektes einen produktiven Schwung beim Subjekt aus, als dessen inneren Impetus man ein besonderes Erkenntnisinteresse Goethes vermuten darf. Seine Forschungen bis zu diesem Zeitpunkt hatten ihn zu der Überzeugung gebracht, dass der Granit das älteste Gestein, das Urgestein der Tiefe der Erde sei. Alle anderen Gesteine mussten durch Umwandlung unter bestimmten verursachenden Bedingungen in einer bestimmten zeitlichen Folge in unendlicher Varietät und Differenzierung aus ihm hervorgegangen sein. Verzeitlichung der gegebenen Naturphänomene ist demnach der entscheidende Modus und Granitgestein das zentrale Medium von Betrachtung und Forschung. Goethe formuliert dabei noch keinen theoretischen Zeitbe105 LA I,1: 56 f. 106 Vgl. Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine, Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, a.a.O., S. 88: »[N]ach heutigem Verständnis einem durch hohe Temperatur der eindringenden Granitschmelze gesinterten Tonschiefer«.

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5 Selbstbildung in der Transformation von Aisthesis zur Methode anschauender Betrachtung

griff, sondern liest Zeit am konkreten Phänomen ab; er entwickelt aus aktueller Raumerfahrung eine Idee zeitlicher Abläufe der Erdgeschichte107: studiert »simultane Wirkungen« bevorzugt gegenüber »sukzessive[n]«108, die für ihn stärker hypothetische Annahmen sind. An der Rehberger Klippe nun sah Goethe sich mit dem unmittelbaren Übergang von Granit und Hornfels konfrontiert, was sein Interesse erklärt: Er hofft ganz offensichtlich, mit der Zeit und weiteren Untersuchungen dem verursachenden Prozess für dieses Phänomen auf die Spur zu kommen, vielleicht einmal eine plausible Erklärung der Entwicklungs- und Umwandlungsprozesse der Erde formulieren zu können. Der Granit spielt bei diesen Forschungen Zeit seines Lebens die entscheidende Rolle, der »Haupt-Maxime getreu, alle geologischen Betrachtungen vom Granit anzufangen, sodann aber die Übergänge, wie mannigfaltig sie auch sein mögen, fleißig zu schauen«109. Das Beständige im Veränderlichen: Kontinuität und Kontingenz in ihrer relationalen Wechselwirkung im Umwandlungsgeschehen der Entwicklungsprozesse der Natur deuten sich damit als Denkmuster in der Betrachtungsweise Goethes an110. Das Verhalten in der Szenerie am Rehberger Graben und die diesem zugrunde liegenden Überzeugungen der Naturforschung Goethes sollen im Folgenden anhand von Briefen rekonstruiert werden, welche, unmittelbar an Erfahrungen anknüpfend, das lebendige Entstehungsmoment wissenschaftlicher Betrachtungsweise spiegeln. 107 Vgl. zu Goethes Zeitbegriff Uwe Pörksen: Raumzeit. Goethes Zeitbegriff, abgelesen an seinen sprachlichen und zeichnerischen Naturstudien, Stuttgart 1999, S. 21 f. sowie eine Übersicht über Facetten von Goethes Zeitbegriff S. 45. 108 An Herrn von Leonhard (1807), in: FA 25: 363. 109 Problematisch, in: FA 25: 384. Uwe Pörksen hat für Goethes Zeitbegriff den Begriff Raumzeit vorgeschlagen: »Zeit wird nicht unabhängig vom Raum gedacht, der Raum hat in diesem Zeitdenken Priorität als sichtbarer Raum.« Uwe Pörksen: Raumzeit. Goethes Zeitbegriff aufgrund seiner sprachlichen Darstellung geologischer Ideen und ihrer Visualisierung, in: Peter Matussek (Hrsg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur, München 1998, S. 123. Vgl. zur Differenzierung dieses Forschungsgegenstands das Kap. 5 über den Granit. 110 Was damit für das geologische Interesse Goethes festgestellt ist, muss als ein besonderer Teil des Naturmodells von Goethe verstanden werden, das er als Stufenleitermodell aus der abendländischen Tradition und aus den Diskurszusammenhängen seiner Zeit kennt. Margit Wyder hat gezeigt, dass bis zur Italienischen Reise dieses vormoderne Modell der Scala Naturae, das Mineral/Stein, Pflanze, Tier und Mensch in eine verbindende Reihe stellt und damit »seit der Antike das Ganzheitsparadigma der abendländischen Wissenskultur« darstellte, das naturphilosophische Grundmuster Goethes gewesen ist, was sich dann in das morphologische Denken transformiert hat, vgl. Margit Wyder: Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformationen, Köln u.a. 1998, Zitat S. 4. Vgl. zur Transformation des Scalenmodells zur Metamorphosenlehre ab S. 189 ff., zum wichtigen Begriff der Folge S. 227 ff.

5.2 Das Entstehungsmoment wissenschaftlicher Betrachtungsweise

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»Ich gebe [!], seit ich mit Bergwercks Sachen zu thun habe, mit ganzer Seele in die Mineralogie«111, bekennt Goethe im September 1780 gegenüber Sophie von LaRoche. Kurze Zeit später ist er diesbezüglich für mehrere Wochen auf Exkursion; dabei berichtet er an Charlotte von Stein am 6. September 1780 von seiner Wanderung auf den Kickelberg?/Gickelhahn in der Nähe von Ilmenau, um »dem Wuste des Städgens, den Klagen, den Verlangen, der Unverbesserlichen Verworrenheit der Menschen auszuweichen«: Es ist ein ganz reiner Himmel und ich gehe des Sonnen Untergangs mich zu freuen. Die Aussicht ist gros aber einfach. Die Sonne ist unter. Es ist eben die Gegend von der ich Ihnen die aufsteigenden Nebels zeichnete ietzt ist sie so rein und ruhig, und so uninteressant als eine grose schöne Seele wenn sie sich am wohlsten befindet.112

Am selben Abend schreibt Goethe an die Bretterwand einer Jagdhütte in der Nähe mit gleichem Stift Wanderers Nachtlied: Über allen Gefilden Ist Ruh, In allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch; Die Vögel schweigen im Walde. Warte nur, balde Ruhest du auch.113

Die symbolhafte Prägnanz des Augenblicks ergänzt Goethe noch durch den Hinweis, am gleichen Tag in der Hermannsteiner Höhle gewesen zu sein, die er 1776 mit Charlotte von Stein besucht hatte114. Die Kulmination von Erinnerungen, momentanem Erleben und poetischer Gestaltung eines Leitmotivs – der in einen ganzheitlichen Zusammenhang strebende Mensch – modelliert in biographischer Bedeutung ein außerordentliches Ereignis, das in ähnlicher Weise Reflexion und Vergewisserung intendiert wie das Brockenerlebnis 1777. 111 112 113 114

Brief vom 1. September 1780 an Sophie von LaRoche, in: FA 29: 286. Brief vom 6. September 1780, in: FA 29: 288. FA 1: 388. Vgl. den Kommentar in FA 29: 906. Vgl. Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine, Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, a.a.O., S. 71.

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Goethes Unbehagen hat sich auch durch vier Jahre regierungsamtlicher Geschäfte und höfischen Lebens nicht grundsätzlich ändern können. Ganz offensichtlich agiert er nicht aus dem Zentrum seiner Weltrolle in persönlicher Übereinstimmung mit den gebotenen Rollenmustern, die Rolle ist vielmehr nach wie vor gelebter Gegenpart zum eigenen widerständigen Inneren – von Passion keine Spur. In dieser Funktion liegt damit wohl nach wie vor, so ist zu vermuten, ihre biographische Bedeutung. Denn es genügt nicht der abermalige Hinweis auf eine erneute krisenhafte Situation115; die aktuelle Kontingenzerfahrung variiert und modelliert vielmehr den nunmehr über Jahre sich erstreckenden Selbstbildungsimpuls Goethes116 und es gilt, in dieser Funktion gegenwärtige Aktions- und Reflexionsmuster für Aisthesis als übergreifendem Leitmotiv von Selbstbildung zu rekonstruieren. Schon einen Tag später wird Goethe in dieser Hinsicht deutlich: Wir sind auf die hohen Gipfel gestiegen und in die Tiefen der Erde eingekrochen, und mögten gar zu gern der grosen formenden Hand nächste Spuren entdecken. Es kommt gewiss noch ein Mensch der darüber klaar sieht. Wir wollen ihm vorarbeiten. Wir haben recht schöne grose Sachen entdeckt, die der Seele einen Schwung geben und sie in die Wahrheit ausweiten. […] Jetzt leb ich mit Leib und Seel in Stein und Bergen, und bin sehr vergnügt über die weiten Aussichten die sich mir aufthun, diese zwey letzten Tage haben wir ein gros Fleck erobert, und können auf vieles schliessen. Die Welt kriegt mir nun ein neu ungeheuer Ansehn.117

Was gegenwärtig bergmännisch und geologisch erforscht und dokumentiert werden kann, soll helfen, das den Phänomenen zugrundeliegende Prinzip zu entschlüsseln. Die Entdeckungen der Erkundung bewirken eine Dynamik – persönliche Motivation sowie Einsicht in die Ursachen der gegebenen geologischen Verhältnisse (»die der Seele einen Schwung geben und sie in die Wahrheit ausweiten«) –, und sind mit einer Hoffnung verbunden: Zusammenarbeit im Rahmen einer Forschungsgemeinschaft (»Es kommt gewiss noch ein Mensch der darüber klaar sieht. Wir wollen ihm vorarbeiten«). Naturforschung ist keine bloße Liebhaberei für Goethe, auch nicht 115 Vgl. dazu den Kommentar in FA 29: 684. 116 Wie Goethe zu dieser Zeit Selbstbildung in der Differenzerfahrung von Rollenmustern versteht, kann man eindrücklich anhand des Ratschlags an Johann Heinrich Krafft im Brief vom 31. Januar 1781 ersehen. In dem Brief geht es um die finanziell prekäre Lage Kraffts, dem Goethe aus eigenen Mitteln eine Pension zukommen lässt: »[D]as Muß ist hart, aber beim muß kann der Mensch allein zeigen, wie’s inwendig mit ihm steht. Willkürlich leben kann jeder.« In: FA 29: 327; vgl. den Kommentar S. 924. 117 Brief vom 7./8. September 1780 an Charlotte von Stein, in: FA 29: 289.

5.2 Das Entstehungsmoment wissenschaftlicher Betrachtungsweise

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allein dem Amt geschuldet, es ist zu vermuten, dass er sich auf wissenschaftlichem Felde auch eine Art von Weltrolle erhofft (man bedenke die Episode am Rehberger Graben), konkret erkennbar ist die bewusst betriebene Selbstbildung: »[A]ber beim muß kann der Mensch allein zeigen, wie’s inwendig mit ihm steht«118. Im Sinne dieser Maxime kommen Methode und Instrumenten der Forschung die Funktion zu, dieser Selbstbildung eine innere Ausrichtung zu ermöglichen. Aktuell formt sich durch die Erkundung des Thüringischen Oberlandes ein neues Anschauen der Welt (»Die Welt kriegt mir nun ein neu ungeheuer Ansehn«) in doppelter Hinsicht: methodisch als Betrachtungsweise und ontologisch als Weltanschauung. Ich möchte zunächst die Motive biographischer Reflexion differenzierter erschließen: Während der Exkursionen äußert sich Goethe wiederholt eingehend über aktuelle krisenhafte biographische Momente, in denen er immer wieder über die von seinen Ämtern geforderten Rollenmuster reflektiert. So u.a. am 13. September aus Kaltennordheim an Charlotte von Stein, wenn er explizit sein »πεϱί έαυτου« (sein Sprechen über sich selbst, in Anlehnung an Marc Aurels Selbstbetrachtungen119) hervorhebt und in Form eines Gleichnisses über »Resultate« (d.h. die Wirkungen auf seine Person) seiner »Welthändel« spricht, wobei er selbstironisch anmerkt, er verhalte sich ähnlich Sancho Pansa mit seinen »Sprüchwörtern«120: Heute in dem Wesen und Treiben, verglich ich mich einem Vogel der sich aus einem guten Entzweck ins Wasser gestürzt hat, und dem, da er am Ersauffen ist, die Götter seine Flügel in Flosfedern nach und nach verwandeln. Die Fische die sich um ihn bemühen begreifen nicht, warum es ihm in ihrem Elemente nicht sogleich wohl wird.121

In einem Brief an Lavater, vermutlich vom 20. September heißt es dann: Das Tagewerck das mir aufgetragen ist, das mir täglich leichter und schweerer wird, erfordert wachend und träumend meine Gegenwart diese Pflicht wird mir täglich theurer, und darinn wünscht ich’s den grössten Menschen gleich zu thun, und in nichts grösserm. Diese Begierde, die Pyramide meines Daseyns, deren Basis mir angegeben und gegründet ist, so hoch als möglich in die Luft zu spizzen, überwiegt alles andre und lässt kaum Augenblickliches Vergessen zu. Ich darf nicht säumen, 118 Brief vom 31. Januar 1781 an Johann Heinrich Krafft, in: FA 29: 327, vgl. Anmerkung 106. 119 Kommentar FA 29: 909. 120 Brief vom 13. September 1780 an Charlotte von Stein, in: FA 29: 295, vgl. den Kommentar S. 909. 121 Brief vom 13. September 1780 an Charlotte von Stein, in: FA 29: 295.

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ich bin schon weit in Jahren vor, und vielleicht bricht mich das Schicksaal in der Mitte, und der Babilonische Thurm bleibt stumpf unvollendet. Wenigstens soll man sagen es war kühn entworfen und wenn ich lebe, sollen wills Gott die Kräffte bis hinauf reichen.122

Folgt man dem Leitmotiv dieses Briefes – »Individuum est ineffabile«123 – reflektiert Goethe über seine Kontingenzerfahrung zu dieser Zeit. Zwischen den Zeilen liest man Goethes Sorge über die Kluft zwischen gestecktem Anspruch/Ideal und Möglichkeiten der Realisierung heraus. Der Vergleich mit erfolgreichen Gestaltern (Genie des Baumeisters im Baukunstaufsatz!) und die zeitlich endlichen Möglichkeiten rechtfertigen die selbstauferlegte Konzentration auf die Aufgaben, scheinen aber auch den appellativen Charakter einer Selbstermahnung zu haben (»Ich darf nicht säumen«). Die momentanen Empfindungen und Gedanken, ja das gesamte Verhalten in der Landschaftsnatur demonstrieren, wie gravierend das eigene Innere sich widerständig gegenüber der angenommenen Rolle Geltung verschafft. Fast noch eindrücklicher erscheint die Kontingenzerfahrung gegenüber Charlotte von Stein formuliert. Drückt schon das Gleichnis für sich die Erfahrung einer weitreichenden Fremdheit im selbstgewählten Aktionsmedium aus, so verstärkt sich dieser Eindruck durch die Fusion verschiedener Komponenten im gedanklichen Umkreis – Marc Aurel als römischer Kaiser und Philosoph, Don Quijotes Diener Sancho Pansa – zu einem reflektierten Bild übermächtiger Herausforderungen. Doch zeigen die bekenntnishaften Rechenschaftsberichte nur eine Seite der Goethe’schen Selbstreflexion, die andere Seite konzeptioniert das neue Anschauen der Welt: das Forschungsparadigma von Aisthesis. In einem längeren Brief vom 11. Oktober 1780 an seinen Freund Johann Heinrich Merck äußert sich Goethe das erste Mal programmatisch zu seiner geologischen Forschung: Nun muß ich dir noch von meinen mineralogischen Untersuchungen einige Nachricht geben. Ich habe mich diesen Wissenschaften [...] mit einer völligen Leidenschaft ergeben und habe […] eine sehr große Freude daran. Ein junger Mensch, der auf der Freiberger Akademie studirt und von daher eine außerordentlich reine Nomenclatur und eine ausgebreitete Kenntniß des Details mitgebracht hat, ist mir vom größten Nutzen. Denn daran fehlt mir’s just, und ich habe weder die Namen einzelner Körper, mit denen man gewöhnlich so konfus ist, noch auch gewisse andere bestimmte Begriffe zusammenbringen können. (NB. Die Freiberger Akademie verdient wirklich vieles Lob.) Und so lass’ ich diesen Menschen seit 122 Brief, vermutlich vom 20. September 1780 an Lavater, in: FA 29: 299. 123 Derselbe Brief, in: FA 29: 300. Vgl. zum Bezug zum Geniebegriff Kap. 4.2.3.

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ungefähr einem halben Jahr, wie ich dir’s auch werde geschrieben haben, das Land durchreisen und schränke mich nicht philisterhaft, wie die neuesten Kursachsen darauf ein, ob dieser oder jener Berg dem Herzog von Weimar gehört oder nicht. Wie ein Hirsch, der ohne Rücksicht des Territoriums sich ässet, denk ich muß der Mineraloge auch seyn. Und so hab ich vom Gipfel des Inselsberges, des höchsten vom Thüringerwald, bis ins Würzburgische, Fuldische, Hessische, Kursächsische, bis über die Saale hinüber und wieder so weiter bis Saalfeld und Coburg herum, meine schnellen Ausflüge und Ausschickungen getrieben. Habe die meisten Steinund Gebirgsarten von allen diesen Gegenden beisammen und finde in meiner Art zu sehen, das bischen Metallische, das den mühseligen Menschen in die Tiefen hineinlockt, immer das Geringste. Durch dieses alles zusammen, und durch die Kramereien einiger Vorgänger bin ich im Stande, einen kleinen Aufsatz zu liefern, der gewiß interessant seyn soll. Ich habe jetzt die allgemeinsten Ideen und gewiß einen reinen Begriff, wie alles auf einander steht und liegt, ohne Prätension auszuführen, wie es auf einander gekommen ist. Da ich einmal nichts aus Büchern lernen kann, so fang ich erst jetzt an, nachdem ich die meilenlangen Blätter unserer Gegenden umgeschlagen habe, auch die Erfahrungen anderer zu studiren und zu nutzen.124

Innerhalb weniger Monate hat sich Goethe leidenschaftlich mit der noch jungen Wissenschaft der Geologie vertraut gemacht, erstaunliche methodische Fähigkeiten und Kenntnisse der Disziplin erworben; er ist in der Lage, durch systematische Sammlung und seine spezifische »Art zu sehen« die geologischen Gegebenheiten auf den Begriff zubringen. Im Detail wie im Ganzen ist ihm dabei Johann Carl Wilhelm Voigt eine große Hilfe. Dieser junge Geologe vermittelt ihm begriffliche Nomenklatur und methodisches Instrumentarium. Beide betreten sie wissenschaftliches Neuland, indem sie die Vorkommen von Gesteinen in Thüringen und der weiteren Umgebung der Mittelgebirge in deren natürlichen Kontext systematisch dokumentieren und so eine Art Kataster erstellen, das in der damaligen Situation eine neue Sicht auf die geologischen Formationen erlaubt. Ambitionen einer entwicklungsgeschichtlichen Erklärung stellt Goethe für den Augenblick dagegen explizit zurück. Es mag vielleicht nur wie ein interessantes Detail wirken, dass der geheime Rat des Herzogtums dabei eine Freiheit von Forschung reklamiert, die nicht in den Grenzen politischer Territorien operiert – und man darf sicherlich hinzufügen: auch unabhängig vom ökonomischen Nutzen derer –, aber wenn Goethe damit fordert, dass Wissenschaft ihr Untersuchungsfeld aus den sachlichen Gegebenheiten selbst ableiten können muss, markiert er eben auch die Demarkationslinie zwischen Politischem und Wissenschaftlichem, eine Sphäre von Dissens, Übergriff, verpflichtender 124 FA 29: 305 f. Hervorhebungen vom Verfasser.

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Forderung – und damit auch die persönliche Situation als Forscher und Staatsbeamter. Wenn Goethe darüber hinaus über seine Methode der Betrachtung reflektiert, wird deutlich, dass er konsequent eine erfahrungsgestützte Forschung betreibt, welche die Phänomene in ihrem natürlichen Kontext untersucht. Dem Lesen der meilenlangen Blätter des Buches der Natur folgt das Studium der Fachliteratur, um sich in einem zweiten Schritt mit dem wissenschaftlichen Diskurs auseinanderzusetzen. Ich sehe hier einen weiteren Hinweis, dass der in ästhetischer Anschauung am Straßburger Münster erprobte Impetus von Selbstbildung und eigenständig generiertem Weltbild durch Aisthesis unverkennbar ist und von Goethe auch in naturwissenschaftlicher Forschung angewendet wird. Am 27. Dezember des gleichen Jahres erläutert Goethe in einem Brief an Ernst II., Herzog von Sachsen-Gotha und Altenburg, seine Forschungen und Forschungsprinzipien in Bezug auf die Geologie noch eingehender. Er berichtet zunächst über den schon bekannten Anlass, konkrete Umstände und Vorgehensweise der Erkundung: Als ich den Einfall hatte, durch den Bergverständigen Voigt […] die thüringischen Gegenden untersuchen zu lassen, fingen wir bei dem Ettersberge als unserm nächsten Punkte an, bemerkten sorgfältig die Oberfläche der Berge sowohl als die zu Tage ausgehenden Lagen an den Abhängen und breiteten uns auf diese Weise weiter aus, wo wir in einer Gegend, deren Tiefen unerforscht sind, nur genau Acht haben konnten, wie in einer Folge vom Erdstriche ganz fremde Lagen unter einander einschließen oder auf einander liegen.125

Es folgt nun ein Forschungsbericht der untersuchten Gegebenheiten, der das schon an Merck Berichtete differenzierter ausführt; Goethe schließt mit einer Prognose, welche den Gedanken einer Forschungsgemeinschaft126 variiert und mit einem konkreten Ziel verknüpft: Vielleicht wird es nach dieser Vorarbeit in wenigen Jahren möglich, den unterirdischen Zusammenhang des Harzes mit unserm Thüringerwalde auf das Wahrscheinlichste anzugeben, zu welcher fortzusetzenden Betrachtung mich der Anteil, den Ew. Durchl. An diesen Bemühungen nehmen, vorzüglich ermuntern wird.127

125 FA 29: 317. 126 Vgl. den Brief vom 7./8. September 1780 an Charlotte von Stein, in: FA 29: 289. 127 FA 29: 318.

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Im November 1782 berichtet Goethe an Merck in diesem Sinne, er habe »große Lust bald eine mineralogische [d.h. geologische; J.S.] Charte von ganz Europa zu veranstalten«, eine solche Karte sei das »sicherste Mittel bald Begriffe von dem Ganzen« zu erhalten128. Wie im vorliegenden Brief exemplarisch, so dokumentieren Goethes Briefe von und über die geologische Exkursion im Herbst 1780 insgesamt, wie er gemeinsam mit Voigt Stück für Stück ein Kataster der geologischen Gegebenheiten der Mittelgebirgslandschaft erstellt, das ein erstes vorläufiges Bild von Verbreitung und Anordnung der Gesteinsarten bietet. Dabei bemüht sich Goethe, zwischen Bericht über die vorgefundenen Sachverhalte und weiterführenden Erwägungen, Hypothesen und Prognosen streng zu differenzieren – zwischen Fakten und deren Interpretation zu unterscheiden. Deutlich wird dieses Anliegen, beobachtete Daten und Fakten präzise zu dokumentieren, zu systematisieren und zu bewerten, insbesondere auch an der Art, wie Goethe einen dem Brief beigefügten Aufriss erläutert: Vorausgesetzt, daß die Betrachtungen der Erdoberfläche so sorgfältig als möglich angestellt werden, habe ich, um den großen Riß nicht gar zu hypothetisch und abenteuerlich scheinen zu machen, in die weiße Linie, die ihn umgibt, zwei kleine Sternchen angebracht. Wenn Ew. Durchl. an beiden einen Faden quer über’s Blatt schlagen, so wird, ich will nicht sagen durchgängig, aber doch meistenteils, was über dem Faden ist, durch bergmännische Erfahrungen bewiesen werden können, was drunter ist, läßt sich freilich nur schließen. Ich nehme hiervon die schornsteinförmige Gestalt Tolmars und die dazwischen liegenden untern Flözschichten gegen die Rhön zu aus, die ganz willkürlich angegeben sind.129

Anschließend geht Goethe über die gesicherten Befunde hinaus und thematisiert eine Hypothese, gemäß der methodischen Bedingungen deutlich als eine solche gekennzeichnet (in einem »vielleicht etwas zu kühnen und schnellen Flug«130), die sein Interesse erregt. Er geht auf Basaltvorkommen vulkanischen Ursprungs in der Rhön ein und dabei auf die Frage, wie die geologischen Gegebenheiten der Mittelgebirge entstanden sein könnten. Er trägt diese Frage schon eine Weile mit sich herum131, aber erst nach Erforschung und Bestandsaufnahme der Fakten wird sie zum mit128 129 130 131

FA 29: 455. FA 29: 318. FA 29: 319. Vgl. auch den Brief vom 12. –14. September 1780 an Charlotte von Stein aus Kaltennordheim, in welchem Goethe am Ende anmerkt, der »Dekanus« (Johann Carl Wilhelm Voigt) habe hinsichtlich des Basalts »einen kühnen Einfall gehabt«, in: FA 29: 298. Vgl. dazu Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine, Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, a.a.O., S. 72 f.

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teilenswerten Gegenstand132. Bedeutung und Tragweite dieser Erweiterung des forschenden Interesses erschließen sich in den weiteren Ausführungen des Briefes. Die folgende Briefsequenz variiert und präzisiert zunächst das Fach- und Methodenverständnis der wissenschaftlichen Betrachtungsweise von Aisthesis, wie es schon in dem Brief an Merck anklingt. Die im vorliegenden Brief im Kontext des Forschungsberichts implizit enthaltene Programmatik wird explizit methodenkritisch reflektiert: Aber wie der Hirsch und der Vogel sich an kein Territorium kehrt, sondern sich da äst und dahin fliegt, wo es ihn gelüstet, so, halt’ ich davon, muß der Beobachter auch sein. Kein Berg sei ihm zu hoch, kein Meer zu tief. Da er die ganze Erde umschweben will, so sei er frei gesinnt wie die Luft, die Alles umgibt. Weder Fabel noch Geschichte, weder Lehre noch Meinung halte ihn ab zu schauen. Er sondere sorgfältig das, was er gesehen hat, von dem, was er vermutet oder schließt. Jede richtig aufgezeichnete Bemerkung ist unschätzbar für den Nachfolger, indem sie ihm von entfernten Dingen anschauende Begriffe gibt, die Summe seiner eigenen Erfahrungen vermehrt und aus mehreren Menschen endlich gleichsam ein Ganzes macht.133

Wieder hebt Goethe den Wert sorgfältig generierter Fakten und Daten hervor und warnt vor einer Vermischung von Dokumentation und Interpretation. Ihm schwebt eine Forschungsgemeinschaft vor, die in der Zusammenarbeit und Summe ihrer Erkenntnisse »gleichsam ein Ganzes macht«. Konkret hat er dabei eine Zusammenarbeit mit Trebra im Blick, den er dazu bewegen will, in ähnlicher Weise wie Voigt und er, aber vom Brocken aus, die Geologie des Harzes zu untersuchen. Goethe hat dabei die Vision, dass nach und nach durch das Zusammenführen der einzelnen Teiluntersuchungen ein Gesamtbild der geologischen Gegebenheiten und erdgeschichtlichen Entwicklungs- und Umwandlungsprozesse entsteht134. Ich erkenne in der in diesem Sinne rekonstruierten Betrachtungsweise die Motivation Goethes, sich durch methodisch angelegte und strukturiert vollzogene Forschung in Zusammenhänge/Ganzheiten hinein zu arbeiten, die neben der Zusammenarbeit in der Forschung auch das Ziel von Selbstbildung haben, sich als Individuum mit dem Ganzen zu verbinden und über die Betrachtungsweise die Elemente einer ontologischen Orientierung für die eigene Existenz zu schaffen. Im 132 Vgl. die im Vorherigen erwähnte Zurückhaltung noch am 11. Oktober 1780 in dem Brief an Merck, in: FA 29: 305. 133 FA 29: 319. Hervorhebungen vom Verfasser. 134 Vgl. die Schlusspartie des Briefes, in: FA 29: 321.

5.2 Das Entstehungsmoment wissenschaftlicher Betrachtungsweise

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Kontext der Reflexionen und der Distanz zur Rolle als Staatsbeamter wird damit immer mehr deutlich, welche begründenden und teleologischen Optionen für Goethe zu dieser Zeit mit der Naturforschung verbunden sind. Sie wird für die Sehnsucht nach Überwindung des subjektiv Willkürlichen zum Notwendigen eine gewichtige Rolle spielen135, wenn man darunter die Bewältigung einer krisenhaften biographischen Situation (Hamacher) versteht, doch darf man mit dieser Lesart Goethe kein Streben nach Letztbegründung und gültiger Einsicht unterstellen. Im Vorangehenden ist schon für den jungen Goethe dargestellt worden, dass es im Zusammenhang des Selbstbildungsgedankens weder für das Subjekt selbst, noch für die durch die Anschauung erschlossenen Weltzusammenhänge eine Art Letzterkenntnis oder geschlossene Meta-Erzählung (Lyotard) geben könne; Goethe ist vielmehr bestrebt, immer wieder neu die Bezüge von Ich und Welt durch Aisthesis als offene Ganzheit zu modellieren, der die Kontingenzerfahrung immanent ist. Es scheint in diesem Zusammenhang zunächst nur eine Marginalie zu sein, dass Goethe im Kontext der Briefpassage die Bedeutung einer einheitlichen Fachsprache für die Forschung und Verständigung in einer Forschungsgemeinschaft erläutert, von der man noch weit entfernt sei; eine »unbestimmte Terminologie«136 durch undifferenzierte Vermischung von lokal geprägter bergmännischer Sprache der Praxis und wissenschaftlicher Begrifflichkeit erschwere Bezeichnung, Darstellung und Verständigung in der Geologie. Doch enthält diese Einschätzung eine weitreichende Bedeutung. Aisthesis als wissenschaftliche Betrachtungsmethode ist bei aller naturforschenden Unternehmung Goethes der primäre Modus, Systematik ist ein Instrument dieser Art von Anschauung: Bey einer noch so ausgearbeiteten Nomenclatur, haben wir zu denken daß es nur eine Nomenclatur ist, ein Wort, irgend einer Erscheinung angepaßtes, aufgeheftetes Silben-Merkmal sey, und also die Natur keineswegs vollkommen ausspreche, und deßhalb nur als Behelf zu unsrer Bequemlichkeit angesehen werden sollte.137

Ich denke, man muss diese Relation von Mittel und Zweck deutlich ins Bewusstsein nehmen; für Goethes Naturforschung gilt: Aisthesis ist ein Ziel an sich, die Nomenklatur nur ein Vehikel. Noch dazu ein Vehikel, das Natur nur annäherungsweise auszudrücken vermag. Für Goethe hat diese Auffassung prinzipiellen Charakter. Es gehört zu seinem Verständnis von Wissenschaft und Forschung, wie er in Bedenken und Ergebung (1820) betont, »daß zwischen Idee und Erfahrung eine gewisse Kluft« be135 Vgl. in diesem Sinne den Kommentar in: FA 29: 684. 136 FA 29: 319. 137 Sprüche in Prosa, in: FA 13: 319 f.

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stehe, »daß keine Idee der Erfahrung völlig kongruiere«, aber beide »analog sein können, ja müssen«138. Zwar strebe Naturforschung danach, die Idee eines Ganzen zu erfassen, alle Bemühungen müssten aber letztlich »der Natur ihre geheime Encheiresis« (d.h. ihren unerforschlichen Kunstgriff)139 lassen. Erkenntnis der Natur sei immer nur annäherungsweise, nie endgültig möglich. Wenn nach diesem Verständnis Naturforschung darauf zielt, einen Naturzusammenhang als ein Ganzes zu konzeptionieren, wird die Differenz, in Goethes Worten die Kluft, konstitutives Merkmal dieser Ganzheit sein, d. h. aber ähnlich dem für ästhetische Anschauung rekonstruierten Gestaltbegriff eine prinzipiell offene Ganzheit. Auch in der Naturforschung erweist sich Goethes Methode der Anschauung damit als immun gegenüber Denkmustern mit universellem Anspruch140, es geht vielmehr um eine situativ aktivierte Betrachtungsweise im Horizont der schon angesprochenen Motivation von Selbstbildung. Mit dem anschauenden Begriff formuliert Goethe sein zentrales methodologisches Selbstverständnis dieser Zeit für Aisthesis als wissenschaftliche Betrachtungsweise: Ew. Durchl. werden durch das Ganze finden, daß wir uns über die Entstehung unserer Gebirge kein Wort erlaubt haben. Es ist dies meist die Torheit derjenigen, die ein Paar Berge beschrieben, daß sie zugleich etwas zur Erschaffung der Welt mit beitragen wollen. Noch eins muß ich freilich mit beifügen. Bei dieser Sache, wie bei tausend ähnlichen, ist der anschauende Begriff dem wissenschaftlichen unendlich vorzuziehen. Wenn ich auf, vor oder in einem Berge stehe, die Gestalt, die Art, die Mächtigkeit seiner Schichten und Gänge betrachte und mir Bestandteile und Form in ihrer natürlichen Gestalt und Lage gleichsam noch lebendig entgegenrufe, und man mit dem lebhaften Anschauen so ist’s einen dunklen Wink in der Seele fühlt so ist’s erstanden! wie wenig kann ich freilich davon mit den abgebrochenen Musterstückchen und den wieder auf der anderen Seite zu generalisierten Durchschnitten überschicken.141

Ich rekonstruiere die näheren Zusammenhänge dieser Art Anschauung, indem ich sie von der fachwissenschaftlichen Rezeption abgrenze. U.a. Wolf von Engelhardt hat die methodologische Bedeutung dieser Briefpassage für Goethes Verständnis 138 FA 24: 449. Zu Goethes Auslegung des Verhältnisses von Erscheinung und Idee im Unterschied zu Kant vgl. den Kommentar S. 1074 f. 139 Brief vom 21. Januar 1832 an Heinrich Wilhelm Ferdinand Wackenroder, in: FA 38: 509 f. und Kommentar S. 896. 140 Vgl. Kap. 4.2.3 zum Begriff offener Ganzheit, der dort von mir gegen Auffassungen totalitärer Ganzheit abgegrenzt wird. 141 FA 29: 319 f. Hervorhebungen vom Verfasser.

5.2 Das Entstehungsmoment wissenschaftlicher Betrachtungsweise

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von Forschung hervorgehoben. Goethe ziehe den aus Beobachtung gewonnenen Begriff dem abstrakt theoretischen System vor. Engelhardt zeigt ich dann aber überrascht, wie Goethe erdgeschichtliche Zusammenhänge durch Anschauung gefühlsmäßig erfassen wolle, wohl von der Überzeugung geleitet, dass ihn »ein dunkles Band mit der ganz anderen Naturwelt und ihrem Geschehen« verbinde142. Mit dieser Einschätzung Engelhardts rücken freilich entscheidende methodische Bedingungen von Aisthesis nicht in den Fokus der Rekonstruktion, im Gegenteil, Engelhardt legt eine falsche Fährte. Meiner Auffassung nach ist die Methodik, welche den anschauenden Begriff generiert, differenziert zu betrachten. Ein solcher Begriff fordert zunächst einmal ein besonderes Verhältnis des Betrachters zum Objekt; indem er dieses in seinen natürlichen Zusammenhängen erforscht, ist er direkt involviert in die vorgefundenen Gegebenheiten und muss in ihnen agieren. Goethe betont für diesen Prozess durch Präpositionen die Amplifikation der Anschauung (»Wenn ich auf, vor oder in einem Berge stehe«); unterschiedliche Perspektiven ergänzen, modifizieren und variieren einander, dadurch wird ein immer genaueres Bild der sinnlich wahrnehmbaren Gegebenheiten gewonnen. Sodann werden Form, Modalität und Quantität (»die Gestalt, die Art, die Mächtigkeit seiner Schichten und Gänge«) der sinnlich wahrnehmbaren Teilansichten des komplexen Ganzen durch Denkoperationen fusioniert (»und mir Bestandteile und Form in ihrer natürlichen Gestalt und Lage gleichsam noch lebendig entgegenrufe«). Dabei schiebt sich in diesen diskursiven Erkenntnisvollzug eine Denkbewegung143, die nicht bei der Fusion der äußeren Gestaltzusammenhänge stehen bleibt, sondern diese vielmehr durch innere Anschauung – Intuition – als Repräsentation einer erdgeschichtlichen Entwicklung begreift, als aktuellen Ausdruck eines bewirkenden generativen Prinzips. An dieser Stelle wird die am Straßburger Münster erprobte hybride Differenzierung von Aisthesis, die u.a. die Überführung diskursiver in intuitive Erkenntnismodi enthält, in eine wissenschaftliche Betrachtungsweise von Aisthesis144 transformiert. Dabei verfährt Goethe erkenntniskritisch: »[U]nd man mit dem lebhaften Anschauen so ist’s einen dunklen Wink in der Seele 142 Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine, Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, a.a.O., S. 76. Vgl. auch Wolf von Engelhardt: Goethes Weltansichten. Auch eine Biographie, a.a.O., S. 133, wo Engelhardt ausführt, dass Goethe im Anschauen bereits eine »Ursache in der Vergangenheit [ahne]«, ohne freilich genauer auf die epistemische Bedeutung des Begriffes Ahnung einzugehen. 143 Engelhardt bezeichnet diese Operation schon als Intuition, was epistemologisch fragwürdig ist, wenn man meiner Rekonstruktion von Aisthesis folgt. Vgl. Wolf von Engelhardt: Goethes Weltansichten. Auch eine Biographie, a.a.O., S. 133. 144 Vgl. in Kap. 4.2.2 die differenzierte Rekonstruktion von Aisthesis. Vgl. zum Intuitionsbegriff auch das folgende Kapitel zu Spinozas Bedeutung.

fühlt so ist’s erstanden!« Dieser dunkle Wink darf nämlich nicht allein als Empfindung und Gefühl missverstanden werden, die Formulierung modelliert vielmehr Ahnung in epistemologischer Bedeutung und markiert die Grenze zwischen gesicherter Erkenntnis und vermuteten tieferen Zusammenhängen. Die innere intuitive Anschauung führt zunächst zu Vermutungen, an dieser Stelle ist noch nicht von Erkenntnissicherheit die Rede. Auch die Hinweise Goethes, weder die mitgelieferten Musterstücke noch beigelegte generalisierende Karten würden den bezeichneten Sachverhalt treffend ausdrücken, deuten nicht auf ein empfindungsmäßig verhaftetes Raunen ob tieferer Zusammenhänge, sondern auf ein Interesse, die mit dem anschauenden Begriff bisher gewonnenen Einsichten zu benennen, sie damit von weiteren Mutmaßungen abzugrenzen, solche aber ausdrücklich als epistemologisches Verfahren der Forschung zu praktizieren145. Nach dieser Lesart der Briefsequenz formuliert Goethe also eine wissenschaftliche Programmatik für das Leitmotiv Aisthesis, wie und unter welchen Bedingungen der Mensch wissenschaftlich forschend tätig sein kann, welche Tragweite, aber auch welche Grenzen seine Erkenntnisse haben und welche Gefahren sie bergen. Er berichtet gleichzeitig von seinem Vorgehen in einer konkreten Anwendungssituation – eine Etappe auf dem Weg, durch Aisthesis den Komplex geologischer Gegebenheiten und ihres Entwicklungsgeschehens auszuleuchten: Theorie und Erfahrung/Phänomen stehen gegeneinander in beständigem Conflict. Alle Vereinigung in der Reflexion ist eine Täuschung nur durch Handeln können sie vereinigt werden.146

145 Diese Vorgehensweise Goethes ist unbedingt zu betonen, um das kritische Moment seines Begriffs offener Ganzheit klar zu fixieren. Bspw. Margit Wyder hebt in ihrer Untersuchung hervor, dass Goethe Zeit seines Lebens das Vorhandensein einer »unüberwindlichen Trennung« von innen und außen in der Natur bestritten habe und bezeichnet Goethes Naturbegriff als ganzheitlich. Vgl. Margit Wyder: Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformationen, a.a.O., S. 12 f. Meiner Auffassung nach ist diese Auslegung des Naturbegriffes Goethes zu undifferenziert und rückt ihn in die Nähe von Ganzheit als Totalitätsmuster (vgl. dazu Kap. 4.2.3). Doch muss man schon für sein ontologisches Denken den Gedanken der Kluft beachten und wird erkennen, dass Goethe um ganzheitliche Optionen ringt, diese auch voraussetzt, aber keine endgültige Gewissheit oder Letztbegründung damit meint gewonnen zu haben (vgl. dazu die Ausführungen im vorliegenden und im folgenden Kapitel sowie im Vorherigen in Kap. 4.2.3). Insbesondere für die epistemologischen Methode muss von einer kritischen Erkenntnishaltung Goethes ausgegangen werden, wie von mir in diesem Kapitel schon für die Zeit der 1780er Jahre gezeigt. 146 Sprüche in Prosa. Sämtliche Maximen und Reflexionen, in: FA 13: 103.

5.3 Ontologische und epistemologische Begründung der Naturforschung

207

Ontologische sowie epistemologische Begründungen der Programmatik wissenschaftlicher Betrachtungsweise findet Goethe bei Baruch Spinoza147, der Granit wird zum zentralen Objekt, mit anschauendem Begriff erdgeschichtliche Zusammenhänge zu erfassen: der »Haupt-Maxime getreu, alle geologischen Betrachtungen vom Granit anzufangen, sodann aber die Übergänge, wie mannigfaltig sie auch sein mögen, fleißig zu schauen«148.

5.3 Ontologische und epistemologische Begründung der Naturforschung: Die Philosophie Spinozas Positionen einer weltanschaulichen Kontroverse

Am 5. Mai 1786 nimmt Goethe mit einem Brief abschließend Stellung zu einer Debatte über die Philosophie Spinozas, die sich zwischen ihm und Friedrich Heinrich Jacobi über knapp zwei Jahre hingezogen hat: Dein Büchlein habe ich mit Anteil gelesen, nicht mit Freude. Es ist und bleibt eine Streitschrifft […]. An dir ist überhaupt vieles zu beneiden! Haus, Hof und Pempelfort, Reichthum und Kinder, Schwestern und Freunde und ein langes pppp. Dagegen hat dich aber auch Gott mit der Metaphisick gestraft und dir einen Pfal ins Fleisch gesetzt, mich dagegen mit der Phisick geseegnet, damit mir es im Anschauen seiner Wercke wohl werde, [...]149.

Nicht nur zwischen den Zeilen ist der Unmut Goethes erlebbar; die mit philosophischer Begrifflichkeit benannte Differenz bezeichnet inkommensurable weltanschauliche Standpunkte – spekulative Metaphysik des Glaubens an einen transzendenten Gott auf Seiten Jacobis vs. erfahrungsgestützte Erkenntnis eines immanenten Gottes auf Seiten Goethes –, welche interessante Konsequenzen für das gesamte Selbstverständnis und Weltverhältnis des Individuums implizieren: das durch Metaphysik 147 Es wäre gesondert zu untersuchen, wie das im Vorherigen erwähnte Stufenleitermodell, die Scala Naturae, und die Philosophie Spinozas in ihrer Bedeutung für Goethes Denken zueinander stehen, was hier unterbleibt, um meine Arbeit nicht zu sehr thematisch auszuweiten. Vgl. zum Stufenleitermodell die erwähnte Untersuchung von Margit Wyder: Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformationen, a.a.O., sowie im folgenden Kapitel zum Granit als Narrativ der Erdgeschichte. 148 Problematisch, in: FA 25: 384. 149 FA 29: 627 f.

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5 Selbstbildung in der Transformation von Aisthesis zur Methode anschauender Betrachtung

verursachte unglückliche Bewusstsein des Fremdseins in der Welt gegenüber der Option ganzheitlicher Verbindung mit der Welt durch Anschauung150. Zu Letzterer ist zu betonen, dass die Möglichkeiten und Grenzen offener Ganzheit, wie sie von mir in den vorherigen Kapiteln rekonstruiert worden sind, durch die Spinozalektüre auch ihre argumentative Begründung erfahren werden. Zeitlicher Verlauf der Kontroverse

Ausgangspunkt der Auseinandersetzung ist wahrscheinlich ein Besuch Jacobis im September 1784 in Weimar151, anlässlich dessen dieser gesprächsweise von seiner Arbeit an einer Spinozakritik berichtet haben mag. Im Winter 1784/85 studiert Goethe daraufhin die Ethik, u.a. mit Charlotte von Stein152, erhält zwischenzeitlich ein Manuskript der geplanten spinozakritischen Schrift Jacobis und tauscht sich mit Herder über das Thema aus, wie er an Jacobi berichtet153. Die erneute Beschäftigung mit Spinoza hat für Goethes Denken und Betrachtungsweise weitreichende Bedeutung, insbesondere in der Ethik findet Goethe grundlegende Anregungen für die ontologische und epistemische Begründung seiner Naturforschung, was ihn in den denkbar größten Gegensatz zur Auffassung Jacobis in Bezug auf Spinoza bringt. Erst am 9. Juni 1785 schreibt Goethe wieder an Jacobi und man bemerkt, wie unangenehm 150 Vgl. aktuell zu dieser Kontroverse, insbesondere auch die Bedeutung Pascals für die Position Jacobis, Eckart Förster: »Zum Schauen bestellt« – Goethes Naturreligion, GoetheJahrbuch 130 (2013), S. 65–74. Vgl. auch Jost Schieren: Anschauende Urteilskraft. Methodische und philosophische Grundlagen von Goethes naturwissenschaftlichem Erkennen, Düsseldorf und Bonn 1998, S. 95 ff. Gemäß des Ertrags meiner Rekonstruktion würde ich Schierens Feststellung, Goethe gewinne lediglich eine »inhaltliche Orientierung, keine methodische Hilfe« (S. 97) durch Spinozas Philosophie, modifizieren, denn die biographischen Umstände deuten auf eine diesbezüglich wechselseitige Durchdringung von Forschungspraxis und Lektüre. 151 Ich verzichte hier auf eine detaillierte Rekonstruktion der näheren Umstände und verweise für diese auf die Darstellung von Wolf von Engelhardt: Goethes Weltansichten. Auch eine Biographie, a.a.O., S. 142–147, dessen Beschreibung ich für den zeitlichen und sachlichen Rahmen meiner Rekonstruktion der ontologischen und epistemologischen Begründungszusammenhänge zugrunde lege, ohne ihm in der Interpretation folgen zu können. 152 Vgl. die Hinweise im Brief vom 11. November 1784 an Carl Ludwig von Knebel: »Ich lese mit der Fr von Stein die Ethick des Spinoza. Ich fühle mich ihm sehr nahe obgleich sein Geist viel tiefer und reiner ist als der meinige.« (FA 29: 551) Vgl. auch den Brief vom 27. Dezember 1784 an Charlotte von Stein, in: FA 29: 568: »Gestern Abend war ich nur wider Willen fleisig und las noch zuletzt in unserm Heiligen und dachte an dich«; vgl. den Kommentar S. 1079 für weitere Hinweise, u.a. auf Herders Bedeutung in dieser Sache. 153 Vgl. den Brief an Jacobi vom 12. Januar 1785, in: FA 29: 571.

5.3 Ontologische und epistemologische Begründung der Naturforschung

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ihm eine klare Stellungnahme ist (»du musst [...] entschuldigen, ich wenigstens erkläre mich höchst ungern über eine solche Materie schriftlich«154). In diesem Brief äußert sich Goethe noch sehr zurückhaltend über seine Lektüre der Ethik, bemüht, nicht in eine Kontroverse hineingezogen zu werden155. Erst als Goethe konstatieren muss, dass Jacobi unautorisiert zwei seiner Gedichte, Prometheus und Das Göttliche, in kritischer Absicht in seiner Kampfschrift veröffentlicht, wird er deutlich und grenzt sich in zwei Briefen vom 21. Oktober 1785 und 5. Mai 1786 von Jacobis Position ab156. Die entsprechenden Ausführungen in den Briefen dokumentieren die substantielle und orientierende Bedeutung der Philosophie Spinozas für Goethe, daneben kennt man im Korpus der Werke die kleine Schrift Studie nach Spinoza, deren Autorschaft Goethes momentan angezweifelt wird157. Perspektiven der Rekonstruktion

In dieser Episode geht es für Goethe nicht um eine bloße weltanschauliche Meinungsverschiedenheit, sondern sie hat prinzipielle Bedeutung für ihn. Mag die persönliche Kontroverse mit Jacobi ihm zwar unangenehm erscheinen, so ist sie gleichzeitig auch Anlass einer philosophisch reflektierten Standortbestimmung durch Abgrenzung, die eine argumentative Begründung von Aisthesis als wissenschaftliche Betrachtungsweise epistemologisch durch den Intuitionsbegriff (mit Spinoza spricht Goethe von möglicher Erkenntnis Gottes, während Jacobi nur den unbedingten Glauben an ihn gelten lässt) und ontologisch durch den Monismus Spinozas (dessen Gott der Immanenz ist mit dem vorherrschenden Verständnis eines transzendenten Gottes unvereinbar) modelliert. In Spinozas Philosophie findet Goethe das Missing 154 FA 29: 582. 155 Brief vom 9. Juni 1785 an Jacobi, in: FA 29: 582 ff. 156 Schon am 11. September 1785 drückt Goethe zwar seinen Unwillen aus: »Ob du aber wohl gethan hast mein Gedicht mit meinem Nahmen vorauf zu setzen, damit man ia bey dem noch ärgerlichern Prometheus mit Fingern auf mich deute, das mache mit dem Geiste aus der dich es geheisen hat. Herder findet lustig daß ich bey dieser Gelegenheit mit Lessing auf Einem Scheiterhaufen zu sitzen komme« (gl. FA 29: 596), doch erst am 21. Oktober 1785 wird er grundsätzlich, vgl. FA 29: 603 f. sowie FA 29: 627 ff., Brief vom 5. Mai 1786. 157 FA 25: 14–17. Vgl. Wolf von Engelhardt: Goethes Weltansichten. Auch eine Biographie, a.a.O., S. 164–166; Engelhardt bestreitet, dass Goethe Autor des Textes sei. Meiner Ansicht nach belegt seine Argumentation diese Behauptung nicht zwingend, doch ist es hier nicht mein Ziel, in dieser Frage ausführlich zu argumentieren. Fraglos gibt die Spinozastudie Grundüberzeugungen Goethes wieder und kann für eine Rekonstruktion herangezogen werden. Meine Rekonstruktion konzentriert sich jedoch auf die erwähnten Briefe, weil deren spezifische Denkform und Kommunikationssituation Goethes Position in Abgrenzung zu Jacobi prägnant konturiert.

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5 Selbstbildung in der Transformation von Aisthesis zur Methode anschauender Betrachtung

Link einer Theoriekonzeption von Aisthesis als Betrachtungsweise. Ich werde meine Rekonstruktion auf diese Komponenten und ihre Bedeutung für Selbstbildung fokussieren. Rekonstruktion von Goethes Spinozalektüre

Es mag zunächst Verwunderung hervorrufen, dass Goethe sich derart intensiv für beinahe zwei Jahre in eine philosophische Lektüre vertieft, bedenkt man die biographischen Umstände und Goethes Orientierung in die Natur sowie deren Erforschung. Vielleicht lässt sich mit Ivan Illichs Begriff des Lesens von Im Weinberg des Textes noch am ehesten eine derartige Faszination und Hingabe zur Lektüre verstehen158. Goethe begegnet Spinoza nicht als Kritiker, er hebt eine durch seine Lektüre der Ethik erlebte geistige Verwandtschaft hervor (»Ich fühle mich ihm [Spinoza; J.S.] sehr nahe obgleich sein Geist viel tiefer und reiner ist als der meinige.«159), betont sein intensives Studium in Sinne der Bedeutung des Wortes, ein Streben nach ..., ein Bemühen um ...160 (»Ich übe mich an Spinoza, ich lese und lese ihn wieder«161): insgesamt also eine zentripetal motivierte Dynamik intensiver gedanklicher Auseinandersetzung. Diese geht deutlich über die philosophische Standortbestimmung im engeren Sinne hinaus und ergreift die Person des Lesers als Ganze mit der Option eines gesund gestalteten Lebens (»damit mir es im Anschauen seiner Wercke wohl werde«). Aus der Ethik tritt Goethe das in philosophischer Begründung entgegen, was er in seiner Naturbetrachtung als Ahnung ontologischer Grundorientierung erlebt und 158 Ivan Illich: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand, Frankfurt/M. 1991. Illichs Rekonstruktion des Didascalicon von Hugo von St. Viktor erschließt die Bedeutung und die Muster der Kultur des Lesens. Interessant für den vorliegenden Zusammenhang ist u.a., dass St. Viktor von dem Heilmittel der Weisheit durch Lektüre spricht (vgl. S. 18 f.) und dass in der Lektüre die Buchseite eine Qualität des Leuchtens besitzt (lumen, S. 25 ff.), was mich an den Begriff der Ekstase von Gernot Böhme erinnert (vgl. Gernot Böhme: Atmosphäre, a.a.O., S. 31–34): Lumen und Ekstase bezeichnen je auf ihre Weise und für ihren Gegenstandsbereich eine zentripetale Bewegungsdynamik. (Vgl. auch S. 131 ff., wo Illich Hugo von St. Viktor mit dem Satz zitiert: »Omnis natura rationem parit, et nihil in universitate infecundum est. […] Alle Natur ist sinnträchtig, und nichts in der Welt ist unfruchtbar.« Illich verweist in diesem Zusammenhang auf den engen Bezug von Buch und Buch der Natur, einer bedeutenden Metapher in der Philosophie des Mittelalters, etwa bei Raimundus Sabundus.) Ich sehe aufgrund dieser Übereinstimmung eine hinreichende Legitimation, auch die Bedeutung und Art und Weise der Lektüre Goethes im Kontext des Ekstasenbegriffs zu interpretieren, vgl. dazu das Folgende. 159 FA 29: 551, Brief vom 11. November 1784 an Knebel. 160 Vgl. dazu die Ausführungen von Ivan Illich: Im Weinberg des Textes, a.a.O., S. 20 ff. 161 FA 29: 571, Brief vom 12. Januar 1785 an Jacobi.

5.3 Ontologische und epistemologische Begründung der Naturforschung

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als Erkenntnismethodik des anschauenden Begriffs praktiziert. Entscheidende Überzeugungen, die Goethe aus der Lektüre Spinozas gewinnt, formuliert er in zitiertem Brief vom 9. Juni 1785 an Jacobi: Er [Spinoza; J.S.] beweist nicht das Daseyn Gottes, das Daseyn ist Gott. Und wenn ihn andere deshalb Atheum schelten, so mögte ich ihn theissimum ia christianissimum nennen und preisen. […] Vergieb mir daß ich so gerne schweige wenn von einem göttlichen Wesen die Rede ist, das ich nur in und aus den rebus singularibus erkenne, zu deren nähern und tiefern Betrachtung niemand mehr aufmuntern kann als Spinoza selbst, obgleich vor seinem Blicke alle einzelne Dinge zu verschwinden scheinen. Ich kann nicht sagen daß ich iemals die Schrifften dieses trefflichen Mannes in einer Folge gelesen habe, daß mir iemals das ganze Gebäude seiner Gedancken völlig überschaulich vor der Seele gestanden hätte. Meine Vorstellungs und Lebensart erlauben’s nicht. Aber wenn ich hinein sehe glaub ich ihn zu verstehen, das heist: er ist mir nie mit sich selbst im Widerspruch und ich kann für meine Sinnes und Handelns Weise sehr heilsame Einflüsse daher nehmen. Deswegen wird es mir schweer was du von ihm sagst mit ihm selbst zu vergleichen. Sprache und Gedancke sind bey ihm so innig verbunden daß es mir wenigstens scheint als sage man ganz was anders wenn man nicht seine eigensten Worte braucht. Wie offt hast du nicht ganze Stellen aus ihm untersetzen müssen. Du trägst in anderer Ordnung mit andern Worten seine Lehre vor und mich dünckt die höchste Consequenz der aller subtilsten Ideen muß dadurch offt unterbrochen werden. Verzeih mir der ich nie an Metaphysische Vorstellungsart Anspruch gemacht habe, daß ich nach solanger Zeit nicht mehr und bessers schreibe. […] Hier bin ich auf und unter Bergen, suche das göttliche in herbis et lapidibus.162

Drei Aspekte möchte ich aus den Briefpassagen hervorheben – die ontologische sowie die epistemologische Implikation und den Selbstbildungsgedanken – und sie im Kontext der Lektüreerfahrung Goethes diskutieren. Das ontologische Argument und seine epistemologischen Konsequenzen: Den gedanklichen Kern – »Er [Spinoza; J.S.] beweist nicht das Daseyn Gottes, das Daseyn ist Gott« – dieser Grundannahme findet Goethe im zweiten Teil der Ethik in Propositio 1 und 2: 162 FA 29: 582 ff. Hervorhebungen vom Verfasser.

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1. Lehrsatz: Das Denken ist ein Attribut Gottes, oder Gott ist ein denkendes Wesen. [...] 2. Lehrsatz: Die Ausdehnung ist ein Attribut Gottes, oder Gott ist ein ausgedehntes Wesen.163

Gott ist denkendes und zugleich ausgedehntes Wesen, ist die bewirkende Ursache aller Ideen und Körper. Gott wirkt nach dieser Auffassung als geistiges Verursachungsprinzip direkt in der von ihm erschaffenen immateriellen und materiellen Welt. Sein Verhältnis zur Schöpfung ist nicht transzendental, sondern immanent. Goethe findet in diesem Monismus Spinozas, der als Pantheismus ontologisch die Identität Gott = Natur hervorhebt und Natur als ganzheitlichen Organismus der Vielheit der Einzeldinge versteht164, die ontologische Begründung seines Anschauens der Welt, wie sie sich ihm in erfahrungsgestützter Erkenntnis zunächst philosophisch und methodenkritisch unreflektiert gezeigt hat. Wenn Goethe nun von den Erkenntnismöglichkeiten durch die »rebus singularibus« schreibt, spielt er auf die 25. Propositio des ersten Teils der Ethik an, dort heißt es: 25. Lehrsatz: Gott ist nicht nur die wirkende Ursache des Daseyns, sondern auch der Wesenheit der Dinge. […] Folgesatz: Die besonderen Dinge sind nichts als Affectionen oder Modi der Attribute Gottes, durch welche die Attribute Gottes auf gewisse und bestimmte Weise ausgedrückt werden.165

Der für das ontologische Argument geltende Pantheismus wird in dieser Propositio mit anderen Worten formuliert. Gott ist die immanente bewirkende Ursache der 163 Baruch de Spinoza: Ethica – Ethik, in: ders.: Opera – Werke, lateinisch und deutsch, hrsg. von Konrad Blumenstock, Darmstadt 22011, S. 163 und 165. 164 Die wohl um 1784/85 zu datierende Studie nach Spinoza erläutert in diesem Zusammenhang den Bezug von Dasein und Vollkommenheit [»Der Begriff vom Dasein und der Vollkommenheit ist ein und eben derselbe«, in: FA 25: 14] sowie das Verhältnis der Einzeldinge zueinander und zum Ganzen. Vgl. zur Rekonstruktion dieses Aufsatzes und seines argumentativen Bezugs zum Spinozatext Wolf von Engelhardt: Goethes Weltansichten. Auch eine Biographie, a.a.O., S. 164–166. Vgl. zur Vorstellung der Natur als eines Wesens auch den Aufsatz Die Natur. Fragment, der vermutlich 1782/83 erstmalig im Tiefurter Journal erschien, nicht von Goethe stammt, aber seine Ideen zu Natur wohl angemessen wiedergibt, in: FA 25: 11–13, und den Kommentar zu Entstehung und Inhalt S. 859–863. 165 Baruch de Spinoza: Ethica – Ethik, a.a.O., S. 127 und 129.

5.3 Ontologische und epistemologische Begründung der Naturforschung

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Dinge, d.h. er wird hier nicht als Schöpfer mit transzendentem Status, sondern ausdrücklich in den Dingen anwesend gedacht; dazu heißt es im Scholium zur 29. Propositio des ersten Teils der Ethik: [I]ch [will] hier erklären oder vielmehr erinnern, was bei uns unter schaffender Natur (natura naturans) und was unter geschaffener Natur (natura naturata) zu verstehen ist. Denn ich glaube, aus dem Vorigen habe sich schon ergeben, dass wir unter schaffender Natur das verstehen, was in sich ist und aus sich begriffen wird, oder solche Attribute der Substanz, welche ewiges und unendliches Wesen ausdrücken d.h. […] Gott insofern er als freie Ursache betrachtet wird. Unter geschaffener Natur aber verstehe ich Alles, was aus der Nothwendigkeit der Natur Gottes oder eines jeden göttlichen Attributs erfolgt; d.h. alle Modi der Attribute Gottes, insofern sie als Dinge betrachtet werden, welche in Gott sind und ohne Gott weder seyn noch begriffen werden können.166

Natura naturans ist die innere Entelechie (Gott) der natura naturata und diese ist äußerer Ausdruck in ihr wirkender bestimmter Modi dieser Entelechie. Unter diesen ontologischen Voraussetzungen, schreibt Goethe, könne er sich erkennend über die Einzeldinge einem göttlichen Wesen annähern, wohl wissend, dass er mit dieser Auffassung einer Erkenntnis der Einzeldinge Spinoza nur bedingt folgt (»obgleich vor seinem Blicke alle einzelne Dinge zu verschwinden scheinen«). Goethe spielt damit auf den Intuitionsbegriff Spinozas an, der auf innere Anschauung ausgerichtet ist. Doch findet sich auch bei Spinoza: »Je mehr wir die einzelnen Dinge erkennen, um so mehr erkennen wir Gott«167. Spinoza bringt diese Überzeugung den Atheismusvorwurf Jacobis ein. Für Goethe ist sie epistemisch motiviert und Begründung erfahrungsgestützter Erkenntnis; sie wird der argumentative Hintergrund der seit den Straßburger Tagen bestehenden Abneigung gegen Metaphysik, die Goethe in der entsprechenden Briefpassage als kritische Abgrenzung zur metaphysisch motivierten Position des Glaubens durch Jacobi formuliert168. Der Hinweis auf die diesbezügliche aktuelle Erkenntnispraxis unterstreicht Goethes Selbst- und Sachverständnis nachdrücklich: »Hier bin ich auf und unter Bergen, suche das göttliche in herbis et lapidibus.«

166 Scholium zur 29. Propositio des ersten Teils, in: Baruch de Spinoza: Ethica – Ethik, a.a.O., S. 133. 167 Baruch de Spinoza: Ethica – Ethik, a.a.O., Teil 5, Propositio 24, S. 537. 168 Vgl. dazu Kap. 4.1 und 4.2.3

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5 Selbstbildung in der Transformation von Aisthesis zur Methode anschauender Betrachtung

Selbstbildung

Man kann in dem heilsamen Einfluss der Philosophie Spinozas das Krisenmanagement (Hamacher) Goethes sehen, sich als Individuum mit Kontingenzerfahrung in einem Ganzen orientieren und verorten zu wollen169, ich würde dabei aber für grundlegend halten, dass Goethe die Spinozalektüre als umbildende Erfahrung beschreibt. Offensichtlich nimmt Goethe nicht nur ein Wissen in sich auf und integriert es als nützliches Argument in ein diesbezügliches Inventar (Illich) ontologischer und methodologischer Reflexion, sondern die Ekstasen des Textes ergreifen ihn in zentripetaler Dynamik; die sich anschließende Denkbewegung verändert selbstverständlich auch sein Wissen, mehr aber das Ganze seiner Person. Damit wird die Lektüre über die vordergründige Kontroverse mit Jacobi und die philosophische Begründung von Naturforschung hinaus zu einem bedeutenden Ereignis der Selbstbildung seiner Person: Neben argumentativen Begründungsstrategien bilden und vertiefen sich fundamentale Denkmuster und weltanschauliche Überzeugungen. Intuition und Selbstbildung – Fusionen

In dem eingangs zitierten letzten Brief der Spinozakontroverse vom 5. Mai 1786 an Jacobi hebt Goethe die Fusion von ontologisch motiviertem epistemologischen Argument und Selbstbildung konzentriert hervor, präzisiert seine grundlegende Auffassung in dieser Sache und konzeptioniert gleichzeitig seine zukünftigen Überzeugungen: Übrigens bist du ein guter Mensch [gemeint ist Jacobi; J.S.], daß man dein Freund seyn kann ohne deiner Meynung zu seyn, denn wie wir von einander abstehn hab ich erst recht wieder aus dem Büchlein selbst gesehn. Ich halte mich fest und fester an die Gottesverehrung des Atheisten p. 77 und überlasse euch alles was ihr Religion heisst und heissen müsst ibid. Wenn du sagst man könne an Gott nur glauben p. 101. so sage ich dir, ich halte viel aufs schauen, und wenn Spinoza von der Scientia intuitiva spricht und sagt: Hoc cognoscendi genus procedit ab adaequata idea essentiae formalis quorundam Dei attributotum ad adaequatam cognitionem essentiae rerum; so geben mir diese Worte Muth, mein ganzes Leben der Betrachtung der Dinge zu widmen die ich reichen und von deren essentia formali ich mir eine adäquate Idee zu bilden hoffen kann, ohne mich im mindsten zu bekümmern, wie weit ich kommen werde und was mir zugeschnitten ist.170 169 So u.a. der Kommentar FA 29: 684. Vgl. auch meine Ausführungen zu Zweifeln ob der biographischen Situation und Weltrolle im vorangehenden Kap. 2. 170 FA 29: 629, Hervorhebung vom Verfasser.

5.3 Ontologische und epistemologische Begründung der Naturforschung

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Wenn in der eingangs zitierten Briefpassage der Metaphysik eine prinzipielle Differenzerfahrung ohne Hoffnung auf Überwindung attestiert wird, die ein Fremdsein in der Welt bewirkt, nutzt Goethe seine Stellungnahme zu Jacobis Spinozakritik zur Konturierung der eigenen Überzeugung von Anschauung. Es deutet sich eine epistemisch hybride Bedeutung von Anschauung an: innere Anschauung als Intuition (schauen der »essentia formali«) und äußere sinnliche Anschauung der Einzeldinge. Freilich findet er nur Erstere dezidiert bei Spinoza als wahre Form von Erkenntnis diskutiert. Als Form von höchster Erkenntnis – und als Gegenargument zur Metaphysik des Glaubens bei Jacobi – findet Goethe Intuition insbesondere an zwei Stellen bei Spinoza begründet; im fünften Teil der Ethik heißt es: 25. Lehrsatz: Das höchste Bestreben des Geistes und seine höchste Tugend ist, die Dinge nach der dritten Art der Erkenntnis zu erkennen. Beweis: Die dritte Art der Erkenntnis geht von der adäquaten Vorstellung gewisser Attribute Gottes zur adäquaten Erkenntnis der Wesenheit der Dinge […]. Je mehr wir daher die Dinge auf diese Weise erkennen, um so mehr erkennen wir […] Gott, und folglich […] ist die höchste Tugend des Geistes d.h. […] das Vermögen oder die Natur des Geistes oder […] sein höchstes Bestreben, die Dinge nach der dritten Art der Erkenntnis zu erkennen.171

Was Spinoza unter dieser dritten Art von Erkenntnis genau versteht, hat er im zweiten Teil im Scholium 2 der 40. Propositio dargelegt, und Goethe zitiert diese in seinem Brief172. Spinoza unterscheidet drei Arten von Erkenntnis, zunächst »Erkenntnis der ersten Gattung, Meinung oder Phantasievorstellung«, dann »Vernunft und Erkenntnis der zweiten Gattung«173 und definiert eine dritte als »scientiam intuitivam«174; nur der zweiten und dritten spricht er die Möglichkeit wahrer Erkenntnis zu175: Ausser diesen beiden Gattungen der Erkenntnis giebt es […] eine dritte, welche wir das intuitive Wissen nennen werden. Und diese Gattung des Erkennens geht von der adäquaten Vorstellung der formalen Wesenheit einige Attribute Gottes bis zu der adäquaten Erkenntnis der Wesenheit der Dinge.176

171 172 173 174 175 176

Baruch de Spinoza: Ethica – Ethik, a.a.O., Teil 5, Propositio 25, S. 537. Vgl. den Kommentar in FA 29, 1131. Baruch de Spinoza: Ethica – Ethik, a.a.O., Teil 2, Propositio 40, Anmerkung 2, S. 227. Ebd., Teil 2, Propositio 40, Scholium 2, S. 226. Ebd., Teil 2, Propositio 42, S. 229. Ebd., Teil 2, Propositio 40, Anmerkung 2, S. 227.

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5 Selbstbildung in der Transformation von Aisthesis zur Methode anschauender Betrachtung

Spinozas Begriff von Intuition begründet eine epistemische Methode innerer Anschauung als möglichen Weg zur Erkenntnis Gottes als immanenter Entelechie der geschaffenen Welt. Vergleicht man die Argumentation Spinozas mit deren Auslegung durch Goethe, fällt dessen spezifische Interpretation von Anschauung auf. Er begrenzt diese nicht auf innere Anschauung/Intuition, sondern spricht in dem Brief von einem hybriden Modell von Aisthesis, das äußere sinnliche Anschauung der Gestalt eines Dinges oder Gegenstandes und innere Anschauung/Intuition von bildendem Prinzip/Entelechie als zu differenzierende Formen umgreift. Goethe hat es in ästhetischer Anschauung (Baukunst des Straßburger Münsters) und Naturforschung (exemplarisch von mir am geologischen Interesse Goethes aufgezeigt) schon erprobt. In der Briefpassage wird dieses Aisthesismodell mit seinen Komponenten und Bezügen ohne systematische Argumentation deutlich ausgesprochen. Ich möchte daran anschließend meinen Vorschlag aufzeigen, die Begründungszusammenhänge dieses Modells zu diskutieren, die sich unter Berücksichtigung der von mir bisher rekonstruierten verschiedenen Verwendungssituationen von Aisthesis sowie der philosophischen Konzeption Spinozas ergeben. Goethe hat, angefangen mit der ästhetischen Anschauung des Straßburger Münsters, Aisthesis als eine Erkenntnis modelliert, in welcher der betrachtete Gegenstand zentripetaler Maßstab des Erkennens ist: Der Gegenstand wird nicht in erster Linie und ausschließlich nach Maßgabe kategorialer Verstandesbegriffe vermessen, sondern Anschauung hebt an beim Innewerden eines Gegebenen, das als vorgefunden Vorhandenes ekstatisch eine Erkenntnisdynamik auslöst und von seiner Seite aus zentripetal vorstrukturiert. Voraussetzung dafür ist, dass das Subjekt dem Objekt seine Aufmerksamkeit aktiv zuwendet. Diese erfahrungsgestützte Form von zentripetal-zentrifugal modellierter Erkenntnis in wechselseitig-partizipatorischem Modus fließt in Goethes Spinozalektüre als Interpretation von Anschauung ein und konstituiert eine gegenstandsspezifische Betrachtungsweise sinnlicher Anschauung. Es ist von mir schon gezeigt worden, in welcher Weise Goethe auch eine differenzierte Erkenntnis der Relationen des Gestaltzusammenhangs, der Teile zum Ganzen, und der relationalen Bezüge des Gegenstandes zum Kontext im Sinne zentrifugal verlaufender analytischer und diskursiver Erkenntnis sinnlicher Anschauung durch Verstandesprinzipien praktiziert und reflektiert. Diese Form von Erkenntnis hat im Kontext der Auseinandersetzung mit Spinoza eine nachgeordnete Funktion. Entscheidende Bedeutung kommt jedoch dem Intuitionsbegriff zu. Über die Begründung innerer Anschauung hinaus gewinnt Goethe mit ihm die philosophisch argumentative Begründung von Anschauung als Erkenntnis überhaupt in der aufgezeigten hybriden Differenzierung. Doch es ist nicht nur diese Begründung der Methodik von Erkenntnis, die Goethes Lektüre so ertragreich gestaltet. Insbesondere durch die Verankerung im Monismus Spinozas findet er die ontologische Dimen-

5.3 Ontologische und epistemologische Begründung der Naturforschung

217

sion dieser Form von Erkenntnis aufgezeigt. Danach ist menschlichem Erkennen zwar jede Form von Letzterkenntnis versagt, doch diese Beschränkung vor dem Absoluten, über die Goethe wiederholt reflektiert hat und immer reflektieren wird (u.a. durch den Begriff der Kluft177), führt eben nicht in ein unglückliches Bewusstsein prinzipiellen Fremdseins in der Welt, wie Goethe es der metaphysischen Betrachtungsweise Jacobis unterstellt, sondern akzentuiert die hoffnungsvolle Option, sich unter gegebenen Umständen und mit den zur Verfügung stehenden persönlichen Mitteln durch Anschauung in die Weltzusammenhänge der Natur=Gott nicht nur erkennend, sondern auch existentiell einzufügen: »Muth, mein ganzes Leben der Betrachtung der Dinge zu widmen die ich reichen und von deren essentia formali ich mir eine adäquate Idee zu bilden hoffen kann, ohne mich im mindsten zu bekümmern, wie weit ich kommen werde und was mir zugeschnitten ist.« Partizipation an diesseitiger Ganzheit ist demnach der entscheidende Ertrag der Erkenntnisbewegung. Die mit der Spinozalektüre gewonnenen ontologischen Gewissheiten eines offenen ganzheitlichen Zusammenhangs, in dem sich das Individuum verorten kann, markieren das Feld der Möglichkeiten menschlichen Wirkens. Vergleicht man diese ontologischen und epistemischen Grundpositionen der Naturforschung sowie deren Bedeutung für die Rolle und die Person des Forschers mit den Unsicherheiten, Krisen und dem Ringen Goethes ob der Weltrolle, die er in seiner gesellschaftlichen Position in Weimar einnehmen will, fällt auf, welche besondere Gelassenheit in Bezug auf den zu erreichenden Ertrag in diesem Interessensgebiet die Studien bei Goethe bewirkt haben. In einem Brief vom 21. November 1782 an den Freund Carl Ludwig von Knebel hat Goethe über eine solche Differenz und seine Ertragserwartung Rechenschaft gegeben. Ich ziehe die entsprechenden Passagen des Briefes heran, um den Selbstbildungsimpuls auch von dieser Seite zu beleuchten. Goethe berichtet davon, wie er seinen Briefwechsel der letzten zehn Jahre gesichtet und geordnet habe und dadurch in die Lage gekommen sei, eine »Epoche«178 seines Lebens als Entwicklungszeitraum zu überblicken und abzurunden; im Übrigen führe er ein zurückgezogenes Leben bewusst gesuchter Einsamkeit: [I]ch habe mein politisches und gesellschaftliches Leben ganz von meinem moralischen und poetischen getrennt (äusserlich versteht sich) und so befinde ich mich am besten. […] 177 Vgl. dazu im vorangehenden Kap. 2 die entsprechenden Ausführungen im Anschluss an den Brief vom 27. Dezember 1780 an Ernst II., Herzog von Sachsen-Gotha und Altenburg. 178 FA 29: 460.

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5 Selbstbildung in der Transformation von Aisthesis zur Methode anschauender Betrachtung

Nur im innersten meiner Plane und Vorsätze, und Unternehmungen bleib ich mir geheimnißvoll selbst getreu und knüpfe so wieder mein gesellschaftliches, politisches, moralisches und poetisches Leben in einen verborgenen Knoten zusammen. Sapienti sat. […] Die Cosmogonie und die neusten Entdeckungen darüber, die Mineralogie, und neustens der Beruf mich der Oekonomie zu nähern, die ganze Naturgeschichte, umgiebt mich wie Bakons groses Salomonisches Haus, worüber sich Herder und Nikolai streiten.179

Goethe skizziert ein von ihm inszeniertes inneres Exil. Dieses ist zwar mit seinem politisch-gesellschaftlichen Leben verbunden, bleibt aber ein abgeschiedenes Refugium persönlicher Interessen- und Arbeitsgebiete. Die im Verborgenen verhandelten Dinge stehen widerständig zu den Ansprüchen der Rollenexistenz und ermöglichen als Modus von Distanzierung eine selbstbezüglich gestaltete Identität, die, sich selbst genug – »Sapienti sat« –, einen selbsterzeugten inneren Kosmos formt. Der Vergleich mit »Bakons grose[m] Salomonische[m] Haus« assoziiert dabei die Option, von diesem Narrativ identitätsbildender Muster aus Motiv und Motivation des Rollenhandelns zu modellieren. Nach diesem Verständnis handelt es sich bei Goethes epistemischen und ontologischen Orientierungen im Anschluss seiner naturwissenschaftlichen Forschung um ein widerständiges Konzept von Selbstbildung, das sich den Forderungen der Rollenexistenz verweigert, um aus selbstbildender Identität Handlungsoptionen zu gewinnen. Vergleicht und überblickt man diesbezügliche Motive der Harzreise im Winter 1777 (Orakel der Brockenbesteigung) sowie die Reflexionen anlässlich der geologischen Exkursionen (»Individuum est ineffabile«180) und die Wirkungen der Spinozalektüre, zeichnet sich eine Entwicklungslinie von Bildung ab, in der über das Erlebnis des gesuchten Zeichens, die Erforschung der Zusammenhänge der Landschaftsnatur und ihrer möglichen Entstehung sowie die philosophische Orientierung dieser Suchbewegung ein Konzept von Selbstbildung als widerständiges Konzept gegenüber den Forderungen der Rollenexistenz modelliert ist.

179 FA 29: 460 f. Vgl. den Kommentar zu dem Brief insbesondere S. 1003. 180 FA 29: 300.

5.3 Ontologische und epistemologische Begründung der Naturforschung

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Perspektiven der weltanschaulichen Kontroverse

In Kap. 2.2 habe ich neben der soziologischen Konzeption Niklas Luhmanns181 Hartmut Böhmes Sammelband Natur und Subjekt182 als Referenztheorie für das Verständnis der historisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Naturforschung Goethes eingeführt. Im Fokus dieser Deutungsmuster von Subjekt und Individuum moderner Prägung und des spezifischen Verhältnisses derselben zu Natur kommt Goethes Anschauen der Welt in seiner ontologischen Dimension eine generelle historische Bedeutung zu. So bestimmt Hartmut Böhme im Rahmen einer Analyse der Begriffe Subjekt und Natur auch den Beitrag Goethes183. Er hebt für die geschichtliche Entwicklung der Neuzeit und für die Moderne hervor: Ursprüngliche Natur ist so wenig wiederzugewinnen wie das authentische Subjekt – wenn es beide denn je gegeben hat. Natur ist historisch umgearbeiteter und gestalteter Lebensraum, den jede Generation neu als mangelhaft empfunden hat; das Ich (Identität) ist historisch erzeugtes, soziokulturell stilisiertes und funktional differenziertes Produkt, nicht Ursprung des Handelns.184

Im Zuge dieses Verständnisses geht es Böhme bei seinen Untersuchungen um Erinnerung und Rekonstruktion von Konzepten und Modellen der Überlieferung, deren Wissensbestände er in die Debatte um aktuelle Tendenzen der Wissenschaft und historisch-gesellschaftliche Entwicklungen einbringen möchte, als »Bild eines Widerstands gegen diese Zivilisation, das Bild auch einer Sehnsucht, die den Zerstörungen und Entfremdungen der Moderne«185 kritisch begegnet. Diesem Widerständigen als Spiegel für eine Reflexion der Moderne geht Böhme für Goethes Naturforschung exemplarisch nach. Dabei versäumt er es meiner Auffassung nach durch zwei Komponenten seiner Argumentation, die widerständige Sprengkraft von Goethes Denkansatz in ihrer vollen Dimension zu erschließen. Böhme entwickelt zum einen eine Alternative von Ganzheit in der Denkentwicklung Goethes, die sich von jugendlicher »enthusiastische[r] Setzung kosmischer Ganzheit« zu lebensgeschichtlich motivierter his-

181 Vgl. zu den strukturellen Bedingungen des Individuums als Subsystem gesellschaftlicher Systeme Kap. 2.1 die Ausführungen zur soziologischen Theorie Niklas Luhmanns und Klaus Hurrelmanns. 182 Hartmut Böhme: Natur und Subjekt, Frankfurt/M. 1988. 183 Hartmut Böhme: Lebendige Natur. Wissenschaftskritik, Naturforschung und allegorische Hermetik bei Goethe, in: ders.: Natur und Subjekt, a.a.O., S. 145–178. 184 Hartmut Böhme: Natur und Subjekt, a.a.O., im Vorwort S. 7. 185 Ebd., S. 9.

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5 Selbstbildung in der Transformation von Aisthesis zur Methode anschauender Betrachtung

torischen Relativierung derselben in späteren Jahren wandle186; zum anderen führt er Goethes »Naturinterpretation«187 und die damit verbundene Kritik an der Moderne auf von Goethe aktivierte vormoderne Konzeptionen von Natur und Wissenschaft zurück und fokussiert die Denkmuster Goethes weitgehend auf »Kunst allein und ästhetische Erfahrung«188. Wenn man Böhmes Option folgt, mit einer Rekonstruktion des unter den Bedingungen der Moderne »Nicht-mehr-Möglichen« die »Spuren des Wahren«189 freizulegen, wird an meiner Rekonstruktion von Aisthesis als wissenschaftlicher Betrachtungsmethode mit ontologischer Dimension deutlich, dass derartige Begrenzungen und Alternativen das komplexe Gefüge der konkreten Vollzugszusammenhänge nicht angemessen darstellen. Meine Rekonstruktion des Begriffs offener Ganzheit und seiner Bedeutung für die Identitätskonstruktionen Goethes zeigt, dass die Sprengkraft von Goethes offenem Ganzheitsbegriff darin liegt, Differenz und Ganzheit in einer Fusion zu denken, in der Ganzheit die Differenz umgreift und nicht in eine Utopie harmonischer Einheit überführt. Durch diese offene Konstruktion kann Ganzheit zu einem auch aktuell diskursfähigen Modell epistemischer Methodik und ontologischer Orientierung werden. So sehr Goethe sich mit vormodernen Konzepten von Naturforschung im Rahmen seines naturphilosophischen und naturwissenschaftlichen Interesses auseinandersetzt (vgl. u.a. das Interesse an Alchemie) und dies sein Denken beeinflusst, lässt sich seine Auseinandersetzung mit Natur dennoch nicht darauf reduzieren. Goethe modelliert die wissenschaftliche Programmatik von Aisthesis im Diskurszusammenhang einer aktuellen Debatte um Spinozas Philosophie190! Im Werkzusammenhang zeigt sich dabei keine Begrenzung auf poetische Texte sowie auf ästhetische Erfahrung, wie Böhme im Allgemeinen konstatiert, sondern wie die Briefe, Zeichnungen und Gedichte zeugen auch grundlegende theoretische Schriften des ersten Weimarer Jahrzehnts davon, wie Goethe seine Erfahrung von Natur dergestalt modelliert und entwickelt, dass Aisthesis über ästhetische Anschauung hinaus ein wissenschaftliches Paradigma mit dem Potential umbildender Erfahrung für Selbstbildung und Weltorientierung wird. Exemplarisch können für die ontologische Weltorientierung die Schriften im Umkreis von stehen.

186 187 188 189 190

Hartmut Böhme: Lebendige Natur, a.a.O., S. 145. Ebd., S. 171, dort auch das Resümee, auf welches ich mich im Folgenden beziehe. Ebd., S. 172. Hartmut Böhme: Lebendige Natur, a.a.O., S. 172. Goethes geologische Forschung entfaltet sich ebenfalls auf der Folie des damals aktuellen wissenschaftlichen Diskurses.

5.4 Der Granit: Das Subjekt modelliert seine Identität im Erkennen des Objektes

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5.4 Der Granit: Das Subjekt modelliert seine Identität im Erkennen des Objektes Die ontologische Orientierung von Aisthesis als hybrider Methodik von Erkenntnis durch die Philosophie Baruch Spinozas in ihrer Bedeutung für Selbstbildung soll im Folgenden an die geologischen, Goethe würde im Kontext des damaligen Verständnisses mineralogischen sagen, Studien und die Theoriekonzeption derselben angeschlossen werden. In Kap. 3 war eine von Friedrich Wilhelm Heinrich von Trebra überlieferte Begebenheit am 22. September 1783 am Rehberger Graben im Harz Ausgangspunkt der Rekonstruktion. Schon an dieser Stelle habe ich betont, dass für Goethe der Granit das Maß aller geologischen Forschungen darstellt; dieses Denkmuster konstituiert die beständige Komponente, die alle erdgeschichtlichen Wandlungsprozesse als ältestes und tragendes Fundament durchzieht – der »Haupt-Maxime getreu, alle geologischen Betrachtungen vom Granit anzufangen, sodann aber die Übergänge, wie mannigfaltig sie auch sein mögen, fleißig zu schauen«191. Auf dieser Harzreise 1783 erkundet Goethe am 11. September das Bodetal und ist am 21. September auf dem Brocken – studiert den Granit in einer durch Wasserwirkung tief eingeschnittenen Schlucht sowie als Gestein eines Berggipfels –, bevor es zu der denkwürdigen Begeisterung im Angesicht der Übergangszone zweier Gesteine kommt. 1784 erforscht Goethe erneut die geologischen Gegebenheiten des Harzes192. Der Ertrag dieser Studien 1783/84 schlägt sich in der für Goethes Naturverständnis grundlegend angesehenen Schrift 193 nieder, aus deren Kontext ich zwei in der Rezeptionsgeschichte weniger beachtete Aufsätze – 194 und 195 – in meine Rekonstruktion einbeziehen werde. Diese Schriften ermöglichen, Goethes Verständnis des Granits hinsichtlich seines Vorkommens (aktuell wahrnehmbare Erscheinungsformen), seiner Beschaffenheit (des Ganzen und seiner Teile) sowie

191 Problematisch, in: FA 25: 384. 192 Der biographische Kontext ist ausführlich dargestellt in: Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine, Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, a.a.O., S. 83–118. Erstaunlicher Weise geht Engelhardt bei seiner biographisch orientierten Darstellung nur knapp beschreibend auf die Inhalte der zentralen Texte ein, bietet aber für den Kontext viele Materialien und Bezüge, auf die ich im Folgenden zurückgreife. 193 FA 25: 312–316. Vermutlich 1785 entstanden; vgl. den Kommentar S. 1095. 194 FA 25: 311 f. Im Januar 1784 entstanden; vgl. den Kommentar S. 1093. 195 FA 25: 317 f. Vermutlich vom Sommer 1785; vgl. den Kommentar S. 1098.

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5 Selbstbildung in der Transformation von Aisthesis zur Methode anschauender Betrachtung

als Narrativ der erdgeschichtlichen Entwicklung196 zu rekonstruieren. Die Schriften über den Granit bieten neben diesen auf ontologische Orientierung von Aisthesis zielenden Überlegungen Goethes auch Varietäten seiner methodologischen Konzeption sowie Reflexionen zum Bezug von Objekt und Subjekt, welche das Leitmotiv Selbstbildung weiter perspektivieren. als Gedankenskulptur

Wenn ich mit Wolf von Engelhardt die zentrale Granit-Schrift Goethes als »sprachliches Kunstwerk«197 auffasse, das sich keiner spezifischen Textart oder Gattung einfügen will, so möchte ich aufzeigen, dass Goethe mit dem Text eine Gedankenskulptur analog den in der Natur beobachteten Granitformationen modelliert, in der inhaltlich verschiedenartige Teile in einem Ganzen korrespondieren – aber als Differenzzusammenhang komponiert. Goethes Gedankenkunst lässt wissenschaftliche Denkmethoden und deren taxonomische Klassifikationsmodelle von Objektivation mit dem Konzept intuitiver Teilhabe am Ganzen der Natur begegnen; dabei ermöglichen reale Gegenwart und Nähe der Dinge eine sachbezogen-subjektive Betrachtungsweise, mit der neue Varietäten von Aisthesis erprobt werden. Es werden Relationen ausgelotet, in denen der Betrachter die betrachtete Wirklichkeit als symbolische Repräsentation eines Ganzen erkennend produziert: Die Gedankenskulptur hat den Gehalt eines Bekenntnisses. Diese alle Modellgrenzen sprengende Ausdrucksform, modelliert als vielschichtiger und verschiedenartiger Differenzzusammenhang, zielt auf ein kongeniales Erkenntnisvermögen analog der Wirksamkeiten in den Naturprozessen, das Selbstbildung des Individuums in einem Ganzen anstrebt. Rekonstruktion und Erläuterung von in sieben Schritten

In den ersten drei Abschnitten nimmt Goethes Darstellung ihren Ausgangspunkt von Ansichten und Überlegungen anderer Forscher, besonders Horace Bénédict de Saussures198, dem Goethe auf seiner Reise in die Schweiz 1779 begegnete. 196 Margit Wyder: Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformationen, Köln u.a. 1998, spricht in diesem Kontext treffend vom »verzeitlichte[m] Stufenleitermodell« für erdgeschichtliche Bildeprozesse (S. 157). 197 Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine, Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, a.a.O., S. 106. Vgl. auf den dort folgenden Seiten die überwiegend deskriptive Wiedergabe der Schrift. 198 Vgl. Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine, Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, a.a.O., S. 106.

5.4 Der Granit: Das Subjekt modelliert seine Identität im Erkennen des Objektes

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Zunächst wird die Bedeutung des Granits für die Naturauffassung und die Kunstwerke der Antike in Anlehnung an Saussures Voyages dans les Alpes (1779–1796) einleitend thematisiert. Als Ertrag der damals aktuellen Forschungslage zum Vorkommen des Granit hebt Goethe sodann hervor, das »jeder Weg in unbekannte Gebirge […] die alte Erfahrung« bestätige, daß das Höchste und das Tiefste Granit sei, daß diese Gesteinsart, die man nun näher kennen und von andern unterscheiden lernte die Grundfeste unserer Erde sei worauf sich alle übrigen mannigfaltigen Gebürge hinauf gebildet. In den innersten Eingeweiden der Erde ruht sie unerschüttert, ihre hohe Rücken steigen empor, deren Gipfel nie das umgebende Wasser erreichte. So viel wissen wir von diesem Gesteine und wenig mehr.199

In wird in diesem Sinne der Granit als Ausgangs- und Bezugspunkt der Erforschung der Gesteinsarten und ihrer Ordnungsmuster angesehen: Denn es stimmen alle Beobachtungen deren neuerdings so viele angestellt worden darin überein, daß er die tiefste Gebürgsart unseres Erdbodens ist, daß alle übrigen auf und neben ihm gefunden werden er hingegen auf keiner andern aufliegt, so daß er wenn er auch nicht den ganzen Kern der Erde ausmacht, doch wenigstens die tiefste Schale ist die uns bekannt geworden.200

Wenn sich Goethe wiederholt der Beobachtungen anderer Forscher versichert, die als gemeinsamen Befund eine konstitutive Bedeutung des Granits für andere Gesteinsarten aufzeigen, so nutzt er diesen Diskurs als Kontext, um seine Interpretation des Granits als Narrativ der Erdgeschichte wissenschaftlich zu verorten und zu begründen. Es geht ihm darum, eine den Entwicklungsprozess initiierende und maßgeblich gestaltende Komponente in ihrer Bedeutung und ihren Eigenschaften zu verstehen. Nach den Überlegungen der zitierten Textsequenzen ist der Granit • das dem Ursprung aller erdgeschichtlichen Bildung nächste und älteste Gestein; • das beständig Dauerhafte in den Umwandlungsprozessen erdgeschichtlicher Entwicklung der Gesteine;

199 FA 25: 313. Laut Kommentar S. 1097 waren die Geognosten des 18. Jahrhunderts der Auffassung, dass in der Frühzeit der Erde ein Ozean die Erdoberfläche bedeckte, aus dem einige Granitgipfel des Urgebirges herausragten. 200 FA 25: 311.

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5 Selbstbildung in der Transformation von Aisthesis zur Methode anschauender Betrachtung

• nicht nur Fundament aller anderen Gesteinsarten, sondern der Natur als Ganzer: Der materielle Stoff, der symbolhaft ihre Entelechie verkörpert, die natura naturans ausdrückt, welche Gestalt, Geschehen und Veränderung der natura naturata bildet und umbildet201. Goethe profiliert seine Methode und seine Konzeption, indem er sie von anderen Erklärungsmustern über die Ursprünge der Erdgeschichte abgrenzt202. Entscheidend für die Methode ist dabei seine Absage an zu weitreichende Spekulation sowie Mutmaßung bei der Hypothesenbildung und sein Plädoyer für konkrete Beobachtung: Mein Geist hat keine Flügel, um sich in jene Uranfänge hervorzuschwingen. Ich stehe auf dem Granit fest, und frage ihn ob er uns einigen Anlaß geben wolle zu denken wie die Masse woraus er erstanden beschaffen gewesen.203

Es ist deutlich, dass damit die Betrachtungsweise des anschauenden Begriffes204 als Erkenntnismethodik der Erforschung des Granits zugrunde liegt. Das Vorkommen in aktueller Erscheinung soll möglichst umfassend und unter verschiedenen Perspektiven beobachtet werden, um den Entstehungs- und Umwandlungsprozess bestimmter Gesteinsformationen zu verstehen. Konzeptionell betont Goethe 1784/85 mit seine Abneigung gegen Erklärungsmuster, die »auf Gewaltsamkeit der Kräfte« insistieren, mit dem Zufall als Motor eines zu ordnenden Chaos205. Er sympathisiert und denkt der in langen Prozessen kontinuierlich umgestaltenden Kraft des Wassers nach206. Doch bleibt 201 Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass Goethe zu dieser Zeit, u.a. mit seinen anatomischen Studien zum Zwischenkieferknochen (vgl. den Brief vom 27. März 1784 an Herder: »Ich habe gefunden – weder Gold noch Silber, aber was mir eine unsägliche Freunde macht -/das os intermaxillare am Menschen!«, FA 29: 504), auch auf andern Gebieten der Naturforschung der Frage nach Ganzheit, Verbindung und Zusammenhang nachging. Vgl. dazu auch im Folgenden meine Vermutung, dass Goethe mit dem »Kreis der Beobachtungen« (FA 25: 313), den er mit seinen Untersuchungen des Granits verlassen habe, wahrscheinlich wohl seine Studien zu Zusammenhängen des Lebens im Kontext seiner anatomischen Studien und Johann Gottfried Herdes Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit von 1784 meint. 202 Der Kommentar nennt Ovids Metamorphosen und Georges Louis Leclerc de Buffons Époques de la nature, FA 25: 1095. 203 FA 25: 312. 204 Vgl. das Kap. 5.3. 205 FA 25: 312, vgl. den entsprechenden Bezug zu Ovids Metamorphosen und Georges Louis Leclerc de Buffons Époques de la nature, Kommentar FA 25: 1095. 206 An dieser Stelle vermute ich den Anklang einer Kontroverse der Geologie des 18. und 19. Jahrhunderts, in die Goethe wiederholt eingriff und Stellung bezog. Vgl. dazu weiter

5.4 Der Granit: Das Subjekt modelliert seine Identität im Erkennen des Objektes

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sein Urteil in dieser Sache ambivalent; auf eine entsprechende Programmatik geht genauer ein. Diesen bisher umrissenen Forschungsansatz greift Goethe 1820 in Karlsbad erneut auf und formuliert u.a. in Problematisch die schon erwähnte Hauptmaxime seiner geologischen Forschung – die besondere Bedeutung des Granits207. Zu gleicher Zeit erläutert er in Zur Geologie besonders der Böhmischen unter bewusstem Rückgriff auf seine Forschungen im Umkreis von von 1784/85, warum dem Granit eine Sonderstellung für die geologische Betrachtungsweise zukomme: Zu der Zeit als der Erdkörper mich wissenschaftlich zu interessieren anfing und ich seine Gebirgsmassen im Ganzen, wie in den Teilen, innerlich und äußerlich kennen zu lernen mich bestrebte, in jenen Tagen war uns ein fester Punkt gezeigt wo wir stehen sollten und wie wir ihn nicht besser wünschten; wir waren auf den Granit, als das Höchste und das Tiefste angewiesen, wir respektierten ihn in diesem Sinne und man bemühte sich ihn näher kennen zu lernen.208

Der Granit verkörpert demnach den archimedischen Punkt209, von dessen sicherem Fundament aus die geologische Forschung das Ganze der Gesteine in ihren aktuellen Formationen, ihrer Beschaffenheit und in ihrem Entwicklungsprozess vom Ursprung her wird erkennen und in eine wissenschaftliche Systematik einordnen können: so die optimistische Prognose. Damit ist der Granit für Goethes geologische Forschung der zentrale Gegenstand, an dem er sich bei der damals nach wie vor undifferenziert unübersichtlichen Forschungslage der Geologie erkenntnis- und handlungsleitend orientiert: Der Granit als das Beständige im Veränderlichen der Umwandlungsprozesse, als archimedischer Hebel geologischer Betrachtungsweise und damit als Schlüssel, den Zusammenhang der Ganzen Natur zu erkunden210. unten sowie Margit Wyder: Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformationen, a.a.O., S. 153–162. 207 FA 25: 384; vgl. auch den Kommentar S. 1123 ff. sowie die Tag- und Jahreshefte in FA 17: 304:»In Carlsbad legte ich die alte geognostische Folge wieder in belehrenden Mustern zusammen, worunter schöne Stücke des Granits vom Schloßberge und Bernhardtsfelsen, mit Hornsteinadern durchzogen, gar wohl in die Augen fielen.« 208 FA 25: 480. 209 Bezeichnender Weise wird im Motto des Titels des Aufsatzes auf Archimedes verwiesen, vgl. FA 25: 480: »Gib mir wo ich stehe!/Archimedes«. 210 Vgl. zum Brockengranit, auf den sich Goethe hauptsächlich bezieht, u.a. Uwe Pörksen: Raumzeit. Goethes Zeitbegriff aufgrund seiner sprachlichen Darstellung geologischer Ideen und ihrer Visualisierung, in: Peter Matussek (Hrsg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur, München 1998, S. 101 127, besonders S. 109 f., wo Pörksen den heutigen Kenntnisstand in Bezug auf den Brockengranit darstellt.

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5 Selbstbildung in der Transformation von Aisthesis zur Methode anschauender Betrachtung

Ein dritter Themenkreis von beleuchtet die Beschaffenheit des Granits und liefert damit eine genauere Begründung seiner Bedeutung als archimedischer Punkt: Aus bekannten Bestandteilen auf eine geheimnisreiche Weise zusammengesetzt, erlaubt es eben so wenig seinen Ursprung aus Feuer wie aus Wasser herzuleiten. Höchst mannigfaltig in der größten Einfalt, wechselt seine Mischung ins Unzählige ab. Die Lage und das Verhältnis seiner Teile seiner Dauer seiner Farbe ändert sich mit jedem Gebürge und die Massen eines jeden Gebürges sind oft von Schritt zu Schritte wieder in sich unterscheiden, und im ganzen doch wieder immer einander gleich.211

Nach damals aktueller Forschungslage wurden die Entstehungsbedingungen des Granits kontrovers diskutiert. In den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts eskalierte dieser Streit zwischen Neptuniern (Wasser als Motor erdgeschichtlicher Entwicklung) und Vulkaniern (Feuer als Motor erdgeschichtlicher Entwicklung). Goethe setzte sich offensichtlich intensiv mit beiden Erklärungsversuchen auseinander und war in der sich zuspitzenden Kontroverse um Ausgleich bemüht, wie exemplarisch seine Vergleichs Vorschläge die Vulkanier und Neptunier über die Entstehung des Basalts zu vereinigen zeigen, vermutlich Herbst 1789 entstanden212. Die Beschaffenheit des Granits zeigt nach den damals aktuellen Befunden konstante Bestandteile, die aber in unendlicher Varietät und vielfältiger Mischung auftreten, wie die erforschten Vorkommen zeigen. In wird deutlich, was Goethe in diesem Zusammenhang am Granit fasziniert: Es unterscheidet sich diese merkwürdige Gesteinsart dadurch von allen anderen daß sie zwar nicht einfach ist sondern aus sichtbaren Teilen besteht, jedoch zeigt der erste Anblick daß diese Teile durch kein drittes Mittel verbunden sind, sondern nur an- und nebeneinander bestehn und sich selbst untereinander festhalten. Wir nennen diese voneinander wohl zu unterscheidenden Teile: Quarz, Feldspat, Glimmer wozu noch manchmal einige als Schörl hinzukommen. Wenn wir diese Teile genau betrachten so kömmt uns vor als ob sie nicht wie man es sonst von Teilen denken muß vor dem Ganzen gewesen seien, sie scheinen nicht zusammengesetzt oder aneinander gebracht sondern zugleich mit ihrem Ganzen das sie ausmachen entstanden.213 211 FA 25: 313. 212 FA 25: 511 ff. sowie den entsprechenden Kommentar 1185–1188. 213 FA 25: 311.

5.4 Der Granit: Das Subjekt modelliert seine Identität im Erkennen des Objektes

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Feldspat, Quarz und Glimmer sind demnach heterogene disparate Komponenten, welche jedoch als Teile den Granit nicht subsumierend als Ganzheit konstituieren, sondern als ursprünglicher dichotomer Teilezusammenhang die Ganzheit der Beschaffenheit des Gesteins generieren und modellieren: Der Granit entsteht durch eine »lebendige, bei ihrem Ursprung innerlich sehr zusammengedrängte Kristalisation«214, d.h. nicht durch gewaltsame Prozesse extern einwirkender Kräfte, sondern aus dem internen Bildezusammenhang seiner Entelechie. Wenn ich im Vorherigen den Granit als symbolhafte Verkörperung eines erdgeschichtlichen Entelechieprinzips und deshalb als erkenntnismethodischen Schlüssel der Naturforschung Goethes charakterisiert habe, wird an dieser Stelle deutlich, dass die Schlüsselfunktion des Granits in diesem Sinne insbesondere auch durch seine Beschaffenheit gegeben ist: Der Granit ist Symbol eines Differenzzusammenhangs von Ganzheit, offen für variantenreiche Umgestaltung und Entwicklung – eine offene Ganzheit, wie sie von Goethe schon in der Straßburger Zeit am ästhetischen Objekt erforscht wird215; sie ist damit der Schlüssel für Deutungsmuster von Vielfalt/Varietät und Umwandlung im erdgeschichtlichen Entwicklungsprozess. Ganz unvermittelt spricht Goethe dann in einem vierten Sinnabschnitt216 davon, dass jeder, der den Reiz der »natürlichen Geheimnisse für den Menschen« kenne217, Verständnis dafür zeigen werde, dass er den »Kreis der Beobachtungen den [er] sonst betreten«218, verlasse und sich diesem Gegenstand zugewendet habe. Soweit ich sehe, wird in der Sekundärliteratur und in den einschlägigen Kommentaren diese rätselhafte Wendung in ihrer Bedeutung für Goethes Forschungsinteresse kaum gewürdigt219. Ich vermute, dass Goethe mit dem »Kreis der Beobachtungen« auf seine anatomischen Studien zum Zwischenkieferknochen in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts anspielt220 sowie auf seinen anthropologischen Diskurs mit Johann Gottfried Herder, bei dem es u.a. um Gedanken zu Zusammenhängen des Lebendigen als Ganzen und zur Stellung des Menschen in der Natur geht. Im Kontext der Ideen 214 215 216 217 218 219

FA 25: 312. Vgl. Kap. 4.2.3. FA 25: 313. FA 25: 313. FA 25: 313. Vgl. aber Margit Wyder: Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformationen, a.a.O., S. 161; Wyder kommt freilich zu ganz anderen Einschätzungen im Vergleich zu meiner folgenden Rekonstruktion. 220 Vgl. FA 24: 16–24: Versuch aus der vergleichenden Knochenlehre dass der Zwischenkieferknochen der oberen Kinnlade dem Menschen mit den übrigen Tieren gemein sei, vgl. auch 475 und den Kommentar 884–899. Vgl. zur Entstehung den Kommentar FA 24: 885 f. Vgl. zu Bedeutung und Kontext Margit Wyder: Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformationen, a.a.O., S. 180–188.

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5 Selbstbildung in der Transformation von Aisthesis zur Methode anschauender Betrachtung

zur Philosophie der Geschichte der Menschheit von Johann Gottfried Herder diskutieren beide zu dieser Zeit über ein Stufenleitermodell, eine Scala Naturae, in deren Konzept von Ganzheit sich der Mensch als exemplarisches Muster des Ganzen221 verortet; so untersucht Herder den Menschen u.a. als »ein Mittelgeschöpf unter den Tieren, d.i. die ausgearbeitete Form [...], in der sich die Züge aller Gattungen um ihn her im feinsten Inbegriff sammeln«222. Goethe feiert im Kontext solcher Überlegungen in seinem Brief vom 27. März 1784 an Herder seine Entdeckung des Zwischenkieferknochens mit den Worten: Nach Anleitung des Evangelii muß ich dich auf das eiligste mit einem Glücke bekannt machen, das mir zugestoßen ist. Ich habe gefunden – weder Gold noch Silber, aber was mir eine unsägliche Freude macht – das os intermaxillare am Menschen! Ich verglich mit Lodern Menschen- und Thierschädel, kam auf die Spur und siehe da ist es. Nur bitt’ ich dich, laß dich nichts anmerken, denn es muß geheim behandelt werden. Es soll dich auch recht herzlich freuen, denn es ist wie der Schlußstein zum Menschen, fehlt nicht, ist auch da! Aber wie! Ich habe mirs auch in Verbindung mit deinem Ganzen gedacht, wie schön es da wird. Lebe wohl! Sonntag Abend bin ich bei dir. Antworte mir nicht hierauf, der Bote findet mich nicht mehr.223

Der Zwischenkieferknochen als Missing Link, mit dem Goethe für die Anatomie ein sicheres Indiz identifiziert hatte, von dem aus es möglich ist, verschiedene Formen von Leben als Zusammenhang eines differenzierten Ganzen im Sinne eines Stufenleitermodells224 erkennend zu modellieren, kann demnach analog der Formulierung für die geologische Forschung als ein archimedischer Hebel der morphologischen Forschung verstanden werden. Dass Goethe in den verschiedenen Interessengebieten gleichzeitig arbeitet, zeigen nicht nur seine Forschungen, sondern auch die biographischen Dokumente225; dass Goethe die Interessengebiete gedanklich miteinander verschränkt, ist nach mei221 Zu Herder vgl. Margit Wyder: Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformationen, a.a.O., S. 132–143. 222 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: ders.: Werke, hrsg. von Wolfgang Pross, Bd. III/1, 1. Teil, 2. Buch, 4. Kap., S. 67. 223 FA 29: 504. Hervorhebungen vom Verfasser. 224 Vgl. Margit Wyder: Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformationen, a.a.O., besonders S. 182 f., wo Wyder die Bedeutung von Goethes Entdeckung in den wissenschaftlichen Kontext seiner Zeit stellt. 225 Vgl. in FA 29 die entsprechenden Briefe, Tagebuchaufzeichnungen etc.

5.4 Der Granit: Das Subjekt modelliert seine Identität im Erkennen des Objektes

229

ner Rekonstruktion mit hoher Wahrscheinlichkeit zu vermuten. Ihr gemeinsames ideelles Zentrum ist die Frage eines inneren Bezugs der Gegebenheiten der Natur und die Stellung des Menschen in diesem Zusammenhang. Mit meiner Lesart dieser Textsequenz wird plausibel, warum Goethe einem eventuellen Vorwurf meint begegnen zu müssen, er stelle in seiner nun folgenden Betrachtung in fragwürdiger Weise einen Bezug her zwischen dem menschlichen Herzen als dem »jüngsten mannigfaltigsten beweglichsten veränderlichsten, erschütterlichsten Teil der Schöpfung« und dem »ältesten, festesten, tiefsten, unerschütterlichsten« Teil der Natur – dem Granit226. Goethe betont: Denn man wird mir gerne zugeben daß alle natürlichen Dinge in einem genauen Zusammenhange stehen, daß der forschende Geist sich nicht gerne von etwas Erreichbaren ausschließen läßt.227

Damit ist der ideelle Zusammenhang aller Teile des Naturganzen hervorgehoben. Denken und Erkennen des Menschen zielt darauf, diesen genauen Zusammenhang aufzudecken (Scala naturae)228 – und: Erkennen bedeutet ganz offensichtlich nicht, sich in reproduktiver Weise durch Begriffskonzeption in ein bloß rezeptives Verhältnis zur Realität zu setzen, sondern im Erkennen sieht Goethe einen produktiven Entwurf von Wirklichkeit und Selbstgebung. Ohne dass Goethe an dieser Stelle explizit darüber philosophisch reflektiert, wird damit Mitte der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts deutlich, dass Goethe die nahezu zeitgleich von Immanuel Kant durch kritische Philosophie aufgezeigten Erkenntnisgrenzen nicht wird gelten lassen können229. Goethes forschender Geist ahnt den genauen Zusammenhang aller Naturphänomene als ein für die Erkenntnis prinzipiell zugängliches Feld. Von den Dingen, wie sie an sich sind, können wir nach Kants Auffassung bekanntlich nichts wissen. Erkenntnis muss sich, wie es Klaus Michael Meyer-Abich einmal ausdrückt, damit begnügen, die Dinge der Welt mit »bloß menschlichen Kategorien zu buchstabieren«230. 226 FA 25: 313 f. Das auffällige Fehlen der Kommata auf der einen und der strickte Gebrauch auf der anderen Seite unterstreicht auch formal-stilistisch den inhaltlich profilierten Gegensatz. 227 FA 25: 314. 228 In diesem Punkt ist meine Deutung mit den Ausführungen von Margrit Wyder vergleichbar; Wyder betont dann aber die Paradoxien eines naturphilosophischen Zirkels im Sinne Herders (Margit Wyder: Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformationen, a.a.O., S. 162) und verkennt in dieser Verengung die epistemische und ontologische Dimension von Goethes Denken an dieser Stelle. 229 Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft erscheint 1781/87. 230 Klaus Michael Meyer-Albich: Praktische Naturphilosophie. Erinnerung an einen vergessenen Traum, München 1997, S. 168.

230

5 Selbstbildung in der Transformation von Aisthesis zur Methode anschauender Betrachtung

Goethe sieht demgegenüber offensichtlich durchaus andere, weiter reichende ontologische Bedeutungen von epistemischem Denken, ohne freilich dabei, und dies sei betont, an eine tatsächlich mögliche Letzterkenntnis zu denken. Wo Kant sicheres Erkennen auf ein allgemeines Wissen regulativer Verstandesbegriffe einschränkt, versucht Goethe Möglichkeiten auszuloten, sein Denken als Organ so auszubilden, dass es die konstitutiven Prinzipien der Natur nachschaffend generieren kann; im Wortlaut von Anschauende Urteilskraft: »[D]aß wir uns, durch Anschauen einer immer schaffenden Natur, zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten«231 – eine ontologische Korrespondenz von Produktion der natura naturans und partizipierender Rezeption durch Wahrnehmung und Denken verschränkende Aisthesis sichert die Teilhabe des Menschen am Ganzen der Welt durch Erkennen. Eine ideengeschichtlich bemerkenswerte Koinzidenz von kritischer Begrenzung von Erkenntnis und produktiver Erweiterung durch Erkenntnis! Goethe reflektiert mit seinen Gedanken an dieser Stelle ganz offensichtlich über sein Selbstbildungsprojekt, sich im Erkennen in den Weltzusammenhängen zu verorten. Es wird deutlich: Anders als bei alleiniger intrapersonaler Reflexion seiner selbst oder in interpersonaler diskursiver Auseinandersetzung mit anderen Menschen gelingt an exponierten Orten in der Natur – »die erhabene Ruhe, die jene einsame stumme Nähe der großen leise sprechenden Natur gewährt«232 – eine Meditation über die Zusammenhänge der rätselhaften eigenen Identität und der Natur als Ganzer233, eine sich leitmotivisch seit 1776 durch Goethes Aktivitäten ziehende Suche. Die folgende fünfte Textsequenz234 bricht in diesem Sinne sowohl gedanklich als auch formalästhetisch sprachlich-stilistisch mit dem bisherigen Duktus einer diskursorientierten Abhandlung (»Mit diesen Gesinnungen nähere ich mich euch ihr ältesten würdigsten Denkmäler der Zeit«235); Goethe gestaltet mit ganz anderen Mitteln poetisch-literarischer Art eine Passage sich stetig steigernder Annäherung an ein umfassendes Transformationserlebnis, das – im konkreten Naturraum angesiedelt – für den Augenblick die Subjekt-Objekt-Differenz zu überwinden versucht236. 231 232 233 234 235 236

FA 24: 448. FA 25: 314. Vgl. FA 25: 314 in den Z. 5–11 die entsprechende Textpassage. FA 25: 314, Z. 12 bis 315, Z. 3. FA 25: 314. Auch Wolf von Engelhardt geht auf diese Textsequenz ein, bleibt in seiner Darstellung aber auch hier eher deskriptiv und sieht in der Sequenz lediglich ein »dramatisches Selbstgespräch […] nicht nur als Monolog, sondern auch als Gespräch mit den Gegenständen der Natur«. Einer »durch die Einbildungskraft vermittelten lebendigen Folge bunter Bilder der Urzeit« gleiche das Ganze. Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine, Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, a.a.O., S. 108. Eine recht vage formulierte Deutung, die meiner Auffassung den Impetus des Ganzen

5.4 Der Granit: Das Subjekt modelliert seine Identität im Erkennen des Objektes

231

So erscheint der Forscher nun, vorbereitet durch die Überlegungen des vorangehenden Textabschnittes, in einer Gebirgslandschaft wandernd: »Mit diesen Gesinnungen nähere ich mich euch ihr ältesten würdigsten Denkmäler der Zeit.«237 Die erzählend erzeugte Unmittelbarkeit (Tempus) vermittelt ein scheinbar aktuelles Erlebnis in freier Natur, gekennzeichnet durch Gegenwart und Nähe der Dinge – eine offensichtlich bewusste narrative Inszenierung, welche einen Kontrast schafft zwischen vorangehender Reflexion in den Grenzen einer »Studierstube«238 und der folgenden Meditation im lebendigen Naturzusammenhang. Der erlebende Betrachter vergegenwärtigt zunächst seinen Standort: Er ist unmittelbar verbunden mit dem in die Höhe aufragenden Urgrund, an einem exponiertem Ort ohne Bezug zu den Regionen des Lebens: Auf einem hohen nackten Gipfel sitzend und eine weite Gegend überschauend kann ich mir sagen: Hier ruhst du unmittelbar auf einem Grunde, der bis zu den tiefsten Orten der Erde hinreicht, keine neuere Schicht, keine aufgehäufte zusammengeschwemmte Trümmer haben sich zwischen dich und den festen Boden der Urwelt gelegt, du gehst nicht wie in jenen fruchtbaren schönen Tälern über ein anhaltendes Grab, diese Gipfel haben nichts Lebendiges erzeugt und nichts Lebendiges verschlungen, sie sind vor allem Leben und über alles Leben.239

Formalästhetisch fällt die parataktisch gefügte Satzperiode mit überwiegend symmetrischer Koordination der Teilsätze auf. Dem korrespondiert die durchaus reflexive Vergegenwärtigung der sinnlich wahrgenommenen Landschaftsnatur im Modus gedanklicher Differenzierung. Diese Anfangssequenz geht über in eine erzählend vermittelte zunehmende Fusion der zuvor differenzierten Landschaftselemente und der inneren Erlebniswelt des Betrachters; dabei wird die parataktische Reihung des Satzgefüges zusehends aufgelöst und in eine asymmetrische Koordination überführt, was auf formalästhetischer Ebene die Tendenz zur Fusion unterstreicht. Die unmittelbare Wirkung des Urgrundes und des Himmels wird als zeitlicher Prozess (Raumzeit; Pörksen) geschildert: In diesem Augenblicke da die innern anziehenden und bewegenden Kräfte der Erde gleichsam unmittelbar auf mich wirken, da die Einflüsse des Himmels mich nicht substantiell erfasst. 237 FA 25: 314. 238 FA 25: 316. An gegebener Stelle wird später der Wechsel von der Natur in die Stube vollzogen. 239 FA 25: 314, Z. 13–22.

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5 Selbstbildung in der Transformation von Aisthesis zur Methode anschauender Betrachtung

näher umschweben, werde ich zu höheren Betrachtungen der Natur hinauf gestimmt, und wie der Menschengeist alles belebt so wird auch ein Gleichnis in mir rege dessen Erhabenheit ich nicht widerstehen kann.240

Der Erzähler spricht von einer Umbildung, die er als Steigerung seiner Naturbetrachtung erfährt (»werde ich zu höheren Betrachtungen der Natur hinauf gestimmt«), wobei die innere Aktivität durch die Ekstasen der Dinge der Natur angeregt ist. Diese Wirkung können die äußeren Naturdinge jedoch nur entfalten, weil der »Menschengeist« von innen sein Interesse auf die Dinge richtet und in dieser Aufmerksamkeit seine Einbildungskraft/Phantasie entzündet (»wie der Menschengeist alles belebt so wird auch ein Gleichnis in mir rege«). Über das sinnliche Anschauen hinaus imaginiert Intuition dann eine umfassende Fusion aller Komponenten des Erlebens und damit zugleich eine Transformation des erlebenden Subjekts ins Naturganze: So einsam sage ich zu mir selber indem ich diesen nackten Gipfel hinab sehe und kaum in der Ferne am Fuße ein geringwachsendes Moos erblicke, so einsam sage ich wird es dem Menschen zu Mute der nur den ältesten ersten tiefsten Gefühlen der Wahrheit seine Seele eröffnen will. Ja er kann zu sich sagen: hier auf dem ältesten ewigen Altare der unmittelbar auf die Tiefe der Schöpfung gebaut ist bring ich dem Wesen aller Wesen ein Opfer. Ich fühle die ersten festesten Anfänge unsers Daseins, ich überschaue die Welt ihre schrofferen undglinderen Täler und ihre fernen fruchtbaren Weiden, meine Seele wird über sich selbst und über alles erhaben und sehnt sich nach dem nähern Himmel.241

Die Satzperioden haben nun deutlich hypotaktischen Charakter; die Subordination des ersten Satzes erzeugt syntaktisch, verbunden mit den Wiederholungselementen (»So einsam sage ich, [...] so einsam sage ich«) und den sich entsprechenden Komponenten (»einsam« und »nackten«), eine intensive Steigerung der Fusion auf der Erlebnisebene. Der wechselnde Einsatz von erster (identifikatorischer) und dritter (distanzierender) Person unterstreicht, wie die Differenzerfahrung des Ich zunehmend aufgehoben ist; die Grenzen werden fließend, und in einer Transformation werden Fühlen und Überschauen zu einer intuitiven inneren Anschauung, deren Imaginationen sich zu ganzheitlichem ahnendem242 Erleben steigern (»meine Seele wird über sich selbst und über alles erhaben«). 240 FA 25: 314, Z. 22–29. 241 FA 25: 314, Z. 29 bis S. 315, Z. 3. 242 Im Sinne des in Kap. 4 rekonstruierten Begriffs von Ahnung im Sinnbezirk von Aisthesis.

5.4 Der Granit: Das Subjekt modelliert seine Identität im Erkennen des Objektes

233

Dass diese Transformation in letzter Konsequenz Sehnsucht bleibt, ihr also, bei aller Annäherung, ein letzter Schritt verwehrt ist, dafür sorgen die leiblichen Reaktionen dieses Gipfelerlebnisses (»Aber bald ruft die brennende Sonne Durst und Hunger und seine menschlichen Bedürfnisse zurück. Er sieht sich nach jenen Tälern um«243). Der abermalige Wechsel von erster und dritter Person hat an dieser Stelle die Funktion, die Umwendung des Bewusstseins als Ganzem ästhetisch zu unterstreichen. Der Betrachter wendet sich erneut sinnlichen Eindrücken der Bergwelt zu und reflektiert dabei über die Bewohner der Täler und Ebenen, die Sphäre des Lebens, in der Irrtümer und ein von den engen Lebensbedürfnissen geprägtes Glücksstreben das menschliche Leben bestimmen244. Sodann erfährt das narrativ inszenierte Gipfelerlebnis eine erneute Wendung245. Während Aisthesis sich zunächst begrifflich undifferenziert als ahnende Intuition gestaltete, wird die Betrachtung nun, durch die zwischengeschaltete Besinnung auf die Lebensbedingungen des Menschen auf neue Bahnen gelenkt, in einen Forschungshorizont erdgeschichtlicher Entwicklung gestellt – Variationen der Theoriekonzeption der ersten Abschnitte des Granit-Aufsatzes: Vorbereitet durch diese Gedanken, dringt die Seele in die vergangene Jahrhunderte hinauf, sie vergegenwärtigt sich alle Erfahrungen sorgfältiger Beobachter, alle Vermutungen feuriger Geister. Diese Klippe sage ich zu mir selber stand schroffer zackiger höher in die Wolken da dieser Gipfel, noch als eine meerumflossene Insel, in den alten Wassern dastand; um sie sauste der Geist, der über den Wogen brütete, und in ihrem weiten Schoße die höheren Berge aus den Trümmern des Urgebürges und aus ihren Trümmern und den Resten der eigenen Bewohner die späteren und ferneren Berge sich bildeten. Schon fängt das Moos zuerst sich zu erzeugen an schon bewegen sich seltner die schaligen Bewohner des Meeres es senkt sich das Wasser die höhern Berge werden grün, es fängt alles an von Leben zu wimmeln − −246

In der sinnlichen Anschauung modelliert hier das Wissen um das Theoriekonzept des Neptunismus sinnstiftend eine erneute Fusion: Aisthesis differenziert sich zu einem komplexen Erkenntnisprozess, in welchem sinnliche Anschauung und wissenschaftliche Theoriebildung verbunden werden und korrelieren247. Im Gipfelpa243 FA 25: 315. 244 Vgl. zu dieser sinngemäßen Wiedergabe FA 25: 315, Z. 5–12. 245 Man beachte auch hier die Wendung von der unpersönlichen Formulierung »die Seele« zum Ich-Erzähler. 246 FA 25: 315. 247 Der Kommentar vermerkt dazu: »Nach Buffon bildeten sich in seiner dritten Epoche der

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5 Selbstbildung in der Transformation von Aisthesis zur Methode anschauender Betrachtung

norama der Berglandschaft hebt sich für den Betrachter eine Granitklippe aufgrund ihrer schroff-zackigen Beschaffenheit hervor – erdgeschichtlich muss sie nach Goethes Deutung aus dem Urozean herausgeragt haben und unterscheidet sich von Formationen, die durch Wassereinfluss gerundet sind. Nichts vom Umwandlungsgeschehen erdgeschichtlicher Erosion, keine Vegetation, keine Lebensprozesse haben diese Klippe gemäß der neptunischen Theorie verändernd beeinflussen können. Sie ragt seit Urbeginn aus dem Urgrund auf. Durch den doppelten Gedankenstrich markant getrennt, wird das Betrachtungspanorama sich durchdringender sinnlicher und wissensgestützter Erkenntniselemente durch ein allein in der Phantasie generiertes Szenario abgelöst, was die sinnliche Anschauung verblassen lässt und in bedrohlich anmutende Vorstellungen erdgeschichtlicher Entwicklung überführt: Aber bald setzen sich diesem Leben neue Szenen der Zerstörung entgegen. In der Ferne heben sich tobende Vulkane in die Höhe, sie scheinen der Welt den Untergang zu drohen jedoch unerschüttert bleibt die Grundfeste auf der ich noch sicher ruhe indes die Bewohner der fernen Ufer und Inseln unter dem untreuen Boden begraben werden.248

Mit diesem vorgestellten – vulkanischen – Modell249 von Entwicklung und ihren Konsequenzen wird der inszenierten Fusion des Erlebnisses auf dem Berggipfel und der darin modellierten Aisthesis ein ontologischer Status zugesprochen: Der Betrachter fühlt sich durch Erleben und Erkennen auf den sicheren Boden der Wahrheit gestellt, von dem aus die noch ungelösten Rätsel gelöst werden können. »Ich kehre von jeder schweifenden Betrachtung zurück«, heißt es unmittelbar im Anschluss an das Bedrohungsszenario der Phantasie, und sehe die Felsen selbst an, deren Gegenwart meine Seele erhebt und sicher macht. Ich sehe ihre Masse von verworrnen Rissen durchschnitten hier gerade dort gelehnt in die Höhe stehen bald scharf über einander gebaut, bald in unförmlichen Klumpen wie über einander geworfen, und fast möchte ich bei dem ersten Erdgeschichte die ältesten Schichtgesteine durch Ablagerung der beim Zerfall der über den Ozean ragenden Berge anfallenden Trümmermassen.« In: FA 25: 1097. Vgl. zu Goethes Theoriebildung auch Epochen der Gesteinsbildung, in: FA 25: 318 ff. sowie zur Erläuterung Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine, Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, a.a.O., S. 111. 248 FA 25: 315. 249 Goethe folgt auch hier Buffon, vgl. den Kommentar FA 25: 1098.

5.4 Der Granit: Das Subjekt modelliert seine Identität im Erkennen des Objektes

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Anblicke ausrufen hier ist nichts in seiner ersten alten Lage hier ist alles Trümmer Unordnung und Zerstörung.250

Ganz konzentriert auf sinnliche Anschauung, erkennt der Forscher eine Reihe von Phänomenen, die so gar nicht zu der Auffassung einer ursprünglichen Gesteinsart passen wollen, welche von erdgeschichtlichen Wandlungsprozessen weitgehend unbeeinflusst sein soll. Diese offene Frage nimmt der Forscher mit zurück in seine »Studierstube«251. Bevor ich jedoch die entsprechende Theoriekonzeption des sechsten Sinnabschnittes rekonstruiere, möchte ich ein Fazit der Rekonstruktion des fünften ziehen. Unschwer lässt sich erkennen, dass Goethe im ästhetischen Modus dieser zentralen Textsequenz von seine wiederholten persönliche Erlebnisse auf den Berggipfeln des Harzes und des Thüringer Waldes literarisch verarbeitet: Ganzheitserlebnis am exponierten Ort des Berggipfels (Einsamkeit, aus dem Leben mit seinen Verwicklungen herausgelöst), Reflexion über die Sphäre des Lebens mit all ihren Bedingungen und Nötigungen – und wie in diese Betrachtung entsprechende Forschungsliteratur sowie eigene Überlegungen und Hypothesen einfließen. Man kann diese Textpassage auch als ein Lehrstück sich ausdifferenzierender Aisthesis verstehen. Neben der sinnlichen Anschauung werden besonders Modifikationen des Denkens erprobt: meditative Fusion, Anschauung modellierendes Theoriewissen, Realität verlierende Hypothesenbildung. Die ästhetische Anordnung dieser Zusammenhänge als eine – eingangs erwähnte – Gedankenskulptur tritt prägnant hervor. Ähnlich den beunruhigenden Beobachtungen der Schlusssequenz erscheint Aisthesis nicht als eine systematisch praktizierte Programmatik, im Gegenteil, analog den Rissen und der Unordnung der Granitfelsen in aktueller Lage kann man die Modifikationen der Betrachtungsweise zwar als sinnstiftende Perspektiven von Erkenntnis interpretieren – zu deren inneren Bildegesetzen siehe das Folgende –, die aber keineswegs eine taxonomisch-konstruktive Funktion geschlossener Systematik aufweisen, sondern vielmehr eine ontologisch-korrelative Funktion für die Erforschung ganzheitlicher Zusammenhänge. Mit dieser Textpassage liegt demnach ein Dokument vor, das Goethes eigenwillige Art, Naturforschung in konkreter Betrachtung des Phänomens als Selbstbildung zu betreiben, eindrücklich unterstreicht. Was über die Bedeutung der Erfahrungen biographischer Episoden an entsprechender Stelle gesagt wurde, gilt auch für die vorliegende naturphilosophisch-naturwissenschaftliche Schrift: Der Granitgipfel fungiert als Ort, an dem menschliches Streben seinem Ziel am nächsten kommt, wo sich aus 250 FA 25: 315 f. 251 FA 25: 316.

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5 Selbstbildung in der Transformation von Aisthesis zur Methode anschauender Betrachtung

einem wechselseitig ergänzenden Bedingungsgefüge zentripetal-zentrifugaler Bewegungsdynamik durch Aisthesis Korrelationen ergeben, die sowohl für die Naturforschung als auch für die biographisch motivierte Selbstbildung von Bedeutung sind. Im Fortgang der Abhandlung vollzieht sich Wechsel; die Darstellung des sechsten Abschnittes legt nahe, dass der reale Naturraum verlassen worden sei, um in Lektüre und Studium der Fachliteratur den aufgeworfenen Fragen nachzugehen: Eben diese Meinung werden wir finden wenn wir von dem lebendigen Anschauen dieser Gebürge uns in die Studierstube zurücke ziehen und die Bücher unserer Vorfahren aufschlagen. Hier heißt es bald, das Urgebürge sei durchaus ganz als wenn es aus einem Stücke gegossen wäre, bald es sei durch Flözklüfte in Lager und Bänke getrennt die durch eine große Anzahl Gänge nach allen Richtungen durchschnitten werden; bald es sei dieses Gestein keine Schichten sondern in ganzen Massen die ohne das geringste Regelmäßige abwechselnd getrennt seien; ein anderer Beobachter will dagegen bald starke Schichten, bald wieder Verwirrung angetroffen haben. Wie vereinigen wir alle diese Widersprüche und finden einen Leitfaden zu ferneren Beobachtungen.252

Abschließend bekräftigt Goethe seinen Vorsatz, in diesem Sinne forschend tätig sein zu wollen. Er reflektiert über Tragweite und Grenzen, hebt den Wert von Irrtümern für die Forschung hervor – für ihn ist Forschung als Selbstbildung eben auch Übung des Scharfsinns – und plädiert für genaue Unterscheidung und Bezeichnung der zu erforschenden Gesteinsarten. Den »Leitfaden zu ferneren Beobachtungen« findet Goethe durch seine Beobachtungen im Harz253. Nimmt man diesbezügliche, für ihn angefertigte Zeichnungen von Felsformationen und Notizen aus dem Textfragment Form und Bildung des Granits254 und vergleicht Zeichnung und Text, ergeben sich leitende Gesichtspunkte der Untersuchung des Granits. In Form und Bildung des Granits notiert Goethe die in diskutierten generativen Bedingungen der Kristallisation sowie die angedeuteten Kluftsysteme und Gesteinsformationen des Granits: […] Ungezweifelte Entstehung des Granits durch Kristallisation. 252 FA 25: 316. 253 Vgl. Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine, Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, a.a.O., S. 110. 254 FA 25: 317.

5.4 Der Granit: Das Subjekt modelliert seine Identität im Erkennen des Objektes

5 Ziegenrücken im Okertale

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5 Selbstbildung in der Transformation von Aisthesis zur Methode anschauender Betrachtung

[...] Rhombische Gestalt Ursache der Klippenform Ursache der Verwitterung der Gipfel Flözklüfte Gangklüfte Transversalklüfte.255

Dass mit Kristallisation das entelechische Prinzip der Bildung des Granits bezeichnet ist, habe ich schon hervorgehoben. Goethes Neigung zu neptunischer Auffassung führt ihn dazu, die erdgeschichtliche Entwicklung analog der Gesteinsbildung zu interpretieren. In Epochen der Gesteinsbildung heißt es entsprechend: »Risse und Spaltungen durch Kristallisation«256. Goethe unterscheidet bei diesen Bildeprozessen horizontale Flözklüfte von senkrechten Gangklüften und quer verlaufenden Transversalklüften. Diese Kluftsysteme identifiziert er als sinnfälligen Ausdruck innerer Formkräfte. Wenn Kristallisation das Prinzip der Bildeprozesse ist, so sind die regelmäßigen Klüfte, die Spuren von Verwitterungsprozessen257, Zeichen der Entstehungsprinzipien in aktuellen Vorkommen von Granitklippen. Sie geben den vorhandenen Gesteinsformationen eine »parallelepipedisch[e]«258, rhombische Gestalt259: Das Bildeprinzip des Granits ist der archimedische Hebel für das Verstehen erdgeschichtlicher Prozesse. Die Zeichnung veranschaulicht das erkannte Gestaltungsprinzip, das Goethe als ein universelles Deutungsmuster für Gesteinsbildung ansieht260.

255 Ebd. Vgl. dazu Goethes Skizzen in: Uwe Pörksen: Raumzeit. Goethes Zeitbegriff aufgrund seiner sprachlichen Darstellung geologischer Ideen und ihrer Visualisierung, a.a.O., S. 107, sowie ders.: Raumzeit. Goethes Zeitbegriff, abgelesen an seinen sprachlichen und zeichnerischen Naturstudien, Stuttgart 1999, S. 25 und 27. 256 FA 25: 318. Goethe wendet sich damit gegen Buffons Theorie, Abkühlung sei der Motor der Gesteinsbildung. Vgl. auch Margit Wyder: Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformationen, a.a.O., S. 157. 257 Was Goethe in diesem Sinne als Verwitterung versteht, wird in der heutigen geologischen Auffassung als sogenannte Wollsackverwitterung von Gesteinen diskutiert. Vgl. weitere diesbezügliche Studien und Untersuchungen Goethes zur Granitgruppe der sogenannten Luisenburg; vgl. dazu Uwe Pörksen: Raumzeit. Goethes Zeitbegriff aufgrund seiner sprachlichen Darstellung geologischer Ideen und ihrer Visualisierung, a.a.O. 258 Edb., S. 105, dort auch weitere Zeichnungen. 259 Nach Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine, Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, a.a.O., S. 110. 260 Vgl. Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine, Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, a.a.O., S. 93.

6 GOETH ES S E L B STB I L D U N G I M KOSMOS I TAL I E N

»... und sehe und übe mein Aug und meinen innern Sinn.«1

6.1 Zur Bedeutung des Reisens Aisthesis ist in ihrer epistemischen und ontologischen Bedeutung in den vorangehenden Kapiteln rekonstruiert worden. Als ein Leitmotiv für Selbstbildung bewährt sie sich in unterschiedlichen Verwendungszusammenhängen unter verschiedensten Bedingungen als ein anschauendes Denken oder denkendes Anschauen – als transformatorische Organbildung des erkennenden Subjektes. In diesem Kapitel soll dieser Aisthesis-Programmatik Goethes exemplarisch in ihrer Amplifikation nachgegangen werden, um in einer besonderen Lage seines Lebens Varianten in ihrer konkreten Aktivierung sowie die biographische Reflexion darüber rekonstruieren zu können. Für diese Untersuchung wähle ich ein Reisebild Goethes, dessen Impetus als Selbstbildung im Anschauen der Natur sich kontrastiv vom Konzept der Bildungsreise des 18. Jahrhunderts abhebt. Bildungsreisen dieser Zeit hatten ein bestimmtes Programm: Meist hatte eine solche Reise den Rhein zum Ausgangspunkt. Von Köln fuhr man nach Holland und Belgien, oft wurde ein Abstecher nach London gemacht. Das nächste Ziel war Paris, das eine große Anziehungskraft ausübte. […] Dann mußte Bordeaux, Madrid, Sevilla und Barcelona besucht werden. Über Genf und Florenz ging es nach Italien. Rom war das Kernstück des Italienbesuchs, Venedig der Glanzpunkt. Eventuell reiste man über Neapel nach Sizilien. Über Wien, Böhmen, manchmal Petersburg und Kopenhagen trat man die Heimreise an.2

Goethe hat die Machtzentren Europas im 18. Jahrhundert nicht bereist3. Er konzentrierte sich meist auf Exkursionen in europäische Mittelgebirgslandschaften. 1 2 3

Tagebuch der Italienischen Reise, in: FA 15/1: 660. Uli Kutter: Reisen – Reisehandbücher – Wissenschaft. Materialien zur Reisekultur im 18. Jahrhundert, Neuried 1996, S. 9. Vgl. Gotthardt Frühsorge: Goethes Harzreisen im Spiegel der Europäischen Reiseliteratur des späten 18. Jahrhunderts, in: Christian Juranek: Abenteuer – Natur – Spekulation. Goethe und der Harz, Halle an der Saale 1999, S. 225–236, besonders S. 234.

240

6 Goethes Selbstbildung im Kosmos Italien

Nicht das Programm einer Bildungsreise, zu dessen Konventionen es auch gehörte, sich der Kenntnisse und Kontakte für zukünftige (berufliche) Aktivitäten zu versichern, das also funktional zweckorientiert ausgerichtet war, sondern Selbstbildung im Medium von Aisthesis war das Leitmotiv seines Reisens4, welches »Kennzeichen einer neuen Wahrnehmungsweise in der Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts« trägt5. In einem Paralipomenon zur Konzeption der Italienischen Reise findet sich ein Schema: Reisegewinn Das Einheimische von Jugend auf bekannt. Macht uns gewissermaßen unfähig darüber zu denken. Auf Reisen reizen neue Gegenstände unsre Aufmerksamkeit. Nachdenken und Urteil.6 Anregung, Perspektivierung und Orientierung der biographischen Reflexion durch »neue Gegenstände«, »Nachdenken und Urteil«: Goethe beschreibt den Bildungsertrag seiner Italienreise auf der Folie von Aisthesis, als er Jahre nach der Reise die Anlage seines Fragment gebliebenen Reisejournals konzeptioniert. Unter diesem Gesichtspunkt werde ich aus dem zentralen Reiseerlebnis in Goethes Leben eine Episode rekonstruieren. Italien als in der ersten Lebenszeit durch das kreative Potential des genialisch-dämonischen Inneren7 imaginierter Kosmos8 ist seit Kindertagen das »Hintergrundskontinuum«9 im Leben Goethes; Teilhabe an und Bildung in diesem kulturellen Universum ist das Ziel 4

5 6

7 8

9

Vgl. zu der gegenteiligen Auffassung einer »nachgeholten Kavaliers- oder ›Grand Tour‹« als Motiv für die Italienreise Goethes Hermann Mildenberger: Zeichnungen der Italienischen Reise, in: Johann Wolfgang Goethe: Landschaftszeichnungen, im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar hrsg. von Javier Arnaldo und Hermann Mildenberger, Frankfurt/M. und Leipzig 2009, S. 34–41, Zitat S. 35. Das von Mildenberger angeführte Motiv des Reisens mag im Hintergrund eine Rolle spielen, kann meiner Ansicht nach aber nicht als zentral angesehen werden, wie meine nachfolgende Rekonstruktion zeigt. Kommentar FA 15/2: 1060, hier als Merkmal speziell der Italienreise Goethes. In WA I,32: 470. Vgl. zu den Handschriften die Hinweise S. 375 sowie S. 434 zur Datierung: »Vorarbeiten aus der Zeit der Ausführung« des Fragment gebliebenen Reisejournals. Vgl. zum Bezug zu den Naturwissenschaftlichen Schriften Wolfgang Schad: Zeitgestalten der Natur. Goethe und die Evolutionsbiologie, in: Peter Matussek (Hrsg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur, München 1998, S. 345–382, besonders S. 364. Zur Komponente des kreativen Potenzials des Dämonischen vgl. Kap. 4. Zum poetischen Bildungstrieb vgl. ebenfalls Kap. 4 und Kap. 7. Vgl. auch Norbert Miller, der von Rom als »Akademie« spricht: Norbert Miller: Der Wanderer. Goethe in Italien, München, Wien 2002, S. 315–436. Auch der Kommentar hebt Rom als Ort »universaler Bildung« hervor (FA 15/2: 1048). Schon in Goethes Brief vom 29. April 1770 an Ernst Theodor Langer heißt es: »Rom meine Universität. Denn es ist eine wahre Universität; und wenn man’s gesehn hat hat man alles gesehen« (FA 28: 208). Kommentar FA 15/2: 1043. vgl. dort auch den Abriss zum biographischen Zusammenhang S. 1041–1059.

6.2 Ekstasen der Elemente – Amplifikation von Aisthesis – Selbstbildung

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von Goethes Italiensehnsucht. Bis ins hohe Alter wird Italien dieser heterogen-differenzierte Kosmos bleiben; ein Leben in ihm bedeutet Teilhabe an der Fülle [...], die, auf der unschätzbaren Erdzunge, Natur und Jahrhunderte an Leben gehäuft und zerstört, an Künsten erbaut und eingerissen, an Menschenschicksalen, Nationalität und Persönlichkeiten auf das wunderbarste durch einander gewürfelt [hat].10

Besonders Sizilien ist identitätsstiftender Kristallisationspunkt von Selbstbildung; das obige Schema Reisegewinn endet mit dem Fazit, dass eine bestimmte Betrachtungsart als fortan prägendes Muster gewirkt habe: »In Sizilien gefundene Identität. Nunmehr herrschende Neigung die durch alles übrige durchging.«11

6.2 Ekstasen der Elemente – Amplifikation von Aisthesis – Selbstbildung »...Gegenwart der Dinge ... Gespräche mit den Dingen«12 In Kap. 4 habe ich als Ausblick im Anschluss an das Aisthesismodell ästhetischer Anschauung von 1770/71 den in der Italienischen Reise am 17. Mai 1787 gegenüber Herder geschilderten Eindruck der Tempel von Paestum herangezogen: »[E]s ist die letzte und fast möchte’ ich sagen herrlichste Idee, die ich nun nordwärts vollständig mitnehme«13. Dabei hat sich gezeigt, dass die aktivierte Betrachtungsweise auch unter den andersartigen Voraussetzungen im Süden Italiens eine hohe Übereinstimmung mit dem in Straßburg erprobten Modell aufweist. Was bezogen auf die Reiseliteratur allgemein gelten mag, dass Goethes Italienreise »Kennzeichen einer neuen Wahrnehmungsweise in der Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts« trägt14, basiert im Zusammenhang seiner Biographie auf einem in unterschiedlichen Zusammenhängen aktivierten, praktizierten und variierten Modell von Aisthesis seit 177015. Auf neuerliche Variationen und Modifikationen des Italienaufenthalts lege ich im Folgenden ein 10 11 12 13 14 15

Brief vom 19. Oktober 1830 an Wilhelm von Humboldt, in: FA 38: 323. In WA I,32: 471. Tagebuch der Italienischen Reise, in: FA 15/1: 660. Italienische Reise, in: FA 15/1: 345. Kommentar FA 15/2: 1060 als Merkmal speziell der Italienreise Goethes. Vgl. auch Kap. 5 für entsprechende situationsspezifische Aktivierungen sowie für den in wissenschaftlicher Betrachtungsweise zentralen anschauenden Begriff.

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6 Goethes Selbstbildung im Kosmos Italien

besonderes Augenmerk. In Goethes Aufzeichnungen während der Italienreise finden sich in dieser Hinsicht explizite Reflexionen über Möglichkeiten und Bedingungen seines Betrachtens, die ich in einem ersten Schritt aus entsprechenden Textsequenzen des Corpus italicum erschließe, um dann Goethes Praxis von Aisthesis in Italien exemplarisch zu rekonstruieren. In seinem Tagebuch der Italienischen Reise für Frau von Stein reflektiert Goethe unter dem Datum vom 21. September 1786 über die Amplifikationen seiner Betrachtungsweise: Ich gehe nur immer herum und herum und sehe und übe mein Aug und meinen innern Sinn. Auch bin ich wohl und von glücklichem Humor. Meine Bemerckungen über Menschen, Volck, Staat, Regierung, Natur, Kunst, Gebrauch, Geschichte gehn immer fort und ohne daß ich im mindsten aufgespannt bin hab ich den schönsten Genuß und gute Betrachtung. Du weißt was die Gegenwart der Dinge zu mir spricht und ich bin den ganzen Tag in einem Gespräche mit den Dingen.16

Schon mit dieser, bezogen auf die gesamte Reise, sehr frühen Beschreibung seines methodischen Vorgehens betont Goethe wesentliche Bedingungen und Komponenten von Aisthesis in ihrer Bedeutung für Selbstbildung. Er sucht Partizipation durch Nähe und Gegenwart der Dinge; durch deren anregende Wirkung expandiert sinnliche Anschauung zu Intuition (»und sehe und übe mein Aug und meinen innern Sinn«). Intentional zielt die Betrachtung nicht auf ein Erleben, das sich im Sinnlichen erschöpft, sondern erst mit dem Erkennen der ideellen inneren Zusammenhänge der Dinge stellt sich Genuss ein. Der Betrachtungsprozess wird als Übung verstanden, die Selbstbildung als Organbildung modelliert. Goethe sieht in solcher Art Genuss17 das Ziel seines Reisens; ein Ziel, das er in der »Gegenwart der Dinge« im Wechselspiel von Erwartung, Enttäuschung und Umstimmung verfolgt, wie er im Tagebuch der Italienischen Reise für Frau von Stein am 25. September 1786 darlegt: Jeder denckt doch eigentlich für sein Geld auf der Reise zu genießen. Er erwartet alle die Gegenstände von denen er so vieles hat reden hören, nicht zu finden, wie der Himmel und die Umstände wollen, sondern so rein wie sie in seiner Imagination stehen und fast nichts findet er so, fast nichts kann er so genießen. Hier ist was zerstört, hier was angekleckt, hier stinckts, hier rauchts, hier ist Schmutz pp so in den Wirthshäusern, mit den Menschen pp. 16 FA 15/1: 660. 17 Zur Bedeutung von Genuss vgl. den Kommentar FA 15/2: 1058 f.; Goethe meint mit Genuss eine Umwandlungsdynamik im Erleben, die den Menschen als Ganzen erfasst.

6.2 Ekstasen der Elemente – Amplifikation von Aisthesis – Selbstbildung

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Der Genuß auf einer Reise ist wenn man ihn rein haben will, ein abstrakter Genuß, ich muß die Unbequemlichkeiten, Widerwärtigkeiten, das was mit mir nicht stimmt, was ich nicht erwarte, alles muß ich bey Seite bringen, in dem Kunstwerck nur den Gedancken des Künstlers, die erste Ausführung, das Leben der ersten Zeit da das Werck entstand heraussuchen und es wieder rein in meine Seele bringen, abgeschieden von allem was die Zeit, der alles unterworfen ist und der Wechsel der Dinge darauf gewürckt haben. Dann hab ich einen reinen bleibenden Genuß und um dessenwillen bin ich gereißt, nicht um des Augenblicklichen Wohlseyns oder Spases willen. Mit der Betrachtung und dem Genuß der Natur ists eben das. Triffts dann aber auch einmal zusammen daß alles paßt, dann ists ein großes Geschenck, ich habe solche Augenblicke gehabt.18

Der erste Eindruck von einem Kunstwerk kann also irritierend sein, entsprechende Erfahrungen Goethes habe ich u.a. an seiner ästhetischen Anschauung des Straßburger Münsters rekonstruiert: Auch die Existenz eines Kunstwerkes ist der Zeitlichkeit allen Seins unterworfen, seine aktuelle Gestalt trägt die Spuren der Einwirkungen, denen es ausgesetzt gewesen ist, besondere Umstände können gravierende Veränderungen bewirkt haben. Eventuell ist von der Form nur noch ein Torso geblieben, nur noch Ruinen zeugen von einstmaliger Ganzheit, Fragmente zeigen nicht mehr den ursprünglichen Zusammenhang. Vielleicht hat man sich als Betrachter aber auch nur »nach seiner Art«19, d.h., mehr den eigenen Wünschen entsprungen denn an der Wirklichkeit orientiert, falsche Vorstellungen von einer Sache gebildet und wird in seiner Erwartung enttäuscht. Die Ursachen einer solchen Enttäuschung mögen vielfältig verschieden sein, Goethe sucht nicht in »selbstgefälligem Entzücken«20 bloße Bestätigung eigener Vorstellungen in realer Gegenwart der Dinge, sucht nicht eine vordergründige Freude am bloß sinnlichen Erleben. Eventuelle Enttäuschungen erzeugen vielmehr eine produktive Unruhe im Betrachter. Die Patina durchbrechend und die Zeitlichkeit überwindend, modelliert Intuition in sinnlicher Anschauung die inneren Bildezusammenhänge und damit die ursprüngliche Gestalt. Produktivität ist die Signatur eines solchen Prozesses, mit dem sich das Subjekt in einem labil offenen Feld betrachtender Tätigkeit bewegt. Denn es bedarf eines Vorwissens, das Subjekt hat seine Interessen und Erwartungen, aber es ordnet ein Objekt nicht bloß in den Fundus und Horizont von Theoriekonzepten ein, betrachtet und beurteilt es nicht bloß gemäß klassifizierender Ordnungsprinzipien und Kategorien, sondern

18 FA 15/1: 668 f., Hervorhebung vom Verfasser. 19 Brief vom 23. Dezember 1786 an Herzogin Luise, in: FA 30: 194. 20 FA 30: 194.

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generiert unter den Bedingungen zentrifugal-zentripetaler Wechselwirkung seiner Betrachtung vom Objekt aus dessen ideale Gestalt. Es ist deutlich, dass eine solche Produktivität in der Wahrnehmung neben dem Ertrag von Erkenntnis auch Einübung in eine Betrachtungsweise generiert. Dabei erschöpft sich die Selbstbildung des Subjektes nicht auf Wissensgewinn und Organbildung, sondern ein entscheidendes Resultat ist der bleibende Genuß. Das Subjekt hat nicht nur seinen Fundus des Wissens erweitert und seine Fähigkeiten geschult, sondern als ganze Person eine Transformation erfahren und durch Erkenntnis seinen ontologischen Bezug zur Welt geklärt. Entsprechende Komponenten von Aisthesis konnten schon für die ästhetische Erfahrung Goethes in Straßburg sowie für seine naturwissenschaftliche Forschung und philosophische Reflexion rekonstruiert werden. Doch gilt es, das Besondere der italienischen Erfahrung zu fixieren. Auffällig häufig betont Goethe im Corpus italicum die Bedeutung von Nähe und Gegenwart der zu betrachtenden Dinge; nicht Reproduktion, Modell oder Kopie an beliebigem Ort zu beliebiger Zeit, sondern das Original in seiner Umgebung ist entscheidend für den Erfolg der Betrachtung. Neu ist die wiederholte explizite Reflexion über Aisthesis als Modus eines Übens in selbstbildender Absicht. Die Semantik von Genuss als entscheidendem Ziel von Aisthesis impliziert, dass das betrachtende Subjekt seine Subjektivität nicht an ein Objektives bloß zentrifugal angeschlossen hat, sondern vielmehr jene in der Auseinandersetzung mit dieser in zentripetaler Wirkung zur Teilhabe an der Wirklichkeit fusioniert. Goethe hebt das Besondere dieser Wirklichkeitskonstitution durch das Erkenntnissubjekt hervor. Indem sich die Betrachtung nicht in sinnlicher Anschauung begrenzt und erschöpft, diese vielmehr in ihre ideellen Zusammenhänge transformiert wird, modelliert Aisthesis als Erkenntnis eine Wirklichkeit, welche ontologisch Sinnliches und Ideelles als Differenzzusammenhang umgreift: Konstitution von Wirklichkeit und Selbstbildung generieren einen korrelativen Zusammenhang offener Ganzheit, in welcher das Subjekt seine Identität als Teil der Ganzheit erlebt. Zwar sucht Goethe in seiner ersten Weimarer Zeit in der deutschen Mittelgebirgslandschaft wiederholt entsprechende Erfahrungen von Teilhabe, bevorzugt auf exponierten Granitgipfeln über allem Leben, in Italien jedoch findet er diesen Genuss in der »Fülle«21 des Lebens. Während seines ersten Aufenthalts in Rom geht Goethe in dem Brief vom 23. Dezember 1786 an Herzogin Luise auf die Bedingungen und besonders auf Anspruch, Schwierigkeiten und Differenzierung seiner Betrachtungsweise ein: Wie leicht ist es bey einer solchen Fülle von Gegenständen etwas zu dencken, zu empfinden, zu phantasiren. Aber wenn es nun darauf ankommt die Sachen um 21

FA 38: 323.

6.2 Ekstasen der Elemente – Amplifikation von Aisthesis – Selbstbildung

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ihrer selbst willen zu sehen, den Künstler aufs Marck zu dringen, das Gebildete und Hervorgebrachte nicht nach dem Effeckt den es auf uns macht, sondern nach seinem innern Werthe zu beurtheilen; dann fühlt man erst wie schwer die Aufgabe ist und wünscht mehr Zeit und ernsthaftere Betrachtung. 22

Goethe berichtet in diesem Zusammenhang davon, dass er bewusst die Betrachtung entsprechender Gegenstände gemeinsam mit erfahrenen Fachleuten gesucht habe (»habe die Ruinen in Gesellschaft von Baukünstlern, die übrigen Kunstwercke mit andern Künstlern gesehen«23): das Gespräch in Gegenwart und Nähe der Dinge bedeute Erkenntnisgewinn. Über die Grenzen seiner Betrachtungsart führt er aus, dass ein Leben voll Thätigkeit und Übung kaum hinreicht unsre Kenntninß auf den höchsten Punckt der Reinheit zu bringen. Und doch wäre nur diese Sicherheit und Gewißheit die Dinge für das zu nehmen was sie sind [...] der größte Genuß nach dem wir im Kunst wie im Natur und Lebenssinne streben sollten.24

Hier werden Überlegungen hinsichtlich eines lebenslangen Projektes ebenso deutlich, wie die Expansion von Aisthesis auf andere möglichen Gegenstände. Goethe kommt in der Folge dann auf eine bedeutende Differenzierung hinsichtlich der Gegenstände seiner Betrachtung zu sprechen; er unterscheidet das »Produckt der Natur« vom »Kunstwerck«25. Es sei »viel Tradition bey den Kunstwercken«26. Goethe spielt hier auf eine Rezeptionsbedingung von Kunst an, die als hermeneutische Differenz verstanden werden kann (historische Distanz zwischen Künstler und dessen Ideen sowie Rezipienten und dessen Verstehen in Bezug auf Gestaltung und Auslegung des Werkes)27; er sieht den Betrachter von Kunstwerken aufgrund historischer und ästhetischer Bedingungen seiner Rezeption vor fast unlösbare Herausforderungen gestellt, »wer nicht sehr geübt«28 sei, werde scheitern. Man muss hier ergänzen: Diese Organbildung ist gerade das Ziel von Selbstbildung und verspricht entsprechenden Genuss. Dagegen seien die »Naturwercke [...] immer wie ein erstausgesprochenes Wort Gottes«29 – hier liege das besondere Phänomen in seinem 22 FA 30: 195. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 FA 30: 196. 27 Vgl. die entsprechenden Ausführungen in Kap. 1, den konzeptionellen und methodischen Vorüberlegungen meiner Arbeit. 28 FA 30: 196. 29 Ebd.

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Naturzusammenhang aktuell sinnlich anschaubar als Ganzes vor und sei in seinen Bedingungen leichter zu erkennen. Eine recht optimistische Prognose, die Goethe im Rahmen seiner naturwissenschaftlichen Forschung differenzieren und modifizieren wird30. Den Kontext der letztgenannten Überlegungen Goethes habe ich schon in Kap. 3.2.2 erschlossen31; u.a. kann man anhand von Briefen und der Theoriekonzeption des Schönen von Karl Philipp Moritz ablesen, dass das Verhältnis von Kunst und Natur sowie entsprechende Deutungsmuster zentrale Gesprächsthemen in Rom sowohl beim ersten als auch beim zweiten Aufenthalt waren. In der vorliegenden Rekonstruktion wird nun deutlich, dass Goethes Überlegungen im Gespräch mit Moritz der methodologischen Reflexionen aktueller Betrachtungspraxis gedient haben werden, Möglichkeiten und Modi einer Teilhabe des betrachtenden Subjekts an der betrachteten Welt einzuüben. Die Zeugnisse deuten insgesamt darauf hin, dass diesbezügliche Praxis und Theorie zu dieser Zeit synchron gehen. Im Entwurf des erwähnten Paralipomenons Reisegewinn formuliert Goethe rückblickend ein in seiner Tragweite überraschendes Credo zur auf der Italienreise geübten Betrachtungsweise der Natur: Meine Richtung gegen die Natur, besonders gegen die Pflanzenwelt ward bey meinem Übergang über die Alpen aufgeregt und lebhaft. Das Wechselhafte der Pflanzengestalten erweckte immer mehr bey mir die Vorstellung, die Pflanzenformen seyen keine ursprünglich determinierten und festgestellten, indem ja so viele Bedingungen darauf einwirken. Die verschiedenen Arten des Bodens. Die Feuchte der Thäler. Die Trockenheit der Höhen. Mehr oder weniger Schutz vom Frost. Genuß der Hitze. Wechselt die Form schon innerhalb der Art. Vermag wohl auch neue Arten hervorzubringen. Und doch geht die Pflanze nicht aus ihrem Reich heraus. Die allerentferntesten las30 Vgl. dazu in Kap. 7 zu »Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt«. In Kap. 4.2.2 habe ich als Ausblick einen Gedanken aus den Tag- und Jahresheften zitiert, mit dem Goethe 1805 die ästhetisch-künstlerische Anschauung von der wissenschaftlich forschenden unterscheidet. Zu jener Zeit hat er durch seine umfangreiche Forschungstätigkeit ein sehr viel differenziertes Urteil in Bezug auf Möglichkeiten, Grenzen und Gefahren von Betrachtung und Erkenntnis; er reflektiert über eine im Modus der Zeit sich sukzessive ausdifferenzierende und verändernde Urteilsbildung am Objekt. 31 Vgl. in Kap. 3.2.2 die genaueren Zusammenhänge der Diskussion des Schönen und welche Rolle Goethe, etwa mit seinem ersten Konzept eines Pflanzensystems (FA 15/1: 429), bei der Konzeption spielt.

6.2 Ekstasen der Elemente – Amplifikation von Aisthesis – Selbstbildung

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sen sich vergleichen. Concentration der Gedanken auf eine Urpflanze. Bemühung hiernach. Immer dieselbe Idee verfolgend. In Sicilien gefundene Identität. Nunmehr herrschende Neigung die durch alles übrige durchging.32

In methodologischer Reflexion rekonstruiert Goethe damit Aisthesis als Form von Erkenntnis in einer bemerkenswerten Prozessfolge während der Reise: Die unbekannt neuen Erscheinungsformen bekannter Pflanzen in der Natur Italiens wecken sein Interesse; er vergleicht und untersucht die unterschiedlichen morphologischen Ausprägungen einer Art unter verschiedenen Umweltbedingungen. Seine Beobachtungen führen ihn auf eine Spur, der er in seiner Denkbewegung nachgeht: Die Umweltbedingungen modifizieren die Pflanzengestalt. Offensichtlich sind jene u.a. verantwortlich für Umwandlungen der Art. Diese Absage an Präformationsvorstellungen verdeutlicht ein zentrales Erkenntnismuster von Goethes Betrachtungsweise: in einer besonderen Gestalt die Wechselwirkungen zwischen einem entelechischen Bildeprinzip (Typusbegriff ) und modifizierenden Umweltbedingungen für Metamorphose zu untersuchen33. Doch er geht an dieser Stelle in seinen Überlegungen noch einen bedeutenden Schritt weiter über einen bloß ontogenetischen Erklärungsansatz hinaus, ob nicht in phylogenetischer Hinsicht auch ganz neue Arten gebildet werden könnten. Damit expandiert Goethes Anschauen der Natur über die Grenzen gesicherter Erkenntnis hinaus in einen Bereich von Ahnung und Mutmaßung über Epigenese34. Er konzentriert sich bei seinen Betrachtungen dieses Zusammenhangs dann aber auf die Frage der Idee einer Urpflanze, die für ihn im Folgenden ein Erkenntnismuster wird35, in dessen Perspektive konkrete Betrachtungen angestellt werden. Der Prozess von Aisthesis wird als Selbstbildung begriffen, deren Ziel Teilhabe an der Wirklichkeit Italiens ist. 32 In WA I,32: 470 f. 33 Vgl. dazu Kap. 7. 34 Vgl. dazu im Genaueren Kap. 7, wo die dialektische Methode Goethes, mit den unterschiedlichen Hypothesen von Präformation und Epigenese Erkenntnisse über die Pflanzenwelt zu generieren, rekonstruiert wird. 35 Vgl. dazu das Folgende, wo im Anschluss an das Erlebnis des Meeres das dynamisch-offene dieses Musters von mir diskutiert wird. Vgl. auch den Kommentar in FA 15/2: 1540, wo hervorgehoben wird, dass die Idee der Urpflanze von Anfang an mit der Vorstellung von Dynamik und Entwicklung verbunden ist. Dagegen heben Dorothea Kuhn (in: LA II 9A, 520) und Wolf von Engelhardt hervor, dass es einen Paradigmenwechsel bei Goethe von einem eher statischen Modell der Urpflanze zu einem dynamischen Modell von Metamorphose gibt, und zwar am Ende der Italienreise; vgl. Wolf von Engelhart: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine, Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, Weimar 2003, S. 169 ff.

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6 Goethes Selbstbildung im Kosmos Italien

An dieser Stelle ist eine Anmerkung über weiter reichende Bedeutungen dieser Goethe’schen Rekonstruktion seiner Betrachtungsweise in Reisegewinn angebracht. Wenn Goethe epistemisch über Aisthesis in ihrer Bedeutung für Selbstbildung auf der Italienreise reflektiert, formuliert er in diesem Kontext die Deszendenztheorie der Evolutionsbiologie36. Goethe äußert den Gedanken sehr vorsichtig und übernimmt die Notiz nicht in das Corpus italicum oder seine naturwissenschaftlichen Schriften. Mit diesem Ausschluss markiert er die Grenze zwischen empirisch gesicherten Einsichten durch Aisthesis und sich daran anschließenden spekulativen Perspektiven, die noch kaum den Charakter von Hypothesen haben. Offensichtlich operiert er mit seinem Betrachten epistemisch in den ontologischen Dimensionen dieses Denkmusters als Ahnung, hält es aber nicht für paradigmatisch gesichert37. Einerseits betont Goethe damit seine erkenntniskritische Haltung, andererseits wird damit deutlich, wie konsequent er hier (wie auch in anderen Verwendungssituationen) von einer Offenheit des Forschungsprozesses ausgeht und Denkmuster in heuristischer Absicht einsetzt. Zweifellos geht Goethe mit epigenetischen Denkmustern erst auf seiner Italienreise um, wird also durch die neu entdeckte Pflanzenwelt zu seinen Überlegungen angeregt; in einem Brief an Charlotte von Stein vom 9. Juli 1786, also wenige Monate vor der Italienreise, heißt es: Am meisten freut mich ietzo das Pflanzenwesen, das mich verfolgt; und das ists recht wie einem eine Sache zu eigen wird. Es zwingt sich mir alles auf, ich sinne nicht mehr drüber, es kommt mir alles entgegen und das ungeheure Reich simplificirt sich mir in der Seele, daß ich bald die schwerste Aufgabe gleich weglesen kann. Wenn ich nur jemanden den Blick und die Freude mittheilen könnte, es ist aber nicht möglich. Und es ist kein Traum keine Phantasie; es ist ein Gewahrwerden der wesentlichen Form, mit der die Natur gleichsam nur immer spielt und spielend das manigfaltige Leben hervorbringt. Hätt ich Zeit in dem kurzem Lebens36

Das ist eine spannende Frage für Goethes historische Stellung und Bedeutung als Naturforscher, der ich thematisch nicht weiter folgen werde. Vgl. dazu Wolfgang Schad: Zeitgestalten der Natur. Goethe und die Evolutionsbiologie, in: Peter Matussek (Hrsg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur, München 1998, S. 345–382, besonders S. 360 ff., wo Schad den für Goethe aktuellen Diskurszusammenhang darstellt und bewertet. Ich danke Wolfgang Schad für Gespräch und Hinweis in dieser Sache. 37 Vgl. dazu Wolfgang Schad: Zeitgestalten der Natur. Goethe und die Evolutionsbiologie, a.a.O., S. 364 f.: »Die Makroevolution war nicht nur für Goethe empirisch offen, sondern ist auch für jeden heutigen Biologen zwar deskriptiv belegbar, aber nicht kausalempirisch vorführbar« (S. 365).

6.2 Ekstasen der Elemente – Amplifikation von Aisthesis – Selbstbildung

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raum; so getraut ich mich es auf alle Reiche der Natur – auf ihr ganzes Reich – auszudehnen.38

Mit diesen Bekenntnissen kurz vor der Italienreise sind für den aktuellen Verwendungszusammenhang zentrales Interessengebiet (»Pflanzenwesen«), Methodik der Betrachtungsweise (Simplifizierung durch Anschauung/Intuition) sowie Modell (Ableitung eines entelechischen Musters aus der Vielheit der Erscheinungsformen: Urpflanze) benannt; entsprechende Erkenntnismuster sind also aktuell konzeptioniert. Es stellt sich demnach die Frage, welche Bedeutung der auf der Italienreise entwickelte Epigenesisgedanke für die Selbstbildung Goethes haben könnte39. Nun zu einer exemplarischen Episode der Italienreise und der ästhetischen Gestaltung des entsprechenden Aisthesisprozesses. Es ist bekannt und wiederholt kommentiert worden, dass Goethe Sizilien als besonderen Ort erlebt hat40. Wenn er von Paestum als bedeutender Idee spricht, die er nordwärts mitnehme41, so ist Sizilien eine Art Konzentrat all dessen, was Italien für Goethe ausmacht – eine »Königin der Inseln«42 und Schmelztiegel der Kulturen: Für meine Sinneart ist diese Reise [...] notwendig. Sicilien deutet mir nach Asien und Afrika und auf dem wundersamen Punkte, wohin so viele Radien der Weltgeschichte gerichtet sind, selbst zu stehen ist keine Kleinigkeit.43

In Palermo schreibt er am 18. April 1787 an Fritz von Stein, er sei »am Ziel«44 seiner Reise angelangt, habe die glücklichste Zeit seines Lebens in den sechzehn Tagen Palermo erlebt und: »[E]rst hier lernt man Italien kennen«45; an Charlotte von Stein bekennt er am gleichen Tag, daß nun meine Reise eine Gestalt nimmt. In Neapel hätte sie zu stumpf aufgehört. Aus meinen Blättern siehst du nur einiges im Detail, vom Ganzen, von meinem 38 FA 29: 638 f. Hervorhebungen vom Verfasser. 39 Vgl. dazu unten die Rekonstruktion der Erfahrung auf dem Meer und der entsprechenden Dokumente. 40 Es sei aus der Fülle der Literatur hier exemplarisch genannt Norbert Miller: Der Wanderer. Goethe in Italien, a.a.O., darin S. 251–297. Miller erschließt insbesondere den homerischen Hintergrund der Reise und die dramaturgischen Konzeptionen Goethes während des Sizilienaufenthaltes. 41 Vgl. oben das Zitat aus dem Brief an Herder vom 17. Mai 1787, in: FA 15/1: 345. 42 Palermo den 3. April 1787, in FA 15/1: 249. 43 Neapel den 26. März 1787, in : FA 15/1: 239. 44 FA 30: 282. 45 Ebd.

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6 Goethes Selbstbildung im Kosmos Italien

Innersten und den glücklichen Folgen die ich fühle kann und mag ich nichts sagen. Dies ist ein unsäglich schönes Land.46

Ich lenke im Folgenden meinen Blick nicht auf die Stationen der Reise auf Sizilien, sondern auf ein bisher nur randständig von der Forschung gewürdigtes Detail – die Überfahrt vom 29. März bis 2. April 178747. Zusammen mit der Rückfahrt vom 12. bis 14. Mai 1787 sind es die einzigen Tage seines Lebens, die Goethe auf dem Meer verbringt. Man kann mit guten Gründen vermuten, dass diese Erfahrung eine besondere Bedeutung für ihn hatte. Goethe schildert am 8. Oktober 1786, als er von Venedig aus den Lido aufsucht, seinen ersten Eindruck vom Meer: Ich hörte ein starkes Geräusch, es war das Meer und ich sah es bald, es ging hoch gegen das Ufer, indem es sich zurückzog, es war um Mittag, Zeit der Ebbe. So habe ich denn auch das Meer mit Augen gesehen, und bin auf der schönen Tenne, die es weichend zurückläßt, ihm nachgegangen. [...] Das Meer ist doch ein großer Anblick!48

Diese biographische Sachlage motiviert, dass ich mich eingehender mit Goethes See-Abenteuer befasse. Es wird als eine besondere Episode seines Selbstbildungsprojektes gelten können – gerade deshalb, weil die tatsächlichen Umstände nicht von Goethe planbar oder vorhersehbar gewesen sind. Ich interpretiere in einem ersten Schritt die entsprechenden Textpassagen der Italienischen Reise, um auf der Folie der narrativen Inszenierung49 das Tagebuchnotat kombiniert mit einer Zeichnung in ihrer Bedeutung als ästhetischer Ausdruck in Wort und Bild für Aisthesis und Selbstbildung zu rekonstruieren. 46 Ebd. 47 Vgl. u.a. Norbert Miller: Der Wanderer. Goethe in Italien, a.a.O., S. 257 f. Miller hebt die auf der Überfahrt erlebte ästhetische Dimension der Licht- und Farbphänomene hervor, spricht auch von einer »Urentdeckung« (S. 258) des Ultramarins in Bezug auf die Farbenlehre, versteht die Erlebnisse der Überfahrt dann aber lediglich als zwar für den Naturforscher interessante, aber sich ins unspezifisch Wunderbare verflüchtigende Eindrücke, und interpretiert diese aus dem Leitmotiv seiner Erschließung – der Mythologie Homers. Vgl. des Weiteren Johann Wolfgang Goethe: Zeichnungen, hrsg. von Petra Maisak, Stuttgart 1996, S. 137. Maisak stellt die von mir unten interpretierte Zeichnung Goethes mit einem kurzen Text in den biographischen Zusammenhang und verweist auf die naturwissenschaftliche Intention des Zeichners Goethe an dieser Stelle. 48 In: FA 15/1: 96. 49 Zur Entstehungsgeschichte ab Herbst 1809, also mehr als zwanzig Jahre nach der Reise und im Rahmen des großen Projektes einer Autobiographie von Goethe, vgl. den Kommentar in FA 15/2: 1065–1077.

6.2 Ekstasen der Elemente – Amplifikation von Aisthesis – Selbstbildung

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Goethes Erzählung in der Italienischen Reise inszeniert die Schifffahrt im Frühjahr 1787 als ein im Kontext des Reiseverlaufs exklusives Geschehen mit markanten Besonderheiten. Die Episode zeichnet sich demnach durch ein in verschiedener Hinsicht gesteigertes, intensives Erleben aus; die Erfahrungen auf dem Meer haben ein spezifisches Gepräge, das abweicht von den anderen Reiseeindrücken. Schon bei der Abreise von Neapel am 29. März wird die Abhängigkeit des Seglers von den meteorologischen Bedingungen ungeduldig erlebt; erst gegen Mittag kann das Schiff bei weiter ungünstigem Wind ablegen. Während der Fahrt werden Natur und Elemente intensiver erlebt – »und so erfuhren wir denn wie der Seefahrer vom Eigensinne des Wetters und Windes abhängt«50 –, ebenso wie die sinnlichen Eindrücke durch die ungewöhnliche Perspektive stärker zu wirken scheinen – »die beschatteten Felsenwände von Sorrent vom schönsten Blau. Das beleuchtete, lebendige Neapel glänzte von allen Farben«51. Das Licht von Sonne und Mond sowie das Spiel der Farben treten auch sonst als ekstatische Wirkungen der Dinge dominant im Bericht Goethes hervor. Wasser und Wind/Luft werden als Elemente sehr viel unmittelbarer in ihrer Qualität und Wirkung erlebt, als das in einer Landschaft der Fall ist. Diese zentripetal verursachten Anmutungen sinnlicher Anschauung wirken am nächsten Tag der Seereise fort, bis in der Nacht das freie Meer erreicht ist – »Nun war kein Land mehr zu sehen, der Horizont ringsum ein Wasserkreis, die Nacht hell und schöner Mondschein.«52 Goethe wird in dieser Nacht vom 30. März seekrank und muss sich in die Kajüte zurückziehen. Indem sich seine leibliche Konstitution derart aufdrängt und das Erleben überschattet, wird die Möglichkeit sinnlicher Anschauung des Meeres zwar auf wenige Momente an Deck stark eingeschränkt, dafür aber Goethes poetischer Bildungstrieb53 geweckt; er grenzt in seiner Schilderung an dieser Stelle sinnliche Anschauung und poetischen Bildungstrieb scharf voneinander ab: »Abgeschlossen von der äußern Welt ließ ich die innere walten«54. Goethe hatte nach eigener Auskunft den Text der ersten zwei Akte des Torquato Tasso im Gepäck und beginnt in den nächsten zwei Tagen bei zunehmendem Sturm – Dramatik der Elemente –, die vorhandene Prosafassung in Versform zu transformieren55. Wenn man dem Kommentar zum Stück folgt, es thematisiere den »existentiellen Widerspruch zwischen Kunst und Leben« und handle von der »›Disproportion‹ des Talents mit dem Leben«56, 50 Seefahrt, Donnerstag d. 29. März, in FA 15/1: 242. 51 Ebd. 52 Freitag, den 30. März, in FA 15/1: 243. 53 Vgl. dazu Kap. 4 und Kap. 7. 54 Freitag, den 30. März, in: FA 15/1: 243. 55 Vgl. zum Tasso und der Entstehungsgeschichte FA 5, Kommentar S. 1374–1382. 56 FA 5, Kommentar S. 1423.

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6 Goethes Selbstbildung im Kosmos Italien

und nimmt Goethes narrative Selbstreflexion, die formalästhetische Anlage des Stückes sei in einem »Wallfischbauch«57 konzeptioniert worden – Reminiszenz an das alttestamentarische Motiv von Jona im Walfisch –, so ergeben sich interessante interpretatorische Implikationen durch die Art, wie Goethe das Ganze in der Italienischen Reise erzählerisch vermittelt. Um seine ästhetische Vermittlungsstrategie zu verstehen, muss man jedoch die Gegebenheiten bis zur Ankunft in Palermo in die Deutung miteinbeziehen. Danach ist es ihm wiederholt möglich, bei abnehmendem Sturm und ruhiger werdender See an Deck Meer und Küstenpanorama zu genießen. Für den Abend des 1. April bei Sonnenuntergang heißt es dann: Ich wagte mich manchmal auf ’s Verdeck, doch ließ ich meinen dichterischen Vorsatz nicht aus dem Sinne und ich war das ganze Stück so ziemlich Herr geworden. Bei trüblichem Himmel heller Mondschein, der Widerschein auf dem Meer unendlich schön. Die Maler, um der Wirkung willen, lassen uns oft glauben, der Widerschein der Himmelslichter im Wasser habe zunächst dem Beschauer die größte Breite wo er die größte Energie hat. Hier aber sah man am Horizont den Widerschein am breitsten, der sich, wie eine zugespitzte Pyramide, zunächst dem Schiff in blinkenden Wellen endigte.58

Nachdem für die Zeit des Sturmes und den gleichzeitig antagonistischen Tendenzen leiblicher Konstitution und geistiger Verfassung – dem Kampf der Elementargewalten korrespondiert hier ein intrapersonelles Schisma – die poetische Produktion narrativ als abgezirkelter Raum vermittelt wird, vermittelt Goethe mit dieser Schilderung der Nacht die wechselseitig ergänzende Bedeutung unterschiedlicher Interessensbereiche. Der Betrachter erlebt eine harmonische Mischung der Elemente zu einem Ganzen des Umkreises des Meeres. Den poetischen Stoff noch im Bewusstsein (»doch ließ ich meinen dichterischen Vorsatz nicht aus dem Sinne«), wird gleichzeitig sinnliche Anschauung gemäß wirkungsästhetischer Gesichtspunkte der bildenden Kunst (»Die Maler, um der Wirkung willen«) reflektiert. Nachdem das Aisthesisinteresse zuvor durch die Seekrankheit abgelenkt worden ist auf den Bereich poetischer Produktion und sich Kreativität in diesem Feld betätigt hat, werden nun die verschiedenen Interessen durch ihre korrelative Wechselwirkung zu einem vielschichtigen Zusammenhang fusioniert. Wenige Tage später, notiert unter dem 3. April in Palermo, betont Goethe bezeichnender Weise, er »habe nie eine ruhigere Zeit gehabt«59 als auf dieser Seereise; eine Formulierung, mit der er die persönlich 57 58 59

Montag den 2. April, früh 8 Uhr, in FA 15/1: 245. Sonntag den 1. April, ebd. FA 15/1: 248.

6.2 Ekstasen der Elemente – Amplifikation von Aisthesis – Selbstbildung

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empfundene Bedeutung dieser Begebenheit auf See verschlüsselt zum Ausdruck bringt. Das Ensemble der Motive ist in Goethes Erfahrungsschatz wohl einmalig, der semantische Zusammenhang lässt aber ein bestimmtes Muster erkennen, von dem aus das Ganze in seiner Bedeutung verständlich wird. Seine Reisen in der Mittelgebirgslandschaft60 waren auf ein geheimes Ziel gerichtet. Die in Wanderers Nachtlied61 ausgedrückte Ruhe der Natur, die dem lyrischen Ich dort noch versagt bleibt, wird auf See weitgehend Realität, mit transformatorischer Bedeutung für das Subjekt: als zeitlich begrenztes Ganzheitserlebnis, als eine punktuelle Versöhnung von Ich und Welt: Mit keinen Worten ist die dunstige Klarheit auszudrücken die um die Küsten schwebte als wir am schönsten Nachmittage gegen Palermo anfuhren. Die Reinheit der Konture, die Weichheit des Ganzen, das Auseinanderweichen der Töne, die Harmonie von Himmel, Meer und Erde. Wer es gesehen hat der hat es auf sein ganzes Leben.62

Die Schilderung der Farben der Natur, der »dunstige[n] Klarheit«, die alles konturiert und als ein Ganzes verbindet, wird in ihrer ontologischen und naturwissenschaftlichen Bedeutung unten noch zu thematisieren sein. Bezieht man in die Deutung der Episode neben Naturerlebnis und Tassothematik des Künstlers als eines Außenseiters in der Gesellschaft (Genie, ästhetisches Schaffen vs. Lebensformen der Gesellschaft) auch das alttestamentarische Motiv von Jona im Walfisch mit ein (handelt dieses doch von Bestimmung und Verfehlung dieser Bestimmung sowie von Tod und Auferstehung63), so inszeniert nach meiner Lesart Goethes Erzählung eine Art symbolischer Geburt auf dem Meer. Das Anschauen der Welt und die Produktivität der künstlerischen Einbildungskraft sind für einen Moment simultane Aktivitäten des Subjektes. Das erzählerische Spiel um Korrespondenzen von Aisthesis und Kreativität wäre dann eine Variation von Selbstbildung. Das Spezifische der Erfahrung auf dem Meer erschließt sich differenzierter, wenn man die diesbezüglichen Tagebuchaufzeichnungen in die Deutung einbezieht. Dabei stellen die Tagebuchblätter meine Rekonstruktion insofern vor eine besondere Herausforderung, als sie die Reiseindrücke mit z.T. elliptisch kurzen, oft unverbunden aufgereihten Aufzeichnungen festhalten, ergänzt durch eine skizzenhafte Zeichnung. Die Rekonstruktion der unverbunden erscheinenden Teile in einen 60 Vgl. dazu Kap. 5.2, das eine Reihe von ähnlichen Reisemotiven rekonstruiert und Goethes Erfahrungen in den Kontext seiner höfischen Existenz stellt. 61 Wanderers Nachtlied, in: FA 1: 388; vgl. Kap. 5.2. 62 FA 15/1: 249. 63 Vgl. zu diesem Bezug Mt 12,40.

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6 Goethes Selbstbildung im Kosmos Italien

6 Zwei Blätter aus dem Tagebuch der italienischen Reise

6.2 Ekstasen der Elemente – Amplifikation von Aisthesis – Selbstbildung

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Sinnzusammenhang ist also im Wesentlichen eine Interpretationsleistung. Ich gebe zunächst die zwei entscheidenden Tagebuchblätter wieder, dann deren Text nach der FA, um unter Berücksichtigung bisheriger Deutungsansätze meine Interpretation zu entwickeln. Man hat sich bisher mit der isolierten Wiedergabe der Zeichnung64 oder der Interpretation der Zeichnung am unteren Rand des Tagebuchblattes begnügt65. Ich möchte zeigen, dass wenn man auch das folgende Tagebuchblatt berücksichtigt, eine differenzierte Deutung des Zusammenhangs von Wort und Bild in seiner Bedeutung möglich wird. Der Tagebuchtext nach FA: Palermo, gelb töthlicher Ton der anwitternden Kalcksteine. Besonders hoch am Marmor der Cathedral Kirche = Wenn der Himmel mit weislichem Dunste überzogen ist, so daß doch die Sonne durchscheint, sieht das Meer in der Nähe des Schiffes so himmelblau aus als der höchste Ultramarin und die Wellen haben ganz Silberne Kanten. = Der Widerschein der aufgehenden Sonne, zeigt sich erst in der Nähe des Beobachters und geht nach hinten zu, ist erst röthlich dann gelblich dann Silber. = Der Widerschein der Sonne und des Mondes ist hinten breiter als vorn wenn sie in einer gewißen Höhe stehn. = Die Fische kamen als die Sonne zu scheinen anfing. = Schöne Gegensätze der Hell und duncklen Töne.

[Zeichnung am unteren Rand der Seite, nächste Seite des Tagebuches; J.S.]

Nordisches Meer Langer Widerschein der Gegenstände im Wasser Weiser Morgen alles Duft Weise Klarheit des Abends kaum gelblich. Einwohner der Liparischen Inseln sagen die Winde voraus. 64 So FA 15/1, Abb. 30. 65 So Petra Maisak in: Johann Wolfgang Goethe: Zeichnungen, hrsg. von Petra Maisak, Stuttgart 1996, S. 137.

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6 Goethes Selbstbildung im Kosmos Italien

Flora auf dem Platz wo die Inpuisition verbrennen lies. Zierrath des geschnittnen Papiers. Knaben Spiel[e?] Drachen. Schöne Reusen von Binsen.66

Die Frankfurter Ausgabe gibt der Zeichnung den Untertitel Goethe: Widerschein des Mondes auf dem Meer (1. April 1787)67. Bei Petra Maisak dagegen erhält die Zeichnung den Titel Widerschein der Sonne im Wasser68. Maisak geht näher auf die Zeichnung ein. Sie hebt für das Verhältnis von Wort und Bild zunächst hervor: Zeichnerische und schriftliche Notizen gehen in den italienischen Tagebuchblättern unmittelbar ineinander über; so fügt sich auch diese Skizze am unteren Blattrand organisch in den Text ein.69

Maisak bezieht merkwürdiger Weise nicht die Aufzeichnungen des nächsten Tagebuchblattes in ihre Rekonstruktion mit ein, welche die Motive weiter variieren, betont für den gesamten Zusammenhang aber treffend, dass Goethe das »Zusammenspiel von Licht und Wasser mit naturwissenschaftlicher Akribie«70 beschreibe. Sie führt zu Anlage und Bedeutung der Zeichnung weiter aus: Goethe begnügt sich mit einer sachlichen Skizze, welche die dunklen Flächen in Grau fixiert, die hellen im Papierton beläßt; die Evokation der Farbe überläßt er dem Wort respektive der Phantasie des Betrachters. Damit kommt der Pinselskizze die Funktion einer naturwissenschaftlichen Hilfszeichnung zu, und mehr sollte sie auch nicht sein.71 66 FA 15/2: 797 f., vgl. zur Textgrundlage Kommentar S. 1528. Es finden sich noch ganz ähnliche Notizen in den Tagebuchblättern: »Wenn der Himmel graulich ist und die Sonne durchscheint sieht das Meer in der Nähe so himmelblau aus daß es sich kaum dencken läßt. // Der Wiederschein der Aufgehenden Sonne fängt vom Beobachter an und läuft nach hinten zu. Ist erst röthlich dann gelblich zuletzt Silber // Der Wider Schein der Sonne und des Mondes ist von Hinten breiter wenn sie in einer gewissen Höhe steht als vorne. // Die Fische kamen wie sich die Sonne zeigte // [...]«. In: FA 15/2: 753; vgl. zur Textgrundlage Kommentar S. 1525. Auch die weiteren Motive des obigen Zitats tauchen in diesen Notizen auf (vgl. S. 753 f.). Goethe notierte also seine Eindrücke und Gedanken dazu mehrmals. 67 FA 15/1, Abb. 30. 68 Johann Wolfgang Goethe: Zeichnungen, a.a.O., S. 137. 69 Ebd. 70 Johann Wolfgang Goethe: Zeichnungen, a.a.O., S. 137. 71 Ebd.

6.2 Ekstasen der Elemente – Amplifikation von Aisthesis – Selbstbildung

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Norbert Miller setzt ähnliche Deutungsakzente; er hebt, ausgehend von den schriftlichen Äußerungen der Tagebuchblätter, die von Goethe auf der Überfahrt erlebte ästhetische Dimension der Licht- und Farbphänomene hervor und spricht von einer »Urentdeckung«72 in Bezug auf die Farbenlehre. Miller versteht die Erlebnisse der Überfahrt dann aber lediglich als zwar für den Naturforscher interessante, aber sich ins unspezifisch zauberhaft Wunderbare verflüchtigende Eindrücke, und interpretiert diese aus dem Leitmotiv seiner Erschließung – der Mythologie Homers73. Sowohl Maisak als auch Miller sehen einen Zusammenhang von zeichnerischschriftlichen Aufzeichnungen des Corpus italicum und den naturwissenschaftlichen Interessen Goethes. Maisak konzentriert sich auf die Erschließung von Goethes Zeichnungen in ihrer ästhetischen Form und Bedeutung74. Indem sie der vorliegenden Zeichnung die »Funktion einer naturwissenschaftlichen Hilfszeichnung« zuschreibt, betont sie hauptsächlich deren instrumentelle Aufgabe. Miller fokussiert Goethes Erfahrungen auf der Überfahrt im Sinne des mythologischen Leitmotivs seiner Erschließung dominant auf den Bereich emotionalen Erlebens; naturwissenschaftlich orientierte Anschauungsund Denkformen Goethes grundieren demnach das Ganze allenfalls. Meine folgende Rekonstruktion von Tagebuchtext und Zeichnung in ihrer wechselseitigen Bedeutung nimmt die Anregungen dieser Lesarten auf, um in der Deutungsperspektive von Aisthesis und Selbstbildung weitere interpretative Optionen zu diskutieren. Goethe fixiert verschiedenste Eindrücke und Gedankensplitter durch elliptisch knappe Textsequenzen und grenzt sie z.T. durch Markierungen zusätzlich voneinander ab. Dadurch liest man sie zunächst als schnell notierte sinnliche Anmutungen und Überlegungen, die sich dem Augenblick verdanken, und in diesem Sinne auf den Tagebuchblättern eine sukzessiv zufällige Folge von Impressionen und Ideen zu sein scheinen. Die Anordnung der Notate (»Palermo«) zeigt jedoch, dass diese sich nicht einem unmittelbaren Erleben verdanken können75. Das bunte Sammel72 Norbert Miller: Der Wanderer. Goethe in Italien, a.a.O., S. 258, vgl. zum Gedanken ab S. 257. Wenn man das Notat des Tagebuchblattes mit Millers Widergabe vergleicht, fallen freilich nicht unerhebliche Ungenauigkeiten auf. So spricht Miller vom Ultramarin an den Rändern des Meeres (S. 258), wo es bei Goethe heißt: »[S]ieht das Meer in der Nähe des Schiffes so himmelblau aus als der höchste Ultramarin« (FA 15/2: 797). 73 Vgl. Norbert Miller: Der Wanderer. Goethe in Italien, a.a.O., besonders S. 251–257. 74 Vgl. dazu auch Petra Maisak: Zeichnen an den Rändern der Sprache. Zum Verhältnis von Wort und Bild bei Goethe, in: Javier Arnaldo, Hermann Mildenberger (Hrsg.): Johann Wolfgang Goethe. Landschaftszeichnungen, Frankfurt/M. und Leipzig 2009, S. 42–54. Vgl. zu Goethe als Zeichner auch Frank Fehrenbach: »Das lebendige Ganze, das zu allen unsern geistigen und sinnlichen Kräften spricht«. Goethe und das Zeichnen, in: Peter Matussek (Hrsg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur, München 1998, S. 128–156. 75 Auch die wiederholte Beschreibung der Motive auf verschiedenen Tagebuchblättern deutet auf diesen Umstand; vgl. FA 15/2: 753 f. sowie 797 f. (vgl. auch die Zitate oben).

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surium auf den Tagebuchblättern legt vielmehr nahe, dass diese zwar erlebnisnah, aber eben doch nachträglich schon in Palermo notiert sind, zwar Impressionen und Ideen mehrerer Tage festhalten, aber nicht notwendig in der Folge der Erfahrungen. Die Schwierigkeit, die Zeichnung eindeutig einem Motiv zuzuordnen, weist auf ihre mögliche symbolische Bedeutung, weniger auf die Wiedergabe eines konkreten Eindrucks. Beide Befunde deuten darauf hin, dass man die Anlage des Ganzen nicht als chronologisch sukzessive Dokumentation der Erlebnisse verstehen kann. Wort und Bild sind vielmehr Korrelate einer Konzeption. Deshalb spricht nach meiner Überzeugung sehr viel dafür, dass Goethe die vielfältig unterschiedlichen Eindrücke multiperspektivischer Wahrnehmung nach einem Schema notiert zu haben scheint, also nach einem bestimmten Vorsatz gehandelt hat, und nicht allein rein emotional aufgeheizte Stimmungsbilder festhält. Die Verzauberung (Miller) in sinnlicher Anschauung wirkt demnach begeisternd auf Goethe und löst einen Prozess intensiver Auseinandersetzung mit dem Erlebten aus. In dieser können bestimmte Muster identifiziert werden. Im Fokus dieser Lesart zeugen die schriftlichen Notizen der beiden Tagebuchblätter fast ausschließlich von einem bestimmten Betrachtungsinteresse Goethes, das als semantische Klammer die unterschiedlichen Notate umgreift. Es fällt auf, dass in unterschiedlichster Art offensichtlich Licht- und Schattenphänomene, Facetten des Mediums Luft und Farberscheinungen das Interesse Goethes angeregt haben. Bemerkungen zu Kontrasten rahmen die Zeichnung ein: »Schöne Gegensätze der hell und duncklen Töne. [...] Nordisches Meer«76. Dabei gilt besonders auch der Linie und der Perspektive als ästhetische Komponenten der bildenden Kunst die Aufmerksamkeit des Betrachters77. Was Uwe Pörksen in anderem Zusammenhang für Goethes 76 Diese Notiz scheint mir auf die Polarität von Süden und Norden hinzudeuten, die Goethe u.a. mit Schiller wiederholt diskutiert. Schiller erläutert in seinem Brief vom 23. August 1794 den Unterschied von Intuition und Anschauung Goethes auf der einen sowie Spekulation und analytischem Verstand auf der anderen Seite [(Schillers) vgl. MA 8.1: 13] und führt dann in biographischer Deutungsabsicht aus: »Nun da Sie ein Deutscher geboren sind, da Ihr griechischer Geist in diese nordische Schöpfung geworfen wurde, so blieb Ihnen keine andere Wahl ...«, als imaginativ Griechenland / den Süden zu generieren (MA 8.1: 14). Dabei werden die nordische Natur mit Wildheit und der Norden mit analytischer Differenz identifiziert, während die Natur des Südens Harmonie und der Süden intuitive Ganzheit verkörpern. Wenn man dieses Modell als Lesart den Notizen zugrunde legt, könnte Goethe mit »Nordisches Meer« einerseits Dynamik, andererseits Differenz betonen wollen. Im Kontext der Bemerkungen des Tagebuchblattes liegt es meiner Ansicht nach nahe, den Differenzgedanken stärker zu betonen. Goethe würde demzufolge Wahrnehmungen und Gedanken zum Hell-Dunkel-Gegensatz notieren. 77 Vgl. auch die Schilderungen der Italienischen Reise, die im Vorherigen erschlossen wurden.

6.2 Ekstasen der Elemente – Amplifikation von Aisthesis – Selbstbildung

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Naturwissenschaftssprache feststellt78, kann man damit auch in den Notaten der Tagebuchblätter erkennen: Sie sind Annäherungs- und Beschreibungsinstrument für einen Sachverhalt, dessen Zentrum Goethe in korrelativen Ergänzungen umschreibt, aber nicht begrifflich fixiert. Gerade dadurch werden die Aufzeichnungen zu einer Form multiperspektivisch offener Methodik von Mustererkennung. Die scheinbar flüchtig festgehaltenen Impressionen auf den Tagebuchblättern lassen sich damit zum einem unschwer als Gedächtnisprotokolle und Vorarbeiten für die narrativ komponierte Fassung in der Italienischen Reise identifizieren. Im Anschluss an die Erlebnisse auf dem Meer strebte Goethe offensichtlich eine symbolische Darstellung von Fusion und Ganzheit an, die er in verschiedenen Stufen realisierte. Die Tagebuchblätter in Wort und Bild sind ein erster Schritt in diese Richtung, der Text der Italienischen Reise die gültige Fassung. Zum anderen weisen im Sinne dieser Lesart die auf den Tagebuchblättern notierten Beobachtungen auf dem Meer eine spezifische Besonderheit gegenüber anderen Aktivierungssituationen von Aisthesis auf: Im Horizont des Meeres treten die Elemente in räumlicher Erfahrung als solche für den Betrachter besonders intensiv hervor, sie werden allein in ihrer aufeinander bezogenen Wechselwirkung erlebt. Die »millionenfache Hydra der Empirie«79 erscheint reduziert auf wenige, besonders ekstatisch wirkende Phänomene. So ist die Aufmerksamkeit des Betrachters nicht auf bestimmte Details orientiert, sondern die Natur als Ganze wird erlebbar. In der Italienischen Reise notiert Goethe für den 3. April 1787 in Palermo, »noch einiges zusammenfassend«: Hat man sich nicht ringsum vom Meere umgeben gesehen, so hat man keinen Begriff von Welt und von seinem Verhältnis zur Welt.80

Hatte Goethe in Venedig noch vom Meer als einem »große[n] Anblick«81 gesprochen, so wird an dieser Stelle deutlich, dass das Erlebnis auf dem Meer für die Ausprägung des Selbst- und Weltverständnisses eine zentrale Bedeutung hat. In dieser Hinsicht sprechen die Notizen der Tagebuchblätter von Intensivierung und Entgrenzung der Erfahrung in der erlebten Fusion der Elemente Licht – Luft – Wasser im Erfah-

78 Uwe Pörksen hat Goethes Naturwissenschaftssprache untersucht und diese als »Annäherungsinstrument« bestimmt, mit welchem ein Phänomen oder eine Metamorphose durch »Synonymenvariation« erschlossen wird. Vgl. Uwe Pörksen: Deutsche Naturwissenschaftssprachen. Historische und kritische Studien, Tübingen 1986, Zitate S. 83 und 82. 79 Brief vom 16. und 17. August 1797 an Schiller; MA 8.1: 393. 80 FA 15/1: 248. 81 In: FA 15/1: 96.

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rungsraum des Meeres – und von der nachträglichen Bewältigung der Impressionen durch das sukzessive Notat. Versteht man die Elemente im Sinne der antiken Elementenlehre als die konstitutiv wirkenden Komponenten des gesamten Naturgeschehens, so ermöglicht Aisthesis als sinnliche Anschauung die Teilhabe des Subjektes am Transformationsgeschehen der Naturkräfte, welche nach dieser Auffassung mit der natura naturans zwar nicht identisch, wohl aber deren stofflich-materielle Verkörperung als natura naturata sind82: Ein Ganzheitserleben in einem prägnant wirkenden Teilbereich des Ganzen der Natur. Wolfgang Schadewaldt führt in Bezug auf die antike Weltorientierung zu einer vergleichbaren Erfahrung aus: Im Besonderen erfaßten sie [die Griechen; J.S.] zugleich das Allgemeine. Im einzelnen Ganzen stellte sich ihnen auch das Universale, das Wahre dar. Und man kann vielleicht mit manchem Recht die Ganzheit (die auch im Fragment noch lebt) im Sinn der Griechen geradezu definieren als den Abglanz des Universalen an einem Endlichen, Begrenzten.83

Schadewaldt identifiziert demnach in antiker Weltdeutung eine symbolische Prägnanz84, in der Ganzheit als sinnstiftender Zusammenhang am Besonderen als »Abglanz« erscheint, d.h. im Sinne antiker Denkmuster, als erinnertes Universales (Platon). Ganz offensichtlich aktiviert Goethe dieses vormoderne Denkmuster, aber auf eine so eigene Art, dass sich Bedingungen und Konsequenzen entscheidend verändern. Epistemisch geht Goethe von seiner Erfahrung sinnlicher Anschauung aus und modelliert aus dieser nachträglich in verschiedenen Realisierungsstufen einen Fusionszusammenhang. Deshalb ist das ursprüngliche Erlebnis auch nicht als vergewissernde Integration im Sinne antiker Anamnesislehre zu verstehen, sondern als zentripetale Beeindruckung durch die Ekstasen der Natur. In einem nächsten Schritt setzt die produktive Konstitutionsleistung des Subjekts ein: Das epistemische Muster von Intuition seit Straßburg, mit dem im vorliegenden Aktivierungszusammenhang jedoch durch die Expansion in das Naturganze auf dem Meer eine neue Vari82 Vgl. dazu Kap. 5. die Bedeutung von Spinoza. Vgl. zur Elementenlehre und ihrer Bedeutung auch für Goethe Gernot Böhme: Phänomenologie der Natur. Eine Perspektive, in: Peter Matussek (Hrsg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur, München 1998, S. 436–461, besonders S. 438–442, und Gernot Böhme; Hartmut Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente, München 1996; zu Natur als Ganzheit vgl. u.a. S. 10 ff., zu den Elementen als »Elementare Gewalten« vgl. S. 269–278. 83 Wolfgang Schadewaldt: Das Welt-Modell der Griechen, in: ders.: Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee. Aufsätze und Vorträge, Frankfurt/M. 1990, S. 39. 84 Vgl. dazu Kap. 3.2.2

6.2 Ekstasen der Elemente – Amplifikation von Aisthesis – Selbstbildung

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ante vorliegt. Deren ontologische Bedeutung ist die Transformation des Subjektes in universaler Fusion, welche versucht, perspektivische Begrenzungen weitgehend hinter sich zu lassen und aufs Ganze zu gehen: ein ozeanisches Bewusstsein85. Das Fragmentarische der Aufzeichnungen der Tagebuchblätter deutet dabei meiner Auffassung nach darauf hin, dass dieses Ganze zwar wiederholt erlebt und durch Aisthesis fassbar wird, sich aber einer völligen Aneignung prinzipiell entzieht. Der zentripetal-zentrifugal verschränkte Aneignungsprozess oszilliert zwischen Anmutung und Entzug, Erfassen und Verlieren: Die abgrenzenden Markierungen zwischen den einzelnen Notaten verdeutlichen diese Kluft in der Zeit, welche die Raumerfahrungen trennt. In welcher Weise Selbstbildung der konstitutiv ordnende Fluchtpunkt ist, das Ganze als Differenzzusammenhang im Sinne der o.g. multiperspektivisch offenen Methodik von Mustererkennung zu modellieren, wird in Verbindung mit der Zeichnung zu erschließen sein86. Der Blick auf entsprechende Muster in der Perspektive von Selbstbildung bei Goethe soll zunächst aber den Verwendungszusammenhang genauer diskutieren. Das in der vorliegenden Verwendungssituation wirkende Aisthesispotential hat seine Ursprünge in den Lichtspekulationen des jungen Goethe87. Wenn er in den frühen 70er Jahren Dämmerung als ein Fusions- und Durchdringungsgeschehen von Licht und Finsternis diskutiert, wenn bei den Interferenzen das Licht als das ordnende Prinzip dieses Verwandlungszusammenhangs erscheint, hat Goethe damit für seine Betrachtungsweise ein Denkmuster geprägt, welches, unter den Bedingungen des Meeres aktiviert, als Mustererkennung fungiert. Nach meiner bisherigen Rekonstruktion ist das Ganze demnach so zu verstehen, dass Goethe, veranlasst durch die Ekstasen der Elemente, sukzessive im Horizont seines Wissens verschiedene Impressionen zu Erkenntnis modelliert, also seine frühere philosophische Spekulation über Licht epistemisch transformiert. Gemäß dem Muster von Aisthesis ist sein Erkennen multiperspektivisch angelegt und operiert variantenreich in einem Bedingungsgefüge von sinnlicher Anschauung und Intuition. Das besondere dieser Mustererkennung ist, dass der Moment des Erlebens Auslöser dafür ist, das Muster neu zu aktivieren, es also nicht als erinnerte Konzeption das Erleben vorstruktu-

85 In Anlehnung an Romain Rollands Begriff des ozeanischen Gefühls, den er gegenüber Sigmund Freud als Kritik an Die Zukunft einer Illusion (1927) prägt. Freud greift den Begriff in Das Unbehagen in der Kultur (1930) auf und führt u.a. dazu aus: »Also ein Gefühl der unauflösbaren Verbundenheit, der Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen der Außenwelt«, in: Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, in: ders.: Studienausgabe Bd. IX, Frankfurt/M. 1974, S. 74. 86 Vgl. unten. 87 Vgl. dazu Kap. 4.1.

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riert88. Perspektivisch weist das Interesse für Licht und Farbe auf die systematische Forschung der späteren Farbenlehre voraus; persönlich biographisch modelliert Goethe eine zentrale Frage seines Selbst- und Weltverständnisses. Im Faust II erlebt Faust »des bunten Bogens Wechsel-Dauer«89, einen Regenbogen im Spiel des Lichtes in einem Wasserfall, als Symbol für Bedingung und Möglichkeit menschlichen Erkennens: »Ihm sinne nach und du begreifst genauer:/Am farbigen Abglanz haben wir das Leben«90. Menschliche Erkenntnis richtet sich demnach nicht unmittelbar direkt auf Ideelles, sondern bewegt sich im konkreten Verwandlungsgeschehen eines Fusionszusammenhangs und versucht, Sukzessives sinnlicher Anschauung und Simultanes der Idee91 zu verbinden (»Wechsel-Dauer«). Eine Letzterkenntnis des Ursprungs – das Erkennen der Lichtquelle – ist ihr versagt. Die Welt in der pantheistischen Auffassung Spinozas ist der ontologische Raum der Orientierung des Menschen, in welchem sich Selbstbildung vollzieht. Auch das von Goethe konzipierte Denkmuster des Granits kann die Bedeutung der Erfahrung auf dem Meer92 verdeutlichen. Die Kristallisation des Granits begreift Goethe als einen Prozess, in welchem heterogene disparate Komponenten eines ursprünglichen Differenzzusammenhangs zu einer Ganzheit des Stoffzusammenhangs fusioniert werden, die durch die Möglichkeit unendlicher Variation von Gestaltung und Umgestaltung in erdgeschichtlicher Dimension als offene Ganzheit verstanden werden kann. Die Semantik dieses Denkmusters kann interpretatorisch auch die ontologische Bedeutung der Erfahrung auf dem Meer erhellen. Denn offensichtlich ist diese Erfahrung dem eingeübten Muster vergleichbar, mit dem Unterschied, dass durch sie ein aktuell mit allen Sinnen und Empfindungen erlebter atmosphärischer Differenzzusammenhang der Elemente in der Natur betont hervortritt93, während der Stoffzusammenhang des Granits auch in seiner erdgeschichtlichen Bedeutung gedacht wird.

88 Vgl. dazu die Vorüberlegungen (Kap. 1) und Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken, a.a.O., besonders S. 23. 89 V. 4722, in: FA 7/1: 206. 90 V. 4726 f., in: FA 7/1: 206. 91 Vgl. Bedenken und Ergebung, in: FA 24: 449. 92 Vgl. dazu besonders die Rekonstruktion der geologischen Forschung in ihrer epistemischen und ontologischen Dimension in Kap. 5. 93 Ich werde der Bedeutung der griechischen Elementelehre für Goethe an dieser Stelle nicht weiter nachgehen. Man kann mit guten Gründen annehmen, dass er sich mit seinen Denkmustern im Horizont dieses Konzeptes von Weltorientierung, auch in dessen gewalttätig bedrohlichen Dimension, bewegt hat. Vgl. u.a. zu diesem Kontext Gernot Böhme; Hartmut Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente, a.a.O.

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Im Anschluss an diese Lesart der Notizen der Tagebuchblätter scheint der Titel Lichtimpressionen auf dem Meer für die Zeichnung angemessen, denn sie stellt weder Sonne noch Mond als besondere Phänomene dar; sie ist weder Abbildung noch Nachahmung, sondern visualisiert Lichtwirkungen und bringt damit symbolisch die übergeordnete Idee in Goethes Anschauen zum Ausdruck. Zur Bedeutung der Erfahrung des Meeres habe ich oben einen Gedanken Goethes vom 3. April 1787 in Palermo zitiert: »Hat man sich nicht ringsum vom Meere umgeben gesehen, so hat man keinen Begriff von Welt und von seinem Verhältnis zur Welt.« Goethe fährt fort: »Als Landschaftszeichner hat mir diese große, simple Linie ganz neue Gedanken gegeben«94. Die Erfahrung des Meeres als Raum elementarer Fusion mit dem Horizont als entgrenzender Kontur95 regt demnach ästhetisches Denken und Handeln an: Dem Horizont korrespondiert in der ästhetischen Produktion die Reduktion auf die wesentliche Linie und gerade diese vermag die Entgrenzung ins Ozeanische zu verkörpern. Betrachtet man unter dieser Perspektive die Zeichnung am unteren Rand des Tagebuchblattes, so wirkt sie in ihrer formalen Anlage atmosphärisch schwebend; die kleinformatige Skizze fügt sich übergangslos in das Ganze des Blattes. Eine tief über dem Meer stehende Lichtquelle und ihre Wirkungen in der Perspektive eines Betrachters werden mit elementaren zeichnerischen Mitteln in verschiedenen Graustufen dargestellt. Der obere Bildrand und die Horizontlinie treten relativ kräftig hervor, der untere Bildrand, und damit der Standort des Betrachters, bleibt diffus und wird durch den Blattrand begrenzt. Die Lichtwirkungen im Dunstigen der Luft sind atmosphärisch zart angedeutet, das Wasser dagegen ist kräftiger betont; dadurch tritt der Widerschein des Lichtes prägnant hervor. In diesem Sinne bringt die Zeichnung »Schöne Gegensätze der Hell und duncklen Töne«96 zum Ausdruck und damit einen zentralen Gedanken der späteren Farbenlehre: »Die Farben sind Taten des Lichts, Taten und Leiden«97, führt das Vorwort zum Didaktischen Teil der Farbenlehre 94 FA 15/1: 248. 95 In Ergänzung zur Linie als abstrakt geometrischen Figur. Stephan Oettermann sieht dieses Erlebnis des Horizontes als eine »Art Offenbarung« Goethes. Wenn er diese aber als Verschmelzung des »mathematische[n] Horizont[s] mit dem natürlichen Augenende« charakterisiert, verkennt er Bedeutung und Funktion der Grenze, die durch die Begegnung von zwei unterschiedlichen Elementen modelliert wird. Vgl. Stephan Oettermann: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt/M. 1980, S. 9, hier zitiert nach MA 15: 1015 (Kommentar). 96 FA 15/2: 797. 97 FA 23/1: 12. In den Beiträgen zur Optik heißt es dann für den Wirkungszusammenhang von Licht und Körperwelt: »Das Licht […] können wir uns niemals in abstracto denken, sondern wir werden es gewahr als die Wirkung eines bestimmten Gegenstandes, der sich im Raum befindet und durch eben diese Wirkung andere Gegenstände sichtbar macht« (Beiträge zur Optik, § 23, FA23/2: 23) und: »Licht und Finsternis führen einen beständigen Streit mit-

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aus. Doch wenn es auf dem Tagebuchblatt für ein konkret erlebtes Licht-Farbenspiel heißt, [w]enn der Himmel mit weislichem Dunste überzogen ist, so daß doch die Sonne durchscheint, sieht das Meer in der Nähe des Schiffes so himmelblau aus als der höchste Ultramarin und die Wellen haben ganz Silberne Kanten98,

so ist dieser Eindruck durch die Bleistiftzeichnung in stark abstrahierender Reduktion ganz ohne Farbe nur in Hell-Dunkel-Schattierungen dargestellt99. Ein von Goethe bewusst gewähltes Verfahren, denn er möchte nach eigenen Worten mit solchen ästhetischen Mitteln den Ausdruck einer Zeichnung intensiveren und dynamisieren, um beim Betrachten dieser die Phantasie anzuregen: Die wenigen Linien die ich aufs Papier ziehe, [...] erleichtern mir jede Vorstellung von sinnlichen Dingen, denn man erhebt sich ja eher zum Allgemeinen, wenn man die Gegenstände genauer und schärfer betrachtet.100

Diese Methode, mit Zeichnungen eine erzeugte Unmittelbarkeit von Naturphänomenen zu simulieren, nennt Goethe im Zusammenhang seiner Reise Schematisieren101. Es geht dabei darum, das Erlebte mit wenigen charakteristischen Strichen zu fixieren; durch diese Abstraktion und Reduktion soll die Phantasie des Betrachters angeregt werden, die Ekstasen der Dinge des ursprünglichen Erlebnisses neu zu aktivieren. Man kann dieses Schematisieren Goethes in seiner Besonderheit und Bedeutung verstehen, wenn man es von dem Schematismusbegriff Kants abgrenzt. Für Kant ist Schematisieren eine Leistung der Urteilskraft, einem Begriff eine korrespondierende Anschauung zu unterlegen102. Während für Kant also Schematisieren bedeutet, einen einander. Wirkung und Gegenwirkung beider ist nicht zu verkennen.« (FA 23/2: 23, § 24) 98 FA 15/2: 797, vgl. auch S. 753: »Wenn der Himmel graulich ist und die Sonne durchscheint sieht das Meer in der Nähe so himmelblau aus daß es sich kaum dencken läßt.« 99 Vgl. dazu die im Vorherigen zitierten Ausführungen von Petra Maisak in: Johann Wolfgang Goethe: Zeichnungen, a.a.O., S. 137. 100 Rom am 17. Februar 1787, in: FA 15/1: 185. 101 Am 3. April 1787 in Palermo heißt es: »Kniep zeichnete, ich schematisierte« (FA 15/1: 250), vgl. auch FA 15/1: 265. 102 Vgl. Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe, in: Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 176 – B 187, Hamburg 1956, S. 196–205. Vgl. auch ders.: Kritik der Urteilskraft, in: ders.: Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie, Werke Bd. III, hrsg. von Manfred Frank und Vèronique Zanetti, Frankfurt/M 1996. In § 59, S. 712, heißt es u.a.: »Alle Hypotypose (Darstellung, subiectio sub adspectum) als Versinnlichung ist zwiefach: entweder schematisch, da einem Begriffe, den der Verstand faßt, die korres-

6.2 Ekstasen der Elemente – Amplifikation von Aisthesis – Selbstbildung

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Begriff durch eine bildhafte Vorstellung anschaulich zu machen, versteht Goethe darunter den genau umgekehrten Vorgang, Erlebtes der sinnlichen Anschauung zu abstrahieren, um mit solcherart Zeichnungen einen evokativen Effekt beim Betrachter zu erzeugen103. Das zeichnerische Schema visualisiert demnach konkrete, sukzessiv erlebte Phänomene im Raum zu symbolischen synchronisierenden Darstellungen und fungiert als Mustererkennung. Die Zeichnung wird damit komplementär zu den schriftlichen Aufzeichnungen zur Ausdrucksform, die Teile eines Erfahrungszusammenhangs durch Wort und Bild zu einem Ganzen zu modellieren, das als dynamisch offenes Muster fungiert, also zukünftige Gestaltung und Umgestaltung provoziert. Auf zwei Variationen dieses Verfahrens während der Italienreise möchte ich kurz hinweisen, um Goethes abwechslungsreiches Spiel mit dem Muster zu verdeutlichen. Erstens: Wenn Goethe seine Reiseeindrücke vermitteln will, treibt er u.a. auch ein literarisch-fiktionales Spiel, um mit dem Wort eine fragmentarisch unvollendete Zeichnung zu simulieren, ein Muster der ersten Schweizer Reise104, das Goethe auf Sizilien für eine Erzählung der Landschaft nutzt, welche die Mittel der bildenden Kunst adaptiert – die mit Worten malt: Palermo, Dienstag den 3. April 1787 Dieses Blatt sollte nun, meine Geliebten, Euch des schönsten Genusses in sofern es möglich wäre teilhaft machen; es sollte die Schilderung der unvergleichlichen, eine große Wassermasse umfassenden Bucht überliefern. Von Osten herauf, wo ein flächeres Vorgebirg weit in die See greift, an vielen schroffen, wohlgebildeten, waldbewachsenen Felsen hin bis an die Fischerwohnungen der Vorstädte herauf, dann an der Stadt selbst her, deren äußere Häuser alle nach dem Hafen schauen, wie unsere Wohnung auch, bis zu dem Tore durch welches wir hereinkamen. Dann geht es westwärts weiter fort an den gewöhnlichen Landungsplatz, wo kleinere Schiffe anlegen, bis zu dem eigentlichen Hafen an den Molo, die Station pondierende Anschauung a priori gegeben wird; oder symbolisch, da einem Begriffe, den nur die Vernunft denken und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann, eine solche unterlegt wird, mit welcher das Verfahren der Urteilskraft demjenigen, was sie im Schematisieren beobachtet, bloß analogisch ist, d.i. mit ihm bloß der Regel dieses Verfahrens, nicht der Anschauung selbst, mithin bloß der Form der Reflexion, nicht dem Inhalte nach übereinkommt.« 103 Goethe verwendet das Wort auch in anderer Bedeutung, u.a. m Sinne von ordnen, aufräumen, sammeln, vgl. u.a. in den Tag- und Jahresheften: »Ich schematisierte die Metamorphose der Insecten, die ich seit mehreren Jahren nicht aus den Augen lies.« (FA 17: 59) 104 Vgl. dazu Kap. 5.1; auch der Kommentar FA 15/2: 1319 f. stellt diesen Zusammenhang her.

266

6 Goethes Selbstbildung im Kosmos Italien

7 Uferpartie; Rückseite: Monte Pelegrino

größerer Schiffe. Da erhebt sich nun, sämtliche Fahrzeuge zu schützen, in Westen der Monte Pelegrino in seinen schönen Formen, nachdem er ein liebliches, fruchtbares Tal, das sich bis zum jenseitigen Meer erstreckt, zwischen sich und dem eigentlichen festen Land gelassen.105

Zweitens: Insbesondere auch Goethes morphologisches Interesse an der Vegetation Italiens verdeutlicht, dass er ein Prinzip von Mustererkennung bei seinen Forschungen zu den Grundprinzipien der Pflanzenorganisation verfolgt, dem eine dynamisch offene epistemische Methodik zugrunde liegt. Neben Modifikationen und Variationen im Spektrum des Musters werden auch neue Sehweisen erprobt und Einsichten generiert. Lässt sich dieses Prinzip in seiner Funktion für Selbstbildung schon als ein wiederkehrendes Denkmuster der Reflexion während der Reise rekonstruieren106, so findet es auch seine Erprobung in Goethes botanischen Studien. Wenn er das »Geheimnis der Pflanzenzeugung und Organisation«107 erforscht, vertraut er am 17. Mai 1787 Herder an: Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu, kann man alsdann noch Pflanzen in’s Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt: die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine in105 FA 15/1: 249 f. 106 Vgl. dazu u.a. den Genussbegriff. 107 FA 15/1: 346.

6.2 Ekstasen der Elemente – Amplifikation von Aisthesis – Selbstbildung

267

8 Morphologische Zeichnung

nerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen.108

Zieht man die im Kontext dieser Überlegungen angestellten Notizen und naturwissenschaftlichen Hilfszeichnungen (Maisak) konkreter Forschung heran, kennzeichnet Goethe das Konzept der Urpflanze nicht als statischen Begriff, sondern als dynami108 FA 15/1: 346.

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6 Goethes Selbstbildung im Kosmos Italien

sches Modell, was er ausdrücklich als Hypothese bezeichnet109. Damit rückt implizit, bezogen auf Goethes morphologische Forschung, schon auf der Italienreise der Metamorphosebegriff im Zusammenhang von Bildung – Gestalt – Form/Entelechie (»innerliche Wahrheit und Notwendigkeit«) anfänglich in den Blick110. Resümiert man den Aktivierungszusammenhang von Aisthesis im Kosmos Italiens, erscheint Reisen als bedeutendes Medium für Goethes Selbstbildung. Erlebnisse, Erprobung von Betrachtungsweisen und künstlerisch-kreative Aktivität während der Reise entstammen, jenseits von gesellschaftlicher Vereinnahmung, von Nutzenorientierung, auch jenseits von anwendungsorientiertem Kompetenzerwerb, allein dem Interesse des Subjektes im Modus seines offenen Strebens. Raum und Zeit der Reise sind dabei – exemplarisch im Umkreis der Natur Siziliens von mir rekonstruiert – die Bedingung der Möglichkeit, dass sich im Transformationsgeschehen der Natur111 im Sinne des Epigenesisgedankens eine neue Geburt vollzieht: In der Begegnung mit dem Fremden erfindet sich das Subjekt neu. Verstärkt wird diese transformatorische Bildung dadurch, dass, anders als in den vertrauten Lebenszusammenhängen im Kontext Weimars, in welchen sich das Aisthesisinteresse auf bestimmte Objekte konzentriert und in deren Zusammenhang allein Fusionen erprobt, auf der Reise eine umfassende Expansion aus der Erfahrung des Teils zum erlebten sowie kreativ und epistemisch evozierten Ganzen gelingt – Partizipation des Subjekts an und in der Welt. Der Ertrag lässt sich anhand der Aneignungs- und Gestaltungsprozeduren identifizieren, für diese sei hervorgehoben:

109 Die Bedeutung von Hypothesen für wissenschaftlich orientierte Aisthesis untersuche ich in Kap. 7 im Zusammenhang von Versuchsreihen. Vgl. zu Hypothesen FA 15/2: 825 ff., wo Goethe als morphologische Notiz festhält: »Hypothese / Alles ist Blat, und durch diese Einfachheit wird die größte Manigfaltigkeit möglich.« Dieser Betrachtungsansatz wird mit Notizen und Zeichnungen festgehalten. Vgl. auch den Kommentar FA 15/2: 1340, und: Uwe Pörksen: Raumzeit. Goethes Zeitbegriff, abgelesen an seinen sprachlichen und zeichnerischen Naturstudien, Stuttgart 1999, S. 46–49. Pörksen resümiert: »Man glaubt zuzuschauen, wie Goethe den Begriff der Pflanzenmetamorphose faßt, auf eine in erstaunlichem Maße mathematisch geometrische und mechanische Weise, erkennt das Flüchtige des Entwurfs, der einen gerade in Worte gefaßten Begriff auch als anschauliches Ding festhält. Die Skizze wird zur materialisierten Hypothese, zu Denkbrücke und Anhaltspunkt« (S. 48). Wie oben schon erwähnt, heben dagegen Dorothea Kuhn (in LA II 9A, S. 520) und Wolf von Engelhardt hervor, dass es einen Paradigmenwechsel bei Goethe von einem eher statischen Modell der Urpflanze zu einem dynamischen Modell von Metamorphose gebe, und zwar am Ende der Italienreise; vgl. Wolf von Engelhart: Goethe im Gespräch mit der Erde, a.a.O., S. 169 ff. 110 Vgl. Kap. 7. 111 Die Bedeutung der Kunst für die Selbstbildung Goethes soll damit nicht geleugnet werden, wird von mir aber nicht eingehend thematisiert.

6.2 Ekstasen der Elemente – Amplifikation von Aisthesis – Selbstbildung

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• Exemplarisch die Erfahrung des Meeres, das Transformationsgeschehen in den Fusionen des Meeres, an dem das Subjekt teilnimmt und das es als neue Geburt erlebt. • Diese Geburt gestaltet sich in aktiven Verarbeitungsprozeduren des kreativ-dämonischen Komplexes: als Erzählen in korrelativen Ergänzungen, als Schematisieren im Zeichnen. Die Einsichten zur Linie als janushafter Grenze zwischen verschiedenen Komponenten sowie zur simultan synchronisierenden Symbolik kontrastieren und korrespondieren den fragmentarisch narrativen Miniaturen, welche sukzessive Erfahrungselemente fusionieren. • Mit der Geburt verbunden ist insbesondere auch ein epistemischer Sinnbezirk von Aisthesis, in welchem intuitive Erkenntnisformen u.a. durch Hypothesenbildung als modifizierbare dynamisch offene epistemische Methodik erprobt werden, die neben Varianten auch neue Sehweisen erproben. Folgt man Goethes Hinweisen in dieser Sache – »In Sizilien gefundene Identität. Nunmehr herrschende Neigung die durch alles übrige durchging«112 –, so schwebt ihm vor, diesen Ertrag für weitere Aktivierungsprozeduren zu nutzen, wie u.a. in der Italienischen Reise literarisch ausgeführt. Ihm schwebt vor, die Wort- und Bild-Komponenten nicht einfach nur an späterer Stelle erinnernd zu rekonstruieren, sondern die Teile als Basis zu nutzen, um diese je aktuell zu einem je neuen Mosaik zu komponieren. Es geht im Genaueren darum, die Erfahrung und das, was als neue Sehweise im ursprünglichen Erlebnis eingeübt wurde, unter veränderten Bedingungen (man denke an die gesellschaftliche Realität in Weimar) kreativ neu zu aktivieren. Damit zeichnet sich ein variabel offener produktiver Vollzug ab, die Präsenz eines Erfahrungszusammenhangs in der Absenz als Muster stets neu modellierend zu simulieren – mit weitreichenden Perspektiven für die Identität des Subjektes. Denn es konturieren sich mit diesem Verfahren Etappen eines fortschreitend betriebenen Gestaltungsprozesses, die Wahrheit mittels Dichtung je aktuell neu zu komponieren. Das kann als gleichbedeutend angesehen werden mit Selbstbildung narrativer Identität, die sich dergestalt in einem Gegenraum zur gesellschaftlichen Wirklichkeit konstituiert, als dass sie darin mögliche Identitätskonzepte erproben kann, deren Spielräume gegenüber der gesellschaftlichen Verfügungsgewalt dem Subjekt selbstbestimmte Optionen ermöglichen. Im ideengeschichtlichen Kontext des Geniegedankens tritt diese biographisch bedeutsame Dimension von Selbstbildung prägnant hervor. Für den Geniebegriff des jungen Goethe habe ich als wesentliche Komponenten rekonstruiert, • dass das Genie in einer ganzheitlichen Fusion aller seiner Potentiale kreativ aus sich heraus handelt; 112 In: WA I,32: 471.

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6 Goethes Selbstbildung im Kosmos Italien

• dass dabei der innere Dämon das entscheidende Energiezentrum für kreatives Aktionspotential ist; • dass die Kreativität des Genies sich aus der gleichen Quelle speist wie die Natur; • dass die Kreativität des Genies die Grenzen des Gegebenen überschreitet und ein grundsätzlich Neues schafft113. Im Vergleich zu diesem aus dem eigenen inneren kreativen Zentrum zentrifugal schaffenden »Originalgenie«114, wie es der junge Goethe denkt, verdankt sich die Kreativität auf der Reise den zentripetalen Anregungen des Kosmos Italien. Damit hat sich das Paradigma des Geniegedankens bedeutend gewandelt. Die Neuschöpfung entspringt nun nicht mehr ausschließlich den kreativen Potentialen des Dämonischen, sondern die Erfahrung der Welt hat entscheidenden Anteil an ihr, indem sie die Kraft hat, Kreativität zu entzünden. Man kann meiner Auffassung nach aus der ekstatischen Wirkung von Welt auf die Person jedoch nicht ableiten, dass Goethes Identität sich allein der Summe ihrer Erfahrungen verdanke und dergestalt eine multiple Identität115 konstituiere. Multipel sind die Anregungen des Italienischen Kosmos auf die Person. Der Integration der Erfahrungen korrespondiert jedoch, wie von mir als Lesart rekonstruiert, die Aktivität des dämonischen Zentrums der Person. Diese ist nicht einfach nur Verarbeitung, sondern eine ästhetische Formung von Erfahrung gemäß intern motivierter Prinzipien und Prozeduren, die sich einer völligen Beherrschung und Steuerung durch die Person widersetzen. Die Antwort auf die vielschichtigen Anregungen ist demnach der Versuch von Selbstbildung, aus sich heraus im Modus der kreativen Potentiale die Teile in ein »congruentes Ganze zusammenzufügen«116. In der ästhetischen Fusionsstrategien drückt sich damit einerseits die Hoffnung der Person aus, aus ihren Potentialen eine Ganzheit der Erfahrungsfragmente komponieren zu können, andererseits deuten die Fragmente selbst sowie die Folge von Realisierungsvarianten auf Grenzen der Gestaltung, auf Kontingenz – der ganzheitliche Fusionsversuch bleibt unvollendet offen117.

113 Vgl. dazu Kap. 4.2.4. 114 So Hendrik Birus: Im Gegenwärtigen Vergangenes. Die Wiederbegegnung des alten mit dem jungen Goethe (19.01.2004), in: , letzter Zugriff: 10.2.2011, S. 2 115 So Bernd Hamacher: Johann Wolfgang von Goethe. Entwürfe eines Lebens, Darmstadt 2010, S. 10. Vgl. dazu auch ausführlich Kap. 4.2.4. 116 FA 17: 238. Goethe reflektiert in diesem Kontext in den Tag- und Jahresheften im Zusammenhang seines Versuchs, eine Biographie Jakob Philipp Hackerts zu verfassen, über das Problem, das vielschichtige Ganze nicht in ein erzähltes Kontinuum fassen zu können. Vgl. dazu ausführlich Kap. 4.2.4. 117 Vgl. zu den Einsichten des alten Goethe in Bezug auf biographisches Erzählen Kap. 4.2.4.

7 D EN KMUSTE R U N D B E K E N NTN IS S E DE S B ETRAC HTERS

Das Leitmotiv anschauenden Denkens ist von mir an verschiedenen Gegenständen der Betrachtung Goethes rekonstruiert worden. Als ein Ertrag dieser Untersuchungen kann gelten, dass der innere Zusammenhang der vielfältigen Interessen Goethes in der Perspektive seiner Selbstbildung verstanden werden muss. In den folgenden von mir rekonstruierten Werkzusammenhängen nach der Italienreise, der Zeit von 1786 bis 1832, setzt sich Goethe in verschiedenen Aufsätzen, Fragmenten und Notizen mit philosophisch reflektierendem Bewusstsein mit den Möglichkeiten und Grenzen von Erkenntnis der Natur und entsprechender Methoden der Forschung auseinander, was seiner erfahrungsbasierten und praxisorientierten Betrachtungsweise einen theoretisch-kritischen Horizont verleiht, aber ohne konzeptionelle Systematik bleibt. Dabei zeigt sich insofern ein neues Verhältnis von Forschung und Selbstbildung, als Goethe explizit einen bedeutenden Bereich seiner naturkundlichen Untersuchungen und seine theoretisch methodologischen Überlegungen dazu nach einem autobiographisch motivierten Muster anordnet und in zwei Schriftreihen als Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie von 1817 bis 1824 bei Cotta verlegen lässt1. Über Optionen des damaligen naturwissenschaftlichen Diskurses und damit verbundenen Hoffnungen hinaus2 sollte nicht nur ein genealogisches, auch nicht nur ein konzeptionelles Bild seiner Einsichten und Maximen zur Morphologie gezeichnet werden. Der Sinn des Unternehmens ist offensichtlich darin zu suchen, dass Goethe die über Jahrzehnte rhapsodisch verstreuten, »disparatesten«3 Einzeldokumente zu einer narrativ modellierten Geschichte seiner Selbstbildung durch Welt und Natur komponieren wollte. In diesem Sinne sollen Maximen und Praxis der Forschung rekonstruiert werden. 1

2

3

Als solche in der Leopoldiana als LA I 8 und LA I 9 ediert, enthalten in der von mir verwendeten FA 24. Vgl. zur autobiographischen Funktion grundlegend Dorothea Kuhn: Das Prinzip der autobiographischen Form in Goethes Schriftenreihe »Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie«, in: dies.: Goethe Studien, hrsg. von Renate Grumbach, Marbach 1988, S. 51–59. Diese Optionen des naturwissenschaftlichen Diskurses stellt Wolf von Engelhardt anhand von Äußerungen Goethes heraus. Vgl. Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, a.a.O., S. 281 f. So Goethe im Brief vom 1. Juni 1817 an Johann Friedrich Rochlitz, in: FA 35: 109.

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7 Denkmuster und Bekenntnisse des Betrachters

Neben der Morphologie wären die umfangreichen Forschungen zur Farbenlehre4 und die Schriften zur Allgemeinen Naturlehre5, u.a. der Geologie und Mineralogie, ob ihrer wissenschaftlich-autobiographischen Verschränkung zu befragen. Goethes gesamte Arbeiten nach der Italienreise entstehen unter den Bedingungen eines neuen Denkens. Hatte ihm Spinozas Philosophie wesentliche ontologische sowie epistemische und methodologische Erkenntnisse vermittelt, insbesondere zum Begriff der Intuition, so setzt nach Goethes Rückkehr aus Italien sein Kantstudium ein6, neben der Freundschaft mit Friedrich Schiller sicherlich der bedeutendste Einfluss auf Goethes philosophisches und methodisches Denken in der zweiten Lebenshälfte7. Meine Rekonstruktion wird sich auf exemplarische Textzeugnisse zu Goethes Methodologie der Naturforschung, speziell seinen Überlegungen zu Epistemologie und Ontologie konzentrieren, um sie auf ihren Ertrag für Selbstbildung zu befragen. Die fachspezifischen naturwissenschaftlichen Inhalte im engeren Sinne ziehe ich gegebenenfalls als erläuternde Sequenzen in dieser Hinsicht hinzu.

4 5 6

7

FA 23/1 und FA 23/2. Enthalten in FA 25. Vgl. dazu Eckart Förster: Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion, Frankfurt/M. 22012, S. 253 ff.; sowie Jost Schieren: Anschauende Urteilskraft. Methodische und philosophische Grundlagen von Goethes naturwissenschaftlichem Erkennen, Düsseldorf und Bonn 1998, S. 29–80 zu Goethes Kantrezeption. Im Gespräch mit Eckermann vom 11. April 1827 heißt es dazu: »Kant, sagte er [Goethe; J.S.], ist der vorzüglichste [Philosoph; J.S.], ohne allen Zweifel. Er ist auch derjenige, dessen Lehre sich fortwirkend erwiesen hat und die in unsere deutsche Kultur am tiefsten eingedrungen ist. Er hat auch auf Sie gewirkt, ohne daß Sie ihn gelesen haben. […] / Haben Euer Exzellenz je zu Kant ein persönliches Verhältnis gehabt? Fragte ich. / Nein, sagte Goethe. Kant hat nie von mir Notiz genommen, wiewohl ich aus eigener Natur einen ähnlichen Weg ging als er. Meine Metamorphose der Pflanzen habe ich geschrieben, ehe ich etwas von Kant wußte, und doch ist sie ganz im Sinne seiner Lehre. Die Unterscheidung des Subjekts vom Objekt, und ferner die Ansicht, daß jedes Geschöpf um sein selbst willen existiert, und nicht etwa der Korkbaum gewachsen ist, damit wir unsere Flaschen pfropfen können: dieses hatte Kant mit mir gemein, und ich freue mich, ihm hierin zu begegnen. […] / Schiller pflegte mir immer das Studium der Kantschen Philosophie zu widerraten. Er sagte gewöhnlich, Kant könne mir nichts geben. Er selbst studierte ihn hingegen eifrig, und ich habe ihn auch studiert, und zwar nicht ohne Gewinn.« (FA 39: 243, FA 24: 1071). Vgl. u.a. auch zu Goethes philosophischen Interessen und Anregungen Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde, a.a.O., S. 167–194, und ders.: Goethes Weltansichten. Auch eine Biographie, Weimar 2007, S. 167–186, darin eine genauere Untersuchung von Goethes Lektüre der Kritik der reinen Vernunft sowie der Kritik der Urteilskraft.

7.1 Naturforschung als Medium biographischer Reflexion – das Subjekt und seine Anschauung

273

7.1 Naturforschung als Medium biographischer Reflexion – das Subjekt und seine Anschauung Das Titelblatt der Hefte zur Morphologie bietet die Essenz von Goethes programmatischem Anliegen, was er mit der Veröffentlichung seiner verstreuten Schriften zur Naturwissenschaft dokumentieren will: Hefte zur Morphologie Erster Band 1817–1822 Erfahrung, Betrachtung, Folgerung Durch Lebensereignisse verbunden Bildung und Umbildung organischer Naturen Siehe er geht vor mir über ehe ich’s gewahr werde, und verwandelt sich ehe ich’s merke. Hiob8

Das Anliegen der Morphologie Goethes wird inhaltlich präzisiert – Metamorphose im Bereich des Lebendigen (»Bildung und Umbildung organischer Naturen«) wird das zentrale Thema sein –; auf Art und Ertrag der Betrachtungen wird verwiesen (»Erfahrung, Betrachtung, Folgerung«), deren Anordnung wird durch autobiographische Zusammenhänge motiviert (»Durch Lebensereignisse verbunden«); das alttestamentarische Zitat variiert Goethes Formel des geheimnisvoll Offenbaren, mit der hier auf literarische Art epistemische und ontologische Optionen offener Ganzheit9 modelliert werden. Auf die Synchronisation der verschiedensten Arbeitsfelder – wissenschaftliche Ergebnisse und Diskursbeiträge, methodologische Konzeptionen, literarische Arbeiten, historische Untersuchungen – durch die Publikation und deren autobio8 9

Nach FA 24: 399. Vgl. meine Rekonstruktion dieses Begriffes in Kap. 4.

274

7 Denkmuster und Bekenntnisse des Betrachters

graphisch orientiertes Ordnungsmuster hat insbesondere Dorothea Kuhn hingewiesen10. Wolf von Engelhardt weist anhand von Briefen Goethes nach, dass dieser mit der Veröffentlichung zwar auch, aber nicht nur ein genealogisches Bild seiner Naturforschungen vermitteln wollte, sondern in systematischer Hinsicht die Hoffnung damit verband, dass der damals aktuelle Stand der Wissenschaft Impulse von dem Unternehmen erhalte sollte11. Goethe wollte demnach dem wissenschaftlichen Prozess also auch bestimmte Forschungsperspektiven anbieten. Mit den von Kuhn und Engelhardt vorgebrachten Aspekten erschöpft sich meiner Ansicht nach aber nicht der Sinn des Unternehmens; Goethe verband mit ihm das für ihn bedeutsame Anliegen, seine Selbstbildung in Welt und Natur zu dokumentieren, reflektieren und weiterführend zu modellieren. Ich werde demnach zeigen, dass es Goethe bei seinen naturwissenschaftlichen Schriften nicht allein um Sicherung, Dokumentation sowie um ein Diskursangebot geht, sondern dass die Schriften selbst immer auch als neue Entwürfe reflektierter Selbstbildung zu verstehen sind. Diesen Sachverhalt werde ich im Folgenden anhand des Aufsatzes Das Unternehmen wird entschuldigt von 180712 und an einer Notiz von 18. September 181913 sowie ergänzenden Materialien rekonstruieren. In dem ersten Aufsatz der Morphologischen Hefte, Das Unternehmen wird entschuldigt, zeichnet sich als Sinn der Veröffentlichung ab, die über Jahrzehnte verstreuten Einzeldokumente seines Forschens als eine narrativ modellierte Geschichte seiner Selbstbildung zu veröffentlichen, um Rechenschaft, Bekenntnis und Position zu markieren. Goethes Arbeiten zur Naturforschung zielen nicht primär auf Resultate, die auch nach seinem Verständnis immer nur vorläufigen Charakter haben können, sondern sind vielmehr Medium seiner Selbstbildung – über diese reflektiert Goethe rekonstruktiv in methodologisch-epistemischer Perspektive und differenziert drei Themenkreise: die Stellung des Menschen in der Welt, Formen des Wissens sowie den biographischen Anlass, Beiträge zum wissenschaftlichen Diskurs zu geben.

10 Vgl. dazu die Herausgeberin von LA I 8, LA I 9 sowie der von mir verwendeten FA 24 Dorothea Kuhn: Das Prinzip der autobiographischen Form in Goethes Schriftenreihe »Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie«, in: dies.: Goethe-Studien, hrsg. von Renate Grumbach, Marbach 1988, S. 51–59. 11 Vgl. Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, a.a.O., S. 281f. 12 FA 24: 389 f. Der Aufsatz von 1807 ist in FA 24 historisch chronologisch enthalten, also nicht im Anschluss an den Titel der Morphologischen Hefte auf S. 399. 13 LA II 8a: 145 f. M 110, hier zitiert nach Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde, a.a.O., S. 295.

7.1 Naturforschung als Medium biographischer Reflexion – das Subjekt und seine Anschauung

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Die Stellung des Menschen in der Welt ist durch das Verhältnis von Subjekt und Objekt markiert. Goethe argumentiert psychologisch, nicht phänomenologisch14, und betont in der ersten Textsequenz, dass das Subjekt zunächst aus einem inneren »ungeheuern Trieb« aktiv wird, erkennend die »Gegenstände sich zu unterwerfen«15, und betont damit die in letzter Hinsicht nicht rational zu fassende, aber grundsätzliche erkenntnisorientierte Disposition des Menschen, die signifikante Kennzeichen des Dämonischen aufweist16, und die Motivation zu Bildung als aktiver Bewegung in die Welt. Der erkennende Mensch erscheint durch diese zentrifugale Bewegung in seinem Erkenntnisstreben und Forscherdrang und kann, wie Goethe betont, in Form eines konstruktiv bestimmenden Wissens in ein Wechselspiel mit den zentripetalen ekstatischen Wirkungen der Dinge (Böhme) treten. Was zunächst ganz im Sinne Kants als interpretatorisch-konstruktivistische Leistung des Subjekts erscheint, geht offensichtlich über Kants Grenzziehung hinaus. Dadurch eröffnet sich die Perspektive zu einer zweifachen Expansion: Kaum überzeugt er sich von diesem wechselseitigen Einfluß, so wird er ein doppelt Unendliches gewahr, an den Gegenständen die Mannigfaltigkeit des Seins und Werdens und der sich lebendig durchkreuzenden Verhältnisse, an sich selbst aber die Möglichkeit einer unendlichen Ausbildung, indem er seine Empfänglichkeit sowohl als sein Urteil immer zu neuen Formen des Aufnehmens und Gegenwirkens geschickt macht.17 14

Diese psychologische Argumentation zum Verhältnis von Subjekt und Objekt muss von der erkenntnistheoretisch phänomenologischen Sicht unterschieden werden, die eine ontologische Verortung anderer Art ermöglicht. In dieser Hinsicht gilt für Goethe: »In der ganzen sinnlichen Welt kommt alles überhaupt auf das Verhältnis der Gegenstände untereinander an, vorzüglich aber auf das Verhältnis des bedeutendsten irdischen Gegenstandes, des Menschen, zu den übrigen. Hierdurch trennt sich die Welt in zwei Teile, und der Mensch stellt sich als ein Subjekt dem Objekt entgegen. Hier ist es, wo sich der Praktiker in der Erfahrung, der Denker in der Spekulation abmüdet und einen Kampf zu bestehen aufgefordert ist, der durch keinen Frieden und durch keine Entscheidung geschlossen werden kann.« (Zur Farbenlehre, Didaktischer Teil, § 181, in: FA 23/1: 83) Die Subjekt-Objekt-Relation ist damit als eine Differenzierung der Reflexion über Erkenntnis gekennzeichnet; phänomenologisch hat man es mit Phänomenen in einem atmosphärischen Zusammenhang permanenter Wandlung zu tun. Vgl. dazu das folgende Kapitel, in welchem gezeigt wird, dass Goethe, indem er die Wahrnehmungsmodelle von Realismus/Empirismus und Rationalismus/Idealismus hinter sich lässt, mit Aisthesis eine Phänomenologie praktiziert, welche über die Wahrnehmung ein produktives partizipatorisches Verhältnis zur Welt schafft. 15 FA 24: 389. 16 Vgl. dazu Kap. 1 die Vorüberlegungen und Kap. 4. 17 FA 24: 389.

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7 Denkmuster und Bekenntnisse des Betrachters

Dem Erkennen von Vielfalt, Wechselwirkung und Bildung der Objekte der Welt korrespondiert auf Seiten des Subjekts die Kultivierung von sinnlicher Erfahrung und Denkerfahrung. Wie schon in den Aufzeichnungen der Italienreise bezeichnet Goethe den Ertrag einer solchen Bildungsbewegung als »hohen Genuß« und als »Glück des Lebens«, das Ganze ziele auf »Vollendung«18, aber es sei ein prinzipiell offener Prozess von Welterkenntnis und Selbstbildung, denn es gebe entgegenwirkende Antagonismen – Unzulänglichkeiten in der Person und Widerständigkeit der Welt. Diese Bedingungen geben der optimistischen Prognose ein konkretes Ziel: »[M]an begnügt sich in seinem Maß mit dem Erworbenen«19. Man mag hier eventuell auch einen gewissen Pessimismus Goethes erkennen können, argumentativ zielt diese erste Entschuldigung des Unternehmens jedoch offensichtlich darauf, die Bedeutung der Forschungsarbeiten als Medium der Selbstbildung in erkenntniskritischer Absicht in den Vordergrund zu rücken. Einerseits wird der Ertrag der Forschung in nicht unerheblicher Weise von den Möglichkeiten der Person bestimmt, andererseits gestaltet sich diese im Medium ihrer Forschungen. Was unter den Bedingungen einer bestimmten Betrachtungsart als Ertrag erscheint, ist demnach von Entstehungsbedingungen perspektiviert und in deren Lichte zu verstehen, basiert also nicht unbedingt und ausschließlich auf ursprünglicher, systematischer Konzeption, sondern generiert sich vielmehr in einem situativen Spektrum von Möglichkeiten, die einen Ertrag als solchen erscheinen lassen. Bei zentrifugal-zentripetaler Wechselwirkung wird das Erworbene nicht als abschließendes Resultat verstanden, sondern vielmehr als bestimmter Ertrag zu einem bestimmten Zeitpunkt. Die Betrachtungsweise und ihre Bedeutung für einen bestimmten Ertrag können auch ein bezeichnendes Licht auf die Basis des Unternehmens – Selbstbildung – werfen. Goethe differenziert zwei Formen des Wissens, um mit diesen zwei gegensätzliche methodologische Forschungsansätze zu kennzeichnen; er führt damit implizit die an Kant orientierte Argumentation fort. Während der Realismus von sinnlicher Erfahrung ausgeht, nur empirische Fakten gelten lassen mag und damit in der Gefahr steht, sich ohne Orientierung im »Labyrinth«20 der Empirie zu verlieren, begründet der Rationalismus begriffliche Ordnungsmuster, neigt dabei aber zu einer Exklusivität abstrakter Allgemeinheit, welche das konkrete Einzelne nicht erreicht. Goethe sieht den wissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit durch diese zwei konkurrierenden Forschungsansätze bestimmt. Seine Stellung in dieser Konstellation bleibt im Rahmen des Aufsatzes unbestimmt. Er legt sich nicht auf eine der beiden Seiten fest, sondern entschuldigt an dieser Stelle mit dieser Differenzierung, dass er seine 18 Ebd. 19 Ebd. 20 FA 24: 390.

7.1 Naturforschung als Medium biographischer Reflexion – das Subjekt und seine Anschauung

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Beiträge bisher nicht in einen unversöhnlich anmutenden Streit unterschiedlicher Forschungsansätze eingebracht hat21. Aus der vergleichenden Reflexion über Theoriekonstruktionen kann man aber schließen, dass es Goethe bei seinen Forschungen nicht in erster Linie um Teilhabe an einem Diskurs als vielmehr um die o.g. erfahrungsbasierte Wechselwirkung von Subjekt und Objekt, von Welt und Ich ging. Welche besondere Art von Betrachtungsweise er einsetzt, ist von mir bisher u.a. im Sinnbezirk anschauender Begriffe rekonstruiert worden22. Bei seinen Forschungsarbeiten ließ er sich vom Interesse an der Sache leiten, nicht von Diskursgegebenheiten, und er markiert seine Selbstbildung, indem er diese am Rand des Diskurses verortet, den er als perspektivische Referenz nutzt23. Aus den verstreuten Hinweisen zu diesem Grundanliegen greife ich seinen »Vorschlag zur Güte« von 1817 heraus; ein jeder solle sich fragen: »[W]as leistet du denn eigentlich an deiner Stelle und wozu bist du berufen?«24 Ertragserwartung und teleologische Zielsetzung verweisen auf den Begriff des Individuums der Bildungsphilosophie des 18. Jahrhunderts als Folie25; es sind unschwer die maßgeblichen Konstituenten einer Bestimmung des Individuums und seiner Entwicklung in den kontextuellen Bedingungen als Begründungszusammenhang der Forderung Goethes zu erkennen.

21 Zu Goethes praktischem Umgang mit unterschiedlichen und gegensätzlichen Forschungsansätzen und Methoden vgl. das folgende Kapitel. Vgl. auch Goethes Beitrag und Bewertung einer wissenschaftlichen Kontroverse seiner Zeit in FA 24: 810–842: »Principes de Philosophie Zoologique discutés en Mars 1830 au sein de l’Académie Royal des Sciences par Mr. Geoffroy de Saint-Hilaire«. 22 Vgl. dazu das Kap. 5, insbesondere V.2. 23 Was nicht heißt, dass Goethe die fachwissenschaftliche Diskussion ignoriert oder diese für ihn keine Bedeutung gehabt hätte. Wie in Kap. 5 gezeigt und wie sich u.a. auch an der Farbenlehre zeigen ließe (Abgrenzung zur Licht- und Farbentheorie Newtons), bezieht sich Goethe auf fachwissenschaftliche Referenztheorien und erhofft sich durchaus auch Anerkennung. Dennoch verfolgt er durchgängig im Sinne seiner Selbstbildung die von ihm eingeschlagenen Wege der Forschung. Dabei orientiert er sich an Denkmustern, die diese fördern, und grenzt sich von anderen ab. Vgl. u.a. sein diesbezügliches Selbstverständnis im Brief vom 17. Oktober 1796 an Jacobi: »[E]s bringt mir großen Vorteil daß ich mit den andern Arten zu denken etwas bekannter geworden bin, die ich, ob sie gleich nicht die meinigen werden können, dennoch als Supplement meiner Einseitigkeit zum praktischen Gebrauch äußerst bedarf.« (FA 31: 253) In Bedeutendes Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort heißt es abgrenzend: »Widersacher kommen nicht in Betracht, denn mein Dasein ist ihnen verhaßt, sie verwerfen die Zwecke nach welchen mein Tun gerichtet ist, und die Mittel dazu achten sie für eben soviel falsches Bestreben. Ich weise sie daher ab und ignoriere sie, denn sie können mich nicht fördern, und das ists, worauf im Leben alles ankommt« (FA 24: 596). 24 FA 25: 41. 25 Vgl. zu meiner Rekonstruktion Kap. 3.

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7 Denkmuster und Bekenntnisse des Betrachters

Dass Goethe nun (d.h. 1807) dennoch seine »Ansichten der Natur« dem »Ozean der Meinungen«26 überlässt, hat einen aktuellen biographischen Anlass, der die Unternehmung in einem besonderen Licht erscheinen lässt. Goethe spricht von den »erstvergangenen Stunden der Gefahr«27 und deutet damit an, dass die Plünderung Weimars nach der Schlacht bei Jena am 14. Oktober 1806 ihn in biographisch bedeutsamer Weise Vergänglichkeit als die Schattenseite seiner Bildungsbewegung vor Augen geführt hat28. Mit dem neuen Jahrhundert war das Thema Dauer im Wechsel29 zusehends ein Motiv biographischer Reflexion geworden. Am 18. Dezember 1803 starb Herder, Schiller am 9. Mai 1805. Mit der Krönung Napoleons 1804 brach eine Zeit der Kriege an, im August 1806 löste sich das Heilige Römische Reich Deutscher Nation auf. Die Verluste in persönlicher Freundschaft wie die Umwälzungen auf der historisch-politischen Bühne bilden den Hintergrund einer sich verstärkt aufdrängenden Frage, was als Linie des Lebens bleibt. Goethe ging es bei der Beantwortung dieser Frage sicherlich nicht um eine gültige oder gar endgültige Bilanz seiner wissenschaftlichen Arbeit, wohl aber vordergründig u.a. um ein genealogisches und konzeptionelles Bild – er spricht von »fragmentarische[r] Sammlung«30 – seiner Einsichten und Maximen zur Naturforschung. Unter dieser Bedingung ist der Sinn des Unternehmens offensichtlich darin zu suchen, dass Goethe die über Jahrzehnte rhapsodisch verstreuten »disparatesten«31 Einzeldokumente zu einer narrativ modellierten Geschichte seiner Selbstbildung komponieren wollte. Über eine bloße Sammlung hinaus geht es also um eine orientierende Gestaltung der Spuren des Lebens. Das Besondere einer solchen autobiographischen Rekonstruktion ist darin zu suchen, dass die Forschungsarbeiten nicht nur rekonstruiert und gesichert, dass die verstreuten Stationen zurückblickend nicht allein zu einer Lebenslinie verbunden werden, sondern dass durch diese Verbindung eine Gestalt des Lebens in aktueller Bedeutung für Selbstbildung möglich wird. Denn von einem solchen autobiographischen Bild aus lassen sich die Lebensepisoden als Teile einer Ganzheit mo26 FA 24: 390. 27 Ebd. 28 Im Tagebuch vermerkt Goethe unter dem 14. Oktober 1806 u.a.: »Abends um 5 Uhr flogen die Kanonenkugeln durch die Dächer. Um ½ 6 Einzug der Chasseurs. 7 Uhr Brand, Plünderung, schreckliche Nacht. Erhaltung unseres Hauses durch Standhaftigkeit und Glück.« In: FA 33: 128; vgl. auch den Kommentar S. 851 f., wonach durch Zeugnis von Riemer und Loder die Standhaftigkeit besonders Christiane Vulpius’ beherztem Eingreifen zu verdanken ist. Am 19. Oktober heiratet Goethe seine langjährige Lebensgefährtin. 29 So der Titel eines Gedichtes von 1803, in: FA 2: 78 und 493. 30 FA 24: 390. 31 So Goethe im Brief vom 1. Juni 1817 an Johann Friedrich Rochlitz, in: FA 35: 109. Goethe entwirft in diesem Brief ein entsprechendes Denkmuster biographischer Komposition.

7.1 Naturforschung als Medium biographischer Reflexion – das Subjekt und seine Anschauung

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dellieren, weil das Bild erst eine Idee gibt, von der aus ein innerer Zusammenhang der Teile in ihrer Bedeutung für das Ganze konstruiert werden kann. Ein Ertrag der Aktivierungsprozedur wäre also, die Forschungsarbeiten in der aktuellen Lage als ein Muster zu modellieren, das Entwicklungslinien selbstkomponierter Identität bereit stellt, welche den Erfahrungen der Vergangenheit eine Gestalt verleihen und sie in diesem Sinne vor Vergänglichkeit bewahren: Selbstbildung durch gegen Vergänglichkeit widerständige narrative Identität. Die drei zentralen Themenkreise der Entschuldigung betreffen also • die Bedeutung der Betrachtungsweise für den Forschungsertrag; • Realismus und Idealismus als fundamental gegensätzliche Ansätze des Erkennens und Forschens; • biographische Anlässe für Selbstbildung und für narrativ komponierte Identität. Eine Notiz vom 18. September 1819, also im zeitlichen Kontext der Veröffentlichung der Hefte zur Morphologie, dokumentiert weitere Varianten und Perspektiven der Fusion und wechselseitigen Bedeutung von Forschungsinteresse und Selbstbildung bei Goethe: Eines verjährten Neptunisten Schlußbekänntniß Abschied von der Geologie Fichtel und Voigt. Horatius Cocles. Zwanzig Jahre mit meinen Augen. Nord Amerikaner glücklich keine Basalte zu haben Keine Ahnen und keinen klassischen Boden.32 Der Wortlaut der Notiz erscheint für sich genommen rätselhaft kryptisch und ist als elliptisch gehaltene persönliche Notiz Goethes zu verstehen. Unter dem Eindruck einer aktuell virulenten Neptunismus-Plutonismus-Kontroverse, bei der sich Goethe zusehends isoliert erleben muss, erforscht er im September 1819 zum wiederholten Male die geologischen Gegebenheiten in Böhmen, speziell um Karlsbad33. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Notiz einer historisch-kritischen Reflexion dient und als solche rekonstruiert werden muss; sie trägt deutlich resignativere Züge im Verhältnis zum Aufsatz Das Unternehmen wird entschuldigt von 1807. 32 LA II 8a:145 f. Hier zitiert nach Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde, a.a.O., S. 295. 33 Vgl. dazu Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde, a.a.O., S. 288–295.

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7 Denkmuster und Bekenntnisse des Betrachters

Im Kontext des Entstehungszusammenhangs lassen sich zunächst drei Sinnbezirke ausmachen. Goethe konstatiert als erstes das Unzeitgemäße der Position des Neptunismus (»Eines / verjährten Neptunisten«) als vormoderne Theoriekonzeption. »Schlußbekännntiß« und »Abschied von der Geologie« sind in dieser Hinsicht als persönliche Standortbestimmung zu verstehen. In einem zweiten Sinnbezirk werden zunächst »Fichtel und Voigt« exemplarisch als Vertreter der plutonistischen oder vulkanistischen Theorie genannt, welche den geologischen Diskurs paradigmatisch beherrscht. Die historische Reminiszenz unterstreicht die Defensive neptunistischer Theorie34. Aisthesis und die Erfahrung mit dieser eigenen Betrachtungsart werden als weiteres Gedankenfragment parataktisch gesetzt. Resignative Tendenz hat die abschließende Reflexion über die komplexen Weltverhältnisse; Erkenntnisse ermöglichen nicht so sehr Orientierung, sondern erzeugen vielmehr einen Streit der Meinungen, und in diesem Sinne ist Nordamerika glücklich, weil es keinen prägenden Ursprung, keine verpflichtende Geschichte und – noch – keine widerstreitenden Erklärungsmodelle kennt35. Wolf von Engelhardt interpretiert die Notiz als ein »quasi-religiöses Bekänntniß«, mit dem Goethe auf »fast verlorenem Posten« sich dem Diskurs empirischer Forschung entziehe36. Auch wenn Engelhardt Letzteres modifiziert37, qualifiziert er an dieser Stelle Goethes Betrachtungsweise mit dem Diktum des Quasireligiösen und der fehlenden empirischen Basierung als pseudowissenschaftlich ab: Für mich der Anlass, Goethes Bekenntnisse und ihren Hintergrund genauer zu rekonstruieren. Im Rahmen seiner Farbenlehre reflektiert Goethe über die Beweiskraft von Versuchen und Experimenten in methodenkritischer Absicht und kommt zu der Auffassung, daß sich durch Erfahrung und Versuche eigentlich nichts beweisen läßt. Die Phänomene lassen sich sehr genau beobachten, die Versuche lassen sich reinlich anstellen, man kann Erfahrungen und Versuche in einer gewissen Ordnung aufführen, man kann eine Erscheinung aus der andern ableiten, man kann einen gewissen Kreis des Wissens darstellen, man kann seine Anschauungen zur Gewißheit und Vollständigkeit erheben, und das, dächte ich, wäre schon genug. Folgerungen hin34 Goethe spielt auf eine Episode der römischen Geschichte an. Nach Livius verteidigte Horatius Cocles eine Brücke über den Tiber, bis die Römer diese abgerissen hatten, und wehrte damit einen Angriff der Etrusker ab (nach Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde, a.a.O., S. 295). 35 Ein sehr holzschnittartiges undifferenziertes Statement zu Amerika, das allenfalls durch seine elegische Funktion im Kontext der Notiz zu entschuldigen ist. 36 Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde, a.a.O., S. 295. 37 Vgl. ebd., S. 296 ff.

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gegen zieht jeder für sich daraus; beweisen läßt sich nichts dadurch, besonders keine Ibilitäten und Keiten. Alles, was Meinungen über die Dinge sind, gehört dem Individuum an, und wir wissen nur zu sehr, daß die Überzeugung nicht von der Einsicht, sondern vom Willen abhängt; daß niemand etwas begreift, als was ihm gemäß ist und was er deswegen zugeben mag.38

Diese Methodenkritik differenziert Beobachtung der Phänomenzusammenhänge, Fakten und Realien von Urteil/Folgerung des Betrachters. Bemerkenswert ist zunächst, dass Goethe verneint, dass Theoriekonzeptionen durch Versuche bewiesen werden können; Versuche zeigen vielmehr (»man kann einen gewissen Kreis des Wissens darstellen«) einen Sachverhalt39. Damit variiert und präzisiert Goethe seinen Gedanken zur Bedeutung der Betrachtungsart für den Forschungsertrag aus Das Unternehmen wird entschuldigt. Nach dieser Auffassung haben nicht nur Bekenntnisse mit ihrer persönlichen Bedeutung, sondern auch wissenschaftliche Paradigmen ihren Ursprung in der Person des Betrachters. In diesem bündeln sich alle Erfahrungen und alles Können auf einem Gebiet; dessen Erkenntnismuster können einem Gegenstandsbereich mehr oder weniger angemessen sein – Goethe ist sich des von Erkenntnishorizont, Erkenntnisinteresse und Erkenntnismethode bestimmten Resultats wissenschaftlicher Forschung, das über die Fakten hinausgeht, bewusst (»daß die Überzeugung nicht von der Einsicht, sondern vom Willen abhängt«), sieht im Kontext seiner Methodenreflexionen zur Farbenlehre darin aber nicht unbedingt einen Mangel, sondern bestimmte Chancen: Denn das bloße Anblicken einer Sache kann uns nicht fördern. Jedes Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren. Dies aber mit Bewußtsein, mit Selbsterkenntnis, mit Freiheit, mit Ironie...40

Wie schon im vorherigen Zitat, rückt Goethe Theoriebildung eng an die Betrachtung eines Sachverhalts, was verständlich macht, warum Theoriekonzeption nicht aus Beobachtungen und entsprechenden Versuchen bewiesen werden können und in 38

Zur Farbenlehre, in: FA 23/1: 308, § 30. Entsprechend fährt Goethe in § 31 fort: »Wir bilden uns also keineswegs ein, zu beweisen, daß Newton unrecht habe« (FA 23/1: 308). 39 Vgl. zum Zeigen gegenüber dem Beweisen Michael Mandelartz: Goethe, Newton und die Wissenschaftstheorie. Zur Wissenschaftskritik und zur Methodologie der Farben­lehre, in: , letzter Zugriff: 1.9.2011, S. 32 f. 40 Vorwort zur Farbenlehre, in: FA 23/1: 14.

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7 Denkmuster und Bekenntnisse des Betrachters

ihrer Genese in der Person des Forschers zu verorten sind. Auf der bemerkenswerten Skala erkennender Auseinandersetzung mit einer Sache41 betont Goethe die Bedingungen bildender, umbildender Erfahrung, welche sich nur in Zusammenhang und Fusion von sinnlicher Anschauung und Denken in der Partizipation des Subjekts an der Welt vollzieht. Der letzte Satz zeigt Methodenbewusstsein, Selbstreflexion, perspektivische Souveränität (»Freiheit«) und besonders auch Differenzbewusstsein (»Ironie«) – ein verdeckter Hinweis darauf, dass Goethe Erkenntnisgrenzen anders interpretieren und nutzen wird als Kant42. Goethe variiert an dieser Stelle aber auch das schon bekannte Denkmuster einer prinzipiellen Kluft zwischen Idee und Erfahrung43 im Sinnbezirk der Relation von Empirie und Theoriekonstruktion. Er ist sich der Genese von Theoriekonstruktionen in erkenntniskritischer Weise bewusst; für diese gilt: Die Bedingungen und Modalitäten einer Betrachtungsweise perspektivieren das Resultat. Der Begründungszusammenhang muss im Lichte der Bedingungen und Genese als schlüssig rekonstruiert und beurteilt werden44. Goethe spielt meiner Auffassung nach damit auch darauf an, dass für ihn Forschung ein perspektivisch offener Prozess ist (»Freiheit«), dem keine determinierenden, sachlich zwingenden Notwendigkeiten zugrunde liegen, sondern der von den Forschern selbst und dem Diskurs bestimmt wird. Unter diesen Vorzeichen in Goethes Notiz ein »quasi-religiöses Bekänntniß« im Sinne Engelhardts zu sehen, halte ich für wenig überzeugend, man muss Goethe in jedem Fall ein erkenntniskritisches Bewusstsein zugestehen, das seinen Standort im Diskurs genau markiert. Während die Notiz aber deutlich resignative Züge trägt, spricht aus dem letztgenannten Zitat eine produktive Dynamik. Goethe betont nicht allein mit der Skala der Auseinandersetzung implizit die Bedeutung der Person des Forschers für die Forschungspraxis, sondern stellt explizit insbesondere die Freiheit des forschenden Zugriffs und den Ertrag von Forschung für die Person des Forschers (»fördern« und »Selbsterkenntnis«) heraus. So lässt sich im Duktus dieser Methodenreflexion auch Goethes Bildungsimpetus erkennen. Nach meiner Lesart 41

Auf welche im folgenden Kapitel unter Einbeziehung der rekonstruierten Betrachtungsart von Aisthesis genauer einzugehen sein wird. 42 Auf einem Notizzettel notierte sich Goethe: »Kant beschränkt sich mit Vorsatz in einem gewissen Kreis / und deutet ironisch immer darüber hinaus.« (Zitiert nach FA 24: 1074.) Vgl. Anschauende Urteilskraft in FA 24: 447. Vgl. auch dazu die folgenden Kapitel, sowie in Kap. 5 die Rekonstruktion der Forschungsmethodik im Kontext der geologischen Forschungen Goethes. 43 Vgl. dazu schon in Kap. 5. 44 Vgl. dazu das folgende Kapitel, besonders zu »Bedeutendes Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort« (FA 24: 595–599).

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hebt Goethe mit seinen Überlegungen das Positive von Theoriekonstruktion auch für die Selbstbildung des Forschers hervor, der sich, sein Verständnis und sein Verhältnis zur Welt erkennend modelliert. Das Problematische einer jeden Theorie als Aussage über Dinge und Sachverhalte wird noch zu bedenken sein45. Die von Goethe in seiner Erkenntnispraxis entwickelte Betrachtungsart, welche eben nicht im Sinne Engelhardts religiöser Natur ist, wohl aber sich vom zeitgenössischen methodischen Paradigma unterscheidet, soll an dieser Stelle durch eine Sequenz aus einem Brief Goethes vom 25. November 1807 an Karl Caesar von Leonhard in ihrer spezifischen Eigenart hervorgehoben werden. Goethe führt dazu u.a. aus: [D]aß meine Art, die Gegenstände der Natur anzusehen und zu behandeln, von dem Ganzen zu dem Einzelnen, vom Totaleindruck zur Beobachtung der Teile fortschreitet, und daß ich mir dabei recht wohl bewußt bin, wie diese Art der Naturforschung, so gut als die entgegengesetzte, gewissen Eigenheiten, ja wohl gar gewissen Vorurteilen unterworfen sei. […] Gewiß würde man, nach meiner Überzeugung, über Gegenstände des Wissens, ihre Ableitung und Erklärung viel weniger streiten, wenn jeder vor allen Dingen sich selbst kennte und wüßte zu welcher Partei er gehöre, was für eine Denkweise seiner Natur am angemessensten sei. Wir würden alsdann die Maximen die uns beherrschen ganz unbewunden aussprechen und […] nicht zu vereinigende Vorstellungsarten recht deutlich aussprechen...46

Goethe kennzeichnet sein morphologisches Denken, wobei es ihm an dieser Stelle in der Relation von Teil und Ganzem nicht so sehr auf die Erkenntnis gegenseitiger Wechselwirkungen, als vielmehr auf die prinzipielle Betrachtungsperspektive ankommt. Wenn er betont, vom Ganzen zu den Teilen fortzuschreiten, impliziert dieser Betrachtungsansatz für das Betrachtete, dass das Einzelne, das Phänomen immer in einem nicht nur theoretisch-konstruktiv oder hypothetisch gedachten, sondern tatsächlichen, lebendigen, aufeinander bezogenen Wirkungszusammenhang steht und erkannt werden kann47. Die Art der Goethe’schen Betrachtung hat Friedrich Schiller wohl als erster in seinem Brief vom 23. August 1794 als anschaulich und intuitiv bezeichnet: 45

Vgl. dazu die notwendige Differenzierung im nächsten Kapitel bei der Rekonstruktion von »Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt«. 46 An Herrn von Leonhard, in: FA 25: 363 f. 47 Wie diese ontologische Annahme durch entsprechende Erkenntnispraxis eingelöst werden kann, rekonstruiere ich im anschließenden Kapitel.

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7 Denkmuster und Bekenntnisse des Betrachters

Ihr beobachtender Blick, der so still und rein auf den Dingen ruht, setzt Sie nie in Gefahr, auf den Abweg zu geraten, in den sowohl die Spekulation als die willkürliche und bloß sich selbst gehorchende Einbildungskraft sich so leicht verirrt. In Ihrer richtigen Intuition liegt alles und weit vollständiger, was die Analysis mühsam sucht [...]. Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um über das Einzelne Licht zu bekommen, in der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen Sie den Erklärungsgrund für das Individuum auf.48

Schiller markiert mit seiner Charakteristik auch die von Goethe angedeutete, seiner eigenen entgegengesetzten Erkenntnisart49. Indem er diese Besonderheit hervorhebt, blendet er freilich aus, ähnlich wie auch Goethe in o.g. Brief, dass Goethe sein intuitives Erkennen sehr wohl durch Prinzipien und Verfahren des diskursiven Verstandes ergänzt, dass Goethe nicht nur in der Forschungspraxis nach beiden Erkenntnisarten verfährt, sondern auch kritisch darüber reflektiert50. In seinem Vergleich unterschlägt Schiller gerade dieses produktive Potential multiperspektivischer Betrachtung und Amplifikation des Goethe’schen Denkens, was aus dem kontextuellen Bedingungsgefüge des Briefes zu verstehen ist51, aber nicht als das letzte Wort in dieser Sache gelten darf. Ähnliches gilt für Denkmuster, die Schiller spekulativ nennt. Goethe spricht bspw. in dem o.g. Brief an Leonhard von »nicht zu vereinigende[n] Vorstellungsarten«, denkt also im Sinne Kants erkenntniskritisch, indem er Theorie an dieser Stelle als Theoriekonstruktion (von ihm als »Vorstellungsarten« bezeichnet)52 und damit Theorie als Interpretation von Sachverhalten versteht. Man kann Goethe in dieser Hinsicht nicht Naivität oder religiös motivierte Haltung unterstellen. Meine Sichtung der herangezogenen Dokumente führt zu der Einschätzung, dass sich Goethe mit seinen Überlegungen weder dem wissenschaftlichen Diskurs entzieht, noch dass er ihn ablehnt53 oder dass er sich gegen Kritik immunisieren will. Man kann aus seinen Überlegungen vielmehr entnehmen, dass Goethe offensicht48 MA 8.1: 13. 49 Vgl. dazu die beiden folgenden Kapitel. Dort wird rekonstruiert, in welchem Bezug Goethe diskursive und intuitive Urteilskraft im Anschluss an Kant versteht, praktisch einsetzt und dabei u.a. die induktive Methodik kritisch einschätzt. Unter »Spekulation« versteht Schiller theoretisch-konstruktive Ansätze des diskursiven Verstandes im Sinne Kants. 50 Vgl. zur Forschungspraxis und Reflexion vor der Italienreise Kap. 5. 51 Vgl. zu der entscheidenden Begegnung beider und dem Beginn der Freundschaft Rüdiger Safranski: Goethe und Schiller. Geschichte einer Freundschaft, München 2009 sowie Jörg Soetebeer: Selbsttätige Bildungskraft heute, Stuttgart 2010. 52 So auch Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde, a.a.O., S. 245. 53 So Wolf von Engelhardt, ebd.

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lich dafür plädiert, einen Pluralismus von Theoriekonstruktionen zu akzeptieren und durchaus produktiv für den Forschungsfortschritt zu nutzen, diesen aber nicht in einen unfruchtbaren Streit der Meinungen enden zu lassen54. Dass Goethe im Bewusstsein inkommensurabler Vorstellungsarten dennoch überzeugt davon ist, mit seiner intuitiven Betrachtungsart sachbezogen und gegenstandsspezifisch erkennen und wahre Resultate generieren zu können, hängt mit seiner Überzeugung zusammen, dass Natur und menschlicher Geist nach einem gemeinsamen Muster konstituiert sind. U.a. zum Geniegedanken und im Kontext von Goethes Spinozalektüre ist dieses Muster von mir rekonstruiert worden55. Exemplarisch sei für diese Überzeugung hier im Kontext der Naturforschung und Philosophie aus dem kleinen Aufsatz Reine Begriffe von Ende April 1792 zitiert: Denn da die einfacheren Kräfte der Natur sich oft unsern Sinnen verbergen, so müssen wir sie freilich durch die Kräfte unseres Geistes zu erreichen suchen und ihre Natur in uns darstellen, da wir sie außer uns nicht erblicken können. Und wenn wir dabei recht zu Werke gehen, so können wir zuletzt wohl sagen, daß, so wie unser Auge mit den sichtbaren Gegenständen, unsre Ohren mit den schwingenden Bewegungen erschütterter Körper völlig harmonisch gebaut sind, daß auch unser Geist mit den tiefer liegenden einfachern Kräften der Natur in Harmonie steht und sich solche ebenso rein vorstellen kann, als in einem klaren Auge sich die Gegenstände der sichtbaren Welt abbilden.56

Goethe behauptet Korrespondenzen von natura naturata und sinnlicher Erfahrung sowie von natura naturans und Urteilskraft. In den Tag- und Jahresheften von 1812 spricht Goethe dementsprechend im Kontext der Spinozakontroverse von seiner »reinen tiefen angeborenen und geübten Anschauungsweise, die [ihn] Gott in der Natur, die Natur in Gott zu sehen unverbrüchlich gelehrt [habe], so daß diese Vorstellungsart

54

Im folgenden Kapitel wird Goethes dialektische Methode, mit unterschiedlichen Hypothesen zu arbeiten, rekonstruiert. Vgl. dazu u.a. auch Goethes Haltung zum Neptunismus-Vulkanismus-Streit und zum Akademiestreit. 55 Vgl. zu diesem Denkmuster und seinen Varianten Kap. 4, 5 und 6. 56 FA 23/2: 69. Im Kommentar heißt es dazu: »Der kurze Text läßt einige von Goethes Grundüberzeugungen anklingen, […] Mensch und Natur stehen in Harmonie zueinander, der menschliche Geist kann das Wirken der Natur nachvollziehen, nicht indem er Reize aus der Umwelt aufnimmt und auswertet, sondern indem er den äußeren Gegenständen ein gleichstrukturiertes Inneres, das Resonanz bietet, entgegensetzt und in einer Wechselbeziehung Erkenntnis erlangt.« (Ebd., S. 329.) Vgl. zum Einfluss der Naturphilosophie Schellings auf Goethes Überzeugungen in dieser Hinsicht Eckart Förster: Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion, Frankfurt/M. 22012, S. 233–251.

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7 Denkmuster und Bekenntnisse des Betrachters

den Grund [seiner] ganzen Existenz machte...«57. Goethe aktiviert hier ganz offensichtlich das vormoderne Denkmuster einer »Korrespondenztheorie zwischen der Ordnung des Seins und der Ordnung des Denkens«58. Zugleich ist sich Goethe, an Kants Philosophie geschult, auch der ontologischen Differenz von Sein und Denken bewusst und betont u.a. in Bedenken und Ergebung, »daß zwischen Idee und Erfahrung eine gewisse Kluft« bestehe, »daß keine Idee der Erfahrung völlig kongruiere«, behauptet aber auch an dieser Stelle, dass beide »analog sein können, ja müssen«59. Doch alle Erkenntnisbemühungen müssten letztlich »der Natur ihre geheime Encheiresis« (d.h. ihren unerforschlichen Kunstgriff)60 lassen. Man erkennt, dass Goethes Reflexionen in einer unaufhebbaren Differenz oszillieren. Indem er in dieser Weise über Möglichkeiten und Grenzen von Naturerkenntnis reflektiert, profiliert er Intuition als wissenschaftliche Erkenntnismethode: Wenn er in Reine Begriffe erwägt, die bewirkenden Kräfte der Natur durch denkende Begriffsbildung zu erfassen (»und ihre Natur in uns darstellen«), dann verstehe ich ihn an dieser Stelle so, dass er nicht eine Begriffsbildung durch Abstraktion meint, sondern dass er mit seinen Überlegungen über die Erkenntnisformen des diskursiven Verstandes hinausgeht und ein aktives denkendes Nachschaffen der wirkenden Kräfte der Natur als Idee im Sinn hat: Intuition als inneren anschauenden Denkvollzug. Die Erkenntnisaktivität des diskursiven Verstandes gelangt in diesem Forschungsprozess an eine Grenze, ist als Denkbewegung aber über diese hinaus weiter aktiv, indem sie nicht bestimmend, sondern begrifflich anschauend zu erfassen sucht, wie sich eine verborgene Ordnung der Dinge zu einem Zusammenhang fügt. Durch eine solche Modulationsleistung konturiert sich – vergleichbar der Erfahrung sinnlicher Anschauung – die Perspektive einer Verortung des erkennenden Subjekts im Ganzen der Welt: Teilhabe wäre sowohl bei äußerer als auch bei innerer Anschauung das, letztlich unerreichbare, Resultat einer solchen Bemühung61. Damit ist der Sinn ei57 58

FA 17: 246. Dirk Kemper: »ineffabile«. Goethe und die Individualitätsproblematik der Moderne, München 2004, S. 6. 59 FA 24: 449. Zu Goethes Auslegung des Verhältnisses von Erscheinung und Idee im Unterschied zu Kant vgl. den Kommentar S. 1074 f. Aktuell wird die Bedeutung der Analogie als Denkfigur mit kreativem Potential untersucht von Douglas Hofstadter; Emmanuel Sander: Die Analogie. Das Herz des Denkens, Stuttgart 2014. Vgl. dazu das folgende Kapitel. 60 Brief vom 21. Januar 1832 an Heinrich Wilhelm Ferdinand Wackenroder, in: FA 38: 509 f. und Kommentar S. 896. 61 Zu einer Phänomenologie, die Wahrnehmung nicht als Produkt einer subjektiven Konstruktionsleistung interpretiert, Wahrnehmung also nicht als mittelbare Leistung versteht und sie auf unbewusste nicht erfahrbare Entitäten zurückführt, sondern als unmittelbare Erfahrung, die den Menschen am Ganzen der Welt partizipieren lässt, vgl. die beiden folgenden Kapitel.

7.2 Epistemische Methodenkonzeptionen der Naturforschung

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ner Aktivierung des an sich vormodernen Denkmusters o.g. Korrespondenztheorie erwiesen: Im Bewusstsein und unter den Bedingungen von moderner Differenzerfahrung und Entfremdung dennoch Perspektiven einer Partizipation am Ganzen der Welt auszuloten. Aus dem Entstehungszusammenhang der Notiz vom 18. September 1819 lassen sich nach meiner Rekonstruktion in Ergänzung und Variation zu den drei Aspekten aus Das Unternehmen wird entschuldigt vier Sinnbezirke markieren, in denen sich Goethes Denken bewegt: • Goethe reflektiert mit philosophischem Sinn über Möglichkeiten und Grenzen von Erkenntnis, verfährt also erkenntniskritisch, und erprobt und praktiziert, in Differenz zu Kant, Methodenkonzeptionen von Intuition. • Nach seinem Selbstverständnis praktiziert er einen Methodenpluralismus, der verschiedene Erkenntnismuster in einer Folge fusioniert. Gleichzeitig plädiert er auch für einen Pluralismus im wissenschaftlichen Diskurs und erhofft sich durch den Antagonismus unterschiedlicher Konzepte eine Forschungsdynamik. • Er selbst reklamiert für sich eine Betrachtungsmethode in Differenz zu Zeitgeist und zu anderen Paradigmen. Darin drückt sich eine widerständige Haltung aus, die maßgeblich Möglichkeiten röffnet, in Abgrenzung das Eigene auszuplastizieren. • Das Widerständige dient als Modus: In der Forschungspraxis die Option von Selbstbildung und Teilhabe zu verfolgen, die sich in narrativer Selbstkonstitution manifestiert. Mit Selbstbildung und Teilhabe ist der archimedische Hebel benannt, von dem aus exemplarisch epistemische und ontologische Besonderheiten der Betrachtungsweise Goethes anhand ausgewählter naturwissenschaftlicher Schriften rekonstruiert werden können. Das Widerständige dieser Selbstbildung wird sich auch in diesem Verwendungszusammenhang durchgängig als ein Grundmotiv erweisen.

7.2 Epistemische Methodenkonzeptionen der Naturforschung Indem für Goethe mit seiner Naturerkenntnis alles »auf Ausbildung des Subjekts ankommt«62, indem er Selbstbildung und Teilhabe intensiv im Lichte einer Erkenntnis der Natur verortet, welche »so rein und tief als möglich die Gegenstände ergreife«63, reflektiert er wiederholt auch über entsprechende Bedingungen und Möglichkei-

62 Brief vom 17. Oktober 1796 an Jacobi, in: FA 31: 253. 63 Ebd.

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ten64. So in einer Reihe von Texten, welche Versuche einer Methodik der Wissenschaft von den Lebewesen behandeln65. Goethes Forschungserfahrungen, seine Kantlektüre, aber auch Anregungen Schillers führten zu einer Theorie- und Methodenkonzeption, die als solche nicht in systematischer Ausführung vorliegt. Doch deuten Goethes Überlegungen in einzelnen, z.T. verstreuten Texten immer wieder auf eine intendierte Verschränkung verschiedener, auch unterschiedlicher Betrachtungsarten (in der Formulierung Goethes Vorstellungsarten) und Erkenntnismethoden für eine Morphologie66, die als naturwissenschaftlicher Forschungsansatz die Gestalt in ihrer Entwicklung/Bildung durch die Denkmuster Typus und Metamorphose umfassend verstehen will. Diese rhapsodische Anlage ohne gezielte Systematik ist ein Muster, das seit dem ästhetischen Denken der Straßburger Zeit grundsätzliche Überlegungen Goethes zu verschiedenen Interessengebieten immer wieder kennzeichnet67. Ich nutze im Folgenden die Wiederholungen und Variationen der Denkmuster als Modi, deren Spiegelung68 mir eine systematische Rekonstruktion ermöglichen. Der erste in der Frankfurter Ausgabe enthaltene Text zu den Versuchen einer Methodik definiert ontologische Überzeugungen und Prinzipien sowie den Forschungsansatz des Unternehmens: MORPHOLOGIE Ruht auf der Überzeugung, daß alles was sei sich auch andeuten und zeigen müsse. Von den ersten physischen und chemischen Elementen an, bis zur geistigsten Äußerung des Menschen lassen wir diesen Grundsatz gelten. Wir wenden uns gleich zu dem was Gestalt hat. Das Unorganische, das Vegetative, das Animale das Menschliche deutet sich alles selbst an, es erscheint als das was es ist unserm äußern unserm inneren Sinn. Die Gestalt ist ein bewegliches, ein werdendes, ein vergehendes. Gestaltlehre ist Verwandlungslehre. Die Lehre der Metamorphose ist der Schlüssel zu allen Zeichen der Natur.69 64 Vgl. zur grundlegenden Orientierung hinsichtlich methodischer und erkenntnistheoretischer Bedingungen von Goethes Forschungen Jost Schieren: Anschauende Urteilskraft. Methodische und philosophische Grundlagen von Goethes naturwissenschaftlichem Erkennen, Düsseldorf und Bonn 1998; vgl. die weiteren Hinweise an entsprechender Stelle. 65 So FA 24: 347–373. 66 Ein Begriff, der von Goethe in die Naturforschung eingeführt worden ist; vgl. den Kommentar FA 24: 1015. 67 Das gilt nicht für Goethes Arbeitsweise als Ganzer. Bspw. in der Botanik und der Farbenlehre geht Goethe methodisch mustergültig vor, wie im Folgenden rekonstruiert wird. 68 Vgl. zu dem methodischen Prinzip der Spiegelung und dessen Tragfähigkeit für eine Rekonstruktion u.a. Kap. 1 und 4. 69 FA 24: 349. Hervorhebungen vom Verfasser.

7.2 Epistemische Methodenkonzeptionen der Naturforschung

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Und zur Bedeutung des Bildungsbegriffes heißt es: Betrachten wir aber alle Gestalten […], so finden wir, daß nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern daß vielmehr alles in einer steten Bewegung schwanke. Daher unsere Sprache das Wort Bildung sowohl von dem Hervorgebrachten, als von dem Hervorgebrachtwerdenden gehörig genug zu brauchen pflegt.70

Wie gezeigt71, spielt die Außen-Innen-Relation des Gestaltbegriffes für die Ästhetik des 18. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle. So insistiert Karl Philipp Moritz auf einen Oberflächenbegriff, der keine metaphysische, sondern eine immanente Begründung erfährt. Er hat seine Konzeption maßgeblich im Austausch mit Goethe während der Italienreise entwickelt. Nach dieser Auffassung denkt Goethe das Verhältnis von innen und außen im Sinne einer Dialektik des Sich-Zeigens und SichVerbergens (Böhme72) ineinander verschränkt; dabei differenziert er nicht kategorisch nach Idee und Erscheinung, sondern betont die Indifferenz der Oberfläche73. Im Sinne ästhetischer Anschauung kann sich ein entelechisches Prinzip verkörpern: »Natur hat weder Kern / Noch Schale, / Alles ist sie mit einemmale«74. Für Goethe ist damit der Zeichencharakter von Gestalt zum einen die Möglichkeit für das Verstehen eines inneren Bewirkenden. Wilhelm Dilthey wird denn auch Verstehen als einen Vorgang bezeichnen, »in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen«75. Zum anderen wird Gestalt zu einem atmosphärischganzheitlichen Erfahrungszusammenhang. Aktuell hat Gernot Böhme für die Physiognomik als »Wesenserkenntnis aus der äußeren Form«76 nicht nur den Ausdruckscharakter, sondern das atmosphärisch wirkende »Eindruckspotential«77 hervorgehoben, was insbesondere für ästhetische Anschauung, bei der es mehr um die »sinnliche Präsenz«78 gehe und nicht um eine Wesenserkenntnis, von Bedeutung sei. Diese Be70 Die Absicht wird eingeleitet, in: FA 24: 392. 71 Vgl. Kap. 3.2.2. 72 Zur Relation und Unterscheidung von innen vs. außen sowie der damit verbundenen »Dialektik von Sich-Zeigen und Sich-Verbergen« im Rahmen einer »Physiognomik in der Naturwissenschaft« vgl. Gernot Böhme: Atmosphäre, a.a.O., S. 202–222, Zitat S. 202. 73 Vgl. in Kap. 3.2 die Ausführungen zu ästhetischer Bildung. 74 Unwilliger Ausruf, in: FA 24: 523. Dazu Goethe-Jahrbuch 2011, S. 98 ff. 75 Wilhelm Dilthey: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. V, Göttingen 81990, S. 318. Vgl. Kap. 1, dort im Kontext meiner Methodenkonzeption. 76 Gernot Böhme: Atmosphäre, a.a.O., S. 202. 77 Ebd., S. 205. 78 Ebd.

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deutung findet sich bei Goethe überall dort, wo es ihm um die Modulation offener Ganzheit geht. Ausführlich habe ich den Gestaltbegriff Goethes anhand der ästhetischen Anschauung des Straßburger Münsters rekonstruiert79. Schon in den philosophischen Überlegungen seiner Jugend unterscheidet Goethe die Entelechie, im Sinne von Aristoteles ein inneres immateriell geistiges Aktprinzip (griech. έντελέχεια, entelechia, das, was sein Ziel in sich trägt)80, und ein von dieser wirkenden Kraft dem gestaltlosen, aber gestaltbaren materiellem Stoff (griech. ὕλη, hyle) eingeprägtes Ausdrucksphänomen, die Gestalt (griech. μορφή, morphé), die als ein die Differenz von geistigem Aktprinzip und materieller Stofflichkeit zwar wahrendes, aber ganzheitlich komplementäres Prinzip verstanden wird81. Dieses Denkmodell von Gestalt, das die Idee als Bewirkendes für den Stoff auffasst, unterscheidet sich mit seinem in einem speziellen Sinne monistisch organisierten Seinsdualismus von materiell-monistisch orientierten Denkansätzen, wie sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Zuge der Evolutionstheorie paradigmatischen Status haben82. Wenn man dem alten Goethe folgen darf, so ist dieser Entelechiebegriff perspektivisch schon in der Straßburger Zeit angelegt. In Kap. 4 habe ich für diesen Zusammenhang auf das elfte Buch von Dichtung und Wahrheit verwiesen. Wenn dort der Materialismus von Paul Thiry d’Holbachs Systême de la Nature verworfen wird, so zielt das vor allem auf den materialistischen Determinismus, der ein freies, ursächliches geistiges Prinzip leugnet83. Ein solches wird nun aber von Goethe als Denkmöglichkeit ins Spiel gebracht84 und ist eines der Begründungsmuster seiner Selbstbildung im Sinne der oszillierenden Bedingungen produktiver Realitätsverarbeitung. 79 Vgl. Kap. 4.2.3. Vgl. zum fachwissenschaftlichen Bezug Kap. 2.1; dort die Diskussion im Anschluss an Meyer-Drawes Beschreibungsansatz. 80 Nach Hermann Schmitz sind Aristotelischer und Goethescher Entelechiebegriff insofern zu unterscheiden, als Entelechie bei Goethe eine innere schöpferische Motivation zu Gestaltung ist, während diese Aristoteles noch fremd sei. Vgl. Hermann Schmitz: Goethes Altersdenken im problemgeschichtlichen Zusammenhang, Bonn 1959, S. 278–285. 81 Zur Differenzierung von Idee und Erfahrung heißt es in Bedenken und Ergebung: »Die Schwierigkeit Idee und Erfahrung mit einander zu verbinden erscheint sehr hinderlich bei aller Naturforschung: die Idee ist unabhängig von Raum und Zeit, die Naturforschung ist in Raum und Zeit beschränkt, daher ist in der Idee Simultanes und Sukzessives innigst verbunden, auf dem Standpunkt der Erfahrung hingegen immer getrennt, und eine Naturwirkung die wir der Idee gemäß als simultan und sukzessiv zugleich denken sollen, scheint uns in eine Art Wahnsinn zu versetzen. Der Verstand kann nicht vereinigt denken was die Sinnlichkeit ihm gesondert überlieferte, und so bleibt der Widerstreit zwischen Aufgefaßtem und Ideiertem immerfort unaufgelöst« (FA 24: 449 f.). 82 Vgl. zu dieser Diskussion Kap. 2.1 und Kap. 4.2.3. 83 FA 14: 534 f. 84 Vgl. FA 14: 535.

7.2 Epistemische Methodenkonzeptionen der Naturforschung

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Bildung ist die zentrale Komponente, mit der Goethes morphologisches Denken Umwandlungsprozesse zu erfassen sucht. Der Begriff umgreift semantisch sowohl Gestalt als auch Metamorphose, verbindet »›Simultanes‹ und ›Successives‹«85 miteinander. Nach dieser Auffassung ist Bildung ein komplexes Denkmuster für die Erkenntnis von Gestaltungsprozessen. Ernst Cassirer bestimmt denn auch als signifikantes Merkmal des Bildungsbegriffs von Goethe, »daß für [Goethe] das Problem der Bildung […] einen schlechthin-universellen Sinn und Charakter«86 habe. Goethe betont in den vorliegenden Zitaten den dynamischen Prozess von Bildung, dem nichts Statisches und Endgültiges anhaftet – ihm ist der problematische ontologische Status des Gestaltbegriffs bewusst –, jede Stufe von Bildung ist nur insofern auch Produkt, als dass sich dieses in dem immerwährenden Prozess ausprägt und weiter wandelt87. Nicht nur die einzelnen Gestalten, sondern auch das Ganze der Natur befindet sich in einem umfassenden immerwährenden Bildeprozess88. Die »Geprägte Form die lebend sich entwickelt«89 ist nun ausdrücklich nicht präformativ verstandene Entelechie, sondern meint eine Genese, von der Goethe geneigt ist, sie als Epigenese zu denken. In dem Aufsatz Bildungstrieb90 geht Goethe in Anknüpfung an Kants Kritik der Urteilskraft auf die Auseinandersetzung zwischen Präformationslehre und Epigenesetheorie ein91. Die von Albrecht von Haller und Charles Bonnet im 18. Jahrhundert verfochtene Präformationslehre geht davon aus, dass sich Evolution im Wortsinne vollzieht, dass also die Entwicklung eines Organismus durch Entfaltung eines bereits in der Ei- oder Samenzelle vorgebildeten Bauplans geschieht. Diese Auffassung bezeichnet Goethe ironisch als »Einschachtelungs85 Ernst Cassirer: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916), Darmstadt 41975, S. 209. 86 Ernst Cassirer: Goethes Idee der Bildung und Erziehung. Vortag am 23. Mai 1932, in: ders.: Geist und Leben, hrsg. von Ernst Wolfgang Orth, Leipzig 22003, S. 96 f. 87 Zur Abgrenzung gegenüber einer statischen Auffassung von Gestalt heißt es unmittelbar vor der eingangs zitierten Textsequenz: »Der Deutsche hat für den Komplex des Daseins eines wirklichen Wesens das Wort Gestalt. Er abstrahiert bei diesem Ausdruck von dem Beweglichen, er nimmt an, daß ein Zusammengehöriges festgestellt, abgeschlossen und in seinem Charakter fixiert sei.« FA 24: 392. Etwas weiter heißt es im o.g. Text: »Das Gebildete wird sogleich wieder umgebildet«, ebd. 88 Wie in Kap. 3.2.2 gezeigt, bestimmt Karl Philipp Moritz, 1788 darüber in regem Austausch mit Goethe, Bildung für die Ästhetik als einen sukzessiven Stufengang zunehmender Bestimmtheit und Aussonderung aus der Umgebung sowie als Verfeinerung der Organisation. Vgl. Karl Philipp Moritz: Die Signatur des Schönen, a.a.O., S. 93–103. 89 Urworte Orphisch, in: FA 24: 439. 90 FA 24: 451 f. 91 Vgl. dazu Dorothea Kuhn: Typus und Metamorphose. Goethe-Studien, hrsg. von Renate Grumbach, Marbach 1988, S. 133–145.

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lehre«, die »gar bald widerlich« werde92, und neigt der Epigenesistheorie zu, die, von Caspar Friedrich Wolf und Friedrich Blumenbach vertreten, von der Entwicklung eines jeden Organismus durch aufeinanderfolgende Neubildung ausgeht. Zeitlichkeit ist die Bedingung der Möglichkeit, unter der »Aufnehmendes und Aufzunehmendes«93 eine je konkrete Gestalt bilden. Jede Gestalt hat ihren Moment in einem Prozess, der von der Vergangenheit vorgeprägt ist, aktuell durch innere Bedingungen und modifizierende Außenwirkungen geformt wird und der die Zukunft schon in sich trägt: Prägende und zufällige Komponenten gestalten Genese und bilden in diesem Sinne einen spannungsvollen Zusammenhang von Einheit und Differenz. Doch gibt es Vorbehalte, die gegenüber voreiligen Setzungen das ergebnisoffene Forschen favorisieren; Goethe beendet den Aufsatz Bildungstrieb mit Optionen von »Prädelination, Prädetermination […][,] Prästabilieren«94, also Fragen stufenweiser Gestaltung anhand perspektivisch offener Orientierung, und mit einem »Schema, um weiteres Nachdenken aufzuregen«95, das auf einen Methodenpluralismus für die Forschung sowie offen-differenzierte Theoriebildung deutet. Ein Motiv dieser Reserve ist sicherlich darin zu suchen, dass der gesamte Diskurs um Präformation oder/und Epigenese schon zu Goethes Zeit von monistisch materialistischen Denkmustern geprägt ist. Ein so verstandenes monistisches Epigenese-Prinzip (materielle Stofflichkeit ist aktiv verursachend für Bildung) ist aber nicht ohne weiteres mit dem Entelechiebegriff, der eine immanente Seinsdualität impliziert (geistiges Prinzip, das als plastische Kraft passive Stofflichkeit prägt), kompatibel. In diesem Zusammenhang zeigt sich Goethes Widerständigkeit gegenüber Paradigmen des wissenschaftlichen Diskurses. Ob der unaufgelösten Rätsel verfolgt er, kritisch die eigene Position reflektierend, einen ergebnisoffenen Ansatz des Forschens und Erkennens, dem ontologische Implikationen so lange nachgeordnet sind, bis aussagekräftige Resultate vorliegen. Als Credo seines Forschungsansatzes formuliert Goethe ganz in diesem Sinne: Die Gestalt ist ein bewegliches, ein werdendes, ein vergehendes. Gestaltlehre ist Verwandlungslehre. Die Lehre der Metamorphose ist der Schlüssel zu allen Zeichen der Natur.96

92 FA 24: 452. Goethe führt an anderer Stelle aus: »[D]ie Einschachtelungslehre, der Begriff von Präformation, von sukzessiver Entwickelung des von Adams Zeiten her schon Vorhandenen, hatten sich selbst der besten Köpfe bemächtigt« (u.a. FA 24: 402). 93 FA 24: 452. 94 Ebd. 95 Ebd. 96 FA 24: 349.

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Den stetigen Wandlungsprozess durch Bildung der Gestalt bezeichnet Goethe als Metamorphose. Dieses Konzept von Transformation (Gestaltwandel) begreift den Übergang einer Bildungsstufe in eine andere epigenetisch als Umwandlung, die sich nicht notwendig aus der vorherigen ableiten oder vorhersagen lässt. Präformation ist mit Metamorphose als Schüssel des morphologischen Forschens insofern inkompatibel, als mit jener ein Neues nicht erklärt werden kann – alles ist Auswicklung eines notwendigen Entwicklungsgesetzes, allenfalls Akzidenzien werden als neu hinzutretende Elemente gedacht. Der Epigenesebegriff ermöglicht dagegen, Entwicklung als offenen Prozess zu beschreiben. Zufälligkeiten können im Modus der Zeit eine sehr weitgehende Umbildung bewirken, wenn innerer Bildungstrieb und äußere Umstände in ein Wechselspiel von Bildung treten. Der Antagonismus und die Unwucht zwischen beiden Prinzipien erzeugen dann eine Umgestaltung in ein ganz Neues, weil durch die Wechselwirkung auf beiden Seiten eine labil-stabile Disposition besteht, die einerseits offen für Einflüsse ist, andererseits dieses Neue in ein Vorhandenes integriert und es damit umwandelt. Demnach gilt für den Metamorphosebegriff: Er bestimmt das Neue durch Transformation im Modus von Zeitlichkeit, ohne den Entelechiegedanken fallen zu lassen. Als Betrachter folgt Goethe stets der ontologischen Maxime einer immanenten Verschränkung von materiellen und immateriellen Gegebenheiten, von Stoff und Geist, wie er sie seit seiner Spinozalektüre auch philosophisch reflektiert und wie sie in seiner Formel des Alters – des geheimnisvoll Offenbaren – zum Ausdruck kommt. Gestalt ist in Goethes morphologischer Forschung der Differenzbegriff dafür. Das universelle Prinzip eines immanenten Dualismus97 durchzieht die gesamte scala naturae98, 97 Wie schon in Kap. 4 benutze ich diese Formulierung, um das Missverständnis zu vermeiden, Goethe denke monistisch im Sinne eines heute gängigen materialistischen Monismus. Auch einen idealistischen Monismus, etwa im platonischen Sinne, wird man bei ihm vergebens finden. Goethe denkt einen sich wechselseitig bedingenden Differenzzusammenhang. 98 Vgl. zur Bedeutung der scala naturae bei Goethe Margrit Wyder: Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformation, Köln u.a. 1998. Wie in Kap. 4 angemerkt, hat Margit Wyder gezeigt, dass bis zur Italienischen Reise ein vormodernes Modell der Scala Naturae, das Mineral/Stein, Pflanze, Tier und Mensch in eine verbindende Reihe stellt und damit »seit der Antike das Ganzheitsparadigma der abendländischen Wissenskultur« darstellte, das naturphilosophische Grundmuster Goethes gewesen ist, was sich dann in das morphologische Denken transformiert hat, vgl. Margit Wyder: Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformationen, a.a.O., Zitat S. 4. Vgl. zur Transformation des Scalenmodells zur Metamorphosenlehre ab S. 189 ff., zum wichtigen Begriff der Folge S. 227 ff. An der oben geäußerten Überzeugung Goethes wird deutlich, dass eine solche Transformation nicht als Austausch eines alten durch ein neues Modell verstanden werden darf, sondern dass Goethe das antike Modell verändernd in ein neues aufgehen lässt, dass also auch hinsichtlich des Modells von einer Metamorphose gesprochen

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deren Wirkungszusammenhang (Bockemühl) als ein umfassendes Verwandlungsgeschehen verstanden wird99. Gemäß der Definition überlegt Goethe für eine Morphologie als universeller Forschungsmethodik (als »Schlüssel zu allen Zeichen der Natur«) in dem fragmentarischen Aufsatz, den FA mit Ordnung des Unternehmens100 betitelt, wahrscheinlich um 1798 entstanden101, welche Eigenschaften der Betrachter und welche Merkmale dessen Betrachtungsweise aufweisen müssen, um Aisthesis als einen produktiven Erkenntnisvollzug zu begründen, der auf Ganzheit zielt. Da Goethe dabei kontrastiv vorgeht und produktive Erkenntnisweisen von konstruktiven abgrenzt, kann der besondere Erkenntnisansatz von Anschauung – äußerer wie innerer – rekonstruiert werden. Goethe differenziert nach Fragehaltung und Ertragserwartung vier methodische Ansätze von Forschung: • Nutzende • Wissende • Anschauende und • Umfassende102. Goethe erläutert Korrespondenzen zwischen erster und zweiter sowie dritter und vierter Forschungsart, indem er Erstere als anwendungsorientierte, analytisch-konstruktive von Letzteren als partizipatorischen, anschauend-produktiven Arten abgrenzt. Ich zitiere Goethes Überlegungen als Ganze, um das jeweils Besondere sowie die sich ergebenden wechselseitigen Ergänzungsmöglichkeiten zu rekonstruieren: 1. Die Nutzenden, Nutzen-Suchenden, -Fordernden sind die ersten die das Feld der Wissenschaft gleichsam umreißen, das Praktische ergreifen; das Bewußtsein durch Erfahrung gibt ihnen Sicherheit das Bedürfnis eine gewisse Breite. 2. Die Wißbegierigen bedürfen eines ruhigen uneigennützigen Blickes einer neu-

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werden muss. In dieser Veränderung drücken sich meiner Ansicht nach die Bedingungen des eingangs von mir als neues Denken bezeichneten Verwendungszusammenhangs nach der Italienreise aus. Vgl. die von mir rekonstruierten systematischen Aspekte zum Gestaltbegriff im folgenden Kapitel. FA 24: 350–356. Kommentar FA 24: 1017. Vgl. zu früheren Versuchen direkt nach der Italienreise, die im Umkreis von Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären entstanden sind, FA 24: 91–161; vgl. besonders Einleitung (FA 24: 93–98) und Gesetze der Pflanzenbildung (FA 24: 98–108), auf die ich im Folgenden wegen ihrer Optionen, Erfahrung und Hypothese methodisch zu verbinden, noch genauer eingehen werde. FA 24: 351.

7.2 Epistemische Methodenkonzeptionen der Naturforschung

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gierigen Unruhe eines klaren Verstandes und stehn immer im Verhältnis mit jenen, sie verarbeiten auch nur im wissenschaftlichen Sinn dasjenige was sie vorfinden. 3. Die Anschauenden verhalten sich schon produktiv und das Wissen indem es sich selbst steigert fordert ohne es zu bemerken das Anschauen und geht dahin über, und so sehr sich auch die Wissenden vor der Imagination kreuzigen und segnen so müssen sie doch ehe sie sichs versehen die produktive Einbildungskraft zu Hülfe rufen. 4. Die Umfassenden die man in einem stolzern Sinne die Erschaffenden nennen könnte verhalten sich im höchsten Grade produktiv, indem sie nämlich von Ideen ausgehen sprechen sie die Einheit des Ganzen schon aus und es ist gewissermaßen nachher die Sache der Natur sich in diese Idee zu fügen.103

Wenn gemäß dieser Ordnung von Erkenntnismustern ein erfahrungsbasiertes, funktionales Erkenntnisinteresse die erste Art kennzeichnet, in der zweiten dem objektiven Blick auf die Dinge das Erkenntnisstreben des analytischen Verstandes korrespondiert, der nach regulativen Ideen (Kant) operiert, fasst Goethe beide Arten hinsichtlich ihres Zieles und Ertrages von Erkenntnis zusammen. Sie beziehen sich auf Gegebenheiten. Vorhandene Dinge werden vermessen, analysiert und klassifiziert sowie auf ihre Funktionalität und praktische Anwendung befragt: als ein Wissen von Dingen (Ernst Cassirer104) in Hinsicht auf seinen Nutzen durch erwarteten und kalkulierten Gewinn. Wenn man Goethes Ordnungsprinzip folgt, scheint mir eine zweifache Distanzierung bedeutsam zu sein, die Goethe an dieser Stelle zwar nur implizit anklingen lässt, welche aber ein zentrales Merkmal moderner Forschung betrifft, auf das er bei anderen Gelegenheiten wiederholt zu sprechen kommt105. Zum einen die ontologische Distanz, die durch die epistemische Differenz von Ding und Wissen geschaffen wird. Goethe versteht das Wissen des zweiten Erkenntnismusters als ein abstraktes im Sinne des Wortes, das nicht dem ontologischen Status der Dinge korrespondiert, sondern allein konstruktiv gemäß Verstandesprinzipien operiert. Es ist das paradigmatische Denkmuster von Erkenntnis und Forschungsmethodik seit der Aufklärung, speziell seit Immanuel Kants Kritiken, und findet u.a. im Reduktionismus moderner Naturwissenschaft seinen Ausdruck,

103 FA 24: 351. 104 Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. III: Phänomenologie der Erkenntnis, Darmstadt, 41962, S. 74: »Das ›Verstehen von Ausdruck‹ ist wesentlich früher als das ›Wissen von Dingen‹.« 105 Vgl. dazu exemplarisch im nächsten Kapitel meine Rekonstruktion von Anschauende Urteilskraft.

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aktuell auch als langsames Denken (Kahneman) bezeichnet, welches analytisch-systematisch operiert106. Zum anderen die Distanz, die sich aus einem dominant funktionalen Verhältnis zu Natur einer nutzenorientierten Forschung ergibt, die Natur nicht als Natur, sondern als Forschungsobjekt, Rohstoff etc. versteht und nutzt. Als Folge dieser Distanzierungen wird in der Neuzeit zunehmend die Entfremdung von Natur beklagt107: modernes Differenzbewusstsein. In diesem Zusammenhang sind die beiden letzten Erkenntnismuster interessant, die Goethe unterscheidet. Aisthesis – hier als Anschauung bezeichnet – schließt sich nach Goethes Worten an das Wissen von Dingen des Verstandes an, steht also in einer Beziehung dazu, geht aber darüber hinaus. Wenn Goethe Wissen gemäß der beiden ersten Denkmuster ganz im Sinne Kants konzipiert, so bleibt er nicht in den sicheren Grenzen des nach regulativen Prinzipien operierenden Verstandes, sondern überschreitet diese Grenzen. Goethe behauptet sogar, dass der Verstand eine solche Erweiterung der Erkenntnisbewegung selbst fordere. Wie ist das zu verstehen? Was Kant dem Menschen abspricht – ein Erkenntnisvermögen, das der Ontologie des Dinges korrespondiert –, hält Goethe für möglich108. Wenn er in ironischem Duktus (»und so sehr sich auch die Wissenden vor der Imagination kreuzigen und segnen«) Kants Grenzziehung als Furcht vor Erkenntnisprozessen charakterisiert, die unsicher und vage erscheinen, auf Vermutungen basieren, so teilt Goethe diese Befürchtungen durchaus109. Aber er wagt diesen Schritt einer Erweiterung der Erkenntnisoptionen. Zieht man als Erklärung dafür das im Vorherigen rekonstruierte Verständnis Goethes zur Subjekt-Objekt-Relation und die damit verbundenen vormodernen Denkmuster heran110, so wird deutlich, dass Goethe bei aller erkenntniskritischen Bedeutung und Berechtigung hinsichtlich Tragweite und Grenzen von Erkenntnis offensichtlich gegenüber der Konzeption Kants einen phänomenologischen Ansatz verfolgt, der vom ontologischen In-der-Welt-Sein und von Teilhabe durch Erkenntnis ausgeht. In dieser Hinsicht gilt für Goethe:

106 Vgl. dazu meine einleitenden Vorbemerkungen in Kap. 1. 107 So schon u.a. Friedrich Schiller; vgl. dazu meine exemplarische Rekonstruktion in Kap. 3. 108 Zu Goethes Kantrezeption vgl. insbesondere Ernst Cassirer: Goethe und die Kantische Philosophie, in: ders.: Rousseau, Kant, Goethe, hrsg. von Rainer A. Bast, Hamburg 1991, S. 63–99, sowie Jost Schieren: Anschauende Urteilskraft. Methodische und philosophische Grundlagen von Goethes naturwissenschaftlichem Erkennen, Düsseldorf und Bonn 1998, S. 29–80. 109 Vgl. im Folgenden dazu Goethes Konzeption von Versuchen. 110 Vgl. das vorangehende Kapitel.

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In der ganzen sinnlichen Welt kommt alles überhaupt auf das Verhältnis der Gegenstände untereinander an, vorzüglich aber auf das Verhältnis des bedeutendsten irdischen Gegenstandes, des Menschen, zu den übrigen. Hierdurch trennt sich die Welt in zwei Teile, und der Mensch stellt sich als ein Subjekt dem Objekt entgegen. Hier ist es, wo sich der Praktiker in der Erfahrung, der Denker in der Spekulation abmüdet und einen Kampf zu bestehen aufgefordert ist, der durch keinen Frieden und durch keine Entscheidung geschlossen werden kann.111

Die Subjekt-Objekt-Relation ist damit, ergänzend zu den schon rekonstruierten Merkmalen, als eine Differenzierung der Reflexion über Erkenntnis gekennzeichnet; phänomenologisch hat man es mit Phänomenen in einem atmosphärischen Zusammenhang permanenter Wandlung zu tun, in dem sich auch menschliches Bewusstsein findet. Damit muss sich der epistemische Status von Anschauung entscheidend verändern. Als sinnliche Anschauung liefert sie nicht einfach nur gegebene Erscheinungen durch einen unbewussten, passiv vollzogenen Vorgang, welche dann als mittelbar interpretiert werden, weil sie als Material bloß Anlass für die Konstruktionsleistungen des Verstandes und damit als dessen Produkt gelten112, sondern Anschauung ist eine Form von Erkenntnis in unmittelbarer Beziehung zu den Dingen der Welt. Wenn Kant in diesem Zusammenhang zwischen dem Ding an sich und Erscheinungen unterscheidet113, so ist sich Goethe der Bedeutung dieser Bestimmung einer Erkenntnisgrenze für eine kritische Erkenntnistheorie durchaus bewusst, geht aber über sie hinaus114. 111 Zur Farbenlehre, Didaktischer Teil, § 181, in: FA 23/1: 83. 112 Konstruktivistische Wahrnehmungstheorien in diesem Sinne verfahren so, dass sie die Wahrnehmung selbst als einen wie auch immer gearteten unbewussten Vorgang interpretieren, der nur mittelbar ins Bewusstsein kommt, indem der Verstand konstruktive Muster einsetzt, die davon erzählen, was unbewusst als Wahrnehmung in das Bewusstsein tritt (so Lambert Wiesing im Juli 2014 auf einem Symposion zu Wahrnehmungstheorien in Kassel). 113 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781/87), Hamburg 1956, S. 289, B 298, sowie ders.: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783), § 13, Anmerk. II: »[E]s sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben, allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d. i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne affizieren. Demnach gestehe ich allerdings, daß es außer uns Körper gebe, d. i. Dinge, die, obzwar nach dem, was sie an sich selbst sein mögen, uns gänzlich unbekannt, wir durch die Vorstellungen kennen, welche ihr Einfluß auf unsre Sinnlichkeit uns verschafft, und denen wir die Benennung eines Körpers geben, welches Wort also bloß die Erscheinung jenes uns unbekannten, aber nichtsdestoweniger wirklichen Gegenstandes bedeutet.« 114 An dieser Stelle erscheint mir zur Verdeutlichung der Hinweis nötig, dass Goethe bei

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Eine in dieser Hinsicht programmatische Überzeugung äußert Goethe in einem Gespräch mit Eckermann am 7. Oktober 1827. Er beschreibt die Ränder des sinnlich-empfindungsmäßig Anschaulichen, das Atmosphärische eines Erfahrungskomplexes, das über das sinnlich Gegebene hinausweist, und hebt in diesem Zusammenhang die epistemische Bedeutung von Ahnung hervor: Wir wandeln Alle in Geheimnissen. Wir sind von einer Atmosphäre umgeben, von der wir noch gar nicht wissen, was sich Alles in ihr regt und wie es mit unserm Geiste in Verbindung steht. So viel ist wohl gewiß, daß in besonderen Zuständen die Fühlfäden unserer Seele über ihre körperlichen Grenzen hinausreichen können und ihr ein Vorgefühl, ja auch ein wirklicher Blick in die nächste Zukunft gestattet ist.115

Aisthesis verstanden als eine ahnende Suchbewegung von Erkenntnis116 im Atmosphärischen117: Die Beobachtungsbasierung von Aisthesis geht im Sinne der Phänomenologie als nichtkonstruktiver Erkenntnis von der Möglichkeit einer Teilhabe durch unmittelbare Anschauung aus. Anschauung wird nicht ausschließlich zentrifugal durch Ordnungsmuster des Verstandes konstruiert und ist damit nicht immer in den Denkmodellen des Verstandes begrenzt, sondern auch in zentripetaler Weise konstituiert und bietet damit die Möglichkeit, dass die Dinge der Welt unmittelbar durch ihre ekstatische Wirkung (Böhme) ins Bewusstsein treten. Doch Goethe reflektiert kritisch über einen solchen phänomenologischen Ansatz. Er betont einen unlösbar erscheinenden Streit unterschiedlicher erkenntnistheoretischer Vorstellungsarten, wie schon in Das Unternehmen wird entschuldigt118,

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der Zusammenstellung von Versuchsreihen, für die er in Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt eintritt, analytische Methoden bewusst nutzt, um diese Grenzen gesicherten Wissens möglichst genau zu markieren und dann darüber hinaus durch intuitive Denkansätze diese Grenzen zu verschieben, vgl. dazu das Folgende. Gespräch mit Eckermann am 7. Oktober 1827, in: FA 39: 633. Ahnung in epistemischer Bedeutung ist in dieser Hinsicht u.a. in Kap. 5 von mir erschlossen worden. Vgl. als Referenz zu diesem Begriff Wolfgang Nieke: Ahnung, in: Joachim Ritter u.a. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel 1971, S. 522–528, und Wolfram Hogrebe: Ahnung und Erkenntnis. Brouillon zu einer Theorie des natürlichen Erkennens, Frankfurt/M. 1996, zu Goethe insbesondere S. 75–78. Während Nieke noch 1971 feststellen muss, »als philosophischer Terminus hat der Begriff [Ahnung, J.S.] seine Relevanz verloren« (Sp. 526), wird die Bedeutung des Begriffes durch Hogrebe aktuell wieder diskutiert. Vgl. zu diesem Begriff die Referenztheorie von Gernot Böhme: Atmosphäre, a.a.O. Vgl. das vorherige Kapitel.

7.2 Epistemische Methodenkonzeptionen der Naturforschung

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und ist sich bewusst, dass auch er ein viables Wissen119 in seiner Forschungspraxis als orientierende Matrix einsetzt, also mit Methoden und Modellen als Konstruktionsleistungen von Wissen und Nutzen operiert120. Dabei orientiert Goethe seine Auseinandersetzung an Kants grundlegendem erkenntnistheoretischem Ansatz: »Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung.«121 Wenn Kant Erkenntnissicherheit und Wissen auf den Bereich regulativer Verstandesbegriffe begrenzt, die sich auf sinnliche Wahrnehmung beziehen, so ist für Goethe diese Bestimmung u.a. deshalb von Bedeutung, um der »millionenfachen Hydra der Empirie«122 begegnen zu können: Die Erfahrung muß uns vorerst die Teile lehren, […] und worin diese Teile verschieden sind. Die Idee muß über dem Ganzen walten und auf eine genetische Weise das allgemeine Bild abziehen.123

Goethe bezeichnet die entsprechende Erkenntnismethodik als »exakte sinnliche Phantasie«124 und ordnet sie in eine Systematik von »Sinnlichkeit und Vernunft, Einbildungskraft und Verstand«125 ein, wobei der wechselseitige Bezug entscheidend ist: Im Horizont konkreter sinnlicher Erfahrung modellieren Denkformen Muster der Dinge der Welt. Dabei werden im Lichte von Denkmustern neue Erkenntnisse produziert, indem mögliche Korrespondenzen gesucht, erprobt, durchgespielt und perspektiviert werden. Exakte sinnliche Phantasie leistet also im Bereich der Sinnlichkeit eine Erschließung und Integration neuer Erkenntniselemente in den Fundus von Erkenntnis.

119 Zu Viabilität vgl. Kap. 2.1. Viabilität kennzeichnet im Sinne des Konstruktivismus Wissensstrukturen. Dabei wird Theorie als flexibles Erklärungsmuster verstanden, welches ein Resultat von Anpassung ist. Vgl. Ernst von Glasersfeld: Radikaler Konstruktivismus, Frankfurt/M. 1997, S. 43, sowie ders.: Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität, in: Heinz von Foerster u.a. (Hrsg.): Einführung in den Konstruktivismus, München und Zürich 122010, S. 9–39, vgl. besonders S. 29 f. 120 Vgl. dazu seine Forschungspraxis, wie sie von mir u.a. in Kap. 5 rekonstruiert wird. 121 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781/87), Hamburg 1956, Einleitung nach Ausgabe B, S. 38. 122 Brief vom 16. und 17. August 1797 an Schiller; MA 8.1: 393. 123 Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie, in: FA 24: 230. 124 Ernst Stiedenroth Psychologie zur Erklärung der Seelenerscheinungen erster Teil. Berlin 1824, in: FA 24: 615. Vgl. als ein entsprechendes Beispiel in Kap. 4 die ästhetische Anschauung des Straßburger Münsters. 125 FA 24: 615.

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Im Sinne des Erkenntnismodus exakter sinnlicher Phantasie wird u.a. deutlich, dass neben der Unterscheidung mittelbar/unmittelbar die kontrastive Differenzierung konstruktiv/produktiv besagt, dass Anschauung eine produktive Erkenntnisleistung ist. Wahrnehmung vollzieht sich aktiv, und ohne eine solche Spontaneität gäbe es keine Wahrnehmung126. Anschauung setzt demnach immer Aktivität voraus. Ich möchte in diesem Zusammenhang an Goethes erwähnte Auffassung erinnern127: »Es gibt keine Erfahrung die nicht produziert, hervorgebracht, erschaffen wird«128. Das ist nicht konstruktivistisch gemeint. Hintergrund dieses in einem Dialog geäußerten Gedankens ist die Annahme, dass eine Erfahrung nicht absolut passiv erfolgen kann; um erfahren zu können, bedarf es einer Disposition dazu im Subjekt – im Gespräch als ein aktiv operierendes »Organ« bezeichnet129. Nach phänomenologischem Verständnis130 muss Bewusstsein eine solche produktiv-aktive Disposition als Bedingung der Möglichkeit für Erfahrung aufweisen, u.a. bspw. als Wachheit, Aufmerksamkeit, Gerichtet-Sein131. Wenn Goethe in diesem Zusammenhang gezielt auf eine Organbildung insistiert, betont er damit auch den für ihn leitenden Impetus von Selbstbildung. Indem Goethe nicht nur die Grenzen von Kants erkenntnistheoretischen Ansatz, sondern die Wahrnehmungsmodelle von Realismus/Empirismus und Rationalismus/Idealismus überschreitet, konzipiert er mit Aisthesis einen beobachtungsbasierten Erkenntnisansatz, welcher über sinnliche Wahrnehmung ein produktives partizipatorisches Verhältnis zur Welt schafft. Doch spricht Goethe im Zusammenhang 126 Eine Skala, die eine differenzierte Klassifikation von vermeintlich unbewussten bis zu hochkonzentrierten Wahrnehmungsleistungen aufzeigt, wäre eine gesonderte Untersuchung, die ich an dieser Stelle nicht verfolge. Ich möchte aber auf Goethes wiederholt betriebene Praxis verweisen, Aisthesis durch Amplifikation zu betreiben und dabei nicht nur unterschiedliche Perspektiven, sondern auch unterschiedliche Modi zu erproben. 127 Vgl. in Kap. 2.1 und 2.2 die fachwissenschaftliche Reflexion zu Erfahrung als Aisthesis und zu Goethes Begriff von Erfahrung Kap. 4. 128 Der Sammler und die Seinigen, in: FA 18: 712. 129 »Zu jeder Erfahrung gehört ein Organ« (FA 18: 712). Vgl. dazu Kap. 2.1. 130 Vgl. dazu Lambert Wiesing: Das mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, Frankfurt/M. 2009 sowie Thomas Fuchs: Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Stuttgart 2000, vgl. S. 21 f.: »Seelisch sind wir bei den Dingen und Menschen, die wir wahrnehmen oder auf die wir zugehen, nehmen wir Anteil oder hängen an etwas, fühlen uns angezogen oder abgestoßen. Man kann sogar sagen, je mehr sich unser Seelenleben entfaltet, vor allem in unseren Gefühlen, desto mehr strömt es nach außen, verbindet es uns mit den Dingen und noch mehr mit den Menschen; es bringt sie in unsere Nähe und uns in ihren Raum, ihre Atmosphäre, selbst wenn sie dabei örtlich in weiter Distanz bleiben.« 131 Vgl. dazu in Kap. 3.2 meine Rekonstruktion zu Friedrich Schillers Konzept ästhetischer Bildung. Schiller versteht diese Elemente von Erfahrung, die er als Merkmale der Sinnlichkeit auffasst, als entscheidend für eine Bildung des ganzen Menschen.

7.2 Epistemische Methodenkonzeptionen der Naturforschung

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der dritten Forschungsart explizit auch von »produktive[r] Einbildungskraft«132. Er thematisiert also ausdrücklich neben äußerer sinnlicher Anschauung auch innere Anschauungsmodi als produktive Erkenntnisleistungen – u.a. ist an Phantasie, intellektuelle Anschauung oder Intuition133 und besonders an Goethes Aperçubegriff134 zu denken. Ahnung als epistemischer Modus suchender Modulation im Atmosphärischen sinnlicher Erfahrung impliziert schon diese Innenperspektive, wie das entsprechende vorhergehende Zitat zeigt135. Goethe charakterisiert für innere Anschauung die atmosphärischen Ränder von Ideen- und Urteilsbildung als Intuition: Alles was wir Erfinden, Entdecken im höheren Sinne nennen, ist die bedeutende Ausübung, Bethätigung eines originalen Wahrheitsgefühls, das, im Stillen längst ausgebildet, unversehens mit Blitzesschnelle zu einer fruchtbaren Erkenntniß führt. Es ist eine aus dem Innern am Aeußern sich entwickelnde Offenbarung, die den Menschen seine Gottähnlichkeit vorahnen läßt. Es ist eine Synthese von Welt und Geist, welche von der ewigen Harmonie des Daseyns die seligste Versicherung gibt.136

Das Aperçu ist eine epistemische Spielart der denkenden Anschauung: [W]as wir in wissenschaftlichen und poetischen Angelegenheiten aperçuʼs nennen: das Gewahrwerden einer großen Maxime, welches immer eine genialische Geistesoperation ist; man kommt durch Anschauen dazu, weder durch Nachdenken noch durch Lehre oder Überlieferung.137

132 FA 24: 351. 133 Genauer spricht er von »Imagination«, an dieser Stelle scheint mir ein synonymer Gebrauch plausibel, weil Goethe das von mir mit Intuition bezeichnete meint; in anderem Kontext muss u.U. selbstverständlich zwischen Intuition und Imagination differenziert werden. Zu Intuition bei Goethe vgl. u.a. auch Ernst Cassirer: Goethe und die Kantische Philosophie, S. 82. 134 Vgl. dazu Kap. 4 und 5. Goethes Begriff von Aperçu untersucht Hermann Schmitz: Goethes Altersdenken im problemgeschichtlichen Zusammenhang (1959), Bonn 2008, S. 168–179 und 394–416. Vgl. aktuell Eckart Förster: »Zum Schauen bestellt« – Goethes Naturreligion, in: Goethe-Jahrbuch 130 (2013), S. 65–74, besonders S. 71. 135 Vgl. die zitierte Passage aus dem Gespräch mit Eckermann am 7. Oktober 1827 in: FA 39: 633. 136 Sprüche in Prosa, in: FA 13: 47. 137 Dichtung und Wahrheit, FA 14: 743.

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7 Denkmuster und Bekenntnisse des Betrachters

Intuition und Aperçu werden als denkbasierte Anschauungsmuster bestimmt, vermittels derer Ideen augenblicklich aufblitzen, die keinerlei methodischen Vollziehungen und planerischen Vorgaben entspringen, sich geradezu jeder systematischen Handhabe entziehen. Für die denkbasierte Anschauung müssen demnach die epistemischen Modi differenziert werden: Ahnung ist neben ihrer Bedeutung für sinnliche Anschauung der Erkenntnismodus, in einem indifferenten Grenzbereich von Idee und Begriff die noch unausgeloteten Dimensionen durch einen Erkenntnisprozess zu modellieren und zu erschließen138. Daneben verbindet sich, im Kontrast zu modellierenden Modi von Ahnung, mit dem Aperçubegriff zeitliche Unmittelbarkeit. Mit diesem Spezifikum, ohne Prozess im Augenblick eine in diesem Sinne unmittelbare Einsicht zu erlangen, verbindet sich in Goethes Verständnis dieses Zusammenhangs, wie obiges Zitat zeigt, in besonderer Weise das von ihm für die Umfassenden im vorliegenden Aufsatz betonte Moment, die »Einheit des Ganzen« zu gewinnen. Er bewegt sich mit diesem Verständnis in einer für den Diskurs typischen Unterscheidung. Einem analytisch langsamen Denken (Kahneman), das ein Ganzes durch Abstraktion gewinnt, indem es bspw. systematisch klassifiziert, wird kontrastiv ein schnelles Denken (Kahneman) gegenüber gestellt, welches das Ganze ohne diskursive Prozeduren unmittelbar als ein Gegebenes wahrnimmt (in diesem Sinne aktuell von Eckart Förster rekonstruiert139). Gegenüber dieser Differenzierung ergibt sich nach meiner Lesart denkbasierter Anschauung, dass sie sowohl modelliert als auch unmittelbar generiert sein kann. Der damit abgesteckte Sinnbezirk von Intuition gehört zu den von Kant kritisch kommentierten Erkenntnisformen, der auch im aktuellen Diskurs über Phänomenologie nur randständig diskutiert wird140, er ist für Goethe aber nicht nur legitim, sondern leistet die entscheidende Expansion und Transformation von Erkenntnis. Die Begründung seiner Betrachtungsweise hybrider Anschauung (Erfahrungsbasierung und Denkbasierung) als produktiver Erkenntnisleistung liefert der vierte methodische Ansatz der Ordnung des Unternehmens. Auf der Skala von Erfah138 Vgl. zu einer solchen Erkenntnispraxis meine Rekonstruktion in Kap. 5. Wenn Faust im Moment seines Todes im Kontext seiner expansiven unternehmerischen Tätigkeit und ihres vermeintlichen Ertrags sagt: »Im Vorgefühl von solchem hohen Glück/Genieß ich jetzt den höchsten Augenblick« (V. 11585 f.), so umgreift dieses Vorgefühl sowohl Ahnung als auch Intuition. Sie sind in diesem Todesmoment Ausdruckformen der Verheißung eines Neuen und damit literarisch modulierte epistemische Denkmuster der hier diskutierten Art, deren weitreichender Bedeutung für das Verständnis der Moderne hier nicht weiter nachgegangen werden kann. 139 Vgl. zur Differenzierung des Aperçubegriffs Eckart Förster: »Zum Schauen bestellt« – Goethes Naturreligion, a.a.O., S. 71. 140 So u.a. von Lambert Wiesing: Das mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, Frankfurt/M. 2009.

7.2 Epistemische Methodenkonzeptionen der Naturforschung

303

rungsbasierung (1), Wissen des Verstandes (2) sowie erfahrungs- und denkbasierter Anschauung (3) operieren die »Umfassenden« (4) mit o.g. Formen anschauenden Denkens. Das Besondere dieses Vermögens denkbasierter Anschauung sieht Goethe darin, dass es in innerer aktiv-produktiver Anschauung die Ideen in zentrifugal-zentripetaler Wechselwirkung eines geistigen Horizontes gewinnt, die in den Dingen als bewirkende Ursachen existieren. Anschauende Urteilskraft von 1820141 liefert dazu den philosophischen Begründungsansatz. Goethe greift mit dieser programmatischen Abhandlung die Unterscheidung zwischen einer reflektierend diskursiven und einer anschauend intuitiven Urteilskraft der Kritik der Urteilskraft142 auf, die auch die Ordnung des Unternehmens kennzeichnet. Im Anschluss an Kants Unterscheidung gilt für Goethe: Während anschauende Urteilskraft vom Ganzen aus die Teile bestimmt, erschließt diskursive Urteilskraft von den Teilen aus das Ganze als ein »synthetisch Allgemeine[s]«143. Auf diese spezifische Eigenart geht Goethe in der Ordnung des Unternehmens nicht ein. Der programmatische Brief Goethes vom 25. November 1807 an Karl Caesar von Leonhard144 hebt für diese hervor, daß meine Art, die Gegenstände der Natur anzusehen und zu behandeln, von dem Ganzen zu dem Einzelnen, vom Totaleindruck zur Beobachtung der Teile fortschreitet, und daß ich mir dabei recht wohl bewußt bin, wie diese Art der Naturforschung, so gut als die entgegengesetzte, gewissen Eigenheiten, ja wohl gar gewissen Vorurteilen unterworfen sei.145

Wenn Goethes Betrachtungsart vom Ganzen zu den Teilen fortschreitet, findet dieser Ansatz seine entscheidenden epistemischen Modi im Sinnbezirk der Formen anschauenden Denkens und unterscheidet sich von anderen Vorstellungsarten. Wie ein Ganzes methodisch generiert werden kann und welche Funktion es für den gesamten Erkenntnisprozess hat, legt Goethe in Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt dar und soll an entsprechender Stelle rekonstruiert werden146. Im vor141 Vgl. FA 24: 447 f. Kommentar S. 1070 ff. 142 Vgl. dazu die § 76 und 77 in Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Kants Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie, hrsg. von Manfred Frank und Véronique Zanetti, Frankfurt/M. 1996, S. 770–782, Goethe zitiert aus § 77 wörtlich die entscheidende Passage FA 24: 447. 143 FA 24: 447. 144 Vgl. zu diesem das vorangehende Kapitel. 145 An Herrn von Leonhard, in: FA 25: 363 f. 146 Mit meiner Untersuchung von Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt werde ich eine Rekonstruktion der prozessualen Abfolge von Erkenntnis als Ertrag meiner Un-

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7 Denkmuster und Bekenntnisse des Betrachters

liegenden Zusammenhang geht es zunächst darum, dass unter bestimmten Voraussetzungen Gedachtes als wahrnehmbar aufgefasst werden kann. Kant hat eine solche intellektuelle Anschauung aus dem Bereich der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis mit philosophischer Begründung ausgeschlossen, für Goethe hingegen hat sie einen bedeutenden Platz in seiner konkreten naturwissenschaftlichen Forschung und Bedeutung für seine Selbstbildung in den Weltzusammenhängen. Ohne hier explizit auf weitere entsprechende Beispiele eingehen zu müssen147, findet man für diese Forschungspraxis immer wieder einschlägige Hinweise: »Intuitiver Verstand (Kants) auf Metamorphose der Pflanze bezüglich« lautet ein Tagebucheintrag vom 9. September 1817, mit dem Goethe offensichtlich ein zu dieser Zeit aktuell konkretes Projekt notiert, in welchem philosophische und naturwissenschaftliche Forschung fusionieren148. Und die philosophischen Überlegungen führen Goethe zu der Auffassung, dass die durch anschauende Urteilskraft gewonnenen Erkenntnisse das Wissen regulativer Verstandesbegriffe überschreiten und dass im Erkennen dem Menschen die Möglichkeit offenstehe, Organe des Denkens auszubilden, um die konstitutiven Prinzipien der Natur nachschaffend zu generieren, im Wortlaut Goethes: »[D]aß wir uns, durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur, zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten«149. Es geht also bei Goethes philosophischen Reflexionen 1817–1820 um die ontologische Korrespondenz von Produktion der natura naturans und deren partizipierende Rezeption durch Wahrnehmung und Denken. Dabei operiert Aisthesis im Atmosphärischen von sinnlichem und ideellem Raum als sinnliche Anschauung und Intuition. Beide Modi markieren einen Kontakt zur Wirklichkeit jenseits konstruktivistischer Vorgaben. Diese Betrachtungsweise ist widerständig gegenüber den Mustern des wissenschaftlichen Diskurses; Goethe hat tersuchung vorlegen, die auch klärt, wie der Sachverhalt der Schlussbemerkung von der Ordnung des Unternehmens, dass es »gewissermaßen nachher die Sache der Natur[ist], sich in die[...] Idee zu fügen«, zu verstehen ist. 147 Vgl. für diese u.a. die Methodik geologischer Forschung Goethes, wie sie in Kap. 5 rekonstruiert ist. 148 Tagebuch vom 9. September 1817. Vgl. den Kommentar in FA 24: 1070 f. Die Tagebuchnotizen Goethes vom 8. bis 10. September 1817 lauten: »Einwirkungen der Kantischen Philosophie« (8.9.), »Intuitiver Verstand (Kants) auf Metamorphose der Pflanze bezüglich« (9.9.), »Anschauender Verstand« (10.9.). 149 FA 24: 448. Von den Dingen, wie sie an sich sind, können wir nach Kants Auffassung bekanntlich nichts wissen. Erkennen des Menschen muss sich, wie es Klaus Michael Meyer- Albich ausdrückt, damit begnügen, die Dinge der Welt mit »bloß menschlichen Kategorien zu ›buchstabieren‹«. Klaus Michael Meyer-Albich: Praktische Naturphilosophie. Erinnerung an einen vergessenen Traum, München 1997, S. 168. Goethe sieht demgegenüber durchaus andere weiter reichende ontologische Bedeutungen von Denken und Erkennen.

7.2 Epistemische Methodenkonzeptionen der Naturforschung

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dieses Erkenntnismuster schon in seiner Jugend mit dem Entelechiebegriff verbunden150, im Alter ist es über den Weg der Spinozalektüre im philosophischen Diskurs der Aufklärung verortet. Den Ertrag meiner Rekonstruktion der Ordnung des Unternehmens möchte ich zunächst in zweierlei Hinsicht zusammenfassen. Der kontrastive Vergleich der vier Erkenntnisformen unterscheidet Aisthesis als produktive, anschauend-intuitive Erkenntnisform gegenüber konstruktivistischen Modellen mit diskursivem Ansatz. Ich denke, dass im Rahmen der Ordnung des Unternehmens insbesondere das vierte Erkenntnismuster zeigt, wie Goethe die kritische Philosophie Kants für sich auslegt. In Ergänzung zur Rekonstruktion im vorangehenden Kapitel bleibt festzuhalten: Nach Kant sind vormoderne Erkenntnismuster nicht mehr unkritisch zu praktizieren151. Doch zeigt Kant mit den Bedingungen der Möglichkeit gesicherter Erkenntnis Grenzen auf, die das moderne Bewusstsein in eine ontologische Differenz zur Welt bringen: modernes Bewusstsein ist Differenzbewusstsein. Goethe folgt Kant in erkenntniskritischer Hinsicht und hält dennoch im Bewusstsein der Unhintergehbarkeit der kritischen Philosophie den Welthorizont für Erkenntnis offen. Aisthesis als hybrides Erkenntnismuster ist dabei zum einen in sinnlicher Anschauung basiert, orientiert sich also an methodischer Beobachtung moderner Wissenschaft, zum anderen auch denkbasiert und aktiviert mit dieser Komponente aktuell als vormodern verstandene, meist randständig als Anomalie diskutierte Erkenntnismuster152. Indem Goethe diese aber mit kritischem Bewusstsein einsetzt, um bspw., wie gezeigt, die Grenze von gesichertem Wissen und offener Forschungsperspektive für neue Erkenntnisse zu überschreiten, erprobt er mit epistemischen Mustern, unter den Bedingungen und im Bewusstsein der Moderne dem Differenzbewusstsein eine Identitätsperspektive zu schaffen. Indem Goethe mit den Möglichkeiten und Optionen der unterschiedlichen Spielarten von Erkenntnis unter den Bedingungen modernen Bewusstseins vormoderne Erkenntnismuster aktiviert, insistiert er auf ontologische Möglichkeiten von Partizipation und Ganzheit, die ihn als widerständig unzeitgemäßen Forscher erscheinen lassen, der eigenständig ungewöhnliche Optionen sucht und erprobt. Aus meiner Rekonstruktion von Goethes Ordnungsvorschlag für die vier Forschungsarten möchte ich auf der Folie dieser Widerständigkeit noch einmal die 150 Vgl. dazu in Kap. 4 das philosophische Denken der Jugend sowie im folgenden Kapitel besonders zum Gestaltbegriff. 151 Vgl. dazu auch im folgenden Kapitel zur Winckelmannschrift. 152 Dass Intuition heute randständig diskutiert wird und welche Bedeutung sie haben könnte, erläutert Wolfgang Nieke: Intuition aus philosophischer und erziehungswissenschaftlicher Sicht, in: Maximilian Buchka (Hrsg.): Intuition als individuelle Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit in der Heilpädagogik, Luzern 2000, S. 11–23.

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7 Denkmuster und Bekenntnisse des Betrachters

9 Georg Dionysios Ehret für Linnés Systema naturae (1735)

Modi von Distanzierung und Partizipation eingehen. Es ist deutlich, dass Goethe keine der vier Forschungsarten ablehnt, er hebt die Bedeutung der beiden letzten

7.2 Epistemische Methodenkonzeptionen der Naturforschung

307

für ein tieferes Verstehen und für eine Partizipation an der Ganzheit der Welt hervor. Doch darf man deshalb die beiden ersten Forschungsarten und deren Modi der Distanzierung nicht unbedingt als weniger bedeutend beurteilen. Goethe hat für die Forschungspraxis auf Klassifikation und Taxonomie, auf kategoriale Prinzipien des regulativen Verstandes als notwendiges Instrument gesetzt; er arbeitet bspw. bei seinen botanischen Studien mit der wissenschaftlichen Systematik des von ihm hoch geschätzten Carl von Linné: Wenn Goethe mit einem solchen botanischen Ordnungsmuster, das der Pflanzenzeichner Georg Dionysios Ehret für Linnés Systema naturae (1735)153 angefertigt hat, Pflanzen untersucht, so verspricht er sich durch eine perspektivisch vielseitige und pluralistische Fusion der Forschungsarten einen gesteigerten Forschungsertrag, der als solcher dem Subjekt in seinem Selbst- und Weltverhältnis zugutekommt154. Das Plädoyer für Pluralismus taucht in verschiedenen Aktivierungszusammenhängen auf und ist von mir als ein Muster von Goethes Verständnis von Forschung bezeichnet worden. Der Aufsatz Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt, den ich nun hinsichtlich seines Ertrags für Mustererkennung befrage, begründet für diese pluralistische multiperspektivisch operierende Betrachtungsweise Goethes die fundamentale Erkenntnismethodik; Goethe variiert bspw. mit dieser Schrift, das sei hier nur kurz als Hinweis eingeschoben, seinen Gedanken einer Forschungsgemeinschaft, nur eine Zusammenarbeit, »das Interesse Mehrerer auf Einen Punkt gerichtet«155, ermögliche wissenschaftlichen Fortschritt. Der Aufsatz, der in einer überlieferten Fassung vom 28. April 1792 vorliegt156 und in der Fassung von 1793 in FA 25 abgedruckt ist157, wird in der Forschung aktuell im Kontext von Goethes Kantstudium, insbesondere seiner Lektüre der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft, sowie von Goethes Spinozalektüre158 153 Aus: , letzter Zugriff: 15.1.2013. 154 Goethes an der Erkenntnispraxis orientierte wissenschaftliche Arbeit wird an einer solchen Stelle deutlich. Es geht ihm z.B. bei seinem Austausch mit Schiller weniger um mögliche positive Folgen der philosophischen Maximen der Aufklärung für Gesellschaft und Fortschritt, bspw. um philosophische Optionen von Freiheit, als vielmehr um den Ertrag für die praktische Tätigkeit, durch welche Emanzipation und Freiheit möglich wird. Vgl. dazu Kap. 3. 155 FA 25: 28. Vgl. dazu auch den Kommentar zur Fassung vom 28. April 1792 in MA 4.2: 1075 f., wo Kooperation und Wissenschaft als gemeinschaftliches Verfahren als Prinzipien herausgestellt werden. 156 Vgl. zu dieser MA 4.2: 321–332. 157 FA 25: 26–36. Vgl. auch MA 12: 684–693; vgl. zur Textgeschichte den Kommentar FA 25: 876 ff. sowie MA 12: 1147 f. 158 Vgl. dazu insbesondere Eckart Förster: Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische

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erörtert. Dabei wird Goethes Verständnis von Versuch als kritisch widerständiges Konzept zur induktiven Methode verstanden159. Meine Lektüre perspektiviere ich durch den methodischen Gedanken aus der Farbenlehre: Denn das bloße Anblicken einer Sache kann uns nicht fördern. Jedes Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren. Dies aber mit Bewußtsein, mit Selbsterkenntnis, mit Freiheit, mit Ironie...160

Goethe bestimmt mit dieser Skala Anschauung als eine produktive Erkenntnisleistung, in die Theoriebildung involviert ist (»Betrachten« als Theoriebildung durch »Sinnen« und »Verknüpfen«)161, betont also gegenüber der Differenzierung von Ordnung des Unternehmens einen integrativen Aspekt. In Zusammenhang und Fusion von sinnlicher Anschauung und Denken als erkennender Auseinandersetzung mit einer Sache vollzieht sich eine umbildende Erfahrung (Förderung des Subjekts durch produktive Anschauung) und mündet in der Partizipation des Subjekts an der Welt. Diese erkennende Partizipation bedarf eines kritischen Bewusstseins um die Bedingungen, Möglichkeiten und Gefahren. Mit den • Erkenntnisbedingungen des Subjektes, • seiner Organbildung durch umbildende Erfahrung • sowie dem Verknüpfen als entscheidendem methodischen Modus

Rekonstruktion, Frankfurt/M. 22012, S. 253–276, besonders S. 257 ff. Förster hat wesentliche Elemente der Methode Goethes beschrieben, auf die ich unten genauer eingehen werde. 159 Vgl. zu Goethes Kantlektüre Wolf von Engelhardt: Goethes Weltansichten. Auch eine Biographie, Weimar 2007, S. 167–186, darin eine genauere Untersuchung von Goethes Lektüre der Kritik der reinen Vernunft sowie der Kritik der Urteilskraft. Zu Goethe Begriff von Versuch im Sinne Kants und damit in Abgrenzung zur induktiven Methode vgl. insbesondere S. 185 f. Wenn Engelhardt in diesem Zusammenhang davon ausgeht, dass Goethe Kant auch in der Vernunftorientierung folgt, ist dieses Verständnis nach meiner Auffassung nicht überzeugend, wie aus meiner Rekonstruktion der Subjekt-ObjektRelation hervorgeht. Vgl. in diesem Sinne auch Jost Schieren: Anschauende Urteilskraft. Methodische und philosophische Grundlagen von Goethes naturwissenschaftlichem Erkennen, Düsseldorf und Bonn 1998, S. 63–67. 160 Vorwort zur Farbenlehre, in: FA 23/1: 14. 161 Vgl. zu dieser Skala ergänzend Vorschlag zur Güte in FA 25: 40 f.

7.2 Epistemische Methodenkonzeptionen der Naturforschung

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sind die drei Ertragsgebiete meiner Rekonstruktion umrissen. Erstgenannte Punkte liegen als Lesart durch meine Rekonstruktion schon vor und sollen deshalb um Neues ergänzt und differenziert werden. Der Versuch als Modus, durch den das Subjekt in eine methodisch arrangierte Verbindung mit der Welt tritt, soll in seinem Begründungszusammenhang differenziert erschlossen werden. »[U]ntersuchen was ist und nicht was behagt«162 ist das Leitmotiv Goethes, in den zentrifugal-zentripetal verschränkten Erkenntnisbedingungen nicht den Erkenntnishorizont des Subjektes, sondern die Ekstasen der Dinge als Maßstab für Erkenntnis zu gewinnen. In diesem Sinne ist Goethes Betrachtungsweise, seit sein Interesse für Forschung erwacht ist, ganz auf Aisthesis ausgerichtet, und er warnt auch in diesem Aufsatz nachdrücklich vor einer zu schnellen Theoriebildung: Man kann sich daher nicht genug in Acht nehmen, aus Versuchen nicht zu geschwind zu folgern: denn beim Übergang von der Erfahrung zum Urteil […] ist es, wo dem Menschen gleichsam wie an einem Passe alle seine inneren Feinde auflauren, Einbildungskraft, Ungeduld, Vorschnelligkeit, Selbstzufriedenheit, Steifheit, Gedankenform, vorgefaßte Meinung, Bequemlichkeit, Leichtsinn, Veränderlichkeit, und wie die ganze Schar mit ihrem Gefolge heißen mag, alle liegen hier im Hinterhalte und überwältigen unversehens sowohl den handelnden Weltmann als auch den stillen vor allen Leidenschaften gesichert scheinenden Beobachter.163

Diese Aufzählung differenziert die Gefahren, welche im Subjekt des Betrachters liegen und welche Erkenntnis in dessen Sinne beeinflussen, die wahren Sachverhalte damit aber verfehlen. Erfahrungen sinnlicher Wahrnehmung trügen demnach nicht, auch das Urteil kann als Begründungszusammenhang konsequent und folgerichtig strukturiert sein; was Erkenntnis verfälscht, ist die Verbindung von Erfahrung und Urteil. Diese Verbindung als Erkenntnisleistung des Betrachters ist heikel und labil. Das hat verschiedene Gründe. Da ist die nur zu oft unhinterfragte Disposition des Betrachters. Aber auch das Denkmuster einer prinzipiellen Kluft zwischen Idee und Erscheinung variiert Goethe an dieser Stelle implizit. Im Sinnbezirk der Relation von Empirie und Theoriekonstruktion gibt es in letzter Hinsicht keine unmittelbaren, wie selbstverständlich erscheinenden, in irgendeiner Art natürlichen Verbindungen, vielmehr sind sie prinzipiell vermittelt, sind immer eine Erkenntnisleistung des Subjekts. So ergibt sich die Frage, wie neben möglicher unmittelbarer Teilhabe durch die hybride Form von Aisthesis, die von Goethe im vorliegenden Aufsatz nicht explizit ausgeführt wird, die mittelbare Verbindung von Idee und Erfahrung 162 MA 12: 684. 163 MA 12: 688.

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als Konstruktionsleistung des Subjekts ebenfalls auf Partizipation zielen kann. Folgt man der Ordnung des Unternehmens, liegt der entscheidende Unterschied in der Art, wie ein Erkenntnisresultat generiert wird. Goethe ist sich der Genese von Theoriekonstruktionen in erkenntniskritischer Weise bewusst; für diese gilt: die Bedingungen und Modalitäten einer Betrachtungsweise perspektivieren das Resultat164. Goethes methodische Überlegungen zur Beweiskraft von Versuchen in der Farbenlehre165 werden damit um Merkmale ergänzt, die nicht so sehr in der Theoriebildung an sich, sondern in der Neigung des Menschen zu suchen sind, seinen Vorstellungen von einem Sachverhalt zu folgen: Der Mensch erfreut sich nämlich mehr an der Vorstellung als an der Sache, oder wir müssen vielmehr sagen: der Mensch erfreut sich nur einer Sache, in so fern er sich dieselbe vorstellt, sie muß in seine Sinnesart passen, und er mag seine Vorstellungsart noch so hoch über die gemeine erheben, noch so sehr reinigen, so bleibt sie doch gewöhnlich nur ein Versuch, viele Gegenstände in ein gewisses faßliches Verhältnis zu bringen, das sie, streng genommen, unter einander nicht haben; daher die Neigung zu Hypothesen, zu Theorien, Terminologien und Systemen, die wir nicht mißbilligen können, weil sie aus der Organisation unsers Wesens notwendig entspringen.166

Vorstellungsarten scheinen damit von meist verborgen wirkenden Dispositionen und Konstellationen des Subjektes abzuhängen. Doch im Zusammenhang von Goethes Leitmotiv umbildender Erfahrung ist das nicht das letzte Wort. Vorstellungsarten sind modifizierbar und veränderbar durch Übung der »Beobachtungsgabe«167, ein Aktionspotential zur Organbildung des Subjektes, das Goethe immer wieder interessiert und fasziniert und dessen umbildende Möglichkeiten er immer wieder erprobt hat. In einem Brief vom 28. August 1796 an Samuel Thomas Soemmerring führt Goethe aus, wie Ideen beschaffen sein müssen, welche nicht bestimmten Vorstellungsarten entspringen: Eine Idee über Gegenstände der Erfahrung ist gleichsam ein Organ, dessen ich mich bediene, um diese zu fassen, um sie mir eigen zu machen.168 164 Vgl. dazu das vorherige Kapitel und im folgenden Kapitel zu »Bedeutendes Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort« (FA 24: 595–599). 165 Vgl. dazu das vorherige Kapitel, wo die Bedingung und Bedeutung von Theoriebildung anhand der methodischen Überlegungen Goethes rekonstruiert sind, aus denen die Möglichkeiten eines offenen Forschungsprozesses abgeleitet werden können; vgl. Zur Farbenlehre, in: FA 23/1: 308, § 30. 166 FA 25: 31. 167 FA 25: 27. 168 FA 31: 232.

7.2 Epistemische Methodenkonzeptionen der Naturforschung

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Demnach dienen Ideen nicht als systematisch klassifikatorische Ordnungsmuster, welche Erfahrung konstruktiv vorprägen, sondern verweisen vielmehr auf die oben rekonstruierte aktiv-produktive Erkenntnishaltung in unmittelbarer Erfahrung; und die Idee als Organ kann nicht anders verstanden werden, als dass die Denkmuster des Subjekts selbst dieses Organ sind. Die Spielarten dieser Denkmuster, einer Expansion von Erkenntnis durch multiperspektivische Amplifikation, durch Wiederholung, Variation und Modifikation, durch Fusion verschiedener Betrachtungsweisen, durchziehen Goethes Erkenntnisbemühungen seit der Jugendzeit. Das Besondere des vorliegenden Aufsatzes sehe ich darin, dem Erkenntniszugriff eine methodische Begründung zu geben, die eine Ordnung ermöglicht, mit welcher eine systematische Forschung betrieben werden kann. Der Versuch sowie Folgen oder Versuchsreihen leisten diese Aufgabe einer Vermittlung von Objekt und Subjekt. Goethes Definition eines Versuches lautet: Wenn wir die Erfahrungen, welche vor uns gemacht worden, die wir selbst oder andere zu gleicher Zeit mit uns machen, vorsätzlich wiederholen und die Phänomene die teils zufällig teils künstlich entstanden sind, wieder darstellen, so nennen wir dieses einen Versuch.169

Goethe will damit den Wert der Erfahrung betonen, die man mit einem Versuch macht. Das vorsätzlich Arrangement eines Versuches ermöglicht es, Bedingungen, Ursächliches und Wirkendes zu erfahren, dabei durch Wiederholung und Variation immer genauer zu differenzieren und zu unterscheiden, was in einen beobachteten Phänomenzusammenhang erfahren werden kann. Denn Erkennen konzentriert sich dabei vorzüglich auf Erfahrung, die nicht vorschnell zu Theoriebildung übergeht. Das Subjekt soll demnach vorzüglich eine Partizipationsleistung vollziehen, keine Konstruktionsleistung. Erkennen durch Verknüpfen im Zusammenhang eines Versuches heißt also zunächst einmal: möglichst ohne Theorie Phänomene und ihre Zusammenhänge so wahrzunehmen, wie sie sich zeigen. Kritisch muss man sich solcher möglicher Erkenntnismodalitäten bewusst sein und ihre Wirkungen auf das Resultat bedenken. So argumentiert Goethe mit seinem Versuchskonzept durchaus auch im Sinne Kants gegen die induktive Methode170. Es ist klar, dass Goethe mit diesem Anspruch den o.g. Gefahren von Theoriebildung begegnen will. Welche Bedeutung und Funktion bspw. Hypothesen haben, soll unten genauer untersucht 169 FA 25: 29. 170 Vgl. dazu Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, a.a.O., S. 175, sowie ders.: Goethes Weltansichten, a.a.O., S. 185 f., wo Goethes Begriff von Versuch im Kontext von Kants Kritik der reinen Vernunft dargestellt ist.

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7 Denkmuster und Bekenntnisse des Betrachters

werden. Deutlich wird an meiner Lesart über den Versuch, dass Goethe generell kritisch gegen voreilige Urteilsbildung argumentiert und vor zu schnellen Folgerungen warnt. Auf seine prinzipiellen Einwände gegenüber der Beweiskraft von Versuchen habe ich schon hingewiesen. Will man also Versuche als Instrumente von Erkenntnis einsetzen, die tatsächlich eine partizipatorische Verbindung ermöglichen, liegt alles daran, wie Versuche miteinander verknüpft werden. Goethe begründet Versuchsreihen nach einem ontologischen Muster, das sein Denken als Ganzes durchzieht: Der Modus von Forschung soll analog den Wechselwirkungszusammenhängen der Natur arrangiert werden: In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe, und wenn uns die Erfahrungen nur isoliert erscheinen, wenn wir die Versuche nur als isolierte Fakta anzusehen habe, so wird dadurch nicht gesagt, daß sie isoliert seien, es ist nur die Frage: wie finden wir die Verbindung dieser Phänomene, dieser Begebenheiten? […] Da alles in der Natur, besonders aber die allgemeinern Kräfte und Elemente in einer ewigen Wirkung und Gegenwirkung sind, so kann man von einem jeden Phänomene sagen, daß es mit unzähligen anderen in Verbindung stehe, wie wir von einem freischwebenden leuchtenden Punkte sagen, daß er seine Strahlen nach allen Seiten aussende. Haben wir also einen solchen Versuch gefaßt, eine solche Erfahrung gemacht, so können wir nicht sorgfältig genug untersuchen, was unmittelbar an ihn grenzt? Was zunächst auf ihn folgt? Dieses ists, worauf wir mehr zu sehen haben, als auf das was sich auf ihn bezieht? Die Vermannigfaltigung eines jeden einzelnen Versuchs ist also die eigentliche Pflicht eines Naturforschers.171

In der Natur hängt alles mit allem zusammen. Will man mit Versuchen in diesem unendlich vielfältigen differenzierten Ganzen der Natur ein bestimmtes Phänomen genauer verstehen, muss man erkennen, mit welchen anderen Phänomenen es in einer Beziehung steht oder stehen könnte und welche Phänomene nicht in diesen Zusammenhang passen, wohl aber zur Erfahrung des Ganzen gehören. Zunächst erscheint es in diesem Sinne als isoliertes Phänomen, weil in dem vielfältig Ganzen der Natur der Zusammenhang einander verwandter Phänomene nicht zu identifizieren ist. Will man diesen Zusammenhang nicht durch Theoriebildung konstruieren, so bleibt die beobachtende Erfahrung, welche Versuch unmittelbar an Versuch reiht, dabei möglichst Sprünge in dieser Unmittelbarkeit vermeidet und einzelne Phänomene als unmittelbar zusammengehörig identifiziert, andere vernachlässigt oder ausschließt. Goethe sieht den Naturforscher in der Pflicht, solche Reihen von Ver171 FA 25: 33.

7.2 Epistemische Methodenkonzeptionen der Naturforschung

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suchen zu erstellen und verweist hier auf seine Untersuchungen zur Farbenlehre172, die sicherlich in dieser Hinsicht das entscheidende Dokument ist, auf das von mir hier nur verwiesen werden kann; er selbst hat für nahezu alle Bereiche, die ihn als Forscher interessierten, solche Reihen in Form von Sammlungen angelegt173. Bei der Perspektivierung meiner Untersuchung habe ich schon hervorgehoben, dass Goethe mit Aisthesis als forschungsmethodischer Betrachtungsweise im Sinnlichen das zugrunde liegende Gesetz sucht174. Dass sein »Denkvermögen ›gegenständlich‹ tätig sei«175, ist verschiedentlich festgestellt worden, Goethe spricht einmal von den Möglichkeiten einer »zarte[n] Empirie176; Friedrich Schiller prägt die Formel einer »rationale[n] Empirie«177, welche prägnant auf die Verbindung von Erfahrung, sinnlicher Anschauung und Denken/Bewusstsein für Aisthesis hinweist; und Schiller präzisiert, Goethe betreibe eine »rationelle[...] Empirie«178; er deutet damit auf den entelechisch orientierten Zweckbegriff von Goethes Betrachtungsart in Anlehnung an Kants Kritik der Urteilskraft. Goethe begrüßt diese Differenzierung Schillers ausdrücklich als sein eigenes »Glaubensbekenntnis«179. Wenn es also im Sinne dieses Glaubensbekenntnisses darum geht, Versuche in einer Folge zu ordnen, wobei auch analytisch-diskursive Denkmethoden des Verstandes ein notwendiges Instrument einer Systematik sind, wenn es dann gilt, durch Folgen von Versuchen, durch Anordnung von Phänomenen das Bewirkende zu erkennen180, das Ursächliche, was den Naturerscheinungen zugrunde liegt, nachzuvollziehen und 172 »Ich habe in den zwei ersten Stücken meiner optischen Beiträge eine solche Reihe von Versuchen aufzustellen gesucht, die zunächst an einander grenzen und sich unmittelbar berühren, ...«. (FA 25: 34) 173 Zu Goethes Gesteinssammlung bspw. vgl. Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde, a.a.O. 174 Vgl. Kap. 2.2. 175 Bedeutendes Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort, in: FA 24: 595. 176 FA 13: 149: »Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht, und dadurch zur eigentlichen Theorie wird. Diese Steigerung des geistigen Vermögens aber gehört einer hochgebildeten Zeit an.« Auch wenn man von einem Gedankensplitter wird sprechen müssen, klingt in dieser Maxime doch der Versuch an, empirische Methodik mit holistischem Wesensverständnis zu verbinden und damit die erkenntnistheoretische Spaltung von Subjekt und Objekt zu überwinden. 177 Brief vom 12. Januar 1798, in: MA 8.1: 492. 178 MA 8.1: 492. 179 Brief vom 13. Januar 1798 in: MA 8.1: 494. Wenn Goethe damit zugibt, Empirie durch den Begriff ergänzen zu müssen, wenn Erkenntnis möglich sein soll, so aber auch an dieser Stelle mit der Sorge, Empirie durch Theoriekonstruktion zu überformen. 180 Vgl. dazu Eckart Förster: »Zum Schauen bestellt« – Goethes Naturreligion, a.a.O., S. 70 f., auf denen Förster die Schrittfolge von Goethes Methode rekonstruiert, freilich ohne die dabei notwendige Leistung des diskursiven Verstandes zu betonen.

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aufzudecken, so geht es im Besonderen darum, als umfassender Forscher (Ordnung des Unternehmens) zu erkennen und zu übersehen, dass alle einzelnen Phänomene, alle einzelnen Versuche »gleichsam nur Einen Versuch ausmachen, nur Eine Erfahrung unter den mannigfaltigsten Ansichten darstellen«181. Goethe nennt Erkenntnisse, die mit dieser Methode gewonnen werden, auch Erfahrungen höherer Art; man kann sie als Muster bezeichnen, die Forschung auf der Basis solcher Versuchsreihen in enger Bindung an die Empirie modelliert. Für diese Genese von Mustererkennung ist für Goethe das mathematische Denken Vorbild, dessen Folgerichtigkeit ohne gedankliche Sprünge seine Demonstrationen182 entwickelt: Eine solche Erfahrung, die aus mehreren andern besteht, ist offenbar von einer höhern Art. Sie stellt die Formel vor, unter welcher unzählige einzelne Rechnungsexempel ausgedrückt werden.183

Es ist deutlich, worin für Goethe der Gewinn liegt. Wenn man ein solches Muster als Phänomenzusammenhang erkannt hat, kann man es für weitere Erkenntnisse nutzen184. Goethe führt zu dieser Betrachtungsart aus, sie beruhe auf dem »Ableiten«, er »raste nicht bis [er; J.S.] einen prägnanten Punkte finde, von dem sich vieles ableiten läßt, oder vielmehr der vieles freiwillig aus sich hervorbringt ...«185. Damit ist genau der Punkt im Erkenntnisprozess bezeichnet, an dem Aisthesis als sinnliche Anschauung in ein anschauendes Denken umschlägt, das aktiv vollzieht, wie sich der innere Zusammenhang eines äußeren Phänomenzusammenhangs zeigt. Dabei wird das bewirkende entelechische Prinzip freigelegt und die Erkenntnisleistung ist auf Ganzheit angelegt: Die einzelnen Phänomene sollen in den Zusammenhang einer Gesamtreihe gestellt werden, die erst ermöglicht, das Ganze zu überblicken. Eckart Förster hebt für diesen Kontext völlig zu Recht die zentrale Bedeutung des Aperçubegriffes hervor186, ich habe mit meiner Rekonstruktion gezeigt, dass Goethe im Sinnbezirk von Intuition auch Ahnung als Erkenntnismethodik einsetzt, die im Gegensatz zum unmittelbar plötzlich sich vollziehenden Aperçu in einer Prozessfolge anschauend erkennend das entelechische Prinzip modelliert. Meine Lesart fasst das Erkenntnisspektrum von Intuition also weiter. Wenn Förster dann zutreffend hervorhebt, dass die mit dem Aperçu gewonnene Idee nicht das gesuchte Gesetz selbst ist, sondern 181 182 183 184

FA 25: 34. Vgl. FA 25: 34 f. FA 25: 34. Die philosophische Dimension von Erfahrungen höherer Art hat mit anderer Gewichtung auch untersucht Jost Schieren: Anschauende Urteilskraft, a.a.O., S. 110–115. 185 Bedeutendes Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort, in: FA 24: 598. 186 Eckart Förster: »Zum Schauen bestellt« – Goethes Naturreligion, a.a.O., S. 70 f.

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der Schlüssel dazu und sich im Erfahrungszusammenhang bewähren muss187, so gilt das auch für den erweiterten Sinnbezirk von Intuition, und es muss genauer geklärt werden, wie mit einem solchen Erkenntnismuster verfahren werden kann, wo seine Stärken und Schwächen liegen. Um diese Klärung zu leisten, möchte ich zunächst auf die Möglichkeiten dieser rationalen Empirie eingehen. Mit ihr ist gegenüber dem ersten, zunächst ohne Theoriekonzept betrachtenden Zugriff, durch das Aufsuchen von »Ähnlichkeiten«188 zwischen Phänomenen, ihrer erscheinenden Nähe und ihren unmittelbaren Bezügen, ein ganz neuer Standpunkt erreicht. Nun ist es möglich, dass die Theorie in der Betrachtung als Muster wirkt; Goethe spricht in diesem Zusammenhang davon, dass man nun die Phänomene »vor den Augen des Leibes und des Geistes gegenwärtig haben«189 müsse, spricht also von einer perspektivisch oszillierenden Erkenntnishaltung und einer blicklenkenden Funktion von Mustern in der Anschauung. Werden unter diesen Bedingungen die gefundenen Phänomenzusammenhänge weiter erforscht, ergeben sich durch ein Muster neue Optionen für die Betrachtung. Dieses Verfahren ist von Michael Mandelartz190 und Eckart Förster191 beschrieben worden. Nach Mandelartz ordnet Goethe mit seiner Methode verwandte Phänomene in ein generalogisches System192. Damit beschreibt Mandelartz unter rein methodischer Fragestellung Goethes Ansatz, demonstriert diesen an Beispielen der Farbenlehre, geht jedoch nicht auf die damit verbundenen epistemischen Konstituenten und ontologischen Perspektiven (Ganzheitsbegriff ) ein. Förster erschließt dagegen gerade von der epistemischen Fragestellung aus Goethes Methode und stellt sie in ihrer prozessualen Folge dar. An welchen Stellen ich über den von Förster rekonstruierten epistemischen Sinnbezirk ergänzend hinausgehe, habe ich im Vorherigen dargelegt. Daran anknüpfend, verfahre ich ähnlich auch bei der Rekonstruktion 187 Ebd., S. 71. 188 So in der Farbenlehre, in: FA 23/1: 96, § 228. Vgl. zur Differenzierung von Nähe und Ferne auch die ästhetische Betrachtungsweise des Straßburger Münsters, rekonstruiert in Kap. 4. 189 Farbenlehre, in: FA 23/1: 100, § 242. 190 Vgl. Michael Mandelartz: Goethe, Newton und die Wissenschaftstheorie. Zur Wissenschaftskritik und zur Methodologie der Farbenlehre, in: , letzter Zugriff: 1.9.2011, besonders S. 33 ff., wo Mandelartz zwischen Ähnlichkeit und Verwandtschaft differenziert und daraus zwei Forschungsverfahren Goethe beschreibt. 191 Vgl. Eckart Förster: Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion, Frankfurt/M. 22012, S. 257–264. 192 Mandelartz differenziert mit Goethes Worten nach Ähnlichkeit, Verwandtschaft und »generalogische[r] oder genauer: genetische[r] Ableitung« Michael Mandelartz: Goethe, Newton und die Wissenschaftstheorie, a.a.O., S. 34 f.

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der Abfolge des Erkenntnisprozesses. Mit Förster stimme ich überein, dass wenn man mit einem o.g. Muster (Förster spricht von Ideen, die durch ein zweites Sehen erschlossen werden193) einen Forschungsbereich erneut untersucht, man intensiver und vertieft die inneren Zusammenhänge der ähnlichen Phänomene erschließen kann, gerade weil die Übergänge in ihrer Besonderheit ganz anders in den Blick kommen. Förster vernachlässigt bei seiner Rekonstruktion jedoch die besondere Bedeutung der Analogie als produktiver Denkfigur194 für die Modulation von Erkenntnis bei Goethes Betrachtungsansatz, auf die ich im Vorherigen schon einmal kurz hingewiesen habe195, auf die nun aber speziell einzugehen ist, weil sie mir für die Spielarten von Goethes Denken bedeutend zu sein scheint. Goethes von mir wiederholt thematisierte epistemische Reflexion über die Kluft, welche Idee und Erfahrung immer trenne, nie seien beide kongruent, allenfalls »analog«196, wirft die Frage möglicher Relation auf, damit aber auch die Frage, unter welchen Bedingungen die Verbindung einer Erfahrung mit anderen überhaupt möglich ist: Die Schwierigkeit Idee und Erfahrung mit einander zu verbinden erscheint sehr hinderlich bei aller Naturforschung: die Idee ist unabhängig von Raum und Zeit, die Naturforschung ist in Raum und Zeit beschränkt, daher ist in der Idee Simultanes und Sukzessives innigst verbunden, auf dem Standpunkt der Erfahrung hingegen immer getrennt, und eine Naturwirkung die wir der Idee gemäß als simultan und sukzessiv zugleich denken sollen, scheint uns in eine Art Wahnsinn zu versetzen. Der Verstand kann nicht vereinigt denken was die Sinnlichkeit ihm gesondert überlieferte, und so bleibt der Widerstreit zwischen Aufgefaßtem und Ideiertem immerfort unaufgelöst.197

Mit diesen Überlegungen formuliert Goethe das Problem, welche Bedeutung und Funktion Übergänge haben, unter verschärften Bedingungen. Wie kann Erkenntnis vom »Standpunkt der Erfahrung« aus das verbinden, nämlich Simultanes und Sukzessives, was in Erfahrung immer getrennt erscheint? Der Gewinn wäre klar: Durch Erkennen würden einzeln und getrennt wahrgenommene Erfahrungen zu einer ontologischen Einheit verbunden. 193 Vgl. u.a. Eckart Förster: Die 25 Jahre der Philosophie, a.a.O., S. 261. 194 Vgl. zu dieser Denkfigur in philosophischer Bedeutung Douglas Hofstadter; Emmanuel Sander: Die Analogie. Das Herz des Denkens, Stuttgart 2014; darin zur konzentrierten Themenentfaltung (»Analogisierung und Kategorisierung«) S. 35–43. 195 Vgl. das vorangehende Kapitel. 196 Bedenken und Ergebung, in: FA 24: 449. 197 FA 24: 499 f.

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Das Problem kann man sich relativ leicht verdeutlichen. Wenn man z.B. eine Pflanze über einen Zeitraum hin betrachtet, so stellt sie sich in der Erfahrung immer als eine andere Erscheinung dar. Zu unterschiedlichen Zeiten und unter veränderter Perspektive wird sie sich jeweils verändert und anders zeigen. Verbindet man die verschiedenen Erfahrungen im Denken, so wird man das, was sukzessiv als Folge von Varietäten des Phänomens beobachtet werden kann, nach Goethes Worten zu einer Idee modellieren können, welche die sukzessiv wahrnehmbare Folge als eine simultane Einheit der Pflanze begreift und damit diese bestimmte Pflanze in ihrer Metamorphose erfasst. Während man mit einer Erfahrung immer nur ein einmalig in dieser Form wahrnehmbares Phänomen beobachten kann, ermöglicht die Idee als Muster (nach meiner Lesart), diese besondere Pflanze in ihren verschiedenen Entwicklungszuständen und in ihrer Veränderung zu betrachten und zu verstehen. Mit meinem Beispiel wird exemplarisch deutlich, dass das methodische Prinzip der Versuchsreihen dann ertragreich zu sein scheint, wenn besonders die Übergänge berücksichtigt und beachtet werden. Hat man eine solche Reihe, hat für sie eventuell auch schon ein Erkenntnismuster, so kann man dieses überprüfen und weiterentwickeln, indem man u.a. fokussiert, wie bestimmte Übergänge gebildet worden sind, ob sie eventuell mehr konstruktiv entstanden sind, was Übergänge auszeichnet, welche Eigenschaften sie bestimmen, welche Funktionen Übergänge für die Reihenbildung haben. Für den Ertrag einer Mustererkennung, die darauf zielt, gesetzmäßige Zusammenhänge durch Aisthesis zu modellieren, wären demnach Übergänge eine zentral zu beachtende Komponente198. Mit diesen Überlegungen sind auch Hinweise gewonnen, welche Bedeutung das Denken in Analogien für Goethes Betrachtungsweise hat. Wenn es nicht in vormoderner Denkweise darum gehen kann, eine notwendige Kongruenz zwischen Sein und Denken zu behaupten, also eine letztlich absolute Übereinstimmung, Goethe aber ganz offensichtlich das vormoderne Denkmuster einer »Korrespondenztheorie zwischen der Ordnung des Seins und der Ordnung des Denkens«199 aktiviert, so ist die expansive Funktion von Analogien für die Erkenntnisleistung zu beschreiben. Analogien, wie ich sie für den hier verhandelten Untersuchungszusammenhang verstehe, stellen semantisch ähnliche Komponenten verschiedener Objekte in einen Zusammenhang. Die Schnittmenge gemeinsamer Merkmale ermöglicht eine solche Fusion. Wird in diesem Sinne ein Muster an einem neuen Gegenstandsbereich erprobt, so kann insbesondere an den Grenzregionen des bekannten und gesicherten Wissens und über dieses hinaus das Unbekannte beleuchtet werden. Analogien bie198 In diesem Sinne auch Eckart Förster: Die 25 Jahre der Philosophie, a.a.O., S. 262. 199 Dirk Kemper: »ineffabile«. Goethe und die Individualitätsproblematik der Moderne, München 2004, S. 6.

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ten demnach eine Heuristik, ermöglichen bei Übereinstimmungen die Integration des Neuen in das schon vorhandene Muster, ergänzen und erweitern den Bereich des Wissens also. Auch Unterschiede können in dieser Weise differenzierend erkannt werden. In diesem Sinne versteht auch Goethe das Denken in Analogien: Nach Analogien denken ist nicht zu schelten; die Analogie hat den Vortheil daß sie nicht abschließt und eigentlich nichts Letztes will; dagegen die Induction verderblich ist, die einen vorgesetzten Zweck im Auge trägt und, auf denselben losarbeitend, Falsches und Wahres mit sich fortreißt.200

Für Goethes Betrachtungsweise kann die Analogie also als eine wichtige Figur des Denkens gelten. Als erkenntnismethodisches Instrument ermöglicht sie ausdrücklich ein ergebnisoffenes Forschen. Im Rahmen der rekonstruierten denkbasierten Instrumente eingesetzt, modellieren Analogien von der Seite des Denkens im Zusammenhang von Versuchsreihen einen erfahrungsbasierten Forschungsertrag, weil sie keine Zielperspektive durch Theoriekonstruktion haben müssen. Die Analogie ist damit eine der entscheidenden Denkfiguren der anvisierten Korrespondenz und damit von Partizipation. Dass Goethe nun solche epistemischen Überlegungen in der Methode seiner Forschungspraxis umsetzt, hat für seine Betrachtungsweise bedeutende Konsequenzen. Denn wenn er dafür plädiert, nicht primär Theoriebildung zu betreiben, sondern Versuchsreihen zu konzipieren und mit Varianten anschauenden Denkens zu arbeiten, so wird deutlich, dass die Zielsetzung eines solchen Forschungsansatzes nicht in der Konstruktion durch das Forschungssubjekt liegt – ein Ertrag, der als Konstruktionsleistung prinzipiell in ontologischer Differenz zum Objekt verstanden werden müsste –, sondern vielmehr darin, durch Aisthesis die inneren entelechischen Bedingungen des Phänomens zu erkennen. Der Erkenntnisertrag ist dabei aktiv vom Subjekt an konkreten Objekten generiert, ist aber weder subjektiv, denn das Subjekt nimmt die Idee als Mustererkennung vielmehr wahr, als dass es diese konstruiert, noch auf das einzelne empirisch konkrete Objekt allein bezogen, denn dessen innere Bedingungen gelten für alle möglichen konkreten Objekte seiner Art. Mit dem epistemisch modellierten entelechischen Prinzip ist also eine ontologische Komponente gewonnen, welche konkrete Subjekt-Objekt-Bezüge umgreift. Mit dieser behaupteten Korrespondenz von Denken und Sein wird eine Ganzheit möglich201, welche das erkennende Subjekt und dessen Erfahrungsraum der Objekte zu 200 FA13: 44. 201 Vgl. dazu den Historischen Exkurs in Eckart Förster: Die 25 Jahre der Philosophie, a.a.O., besonders S. 265, wo Förster in diesem Sinne die mathematischen Ideen Spinozas inter-

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einem ontologischen Zusammenhang fusioniert: eine Einheit, in der das Differenzierte in partizipatorischem Bezug steht. Wenn Goethe in diesem Zusammenhang von einem beständigen und unaufhebbaren »Widerstreit« zwischen Idee und Erfahrung spricht, so würde ich vorschlagen, das als einen Antagonismus zu verstehen, dessen angedeutete dialektische Dynamik eine prinzipiell offene – entwicklungsoffene – Ganzheit modelliert202. Greift man mit dieser Differenzierung die Frage auf, welche weiteren epistemischen Methoden und Mittel nach Goethes Auffassung Mustererkennung ermöglichen, die erlaubt, Gesetze zu formulieren, so orientiert sich Goethe, ideengeschichtlich betrachtet, meiner Auffassung nach mit den von ihm als Rechenexempel in Der Versuch ... bezeichneten, weiteren Untersuchungen im Anschluss an eine Erfahrung höherer Art nicht nur an Spinoza203, sondern auch an den von Kant definierten Operationen des diskursiven Verstandes, wie für Das Unternehmen wird entschuldigt und Ordnung des Unternehmens von mir rekonstruiert. Zwei Jahre vor Goethes Studie über den Versuch erschien Kants Kritik der Urteilskraft; darin ist im Rahmen einer abschließenden teleologischen Argumentation zum Glauben an Gott in § 91 zu lesen: Denn ich weiß, daß Anschauungen den Sinnen des Menschen gegeben und durch den Verstand unter einen Begriff und hiermit unter eine Regel gebracht werden; daß dieser Begriff nur das gemeinsame Merkmal (mit Weglassung des Besonderen) enthalte und also diskursiv sei; daß Regeln um gegebene Vorstellungen unter ein Bewußtsein überhaupt zu bringen, von ihm noch vor jenen Anschauungen gegeben werden, [...]204.

Goethe kennt diese Bestimmung spätestens seit seiner Lektüre der Kritik der reinen Vernunft, in Bedenken und Ergebung ist sie als Problemstellung deutlich erkennbar. Kant begrenzt Anschauung auf sinnliche Erfahrung und sie ist bloßer Anlass für unsere Vorstellungen, der diskursive Verstand stellt dabei die für Erkenntnis notwendigen Instrumente bereit. Damit sind Übereinstimmung und Differenz zu Goethes Erkenntnispraxis noch einmal deutlich markiert. Man kann, wie schon gezeigt, den pretiert. 202 Schon in Kap. 4 und 5 habe ich hervorgehoben, dass es Goethe nicht um Letztbegründung und Letzterkenntnis gehe, vgl. in diesem Sinne zum vorliegenden Sachverhalt auch Ernst Cassirer: Goethe und die Kantische Philosophie, in: ders.: Rousseau, Kant, Goethe, hrsg. von Rainer A. Bast, Hamburg 1991, S. 84 f. 203 So Eckart Förster: Die 25 Jahre der Philosophie, a.a.O. 204 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, in: ders.: Werke, Bd. III, hrsg. von Manfred Frank und Véronique Zanetti, Frankfurt/M. 1996, S. 878 (§ 91).

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Erkenntnismodus der Rechenexempel von Goethes Methodenkonzeption, versteht man sie unter den von Kant genannten Bedingungen, auch in dessen Sinne interpretieren. Während Goethe durch von Kant kritisch beurteilte Erkenntnisprozeduren Erfahrungen höherer Art als Schlüssel zu gewinnen sucht, verfährt er durchaus auch in diskursiver Weise, um einen Gegenstandsbereich methodisch differenziert zu erforschen; oben habe ich dafür auf Goethes Forschung unter Berücksichtigung der Linné’schen Systematik hingewiesen. Goethes Ironiebegriff205 im Zusammenhang seiner Betrachtungsweise, den ich eingangs für die Perspektivierung meiner Rekonstruktion von Der Versuch ... zitiert habe, wird durch diese Differenzierung verständlich und er verdeutlicht Goethes spezifischen Ansatz noch einmal, durch seine Betrachtungsweise eine offene Ganzheit zu modellieren. Wenn Goethe einmal notiert: »Kant beschränkt sich mit Vorsatz in einem gewissen Kreis / und deutet ironisch immer darüber hinaus«206, so interpretiert er Kants Grenzbestimmung im Sinnbezirk o.g. dialektischer Dynamik antagonistisch widerstreitender Komponenten. In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage, welche Bedeutung Hypothesen in einem solchen Erkenntnisprozess zukommen. In der vorliegenden Schrift äußert sich Goethe überwiegend kritisch zum Einsatz von Hypothesen, was im Kontext seiner Argumentation, Erfahrung nicht durch Theoriebildung zu überformen, verständlich ist. An anderer Stelle modifiziert er diese Ansicht, plädiert er geradezu für Hypothesen und setzt sie als Forschungsinstrument ein. Wenn Goethe den Gebrauch von Hypothesen grundsätzlich kritisch beurteilt, ist zu klären, unter welchen Voraussetzungen er sie dennoch für seine Forschung benutzt. Während seiner Italienreise kennzeichnet Goethe das Konzept der Urpflanze als Modell207, versteht darunter aber nicht einen Begriff, von dem aus deduktive Ableitungen möglich wären, sondern begreift das Modell als ein dynamisches Muster für einen Erkenntnisprozess, und dieses bezeichnet er als Hypothese. Damit rückt implizit, bezogen auf Goethes morphologische Forschung, schon auf der Italienreise neben dem Begriff der Metamorphose die entsprechende Erkenntismethodik in den Blick. In diesem Aktivierungszusammenhang spielt die Kombination von Wort und Bild wieder eine bedeutende Rolle208. Auf einem Notizblatt notiert er: Hypothese Alles ist Blat, und durch diese Einfachheit wird die größte Mannigfaltigkeit möglich. 205 206 207 208

Vgl. das Vorwort zur Farbenlehre, in: FA 23/1: 14. FA 24: 1074. Italienische Reise, in: FA 15/1: 346. Vgl. dazu Kap. 5 und 6.

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10 Goethezeichnung zu Hypothese

[…] Der Hauptgrund dieser Hypothese ist die Betrachtung daß der Keim oder was das zu entwickelnde aus mehr Theilen besteht die mit einander verwandt sind sich aber in der Entwicklung einander aufheben z.E. Der Körper a b. Bestände aus 6 fächern die von Natur einander alle gleich wären gleiches Maaßes gleicher Beschaffenheit jeder dieser Theile hat zwey seiten nach außen außer c. und h welche außerdem noch eine Seite nach a und b. haben.209

Zeichnet schon der Gebrauch der zeichnerischen Skizze als Ausdrucksform einer Hypothese Goethes besonderen Forschungsansatz aus, so wird das Vorläufige und die versuchsweise Anordnung ohne Anspruch auf prinzipielle Gültigkeit durch den Konjunktiv in besonderer Weise betont, wie Uwe Pörksen festgestellt hat. Er hat diese Forschungsmethode Goethes untersucht und kommt zu dem Fazit: Man glaubt zuzuschauen, wie Goethe den Begriff der Pflanzenmetamorphose faßt, auf eine in erstaunlichem Maße mathematisch geometrische und mechanische Weise, erkennt das Flüchtige des Entwurfs, der einen gerade in Worte gefaßten Begriff auch als anschauliches Ding festhält. Die Skizze wird zur materialisierten 209 LA II, 9A, M. 39, S. 52–60. Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Archivs der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften. Vgl. auch den Kommentar FA 15/2: 1340.

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Hypothese, zu Denkbrücke und Anhaltspunkt. Alles hat etwas Versuchsweises, Vorläufiges, wir bewegen uns im Spielraum des Möglichkeitssinns.210

War es bei Goethes Schweizer Versuchen, Wort und Bild zu kombinieren, noch darum gegangen, vor einer überwältigenden Natur das Defizit eines ästhetischen Scheiterns zu kompensieren und diese umbildende Erfahrung in eine produktive Suchbewegung zu transformieren, bei der visuelle und narrative Modi medial kombiniert werden211, so entwickelt Goethe für seine Forschung dieses Verfahren zu einer Methode, die seinen Forderungen an Versuche und Versuchsreihen entspricht212. Unter diesen Vorzeichen findet man in verstreuten Aufsätzen und Fragmenten erstaunliche Gedanken Goethes zu Hypothesen. Über die Notwendigkeit von Hypothesen dafür, die Teile einer Sammlung in einen inneren Zusammenhang zu stellen, führt er um 1789/90 aus, »sie [die Hypothese; J.S.] lehrt uns einzelne Dinge in Verbindung, entfernte Dinge in einer Nachbarschaft zu sehen, und es werden die Lücken einer Erkenntnis nicht eher sichtbar als eben dadurch«213. Wird mit diesen Überlegungen der funktionale Nutzen (»sie lehrt uns«) und der Ertragswert von Hypothesen hervorgehoben (Ermittlung der »Lücken«; an anderer Stelle plädiert Goethe für eine dialektische Begriffsbildung mittels Hypothesen214), so haben sie auch eine Bedeutung für die Bildung des Betrachters: »[E]ine Hypothese erhebt die Seele und gibt ihr die Elastizität wieder«215. Wenn Goethe im hohen Alter 1829 über den Wert reflektiert, analytische und synthetische Methodik einander ergänzend für den Erkenntnisprozess in Forschung und Wissenschaft zu gebrauchen, so spricht er auch in diesem Zusammenhang davon, dass Hypothesen den Erkenntnisertrag fruchtbar befördern216. Es geht bei Goethes Plädoyer für Hypothesen also nicht darum, mit ihnen gültige Aussagen über Sachverhalte konstruktiv vorzuprägen, sondern sie haben

210 Uwe Pörksen: Raumzeit. Goethes Zeitbegriff, abgelesen an seinen sprachlichen und zeichnerischen Naturstudien, Stuttgart 1999, S. 48. 211 Vgl. FA 14: 813; ich habe diesen Aktivierungszusammenhang in Kap. 5 rekonstruiert. 212 Vgl. auch Kap. 6 zum Kontext der Italienreise. Goethe hat dieses Verfahren weiter entwickelt und praktiziert. U.a. 1820 kombiniert er Wort und Zeichnung in der Absicht, eine Hypothese über die geologischen wirkenden Kräfte für die aktuell wahrnehmbaren zerklüfteten Granitfelsen der Luisenburg zu gewinnen; vgl. dazu FA 25: 332 den Text und FA 25: Abb. 18. Vgl. dazu die Interpretation von Uwe Pörksen: Raumzeit. Goethes Zeitbegriff, abgelesen an seinen sprachlichen und zeichnerischen Naturstudien, a.a.O., S. 33–40. 213 FA 25: 24. 214 Vgl. Botanik als Wissenschaft, darin Einleitung (FA 24: 94 f.), und Gesetze der Pflanzenbildung (FA 24: 98 f.). 215 FA 25: 24. 216 Vgl. Analyse und Synthese, in: FA 25: 83–86.

7.2 Epistemische Methodenkonzeptionen der Naturforschung

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a) eine methodisch-heuristische Funktion für Forschung217 und b) eine didaktischtransformatorische für Selbstbildung. a) Als Methode ermöglicht die Hypothese damit weitere Modifikationen des Forschungsprozesses, und neben dem Sinnbezirk intuitiver Denkmuster steht mit Hypothesen und ihren Spielarten ein weiterer Baustein für Mustererkennung zur Verfügung, eventuell den Missing Link für die Erkenntnis eines inneren Zusammenhangs einer Versuchsreihe als Ganzheit zu modellieren. Damit bereichert Goethe seinen multiperspektivischen Forschungsansatz um eine weitere Komponente eines offenen Forschungshorizontes, mit dem es ihm nicht um die Bestätigung von Theoriekonzeption, sondern um das Erkennen von realen Sachzusammenhängen geht; die Entwicklung dieser Betrachtungsweise als ein Muster von Goethes Anschauen der Welt habe ich in ihren Variationen von ästhetischer Anschauung und verschiedenen Bereichen naturwissenschaftlicher Forschung rekonstruiert. b) Für die Organbildung des Subjekts bietet der Gebrauch von Hypothesen die Möglichkeit, neue »Elastizität« zu gewinnen. Goethe betont also ausdrücklich, dass die intrasubjektiven Fähigkeiten, mit Denkmustern einzelne Phänomene isoliert erscheinender Sinneseindrücke in einen Zusammenhang zu stellen, mit dem Gebrauch von Hypothesen gefördert werden, er spricht dabei aber nicht von sicheren Erkenntnisoptionen, sondern Übungsmöglichkeiten durch ein Erkenntnismuster, also in der Absicht transformatorischer Bildung. Wenn nach Goethes Selbstverständnis sein anschauendes Denken (»daß mein Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen sei«218) immer auch Selbstbildung ist, in der Absicht, »auszusprechen, wie ich die Natur anschaue, zugleich aber gewissermaßen mich selbst, mein Inneres, meine Art zu sein […] zu offenbaren«219, so integriert und fusioniert er unter diesen Voraussetzung auch methodische Modi, die er für nicht ganz unproblematisch hält, wenn sie dem Zweck dienlich sind. Als Resümee bleibt festzuhalten: Der spezifische Ertragswert von Aisthesis im Rahmen naturwissenschaftlicher Forschung ist in den Optionen von Korrelation, Korrespondenz, Partizipation durch holistisches und systematisches Denken zu sehen. Im Sinne von Goethes ontologischen Überzeugungen ist der Mensch in der Lage, im Betrachten der empirischen Phänomene der gegebenen Natur ein partizipierendes Verhältnis zur natura naturata zu entwickeln, das zu einem Wissen der natura naturans fortschreitet, welches in holistischem Verstehen der bewirkenden Kräfte und letztlich in Selbstreflexion des Erkenntnissubjektes aufgeht, ohne in vor217 Goethe bestimmt demnach Hypothesen ganz im Sinne Kants als regulative Denkmuster. 218 »Bedeutendes Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort«, in: FA 24: 595. 219 FA 24: 595. Goethe stellt hier auch einen direkten Bezug zu seiner Schrift über den Versuch her.

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7 Denkmuster und Bekenntnisse des Betrachters

kritische Denkmuster metaphysischer Letztbegründung zu verfallen. Damit ist ein komplementäres Verhältnis zwischen einer Systematik von Denken/Wissen und der Ordnung des Seins der Dinge angestrebt, mit dem Goethe eine zentrale Denkfigur der Ontologie des Parmenides – »Das Selbe nämlich ist Vernehmen (Denken) sowohl als auch Sein«220 – für das Denken der Moderne in einem spezifischen Sinne aktiviert, indem er die prinzipielle Differenz nicht aufgibt und sie »wie zwei gut aufeinander abgestimmte Gegensätze«221 verbindet. Dieser Ansatz Goethes steht im Kontext der kritischen Philosophie Kants, die entscheidend dazu beigetragen hat, die »Dekonstruktion der Korrespondenztheorie zwischen der Ordnung des Seins und der Ordnung des Denkens«222 zu betreiben, und bietet zu dieser Dekonstruktion Optionen, die, gerade weil sie zunächst als unzeitgemäß erscheinen, Wege einer Transformation des Differenzbewusstseins in offene Ganzheit anbieten.

7.3 Die Ontologie offener Ganzheit und widerständige Selbstbildung Anknüpfend an obige Schlussbemerkung zur Bedeutung der zeitgenössischen Philosophie für Goethe möchte ich betonen: Was für Goethes Stellung zum wissenschaftlichen Diskurs gilt, dass dieser in besonderer Weise die Funktion hat, der Selbstbildung zu dienen223, trifft auch für Goethes Auseinandersetzung mit der Philosophie seiner Zeit zu. Goethe hat über deren Bedeutung für seine Entwicklung im Rahmen seiner Naturwissenschaftlichen Schriften in dem Aufsatz Einwirkungen der neueren Philosophie224 Rechenschaft abgelegt. Goethes Selbstverständnis in Bezug 220 Zitiert nach Martin Heidegger: Identität und Differenz, Pfullingen 81986, S. 14. In der neusten Ausgabe der Vorsokratiker in griechischer und deutscher Übersetzung: »τò γάϱ αὐτὸ υοεῖν ἐστίν τε χαὶ εἷναι«, »Denn dasselbe ist, zu denken und zu sein.« In: Die Vorsokratiker (Bd. II), Parmenides, Zenon, Empedokles, griechisch-lateinisch-deutsch. Auswahl der Fragmente und Zeugnisse, Übersetzung und Erläuterungen von M. Laura Gemelli Marciano, Düsseldorf 2009, S. 14 f. 221 Gaston Bachelard: Die Psychoanalyse des Feuers, München und Wien 2007, S. 6. Bachelard kennzeichnet mit dieser Formulierung das Bestreben der Philosophie, Poesie und Wissenschaft in ihrer Differenz als komplementär zu begreifen. 222 Vgl. Dirk Kemper: »ineffabile«, a.a.O., München 2004. Kemper sieht, wie schon angemerkt, die Ursache der Individualitätsproblematik u.a. in der »Dekonstruktion der Korrespondenztheorie zwischen der Ordnung des Seins und der Ordnung des Denkens, wie sie […] durch die Transzendentalphilosophie [von Kant; J.S.] vollzogen« (S. 6) worden ist. 223 Vgl. dazu den ersten Abschnitt in Kap. 7. 224 FA 24: 442–446.

7.3 Die Ontologie offener Ganzheit und widerständige Selbstbildung

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auf die Basierung seiner Selbstbildung, deren bewusstseinsgeschichtliche Orientierung an Ganzheit sowie deren epistemische Begründung können ausgehend von diesem Aufsatz über die bisher rekonstruierten Varianten hinaus in ihrer besonderen Funktion bestimmt werden. Goethes in einem Gespräch mit Frédéric Soret am 17. Februar 1832 formuliertes Selbstverständnis – »Mein Werk ist das eines Kollektivwesens und trägt den Namen Goethe«225 – verstehe ich bei diesem Vorhaben als leitmotivischen Hinweis für meine Untersuchung in diesem Abschnitt, vermittelt er doch unter den Vorzeichen philosophischen Denkens den von mir für Goethes ästhetische Anschauung und seine Naturbetrachtung rekonstruierten Grundzug einer zentripetal wirksamen Erfahrung auch für die Lektüre einschlägiger Texte sowie den philosophischen Diskurs. An anderer Stelle habe ich schon vorgeschlagen, mit Ivan Illichs Begriff des Lesens von Im Weinberg des Textes Goethes reges Interesse, ja seine Faszination und Hingabe zur Lektüre zu verstehen226, welche im Kontext von seiner Fixierung auf konkrete Erfahrung zumindest verwunderlich erscheinen könnte. Dass neben Spinoza auch Kant und Schiller, Jacobi, Herder, Schelling und Hegel sowie die Gebrüder Humboldt anregend gewirkt haben, ist verschiedentlich deutlich geworden. Von daher ist der z.T. als Credo Goethes verstandene Auftakt von Einwirkungen der neueren Philosophie – »Für Philosophie im eigentlichen Sinne hatte ich kein Organ«227 – mit Vorsicht zu beurteilen, verdeckt er doch nur allzu leicht das direkt anschließend formulierte Bekenntnis, nur die fortdauernde Gegenwirkung womit ich der eindringenden Welt zu widerstehen und sie mir anzueignen genötigt war mußte mich auf eine Methode führen, 225 Vgl. Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang, auf Grund der Ausgabe u. des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann ergänzt und hrsg. von Wolfgang Herwig, 5 Bde., Bd. 1–3.2: Zürich und Stuttgart, Bd. 4 und 5: Zürich und München 1965–1987; hier Bd. 3.2, S. 839, Nr. 6954: »Mon œuvre est celle dʼun être collectif et elle porte le nom de Goethe«. Vgl. auch FA 38: 522. Vgl. auch Kap. 4, wo ich im Zusammenhang mit dem Geniegedanken dieses Selbstverständnis rekonstruiert und bewertet habe. 226 Vgl. zur Spinozalektüre Kap. 5.3, wo ich auch auf Ivan Illich: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand, Frankfurt/M. 1991, verweise. Illichs Rekonstruktion des Didascalicon von Hugo von St. Viktor erschließt die Bedeutung und die Muster der Kultur des Lesens. St. Viktor spricht von dem Heilmittel der Weisheit durch Lektüre (vgl. S. 18 f.), betont also den Bildungswert von Lektüre, und spricht auch davon, dass in der Lektüre die Buchseite eine Qualität des Leuchtens besitze (lumen, S. 25 ff.), was mich an den Begriff der Ekstase von Gernot Böhme erinnert (vgl. Gernot Böhme: Atmosphäre, a.a.O., S. 31–34.): Lumen und Ekstase bezeichnen je auf ihre Weise und für ihren Gegenstandsbereich eine zentripetale Bewegungsdynamik. 227 FA 24: 442.

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durch die ich die Meinung der Philosophen, eben auch als wären es Gegenstände, zu fassen und mich daran auszubilden suchte.228

Demnach war das Studium philosophischer Schriften für Goethe kein Selbstzweck in spekulativ philosophischer Absicht. Vielmehr tritt im Zusammenhang mit dem Leitmotiv Selbstbildung und dem damit verbundenen methodischen Zugriff für eine entsprechende Organbildung als Zielsetzung philosophischer Lektüre deutlich hervor, Instrumente des Erkennens ausbilden zu wollen, die seiner spezifischen Betrachtungsweise dienen sollen. Goethe betont in diesem Kontext das Problematische der ekstatischen Wirkungen der Dinge, wie er an anderer Stelle einmal, wie im Vorherigen erwähnt, von der »millionenfachen Hydra der Empirie«229 spricht. Es geht also darum, dass die Dinge der Welt ihre zentripetale umbildende Wirkung nur dann entfalten können, wenn entsprechend widerständige Formen des Denkens im Sinne von Ordnungsmustern intrapersonal zur Verfügung stehen, um das Wahrgenommene bewältigen zu können. Das Leitmotiv aus dem Gespräch mit Frédéric Soret ist damit zentrifugal modifiziert. Damit ist klar, dass Erkennen immer bestimmte Muster des Denkens braucht, von Goethe u.a. als analytische oder synthetische, als diskursive oder intuitive Modi diskutiert oder auch u.a. als Erfahrungen höherer Art gekennzeichnet230. Varianten dieser Muster und ihrer Begründung studierte Goethe in entsprechender philosophischer Lektüre. Er entwickelte also offensichtlich über den philosophischen Diskurs systematische Formen einer Begründung seiner Betrachtungsweise. Dafür hebt er drei Philosophen besonders hervor und würdigt ihren jeweils spezifischen Beitrag für seine Bildung: Karl Philipp Moritz, Immanuel Kant und Friedrich Schiller; andere erwähnt er mehr beiläufig231. Geht man diesen Hinweisen der Einwirkungen nach, so findet man im Diskurs ästhetischer Anschauung und ästhetischer Bildung einen zu bestimmten Zeiten re228 Ebd. 229 Brief vom 16. und 17. August 1797 an Schiller; MA 8.1: 393. 230 Vgl. dazu meine Rekonstruktion von Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt im vorangehenden Kapitel. 231 Zu Moritz vgl. FA 24: 442; vgl. zum Verhältnis von Goethe und Moritz sowie ihren ästhetischen Diskurs auf der Folie naturwissenschaftlicher Erkenntnisformen Kap. 3. Zu Kant vgl. FA 24: 443 f. sowie die weiteren Hinweise im vorliegenden Kap. 7. Zu Schiller vgl. FA 24: 445 sowie insbesondere Kap. 3. In FA 24: 446 nennt Goethe abschließend Friedrich Immanuel Niethammer, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Alexander und Wilhelm von Humboldt sowie August Wilhelm und Friedrich Schlegel.

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gen persönlichen Austausch von Goethe mit Moritz und Schiller; in Kants Schriften findet Goethe systematische Begründungen epistemischer Modalitäten sowie ästhetischen Denkens und Naturerkenntnis. Konzepte, Komponenten und Bezüge dieser Diskurse sowie Goethes besondere Stellung dazu habe ich wiederholt für verschiedene Aktivierungszusammenhänge und unterschiedliche Themengebiete beleuchtet232. Deren Bedeutung kristallisiert sich meiner Ansicht nach in besonderer Weise in der Diskussion um mögliche Denkmuster von Ganzheit im Kontext der Moderne; das problematische Verhältnis von Mensch und Welt, Korrelation und Partizipation sowie Konzeptionen von Identität sind dabei die begründenden Muster. Goethe nimmt in diesem Zusammenhang eine Sonderstellung ein, die er insbesondere mit Schiller aktiv diskutiert hat und über die Schiller in Über naive und sentimentalische Dichtung reflektiert233. Schiller führt darin in einer Anmerkung zu den zwei gegensätzlichen Orientierungsmustern naiv und sentimentalisch aus: Das Gegentheil der naiven Empfindung ist nehmlich der reflektierende Verstand, und die sentimentalische Stimmung ist das Resultat des Bestrebens, a u c h u n t e r d e n B e d i n g u n g e n d e r R e f l e x i o n die naive Empfindung, dem Inhalt nach, wieder herzustellen.234

Schiller bezeichnet damit modernes reflektierendes Differenzbewusstsein unter den Bedingungen von Kultur, Fortschritt und Entfremdung als sentimentalisch und vormodernes Bewusstsein in dem Sinne eines naturhaften Ganzheitserlebens als naiv235. Er thematisiert mit dieser Bestimmung, wie unter den Bedingungen der Moderne literarische Stile aktivierbar sind, und ordnet sich selbst den sentimentalischen Dichtern der Reflexion zu, Goethe identifiziert er als den naiven Dichter: Das nach der Natur schaffende Genie als singuläre Erscheinung unter den Bedingungen der Moderne. Diese Diskussion findet sich auch immer wieder im Briefwechsel von Goethe und Schiller. Ohne weiter auf entsprechende Details einzugehen, kann man, 232 Vgl. dazu Kap. 3, wo aufgezeigt ist, wie eng die ästhetischen Ideen von Moritz in der Auseinandersetzung mit Goethe entwickelt worden sind, und wo Schillers Konzept ästhetischer Bildung rekonstruiert worden ist, beides in der Absicht, kontrastiv auf der Folie dieser exemplarischen Bildungskonzepte des 18. Jahrhunderts das Spezifische von Goethes Bildungsbegriff herausarbeiten zu können. Für die Bedeutung Kants in dieser Hinsicht vgl. neben Kap. 3 insbesondere die Anmerkungen dazu im vorliegenden Kap. 7. 233 Vgl Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung, hrsg. von Klaus L. Berghan, Stuttgart 2002. 234 Ebd., S. 75. 235 Vgl. dazu auch Kap. 3.2. Vgl. auch Jörg Soetebeer: Selbsttätige Bildungskraft heute – Schiller, Stuttgart 2010, S. 162–168.

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den Gegensatz von sentimentalisch und naiv dialektisch transformierend, in Bezug auf Goethes Produktivität zugespitzt sagen: »Das Naive ist das Sentimentalische«236 und markiert damit die für Goethe bezeichnende Individualitätsproblematik237, die dieser selbst wohl in seinen Skizzen zu einer Schilderung Winkelmanns238 am eindringlichsten zum Thema gemacht hat. Goethe erschließt in seiner Winckelmannschrift die biographischen Besonderheiten des Lebens von Johann Joachim Winckelmann, wie sie sich ihm aus dessen Entwicklung ästhetischer Anschauung und Ideen darstellen. Dabei löst sich seine Darstellung immer wieder aus den konkreten biographischen Gegebenheiten des Lebens von Winckelmann in umfassende Bezüge und Orientierungsmuster, für die Winckelmann in antagonistischer Absicht gegenüber der Moderne als exemplarisches Muster fungiert. So bspw. zum Verhältnis von Mensch und Welt: Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines, freies Entzücken gewährt; dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern. Denn wozu dient alle der Aufwand von Sonnen und Planeten und Monden, von Sternen und Milchstraßen, von Kometen und Nebelflecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht zuletzt ein glücklicher Mensch unbewußt seines Daseins erfreut?239

Diese Textstelle liest sich zunächst wie ein emphatischer Entwurf menschlichen Daseins. Der Mensch erscheint in seinem Selbst- und Weltverhältnis in einer Ganzheit, die keine antagonistische Zerrissenheit und Fremdheit zu kennen scheint. Empfinden und Wirken in ungeteilter Einheit des Subjekts sowie Harmonie im Verhältnis von Mikrokosmos Mensch und Makrokosmos Welt deuten auf eine Entwicklung zur Vollkommenheit gemäß einer eingeborenen Entelechie. Diese Attribute offenbaren, 236 So die pointierte Zuspitzung von Peter Szondi: Das Naive ist das Sentimentalische. Zur Begriffsdialektik in Schillers Abhandlung, in: Euphorion 66 (1972), S. 174–206. Szondi bezieht sich im Wesentlichen auf die oben zitierte Anmerkung von Friedrich Schiller über die Relation von Naivem und Sentimentalischem. Im Textzusammenhang von Schillers Abhandlung wird mehrfach direkt über Goethes Stellung in dieser Konstellation reflektiert. 237 Vgl. zu dieser u.a. in Kap. 4 die Ausführungen zum Geniegedanken. 238 FA 19: 176–212, sowie MA 6.2: 348–400. Zur Entstehung vgl. den Kommentar in FA 19: 762 ff. 239 FA 19: 179.

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betrachtet man sie in ihren ideengeschichtlichen Zusammenhängen, dass Goethe mit ihnen zentrale Muster eines humanistischen Paradigmas aktiviert, wie man es im Bildungsdiskurs des 18. Jahrhunderts in unterschiedlicher Ausprägung findet. Baumgarten, Moritz, Winckelmann diskutieren entsprechende Ganzheitskonzepte, auch Herder und Humboldt; mit kritischer Akzentuierung demgegenüber wäre besonders Schiller zu nennen. Komponenten und Konzeptionen dieses Bildungsgedankens des 18. Jahrhunderts haben in der Diskussion bis in die Gegenwart ebenso heftige Kritik wie stets neu erwachendes Interesse erfahren, ich habe sie als Folie rekonstruiert, auf der auch die folgende differenzierende Lesart der Textsequenz aufbaut240. Eine erneute Lektüre wird über die bisherige Interpretation eines mit emphatischen Ton vorgetragenen Bildungsparadigmas hinaus die Bedeutung des formalästhetischen Ausdrucks nicht unberücksichtigt lassen können, den Goethe mit zunehmendem Alter favorisiert. Die Steigerung der Begeisterung im Rahmen eines konditionalen Modus, das durch den Konjunktiv gegenwärtig quasi nur latent anklingende Ziel, der Fragesatz – diese sprachliche Realisierung zeugt von reflektierter Distanz und nicht von unbedingtem und uneingeschränktem Optimismus. Es ist keine naive Begeisterung; schon in der Epoche der Empfindsamkeit, des Sturm und Drang sind in Bezug auf eine allumfassende Einheit, in der das Subjekt aufzugehen scheint, bei Goethe kritische Einwände zu finden241. So auch hier. Mit einer eigenar240 Vgl. meine Rekonstruktion des Bildungsgedankens des 18. Jahrhunderts in Kap. 3, dort besonders die acht Komponenten des Bildungsbegriffes von denen hier besonders zu erwähnen sind a) die Vorstellung eines Subjektes in seiner einmaligen und unverwechselbaren Individualität, b) der teleologische Gedanke einer Bestimmung und Vervollkommnung des Menschen durch Bildung, c) die mögliche Überwindung antagonistischer gesellschaftlicher Verhältnisse zu harmonischer Ganzheit. Zu Diskurs und Diskussion vgl. Roland Reichenbach: Philosophie der Bildung und Erziehung, a.a.O., S. 113–118. 241 Für ein entsprechendes literarisches Muster in dieser Hinsicht bietet sich eine typische Satzperiode der Empfindsamkeit aus dem berühmten Brief vom 10. Mai aus Die Leiden des jungen Werthers an, die in einem sich steigernden Konditionalgefüge Werthers Einheitsempfinden ausdrückt: »Wenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsterniß meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligthum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und näher an der Erde tausend mannichfaltige Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen, unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen, näher an meinem Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Allliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält; mein Freund! wenn’s dann um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten; dann sehne ich mich oft und denke: ach ...« FA 8: 15. Bezeichnend für das naturbegeisterte Schwärmen Werthers ist, dass er im sich anschließenden Hauptsatz sein Unvermögen darüber ausdrückt, dieses Empfinden sprachlich ausdrücken zu können.

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tig verhaltenen, reflektierenden Sprechweise unterläuft Goethe geradezu die Aktualisierung der enthusiastischen Ideen. Er reflektiert über Ganzheit in naiver Konzeption, aber unter den sentimentalischen Bedingungen der Moderne (Schiller); der menschheitsgeschichtlich schon seit langem vollzogene Riss zwischen Ich und Welt gehört zu den bestimmenden Bezugspunkten seines Denkens. Goethes entscheidende Bemerkung zu dieser Lage, der sich Winckelmann als Altertumsforscher seiner Ansicht nach nicht stellt, findet sich wenige Seiten später in der vorliegenden Winckelmannschrift, »daß kein Gelehrter ungestraft jene große philosophische Bewegung, die durch Kant begonnen, von sich abgewiesen, sich ihr widersetzt«242 habe. Auch im Zusammenhang biographisch-kunstgeschichtlichen Erzählens ist Immanuel Kant der für Goethe wichtigste Repräsentant eines kritischen Bewusstseins neuzeitlicher Aufklärung. Für Goethes Auseinandersetzung mit den bewusstseinsgeschichtlichen Bedingungen der epochalen Unterschiede vormodernen und modernem Denkens liegt, im Kontext der Arbeitszusammenhänge mit Schiller betrachtet, mit dem Entwurf der Winckelmannschrift ein die Bedingungen vormodernen Bewusstseins reflektierendes Konzept vor, das aber, unter den Vorzeichen der Freundschaft mit Schiller gelesen, gerade nicht naiv, sondern in sentimentalischer Reflexion gewonnen ist. Ich verstehe dieses unzeitgemäße Insistieren Goethes als einen Versuch, im Bewusstsein der mit Kant verbundenen Epochenschwelle dennoch vormoderne Konzepte zu aktivieren, um das, worüber neuzeitliche Erkenntnis im Sinne des kritischen Idealismus schweigen muss, in seiner Bedeutung für das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen zum Thema zu erheben243. Für die interpretierte Textstelle spielt dieser Zusammenhang eine entscheidende Rolle. Ihr vorangestellt ist im Kontext einer bildungsphilosophischen Thematik die Vergegenwärtigung einer idealisierten Antike, mit der die Moderne kontrastiert: Der Mensch vermag gar Manches durch zweckmäßigen Gebrauch einzelner Kräfte, er vermag das Außerordentliche durch Verbindung mehrerer Fähigkeiten; aber das Einzige, ganz Unerwartete leistet er nur, wenn sich die sämtlichen Eigenschaften gleichmäßig in ihm vereinigen. Das letzte war das glückliche Los der Alten, besonders der Griechen in ihrer besten Zeit; auf die beiden ersten sind wir Neuern vom Schicksal angewiesen.244 242 FA 19: 202. 243 Mit dieser Haltung steht Goethe nicht allein da. Die nachkantische idealistische Philosophie sowie die Klassik in Deutschland haben die Gemeinsamkeit, die von Kant in den drei Kritiken entwickelten erkenntnistheoretischen, moralischen, naturwissenschaftlichen und ästhetischen Bestimmungen zu überwinden; vgl. dazu Roland Reichenbach: Philosophie der Bildung und Erziehung, a.a.O., S. 114. 244 FA 19: 178 f. MA 6.2: 350.

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In der Moderne werde Bildung nicht selten auf die Ausbildung einzelner Vermögen, allenfalls auf die Entwicklung eines Außerordentlichen durch die Synchronisation der Kräfte beschränkt, zudem kennzeichne den modernen Menschen eine eigenartig oszillierende Bewegung zwischen Unendlichem und »beschränkte[m] Punkt«245. Unschwer lassen sich in der Perspektive solcher Reflexionen die krisenhaft durchlebten Momente der Biographie Goethes verstehen, man denke u.a. an das Inkognito seiner Harzreisen, die damit verbundenen Hoffnungen, auch an die Erlebnisse von Ganzheit während der Seereise nach Sizilien. Doch ist der Horizont der Winckelmannschrift ein anderer. Anhand einer exemplarischen Biographie spürt Goethe möglichen Formen von Individualität nach, wie sie von mir im Kontext des Geniegedankens erörtert worden sind246. Das Besondere daran ist der Modus literarischer Simulation dieses Zusammenhangs. Goethes Auffassung, dass einzelne bedeutende Menschen prinzipiell gegen das »Jahrhundert [agieren], in welchem sie vorkommen. Sie stehen nämlich mit der Menge im Gegensatz, ja im Widerstreit«247, impliziert dabei den Gedanken, dass die erzählerisch-narrative Auseinandersetzung mit exemplarischen Biographien anregend für Selbstbildung sei248. Am 10. März 1832 schreibt Goethe in diesem Sinne an Wilhelm Johann Carl Zahn: Ich war stets aufmerksam auf diejenigen Punkte der Welt-, Kunst- und Kulturgeschichte, wo ich mich immermehr vergewissern konnte, hier sei eine hohe wahre menschliche Bildung zu gewinnen.249

245 FA 19: 179. Vgl. dazu ergänzend entsprechende Zitate mit Erläuterungen in Kap. 4 zum Geniegedanken. 246 Vgl. dazu Kap. 4. 247 Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, in: FA 23/1: 613. 248 Vgl. bspw. das Vorwort von Dichtung und Wahrheit FA 14: 13 f.: »Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, in wiefern ihm das Ganze widerstrebt, in wiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abspiegelt. Hiezu [!] wird aber ein kaum Ereichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, in wiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den willigen als unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt daß man wohl sagen kann, ein Jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein.« Vgl. auch die Erläuterung von Herbert von Einem in HA 12: 609 f. im Kommentar zu den Skizzen zu einer Schilderung Winkelmanns. 249 FA 38: 532. Zu den hiermit angedeuteten exemplarischen Inhalten mit Vorbildcharakter vgl. auch Kap. 3.1.

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Rückblickend auf sein Leben betont Goethe damit auch kurz vor seinem Tod, dass Exemplarität für ihn in sehr persönlichen Momenten bildender Erfahrung erlebt worden ist. Seine Selbstbildung vollzog sich stets als widerständiges Konzept gegenüber gesellschaftlichen Normen, Moralvorstellungen und dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Bildende Erfahrung folgt nicht gültigen Mustern, sondern verdankt sich aktuellen und/oder persönlichen Anlässen. Vielfältig sind die Anregungen, die Bildungsprozesse auslösen können: »[D]enn alles was uns begegnet läßt Spuren zurück, alles trägt unmerklich zu unserer Bildung bei«250. Goethe entgegnet einmal Eckermann, der Byrons Eignung hinsichtlich »reine[r] Menschenbildung« anzweifelt, dass es nicht um eine philisterhaft motivierte Verengung von Exemplarität gehen könne: Byrons Kühnheit, Keckheit und Grandiosität, ist das nicht alles bildend? – Wir müssen uns hüten, es stets im entschieden Reinen und Sittlichen suchen zu wollen. – Alles Große bildet, sobald wir es gewahr werden.251

Unter diesen Vorzeichen wird mit der Winckelmannschrift eine Epochenschwelle in dem Bewusstsein beleuchtet, dass ein Zeitalter vergangen ist, damit aber auch die bisher tragfähigen Maßstäbe von Identität. Einheit, Harmonie, Vervollkommnung und ganzheitliche Ordnung werden einer im Spielraum der Einbildungskraft imaginierten Antike zugesprochen. In diesem Spiegel werden Verlust und Entfremdung der Moderne kontrastiv reflektiert. Das sentimentalische Bewusstsein operiert in antagonistischen Verhältnissen252. Vor der Moderne mit ihren sich abzeichnenden Konturen versagen die Orientierungsmuster von Inklusionsindividualität alter stratifikatorisch organisierter Gesellschaft (Luhmann), sie fordert neue Instrumente mit ihren funktional differenzierten Bedingungen einer Exklusionsindividualität (Luhmann). In diesem Zusammenhang ist auch der Verdruss und zunehmende Widerstand Goethes gegen einen durchaus als problematisch empfundenen gesellschaftlich-technischen Fortschritt zu verstehen, dessen Dynamik die Ideen von Humanität und Bildung immer mehr ökonomischen Vereinnahmungen opfert253 – eine über die bewusstseinsgeschichtlich hinaus bedeutende gesellschaftlich-soziale Di250 Wilhelm Meisters Lehrjahre, 7. Buch, 1.Kap., in: FA 9: 798. 251 Gespräch am 16. Dezember 1828, in: FA 39: 299. 252 Auch mit der Entgegensetzung von antik vs. modern knüpft Goethe an den Gesprächsfaden mit Schiller und ihren Briefwechsel an. 253 Manfred Osten hat anhand der Metapher des »Veloziferischen« die Kritik und Verweigerung Goethes gegenüber einem nutzenorientierten Wollen unter ökonomisch orientierter Zielsetzung in einem lesenswerten Essay herausgearbeitet. Vgl. Manfred Osten: »Alles veloziferisch« oder Goethes Entdeckung der Langsamkeit, Frankfurt/M. Und Leipzig, 2003.

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mension der Epochenschwelle, die Goethe beschäftigt254. Im Vergleich zu Friedrich Schiller, der mit philosophischem Instrumentarium die entfremdeten Bedingungen der Moderne analysiert und ihnen mit seiner Programmatik ästhetischer Bildung entgegentritt, reflektiert Goethe jedoch im Medium biographischen Erzählens. Die Biographie ist für ihn der entscheidende Resonanzraum, historisch-gesellschaftliche Bedingungen in ihrer Bedeutung für den einzelnen sichtbar zu machen. In dieser Hinsicht zeigt sich, im Kontrast zu Schillers allgemein-gesellschaftlichen Diagnosen, Goethes Orientierung am Individuum und dessen Selbstbildung. Damit stellt sich die Frage, ob mit der Art literarischer Simulation eines vormodernen Ganzheitskonzepts nach dem Muster der Winckelmannschrift nicht bloß ein Refugium innerer Emigration intendiert ist, das als Verweigerung zu verstehen ist, als Fluchtweg aus der Moderne dient. Ich greife diese Frage an dieser Stelle auf, um das o.g. Widerständige solcher exemplarisch erinnerter und aktivierter Biographien freizulegen und damit die in ihn liegenden orientierenden Potentiale produktiver Realitätsverarbeitung (Hurrelmann). Ich orientiere mich dabei an der Rekonstruktion des Geniegedankens und der intrapersonalen Konstellationen des Dämonischen. U.a. wurde für den Geniegedanken diskutiert, ob Goethe im Verlauf seines Lebens eine Wandlung vom »Originalgenie« (widerständiges Muster) zum »Universalgenie« (kollektives Muster im Sinne des Gespräches mit Frédéric Soret ) vollziehe255, und ich habe darauf hingewiesen, dass es Alterswerke gebe, die signifikante Kennzeichen dämonisch-schöpferischer Produktivität tragen256, dieses behauptete biographische Muster also unterlaufen. Nun resümiert Goethe noch am 11. März 1828 in einem Gespräch mit Eckermann in differenzierter Weise seinen Geniebegriff. Er betont »Produktivität«257 und Intuitionsvermögen; »wiederholte Pubertät«258 sei das Geheimnis der »Verjüngung«259 des Genies: Merkmale einer Erfindung260 aus den intrapersonalen Persönlichkeitspotentialen. Goethe benennt das Dämonische als Quelle dieser Kreativität: 254 Vgl. Hans Joachim Schrimpf: Über die geschichtliche Bedeutung von Goethes Newton-Polemik und Romantik-Kritik, in: ders.: Goethe – Spätzeit, Altersstil, Zeitkritik, Pfullingen 1966, S. 24–41. 255 Vgl. Kap. 4. Dort im Anschluss diskutiert an Hendrik Birus: Im Gegenwärtigen Vergangenes. Die Wiederbegegnung des alten mit dem jungen Goethe (19.01.2004), in: , letzter Zugriff: 10.2.2011. 256 Jörg Soetebeer: Des Orpheus lebendige Wirkung in der Natur. Betrachtungen zu Goethes »Novelle«, in: Die Drei, H. 3 (2007), S. 23–34, alle Zitate S. 24. 257 FA 39: 652. 258 FA 39: 656. 259 Ebd. 260 Ebd.

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Jede Produktion höchster Art, jedes bedeutende Aperçu, jede Erfindung, jeder große Gedanke der Früchte bringt und Folge hat, steht in Niemandes Gewalt und ist über aller irdischen Macht erhaben. Dergleichen hat der Mensch als unverhoffte Geschenke von oben, als reine Kinder Gottes, zu betrachten, die er mit freudigem Dank zu empfangen und zu verehren hat. Es ist dem Dämonischen verwandt, das übermächtig mit ihm tut wie es beliebt und dem er sich bewußtlos hingibt, während er glaubt, er handele aus eigenem Antriebe.261

Demnach entzieht sich die entscheidende Instanz produktiver Gestaltung dem lenkenden Zugriff des Individuums, ist aber eine entscheidende Bedingung für dessen Kreativität überhaupt, speziell für dessen Modellierung seiner Selbstbildung. Das Dämonische wurde in Kap. 4 als Leitbegriff262 Goethes diskutiert, der eine innere, verborgene Tiefenstruktur des Individuums bezeichnet, ein Energiezentrum mit kreativem Aktionspotential263. Man gewinnt weitere Einsichten in diesen Sinnbezirk von Selbstbildung durch den in den Verwendungszusammenhängen der Morphologie schon diskutierten Begriff des Bildungstriebs. In der autobiographischen »Selbstschilderung«, wahrscheinlich um den 25. August 1797, ist die Rede davon, dass ein »[i]mmer tätiger nach innen und außen fortwirkender poetischer Bildungstrieb« das Aktzentrum seiner, Goethes Existenz sei264. Den Begriff Bildungstrieb hat Goethe, wie erwähnt, über seine Kantlektüre vermittelt, von Johann Friedrich Blumenbach entlehnt. Dieser bezeichnete mit diesem Begriff die Formkraft, die bei Pflanzen und Tieren den materiellen Stoff organisiert. Nicht nur Goethe übertrug diesen Begriff auf menschliche Bildung265. Dieser Bildungstrieb als poetischer Bildungstrieb richtet sich auf Stoffe, an denen er sich, und damit die Person, widerständig ausgestaltet (»so muß er um sich nicht stofflos selbst zu verzehren sich nach außen wenden […] nach außen gerichtet entgegen wirken«266). Die Auseinandersetzung zielt mehr auf die »Bildung des Geistes der sie behandelt als auf die Gegenstände«267 und umgreift alle Formen des Anschauens 261 FA 39: 657. 262 So Theo Buck im Artikel Dämonisches in: Goethe-Handbuch, 4/1, S. 179. 263 Buck hebt denn auch in dem Handbuch-Artikel u.a. das produktiv-kreative Potential, die »unerforschliche innere Gesetzlichkeit des Menschen« mit semantischen Schnittmengen zum Entelechiebegriff hervor; Theo Buck Dämonisches, a.a.O., S. 180. 264 MA 4.2: 515; zur Datierung vgl. den Kommentar MA 4.2: 1135. Zum Konzept eines selbstgestalteten Lebens vgl. Bernd Hamacher: Johann Wolfgang von Goethe. Entwürfe eines Lebens, Darmstadt 2010. 265 Vgl. MA 4.2: 1136 (Kommentar). 266 MA 4.2: 515; »nach außen gerichtet« bezieht sich auf den Bildungstrieb; vgl. zu Varianten und Deutungsproblemen den Kommentar MA 4.2: 1137. 267 MA 4.2: 516.

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und Gestaltens, ist also ein umfassend tätiges Prinzip von Selbstbildung. So notiert Goethe bspw. am 27. Juni 1817 in sein Tagebuch: »Bildungstrieb bey Veranlassung einer Stelle aus Kant«268. Im Sinne produktiver Realitätsverarbeitung nimmt Goethe demnach speziell für seine Person in Anspruch, dass der poetische Bildungstrieb von sich aus widerständig zum Subjekt aktiv sei und so seine entscheidende Bedeutung für die Organbildung der Person finde. Die kreative Kraft brauche dabei im Inneren und im Äußeren Stoffe, also Erfahrungen geistiger und sinnlicher Art, um ein Objekt zu modellieren, andernfalls würde sie sich gegen sich selbst richten. Für die Aktivierungszusammenhänge von Wort und Bild konnte ich zeigen, wie im Kontrast zu diesem wie selbstverständlich operierenden poetischen Bildungstrieb sich Goethes zeichnerische Produktion einer ungleich anderen Herkunft verdankt269. Es ist dabei zunächst das Interesse des bewusst agierenden Subjekts, sich der Möglichkeiten bildender Kunst zu versichern. Durch einen immer wieder aktivierten und fortgesetzten Übungsprozess wird dann das als Unvermögen empfundene zur Fähigkeit transformiert. Auch im Zusammenspiel von Wort und Bild sieht Goethe die Möglichkeit, widerständige Erfahrungen bei Integrations- und Individuationsprozeduren als umbildende Erfahrungen zu modellieren, die transformatorische Funktion für die Organbildung haben und damit zu den Bezirken seiner Selbstbildung zählen. Modulationsformen und Wirkungsweisen solcher kreativer Prozeduren erläutert Goethe in einer Rezension zu Das Sehen in subjektiver Hinsicht, von Purkinje 1819270 von 1824 anhand von »produktiver Einbildungskraft«271; diese produziere Phantasiebilder von einer Sache und bilde immer neue Variationen davon aus. Das gesamte Ensemble der Psyche sei dabei synchron tätig272. Goethe reflektiert an anderer Stelle darüber, dass sein »ganzes Verfahren auf dem ›Ableiten‹ beruhe«273. Die variantenreiche Vielfalt eines Ganzen wird dabei in eine Gestalt konzentriert, die das Ganze exemplarisch verkörpert, andererseits kann ein Einzelmotiv zu einer Gesamtreihe entfaltet werden274. Interessant ist nun, wie Goethe das weitere Prozedere darstellt. 268 In WA III; 6: 68. 269 Vgl. dazu die Kap. 4, 5 und 6. 270 FA 25: 817–827. 271 FA 25: 825 f. 272 »Hier ist die Erscheinung des Nachbildes, Gedächtnis, produktive Einbildungskraft, Begriff und Idee alles auf einmal im Spiel und manifestiert sich in der eigenen Lebendigkeit des Organs mit vollkommener Freiheit« (FA 25: 826). 273 FA 24: 198 in: Bedeutendes Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort. 274 Vgl. zu diesem Komplex übergreifender Entwicklung Ernst Cassirer: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (1916), Darmstadt 41975, S. 227–248. Dieser Studie verdanke ich Anregungen zum vorliegenden Thema. Cassirer scheint nach meiner Einschätzung den Akzent seiner Deutung stärker auf den gesetzmäßigen Gesamtzusammenhang zu legen; von daher unterscheidet sich meine Lesart von seiner.

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Es ist damit nicht ein deduktives Verfahren gemeint. Die Variationen werden umwandelnd gestaltet, bis diese auf einen »prägnanten Punkt« stoßen und in einer Art Umschlag von hier aus eine eigene innere Einheit und Ordnung »freiwillig aus sich«275 heraus generieren. Goethe betont an dieser Stelle also ausdrücklich, dass diese inneren Bilder nicht produziert sind, sondern ihm entgegen treten276. Dabei speist sich dieses kreative Vermögen aus der gleichen Quelle wie Intuition als innere Anschauung: Hier wie dort modelliert die Produktivität nicht ein Produkt eigener Subjektivität, sondern das Innewerden eines vorhandenen übersubjektiven Zusammenhangs. Damit verlegt Goethe die Gestaltungsmöglichkeiten offener Ganzheit in das aktiv handelnde Subjekt, das seinen Horizont von Ganzheit modellieren muss. Der Geniebegriff mit seinen Potentialen steht damit quer zu idealen Versöhnungs- und Harmonieentwürfen, suggeriert keine Vollkommenheit, sondern impliziert reale Entwicklungsoffenheit. Der Zusammenhang des Geniebegriffes konturiert damit den Horizont von Widerständigkeit. Im Sinne produktiver Realitätsverarbeitung bei Individuation und Integration ist Goethes Gedanke so zu verstehen, dass der Antagonismus verschiedener widerstrebender Kräfte der entscheidende Motor für kreative Entwicklung und Gestaltung ist277. Wenn es um Perspektiven einer Expansion des Individuums ins Ganze geht, ist diese expansive Dynamik durch Differenzerfahrung motiviert. Eine umbildende Erfahrung löst eine Suchbewegung aus, in deren Verlauf das Individuum durch die wechselseitige Wirkung zentrifugaler und zentripetaler Kräfte seine Metamorphose modelliert. In diesem widerständigen Sinne spürt Goethe der Frage einer möglichen Universalisierung des Individuums unter den Bedingungen der Moderne nach, auch Aspekte von Weltbürgertum278 gehören in diesen Zusammenhang. Dabei wird das 275 FA 24: 598. 276 Ebd. 277 In dieser Hinsicht ist der durch das Dämonische bestimmte Geniebegriff Goethes vergleichbar mit dem anthropologischen Verständnis Schillers, wie ich es rekonstruiert habe (vgl. zu diesem Kap. 3). 278 In diesen Zusammenhang gehört Goethes Forderung nach einer »Epoche der Welt-Literatur« im Gespräch mit Eckermann am 31. Januar 1827, in: FA 39: 224 f., die man im Kontext seines Interesses für Entwicklungstendenzen der modernen Welt verstehen muss; markantestes Beispiel dafür ist sicherlich seine Prognose hinsichtlich der Bedeutung des Baus von Panama- und Suez-Kanal sowie einer Verbindung von Rhein und Donau im Gespräch mit Eckermann am 21. Februar 1827, in: FA 39: 580 f. Vgl. dazu insbesondere Hans Joachim Schrimpf: Goethes Begriff der Weltliteratur, Stuttgart 1968, und: Dieter Borchmeyer: Welthandel – Weltfrömmigkeit – Weltliteratur. Goethes Alters-Futurismus (28.4.2004), in: , letzter Zugriff: 1.9.2010. Eine umfassende Untersuchung liegt neuerdings vor durch Dieter Lamping: Die Idee der Weltliteratur. Ein Konzept Goethes und seine Karriere, Stuttgart 2010.

7.3 Die Ontologie offener Ganzheit und widerständige Selbstbildung

337

Schreiben selbst auch zu einer solchen Differenzerfahrung, es misslingt Goethe nach eigenem Urteil mit zunehmendem Alter, biographisches und autobiographisches Erzählen in ein »congruentes Ganze zusammenzufügen«279. Das Kontinuum wird unsagbar, perspektivische Erfahrung und Kontingenz280 zeigen das »Inkalkulable, das Inkommensurable der Weltgeschichte«281, literarische Simulation agiert in einem offen unabschließbaren Horizont. Das vormoderne Orientierungsmuster erinnernde Denken Goethes erhebt nach dieser Lesart Unzeitgemäßes zum Thema literarischer Simulation und enthält als ein solches eine dialektische Option auf die Zukunft. Berücksichtigt man die konzeptionellen Elemente des Geniegedankens in Verbindung mit Goethes Begriff des Dämonischen und stellt diese in den o.g. Diskurszusammenhang des Bildungsbegriffes des 18. Jahrhunderts, so schwebt Goethe vor, literarisch zu erproben, wie unter den Bedingungen moderner Differenzerfahrung und »Individualitätsproblematik«282 279 FA 17: 238. Goethe reflektiert hier in den Tag- und Jahresheften im Zusammenhang seines Versuchs, eine Biographie Jakob Philipp Hackerts zu verfassen, über das Problem, das vielschichtige Ganze nicht in ein erzähltes Kontinuum fassen zu können. Insofern enthält der Titel Philipp Hackert. Biographische Skizze, meist nach dessen eigenen Aufsätzen entworfen (FA 19: 411) eine Programmatik biographischen Erzählens. Ich verdanke den Hinweis Rüdiger Nutt-Kofoth: Erzähltes Leben zwischen Überlieferung und Konstruktion. Goethes »Hackert«-Biographie und das Problem des ›congruenten Ganzen‹, in: Goethe-Jahrbuch 128 (2011), S. 198–216. 280 In Paralipomenon 78 von Dichtung und Wahrheit heißt es dazu: »[D]en[n] in der nächsten Epoche zu der ich schreiten müßte fallen die Blüten ab, nicht alle Kronen setzen Frucht an und diese selbst, wo sie sich findet, ist unscheinbar, schwillt langsam und die Reife zaudert. Ja wie viele Früchte fallen schon vor der Reife durch mancherlei Zufälligkeiten, und der Genuß, den man schon in der Hand zu haben glaubt, wird vereitelt.« (FA 14: 972) Vgl. Bernd Hamacher: Johann Wolfgang von Goethe. Entwürfe eines Lebens, a.a.O., S. 153, der in diesem Zusammenhang von »multidisziplinären und multiperspektivischen Biographien« spricht. Vgl. auch Ernst Cassirer: Goethe und die geschichtliche Welt, in: ders.: Goethe und die geschichtliche Welt, hrsg. von Rainer A. Bast, Hamburg 1995, S. 1–26. 281 Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, in: FA 23/1: 613. 282 Vgl. Dirk Kemper: »ineffabile«, a.a.O., Kemper postuliert als zentrale Ausgangsthese seiner Untersuchung eine für die Moderne signifikante »Dekonstruktion der Korrespondenztheorie zwischen der Ordnung des Seins und der Ordnung des Denkens« (S. 8), welche die spezifische »Individualitätsproblematik« der Moderne ausmache. Deren konstitutive Polarität von »Selbstbegründungsfreiheit und Selbstbegründungszwang« (S. 11) sei für Person und Werk Goethes von zentraler Bedeutung und präge bis in die Gegenwart Modi der Konstitution von Identität. Bei Goethe rekonstruiert Kemper als wesentliche Genese der Konzeption für die Jugendjahre autoreferentielle Identität, deren subjektzentrierte Begründung sich in symbolischer, kultureller und geschichtlicher Erweiterung zu dezentrierter Narration transformiere, die im Alterswerk die Deutungshoheit über die eigene Vita aufgebe. Individualität wird dabei von Kemper als Konstante gedeutet, deren ge-

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7 Denkmuster und Bekenntnisse des Betrachters

Selbstbildung in der Perspektive offener Ganzheit simuliert und modelliert werden kann. Dabei betont er besonders in dieser Variante der Bildungsprogrammatik das Widerständige seines Selbstbildungsansatzes283, der gegen funktionale Vereinnahmungen opponiert und selbstbestimmte Optionen forciert.

naue Bestimmung aber das ineffiabile sei. Vgl. zu diesen Aspekten auch meine Vorbemerkungen (Kap. 1) sowie meine davon abweichende Deutung, die ich für verschiedene Aktivierungszusammenhänge ausgehend von Aisthesis als zentrifugaler und zentripetaler Anschauung rekonstruiere. 283 Dazu in aktueller Bedeutung Gernot Böhme: Bildung als Widerstand, in: Die Zeit, Nr. 38, 16. September 1999, S. 51.

ZUSAMMEN FAS S U N G

Das Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, Aisthesis in ihrer Bedeutung für Selbstbildung als ein Leitmotiv von Goethes Denken zu rekonstruieren. Schriften, Briefe und Notizen zur Naturforschung und Ästhetik wurden aus dem Corpus des Gesamtwerkes als Quellenmaterial zur Rekonstruktion genutzt. Es sollte in bildungsphilosophischer Absicht eine Lesart entwickelt werden, die es ermöglicht, Goethes Bildungsdenken in den aktuellen Diskurs über Bildung einzubringen. Der bildungsphilosophische Diskurs des 18. Jahrhunderts wurde genutzt, um das Besondere der Goethe’schen Konzeption kontrastiv zu erschließen. Aktuelle Anschlussmöglichkeiten fanden sich in den bildungstheoretischen Konzeptionen von Erfahrung (Käte Meyer-Drawe), bildender Erfahrung (Christiane Thompson) und transformatorischer Bildung (Hans-Christoph Koller). Die fachwissenschaftlichen Diskursbezüge dienten dazu, Goethes Konzeption in ihrem innovativen Potential neuer, bisher nicht berücksichtigter bildungsphilosophischer Denkmuster zu rekonstruieren. Zu diesem Zweck wurden unterschiedliche Aktivierungszusammenhänge von Aisthesis und Selbstbildung bei Goethe rekonstruiert; in den Realisierungsvarianten konnten je besondere Motivationen, Begründungen und Bedeutungen rekonstruiert werden, die in ihrer Verschiedenheit differenzierte Optionen und Dimensionen von Bildung erscheinen ließen. So zeigte sich beim jungen Goethe, dass dieser im Kontext seiner Straßburger Zeit eine biographisch motivierte Suchbewegung entfaltete, in der sich u.a. durch ästhetisches Denken sowie alchemistische, hermetische Spekulation ein Erfahrungsbegriff formte, dessen Modi als Leitmotiv in Goethes Erkenntnis- und Forschungspraxis sowie für seine Selbstbildung gelten können. In den programmatischen Schriften dieser Zeit, Zum Shakespears Tag und Von Deutscher Baukunst, entwickelte Goethe • die entscheidenden Komponenten von Aisthesis in ihrer epistemischen Bedeutung; • einen Gestaltbegriff, der geistige und stoffliche Komponenten als Differenzzusammenhang zu einer offenen Ganzheit in ontologischer Dimension modelliert und dabei interessante Perspektiven von Transformation des materialistisch-monistisch konstruierten Gestaltbegriffes aufzeigt; • einen Geniegedanken, der in seiner differenzierten Organisation im Sinne produktiver Realitätsverarbeitung nicht nur Integrationsleistungen des Subjekts beschreibt, sondern insbesondere auch dessen kreatives dämonisches Aktzentrum mit seinen spezifischen Aktionspotentialen, was ihn für die Diskussion moderner Identitätsproblematik interessant macht.

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Zusammenfassung

Es ergab sich, dass Goethe in ästhetischer Erfahrung des Straßburger Münsters Anschauung und Erfahrung als Konstituenten von Erkenntnis verstand und Aisthesis epistemisch hybrid konzeptionierte. Neben äußerer sinnlicher Anschauung wurde Intuition als ein Erkenntnisvermögen innerer Anschauung entwickelt. Erkenntnis wurde als zentrifugal-zentripetaler Prozess von Wechselwirkungen zwischen Subjekt und Objekt verstanden, wobei insbesondere, ausgelöst durch die ekstatische Wirkung der Dinge (Gernot Böhme), Denkmuster für einen Weg transformatorischer Selbstbildung erprobt wurden, deren Varianten auf Amplifikation angelegt waren. Die Rekonstruktion ergab in diesem Zusammenhang, dass Gestaltbegriff und Geniebegriff als offene Ganzheiten verstanden werden, welche durch Gestaltungs- und Partizipationsleistungen Identität als Differenzzusammenhang modellieren. Dabei wurde Goethes Denkmuster der Kluft als innovative Perspektive von widerständiger Selbstbildung im Sinne produktiver Realitätsverarbeitung erschlossen. Das Widerständige einer solchen Selbstbildung zeigte sich in der Emanzipation aus der Diskursgebundenheit ästhetischen Denkens ebenso, wie im performativen Impetus einer spezifischen Gedankenmodulation im Schreibstil der Texte. Im Zuge der Rekonstruktion war ferner festzustellen, dass Goethe Aisthesis als Methode anschauender Betrachtung über ästhetische Anschauung hinaus in wissenschaftlicher Forschung weiterentwickelte, wenn er auf seinen geologischen Exkursionen in den Mittelgebirgen in weiter betriebener Amplifikation seiner Betrachtungsweise Modulationen eines anschauenden Denkens modellierte und diese durch seine Spinozalektüre theoretisch fundierte. Dabei bildete Goethe methodische Varianten von Naturforschung aus, deren oszillierende Differenzen diskursiver und intuitiver Vorstellungsarten im erkennenden Bemühen um einen Phänomenzusammenhang einen multiperspektivischen Zugriff zeigen. Neben epistemischen und ontologischen Implikationen sprachen insbesondere die Anlässe und Gegebenheiten von Goethes Selbstbildung in diesem Zusammenhang dafür, dass mit diesem Leitmotiv eine widerständige Bildung gegenüber der Weimarer Weltrolle modelliert wurde. Diese Bildung emanzipierte sich von funktionalen Ansprüchen und Forderungen allgemeiner Bildung sowie gesellschaftlichen Erwartungen und Ansprüchen, weil sie nicht normativ legitimierten Autoritäten oder gesellschaftlich-kulturell sanktionierten Mustern folgte, sondern in der aktuellen Erfahrung der Dinge diesen eine exemplarische Bedeutung für Bildung zusprach. Bemerkenswert war in diesem Zusammenhang die Bedeutung performativer Handlungen. Kreative Prozesse, in Wort und Bild durch poetischen Bildungstrieb und zeichnerisches Vermögen die eigenen Potentiale zu erproben und in der Fusion von narrativen und bildnerischen Versuchen die eigenen Erfahrungen auszudrücken, führten zu intrapersonal widerständigen Modulationen antagonistisch erlebter kreativer Potentiale der Person.

Zusammenfassung

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Es zeigte sich, dass mit der Italienreise all diese Komponenten von Aisthesis und Selbstbildung expandierten. Das Reisen hatte in diesem Zusammenhang die Bedeutung, in der Entfernung vom vertrauten Lebenskreis und in der Erfahrung eines Neuen besondere Transformationsprozesse zu initiieren. Bemerkenswert war dabei die Erfahrung Goethes, welche Bedeutung die Nähe der Dinge eines Umgebungsmilieus für Erkennen und Bildung besitzen und wie bspw. das Meer ein ozeanisches Ganzheitserleben ermöglichen kann. Entsprechende Partizipationserfahrungen wurden ein reicher Fundus kreativer Ausgestaltung von Selbstbildung. In dieser Hinsicht zeigte sich eine weitere in bildungstheoretischer Hinsicht ertragreiche Perspektive in Goethes Aisthesispraxis. Es konnte gezeigt werden, dass die vermeintlich ästhetischer Bildung vorbehaltenen Rezeptionsmöglichkeiten und Ertragsleistungen, die sich gemäß entsprechender Theoriekonzeptionen allein auf den Gegenstandsbereich der Kunst konzentrieren, durch Goethes mit Aisthesis praktizierte Selbstbildung neu orientiert werden können. Indem Goethe seine schon in ästhetischer Anschauung und Naturforschung erprobte multiperspektivische, auf Amplifikation angelegte Betrachtungsart über die Rezeption von Kunst hinaus konsequent in Natur- und Weltzusammenhänge Italiens expandieren ließ, modellierte er eine Bildung, die ihre privilegierten Gegenstände in den Ekstasen der Gegenstände in aktueller Erfahrung findet. Durch diese Ästhetisierung der Dinge der Welt und entsprechende Betrachtungsarten wurden Bildungserfahrungen beschreib- und begründbar, die neben Kunst diesbezügliche Bildungsräume konzeptionieren, welche sich externer Funktionalisierung, Zweck- und Nutzenorientierung zu entziehen vermögen. Dieser Gegenraum von Goethes Selbstbildung konnte als widerständig zu seiner gesellschaftlichen Existenz beschrieben werden. Das in Italien praktizierte aktuell erfahrungsbasierte Schematisieren im Zeichnen und das Spezifische seiner Notizen vor Ort modellierten produktive literarisch-zeichnerische Ausdrucksformen und wurden noch Jahrzehnte später als Material genutzt, um die Präsens eines Erlebniskomplexes in der Absenz des Originals zu simulieren und damit zum Weimarer Alltag eine widerständige Selbstbildung zu inszenieren, die das Eigene der Person als narrativ gestaltete Identität komponierte. Vor diesem Hintergrund zeichneten sich damit weitere Kohärenzmodulationen ab, in veränderbaren Kontexten und im Horizont von Kontingenzerfahrung eine Identitätsfindung in dynamisch antagonistischen Differenzzusammenhängen offener Ganzheit zu praktizieren. Die Rekonstruktion philosophisch an Kant orientierter methodenkritischer Reflexion Goethes über Denkmuster der Naturforschung sowie deren epistemische und ontologische Basierung ergab, dass auch die diesbezüglichen naturwissenschaftlichen Schriften und Dokumente in ihrer Bedeutung für Selbstbildung interpretiert werden konnten. Es zeigte sich, dass im Unterschied zum Ausgangspunkt der

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Zusammenfassung

Betrachtungsart in der Jugend aber Akzentverschiebungen festzustellen sind. Von Goethe wurden epistemische Erfahrungsbasierung und ontologische Orientierung konsequent in ihrer Dimension ausdifferenziert. Insbesondere die Funktion von Versuchen und Versuchsreihen sowie die Bedeutung von Hypothesen und eines Denkens in Analogien konnte aufgezeigt werden. Der spezifische Ertragswert von Aisthesis im Rahmen konsequent betriebener naturwissenschaftlicher Forschung war in den Optionen von Korrelation, Korrespondenz, Partizipation durch holistisches und systematisches Denken zu sehen. Danach ist im Sinne von Goethes ontologischen Überzeugungen der Mensch in der Lage, im Betrachten der empirischen Phänomene der gegebenen Natur ein partizipierendes Verhältnis zur natura naturata zu entwickeln, das zu einem ahnenden Wissen der natura naturans fortschreitet, welches in holistischem Verstehen der bewirkenden Kräfte und letztlich in Selbstreflexion des Erkenntnissubjektes aufgeht, ohne in vorkritische Denkmuster metaphysischer Letztbegründung zu verfallen. Goethe strebte ein komplementäres Verhältnis zwischen einer Systematik von Denken und Ordnung des Seins der Dinge an, mit dem er eine zentrale Denkfigur metaphysischer Ontologie in einem für das Denken der Moderne spezifischen Sinne aktivierte, indem er die für modernes Denken prinzipiellen Differenzerfahrung nicht aufgab und im Denkmuster der Kluft verschiedenste Antagonismen als Differenzzusammenhang modellierte. Dieser Ansatz Goethes wurde im Kontext der kritischen Philosophie Kants verortet. Wenn diese entscheidend dazu beigetragen hat, Korrespondenztheorien von Sein und Denken zu erschüttern, so konnten im Kontext dieser Dekonstruktion mit Goethes anschauendem Denken Optionen offener Ganzheit erprobt werden, weil sie nicht vormodernen Denkmustern totalitärer Ontologie folgen, sondern dynamisch innovative Perspektiven von Kohärenzmodulation aktivieren, die in prinzipieller Kontingenzerfahrung Wege einer Transformation des Differenzbewusstseins aufzeigen. In Bezug auf die Individualitätsproblematik der Moderne konnte mit der Rekonstruktion diesbezüglicher Kontexte der Winckelmannschrift als ein entscheidender Ertrag festgehalten werden, dass im Denkmuster der Kluft die Irritationen bildender Erfahrung als Aktivierungspotential für Transformationsprozesse von Selbstbildung auch dort fungierten, wo Goethe durch philosophische Lektüre und biographische Betrachtung widerständige Formen des Denkens kultivierte. Es ergab sich, dass Goethe mit der Winckelmannschrift über eine Epochenschwelle reflektierte, die heute als Sattelzeit verstanden wird. Vor diesem Hintergrund wurden einer im Spielraum der Einbildungskraft imaginierten Antike Eigenschaften wie Harmonie, Vervollkommnung und Ganzheit zugesprochen. Dabei war festzustellen, dass die Antike als ferner Spiegel diente, um das Differenzbewusstsein der Moderne kontrastiv zu reflektieren.

Zusammenfassung

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Es handelte sich bei der Entgegensetzung von antik vs. modern offensichtlich um ein Gesprächsthema mit Schiller, an das Goethe anknüpfte. Im Vergleich zu Friedrich Schiller, der mit philosophischem Instrumentarium die entfremdeten Bedingungen der Moderne analysierte und ihnen mit seiner Programmatik ästhetischer Bildung entgegentrat, reflektierte Goethe mit der Winckelmannschrift jedoch im Medium biographischen Erzählens. Die Biographie war für ihn der entscheidende Resonanzraum, historisch-gesellschaftliche Bedingungen in ihrer Bedeutung für den einzelnen sichtbar zu machen. Auch in dieser Hinsicht zeigte sich, im Kontrast zu Schillers allgemein-gesellschaftlichen Diagnosen, Goethes Orientierung am Individuum und dessen Selbstbildung. Dabei insistierte Goethe für die Moderne mit ihren sich abzeichnenden Orientierungsmustern einer Exklusionsindividualität (Luhmann) auf ein intrapersonales Potential der Person, das in mehrfacher Weise produktiv werden kann. Der Geniebegriff des Alters modellierte dabei ebenso mögliche Prozeduren eines dämonischen Aktzentrums wie Integrations- und Individuationsleistungen des Subjektes, die maßgeblich durch Irritationen bildender Erfahrung ausgelöst waren. In einem widerständigen Sinne spürte Goethe damit der Frage möglicher Ganzheitserfahrung des Individuums unter den Bedingungen der Moderne nach. Auch das Schreiben selbst wurde zu einer solchen Differenzerfahrung. Es misslang Goethe auch nach eigenem Urteil zusehends, biographisches und autobiographisches Erzählen als Ganzes zu komponieren. Das Kontinuum wurde unsagbar, perspektivische Erfahrung und Kontingenz wurden in literarischer Simulation als perspektivisch unabschließbares Projekt erfahren. Nach dieser Lesart enthielt literarische Simulation eine dialektische Option auf die Zukunft. Berücksichtigt man die konzeptionellen Elemente des Geniegedankens in Verbindung mit Goethes Begriff des Dämonischen und stellt diese in den Diskurszusammenhang des Bildungsbegriffes des 18. Jahrhunderts, so schwebte Goethe wohl vor, literarisch zu erproben, wie unter den Bedingungen moderner Differenzerfahrung Selbstbildung in der Perspektive offener Ganzheit simuliert und modelliert werden könne. Dabei betonte er besonders in dieser Variante der Bildungsprogrammatik das Widerständige seines Selbstbildungsansatzes, der gegen funktionale Vereinnahmungen opponiert und selbstbestimmte Optionen forciert. Durch die Rekonstruktion von Aisthesis in ihrer Bedeutung für Selbstbildung bei Goethe wurde es möglich, Goethes differenzierte Haltung zu Bildung zu erschließen. Ergab die Sichtung der bildungstheoretischen Fachliteratur und der Goetherezeption zunächst, dass Goethe im aktuellen bildungsphilosophischen Diskurs kaum berücksichtigt wird, steht nun eine Programmatik zur Verfügung, die Goethe für den modernen Diskurs über Bildung interessant werden lässt. Denn durch den hybriden Aisthesisbegriff und den Differenzbegriff der Kluft werden bildende Erfahrung sowie transformatorische Bildung neu orientiert. Gehen entsprechende

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Zusammenfassung

Theoriekonzeptionen von einer ausschließlich dekonstruierenden Funktion aus, so impliziert Goethes Identitätskonzeption im Umkreis seines Gestalt- und Geniebegriffes Möglichkeiten produktiver Realitätsverarbeitung, die im Rahmen der Theoriekonzeptionen nicht nur bestritten oder vernachlässigt werden, sondern auch nicht erklärbar sind. Damit bietet Goethes Bildungskonzeption bisher fachwissenschaftlich nur randständig diskutierte Perspektiven erfahrungsbasierter Bildung, die als widerständige Selbstbildung kontrastiv zu Dekompositionsmodellen diskutiert werden können. Goethes Programmatik fungiert dabei als ein Spiegel, in dem die aktuelle Verhandlung über Bildung neue Orientierungen finden kann.

L ITERATU RV E RZ E I C H N I S

1. Siglen 2. Editionen und Einzelausgaben der Werke Goethes 3. Verwendete Literatur der Goethezeit 4. Bibliographien, Periodika, Hand- und Wörterbücher, Nachschlagewerke 5. Literatur zu Bildung, zur Ideen- und Begriffsgeschichte, zu sachlich relevanten Fachbereichen 6. Forschungsliteratur zu Leben und Werk Goethes

1 Siglen

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Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter u.a. 20 Bde. in 32 Teilbde. und ein Registerbd., München 1985–1998. Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Friedmar Apel u.a. 40 Bde., Frankfurt/M. 1985–1999. Goethe, Johann Wolfgang: Werke, Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Erich Trunz (Hamburg 1948–1969), 14 Bde., München, vollständige Neubearbeitung in unterschiedlichen Auflagen 1981. Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 143 Bde. in 4 Abteilungen, Weimar 1887–1919. Goethe Johann Wolfgang: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Leopoldiana-Ausgabe. Hrsg. von Dorothea Kuhn und Wolf von Engelhardt, Weimar 1947 ff. Goethe, Johann Wolfgang: Naturwissenschaftliche Schriften. 5. Bde., fotomechanischer Nachdruck nach der Erstauflage in Deutsche National-Literatur 1883–1897. Mit Einleitungen, Fussnoten und Erläuterungen im Text hrsg. von Rudolf Steiner, Dornach 1982. Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang, auf Grund der Ausgabe u. des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann ergänzt und hrsg. von Wolfgang Herwig, 5 Bde., Bd. 1–3.2: Zürich und Stuttgart, Bd. 4 und 5: Zürich und München 1965–1987.

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Literaturverzeichnis

2 Editionen und Einzelausgaben der Werke Goethes

Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter u.a. 20 Bde. in 32 Teilbde. und ein Registerbd., München 1985–1998. Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Friedmar Apel u.a. 40 Bde., Frankfurt/M. 1985–1999. Goethe, Johann Wolfgang: Werke, Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Erich Trunz (Hamburg 1948–1969), 14 Bde., München, vollständige Neubearbeitung in unterschiedlichen Auflagen 1981. Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 143 Bde. in 4 Abteilungen, Weimar 1887–1919. Goethe, Johann Wolfgang: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Leopoldiana-Ausgabe. Hrsg. von Dorothea Kuhn und Wolf von Engelhardt, Weimar 1947 ff. Goethe, Johann Wolfgang: Naturwissenschaftliche Schriften. 5. Bde., foto-mechanischer Nachdruck nach der Erstauflage in Deutsche National-Literatur 1883–1897. Mit Einleitungen, Fussnoten und Erläuterungen im Text hrsg. von Rudolf Steiner, Dornach 1982. Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang, auf Grund der Ausgabe u. des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann ergänzt und hrsg. von Wolfgang Herwig, 5 Bde., Bd. 1–3.2: Zürich und Stuttgart, Bd. 4 und 5: Zürich und München 1965–1987. Goethe, Johann Wolfgang: Corpus der Goethezeichnungen. 7 Bde., hrsg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen Literatur in Weimar, Leipzig 1958–1971. Goethe, Johann Wolfgang: Zeichnungen, hrsg. von Petra Maisak, Stuttgart 1996. Goethe, Johann Wolfgang: Landschaftszeichnungen, im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar hrsg. von Javier Arnaldo und Hermann Mildenberger, Frankfurt/M. und Leipzig 2009. Goethes pädagogische Ideen. Die Pädagogische Provinz nebst verwandten Texten, hrsg. von Wilhelm Flitner, Düsseldorf und München 21962. Eibl, Karl; Jannidis, Fotis; Willems, Marianne (Hrsg.): Der junge Goethe in seiner Zeit. Texte und Kontexte. 2 Bde. und eine CD-ROM, Frankfurt/M. 1998.

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3 Verwendete Literatur der Goethezeit

Ast, D. Friedrich: Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, Landshut 1808. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Ästhetik, 2 Bde., lateinisch-deutsch. Übersetzt, mit einer Einführung und Registern hrsg. von Dagmar Mirbach, Hamburg 2007 und 2009. Georg Forsters Werke, Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hrsg. von der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 18: Briefe an Forster, bearb. von B. Leuschner u.a., Berlin 1982. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über Ästhetik, Bd. 1, in: ders.: Werke (in 20 Bde.), Bd. 13, auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 41994 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (Berlin 1823). Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho, in: ders.: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte Bd. 2, hrsg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Hamburg 1998. Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: ders.: Werke Bd. III/1,2, hrsg. von Wolfgang Pross, München und Wien 2002. Herder, Johann Gottfried: Journal meiner Reise im Jahr 1769, historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Katharina Mommsen, Stuttgart 2002. Humboldt, Wilhelm: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, in: ders.: Werke, 5 Bde. (Studienausgabe), Bd. 1, hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Stuttgart 31980, S. 56–233. Humboldt, Wilhelm: Theorie der Bildung des Menschen. Bruchstück, in: ders.: Werke, 5 Bde. (Studienausgabe), Bd. 1, hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Stuttgart 31980, S. 234–240. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (1781/87), Hamburg 1956. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Kants Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie, hrsg. von Manfred Frank und Véronique Zanetti, Frankfurt/M. 1996. Kant, Immanuel: Über Pädagogik, in: Hermann Röhrs (Hrsg.): Bildungsphilosophie, Bd. 2, Frankfurt/M. 1968, S. 11–23. Kleist, Heinrich von: Über das Marionettentheater, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, auf der Grundlage der Brandenburger Ausgabe hrsg. von Roland Reuß und Peter Saengle, München und Frankfurt/M. 2010, S. 425–433. Moritz, Karl Philipp: Schriften zur Ästhetik, kritische Ausgabe, hrsg. von Hans Joachim Schrimpf, Tübingen 1962.

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4 Bibliographien, Periodika, Hand- und Wörterbücher, Nachschlagewerke

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7.3 Die Ontologie offener Ganzheit und widerständige Selbstbildung

371

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AB B I LDU N G S N AC HWE I S

Abb. 1: , letzter Zugriff: 9.8.2013. (Auch in: Corpus der Goethezeichnungen, Bd. 1, Nr. 120.) Vgl. Barbara Schnyder-Seidel: Goethe in der Schweiz: anders zu lesen. Von der Wahrheit in der Dichtung letztem Teil, Bern und Stuttgart 1989, S. 81 f., sowie Petra Maisak: Johann Wolfgang Goethe. Zeichnungen, Stuttgart 1996, S. 63. Abb. 2: , letzter Zugriff: 9.8.2013. (Auch in: Corpus der Goethezeichnungen, Bd. 1, Nr. 118.) Vgl. Petra Maisak: Johann Wolfgang Goethe. Zeichnungen, Stuttgart 1996, S. 61. Abb. 3: , letzter Zugriff: 26.6.2014. Vgl. Petra Maisak: Johann Wolfgang Goethe. Zeichnungen, a.a.O., S. 68. Abb. 4: , letzter Zugriff: 15.1.2013. (Auch: Corpus der Goethezeichnungen, Bd. 1, Nr. 190.) Zu Goethes Kohlezeichnung vom Dezember 1777 vgl. Johann Wolfgang Goethe: Landschaftszeichnungen, im Auftrag der Klassik Stiftung Weimar hrsg. von Javier Arnaldo und Hermann Mildenberger, Frankfurt/M. und Leipzig 2009, S. 94 f. Abb. 5: , letzter Zugriff: 15.1.2013. (Auch: Corpus der Goethezeichnungen, Bd. 1, Nr. 276.) Die Zeichnung von 1784 verdeutlicht die von Goethe untersuchte heute als Wollsackverwitterung bezeichnete Verwitterung großer Gesteinsmassen. Abb. 6: Bl. 13 Weimar, SWK/GSA, Inv. Nr. 27/57. Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Goethe- und Schiller-Archivs der Klassik Stiftung Weimar. Abb. 7: Corpus der Goethezeichnungen, Bd. 2, Nr. 138. Abb. 8: LA II, 9A, M. 39, S. 52–60. Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Archivs der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften. Vgl. auch Johann Wolfgang Goethe: Zeichnungen, a.a.O., S. 158. Abb. 9: , letzter Zugriff: 15.1.2013.

Abbildungsnachweis

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Abb. 10: LA II, 9A, M. 39, S. 52–60. Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Archivs der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften.

PERSON EN R E G I STE R

Adler, Hans 44 Adorno, Theodor W. 46, 49, 54 Apel, Friedmar 117, 127–129, 137, 145 Aristoteles 44, 47 Assmann, Aleida 22, 25, 81, 82 Ast, Georg Anton Friedrich 31, 87, 93

Cassirer, Ernst 61, 164, 291, 295, 296, 301, 319, 335, 337 Claudius, Matthias 128 Conrady, Karl Otto 113, 128 Constantin, Emmy 79 Cousin, Victor 70

Bachelard, Gaston 76, 324 Basfeld, Martin 52 Baumgarten, Alexander Gottlieb 45, 97, 101, 161, 329 Becker, Hans Joachim 144 Beulwitz, Heinrich Emil Friedrich August, von 18, 119, 156 Beuthan, Ralf 55 Beutler, Ernst 127 Birus, Hendrik 68, 137, 165, 166, 270, 333 Bisping, Birgit 32 Blechschmidt, Stefan 68, 165 Blumenbach, Johann Friedrich 144, 292, 334 Bockemühl, Jochen 294 Böhm, Gottfried 31 Böhme, Gernot 14, 23, 31, 47, 52, 53, 72, 76, 96, 99, 102, 104, 111, 117, 122, 130, 133, 142, 148, 210, 260, 262, 275, 289, 298, 325, 338, 340 Böhme, Günther 60, 62, 64, 83 Böhme, Hartmut 26, 63, 69–72, 104, 219, 220, 260, 262 Bollacher, Martin 73, 124, 125, 146, 149 Bollenbeck, Georg 81 Bonnet, Charles 291 Borchmeyer, Dieter 162, 336 Breidbach, Olaf 72, 112 Buck, Günther 54 Buck, Theo 18, 19, 156, 334 Buffon, Georges Louis Leclerc de 224, 233, 234, 238 Byron, George Gordon 332

d’Alembert, Jean-Baptiste le Rond 32 d’Holbach, Paul Thiry 126, 147, 290 Descartes, René 101 Dewey, John 37 Dilthey, Wilhelm 14, 30, 31, 66, 95, 289 Dohmen, Günther 80, 81 Dörpinghaus, Andreas 23, 27 Dries, Christian 41 Du Bois-Reymond, Emil 68 Eckermann, Johann Peter 18, 151, 155, 157, 162, 272, 298, 301, 332, 333, 336 Ehrenspeck, Yvonne 9, 21, 25 Ehret, Georg Dionysios 307 Eibl, Karl 113 Einem, Herbert von 68, 163, 331 Emerson, Ralph Waldo 63, 65 Engelhardt, Wolf von 72, 73, 113, 123, 126, 150, 168, 170, 172, 173, 176, 177, 180, 182, 183, 185, 186, 193, 195, 204, 205, 208–210, 221, 222, 230, 234, 236, 238, 247, 268, 271, 272, 274, 279, 280, 284, 308, 311, 313 Ernst II., Herzog von Sachsen-Gotha und Altenburg 15, 138, 200, 217 Eybisch, Hugo 96 Fahlmer, Johanna 167, 168 Fehrenbach, Frank 15, 19, 257 Fichte, Johann Gottlieb 23, 24, 326 Fichtel, Johann Ehrenreich von 279 Fiedler, Ralph 81 Fleck, Ludwik 27, 56 Flitner, Wilhelm 58–60, 62 Förster, Eckart 124, 137, 208, 272, 285, 301, 302, 307, 313–319

Personenregister

Forster, Georg 24 Foucault, Michel 54, 70 Freud, Sigmund 261 Friedrich Christian von Schleswig-HolsteinSonderburg-Augustenburg 104, 106 Frühsorge, Gotthardt 170, 239 Fuchs, Thomas 41, 104, 142, 300 Fuhrmann, Manfred 60 Gadamer, Hans-Georg 21, 22, 30, 31, 33, 77, 88 Gall, Lothar 24, 88, 89, 90 Gamm, Hans-Jochen 61, 62 Gellert, Christian Fürchtegott 115 Gerigk, Jürgen 14, 27 Glasersfeld, Ernst von 50, 299 Glenberg, Arthur Mitchell 39 Goethe, Cornelia Friederica Christina 187 Grimm, Jacob Ludwig Karl 78 Grimm, Wilhelm Carl 78 Groß, Steffen W. 101 Günzler, Claus 61, 62 Gutjahr, Ortrud 77, 91, 95 Haller, Albrecht von 291 Hamacher, Bernd 121, 164, 166, 203, 214, 270, 334, 337 Hamann, Johann Georg 121, 160 Hammel, Walter 83 Hastedt, Heiner 28, 49, 102 Habermas, Jürgen 29 Hackert, Jakob Philipp 65, 163, 270, 337 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 10–15, 23, 24, 43, 46, 54–56, 72, 80, 91, 93, 120, 136, 156, 325, 326 Heidegger, Martin 75, 324 Heinroth, Christian, Friedrich August 15, 190 Heisenberg, Werner 69 Helmholtz, Hermann Ludwig Ferdinand von 68 Herder, Johann Gottfried 23, 80, 81, 87, 92–94, 96, 99, 138, 149, 152, 176, 180, 208, 224, 227, 228, 249, 278, 325, 329 Hetzler, der Jüngere 120, 123, 127, 133 Himmelstein, Klaus 82

375

Hofstadter, Douglas 286, 316 Hogrebe, Wolfram 43, 134, 298 Hufnagel, Erwin 31 Hugo von St. Viktor 17, 210, 325 Humboldt, Alexander von 71, 325, 326 Humboldt, Wilhelm von 17, 23, 24, 27, 55–58, 62, 68, 81, 87–90, 93, 94, 160, 173, 241, 325, 326, 329 Hume, David 44, 45, 164 Hurrelmann, Klaus 16, 20, 26, 33, 36, 71, 83, 333 Husserl, Edmund 136 Iken, Carl Jacob Ludwig 137 Illich, Ivan 17, 210, 214, 325 Ilsemann, Johann Christoph 184 Jacobi, Friedrich Heinrich 149, 167, 207– 220, 277, 287, 325 Jannidis, Fotis 32, 67, 78, 113 Jaspers, Karl 60 Kahneman, Daniel 13,15, 43, 47, 262, 296, 302 Kamper, Dietmar 78 Kant, Immanuel 12, 23, 47, 54–56, 73, 80, 85, 87, 93, 98, 123, 124, 134, 149, 204, 229, 260, 275, 276, 282, 286, 288, 291, 295–297, 299, 300, 303–305, 307, 308, 311, 319, 320, 323–327, 330, 334, 341, 342 Karl August, Großherzog von SachsenWeimar-Eisennach 168 Kaulbach, Friedrich 13 Kemper, Dirk 23, 27, 39, 42, 56, 66, 67, 159, 286, 317, 324, 337 Keppler, Stefan 42 Keupp, Heiner 42 Kiehn, Ludwig 59 Klafki, Wolfgang 23, 32, 82 Klages, Ludwig 52 Kleist, Heinrich von 50 Klettenberg, Katharina von 124 Knebel, Carl Ludwig von 208, 217 Kobusch, Theo 43 Kokemohr, Rainer 57

376

Personenregister

Koller, Hans-Christoph 9, 10, 17, 23, 37, 42, 49, 53, 56, 57, 83, 339 Koopmann, Helmut 127 Korf, Hermann August 61 Koselleck, Reinhart 32, 77, 82 Kracht, Thomas 52 Kraft, Johann Heinrich 196, 197 Kremer, Detlef 127, 128 Kuhn, Dorothea 68, 247, 268, 271, 274, 291 Kuhn, Thomas Samuel 16, 27, 56, 142 Kutter, Uli 170, 239 Lamping, Dieter 162, 336 Langen, August 116 Langer, Ernst Theodor 113, 126, 142, 159, 240 Langguth, Adolf 58 La Roche, Marie Sophie von 195 Lavater, Johann Caspar 160, 197, 198 Leibniz, Gottfried Wilhelm 59 Lenzen, Dieter 25 Leonhard, Karl Caesar von 283, 284, 303 Lessing, Gotthold Ephraim 81 Lewin, Kurt 44, 46 Lichtenstein, Ernst 75, 77, 79–81 Liebau, Eckart 20, 22, 23, 111 Liess, Reinhard 128, 130 Liessmann, Konrad Paul 28 Linné, Carl von 70, 171, 307, 320 Lischewski, Andrea 24 Loder, Justus Christian 228 Lovejoy, Arthur Oncken 76 Luhmann, Niklas 21, 26, 33–36, 48, 61, 71, 170, 219, 332, 343 Luise, Herzogin von Sachsen-Weimar und Eisennach 243, 244 Lyotard, Jean-François 48, 49, 54, 203 Maisak, Petra 169, 179, 180, 250, 255–257, 264, 267 Mandelartz, Michael 119, 281, 315 Marc Aurel 198 Marquard, Odo 28 Matussek, Peter 69 Maturana, Humberto R. 25, 35, 48, 148 Mehne, Philipp 24, 63–66

Meister Eckhard 80 Mendelssohn, Moses 77, 80 Merck, Johann Heinrich 167, 175, 181, 182, 198, 200, 201, 202 Merleau-Ponty, Maurice 37, 44 Metz, Johann Friedrich 124 Meyer-Abich, Adolf 69 Meyer-Abich, Klaus Michael 229, 304 Meyer-Drawe, Käte 10, 25, 29, 37–53, 56, 87, 144, 161, 290, 339 Mildenberger, Hermann 240 Miller, Norbert 67, 240, 249, 250, 257 Mirabeau, Honoré Gabriel de Riqueti, Comte de 164 Mollenhauer, Klaus 12, 31 Moritz, Karl Philipp 96–102, 111, 246, 289, 291, 326, 327, 329 Müller, Olaf 7 Nagel, Thomas 39 Napoleon 278 Newton Isaac 119, 190 Nieke, Wolfgang 9, 12, 13, 24, 39, 43, 49, 134, 298, 305 Niethammer, Friedrich Immanuel 326 Nutt-Kofoth, Rüdiger 65, 163, 337 Oelkers, Jürgen 25 Oeser, Adam Friedrich 130 Oeser, Friederike 113, 114, 123 Oettermann, Stephan 263 Osten, Manfred 332 Ostkamp, Ernst 128, 137 Paracelsus 80 Parmenides 51, 75, 324 Parmentier, Michael 29, 30, 32 Passon, Oliver 7 Penter, Reiner 121 Pestalozzi, Johann Heinrich 24 Platon 44, 51, 260 Plessing, Friedrich Viktor Lebrecht 183, 184 Plessner, Helmuth 41 Poenitsch, Andreas 23, 27 Pongratz,Ludwig 9, 29 Popper, Karl Raimund 26

Personenregister

Pörksen, Uwe 15, 19, 172, 194, 225, 231, 238, 258, 259, 268, 321, 322 Portmann, Adolf 69 Rang, Matthias 7 Reichenbach, Roland 26, 29, 37, 48, 67, 90, 91, 159, 329, 330 Rein, Wilhelm 58 Rese, Friederike 31 Richter, Johann Paul Friedrich (Jean Paul) 18 Rilke, Rainer Maria 9 Rittelmeyer, Christian 9, 12, 24, 29, 30, 32, 39, 83 Robespierre, Maximilien de 106 Rochlitz, Johann Friedrich 271, 278 Röhrs, Hermann 79 Rolland, Romain 261 Rousseau, Jean-Jacques 85 Safranski, Rüdiger 19, 23, 102, 166, 284 Sander, Emmanuel 286, 316 Sauder, Gerhard 98, 120, 127, 128 Saussures, Horace Bénédict de 222, 223 Schaarschmidt, Ilse 78–80 Schad, Wolfgang 240, 248 Schadewaldt, Wolfgang 260 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 325, 326 Schieren, Jost 13, 17, 73, 208, 288, 296, 308 Schiller, Johann Christoph Friedrich 15, 18, 22, 23, 24, 50, 75, 81, 84–86, 93, 96, 98, 101–111, 157, 184, 258, 272, 278, 283, 284, 288, 296, 299, 300, 307, 313, 325–328, 330, 333, 343 Schilling, Hans 79, 80, 81 Schirren, Thomas 53 Schlegel, August Wilhelm 326 Schlegel, Friedrich 326 Schleiermacher, Friedrich 31 Schlosser, Christian Heinrich 134 Schmidt, Bernhard 25, 29 Schmidt, Jochen 182 Schmitz, Hermann 14, 19, 39, 42, 47, 52, 61, 73, 104, 142, 149, 290, 301 Schneider, Hans 124

377

Schnyder-Seidel, Barbara 167, 174 Schöne, Albrecht 124, 125, 157, 182–185, 189, 191 Schönemann, Lilli 167, 172 Schrimpf, Hans Joachim 97, 117, 162, 333, 336 Schrings, Hans-Jürgen 102 Schwedt, Georg 175, 183, 184 Schweizer, Hans-Rudolf 101 Seuse, Heinrich 80 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper, Earl of 81 Shakespeare, William 158–160 Simonis, Annette 76, 144, 145, 153 Sloderdijk, Peter 20 Soemmerring, Samuel Thomas 310 Soetebeer, Jörg 23, 103, 107, 108, 109, 166, 284, 327, 333 Soret, Frédéric 164, 325, 326, 333 Spinoza, Baruch de 119, 125, 129, 133, 148– 150, 207–220, 221, 260, 272, 285, 305, 307, 319, 325 Spranger, Eduard 14, 30, 59, 60, 62, 82 Stahl, Ernst 79 Stein, Charlotte Albertine Ernestine Freifrau von 139, 177, 179, 182–184, 186, 188, 189, 195–198, 200, 201, 208, 242, 248 Stein, Fritz von 249 Steinbach, Erwin von 127, 129, 173 Stiedenroth, Ernst 18, 135, 160, 161 Szondi, Peter 51, 328 Terhard, Ewald 9 Tippelt, Rudolf 9, 25, 29 Thompson, Christiane 10, 23, 25, 27, 54–57, 339 Trebra, Friedrich Wilhelm Heinrich von 192, 193, 202, 221 Trier, Jost 14 Trunz, Erich 131 Unterberger, Rose 97 Valk, Thorsten 114, 127–130, 132, 137, 146, 150, 152, 153, 158 Varela, Francisco J. 25, 35, 48, 148

378

Personenregister

Vierhaus, Rudolf 22, 78, 79, 81 Viëtor, Karl 94 Voigt, Johann Carl Wilhelm 199, 201, 202, 279 Voßkamp, Wilhelm 95 Vulpius, Christiane 278 Wackenroder, Heinrich Wilhelm Ferdinand 204, 286 Waldenfels, Bernhard 37, 42, 44, 45 Weber, Max 28 Weil, Hans 79–81 Welsch, Wolfgang 12, 48, 49, 53, 133, 142 Welter, Nicole 92 Wiesing, Lambert 13, 26, 43, 44, 103, 108, 111, 136, 142, 147, 297, 300, 302 Wigger, Lothar 25, 27 Willems, Marianne 113 Wimmer, Michael 9, 29 Winckelmann, Johann Joachim 65, 100, 328–333, 342, 343 Witzenmann, Herbert 74 Wolf, Caspar Friedrich 292 Wulf, Christoph 12, 31 Wundt, Max 58 Wyder, Margrit 14, 67, 71, 72, 76, 194, 206, 207, 222, 225, 227–229, 238, 293 Zahn, Wilhelm Johann Carl 331 Zajonc, Arthur 119 Zelle, Carsten 105, 106, 109 Zelter, Karl Friedrich 20, 149, 157 Zimmermann, Rolf Christian 73, 116 Zirfas, Jörg 20, 22, 23, 111