Über die Erfahrung von Bedeutsamkeit 9783495807941, 9783495487648


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Inhalt
Vorbemerkung
Einleitung
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
Bedeutsamkeit und Befremdlichkeit
1. Verstehen und Sinn.
2. Sinnzusammenhänge.
3. Befremdlichkeit und plausible Erklärungen.
4. Bedeutsamkeit und prägnante Interpretationen.
5. Begriffsgeschichtlicher Exkurs.
6. Bedeutsamkeit und Relevanz
7. Besonnenheit und evozierender Ausdruck
Diesseits der Pragmatik
1. Semiotik und Hermeneutik
2. Zwei Begriffe von »Pragmatik«
3. Handlungsmarke und Handlungsmal (Die Kategorie des Perfectum)
4. Transfunktionale Vergegenwärtigung.
5. Die epidigmatische Funktion der Vergegenwärtigung
6. Reine Pragmatik und Epidigmatik
Marken und Male
1. Zwei Begriffe von Pragmatik
2. Das Beispiel des Taschenkalenders
3. Agenda, Acta und Memorabilia
4. Marken und Male
5. Natürliche Signale und Marken
6. Die kommemorative Deixis des Denkmals
7. Das Mal als Epidigma
8. Pragmatik und Epidigmatik
Bibliographie
Die Artikulation des Eindrucks
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
Die energetische Bedeutungstheorie von Hans Lipps
1. Logos semantikos: zu erkennen geben
2. Vernehmen, Aufnehmen, Entsprechen
3. Bedeutungserfüllung und Worterfüllung
4. Artikulation als »zuspitzende Fassung« im Wort
5. Erweckung durch das Wort
Anspielungen
1.
2.
3.
4.
5.
Zur Metaphorik der Aneignung
1.
2.
3.
Das Nahe-Bringen von Überlieferung
1. Resonanz
2. Heroisierung der Fremdheit
3. »Zuhandenheit« und ihre Grenzen
4. Proximität
5. Alienität
6. Intimität
7. Nähe zur Überlieferung: das Beispiel der Parodie
Der Anspruch der »Kultur«
1.
2.
3.
4.
5.
Conditio Humana
Kultur und Zivilisation
1.
2.
3.
4.
Zugehörigkeit und Fremdkultur
1.
2.
Nachweise
Personenregister
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Über die Erfahrung von Bedeutsamkeit
 9783495807941, 9783495487648

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Frithjof Rodi

Über die Erfahrung von Bedeutsamkeit

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495807941

.

B

Frithjof Rodi Über die Erfahrung von Bedeutsamkeit

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Die Erfahrungen von Bedeutsamkeit und ihre Artikulation gehören einem Bereich der Forschung an, der sich einer strengen wissenschaftslogischen Analyse entzieht. Im Grenzgebiet von Hermeneutik, Logik und Rhetorik liegend bilden sie einen Phänomenbereich, in dem lebensweltliche Strukturen weit in die Schicht höherer kognitiver Leistungen hineinreichen. Rodi untersucht am Beispiel von historischen Epochenbegriffen, Metaphern, Anspielungen etc. die sinnbildende Funktion solcher »epidigmatisch« genannter Ausdrücke. Ihre prägnant-evokative Präsenz ist Bestandteil des jeweiligen Horizontes einer Kultur und bedarf der Berücksichtigung im interkulturellen Verstehen.

Der Autor: Frithjof Rodi, emeritierter Professor der Philosophie an der RuhrUniversität Bochum, war als Mitherausgeber der Gesammelten Schriften von Wilhelm Dilthey zugleich Begründer und langjähriger Leiter der Bochumer Dilthey-Forschungsstelle und Herausgeber des Dilthey-Jahrbuchs sowie Mitherausgeber der amerikanischen Dilthey-Ausgabe und der Logik-Vorlesungen von Georg Misch.

https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Frithjof Rodi

Über die Erfahrung von Bedeutsamkeit

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48764-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80794-1

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Bedeutsamkeit gehört zu den Begriffen, die sich erläutern, aber nicht im strikten Sinne definieren lassen. (Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 78)

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https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Inhalt

Vorbemerkung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Bedeutsamkeit und Befremdlichkeit . . . . . . . . . . . . . .

50

Diesseits der Pragmatik. Semiotische und hermeneutische Aspekte der Reflexivität des Lebens . . . . . . . . . . . . . .

70

Marken und Male. Über die Grenzen einer reinen Pragmatik . .

89

Die Artikulation des Eindrucks. Über die Bedeutung der reflektierenden Urteilskraft für das Projekt einer hermeneutischen Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

106

Die energetische Bedeutungstheorie von Hans Lipps . . . . . .

130

* * * Anspielungen. Zur Theorie der kulturellen Kommunikationseinheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Metaphorik der Aneignung

145

. . . . . . . . . . . . . . . . 168

Das Nahe-bringen von Überlieferung. Über die kulturellen Lebensbezüge der »Vertrautheit« und »Fremdheit« . . . . . .

185

* * * Der Anspruch der »Kultur«. Ein begriffsgeschichtlicher Versuch

203

7 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Inhalt

Conditio Humana. Zu der gleichnamigen Schrift von Helmuth Plessner und zur Neuauflage seines Buches Die Stufen des Organischen und der Mensch . . . . . . . . . . .

218

Kultur und Zivilisation. Versuch einer Neubesinnung auf ein abgewertetes Begriffspaar . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

231

Zugehörigkeit und Fremdkultur. Einige kritische Fragen an die philosophische Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . .

250

Nachweise

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

269

Vorbemerkung

Von einigen stilistischen Korrekturen und terminologischen Angleichungen abgesehen sind die Texte dieses Bandes in ihrer ursprünglichen Fassung wiedergegeben. Lediglich die Fußnoten wurden vereinheitlicht. Einige jetzt eingefügte Anmerkungen wurden mit dem Zusatz »2015« versehen. Mein Dank für Zuspruch und Kritik geht an Maria Nazaré de C. P. Amaral, Joachim Fischer, Gottfried Gabriel, Helmut Johach, Guy van Kerckhoven, Gudrun Kühne-Bertram, Hans-Ulrich Lessing, Käte Meyer-Drawe, Gunter Scholtz und Volker Steenblock.

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Einleitung

1. Die in diesem Band gesammelten Arbeiten stellen Versuche dar, über den engeren Bereich fachlich vorgegebener, vorwiegend philosophiehistorischer Aufgaben hinauszublicken. Sie stehen insofern in einem systematischen Zusammenhang, als sich ihre Fragestellungen aus dem Weiterdenken der Dilthey’schen Begründung der Philosophie der Geisteswissenschaften ergaben. Aber dieser Zusammenhang ist nicht so eng, als dass sich aus ihrer Verbindung eine wie auch immer geartete Systematik gewinnen ließe. Immerhin gibt es einige durchgängige Motive, die es erlauben, die Arbeiten unabhängig von der Chronologie ihrer Entstehung unter sachlichen Gesichtspunkten zu gruppieren. Mit dem Begriff Bedeutsamkeit ist das zentrale dieser Motive genannt. Dies bedarf einer Erläuterung. Man kann im Gebrauch des Wortes ›Bedeutsamkeit‹ zwei verschiedene Bedeutungen unterscheiden. Es gibt zum einen die neutral-deskriptive Verwendung des Wortes, wenn einem Geschehen oder einem Gegenstand eine bestimmte Bedeutung oder ein Wert innerhalb eines übergreifenden Zusammenhangs zugesprochen und dies als seine Bedeutsamkeit festgehalten wird. Es ist das ›Bedeutsam-sein für …‹, das ich für einen Dritten feststellen kann, ohne seine Erfahrung von Bedeutsamkeit teilen zu müssen. Die Distanz des unbeteiligten Beobachters kann dabei bis zu extremen Formen des Miss- und Unverständnisses reichen. Dagegen ist der emphatische Begriff der Bedeutsamkeit Ausdruck jener subjektiven Erfahrung, die in erster Linie durch die Komplexität der Verweisungen bestimmt ist, die von dem betreffenden Phänomen ausgehen. Es ist das ›Bedeutsam-sein für mich‹, zu dem ich eine Distanz des Betrachters erst noch gewinnen muss. 1 Dabei handelt es sich nicht 1

Es ist diese »vitale, emotionale und existentiale Anteilnahme«, von der Erich Rotha-

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Einleitung

um den objektiven »Wert« dieses Phänomens, sondern um den Lebensbezug, der uns mit ihm verbindet. Dass uns etwas als bedeutsam erscheinen kann, setzt nicht notwendig einen allgemein feststellbaren Zug des Außergewöhnlichen, Auffallenden oder Ungewohnten voraus; denn auch das scheinbar nebensächlichste Wort kann in einer besonderen Situation bedeutsam sein und die Färbung unseres Lebensbezugs beeinflussen. In diesem Sinn ist in der Erfahrung von Bedeutsamkeit immer das emotionale Moment eines Bewegt-seins mit im Spiel. Dieses Bewegt-sein wird dadurch verstärkt, dass das als bedeutsam Empfundene uns zwar »anmutet«, sich aber zugleich einer allzu eilfertigen Deutung entzieht und damit das Bedürfnis nach Fasslichkeit und Transparenz steigert. In den folgenden Texten wird gelegentlich der Begriff der artikulativen Spannung gebraucht. Gemeint ist damit dieses Spiel des Uns-bewegens und Sich-entziehens, das wir vielleicht in einer elementaren Form erleben, wenn uns ein Wort »auf der Zunge liegt« und doch nicht bis zur Aussprechbarkeit gelangt. Es ist die bisweilen qualvolle Suche nach dem treffenden Wort, die auch als »Artikulationsdruck« oder – mit Hans-Georg Gadamer gesagt – als »Sprachnot« bezeichnet werden kann. 2 Bezogen auf die Kunst hat Adorno von deren »Rätselcharakter« gesprochen, der darin besteht, dass »Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen« 3. Eine Theorie der Erfahrung von Bedeutsamkeit wird – sofern sie unbeeindruckt bleibt vom Kult der »Verblüffungsresistenz« – in weiten Teilen mit einer Theorie sprachlicher Ausdrucksleistungen zusammenfallen. 4 Wie drücken sich diese Erfahrungen selbst noch im cker gesprochen hat und deren erkenntnistheoretische Bedeutung er in seinem »Satz der Bedeutsamkeit« formulierte: »Nur was mich angeht, was mir ›etwas‹ ›ist‹, d. h. bedeutet, was mein Interesse weckt, was mein Sein berührt, was mir beachtenswert, dann merkenswert, schließlich der weiteren Schritte sprachlicher und gedanklicher Aneignung wert erscheint, wissens-wert und wissens-würdig, das findet überhaupt Eingang über diese erste und elementarste Schwelle in meine Welt.« E. Rothacker: Geschichtsphilosophie. Darmstadt 1971, S. 98 f. 2 Vgl. F. Rodi: Zwischen Begriffs- und Philosophiegeschichte. Zur Rolle von Artikulationsdruck und Artikulationsrahmen; in: Ders.: Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1990, S. 15–30. 3 Th. W. Adorno: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften, Bd. 7. Frankfurt a. M. 1970, S. 182. Vgl. dazu G. Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung. Paderborn 1997, S. 80. 4 Die begriffsgeschichtlichen Voraussetzungen hierfür sind mit den Untersuchungen von G. Scholtz gegeben: Bedeutsamkeit. Zur Entstehungsgeschichte eines Grund-

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Einleitung

Diskurs der interpretierenden Wissenschaften aus? Schritte in dieser Richtung werden vor allem in den ersten fünf Arbeiten dieses Bandes unternommen. Es sind, wie schon betont, nicht zusammenfügbare Einzelstücke einer übergreifenden Systematik, sondern Gehversuche in verschiedene Richtungen, deren innere Zusammengehörigkeit vom Autor manchmal erst im Nachhinein entdeckt wurde. Auch die gleitenden Übergänge in Richtung einer Kulturtheorie waren keineswegs immer geplant. Dass eine Metaphorik der Aneignung ebenso wie die kulturspezifisch verschiedenen Anspielungen einer Kommunikationsgemeinschaft mit dem Prinzip der künstlichen Horizontbildung zu tun haben, wie Helmuth Plessner dies aus der Verschränkung von Umweltgebundenheit und Weltoffenheit des Menschen entwickelt hat, war gleichfalls keine Ausgangsthese der Untersuchungen, sondern nachträglicher Fund. Dass vieles wie von selbst zusammenpasste, hat wohl damit zu tun, dass das theoretische Fundament der wichtigsten Begriffe in der Weiterbildung der Dilthey’schen Konzeption des Erlebnisausdrucks durch die hermeneutische Logik von Georg Misch besteht. Dies noch einmal zu dokumentieren, ist eines der Motive für die vorliegende Veröffentlichung gewesen. Die dichotomische Struktur der meisten Texte der Sammlung (Bedeutsamkeit vs. Befremdlichkeit; Male vs. Marken; evozierende vs. rein diskursive Ausdrücke; Kultur vs. Zivilisation; Zugehörigkeit vs. Fremdkultur usw.) könnte den Anschein erwecken, dass hier nicht nur Dilthey, sondern vielleicht mehr noch der Windelband-Rickertsche Wissenschaftsdualismus Pate gestanden hätte. Jedoch konzentrieren sich vor allem die Arbeiten der ersten Hälfte des Buches auf eine Zweipoligkeit innerhalb der Geisteswissenschaften – eine Grenzziehung, auf die in jenen Debatten kaum Bezug genommen worden ist. Es handelt sich um den Unterschied zwischen der eher historischsozialwissenschaftlichen Fakten- und Gesetzlichkeitssicherung und den eher philosophisch-hermeneutischen, nicht primär empirisch orientierten Disziplinen. 5 Als Kern dieses »internen Dualismus«, begriffs der hermeneutischen Philosophie; in: Ders.: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften. Frankfurt a. M. 1991, S. 254–268. 5 Das Wörtchen »eher« soll von Anfang an deutlich machen, dass es uns nicht um die Wiederholung einer rigiden Systematik im kleineren Maßstab geht. Vieles, was im Folgenden über die eine und die andere Seite zu sagen ist, wird von Vertretern der jeweils anderen Seite auch für sich reklamiert werden können.

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Einleitung

wie ich ihn nennen will, um ihn von dem allgemeineren Wissenschaftsdualismus zu unterscheiden, zeigt sich einerseits eine Verschiedenheit der Forschungsgegenstände, die in einigen Zügen den Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften wiederholt. So sind die modernen empirisch-sozialgeschichtlichen Forschungen zu einem erheblichen Teil mit materiellen Faktoren des menschlichen Daseins befasst, deren Stellenwert als »Unterbau« zwar verschieden eingeschätzt werden kann, die als Forschungsmaterial jedoch fraglos massive Auseinandersetzungen mit fixier- und messbaren Daten und Fakten erfordern. Statistiken und Katastrophenberichte, Handelsverträge und Friedensschlüsse, Gerichtsakten und Parlamentsprotokolle, Erfindungen und Grabungsfunde, entstehender Reichtum und verzweifeltes Aufbegehren seien hier stellvertretend genannt für eine unendliche Fülle erforschbarer, beweisbarer oder kontrovers bleibender Fakten, auf die es letztlich immer wieder ankommt. Dieser manifesten »Diesseitigkeit« der Forschungsgebiete stehen Bereiche philosophischer, ästhetischer und religiöser Phänomene gegenüber, deren Fixier- und Messbarkeit in keinem Verhältnis zur Bedeutsamkeit ihres geistigen Gehaltes stehen, wie schon ein flüchtiger Blick auf literaturwissenschaftliche, kunstgeschichtliche, philosophische oder religionswissenschaftliche Interpretationen solcher Bedeutungsgehalte zeigt. Die Charakterisierung 6 eines Gedichts, einer Sinfonie, einer Kathedrale, die stilgeschichtliche Einordnung eines Gemäldes, die Bewertung der Tragweite eines philosophischen Textes – all diese Vergegenwärtigungen sind zwar auch auf sinnlich-faktische Grundlagen der wissenschaftlichen Arbeit angewiesen. Das empirisch Erforschbare bleibt aber unterhalb einer gewissen Relevanzschwelle, die zu beachten Sache einer »hermeneutischen Besonnenheit« ist. 7

6 Ernst Cassirers Theorie der »Kulturbegriffe« und ihrer charakterisierenden Leistung hat in diesen Studien trotz großer sachlicher Nähe leider keinen Niederschlag gefunden. Vgl. E. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien. 2. Aufl. Darmstadt 1961, vor allem S. 73 ff. – Vgl. dazu H.-U. Lessing: Der Typus zwischen Ordnungs-und Aufschließungsfunktion. Anmerkungen zum heuristischen Status des Typus-Begriffs bei Wilhelm Dilthey und Max Weber; in: F. Rodi (Hrsg.): Urteilskraft und Heuristik in den Wissenschaften. Beiträge zur Entstehung des Neuen. Weilerswist 2003, S. 143. 7 Zum Begriff der Relevanzschwelle vgl. vom Verfasser: Gegen die Verstümmelung der Wirklichkeit. Kritische Anmerkungen zum Programm einer »naturalistischen« Hermeneutik; in: Ders.: Das strukturierte Ganze. Studien zum Werk von Wilhelm Dilthey. Weilerswist 2003, S. 193 ff.

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Einleitung

»Das Material selbst ruft nach Deutung, nicht nach Berechnung, weil es bei aller sinnlichen Stofflichkeit auf menschlichen Geist hinweist.« 8 Dem Unterschied der Objekte entspricht ein solcher der Erkenntnishaltungen innerhalb der Geisteswissenschaften. Sie betreffen Weg und Ziel der jeweiligen Forschung. Auf der einen Seite steht das Interesse, zur eindeutigen Fixierung von Fakten und Kausalzusammenhängen zu kommen, durch die Probleme nach Möglichkeit endgültig gelöst werden. Angestrebt wird eine Reduzierung von Komplexität, die als Folge zunächst unaufgehellter Zusammenhänge auftritt. Auf der anderen Seite steht das Bedürfnis, Bedeutsamkeit artikulierend festzuhalten und eine Vertiefung solcher Erfahrungen methodisch zu erwirken. An die Stelle des definitiven Forschungsergebnisses tritt die Unabschließbarkeit und Intensivierung des Weiterfragens. Gegenüber der Komplexitätsreduzierung erfolgt eine Steigerung der Kompliziertheit der Phänomene in immer differenzierteren Artikulationen erfahrener Bedeutsamkeit. Dem Interesse an der Lösung von Problemen steht das Bedürfnis gegenüber, Bedeutungszusammenhänge sehen zu lassen. Dies schließt selbstverständlich die philologisch-kritische Forschung nicht aus. Statt aus dieser Gegenüberstellung eine neue Wissenschaftssystematik entwerfen zu wollen, versuchen die einzelnen Studien, von verschiedenen Seiten aus vor allem die »weichere« der genannten Erkenntnishaltungen in den Blick zu bekommen. Gegenüber den fest etablierten, empirisch und nicht selten positivistisch, ja betont szientistisch orientierten Disziplinen soll die Besonderheit der im engeren Sinn hermeneutischen Fächer herausgehoben werden. Dies geschieht auf verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlichen Akzentsetzungen. Ausgangspunkt ist die Selbstverständlichkeit des lebensweltlichen Darinnenstehens in vorgegebenen soziokulturellen Sinnstrukturen und das Aufbrechen dieser Sicherheit in Erfahrungen der Nicht-Selbstverständlichkeit. Es zeigt sich die vorwissenschaftliche Wurzel der beiden Erkenntnishaltungen: Die Nicht-Selbstverständlichkeit des Erfahrenen als Störung, Belastung, Herausforderung zwingt zur funktionalen Erledigung des Problems. Aber sie kann auch – als primär positiv empfundene Bedeutsamkeit – zu einer

8

H. Plessner: Mit anderen Augen; in: Ders.: Ges. Schr. VIII, S. 89.

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Einleitung

transfunktionalen Vergegenwärtigung 9 einladen. Diese scheint eine der beiden Hauptwurzeln der im engeren Sinn hermeneutischen Wissenschaften zu sein – zusammen mit dem kritischen Befragen der Texte, wo diese eher problematisch als bedeutsam erscheinen. ›Bedeutsamkeit‹ wird, wie schon angedeutet, in diesen Studien verstanden als die Anmutungsqualität eines Ereignisses oder einer Sinn-Objektivation, deren Bedeutung nicht eindeutig fixierbar ist und deren Erfahrung deshalb vorzugsweise in evokativ-prägnanten Ausdrücken artikuliert wird. Dies verbindet sich mit dem Gedanken des grundsätzlichen Unterschiedes zwischen einer auf Abschluss einer Handlung gerichteten Aktivität des Erledigens und – auf der anderen Seite – dem Bedürfnis, Geschehenes und Geschaffenes außerhalb von Sach- und Handlungszwängen (und -verlockungen!) in seiner Bedeutsamkeit zu vergegenwärtigen und die Resultate solcher Reflexion in ihrer Unabschließbarkeit virulent zu halten. Dies sind erste Annäherungen an das Phänomen der Bedeutsamkeit. Meine Beschäftigung mit ihm war von Anfang an mit der editorischen und interpretatorischen Arbeit an Diltheys Schriften verbunden. 10 Aber auch die Versuche, hermeneutische mit semiotischen Fragestellungen zu kombinieren, sind immer wieder auf das Thema »Bedeutsamkeit« zurückgekommen und haben seit den mittleren 1970er Jahren zu verschiedenen kleineren Texten geführt, 11 denen es allerdings nicht vergönnt war, in einer monographischen Bearbeitung Vgl. unten S. 80 ff. So wurde das Wort Diltheys von der im Erlebnis aufgehenden Bedeutsamkeit eines Geschehnisses als »Kernpunkt der ganzen diltheyschen Poetik« bezeichnet: »Mit Hilfe des Begriffs der Bedeutsamkeit kann überhaupt erst deutlich gemacht werden, was mit ›Erlebnis‹ ausgedrückt werden soll: ein Einzelnes wird aus dem großen Zusammenhang der Wirklichkeit herausgehoben und in seiner aufschließenden Kraft für das Verständnis dieses Zusammenhangs in der lebendigsten Weise empfunden.« (F. Rodi: Morphologie und Hermeneutik. Zur Methode von Diltheys Ästhetik. Stuttgart 1969, S. 82). Vgl. Ders.: Das strukturierte Ganze. Studien zum Werk von Wilhelm Dilthey. Weilerswist 2003, S. 100–104. 11 Neben den in diese Sammlung aufgenommenen Arbeiten sind zu nennen: Die Erstfassung von Diesseits der Pragmatik, wo der Zusammenhang von Bedeutsamkeit und ihrer Vergegenwärtigung erstmalig formuliert wird; in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie Bd. X (1979), S. 296 f. – Über einige Grundbegriffe einer Philosophie der Geisteswissenschaften; in: Dilthey-Jahrbuch 1/1983, S. 13–38; – Bedeutsame Sachverhalte und prägnante Aussagen; in: Reports on Philosophy 14/1991, S. 17–25 (z. T. eingegangen in den Text Bedeutsamkeit und Befremdlichkeit, vgl. unten S. 50 ff.). – Vom Verstehen und Nicht-Verstehen. Skizze einer hermeneutischen Elementarlehre; in: Studia Culturologica 3, Sofia 1994, S. 39–48. 9

10

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Einleitung

des Themas aufzugehen. Sie stehen jetzt nur lose verbunden nebeneinander und haben in erster Linie die Aufgabe, unter verschiedenen Gesichtspunkten immer wieder auf den einen Punkt zu kommen: dass neben der soliden, faktenseligen Forschung, die nicht immer Positivismus heißen muss, jene andere, den geistigen Gehalten zugewandte Fragebereitschaft steht, die nur selten einen »letzten Stand« der Forschung kennt und bisweilen selbst vor »letzten Fragen« nicht zurückschreckt. Ich kann wohl kaum verbergen, zu dieser Seite hingezogen zu sein, und setze mich dafür ein, ihren Forschungsresultaten mehr als nur dichterische Evidenz zuerkennen zu lassen. In diesem Sinne benötigen die Abgrenzungen in den einzelnen Studien die jeweilige Kontrastfolie hauptsächlich dazu, das Unverwechselbare jener Erkenntnishaltung deutlich hervortreten zu lassen, einer Haltung, die auf Eindeutigkeit, Beweisbarkeit und Endgültigkeit ihrer Ergebnisse manchmal verzichten muss zu Gunsten prägnant-evozierender Interpretationen, die grundsätzlich nie zu einem endgültigen Resultat kommen können. Dies bedeutet freilich nicht, dass auf diesem Feld der Wissenschaft nur Skizzen und Fragmente entstehen könnten. Entscheidend ist, dass sich mit der wachsenden Bedeutsamkeit eines Textes, Ereignisses oder Werkes der Anspruch auf Endgültigkeit einer Interpretation verringert. Dies kann auch als implizite Definition des »Klassischen« verstanden werden.

2. Dieser Problemstellung entsprechend sind im ersten Teil des Buches fünf Arbeiten vereint, die auf unterschiedliche Weise den hermeneutisch-logischen Impuls aufnehmen, der von dem Dilthey-Schüler Georg Misch ausgegangen ist. Er hatte gefordert, »den Weg zu einer Logik zu gehen, die den Intentionen der Lebensphilosophie entspräche« 12. Dieses in Mischs Göttinger Vorlesungen Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens 13 ausgeführte Programm konnte erst 70 Jahre nach seiner Entstehung ediert werden. G. Misch: Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Dilthey’schen Richtung mit Heidegger und Husserl. 3. Auflage Darmstadt 1967, S. 51. 13 G. Misch: Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens. Göttinger Vorlesungen über Logik und Einleitung in die Theorie des Wissens. Hrsg. v. G. Kühne-Bertram und F. Rodi. Freiburg/München 1994. 12

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Einleitung

Es hat wenigstens unmittelbar nach Erscheinen eine gute Resonanz 14 gefunden, aber es bleibt doch die Frage, wie weit diese Ansätze den »Mainstream« der Philosophie des 21. Jahrhunderts nachhaltig beeinflussen werden. Auch die weitere Wirkungsgeschichte Diltheys wird von den Antworten auf diese Frage stark beeinflusst sein. Für unseren Zusammenhang ist vor allem ein Dilthey’sches Theorem von Bedeutung, das auch Mischs eigenes Philosophieren nachhaltig beeinflusst hat: Der Gedanke der lebensimmanenten Reflexivität oder – mit den Worten Diltheys gesagt – der Polarität von Gedankenmäßigkeit und Unergründlichkeit des Lebens (ein Motiv, dem wir auch bei Plessner wieder begegnen werden). In Mischs eigenem Weiterdenken dieses »Grundverhältnisses« spielte der Rekurs auf die Logos-Lehre des Heraklit eine besondere Rolle. Heraklit spricht vom logos als dem »besonnenen Feuer«, was als die unauflösliche Verbindung von Gesetzlichkeit und Dynamik der Seele gedeutet werden kann. Übersetzt in eine weniger hoch ansetzende Sprache bedeutet dies die Möglichkeit einer Erweiterung der logischen Sphäre, allerdings nicht rein additiv, indem etwa einige als alogisch geltende Formen des Wissens diesem Bereich des Logischen zugerechnet würden. Die Erweiterung müsse nach Misch von innen heraus erfolgen, wie sie sich aus der Aufgabe ergebe, den Charakter des Hindeutens und Zur-Sprache-bringens geisteswissenschaftlicher Begriffe als logisches Phänomen zu begreifen, das »nach Berücksichtigung in der Lehre vom Begriff verlangt« 15. Für Misch sind dies vor allem die »evozierenden« Ausdrücke, die gemeinhin eher als Bestandteile des dichterischen Sprechens gelten und sich von den »rein diskursiven« Aussagen grundsätzlich unterscheiden. 16 Hier gibt es zweifellos Vergleichbarkeiten mit anderen Tendenzen der Sprachphilosophie der damaligen Zeit. Leider ließ sich nicht mehr erforschen, ob Misch in seinem politischen Exil in Cambridge mit Wittgenstein über dessen Bedeutungsbegriff der Philosophischen Untersuchungen diskutiert hat. Auch war es Misch nicht vergönnt, Zu nennen sind die Bände 11/1997–98 und 12/1999–2000 des Dilthey-Jahrbuchs mit insgesamt über 20 Beiträgen, sowie die Literatur, die in der Bibliographie Georg Misch von Gudrun Kühne-Bertram in Band 12 desselben Jahrbuchs aufgeführt ist. An weiterführenden Arbeiten ist neben den Aufsätzen dieser Autorin vor allem zu nennen: V. Schürmann: Zur Struktur des hermeneutischen Sprechens. Eine Bestimmung im Anschluß an Josef König. Freiburg/München 1999. 15 Misch: Lebensphilosophie und Phänomenologie, a. a. O., S. 94. 16 Vgl. unten S. 111 f. 14

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Einleitung

die Erträge der Ordinary Language Philosophy mit seinem eigenen Ansatz zu vergleichen. Dass hier Gesprächsmöglichkeiten bestanden hätten, zeigt sich schon an Mischs Intention, »den Boden des logischen Phänomens aufzulockern« 17 und »einen Weg zu finden, um in die mit der Aussage bereits zum Stehen gebrachte Bewegung vom Leben aus wirklich hineinzukommen« 18. Der häufige Gebrauch des Wortes ›Bewegung‹ kennzeichnet diese dynamische Betrachtungsweise. So wird über das Verstehen verbaler Grundbedeutungen gesagt, es handle sich dabei um den »Bezug zu einem ›Bestimmt-Unbestimmten‹, der uns in die Bewegung zu ihm hin versetzt, damit wir nachbildend in die Bewegung von ihm her hineinkommen« 19. Mit der von Dilthey stammenden Formel Bestimmt-Unbestimmt 20 ist in äußerster Verkürzung ausgesprochen, was auf dem Weg über Heraklit vielleicht einen allzu metaphysischen Klang angenommen hat: der für die interpretierenden Wissenschaften unverzichtbare Unbestimmtheits-Pol, der nicht einfach als lebensweltlicher Restbestand zu ignorieren ist, sondern der dem interpretierenden Logos erst seine artikulative Spannung gibt. Dass ein Besonderes nicht immer nur innerhalb eines bereits feststehenden Allgemeinen subsumierend verortet werden muss, sondern zu einem übergreifenden Allgemeinen zunächst nur in einer vagen, noch zu artikulierenden Beziehung stehen darf, ist eine der Voraussetzungen aller Hermeneutik. Diese Einsicht ist der gemeinsame Hintergrund der ersten fünf Studien. Sie sollen zugleich an die Besonderheit des fragilen Überlieferungsstranges erinnern, der gegen widrige Umstände zeitweise von nur ganz wenigen Personen am Leben gehalten wurde. Es geht nicht um die vorübergehende Breitenwirkung Diltheys in den sich von der puren Gelehrsamkeit abwendenden Geisteswissenschaften unter dem Einfluss von Herman Nohl, Eduard Spranger, Theodor Litt, Erich Rothacker und anderen. Es geht um die Subtilität der Fragestellungen von Misch, die nur von wenigen aufgenommen wurden. Unter ihnen gebührt neben Josef König vor allem Otto Friedrich Bollnow ein besonderer Platz. Er hielt auch in den Jahren der »rassischen« Ver-

Misch: Lebensphilosophie und Phänomenologie, a. a. O. S. 189 A. a. O., S. 41. 19 A. a. O., S. 87. 20 W. Dilthey: Ges. Schr., Band VII, S. 220, 227, 233. Vgl. G. Misch: Der Aufbau der Logik, a. a. O., S. 483 ff. 17 18

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Einleitung

femung Mischs dem Lehrer die Treue, was er nicht nur in seinem Dilthey-Buch von 1936 bewies. 21 Als Misch nach dem Zweiten Weltkrieg und der Rückkehr aus England ganz von der Mammut-Aufgabe seiner Geschichte der Autobiographie vereinnahmt und der Philosophie fast ganz abhandengekommen war, war es wiederum Bollnow, der in seinem Aufsatz Zum Begriff der hermeneutischen Logik 22 auf Mischs Göttinger Logik-Vorlesungen hinwies und den Anstoß zu deren Veröffentlichung gab. Zugleich hat sich Bollnow immer wieder für den Misch nahestehenden Hans Lipps eingesetzt. Wir haben dann in Bochum versucht, mit dem Dilthey-Jahrbuch diese Traditionslinie fortzuführen und mit thematischen Schwerpunkten zu Misch, Lipps, Helmuth Plessner und Josef König 23 diesen nicht immer zum Mainstream Gezählten die ihnen gebührende Resonanz zu verschaffen. Über den Anteil Plessners an diesem Überlieferungsstrang gibt der spätere Teil dieser Einleitung Auskunft.

3. Der eingangs erwähnte »interne Dualismus« innerhalb der Geisteswissenschaften wird also in den von Georg Misch beeinflussten Arbeiten von verschiedenen Seiten aus betrachtet. Sie alle beziehen sich auf den grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Abschlusscharakter einer Zweckhandlung und der »Open End«-Struktur von Interpretationen, die vom Bestimmt-Unbestimmten eines als bedeutsam aufgefassten Phänomens ausgehen. So werden definitive, plausible Erklärungen eines befremdlichen Ereignisses als Kontrastfolie herangezogen, um das uns eigentlich interessierende Thema der prägnantevokativen Artikulationen deutlicher hervortreten zu lassen. Dies gilt ebenso für den der Umgangssprache entnommenen Ausdruck ErlediO. F. Bollnow: Dilthey. Eine Einführung in seine Philosophie. 4. Aufl. Schaffhausen 1980. 22 O. F. Bollnow: Zum Begriff der hermeneutischen Logik; in: Argumentationen. Festschrift für Josef König Hrsg. v. H. Delius u. G. Patzig. Göttingen 1964. In veränderter Fassung aufgenommen in: Ders., Studien zur Hermeneutik, Band II: Zur hermeneutischen Logik von Georg Misch und Hans Lipps. Freiburg/München 1983. 23 Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften. Hrsg. v. F. Rodi. Band 6/1989: Schwerpunkt Hans Lipps; Band 7/1990–91: Schwerpunkt Josef König u. Helmuth Plessner; Band 11/1997–98 u. Band 12/1999–2000: Schwerpunkt Georg Misch als Philosoph. 21

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gung, mit dem allerdings nicht nur das Zwanghafte der Bewältigung unserer täglichen Pflichten einem besonnenen Vergegenwärtigen bedeutsamer Sachverhalte gegenübergestellt wird. Solches könnte auch auf eine wohlfeile Zivilisationskritik hinauslaufen. Im Begriff der Erledigung ist aber auch das Bedürfnis ausgedrückt, »aller Sorgen ledig« zu sein und alles Komplizierte auf einfache, handhabbare Formen zu reduzieren. Dass demgegenüber die Vergegenwärtigung bedeutsamer Sachverhalte unser Leben komplizierter, ja vielleicht schwerer macht, deutet auf die Verschränkung der scheinbar so klar geschiedenen Seiten hin. Dies zu verdeutlichen geschieht im Rückgriff auf die bald vierzig Jahre zurückliegende Arbeit Diesseits der Pragmatik. In ihr soll unter einer semiotischen Perspektive die lebensweltliche Verwurzelung der transfunktionalen Vergegenwärtigungsleistungen der i. e. S. hermeneutischen Disziplinen noch einmal betrachtet werden. »Diesseits …« – damit war die unmittelbare Lebensnähe der sinnstiftenden Ausdrücke gemeint, deren Analyse noch diesseits jeder systematisch aufbauenden Handlungstheorie anzusetzen hat. Ausgangspunkt war zwar der instrumentelle Gebrauch von Zeichen, wie sie Signale, Piktogramme, aber auch die Vormerkungen im Terminkalender darstellen. Diese letzteren werden Handlungsmarken genannt. Sie bezeichnen ein Agendum (wovon sich der früher übliche Name Agenda für solche Notizkalender und das heute im Singular gebrauchte Wort herleiten). Nach erfolgter Handlung bilden diese Notizen im Kalender lediglich eine Handlungsspur und bezeichnen im Rückblick ein Actum. Im Normalfall wird der Terminkalender bei Jahresende »ad acta« gelegt. Er kann jedoch aus verschiedenen Gründen zu neuer Aktualität kommen, etwa wenn ich mich anhand solcher Eintragungen nachdenklich an vergangene Ereignisse erinnere, oder wenn ich sie mit tagebuch-ähnlichen Zusätzen versehe. Damit hat sich ihr Zeichencharakter verändert. Sie stehen nicht mehr bloß indexikalisch für ein Actum, sondern für ein in meine Gegenwart hineinreichendes Memorabile. 24 Ohne Handlungsdruck, also »transfunktional«, vergegenwärtige ich mit ihrer Hilfe die Bedeutsamkeit der vergangenen Handlung. Sie sind Handlungsmale geworden.

In der ursprünglichen Formulierung dieses Gedankens findet sich noch das Wort ›Perfectum‹. Vgl. unten S. 75 ff.

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Solche alltägliche Mal-Setzungen haben ihre Entsprechung in Akten der Vergegenwärtigung, 25 die über den »privaten« Umgang mit Zeichen hinausreichen und jenen Bereich der Geisteswissenschaften ausmachen, der in besonderem Maße mit lebensweltlichen Strukturen verbunden ist. Hierbei kommt es zur Überlagerung der Leistungen des Vergegenwärtigens: Mal-Setzungen sind häufig selbst wieder Gegenstand neuer Vergegenwärtigungen. In Sprichwörtern, Geflügelten Wörtern, Zitaten, Anspielungen, Parodien usw. bilden sich gleichsam Sedimente des kollektiven Bescheidwissens, die in vielen Fällen aus individuellen Mal-Setzungen hervorgegangen sind. Die in solchen Akten entstehenden Objektivationen können mit Dilthey auch Erlebnisausdrücke genannt werden. 26 Hier ist allerdings eine Unterscheidung vorzunehmen, die nicht in allen Studien getroffen wurde. Das Mal als Zeichen 27 der Vergegenwärtigung von Bedeutsamkeit tendiert im Diskurs der hermeneutischen Wissenschaften – wie auch in der alltäglichen Besinnung – zum Gebrauch von Begriffen, in denen sich jene artikulative Spannung ausdrückt, von der eingangs die Rede war. Diese Spannung kommt nicht in der Festigkeit und »Fertigkeit« eines Terminus zur Ruhe, sondern behält in ihrer Prägnanz einen Rest von produktiver Unbestimmtheit. Dies ist vor allem das Thema der Aufsätze Bedeutsamkeit und Befremdlichkeit und Die Artikulation des Eindrucks (und findet eine noch darüber hinausgehende Behandlung in der Studie über die Energetische Bedeutungstheorie von Hans Lipps). In diesen Studien ist die Leistung des »evozierenden Sprechens« gegenüber der »rein diskursiven« Rede im Sinne von Georg Mischs hermeneutischer Logik besonders betont. Im Gegensatz zur reibungslos einrastenden Subsumtion wird die Der Begriff der ›Vergegenwärtigung‹ wird hier und in allem Folgenden nicht nur im Sinne der Veranschaulichung von vorstellbarer Wirklichkeit gebraucht, sondern vor allem als Besinnung auf Wert und Bedeutung eines Ereignisses oder Sachverhalts. Dass beides nicht streng zu trennen ist, macht Gottfried Gabriel deutlich, wenn er von der »literarischen Vergegenwärtigung von Gefühlen, Einstellungen und Lebensformen« spricht. Vgl. G. Gabriel: Erkenntnis. Berlin 2015, S. 139. 26 Vgl. W. Dilthey: Das Verstehen anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen; in: Ges. Schr. VII, S. 205 ff. 27 Der Begriff ›Zeichen‹ ist hier als semiotische Kategorie zu verstehen, die zugleich Bestandteil einer hermeneutischen Ausdruckslehre ist. Was ich erahnt oder verstanden habe, kann durch einen prägnanten Begriff so artikuliert werden, dass diesem ein semiotisch analysierbares Eigenleben zuwächst. Zu den religionsphilosophischen Konsequenzen dieses Ansatzes vgl. M. Jung: Erfahrung und Religion. Grundzüge einer hermeneutisch-pragmatischen Religionsphilosophie. Freiburg/München 1999. 25

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spannungshafte Annäherung hervorgehoben, die zwischen dem uns »anmutenden« Bedeutsamen und unserem von ihm herausgeforderten Begriffsvermögen besteht. Dabei wird nicht vorausgesetzt, dass Erfahrung von Bedeutsamkeit ausschließlich im Medium solcher evokativer Begriffe ausgesprochen werden kann. Entscheidend ist die Leistung des Sehen-lassens, nicht die sprachliche Form des Mals. Eine Logik des Begriffs steht hier vor besonderen Aufgaben einer Grenzziehung, die in den genannten Texten nur skizziert wurde. Misch sprach von der »unablässigen inneren Anspannung des Ganzheitsdenkens, das dem Intellekt nicht erlaubt, aus dem ›Darinnensein im Leben‹ abzusinken zu freiem Lauf über einen Teil des Mannigfaltigen hin mit nur einmal erarbeiteten und dann fertigen Begriffen« 28. Hier wird also die Anspannung des vorwissenschaftlichen Suchens nach dem treffenden Wort höher veranschlagt als die der Gewinnung und Beibehaltung eines die Sache festlegenden Terminus. So kann Misch für das »Aufklären hermeneutischer Bestände« ein »Verbleiben in der Sphäre der Worte« statt der Aufstellung von termini fordern – »in gewaltlosem Ausnutzen der Weisheit der Sprache, wobei das Wort nach einem Gesetz des evozierenden Ausdrucks seine Ausdruckskraft aber auch sofort einbüßt, sobald es in terminologischen Gebrauch genommen ist« 29. Dies ist der Punkt der engsten Berührung der »hermeneutischen Logik« mit einer allgemeineren Theorie des emphatischen Sprechens, wie sie in der Studie Bedeutsamkeit und Befremdlichkeit mit Hilfe einiger begriffsgeschichtlicher Belege skizziert wird. 30 Die Mal-Setzung kann auch mit Hilfe des von Misch übernommenen Begriffs der produktiv-objektivierenden Artikulation 31 erläutert werden, und auch hier ist wieder die Verwandtschaft mit den elementaren Formen der Sprachfindung erkennbar. Den Unterschied zwischen einer einfachen, d. h. nicht produktiven Artikulation und der gesuchten produktiv-objektivierenden kann man sich vielleicht am besten an dem Unterschied zwischen einer Beschreibung und einer Charakterisierung deutlich machen. Die neutrale Beschreibung listet Einzelzüge des Gegenstandes auf; die Charakterisierung versucht, ihn im Kern zu treffen, z. B. in der Kunstkritik. Dass in dieses 28 29 30 31

G. Misch: Lebensphilosophie und Phänomenologie, a. a. O., S. 96. Ebd. Vgl. unten S. 59 ff. Vgl. Misch: Der Aufbau der Logik, a. a. O., S. 261 ff. u. ö.

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Verhältnis ein subjektiver Lebensbezug eingebracht wird, ist nicht nur unvermeidlich, sondern unerlässlich. Dass damit die oft als unwissenschaftlich verpönte »Standortgebundenheit« des Interpreten gleichfalls nicht ein unvermeidliches Übel, sondern konstitutiver Bestandteil der Mal-Setzung ist, hat mit der oben hervorgehobenen Unabschließbarkeit des Interpretationsgeschehens zu tun. Jede sich absolut setzende Interpretation wäre ein Spielverderber im Spiel der sich überlagernden Vergegenwärtigungen. Das Mal ist Haltepunkt im Interpretationsgeschehen in einem zweifachen Sinn: Es ist eine »Fermate« der Besonnenheit und zugleich Basis für darauf aufbauende Fragestellungen. Es sind oft einzelne intuitive Durchblicke, Versuche, die Dinge »zu Begriffen« werden zu lassen, Chiffren, Aperçus, Bonmots 32, Fälle des »typischen Sehens«, Topoi, Konzeptionen, vielleicht Visionen, die der Forschung eine neue Richtung, der Gesellschaft eine neue Perspektive geben; etwa einprägsame Formulierungen für eine Epoche, eine Persönlichkeit, ein Ereignis. 33 So ist Winckelmanns berühmte Formel »Edle Einfalt, stille Größe« als Mal ebenso ein standortgebundener Orientierungspunkt wie Jacob Burckhardts »Entdeckung der Welt und des Menschen« für das Verständnis der italienischen Renaissance oder Goethes Wort über die Kanonade von Valmy. 34 Aber schon in der alltäglichen »Artikulation des Eindrucks«, wie Hans Lipps sie analysiert hat, 35 ist diese artikulative Spannung angelegt. Ihre Wahrheit liegt nicht darin, zu einem abschließenden Urteil zu kommen, sondern besteht in dem Anspruch, eine Sicht zu eröffnen, die es wert ist, aufgegriffen zu werden. 36 Die Leistung eines solchen Durchbruchs liegt weniger darin, einen komplexen Zusammenhang narrativ auszubreiten, als vielmehr darin, ihn in prägnanten Begriffen zu bündeln und ihn gleichsam freizugeben zur weiteren Untersuchung, die dann auch der »rein diskursiven« Analyse bedarf. Die künstliche Horizontbildung einer Kultur, von der später noch zu sprechen sein wird, entsteht nicht zuletzt durch Man denke an Talleyrands Wort »Nichts gelernt und nichts vergessen« über die Bourbonen der Restauration. 33 Es sei hier noch einmal auf Ernst Cassirers Theorie der »Kulturbegriffe« verwiesen: »Derartige Begriffe charakterisieren zwar, aber sie determinieren nicht: das Besondere, was unter sie fällt, läßt sich aus ihnen nicht ableiten.« E. Cassirer, a. a. O. (Vgl. oben Anm. 6). 34 Vgl. unten S. 80. 35 Vgl. unten S. 120 ff. 36 Hierfür ist (unten S. 68) der Begriff hermeneutische Evidenz eingeführt worden. 32

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solche Male, aus denen das Netz der intrakulturellen Verständigung geflochten ist. Als relativ geschlossene Sinneinheiten sind sie leicht zu zitieren und können durch Jahrhunderte von Generation zu Generation tradiert werden, höchste »symbolische Formen« in Mythos und Religion nicht ausgeschlossen. Schon hier sei das Wort Helmuth Plessners über die »schutzbedürftige« Kultur zitiert: »Ihr sogenannter Umweltcharakter ruht in der relativen Geschlossenheit, die mit jeder Stellungnahme zu Werken, mit jeder Haltung und Formgebung erreicht wird.« 37

4. Die hier referierte Konzeption wird in den einzelnen Arbeiten des ersten Teils des Buches in verschiedene Richtungen variiert. So werden die »hermeneutischen Bestände« als Sinnzusammenhänge beschrieben, die nicht wie eindeutig intendierte Zweckhandlungen eine fixierbare »Pointierung« aufweisen, sondern »bestimmt-unbestimmt« bleiben und einer entsprechend offenen Interpretation bedürfen. 38 Diese Unterscheidung steht in einer noch nicht ausreichend diskutierten Beziehung zu Kants Lehre von der zweigeteilten Urteilskraft. Diese ist bestimmend, wenn sie ein Besonderes unter ein schon vorgegebenes Allgemeines subsumieren kann, und reflektierend, wenn sie zu einem Besonderen ein Allgemeines erst suchen muss. 39 Besteht das Allgemeine aus einem gängigen Terminus, tritt der Fall ein, den Misch für das Aufklären hermeneutischer Bestände als unzureichend erklärte. Das in der reflektierenden Urteilskraft gesuchte Allgemeine muss bei der Mal-Setzung eine innovative Perspektive eröffnen, die übrigens keineswegs nur affirmativ, sondern auch kritisch sein kann, wie am Beispiel des Eindrucks von Problematik gezeigt wird. 40 Auch dies ist ein Charakteristikum einer transfunktionalen Vergegenwärtigung und steht im Gegensatz zu einer eindeutigen Subsumtion, z. B. H. Plessner: Ges. Schr. VIII, S. 186 (Hervorhbg. F. R.) Vgl. unten S. 50. 39 Vgl. I. Kant: Kritik der Urteilskraft, Akademie-Ausgabe (Photomech. Abdruck) Bd. 5. Berlin 1968, S. 179 ff. 40 Vgl. unten S. 124. Die dort vorgenommene Charakterisierung des Vaters von Hermann Hesse versucht, die Prägnanz des treffenden Wortes mit der Offenheit einer Arbeitshypothese zu verbinden, die sich (noch) nicht auf eine moralische Wertung festgelegt hat. 37 38

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der psychiatrischen Diagnose. Dies betrifft auch eine Verschiedenheit des Sehen-lassens. In der Subsumtion wird das Syndrom von einem bereits bekannten Schema her gezeigt. Die ärztliche Diagnose als Basis der Therapie ist Marke, nicht Mal. Sie hebt die relevanten Punkte hervor, an denen die Behandlung als funktionale Erledigung anzusetzen hat. Dem gegenüber macht das Mal Gestaltzüge sichtbar, die so noch nicht gesehen oder lange Zeit vergessen wurden. Es ist eine besondere Form des Zeigens, das zur Orientierung, nicht zur Handlungsanweisung dient. Dieser Gedanke weckte das Bedürfnis nach einem Begriff, in dem das zeigende Sehen-lassen sich mit der Konzeption der transfunktionalen Vergegenwärtigung verbindet. Dies führte zum griechischen Verbum ἐπιδείκνυμι (epideíknymi: zur Schau stellen, vorzeigen, dartun). Es gibt in der klassischen Rhetorik die Kategorie der epideiktischen Rede, die als Prunk- und Lobrede gleichfalls eine Vergegenwärtigung bedeutender Persönlichkeiten oder Ereignisse vornimmt. Aber auch sie dient in unserer Bestimmung des Mals als Kontrastfolie. Denn in der repräsentativen Heraushebung der Denkwürdigkeit von historischen Gestalten oder Ereignissen durch Denkmäler, GedenkRituale, Jubiläen, Preise, Straßennamen, Banknoten usw. geht in der Regel jener lebendige Sachbezug verloren, durch den sich der spontane Ausdruck der Erfahrung von Bedeutsamkeit – z. B. in Tagebüchern, Briefen, Gesprächen, Dichtungen, Essays – auszeichnet. Das Mal kann zum bloßen Denkmal degenerieren. Dieser Gegensatz zu der eigentlich gemeinten Art der transfunktionalen Vergegenwärtigung hat zu meinem Vorschlag geführt, von dem griechischen Verbum ἐπιδείκνυμι eine zweite Wortform: epidigmatisch bzw. Epidigma abzuleiten, um einen eigenen Ausdruck für die evozierende Potenz des Sehen-lassens zur Verfügung zu haben. Mit diesem Begriff sollen vor allem, aber nicht ausschließlich, jene prägnanten Objektivationen von Sinn bezeichnet werden, die Erfahrungen von Bedeutsamkeit artikulieren und in Gestalt von »wahrhaftigen« Ausdruckshandlungen das Charakteristische solcher Erfahrungen sichtbar machen. 41 In ihren der Dichtung am nächsten stehenden Formen geht es in solchen Leistungen – wiederum mit Georg Misch gesagt – Der Unterschied zwischen der epidigmatischen Besonnenheit des Sehen-lassens und der epideiktischen Übersteigerung des Rühmens lässt sich mit Bezug auf die Kanonade von Valmy illustrieren: Goethes berühmtes »epidigmatisches« Wort wurde

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um die »realisierende Vergegenwärtigung« 42, die cognitio rei, nicht die cognitio circa rem 43: »Die Realität selbst soll hingestellt werden; nicht Aussagen über sie gemacht werden, sondern durch die Aussagen hindurch soll das Verständnis in die erlebte Realität selbst hineintreten, sich von ihm erfüllen lassen.« 44 Solche evozierenden Ausdrücke in ihrer reinsten Form sind zweifellos Grenzfälle des geisteswissenschaftlichen Diskurses, und nicht zufällig kommt von der Seite der »Empiriker« wie auch der »Sytematiker« bisweilen die Frage, ob dies denn noch Wissenschaft sei. Die von Misch angeführten Beispiele 45 zeigen jedoch Möglichkeiten der Realisierung dieses Ideals. Erst im Mal vollendet sich die Erfahrung von Bedeutsamkeit. Dies geschieht auf doppelte Weise; einmal als Artikulation eines Eindrucks, aber auch als Realisation dessen, was ein solcher Ausdruck des Berührtseins mir sagt. Beides sind sinnstiftende Leistungen, an denen die interpretierenden Wissenschaften maßgeblich beteiligt sind. Als Verschränkung von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen ist dieser Zusammenhang von Dilthey in seinen späten Schriften beschrieben worden. 46

5. Unsere Anleihe bei der klassischen Rhetorik wie auch die zahlreichen Berührungspunkte mit Phänomenen aus dem Umkreis der Poetik lassen nach der gattungsmäßigen Zuordnung jener evozierenden Ausdrücke fragen, in denen die Erfahrung von Bedeutsamkeit emphatisch zur Sprache kommt. Die Nähe zur Dichtung ist so offenkundig, dass es eines besonderen Aufwandes bedarf, um die Eigenständigkeit der Darstellungsform geisteswissenschaftlicher Interpretationen gegenüber »bloß« dichterischen Vergegenwärtigungen darzutun. gleichsam als »epideiktische« Siegestrophäe eingemeißelt in den Sockel des Denkmals für den französischen General Kellermann, den »Sieger« von Valmy. 42 G. Misch: Der Aufbau der Logik, a. a. O., S. 525. 43 G. Misch, a. a. O., S. 524 u. ö. Diese Unterscheidung spielt auch in den Schriften Plessners eine gewisse Rolle und war nach seinem eigenen Bekunden im Gespräch mit dem Verfasser der zentrale Punkt des Einflusses von Misch. Dieser hat das Begriffspaar wohl zum ersten Mal in seiner Einleitung zur Logik von Hermann Lotze gebraucht (Leipzig 1912, S. LVI). 44 G. Misch: a. a. O., S. 519. 45 Vgl. unten S. 115 f. 46 W. Dilthey: Ges. Schr. VII, S. 191–220.

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Hilfreich ist hier die Abgrenzung zwischen logischem und analogischem Denken, wie sie Gottfried Gabriel in seinem Buch Logik und Rhetorik der Erkenntnis vorgeschlagen hat. 47 Dass man überhaupt von einer »Rhetorik der Erkenntnis« sprechen kann, wäre noch vor einigen Jahrzehnten in Deutschland, dem klassischen Land der Rhetorik-Verachtung, auf erhebliche Skepsis gestoßen. Inzwischen ist die Rehabilitierung dieser Disziplin in ihrem erkenntnistheoretischen Potential so weit fortgeschritten, dass es keiner besonderen Rechtfertigung mehr bedarf, um ihr den ihr gebührenden Platz zwischen Logik und Poetik einzuräumen. Gabriel geht aus von dem Antagonismus von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung, den er aber nicht auf den Gegensatz von Natur- und Geisteswissenschaften projiziert. Sein Bezugsrahmen ist nicht eine allgemeine Wissenschaftssystematik, sondern die Logik in ihrer Abgrenzung zu ihrer Nachbardisziplin Rhetorik. Es geht ihm um »eine Rehabilitierung rhetorischer Darstellungsformen in erkenntnistheoretischer Absicht«, wobei ihm »aus anthropologischen Gründen ein komplementäres Verhältnis von logischem und analogischem Denken« als erforderlich erscheint. 48 Das analogische Denken ist im Gegensatz zur propositionalen Erkenntnis der Logik ein nicht-propositionales Aufspüren von Ähnlichkeiten und Nuancen im Bereich des Besonderen und arbeitet durch Vergleiche, Übergänge, Metaphern, bildliche und konnotative Elemente. Es handelt sich also um den Unterschied zwischen dem »klassifizierenden Differenzieren« des logischen Denkens und dem »nuancierenden Differenzieren«, das gefordert ist, »um der Komplexität der Phänomene gerecht zu werden, ohne die Zusammenhänge aus dem Blick zu verlieren« 49. Der Autor betont: »Für die Synopsis der familienähnlichen Verhältnisse in der analogischen Weltauffassung gilt, dass die Übersichtlichkeit durch die Vielfalt der Fälle und den Zuwachs an Komplexität nicht gemindert, sondern erhöht wird.« (Ebd.) Dieser Ansatz würde uns in der Tat gestatten, von einer Rhetorik der interpretierenden Wissenschaften zu sprechen, wie dies durch den Rekurs auf die Epideixis ja auch vorbereitet ist. Allerdings ist dabei ein Aspekt noch nicht berücksichtigt: die InG. Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung. Paderborn 1997. 48 Gabriel, a. a. O., S. 125 u. 115. 49 Gabriel, a. a. O., S. 46. 47

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tensität des Sehen-lassens. Hierauf macht der Text über die energetische Bedeutungstheorie von Hans Lipps aufmerksam. Der Aufsatz ist ursprünglich ohne Bezug auf die hier behandelten Fragen der Theorie sinnstiftender Vergegenwärtigungen konzipiert worden. Er kann nun eine Lücke schließen, indem er die existenzphilosophische Zuspitzung des Verhältnisses von Wort und Bedeutung bei Lipps nachzeichnet und damit jene Intensität menschlicher Kommunikation erkennen lässt, die auch von einer Rhetorik der Geisteswissenschaften zu thematisieren wäre. Ausgangspunkt des Gedankenganges von Lipps ist seine eigenwillige Übersetzung des aristotelischen λόγος σημαντικός (lógos semantikós) als Logos, der einem etwas zu erkennen gibt, d. h. nicht nur etwas bezeichnet. Die Energie des Zu-erkennen-gebens wird von ihm in beständiger Abgrenzung zu jeder semantischen Theorie (vor allem der Husserlschen) herausgearbeitet, sofern diese im Akt des Bedeutens nur einen gleichsam blassen intentionalen Bezug zu einem potentiell aufweisbaren Gegenstand sieht. Die »sachliche Erfüllbarkeit« der Bedeutungsintention mit Bezug auf eine gegenständliche Welt ist für ihn geradezu das Gegenteil dessen, worauf sich die Spannung des lógos semantikós richtet; denn »es bedarf hier keiner energeia, um eine Bedeutung zu vollziehen. Erfüllung heißt hier nur: illustrierende Anschauung finden« 50. Lipps hätte es vorgezogen, die Beziehung von Wort und Bedeutung nicht bei den (immer eine physische Gegenwart suggerierenden) Onomata anzusetzen, sondern bei Konjunktionen wie ›denn‹ oder ›obgleich‹. In ihnen ist keine sachliche Erfüllbarkeit möglich. Der verstehende Bedeutungsvollzug durch den Hörer besteht in einem ›Entsprechen‹ der Haltung, die durch ein Wort wie ›denn‹ vorgezeichnet wird. In diesem Sinn spricht Lipps von der »Spannung, die in jeder Wortbedeutung steckt«. Wollte man die drei genannten Aspekte, die evokative Potenz des Mals, die Besonderheit des analogischen Denkens und die energeia des Bedeutens zu einer Gesamtkonzeption vereinigen, käme man einer Theorie der Prägnanz geisteswissenschaftlicher Begriffe, wie sie in dem Text Bedeutsamkeit und Befremdlichkeit skizziert ist, ein Stück näher. Dort wird allerdings eine »prägnant-evokative« Artikulation nur den bedeutsamen Phänomenen zuteil, während sich die befremdlichen mit einer »plausiblen Erklärung« begnügen müssen. 50

Vgl. unten S. 137.

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Dies wird in den folgenden Texten zwar nicht explizit, aber in der Sache revidiert. Das Mal kann auch ein prägnant formuliertes Schandmal sein. 51

6. Die Male als Ausdruck erfahrener Bedeutsamkeit sind, wie schon erwähnt, einerseits Vehikel unseres Verständnisses von Welt, andererseits aber auch Bestandteile dieser Welt, genauer gesagt unserer kulturellen Umwelt. Für das Netz dieser Überschneidungen und Überlagerungen wird im Aufsatz Anspielungen die Formel Verständigung über Verstandenes eingeführt – eine Abwandlung der berühmten Formel Erkenntnis des Erkannten des großen klassischen Philologen August Boeckh. 52 Es ist hier die Stelle des Übergangs von einer Theorie sinnstiftender Verstehensleistungen zu einem Kulturbegriff, der sich auf eben diese Verstehensleistungen und den durch sie gebildeten Horizont einer jeweiligen Kultur bezieht. Die Unmöglichkeit, dieses Netz der Überschneidungen zu systematisieren, verlangt die Beschränkung auf einzelne Aspekte und kommt damit dem Charakter unserer Sammlung von Bruchstücken entgegen. Dass die Überlegungen zu einer Theorie der geisteswissenschaftlichen Interpretation und ihrer lebensweltlichen Wurzeln mit einer Theorie der Kultur zu tun haben, ergibt sich also allein schon daraus, dass die Erfahrungen von Bedeutsamkeit und ihre Objektivationen nicht nur in einem »Medium von Gemeinsamkeiten« 53 stattfinden, sondern dieses auch – als Mosaik-Steine einer jeden Kultur – mitkonstituieren. Mal-Setzungen in der Größenordnung von Epochenbezeichnungen wie Hellenismus, Renaissance, Neuzeit, Namen für Wendepunkte oder Zäsuren, Kennzeichnungen von Zeitaltern durch ihre Repräsentanten usw. bilden stabile Faktoren im geschichtlichen Selbstverständnis der Menschheit. In einer Modifikation dieses Ansatzes stellt der Text Anspielungen den Versuch dar, den Gedanken Umberto Ecos von der Kultur als Kommunikationsphänomen weiter zu denken. Ausgangspunkt ist der Begriff der kulturellen Einheit Vgl. unten S. 155. A. Boeckh: Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften. Hrsg. v. E. Bratuscheck, Leipzig 1877, Neudruck Darmstadt 1966, S. 11. 53 Vgl. W. Dilthey, Ges. Schr., S. 208 f. 51 52

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(cultural unit), womit die spezifischen sprachlichen Strukturierungen der Wirklichkeit in jeder einzelnen Kultur (Farbnamen, Verwandtschaftsbezeichnungen usw.) gemeint sind. Diesen in unserem Text als kulturelle Struktureinheiten bezeichneten cultural units werden andere gegenübergestellt, die gemeinsame gesellschaftliche und geschichtliche Erfahrungen einer Kommunikationsgemeinschaft repräsentieren. Sie werden kulturelle Kommunikationseinheiten genannt. Es sind in der Regel Namen von Personen, Orten, Ereignissen, die »zu Begriffen geworden« sind und als griffige Abbreviaturen wichtige Elemente im Prozess intrakultureller Verständigung darstellen. Als Anspielungsnamen 54 wie Versailles, Stalingrad, Watergate, Abu Ghraib etc. bezeichnen sie nicht Segmente der sinnlich aufweisbaren Wirklichkeit, sondern die Bedeutsamkeit von Personen und Ereignissen, wie sie auch in transfunktionalen Vergegenwärtigungen artikuliert wird. Aber während im Mal die innovativ evozierende Kraft des Ausdrucks unter Umständen lange erhalten bleibt (wie das Beispiel des Wortes Aufklärung zeigt), setzt die Anspielung einen hohen Grad von Geläufigkeit und Vertrautheit mit dem betreffenden Sachverhalt voraus, was diesen auf der Ebene des Gewohnten und Selbstverständlichen fixiert. Deshalb die Formel »Verständigung über Verstandenes«. Das Potential der Anspielung ist nicht das evokative Sehen-lassen der Sache selbst in einem prägnanten Ausdruck, sondern das seiner Resonanz gewisse Abrufen von Namen oder Begriffen im Modus des »Du weißt, was ich meine« 55. Jede Kommunikationsgemeinschaft hat ihr eigenes Reservoir an solchen abkürzenden Bündelungen historischer Sachverhalte. Diese nicht explizit zu thematisieren, sondern gleichsam en passant auf sie anzuspielen, ist Ausdruck einer Gemeinsamkeit, die sich nicht zuletzt durch die »feinen Unterschiede« von anderen abhebt. 56 Dies gilt auch für eine Kultur im Ganzen, was allerdings den historischen Wandel und das Verblassen von Anspielungsnamen nicht ausschließt. Wichtig für eine Kulturtheorie ist jedoch vor allem das Phänomen der imIm ursprünglichen Text Anspielungsmarken genannt. Daher ist der Gegenstand, auf den angespielt wird, in der Regel nicht das Subjekt des Satzes, sondern Teil eines präpositionalen Ausdrucks oder einer anderen indirekten Bezugnahme. Es gibt allerdings auch historische Anspielungen in einem Wort, wie das unten aus dem Werther zitierte Beispiel zeigt. Vgl. unten S. 157. 56 Vgl. P. Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. (Paris 1979). Dt. Übers. v. B. Schwibs u. A. Russer. Frankfurt a. M. 1987. 54 55

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pliziten Beschwörung einer Zugehörigkeit, die sich durch zwei Elemente der Anspielung ergibt: Virulenz und Resonanz. 57 Dass auf eine Sache nur angespielt wird, ohne sie vor aller Augen auszubreiten, gibt der Anspielung eine Spitze, die nicht immer nur anzüglich oder verletzend sein muss. Es gibt eine Art der Exklusivität oder Komplizenschaft, die sowohl familiäre wie nationale Identität stiften kann. In unserem Text wird berichtet von dem Romancier Henry James, der die Eigenheiten seines älteren Bruders, des Philosophen William James, in dem Begriff Williamcy bündelte. 58 Er hatte sich vermutlich mit der übrigen Familie und womöglich hinter dem Rücken des Bruders mit Hilfe dieses Anspielungsnamens gleichsam subversiv verständigt, ohne im Einzelnen aufzählen zu müssen, welche Marotten des Älteren ihn irritierten. Diese Technik der Identifikation lässt sich ohne Schwierigkeit auf Formen der nationalen Verständigung übertragen. Für die Generation der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts lebenden Deutschen war die Redensart »Ab nach Cassel« noch virulent im Sinne der Häme über Napoleon III., der 1870 nach der Schlacht von Sedan nach Kassel in die Gefangenschaft geschickt wurde. Die kollektive Resonanzfähigkeit entsprang dem Triumphgefühl über die scheinbar endgültige Demütigung des »Erbfeindes« bei gleichzeitigem Minderwertigkeitsgefühl gegenüber der Kulturmetropole Paris. Diese Virulenz ist aus dem heutigen Gebrauch der Redensart – wenn es sie überhaupt noch gibt – völlig verschwunden, wie auch die ursprüngliche Resonanzbereitschaft. Der Verlust an Ausdruckskraft, wie ihn Misch am Beispiel des zum Terminus sich verfestigenden evozierenden Ausdrucks aufgezeigt hat, kann also auch für das Erlöschen der Virulenz eines Anspielungsnamens festgestellt werden. Die Anspielung wird obsolet und degeneriert wie im Falle »Ab nach Cassel« zu einer leeren Redensart. Viele einst bedeutende Vergegenwärtigungen verlieren mit dem Wandel des Bildungshorizontes oder der Höhe des Bildungsniveaus einer Gesellschaft ihre Kraft des »Verfangens«. Selbst die Namen von Höhe- oder Tiefpunkten nationaler Historien können in Vergessenheit geraten, es sei denn, sie überleben als Metaphern (Canossa, Waterloo etc.). Als Elemente der kulturellen Horizontbildung bedürfen sie der ständig unter neuen Bedingungen zu vollziehenden Aneignung, was letztlich auch »Entsorgung« bedeuten kann. Die im 57 58

Vgl. unten S. 161 f. Vgl. unten S. 158.

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engeren Sinn hermeneutischen Wissenschaften, aber auch literarische Formen wie Essay und Aphorismus, haben hierin ihre besondere Aufgabe.

7. Mit dem Begriff der Aneignung zeigt sich ein Problemfeld, das in den bisher erläuterten Studien zwar wohl der Sache nach, nicht aber unter diesem Stichwort behandelt wurde. Aber es ist wohl deutlich, dass jede Artikulation einer Erfahrung von Bedeutsamkeit eine Art Aneignung des betreffenden Sachverhalts darstellt und dass sich diese von einer weniger intensiven Kenntnisnahme unterscheidet. 59 In diesem Sinn gebraucht auch Misch den Begriff, wenn er einer »bloß intellektuellen« eine »produktive« Aneignung gegenüberstellt: Die rein terminologische Verwendung eines ursprünglich »treffenden Wortes« entbindet »von der produktiven Aneignung der Sache und möchte eine bloß intellektuelle Besitznahme des fertigen Ergebnisses ermöglichen. Und dies ist dem Wesen hermeneutischer Gestaltungen zuwider.« 60 Dieser lebensphilosophische Impuls hat vermutlich auch meinen Aufsatz von 1967 Zur Metaphorik der Aneignung beflügelt, dem gewisse kulturkritisch-spenglerische Züge nicht abzusprechen sind. Die Skala möglicher Verbildlichungen dessen, was in nicht definierbarer Weise unter Aneignung zu verstehen ist, reicht von Bildern für rein geistige Verinnerlichung bis zu Verdauungsmetaphern und zur sexuellen Eroberungsmetaphorik. Leider stand mir damals der Begriff des analogischen Denkens im Blick auf eine Rhetorik der interpretierenden Wissenschaften noch nicht zur Verfügung. Was außerdem in unserem Text fehlt und hier nachgetragen werden soll, ist die Aneignung durch Verfremdung, für die Helmuth Plessner die Metapher des Sehens »mit anderen Augen« gefunden hat. 61 In dieser Georg Misch gewidmeten Abhandlung begründet er die Notwendigkeit des »entfremdenden Blicks« in den Geisteswissenschaften; denn das Ver-

Zu erinnern ist auch hier an Erich Rothackers »Satz der Bedeutsamkeit«, in dem von den Schritten »sprachlicher und gedanklicher Aneignung« dessen gesprochen wird, »was mein Interesse weckt, was mein Sein berührt.« Vgl. oben S. 12. 60 Misch: Der Aufbau der Logik, a. a. O., S. 551, vgl. S. 281 sowie unten S. 116. 61 H. Plessner: Mit anderen Augen; in: Ders: Ges. Schr. VIII, S. 88 ff. 59

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traute und Heimische kann in seiner homogenisierenden Selbstverständlichkeit die Schärfe des Blicks trüben. Es bedarf der Erfahrung des Fremden (genannt wird als Beispiel die Emigration), um das ursprünglich Vertraute nun mit anderen Augen zu sehen. Es ist dies eine gleichsam gebrochene Form der Aneignung. Das geschärfte Auge sieht nicht nur das Anheimelnde, sondern auch dessen Schwäche und Deformation. Es geht hier also nicht darum, im Sinne der gängigen Koordinaten »eigen – fremd« von einer sicheren Eigensphäre (»mein« Revier!) aus Fremdes zu assimilieren oder zu bewältigen, sondern das scheinbar Verlorene »zu erwerben, um es zu besitzen«. In dem Text Das Nahe-bringen von Überlieferung werden diese Gedanken aufgenommen und vielleicht allzu kühn weitergesponnen. Das Vertraute ist nicht einfach das positiv dem Fremden entgegengesetzte Zugängliche, sondern eine problematische Nähe, hier Proximität genannt, die als graue Alltäglichkeit unsere Aufmerksamkeit auch lähmen kann. Dies schließt die sozialen Bezüge mit ein. Andere Menschen als Komparsen auf der Bühne des zufälligen Zusammentreffens sind weder Feinde noch mir Zugehörige, sondern schlicht die Anderen im Status bloßer Alterität. Beide, Proximität und Alterität, sind Kategorien spannungsloser, gleichsam verkümmerter oder noch nicht entwickelter Lebensbezüge. 62 Erst der distanzierende Blick hebt das glatte Zusammenpassen der vertrauten Dinge auf und schafft eine produktive Alienität, wie dies am Beispiel der Parodie gezeigt wird. Eduard Mörikes melancholisches Gedicht In der Frühe ist eine Kontrafaktur auf den bekannten Choral Wie schön leucht’ uns der Morgenstern von Philipp Nicolai. 63 Dessen naive Frömmigkeit wird als die dem Theologen zutiefst vertraute Stimmung zunächst verfremdet, aber durch den Engpass des »verstörten Sinns« dann doch noch zu einem tapferen »Freu’ dich!« geführt. 64 Die Aneignung des bis dahin vielleicht eher gedankenlos gesungenen Chorals würde, wenn wir richtig sehen, darin liegen, dass erst vor dem bedrückenden Hintergrund einer von selbsterzeugten »Nachtgespenstern« heimgesuchten Nacht die morgendliche Aufbruchsstimmung des Chorals vergegenwärtigt werden kann. Das in der zwielichtigen Dämmerung erschei-

Vgl. F. Rodi: Limiti della comprensione; in: M. Mori (Hrsg.): Filosofi tedesci a confronto. Bologna 2002, S. 107–126. 63 Ph. Nicolai (1556–1608), Erbauungsschriftsteller und Dichter von Kirchenliedern. 64 Vgl. unten S. 201. 62

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nende Gestirn wird in seinem Trost und Hoffnung spendenden Glanz erst vor den Abgründen der eigenen Seele voll erfasst. So nehmen wir den Gedanken Plessners für eine vorsichtige Bestimmung von Aneignung auf, wo er nicht nur von der sinnlichen Anschauung, sondern auch von der Anschauung »seelischer und geistiger Zusammenhänge« sagt: »Man muß der Zone der Vertrautheit fremd geworden sein, um sie wieder sehen zu können […]: wir nehmen nur das Unvertraute wirklich wahr. Um anschauen zu können, ist Distanz nötig.« 65 Dieser Anschluss an Plessners Theorie bleibt freilich nicht ohne Vorbehalte. In unserem Text Das Nahebringen von Überlieferung wird neben die von Plessner aufgezeigte »Kunst des entfremdenden Umwegs« 66 die andere Möglichkeit gestellt, nämlich der Weg der »Herstellung einer unmittelbaren Sachnähe aus unbefangener, sozusagen ahnungsloser Distanz« 67. Diese andere Sachnähe ist nicht Schritt für Schritt erworben, sondern fällt uns zu. Eine solche Gegenüberstellung hat auch Konsequenzen für unsere Gedanken zur transfunktionalen Vergegenwärtigung. Die Artikulation von Bedeutsamkeitserfahrung kann beides sein: Resultat des methodisch verfremdenden Blicks, aber auch intuitive cognitio rei als Geschenk des Augenblicks. Für eine Theorie der Geisteswissenschaften – eigentliches Thema von Plessners Aufsatz – steht der Weg über die produktive Alienität zweifellos im Vordergrund.

8. Wenn auch im äußeren Aufbau unserer Aufsatzsammlung jeweils durch drei Sternchen gewisse Zäsuren angedeutet sind, so wird mit dem jetzt veränderten Schwerpunkt Kultur doch kein wirklich neues Thema angezeigt. Schon früher war von der »künstlichen Horizontbildung einer Kultur«, von der Kultur als »Verständigung über Verstandenes«, von »cultural units« etc. die Rede, was damit zu tun hat, dass mit jeder Objektivation von Bedeutsamkeitserfahrung – ob gewollt oder ungewollt – zum Zusammenhang einer jeweiligen Kultur beigetragen wird. Die folgenden Versuche einer expliziten Kultur65 66 67

H. Plessner, a. a. O., S. 92 f. H. Plessner, a. a. O., S. 94. Vgl. unten S. 196.

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theorie – so bruchstückhaft wie alle Texte dieses Buches – ändern eigentlich nur die Perspektive. Der kleine Aufsatz Der Anspruch der »Kultur« ist die Kurzfassung eines Lexikon-Artikels 68, in dem es u. a. darum ging, die Implikationen des normativen und des deskriptiven Kultur-Begriffs in ihrer Verschränkung darzustellen. Dies wird auch hier in aller Kürze skizziert. Sprachlich kommt es dabei zunächst darauf an, ob »Kultur« im Singular oder im Plural gebraucht wird. Das höchste normative Potential des Wortes ist im Grunde schon in Ciceros Dictum von der cultura animi ausgesprochen, 69 das jede Anwendung im Plural bei Strafe der Verwässerung des Begriffs verbietet. »Kultur« bedeutet hier kein einzelnes historisches Resultat im Sinne einer äußerlich manifest werdenden Leistung, die sich mit anderen vergleichen ließe, sondern ein ethisch-ästhetisches Maß an Formung und Gestaltung, das man erreichen oder verfehlen kann. Es ist unsere These, dass dieses Anspruchspotential des emphatischen Kulturbegriffs auch dann noch irgendwie erhalten bleibt, wenn man nicht normativ, sondern »nur« deskriptiv von einzelnen Kulturen spricht. In unserem Text wird von einem doppelten dialektischen Umschlag dieser appellativen Potenz des Wortes gesprochen: Nachdem die normative Auffassung von Kultur als Menschheitsaufgabe sich in die deskriptiv-morphologische Auffassung einer Pluralität von ›Kulturen‹ verwandelte, sei zugleich das Stichwort gegeben für die emotionale, zu neuer Normativität hindrängende Auffassung der jeweils einzelnen Kultur im Wir-Gefühl der ›Kultur-Gemeinschaften‹. 70 Dies führte nicht nur zu den bekannten Extremen in der Betonung der ethnischen und religiösen Grundlagen von »wehrhaften« Nationalkulturen, sondern gleichzeitig auch zum Gegenbegriff einer »liberalen« Variante des anthropologischen Kulturbegriffs in der Fassung, die Helmuth Plessner ihm gegeben hat: Kultur als künstliche Horizontbildung bedeutet nicht naturwüchsige Geborgenheit in verlässlichen Strukturen, die der Umweltbindung der Tiere gleichkämen, sondern den stets zu erneuernden Kompromiss zwischen »Umweltgebundenheit« und »Weltoffenheit«. Die Rezension von Plessners kleiner Schrift Die Frage nach der Conditio humana ist sozusagen Ausdruck einer gewissen Entdecker68 69 70

F. Rodi: Artikel »Kultur«; in: Theologische Realenzyklopädie XX 1990, S. 177–187. Cicero: Tusc. Disp. II, 5. Vgl. unten S. 216.

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freude. Die Rezeption dieses Autors hatte ja unter keinem guten Stern gestanden. Das Erscheinen des eigentlich als Chef d’Œuvre konzipierten Buches Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) konnte wirkungsgeschichtlich kaum zu einem weniger günstigen Zeitpunkt erfolgen: gleichzeitig mit Max Schelers Darmstädter Vortrag Die Stellung des Menschen im Kosmos; nur wenige Monate nach Erscheinen von Heideggers Sein und Zeit; nur fünf Jahre vor Beginn der NS-Herrschaft, die Plessner zur Emigration zwang und die ohnehin zögerliche Aufnahme des Buches vollends unterband; und schließlich in Konkurrenz mit Arnold Gehlen, dessen 1940, also in Plessners »Abwesenheit« erschienenes Buch Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt zu keiner Auseinandersetzung mit dem verfemten Autor der Stufen genötigt war. Selbst der engste Freund, Josef König, ging nicht spontan auf das neue Buch ein, 71 und für Otto Friedrich Bollnow, einen der ganz wenigen Philosophen, die Plessners philosophische Anthropologie in ihr eigenes Denken aufgenommen hatten, spielten die Stufen kaum eine Rolle. Im Vordergrund der Beschäftigung mit Plessner stand in Tübingen auch noch in den fünfziger Jahren der Aufsatz Macht und menschliche Natur (1931), der seit 1953 durch Aufnahme in den Sammelband Zwischen Philosophie und Gesellschaft wieder zugänglich geworden war. Bollnow hatte von dieser Schrift Plessners die wesentlichsten Anregungen für seine eigene »anthropologische Betrachtungsweise« erhalten. Sein Buch Das Wesen der Stimmungen enthielt in der Einleitung die Zusammenfassung der wichtigsten Konzeptionen, an denen er zeitlebens festgehalten hat, vor allem am Prinzip der offenen Frage und am so genannten Organon-Prinzip Plessners. Diese zumindest im Umkreis Bollnows geltende Vorrangstellung von Macht und menschliche Natur war zwar lange Zeit einer der wichtigsten Zugänge zu dem durch die Emigration um seine direkte Wirkung in Deutschland gebrachten Philosophen; sie hatte aber auch einen Nachteil: Plessners eigenständiger Beitrag zum Mensch-Tier-Vergleich, dem leitenden Paradigma der modernen philosophischen Anthropologie in ihrer Gründungsphase in Deutschland, wurde zu Gunsten der »Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht« 72 marginalisiert und trat in seiner Bedeutung auch hinter den soziologischen Arbeiten des Autors H.-U. Lessing/A. Mutzenbecher (Hrsg.): Josef König/Helmuth Plessner. Briefwechsel 1923–1933. Freiburg/München 1994, S. 13 f. 72 So der Untertitel von Macht und menschliche Natur. 71

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zurück. Aus heutiger Sicht möchte man sich wünschen, dass Plessner zur Zeit seiner Rückkehr aus dem Exil die Möglichkeit gehabt hätte, seinem eigenen Entwurf einer philosophischen Anthropologie, den er in dem Buch Die Stufen des Organischen und der Mensch mit Hilfe der Konzeption der »exzentrischen Position« des Menschen vorgelegt hatte, durch ein zweites, vielleicht weniger kompliziertes Werk die bis dahin ausgebliebene Anerkennung zu verschaffen. Hierfür waren jedoch die Umstände allein schon durch die neuen Aufgaben auf einem soziologischen Lehrstuhl wenig günstig. Es ist auch fraglich, ob Plessner überhaupt ein Bewusstsein von der spröden Unzugänglichkeit der Stufen hatte, die sich neben der griffigen Terminologie und Argumentation von Arnold Gehlens Buch Der Mensch eher wie eine anspruchsvolle Spezialuntersuchung ausnahmen. Der kleine Aufsatz Über das Welt-Umweltverhältnis des Menschen von 1950 markiert genau die Thematik, die Plessner damals nachdrücklich für sich hätte besetzen können: die Verschränkung von Umweltgebundenheit und Weltoffenheit. Letztlich ging es ja um eine Abgrenzung nach drei Richtungen: Einerseits gegenüber der unkritischen Geist-Metaphysik in Schelers Begriff der »Weltoffenheit«, andererseits gegenüber der biologistischen Verkürzung dieses Prinzips bei Gehlen, und schließlich gegenüber einer gleichfalls unkritischen, »kulturanthropologischen« Fassung des letztlich biologischen Prinzips der Umweltbindung (Rothacker). 73 Der Aufsatz Über das Welt-Umweltverhältnis des Menschen ist dann in Teilen in die ein Jahrzehnt später erscheinende Schrift Die Frage nach der Conditio Humana eingegangen. Diese Schrift, die bei ihrem ersten Erscheinen 1961 im Einleitungsteil des 1. Bandes der von Golo Mann und Alfred Heuß herausgegebenen Propyläen-Weltgeschichte nicht die eigentlich philosophische Leserschaft erreicht hatte, erschien 1964 als Separatum in der Reihe Opuscula bei Günther Neske und erzeugte jene oben erwähnte Entdeckerfreude. 74 Denn sie enthielt endlich die Transfor-

Vgl. E. Rothacker: Probleme der Kulturanthropologie. Bonn 1948. H. Plessner, Ges. Schr. VIII, S. 77 ff. u. 136 ff. Über meine Rezension (unten S. 218 ff.) schrieb mir Plessner am 23. Februar 1966: »Haben Sie herzlichen Dank für die Zusendung Ihrer Anzeige der Conditio und der Stufen. Zu Ihrer am Ende geäußerten Enttäuschung: es hätte eine Umarbeitung des Ganzen, das bewusst bis an die Grenze des biologischen Horizonts geht, erfordert, wenn ich Ihrem verständlichen Verlangen hätte entsprechen wollen. Eine photomechanische Ausgabe wäre unmöglich gewesen.

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mation der komplizierten Formulierungen aus den Stufen in die durch Uexküll, Scheler und Gehlen populär gewordene Terminologie. Und er wiederholte in dieser Terminologie das Theorem von der natürlichen Künstlichkeit mit denselben Begriffen, die vor und nach ihm teils unkritisch metaphysisch, teils kurzschlüssig biologistisch in Anspruch genommen worden waren: Weder die klassische noch die pragmatistische Anthropologie – so der Autor – habe mit der Möglichkeit gerechnet, »daß Umweltgebundenheit und Weltoffenheit kollidieren und nur im Verhältnis einer nicht zum Ausgleich zu bringenden gegenseitigen Verschränkung gelten« 75. Und so heißt es in der Fassung von 1950: »Nur auf dem offenen Hintergrund einer nicht mehr in vitalen Bezügen aufgehenden Welt, die den Menschen in unvorhergesehene Lagen bringt und mit der er stets neue, brüchige Kompromisse schließen muß, hält er sich in jenem labilen Gleichgewicht einer stets gefährdeten, selbst wieder schutzbedürftigen Kultur. Ihr sogenannter Umweltcharakter ruht in der relativen Geschlossenheit, die mit jeder Stellungnahme zu Werken, mit jeder Haltung und Formgebung erreicht wird. Sie ist gewordene, errungene und traditionell bewahrte Einseitigkeit, der die Menschen verfallen, wenn sie sich der Begrenztheit ihrer Normen oder Umgangsformen nicht bewußt sind. Entgleitet ihnen dieses Bewußtsein […], dann wandelt es sich in ein Bewußtsein der Vertrautheit und Selbstverständlichkeit: alles muß ›eigentlich‹ so sein, wie es in gewohnter Weise ist.« 76

Sie sprechen von der Vielgestalt meines Einflusses auf die jüngere philos. Anthropologie. Wenn Sie die Pädagogik meinen, haben Sie für Bollnows Schule Recht. Auch manche Soziologen kennen Einiges von mir. Sonst? Bis zu meiner Rückkehr nach Deutschland* beherrschte die Szene Heidegger (Jaspers aus Wiedergutmachungsbedürfnis), Scheler u. Gehlen. Mit »Lachen u Weinen« hat sich nur Binswanger auseinandergesetzt; mit den »Stufen« niemand. Nur Portmann und Löwith haben von ihrer Existenz Kenntnis genommen, und bei den Anthropologen von Eickstedt. Erst jetzt scheinen Philosophen es ernst zu nehmen. In Innsbruck promoviert ein kath. Theologe, in Leiden ein Philosoph über mich. Better late, than never, und ich freue mich, es noch zu erleben. Wer zuletzt lacht – Aber wenn Sie es besser wissen, lasse ich mich nur zu gern eines Besseren von Ihnen belehren. Nochmals, herzlichen Dank und einen schönen Gruß an Professor Bollnow. Ihr ergebener Helmuth Plessner * 1951 (F. R.) 75 H. Plessner, Ges. Schr. VIII, S. 182. 76 H. Plessner, ebd., S. 186.

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Darin, dass aus der Unheimlichkeit des Fremden (in der Schrift von 1931) nun eine »offene Ordnung verborgener Hintergründigkeit« 77 werden konnte und die Vertrautheit zu jenem Charakter der Selbstverständlichkeit wird, der durch Verfremdung anzueignen ist, liegt eine neue Wesensbestimmung des Fremden, in der das häufig gebrauchte, statische Anschauungsschema des räumlichen Nebeneinander von Eigensphäre und Fremdsphäre zu Gunsten des dynamischen Verhältnisses des jeweiligen Angewiesenseins des Einen auf das Andere vermieden ist. Es liegt darin aber noch eine andere Konsequenz. Die Welt als »offene Ordnung verborgener Hintergründigkeit« besteht hauptsächlich aus vielen anderen, relativ geschlossenen Ordnungen kultureller »Umwelten«. Wenn wir den Schritt Plessners von der Schrift von 1931 zu den Konzeptionen von 1950 bzw. 1961 mitvollziehen, stellt sich die Frage nach den Kategorien, mit denen die Kommunikation zwischen diesen einzelnen Kulturen zu begreifen ist. Eine dieser Kategorien ist die des Horizontes. Wir finden bei Plessner sowohl einen explizit terminologischen Gebrauch wie auch eine unausdrückliche Inanspruchnahme des in diesem Begriff fixierten Anschauungsschemas. So kommt der Abschnitt über das anthropologische »Gesetz der natürlichen Künstlichkeit« in den Stufen noch ganz ohne diese Kategorie aus, obgleich die Tendenz des Hauptgedankens auf sie hinzudrängen scheint. An den Weg von hier über Formulierungen wie Horizont der Vertrautheit 78 bis zum Begriff der künstlichen Horizontverengung 79 sei erinnert. Über dieses wichtige Prinzip in Plessners Kulturtheorie heißt es in der Conditio humana: »Unter dem Zwang, sich der offenen Wirklichkeit zu stellen und ihrer Unvorhersehbarkeit Herr zu werden, ergibt sich überall eine künstliche Horizontverengung, die wie eine Umwelt das Ganze menschlichen Lebens einschließt, aber gerade nicht abschließt.« 80 Damit ist zweierlei gesagt: Kulturen als »künstliche Horizontverengungen« umgreifen zwar eine jeweilige Lebenstotalität, aber sie isolieren diese nicht in der Art stabiler tierischer Umwelten, sondern halten sie interkulturell offen:

77 78 79 80

H. Plessner, a. a. O., S. 183. H. Plessner, V, S. 192. H. Plessner, VIII, S. 189. Ebd.

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»Diese Geschlossenheit durch je verschiedene patterns […] darf nicht mit der Geschlossenheit tierischer Umwelten verglichen werden. Diese sind nicht ineinander überführbar. […] Kulturen aber kommen miteinander in Berührung und gehen keineswegs immer durch Berührung etwa einer primitiven mit einer höheren einfach zugrunde. Es herrscht ebenso das Verhältnis der Befruchtung und Bereicherung zwischen ihnen, der Kontinuität im Austausch der Verständigung, und zwar auf Grund einer sich immer wieder durchsetzenden menschlichen Wurzel.« 81

Zum Instrumentarium einer solchen Theorie interkultureller »Befruchtung und Bereicherung« möchten wir auch unsere Phänomenologie intra- und interkultureller Vergegenwärtigungen gezählt sehen, sei es im Blick auf sedimentierte, »zum Begriff gewordene« kollektive Erfahrungen, sei es im Nachvollzug individueller Ein- und Durchblicke. Sie alle bilden jenes »Medium von Gemeinsamkeiten«, das Dilthey in Abwandlung des hegelschen Begriffs den »objektiven Geist« genannt hat. Dieser ist zugleich Grenze und Berührungspunkt einer Kommunikationsgemeinschaft mit ihresgleichen – inkommensurabel und kommunikabel in einem. Aber die so verstandene Einheit einer Kultur steht in der Gefahr, als »gewordene, errungene und traditionell bewahrte Einseitigkeit« die Relativität ihrer Horizontbildung vergessen zu lassen. Zu welchen Konsequenzen ein solches Sich-einrichten im Vertrauten bis hin zum »sozialen Radikalismus« führen konnte, hatte Plessner schon 1924 in seinem Buch Grenzen der Gemeinschaft vorausgesagt.

9. Bei Sichtung eigener und fremder Texte aus den neunziger Jahren, sofern sie mit politischen Fragen befasst sind, stellt sich immer wieder der Eindruck eines mangelnden Gespürs für Kommendes ein – eine Ahnungslosigkeit im Hinblick auf das, was das neue Jahrtausend dann gleich zu Beginn mit sich bringen sollte. Immerhin ist in den Schlusspassagen des Aufsatzes Der Anspruch der Kultur die Rede von dem »atemberaubenden Elan der neuen ethnischen, religiösen und kulturellen Selbstfindungen« 82, und auch der Vortrag über Kultur und Zivilisation spricht von »erheblichen Problemen der Abwägung 81 82

Ebd., S. 188 f. Vgl. unten S. 217.

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zwischen ›kulturalistischen‹ und ›universalistischen‹ Werten« 83. Aber dieser Vortrag wurde zufällig an einem jener Julitage des Jahres 1995 gehalten, als, wie sich später herausstellte, im Bosnienkrieg das Massaker von Srebrenica stattfand; ein Vortrag ausgerechnet auf einer Tagung über Das Ethos des Interkulturellen! Mehr Ahnungslosigkeit war wohl kaum möglich. Wenn dieser Text dennoch in die vorliegende Sammlung aufgenommen wurde, dann zunächst aus historisch-dokumentarischem Interesse. Er war angeregt durch das Buch Jihad vs. McWorld 84 des amerikanischen Politikwissenschaftlers Benjamin R. Barber, in dem zwei für die Demokratie gefährliche Faktoren des modernen politischen Lebens analysiert wurden: die Tendenz zur Bildung partikularistischer, gewaltbereiter Bewegungen auf ethnischer, kultureller und/ oder religiöser Basis; und die gegenläufige Tendenz zur Nivellierung und Verdrängung tradierter und indigener Lebensformen durch perfektionierten Konsum und elektronische Medien. Die Bezeichnungen Dschihad und McWorld waren Metaphern für die beiden Zeittendenzen, wobei hervorzuheben ist, dass ein wörtliches Verständnis des Wortes Dschihad als »Heiliger Krieg« im Westen damals noch durch kaum eine reale Erfahrung vorbereitet war. Dieser Gegensatz erinnerte in manchen Aspekten an die Gegenüberstellung von Kultur und Zivilisation, wie sie in der klassischen deutsch-konservativen Kulturkritik vor dem Ersten Weltkrieg und dann vor allem in Oswald Spenglers Kulturmorphologie zu großer Beliebtheit gekommen ist. 85 Wenn auch viele zeittypische Einzelheiten den Vergleich zwischen den beiden Begriffspaaren nicht zuließen, so blieben doch einige offenkundige Ähnlichkeiten. Dies betraf auf der einen Seite das bis auf Rousseau, ja bis auf die Spätantike zurückgehende Misstrauen gegenüber einer alle geheiligten Bindungen auflösenden Moderne; auf der anderen Seite das machtgierige Ignorieren aller Traditionen und Konventionen zu Gunsten eines grenzenlosen Fortschritts in der Erschließung irdischer Güter und Freiheiten. Beide Tendenzen konnten sich in jener ersten Phase des Zerfalls der MachtVgl. unten S. 248. B. R. Barber: Jihad vs. McWorld. How Globalism and Tribalism are reshaping the World. New York 1995. Dt. Übers. München 1996. Zitiert wird nach der deutschen Übersetzung mit Seitenzahlen im Text. 85 O. Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. München 1918/1920. 83 84

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strukturen des Kalten Krieges, als Francis Fukuyama das Ende der Geschichte proklamierte, neu konstituieren und in bisher ungeahnten Dimensionen ausbreiten. Dass es sich nicht einfach um einen neuen Ost-West-Gegensatz handelte, wurde durch die Sichtweise von Barbers Buch besonders deutlich. Er fasste mit der Metapher Dschihad die ganze Vielfalt militant sektiererischer Bewegungen zusammen, die christliche Rechte der amerikanischen Evangelikalen mit eingeschlossen. Aber als neue Weltmacht und Gefahr für die Demokratie interessierte ihn McWorld mehr als der religiöse Fanatismus. In dieser Asymmetrie des Interesses lag gleichfalls eine gewisse Wiederholung der alten kulturideologischen Fragestellung. Die modernistischen Auswüchse des zivilisatorischen Fortschritts wurden als die größere Gefahr markiert. Solange der »Heilige Krieg« nicht in demselben Maße globalisiert war wie die manipulative Macht der Konzerne, konnte er eher als etwas Fremdes gelten denn als etwas Bedrohliches. Diese Position vertritt annähernd auch unser politisch so offensichtlich veralteter Text. Erst heute kann deutlicher gesehen werden, dass unter dem Sammelnamen Dschihad im Sinne Barbers nicht nur der weltweit agierende Islamismus in seiner damals noch unentdeckten Gewalt zu verstehen ist oder die vielen über den Erdball verteilten militanten Befreiungs- und Unabhängigkeitsbewegungen. Ein drittes und wohl das gefährlichste Element liegt in der wiederauflebenden Attraktivität der Idee einer Nationalkultur als ethnische, sprachliche und religiöse Einheit, wie sie in einigen Rand- und Nachfolgestaaten der zerfallenden Sowjetunion in verschiedener Intensität durchgesetzt wurde und weiterhin an Gewicht gewinnt. Hier besteht der unmittelbarste Bezug zur alten deutsch-völkischen Kulturideologie in ihrer gefährlichsten Variante, nämlich der positiven Bewertung von autoritärer Herrschaft, territorialem Anspruchsdenken, Xenophobie, Antisemitismus und Kult des heimatlichen Bodens. Es war die Intention des Vortrags, sich von diesen Implikationen eines einst ehrwürdigen Kulturbegriffs scharf abzugrenzen und doch das von Herder und der Romantik herstammende Erbe in dieser Konzeption virulent zu halten. Die leitende Idee war, dass das Verhältnis zu der technisch und wirtschaftlich durchrationalisierten Welt nicht durch Konfrontation, sondern durch Komplementarität bestimmt sein sollte, wobei der Rationalität einer international kooperierenden Völkergemeinschaft die Inkommensurabilität der einzelnen kulturel43 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

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len Strukturen als selbständiger Wert zur Seite gestellt wurde. In der Sprache dieser einleitenden Betrachtungen gesagt: Die am Ideal erfolgreicher Erledigung orientierte Zweckrationalität sollte in ein Verhältnis friedlicher Komplementarität zu den globalen Tendenzen sinnbildender 86 Vergegenwärtigungen treten. Aber vielleicht geht die Ahnungslosigkeit des politischen Laien viel weiter als bereits zugestanden und weiß nichts von den nur ganz geringen Chancen der Verwirklichung einer auf globaler Komplementarität aufbauenden Friedensordnung. Mit Sicherheit kann zum jetzigen Zeitpunkt nur gesagt werden, dass die größere Gefahr – nicht nur für die Demokratie – nicht vom totalen Vergnügungsbedürfnis, sondern von der neuen Faszination des Ideals einer Nationalkultur ausgeht, wie sie inzwischen ja auch in den westeuropäischen Demokratien an Boden gewonnen hat und zu unheiligen Allianzen zwischen West und Ost zu führen scheint. Ob aber die »Zivilisation« in Gestalt der globalen elektronischen Vernetzung letztlich eine Art Ruhigstellung der Menschheit im Namen der Sicherheit verordnen wird, steht auf einem anderen Blatt.

10. Was als Anspruch der »Kultur«, d. h. als emphatischer Kulturbegriff, zunächst vielleicht ein Sonderproblem im begriffsgeschichtlichen Umgang mit »der« Kultur zu sein schien, wurde in den zuletzt angestellten Überlegungen erheblich verkompliziert. Der emphatische Kulturbegriff enthält die Gefahr des Abgleitens in die Überhöhung eines Quasi-Subjektes, das die »Eigenen« umhegt, die »Fremden« ausschließt. Dies bedarf nicht immer einer deklamatorischen Erklärung. Es kann auch durch scheinbar harmlose Ambivalenzen und kaum wahrnehmbare Bedeutungsverschiebungen unscheinbarer Begriffe geschehen – gleichsam hinter dem Rücken der beteiligten Autoren. Ein solcher Vorgang hat sich in der deutschen Philosophie abgespielt, seitdem vom Erscheinen des Briefwechsels zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg ein Impuls ausgegangen war, der von Heidegger und seinem Kreis begeistert aufZum Begriff der historischen Sinnbildung vgl. J. Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln/Weimar/Wien 2013.

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genommen wurde. 87 Hierbei spielte das Wort Zugehörigkeit eine erstaunlich nachhaltige Rolle. Dies soll hier in einer gewissen Ausführlichkeit expliziert werden, wobei gleichzeitig auf eine frühere Studie verwiesen sei, deren Kenntnis zwar nicht Vorbedingung für das Verständnis des hier veröffentlichten Textes ist, ihm aber eine breitere Basis geben kann. 88 Hier also die Vorgeschichte: In einem später nicht von ihm selbst veröffentlichten Teil seiner Abhandlung Über vergleichende Psychologie hatte Dilthey im Oktober 1895 seinem Freund die Auffassung mitgeteilt, dass für das Verstehen anderer Personen in den Geisteswissenschaften zwei Merkmale »geistiger Tatsachen« von Belang seien: erstens, dass sie als eigene innere Erfahrungen durch eine Art Transposition auf äußere Objekte, nämlich menschliche Körper, übertragbar seien; zweitens, dass durch die Gleichartigkeit der eigenen inneren Erfahrungen mit denen, »welche wir in die anderen menschlichen Körper zu verlegen genötigt sind«, die eigenen inneren Erfahrungen »bis in ihre letzte Tiefe« in anderen Personen wiederfinden könnten. 89 Yorck hat dieser – in der Tat kaum hermeneutisch zu nennenden – Auffassung vehement widersprochen. Er rekurriert auf die »Humanität« (hier wohl im Sinne von »Mitmenschlichkeit«) als ein konstitutives Element des Bewusstseins. Ich verstehe den Andern, weil er mir zugehörig ist als Mensch. »Nichts von Übertragung hat hier statt, vielmehr unmittelbar lebendige Zugehörigkeit. […] Daher ziehe ich dem Ausdrucke Gleichartigkeit den Ausdruck Zugehörigkeit vor.« 90 Dies gelte insbesondere für das historische Verstehen zeitlich entfernter Personen, wo ja keine Übertragung auf die äußere Wahrnehmung der Körperlichkeit des Andern vorgenommen werde. Man kann dieses konstitutive Bewusstseinselement auch ein transzendentales Prinzip nennen: Das Bewusstsein der Mitmenschlichkeit 87 Vgl. M. Heidegger: Sein und Zeit § 77; Fr. Kaufmann: Die Philosophie des Grafen Paul Yorck von Wartenburg. Halle a. d. Saale 1928; H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 1. Aufl. Tübingen 1960, vor allem S. 229 ff. Im Folgenden werden Zitate im Text mit WM nachgewiesen. 88 Der hier abgedruckte Vortrag Zugehörigkeit und Fremdkultur ist bisher nur in italienischer und französischer Sprache erschienen. Er ist eine Art Fortsetzung des Aufsatzes Die Intensität des Lebens. Zur Stellung des Grafen Paul Yorck zwischen Dilthey und Heidegger; in: F. Rodi: Das strukturierte Ganze, a. a. O., S. 225–247. 89 W. Dilthey: Ges. Schr. Bd. V, S. 250. (Hervorhebung F. R.) 90 Briefwechsel Dilthey-Yorck, a. a. O., S. 192; (Hervorhebung F. R.).

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als unmittelbare lebendige Zugehörigkeit ist die Bedingung der Möglichkeit des Verstehens überhaupt. In der hier veröffentlichten Fortführung meines früheren Aufsatzes über Graf Yorck geht es um die Frage, wie weit das von Fritz Kaufmann und Hans-Georg Gadamer emphatisch aufgenommene Prinzip der Zugehörigkeit des Interpreten zu seinem Text nicht nur für das Verstehen innerhalb einer vorgegebenen Überlieferung, sondern auch für das interkulturelle Verstehen jene unabdingbare Voraussetzung darstellt, die ihm von den genannten Autoren zugesprochen wird. Dabei kommt alles darauf an, ob der Begriff Zugehörigkeit in jenem strengen Sinn gebraucht wird, den Graf Yorck ihm an der bezeichneten Briefstelle gegeben hat. Gadamer übernimmt zwar diese Bedeutung des Wortes, wenn er betont, »daß weder der Erkennende noch das Erkannte ›ontisch‹, ›vorhanden‹ sind, sondern ›historisch‹, d. h. von der Seinsart der Geschichtlichkeit sind« (WM 247). Aber diese Strenge des Begriffs wird aufgelöst, wenn im selben Zusammenhang von der »Zugehörigkeit zu Traditionen« (WM 248) und von »konkrete[n] Bindungen von Sitte und Überlieferung« (WM 249) gesprochen wird. Diese historischen Zugehörigkeiten sind nicht mehr von der gleichen tranzendentalen Allgemeinheit wie Yorcks »konstitutive Bewußtseinselemente«, und es wird deshalb die Frage gestellt, ob sich ein interkulturelles Verstehen auf diese transzendentale Zugehörigkeit verlassen kann oder die jeweiligen Zugehörigkeiten zu Traditionen erst einmal überwinden oder einklammern muss. Diese Frage stellt sich vor allem im Hinblick auf den emphatischen Charakter des Zugehörigkeitsbegriffs. In Analogie zum emphatischen Kulturbegriff ist festzustellen, dass auch hier die Bedeutung des Ausschließens der »Fremden« gegenüber dem Zusammenhalten der »Eigenen« an Gewicht zunehmen kann. Fritz Kaufmann hat diese Gewichtsverschiebung bei Yorck mit Bezug auf das Verhältnis von Christentum und Judentum konstatiert und sprach – als Jude – enttäuscht von einer »Verengung des geschichtlichen Zugehörigkeitshorizontes« 91. Diese Differenzierungen sind von erheblicher Bedeutung für jede Theorie des interkulturellen Verstehens. Die Hauptfrage unseres Textes lautet deshalb: Ist Verstehen nach Gadamer nur möglich im Lebensbezug konkreter historischer Zugehörigkeit zur jeweiligen Überlieferung? Und welchen Spielraum für interkulturelles F. Kaufmann: Wiederbegegnung mit dem Grafen Paul Yorck. Hrsg. v. I. Fetscher; in: Archiv für Philosophie 9 (1959), S. 201.

91

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Einleitung

Verstehen lässt eine solche konkret-historische Zugehörigkeit noch zu? Die Antwort muss mehrere Aspekte berücksichtigen. Zunächst ist festzuhalten, dass Gadamers Begriff der Zugehörigkeit erhaben ist über den Verdacht, in der Gefahr des Abgleitens in eine ethnozentrische oder kulturalistische Kategorie zu stehen. Der humanistische Gestus, der im Ganzen des Buches liegt, macht die Distanz aus, die auch Teil seines Verhältnisses zu Heidegger war. Bei aller Abhängigkeit von Sein und Zeit wäre doch ein Begriff wie »Geschick« als ein »Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes« oder Sätze wie »In der Mitteilung und im Kampf wird die Macht des Geschickes erst frei« 92 in Wahrheit und Methode undenkbar. Andererseits ist seine hermeneutische Position so stark von Heideggers Konzeption des menschlichen Daseins als »geworfener Entwurf« bestimmt, dass von dieser Denkfigur ein gewisser Systemzwang ausgeht. So erweist sich die Transformation der Geworfenheit in das Prinzip der Wirkungsgeschichte als die eigentliche Barriere, die eine Hermeneutik des Fremden ausschließt oder nur unter Aufgabe zentraler Systemelemente zulässt. Das Theorem der wirkungsgeschichtlichen Vermittlung zwischen Überlieferung und Interpret ist also nicht auf ein Verhältnis zur Fremdkultur übertragbar, da es ja gerade das Wesen des Fremden ausmacht, nicht mit dem Erkennenden vorgängig vermittelt zu sein. Es kann sich deshalb nur um eine relative Fremdheit handeln, wenn Gadamer an einer zentralen Stelle des Buches sagt: »Die Stellung zwischen Fremdheit und Vertrautheit, die die Überlieferung für uns hat, ist das Zwischen zwischen der historisch gemeinten, abständigen Gegenständlichkeit und der Zugehörigkeit zu einer Tradition. In diesem Zwischen ist der wahre Ort der Hermeneutik.« (WM 279) Auch unter einer anderen Perspektive ist es die Voraussetzung der Bindung an Überlieferung, die in dieser Grundsätzlichkeit eine Öffnung zu fremder Tradition kaum zulässt. Die wichtige Formulierung, dass das Wort, das auf uns gekommen ist, »uns wirklich trifft und so trifft, als rede es uns an und meine uns selbst« (WM 437), könnte außerhalb dieser grundsätzlichen Bindung auch ein bewegender Hinweis darauf sein, was uns eine fremde Welt in plötzlicher Konfrontation zu sagen hat. Aber gerade in dieser Plötzlichkeit einer

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M. Heidegger, a. a. O., S. 384.

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Einleitung

Neuentdeckung von Fremdem liegt ja das im wörtlichen Sinn »Unvermittelte«, das unvereinbar ist mit einer vorgängigen Vermittlung. Unser Text nimmt zwei gegensätzliche, aber gleichermaßen bedenkenswerte Auseinandersetzungen mit diesem Problem auf. HansHerbert Kögler möchte für eine »kritische Hermeneutik nach Gadamer, Foucault und Rorty« 93 das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein durch ein dialogisch-kritisches Bewusstsein ersetzen, während Werner Kogge gerade an diesem Prinzip festhalten will und den Weg beschreibt, auf dem innerhalb des Gedankengangs von Wahrheit und Methode die Verbindlichkeit des Ausgangspunktes Schritt für Schritt relativiert wird. »Gegen diese Verflachung der Problematik gilt es, an den hermeneutischen Einsichten der wirkungsgeschichtlichen Verflechtung festzuhalten und diese so weiter zu denken, dass die spezifische Offenheit, aber auch die Verschlossenheit von fremden Sinnwelten bedacht werden kann.« 94 Damit berührt sich die Fragestellung unseres Textes mit den Problemen der vorausgegangenen Studien, und nicht zufällig wird das Thema gegen Ende noch einmal mit Kategorien der Plessner’schen Anthropologie umrissen. Die Zugehörigkeit zu einer relativ stabilen Kommunikationsgemeinschaft im Rahmen einer künstlichen Horizontbildung ist zweifach gefährdet: einmal durch die Tendenz zur Verengung des Zugehörigkeitshorizontes im Namen der Kontinuität der Überlieferung, andererseits durch die Auflösung kultureller Horizonte zu Gunsten eines vorgeblich humanitären, in Wirklichkeit durch globale Wirtschafts- und Machtinteressen bestimmten Ideals einer konturlosen Menschheitsgesellschaft. Im bescheidenen Rahmen einer Theorie der Erfahrung von Bedeutsamkeit und ihrer Artikulation kann zur Entscheidung dieser Menschheitsfragen nur wenig beigetragen werden. Dennoch sollte nicht von Resignation die Rede sein, sondern von den unendlichen Möglichkeiten, in immer neuen »Mal-Setzungen« den Glauben an die Kreativität und das kritische Vermögen des Menschen beständig zu erneuern. Zugleich aber ist eine scharfe Abgrenzung nötig gegenüber jeder Übersteigerung der Resonanzbereitschaft und der manipulativen H.-H. Kögler: Die Macht des Dialogs. Kritische Hermeneutik nach Gadamer, Foucault und Rorty. Stuttgart 1992. 94 W. Kogge: Verstehen und Fremdheit in der philosophischen Hermeneutik. Heidegger und Gadamer. Hildesheim/Zürich/New York 2001, S. 141. 93

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Einleitung

Überhöhung von Bedeutsamkeit in einer Event-Kultur. Das inflationäre Ins-Netz-stellen des ›Menschlich allzu Menschlichen‹ und die Überflutung einer milliardengroßen Kommunikationsgemeinschaft mit Pseudo-Informationen sollte den Blick nicht trüben für das nicht nur gesellschaftlich Relevante, sondern auch das historisch Bedeutsame. Im Sinne eines kritischen Humanismus 95 haben auch die im engeren Sinn hermeneutischen Geisteswissenschaften hier eine bleibende Aufgabe. Diese geht über das viel zitierte »kompensatorische« 96 Gegengewicht zur Abstraktheit und Geschichtslosigkeit der modernen Industriegesellschaft weit hinaus.

Vgl. unten S. 245 und 249. Vgl. J. Ritter: Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft; in: Ders.: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt a. M. 1974.

95 96

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Bedeutsamkeit und Befremdlichkeit

In den folgenden Überlegungen sollen Bedeutsamkeit und Befremdlichkeit als »Anmutungsqualitäten« von Sinnzusammenhängen betrachtet werden. Dabei ist vorauszuschicken, dass hier nicht die These vertreten wird, Sinnzusammenhänge seien eo ipso entweder bedeutsam oder befremdlich. Vielmehr handelt es sich bei solchen Phänomenen, die hier noch im Einzelnen zu untersuchen sind, um jene besonderen Fälle, in denen die Selbstverständlichkeit und Normalität des alltäglichen Lebens durchbrochen wird und zu Fragen, Erklärungen und Interpretationen Anlass geben. Selbstverständlich gibt es darüber hinaus unzählige Phänomene, die uns weder positiv noch negativ anmuten, sondern in jener vielleicht vertrauten oder auch einfach grauen Zone alltäglicher Selbstverständlichkeit liegen, in der wir nicht von einem Angemutet-sein sprechen können. Besonderes Interesse wird in diesen Untersuchungen dem Status der plausiblen Erklärungen (bezogen auf Fälle der Befremdlichkeit) und der prägnanten Interpretationen (bezogen auf Bedeutsamkeit) entgegengebracht. Ihre Verwurzelung in alltäglichen Erfahrungen der Nicht-Selbstverständlichkeit legt nahe, bei den elementaren Formen von Verstehen und Sinn zu beginnen.

1.

Verstehen und Sinn

Nietzsche spricht in der Morgenröte von der »gemütlichen warmen Nebelwelt, in der der Gesunde ohne Bedenken wandelt« und die aus der Sicht des Kranken als eine der »edelsten und geliebtesten Illusionen« erscheint. 1 In ähnlicher Weise könnte man auch im Blick auf unser selbstverständliches Bescheidwissen in unserer Lebenswelt daF. Nietzsche: Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile; in: Werke in drei Bänden. Hrsg. v. K. Schlechta, Bd. 1. München 1973, S. 1088.

1

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Verstehen und Sinn

von sprechen, dass wir wie die Gesunden in einer gemütlichen, warmen Welt der Verständlichkeit leben und uns über dieses Verstehen keine Gedanken machen. Worin aber besteht dieses ganz elementare, lebensnotwendige Verstehen? Ich gehe von drei Lebensbereichen aus, um das alltägliche, von uns in seinen Funktionen ganz selbstverständlich vorausgesetzte Verstehen zu charakterisieren. a) Was wir im alltäglichen Leben vor allem verstehen, sind sprachliche Äußerungen, wobei den einfachen Sprechakten oder Sprachhandlungen eine besondere Bedeutung zukommt. In Akten des Bittens, Befehlens, Warnens, Fragens usw. ist die unmittelbare Verständlichkeit als Voraussetzung des Funktionierens von Kommunikation besonders hervorzuheben. Ein Sprechakt ist darauf angelegt, unmittelbar umgesetzt zu werden in Handlungen, die den Bitten, Befehlen, Warnungen usw. entsprechen. Die Art der Verständlichkeit ist vergleichbar der von Gesten und manchen Formen des mimischen Ausdrucks, sofern mit ihnen etwas unmittelbar gewollt wird. b) Eine zweite Art sprachlicher Äußerungen hat nicht diesen direkten Handlungsbezug: Ich meine Sätze, die Sachverhalte darstellen, etwas beschreiben, aufweisen, vorstellen. Man nehme als Beispiel meine augenblickliche Tätigkeit, etwas über das Verstehen zu sagen. In dieser Art von Kommunikation ist immer die Möglichkeit von Verständnisschwierigkeiten vorausgesetzt, die bei einfachen Sprechakten eigentlich nur die Ausnahme darstellen. Aber auch bei dieser zweiten, komplizierteren Kommunikationsart gibt es doch auch eine tragende Schicht ganz elementarer Verstehensleistungen. So sind die benutzten Wörter und die syntaktischen Beziehungen, in denen sie auftreten, so unmittelbar verständlich, dass man gerade im Fall von Verständnisschwierigkeiten auf sie nicht achtet. Auch hier also wird ein erheblicher Teil der Verstehensleistung als etwas ganz Selbstverständliches vorausgesetzt. c) Ein dritter, im Alltag ebenso wichtiger wie selbstverständlicher Bereich des Verstehens ist gegeben bei Handlungen. Auch hier achten wir nur auf den geringsten Teil dessen, was wir verstehend aufnehmen. Das Meiste ergibt sich wie von selbst und geht, wie man im Englischen sagt, »without saying«. Aber stellen wir uns einen Augenblick lang vor, wir würden in eine Welt versetzt, in der uns keine 51 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Bedeutsamkeit und Befremdlichkeit

einzige Handlung der Menschen um uns herum verständlich wäre. Wir würden gleichsam versinken in einem chaotischen Gewoge scheinbar absurder Bewegungen und Aktivitäten. Im Alltag aber sind wir getragen von der verlässlichen Beziehung des Bescheid-wissens dem größten Teil von Handlungen gegenüber, und zwar nicht nur dort, wo wir aktive Mitspieler oder Betroffene sind, sondern auch und gerade bei dem uns Fernliegenden, das uns eigentlich nichts angeht. Wenn wir von diesen drei Bereichen ausgehend auf das alltägliche Leben der Menschen im Ganzen blicken, so können wir leicht sehen, dass das Verstehen, und zwar das unmittelbare, einfache Verstehen, zu den elementarsten Voraussetzungen des menschlichen Lebens überhaupt gehört. Wir können auch sagen: Das Leben ist charakterisiert durch ein kontinuierliches, unauffälliges In-Einklang-stehen mit Welt (Umwelt, Mitwelt, Eigenwelt) im Medium des Verstehens. Aber diese elementare Struktur des Lebens ist mit dem Begriff des Verstehens nur zur Hälfte beschrieben. Es gibt, ganz verallgemeinernd gesagt, ein Korrelat zum Verstehen, so wie es zum Subjekt ein Objekt gibt: Verstehen ist immer Verstehen von Sinn. Es ist der Sinn, der einen Satz zu einem verständlichen Satz macht, die Handlung oder den Befehl verstehbar macht. Und so können wir auch sagen: Einen Satz, eine Handlung, eine Bitte, eine Frage usw. nicht verstehen bedeutet so viel wie ihren Sinn nicht erfassen. Das Wort Sinn ist hier in der elementaren Bedeutung gebraucht, in der ganz abgesehen wird von Fragen etwa nach dem Sinn des Lebens, der Schöpfung, dem Sinn der Geschichte usw. Hier geht es uns um die einfache Wortbedeutung, der gemäß »sinnvoll« so viel bedeutet wie »verständlich«. Das Wort Sinn, in dieser Weise genommen, erlaubt uns, auf eine ganz unpathetische Art davon zu sprechen, dass das menschliche Leben eingebettet ist in ein Gewebe von Sinnstrukturen, Sinnbezügen, Sinnverweisungen, Sinnzusammenhängen. Es liegt in der Natur unserer Welt als Handlungswelt, dass der weitaus größte Teil dieser Sinnzusammenhänge durch Zwecksetzungen bestimmt ist. Die meisten Gegenstände um uns herum haben dadurch Sinn, dass sie einem bestimmten Zweck dienen und auf diesen Zweck verweisen. Heidegger hat in diesem Zusammenhang die Selbstverständlichkeit hervorgehoben, mit der wir auf diese Verweisungen eingestellt sind. Er prägte hierfür den Begriff Zuhandenheit, womit er ausdrücken wollte, dass die Dinge uns in der Regel immer 52 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Sinnzusammenhänge

schon in ihrer Dienlichkeit vertraut sind, als Schuhzeug, Werkzeug, Fahrzeug usw. Er führte deshalb den Begriff Zeug ein, womit ausgedrückt werden sollte, dass wir im alltäglichen Leben nicht mit bloßen »Dingen« zu tun haben, sondern mit »Zuhandenem«, dessen Sinn uns schon erschlossen ist, nämlich als jeweils zuhandenes »-zeug«. 2 Nun würde aber die menschliche Lebenswelt völlig verzeichnet sein, wenn man sie ausschließlich durch diesen Einklang zwischen Mensch und Welt charakterisieren wollte. Es gehört vielmehr zu dieser Lebenswelt hinzu, dass wir auf der Grundlage dieses Eingebettetseins in die mannigfaltigsten Sinnstrukturen doch auch immer in Situationen geraten, wo elementare Verständlichkeit aufhört, oder – anders gesagt – wo Sinn nicht unmittelbar erfasst werden kann. Es kann dies als einer der wichtigsten Unterschiede in den Lebensverfassungen von Mensch und Tier angesehen werden, dass das Tier auf Grund seiner artspezifischen Ausgerichtetheit gleichsam nahtlos und fraglos in eine ihm zugeschnittene Umwelt eingelassen ist, während der Mensch »weltoffen« ist, wie Max Scheler dies genannt hat. 3 Weltoffen wäre demnach ein Wesen zu nennen, das fähig ist, jenseits des unmittelbaren Reagierens auf Reize offen zu sein für Gehalte von Welt, deren sinnvolle Einordnung in übergreifende Zusammenhänge nicht ohne weiteres möglich ist. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet ist Sprache nicht nur Kommunikationsmittel innerhalb festliegender Funktionszusammenhänge. Wäre sie das, gäbe es in der Tat kein Recht, zwischen Tier- und Menschensprache zu unterscheiden. Erst mit der Fraglichkeit von Sinn, wie sie sich nur für ein weltoffenes Wesen ergibt, kann Sprache die Grenzen vitaler Funktionszusammenhänge überschreiten und neuen Sinn formulieren.

2.

Sinnzusammenhänge

Wir waren ausgegangen von dem anthropologisch-hermeneutischen Grundbefund, dass der Mensch einerseits eingebettet ist in unmittelbar verständliche Sinnstrukturen einer primär als Handlungswelt zu verstehenden Um- und Mitwelt und andererseits zugleich über die M. Heidegger, Sein und Zeit, § 15. M. Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos; in: Ders.: Ges. Werke, hrsg. v. M. S. Frings. Bern u. München 1976, Bd. 9, S. 32.

2 3

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Bedeutsamkeit und Befremdlichkeit

Fraglosigkeit dieses Einklangs hinausgeführt wird zu Phänomenen des Unverständlichen, Problematischen, Rätselhaften und Fremden. Bevor hier eine Unterscheidung zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Formen der Nicht-Selbstverständlichkeit getroffen wird, sollen einige – wie mir scheint – entscheidend wichtige Eigenschaften von Sinnzusammenhängen erwähnt werden. Sinnzusammenhänge, wie sie in Gestalt von Handlungen, Werken, Institutionen, sprachlichen Äußerungen usw. vorliegen, scheinen sämtlich dadurch charakterisierbar zu sein, dass sie konturiert, strukturiert und pointiert sind. a) Ein Sinnzusammenhang ist dadurch konturiert, dass er sich abhebt von anderen Sinnzusammenhängen. Die jeweilige Differenz mag minimal sein. Dennoch ist das Verstehen wesentlich durch solche Unterschiede bestimmt. Dieselbe Melodie, einmal in Dur, dann in Moll gespielt, derselbe Satz, behauptend oder fragend intoniert, dasselbe Gedicht, affirmativ rezitiert oder in satirischer Absicht zitiert – alle diese Beispiele weisen auf die Möglichkeit hin, scheinbar identische Sinnzusammenhänge voneinander abzugrenzen. b) Derselbe Sachverhalt kann, in anderer Perspektive gesehen, auch als Strukturiertheit aufgefasst werden: Sinnzusammenhänge sind strukturiert, insofern ihre Elemente in einer Teil-Ganzes-Beziehung stehen im Sinne einer wechselseitigen Bedingtheit. Heterogenität von Elementen bedeutet demnach so viel wie Wegfall der Wechselseitigkeit. Ein Glied in einer Argumentationskette, ein Ton in einer Melodie, ein Schritt in der Realisierung eines Ziels sind konstitutive Bestandteile in dem Maße, in dem ihr Wegfall die Kohärenz des Ganzen beeinträchtigen würde. c) Wollte man Sinnzusammenhänge lediglich durch die beiden Charakteristika der Konturiertheit und Strukturiertheit kennzeichnen, würde man sehr viele Funktionszusammenhänge der Natur unter diesem Begriff »Sinnzusammenhang« mitbegreifen müssen. Tatsächlich gebrauchen wir ja auch in der Beschreibung solcher Naturphänomene das Wort »sinnvoll«, etwa wenn wir die Funktionsgerechtheit eines Organs oder eines Faktors im Haushalt der Natur hervorheben. Es scheint mir jedoch wichtig zu sein, die Verstehbarkeit von Sinnzusammenhängen auf eine weitere Qualität zurückzuführen, die oben schon als Pointiertheit eingeführt wurde. Ich möchte damit in 54 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Befremdlichkeit und plausible Erklärungen

bewusstem Rekurs auf die Verstehbarkeit von Witzen, Anekdoten, Argumenten usw. die Rolle der Pointe, des springenden Punktes, der »Idee« hervorheben, ohne die ein Verstehen nicht möglich ist. Wir sprechen ja häufig vom »Witz der Sache« 4 und meinen damit keineswegs immer eine Art freiwilliger oder unfreiwilliger Komik, sondern das, worauf es ankommt: den Kern des Problems, den Hauptpunkt oder eben auch den Sinn der Sache. Es ist dies eine Art Gestaltqualität des Sinnzusammenhangs, eine von uns im Verstehen immer schon vorausgesetzte Ausgerichtetheit auf etwas hin, die Hinsicht, unter der wir ihn annehmen. Es sei in diesem Zusammenhang auf das in der deutschen Sprache ganz ungebräuchlich gewordene Wort »Skopus« erinnert, womit nach Auskunft des Duden »Sinn und Ziel eines Predigttextes« gemeint ist, auf den der Prediger in seiner Auslegung hinführen soll. 5 Vielleicht sollte man sich auf die Implikationen und etymologischen Residuen dieses Begriffs besinnen, in denen neben der reinen und eindeutigen Zweckhaftigkeit auch ein allgemeineres »Hinblicken-auf …« gemeint sein kann. Der Pointiertheit eines Sinnzusammenhangs durch sein telos wäre dann die andere Möglichkeit gegenüberzustellen, nämlich die Pointiertheit durch seinen scopus – also eine Zuspitzung, die im Verstehen nachvollziehbar sein muss, aber nicht auf das Verstehen von Zweck und Absicht reduziert werden dürfte.

3.

Befremdlichkeit und plausible Erklärungen

In der störungslos verlaufenden Alltagspraxis vollzieht sich das Verstehen von Sinnzusammenhängen so, dass ihre Konturierung, Strukturierung und Pointierung unmittelbar erfasst werden. Eine minimale Änderung der Tonlage kann mir signalisieren, dass jetzt ein Sprechakt der Warnung beginnt; eine minimale Übertreibung in der Vgl. zu diesem Thema G. Gabriel: Der »Witz« der reflektierenden Urteilskraft; in: F. Rodi (Hrsg.): Urteilskraft und Heuristik in den Wissenschaften. Beiträge zur Entstehung des Neuen. Weilerswist 2003. (2015) 5 Der Große Duden, Bd. 5, Mannheim 1960. – Das alte griechisch-lateinische Wort hat in den verschiedenen modernen europäischen Sprachen eine merkwürdig vielfältige Ausdifferenzierung erfahren. Während es weder in die deutsche noch die französische Umgangssprache Eingang gefunden hat, steht es im Italienischen (scopo) für »Zweck«, im Englischen für »Bereich«, »Gesichtskreis«, »Spielraum« usw. neben den obsolet gewordenen Bedeutungen »Zweck« oder »Absicht«. 4

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Bedeutsamkeit und Befremdlichkeit

Wortwahl zeigt mir die Absicht, ein vorgetragenes Gedicht zu verfremden; die Hervorhebung eines einzelnen Wortes durch Kursivschrift zeigt mir die zentrale Bedeutung dieses Begriffs innerhalb eines Argumentationsganges usw. Aber hier liegt überall auch die Möglichkeit zu Missverständnissen. Es kann z. B. sein, dass mir in einer gegebenen Situation kein Anlass zu einer Warnung zu liegen scheint und ich auf die entsprechende Nuancierung eines Sprechaktes nicht achte. Ich fahre fort im Gespräch, ohne die Kontur eines neu sich abzeichnenden Sinnzusammenhangs wahrzunehmen. Das Element der Änderung der Tonlage wird von mir nicht strukturell auf das Ganze der sprachlichen Äußerung bezogen. So entgeht mir die Pointe eines scheinbar nichtssagenden Satzes, wie: »Man sollte immer auf Überraschungen gefasst sein.« Vielleicht verstehe ich erst Jahre später den wirklichen Sinn jener Äußerung, der mir zu meinem Nachteil entgangen war. Für eine Theorie des Sinn-Verstehens sind solche Missverständnisse relativ uninteressant. Dagegen sind diejenigen Formen des Nicht-Verstehens von systematischem Interesse, in denen die Diskrepanz zwischen Sinnerwartung und vorgefundenem Sinnzusammenhang reflektiert wird und in der Regel zu Warum-Fragen führt. Ich nenne solche erklärungsbedürftige Sachverhalte befremdlich. Hierher gehören vor allem Handlungen, die von der Norm abweichen, ohne dass entsprechende Gründe oder Motive ersichtlich wären. Neben den Sozialwissenschaften ist vor allem die Geschichtswissenschaft in einem hohen Maß befasst mit solchen erklärungsbedürftigen Sachverhalten, und dies gilt für jede historische Forschung auch außerhalb der im engeren Sinn historiographisch arbeitenden Disziplinen. Es war dieser Befund, der in der Erklären:Verstehen-Debatte zu dem Bedürfnis geführt hat, den Status des Erklärens nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern im Besonderen auch für die Geschichtswissenschaft zu klären. 6 Dieser Punkt kann heute vor allem im Blick auf das Verhältnis zu naturwissenschaftlichen Kausalerklärungen als erledigt gelten. Das Erklären befremdlicher Sachverhalte in der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt vollzieht sich in einer Vielzahl explanatorischer Interpretationen, unter denen die narrative Erklärung in den vergangenen Jahrzehnten besondere Beachtung gefunden hat. Es handelt sich hierbei, um es vereinfacht auszudrücken, Aus der großen Zahl von Publikationen zu diesem Thema nenne ich hier nur G. H. von Wright: Explanation and Understanding. Ithaca, N.Y. 1971.

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Befremdlichkeit und plausible Erklärungen

um die zu allen Zeiten gehandhabte Methode, durch Erzählen von Geschichten einen »Tathergang« zu rekonstruieren. Die narrative Erklärung gibt vorzugsweise Antwort auf die Frage: Wie kam es dazu? Wie konnte es dazu kommen? Es ist offenkundig (und in der Methodendiskussion wohl endgültig ausdiskutiert), dass bei solchen Erklärungen die Anwendung von Gesetzen so gut wie keine Rolle spielt. Wer ein komplexes Ereignis wie den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verständlich machen will, wird zwar auch allgemeine Sätze über kollektive Verhaltensformen (»Jede Großmacht hat die Tendenz …«; »Jede ethnische Minderheit ist bestrebt …«) verwenden. Die Erklärung im Sinne eines Einsichtig-machens eines so befremdlichen Tatbestandes, dass sich nämlich die europäischen Großmächte wider besseres Wissen und Wollen in eine Katastrophe haben hineinziehen lassen, die sie einen erheblichen Teil ihrer Führungsrolle in der Welt gekostet hat, würde sich umsonst nach sogenannten covering laws im Sinne des Erklärungsschemas von Hempel umsehen müssen. 7 Neben dieser Form der Befremdlichkeit, deren Erklärung darauf ausgeht, das zunächst Unbegreifliche durch Aufweis bestimmter Sinnzusammenhänge zu einem letztlich doch einsehbaren Ereignis zu machen (was allerdings nicht bedeutet, dass »alles verstehen alles verzeihen« heißt!), ist eine andere, weniger extreme hervorzuheben, die im alltäglichen Leben und in der geisteswissenschaftlichen Forschung gleichfalls eine große Rolle spielt. Es ist die Befremdlichkeit dessen, was gleichsam den Charakter einer Undurchdringlichkeit, einer mangelnden Transparenz hat. Während bei der ersten Form der Befremdlichkeit das Abweichen von der Norm rationalen Handelns zu der Frage führt: Wie konnte dies geschehen?, geht es nunmehr um die Frage: Was heißt das eigentlich? Was soll das bedeuten? Welche Form der Erklärung setzt hier ein? Es ist gewiss nicht die explanatorische Interpretation, die mir ein Verständnis für ein zunächst unbegreifliches Geschehen wie den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vermitteln soll. Was hier erklärt wird, sind in erster Linie Begriffe, Problemstellungen, Behauptungen usw. Ich habe deshalb vorgeschlagen, 8 die in einem solchen Zusammenhang vorzunehmen7 Vgl. C. G. Hempel: The Function of General Laws in History; in: The Journal of Philosophy 39 (1942). 8 Vgl. F. Rodi: Über einige Grundbegriffe einer Philosophie der Geisteswissenschaften; in: Dilthey-Jahrbuch 1/1983, S. 25 ff.

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Bedeutsamkeit und Befremdlichkeit

den Interpretationen nicht explanatorisch, sondern explikativ zu nennen, um ganz deutlich zu machen, dass es sich den beiden Formen der Befremdlichkeit gegenüber um zwei grundsätzlich verschiedene Weisen des Verständlich-machens handelt. Die explanatorische Interpretation bedarf zwar häufig explikativer Elemente, z. B. wenn sie einen heute nicht mehr gängigen Begriff oder eine nicht mehr gültige Norm in ihrem Gang der Erklärung verständlich machen muss. Und umgekehrt kann eine explikative Interpretation angewiesen sein auf ein Stück genetischer Erklärung, indem diese narrativ aufzeigt, wie es zu diesem Begriff oder jener Problemstellung gekommen ist. Es wäre angesichts so enger Verwebungen also sinnlos, explanatorische und explikative Interpretationen völlig zu trennen oder womöglich gegeneinander auszuspielen. Es kann sich bei unseren Differenzierungen nur darum handeln, in heuristischer Absicht die verschiedenen Funktionen des Erklärens in den Geisteswissenschaften deutlich hervorzuheben und auf verschiedene Formen von Befremdlichkeit, also auf verschiedene Weisen des Nicht-Verstehens, zu beziehen. Gemeinsam ist beiden Formen der Erklärung, dass sie hinsichtlich ihres Wahrheitsanspruchs eher bescheiden aufzutreten pflegen. Sie wollen in erster Linie plausibel sein. Plausibilität ist in der Regel dann gegeben, wenn diejenige Gewissheit und Sicherheit hergestellt ist, aus der heraus sich (wenigstens zunächst) keine neuen Fragen ergeben. Plausibilität ist die Eigenschaft einer (zumindest vorläufig) abschließenden Antwort. W. Dray, dem wir wichtige Beiträge zu einer Schlichtung in der Erklären:Verstehen-Debatte verdanken, hat für diese Plausibilität den Begriff des »hat-doffing effect« geprägt, also des »Hut-ab-Effekts«. 9 Gemeint ist damit, dass es bei Herstellung eines Höchstmaßes an Einsichtigkeit für den Hörer oder Leser eigentlich nur noch übrig bleibt, bewundernd oder zustimmend den Hut zu ziehen. Es ist eine das Thema beschließende Geste. Die Erklärung ist an ihr Ziel gekommen. Chapeau!

4.

Bedeutsamkeit und prägnante Interpretationen

Die Geisteswissenschaften, vor allem die im engeren Sinn interpretierenden Wissenschaften, wären mit dieser Aufgabe, plausible Erklä9

W. Dray: Laws and Explanation in History. Oxford 1957, S. 69.

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Begriffsgeschichtlicher Exkurs

rungen für befremdliche Sachverhalte zu geben, allerdings nicht ausreichend gefordert. Sie leisten zwar durch solche Aufhellungen einen wichtigen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Kontinuität des gesellschaftlichen Lebens, eine Kontinuität, die durch die rapide wachsende Ausdifferenzierung aller Lebensbereiche beständig gefährdet ist. Diese Kontinuität besteht einerseits horizontal im Sinne des Zeitverlaufs, andererseits vertikal als Zusammenhang der Kultur zu jedem beliebigen Zeitpunkt. Die Vermittlung zwischen Tradition und Gegenwart wird durch explanatorische und explikative Erklärungen ebenso hergestellt wie die Vermittlung zwischen den immer weiter auseinanderdriftenden Teilbereichen des modernen Lebens. Man hat die Geisteswissenschaften mit Recht »Verständigungswissenschaften« genannt. 10 Es vollziehen sich in ihnen Prozesse des Sich-verständigens über Gehalte unserer Kultur, die ohne diese explanatorischen und explikativen Aufhellungen befremdlich blieben und schließlich wie Wackersteine im Bauch des Wolfes das Leben schwächen würden. So hat Nietzsche das Problem des Übermaßes an unverstandener Historie gesehen. Über diese Aufhellungsarbeit hinaus, die uns das Leben durch Reduktion seiner Komplexität leichter machen soll, haben die Geisteswissenschaften auch die Aufgabe, uns das Leben sozusagen schwer zu machen, indem sie es nämlich mit immer neuer Komplexität anreichern. Dies hängt damit zusammen, dass sie es nicht allein mit Phänomenen der Befremdlichkeit zu tun haben, sondern in gleichem, vielleicht sogar größerem Maße mit Phänomenen der Bedeutsamkeit.

5.

Begriffsgeschichtlicher Exkurs

Indem ich diesen vieldeutigen Begriff in terminologischer Absicht einführe, möchte ich mich zunächst der begriffsgeschichtlichen Orientierung bedienen, die durch die Arbeit von Gunter Scholtz ermöglicht wurde. 11 Drei Punkte sind hervorzuheben:

Vgl. K.-O. Apel: Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik. Entwurf einer Wissenschaftslehre in erkenntnisanthropologischer Sicht; in: Ders.: Transformation der Philosophie, Bd. 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Frankfurt a. M. 1973, S. 112. 11 G. Scholtz: Bedeutsamkeit. Zur Entstehungsgeschichte eines Grundbegriffs der hermeneutischen Philosophie; in: Ders.: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Ori10

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Bedeutsamkeit und Befremdlichkeit

Der um 1800 aufkommende Begriff Bedeutsamkeit soll ausdrücken, dass etwas »in seiner Fülle mehr geahnt als gewußt wird und von vielen oder allen für wichtig gehalten und als werthaft affirmiert wird« (255). Der Begriff Bedeutsamkeit tritt in der Hermeneutik Schleiermachers an die Stelle des älteren Begriffs Emphase, der nach Auskunft der Encyclopädie von Ersch/Gruber (1822) einen sprachlichen Ausdruck charakterisiert, »der noch mehr bedeutet und in sich ahnen läßt, als er eigentlich ausspricht«, der andererseits vor allem Nachdruck bedeutet (255). Die romantisch-idealistische Ästhetik bringt mit dem Begriff Bedeutsamkeit die prinzipielle Unbegrenztheit des Sinnes in der Kunst zur Geltung (263). In allen drei Bestimmungen wird auf den Sinnüberschuss des als bedeutsam Empfundenen verwiesen. Dies bedeutet, dass die Kategorie der Bedeutsamkeit für die Ästhetik eine besondere Wichtigkeit hat. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass die Kunst nicht der ausschließliche Anwendungsbereich für den Begriff der Bedeutsamkeit ist. Da in den folgenden Überlegungen von einer Zuordnung prägnanter Aussagen zu bedeutsamen Sachverhalten ausgegangen wird, sollen zunächst weitere begriffsgeschichtliche Belege, nun zum Begriff der Prägnanz, herangezogen werden, wobei ich mich dieses Mal auf die Resultate eines Teams japanischer Kollegen stützen kann. 12 Wir finden in der Metaphysica von A. Baumgarten den lateinischen Begriff »perceptio praegnans« übersetzt als »vielsagende Vorstellung«. Daneben findet sich in den Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften von G. F. Meier (1754) der Begriff »conceptus praegnans« übersetzt als »nachdrücklicher Begriff«. Ferner ist an Lessings Gebrauch des Wortes ›prägnant‹ zu erinnern. Im Laokoon finden wir es als Aufgabe der bildenden Kunst bezeichnet, »von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen

entierungsbedürfnis. Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften. Frankfurt a. M. 1991, S. 254–268. Einzelne Belege in Klammern im Text. 12 K. Aso/M. Kurosaki/T. Otabe/S. Yamauchi (Hrsg.): Onomasticon philosophicum. Tokyo 1989, S. 749 u. 617.

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Begriffsgeschichtlicher Exkurs

einzigen Augenblick darzustellen«, wobei betont wird, »daß jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunkt dieses einzigen Augenblicks nicht fruchtbar genug gewählt werden kann«. Lessing fügt an: »Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt.« An einer späteren Stelle des Textes wird dies ergänzt: »Die Malerei kann in ihren koexistierenden Kompositionen nur einen einzigen Augenblick der Handlung nutzen und muß daher den prägnantesten wählen, aus welchem das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten wird.« 13 Aus einem Vergleich dieser Belege mit den Ergebnissen der begriffsgeschichtlichen Untersuchung über Bedeutsamkeit ergibt sich eine große inhaltliche Verwandtschaft zwischen Prägnanz und Bedeutsamkeit. »Vielsagend«, »nachdrücklich« und »fruchtbar« sind als Charakteristika von Prägnanz allerdings nicht Qualitäten von Sachverhalten, sondern ihrer Präsentation, sei es im Sinne von Aussagen, sei es als Bedingung der Darbietung, wie es im Fall der Auswahl des »prägnantesten Augenblicks« gegeben ist. Dieser Befund dürfte auch in etwa der heutigen umgangssprachlichen Bedeutung der beiden Begriffe entsprechen. Sehen wir ab von der speziellen Terminologie der Gestaltpsychologie, so finden wir den Ausdruck prägnant in der Regel auf den Ausdruck und nicht auf den durch den Ausdruck beschriebenen Sachverhalt bezogen, wie umgekehrt eher ein Sachverhalt als seine Beschreibung als bedeutsam bezeichnet wird. Man kann nach heutigem Sprachgefühl etwas Bedeutsames sagen, aber man kann es nicht bedeutsam sagen. Wir können also sowohl von der Begriffsgeschichte wie vom umgangssprachlichen Gebrauch eine gewisse Berechtigung ableiten, eine besondere Zuordnung der beiden Begriffe vorzunehmen. Es ist zu vermuten, dass eine Entsprechung zwischen der Bedeutsamkeit eines Sachverhalts und der Prägnanz einer ihn betreffenden Aussage in der Art besteht, dass es zur Bedeutsamkeit eines Sachverhaltes gehört, nur durch eine prägnante Aussage repräsentiert zu werden, und dass es zu prägnanten Aussagen nur kommt, wenn über bedeutsame Sachverhalte zu reden ist.

G. F. Lessing: Werke, hrsg. v. K. Eibl u. a., Band 6 München 1974, S. 25 f. u. S. 103. – Herrn Professor Tanehisa Otabe, Kobe, verdanke ich den Hinweis, dass auch Leibniz diesen temporalen Aspekt der Prägnanz kannte: »Praeteritum est prägnans futuri.« Brief an des Bosses, in: G. W. Leibniz: Die philosophischen Schriften, hrsg. v. C. J. Gerhardt, Bd. 2, Berlin 1879, S. 424.

13

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Bedeutsamkeit und Befremdlichkeit

Man kann eine solche – vielleicht allzu eng und ausschließlich erscheinende – Zuordnung dadurch verdeutlichen, dass man nach der Art der Pointierung fragt, die einem als bedeutsam aufgefassten Phänomen zukommen kann. Es ist offenkundig, dass wir es, als Sinnzusammenhang aufgefasst, gerade dadurch als interpretationsbedürftig empfinden, dass eine eindeutige Pointierung nicht vorliegt. Im Gegensatz zur Sinndefizienz des Befremdlichen verlangt der Sinnüberschuss des Bedeutsamen jedoch nicht eine plausible Erklärung und die dadurch erzielte Reduktion von Komplexität. Der Sinnüberschuss des bedeutsamen Phänomens soll nicht (weg-)erklärt, sondern artikuliert werden, ja das Bedeutsame wird durch eine solche Artikulation überhaupt erst voll konstituiert. Dieser enge Zusammenhang von Bedeutsamkeit und Prägnanz kann auch noch einmal begriffsgeschichtlich erläutert werden, und zwar durch den Rekurs auf den älteren hermeneutisch-rhetorischen Begriff der Emphase. Es ist wichtig zu sehen, dass das semantische Spektrum »vielsagend – nachdrücklich – fruchtbar« in Zusammenhang gebracht werden kann mit der Tatsache, dass das um 1800 aufkommende Wort »Bedeutsamkeit« teilweise an die Stelle des Wortes »Emphase« tritt und dass andererseits um die Mitte des 18. Jahrhunderts das deutsche Wort »nachdrücklich« durch die lateinischen Begriffe »emphaticum«, »praegnans« und »significans« wiedergegeben werden konnte. Der »emphatische« Begriff erhält seine Nachdrücklichkeit von dieser begriffsgeschichtlichen Entwicklung her gesehen u. a. dadurch, dass er einen Sachverhalt nicht exakt festlegt, sondern prägnant artikuliert. 14

6.

Bedeutsamkeit und Relevanz

Dies führt zu einer weiteren Abgrenzung, die zwar wiederum erkauft ist durch eine gewisse terminologische Härte, für die Herausarbeitung des Phänomens Bedeutsamkeit jedoch hilfreich sein mag. Das Bedeutsame kann zunächst unterschieden werden von dem, was unbedeutend oder belanglos ist. Bedeutsamkeit heißt immer: Herausgehobenheit aus der Region des Selbstverständlichen und dessen, was im Englischen »insignificant« heißt, also die graue Durchschnitt-

14

Vgl. Scholtz, a. a. O., S. 255 ff.

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Bedeutsamkeit und Relevanz

lichkeit und das routinemäßig zu Erledigende. Das Bedeutsame ist jedoch auch abzugrenzen gegenüber der eindeutig angebbaren Bedeutung, die ein Sachverhalt oder eine Aussage für einen übergreifenden Zusammenhang hat. Um diesen Gegensatz möglichst deutlich zu markieren, nenne ich diese eindeutig erfassbare Relation Relevanz. Ich verstehe darunter den in seinen wesentlichen Zügen bestimmbaren und abschätzbaren Stellenwert einer Sache innerhalb eines größeren Zusammenhangs, z. B. auch im juristischen Sinn. Da die Sinnzusammenhänge der Lebenswelt zu einem erheblichen Teil Handlungszusammenhänge sind, ergibt sich für jeden Menschen ein großes Pensum an ständigem Abgrenzen und Abwägen zwischen Prioritäten im jeweiligen Relevanzgefüge. Das Relevant-sein-für … darf nicht gleichgesetzt werden mit dem Bedeutsam-sein-für …, obwohl beide eine Teil-Ganzes-Relation darstellen. Die Bedeutsamkeit eines Teiles für das Ganze ist eine nie vollständig definierbare Werthaftigkeit, während die Relevanz eines Teiles funktional bestimmbar ist. Lebensvorgänge und geschichtliche Prozesse können das jeweilige Relevanzgefüge verschieben oder völlig beseitigen. Schon der simple Unterschied zwischen den jeweiligen handlungsrelevanten Kennzeichen, an denen ich mich bei der Einfahrt in ein Parkhaus und dann wieder beim Verlassen orientiere, zeigt die Schnelligkeit der Verschiebung solcher Relevanzgefüge. Die Betonung des jeweils nur relativen Stellenwerts einzelner Elemente im Ganzen eines Gefüges von Relevanzen bedeutet nicht Wert-Neutralismus oder Relativismus im Sinne einer rein instrumentellen Vernunft. Zweckrationalität, die einem einzelnen Relevanzgefüge seine Struktur gibt, ist in der Regel »nach oben« hin eingebunden in die Anerkennung von Werten und Normen, die fördernd oder hemmend in die Durchsetzung bestimmter Ziele eingreifen. So ist die Flucht aus einem brennenden Parkhaus von einer völlig neuen Hierarchie von Relevanzen bestimmt, deren Geltung jedoch dort an Grenzen stößt, wo z. B. die Art des eigenen Fliehens das Leben Anderer zusätzlich bedrohen könnte. Der animalischen Panik gegenüber tritt hier das Gebot der Besonnenheit auf, die als Tugend (Phronesis) geradezu dadurch definiert ist, das beständige Abwägen einzelner Relevanzen nicht nur im Blick auf praktische Zwecke, sondern vor allem auf geltende Werte und Normen zu leisten. Dies alles jedoch ergeht unter der Voraussetzung der Absehbarkeit der Relevanz im Sinne eines angebbaren Stellenwertes. Der Abgrenzung der Bedeutsamkeit nach zwei Seiten hin ent63 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Bedeutsamkeit und Befremdlichkeit

spricht eine solche der Prägnanz. Auch sie unterscheidet sich einerseits von der grauen Schicht belangloser, wenn auch nicht sinnloser Rede, wie sie gleichsam als Sägemehl der Verpackung von Handlungen oder als Schmieröl im Getriebe des Alltags gebraucht wird. Auf der anderen Seite ist Prägnanz deutlich zu unterscheiden von der Exaktheit eines Ausdrucks. Hier zeigt sich nicht nur eine Symmetrie der Entsprechung, indem auch hier das Vielsagende vom Eindeutigen abzugrenzen ist, sondern es lässt sich ein direkter Bezug zwischen Relevanz und Exaktheit erkennen; denn Genauigkeit hat nur dort einen Sinn, wo relevante Sachverhalte angegeben werden. Sie ergibt sich aus dem Erfordernis, einen Sachverhalt gleichsam in maßstabgerechter Anmessung an sein Relevanzgefüge zu präsentieren. Präzise Angaben sind deshalb in hohem Maße selektiv und »auf den Punkt gebracht«. Aber ist dieses »Auf-den-Punkt-bringen« nicht auch ein Charakteristikum prägnanter Aussagen? Durch sie erfahren Sachverhalte ja geradezu eine Pointierung, eine Zuspitzung. Der Unterschied liegt wohl darin, dass der »Punkt«, den die exakte Aussage bezeichnet, für diese der genaue Berührungs- und Einsatzpunkt innerhalb des Relevanzgefüges ist, während die Pointierung durch den prägnanten Ausdruck den Skopus markiert, unter dem der Sinnzusammenhang aufgefasst wird.

7.

Besonnenheit und evozierender Ausdruck

Die Fähigkeit, die Dinge aus dem unmittelbar andrängenden Handlungsdruck mit all seinen Relevanzen herauszulösen und um ihrer selbst willen treffend anzusprechen, ist in der anthropologisch-ästhetischen Literatur seit Herder immer wieder einmal auf die Besonnenheit des Menschen zurückgeführt worden, eine Besonnenheit freilich, die nicht als dianoëtische Tugend des Abwägen-könnens zwischen praktischen Relevanzen, Gütern, Werten und Normen verstanden wurde. Die Art der Besinnung und des Besinnlichen, die hier gemeint ist, besteht in der anthropologisch wichtigen Fähigkeit, den Dingen aus einer Distanz des Reflektierens gegenüber stehen zu können. So bestimmt Herder den Menschen als ein Geschöpf, das »nicht bloß erkennt, will und wirkt, sondern auch weiß, dass er erkenne, wolle und wirke«. Es war eine anthropologische Notwendigkeit, »daß wenn der Mensch kein instinktmäßiges Tier sein sollte, er vermöge 64 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Besonnenheit und evozierender Ausdruck

der freiwirkenden Kraft seiner Seele ein besonnenes Geschöpf sein sollte« 15. Während es für Herder in seinem Versuch, Sprachlichkeit überhaupt anthropologisch zu begründen, darum ging, als eigentlich menschliche Leistung die Herauslösung einzelner Ding-Merkmale durch besonnenes Verweilen auf den Dingen aufzuweisen, entwickelte sich die »Besonnenheit« seit ihrer Aufnahme in die Ästhetik bei Jean Paul 16 allmählich zu der Voraussetzung der Fähigkeit, die Dinge in ihrer Bedeutsamkeit zu erfassen. Schopenhauer und Dilthey beziehen sich ausdrücklich auf Jean Paul in ihrer jeweiligen Charakterisierung des künstlerischen Genies und betonen dessen Fähigkeit, sich in der Besonnenheit aus dem Eingesenktsein »in den Strudel und Tumult des Lebens« 17 und »aus der Jagd nach Zielen« 18 zu lösen. Es macht das künstlerische Genie aus, dass es im Gegensatz zur Geschäftigkeit des Alltagsmenschen »alles, was ihm begegnet, um seiner selbst willen betrachtet und jeden Eindruck als eine Nachricht auffaßt über das Innere der Dinge« 19. Er »erfaßt die Bedeutsamkeit des Lebens. Indem der Dichter von dem, was er gewahrt, nicht zum Handeln angeregt wird, wird die Menschenwelt ihm bedeutsam.« 20 Ich habe in früheren Arbeiten 21 die Leistung des Absehens von den Zwängen und Verlockungen funktionaler Erledigung und das Heraustreten aus den Kontexten jeweiliger Relevanzgefüge mit dem Begriff transfunktionale Realisation (oder Vergegenwärtigung) bezeichnet. Ich rechne die Fähigkeit zu dieser Leistung nicht zu den besonderen Merkmalen des Genies, speziell des künstlerischen, sondern glaube, dass es schon in sehr einfachen alltäglichen Situationen jedem Menschen möglich und häufig Bedürfnis ist, über die graue Zone der Selbstverständlichkeiten und über das funktionstüchtige Netz praktischer Relevanzen hinaus einen Sachverhalt aus seinen ge15 J. G. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache; in: Ders: Sprachphilosophische Schriften. Hrsg. v. E. Heintel. Hamburg 1960, S. 2. 16 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, § 12. Studienausgabe. Hrsg. v. N. Miller, 2. Aufl. München 1974. 17 A. Schopenhauer: Sämtliche Werke. Hrsg. v. A. Hübscher, Wiesbaden 1966, Bd. 3, S. 436. 18 W. Dilthey: Ges. Schriften, Band 6, S. 319. 19 W. Dilthey: Die große Phantasiedichtung, Göttingen 1954, S. 258. 20 W. Dilthey: Ges. Schriften, Band 6, S. 319. 21 F. Rodi: Erkenntnis des Erkannten, a. a. O., S. 178 ff. u. ö.

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Bedeutsamkeit und Befremdlichkeit

wohnten Bezügen zu lösen. Diese Art der Besonnenheit scheint mir in der Tat die Wurzel aller Bedeutsamkeitserfahrung zu sein und darüber hinaus eine der Wurzeln aller Kultur. Diese transfunktionale Realisation geschieht in der Regel nicht sprachlos (das Wort auch im Sinne von »innerem Sprechen« genommen), sondern auf dem Weg des objektivierenden Mitkonstituierens der Bedeutsamkeit durch Sprache. Damit kommen wir auf den oben behaupteten Zusammenhang von Bedeutsamkeit eines Sachverhalts und Prägnanz der Aussage über ihn zurück. Vor dem Hintergrund des bisher Entwickelten wäre also noch einmal zu fragen, inwiefern eine Erfahrung von Bedeutsamkeit sich aus der Wechselbeziehung von Sachverhalt und Aussage im Zeichen nachdrücklichen Sinnüberschusses verstehen ließe. Ich nehme noch einmal den Begriff der Anmutung auf, und zwar die Bedeutung, in der dieser Begriff im Umkreis des Göttinger Philosophen Georg Misch in einem hier interessierenden Zusammenhang gebraucht wurde. Misch weist in seinen Vorlesungen Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens darauf hin, dass das Wort »anmuten« ursprünglich als Ersatz für das Fremdwort »interessieren« von Wieland und Goethe förmlich in die Schriftsprache eingeführt worden ist. 22 Misch gebraucht das Wort vor allem in der Form »das Anmutende«, um z. B. eine Abgrenzung gegenüber dem Phänomen des »Eindrucks« vorzunehmen: »Während bei dem Begriff des Eindrucks das auf uns Einwirkende, die Kraft also, im Vordergrund steht, so hier, bei dem uns Anmutenden, seine Bedeutsamkeit.« 23 Die Art der Aussagen, die eine solche Bedeutsamkeit erschließen, nennt Misch »evozierende« Ausdrücke im Gegensatz zu »rein diskursiven« Aussagen. Solche evozierenden Ausdrücke sind das Mittel, »um den Gegenstand in seiner Bedeutsamkeit sehen zu lassen. Die Realität selbst soll hingestellt werden; nicht Aussagen über sie gemacht werden, sondern durch Aussagen hindurch soll das Verständnis in die erlebte Realität selbst hineintreten, sich von ihm erfüllen lassen. Zwischen Ausdruck und Gegenstand findet ein Verhältnis der Immanenz statt derart, dass das,

22 G. Misch: Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens. Göttinger Vorlesungen über Logik und Einleitung in die Theorie des Wissens. Hrsg. v. G. Kühne-Bertram und F. Rodi, Freiburg/München 1994, S. 514. 23 G. Misch, a. a. O., S. 514 f.

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Besonnenheit und evozierender Ausdruck

was ausgesagt wird, in das Leben des Gegenstandes hineinführt, in der Entfaltung es zugleich gestaltet.« 24

Die Bedeutsamkeit des Gegenstandes ist nicht dessen »objektive« Qualität, sondern entsteht im zirkulären Prozess von Anmutung und treffendem Wort. Misch zitiert aus einem Aufsatz von H. Jacob: »In den Worten […] selbst konkretisiert sich etwas, das vor dem Aussprechen derselben […] noch nicht da war und nicht so da war.« (523) Das von Misch gebrauchte Bild von der »treffenden« Kraft des Wortes hat dann sein Schüler Josef König aufgenommen in seinem Aufsatz von 1957 über Die Natur der ästhetischen Wirkung. 25 König gebraucht zwar weder den Begriff der Bedeutsamkeit noch den des evozierenden Ausdrucks, aber er bleibt der Sache nach doch sehr nahe an Mischs Grundposition orientiert. Auch er spricht davon, dass die ästhetische Wirkung eines Gegenstandes in einem Uns-anmuten oder -anwehen bestehe, und dass in diesem Angemutet-sein die »Ermächtigung« zu einem treffenden Aussprechen dieses Auf-uns-wirkens liege. Erst im treffenden Ausdruck werde die ästhetische Wirkung »zur Welt gebracht«. Es liegt hier also eine zirkuläre Struktur vor: Der Gegenstand entbindet in seinem Anmutungscharakter eine treffende Aussage, die in ihrer Prägnanz überhaupt erst seine Bedeutsamkeit »zur Welt bringt«. Diese zirkuläre Struktur ist der von Misch beschriebenen sehr ähnlich: ein »Bezug zu einem ›Bestimmt-Unbestimmten‹, der uns in die Bewegung zu ihm hinversetzt, damit wir nachbildend in die Bewegung von ihm her hineinkommen« 26. Ich sehe in dieser Weiterführung bestimmter Fragestellungen Diltheys ein noch immer tragfähiges Fundament für den Aufbau einer Hermeneutik, in der unseren Intentionen gemäß die Sonderstellung bestimmter Interpretationen bedeutsamer Texte und Werke berücksichtigt werden kann. Da ich die Anknüpfung an der Position Mischs in verschiedenen Arbeiten durchzuführen versucht habe, beschränke ich mich, was dieses Fundament betrifft, auf diese kurze Andeutung A. a. O., S. 519. J. König: Vorträge und Aufsätze. Hrsg. v. G. Patzig. Freiburg/München 1978, S. 256–337 26 G. Misch: Lebensphilosophie und Phänomenologie. 3. Auflage Darmstadt 1967, S. 87. 24 25

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Bedeutsamkeit und Befremdlichkeit

und wende mich abschließend derjenigen Interpretation zu, die ich in den vergangenen Jahren verschiedentlich als epidigmatisch zu charakterisieren versucht habe. Ich gehe aus von dem einfachen Unterschied zwischen den bisher aufgeführten Leistungen des Verständlich-machens in explanatorischer und explikativer Interpretation und einer darüber hinausgehenden Möglichkeit, Erfahrungen von Bedeutsamkeit zu artikulieren. Es gibt Formen der Begegnung mit objektiviertem Sinn, deren Artikulation sich nicht so vollzieht, dass in erster Linie die eigene Betroffenheit, das Mich-angehen, thematisiert wird. Dieses Betroffensein wird gleichsam als selbstverständliche Voraussetzung genommen, um auf dem so aufgelockerten Boden eine Annäherung an den bedeutsamen Gegenstand zu ermöglichen, die man als eine Form des Sehen-lassens oder Sichtbar-machens bezeichnen kann. Es handelt sich dabei um einen sehr intensiven Sachbezug, der freilich nichts zu tun hat mit einem beliebigen Verfügen-können über die Sache. Der bedeutsame Gegenstand ist nicht frei verfügbar für eine so oder ganz anders geartete Repräsentation, sondern realisiert sich in der sprachlichen Formulierung erst voll in dem, als was er sich uns zeigt. Zwischen ihm und dem ihn Auffassenden besteht ein Verhältnis der Wechselseitigkeit in dem Sinn, dass das Angemutet-sein durch den objektivierten Sinn eine Annäherungsbewegung in Gang bringt, die als ein wechselseitiges Aufeinander-zugehen aufgefasst werden kann. Man könnte von einem »Sog der Bedeutsamkeit« sprechen. Das ›Bestimmt-Unbestimmte‹ im bedeutsamen Gegenstand erweist sich als ein Spannungszustand, der sich dem Verstehenden als Artikulationsdruck oder ›Sprachnot‹ mitteilt. Es gibt in diesem Prozess der Annäherung das erlösende Wort, das nicht beruhigende Normalität erzeugt, sondern hermeneutische Evidenz. 27 Es findet eine »produktiv-objektivierende Artikulation« des nicht eindeutig pointierten Sinnzusammenhangs statt. Dies besagt: Während jede eindeutige Pointierung im Sinne einer Subsumtion den Schwebezustand wechselseitiger Entsprechung abbrechen würde, hält die Artikulation des bestimmt-unbestimmten Sinns in der Prägnanz ihrer Formulierung jedes vorschnelle Gerinnen zur Eindeutigkeit gleichsam vor der Tür, während sie gleichzeitig in sachlich treffendem, produktiv-objektivierendem Den in diesem Zusammenhang früher gebrauchten Begriff der »aufschließenden Plausibilität« (vgl. Anm. 8) möchte ich durch den hier eingeführten Begriff der »hermeneutischen Evidenz« ersetzen. (Vgl. o. S. 12. – 2015)

27

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Besonnenheit und evozierender Ausdruck

Aussprechen des Gegenstandes ihn erst völlig zu dem macht, als was er uns angemutet hat. Der Vorschlag, 28 diese Art der Interpretation ›epidigmatisch‹ zu nennen, geht aus von dem Unterschied zwischen der rein deiktischen Leistung des Hinweisens auf etwas und der epideiktischen Vorführung einer Sache im Sinne der antiken Rhetorik. Die Epideixis ist nicht bloßes Zeigen, sondern Sehen-lassen, Aufzeigen, Zur-Schaustellen. Nun hat sich allerdings mit dem Begriff des Epideiktischen eine negative Wertung verbunden, indem unter einer epideiktischen Rede die bloße Prunkrede verstanden wird. Leitet man von dem Verbum ἐπιδείκνυμι die grammatikalisch gleichfalls mögliche Form ›epidigmatisch‹ (in Analogie zu ›paradigmatisch‹) ab, so lässt sich mit diesem künstlich gebildeten Terminus das Spezifische derjenigen Interpretation bezeichnen, die über die applikative Leistung der Artikulation des Mich-angehens hinausführt in »die Sache selbst«, die freilich immer bedeutsam, d. h. herausgehoben durch eine SinnAffluenz bleibt. Im Gegensatz zur abschließenden Plausibilität von Erklärungen verlangt die epidigmatische Interpretation eine Art der hermeneutischen Evidenz, die selbst wiederum den Ausgangspunkt weiterer Artikulation von Sinn bildet. Die epidigmatische Interpretation kommt nie ans Ende.

28

Vgl. Anm. 8.

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Diesseits der Pragmatik Semiotische und hermeneutische Aspekte der Reflexivität des Lebens

1.

Semiotik und Hermeneutik

Es gehört zu den zunächst überraschenden Ergebnissen der seit Mitte der sechziger Jahre hierzulande intensiv geführten Diskussion um den wissenschaftstheoretischen Stellenwert der Hermeneutik, dass sie für den methodologischen Bedarf der historisch-hermeneutischen Wissenschaften verhältnismäßig wenig gebracht hat. Bei näherem Zusehen lassen sich hierfür jedoch mehrere Gründe angeben, die sämtlich mit der Tatsache zu tun haben, dass diese Diskussion in ihren groben Zügen von einem fundamental- bzw. transzendentalhermeneutischen Ansatz ausging, demgegenüber der methodologische Aspekt sich als sekundär erwies. Dies zeigte sich schon in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit Gadamers Buch Wahrheit und Methode, in der sich immer wieder das Missverstehen des ausdrücklich nicht-methodologischen Ansatzes störend bemerkbar machte. Aber auch dort, wo »die« Hermeneutik in eine produktive Konfrontation mit Positivismus, Pragmatismus und Marxismus gebracht wurde, 1 geschah dies auf einer Ebene, wo für Fragen der geisteswissenschaftlichen Methode wenig Platz blieb. Hinzu kommt, dass diese Auseinandersetzung zu einem nicht unerheblichen Teil nicht die Geisteswissenschaften im engeren Sinn, sondern die Sozialwissenschaften betraf und von dort her kommende Resultate nicht unmittelbar auf die interpretierenden Wissenschaften anwendbar machte. Die vermutlich fundamentalste und in ihren Wirkungen noch

Man kann es im Rückblick auf die sechziger und siebziger Jahre bereits als Desiderat der Philosophiegeschichtsschreibung bezeichnen, die Phasen dieser aufarbeitenden Auseinandersetzung, wie sie vor allem von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas geleistet worden sind, als Entwicklungsphasen der Philosophie in Westdeutschland sehen zu lernen.

1

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Semiotik und Hermeneutik

längst nicht abschätzbare Auseinandersetzung innerhalb dieses Gesamtvorgangs ist diejenige zwischen Hermeneutik und Semiotik. Sie ist in der Form, wie vor allem Karl-Otto Apel sie durchgeführt hat, 2 eine nicht eigentlich zwischen zwei, sondern drei Positionen vollzogene Vermittlung bzw. Abgrenzung; denn die Unterscheidung innerhalb des semiotischen Ansatzes zwischen den Forschungszielen des großen Anregers Ch. S. Peirce und den behavioristischen Verkürzungen dieses Programms durch Ch. W. Morris erforderte eine entsprechende Differenzierung im Hinblick auf die hermeneutische Gegenposition und die Möglichkeiten einer Synthese. So hat Apel deutlich machen können, wie auf der einen Seite hermeneutische Phänomenologie und pragmatisch-semiotische wie auch sprachanalytische Sinnkritik gegen das von ihnen unter verschiedenen Vorzeichen erhobene Postulat der Verständigung konvergieren, 3 wie andererseits aber die behavioristische Reduzierung des Sinns von Zeichen auf Verhaltensdispositionen gerade dieses Postulat des vorgängigen Verständigungsrahmens überflüssig macht und das Zeichen-verstehende Subjekt auf ein Objekt der empirischen Sozialwissenschaften reduziert. 4 So grundlegend diese Untersuchungen für die wechselseitige Aufarbeitung der kontinentaleuropäischen und der anglo-amerikanischen Denktraditionen sind – die hierbei sich abzeichnende Transzendentalhermeneutik gibt den interpretierenden Wissenschaften »nur« jenen allgemeinsten Rahmen der Bedingungen der Möglichkeit ihres Arbeitens, den sie mit jeder Interaktionsgemeinschaft teilen, die zugleich Interpretationsgemeinschaft ist. 5 Dieses »nur« wiegt dann 2 Vgl. vor allem: K.-O. Apel: Szientismus oder transzendentale Hermeneutik? Zur Frage nach dem Subjekt der Zeicheninterpretation in der Semiotik des Pragmatismus; in: Transformation der Philosophie, Bd. II: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Frankfurt a. M. 1973. – Ders.: C. W. Morris und das Programm einer pragmatisch integrierten Semiotik. Einführung zu: Charles W. Morris: Zeichen, Sprache und Verhalten. Dt. Übers. Von A. Eschbach u. G. Kopsch. Düsseldorf 1973. 3 Vgl. u. a. Apel: Transformation I, S. 29. 4 Apel: Transformation II, vor allem S. 183. 5 Das von Apel und Habermas als das erkenntnisleitende Interesse der Geisteswissenschaften herausgearbeitete Ziel der »Wahrung der Intersubjektivität einer Verständigung, in deren Horizont die Wirklichkeit erst als etwas erscheinen kann« (Habermas: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a. M., 2. Aufl. 1973, S. 222) hat in seiner offenkundigen Orientierung an den Sozialwissenschaften einige genuine Interessen der interpretierenden Wissenschaften gleichsam übersprungen. Dies lässt sich außerhalb

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Diesseits der Pragmatik

schwer, wenn nach dem Spezifischen des hermeneutischen Fundaments dieser Wissenschaften gefragt ist. So konnte es nicht ausbleiben, dass vor dem Hintergrund jener so intensiv geführten Diskussion ihre applikablen Resultate als unverhältnismäßig vage erschienen und zu mancherlei kurzschlüssigem Rekurs auf relativ beliebige Ansätze innerhalb der hermeneutischen Tradition zwischen Schleiermacher und Habermas geführt haben. Die hier folgenden Untersuchungen verstehen sich als ein Beitrag innerhalb der sonach als notwendig erwiesenen Bemühungen, von der (Hoch-)Ebene der transzendentalhermeneutischen Reflexion ein Stück weit herunterzusteigen in Richtung einer Funktionsbestimmung der hermeneutischen Wissenschaften, was seinem systematischen Ort nach zwischen dem Aufweis der Bedingungen der Möglichkeit von Sinnverstehen und -verständigung und einer im engeren Sinn methodologischen Untersuchung liegen muss. Hierbei lassen wir uns den Bezugsrahmen insofern vorgeben, als die Kontrastierung von Semiotik und Hermeneutik auch für diese Betrachtungen leitender Gesichtspunkt und Orientierungsfeld einer phänomenologischen Analyse bleibt.

2.

Zwei Begriffe von »Pragmatik«

Für diese theoretische Erfassung des hier schon genannten Konvergenzpunktes »Verständigung« hat sich ein Terminus eingebürgert, der von seinem ursprünglichen Wortsinn her gesehen mit dieser Funktion wenig zu tun zu haben scheint: »Pragmatik«. Es war eine der plausibelsten (und den Siegeszug der Semiotik begründenden) Entdeckungen, dass es Signifikation ohne ein den Zeichenbenutzer voraussetzendes Applikationsschema, also die für den Interpreten gültige Anwendungsregel, die zugleich intersubjektive Geltung hat, nicht geben kann. Diese Entdeckung hatte schon Peirce zu der Erweiterung der traditionellen Zeichentheorie geführt, indem er mit dem Begriff »Interpretant« diese im Zeichen vorausgesetzte (bzw. etwas überhaupt erst zum Zeichen machende) virtuelle Applikation als ein drittes Konstituens neben den Zeichenträger und das von ihm Beder schon zitierten Literatur auch aufzeigen in Apels Aufsatz Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen; in: K.-O. Apel (Hrsg.): Sprachpragmatik und Philosophie. Frankfurt a. M. 1976, vor allem S. 138 ff.

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Zwei Begriffe von »Pragmatik«

zeichnete stellte. Diese Dreistelligkeit des Zeichens wurde dann von Morris in seiner Theorie der drei Dimensionen der Semiotik (Syntaktik, Semantik und Pragmatik) systematisiert. Hierbei kam der Pragmatik, also der Relation Zeichen – Zeichenbenutzer, vom methodischen Ansatz her schon deshalb besondere Bedeutung zu, weil das Interpretieren von Zeichen behavioristisch nur als Reagieren auf Zeichen, d. h. als empirisch beobachtbares, zeichengeleitetes Verhalten, angenommen werden konnte. Das Grundmodell von Morris war der (keineswegs nur menschliche) Organismus, der seine Bedürfnisse zu befriedigen sucht und dabei auf Reize reagiert, die ihm ein noch abwesendes Objekt als ein erreichbares oder zu vermeidendes signalisieren. 6 Was einen Gegenstand oder Sachverhalt zum Zeichen macht, ist diesem Modell gemäß vor allem der Umstand, dass er für den Organismus und dessen Verhaltensdispositionen dasjenige Objekt vertritt, bei dessen Erreichung eine bestimmte Reaktionsfolge zum Abschluss kommt. In der Terminologie des Morris’schen Hauptwerkes von 1946 gesagt: Das »Denotat« eines Zeichens ist alles, »was den Abschluß der Reaktionsfolgen ermöglicht, zu denen der Interpret aufgrund eines Zeichens disponiert ist«. 7 Dies kann an dem von Morris selbst bevorzugten Paradigma des Pawlow’schen Hundes deutlich gemacht werden: Der Summton ist insofern ein Zeichen, als er dem Zeichenbenutzer dasjenige denotiert, was den Abschluss der von dem Summton ausgelösten Reaktionsfolge ermöglicht, also das Futter. Diesem Ansatz entsprechend wird auch das Signifikat eines Zeichens definiert als »Gruppe der Abschlußbedingungen, unter denen die Reaktionsfolgen, zu denen der Organismus disponiert ist, vervollständigt werden können« 8. Wiederum bezogen auf den Pawlow’schen Hund bedeutet dies: Dass Futter als ein von einem Summton denotiertes Objekt erscheinen kann, steht unter den besonderen Bedingungen des Fressbedürfnissses und der Verhaltensdisposition, auf einen Summton hin Futter zu erwarten. Diese »Gruppe von Abschlussbedingungen« wird von Zeichen signifiziert, das den Abschluss ermöglichende Objekt wird denotiert. In der mannigfachen Kritik, die dieser behavioristische Ansatz (vor allem hinsichtlich der Verkürzung der ursprünglichen Intentio6 7 8

Morris: Zeichen, Sprache und Verhalten, S. 80 ff. Ebd., S. 92 Ebd., S. 93.

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Diesseits der Pragmatik

nen von Peirce und Mead) erfahren hat, ist selten hervorgehoben worden, welche Bedeutung dem Abschlusscharakter des Denotates zukommt. Die pragmatische Funktion des Zeichens besteht diesem Ansatz gemäß ursprünglich darin, beim Zeichenbenutzer unter besonderen Bedingungen eine Verhaltensdisposition im Hinblick auf ein den Verhaltensvorgang abschließendes Denotat auszulösen. Damit steckt in diesem Ansatz die stillschweigende Voraussetzung, für zeichenvermittelte Vorgänge die Norm der funktionalen Erledigung einer Aufgabe anzuerkennen. Mit Hilfe von Zeichen soll ein Ziel erreicht, ein Bedürfnis befriedigt, eine Reaktionsfolge erfolgreich zum Abschluss gebracht werden. Dieses Grundmodell der funktionalen Erledigung lässt sich auf die Formel bringen: Die Aktionswelt des bedürfnisgetriebenen Organismus ist repräsentiert durch zwei Gruppen von Sachverhalten: Agenda und Acta. Sie charakterisieren nicht nur die temporale Struktur (Zukünftiges und Vergangenes) der Handlungswelt, sondern vor allem das Zentriert-sein dieser Handlungswelt in den Kategorien von Handlungsziel und Handlungserfolg. Pragmatik ist ihrer ursprünglichen Konzeption nach die Lehre desjenigen zeichenvermittelten Verhaltens, das im Kontext von Agendum und Actum die Sicherung des in Aussicht genommenen Erfolges betreibt. Vor diesem Hintergrund ist es schwer, den Zusammenhang mit dem zu erkennen, was heutzutage kommunikationstheoretisch unter »Pragmatik« verstanden wird. Das vermittelnde Glied ist die von Morris selbst in seinem Hauptwerk in das Zentrum der Untersuchung gestellte Sprache als Zeichensystem. Das sprachliche Zeichen kann syntaktisch hinsichtlich seiner Gestalt, semantisch hinsichtlich seiner Bedeutung und pragmatisch hinsichtlich der Weisen und Möglichkeiten seines Gebrauchs semiotisch betrachtet werden. Dieses lange Zeit wenig beachtete Theorem hat eine (von modischen Begleiterscheinungen nicht freie) Aktualität erhalten, als sein innerer Zusammenhang mit der Pointe der Philosophie des späten Wittgenstein und der sprechakt-theoretischen Phase der Ordinary Language Philosophy erkannt wurde und die Möglichkeiten seiner Anwendung innerhalb einer dialogisch oder emanzipatorisch orientierten Kommunikationstheorie durchgespielt wurden. So ist »Pragmatik« heute die weithin akzeptierte Bezeichnung für die Theorien bzw. den Phänomenbereich der durch Sprechhandlungen intersubjektiv vollzogenen Verständigungsleistungen. Dies hat mit dem behavioristischen Grundmodell nur noch wenig zu tun und ist ihm – im Extremfall 74 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Handlungsmarke und Handlungsmal (Die Kategorie des Perfectum)

der Habermas’schen »Universalpragmatik« – hinsichtlich der anthropologischen und methodologischen Voraussetzungen sogar konträr entgegengesetzt. Bei aller Gegensätzlichkeit dieser Positionen bleibt aber doch ein Rest von Gemeinsamkeit, der von der gemeinsamen Herkunft aus dem Pragmatismus stammt: Die Kategorie des Agendum, die als Grundkategorie des handelnden Lebens bezeichnet werden kann, bestimmt auch die Sprachpragmatik insofern, als auch Sprachhandlungen ihre Struktur von einem Ziel her erhalten und durch Zeichen auf dieses Ziel hin vermittelt sind. Diese doppelte Richtung des finalen Bezugs ist in der gerundivischen Form der Kategorie des Agendum ausgedrückt. Für die Analyse der formalen Struktur ist es relativ unwesentlich, ob die zeichenvermittelte Aktion als Bedürfnisbefriedigung des Organismus oder als sprachliche Verständigungshandlung mündiger Subjekte anzusehen ist, sofern nur das Verständigungsziel die vermittelnden Zeichen zu instrumentellen Komponenten macht und den Regeln des Sprachspiels gemäß in den Spannungsbogen des Agendum funktional eingliedert. Dies zu betonen beinhaltet nicht den Versuch der Relativierung einer Kommunikationsethik, 9 sei es unter szientistischem oder romantischem Vorzeichen. Diese hat ihr gutes Recht in der Freilegung des transzendentalen Rahmens rationaler Verständigung und den damit verbundenen Postulaten. Nur sollte das in diesen Ansatz eingegangene hermeneutische Konstituens nicht auf Seiten der hermeneutischen Wissenschaften die Erwartung wecken, das für ihre Arbeit grundlegende Kommunikationsmodell sei hier schon entwickelt.

3.

Handlungsmarke und Handlungsmal (Die Kategorie des Perfectum)

Der fundamentalen Struktur des Agendum ist noch auf dem Boden der Semiotik, jedoch in der Absicht, diesen Boden zu verlassen, eine andere gegenüberzustellen, die uns dem spezifischen methodologischen Bedürfnis der hermeneutischen Wissenschaften näherbringt. Mit diesem von Apel übernommenen Begriff sei hier die gemeinsame Richtung der Transzendentalpragmatik Apels und der Universalpragmatik von Habermas bezeichnet.

9

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Diesseits der Pragmatik

Wir gehen aus von einem einfachen Beispiel. Die Vormerkung eines Termins in einem (früher übrigens mit der Aufschrift »Agenda« versehenen) Taschenkalender ist ein Zeichen, das uns vielleicht nicht nur helfen soll, den Termin in Erinnerung zu behalten, sondern das während eines gewissen Zeitraums vor der Fälligkeit des Agendum unser Handeln mahnend, ermunternd, warnend, vielleicht auch lähmend, beeinflusst. Ist der Termin erreicht und das Agendum erledigt, d. h. zum Actum geworden, kann das Zeichen »ad acta« gelegt werden, was im Falle eines Taschenkalenders in der Regel zu Beginn des folgenden Jahres geschieht. Was ist nun aus den Termineintragungen geworden? Aus Instrumenten im Dienste der Agenda sind sie zu Spuren der Acta und damit funktionslos geworden, sofern nicht die Aufgabe der Rekonstruktion meiner vergangenen Tätigkeit diese Spuren als Zeichen mit einem neuen Agendum in Beziehung bringt. Die beiden Typen von Zeichen, die hier zu unterscheiden sind, seien mit den Namen Handlungsmarke und Handlungsspur bezeichnet. Die Handlungsmarke ist das innerhalb des Handlungsbogens (Agendum) relevante Orientierungssignal, das in der Regel im sympraktischen Kontext vorgegeben ist, aber auch (wie in unserem Beispiel) von Einzelnen im Hinblick auf ein Ziel gesetzt wird. Handlungsspuren sind entweder die durch Beendigung der Handlung oder Wechsel des Bezugsrahmens irrelevant gewordenen Marken; oder »Überreste« im Sinne der Unterscheidung Droysens zwischen Überresten, Denkmälern und Quellen als den Hauptformen des historischen Materials. 10 Sie sind als Zeichen nicht intendiert, sondern gleichsam nur vorhanden, und repräsentieren Teile oder das Ganze des in der Regel nicht befragten Actums. Kehren wir noch einmal zu unserem Beispiel zurück. Es kommt nun vor, dass der Taschenkalender nicht nur der Vormerkung zukünftiger, sondern zugleich der bleibenden Vergegenwärtigung vergangener Ereignisse dient. Man nehme etwa an, die Vormerkung eines Sitzungstermins werde im Nachhinein mit einem Ausrufezeichen versehen oder mit einem wertenden Zusatz. Der Zeichencharakter wird sich damit völlig verändern. Im Gegensatz zur bloßen Handlungsspur, die einen intendierten Sinn nur noch konserviert, wendet sich das neue Zeichen direkt an mich und ist damit der Handlungsmarke J. G. Droysen: Historik. Textausgabe v. P. Leih. Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 71 ff.

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Handlungsmarke und Handlungsmal (Die Kategorie des Perfectum)

zu vergleichen. Im Unterschied zu ihr aber ist seine Funktion innerhalb des Zusammenhangs eines Agendum erheblich reduziert, wenn nicht überhaupt verschwunden. Es bezieht sich im »Sprachspiel« des Sich-erinnerns auf ein Vergangenes, dessen Bedeutung es interpretierend festhält. Seine Funktion besteht also vor allem darin, das Actum vor dem Absinken in die Selbstverständlichkeit des Erledigten zu bewahren. Es setzt ihm gleichsam ein Denkmal. In diesem Sinne (und wiederum im Anklang an die Droysen’sche Unterscheidung zwischen »Überresten« und »Denkmälern«), sei dieser dritte Zeichentyp hier Handlungsmal genannt. Das Handlungsmal unterscheidet sich von der Handlungsspur durch sein Intendiertsein; von der Handlungsmarke durch den geringeren oder völlig fehlenden Bezug zum Agendum. Indem es ein Actum nicht nur als Spur oder Überrest indexikalisch repräsentiert, sondern gegenständlich macht, enthält es ein Moment der Reflexivität, das die Struktur des Actum verändert. Dieses wird zum denkwürdigen Sachverhalt, dessen Vergegenwärtigung durch das Handlungsmal gewährleistet werden soll. So unterscheidet sich zum Beispiel das Begräbnis vom bloßen Verscharren eines Leichnams durch das als Handlungsmal gekennzeichnete Grab, dessen frische Erde sonst nur Spur eines Actum wäre; so wird das physische Sich-durchgesetzt-haben der überlegenen Partei erst dadurch zum Sieg, dass dieser symbolisch behauptet und anerkannt wird. In diesem Sinne sind Trophäen und Inschriften Handlungsmale, wie auch ihre Äquivalente im Massentourismus: Souvenirs und Fotoalben. Die anthropologische Bedeutung der Reflexivität des menschlichen Wissens 11 erfährt durch diese Leistung des Handlungsmals eine Bestätigung: die »Umweltgebundenheit« des Tieres kann förmlich dadurch definiert werden, dass das Tier nicht fähig ist, aus den engmaschigen Netzen seiner biologischen Agenda, wie Nahrungssuche, Revierbehauptung, Nestbau usw., herauszutreten und Handlungsmale zu setzen. Oder anders gewendet, wenn es gelänge, Ansätze tierischer Signifikation zu finden, die der Vergegenwärtigung abgeschlossener Handlungen dienten, würde, damit eine Wurzel möglicher tierischer Sprachlichkeit freigelegt sein. Dies aber – so hat man es seit Herder sehen gelernt – ist Leistung der menschlichen Vgl. den für unsere Untersuchung im Ganzen wichtigen Abschnitt: Die Reflexivität des menschlichen Wissens vom Leben; in: G. Misch: Lebensphilosophie und Phänomenologie. 3. Aufl. Darmstadt 1967, S. 72 ff.

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Diesseits der Pragmatik

»Besonnenheit« 12 und man müsste für die Zwecke dieser Untersuchung Herders Satz vom Menschenwesen, das »nicht bloß erkennt, will und wirkt, sondern auch weiß, daß es erkenne, wolle und wirke« 13 ergänzen: »und das sein Wissen um sein Erkennen, Wollen und Wirken objektiviert«. In der objektivierenden Leistung des reflexiv auf die Handlung bezogenen Handlungsmals wird das transitorische, momentan erreichte Actum gleichsam mit einer – in der Musik üblichen – »Fermate« versehen und so erfasst, wie Herder dies als Voraussetzung von Sprachlichkeit geschildert hat: Der Mensch »beweist Reflexion, wenn er aus dem ganzen schwebenden Traum der Bilder, die seine Sinne vorbeistreichen, sich in ein Moment des Wachens sammeln, auf einem Bilde freiwillig verweilen, es in helle ruhigere Obacht nehmen und sich Merkmale absondern kann, dass dies der Gegenstand und kein anderer sei«. 14

In der so vollzogenen Artikulation des scheinbar selbstverständlichen Actum, über das der tierische Organismus immer schon hinaus ist beim nächsten Agendum, liegt, wie wir sagen wollen, die Erhebung des aus der Selbstverständlichkeit geholten Actum zum Perfectum. 15 So, wie das grammatische Perfekt als »Vollendung in der Gegenwart« diese Gegenwart mitkonstituiert (»ich habe gesehen« = »ich weiß«, vgl. griechisch: οἶδα), soll auch die Kategorie des Perfectum zum Ausdruck bringen, dass Vergangenes als Erreichtes oder Geschaffenes repräsentiert und signifiziert werden kann, um für Gegenwart und Zukunft wirksam zu bleiben. Das Perfectum ist nicht das schlechthin Abgeschlossene: Dies wäre das Actum »an sich«, das nur als Handlungsspur Fortbestand hat. Erst das Handlungsmal (z. B. die einfache Äußerung: »Ich habe dich verstanden!«) repräsentiert Vergangenes in einer die Gegenwart und Zukunft »angehenden« Weise. Dabei ist Durch diesen Begriff ist das Gemeinsame der anthropologischen Einsichten Herders und Schopenhauers repräsentiert. 13 J. G. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Hrsg. v. E. Heintel. Hamburg 1960, S. 22. 14 Ebd., S. 24. 15 Mit diesem Terminus darf freilich nicht unterstellt sein, dass dem durch das Handlungsmal vergegenwärtigten Actum eo ipso inhaltliche Qualität, Vollkommenheit oder gar Vorbildlichkeit zukomme. Auch der bestialische Mord ist ein Perfectum von dem Augenblick an, in dem der Täter zur Besinnung kommt und sich sagt: Ich habe gemordet. 12

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Handlungsmarke und Handlungsmal (Die Kategorie des Perfectum)

allerdings diese Form der »Angänglichkeit« durchaus zu unterscheiden von dem, was Heidegger unter diesem Namen herausgehoben hat. Gemäß seiner Analyse der »Geworfenheit« setzt das »Umsichtig besorgende Begegnenlassen« von Zuhandenem im Sinne eines »Angegangen-werdens« den nicht-reflexiven Bezug der Befindlichkeit voraus: »Die Befindlichkeit ist so wenig reflektiert, dass sie das Dasein im reflexionslosen Hin- und Ausgegebensein an die besorgte ›Welt‹ überfällt.« 16 Dies also ist die Struktur des völligen Aufgehens in der »Sorge« als dem transzendentalen Agendum, und es ist nicht zufällig, dass Heidegger in Sein und Zeit die Momente der anschauenden Betrachtung als bloßes »Begaffen« von »Vorhandenem« abqualifizierte. 17 Die Kategorie des Perfectum also drückt die formale Struktur des Bedeutsamkeitgewinnens aus und steht damit der Kategorie des Agendum konträr gegenüber, da in dieser das »besinnungslose« Fortgezogenwerden in der Linie der Handlungsmarken ausgedrückt ist. Es macht die Dialektik des Zusammenhangs beider aus, dass die Vergegenwärtigung des Abschlusses einer Handlung, auf den hin der spannungshafte Drang des animalischen Bedürfnisses ursprünglich angelegt ist, erst mit der Abnahme dieser naturhaften Zielgerichtetheit, und das heißt: mit der zunehmenden Verwandlung von Handlungsmarken in Handlungsmale, möglich ist. Es ist nun unsere These, dass wir im Ausgang von der Semiotik erst mit diesem Schritt vom Agendum zum Perfectum auf diejenige fundamentale Kommunikationsstruktur stoßen, die von den elementarsten Leistungen des Lebens bis zu den komplexen diskursiven Aussagen der hermeneutischen Wissenschaften reicht und im Gegensatz zum Grundmodell der erfolgsorientiert-instrumentellen Zeichenvermittlung keiner Anpassung (um nicht zu sagen: Umbiegung) für die methodologische Fruktifizierung bedarf. Diese idealtypisch im Gegensatz zur »funktionalen Erledigung« herauszuarbeitende Struktur heißt: transfunktionale Vergegenwärtigung. 18

16 17 18

M. Heidegger: Sein und Zeit. 7. Aufl. Tübingen 1953, S. 136. Ebd., S. 61, 69, 263 u. ö. Im Original durchweg: »transfunktionale Realisation«. (2015)

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Diesseits der Pragmatik

4.

Transfunktionale Vergegenwärtigung

Für eine solche idealtypische Gegenüberstellung genügt es nicht, sich an gängigen Oppositionspaaren, wie Arbeit und Muße, Praxis und Theorie, Aktion und Reflexion, Vita activa und Vita contemplativa zu orientieren, wenngleich das Gemeinsame der in ihnen ausgedrückten Gegensätze auch unserer Unterscheidung zugrunde liegt und in der anthropologischen Bestimmung der »Besonnenheit« schon angesprochen ist. Wir versuchen vielmehr, uns die Vorteile des semiotischen Ansatzes zu Nutze zu machen, die darin liegen, dass das Grundmodell des funktionalen Reagierens auf Zeichen auf den allgemeineren Bezugsrahmen der Struktur des Sich-verhaltens zu Gegenständen und Sachverhalten hinweist und von da aus die spezifische Struktur des Sich-verhaltens zu Überlieferung thematisieren lässt. Hier stoßen wir nun zunächst auf den vielleicht allzu selbstverständlichen Befund, dass das Aushängen der funktionalen Reaktion im alltäglichen Lebensvollzug Diskontinuität bedeutet. Das nicht mehr selbstverständlich im Verweisungszusammenhang des Agendum Aufgehende wird »begafft«. Beschaulichkeit im Umgang mit Signalen kann in der Welt des technischen »Klappens« tödlich sein. Aber auch für die aus der Alltäglichkeit und Mittelmäßigkeit herausragenden, sogenannten Tatmenschen gilt, dass sie sich den Luxus jener »Fermate« der Besinnlichkeit, die sich im Handlungsmal ausdrückt, nicht leisten. So wird von Bismarck berichtet, dass er auf die Nachricht vom Attentat Nobilings auf Wilhelm I. spontan und ohne sich zu besinnen ausgerufen habe: »Jetzt lösen wir den Reichstag auf!« Sein Agendum der Schaffung einer gefügigen Mehrheit im Reichstag für das Sozialistengesetz ließ ihn so schnell reagieren, dass er nicht einmal nach dem Befinden des Königs fragte. 19 Dies veranschaulicht, was Heidegger mit dem »reflexionslosen Hin- und Ausgegebensein an die besorgte ›Welt‹« im Auge hatte. Dem lässt sich Goethes beschauliches Reagieren auf die Kanonade von Valmy gegenüberstellen, nach deren Ende, wie Goethe berichtet, »eigentlich einem jeden Besinnung und Urteil fehlte«. Er selbst setzte ihr ein Denkmal mit dem berühmten Wort: »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid

19

Vgl. H. A. Winkler: Das Attentat als Alibi. FAZ v. 09. 12. 1978.

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Transfunktionale Vergegenwärtigung

dabei gewesen.« 20 Zwei beinahe reine Fälle im Sinne unseres Schemas: hier der über den Dingen stehende Dichter, der die welthistorische Bedeutsamkeit der scheinbar sinnlosen Schießerei auf den Begriff bringt; dort der zweckdienliche Raubtier-Reflex des mitten in der Aktion stehenden Politikers. Da es uns hier nicht um Bewertung, sondern Deskription geht, wollen wir auch im Hinblick auf komplexere Phänomene von der prinzipiellen Gleichwertigkeit der beiden Möglichkeiten, der funktionalen Erledigung und der transfunktionalen Vergegenwärtigung, ausgehen. In den beiden folgenden Fällen wird dies besonders deutlich: 1) Transfunktionale Realisation ist nicht gebunden an eine kontemplative, praxisferne Haltung. Sie findet auch dort statt, wo ein technischer Verweisungszusammenhang zugunsten eines anderen Handlungszieles umfunktioniert wird und bisher selbstverständliche Handlungsmarken in ihrem Herausgelöstsein aus dem gewohnten Agendum intensiver realisiert werden. Jeder Bauherr weiß davon zu berichten, wie je nach dem Stadium des Hausbaus die alltäglichsten Dinge wie Türgriffe und Lichtschalter den Charakter ihrer »Zuhandenheit« vorübergehend verlieren, wenn es darum geht, entsprechende Gegenstände auszuwählen. Dieser Verfremdungseffekt, von dem übrigens die »Object Art« systematisch Gebrauch macht, dort aber in kontemplativer oder sozialkritischer Zuwendung zum Ding, hat beim Bauherrn seinen Grund im Auftreten eines neuen Agendum. – 2) Funktionale Erledigung ist nicht gebunden an Arbeit; es gibt sie auch im Spiel. Jedes Wettspiel hat den Charakter eines Agendum, das blitzschnelles Reagieren auf Zeichen verlangt. Der MußeCharakter solcher Veranstaltungen tritt allerdings häufig nicht hier, sondern im Anteil derer zutage, die während und nach dem Geschehen Handlungsmale setzen; denn Lob und Tadel, Beifall und Verriss sind elementare Formen des Handlungsmals, das konstitutiver Bestandteil öffentlicher »Darbietungen« ist. Doch auch die einfache Regelgebundenheit des kindlichen Spiels verlangt ein hohes Maß an funktionaler Erledigung, die allerdings von Schutzzonen der Unverbindlichkeit umgeben ist. Was heißt nun »transfunktional«? Die vielleicht befremdliche Wortbildung soll zum Ausdruck bringen, dass innerhalb des handelnden Lebens immer wieder der Ablauf zielgerichteter, zweckrationaler Vorgänge transzendiert wird auf BedeutJ. W. Goethe: Kampagne in Frankreich 1792; in: Sämtliche Werke (Gedenkausgabe), Bd. 12, S. 289.

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Diesseits der Pragmatik

samkeit hin. Transfunktionalität ist nichts der Funktionalität bloß Entgegengesetztes; so erscheint es nur in der idealtypischen Überzeichnung. Es ist der noch dem scheinbar völlig durchmechanisierten Handeln immanente Sinn, seine Voraussetzungen, Implikationen, Antizipationen und Virtualitäten, die in allmählicher Artikulation oder in plötzlichem Durchbruch vergegenwärtigt werden. 21 Über die alltäglichen »Fermaten« der Besinnlichkeit hinausgehend ist es vorzugsweise Sache der Religion, Kunst und Philosophie, die großen Akzente solcher Vergegenwärtigung zu setzen. Hierfür Beispiele auch nur aufzuzählen, ist überflüssig. Es ist jedoch zu betonen, dass nicht alle religiösen, künstlerischen und philosophischen Objektivationen zu den Handlungsmalen zu rechnen sind, in denen die vorübergehende Befreiung des Menschen vom »Sklavendienst des Willens« (Schopenhauer) zum Ausdruck kommt. Erwartungen, Sehnsüchte, »Dämmerung nach vorn« (Bloch), Weltentwürfe, ethische Postulate stehen in einem anderen, vielleicht näheren Verhältnis zum Agendum als die reflexiven Selbstauslegungen des Lebens. Dies im Einzelnen abzugrenzen, würde den Rahmen dieser Untersuchungen sprengen. Es muss nun vielmehr darum gehen, auf der bisherigen Linie noch einen Schritt weiter zu kommen.

5.

Die epidigmatische Funktion der Vergegenwärtigung

Dieser Schritt führt uns über die Orientierung am Paradigma des Kalenders hinaus, insofern als in dem dort noch zugrunde gelegten solipsistischen Verkehr eines Zeichenbenutzers mit seinen Zeichen bisher nur die potentielle Intersubjektivität betrachtet wurde. Zwar hat die Mehrzahl der übrigen hier herangezogenen Beispiele schon hinreichend deutlich gemacht, wie selbstverständlich die intersubjektive Verständigungsleistung auch desjenigen Zeichens ist, das für die transfunktionale Vergegenwärtigung steht. Goethes Bericht über die Situation, in der sein Wort über die Kanonade von Valmy fiel, gibt dafür einen schönen Beleg: Ein hübsches Beispiel für eine manipulierte transfunktionale Vergegenwärtigung inmitten eines bis ins Einzelne durchkalkulierten Agendums sind die »ersten Worte« eines Menschen auf dem Mond, die der Astronaut Armstrong zu sprechen hatte: »Ein kleiner Schritt hier, aber ein großer für die Menschheit.«

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Die epidigmatische Funktion der Vergegenwärtigung

»Man sah sich nicht an, oder wenn es geschah, so war es, um zu fluchen oder zu verwünschen. Wir hatten, eben als es Nacht werden wollte, zufällig einen Kreis geschlossen, in dessen Mitte nicht einmal wie gewöhnlich ein Feuer konnte angezündet werden; die meisten schwiegen, einige sprachen, und es fehlte doch eigentlich einem jeden Besinnung und Urteil. Endlich rief man mich auf, was ich dazu denke?«

Das nun ausgesprochene Wort von der neuen Epoche der Weltgeschichte (selbst wenn es an Ort und Stelle in einer weniger bedeutenden Formulierung gesagt wurde) ist ein Akt der Verständigung durch das artikulierende Aufzeigen der Bedeutung des scheinbar sinnlosen Geschehens. Goethe zeigt keinen Ausweg aus der verfahrenen Situation, und sein Wort mag den missmutig im Regen Herumstehenden wenig genug geholfen und schon gar nicht praktisch genützt haben. Aber es war ein aus der gemeinsamen Ratlosigkeit entstehender Versuch, den Boden für eine gemeinsame Vergegenwärtigung des Sinns des Geschehens zu schaffen. Es war eine »produktivobjektivierende Artikulation«. Handlungsmale dieser Art zeigen (wenn überhaupt) nicht unmittelbar, wie es weitergehen soll, sondern sie lassen Erlebtes zunächst sehen. Sie drücken gleichzeitig aus, was ein einzelner gesehen hat, und dass er will, dass auch andere es so sehen. Treten sie in sprachlicher Form auf, so zeichnen sie sich durch ein eigentümlich neutrales Gleichgewicht von Darstellungs-, Ausdrucks- und Appellfunktion 22 aus, wie man an Goethes Äußerung studieren kann: Der Satz »Von hier und heute …« gibt weder eine objektive Darstellung der Lage, wie man sie allenfalls von einem das Technische der Situation überblickenden General erwarten konnte, noch ein subjektives Stimmungsbild (dies besorgten die fluchenden Offiziere), noch eine Handlungsanweisung; aber er legt aus subjektiver Sicht (= Ausdrucksfunktion) den Kern des Geschehens dar (= Darstellungsfunktion) in der Zuwendung zu den andern (= Appellfunktion), die es eben so sehen sollen. Eine fehlende Dominanz einer der drei Funktionen legt die Vermutung nahe, dass wir es mit keiner im engeren Sinne pragmatischen Sprechsituation zu tun haben, was bedeutet, dass die Äußerung nicht im Bezugsrahmen eines Agendum gemacht wurde. Auch innerhalb anderer Klassifikationen, wie der sprechakttheoreti-

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Vgl. K. Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellung der Sprache. Jena 1934, S. 28.

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Diesseits der Pragmatik

schen Typologie der illokutiven Akte 23 oder der Diskurs-Typologie von Morris 24, lässt sich ein solches sprachliches Handlungsmal, das zugleich Zeichen von Vergegenwärtigung und Zeichen zur Vergegenwärtigung ist, schwer unterbringen. Um der besonderen Struktur solcher Vergegenwärtigungszeichen (die wir oben mit Dilthey »Erlebnisausdrücke« genannt haben), gerecht zu werden, greifen wir in der Rhetorik einen (dort allerdings meist pejorativ gebrauchten) Begriff auf: die Epideixis. Sie ist das demonstrative Herausheben eines Sachverhaltes in einem aufwendigen (»epideiktischen«) Redestil. Das zugrunde liegende, wertneutrale Verbum (ἐπιδείκνυμι) steht für: »zur Schau stellen«, »vorzeigen«, »dartun«, »die Bewandtnis von etwas darlegen« usw. In deutlicher Abgrenzung von der negativen Wertung des »Epideiktischen« wollen wir den wertneutralen Begriff »epidigmatisch« (von ἐπίδιγμα) einführen, um die über die reine Deixis der umgangssprachlichen Handlungsmarken hinausgehende Funktion der kommunikativ gebrauchten Handlungsmale zu bezeichnen. Goethes Satz über Valmy ist dieser Terminologie entsprechend ein Epidigma, d. h. ein zum Nachvollzug einladendes Zeichen der Vergegenwärtigung eines Sachverhalts. Epidigmatische Äußerungen sind weder rein präskriptiv noch persuasiv, wenngleich diese Elemente in ihnen nicht ganz zu verkennen sind. Sie sind auf Resonanz hin angelegte Darstellungen aus subjektiver Sicht. 25 Der Begriff des Epidigma ist hilfreich, um den Zusammenhang der Reflexivität des alltäglichen Wissens mit komplizierteren und weiter ausgreifenden Formen ästhetischer und philosophischer Vergegenwärtigung erkennbar zu machen. Fast jede auf Gegenständlichkeit bezogene künstlerische Leistung, sei es die Heraushebung eines Stückes von Wirklichkeit in bildender Kunst und Dichtung oder die Vgl. J. R. Searle: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Dt. Übers. Frankfurt a. M. 1971. 24 Morris, a. a. O., S. 215. 25 Der Nebenton des prahlenden Vorzeigens, wie er sich dann in der rhetorischen Epideixis verselbständigt hat, sollte in seiner anthropologischen Bedeutsamkeit durchaus gesehen werden. Zu den elementarsten Formen epidigmatischer Kommunikation gehört das Vorzeigen kindlicher Schätze. Wer dies als kleines Kind im Umgang mit gleichaltrigen französischen Kindern erlebt und von daher noch das Wort »Regarde« im Ohr hat, ist geneigt, von einem »Regarde-Effekt« als anthropologischer Voraussetzung jeder epidigmatischen, auf Teilnahme angewiesenen, positiven wie negativ-kritischen Vergegenwärtigung zu sprechen. Es ist die aktive und kommunikative Form des Staunens. 23

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Die epidigmatische Funktion der Vergegenwärtigung

»Darbietung« eines musikalischen oder dichterischen Werkes, ist epidigmatisch. Dies geht weit über das zu kurz ansetzende »interesselose Wohlgefallen« hinaus, und zwar in dreifacher Hinsicht: die epidigmatische Vergegenwärtigung kann auch Missfallen artikulieren; sie ist Ausdruck eines besonderen, sachbezogenen Interesses am Perfectum; und sie ist kommunikativ. Spezifische Funktionen des Ästhetischen in der modernen und modernsten Kunst, wie sie seit dem »Flaschentrockner« von Duchamp das Publikum irritierten, erscheinen unter dem gemeinsamen Dach des Epidigmatischen durchaus vereinbar mit der ästhetischen Funktion der (nicht travestierten!) Mona Lisa. Dies bedeutet nicht, dass das Ästhetische im Epidigmatischen einfach aufginge. Dagegen steht die wesentliche Bestimmung der Gegenstandsbezogenheit des Epidigmatischen. Es lässt sich jedoch sagen, dass es eine vorwiegend epidigmatische Kunst gibt, die übrigens eine ihrer Grenzen dort hat, wo der Umschlag ins Tendenziöse ein neues – politisches, wirtschaftliches, weltanschauliches – Agendum erkennbar macht. Wahlplakate und Werbegraphik sind »epideiktische« Handlungsmarken, keine epidigmatischen Handlungsmale. Gegenüber der Eindeutigkeit der Grenzziehung angesichts der rein persuasiven Funktion solcher Objektivationen ist es ungleich viel schwerer, die entsprechende Grenze bei sozialkritisch-provokativer Kunst zu bestimmen. Einen illustrativen Sonderfall bildet hier die Parodie durch den Unterschied zwischen rein satirischer Parodie und dem Pastiche. Das Pastiche als mimetische Vergegenwärtigung in kommunikativer Absicht kann geradezu als das Epidigma schlechthin bezeichnet werden. 26 Es würde einer (hier nicht zu leistenden) ausführlichen Untersuchung bedürfen, die Züge des Epidigmatischen im Gesamtbereich dessen, was man pauschal unter »Kultur« versteht, herauszuheben. Einen gleichfalls interessanten Sonderfall epidigmatischer Kommunikation bildet die Anspielung. In ihr ist der reflexive Bezug auf das sachlich dargestellte dadurch besonders virulent, dass die elliptische Form Ausdruck der vorausgesetzten Gemeinsamkeit des Bescheidwissens ist. Angespielt wird in der Regel nicht auf das bloße Was, sondern auf das Wie, das eine kommunikative Vergegenwärtigung gerade dadurch erfährt, dass seine Artikulation nur Implikat bleibt. Die hierfür bereitstehenden sprachlichen Mittel sind vor allem jene kulturellen Kommunikationseinheiten (Stalingrad, Watergate usw.), die Abbreviaturen komplexer soziokultureller Sachverhalte darstellen. Sie sind mitten in den Vollzug von Sprechakten eingeblendete Rückbesinnungen und Vergewisserungen des Einverständnisses, die man noch nicht eigentlich als Epidigmata, sondern als Handlungsmarken mit epidigmatischer Tendenz ansehen kann (vgl. unten S. 145 ff. – 2015).

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Diesseits der Pragmatik

Über verhältnismäßig »rein« epidigmatische Kommunikationsformen in Museum, Theater, Konzert- und Vortragssaal würde die Linie zu den gemischten und deshalb interessanteren Formen in den Massenmedien und Bildungsinstitutionen führen. Ebenso müsste untersucht werden, bis zu welchem Grad der Anteil typisch epidigmatischer Kommunikationsformen am Entstehen sogenannter kultureller Blütezeiten beteiligt ist. Bestimmte literarische Gattungen, wie Essay, Aphorismus, Rede, Chronik, Reisejournal und Brief wären unter diesem Gesichtspunkt neu zu sichten, ebenso wie die Bevorzugung bestimmter sozialer Formen für diese Art des geistigen Austausches (Gruppe, Cercle, Freundeskreis, »Schule«). Ferner würde dies hinführen müssen zu einer engeren Fassung des Kulturbegriffs selbst, insofern als die Intensität der Bemühung um Verständigung über die eigenen historischen Voraussetzungen innerhalb einer Gemeinschaft zum Kriterium dafür gemacht werden kann, ob eine solche Gemeinschaft »Kultur hat«. Nicht zuletzt würde die Berücksichtigung des Anteils epidigmatischer Selbstvergewisserung innerhalb einer Klasse oder Schicht der Analyse des Aufbaus einer Ideologie förderlich sein.

6.

Reine Pragmatik und Epidigmatik

Versucht man, den Ertrag dieser Überlegungen in die Abgrenzungen des Begriffs »Pragmatik« einzubringen, von denen wir ausgegangen sind, so ergibt sich die Möglichkeit einer Differenzierung dieses Begriffs – allerdings nicht in der Richtung, wie sie oben durch die Unterscheidung zwischen zwei möglichen Bedeutungen des Wortes angedeutet worden ist. Es muss zunächst festgehalten werden, dass mit dem semiotischen Begriff »Pragmatik«, das Wort in seinem weitesten Sinn genommen, alle diejenigen zeichensetzenden und -verstehenden Leistungen zusammengefasst sind, in denen mit Zeichen (vorzugsweise mit Wörtern) etwas »angefangen« wird. Zeichenvermittelte Kommunikation kann schon auf sehr elementaren Stufen als Handlung – das Wort wiederum in einem sehr weiten Sinn genommen – verstanden werden. Durch Einführung des Begriffs »transfunktionale Vergegenwärtigung« ist jedoch auf den Unterschied verwiesen zwischen Handlungszusammenhängen, die gemäß der Kategorie des Agendum auf einen Abschluss hin angelegt und durch instrumentell gebrauchte (und häufig aufzubrauchende) Zeichen ver86 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Reine Pragmatik und Epidigmatik

mittelt sind, und solchen Formen der Kommunikation, die allenfalls als Orientierungshandlungen, in vielen Fällen jedoch schlicht als Handlungen der Artikulation von Sinn zu verstehen sind. Dem reinen, durch das Agendum strukturierten Pragma steht die Epideixis als im Prinzip zweckfreie Artikulation von Bedeutsamkeitserfahrung gegenüber, und es wäre von hier aus gesehen sinnvoll, die semiotische Dimension der allgemeinen Pragmatik zu unterteilen in eine reine Pragmatik (oder Pragmatik i. e. S.) und eine Epidigmatik. 27 Hermeneutisch betrachtet bedeutet dies, dass mit der »transfunktionalen Vergegenwärtigung« vor allem die grundsätzliche Verschiedenheit der Verstehensrichtung betont ist, die zwischen dem rein pragmatischen Verstehen handlungsrelevanter Marken und dem Verstehen epidigmatischer Bedeutsamkeitserfahrung besteht. In beiden Fällen muss davon ausgegangen werden, dass es einen Richtungssinn, ein Woraufhin des Verstehens gibt. Während das Verstehen im Fall der funktionalen Erledigung auf den Abschluss einer Handlung gerichtet ist, liegt es in der Natur epidigmatischer Leistungen, dass sie nicht auf ein abschließendes Verstehen hin angelegt sind. Als Objektivierungen von Bedeutsamkeitserfahrungen sind sie transfunktional in dem Sinn, dass die herausgehobene Wirklichkeit nicht mehr selbstverständlich und reibungslos im größeren Ganzen eines Handlungszusammenhangs aufgehen kann und soll. Dementsprechend kann sich auch das Verstehen solcher Heraushebungen nicht in Gestalt eines funktional »richtigen« Handlungsentwurfs vollziehen. Es muss die Richtung der Transfunktionalität aufnehmen, ohne an die Erreichung eines definitiven Abschlusses gebunden zu sein. Es gibt Diese Gegenüberstellung ist nicht zu verstehen als eine andere Möglichkeiten ausschließende Dichotomie. Vielmehr wäre denkbar, unter dem Oberbegriff einer allgemeinen Pragmatik neben der Epidigmatik auch eine Emblematik unterzubringen, d. h. eine Theorie bzw. Dimension derjenigen Signifikationen, mit denen (wiederum in nicht rein pragmatischer Funktion) Zugehörigkeiten, Abgrenzungen, Identifizierungen usw. zum Ausdruck gebracht bzw. hergestellt werden, etwa durch Kleidung, Sitten, Gebräuche, Sprache, Lebensstile. So, wie am Beispiel der Werbung die fließenden Übergänge zwischen epidigmatischen Objektivierungen von Bedeutsamkeit und manipulatorischer, zweckrational konstruierter Pseudo-Bedeutsamkeit analysiert werden können, ließe sich auch auf dem Feld einer Emblematik unterscheiden zwischen relativ zweckfreien, emblematischen Ausdrücken von Identität und Zugehörigkeit (Haarlänge als Generationsemblem!) einerseits und all den sattsam bekannten Formen signifikativer Beschwörung und Durchsetzung kollektiver Interessen andererseits.

27

87 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Diesseits der Pragmatik

deshalb für das Verstehen des Epidigmas auch nicht dieselbe Norm »richtigen« Verstehens wie für das rein pragmatische Verstehen, das als Entwerfen funktionaler Erledigungsschemata zu charakterisieren ist. Eine solche Differenzierung hat selbstverständlich all diejenigen Überlegungen im Rücken, die sich mit dem »hermeneutischen Potential« von Erlebnisausdrücken beschäftigt haben. Ihren systematischen Ertrag im Sinne einer ausführlich begründeten Theorie einer Epidigmatik fruchtbar zu machen, bleibt eine noch zu leistende Aufgabe.

88 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Marken und Male Über die Grenzen einer reinen Pragmatik

1.

Zwei Begriffe von Pragmatik

Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf das Problem einer Differenzierung des Begriffs Pragmatik. Dieser Begriff, ursprünglich von Ch. W. Morris eingeführt zur Bezeichnung derjenigen Dimension der Semiotik, in der die Relation Zeichen – Zeichenbenutzer, oder der Gebrauch von Zeichen, zu untersuchen ist, 1 hat in den vergangenen Jahrzehnten eine erhebliche Strapazierung erfahren. Diesem »Boom« liegt die plausible, aber in der Sprach- und Zeichentheorie lange nicht gebührend berücksichtigte Einsicht zugrunde, dass zeichenvermittelte Kommunikation in erster Linie Handlung ist und eine primär auf die bloß semantischen Relationen konzentrierte Semiotik gleichsam noch in den Vorhöfen der ihr möglichen Forschung stehen bliebe, wenn sie den Kommunikationsaspekt vernachlässigte. An dieser Einsicht soll im Folgenden nicht gerüttelt werden. Unsere Überlegungen zielen vielmehr darauf ab, durch die vorgeschlagene Differenzierung den Geltungsbereich einer allgemeinen Pragmatik zu befestigen. Dies geschieht allerdings durch Einschränkung desjenigen Bereichs, der hier reine Pragmatik oder Pragmatik im engeren Sinn genannt wird. Dies bedeutet zugleich die Verwendung von zwei verschiedenen Handlungsbegriffen: Einem allgemeinen kommunikationstheoretischen Handlungsbegriff, der nicht viel mehr besagt, als dass Prozesse der Kommunikation als Handlungen verstanden werden können, in denen mit Zeichen etwas angefangen wird, stellen wir einen engeren Handlungsbegriff gegenüber, der nur für solche Formen der Kommunikation gelten soll, durch die Handlungszusammenhänge unmittelbar beeinflusst oder verändert werden (sollen). 1

Vgl. Morris 1938.

89 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Marken und Male

Diese Unterscheidung kann durch folgendes Beispiel verdeutlicht werden: In einem allgemeinen Sinn handle ich sowohl durch die warnende Beschreibung einer Nebelwand als durch die poetische Beschreibung desselben Naturphänomens. Dieser allgemeine Zusammenhang gestattet es, die jeweiligen Kommunikationsvorgänge gemeinsam im Rahmen einer allgemeinen Pragmatik zu analysieren. Während jedoch der Kommunikationsvorgang der Warnung eine Handlung im engeren Sinn darstellt, nämlich den zweckgeleiteten Einsatz von Mitteln zur Erreichung der Veränderung eines Handlungszusammenhangs (hier etwa: langsameres und vorsichtigeres Fahren), hat die Kommunikationshandlung des Dichters eine andere Struktur: Zwar hat auch der Dichter ein Ziel, und er setzt die ihm verfügbaren Mittel in diesem Sinne zweckdienlich ein. Sein Ziel ist jedoch (von Fällen philiströser »Lebenshilfe«, Lehrhaftigkeit, Tendenz- und Kampfliteratur abgesehen) nicht, einen Handlungszusammenhang zu verändern, sondern einen bisher unartikuliert gebliebenen Bedeutungszusammenhang zu artikulieren. 2 Eine solche Kommunikation kann die verschiedensten Folgen haben. Sie kann den Zuhörer einschläfern, zur Vertonung des Textes oder zur Deklamation hinreißen, auf die Barrikaden oder (wie im Fall von Goethes »Werther«) zum Selbstmord bringen; in keinem Fall ist dies das »eigentliche« Ziel der Kommunikation. Ihr Ziel ist allein die Herstellung eines Optimums kommunikativer Artikulation. Der Gebrauch des Begriffs pragmatisch für diese zweite Form von Kommunikationshandlungen verwischt diesen Unterschied oder führt zu dem abwehrenden Versuch, der Pragmatik eine Poetik gegenüberzustellen. 3 Beide Seiten dieses Dilemmas (Verwischung oder die Dichotomie »Pragmatik vs. Poetik«) verstellen den Blick dafür, dass es einerseits neben der Zweckbezogenheit von Handlungen im engeren Sinn auch »zweckfreie« Formen der Kommunikation gibt, dass diese sich aber andererseits nicht auf den Bereich des Poetischen beschränken. Unsere These lautet vielmehr: Unter dem gemeinsamen Dach einer allgemeinen Pragmatik lassen sich (mindestens) zwei Formen zeichenvermittelter Kommunikation untersuchen, die sich hinsichtlich ihrer Struktur grundlegend unterscheiden, ohne mit der Alternative Pragmatik – Poetik identisch zu sein. Der Bereich der2 3

Dies ist zu betonen gegen den Ansatz bei Buddemeier 1973 und Breuer 1974. Vgl. Stierle 1975, vor allem 14 ff.

90 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Das Beispiel des Taschenkalenders

jenigen Kommunikationshandlungen, die nicht mehr mit den Kategorien einer reinen Pragmatik untersucht werden können, reicht weiter, ist komplexer und vielgestaltiger, als der Bereich des Poetischen, der ihm angehört. Es geht in diesen Untersuchungen darum, ihn wenigstens skizzenhaft zu umreißen.

2.

Das Beispiel des Taschenkalenders

Wie wir gesehen haben, kann prinzipiell jedes Zeichen unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, dass es auf den Gebrauch durch einen Zeichenbenutzer, also auf verstehenden Umgang hin angelegt ist, und es ist die Dimension der allgemeinen Pragmatik, innerhalb derer dieser Gesichtspunkt gilt. Nun ist im Sinne unserer zuvor vorgenommenen Unterscheidung mit dem Begriff Pragmatik keineswegs festgelegt, dass der verstehende Umgang mit Zeichen in jedem Fall gleichbedeutend ist mit dem Geben und Empfangen von Handlungsimpulsen. Dies gilt nur für jenen eingeschränkten Geltungsbereich, den wir reine Pragmatik oder Pragmatik im engeren Sinn genannt haben. Ihre Grenze kann durch das folgende Beispiel 4 verdeutlicht werden: Die in einem Taschenkalender notierten Termine sind Zeichen, von denen bei richtigem Gebrauch Handlungsimpulse ausgehen, allerdings nur so lange, bis der jeweilige Termin erreicht und wahrgenommen ist. Ohne dass in syntaktischer und semantischer Hinsicht Änderungen einträten, verliert die einzelne Eintragung nach diesem Zeitpunkt ihre pragmatische Funktion. Sie verwandelt sich in eine bloße Spur unseres Handelns. Über den Status einer bloßen Handlungsspur hinausgehend werden diese Eintragungen jedoch Zeichen einer besonderen Art, sofern sie im Stil eines Stichwort-Tagebuchs immer wieder einmal gelesen oder vielleicht im Nachhinein mit deskriptiven oder wertenden Zusätzen versehen werden, was schon in Gestalt eines später angefügten Ausrufezeichens geschehen kann. Dies setzt freilich voraus, dass der Gesamtkode verändert wird, d. h. dass der Taschenkalender am Ende

Vgl. auch Rodi 1979: 293 f. (vgl. o. 76). Die ursprünglichen Verweise auf die Erstfassung von Diesseits der Pragmatik (1979) werden hier ergänzt durch die Angabe der entsprechenden Stellen in diesem Band. (2015) 4

91 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Marken und Male

eines Jahres nicht als überholt weggeworfen oder als bloßes Dokument archiviert, sondern als Instrument der Vergegenwärtigung des vergangenen Jahres aufgehoben und benutzt wird. Für den verstehenden Umgang mit diesen neuen Zeichen gilt nun, was in der oben vorgenommenen Differenzierung des Begriffs Pragmatik hervorgehoben worden ist: Die Appellfunktion dieser Vergegenwärtigungen schließt in der Regel keine unmittelbaren Handlungsimpulse ein. (Zwar ist auch dies denkbar, wenn ich etwa durch die Vergegenwärtigung einer empfangenen Wohltat zu einer Geste verspäteten Dankes motiviert werde.) Vielmehr ist die Vergegenwärtigung an sich schon diejenige Handlung, deren Schema (mit den Peirce’schen Kategorien ausgedrückt) den Interpretanten des Zeichens ausmacht. Dies bedeutet, dass der verstehende Umgang mit dieser Art von Zeichen zwar im Rahmen einer allgemeinen Pragmatik, nicht aber mit den Kategorien der von uns als reine Pragmatik bezeichneten Theorie untersucht werden kann. Die reine Pragmatik würde auch hier von der Voraussetzung ausgehen, dass die zeichenvermittelte Handlung in einem engeren Sinne eine teleologische Struktur hat, also zu einem Ziel führen soll, dessen Erreichen zugleich den Abschluss der Handlung und das Ende der aktualen Appellfunktion des Zeichens bedeutet. 5 Dies ist jedoch bei Vorgängen der Vergegenwärtigung früherer Handlungen nicht der Fall, sofern wir nicht im Sinne der genannten »Spurensicherung« die Vergegenwärtigung zu einem bestimmten Zweck, z. B. zur Beschaffung eines Alibis, vornehmen. Vergegenwärtigungen eines Tagebuchs sind in der Regel »zweckfrei«; sie sind Selbstzweck in dem Sinn, dass sie über die artikulierende Vergegenwärtigung von Vergangenheit hinaus keinem unmittelbaren Zweck dienen.

3.

Agenda, Acta und Memorabilia

Wir müssen also, um dem jeweiligen Zeichencharakter gerecht zu werden, der sich aus den Funktionsänderungen des Taschenkalenders ergibt, zwischen drei Objektbereichen unterscheiden, auf die sich die Eintragungen beziehen:

5

Vgl. Morris 1946: 92. Dazu Rodi 1979: 291. (Vgl. o. 74)

92 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Agenda, Acta und Memorabilia

a)

b)

c)

Der in aktuellem Gebrauch befindliche Vormerkkalender weist mit seinen Eintragungen hin auf das, was ihm in früheren Jahrzehnten seinen Namen gegeben hat: auf Agenda. Es sind die zu erledigenden Dinge, die – teils direkt, teils indirekt durch bloße Terminangabe – in der gerundivischen Form des auf uns Zukommenden signifiziert sind. Der als bloßes Dokument archivierte Terminkalender bezieht sich auf Sachverhalte, die aus vor uns liegenden Aufgaben zu hinter uns liegenden Geschehnissen geworden sind. Die Agenda haben sich zu Acta verwandelt, die in dem »ad acta« gelegten Dokument signifiziert sind. Der zum Zwecke der Vergegenwärtigung weiterbenutze Taschenkalender mit Tagebuch-ähnlichen Eintragungen bezieht sich weder auf Agenda, noch auf bloße Acta, sondern auf Sachverhalte, die aus irgendwelchen Gründen erinnerungswürdig sind, also auf Memorabilia 6.

Agenda, Acta und Memorabilia können also im Prinzip durch dieselben Zeichen bei gleichbleibender syntaktischer und semantischer Struktur bezeichnet werden. Ihr Unterschied ergibt sich daraus, dass mit der Funktionsänderung des Taschenkalenders der Kode gewechselt wird. Eine allgemeine Pragmatik kann einer solchen Differenzierung dadurch gerecht werden, dass sie – ausgehend von der Verschiedenheit des pragmatischen Wertes – drei Zeichenklassen unterscheidet, deren Klassifikation quer liegt zu einer Reihe bereits etablierter Unterscheidungen (wie etwa der zwischen ikonischen, indexikalischen und symbolischen Zeichen). Wie schon in früheren Arbeiten vorgeschlagen 7, unterscheiden wir (a) Zeichen, die sich auf Agenda beziehen, als Marken von (b) solchen, die sich auf Acta beziehen, als Spuren und schließlich (c) von denen, die sich auf Memorabilia beziehen, als Malen. Marken, Spuren und Male machen (zusammen mit zahllosen Zwischen- und Mischformen) denjenigen Zeichenvorrat aus, den eine allgemeine Pragmatik zu berücksichtigen hat, wenn sie die zwischen Zukunft und Vergangenheit eingebettete Lebenswelt

In der früheren, bereits zitierten Arbeit wurden diese Sachverhalte »Perfecta« genannt; vgl. Rodi 1979: 295. (Vgl. o. 78 ff.) 7 Rodi 1979 und Rodi 1985. 6

93 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Marken und Male

semiotisch betrachtet. Unter ihnen verdienen die mit einem typisch verschiedenen Appellcharakter versehenen Marken und Male eine besondere, kontrastive Betrachtung.

4.

Marken

Marken und Male konnten bisher dadurch bestimmt werden, dass sich die ersteren auf Agenda, die letzteren auf Memorabilia beziehen. Diese am Beispiel des Taschenkalenders entwickelte Unterscheidung muss nun in einem größeren Zusammenhang verdeutlicht werden. Zunächst ist an dem bisher gebrauchten Beispiel als Einschränkung hervorzuheben, dass hier die Rollen von »Sender« und »Empfänger« zusammenfallen, indem ich selbst es bin, der die Zeichen setzt und verstehend mit ihnen umgeht. Demgegenüber müssen wir nun die gewonnenen Begriffe auf Fälle echter zeichenvermittelter Kommunikation anwenden. Nichts ist einfacher als Beispiele für ein von Marken bezeichnetes Agendum zu finden. Unsere gesamte Handlungswelt vom morgendlichen Geweckt-werden bis zur letzten nächtlichen Notiz für das Programm des folgenden Tages ist beherrscht von Handlungsmarken, in denen zu Erledigendes antizipiert und signifiziert ist. Von einfachsten Signalen, die als quasi-biologische »Auslöser« unser funktions- und situationsgerechtes Verhalten in Gang bringen, bis zu Einzelheiten eines Forschungsprogramms, dessen Durchführung Jahre beansprucht und Tausende von Menschen beschäftigt, lassen sich unzählige Formen und Spielarten zeichenvermittelter Aktionen aufführen, in denen Agenda schließlich zu Acta werden. Diese Struktur ist so universal, dass es wie eine Banalität klingt, sie überhaupt anzusprechen. Und doch müssen wir unter dem speziellen Gesichtspunkt unserer Fragestellung Begriffe für sie entwickeln, um ihre Grenze aufzeigen zu können. Eine reine Pragmatik, die in diesem Sinn das Verhältnis von Marke, Agendum und Handelndem untersucht, wird stärker, als dies vielleicht bisher getan wurde, auf die temporale Struktur achten müssen, innerhalb derer Handlungsmarken funktionieren. Da Zwecke und Zielsetzungen keine statischen Größen sind, sondern im Zusammenhang mit Aufgaben und Erledigungen, Problemen und Lösungen, Bedürfnissen und Erfüllungen auftreten und verschwinden, sind auch die in diese Prozesse eingreifenden Zeichen einem beständigen 94 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Natürliche Signale und Marken

Wandel ihres pragmatischen Stellenwertes unterworfen. Das Beispiel des Taschenkalenders konnte uns dies bereits illustrieren: war er eben noch, am Ende des Jahres, nichts weiter als eine ad acta zu legende Sammlung von Handlungsspuren, so wird er plötzlich, im Zweckzusammenhang einer Alibi-Beschaffung, zu einem Schlüsseldokument, dessen Eintragungen nun in einer neu zu interpretierenden Weise dieselben Termine signifizieren. Dieser Eigentümlichkeit des Auf-uns-zukommens und Hinter-uns-liegens von Aufgaben und der damit verbundenen Variabilität der Funktion von Marken (samt ihrer Skala von Latenzen und Aktualitäten), wollen die hier vorgeschlagenen pragmatischen Kategorien »Agendum« und »Actum« Rechnung tragen. Zu den weiteren Aufgaben einer reinen Pragmatik würde von hier aus gesehen zu rechnen sein, dass Handlungsmarken hinsichtlich der Variabilität ihrer syntaktischen Struktur und des damit verbundenen Referenzcharakters zu untersuchen sind. Auf ein und dasselbe Agendum »Zu fällender Baum« können Marken verschiedenster Art hinweisen: der Knoten im Taschentuch, eine schriftlich oder mündlich gegebene Anweisung, ein Zeichen am Baum, das als Aufforderung platzierte Werkzeug, ein Trompetensignal, schließlich der Baum selbst, sofern er in seinem Erscheinungsbild seinen baldigen Sturz und die damit verbundene Gefahr signifiziert. In all diesen Fällen ist ein Netz sich überlagernder Handlungszusammenhänge vorausgesetzt, innerhalb dessen Bewertungen und Zwecksetzungen das Feld möglicher Handlungsmarken beständig umstrukturieren.

5.

Natürliche Signale und Marken

An dieser Stelle erscheint es sinnvoll, eine anthropologische Zwischenbetrachtung einzuschieben, die ein Stück weit der Frage nachgehen soll, ob der Gebrauch von Handlungsmarken als eine dem Menschen allein zukommende Fähigkeit anzusprechen ist. Diese Frage wird durch Ergebnisse der Verhaltensforschung nahegelegt, die – allerdings unter umgekehrten Vorzeichen – die Grenze zwischen Mensch und Tier als fließend erscheinen lassen. Es wird dort nämlich nicht so sehr nach dem gefragt, was die Tiere möglicherweise an höheren, gemeinhin dem Menschen allein zugesprochenen Erkenntnisleistungen mit diesem teilen, sondern umgekehrt, »ob nicht auch menschliches Verhalten in bestimmten Bereichen durch stammes95 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Marken und Male

geschichtliche Anpassungen vorprogrammiert ist« 8. Dies betrifft vor allem die Frage, wieweit die für das Verhalten der Tiere konstitutiven, »angeborenen Auslösemechanismen und darauf abgestimmte ›Auslöser‹ im Sozialverhalten des Menschen ebenfalls eine größere Rolle spielen« 9, als man bisher angenommen hat. Ausgangspunkt ist hierbei die Beobachtung, dass Tiere auf bestimmte »Schlüsselreize« ihrer Umwelt mit einem feststehenden, von situativen Komponenten weithin unabhängigen Verhalten reagieren und in diesem Sinne nicht nur in der Technik ihrer Lebensfristung, sondern vor allem auch in ihrem Sozialverhalten als biologisch vorprogrammiert erscheinen. Unter dem Titel »Der vorprogrammierte Mensch« hat der Lorenz-Schüler I. Eibl-Eibesfeldt kulturvergleichend-ethologische Studien vorgelegt, in denen er »Universalien« menschlichen Verhaltens, wie bestimmte Formen des Grüßens, Verneinens, Ablehnens, Sympathie-bezeugens usw. nach ihrer stammesgeschichtlichen Herkunft befragt und die Rolle »angeborener Reaktionen auf uns angeborene Merkmale« 10 untersucht. Er hält es für wahrscheinlich, »daß Rangstreben, Bereitschaft zur Unterordnung und zum Gehorsam, Intoleranz gegen Außenseiter, Aggression, aber auch unsere altruistischen Neigungen und der Drang, ein freundliches Band zu stiften, kurz die Liebe im umfassenden Sinn durch stammesgeschichtliche Anpassungen vorgezeichnet sind« 11.

Es wird allerdings betont, dass solche biologischen Vorprogrammierungen des Menschen im Gegensatz zum Tier »nicht auch für die reibungslose Kontrolle sozialen Zusammenlebens« ausreichten. Der Mensch sei »auf die Vermittlung kultureller Kontrollmuster angewiesen, wenn er im späteren Leben an die Gesellschaft angepaßt sein soll« 12. Wenn wir einmal absehen von den – bekanntlich heftig diskutierten – sozialethischen Implikationen dieser Ethologie, so bleibt für die semiotische Fragestellung der interessante Befund einer Vergleichbarkeit von Auslösemechanismen, die als Korrelate von entsprechenden Eibl-Eibesfeldt 1973: 10. Eibl-Eibesfeldt 1973: 57. 10 Eibl-Eibesfeldt 1973: 58. 11 Eibl-Eibesfeldt 1973: 70. 12 Eibl-Eibesfeldt 1973: 71. 8 9

96 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Natürliche Signale und Marken

Signalen oder »Auslösern« der Umwelt ein funktionsgerechtes Verhalten vorprogrammieren. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang eine reine Pragmatik zu stellen hat, ist die, ob der Aufweis eines durch Marken vermittelten und gesteuerten Handelns unter dem Gesichtspunkt des biologischen Vorprogrammiertseins noch weiter zu differenzieren ist. Sind Marken nur kompliziertere, aber nach den Gesetzen biologischer »Auslöser« funktionierende Signale? Bestehen hier graduelle Übergänge, die etwa zwischen dem Reagieren des Tieres auf Duftmarken und dem menschlichen Respektieren von Grenzen eine Skala von Möglichkeiten funktionsgerechten Verhaltens aller Lebewesen sichtbar machen? Schon für die elementarste Ebene des intersubjektiven Zeichengebrauchs des Menschen ist leicht ein entscheidender qualitativer Unterschied aufzuzeigen, der das »Auslösen« von Handlungen betrifft. Er liegt in der relativen Beliebigkeit und Auswechselbarkeit der Zeichenstruktur im Bereich menschlicher Kommunikation gegenüber der naturhaften Fixiertheit der Auslöse-Mechanismen im Tierreich. Wenn auch die von Grün auf Rot schaltende Ampel den routinierten Verkehrsteilnehmer besonders unmittelbar ansprechen mag und dabei bestimmte funktionsgerechte Reflexe auslöst, so ist doch dieselbe Botschaft auch durch andere Signale, wie Handzeichen, Schwenken von Wimpeln usw. mitteilbar und in den verschiedensten Situationen verständlich zu machen. Dies setzt freilich die menschliche Fähigkeit voraus, von dem unmittelbaren und ausschließlichen Vorprogrammiertsein auf bestimmte Auslöser dispensiert zu sein und den semantisch-pragmatischen Wert eines Signals von dessen syntaktischer Struktur ablösen zu können. Der qualitative Unterschied kann also auch so bestimmt werden: Während das Tier in seiner naturhaften Spezialisierung auf die bestimmte sinnliche Qualität eines Signals festgelegt ist, das ein entsprechendes funktionsgerechtes Verhalten auslöst, kann das sehr viel weniger spezialisierte »Mängelwesen Mensch« 13 unter Ausblendung syntaktischer Besonderheiten und situativer Begleitumstände die Botschaft als solche isolieren, vergegenständlichen und damit in ihrem unmittelbaren Appellcharakter auch relativieren. Die sinnliche Einkleidung des semantischen Gehaltes verliert damit den Charakter eines Reizes, der funktionsgerechtes Verhalten einfach auslöst. Sie Vgl. Gehlen 1940. In heuristischer Absicht gebraucht ist dieser auf Herder zurückgehende Begriff noch immer hilfreich.

13

97 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Marken und Male

wird jetzt überhaupt erst zum Zeichen für etwas, das es zu verstehen gilt, und dessen Gestalt man unter Beibehaltung des semantischen und pragmatischen Wertes verändern kann. Diese Ablösung menschlicher Kommunikation von der unmittelbaren Reiz- und Auslöse-Qualität von Signalen kann auch verstanden werden als Schritt zur eigentlichen Sprachlichkeit. Ohne diese Grenzziehung hier im Einzelnen diskutieren zu können, schlagen wir eine terminologische Differenzierung vor, indem wir unterscheiden zwischen dem Funktionieren natürlicher Signale und dem Gebrauch von Marken. Unter natürlichen Signalen verstehen wir die den in der Natur vorgegebenen Funktionszusammenhängen fest eingeordneten Kommunikationsmittel, auf die ein Lebewesen erblich vorprogrammiert ist. Unter Marken sind diejenigen Kommunikationsmittel zu verstehen, die in der biologischen »Mängel-Situation« des Menschen das Funktionieren natürlicher Signale zu ersetzen haben und als Zeichen einen Gehalt signifizieren, der prinzipiell auch durch beliebig anders gewählte Kommunikationsmittel ausdrückbar ist. In diesem Sinne verstanden sind Marken die tragende Schicht der Kultur, sofern diese als kompensatorisch entwickelte Quasi-Natur verstanden wird. Es ist Aufgabe einer Kulturpragmatik, das zwar nicht naturgegebene, aber in jeder Kommunikationsgemeinschaft fest eingespielte Funktionieren zu untersuchen, das den Gebrauch von Marken den naturhaften Kommunikationsprozessen so ähnlich erscheinen lässt. Hierzu gehört nicht nur das reflexhafte Reagieren auf vertraute Signale, sondern die durchgängige Strukturierung unserer Handlungswelt, die uns nicht einfach in einer objektiven »Welt«, sondern in einer kulturspezifisch angeeigneten »Umwelt« existieren lässt. 14 Dies alles bedeutet, eher eine Diskontinuität als einen kontinuierlichen Übergang zwischen den signifikatorischen Leistungen von Tier und Mensch anzunehmen – eine Diskontinuität, die dadurch erst ganz deutlich wird, dass wir vermutlich keinen Grund zu der Annahme haben, Tiere wüssten um ihre Agenda und setzten bewusst Mittel zu ihrer Erreichung ein.

14

Vgl. Plessner 1950.

98 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Die kommemorative Deixis des Denkmals

6.

Die kommemorative Deixis des Denkmals

Eine sicher noch weiter gehende Differenz zwischen Mensch und Tier ergibt sich aus der nun zu untersuchenden Fähigkeit des Menschen, nicht nur mit Hilfe von Marken zweckrational zu handeln, sondern auf einzelnen Handlungen und Sachverhalten reflektierend zu verweilen und diese Reflexion zu objektivieren. Die so entstehenden Objektivationen, die uns das Beispiel des Taschenkalenders nur in einer ersten Annäherung und Abgrenzung nahebringen konnte, sind Male genannt worden. Male – so wurde gesagt – beziehen sich nicht auf Agenda, sondern auf Memorabilia, denen sie gleichsam ein Denkmal setzen. Die Bezeichnung »Denkmal« wäre allerdings irreführend, wenn durch sie der Gedanke nahegelegt würde, Male seien primär äußerliche Repräsentationen von Sachverhalten, gleichsam Gedächtnisstützen der Gesellschaft, die bestimmte Personen und Geschehnisse nicht in Vergessenheit geraten lassen möchte. Dies trifft zweifellos zu für diejenigen kommemorativen Leistungen, die im engeren Sinn Denkmäler genannt werden können: das Errichten von Statuen und Grabsteinen, die Benennung von Straßen, Gebäuden, Institutionen und ganzen Städten nach herausragenden Persönlichkeiten und Ereignissen – vorzugsweise der kriegerischen Geschichte. »Äußerlich« sind solcherlei Benennungen deshalb zu nennen, weil der Namensträger, z. B. eine Straße, in der Regel faktisch nichts zu tun hat mit dem großen Namen, der ihn ziert. Dies ist dort schon anders, wo eine Stiftung nach ihrem Stifter, eine Epoche nach einer zentralen Figur, ein Forschungsresultat nach seinem Erfinder und schließlich ein Werk nach seinem Schöpfer genannt werden. Doch bleiben auch hier die kommemorativen Funktionen hinter dem zurück, was wir als die eigentliche Leistung des Mals im Gegensatz zur Marke herausheben wollen. Denkmäler in dem hier bezeichneten Sinn sind Hinweise auf die Bedeutsamkeit von Personen und Sachverhalten und haben als solche deiktischen Charakter. Diese Art der kommemorativen Deixis ist jedoch in den wenigsten Fällen Voraussetzung für eine echte Vergegenwärtigung dessen, was als ursprüngliches Memorabile festgehalten werden sollte. Viele Bewohner von Schelling- und Fichte-Straßen haben zu diesen Philosophen kaum eine weniger äußerliche Beziehung als Tauben, die sich auf dem Kopf eines Schelling-Denkmals niederlassen. Aber selbst dort, wo das Andenken an einen Großen 99 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Marken und Male

spontanen Ausdruck findet (wie die frischen Blumen am Grabe Chopins es vermuten lassen), deutet diese Art der Kommunikation doch wie von außen auf die gemeinte Sache hin. Es gibt jedoch auch Formen der heraushebenden Vergegenwärtigung, in der die gemeinte Sache selbst gleichsam zum Reden gebracht wird. Hierher gehören alle diejenigen Objektivationen von Bedeutsamkeitserfahrung, die einen Nachvollzug dieser Erfahrung ermöglichen. Das in einer bestimmten Weise Gesehene soll auch für andere sichtbar gemacht werden. Erfahrener Sinn soll sich auch anderen mitteilen. Dem deiktischen Hinweis von außen steht der epidigmatische Aufweis von innen gegenüber.

7.

Das Mal als Epidigma

Die hier vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Deixis und Epideixis, die letztlich zu dem Vorschlag führen soll, neben der reinen Pragmatik eine Epidigmatik als semiotische Dimension anzuerkennen, bedarf freilich einer Erläuterung und Begründung. Wir nehmen hier einen Begriff der klassischen Rhetorik auf, der zur Charakterisierung der mitunter schwülstigen Ruhm- und Prunkreden gebraucht wurde: Sie wurden »epideiktisch« genannt. Das Wort ist abgeleitet von dem Verbum ἐπιδείκνυμι, das so viel bedeutet wie »zur Schau stellen«, »vorzeigen«, »dartun«, und in etwa dem lateinischen »demonstrare« in einigen seiner Bedeutungen entspricht. Vielleicht könnte man, etwas drastischer, auch von »angeben« oder »strunzen« sprechen. So zeigt der Feldherr »epideiktisch« sein Heer, um den Gegner einzuschüchtern. In diesem Sinn sind Maiparaden epideiktisch. In früheren Arbeiten wurde vorgeschlagen, 15 von dem gleichen Verbum (und in sprachlicher Analogie zu »Paradigma«) das Wort Epidigma bzw. epidigmatisch abzuleiten, um damit einen von den pejorativen Konnotationen des Epideiktischen freien Terminus zu gewinnen, der die Leistung des Mals charakterisiert. Das Mal als Epidigma macht Wirklichkeit sichtbar, und zwar nicht unter der Norm größtmöglicher Exaktheit der Repräsentation, sondern unter der Norm größtmöglicher Prägnanz der Artikulation erfahrener Bedeutsamkeit. Diese epidigmatische Leistung des Sichtbar-machens kann auch als Sinn-

15

Rodi 1979 und Rodi 1983.

100 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Pragmatik und Epidigmatik

gebung oder -stiftung bezeichnet werden; denn das in der aneignendartikulierenden Objektivation Herausgehobene ist ja gerade dadurch bedeutsam, dass sein Sinn nicht aufgeht in den Sinnbezügen der Üblichkeit und Selbstverständlichkeit. Der Charakter des Memorabile soll durch die Objektivierung seiner Bedeutsamkeit nicht verschwinden, sondern bleibend nachvollziehbar werden. Diese Unterscheidungen zeigen nun auch noch einmal die bloß vorläufige Orientierungsfunktion, die dem Beispiel vom Taschenkalender zukommt. Stichwort-Notizen, die eine vergegenwärtigende Funktion unterhalb der Ebene eines wirklichen Tagebuchs haben, repräsentieren zwar kommemorativ die bedeutsamen Ereignisse, zeigen in der Regel jedoch in ihrer Textstruktur keine für andere nachvollziehbaren Sinnrichtungen der Bedeutsamkeitserfahrung auf. Erst da, wo in der prägnanten Charakterisierung des Eigentümlichen eines Geschehnisses dieses unter dem besonderen Gesichtspunkt der Vergegenwärtigung neu artikuliert wird, kann von einer epidigmatischen Leistung gesprochen werden. Sie liegt alltagssprachlich schon dort vor, wo über Erfahrungen des Tages in keiner anderen Absicht berichtet wird, als Bedrückendes und Beglückendes »loszuwerden«. Schon auf dieser Ebene ist eine (wenn auch vielleicht minimale) Sinnstiftung erkennbar, die darin besteht, das Geschehnis als Memorabile in einer bestimmten Hinsicht sichtbar zu machen.

8.

Pragmatik und Epidigmatik

Um die Grenzen einer reinen Pragmatik abschließend noch deutlicher zu markieren, sei deshalb von einem anderen Beispiel ausgegangen: Ein Zettel mit der Aufschrift »Katze!« kann im Alltagsleben einer Familie vielerlei bedeuten, und in der Regel ist das »Sprachspiel« bekannt, innerhalb dessen der Zettel als Handlungsmarke fungiert. Als Interpretanten des Zeichens stehen Handlungsschemata wie Füttern, an die Luft bringen, zum Arzt bringen, auf Nachbars Katze aufpassen, Vogelkäfig geschlossen halten, Essensreste wegräumen usw. zur Verfügung. In allen Fällen bezieht sich das Zeichen auf ein Agendum, innerhalb dessen die Katze eine zentrale Rolle spielt. Selbst wenn die signifizierte Handlung darin besteht, den Vogelkäfig zu schließen oder den Tisch abzuräumen, ist durch den Sprechakt der

101 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Marken und Male

Warnung mit Hilfe des propositionalen Gehalts »Katze« das Agendum relativ eindeutig bezeichnet 16. Es gibt jedoch eine ganz andere, in der Geschichte des Films berühmt gewordene Möglichkeit, mit dem Zettel »Le Chat!« ein Zeichen zu geben. In dem gleichnamigen Film 17 erinnert der hasserfüllte Ehemann seine Frau mit solchen immer gleichlautenden Zetteln beständig daran, dass sie die Katze – Objekt der ausschließlichen Zuneigung des Mannes – getötet hat. Diese Zettel sind die einzige noch bestehende verbale Kommunikation zwischen den Eheleuten. Die Analyse dieses Zeichens scheint eine Bestimmung der Grenzen einer reinen Pragmatik zu erlauben. Wir haben hier einerseits einen Sprechakt vor uns, der in seiner formalen Struktur vergleichbar ist mit der Warnung »Vorsicht Katze!« An die Stelle der illokutionären Rolle der Warnung ist hier die eines Vorwurfs getreten, so dass die Botschaft in expliziter Form lautet: »Ich mache dir zum Vorwurf, die Katze getötet zu haben.« Andererseits kann dieses Zeichen nicht dadurch »richtig« verstanden werden, dass ein Handlungsschema entworfen wird, das zur funktionalen Erledigung eines Agendum führt. In der Situation dieser zerbrochenen Ehe gibt es nichts mehr zu tun, was durch den Hinweis auf ein Agendum zu bezeichnen wäre. Der Mann setzt der Katze ein Denkmal, allerdings in Gestalt eines Schandmals. Wir haben hier also den Fall einer sehr intensiven, durch ein einziges Wort-Zeichen vermittelten Kommunikation und sind deshalb berechtigt, die Sprachhandlung des Vorwurfs im Rahmen einer allgemeinen Pragmatik zu untersuchen. Gleichzeitig ist erkennbar, dass das Eigentümliche der Kommunikation mit den Kategorien einer reinen Pragmatik nicht mehr zu fassen ist. Zwar hat die Handlung dieser Malsetzung eine teleologische Struktur, indem der Mann seine Frau verletzen und seinen Hass bekunden will. In diesem Sinn kommt dem Zeichen eine Funktion zu, die es mit Handlungsmarken vergleichbar erscheinen lässt. Aber die Vergleichbarkeit endet da, wo das Verstehen des Mals nicht mehr durch den Entwurf eines Handlungsschemas funktionaler Erledigung definiert werden kann. Dies Aus Raumgründen müssen die Grundbegriffe der Sprechakt-Theorie hier als bekannt vorausgesetzt werden- Vgl. Searle 1969. 17 Gemeint ist der auf dem Roman von George Simenon aufbauende Film »Le Chat« von Pierre Granier-Deferre. 16

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Pragmatik und Epidigmatik

wäre nur dann der Fall, wenn hier nach den Spielregeln »VorwurfEntschuldigung« gespielt würde und der Vorwurf durch das Handlungsschema der Entschuldigung richtig verstanden wäre. Für eine solche Grenzbestimmung erhebt sich aber die Frage: Was liegt jenseits des Bereichs, der durch einen solchen funktionalen Verstehensbegriff charakterisiert ist? Wir haben die gesuchte Zone bisher bestimmt durch diejenige Signifikation, in der mit Hilfe von Malen epidigmatisch auf Memorabilia verwiesen wird. Dies muss durch einen entsprechenden Verstehensbegriff ergänzt werden. Erst dort nämlich, wo das Verstehen den Sinnentwurf einer epidigmatischen Sichtbarmachung von Wirklichkeit aufnehmen und weiterführen kann, ohne in der Erledigung eines Agendum zum Abschluss zu kommen, ist die Grenze einer reinen Pragmatik wirklich überschritten. In der Alltagssphäre unseres Katzenbeispiels setzt diese Art von Kommunikation schon dort ein, wo mit einem »Schau doch, die Katze!« auf ein Memorabile (hier vielleicht besser: Mirabile) hingewiesen wird. Sie steigert sich in all jenen Versuchen einer verbalen oder bildnerischen Charakterisierung, in denen ein Verständnis des »Katzenhaften« nicht im Sinne einer funktionalen Erledigung, sondern einer transfunktionalen Vergegenwärtigung in Gang gebracht wird. Mit diesem Begriff einer transfunktionalen Vergegenwärtigung soll versucht werden, die grundsätzliche Verschiedenheit der Verstehensrichtung auszudrücken, die zwischen dem rein pragmatischen Verstehen handlungsrelevanter Marken und dem Verstehen epidigmatischer Bedeutsamkeitserfahrung besteht. In beiden Fällen muss davon ausgegangen werden, dass es einen Richtungssinn, ein Woraufhin, des Verstehens gibt. Während das Verstehen im Fall der funktionalen Erledigung auf den Abschluss einer Handlung gerichtet ist, liegt es in der Natur epidigmatischer Leistungen, dass sie nicht auf ein abschließendes Verstehen hin angelegt sind. Als Objektivierungen von Bedeutsamkeitserfahrung sind sie »transfunktional« in dem Sinn, dass die herausgehobene Wirklichkeit nicht mehr selbstverständlich und reibungslos im größeren Ganzen eines Handlungszusammenhangs aufgehen kann. Dementsprechend kann sich auch das Verstehen solcher Heraushebungen nicht in Gestalt eines funktional richtigen Handlungsentwurfs vollziehen. Es muss die Richtung der Transfunktionalität aufnehmen, ohne an die Erreichung eines Abschlusses gebunden zu sein. Es gibt deshalb für das Verstehen des Epidigmas auch nicht dieselbe Norm »richtigen« Verstehens wie für das rein pragmatische Verstehen. 103 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Marken und Male

Dies im Einzelnen zu entwickeln, muss Aufgabe einer Zeichentheorie sein, die – wie die zuletzt vorgenommenen Untersuchungen zeigen – zugleich eine hermeneutische Theorie ist. Die semiotisch-hermeneutische Dimension solcher Bestimmungen kann Epidigmatik genannt werden. Ihre deutliche Heraushebung hatte hier zunächst die Funktion, die Grenzen einer reinen Pragmatik aufzuzeigen. Dieser Teil einer semiotischen Grenzbestimmung bedarf freilich einer Ergänzung durch eine hermeneutische Analyse im Einzelnen, die sich vor allem dem besonderen Thema des Verstehens und Interpretierens von epidigmatischen Leistungen der Vergangenheit zuwenden müsste. Die hier durchgeführte idealtypische Gegenüberstellung von Marken und Malen sollte uns allerdings nicht dazu verführen, im Sinne einer Two-Cultures-Theorie einer von Marken beherrschten Welt zweckrationalen Handelns eine Gegenwelt der Muße und des zweckfreien geistigen Selbstgenusses gegenüberzustellen und diese womöglich gegeneinander auszuspielen. Noch abwegiger wäre der Versuch, die Semiotik als die Theorie der einen und die Hermeneutik als Theorie der andern Welt darstellen zu wollen. Unsere Überlegungen waren vielmehr von der Absicht bestimmt, durch die begriffliche Differenzierung eine Grenzlinie sichtbar zu machen, die durch den Begriff der Pragmatik immer wieder verwischt wird und dem Paradigma der funktionalen Erledigung ein unzulässiges Übergewicht gibt. Durch diese Grenzbestimmung sollte es schließlich möglich sein, in einer Theorie der geisteswissenschaftlichen Begriffsbildung die genuin »evozierenden« 18 Ausdrücke nicht nur in der Dichtung, sondern auch in Philosophie, Theologie, Geschichtswissenschaft und in allen interpretierenden Wissenschaften auf ihren Mal-Charakter hin zu untersuchen. Ihre evozierende Leistung kann nicht als »bloß dichterisch« dem Verdikt der Unwissenschaftlichkeit verfallen, solange erwiesen ist, dass durch sie prägnante, wenn auch häufig explikationsbedürftige Aussagen in den genannten Gebieten möglich sind (man denke etwa an den Begriff des »Klassischen«). Einer Epidigmatik als Theorie einer solchen evozierenden Begrifflichkeit käme einerseits die Aufgabe zu, semiotisch die Kommunikationsstruktur zu analysieren, die in der Artikulation eines Sachverhaltes vorliegt; sie hätte andererseits als hermeneutische Disziplin die historischen Bedingungen aufzuzeigen, unter denen es im einzelnen Fall möglich ist, Sach18

Zur Theorie der »evozierenden« Ausdrücke vgl. Misch 1930, vor allem 94 ff.

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Pragmatik und Epidigmatik

verhalte als bedeutsam aufzufassen und als solche verständlich zu machen. Das semiotisch-hermeneutische Phänomen der objektivierten Erfahrung von Bedeutsamkeit, sofern es als ein für die Theorie der interpretierenden Wissenschaften relevanter Sachverhalt anerkannt wird, muss sich so seinen eigenen kategorialen Rahmen schaffen.

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Die Artikulation des Eindrucks Die Bedeutung der reflektierenden Urteilskraft für das Projekt einer hermeneutischen Logik

1. Um ein Phänomen, das uns in irgendeiner Weise »beeindruckt«, beurteilen zu können, bedarf es einer großen Zahl von Voraussetzungen und Schritten, die noch längst nicht alle genügend in das Licht erkenntnistheoretischer, hermeneutischer und logischer Betrachtungen gerückt worden sind. Was ganz allgemein für den epistemologischen Diskurs gilt, ist auch festzustellen für manche Überlegungen zum Thema Urteilskraft: Während den Instrumenten des Denkens, den Begriffen, Urteilen, Schlüssen, Aussagen, Prädikationen usw. die eigentliche Aufmerksamkeit gilt, bleibt der Anlass der Denkbemühungen, nämlich die aufhellungs- und artikulationsbedürftige Konfrontation mit Wirklichkeit selbst, häufig als eine unbefragte Selbstverständlichkeit im Schatten der methodologischen Untersuchungen. Warum wir überhaupt fragen, denken, urteilen und argumentieren, bleibt häufig zweitrangig hinter der Frage, wie wir es tun. Auch die Versuche, die Bedingungen der Möglichkeit unseres Erkennens aufzuweisen, schließen keineswegs notwendig die Aufgabe ein, die anthropologischen Voraussetzungen der Gebrochenheit unseres Verhältnisses zur Wirklichkeit – dass wir überhaupt beeindruckbar sind und staunen können – in die Fragestellung mit einzubeziehen. Allerdings haben einige der philosophischen Hauptströmungen des 20. Jahrhunderts, nämlich Pragmatismus, Hermeneutik und Philosophische Anthropologie, die Besonderheit der conditio humana, nämlich den problembeladenen Wirklichkeitskontakt zur produktiven Herausforderung werden zu lassen, nachhaltig thematisiert, vielleicht am stärksten John Dewey, dem auch der Übergang zu einer von hier aus bestimmten Logik gelungen ist. Auch die Ansätze zu einer hermeneutischen Logik, wie sie im Umkreis des Göttinger Philosophen Georg Misch in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hervorgetreten 106 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Die Artikulation des Eindrucks

sind, können für sich beanspruchen, das Instrumentarium des Denkens nicht einer quasi technischen Erörterung zu überlassen, sondern es in seinem Hervorgang aus der menschlichen Grundsituation des Zurechtkommen-müssens mit Wirklichkeit zu entwickeln. Die Besonderheit dieser Ansätze ist dadurch charakterisiert, dass die in Frage stehende Wirklichkeit hier in der Regel nicht die Natur (schon gar nicht die mathematisch-physikalisch erfassbare Natur) ist, sondern die alltägliche Lebenswelt und – vor allem bei Misch – die Welt geistiger Objektivationen. In diesem Sinn ist der Einfluss Diltheys dominant – bei Misch in der Art eines ausdrücklichen Lehrer-Schüler-Verhältnisses, das sich teilweise auch noch auf Mischs Schüler Josef König 1 erstreckt, bei Hans Lipps 2 wenigstens in dem Sinne, dass die menschlichen und fachlichen Beziehungen zu Misch und König zu deutlichen Modifikationen seiner ursprünglich von Husserl und Reinach angeregten Fragestellungen geführt haben. Dilthey hatte schon früh gefordert: »Die Logik bedarf einer Reform aus der Tatsache der Wissenschaften des Geistes.« 3 Eine solche Logik sollte im System seiner Grundlegung der Geisteswissenschaften Erkenntnistheorie und Methodologie in der Weise verbinden, dass der anthropologische Befund der »Totalität der Menschennatur« in die logischen Analysen mit eingehen sollte. Damit war gemeint, dass neben den rein kognitiven Bezügen auch die emotionalen und volitionalen Verwicklungen des Subjekts mit der (primär historisch überlieferten) Wirklichkeit in die Betrachtung der logischen Leistungen eingehen sollte. »In der Selbstbesinnung, welche den ganzen unverstümmelten Befund seelischen Lebens umfaßt«, habe die Erkenntnistheorie (und mit ihr die Logik) ihre Grundlage. 4 Zu diesem TotalitätsMotiv kam ein zweites, das erst im Spätwerk Diltheys zur vollen terminologischen Ausbildung gekommen war: Es ist die bekannte Triade

1 Vgl. J. König: Sein und Denken. Studien im Grenzgebiet von Logik, Ontologie und Sprachphilosophie. 2. Aufl. Tübingen 1969. – Ders.: Vorträge und Aufsätze. Hrsg. v. G. Patzig. Freiburg/München 1978. 2 Vgl. H. Lipps: Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik. Werke, Bd. II, Frankfurt a. M. 1976. – Ders.: Die Verbindlichkeit der Sprache. Werke, Bd. IV, Frankfurt a. M. 1977. 3 W. Dilthey: Gesammelte Schriften, Bd. XIX. Göttingen 1982, S. 1. Im Folgenden zitiert mit Band- u. Seitenzahl. 4 Dilthey, V, 151.

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Die Artikulation des Eindrucks

Erlebnis-Ausdruck-Verstehen. 5 Hierbei kommt es vor allem auf das Verhältnis Erlebnis-Ausdruck an. Das in der Totalität seiner Lebensbezüge erlebende Subjekt bewältigt seine Berührungen mit Welt erst wirklich durch die Artikulation dieser Erlebnisse. In diesem Sinn gebraucht Dilthey einmal die Formulierung, der Ausdruck des Erlebnisses sei »schaffend«. 6 Im Gegensatz zu Husserl, der von einer in sich fertigen, ja geradezu »dogmatisch« gefestigten »natürlichen Einstellung« ausgeht, die es methodisch erst aufzubrechen gilt, könnte man im Falle Diltheys davon sprechen, dass ihn gerade das Unfertige, Explikationsbedürftige der Konfrontation mit Wirklichkeit interessiert, das dann allerdings im Ausdruck stabilisiert, vielleicht auch »dogmatisch« zu einer Form »natürlicher Einstellung« verfestigt wird. Das »Hermeneutische« dieses Ansatzes liegt nicht nur darin, dass mit dem Ausdruck des Erlebnisses eine Objektivation von Sinn gegeben ist, die den Ansatzpunkt für das Verstehen bildet. Dieses Verhältnis von Ausdruck und Verstehen ist zwar die Grundlage für jede hermeneutische Theorie, die vom objektivierten Sinn als ihrem »Urphänomen« ausgeht. Tiefer reicht der damit verbundene Gedanke, dass das im Ausdruck objektivierte Erlebnis nicht bis zur letzten Bestimmtheit und Eindeutigkeit artikulierbar ist und dem Verstehen damit ein Spielraum (Freiraum im positiven und negativen Sinn) verbleibt. Mit dem von Georg Misch bei Dilthey aufgegriffenen Begriff des Bestimmt-Unbestimmten ist diese Offenheit, die alles andere als Beliebigkeit und subjektive Willkür ist, zu einem der Grundbegriffe der hermeneutischen Logik gemacht worden. Es liegt auf der Hand, dass eine angemessene Charakterisierung des Phänomens einer bestimmt-unbestimmten Sinn-Objektivation einer Abgrenzung bedarf. Diese bezieht sich auf die Normen von Bestimmtheit, Eindeutigkeit, möglicherweise Exaktheit, deren Alleingültigkeit für das hermeneutische Denken ebenso abgewiesen werden muss wie die Verwechslung des hermeneutischen Zirkels mit einem schlicht vitiösen Zirkel der Logik. Hier zeigt sich im Umkreis von Georg Misch die Tendenz, mit dichotomischen Schemata zu operieren, in denen – in welcher Gestalt auch immer – der Gegensatz zwischen einer gleichsam harten, eindeutig festlegenden Begrifflichkeit auf der einen Seite und einem flüssigen, Sachverhalte eher erschlie5 6

Dilthey, VII, 77 ff. Dilthey, VII, 220.

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Die Artikulation des Eindrucks

ßenden als fixierenden Denken auf der anderen Seite betont wird. Hierher gehören Georg Mischs Gegenüberstellung von »evozierenden« und »rein diskursiven« Ausdrücken ebenso wie der Gegensatz zwischen »Schullogik« und »hermeneutischer Logik« bei Hans Lipps oder die Unterscheidung zwischen »determinierenden« und »modifizierenden« Prädikaten bei Josef König. Ausgangspunkt war zwar die Kontrastierung von Natur- und Geisteswissenschaften, aber es kamen Einflüsse durch Nietzsche, Bergson, William James und – im Falle von Hans Lipps – durch Heidegger hinzu. Schon bei oberflächlichem Vergleich zeigt sich eine gewisse Ähnlichkeit mit Kants Gegenüberstellung von »bestimmender« und »reflektierender« Urteilskraft. 7 Auch hier geht es um die Bestimmtheit, nämlich die Subsumtion des Besonderen unter das Allgemeine auf der einen Seite, und das offene, der Intuition verwandte Aufsuchen eines Allgemeinen für das gegebene Besondere andererseits. Es berührt geradezu merkwürdig, dass in den Schriften der genannten Autoren dieser Zusammenhang nicht gesehen und fruchtbar gemacht worden ist. Umso dringlicher erhebt sich die Frage, wie eng dieser Zusammenhang tatsächlich ist und welche Bedeutung die reflektierende Urteilskraft im Projekt einer hermeneutischen Logik hätte haben können.

2. Über Georg Misch sind in den vergangenen Jahren so zahlreiche Forschungsbeiträge veröffentlicht worden, 8 dass in der folgenden Charakterisierung seines Ansatzes eine gewisse Redundanz unvermeidlich ist. Dies betrifft vor allem die schon erwähnte Unterscheidung zwischen »rein diskursiven« und »evozierenden« Ausdrücken. WeniI. Kant: Kritik der Urteilskraft. Akademie-Ausgabe (Photomech. Abdruck) Bd. 5 Berlin 1968, S. 179 ff. – Auf den Zusammenhang zwischen dieser Kantischen Dichotomie mit dem Dilthey’schen Gegensatz von Erklären und Verstehen hat zuerst Rudolf A. Makreel aufmerksam gemacht in seinen Büchern: Dilthey. Philosopher of the Human Studies. Princeton 1975. – Ders.: Imagination and Interpretation in Kant. The Hermeneutical Import of the Critique of Judgement. Chicago 1990. – Von diesen Untersuchungen sind die vorliegenden Überlegungen stark angeregt worden. 8 Vgl. die Bände 11 und 12 des Dilthey-Jahrbuchs, Göttingen 1998 bzw. 2000 mit insgesamt 23 Beiträgen. Besonders zu erwähnen ist für unseren Zusammenhang die Arbeit von G. Matteucci: Aisthesis und Produktivität des Logos. Zu einer »Logik des Ästhetischen« bei Georg Misch; in: Bd. 11, S. 123–144. 7

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Die Artikulation des Eindrucks

ger geläufig ist dabei Mischs Position gegenüber der Dilthey’schen Entgegensetzung von Natur- und Geisteswissenschaften. Einerseits ist Misch gleichfalls von diesem Gegensatz ausgegangen und hat seine Fragestellung von hier aus leiten lassen. Andererseits hat er in seinem Aufsatz über Die Idee der Lebensphilosophie in der Theorie der Geisteswissenschaften von 1924 die Forderung erhoben, »die logischen Fundamente so breit anzulegen, dass der uns quälende Gegensatz von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, der sich inzwischen, nach Hegels Logik, eben durch die Verselbständigung der Wissenschaften vom menschlichen Leben neu in der Logik selbst aufgetan hat, nicht mehr die Wissenschaften zerreißt« 9.

Eine Einsicht vorwegnehmend, die sich erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts stärker durchgesetzt hat, vermutete Misch, »dass auch dieser Gegensatz […] ein bloß zeitläufiger, also vorübergehender ist und dass auch hier wieder die Entwicklung der Wissenschaft selbst, die große Veränderung, in der wir gegenwärtig begriffen sind, die Überwindung des Gegensatzes ermöglichen wird als eine Frucht der Umwandlungen in der physikalischen Begriffsbildung selbst« 10.

Auf keinen Fall dürfe man sich dabei beruhigen, »den Gegensatz von Natur- und Geisteswissenschaften durch eine formal-logische Konstruktion als notwendig – scheinbar als denknotwendig begreifbar – herzuleiten.« Dies bedeute weiter nichts, »als die gerade vorliegende wissenschaftliche Lage in Permanenz erklären« 11. Misch hat sich in seiner Göttinger Logik-Vorlesung beinahe amüsiert gezeigt durch das Befremden über diese Thesen, das ihm 1924 entgegenkam, »und zwar nicht bloß von Rickert, sondern auch von Nahestehenden wie Litt – ja selbst Freund Nohl« 12. Was er unter einer Verbreiterung der logischen Fundamente verstand, ist in dieser Logik-Vorlesung breit ausgeführt. Für unseren Zusammenhang ist 9 G. Misch: Die Idee der Lebensphilosophie in der Theorie der Geisteswissenschaften. Abgedruckt in: F. Rodi/H.-U. Lessing (Hrsg): Materialien zur Philosophie Wilhelm Diltheys. Frankfurt a. M. 1984, hier S. 142. 10 A. a. O., S. 144. 11 A. a. O., S. 145. – Vgl. dazu auch O. F. Bollnow: Georg Misch und der Göttinger Kreis; in: Ders: Studien zur Hermeneutik, Bd. II: Zur hermeneutischen Logik von Georg Misch und Hans Lipps. Freiburg/München 1983, hier S. 29 f. 12 G. Misch: Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens. Göttinger Vorlesungen über Logik und Einleitung in die Theorie des Wissens. Hrsg. v. G. Kühne-Bertram und F. Rodi. Freiburg/München 1994, S. 548. Weitere Seitenangaben zu Mischs Logikvorlesungen werden in den Text gestellt.

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Die Artikulation des Eindrucks

dabei wichtig, dass er auch die »evozierende« Rede, wie die Sprache der Dichtung, Metaphysik, Religion und Mystik, aufgenommen sehen wollte in eine Theorie der Diskursivität, um dann das Gesamtphänomen des Diskursiven in zwei Pole aufzugliedern, nämlich in die »rein diskursiven« und die »evozierenden« Ausdrücke. (499) Diese Zweiteilung entspricht nun nicht mehr dem Gegensatz von Naturund Geisteswissenschaften, geht aber trotzdem von einem grundsätzlichen Gegensatz zwischen beiden aus. Die allgemeine Diskursivität hatte Misch sprachlogisch bestimmt durch das Prinzip der »immanenten Synthesis«, also die durch die Sinneinheit des gemeinten Gedankens bedingte Kohärenz. Der Satz ist gestalthafte Ganzheit und nicht sukzessive Addition von Wort- und Satzelementen. Es besteht eine dialektische Beziehung von Ganzem und Teil, die Misch von einer »dialektischen Grundform der Diskursivität« (489) sprechen lässt. Er gebraucht wiederholt die Formulierung, dass das entstehende einheitliche Ganze der mehrgliedrigen Aussage nicht auf den Teilen, sondern in ihnen fundiert sei (497 f.). »Werdend gestaltet sich aufgrund der übergreifenden, das Ganze meinenden Denkbewegung aus den ursprünglich unverbundenen und eigensinnig nebeneinander stehenden, ungeformten Ganzheiten der Zusammenschluß des zueinander Passenden, indem sie zu Teilen werden und sich gleichsam verdichten.« (Ebd.)

Innerhalb dieser allgemeinen, alle Lebensbereiche und Wissensformen beherrschenden Diskursivität unterscheidet Misch nun zwei polar entgegengesetzte Aussagemöglichkeiten, die ihrerseits »zu zwei verschiedenen Arten oder Typen von Gegenständen gehören« (503): Die »rein diskursiven Aussagen« beziehen sich auf »theoretische Gegenständlichkeiten«, während sich der »evozierende Ausdruck« oder die Evokation auf »hermeneutische Gestaltungen« bezieht. Der Begriff »theoretische Gegenständlichkeiten« ist insofern missverständlich, als man darunter ausschließlich wissenschaftlich erfassbare Befunde verstehen könnte, die in rein diskursiven Aussagen theoretisch erfasst werden. Mischs Abgrenzungskriterium ist jedoch ein anderes. »Rein diskursive« Aussagen sind für ihn solche, die einen Sachverhalt oder eine Absicht in einem einzelnen Satz so aussprechen, »daß in ihnen das Gemeinte, das, wovon die Rede ist, sachlich aufgehoben ist derart, daß es aus dem Gesagten voll entnommen werden kann« (504). In diesem »sachlich aufgehoben« und »voll 111 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Die Artikulation des Eindrucks

entnommen« steckt zugleich die Tendenz auf einen Abschluss hin, die Misch den »rein diskursiven Aussagen« zuweist: »Das rein diskursive Denken zielt dahin, das Gemeinte thesenhaft in einem einzelnen Satz festzulegen und so die Bewegung des Denkens zum Stehen zu bringen, indem der Gedanke im Aussagesatz voll klargestellt und sozusagen aufgehoben, besiegelt ist« (506). In diesem Sinne rechnet Misch auch umgangssprachliche Sätze, wie »es ist warm hier«, oder: »ich werde jetzt spazieren gehen und nicht arbeiten«, zu den »rein diskursiven« Formulierungen. Dies ist einerseits einleuchtend im Hinblick auf den (relativ) abschließenden Charakter solcher Äußerungen und auf die Tatsache, dass der sachliche Gehalt im Satz »aufgehoben« ist und »voll entnommen« werden kann. Nicht plausibel jedoch ist die Zurechnung zu »theoretischen Gegenständlichkeiten«. Hier zeigt sich schon, gleichsam unter der Hand, dass Misch letztlich den Pol der »rein diskursiven« Rede in die Wissenschaft (vorzugsweise Naturwissenschaft) verlegt und als theoretische Gegenständlichkeiten aufzählt: Feststellungen von Tatsachen oder Absichten; Definitionen; Formulierungen von mathematischen Geltungen, von Naturgesetzen und von einsichtigen Zusammenhängen (zum Beispiel in der Logik). Demgegenüber ist die Bezeichnung »hermeneutische Gestaltungen« für den Gegenstandsbereich der evozierenden Rede hilfreich, wenn auch aus heutiger Sicht ungewöhnlich. Hier geht es nun um »die Macht der Rede, die Dinge hervorzurufen« (511), oder um »die Aussprache des lebendigen Wesens der Dinge in ihrer Selbstmacht und Bedeutsamkeit« (512). Misch verdeutlicht dies am Beispiel des Wassers in Goethes Gedicht Der Fischer. Es ist kein »theoretischer Gegenstand«, über den eine »rein diskursive« Aussage gemacht wird, sondern ein in seinem »Anmutungscharakter« als bedeutsam aufgenommenes und im »treffenden« oder »getreuen« Ausdruck prägnant erfasstes Stück Natur (512 ff.). Für Misch liegt hier ein besonders illustrativer Fall des Evozierens, also des Heraufbeschwörens, Zur-Realisation-bringens, vor. Denn das wässerige, rauschende, erfrischende Element ist hier »in seiner Bedeutsamkeit ergriffen vom Lebensbezug aus« (513), und die hermeneutische Gestaltung ermöglicht beim Hörer einen entsprechenden Nachvollzug. Allerdings ist für Misch die Natur als Rohstoff »hermeneutischer Gestaltungen« nur ein Teilbereich dessen, was durch »evozierende Ausdrücke« ergriffen werden kann. Und hier zeigt sich nun, wie stark Mischs Ansatz vom Dilthey’schen Wissenschaftsdualismus bestimmt 112 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Die Artikulation des Eindrucks

geblieben ist. Er verlegt zwar die Grenzen der Logik (in deutlicher Abkehr von den Windelband-Rickert’schen Grenzziehungen) in der Weise, dass die »rein diskursiven« Leistungen samt ihren »theoretischen Gegenständen« nicht nur Domäne der Naturwissenschaften, sondern auch in großem Maße Denk- und Aussageformen der Geisteswissenschaften sind. Aber so, wie der eine Pol der Diskursivität deutlich den Naturwissenschaften zugeordnet ist, wird der andere, sofern nicht dichterische, religiöse, rein lebensweltliche etc. Aussagen zu betrachten sind, bei den Geisteswissenschaften angesiedelt. Ihre Möglichkeiten, durch treffende und prägnante Aussagen objektivierte Erlebnisgehalte gleichsam wieder zu verlebendigen, rücken sie in die Nähe der Dichtung, ohne doch auf bloß dichterische Evidenz angewiesen zu sein. Es ist ja die Pointe des Ganzen, die logischen Fundamente so zu verbreitern, dass auch die lebensweltlichen und die scheinbar nur dichterischen Aussagen der Geisteswissenschaften als ernst zu nehmende Phänomene wissenschaftslogischer Betrachtungen gelten können, und zwar im Hinblick auf ihren Anteil sowohl an »rein diskursiven« als auch an »evozierenden« Leistungen.

3. Wenn wir von hier aus auf die Frage zurückkommen, welche Entsprechungen zwischen der hier entwickelten Polarität und den zwei Formen der Urteilskraft sich möglicherweise feststellen lassen, so lässt sich für den Logos der »rein diskursiven« Aussagen deutlich eine Verwandtschaft mit der bestimmenden Urteilskraft aufzeigen. Diese hat nach Kant das Besondere unter ein gegebenes Allgemeines zu subsumieren, während die reflektierende Urteilskraft zu einem gegebenen Besonderen das Allgemeine erst aufsuchen soll. Ein Subsumtionsurteil im Sinne der bestimmenden Urteilskraft ist zweifellos ein besonders typischer Fall einer »rein diskursiven« Aussage. Sowohl das Aufgehobensein der Sache in einem Satz als auch der Abschlusscharakter, wie Misch dies ausgeführt hat, sind als Leistungen der bestimmenden Urteilskraft anzusehen. Noch deutlicher tritt die Verwandtschaft hervor, wenn wir hinzunehmen, was Misch über den Gegensatz zwischen dem einlinigen Gedankenfortgang der »Konsequenzlogik« und der zirkulären Bewegung des Verstehens ausführt. Die Konsequenzbeziehung, wie sie in der Schlusslehre herausgearbeitet ist, sei »keineswegs die alleinige 113 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Die Artikulation des Eindrucks

logische Grundform der diskursiven Bewegung des Denkens überhaupt, sondern nur die des rein diskursiven Denkens«. Es sei festzuhalten, »daß das dort maßgebende Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen nur das eine logische Grundverhältnis ist, ihm gegenüber steht das Verhältnis des Ganzen und der Teile, das beim Verstehen und beim Auslegen maßgebend ist« (481). Wir können verdeutlichend hinzufügen: Nur dort, wo das Allgemeine schon gegeben ist, kann das Denken linear fortschreiten von einer Bestimmtheit zur nächsten. Wo aber das Allgemeine sich in ein »Ganzes« verwandelt, das in den Teilen sich aufbaut und ihnen doch zugleich die Struktur vorgibt, ist kein linearer Nachvollzug möglich, sondern eine Bewegung »im Hin- und Her-, Hinauf- und Herabgehen, die daher jenseits der Maßstäbe der Konsequenzlogik liegt und ihrer ganzen, aus dem Beweis sich erstreckenden Ebene« (ebd.). Die unmittelbaren Entsprechungen betreffen also das Gebiet eindeutiger Subsumtionen, die zweifellos auch den Kernbestand dessen ausmachen, was Misch unter »rein diskursiven« Sätzen versteht. Dass es darüber hinaus noch ein weites Feld anderer »rein diskursiver« Leistungen gibt, bei denen eine Zurechnung zur bestimmenden Urteilskraft problematisch ist, sollte aus den angeführten Beispielen, die Misch gibt, deutlich geworden sein. Noch schwieriger ist die Frage nach der möglichen Verwandtschaft von reflektierender Urteilskraft und evozierenden Leistungen zu beantworten. Hier muss zunächst mit Nachdruck betont werden, dass es uns nicht darum gehen kann, eine Art Passepartout zu finden, innerhalb dessen die beiden zweigliedrigen Schemata zu einer möglichst weitgehenden Deckungsgleichheit gebracht werden können. Vielmehr soll das Herantragen der Problematik der reflektierenden Urteilskraft an die hermeneutische Logik gleichsam als Ferment dienen, um Denkmöglichkeiten des einen wie des anderen Problemfeldes überhaupt erst zu entdecken oder mindestens zu artikulieren. Obgleich Misch die Beispiele für die evozierende Rede zu einem erheblichen Teil aus der Dichtung nimmt, ist es für unseren Zusammenhang angezeigt, sich auf die Fälle evozierender Aussagen in den Geisteswissenschaften zu konzentrieren. Dies führt noch einmal zurück zu den »treffenden«, »getreuen« bzw. »prägnanten« Ausdrücken, die wir – bei aller Nähe zur Dichtung – als legitimes Instrumentarium der Geisteswissenschaften anzusehen haben. Misch gibt als Beispiele für die Rolle der Evokation zwei Fälle, in denen die wis114 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Die Artikulation des Eindrucks

senschaftliche Bearbeitung eines ganzen Problemfeldes zu einer Art von Verallgemeinerung führt, die sich nicht in Subsumtionsbegriffen, sondern in evokativen Fassungen von »hermeneutischen Gestaltungen« ausspricht. Dies wird aufgezeigt bei der Begriffsbildung in den Principles of Psychology von William James und in dem seinerzeit sehr bekannten Buch Das Heilige von Rudolf Otto. Im Falle von James’ Psychology konnte Misch sich auf eine Besprechung des Buches durch den Dilthey-Schüler Bernhard Groethuysen stützen, dessen Formulierungen für die Terminologie von Misch von großer Bedeutung gewesen sein dürften. Groethuysen hatte an dem Verfahren von James vor allem die Methode hervorgehoben, »die einzelnen psychischen Vorgänge in einem typischen Gesamtbild« nacherlebbar zu machen. Das Typische (zum Beispiel des Wollens) wird so herausgearbeitet, dass es als etwas Augenfälliges und Nachvollziehbares in einer Zwischenstellung zwischen Allgemeinem und Besonderem steht. Es ist »weder ein abstrakt-allgemeines Gebilde, wie die sogenannten psychischen Elemente (Ereignisse, Vorstellungen usf.) noch etwas Besonderes; vielmehr wird aus dem Erfassen des Typischen zugleich die Besonderung solcher Erlebnislagen verständlich, die Variabilität des Typus, die einen Übergang zu dem individuellen Verschiedensten begründet: die Gliederung der verschiedenen Momente ist in ihrer inneren Zusammengehörigkeit ein erlebter, das heißt verständlicher Zusammenhang« (541 f.). Die für Misch wichtigste, von ihm auch in seinem Buch Lebensphilosophie und Phänomenologie zitierte Stelle aus Groethuysens Besprechung lautet: »Seine [James’; F. R.] Behauptungen haben im weitesten Maße einen interpretativen Charakter. Es sind Ausdrücke für die Erlebnisse, Veranschaulichungen, Bilder, Bezeichnungsweisen, die man etwa als »treffend« bezeichnen würde, Ausdrücke, bei denen das, was damit gemeint ist, zu prägnantem Bewußtsein gelangt, nacherlebt wird, ohne daß der psychische Vorgang nach gewissen realen Qualitäten hin analysiert wird. Der Leser wird so weit geführt, bis ihm unter Aufwendung aller Mittel das Gesamtbild typischer Vorgänge des seelischen Lebens gegenwärtig ist; dann handelt es sich darum, den zusammenfassenden prägnanten Ausdruck, den aufklärenden Ausdruck zu finden, der die verschiedenen einzelnen Erläuterungen zusammenfaßt.« 13

13 B. Groethuysen: Rezension von W. James’ The Principles of Psychology; in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 59 (1911), S. 130–132. Von Misch zitiert S. 542.

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Die Artikulation des Eindrucks

In dem als zweites Beispiel ausgewählten Buch des Theologen Rudolf Otto 14 geht es für Misch in ähnlicher Weise um das Problem, ein nicht definierbares Phänomen begrifflich gleichsam so zu umstellen, dass es zwar »nicht im strengen Sinne lehrbar, sondern nur anregbar, erweckbar« (545) ist. Die Kategorie des Heiligen ist für Otto »wie jedes ursprüngliche und Grunddatum nicht definibel im strengen Sinne, sondern nur erörterbar. Man kann dem Hörer nur dadurch zu ihrem Verständnis helfen, daß man versucht, ihn durch Erörterung zu dem Punkte seines eigenen Gemütes zu leiten, wo sie ihm dann selber sich regen, entspringen und bewußt werden muß.« 15

Misch erläutert dies so: »Wir können auch sagen, man muß auf diesem Gebiete geistigen Lebens von der Reflexion über die Gegenstände zurückgehen in die Aktion, den Vollzug; in der Aktion, im eigenen Durchmachen des betreffenden Erlebnisses zur Lösung über dessen Gehalt kommen, so daß diese Reflexion darüber den Gegenständen nur die Klarheit des Auges hinzufügt.« (544)

Nun ist dies zweifellos ein Extremfall und würde, verabsolutiert genommen, letztlich zu einer reinen Nacherlebens-Hermeneutik führen. Misch führt ihn an, um zusammen mit dem ersten Beispiel darzutun, »daß das Evozieren eines Sinnzusammenhangs, das wir innerhalb der Produktivität des geistigen Lebens als eine Grundform der Aussage fanden, in den Wissenschaften vom geistigen Leben seine Rolle behält« (545). Dies kann auch vom Gegenteil her gezeigt werden, nämlich vom Verlust der Ausdruckskraft eines evozierenden Ausdrucks, wenn dieser durch terminologischen Gebrauch oder gar modische Inanspruchnahme abgenutzt wird. Misch hat dies verschiedentlich am Beispiel des Wortes »Erlebnis« gezeigt, das einmal in besonderem Maße Vehikel der Intentionen Diltheys gewesen ist. Während der Terminus, der klar definiert und »rein diskursiv« eingesetzt wird, gegen diesen Verschleiß immun ist, weil er gar nicht evozieren will, verliert das ursprünglich treffende Wort seine Ausdruckskraft, wenn der terminologische oder gar der schlagwortartige Gebrauch »von der produktiven Aneignung der Sache« entbindet und »eine bloß intellektuelle Besitznahme des geistigen Ergebnisses ermöglichen« will (551). Ein kulturkritischer Seitenblick des LebensphilosoR. Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. 23.–25. Aufl., München o. J., von Misch zitiert S. 543. 15 R. Otto, a. a. O., S. 7. 14

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phen, der noch nichts von seiner Aktualität verloren hat! Aber zugleich eine Theorie der Prägnanz e contrario.

4. Es scheint, dass wir mit diesen Erörterungen weit abgekommen sind von der strengen Begrifflichkeit der kantischen Philosophie, von der wir die Lehre von der zweigeteilten Urteilskraft bezogen haben. Und doch sind auch bei der Evokation Bezüge sichtbar, wenngleich nicht mit der Deutlichkeit wie im Falle der »rein diskursiven« Leistungen der bestimmenden Urteilskraft. Die Suche nach einem Allgemeinen, dem wir ein gegebenes (und vielleicht dunkel gebliebenes) Besonderes zuordnen können, hat im Falle des Operierens mit »treffenden« oder »prägnanten« Begriffen einen anderen Charakter als bei der »rein diskursiven«, abschluss-orientierten Subsumtion. Wie wir im Fall des Typischen gesehen haben, stößt das evozierende Verfahren gar nicht bis zu einer abstrakten und definierbaren Allgemeinheit vor, die zugleich einen Schlusspunkt der Aufhellungsarbeit bilden würde. Die »hermeneutische Gestaltung« als das Typische, das Bedeutsame oder sonst wie Hervorgehobene bildet eine Art Pointierung des jeweiligen Sinnzusammenhangs, der man den Charakter der Allgemeinheit nur in dem Sinne zusprechen kann, dass das im treffenden Ausdruck Angesprochene stellvertretend für Einzelbestimmungen steht, die in ihm aufgehen. So werden im evokativen Begriff des Numinosen bei Rudolf Otto Einzelzüge des religiösen Lebens prägnant zusammengefasst. Aber der so entstehende Allgemeinbegriff bleibt »bestimmt-unbestimmt«, und seine Erkenntnisfunktion hat weniger abschließenden als heuristisch aufschließenden Charakter. Von hier aus gesehen scheint es in der Tat Entsprechungen zwischen dem Gegensatz von bestimmender und reflektierender Urteilskraft einerseits und dem von »rein diskursiven« und »evozierenden« Ausdrücken andererseits zu geben. Zu beachten ist allerdings, dass der von Kant in heuristischer Absicht eingeführte Begriff der Zweckmäßigkeit als regulatives Prinzip der Naturerkenntnis ein »rein diskursiver« Begriff ist. Die heuristische Funktion an sich muss also unabhängig von der Begriffsart betrachtet werden. Das Verfahren der Evokation würde demnach als ein heuristisches Prinzip sui generis anzusprechen sein, bei dem es darauf ankommt, die fragliche Sache (gleichsam 117 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

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probeweise) möglichst prägnant und anschaulich sichtbar zu machen, um damit den Boden für differenziertes Weiterfragen zu erschließen. Hierbei kommt einem Verfahren eine besondere Bedeutung zu, das umgangssprachlich als »Charakterisieren« bezeichnet wird. Es ist dem allgemeinen Sprachgebrauch nach richtig, »charakteristische« Merkmale hervorzuheben, auch wenn es sich dabei um die Bestimmung »spezifischer« oder »typischer« Phänomene handelt. So gibt es den »charakteristischen« Entenflug, Birkenwuchs oder Pilzbefall – Formulierungen, die allerdings ohne semantischen Verlust durch »typisch« ersetzt werden können. Erst die wissenschaftlich genaue Sprache beschränkt sich auf »typisch« oder – im Fall der Diagnose – auf »symptomatisch«. Aber auch das Symptom darf »charakteristisch« genannt werden, ohne dass damit der medizinische Diskurs an Stringenz verlöre. Etwas anders liegen die Dinge beim Verbum »charakterisieren«. Ein Austausch mit scheinbar passenden Synonymen, wie »beschreiben«, »kennzeichnen«, »darstellen« bedeutet oft eine Abschwächung oder Neutralisierung. Es kann ein Unterschied darin liegen, ob ich eine Situation »beschreibe« oder »charakterisiere«. Dies gilt vor allem dort, wo die Charakterisierung in die Nähe der Karikatur rückt. Ein Witz kann eine Person treffender charakterisieren als eine noch so genaue und detailreiche Beschreibung. Auch die »Kennzeichnung« in der Präzision eines Steckbriefs »charakterisiert« nicht eigentlich den Gesuchten. Noch stärker als beim »charakteristischen« Merkmal, das auch »typisch« sein kann, ist das Charakterisieren ein Auf-denPunkt-bringen. Dieser »Punkt« ist problemgeschichtlich seit der Antike das Entscheidende. »Charakter« ist eigentlich eine semiotische Kategorie. Er ist das Unterscheidungsmerkmal, also ein Zeichen für etwas Unverwechselbares, zum Beispiel, mit Luther gesagt, »das geistliche Malzeichen in der Seele« 16. Es scheint ein wichtiger Wesenszug dieses Auf-den-Punkt-bringens zu sein, dass der Punkt im Zuge des Charakterisierens überhaupt erst, oder erst so, gefunden werden muss. Wenn jemand sagt: »Ich versuche, dies zu charakterisieren«, verlässt er sich bis zu einem gewissen Grad auf das Kleist’sche Prinzip der »allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden«. Hätte er den Punkt schon völlig fixiert, würde er das in Frage stehende Phänomen eher unter dieses 16 Vgl. Th. Dietz: Wörterbuch zu Dr. Martin Luthers deutschen Schriften. Neudruck 1961, Bd. 1, S. 372.

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schon bekannte Allgemeine subsumieren als es zu einem nur vage vorschwebenden »Punkt« hinaufzuführen. Dies betrifft wieder direkt den Unterschied zwischen der bestimmenden und der reflektierenden Urteilskraft. Das Charakterisieren scheint in vielen Fällen eine besonders ausgeprägte Form zu sein, zu einem gegebenen Besonderen ein Allgemeines zu finden. Hierbei spielt der kommunikative Aspekt eine besondere Rolle. Das Charakterisieren findet nicht im tiefsten Innern der Seele, sondern als vernehmbare »Artikulation des Eindrucks« statt. Zwar kann das Problematische, sofern es nur ein verdeckt Vertrautes ist, auch ohne viel Worte zurechtgerückt und erledigend unter ein bereitliegendes Allgemeines subsumiert werden. Das Phänomen ist hier – mit einem von Hans Lipps gelegentlich gebrauchten Wort gesagt – »umgriffen«, wenn auch nach anfänglicher Störung des Verständnisses. Im Charakterisieren dagegen liegt die Spannung einer Annäherung, die sich über Jahre hinziehen kann. Jeder kennt das Quälende, das darin liegt, mit einem bestimmten Phänomen, zum Beispiel einem Kunstwerk, nicht zurecht-, aber auch nicht von ihm loszukommen. Irgendwann löst sich der Knoten, eine befreiende Formulierung stellt sich ein, die nun »Haltepunkt« im doppelten Sinn des Wortes ist: die Artikulation gibt einen gewissen Halt und ist Ausgangspunkt für weiteres Nachdenken. 17 Damit sind wir an den Anfang dieser Erörterungen zurückgekehrt, zu der Frage nämlich nach der Bedeutung des problembeladenen Wirklichkeitskontaktes, von dem erst die verschiedenen Erkenntnisprozesse ausgehen. Zwar ist auch in der Nachzeichnung der Position von Georg Misch die Frage der Begegnung mit NichtSelbstverständlichem sekundär geblieben gegenüber der Erörterung der Weisen des Zurechtkommens mit Welt. Mit der Kategorie der Bedeutsamkeit des uns so oder so »Anmutenden« ist allerdings im Prinzip der Tatsache Rechnung getragen, dass es für das Erkennen einer Art von Reibung mit Wirklichkeit bedarf, die nicht (wir dürfen jetzt sagen: »rein diskursiv«) als Reiz-Reaktions-Schema neutralisiert werden sollte. Im ersten Satz unserer Untersuchung war davon die Rede, dass es darum geht, »ein Phänomen, das uns in irgendeiner Weise ›beeindruckt‹, beurteilen zu können«. Dieses Beeindruckt-sein hat in Mischs Gedankengang nur die positive Darstellungsform des Angemutet-seins durch das Bedeutsame gefunden. Wir müssen aber Vgl. F. Rodi: Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1990, S. 9 ff.

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davon ausgehen, dass die reflektierende Urteilskraft auch dort beim Besonderen einsetzt, wo dieses uns stört, irritiert, frappiert, problematisch, ja gänzlich fremd ist. Gerade in solchen Fällen bedarf es erster, vorläufiger »Haltepunkte«, die mehr sind als schnell einrastende Vorurteile. Das Subsumieren unter geläufige Allgemeinheiten oder gar Klischees wird hier abgefangen zugunsten tastend-evokativer Deutungsentwürfe. Diese mögen in metaphorischen Wendungen, Vergleichen (»es ist wie …«), karikierenden Unterstreichungen, willkürlichen Akzentuierungen etc. etc. auftreten. Es sind erste »Artikulationen des Eindrucks«, die sowohl in positiv wertender als auch in abwertend-distanzierender Richtung möglich sind. Hier soll im Folgenden auf entsprechende Analysen von Hans Lipps zurückgegriffen werden.

5. Ähnlich wie in den Abschnitten über Georg Misch kann auch bei Hans Lipps nicht über die ganze Breite seiner philosophischen Interessen berichtet werden. Aber auch hier kann auf eine ganze Sammlung neuerer Arbeiten verwiesen werden, in denen Leben und Werk des jahrzehntelang so sehr Vernachlässigten von verschiedenen Seiten aus beleuchtet worden sind. 18 Die folgenden Bemerkungen beschränken sich im Wesentlichen auf wenige Abschnitte des Buches Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik, sofern von ihm aus die Frage nach der Bedeutung der reflektierenden Urteilskraft auch für dieses Denken aufgeworfen werden kann. Allerdings ist hier die selektive Behandlung einzelner Gedanken sehr viel schwieriger als bei Georg Misch, weil das Denken von Hans Lipps in der Unmittelbarkeit seines Sich-aussprechens eine größere, man möchte sagen: »existentielle« Dichte hat, die das Ausgliedern einzelner Elemente eigentlich nicht gestattet. Immerhin können von einigen Punkten aus Linien gezogen werden, die auf einen Zusammenhang verweisen, der nicht einfach durch die Vokabel hermeneutische Logik gestiftet ist. An die Spitze der vergleichenden Weiterführung sei ein längeres Zitat gestellt, in dem die Denkmotive der beiden Philosophen in Im Folgenden wird im Text nach der Ausgabe der Werke von Hans Lipps, Frankfurt a. M. 1976 ff. zitiert.

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ihrem engen Zusammenhang, zugleich aber auch in ihrer grundsätzlichen Verschiedenheit zum Ausdruck kommen: »Denn die Gedanken, von denen man bewegt wird, und die einen beschäftigen, die einem als Eingebung kommen, die ebenso aber auch von mir aufgegriffen werden können, in deren schrittweisem Vollzug Existenz sich gründet in ihrem Verhältnis zur Welt und sich darin begegnet mit ihresgleichen – diese Gedanken sind etwas anderes als das diskursive Denken, dessen Wegen man in Formen der Urteile oder in Figuren des Schließens auf die Spur zu kommen sucht. Subsumtion unter Begriffe und Ermittlung sind Verfahren, die schulgerecht zu üben und auf die Dinge anzuwenden sind. Das Ziel einer solchen formalen Logik war hierbei wie unter der Hand angesetzt: Wie stellt man es an, um so etwas wie Erkenntnisse als Bestand auszumünzen und verrechnen und in all dem sich einen Besitz bestätigen zu können?« (II, S. 11 f.)

Um mit dem Augenfälligsten zu beginnen: Auch Lipps hebt das diskursiv-subsumierende Denken, um dessen Urteils- und Schlussformen es in der formalen Logik geht, kritisch ab von einem uns »bewegenden« Denken, das einerseits in seiner lebensweltlichen Kontingenz, andererseits aber auch in seinem existenziellen Bezug zur Welt und den Anderen gesehen wird. Unüberhörbar auch hier der kulturkritische Ton, wenn nicht nur das »schulgerechte« Üben und Anwenden der überkommenen Formenlehre vermerkt, sondern mit Hilfe der Geld-Metaphorik die Berechenbarkeit und der Besitzanspruch eines sich auf feste Erkenntnis- Bestände verlassenden Denkens ironisiert wird. Das »Ausmünzen« ist eine häufig wiederkehrende Metapher, ebenso wie das »Wechsel ziehen«, wenn etwa das Begreifen als Subsumtion mit dem »Einziehen eines Wechsels auf Wissen« verglichen wird (II, 53; vgl. 19, 52, 71, 142 u. ö.). Zugrunde liegt die Abwehr der Alleingültigkeit statischer Zuordnungen zwischen eindeutig bestimmten, terminologisch festgelegten Bedeutungen und entsprechenden Sachverhalten. Über Misch hinaus geht der auf den Einfluss Heideggers verweisende Gedanke, dass in dem schrittweisen Vollzug dieser uns bewegenden Gedanken »Existenz sich gründet in ihrem Verhältnis zur Welt und sich darin begegnet mit ihresgleichen«. So kann programmatisch gefordert werden, eine formal-logische Morphologie des Urteils »durch eine Typik der Schritte zu ersetzen, in denen Existenz sich vollzieht, d. i. bestimmend und urteilend, schließend und beweisend sich aufnimmt in der Artikulation ihrer Lage, sich auseinandersetzt mit ihresgleichen« (II, 12). 121 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

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Es kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden, wie Lipps diesen Grundgedanken durchführt, ausgehend von der Voraussetzung, dass menschliches Denken und Reden immer situationsgebunden ist und »verstrickt« in Vorgaben und Vorentscheidungen. »Das wirklich gesprochene Wort gilt es, in dem Selbstverständnis seines Vollzugs sich ausdrücklich anzueignen.« (II, 20) Unabhängig von der stärker durch Heidegger beeinflussten Akzentsetzung bleibt hierbei der uns vor allem interessierende Gedanke, dass es zur »offenen Unbestimmtheit der Situation« (II, 24) gehört, Wirkungen und Eindrücken ausgesetzt zu sein, die es aufzunehmen und zu artikulieren gilt. Hier ist nicht nur die Nähe zu Mischs Gedanke des Angemutet-seins durch die vom Lebensbezug aus konstituierte Bedeutsamkeit offenkundig. Lipps bezieht sich auch explizit auf das Buch Sein und Denken 19 seines Freundes Josef König, in dem vor allem die logische Leistung der »modifizierenden Prädikate« als Antwort auf uns Anmutendes untersucht worden ist. So ist das »Aufmich-wirken« und seine Artikulation gemeinsames Thema der drei Göttinger Philosophen, wenn auch ihre Antworten verschieden ausgefallen sind. So, wie Lipps schon in anderem Zusammenhang gesagt hatte: »In der Artikulation des Kontextes der Wirklichkeit gründet sich Existenz« (II, 56), bildet auch der Abschnitt über Die Artikulation des Eindrucks (II, 96–106) einen Beitrag zu dieser existenzphilosophisch-hermeneutischen Logik. Auch im Aufnehmen eines Eindrucks »gründet sich Existenz«, denn solches Aufnehmen »geschieht in der Richtung einer Selbstbegründung: man faßt Fuß in der Wirklichkeit, zu der man unterwegs ist und bleibt« (II, 99). »Ich selbst bin angesprochen in dem Eindruck, den ich von etwas habe.« (II, 97) Und dies bedeutet zunächst, dass mich etwas bewegt, auf mich wirkt, aber nicht im Sinne eines kausalen Bewirkens, sondern – dies hatte König in großer Ausführlichkeit entwickelt – im Sinne eines »So-wirkens« (etwa wenn man sagt: »Das Zimmer wirkt leer«). In der Berührung mit dem, das »so wirkt«, liegt eine zweifache Bewegung: »Dies aber, von dem ich bewegt werde, ist doppelsinnig: es bedeutet nicht nur das, von woher ich bewegt werde, was auf mich wirkt, sondern ebenso sehr, und zwar wesentlich ebenso sehr das, worauf ich hierbei gebracht werde, worin der Eindruck sich verdichtet.« (II, 98) 19 J. König: Sein und Denken. Studien im Grenzgebiet von Logik, Ontologie und Sprachphilosophie. 2. Aufl. Tübingen 1969.

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Lipps betont also die aktive Teilnahme dessen, auf den etwas »so wirkt«. Der Eindruck kommt erst dadurch wirklich zustande, dass der, auf den etwas »so wirkt«, sich nicht nur passiv bewegen lässt, sondern das Bewegende »aufnimmt«. Das, worauf ich gebracht werde, kann Verschiedenes sein, zum Beispiel eine Metapher oder ein Vergleich. »Das Wort charakterisiert den Eindruck.« (II, 98) Ein Aufnehmen des Eindrucks kann auch durch einen Gedanken geschehen. »Man entspricht hier der offenbaren Bedeutsamkeit eines Eindrucks. Was sich darin meldet, gilt es in dem Sinne aufzunehmen, daß man es verfolgt und zuspitzend zu verdeutlichen sucht.« (II, 99) Der Eindruck verlangt, »in seiner Reinheit ersteigert zu werden« (IV, 119).

6. Wir sind hier an dem Punkt angelangt, wo das Referat der Gedanken von Lipps zu der Frage zurückführt, die schon im Blick auf Georg Mischs Theorie der Evokation gestellt worden ist. Bei beiden Autoren sind sprachlogische Phänomene in den Blick gekommen, die zu dem weiten Bereich des – mit Herder gesprochen – »besonnenen« Reagierens und der sprachlichen Anverwandlung von Wirklichkeit gehören. In beiden Fällen wurde das »Sich-auseinandersetzen-mit-den-Dingen« (Lipps, I, 41) in einer Richtung verlaufend interpretiert, die gegenläufig ist zu eindeutigen und »erledigenden« Bestimmungen im Medium von Subsumtionen. Ob nun in »evozierender Rede« oder in der »Verdichtung« und »Zuspitzung« von Eindrücken – in beiden Fällen erwies sich die Aufhellung des jeweils Besonderen in seiner Bedeutsamkeit als ein Prozess der Artikulation, also einer Annäherung an Allgemeinstrukturen, ohne den Charakter des »BestimmtUnbestimmten« zu verlieren. In beiden Fällen wurde der Anspruch zurückgewiesen, dass nur die Bestimmtheit und Eindeutigkeit von Bedeutungen und Prädikationen verlässliche Erkenntnis liefern könne. Es ging beiden Philosophen um die Fasslichkeit der Phänomene im Medium »treffender«, »prägnanter« und »zuspitzend verdeutlichender« Ausdrücke. Von hier aus ist zu fragen, ob von dieser Seite der hermeneutischen Logik ein Bereich erschlossen werden kann, den man allgemein (und ohne die Bindung an die spezifisch existenzphilosophische Fragestellung bei Lipps) als »Artikulation des Eindrucks« bezeichnen kann. Es wäre dann weiter zu prüfen, ob mit den Begriffen Subsum123 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

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tion und Artikulation zwei konträre Möglichkeiten des Beurteilens zu fassen sind, von denen die eine auf einen Abschluss des Erkenntnisprozesses, die andere eher auf ein Zwischenergebnis oder auf die Gewinnung einer Fragestellung hin angelegt ist. Dies soll an folgendem Beispiel verdeutlicht werden. Es sei angenommen, dass ein angehender Literaturwissenschaftler im Begriff stehe, sich biographisch mit Hermann Hesse zu beschäftigen. Aus bisher nur oberflächlicher Lektüre kenne er die Probleme des jungen Hesse in Schule und Elternhaus, und auch einige Besonderheiten schwäbischer und schweizerischer Pfarrers- und Missionarshäuser seien ihm bekannt. Wir nehmen an, er könnte uns berichten: »Ich wurde in Bilddokumenten über das Leben von Hermann Hesse besonders aufmerksam auf Fotografien des Vaters. Der eigentümlich abwesende, sich nach außen abschließende Blick eines offenkundig sensiblen, aber sehr disziplinierten, ernsten Mannes schien mir Ausdruck einer geheimen und subtilen Despotie zu sein, wie ich sie mir in der Enge der schwäbischen Missionarswelt gut vorstellen konnte. Vor allem das Familienfoto von 1899, 20 auf dem die wie eingeschüchtert wirkende Mutter nach der Hand des etwas abseits sitzenden Sohnes greift, während sich der Vater mit gefalteten Händen in der Bildmitte zu isolieren scheint, erschien mir als Ausdruck eines unnachgiebigen Herrschaftsanspruches auf hohem Bildungsniveau, den ich mir leicht als eine der Quellen für Trotz und Rebellentum des Sohnes deuten konnte. Wie überrascht war ich aber, als ich auf die Charakterisierung des Vaters durch den Dichter stieß: ›Abseits stand er, einsam, ein Leidender und Suchender, gelehrt und gütig, ohne Falsch und voll Eifer im Dienst der Wahrheit.‹ Und auch jener eigentümliche Blick wird charakterisiert: ›Wir liebten […] den reinen, oft leidenden, aber stets offenen, wahrhaftigen und zu gutem Benehmen und Ritterlichkeit verpflichtenden, an das Bessere im andern appellierenden Blick des Vaters.‹ 21 Hatte ich also diesem Deutsch-Balten, der in der Welt des schwäbisch-alemannischen Protestantismus offenbar nicht nur durch sein strenges Hochdeutsch immer eine Art Fremdling geblieben ist, Unrecht getan? Oder klingt vielleicht zwischen den Zeilen der möglicherweise etwas verklärenden Rückschau des Dichters doch etwas durch von jener ›subtilen Despotie‹, die von dem ›zu gutem Benehmen und Ritterlichkeit verpflichtenden‹ Blick ausgegangen sein mochte? Ich möchte der Sache weiter nachgehen.«

Vgl. B. Zeller (Hrsg.): Hermann Hesse. Eine Chronik in Bildern. Frankfurt a. M. 1960, S. 33 u. 25. 21 Zitiert nach B. Zeller: Hermann Hesse in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek b. Hamburg 1963, S. 11 f. 20

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Das Beispiel zeigt, wie die Artikulation des Eindrucks eine Art »Haltepunkt« darstellt, von dem aus weitere Schritte der Annäherung an einen in Frage stehenden Sachverhalt möglich, vielleicht nötig sind. Dass die erste Charakterisierung des Vaters auf eine zweite und gegensätzliche stößt, erzeugt in unserem Fall nicht beruhigende Korrektur, sondern Erhaltung, ja vielleicht Steigerung jener Unruhe, die bereits in der spannungshaften Wortverbindung »subtile Despotie« zum Ausdruck kam. Der Vater wird von Anfang an nicht einfach als »Despot« gesehen; es ist nicht der kraftstrotzende, geistig gewalttätige Vater Kafkas. Ein möglicher Anspruch auf unbedingte Autorität könnte gerade in der Intensität der Verinnerlichung liegen, die dem Betrachter befremdlich erscheint. Die Konfrontation mit der Charakterisierung durch den Sohn intensiviert nur den Eindruck von Ambivalenz. Der zunächst harmlos-lebensweltliche Umgang mit einigen Fotografien intensiviert ein Forschungsinteresse. Die Worte des Dichters über den »Leidenden und Suchenden« erscheinen in einem Zwielicht; denn wie groß wird doch die Einschränkung der Eigenwilligkeit des so gänzlich anders veranlagten Knaben gerade dadurch gewesen sein, dass dieser uns noch heute beunruhigende Blick allgegenwärtig war! Ein spezielles biographisches Interesse ist geweckt, Dokumente, Briefe, Berichte sind zu konsultieren, bereits vorliegende Interpretationen kritisch zu sichten. Wir lassen hier gänzlich offen, ob es sich bei dem Fund des jungen Literaturwissenschaftlers um eine originelle und innovative Sicht der Dinge handelt oder um eine aperçuhafte Wiederentdeckung längst ausgemessenen Terrains. Wichtig für unseren Zusammenhang ist allein die Art der Setzung eines Zeichens und die von ihr ausgehende heuristische Kraft. Semiotisch gesprochen besteht die Leistung der Artikulation des Eindrucks im Initiieren einer Kette von Semiosen. Die »epidigmatische« 22 Heraushebung eines bedeutsamen (oder hier eher problematischen) Zuges der Wirklichkeit ist zwar »Haltepunkt«, aber nicht Endpunkt des Stranges von Verweisungen. Hierin liegt der entscheidende Unterschied zum abschließenden Urteil einer fest begründeten Subsumtion. Die Charakterisierung »subtile Despotie« ist kein Verdikt, bei dem es sein Bewenden haben kann. Hesses Vater wird nicht »abgeurteilt«, sondern beurteilt, und zwar in der Fassung eines Oxymorons, das 22

Vgl. oben S. 82 ff. (2015)

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allein schon durch die Spannung zwischen seinen beiden Wortbestandteilen eine Offenheit für weitere Interpretationen ausdrückt. Dem eindeutigen Verdikt gegenüber steht hier die Interpretation erst am Anfang, der durch die Artikulation des Eindrucks deutlich markiert wird.

7. Ein gewisser Aspekt der Beunruhigung durch ein Stück artikulationsbedürftiger Wirklichkeit, von der diese Überlegungen ausgegangen sind, kann auch durch den Begriff des Problematischen 23 charakterisiert werden. Dies lässt sich gleichfalls durch unser Beispiel illustrieren. Das Problematische stellt eine Abweichung vom Normalen, Selbstverständlichen und zu Erwartenden dar, die groß genug ist, um eine kontextuale Sinnerwartung zu enttäuschen, aber doch auch gering genug, um die Art der Abweichung vom Normalen oder Gewohnten als nur irritierend oder beunruhigend erscheinen zu lassen. Eine Katastrophe, wie das Auftreten einer neuen Seuche, ist nicht einfach nur problematisch; wohl aber kann das Verhalten der Verantwortlichen so wirken, wenn ihr Eifer unterhalb der zu erwartenden Norm liegt. Manche Formen des Fanatismus können als problematisch empfunden werden; für einen Terrorakt mit Tausenden von Toten wäre das Wort auf groteske Weise unangemessen. Das Problematische kann Bestandteil desjenigen Fremden sein, das in einen direkten Bezug zum Vertrauten und Gewohnten gesetzt wird und durch seine Abweichungen auffällt. Eine völlig fremde Sprache kann schwierig sein, ohne zu beunruhigen. Problematisch wirkt sie dort, wo sie durch ihre Struktur einen Aspekt der Wirklichkeit in einer völlig ungewohnten und übertrieben erscheinenden Weise herausstellt oder ihn gänzlich ignoriert. Das Problematische ist also die Qualität eines Eindrucks. In seiner Artikulation wird eine Distanz zum Gewohnten oder Erwarteten markiert. Im Gegensatz zum Staunenswerten, das eine Art Überfluss-Phänomen ist, wird im Problematischen eine Defizienz, bezogen auf die mitgebrachte Sinnerwartung, konstatiert. In unserem Zur Vereinheitlichung der Terminologie im Ganzen des Buches wurde der im Erstdruck verwendete Begriff befremdlich in problematisch umgeändert. (2015)

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Beispiel erwartete der junge Forscher das Bild eines patriarchalischen, vielleicht sogar tyrannischen Vaters oder auch nur eine bürgerlichbiedere Kontrastfigur zu dem jungen genialischen Dichter. Stattdessen sieht er die so merkwürdig entrückte Gestalt und ist überrascht von der milden Charakterisierung durch den Sohn. Das für ihn Problematische ist keine »objektive« Eigenschaft der überlieferten Wirklichkeit. Das Bild des Vaters könnte auch Sympathie, Bewunderung oder Mitleid wecken. Problematik empfindet unser Forscher im Kontext einer Biographie, in der eine solche Gestalt irritiert, weil sie das Gefühl vermittelt, dass hier etwas nicht zusammenpasst. Der Ausdruck »subtile Despotie« markiert den ersten Schritt der Annäherung an ein komplexes Phänomen. Als vager Sinnentwurf enthält er den Keim einer Hypothese, die etwa lauten könnte: Gerade die leidende Sensibilität und Güte des Vaters bedeutete für den jungen Menschen eine gravierende Einschränkung und Infragestellung des eigenen Wertes, die allerdings in der Rückschau des Dichters ins Positive gewendet wird. Eine solche Hypothese würde auch bei stärkerer Ausdifferenzierung und Konkretisierung vermutlich nachhaltig bestimmt bleiben von der Artikulation des ersten Eindrucks. Der Forscher hätte eine Hinsicht gewonnen, die für die konkrete biographische Forschung leitend wäre. Auch wenn sich die ganze Fragestellung als revisionsbedürftig oder sogar verfehlt erweisen sollte, bliebe doch eine Intensität der Zuwendung zur Sache, die ein Zurechtkommen anstrebt. Es stellt sich hier freilich die Frage, ob die Art der Voreingenommenheit, welche die Voraussetzung für den Eindruck von Problematischem sein dürfte, den Blick des Forschers nicht doch allzu sehr einschränkt und zur Ausblendung anderer, vielleicht relevanter Faktoren verleitet. Es ist hier die Stelle, wo das offene Verfahren der reflektierenden Urteilskraft als Garant gegen jede Verfestigung von Vorurteilen heranzuziehen ist, indem sie die produktive Seite der Voreingenommenheit aktiviert. Die Artikulation des Eindrucks als »Antwort auf die Dinge« (Lipps IV, 115) 24 bedeutet eine solche Aktivierung, sofern gleichzeitig gewährleistet ist, dass der dezidierte erste Griff sich mit dem Bewusstsein seiner bloß heuristischen Tragweite verbindet. Nur die vorschnelle Subsumtion unter ein bereitliegendes Vgl. den vorzüglichen Aufsatz von Käte Meyer-Drawe: »Das Wort als Antwort auf die Dinge: Lipps und Merleau-Ponty zur Kreativität von Sprache«, in: Dilthey-Jahrbuch, Band 6 (1989), 127–140.

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Allgemeines (hier zum Beispiel Kategorien der Psychoanalyse) würde das Befangensein in Vorurteilen befestigen. Die Prägnanz der Artikulation des ersten Eindrucks liefert jedoch nur ein »Bestimmt-Unbestimmtes«, im Dilthey’schen Sinn gesagt einen »Erlebnisausdruck«, dessen relative Allgemeinheit nur regulative Kraft hat. Ähnliches gilt für das positive Angemutetsein und seine entsprechenden Artikulationen in Ausdrücken des Staunens, Bewunderns, Verehrens. Vor allem die Erfahrung von Bedeutsamkeit kann als direkte Umkehrung der Erfahrung von Problematischem verstanden werden. Auch hier kann die Artikulation des ersten Eindrucks eine nachhaltige Leitfunktion ausüben. Jeder kennt die Befriedigung, die im Entdecken neuer Sinnstrukturen im Museum, Theater oder Konzertsaal liegt. Die Artikulation solcher Erfahrungen kann auch hier Leitfunktion für ein forschendes Interesse und die Gewinnung eines immer differenzierteren Verhältnisses zur Wirklichkeit werden. Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass im Fortgang dieser Erörterungen der Begriff des Eindrucks auf die Bedeutung des ersten Eindrucks verengt wurde. Dabei dürfte freilich auch deutlich geworden sein, dass die Formulierung »erster Eindruck« im Grunde einen Pleonasmus darstellt, sofern wir unter »Eindruck« eine Anmutung verstehen, die der Artikulation bedarf, um überhaupt fasslich zu werden. Eine solche Anmutung geht nicht vom immer schon Geläufigen und Gewohnten aus. Zwar gibt es auch die nachträgliche »Entdeckung« von bisher Gewohntem und Vertrautem, wenn es uns »wie Schuppen von den Augen fällt«. Ob aber solche Akte eines überraschenden Durchbruchs durch die Verkrustungen der Wirklichkeit mit Fug als »Eindrücke« bezeichnet werden können, muss bezweifelt werden: Wir stehen plötzlich vor der Fassade eines Hauses, an dem wir bisher immer achtlos vorbeigegangen sind. Wir bewundern die Proportionen, die Farbe des Steins, die Anordnung der Fenster. Wir können zwar davon sprechen, von dem Haus, das bisher nur Alltagskulisse war, plötzlich »beeindruckt« zu sein. Dies hat jedoch nur wenig zu tun mit jener ersten Berührung mit Wirklichkeit, die uns aufmerken lässt auf ein Etwas, das auf anderes verweist. Bei Lipps lesen wir: »Der Eindruck kommt ungesucht […]. Im Eindruck, den man von etwas hat, liegt etwas. Was darin liegt, muß sich erst finden […]. Was ungebrochen erfaßt wird im Eindruck, ist nicht mitteilbar.« (III, 90) Dies scheint anderen Stellen bei Lipps zu widersprechen, in denen es doch gerade auf die Aussprechbarkeit dessen ankommt, was mich im Eindruck bewegt. Der 128 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Die Artikulation des Eindrucks

Ton liegt hier wohl auf »ungebrochen«. Lipps verweist hier auf die typischen Wendungen »so wie …«, »als ob …«, in denen der Eindruck als »eigentlich unsagbar« erscheint (III, 91). Diese besondere Art der »Unsagbarkeit« verhindert in ihrer Sperrigkeit, dass der Eindruck »hinweggeredet« oder »hinweggedeutet« werden kann (ebd.). Auch hier operiert Lipps wieder mit dem Gegensatz gegenüber der schnell fertigen Erledigung durch verbale Zuordnungen. In leichtem Anklang an das »Man« Heideggers wird davon gesprochen, dass die mit Anderen gemeinsame Welt eine solche sei, »für die das Bewendenlassen, d. i. das Beiseiteschaffen geradezu konstitutiv ist« (ebd.). Wenn dies auch nicht näher erläutert wird, kann man doch vermuten, dass vor allem die geläufigen und lebensnotwendigen Subsumtionen gemeint sind, die unser Leben, mit Gehlen gesagt, entlasten. Der Eindruck, der nicht hinweggeredet werden kann, ist in diesem Sinn das Gegenteil einer Entlastung. Er stellt uns vor die Aufgabe, dem nachzugehen, was »in ihm liegt«. Lipps spricht geradezu von einer besonderen Haltung, die nötig sei, um dem Eindruck in der Richtung seines Verweisens zu folgen, nämlich eine Entschiedenheit, »vergleichbar etwa der Haltung, durch die Affekte abgefangen werden« (ebd.). In dieser Konsequenz des Aufnehmens des Eindrucks sieht Lipps eine »Sicherheit« am Werk, in der allerdings nichts gewaltsam herausgebracht werden kann, sondern die eher eine spielerische Leichtigkeit darstellt: »Daß ein Eindruck ›der richtige‹ ist, bezieht sich auf den Verfolg des Gedankens, den er in mir aufblitzen läßt. Um einen Eindruck in dieser Richtung sich verdeutlichen, um ihn sachlich stützen und begründen zu können, dazu bedarf es aber einer Sicherheit, die sich nur im flüchtigen Durchgang herstellt, in dem allein man an den Dingen Halt, nämlich in ihnen, wie an Verknotungen nur, die Wirklichkeit als Ganzes zu erfassen bekommt.« (III, 91)

Man darf vermuten, dass jede heuristische Eröffnung von Sichtweisen mit dieser spielerischen Sicherheit zu tun hat und dass auch die Urteilskraft, die zum Besonderen eines Eindrucks das Allgemeine zu suchen hat, auf die »Entschiedenheit«, aber auch auf den »flüchtigen Durchgang« angewiesen ist.

129 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Die energetische Bedeutungstheorie von Hans Lipps

1.

Logos semantikos: zu erkennen geben

Versucht man, die sprachphilosophisch-logische Position, die Hans Lipps in den Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik 1 vertritt, mit modernen begrifflichen Mitteln zu charakterisieren, so wird man ihn wohl immer in dem einen oder anderen Sinn auf Zwischenpositionen hin festlegen müssen. Dies gilt einerseits für den Versuch, seinen Ansatz von der Sprechakttheorie her fasslich zu machen. In besonderem Maß gilt dies jedoch, wenn man seine Theorie der Bedeutung von der heute gängig gewordenen Unterscheidung zwischen syntaktischer, semantischer und pragmatischer (Wort-) Zeichenfunktion her zu verstehen versucht. 2 Es ging Hans Lipps ja um die völlige Einbindung des Bedeutungsgeschehens in die konkrete Situation des Miteinanderredens, also um die enge Verbindung semantischer und pragmatischer Bezüge. Schon in den ersten Sätzen der Untersuchungen wird dies mit großem Nachdruck ausgesprochen. Lipps nimmt die aristotelische Unterscheidung 3 zwischen dem (allgemeineren) λόγος σημαντικός und dem (spezielleren) λόγος ἀποφαντικός in dem Sinne auf, dass das »σημαντικός« nicht einfach als bloß semantisches »Zur-Bezeichnung-dienen« genommen werden soll, sondern als »Zu-erkennengeben«. Lipps will den Anderen, dem ich etwas zu erkennen gebe, von Anfang an in die Bestimmung des Logos mit hineinnehmen. Dies wird auch an dem ersten von ihm gebrauchten Beispiel deutlich: das Signal, das einen unbeschränkten Bahnübergang anzeigt, hat seine Das 1938 in 1. Auflage erschienene Buch wurde 1976 als Band II in die Ausgabe der Werke aufgenommen. Zitiert wird im Text jeweils nach dem Zitat mit Band und Seitenzahl. Das hier gleichfalls häufig zitierte Buch Die Verbindlichkeit der Sprache wird entsprechend als Bd. IV mit Seitenzahl zitiert. 2 Vgl. Ch. W. Morris: Grundlagen der Zeichentheorie. Dt. Übers. München 1972. 3 Aristoteles: Peri Hermeneias, 17a 1. 1

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Logos semantikos: zu erkennen geben

»Bedeutung« nicht in dem neutralen Verweis auf die gemeinte Sache, sondern in der Weisung, sich auf sie einzustellen und entsprechend zu handeln. Sprechakttheoretisch bedeutet dies, dass Lipps hier eine Trennung zwischen propositionalem Gehalt und illokutionärer Rolle 4 ablehnt und z. B. die Bedeutung eines Ausdrucks, wie »Feuer!«, im ganzen des situationsbezogenen Sprechaktes und nicht in dem lexikalisch ablösbaren, bloß semantischen Gehalt des Wortzeichens sieht. Wir werden zwar sehen, dass es auch bei Lipps die Unterscheidung zwischen dem »sachlichen« Bezug und der »sprachlichen« Fassung des Gemeinten gibt. Aber schon darin liegt die Voraussetzung, dass jedes Sprechen eine situationsbezügliche »Zuspitzung« in kommunikativer Absicht darstellt, d. h. also, dass es in der Regel nicht um die auswechselbare, weil okkasionelle Umkleidung einer identisch bleibenden Bedeutungseinheit geht, sondern um die unverwechselbare Konstituierung und Rekonstituierung 5 von Wirklichkeit im Hier und Jetzt des gesprochenen Wortes. In der folgenden Skizzierung dieses Leitgedankens von Lipps soll dieser Ansatz unter dem Begriff »energetische Bedeutungstheorie« behandelt werden. Der λόγος σημαντικός, der in der konkreten Situation zu erkennen gibt, ist für Lipps nicht denkbar als neutrales und statisch-monologisches Sichbeziehen-auf …, sondern ein prozessual zu denkendes Eröffnen von Sichtweisen in der jeweiligen Sprechsituation. Die Übersetzung des λόγος σημαντικός als Rede, »die zu erkennen gibt«, müsste allerdings als sehr frei, um nicht zu sagen willkürlich angesehen werden, wäre mit diesem »Erkennen« ein kognitiver Prozess gemeint, der in ein Erkenntnisresultat einmündet oder gar ein solches voraussetzt und nur reproduziert. Dies ist selbstverständlich nicht die Meinung von Lipps. Er wählt den Ausdruck »zu erkennen geben«, um die Missverständlichkeit des Wortes »bedeuten« zu vermeiden. In ausdrücklicher Kritik an Husserl lehnt er die Vorstellung ab, man habe »nach einem ›objektiven‹ Bedeutungs-›Gehalt‹« zu fragen, wenn es um die Feststellung der Meinung irgendwelcher Worte geht. Die Ausdrücke »Meinen« und (noch mehr) »Bedeuten« sind für Lipps vorbelastet im Sinne einer unzulässigen Einschränkung auf das bloß Referentielle. Demgegenüber betont er den Appell-Charakter der Re4 Vgl. J. R. Searle: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Dt. Übers. Frankfurt a. M. 1971. 5 Vgl. K. Meyer-Drawe: Das Wort als Antwort auf die Dinge. Lipps und MerleauPonty zur Kreativität von Sprache. In: Dilthey-Jahrbuch 6/1989, S. 127 ff.

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Die energetische Bedeutungstheorie von Hans Lipps

de, das Sichwenden an den Anderen, dem man etwas zu verstehen gibt. Wie wenig das Zu-erkennen-geben von einem vorgängigen Bedeutungsgehalt her bestimmt ist, auf den hin das Erkennen gerichtet werden soll, zeigt der folgende Satz, den man geradezu als Schlüsselsatz für die weiteren Überlegungen ansehen kann: »Was Worte zu erkennen geben, d. i. das im spezifischen Sinn Gesagte, kann überhaupt nicht sachlich fixiert bzw. als Gedanke aufgewiesen, sondern nur als Hinweis vernommen und insofern aufgenommen werden, als man den Worten entspricht: sie bedenkt oder ihrer Warnung folgt oder sich dadurch unterrichten lässt oder darauf antwortet usw.« (II, 8)

Man kann einen großen Teil der Untersuchungen als Ausführung des in diesem Satz ausgedrückten Leitgedankens ansehen: zwar nicht im Sinne einer systematischen Entfaltung, aber doch so, dass die hier verwendeten Wörter als Leitbegriffe in den Untersuchungen immer wieder auftreten. Dies gilt vor allem für die Begriffe »vernehmen«, »aufnehmen« und »entsprechen«, in denen das Übergewicht des pragmatischen Potentials des Wortes gegenüber dem rein semantischen Potential deutlich fassbar wird.

2.

Vernehmen, Aufnehmen, Entsprechen

Bevor diesem Gedanken weiter nachgegangen werden kann, ist es nötig, zunächst darüber Klarheit zu schaffen, dass Lipps hier nicht eine allgemein zutreffende Charakterisierung sprachlich-logischer Leistungen überhaupt vornehmen will, sondern – im Gegenteil – nur diejenigen Kommunikationsvorgänge untersucht, die ausgehen von einer »Bewegtheit« des Menschen durch Gedanken, »die einen beschäftigen, die einem als Eingebung kommen, die ebenso aber auch von mir aufgegriffen werden können, in deren schrittweisem Vollzug Existenz sich gründet in ihrem Verhältnis zur Welt und sich darin begegnet mit ihresgleichen« (II, 11); Gedanken also, die »nicht aus dem Selbstvollzug von Existenz gelöst werden« können (IV, 110). Dies ist nicht der »Standpunkt des unbeteiligten Dritten«, den Lipps der »Schullogik« zuweist, »die das Wort auf seinen objektiven Aussagegehalt sichtet« (II, 29). Vielmehr geht es der »hermeneutischen Logik« darum, »das wirklich gesprochene Wort […] in dem Selbstverständnis seines Vollzugs sich ausdrücklich anzueignen« (II, 20). Es 132 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Vernehmen, Aufnehmen, Entsprechen

geht ihr bei den hier untersuchten Beispielen nicht um einen »sachlichen Gehalt, auf den die Aussagelogik jedes Wort verkürzen möchte« (II, 33), sondern um die »enthüllende Potenz« (II, 142) des Wortes, die eben gerade in der unauflöslichen Verbindung von semantischer und pragmatischer Dimension der Rede liegt. Aber dies bedeutet doch zugleich – und dies muss vor allen weiteren Ausführungen deutlich gesagt sein –, dass durch diesen Ansatz die Möglichkeit objektiver Aussagegehalte nicht etwa geleugnet wird. 6 Es geht – ähnlich wie bei Georg Mischs Gegenüberstellung von »evozierenden« und »rein diskursiven« Ausdrücken 7 – lediglich um eine Gewichtsverlagerung innerhalb der philosophischen Bestimmung des Logischen, nämlich um die Relativierung des Stellenwertes sachlicher Gehalte, die bestandhaft »ausgemünzt« und verrechnet werden können (II, 12; vgl. 19,71). Wenn nunmehr den Begriffen »vernehmen«, »aufnehmen« und »entsprechen« in der Theorie des Bedeutungsvollzugs von Lipps weiter nachgegangen werden soll, so steht damit zunächst nicht die Sprecher-, sondern die Hörerseite des Sprachgeschehens im Vordergrund. Dies entspricht unserer Akzentuierung der pragmatischen Komponente des Kommunikationsvorgangs: Das gesprochene Wort ist darauf angewiesen, nicht einfach nur gehört, sondern vernommen und aufgenommen zu werden und eine Entsprechung im Hörenden zu finden. a) Wie bei vielen seiner Einzelanalysen grenzt Lipps auch im Falle des Vernehmens sein Phänomen dadurch ein, dass er ausgeht von dem für seinen Ansatz konstitutiven Gegensatz zwischen dem Interesse an der fertigen Begrifflichkeit in der logisch-metasprachlichen Theorie und der Philosophie der gesprochenen Sprache. Eher beiläufig geschieht dies, wenn er an einer Stelle der Untersuchungen sagt, in der formalen Logik werde das gesprochene Wort ausschließlich in seinem Aussagegehalt genommen und deshalb »weniger vernommen als betrachtet« (II, 19). Dieser Gegensatz, zugespitzt in der Gegenüberstellung von natürlicher Sprache und (Logik-)Kalkül, beherrscht die Ab-

Lipps selbst betont in einer Fußnote: »Es kann nicht darauf ankommen, die formale Logik zu widerlegen, sondern nur sie in dem Sinn zurechtzustellen, daß man ihre beschränkte Richtigkeit aufzeigt.« (II, 19, Α1) 7 Vgl. v. Verf.: Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1990, S. 123 ff. 6

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Die energetische Bedeutungstheorie von Hans Lipps

handlung Die Verbindlichkeit der Sprache: »Der Kalkül ist eine Zeichenschrift. Er macht etwas kenntlich. Man vernimmt nichts darin.« (IV, 107) Während die Sprache des Kalküls Beziehungen isolierend umgriffen herausstelle, werde das gesprochene Wort »immer in einer Nuanciertheit vernommen« (IV, 110 f.). Eine andere Abgrenzung ergibt sich aus dem Unterschied zwischen Vernehmen und Verstehen. Lipps fasst das Verstehen eines Wortes als aktives Umgehen-können und spontanes Begreifen-wollen, während das Vernehmen als ein eher passives Sich-sagen-lassen und Nachklingen-lassen bestimmt wird (II, 113 f.). Aber dies bedeutet nicht einfaches Hören: »Im Unterschied zu dem flüchtigen Hören dessen, was das Ohr einem zuträgt, bedeutet das Vernehmen ein Aufnehmen, nämlich ein in einem selbst Wiederklingenlassen, so dass man seinerseits darauf zu- und zurückkommen kann. Man vernimmt das Wort ›in der Absicht von dessen Bedeutsamkeit‹, d. i. als etwas, was zu mir gesprochen ist.« (IV, 120)

b) Aus den zitierten Sätzen ist der enge Zusammenhang von Vernehmen und Aufnehmen schon deutlich geworden. Für Hans Lipps bedeutet dieser Gedanke des Aufnehmens des gesprochenen Wortes, wie auch des Aufnehmens der Situation, die ich sprachlich artikuliere, ein Kernstück seiner Bedeutungstheorie. Man muss sich verdeutlichen, was in diesem von Lipps durchweg operativ und nicht terminologisch bestimmt gebrauchten Wort an Möglichkeiten liegt, die der energetischen Bedeutungstheorie entgegenkommen. Es ist wohl in erster Linie das Bild des Auffangens des mir Zugespielten oder des Aufnehmens eines auf mich zulaufenden Fadens, das Ergreifen von Möglichkeiten, die ich auch verfehlen kann, oder liegen lasse; von Anregungen, die ich auch ignorieren kann: Worte werden aufgenommen, »wofern sie ohne weiteres einem etwas vermitteln, sich in Orientierung umsetzen, man hier immer offen ist für alles, was von den verschiedensten Seiten zu einem herankommt, man nur notgedrungen z. B. sich an den Wortlaut einer Beschreibung hält als an das einzige, was man noch im Gedächtnis hat […].« (IV, 99)

Entscheidend ist natürlich die im engeren Sinn pragmatische Komponente: das Etwas-anfangen mit dem Gesagten. Dieses wird insofern aufgenommen, »als man den Worten entspricht: sie bedenkt oder ihrer Warnung folgt oder sich dadurch unterrichten läßt oder darauf antwortet usw.« (II, 8). 134 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Vernehmen, Aufnehmen, Entsprechen

c) Damit tritt das Entsprechen in eine gleich enge Verbindung zu Vernehmen und Aufnehmen. Erst mit diesem Begriff kann ganz deutlich gemacht werden, was es heißt, dass Lipps die semantische Dimension mit der pragmatischen völlig verschmelzen will: »Im Entsprechen geschieht allererst die sog. Bedeutung. Die immanente Dialektik gilt es zu bemerken, die Spannung, die in jeder Wortbedeutung steckt, sofern das, was ein Wort zu verstehen gibt, nur vom andern, im Entsprechen, vollzogen werden kann.« (II, 89) Das Entsprechen ist also nicht die Kategorie einer Handlungstheorie, etwa im Sinne von »Befolgen«. Eher müsste man hier von Realisierung sprechen, um die beiden Seiten des Aufnehmens adäquat und gleichrangig auszudrücken: das Sicheinstellen auf einen referentiellen Bezug im Erfassen möglicher Konsequenzen, was auch ein dialogisches Zurückgeben des Gesagten enthalten kann. Man folgt zwar dem Hinweis, befolgt aber nicht notwendigerweise eine Anweisung. Dies hat Lipps am Beispiel der »Redewörter«, wie etwa Konjunktionen, deutlich gemacht, bei denen eine »sachliche Erfüllbarkeit« im doppelten sprechakttheoretischen Sinn fehlt: es gibt hier weder einen propositionalen Gehalt als Erfüllung einer Bedeutungsintention, noch eine illokutionäre Anweisung, die man im engeren Sinn pragmatisch umsetzen könnte. »Was denn bedeutet, zeigt sich aber lediglich in der Haltung, in der der andere dem entspricht, was ihm in dem denn zu erkennen gegeben wird: er stellt sich ein auf die Entgegennahme einer nachträglichen Begründung. Dem obgleich entspricht er, wenn er sich nicht versteift in seiner Reserve, sofern dieser durch den anderen in der in dem obgleich ihm bedeuteten Vorwegnahme seiner Einwände schon vorentsprochen worden ist.« (II, 89)

Die eigentliche Intention der Bedeutungstheorie von Lipps wird wohl an keiner Stelle seines Werkes so deutlich wie hier, wo er so weit geht zu fordern, »die Untersuchung von Wort und Bedeutung, die Herausstellung des Grundsätzlichen dieser Beziehung hätte, statt bei den Onomata, gerade bei den Redewörtern einsetzen sollen: denn hier mißlingt von vornherein, was bei den Onomata noch den Schein einer Berechtigung hat: sachliche Erfüllbarkeit.« (II, 88 f.)

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Die energetische Bedeutungstheorie von Hans Lipps

3.

Bedeutungserfüllung und Worterfüllung

Die schon in seinem ersten Buch, der Phänomenologie der Erkenntnis, in »großartiger Unbekümmertheit« 8 vorgenommene Abgrenzung gegenüber Husserl führt Lipps, wie wir schon gesehen haben, auch in seinen späteren sprachphilosophisch-logischen Arbeiten fort. Hierfür ist die Ablehnung einer sachlichen Erfüllbarkeit, von der ausgehend man das Verhältnis von Wort und Bedeutung eigentlich zu untersuchen habe, ein besonders markantes Beispiel. Es ist die Absage an Husserls Bedeutungstheorie, wie sie in der ersten Logischen Untersuchung entwickelt worden ist. Die dort vorgenommene Unterscheidung zwischen Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung 9 basiert ja auf der Voraussetzung eines Korrespondenzverhältnisses von Namen und Sachen, die wenigstens potentiell anschaulich gegeben sein müssen. Den bedeutungsverleihenden Akten oder Bedeutungsintentionen sind in einer »logisch fundamentalen Beziehung« die bedeutungserfüllenden Akte zugeordnet, ohne freilich im Bedeutungsvollzug notwendigerweise aufzutreten. Ja, Husserl bezeichnet diese Bedeutungserfüllung als für die Bedeutungsintention »außerwesentlich«. Sie dient dazu, die Bedeutungsintention zu aktualisieren, d. h. sie dient zur Bestätigung, Bekräftigung und Illustration der Bedeutungsintention. Wir können hier der Problematik dieser Unterscheidung, auf die vor allem Johannes Thyssen aufmerksam gemacht hat, 10 nicht weiter nachgehen. Sie soll hier auch nur verdeutlichen, wie radikal verschieden der bedeutungstheoretische Ansatz von Lipps ist, bei dem es gerade auf die Erfüllung – freilich eine ganz anders geartete – ankommt: »Diese Erfüllung ist hier nichts, was das Wort in dem Sinne erführe, daß sich etwas findet, das dem entspricht, was das Wort ›meint‹, so daß das Wort sachliche Deckung und den Ausweis seiner Gültigkeit bekäme […]. Sichzu-erfüllen, in bezug auf ein Wort gesagt, meint aber das Gegenteil eines solchen an den Dingen gesuchten Ausweises. Denn gerade das Wort ist hier das Primäre. Seine Erfüllung bedeutet seine Verwirklichung. Weil nämlich das Wort hierbei eine Verheißung ist. ›Erfüllung‹ bezieht sich auf die im 8 Vgl. H.-G. Gadamer: Vorwort zur Ausgabe der Werke von Hans Lipps. A. a. O. Bd. I, S. IX. 9 Vgl. E. Husserl: Ausdruck und Bedeutung, § 9. Husserliana Bd. XIX/1. The Hague 1984, S. 43 f. 10 Vgl. J. Thyssen: Husserls Lehre von den »Bedeutungen« und das Begriffsproblem. In: ZphF XIII (1959), H. 2 u. 3.

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Bedeutungserfüllung und Worterfüllung

Wort gegebene Vorzeichnung von etwas. Wahr wird oder ist das Wort nicht zufolge irgendeiner Übereinstimmung mit den Dingen, sondern darin, daß es in der Erfüllung seine Kraft erweist.« (IV, 115 f.)

In welchem Maße sich hier nun die Vorgänge des Vernehmens, Aufnehmens und Entsprechens zum Gesamtvorgang des Bedeutungsvollzugs zusammenfassen lassen, wird aus der folgenden Stelle deutlich: »Das Problem der sogen. Wortbedeutung ist von hier aus gerade anzugreifen. Sofern ja doch der Vollzug der Bedeutung eines Wortes dessen Erfüllung ist. Man ›entspricht‹ ja doch hierbei dem im Wort Vernommenen: Nämlich in der Aufnahme einer Sicht: die Erfüllung zeigt sich als ein Wahrwerden des Wortes. Schon im Gehörtwerden erweist sich eine ›Macht‹ des gesprochenen Wortes; es prätendiert, sich durchzusetzen.« (IV, 116; Hervorhb. F. R.)

Mit dieser Bestimmung der Erfüllung als Aufnahme einer Sicht (»sofern die Dinge sich zeigen im Licht der im Wort gefallenen Entscheidung«; IV, 109) ist die Erfüllung ganz auf die Seite des Hörers verlegt: »Nur der das Wort Vernehmende, aber nicht der es Sprechende vollzieht die Bedeutung. Sicherlich – man kann sich selbst der andere sein, sich selbst etwas sagen wollen und nach dem Wort suchen, das mich in die Aufnahme der Bezüge versetzt, die die Fassung von etwas ermöglichen. Daß das Wort vernommen werden will, bezieht sich gerade auf die Aufnahme seiner Bedeutung.« (IV, 109)

Die energetische Komponente, derer es bei dieser Erfüllung bedarf, kann auch e contrario gezeigt werden, etwa am Beispiel der Redensarten. Sie sind für Lipps etwas Fertiges, mit dem man eine Situation erledigend und abschließend behandeln, sozusagen abtun kann: »Es bedarf hier keiner ἐνέργεια, um eine Bedeutung zu vollziehen. Erfüllung heißt hier nur: illustrierende Anschauung finden.« (II, 108) 11 Dies wäre ja für Husserl der Normalfall eines Bedeutungsvollzugs In dieser impliziten Kritik an Husserls Theorem der Bedeutungserfüllung gibt Lipps ganz beiläufig eine hilfreiche Erläuterung und Illustration zu Husserls Trennung von Bedeutungsintention und -erfüllung. Ausdrücke wie »auf dem Holzwege sein« oder »Farbe bekennen« sind in der Tat Bedeutungsintentionen, die durch »illustrative Anschauung« erfüllt werden können. Die Schwierigkeit, zwischen Intention und Erfüllung bei einfachen Ausdrücken wie »Tisch« oder »Haus« zu trennen, löst sich auf, wenn die Bedeutungsintention gleichsam verschlüsselt ist, und das Meinen in der Veranschaulichung seine Erfüllung findet. Doch ist zu betonen, dass Lipps über diese spannungslose, keiner ἐνέργεια bedürfenden Illustration mit seinem Begriff der Erfüllung weit hinaus zielt.

11

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Die energetische Bedeutungstheorie von Hans Lipps

(wenn man davon absieht, dass sich Husserl in der Regel an der Beziehung auf einfache Gegenstände orientiert). Für Lipps dagegen handelt es sich dabei um eine defizitäre Form von Erfüllung, weil die Redensart in ihrer Geläufigkeit nur »die Durchschnittlichkeit der darin verfestigten Auffassung« (ebd.) spiegelt und diese Perspektive im andern erweckt. Es wird hier also nicht eine Sicht eröffnet, in deren Aufnahme spannungshaft eine Erfüllung stattfinden könnte: »Redensarten werden nicht verwendet – wie Wörter verwendet werden, um etwas sprachlich zu fassen – sondern gebraucht.« (Ebd.) Positives Gegenbeispiel sind die »aus der Sprache geborenen Wörter« (II, 93), bei denen sachliche Allgemeinheit und »Ausmünzung« ihres Bedeutungsgehalts von vorn herein fehlen. Gemeint sind hier vor allem die sogen. »Konzeptionen«, über die hier nicht ausführlich gesprochen werden kann. 12 Hier soll lediglich – zum Thema »Erfüllung« gehörig – so viel gesagt sein, dass der Bedeutungsvollzug bei solchen Wörtern der Alltagssprache in einem Zu-erkennen-geben im oben charakterisierten Sinn einsetzt. Die so »eingedeutete« Sicht, die es aufzunehmen gilt, ist nicht eine gleichsam einrastende Perspektive, die man einfach übernimmt. Lipps charakterisiert den von ihm gemeinten Bedeutungsvollzug durch einen nicht ganz leicht verständlichen Satz: »Was aber aus der Sprache geborene Wörter zu verstehen geben, vollzieht sich ganz eigentlich, d. i. in der Rückstrahlung seiner Erfüllung erfühlt sich hier gerade allererst, was als Sicht eingedeutet wurde.« (II, 93) Dies wird man wohl so zu verstehen haben: Ein Wort der alltäglichen Sprache, wie »Spiel«, leistet in der konkreten Sprechsituation die Eindeutung einer Sicht, die sich in Aufnahme und Entsprechung der Bezüge erfüllt und erst von diesen Erfüllungen her die Sinnrichtung voll »erfühlen« lässt. Dies würde m. E. dann gegeben sein, wenn z. B. die Verwendung des Wortes »Spiel« in einem scheinbar sachfremden Kontext Bezüge zu erkennen gibt, von deren Realisierung her überhaupt erst deutlich wird, in welcher Richtung der infrage stehende Kontext angegangen wurde; d. h. in welcher Richtung dasjenige liegt, was zu erkennen gegeben werden sollte.

Es sei an dieser Stelle vor allem an die wegweisenden Arbeiten von O. F. Bollnow über die Sprachphilosophie von Hans Lipps erinnert, denen sich der Verfasser seit über 35 Jahren dankbar verpflichtet weiß. Vgl. auch die ausgezeichnete Untersuchung von E. Scheiffele: Der Begriff der hermeneutischen Logik bei Hans Lipps Tübinger Diss. 1971, S. 54 ff.

12

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Artikulation als »zuspitzende Fassung« im Wort

4.

Artikulation als »zuspitzende Fassung« im Wort

War bisher fast ausschließlich von der Seite des Vernehmenden, Aufnehmenden, die Rede, so muss jetzt von dem Sprechenden und der von ihm verwendeten (nicht bloß »gebrauchten«) Sprache gehandelt werden. Dabei wird es nicht immer ganz einfach sein, scharf zu trennen zwischen denjenigen Artikulationsvorgängen, in denen im innerlichen Sprechen Hinsichten eröffnet und die Realisierung von Bezügen geweckt werden und – auf der anderen Seite – solchen Vorgängen, in denen anderen etwas zu erkennen gegeben wird. Zunächst ist noch einmal festzuhalten, dass der eigentliche Bedeutungsvollzug durch den anderen geschieht. In der oben schon zitierten Stelle (II, 89) war besonders ausdrücklich gesagt worden, dass erst im Entsprechen die Bedeutung geschieht. Dass dort im folgenden Satz hingewiesen wurde auf die Spannung, »die in jeder Wortbedeutung steckt« (ebd.), hatten wir zunächst unbeachtet gelassen. Dieses Thema der Spannung des Bedeutens ist jetzt von besonderem Interesse, wenn von dem Anteil des Sprechers am Kommunikationsvorgang die Rede ist. Wir gehen noch einmal aus von dem oben festgehaltenen Theorem, dass die »Bewegtheit« des Menschen durch Gedanken am Anfang derjenigen Kommunikation steht, deren Struktur die hermeneutische Logik untersucht. »Die gesprochene Rede ist ein Beginnen, das durch meine Bewegtheit unterschichtet ist; wobei diese im Verhältnis zum andern aufgenommen und in der Diktion des Satzes entfaltet wird.« (II, 121) Lipps kann deshalb auch als Sinn der Rede dasjenige bezeichnen, »wovon man bewegt wird. Was man insofern im Sinn hat, als man es ›meint‹, was wiederum sich dahin zuspitzen kann, daß es das ist, was man vom andern will.« (ebd.) Das Wort »Zuspitzung« spielt in der Sprachtheorie von Lipps eine ähnliche Rolle wie die hier schon behandelten, operativen Begriffe »Vernehmen«, »Aufnehmen«, »Entsprechen« und »Erfüllen«. Keiner dieser Begriffe wird terminologisch eingeführt oder gar definiert. Sie werden selbst »aufgenommen« und sollen dem Leser eine Sichtweise ermöglichen, in deren »Erfüllung« sich überhaupt erst rückstrahlend zeigt, wovon der Autor bewegt ist. Insofern nimmt sich der Sprachphilosoph selbst beim Wort und entlässt uns an keiner Stelle aus einem Bedeutungsvollzug, der etwas durchaus Suggestives hat. Die im Folgenden von der Interpretation aufzunehmenden Wörter »Zuspitzung«, »zuspitzende Fassung«, »gestaltende Fassung«, 139 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Die energetische Bedeutungstheorie von Hans Lipps

»Spannung der Fassung«, allesamt Implikate des neutraleren Begriffs »Artikulation«, schließen sich also wie Glieder einer Kette an die anderen Begriffe an. a) In der Behandlung des Gegensatzes zwischen gesprochener Sprache und Kalkül hat Lipps für den letzteren – wie schon zitiert wurde – betont, hier würden »Beziehungen isolierend umgriffen herausgestellt« (IV, 110). Im Gegensatz dazu bedeute das Wort »verdichtend ersteigernde Zuspitzung« (ebd.). Von einer solchen »Ersteigerung« spricht Lipps auch im Blick auf den »Ausdruckssinn« einer Gebärde, den er vergleicht mit der »zuspitzenden Fassung von etwas« im Wort (II, 112). Gegenüber der vernehmenden Rolle des Hörers haben wir es hier also mit einer Aktivität des Sprechers zu tun, wobei das dynamische Element nicht in dem besonderen Nachdruck und Appell oder einer äußerlich bleibenden Emphase liegt, ja noch nicht einmal immer in einer besonders heraushebenden Pointierung, wie einige von Lipps genannte Beispiele zeigen. So finden wir in den beiden Sätzen »Die Farbe dort ist zu hell« und »Sie verbleicht überhaupt leicht« eine fast unmerkliche Verschiebung des Blickpunktes. »Es wird hier nichts als Gegenstand herausgestellt, sondern nur eben etwas aufgenommen, um ihm in der Rede eine je andere und besondere Spitze zu geben.« (II, 131) »Gerade darin liegt das Bündige der Rede, daß hier im ›Aufnehmen‹ das Aufgenommene straffend durchzogen, aber nicht zu eignem Bestande herausgestellt wird.« (II, 129) Wir sehen hier, dass das »Aufnehmen« auch auf die Sprecherseite gehört, dort aber nicht zum »Entsprechen« und zur »Erfüllung« weiterführt, sondern zur »Zuspitzung«. b) Als ein allgemeinerer und sozusagen noch weniger dramatischer Begriff als die »Zuspitzung« tritt in diesem Zusammenhang der Begriff Fassung auf, gelegentlich in Verbindung mit dem ersteren, etwa in der Formulierung »zuspitzende Fassung« (II, 112). »Das Wort ist Fassung und Aus-Zeichnung eines Gedankens«, heißt es gleich zu Beginn der Untersuchungen (II, 8). Dies darf nicht in dem Sinne missverstanden werden, dass der gleichsam umgefasste Gedanke in seiner »Zügigkeit« bereits da sei und im Ausdruck ein »nur eben herausgestelltes Gefüge« würde. 13 Er wird »raffend gefaßt« (IV, 110). Lipps kann deshalb auch von der »Spannung der Fassung« (II, 107) 13

Vgl. IV, 110. Einige Seiten weiter grenzt Lipps seine Position noch einmal ab von

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Artikulation als »zuspitzende Fassung« im Wort

sprechen, die ihm z. B. dort fehlt, wo bei einem onomatopoetischen Namen, wie »Kuckuck«, sich keine Sprachkraft in Gestalt einer sprachlichen Fassung durchgesetzt hat. (II, 109) Es kommt an auf die Leistung »herausstellender Prägung, gestaltender Fassung« (II, 117): »Der Gedanke wird ›gefaßt‹ im Wort, kommt so ins Freie darin, daß man – und dies heißt es: ›sich etwas sagen‹ – ihn sich vorhalten kann. Denn er wird nicht nur ausgedrückt – so als ob dieser Ausdruck ihm gegenüber gleichgültig bliebe – der Gedanke wird durch den Ausdruck erst zu sich selbst entbunden.« (IV, 112)

c) Mit diesem Ausdruck »zu sich selbst entbunden« sind wir auf einen der fruchtbarsten Gedanken in der gesamten sprachlogischen Theorie von Hans Lipps gestoßen. Er hat ihn an mehreren Stellen verwendet, auch diesen Ausdruck völlig operativ und ohne terminologische Reflexion einführend. Ganz allgemein kann er sagen: »In der lautlichen Fassung wird etwas allererst zu sich selbst entbunden, und man vernimmt das Wort.« (II, 113) Was Lipps aber vor allem im Auge hat, ist die Struktur der Artikulation eines zunächst vagen Eindrucks, eine Struktur, die formelhaft verkürzt das Wort als »Antwort auf die Dinge« (IV, 115) erscheinen lässt. Lipps befindet sich dabei in großer sachlicher Nähe zu seinem Göttinger Kollegen und Freund Josef König, dessen Habilitationsschrift Sein und Denken 14 zwar nur ein Jahr vor den Untersuchungen erschienen war, aber schon seit 1935 im Kreis der Göttinger Freunde vorlag. 15 Der Zusammenhang kann hier nur in äußerster Verkürzung angedeutet werden. Es geht sowohl bei König als auch bei Lipps um das Phänomen, dass man in einer zunächst vagen, aber nachdrücklichen Weise von etwas angemutet und zu einer »Artikulation des Eindrucks« (vgl. § 17 der Untersuchungen) veranlasst wird und dann etwa zu einer Formulierung kommt wie: »Das Zimmer wirkt leer«, auch wenn »objektiv« eine angemessene Zahl von Möbeln vorhanden ist. Dieses »Wirken« als Angemutet-sein darf nicht verwechselt werden mit der Wirkung im Sinn eines kausalen Nexus: »Daß ich etwas einer Betrachtungsweise, für die der Gedanke »als etwas absolut Gültiges, im einsamen Denken nur eben Nachzuziehendes angesetzt wird« (IV, 112, A.4). 14 J. König: Sein und Denken. Studien im Grenzgebiet von Logik, Ontologie und Sprachphilosophie. 2. Aufl. Tübingen 1969. 15 Zur persönlichen Beziehung zwischen Hans Lipps und Josef König vgl. F. Rodi u. K. Schumann: Hans Lipps im Spiegel seiner Korrespondenz; in: Dilthey-Jahrbuch 6/ 1989, vor allem S. 90.

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Die energetische Bedeutungstheorie von Hans Lipps

als eine Wirkung der Dinge an mir erfahre, weist vielmehr darauf, wie nur, sofern ich mich einlasse mit den Dingen, mich ihnen aussetze, ich auch von den Dingen affiziert werden, eine Empfindung in mir rege werden kann.« (II, 98) Dieses Auf-mich-wirken ist ein Bewegtsein-von, d. h. letztlich jene Bewegtheit, die auch, wenn es nicht um die Artikulation eines Eindrucks geht, nach der gestaltenden Fassung durch das Wort drängt. »Dies aber, von dem ich bewegt werde, ist doppelsinnig: es bedeutet nicht nur das, von woher ich bewegt werde, was auf mich wirkt, sondern ebenso sehr und zwar wesentlich ebenso sehr das, worauf ich hierbei gebracht werde, worin der Eindruck sich verdichtet.« (ebd.)

Und hier – man kann vielleicht sagen: an der zentralen Stelle des Buches – wird der Ausdruck gebraucht, von dem wir ausgegangen sind: »Es ist, als ob durch diese Fassung der Eindruck allererst zu sich selbst entbunden würde. In immanenter Rückwendung auf das im Eindruck sich Kündende wird dieses sich darin Kündende ausgedrückt.« (Ebd.) 16

Die Abweisung jeder fertigen und feststellbaren Gegenständlichkeit, die es im sprachlichen Ausdruck nur abzubilden gilt, ist hier für ein Modell des Bedeutungsgeschehens zwar nicht ganz so radikal vorgenommen wie im Fall der Konjunktionen (»denn«, »obgleich« etc.; s. o.), bei denen es überhaupt nur Sprachgesten und keine Referenz zu realisieren gibt. Aber gerade dadurch, dass Wirklichkeit als ein »Sowirkendes« 17 dem Sprechenden in einer Gegenwirkung begegnet und doch der sprachlichen Fassung bedarf, um in ihrem »So-wirken« konstituiert zu werden, liegt eine für die Bedeutungstheorie wichtige Struktur der Verschränkung von Sprache und Wirklichkeit. 18 Zu sich Trotz der nachdrücklichen Hinweise auf Josef König (II 98, IV 112) in den Schriften von Hans Lipps ist dieser enge sachliche Zusammenhang, der im Wesentlichen auf Ideen Georg Mischs zurückgehen dürfte, in der Literatur noch nicht deutlich genug herausgearbeitet worden. (Zum Begriff des Angemutet-seins bei Misch vgl. O. F. Bollnow: Studien zur Hermeneutik II: Zur hermeneutischen Logik von Georg Misch und Hans Lipps. Freiburg/München 1983, S. 165.) Eine neue Grundlage ist jetzt geschaffen in den Josef König gewidmeten Aufsätzen von O. F. Bollnow. F. Kümmel, H.-U. Lessing und J. N. Mohanty im Dilthey-Jahrbuch 7/1990–91. 17 Diese Formulierung ist dem Aufsatz von J. König entnommen, der die Ansätze von Sein und Denken noch einmal aufgegriffen und weitergeführt hat: Die Natur der ästhetischen Wirkung; in: Ders: Vorträge und Aufsätze. Hrsg. v. G. Patzig. Freiburg/ München 1978. 18 Vgl. K. Meyer-Drawe: Das Wort als Antwort auf die Dinge. A. a. O. 16

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Erweckung durch das Wort

selbst entbunden wird der Eindruck in dem Sinn, dass er »zu Wort kommt« (II, 110), d. h. dass er einerseits als ein So-wirkendes schon da ist, aber doch in der sprachlichen Fassung erst zu dem wird, was er je schon ist. Lipps gebraucht an einigen Stellen auch das Wort »vereindeutigen«, um damit noch stärker das Prozesshafte der Artikulation zum Ausdruck zu bringen: der Eindruck vereindeutigt sich durch die Artikulation »und wird darin zu sich selbst entbunden, daß er zu Wort kommt« 19 (II, 110).

5.

Erweckung durch das Wort

Wenn wir von hieraus noch einmal zurückblicken auf unsere Ausgangsfrage nach der angemessenen Interpretation des Begriffs λόγος σημαντικός, so stellen wir damit zugleich auch eine Verbindung her zwischen der Sprecher- und Hörerseite, die wir bisher künstlich auseinandergehalten haben. In der Bestimmung des Wortes als σημαντικός, so haben wir gesehen, ist zunächst diejenige Seite des Bedeutungsvollzugs angesprochen, die auf der Seite des Hörers durch »Vernehmen«, »Aufnehmen«, »Entsprechen« und »Erfüllung« beschrieben werden kann. Dass das Wort etwas bedeutet, heißt, dass es eine Sicht eröffnet, in deren Aufnahme die Erfüllung des Wortes liegt. Auf der anderen Seite, der Seite des Sprechenden, ist nun deutlich geworden, dass die hier in Frage stehenden Worte nicht neutrale Hinweise auf sachliche Gegebenheiten sind, die in der Entsprechung befolgt werden. Dies gilt zwar für das zu Anfang zitierte Beispiel des Hinweisschildes, das dort auch nur für die elementare Verwebung von semantischen und pragmatischen Bezügen zu stehen hatte. Für das jedoch, was mich bewegt, für die Gedanken, »die nicht aus dem Selbstvollzug von Existenz gelöst werden können« (IV, 110), liegt die Energie des Bedeutens in der gestaltenden, spannungshaften Fassung Die Spannung dieses Zu-Wort-Kommens hatte Josef König in seinem Habilitationsvortrag von 1935 über Das spezifische Können der Philosophie als εὖ λεγειν behandelt. Er spricht dort von der »Spannung eines Gut-Sprechen-Könnens, das Besitz und Nicht-Besitz zugleich und daher in sich selber Aufgabe, Bewegung, Können und Können-Wollen ist.« (Ders: Vorträge und Aufsätze, a. a. O., S. 23) Lipps hat sich in seinem Aufsatz Die Verbindlichkeit der Sprache auf diese Stelle bezogen: »Das Können der Philosophie bestimmt sich gerade durch die Spannung des sich Zuwortbringenmüssens.« (IV 112 A)

19

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Die energetische Bedeutungstheorie von Hans Lipps

der Artikulation, die mit Georg Misch gesagt auch eine »produktivobjektivierende Artikulation« genannt werden kann. Die kommunikative Leistung dieser Artikulation, die ja nichts bestandhaft vorführt, sondern in »enthüllender Potenz« eine Sicht eröffnet, nennt Lipps auch »Erweckung«: »Das Wort ist σημαντικός, sofern es den Vollzug dessen ›erweckt‹, was es insofern ›bedeutet‹. Es bringt einen auf etwas, es gibt es einem aber nicht. Bedeutung des Wortes zu sein fixiert nicht nur die Zugehörigkeit der Bedeutung zum Wort, so als ob diese Bedeutung – nur eben unlösbar – damit verbunden wäre. Es meint gerade eine Verbindlichkeit, die sich das Wort verschafft, sowie es nur überhaupt vernommen wird. […] Man entspricht dem Wort darin, daß man sich dem von ihm gewiesenen Griff verbindet und so etwas zu fassen bekommt. Und das Wort erfüllt sich, wird wahr, sofern die Dinge sich zeigen im Licht der im Wort gefallenen Entscheidung.« (IV, 109)

Es ist diese »Verbindlichkeit der Sprache«, die Lipps letztlich einem unverbindlichen Bedeuten entgegensetzt. Schon im Vernehmen wird ja die ενέργεια der gestaltenden Fassung des Gedankens übernommen und eine Art der Wahrheit vorbereitet, die dann im λόγος ἀποφαντικός ausgesprochen werden kann, sofern er »etwas in der Weise zu erkennen gibt, daß es hierbei von sich aus sich zeigt« (II, 8). Im λόγος σημαντικός jedoch wird »appellierend ein ursprüngliches Verhältnis zu den Dingen geweckt« (IV, 111).

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Anspielungen Zur Theorie der kulturellen Kommunikationseinheiten

Die Anspielung als besondere Form des Sich-Beziehens-auf … ist nicht nur Bestandteil alltäglicher Verständigung, sondern auch Instrument der interpretierenden Wissenschaften, das bisher noch wenig Beachtung in einer Theorie dieser Disziplinen gefunden hat. Die folgende Problemskizze versucht, der vorbereitenden Aufgabe einer Orientierung im komplizierten Grenzbereich von semantisch-logischen, semiotisch-kommunikationstheoretischen und linguistischrhetorischen Fragestellungen gerecht zu werden. Der hierbei eingeführte Begriff kulturelle Kommunikationseinheit oder kultureller Anspielungsname kennzeichnet einen Punkt der Überschneidung dieser Fragestellungen: Kulturelle Anspielungsnamen haben häufig keinen eindeutigen referentiellen Bezug; dies steht in Zusammenhang mit ihrer kommunikativen Funktion und macht die kulturellen Anpielungsnamen zum Sonderproblem einer zeichentheoretischen Betrachtung kultureller Kommunikationsvorgänge; schließlich weist der Abbreviatur-Charakter dieser Namen hin auf Formen der elliptischen Verständigung über kulturelle Sachverhalte, wie sie im Gebrauch von Topos, Klischee, Slogan usw. gegeben sind. Die folgenden Überlegungen wollen die Fragwürdigkeit eines theoretischen Instrumentariums deutlich machen, dessen dichotomisch-klassifikatorischer Charakter die außerordentliche Differenziertheit solcher Verständigungsprozesse verfehlt, die auf der Basis von Anspielungen funktionieren. Da in Gottlob Freges Semantik eine der Wurzeln dieser Dichotomien zu finden ist, soll von ihnen ausgegangen werden.

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Anspielungen

1. Als Frege in seinem Aufsatz von 1892 1 die Unterscheidung zwischen »Sinn« und »Bedeutung« der sog. »Eigennamen« einführte, fehlte ihm eine Bezeichnung für diejenigen Ausdrücke, die im Sinne seiner Terminologie zwar einen »Sinn«, aber keine »Bedeutung« haben. Unter »Bedeutung« eines Ausdrucks verstand Frege den bestimmten Gegenstand, für den der Ausdruck als Zeichen steht. Frege sagt ganz unmissverständlich: »Die Bedeutung eines Eigennamens ist der Gegenstand selbst, den wir damit bezeichnen.« 2 Unter »Sinn« verstand er die besondere Gegebenheitsweise des Gegenstandes, wie sie in dem Zeichen zum Ausdruck kommt. Das am häufigsten zitierte Beispiel, das Frege gebraucht, ist der Planet Venus. Es gibt diesen bestimmten, sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand, und dieser ist die »Bedeutung« aller Ausdrücke, die als Zeichen für ihn stehen, also Venus, Morgenstern, Abendstern, der zweite Planet usw. Zu einer »Bedeutung«, in unserem Beispiel also zu dem Gegenstand, den wir in der Regel als Planet Venus bezeichnen, können viele verschiedene Zeichen gehören, die durch die Verschiedenheit ihres »Sinnes« diesen Gegenstand in verschiedener Weise »einseitig beleuchten«, wie Frege sagt. 3 Dagegen kann – in der vollkommenen Sprache eines streng bezeichnenden Systems – zu einem einzelnen Zeichen nur ein einziger bestimmter »Sinn«, und zu diesem wiederum nur eine einzige Bedeutung gehören. Diese terminologischen Festsetzungen sind unter der Voraussetzung vorgenommen, dass die Möglichkeit einer durchgängigen Entsprechung von Gegenständen und Zeichen besteht, und dass deshalb von einer logisch vollkommenen Sprache zu verlangen sei, »dass kein Zeichen als Eigenname neu eingeführt werde, ohne dass ihm eine Bedeutung gesichert sei« 4. Frege musste dies fordern angesichts der Schwierigkeiten, die ihm solche Ausdrücke bereiteten, die zwar grammatikalisch eine sinnvolle Verbindung von Zeichen darstellen, aber ohne »Bedeutung«, d. h. ohne das Korrelat eines angebbaren, bestimmten Gegenstandes bleiben. Hierher gehören Ausdrücke wie

1 G. Frege: Sinn und Bedeutung; in: Ders: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien. Hrsg. v. G. Patzig, Göttingen 1962, S. 38–63. 2 A. a. O., S. 42 3 A. a. O., S. 40. 4 A. a. O., S. 53 f.

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Anspielungen

der von der Erde am weitesten entfernte Himmelsköper, ein Ausdruck, der zwar eine denkbare Gegebenheitsweise eines Gegenstandes, also einen »Sinn«, ausdrückt, jedoch ohne »Bedeutung«, also ohne gegenständliches Korrelat bleibt. Hierher gehören aber auch – und vor allem – alle fiktionalen »Eigennamen« in Mythologie und Dichtung. In der Sprache der Dichtung, so sagt Frege, soll uns nichts über wirklich vorhandene Gegenstände gesagt werden, und dementsprechend haben wir hier nicht nach dem Wahrheitswert ihrer Sätze, der auf der Bedeutungshaltigkeit der »Eigennamen« beruht, zu fragen: »Beim Anhören eines Epos z. B. fesseln uns neben dem Wohlklange der Sprache allein der Sinn der Sätze und die davon erweckten Vorstellungen und Gefühle. Mit der Frage nach der Wahrheit würden wir den Kunstgenuß verlassen und uns einer wissenschaftlichen Betrachtung zuwenden. Daher ist es uns auch gleichgültig, ob der Name »Odysseus« z. B. eine Bedeutung habe, solange wir das Gedicht als Kunstwerk aufnehmen.« 5

Frege fügt diesen Sätzen in einer Fußnote den Wunsch hinzu, dass für Zeichen dieser Art, die nur einen »Sinn« und keine »Bedeutung« haben sollen, ein besonderer Ausdruck geprägt werden möge. Zweifellos will er hier in einer positiven Kennzeichnung diejenigen Fälle beschreiben, in denen eine ausdrückliche Einschränkung auf den »Sinn« und nicht der nur scheinhafte Anspruch auf eine »Bedeutung« gegeben ist. Für die zuletzt genannte Möglichkeit, die nur scheinbare Bedeutungshaltigkeit eines »Eigennamens«, gibt Frege als Beispiel den Ausdruck der Wille des Volkes. Mit dem Hinweis, »daß es wenigstens keine allgemein angenommene Bedeutung dieses Ausdrucks gibt« 6, kann Frege die Gefahr des demagogischen Missbrauchs eines solchen nur scheinbaren »Eigennamens« leicht deutlich machen. Seine an dieser Stelle ausgesprochene »Warnung vor scheinbaren Eigennamen, die keine Bedeutung haben«, steht also in Zusammenhang mit dem Bemühen, »die Quelle dieser Irrtümer wenigstens für die Wissenschaft ein für alle Mal zu verstopfen« 7, d. h. für die Wissenschaft ein System durchgängiger Entsprechung von Zeichen und bezeichneten Gegenständen zu entwickeln.

5 6 7

A. a. O., S. 46. A. a. O., S. 54. Ebd.

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Anspielungen

In diesem Abgrenzungsversuch sind zwei Postulate enthalten, die für die Entwicklung der Semantik und – im weiteren Sinne – der Semiotik nach Frege bestimmend waren: das Postulat, die Bereiche der bedeutungshaltigen und der bloß sinnhaltigen Zeichen scharf zu trennen; und das (in der Formulierung: ›bloß sinnhaltig‹ schon ausgedrückte) Postulat, nur dem ersteren Bereich wissenschaftliche Dignität zuzusprechen. Es wäre zwar ein Missverständnis, aus diesen beiden Postulaten zu folgern, Frege habe die Wichtigkeit des »Sinns« eines Zeichens gegenüber der »Bedeutung« unterschätzt: Die Variabilität des »Sinns« bei identischer »Bedeutung«, verdeutlicht durch die Verschiedenheit der geometrischen Gegebenheitsweisen eines Punktes, 8 ist ja für Frege die Bedingung dafür, dass bei gleichbleibendem Wahrheitswert eines Satzes dessen Erkenntniswert variabel ist. Vorrang behält die »Bedeutung« gegenüber dem »Sinn« jedoch dadurch, dass erst der referentielle Bezug des »Eigennamens« über den Wahrheitswert eines Satzes (wahr oder falsch) entscheidet. Für eine Theorie der interpretierenden Wissenschaften ist diese Unterscheidung, wie auch die später üblich gewordene Unterscheidung zwischen kognitiv-symbolischer und emotiv-evokativer Funktion der Sprache, eine anstößige Sache. Diese Disziplinen haben es in der Regel mit sprachlichen Zeichen zu tun, die ohne »Bedeutung« (oder in der Terminologie von Ogden und Richards gesagt: ohne »referent«) bleiben. 9 Nach Freges Meinung tun sie dies entweder im guten oder im schlechten Sinn: gut im erkennbaren Verzicht auf ihr »Wahrheitswert-Potential« 10, schlecht durch Erschleichung eines Anspruchs auf Bedeutung, der ihnen nicht zukommt. Damit ist über solche Ausdrücke jedoch nur ausgesagt, dass sie für eine szientistischphysikalistische Wahrheitstheorie irrelevant sind, und zwar unabhängig davon, ob sie im guten oder im schlechten Sinn ›bedeutungslos‹ bleiben. Nichts ausgesagt ist darüber, woher ein Ausdruck Frege führt als Beispiel die Seitenhalbierenden a, b, c, eines Dreiecks an, deren identischer Schnittpunkt (»Bedeutung«) sowohl als Schnittpunkt von a und b als auch als Schnittpunkt von b und c angegeben werden kann. »Wir haben also verschiedene Bezeichnungen für denselben Punkt, und diese Namen (›Schnittpunkt von a und b‹, ›Schnittpunkt von b und c‹) deuten zugleich auf die Art des Gegebenseins«. A. a. O., S. 39. 9 Ch. K. Ogden/I. A. Richards: The Meaning of Meaning. A Study of the Influence of Language upon Thought and the Science of Symbolism. London 1923, S. 11. 10 Vgl. E. Tugendhat: The Meaning of »Bedeutung« in Frege. Analysis Bd. 30/1970, S. 177–189, Hier: S. 180. 8

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Anspielungen

wie der Wille des Volkes die Kraft hat, Menschen auf die Barrikaden zu treiben, oder woher ein Name Odysseus die Fähigkeit nimmt, einen ganzen Kulturkreis quantitativ abgrenzen und qualitativ kennzeichnen zu helfen.

2. Unter den vielen möglichen Gesichtspunkten, unter denen die offenkundige Defizienz der »tidy looking dichotomies« 11 behandelt werden kann, scheint mir der semiotisch-kommunikationstheoretische, wie ihn in den letzten Jahren vor allem Umberto Eco vertreten hat, besondere Beachtung zu verdienen. Ecos Buch La Struttura assente ist 1972 in deutscher Übersetzung unter dem vielleicht etwas zu bescheidenen (und deshalb irreführenden) Titel Einführung in die Semiotik erschienen. 12 Es ist Ecos Grundthese, dass Kultur primär als Kommunikationsphänomen zu verstehen ist und kulturelle Vorgänge als Kommunikationsprozesse semiotisch, also von einer Theorie der Signifikation aus, zu betrachten sind. Dies bedeutet, dass bei der Untersuchung eines Kommunikationsvorganges, in dem eine »Botschaft« gesendet und empfangen wird, die Frage nach Wahrheit oder Falschheit der Botschaft aufgegeben wird zugunsten der Frage nach den »Bedingungen der Mitteilbarkeit und Verstehbarkeit der Botschaft« 13. Bezogen auf unser Ausgangsproblem des sprachlichen Dualismus kann dies auch so formuliert werden: Für die Betrachtung auf semiotischer Ebene besteht zwischen den Sätzen »Napoleon starb am 5. Mai 1821 auf St. Helena«, und »Odysseus eroberte seine Herrschaft zurück, indem er alle Freier tötete«, prinzipiell kein Unterschied, sofern jeder Satz innerhalb eines bestimmten ›Code‹ (oder, mit Ludwig Wittgenstein gesagt: unter Beachtung der Regeln eines bestimmten Sprachspiels) richtig verstanden wird. Entscheidend ist hier nicht, ob der erste Satz vermöge der Bedeutungshaltigkeit des Eigennamens Napoleon einen anderen Wahrheitswert hat als der zweite, sondern allein, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit mit Hilfe des einen wie des andern Satzes ein KommunikaVgl. J. L. Austin: Sense and Sensibilia, Oxford 1962, S. 3. U. Ecco: La Struttura Assente; dt. Übers.: Einführung in die Semiotik. München 1972. 13 Eco, a. a. O., S. 72. 11 12

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Anspielungen

tionsvorgang innerhalb eines bestimmten kulturellen Rahmens stattfinden kann. Die Anbindung der Sprache an die »Bedeutungen« (= bezeichneten Gegenstände) im Sinne Freges, oder an das »referent« (im Sinne des Dreiecks: »symbol, reference, referent« bei Ogden und Richards) ist für die semiotische Betrachtung nicht nur überflüssig, sondern schädlich. Die Signifikate, mit denen sie sich beschäftigt, können nicht qualitativ danach unterschieden werden, ob für sie ein gegenständliches Korrelat aufweisbar ist oder nicht. Sie dürfen nicht physikalistisch auf Gegenstände, sondern müssen kommunikationstheoretisch auf Codes bezogen werden, als deren Bestandteile sie erscheinen. Für die Frage der Zweiteilung kognitiv-emotiv ergibt sich daraus eine sehr eindeutige Konsequenz: »Wie man sehen wird, wollen wir den bei vielen Autoren anzutreffenden Unterschied zwischen ›kognitiver Bedeutung‹ und ›emotionaler Bedeutung‹ ignorieren, weil uns scheint, daß das Funktionieren eines Signifikans im Semioseprozeß diese beiden Bedeutungsformen gleich wichtig macht. Wenn man die zweite in einen Bereich verweist, von dem die Semantik nicht sprechen könne (vgl. Carnap), dann kann man zwar mit einer gewissen Genauigkeit die referentielle Funktion der Sprache untersuchen, man verliert aber den Reichtum des Kommunikationsprozesses. Die Semiotik darf solche Kastrationsformen nicht akzeptieren, auch wenn sie dabei ein paar Ungenauigkeiten auf sich nimmt. Bevor sie zu einer Disziplin wird, die ihr Untersuchungsfeld mit wissenschaftlicher Strenge behandelt, muß sie zu einer Disziplin werden, die den Mut hat, alles, was sie betrifft, in ihr Untersuchungsfeld aufzunehmen.« 14

Ein Ausdruck wie der Wille des Volkes wird, auf dieser Ebene betrachtet, von derselben Dignität sein wie Morgenstern oder Abendstern, sofern er Bestandteil eines Kommunikationsvorgangs ist, der innerhalb einer soziokulturellen Gemeinschaft eine gesellschaftliche Kraft darstellt. Eine solche Kommunikationsgemeinschaft wird deshalb die logisch-semantische Abwertung dieses Ausdrucks nur sehr zögernd hinnehmen. Damit ist noch nichts gesagt über die Gefahren des demagogischen Missbrauchs eines schlecht definierbaren Begriffs, die Frege zu Recht hervorhebt. Die hohe kommunikative Potenz des Ausdrucks macht diese Gefahr in der Tat sehr wahrscheinlich. Doch lässt diese kommunikative Potenz sich nicht aus dem Fehlen einer konkreten »Bedeutung« herleiten, sondern aus der Besonderheit des 14

Eco, a. a. O., S. 108.

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Signifikats dieses Ausdrucks. Wir nannten dieses soeben eine gesellschaftliche Kraft. In der schlichteren Sprache einer kommunikationstheoretisch orientierten Semiotik sprechen wir einfach von einer kulturellen Einheit, oder – wie ich hier vorschlagen möchte – von einer kulturellen Kommunikationseinheit. Der Begriff der kulturellen Einheit (»cultural unit«) ist von Eco bei dem amerikanischen Autor David M. Schneider aufgegriffen worden. 15 Schneider verwendet ihn, um die je spezifische Strukturiertheit der soziokulturellen Wirklichkeit einer Gemeinschaft aufzuzeigen. Diese Wirklichkeit gliedert sich in Einheiten der verschiedensten Art, die in relativer Abgeschlossenheit und intersubjektiver Verstehbarkeit quasi-institutionelle Bedeutung haben. So repräsentiert in der nordamerikanischen Kultur das Wort uncle eine kulturelle Einheit, die – als Quasi-Institution allgemein anerkannt – handlungsorientierend und unmittelbar verständlich ist. Schneider fasst diesen Begriff des cultural unit sehr weit und versteht darunter »simply anything that is culturally defined and distinguished as an entity. It may be a person, place, thing, feeling, state of affairs, sense of foreboding, fantasy, hallucination, hope or idea. In American culture such units as uncle, town, blue (depressed), a mess, a hunch, the idea of progress, hope and art are cultural units.« 16

In dem Bemühen, den »Reichtum des Kommunikationsprozesses« in der semiotischen Theorie nicht zu verlieren, greift Eco diesen Gedanken Schneiders auf. Der offenkundige Vorteil des Begriffs kulturelle Einheit liegt für eine solche Theorie darin, dass mit ihm die Unterscheidung zwischen »Sinn« und »Bedeutung« im Sinne Freges, zwischen »reference« und »referent« im Sinne von Ogden und Richards und schließlich zwischen »kognitiver« und »emotiv-evokativer« Funktion der Sprache in gleicher Weise aufgehoben ist. Dies hat für den uns hier besonders interessierenden Bereich der »bedeutungslosen« Eigennamen erhebliche Konsequenzen. Wenn als Signifikat des Wortzeichens Odysseus eine kulturelle Einheit angenommen wird, die innerhalb einer bestimmten Kommunikationsgemeinschaft eine Mannigfaltigkeit von Lebensbezügen relativ dauerhaft und mit intersubjektiver Geltung bündelt, so ist es hinsichtlich der kommunikativen Potenz dieser kulturellen Einheit unerheblich,

15 16

D. M. Schneider: American Kinship. A Cultural Account. Englewood Cliffs, 1968. Schneider, a. a. O., S. 2.

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ob jemals ein Held dieses Namens wirklich gelebt und gelitten hat; es ist ferner unsinnig, unterscheiden zu wollen zwischen dem mit dem Wort ›bloß gemeinten‹ und einem möglichen ›streng bezeichneten‹ Inhalt; und es ist schließlich unmöglich, in der Abwägung zwischen kognitivem und evokativem Gebrauch dieses Namens einen Unterschied gegenüber derjenigen Signifikation erkennbar zu machen, die dann gegeben ist, wenn ein Wortzeichen für eine vor Jahrzehnten gestorbene, historische Persönlichkeit zu stehen hat, die gleichfalls eine kulturelle Einheit darstellt, etwa Bismarck.

3. In Ecos semiotischer Theorie der kulturellen Einheiten scheint mir nun allerdings eine Schwierigkeit angelegt zu sein, die mich veranlasst, in der Sache und auch in der Terminologie eine Modifikation vorzuschlagen. Eco beschreibt das Funktionieren der kulturellen Einheiten primär als die Leistung der sozio-kulturellen Strukturierung der gleichsam als Rohstoff gegebenen, naturhaften Wirklichkeit, oder – anders gewendet – als Transformation bloßer sensorischer Erfahrung in kommunikative Erfahrung. Dies ist an den von ihm gewählten Beispielen deutlich zu machen: In den Farbnamen als kulturellen Einheiten drückt sich aus, wie bestimmte Kulturen das allen gemeinsame Erfahrungskontinuum ›Farbspektrum‹ in verschiedener Weise strukturieren. So hat die russische Kultur für den von uns mit blau bezeichneten Abschnitt des Kontinuums (Wellenlänge ca. 480–460 Millimikron) zwei verschiedene kulturelle Einheiten (goluboj und sinij) usw. – Der Eskimo schneidet aus dem Erfahrungskontinuum, das wir mit der kulturellen Einheit Schnee erfassen, vier verschiedene kulturelle Einheiten heraus. – Das Lateinische kennt nur die kulturelle Einheit mus gegenüber der weiteren Ausdifferenzierung des Erfahrungskontinuums durch die kulturellen Einheiten Maus und Ratte im Deutschen. 17 – Die so zu gewinnenden semantischen Felder (Farbnamen, Verwandtschaftsbeziehungen usw.), die sich aus den einzelnen kulturellen Einheiten aufbauen, sind ihrerseits Bestandteile der umfassenden, in ihrer ganzen Globalität allerdings nicht zu begründenden semantischen Systeme, die die Kulturen im Ganzen repräsen17

Eco, a. a. O., S. 89 ff.

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tieren. Die Struktur der einzelnen semantischen Felder, also die Art des Zugriffs auf Ausschnitte des Erfahrungskontinuums, manifestiert, wie Eco sagt, die einer Kultur eigene Weltanschauung. Die offenkundige Misslichkeit dieses Ansatzes liegt darin, dass Eco genau an dem Punkt, wo er glaubt, sich von dem Übergewicht der Frege’schen ›Bedeutung‹ freimachen zu können, mit Beispielen arbeitet, für die Frege ihm dankbar gewesen wäre. Durch nichts ist der Unterschied zwischen ›Sinn‹ und ›Bedeutung‹ anschaulicher zu illustrieren als durch die Tatsache der kulturspezifisch verschiedenen Gegebenheitsweisen eines hiervon unberührt bleibenden, objektiv messbaren ›Gegenstandes‹. Es ist zwar Eco darin zuzustimmen, dass – genetisch betrachtet – im Falle der Farbwahrnehmung die messbare Wellenlänge ein erst nachträglich relevant gemachtes Faktum darstellt und dass der primär gegebene Gegenstand die Farbe Grün in ihrem Unterschied zu Nachbarfarben, also die kulturelle Einheit grün gewesen ist. 18 Sobald wir uns jedoch über die Sichtweise der einzelnen Kulturen erheben und ihre Farb-Selektionen auf ein ihnen gemeinsames Substrat beziehen, wird dieses in seinem objektiven Sein zum »referent« (540 bis 490 Millimikron), auf das sich die Farbvorstellung grün als »reference« bezieht, die im Wort-Symbol grün repräsentiert ist. Und damit sind wir wieder beim Dreieck von Ogden und Richards angelangt. Von hier aus ist der Übergang zu denjenigen kulturellen Einheiten, in denen soziokulturelle Wirklichkeit sich erst konstituiert, und die häufig im Verdacht stehen, bloß einen »Sinn«, aber keine »Bedeutung« zu haben, nur sehr schwer zu vollziehen. Um ein aktuelles Beispiel zu gebrauchen: Watergate war vor nicht allzu langer Zeit kaum mehr als der Name eines Gebäudekomplexes, und als solcher nur im Idiolekt seiner Erbauer, Bewohner und Nachbarn eine Art von kultureller Einheit im Sinne der gestalthaften Repräsentation eines bestimmten Komplexes sensorisch gegebener Wirklichkeit. Wir spielen heute mit diesem Wort auf einen ganz anderen Komplex gesellschaftlich-geschichtlicher Wirklichkeit an, der weit über die Fakten eines Einbruchs, seiner Vertuschung und der Vertuschung dieser Vertuschungsversuche hinausgeht. Alles spricht dafür, dass Watergate mindestens im Bewusstsein der heute erwachsenen Amerikaner eine kulturelle Einheit in dem Sinne bleiben wird, dass mit diesem Wort 18

Eco, a. a. O., S. 90.

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eine der schwersten Krisen im politisch-moralischen Selbstverständnis der amerikanischen Nation signifiziert ist. Manches spricht auch dafür, dass noch nach Jahrhunderten die Erinnerung an diese Krise mit dem Wort verbunden bleiben wird. Ob jetzt oder in jener fernen Zeit – immer wird es schwer sein, ein exakt angebbares Denotat zu diesem Zeichen zu finden. Gewiss sind es nicht die retuschierten Dokumente und die technisch fixierten Reden und Anschuldigungen, für die das Wort Watergate eine besondere Gegebenheitsweise signifiziert. Vielmehr ist es so, dass eine Vielzahl scheinbar heterogenster Einzelfakten im Bewusstsein der Zeitgenossen in einem Zusammenhang erscheint, der erst mit Hilfe eines Zeichens jene relative Abgeschlossenheit gewinnt, die Mitteilbarkeit und Verständigung ermöglicht. Semiotisch betrachtet steht Watergate damit in einer Reihe mit anderen historischen Abbreviaturen, wie Stalingrad, Auschwitz, Dreyfuss, Bismarck oder Perikles. Ein anderes, gleichfalls aktuelles Beispiel kann vielleicht noch besser die Unterscheidung kennzeichnen, auf die es hier ankommt. Das Wort Pille signifiziert eine kulturelle Einheit, deren Position innerhalb eines bestimmten semantischen Feldes durch Opposition zu Kapsel, Tablette, Tropfen usw. denotiert werden kann. Nehmen wir jedoch mit dem Ausdruck die Pille Bezug auf bestimmte soziologische Entwicklungen im Zusammenhang mit der modernen Familienplanung, so machen wir Gebrauch von einer neuen und anders gearteten kulturellen Einheit. Während Pille im ersteren Sinn zu denjenigen kulturellen Einheiten zu rechnen ist, die wie die Farbnamen ein Erfahrungskontinuum segmentieren, haben wir es bei der zweiten Bedeutung mit einer kulturellen Einheit zu tun, die – vergleichbar der Leistung des Wortes Watergate – ein diffuses »Cluster« soziokultureller Sachverhalte bündelt und in der isolierenden Heraushebung verfügbar macht. Es ist sehr schwierig, die Position solcher kultureller Einheiten innerhalb semantischer Felder zu bestimmen, und dies dürfte mit der hier anzunehmenden spezifischen Leistung des Zugriffs auf Wirklichkeit zu tun haben. Diese versuche ich mit dem schon mehrfach gebrauchten Wort Bündelung zu charakterisieren, womit ein gewisser Gegensatz zur Segmentierung gegeben ist. 19 Zum Begriff der Bündelung vgl. auch R. Koselleck: Einleitung zu O. Brunner/ W. Conze/R. Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. xiii–xxvii, hier: S. xxiii.

19

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Es ist zu vermuten, dass zwischen kulturellen Einheiten der ersten und der zweiten Art unzählige Zwischenwerte liegen, mit deren Bestimmung und Abgrenzung ich mich hier jedoch nicht befassen will. Vielmehr sollen die kulturellen Einheiten der zweiten Art in ihrer spezifischen Leistung deutlich erkennbar gemacht werden, was eine heuristische Überbetonung des Gegensatzes notwendig macht. Im Interesse einer solchen Abhebung spreche ich deshalb im Folgenden von kulturellen Kommunikationseinheiten, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass die hier in Frage stehenden Signifikationen Bestandteile von Verständigungsprozessen über kulturelle Befunde darstellen, und schlage vor, für die kulturellen Einheiten im Sinne von Schneider und Eco den Terminus kulturelle Struktureinheiten zu gebrauchen. Im Gegensatz zu diesen letzteren haben die kulturellen Kommunikationseinheiten primär die Funktion von Anspielungsnamen. Sie repräsentieren nicht die deutlich abgrenzbaren Segmente der soziokulturell strukturierten Erfahrungswelt, wie dies (auf der Ebene der Logik betrachtet) die Allgemeinbegriffe tun, sondern sind elliptische (häufig synekdochische) Bezugnahmen auf jeweilige Mannigfaltigkeiten kultureller Sachverhalte, deren relative Einheit in der Anspielung zwar schon vorausgesetzt, zugleich aber doch jeweils im Sinne einer Neuverständigung modifiziert oder neu gesetzt wird. Voraussetzung ist hierbei, dass Kultur, sofern wir sie als ein Kommunikationsphänomen betrachten, nicht einfach das Totum von Kommunikationsvorgängen darstellt, sondern als Vorgang der beständigen Überlagerung einfacherer Artikulations- und Kommunikationsprozesse durch kompliziertere und differenziertere zu betrachten ist. Entscheidend daran ist der Zug zur Hervorbringung beständig neuer Kommunikationseinheiten, die nicht im Sinne einer Begriffspyramide zu immer größerer Allgemeinheit tendieren, sondern abhängig von der jeweiligen geschichtlich-gesellschaftlichen Situation neue und in beliebige Richtung weisende Möglichkeiten der Sichtung und Bündelung bereits vorgegebener Einheiten darstellen. Wenn August Boeckh die Leistung der Philologie einmal bezeichnet hat als die beständig neu vorzunehmende »Erkenntnis des Erkannten« 20, so können wir Kultur im Sinne eines Kommunikationsphänomens in Anlehnung an dieses Wort bezeichnen als Verständigung über Verstandenes, wobei sich von selbst versteht, dass das ›Verstandene‹ 20 A. Boeckh: Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften. Hrsg. v. E. Bratuscheck, Leipzig 1877, S. 11 und passim.

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nicht das ein für alle Mal Erledigte, sondern das in der Verständigung neu sich Konstituierende ist.

4. Wenn wir von hier aus noch einmal zum Ausgangspunkt unserer Betrachtung zurückblicken, so erhebt sich die Frage, inwieweit die semantische Unterscheidung zwischen »Sinn« und »Bedeutung« zur Erfassung der spezifischen Leistung der kulturellen Kommunikationseinheiten beitragen kann. Besonders illustrativ ist hierfür die Frege’sche Wendung von der ›einseitigen Beleuchtung‹ eines Gegenstandes durch den »Sinn« seiner verschiedenen Eigennamen: In der Formulierung Morgenstern erfährt die gemeinte Sache eine einseitige Beleuchtung durch Hervorhebung bestimmter, innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft unter Umständen besonders relevanter Züge. Die Voraussetzung hierfür ist jedoch die Einschränkung dieses Bereiches von Signifikation auf Fälle des Vorhandenseins primär in sensorischer Erfahrung gegebener ›Gegenstände‹, die zwar verschieden ›beleuchtet‹ werden können, aber als ganz unabhängig von dieser Beleuchtung existierend gedacht werden. So existiert in der Tat jener Gebäudekomplex in Washington ganz unabhängig davon, ob sich der Detektiv Kinderman mit den Worten: »Haben Sie übrigens das Bolschoi-Ballett im ›Watergate‹ gesehen?« auf ihn bezieht. 21 Der Komplex Watergate als historischer Sachverhalt dagegen existiert als solcher erst, seitdem mit Hilfe dieses sprachlichen Zeichens eine Fülle scheinbar heterogenster Fakten gleichsam auf einen gemeinsamen Nenner gebracht oder, wie schon mehrfach gesagt wurde, gebündelt worden ist und in dieser Bündelung bestimmte kommunikative Qualitäten, über die noch zu befinden sein wird, angenommen hat. Dies gilt in der extremen Weise, die wir dadurch zu charakterisieren versucht haben, dass wir den kulturspezifischen Segmentierungen des Erfahrungskontinuums durch kulturelle Einheiten wie Maus, rot usw. die Fokussierung auf intersubjektiv bedeutsame Sachverhalte hin entgegengesetzt haben, in welcher die »Verständigung über Verstandenes« sich vollzieht. Einzelne Komponenten hiervon gilt es jetzt zu untersuchen. Gehen wir aus von dem Fall einer Ein-Wort-Verständigung, wie 21

In dem vor der Watergate-Affäre erschienen Roman von W. P. Blatty: The Exorcist.

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sie ihrer formalen Struktur nach jedem geläufig ist, von der inhaltlichen Besonderheit des angeführten Beispiels her allerdings die Befremdlichkeit, ja sogar die unfreiwillige Komik des historisch Abständigen erkennen lässt. Werther und Lotte erleben das Abziehen eines Gewitters: »Wir traten ans Fenster. Es donnerte abseitwärts, und der herrliche Regen säuselte auf das Land, und der erquickendste Wohlgeruch stieg in aller Fülle einer warmen Luft zu uns auf. Sie stand auf ihren Ellbogen gestützt; ihr Blick durchdrang die Gegend, sie sah gen Himmel und auf mich; ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte – Klopstock! – Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr in Gedanken lag, und versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Losung über mich ausgoß. Ich ertrugs nicht, neigte mich auf ihre Hand und küßte sie unter den wonnevollsten Tränen.« 22

Wie entsteht die komische Wirkung, die wir vor allem bei Herauslösung dieser Stelle aus Gesamtzusammenhang und -stimmung des Romans so stark empfinden? Vermutlich doch aus dem für das Empfinden des heutigen Lesers offenkundigen Missverhältnis zwischen gesendeter Botschaft und deren Wirkung beim ›Empfänger‹. Jede Möglichkeit der Übertragung dieses Kommunikationsvorgangs auf ein Liebespaar von heute scheint ausgeschlossen. Aber ohne weiteres nachvollziehbar (und damit rücken uns Werther und Lotte unversehens wieder näher) ist die formale Seite des Vorgangs: das blitzschnelle Herstellen eines intensiven Einverständnisses durch evozierendes Anspielen auf einen Bereich gemeinsamer Erfahrung. Wechseln wir die Losung aus und sagen statt Klopstock etwa Hitchcock, so wird deutlich, was darunter zu verstehen sei. Beispiele der ironisierenden Anwendung dieses Kommunikationsprinzips sind sicher schneller bei der Hand als solche für den fragilen Einklang im Hochgefühl einer idealisierenden Stimmung. Ob die Blaue Blume – als Losung im Wandervogel ernst genommen und besungen – dort jemals evozierende Kraft im anspielenden Gebrauch gehabt hat, kann hier nicht entschieden werden. Ganz sicher jedoch haben wir heute in ihr eine kulturelle Kommunikationseinheit zum Zwecke der ironischen Distanzierung von bestimmten Zügen eines blauäugigen Irrationalismus. Und dies führt zu einem weiteren Zug, der am Beispiel der Kommunikationseinheit Klopstock noch J. W. Goethe: Die Leiden des jungen Werther. Artemis-Gedenkausgabe, Bd. 4, S. 404. Angespielt wird auf Klopstocks Ode Frühlingsfeier.

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nicht erkennbar war, aber schon für den Fall Hitchcock und erst recht für die Blaue Blume gilt: Solche evozierenden Ausdrücke können sehr schnell in Verschleiß geraten, ja, es scheint geradezu ihr Lebensgesetz zu sein, zur abgegriffenen Marke, zum Klischee zu gerinnen. Ich möchte jedoch daran festhalten, dass kulturelle Kommunikationseinheiten nicht einfach mit Klischees gleichzusetzen sind, sondern dass sie zu solchen erst mit dem Schwinden ihrer evokativ-kommunikativen Kraft degenerieren. Irgendwann muss jedem Klischee ursprünglich jene hoch kommunikative Potenz innegewohnt haben, die dann im Sinne eines dialektischen Umschlagens in ermüdender Formelhaftigkeit ausläuft. Vor diesem Schicksal bewahrt vielleicht nur die Einschränkung des Gebrauchs auf eine sehr kleine Kommunikationsgemeinschaft, etwa die Familie. Henry James bündelte alle jene Züge seines Bruders William, die ihn teils irritierten, teils faszinierten, in der Kommunikationseinheit Williamcy 23 und konnte sich damit im Familien- und Freundeskreis sicher sehr unmittelbar verständlich machen, ohne dass dieser Anspielunggsname in Gefahr geriet, abgegriffen zu werden. Noch heute hat er für jeden, der ihn bei der Beschäftigung mit William James ausgräbt, etwas eminent Kommunikatives, in deutlichem Unterschied zu Formeln wie kafkaesk, die ihre Aussagekraft durch übermäßigen Gebrauch eingebüßt haben. In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage, welche Art von kultureller Kommunikation durch den Topos geleistet wird. Wenn jemand nach einer Reise zu den Loire-Schlössern begeistert feststellt, er habe jetzt gleichsam die Verbindungslinie zwischen Florenz und Versailles entdeckt, so bedient er sich zweier Namen im Sinne einer evozierenden Anspielung auf ein beim Hörer vorausgesetztes historisches Wissen um das Florenz der Medici und das Versailles der Bourbonen, zwischen denen die Geschichte des Hauses Valois eine Verbindung herstellt. Diese Art der Verständigung über Verstandenes hat eine andere kommunikative Funktion als der Topos Versailles in einer Hitlerrede. Zwar wird auch hier angespielt auf ein beim Hörer vorausgesetztes Wissen, auch hier findet also Verständigung über Verstandenes statt. Während jedoch die erste Kommunikationseinheit Versailles die Epoche Ludwigs XIV. gleichsam wie ein Bild heraufbeschwört, steht die zweite als Abbreviatur für den Argumentationsgang: »Der Schandfrieden von Versailles bedroht unsere völkische 23 Vgl. L. Marcuse: Amerikanisches Philosophieren. Pragmatisten, Polytheisten, Tragiker. Hamburg 1959, S. 56.

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Substanz.« usw. Der Unterschied zwischen beiden dürfte vergleichbar sein mit dem zwischen den Anspielungsnamen Fleetstreet und Wallstreet. Im einen Fall haben wir eine primär deskriptive Abbreviatur für den Komplex ›Presse in England‹, im andern Fall eine argumentative Anspielung auf das beim Hörer vorausgesetzte Wissen um die Macht des amerikanischen Kapitals. (Diese Werte sind freilich variabel und können je nach Kommunikationsumstand auch gänzlich anders angesetzt sein.) Es wäre also denkbar, von hier aus den so schwammig gewordenen Topos-Begriff wieder etwas straffer zu fassen, indem man ihn als kulturelle Kommunikationseinheit mit primär argumentativer Funktion bestimmt. Dies bedeutet gemäß unseren früheren Bestimmungen: Die Verständigung über Verstandenes vollzieht sich beim Topos durch Anspielung auf ein als gemeinsam vorausgesetztes Wissen um einen Traditionszusammenhang, von dem her in formelhafter Verdichtung ein »leitender Gesichtspunkt des Denkens« 24 gewonnen wird. Damit sei einerseits die Wichtigkeit dieses Phänomenbereiches hervorgehoben, andererseits aber auch betont, dass eine Theorie der kulturellen Kommunikationseinheiten nicht einfach in einer Lehre von den Topoi aufgehen kann. Die Verflechtung der Toposlehre mit einer allgemeineren Theorie der kulturellen Kommunikationseinheiten zeigt sich besonders im Bereich jener überanstrengten Gemeinplätze, in denen man sich nicht mehr auf eine Tradition beruft, sondern sich von ihr distanziert, indem man sie in Anführungszeichen setzt. Die gute, alte Zeit, Die Jugend von heute usw. – all diese Formeln haben ihre Kraft, leitende Gesichtspunkte des Denkens zu sein, längst eingebüßt. Man kann diese Ausdrücke jedoch gleichsam in ungerader Bedeutung (um hier eine Frege’sche Formulierung zu gebrauchen) verwenden, indem man mit ihnen nicht auf ein Wissen um die Sache selbst anspielt, sondern auf ein Wissen um bestimmte Haltungen, die sich im gedankenlosen Gebrauch solcher Formeln ausdrücken. Das ›Verstandene‹, über das man sich zu verständigen sucht, ist die Stereotypie und Formelhaftigkeit, die mit dem produktiven Sich-Berufen auf Tradition im Topos nur noch wenig zu tun hat. Es handelt sich hier also um den indirekten Gebrauch von Kommunikationseinheiten, in denen nicht mehr auf den in ihnen verkürzt ausgedrückten Sachverhalt angespielt wird, sondern – zumeist in kritischer Absicht – auf Haltung, Mentalität, Vgl. O. Pöggeler: Dichtungstheorie und Toposforschung; in: M. L. Bäumer (Hrsg.): Toposforschung, Darmstadt 1973, S. 22–135, hier: S. 81.

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ideologische Position usw. derer, die sie gebrauchen. Jedes Charakterisieren eines Einzelnen oder einer Gruppe durch Zitieren ihres Jargons geschieht so. Vom Zitieren der zärtlichen Anspielung auf Snoopy in Gesprächen auf dem Mond bis zur kritischen Sichtung des Vokabulars des Klassenfeindes (um hier eine gängige Kommunikationseinheit in indirekten Gebrauch zu nehmen) kann so jede kulturelle Kommunikationseinheit indirekt verwendet werden. Bisweilen lassen sich sogar zwei Stufen des indirekten Gebrauchs feststellen. So ist die Heile Welt zunächst ein Versuch, eine bestimmte Seinsverfassung positiv zu fassen; sie wird auf der ersten Stufe des indirekten Gebrauchs ein ideologiekritisch eingesetzter Anspielungsname und kann dann auf einer zweiten Stufe zur ironischen Charakterisierung eines ideologiekritischen Überschwangs verwendet werden. Fragen der Aktualität spielen hier eine große Rolle. So lässt sich mit einem Begriff wie Sedanstag immer weniger selbstverständlich auf gewisse Exzesse des Hurra-Patriotismus nach 1871 anspielen. Dagegen ist die Formel Law and Order wegen der Aktualität ihrer Problematik derzeit fast nur in indirektem Gebrauch, d. h. sie dient nicht als Parole, sondern als Anspielungsname zweiten Grades, nämlich zur Charakterisierung derer, die sie unkritisch gebrauchen. Über Klischee, Topos, Gemeinplatz und dessen indirekten Gebrauch sind wir damit bei denjenigen Kommunikationseinheiten angelangt, in denen eine Bündelung soziokultureller Sachverhalte in strategisch-demagogischer Absicht, womöglich mit wissenschaftlich fundierter, werbepsychologischer Raffinesse vorgenommen wird. Da dieser Aspekt der modernen Massenkommunikation mit Recht ein Lieblingskind der Medien- und Kommunikationsforschung geworden ist, mögen hier wenige Andeutungen über den Zusammenhang mit dem allgemeineren Thema genügen. Interessant (und wohl noch nicht hinreichend erforscht) scheint mir beim politischen und vor allem beim Werbeslogan die Rolle der Anspielung, die wir als durchgängiges Moment aller kulturellen Kommunikationseinheiten angenommen haben. Bei einem politischen Slogan wie New Frontier scheint mir das kommunikative, um nicht zu sagen demagogische Element primär darin zu liegen, dass der politische Führer, in diesem Falle also John F. Kennedy, zu erkennen gibt, sich mit dem Wunsch der Nation einig zu wissen, zu einer neuen, Solidarität schaffenden Zielsetzung zu gelangen. Die Struktur der Verständigung über Verstandenes erscheint hier modifiziert in der Weise, dass gerade die weithin noch nicht artikulierten Sehnsüchte und Erwartungen im 160 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

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Slogan formuliert werden und damit eine Gemeinsamkeit als bereits bestehend beschworen wird, die es doch erst herzustellen gilt. Dies gilt in verstärktem Maße für die Reklame. Der als Begriff oder gar Inbegriff eingeführte Markenartikel berechtigt dazu, auf ihn anzuspielen wie auf etwas dem Leben von Natur Zugehöriges. Gelingt es, das Warenzeichen zur echten kulturellen Kommunikationseinheit zu machen, wie dies bei Coca Cola der Fall ist, ist auch der Aufstieg zum indirekten Gebrauch (z. B. in Witzen über den American Way of Life) gesichert. Das Gegenteil der strategisch geplanten Anspielungsnamen stellen diejenigen dar, die ihre Existenz einem Missverständnis verdanken. Ein hübsches Beispiel ist Der hässliche Amerikaner. In dem gleichnamigen Buch von Lederer und Burdick 25 vertritt der Titelheld zusammen mit vier anderen Figuren die untypische Seite des Amerikanertums in Asien, nämlich Einfallsreichtum, Bescheidenheit und Flexibilität. Kritisch abgehoben von dieser Gruppe der unscheinbaren, ironischerweise »hässlich« genannten Amerikaner wird der Typ der offiziellen Vertreter Amerikas in ihrer Arroganz und Kleinkariertheit. Es ist denkbar, dass mit dieser Formel ein neuer Topos hätte geprägt werden können, der allein schon durch den offenkundigen Anklang an das ›hässliche junge Entlein‹ einen leitenden Gesichtspunkt des amerikanischen Denkens in formelhafter Verkürzung repräsentiert hätte. Denkanstöße in der Richtung eines solchen Topos sind von diesem Buch in der Tat auch ausgegangen, jedoch hat sich, wenn ich richtig sehe, das Wort vom hässlichen Amerikaner in ganz oberflächlicher Weise nur zu einem Klischee zur Bezeichnung der wirklich hässlichen Gegenspieler jener fünf unscheinbaren Helden entwickelt. Offenbar lag dem öffentlichen schlechten Gewissen mehr am Praktizieren vorgefertigter Selbstkritik, wie sie mit Hilfe des Klischees möglich war, als am Virulent-halten einer Anspielung auf produktive, wenn auch unbequeme Möglichkeiten. Die hier zuletzt in den Blick gekommene Funktion, die vorläufig als virulent bleibende Anspielung festgehalten werden soll, hat ihr Korrelat in der innerhalb der jeweiligen Kommunikationsgemeinschaft vorhandenen Bereitschaft, sich auf einen mehr oder weniger verstandenen Sachverhalt ansprechen zu lassen. Die Anspielung muss »verfangen«. Eine völlige Indifferenz, wie sie durch gänzliche Unkenntnis, Übersättigung oder durch einen Wandel der Lebens25

W. J. Lederer/E. Burdick: The Ugly American. London 1959.

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bezüge bedingt sein kann, lässt jenes Mindestmaß an Resonanzbereitschaft nicht aufkommen, das in jeder Anspielung vorausgesetzt ist. Dieses korrelative Grundverhältnis dürfte zu den zentralsten Zügen der hier in Frage stehenden Art von Kommunikation gehören. Die beiden Metaphern Virulenz und Resonanz, so heterogen ihrer Herkunft nach, sind doch geeignet, die Struktur des »Verfangens« der Anspielung zu illustrieren, was den aus der Nachrichtentechnik bezogenen Metaphern (über deren metaphorischen Charakter in der Regel auch Unklarheit besteht) kaum je gelingt. Virulenz und Resonanzbereitschaft sind Kategorien einer historischen Kommunikationstheorie, insofern sie die Bedingungen des Verfangens unter der Voraussetzung des Wandels der ›Verfänglichkeit‹ (bis hin zum hermeneutischen Sonderproblem des totalen Kommunikationsabbruchs) zu fassen versuchen. 26

5. Hier zu Tage tretende Mikrostrukturen, die sich im Zusammenhang mit dem Phänomen der Anspielung ergeben, dürften nur schwer in Kommunikationsmodellen vom ›Sender-Empfänger‹-Typ unterzubringen sein. Aber auch ein differenzierteres Faktorenmodell, wie es Siegfried J. Schmidt entwickelt hat, 27 bietet Schwierigkeiten der Subsumtion, da die aus der Sprechakt-Theorie John R. Searles 28 bezogenen Kategorien »Proposition« und »Illokutionsakt« Kommunikationsstrukturen wie der Anspielung gegenüber indifferent sind. Dies kann wiederum am Beispiel Watergate entwickelt werden. Wenn Spiro Agnew, der wegen Korruption zum Rücktritt gezwungene Vizepräsident unter Nixon, sich als erstes Opfer der Post-WatergateMorality bezeichnete, so bildet die in dieser Aussage steckende An-

Die Frage nach dem Verfangen von Anspielungen bildet damit einen Teilaspekt des Problems des »geschichtlichen Verstehens als Kommunikation«, wie es Karlfried Gründer im Hinblick auf die Erfahrung der gebrochenen Kontinuität der Geschichte dargestellt hat. Vgl. K. Gründer: Reflexion der Kontinuitäten. Zum Geschichtsdenken der letzten Jahrzehnte. Göttingen 1982, vor allem S. 98 f. 27 S. J. Schmidt: Texttheorie. Probleme einer Linguistik der sprachlichen Kommunikation. München 1973, S. 124 ff. 28 J. R. Searle: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Dt. Übersetzung Frankfurt a. M., 1971. 26

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spielung zwar die eigentlich kommunikative Pointe, ist aber weder als der propositionale noch als der illokutionäre Teil des hier vorliegenden Sprechaktes isolierbar. Diese Schwierigkeit, das Phänomen der Anspielung von der Sprechakt-Theorie her in den Griff zu bekommen, kann in dieser Arbeit nicht näher untersucht werden. Als Nebenprodukt dieser Erörterungen wollen wir jedoch festhalten, dass im Zuge einer weiterführenden Beschäftigung mit Sprechakten, in denen Anspielung stattfindet, ein grundsätzlich anderer Ansatz als der von Searle vorgeschlagene anzustreben ist. In der Linie des bisherigen, primär phänomenologisch und nicht klassifikatorisch ausgerichteten Verfahrens soll abschließend der zuletzt in den Blick gekommene Zug der hier behandelten Kommunikationsstruktur, den wir als Verfangen der Anspielung bezeichneten, näher betrachtet werden. Hierbei ist zunächst eine Abgrenzung vorzunehmen, die trivial erscheinen mag, uns dem zu untersuchenden Gegenstand jedoch näher bringt. ›Verfängliche‹ Anspielungen im gebräuchlichen Sinn des Wortes sind solche, die einen Sachverhalt stärker in das Bewusstsein der Gesprächspartner bringen als es dem Willen eines oder mehrerer der Beteiligten entspricht. So kann bei einem Verhör mit verfänglichen Anspielungen gearbeitet werden, um die zur Schau getragene Sicherheit des Leugnenden zu erschüttern, und umgekehrt kann sich dieser durch verfängliche Anspielungen selbst verraten. Im Sinne einer deutlichen Ausgrenzung dieser Art von Anspielung sei für sie das im Deutschen obsolet gewordene Adjektiv ›kaptiös‹ eingeführt. Wenn wir im Folgenden vom ›Verfangen‹ einer Anspielung sprechen, so ist damit nicht die kaptiöse Anspielung gemeint, sondern das komplizierte Kommunikationsphänomen, das oben mit Hilfe der Metaphern ›Virulenz‹ und ›Resonanz‹ umschrieben wurde. Das deutsche Wort ›verfangen‹ hat den Vorteil, über den Bereich der (kaptiösen) Verfänglichkeit hinaus auch noch die neutralere Form des Greifens zu bezeichnen, die man im Sinne hat, wenn man davon spricht, dass dieses oder jenes Argument, diese oder jene Maßnahme ›nicht verfängt‹. Agnews Wort von der Post-Watergate-Morality ist in diesem Sinn eine (nicht kaptiöse, sondern) verfangende Anspielung. Seine Pointe liegt nicht darin, dass ein bislang unausgesprochen gebliebenes Problem in verfänglicher Weise berührt würde. Vielmehr bedient sich der Sprecher eines von aller Welt gebrauchten Anspielungsnamens, um ihn – im indirekten Gebrauch – apologetisch gegen die in ihm implizierte kollektive Verurteilung einer politischen Gruppe zu ver163 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

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wenden. Unabhängig davon, ob sachlich dieses Argument verfängt, steht das kommunikative Verfangen der Anspielung außer Frage. In dieser umgangssprachlichen Kommunikationsform lassen sich die Wurzeln bestimmter Leistungen erkennen, die Bestandteil jeder interpretativen Auseinandersetzung mit Kultur sind. Der Aphorismus, sofern er sich auf kulturelle Befunde bezieht, ist angewiesen auf die Prägnanz von Anspielungsnamen, auf deren Pointierung die aphoristische Aussage häufig konzentriert ist. So lebt Nietzsches böses Wort: »Schiller: oder der Moral-Trompeter von Säckingen« 29 von der Spannung, in die zwei relativ neutrale Kommunikationseinheiten, der Name Schiller und der Titel des gemütlich flachen Versepos von J. V. v. Scheffel, zueinander gebracht sind. Die Anspielung, in der Schiller zum Requisit der Welt des deutschen Bildungsphilisters degradiert wird, erhält ihre Virulenz aus der Tatsache, dass seit den Gründerjahren Scheffel neben Schiller in der Tat zum Lieblings-Klassiker des Bürgertums aufstieg und diese Nähe dem nicht-philiströsen Verehrer Schillers die Gefahren des Absturzes aus dem moralischidealistischen Pathos ins Belanglose vor Augen führte. In ähnlicher Weise verfängt das Wort: »Liszt: oder die Schule der Geläufigkeit – nach Weibern.« 30 Die Profanierung des Klassikers vollzieht sich hier auf zwei Stufen. Die Anspielung auf Karl Czernys klavierpädagogisches Standard-Werk evoziert zunächst die Welt des bürgerlichen Salons, wie ihn Ernst Bloch mit Hilfe einer ganzen Kette von musikhistorischen Anspielungsnamen charakterisiert hat: »Und in das Ensemble klangen die Salonstücke der höheren Töchter, die mit Schleifchen, Trompetchen, Amoretten verzierten, all das falsche Rokoko der ›Cascades‹, ›Carillons‹ und ›Papillons‹, der ›Pensées fugitives‹ und ›Cloches du monastère‹, die ›Souvenirs de Varsovie‹ nicht zu vergessen.« 31

Brillanz als Salon-Requisit kann dann auf der zweiten Stufe explizit mit dem erotisch-narkotischen Zug der spätromantischen Musik in Beziehung gebracht werden, der hier nicht wie in Nietzsches Kritik an Wagner unter Mystik-Verdacht gestellt wird, sondern als parfümiert-mondän erscheint. Diese Technik der historisch-kulturellen Anspielung wird mehr noch als beim Aphorismus im Essay verlangt. Wenn man mit GerFr. Nietzsche: Werke in drei Bänden. Hrsg. v. Karl Schlechta. München 1966, Bd. II, S. 991. 30 Ebd. 31 E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Gesamtausg. Bd. 5, Frankfurt a. M. 1959, S. 439. 29

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hard Haas als Funktion und spezifische Leistung des Essays annimmt, »die geistige Überlieferung einer Kultur und das Wissen einer Zeit immer wieder zur Diskussion zu stellen und auf ihren Lebenswert für Gegenwart und Zukunft zu befragen« 32, und wenn man (mit Haas) in diesem Zusammenhang auf das Wort Rudolf Kaysers von der Kunst des Essays als »Gestaltung von Gestaltetem« 33 zurückgreift, so wird deutlich, wie die von uns als allgemeine Kommunikationsstruktur der Kultur herausgehobene Verständigung über Verstandenes für den Essay in besonderer Weise gilt. Der Essayist arbeitet einerseits unter der Voraussetzung, dass seinem Leser der Gegenstand, über den er schreibt, in vielen Einzelzügen bekannt ist; aber er setzt zugleich voraus, dass dieses schon Verstandene von einer so komplexen Natur ist, dass beständig neue Versuche der Verständigung darüber lohnend und notwendig sind. Dies hat zur Folge, dass im Essay vieles in Abbreviaturen und Anspielungen gesagt werden kann, was in der wissenschaftlichen Abhandlung expressis verbis einzuführen, definitorisch oder klassifikatorisch zu bestimmen und logisch abzuleiten ist. Aber dies erfordert auch ein erhebliches Maß an Virulenz der Anspielungen, um zu einer wirklich innovatorischen Verständigung zu kommen. Wenn Novalis vom Wilhelm Meister sagt, er sei »eigentlich ein Candide, gegen die Poesie gerichtet« 34, oder wenn Theodor Adorno das Unzulängliche einer Verteidigung Gustav Mahlers festhält, sofern diese darin besteht, »daß man das Gewollte ableugnet und ihn in einen Schubert umstilisiert, der er nicht war und nicht sein mochte« 35, so wird mit den Anspielungsnamen Candide und Schubert beiden Erfordernissen Rechnung getragen. Es wird in ihrer Verwendung vorausgesetzt, dass sie für den Leser in eine sinnvolle Beziehung zu den behandelten Gegenständen treten können, und insofern sind sie Bestandteile des verlässlichen Bodens von gemeinsam Verstandenem. Zugleich aber (und darin unterscheidet sich der verfangende Anspielungsname von der Leerformel und dem Klischee) zeichnen sich die hier verwendeten kulturellen Kommunikationseinheiten durch ein hohes Maß an Offenheit und InterpretaG. Haas: Essay. Stuttgart 1969, S. 23 R. Kayser: Wege des Essays; in: Die neue Rundschau Jg. 1925, Bd. 2, S. 1313. (Vgl. Haas, S. 57). 34 Novalis: Schriften. Hrsg. v. P. Kluckhohn und R. Samuel, Bd. 3, Stuttgart 1960, S. 646. 35 Th. W. Adorno: Mahler. Eine musikalische Physiognomik. Frankfurt a. M. 1969, S. 169. 32 33

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tionsfähigkeit aus. Darin entsprechen sie der zur Voraussetzung gemachten beständigen Interpretationsbedürftigkeit der mit ihnen in Beziehung gebrachten Gegenstände. Indem etwa die Umstilisierung Gustav Mahlers in »einen Schubert« abgelehnt wird, findet eine für den Leser nachvollziehbare Bündelung der bedeutsamen Gestaltzüge statt, die jedoch im Gegensatz zu einer letztgültig einrastenden Prädikation einen erheblichen Interpretationsspielraum lässt. Es ist keineswegs selbstverständlich, aber einsichtig und bei längerem Nachdenken vielleicht sogar überzeugend, das mögliche Missverstehen der Intentionen Mahlers in der Weise gebündelt zu sehen, dass die hierfür in Frage kommende Abbreviatur Schubert heißen muss. Ähnlich (nur ungleich weniger drastisch) wie bei der Anspielung auf den Trompeter von Säckingen erhält der Leser einen Denkanstoß, der gerade dadurch verfängt, dass weder alle Implikationen ausdrücklich genannt, noch eine erledigende Prädikation vermittels der Eindeutigkeit eines definierbaren Begriffs angeboten werden. So kann, was für die Gattung im Ganzen längst festgestellt worden ist, auch von einer Theorie der kulturellen Kommunikationseinheiten her gezeigt werden: dass nämlich der Essay das Organ eines Schreibens ist, »das nicht Resultat, sondern Prozeß sein will, genau wie das Denken, das hier schreibend zur Selbstentfaltung kommt« 36 oder, mit Richard Moses Meyer gesagt, dass der Essay »bei künstlerischer Abrundung doch ›unfertig‹ sein soll, insofern als er erst in dem an ihn geknüpften weiterführenden Nachdenken seinen wahren Abschluß erreicht« 37. Und so muss schließlich die verfangende Anspielung auch in den interpretierenden Wissenschaften selbst als ein konstitutives Element und keineswegs als ein achselzuckend hinzunehmendes, umgangssprachliches Relikt betrachtet werden. Die abschließende Erledigung eines Sachverhaltes, das ein für alle Mal Festgestellt-haben, kann für die Interpretation dogmatische Verhärtung und damit Rückzug aus der Wirklichkeit bedeuten. Auslegung steht, wie Hans Lipps einmal gesagt hat, »nicht unter dem einen Motiv: zu stationärer Erkenntnis zu gelangen« 38. Wenn damit bei Lipps auch in erster Linie die philosophische Auslegung der alltäglichen Wirklichkeit gemeint war, so kann dieses Wort doch auch auf die Auslegung im engeren Sinn, H. Friedrich: Montaigne. Bern/München 1967, S. 325. (Vgl. Haas, S. 41 f.). R. M. Meyer: Deutsche Stilistik. München 1930, S. 168. (Vgl. Haas, S. 38). 38 H. Lipps: Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik. 3. Aufl. Frankfurt a. M., S. 59. 36 37

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nämlich auf die Interpretation der Objektivationen des menschlichen Geistes bezogen werden. Und da steht das Forschungsideal des »Weiterkommens« dem der stationären Erkenntnis genauso entgegen, wie Lipps dies für eine allgemeinere Erkenntnisstruktur herausgearbeitet hat. Das »Weiterkommen« wird vermittelt durch jene Art von Begriffen (»Konzeptionen«), die sich im Gegensatz zur terminologischen Festigkeit durch ihre »offene Indifferenz« auszeichnen. Dies gilt bis zu einem gewissen Grade auch für die verfangenden Anspielungsnamen. Die Kommunikationseinheit Schubert ist ihren verschiedenen Applikationsmöglichkeiten gegenüber offen und findet erst durch die kontextuellen Bezüge zu einer relativen Geschlossenheit, die ihre Prägnanz ausmacht. Dies gilt nicht für diejenigen Anspielungsnamen, die (wie Don Juan oder Xanthippe) eine begriffliche Festigkeit erlangt haben, wodurch die Virulenz der Anspielung zugunsten einer abschließenden Eindeutigkeit oder klischeehaften Allgemeinheit verdrängt ist. Demgegenüber findet bei den offen-indifferenten Kommunikationseinheiten jener »Bezug zu einem ›Bestimmt-Unbestimmten‹« statt, der – mit den Worten Georg Mischs gesagt – »uns in die Bewegung zu ihm hin versetzt, damit wir nachbildend in die Bewegung von ihm her hineinkommen« 39.

G. Misch: Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der diltheyschen Richtung mit Heidegger und Husserl. 3. Aufl. Darmstadt 1967, S. 87.

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1. Es ist schwierig, über ›Aneignung‹ zu reden. Wir alle wissen ungefähr, was damit gemeint ist, wenn jemand sagt, dass ihm etwas innerlich fremd geblieben sei, dass er mit einer Sache nichts oder noch nichts anfangen könne, sie nicht in den Griff bekommen habe, dass er zwar äußerlich von ihr Kenntnis genommen, sie aber nicht wirklich durchdrungen habe, sie nicht lebendig einbeziehen könne in das bisher Verstandene, oder wie die hierfür passenden Wendungen sonst heißen mögen. Überall, wo so gesprochen wird, setzt man ein vages Verständnis der Aneignung voraus. Aneignung wäre solchen Wendungen zufolge ein Vorgang der Verinnerlichung und Verlebendigung, im Gegensatz zu bloß »äußerlichem« Berührtwerden von »toten« Fakten. Aber nicht einmal das ist ganz sicher. Hören wir nicht auch gelegentlich davon, dass etwas bloß oberflächlich angeeignet, aber nicht wirklich verstanden sei? Fehlt also dem Wort Aneignung überhaupt jener Wertakzent, den wir zunächst herauszuhören glaubten? Soviel ist immerhin sicher: Wo von Lernfähigkeit, Aufnahmebereitschaft, Verständnislosigkeit und ähnlichen Begriffen die Rede ist, beziehen wir uns auf einen Vorgang, den wir mit dem Wort »Aneignung« bezeichnen können, selbst dann, wenn wir einmal ganz absehen von jenem Wertakzent der Verinnerlichung, der uns zunächst aufgefallen war. Trotzdem bleibt der Begriff vage und für alle strenge begriffliche Bestimmung fragwürdig. »Aneignung« ist nichts, was wir von vornherein definitorisch festlegen könnten. Wir können allenfalls in der Beschäftigung mit einem bestimmten Problemkreis ad hoc angeben, in welchem Sinn wir dieses Wort gebrauchen wollen. Gerade im Hinblick auf diese Zweideutigkeit, das Selbstverständliche, Unproblematische auf der einen Seite, das Vage und Fragwürdige auf 168 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Zur Metaphorik der Aneignung

der andern, mag es lohnend sein, diesen Begriff näher zu untersuchen. Es liegt nun an der aufgezeigten Schwierigkeit, dass wir dabei einen Umweg einzuschlagen haben: den Umweg über die Bilder, in denen wir – meistens ganz unreflektiert – über Aneignung sprechen. Dies ist der Punkt, in dem sich diese Betrachtung mit dem größeren Thema »Sprache und Erziehung« berührt. Die primär für die Pädagogik interessante Frage nach dem Wesen der Aneignung führt zu einer zunächst unkritischen Sichtung möglicher Aneignungsmetaphern und von da weiter zu der Frage, welche ursprünglichen Besonderheiten sprachlicher Versinnlichung von komplizierten geistigen Beziehungen sich bis in diese Bildlichkeit hinein fortsetzen, welchen Grad der Ursprünglichkeit wir also dieser Metaphorik zuerkennen dürfen. Was mit dieser Frage gemeint ist, sei schon an dieser Stelle kurz erläutert. In der Schicht der Metaphorik durchdringen sich unwillkürliches Geleitet-sein durch die Sprache und willkürliches Stiften neuer Bildlichkeit unauflöslich. Der Sprecher hat den Metaphern gegenüber eine größere Freiheit des Verfügens als gegenüber manchen grammatikalischen Strukturen, welche die Form des Denkens bestimmen. Aber auch die Metaphorik ist nicht eine nachträgliche Zutat zu einer im Übrigen fertigen Sprache, sondern sie setzt nur in der Sphäre größerer Anschaulichkeit und Ausdrücklichkeit fort, was die Sprache im Ganzen immer schon an Versinnlichung unanschaulicher Beziehungen leistet. Schon in den elementaren Raummetaphern des Hier und Dort, Nah und Fern, Innen und Außen, die – wie immer wieder gezeigt worden ist 1 – schon in den einfachsten »vokalen Gesten« greifbar sind, setzt diese Leistung ein. Von hier aus baut sich ein System immer differenzierterer Versinnlichung auf bis hin zu den künstlichen »Übertragungen« in Gleichnis und Allegorie. Die Schicht der Metaphern lässt sich dabei nicht eindeutig abheben. Sie reicht hinunter bis in die elementarsten Versinnlichungen und erstreckt sich andererseits bis in die Region der bewusst gestifteten Bilder der Dichter und der unzähligen, aus immer neuen Wirklichkeitsbereichen gespeisten Übertragungen der Alltagssprache. Die Orientierung an der Metaphorik bei der konkreteren Bestimmung der Bedeutung des Begriffs Aneignung wird diese Unterschiede berücksichtigen müssen. Sie wird manche Metaphern als direkte Weiterführungen einer schon in der grammatikalischen Struktur der Sprache angelegVgl. u. a. E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Darmstadt 1953, Bd. 1, S. 152 ff.

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ten Tendenz erkennen können, in anderen Fällen dagegen wird sie darauf zu achten haben, in welchem Maß der Aussagewert einer Metapher der ursprünglichen Tendenz der Sprache geradezu entgegengesetzt ist, als ein bewusst eingefügtes Korrektiv einer als zu eng empfundenen sprachlichen Interpretation der Wirklichkeit. Wenn wir also bei dieser Betrachtung von der uns allen vertrauten Feststellung ausgehen, »dass in einem gewissen Sinn die Sprache selber philosophiert und wir in unserem eigenen Philosophieren an dieses Philosophieren der Sprache gebunden sind«, und wenn wir damit die Forderung an uns gestellt sehen, »die philosophische Untersuchung eines Zusammenhangs grundsätzlich immer an dem schon in der Sprache vorhandenen Verständnis einsetzen und sich von ihm leiten zu lassen« 2, so gilt für unsere Orientierung an der Metaphorik die Einschränkung, dass uns hier die Sprache in sehr verschiedenen Graden von Ursprünglichkeit entgegentritt, dass sie in bestimmten Bildern nur illustriert, was elementare syntaktische Strukturen implizit schon so ausdrücken, dass in anderen Bildern von eindeutig bestimmbarer Herkunft diese sprachliche »Weltansicht« ausdrücklich modifiziert oder gar korrigiert werden soll.

2. Auf diese Fragen kann nicht näher eingegangen werden, ohne zunächst die wichtigsten Metaphern der Aneignung zu betrachten. Ihre Aufzählung erfolgt nicht unter einem bestimmten Ordnungsgesichtspunkt, d. h. es soll keine Skala von Abstufungsmöglichkeiten vorgeführt werden. Es ist aber das Ziel dieser vorläufigen Sichtung, das durchgängige Moment in all diesen Bildern deutlich zu machen. a) In der modernen wissenschaftlichen Literatur drängen sich die Metaphern des handwerklichen Umgangs immer stärker in den Vordergrund. Man will »die Dinge in den Griff bekommen«. Vermutlich ist es nicht allein die alle Lebensbereiche durchdringende Technik, die hierbei unsere Anschauungen bestimmt, 3 sondern das sehr viel ursprünglichere Bild der handhabenden Bewältigung der Wirklichkeit, 2 O. F. Bollnow: Philosophie und Sprache; in: Einfache Sittlichkeit. Göttingen, 2. Aufl. 1957, S. 167 f. 3 In diesem im Januar 1967 gehaltenen Vortrag konnten die zahlreichen Metaphern,

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das in der Rehabilitierung der Praxis gegenüber der Theorie von den verschiedensten Denkern des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt worden ist. Ihre Metaphorik dürfte unseren heutigen Sprachgebrauch stärker beeinflusst haben, als man dies den Philosophen manchmal zugestehen möchte. So wäre es wohl die Mühe wert, zu untersuchen, welche Begriffe der europäischen Umgangssprachen erst seit Marx und Nietzsche, Bergson und den Pragmatisten in Umlauf gekommen sind. Aber auch von der Musik her, jener das Bürgertum des 19. Jahrhunderts beherrschenden Macht, ist unsere Metaphorik des instrumentalen Umgangs nachhaltig beeinflusst worden. Das Einüben und Geläufigmachen, das Einspielen, Probieren und Können, die Fertigkeit und spielerische Leichtigkeit, sie alle haben vom Vorgang des Musizierens her eine Anschaulichkeit gewonnen, die in früheren Zeitaltern vermutlich anderen Lebensbereichen, etwa dem Fechten, Reiten und Schießen, entnommen wurde. Und heute ist es nun der Sport, von dem wir die neue Bildlichkeit des Geläufigmachens und »Trainierens« beziehen. Woher auch immer die Bilder stammen mögen, gemeinsam ist ihnen die Symbolik des spielerischen Umgangs mit einer Sache, sei diese nun als Mittel zum Zweck oder als Selbstzweck verstanden. Ich mache mir die Dinge verfügbar, indem ich das zunächst fremde Werkzeug durch Übung handlich mache, das zunächst fremde Medium (Wasser, Eis, Schnee usw.) durch Beherrschung einer Technik erschließe. Grundkategorie des durch diese Bilder bezeichneten Bereiches der Aneignung ist das Können. Der Könner als Artist hat sich die Bälle in einer Weise angeeignet, dass sie ihm leiblich zuzugehören scheinen. Ein nicht unerheblicher Teil der Metaphorik bezieht sich auf die Gegenstände selbst, mit denen wir umgehen können und die wir in ständigem Gebrauch haben. Ihre Geschmeidigkeit, Griffigkeit und Glätte lassen sich auf die verschiedensten geistigen Bereiche übertragen. Im Blick auf das Abgeschliffene, Abgerundete, Blankgescheuerte und Polierte von Werkzeugen, Musikinstrumenten, Waffen, Metallgefäßen, Schachfiguren und Türgriffen kommt die auffallende ästhetische Komponente dieser Metaphorik des Angeeigneten zum Vorschein: Das Angeeignete ist von da aus gesehen immer das Schöne. die uns inzwischen der Umgang mit den elektronischen Medien beschert hat, natürlich noch nicht berücksichtigt werden. (2015)

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Umgekehrt ist das nicht mehr in meine Lebenswelt lebendig Einbezogene als das Tote zugleich auch immer das Hässliche, das Mürbe, Starre, Rissige, Löchrige, Zähe, Ungeölte, Knarrende und Rostige. Deshalb verlangt unser ästhetischer Sinn, dass die alten Geräte und Waffen auch noch als pure Dekorationsstücke den Anschein ständigen Gebrauchs erwecken. Sie sollen gescheuert, geölt und poliert sein. Dies ist keineswegs selbstverständlich, wenn wir bedenken, dass andererseits alte, bemooste Dächer und halbverwitterte Grabsteine einen ästhetischen Reiz haben. Aber sie sind nicht Dinge des täglichen Gebrauchs, sondern dauerhafte Kulissen, ehrwürdig nur in ihrem offenkundigen Unberührtsein, das sie der Natur ähnlich macht. Dies gilt nicht für das Werkzeug, dessen Metall blank, dessen Leder geschmeidig und dessen Holz glatt und poliert bleiben soll. So finden von hier aus unzählige Übertragungen statt in Gegensatzpaaren, wie starr und biegsam, rissig und glatt, rostig und blank. Zur ästhetischen Komponente kommt hier noch ein moralisierendes Moment, indem die negativen Metaphern aus der Sphäre des Handwerks den Vorwurf des mangelnden Fleißes und mangelnder Pflege des Gerätes mit herüberbringen. Schließlich weisen die von hier bezogenen Bilder noch auf eine zweite Möglichkeit des Gegenteils von Aneignung hin. Das Gerät wird meistens nicht willkürlich außer Gebrauch gesetzt, sondern ist, wenn es weggeworfen wird, abgenutzt und verbraucht. Sartre hat diesen Aspekt der Aneignung besonders hervorgehoben, indem er Gebrauch immer zugleich als Konsum und damit als zerstörerische Form der Aneignung versteht. 4 Darin liegt eine bezeichnende Willkür der Beschränkung auf einen Aspekt, die bei Sartre in der Auswahl der Metaphern folgerichtig weitergeführt wird. Immerhin – Gebrauch und Verbrauch liegen nahe beisammen, und wenn, wie bei Sartre, die Metaphorik sich an den modernen technischen Geräten orientiert, muss der zerstörerische Aspekt des Gebrauchens notwendig im Vordergrund stehen. Nur ist dann zu fragen, wie weit man hier noch von Aneignung sprechen kann. Doch interessiert uns hier zunächst noch nicht das Wesen der Aneignung, das an einem Beispiel ohnehin nicht hinreichend verdeutlicht werden könnte, sondern die Metaphorik, die, wenn sie so etwas wie Aneignung im Blick hat, sich an bestimmten Bereichen des Lebens orientiert. Und in diesem Zusammenhang sind sicher J. P. Sartre: Das Sein und das Nichts. Vollständige deutsche Ausgabe, Hamburg 1962, S. 745.

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auch die Bilder des Verbrauchtseins geeignete Versinnlichungen des Gegenteils von Aneignung. Die »ausgeleierten« Phrasen, die »abgegriffenen« Schlagwörter und die »schäbigen« Entschuldigungen waren vermutlich irgendwann einmal frisch und zugkräftig; aber inzwischen hat man sie zum alten Eisen geworfen. b) In enger Beziehung zu dieser Gruppe von Bildern steht eine zweite, die sich auf das Ursymbol des bewohnten Raumes bezieht. Ich möchte hier nicht einfach vom Symbol des Hauses sprechen, sondern in einem weiteren Sinn von allen Fällen des Wohnlichmachens eines Stückes Welt, wobei allerdings dem Symbol des Hauses die zentrale Rolle zukommt. Es ist gerade bei dieser Gruppe besonders wichtig, sich auf den Vorgang der Aneignung, also des Wohnlichmachens, zu beschränken, da das Angeeignete als das Heimische und Vertraute eine ganze Welt für sich darstellt und mit einer entsprechenden Bilderfülle veranschaulicht werden kann, die uns hier zu weit vom Thema wegführen würde. Die Verwandtschaft mit der ersten Gruppe ist offenkundig. Auch hier sind die Momente der Allmählichkeit des Vertrautmachens und der Gewöhnung sofort erkennbar. Das Fremde ist auch hier das noch nicht Angeeignete. Aber im Kern zielt diese Metaphorik auf anderes. Dominierend ist das Moment des Räumlichen. Wir versuchen, einige Einzelzüge herauszuheben. Um sich irgendwo heimisch fühlen zu können, bedarf es der Eingrenzung eines bestimmten überschaubaren Gebietes. Man möchte sich nicht im Grenzenlosen verlieren, man verlangt festen Boden unter den Füßen. Wüste und Ozean sind Ursymbole der grenzenlosen und damit bedrohlichen Weite. 5 Das Undefinierbare ist das Unheimliche. Man will ein Problem »erst einmal abstecken«, markieren. Man verlangt Übersicht im Sinne der Absehbarkeit eines fraglichen Zusammenhangs. Damit entstehen die Kategorien von innen und außen, die sofort wertend gebraucht werden. Das Innen ist der abgesteckte Bezirk, auf den es ankommt, das Außen ist der Hintergrund oder das Unwesentliche, häufig das Störende, Fernzuhaltende. In der Eingrenzung erhält das Problem seinen »Kern«. Das bloße »Eingrenzen« kann den abgesteckten Bezirk jedoch Zur Durchführung dieses Gedankens bei Saint-Exupéry vgl. O. F. Bollnow: Französischer Existentialismus. Stuttgart 1965, S. 133 ff. – Ders.: Neue Geborgenheit. Das Problem einer Überwindung des Existentialismus. Stuttgart 1955, S. 164 ff.

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auch leer lassen. Dieser muss ausgefüllt, »erfüllt« werden. Die Begriffe Erfüllung und Aneignung stehen, von hier aus gesehen, sehr nahe beieinander, und die umfangreiche Erfüllungsmetaphorik überschneidet sich teilweise mit den Metaphern der Aneignung. Leitbegriffe sind das Leere und Hohle, damit auch das Unfruchtbare und Tote. Hier dominieren die Vorsilben »durch-« und »voll-«. Das Leere muss durchdrungen, durchgebildet, gegliedert, eingerichtet, strukturiert werden. »Fülle« ist Lebendigkeit als organisierende Kraft, Reichtum, Dichte, Intensität. Vielleicht sind wir damit schon sehr weit von der eigentlichen Metaphorik des Wohnlichmachens entfernt und beim Urbild des leeren Behältnisses, vielleicht auch beim Bild der leeren, vom Maler noch auszufüllenden Zeichnung angelangt. Wir stehen hier zugleich an der Grenze der Willkürlichkeit unserer Bilderwahl. Der Sachverhalt des Vollbringens und Vollendens, des Vollführens und Vollziehens, des Vollkommenen und Vollständigen ist in einer ursprünglicheren Bilderschicht der Sprache (in der Schicht der »vergilbten Metaphern«) schon so eindeutig fixiert, dass eine zusätzliche Versinnlichung durch willkürlich herbeigeholte Metaphern kaum noch möglich ist. Aber wir sind dabei im Grunde auch schon über den Vorgang der Aneignung hinausgegangen zum Vorgang des Vollendens oder Fertigmachens eines begonnenen Werkes. Für die Aneignung im Sinne der Erfüllung oder Verlebendigung einer zunächst nur äußerlich übernommenen Form steht eine Reihe von Bildern zur Verfügung, wie »sich einleben«, »sich zurechtfinden«, »sich einrichten in …«, was nun alles vom einzurichtenden Haus auf jede Art eines geistigen »Gehäuses«, etwa eine Sprache oder ein philosophisches System, aber auch auf einen einzelnen Begriff übertragen werden kann. Sehr deutlich wird die aneignende Bewegung, die in diesen Bildern gemeint ist, wenn man Ausdrücke, wie »sich einpassen« oder »sich einfügen« danebenstellt. Hier fehlt gänzlich das Moment der um sich greifenden, aneignenden Verlebendigung, die in den Bildern des Heimischwerdens dominiert. Wo wir uns einfügen, füllen wir eine übriggelassene Lücke zwischen fremden Welten aus, ohne die bestehende Ordnung zu ändern. Erst wenn wir uns »einnisten«, gliedern wir diesen uns überlassenen Raum neu, machen ihn zu einer auf uns als das neue Zentrum bezogenen Welt. Wir bewohnen den Raum. 6 Zum Begriff des Wohnens vgl. O. F. Bollnow: Mensch und Raum. Stuttgart 1963, S. 276 ff. und 285 ff.

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c) Mit dem Bild des Einnistens ist ein weiteres Moment der Aneignung angedeutet, das durch die Wärmemetaphern versinnlicht wird. Wo ich mich einniste, schaffe ich Behaglichkeit und Wärme. Um in einem Problemzusammenhang zu Hause sein zu können, muss ich mich zunächst für ihn »erwärmt« haben. In der »Kälte« der Indifferenz bleiben mir die Dinge fremd. Die »Wärme« meines Interesses entscheidet darüber, ob sich mir ein Problem erschließt. Auch hier wieder ist es wichtig, sich auf die Betrachtung derjenigen Metaphern zu beschränken, die den Vorgang der Aneignung verbildlichen, da die allgemeinere Metaphorik der Wärme und des Feuers eine verführerische Fülle von Aspekten zeigt, die uns hier nicht weiterhelfen können. Schon in dem engeren Bereich der Erwärmung findet man zwei verschiedene Seiten: Ich kann mich für eine Sache erwärmen, also in mir selbst gleichsam das Feuer der Sympathie zu entfachen suchen, das mich mit fremden Menschen und Dingen in Berührung bringt; ich kann aber auch eine Sache gleichsam bebrüten, sie in den Umkreis meiner Lebenswärme hineinziehen und so zu der meinigen machen. Schiller bezeichnete es einmal als sein eigentliches Vermögen, »eine gegebene, bestimmte und beschränkte Materie zu beleben, zu erwärmen und gleichsam aufquellen zu machen« 7. Er empfand schmerzlich den Unterschied zu Goethes naturhaftem Aneignungsvermögen, jener Leichtigkeit des Verfügens über den Stoff, dem behaglichen Wachsenlassen und Sich-entgegenwachsen-lassen der Wirklichkeit. Er selbst hatte es immer mit der »spröden« und »harten« Wirklichkeit zu tun, er bekämpfte das Prinzip der Rigidität nicht nur in der Kantischen Ethik, sondern als ein dem lebendigen Geist feindliches Prinzip überhaupt. Hinter seinen vielen dualistischen Formeln finden wir eigentlich immer den Gegensatz von Starrheit und Kälte auf der einen Seite, Beweglichkeit und Wärme auf der andern. »Es fehlt uns nicht sowohl an der Kenntnis der Wahrheit und des Rechts als an der Wirksamkeit dieser Erkenntnis zur Bestimmung des Willens, nicht sowohl an Licht als an Wärme …«, heißt es in der ersten Fassung der Ästhetischen Briefe. 8 In der wichtigen Anmerkung zum 13. Brief der zweiten Fassung findet er die praktische Philanthropie »durch die Rigidität unsrer Grundsätze […] erkältet« und dadurch das Vermögen zerstört, »fremde Natur treu und wahr in uns aufzunehmen, 7 8

An Goethe, 5. Januar 1798. Schillers Briefe. Hrsg. v. Fritz Jonas. Stuttgart/Leipzig/Berlin 1892, Bd. 3, S. 337.

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fremde Situationen uns anzueignen, fremde Gefühle zu den unsrigen zu machen« 9. Das Prinzip der schmelzenden Schönheit kann nur richtig verstanden werden als Inbegriff der Wärme, und es wäre von hier aus leicht zu zeigen, dass die anthropologische Ästhetik Schillers das Begriffspaar Schön- Erhaben nur deshalb der übrigen Dichotomie nicht voll zuordnen kann, weil beide Seiten der Kunst, das Schöne und das Erhabene, primär erwärmende, lebendig machende Funktion haben und so als ein Ganzes den verschiedenen Formen der »Kaltsinnigkeit« gegenüberstehen. Ihre gemeinsame Aufgabe ist es, die »Empfindungsfähigkeit des menschlichen Herzens« zu steigern. 10 Aus Schillers Vokabular ist für unseren Zusammenhang das Wort »schmelzend« von besonderem Interesse. Wir können uns den Vorgang des Schmelzens nicht ohne Erwärmung vorstellen, und umgekehrt bedeutet Erwärmen als Verbildlichung des Aneignungsvorgangs fast immer so etwas wie verflüssigendes »Einschmelzen«. Jedes Lebenszentrum hat etwas vom Schmelztiegel, so wie Dilthey in seiner Poetik gelegentlich vom »Schmelztiegel der Phantasie« gesprochen hat. Dieses Bild verabsolutierend könnte man sagen, Leben sei »nichts anderes« als ein beständiger Einschmelzungsprozess. Dieser Gedanke beherrschte die Zeit der deutschen Klassik. Schleiermacher hat ihn in den »Reden« so ausgesprochen: »Wollt ihr endlich den eigentlichen Charakter aller Veränderungen und aller Fortschritte der Menschheit ergreifen, so zeigt euch die Religion, wie die lebendigen Götter nichts hassen als den Tod, wie nichts verfolgt und gestürzt werden soll als er, der erste und letzte Feind der Menschheit. Das Rohe, das Barbarische, das Unförmliche soll verschlungen und in organische Bildung umgestaltet werden. Nichts soll tote Masse sein, die nur durch den toten Stoß bewegt wird und nur durch bewusstlose Friktion widersteht; alles soll eigenes zusammengesetztes, vielfach verschlungenes und erhöhtes Leben sein.« 11

Schleiermacher spricht in diesem Zusammenhang auch von der »Asphyxie« der Menschheit, die es zu überwinden gilt, ein anderes Wort also für die »Rigidität« im weitesten Sinne, die Schiller be-

9 Schiller: Sämtliche Werke. Hrsg. v. G. Fricke und H. G. Göpfert. 3. Aufl. München 1962, Bd. 5, S. 609 f. 10 Vgl. dazu vom Verf.: Provokation – Affirmation. Das Dilemma des kritischen Humanismus. Stuttgart 1970, S. 86 ff. 11 Fr. D. E. Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. 1. Aufl. Berlin 1799, S. 103.

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kämpfte. Aber hier sind wir nun unmerklich von der Wärmemetapher zu einem anderen Bild des Lebens und der Verlebendigung hinübergeführt worden: »Verschlingen«, »Umwandeln«, »organische Bildung« deuten auf die Assimilierungskräfte des lebendigen Organismus. Von Gaston Bachelard stammt das Wort: »Wenn man dem Animismus auf den Grund geht, stößt man immer auf den Kalorismus. Was ich als lebendig, als unmittelbar lebendig erkenne, erkenne ich als warm.« 12 Wir sind in umgekehrter Richtung vom Kalorismus kommend beim Lebensbegriff angelangt und wollen nun versuchen, die Bedeutung der Organismusmetapher, genauer gesagt der Essensund Verdauungsmetaphern, für das Aneignungsproblem herauszuheben, wobei nicht zufällig Nietzsches Metaphorik unsere besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird. d) Im Umkreis der Lebensphilosophie um 1900 finden wir in den Charakterisierungen großer und genialer Menschen immer wieder den Gedanken von der Instinktsicherheit des Genies in Ernährungsmetaphern ausgedrückt. So schreibt Dilthey über Shaftesbury: »Er gehörte zu den Menschen, die ohne Worte fallenlassen, was ihnen fremdartig ist, und in sich umwandeln in einem beständigen Prozeß von Assimilation, was ihrem inneren Leben gemäß ist.« 13

Simmel sagte von Goethe: »Seine Geistigkeit muß eine Analogie zu dem Vermögen des ganz gesunden physischen Organismus gehabt haben, die Nahrungsmittel bis ins Letzte auszunutzen, das Unverwendbare störungslos auszuscheiden, das Zurückbehaltene dem Lebenskreislauf so selbstverständlich einzuverleiben, als bildeten beide schon von vornherein eine organische Einheit.« 14

Nietzsche schreibt über den »wohlgeratenen« Menschen: »Ihm schmeckt, was ihm zuträglich ist; sein Gefallen an etwas hört auf, wo das Maß des Zuträglichen überschritten wird; […] er sammelt instinktiv aus allem, was er sieht, hört, erlebt, zugunsten seiner Hauptsache – er folgt einem auswählenden Prinzip – er läßt viel durchfallen.« 15

G. Bachelard: Psychoanalyse des Feuers. Dt. Übersetzung Stuttgart 1959, S. 169. W. Dilthey: Ges. Schr., Bd. 2, S. 399. 14 G. Simmel: Goethe. 2. Aufl. Leipzig 1927, S. 14 15 Fr. Nietzsche: Werke in drei Bänden. Hrsg. v. K. Schlechta. Bd. 3, München 1966, S. 819. 12 13

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Von der »gesunden« Natur im Sinne der unverfälschten Instinktsicherheit für das Zuträgliche und Bekömmliche spricht Nietzsche schon in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung: »Alles Vergangene, eigenes und fremdestes, würde sie an sich heran-, in sich hineinziehen und gleichsam zu Blut umschaffen. Das, was eine solche Natur nicht bezwingt, weiß sie zu vergessen; es ist nicht mehr da, der Horizont ist geschlossen und ganz, und nichts vermag daran zu erinnern, daß es noch jenseits desselben Menschen, Leidenschaften, Lehren, Zwecke gibt.« 16

Nietzsche nennt diese auswählende und umschaffende Kraft auch »plastische Kraft«: »Jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen.« 17 Im Umkreis dieser Ernährungsmetapher ist nicht nur der Gedanke von der Auswahl des Bekömmlichen besonders hervorgehoben, sondern es soll vor allem die Aneignung als Einverleibung, also als eine höchste Stufe intensiver Einbeziehung dargestellt werden. Das Wort »einverleiben« ist geradezu eine Lieblingsvokabel Nietzsches, und man könnte die zunehmende Radikalisierung des Gedankens vom »Willen zur Macht« im Spätwerk ein Immer-wörtlicher-nehmen dieser Metapher nennen. Im Spätwerk wird von der biologischen Notwendigkeit der »Einschlürfung des Gegners« gesprochen und festgestellt: »Es gehört zum Begriff des Lebendigen, daß es wachsen muß – daß es seine Macht erweitern und folglich fremde Kräfte in sich hineinnehmen muß.« Das ursprünglich Metaphorische im Begriff »Einverleibung« gerät schließlich so weit in den Hintergrund, dass Nietzsche sagen kann: »›Ernährung‹ – ist nur abgeleitet; das Ursprüngliche ist: alles in sich einschließen wollen.« 18 Doch sehen wir zunächst ab von der besonderen Rolle, die dieses Bild im Denken Nietzsches gespielt hat, und wenden wir uns dem alltäglichen Gebrauch der Ernährungsmetaphern zu. Dabei zeigt sich, dass die bisher hervorgehobenen Momente, nämlich das selektive Prinzip und die Intensität der Einverleibung, nicht so eindeutig dominieren, wie dies in der bisherigen Darstellung erschienen sein 16 17 18

Fr. Nietzsche, a. a. O., Bd. 1, S. 213 f. Ebd. Fr. Nietzsche, a. a. O., Bd. 3, S. 859.

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mochte. Vielmehr bezeichnet der größte Teil der Bilder Grade des »Appetits« oder – was zunächst fast dasselbe zu sein scheint – Grade der Bekömmlichkeit. So wird das widerwillig Akzeptierte »hinuntergewürgt«, das schwer Verständliche »gefressen«, das Sensationelle »verschlungen«, das Unverstandene »halbverdaut wiedergegeben«. Manches muss uns erst »schmackhaft« gemacht werden, an anderem haben wir uns »den Magen verdorben« oder »die Zähne ausgebissen«. Bei genauerem Hinsehen lässt sich nun noch einmal eine besondere Gruppe der Verdauungsmetaphern im eigentlichen Sinne von allen anderen Ernährungsmetaphern abheben. Was ich »hinunterwürge«, vielleicht auch noch das, woran ich mir »die Zähne ausbeiße«, kann letztlich doch sehr bekömmlich sein. Über die Zuträglichkeit wird in diesen Bildern noch nichts ausgesagt. Was aber »schwer im Magen liegt«, überfordert meine Verdauungskräfte. Hier erst bezieht sich die Metapher auf die Möglichkeit der Umsetzung des Fremden in Eigenes, also auf Anverwandlung und Aneignung in einem besonderen Sinn. Die Bilder des puren Verschluckens und Verschlingens sind noch gar nicht eigentlich Metaphern der Aneignung, denn der verschluckte »Fremdkörper« wird, wo er den Organismus nicht wie ein Gift zerstört, nicht assimiliert, sondern ausgeschieden. Sartre spricht in diesem Zusammenhang von einem Jonas-Komplex (Jonas im Bauch des Walfisches), um dadurch jene Bilder zu bezeichnen, in denen die »unmögliche Synthese der Assimilierung und der bewahrten Unversehrtheit des Assimilierten« ausgedrückt wird, die nach seiner Darstellung vom Erkenntnistrieb wie vom Sexualtrieb erstrebt wird. 19 Die Verdauungsmetapher führt uns also einen besonderen Aspekt der Aneignung vor, zu dessen Charakterisierung wir noch einmal auf das Begriffspaar Innen-Außen zurückgreifen müssen. Der verschluckte Fremdkörper ist nur in einem sehr äußerlichen Sinn einverleibt, und der Organismus, der ihn nicht innerlich absorbieren kann, tut alles, um ihn möglichst schnell loszuwerden. Nur das Zuträgliche wird »innerlich« einstrukturiert, umgesetzt in Eigenes. Von hier aus ergibt sich die Notwendigkeit der Neubestimmung dessen, was »fremd« zu nennen ist. Bisher war mit dem »Fremden« das noch nicht Angeeignete gemeint, etwa das ungewohnte, ungebrauchte Handwerkszeug, das Unwohnliche, Kalte, Leere, oder der tote, noch 19

J. P. Sartre, a. a. O. (vgl. Anm. 4), S. 728.

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unbearbeitete Stoff. Im Bedeutungsfeld der Verdauungsmetapher erscheint das Fremde in neuer Bedeutung; es ist zwar auch allgemein das von außen Bezogene, Anzueignende, aber dann in einem engeren Sinn vor allem das Unzuträgliche, gleichsam das nur »zu äußerlichem Gebrauch« Dienliche, das den »inneren« Organismus schädigt. Fremd ist nicht das noch Unverdaute, sondern das schlechthin Unverdauliche, die Wackersteine im Bauch des Wolfes. Von diesem neuen Aspekt des Fremden her wird dann die Aneignungskraft anders als in den bisher betrachteten Bildern bestimmt. Das schwer Verdauliche fordert ein Höchstmaß von Bewältigungskraft heraus, einen »guten Magen«, eine »robuste Gesundheit«. Dies führt uns noch einmal zu Nietzsche zurück. Die »große Gesundheit« drückt sich für ihn nicht nur in der Instinktsicherheit der Aufnahme des Zuträglichen aus, sondern vor allem auch in der Robustheit der Bewältigungskraft. »Die Aneignung und Einverleibung ist vor allem ein Überwältigenwollen, ein Formen, An- und Umbilden, bis endlich das Überwältigte ganz in den Machtbereich des Angreifers übergegangen ist und denselben vermehrt hat.« Damit gewinnen für Nietzsche die Raubtier- und Kampfmetaphern eine immer größere Bedeutung, bis schließlich in der Anwendung des Grundgedankens vom Willen zur Macht auf Gesellschaft und Staat das Verschlingen gegenüber dem Verdauen die Führung übernimmt. Orientierungspunkt ist hier nicht mehr die Ernährungsmetapher, sondern die Eroberungsmetapher, der wir uns jetzt noch zuwenden wollen. e) Das Beispiel Nietzsches zeigt, wie eng die Verwebung der Bilder sein kann und wie unmerklich eines das andere nach sich zieht und in seiner das Denken hintergründig leitenden Funktion ablösen kann. Es sind vor allem die Raubtiermetaphern, die ein schillerndes Zwischenglied zwischen den Ernährungs- und Eroberungsmetaphern darstellen. Wer sich ihrer bedient, läuft Gefahr, nach der einen oder anderen Seite abzugleiten. Wenn Nietzsche sagt, das Wesentliche am Lebensprozess sei »die ungeheure gestaltende, von innen her formenschaffende Gewalt, welche die ›äußeren Umstände‹ ausnützt, ausbeutet« 20, so verbindet er den organologischen Gedanken des Umschaffens, den wir schon bei Schleiermacher kennengelernt haben, mit dem »Ausbeutungsmodell«, für das kennzeichnend ist, dass hier immer ein Rest bleibt, gleichsam ein ausgesaugter Leichnam oder 20

Fr. Nietzsche, a. a. O., Bd. 3, S. 889.

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ein Skelett. Während es für Schleiermacher wichtig war, alles »Tote« schlackenlos einzuschmelzen und in Leben zu verwandeln, und während auch noch bei den echten Verdauungsmetaphern die Anverwandlungskraft des Organismus im Vordergrund steht, betont das Eroberungsmodell die Tatsache des Unterwerfens, Unterjochens, Fertigwerdens mit … Nicht zufällig kommen wir hierbei von den Wörtern mit der Vorsilbe »ein-« (einbeziehen, einverleiben usw.) zu solchen mit »unter-« und »über-«. In der Überwältigung überfremde ich gleichsam den Gegner, er bleibt als ein Erledigter doch immer ein nicht gänzlich auflösbarer Rest, ein Fremdkörper, allenfalls ein Instrument. Wo sich die Philosophie der Aneignung an solchen Modellen orientiert, hebt sie die Momente des erledigenden Fertigwerdens, vielleicht auch des Vergewaltigens und Tötens, hervor. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Eroberns und Vergewaltigens, die dem Erblicken zuerkannt werden kann. Hierauf hat vor allem Sartre aufmerksam gemacht: »Das Sehen ist Genuß, sehen heißt deflorieren. Untersucht man die gewöhnlich gebrauchten Vergleiche, mit denen die Beziehung des Erkennenden zum Erkannten beschrieben wird, so stellt man fest, dass viele von ihnen sie wie eine Vergewaltigung durch den Anblick darstellen. Das nicht erkannte Objekt ist wie unbefleckt, jungfräulich gegeben, dem Weißen vergleichbar. Es hat sein Geheimnis noch nicht ›verraten‹, der Mensch hat es ihm noch nicht ›entrissen‹.« 21

Das Insgesamt von Bildern, zu denen auch die Jagdmetaphern gezählt werden, nennt Sartre den Aktäon-Komplex, genannt nach Aktäon, der die Zweige zur Seite schiebt, um Diana im Bad besser zu sehen. Damit ist ein Moment der Aneignung bezeichnet, das nicht einmal mehr Ausbeutung genannt werden kann, sondern pures Erbeuten als Erjagen, Erhaschen, Beflecken, Schänden, Töten. Wenn wir von diesem Sonderaspekt absehen, so bleibt in der Eroberungsmetaphorik das dominierende Moment die Besitzergreifung, die das Anzueignende zwar überwältigt, aber doch in sich bestehen lässt. Und hier schließt sich nun der Kreis der Aneignungsmetaphern; denn ich kann in der Bewältigung etwas »meistern«, was mir dann verfügbar ist, und dahin gehören die Werkzeuge, die technischen Apparate, die beherrschte Natur im Ganzen. Bezeichnenderweise war es Bacon, der zu Beginn der Neuzeit immer wieder von den Verfolgungen, Verhören und Folterungen sprach, denen man die 21

J. P. Sartre, a. a. O., S. 726.

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Zur Metaphorik der Aneignung

Natur auszusetzen habe. Die »Macht« der Überwältigung, von der er sprach, ist das moderne »In-den-Griff-bekommen«, von dem wir oben ausgegangen sind.

3. Dass sich bei dieser unkritischen Sichtung der Metaphern der Aneignung so etwas wie eine Skala, sogar ein in sich geschlossener Kreis ergeben zu haben scheint, ist zufällig und braucht uns hier nicht weiter zu beschäftigen. Durch die bloße Nennung anderer Metaphern ließe sich leicht zeigen, wie schnell dieser scheinbar systematische Zusammenhang in Unordnung gebracht werden könnte. Uns interessiert auch nur die Frage nach dem möglichen gemeinsamen Beziehungspunkt, von dem aus die Berechtigung dafür ausgewiesen werden kann, dass die verschiedenen Bilder überhaupt nebeneinander gestellt werden durften. Man kann als gemeinsamen Grundzug zunächst ein »gerundivisch« zu nennendes Verhältnis von Sache und Person herausheben: Innerhalb meines Horizontes tritt eine Sache auf als ein Fremdes, das anzueignen ist, oder, in der Sprache unserer Metaphern gesagt, handlich, übersichtlich, gefügig zu machen ist, erwärmt, eingeschmolzen, verschlungen, erobert, verdaut werden soll. Das Fremde erscheint in der gerundivischen Form eines Appropriandum. Es fällt mir nicht einfach zu, es ist mir nicht als selbstverständliches Korrelat zugeordnet, ist nicht eingepasst in meine Welt. Es leistet Widerstand, droht undurchdringlich zu bleiben, dem Zugriff sich zu entziehen. Es muss erst »entziffert« werden, »enträtselt«, ergriffen« usw. In Anlehnung an die Terminologie, die Gabriel Marcel in seiner Phänomenologie des Habens gebraucht, 22 lassen sich drei Momente dieses gemeinsamen Grundverhältnisses herausheben. Es handelt sich erstens in allen Fällen um das Verhältnis eines »Qui« zu einem »Quid«. Dass dieses Quid als Sache nicht im reinen Erkenntnisbezug zu einem Subjekt steht, auch nicht im Verweisungszusammenhang einer »Zeugganzheit« aufgeht, sondern zum Qui in einem Spannungsverhältnis steht, macht das zweite Moment aus. Dass wir von diesem Spannungsverhältnis nur dann reden können, »wenn wir einer Ordnung gegenüberstehen, in der irgendwie und ganz gleich, 22

G. Marcel: Sein und Haben. Dt. Übersetzung Paderborn 1954, S. 165 ff.

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in welchem übertragenen Sinne, der Gegensatz zwischen dem Innen und Außen einen Sinn hat« 23, darin besteht das dritte durchgängige Moment. Marcel hebt diese Distanz nicht für den Vorgang der Aneignung, sondern für die Bestimmung der Intensitätsgrade des Habens hervor. Das Quid kann in verschiedenen Graden der Äußerlichkeit zum Qui stehen, und dieses als ein Zentrum von Macht (»ich habe nur dann, wenn ich als eine Macht angesehen werden kann«) bemächtigt sich des Quid in verschiedenen Graden der Einbeziehung oder verliert diese Macht auch an das ihm entgleitende Quid. 24 Marcel sagt vorsichtig: »Irgendwie und ganz gleich, in welchem übertragenen Sinne« müsse der Gegensatz zwischen dem Innen und Außen einen Sinn haben, wenn von diesem Habensbezug geredet werden soll. Dies muss auch für das Problem der Aneignung gelten. Dies ist nun der Punkt, an dem wir die Unverbindlichkeit einer bloßen Übersicht über mögliche Metaphern der Aneignung aufgeben müssen und uns der Frage zuzuwenden haben, wie wörtlich die Rede vom Innen-Außen-Schema, von der »Äußerlichkeit« des Fremden und der »Innerlichkeit« des Eigenen oder Angeeigneten zu nehmen sei. Wir können diesen Gedanken nicht in der Weise verabsolutieren, dass wir sagen, letztlich laufe aller Unterschied zwischen dem Bezug der Fremdheit und dem des Angeeignetseins auf eine Innen-AußenPolarität hinaus. Aber es ist andererseits einleuchtend, dass wir ohne ein solches Begriffspaar sehr wenig über diesen Zusammenhang aussagen können und dass, wer hier schon eine fragwürdige »Sprache der Innerlichkeit« fürchtet, auf den Begriff der Aneignung, nicht nur auf den der »existentiellen Aneignung« im Sinne Kierkegaards, verzichten muss. Ohne ein wie auch immer geartetes Moment der »Verinnerlichung« zuzugestehen, wird über Aneignung nicht gesprochen werden können. Hier entsteht nun die Aufgabe – auf die unsere Betrachtungen nur hinweisen wollen –, die vorhandene Metaphorik auf das hin zu befragen, was im jeweiligen Bild als »Innen«-Seite zu bezeichnen wäre. Es ist keineswegs so, dass der Mehrzahl der hier in Frage kommenden Metaphern ein grobliniges Schema von Räumlichkeit zugrunde läge. Das Erwärmen oder Einschmelzen des spröden Stoffes 23 24

G. Marcel, a. a. O., S. 171 f. Vgl. dazu O. F. Bollnow: Französischer Existentialismus, a. a. O., S. 82 ff.

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Zur Metaphorik der Aneignung

lässt ein offenkundiges Raumschema so wenig erkennen wie das Handlichmachen und In-den-Griff-bekommen. Auch die Verdauungsmetaphern beziehen sich, wie wir gesehen haben, nur dann ausdrücklich auf Raumvorstellungen, wo Fehlformen der Aneignung nach dem Schema »Fremdkörper im Organismus« dargestellt werden sollen. Andererseits sind die verschiedensten Gruppen von Metaphern der Aneignung verbunden durch die Vorstellung des Qui als eines Zentrums, das an-sich-, in-sich-ziehende »Macht« hat, was sprachlich schon in der durchgängigen Verwendung der Vorsilben an- und ein- zum Ausdruck kommt. In diesem Punkt berühren sich alle Metaphern der Aneignung mit einer der ursprünglichsten Tendenzen der Sprache, nämlich die Welt als eine auf ein Ich bezogene zu gliedern in Ausdrücken der Nähe und Ferne, Zugehörigkeit und Fremdheit, zentripetaler und zentrifugaler Tendenzen. Diese zumindest in den indoeuropäischen Sprachen erkennbare Grundtendenz, die grammatikalisch ihren Niederschlag u. a. in der starken Hervorhebung und Isolierbarkeit des Subjekts als des Handlungsträgers gefunden hat, 25 beherrscht auch die Bilder, in denen Aneignung versinnlicht werden soll. Sie beziehen sich auf jenes Zentrum als den Inbegriff von Aktivität, Leben, Bewegung, Kraft und Macht. Aber sie heben sich zugleich von diesem gemeinsamen Grund in sehr verschiedener Weise ab, indem die einen das Kraftzentrum in seinen expansiven und aggressiven Zügen verabsolutieren, andere sich auf die Lebenswärme eines innersten »Fünkleins« beziehen, wieder andere die Aktivität als praktisches Können und »Meistern« darstellen. Jedes Bild hebt einen besonderen Zug heraus, diesen in der Isolierung zugleich verabsolutierend mit der Suggestionskraft des »So und nicht anders«. Erst in der Übersicht über die verschiedensten Möglichkeiten lassen sich die durchgängigen Momente erkennen, zu denen in erster Linie das Innen-Außen-Schema zu zählen ist. Dass es in manchen Bildern wörtlich genommen werden kann, weist hin auf den engen Zusammenhang solcher Metaphern mit der ursprünglichen Orientierung der Sprache am Raumschema, besagt aber wenig über einen möglichen größeren Wahrheitsgehalt eines solchen Bildes.

Vgl. u. a. B. L. Whorf: Sprache, Denken, Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie. Dt. Übersetzung Reinbek b. Hamburg 1963, S. 41 ff. – A. Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. 7. Aufl. Frankfurt u. Bonn 1962, S. 287 u. ö.

25

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Das Nahe-Bringen von Überlieferung Über die kulturellen Lebensbezüge der »Vertrautheit« und »Fremdheit«

1.

Resonanz

Versteht man unter »Kultur« nicht in erster Linie die im Gegensatz zur »Natur« stattfindenden Prozesse und Resultate der Selbstdomestizierung des Menschen, 1 sondern das im Gegensatz zur »Barbarei« sich ausdifferenzierende Netz von Kommunikationsvorgängen, in denen eine beständig neu einsetzende »Verständigung über Verstandenes« stattfindet, dann kann man für »Kultur« auch »Resonanzsystem« sagen. 2 Was vorgeht, wenn wir Kultur »haben«, d. h. nicht in Unartikuliertheit und Geschichtslosigkeit dahinvegetieren, sind Vollzüge des Sich-vergewisserns und Sich-austauschens im Rahmen von Kommunikationsgemeinschaften, die nicht einfach nur Probleme zu lösen, sondern sich selbst immer neu zu konstituieren haben. Dies kann nur dadurch geschehen, dass jede Objektivation von Sinn im Prinzip die Chance haben muss, vernommen und beantwortet zu werden und deshalb unter der Voraussetzung geschieht, in einen gleichsam widerhallenden Raum hineingesprochen zu werden. Was es bedeutet, nicht mehr von einem solchen Resonanzgefüge getragen zu sein, haben Schriftsteller in der Emigration immer wieder durchlitten. Dass das Wort »Elend« ursprünglich bedeutete, in einem anderen Land zu sein, verweist vielleicht auch auf diese die materielle Not des Fremdlings übersteigende Bedrückung des Isoliertseins. Zu den elementarsten Vorgängen kultureller Resonanz gehört die nie endende Aufgabe des Nahe-bringens von Überlieferung. Diese Formulierung mag insofern als befremdlich erscheinen, als es zur Überlieferung ja gerade gehört, überliefert, d. h. zu uns herüber1 Vgl. vor allem A. Gehlen, Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen, Reinbek b. Hamburg 1961. 2 Vgl. F. Rodi, Die Rolle der Pädagogik im Prozeß der »Verständigung über Verstandenes«; in: Vierteljahresschrift für Wissenschaftliche Pädagogik 4 (1985) 444–458.

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Das Nahe-Bringen von Überlieferung

gebracht und uns nahe zu sein. Sie umgibt und formt uns in unserem täglichen Handeln vielfach in größerer »Nähe« als die Natur. Und doch muss sie, vor allem als schriftlich überlieferter Sinn, beständig neu angeeignet werden, d. h. auf beständig neue Formen der Resonanz stoßen. Der vielzitierte Imperativ »Erwirb es, um es zu besitzen« drückt dies aus. Die in diesem Zusammenhang gebräuchlichen Raum-Metaphern von »Nähe« und »Ferne« deuten hin auf Lebensbezüge, 3 die für die Aneignung von Überlieferung konstitutiv sind. Sie sind – auf den ersten Blick betrachtet – austauschbar mit verschiedenen Begriffspaaren, in denen dem »Fremden« das »Vertraute« oder »Eigene« gegenübergestellt wird: Das, was uns »nahe«-gebracht werden soll, ist aus der Distanz der Fremdheit in die vertraute Nähe einer gleichsam innigeren Beziehung zu rücken. Die folgenden Überlegungen sind einer Differenzierung dieses Schemas gewidmet und versuchen, sowohl für die genannten Raum-Metaphern als auch für das dichotomische Schema im Ganzen auf eine Mehrdeutigkeit aufmerksam zu machen, deren Kenntnis für eine Theorie des Nahe-bringens hilfreich sein mag. 4

2.

Heroisierung der Fremdheit

Versucht man, lebensweltliche Strukturen mit Hilfe der Kategorien »fremd« und »vertraut« zu beschreiben, so stößt man auf Schwierigkeiten, die in der Komplexität und Undefinierbarkeit dieser Begriffe liegen. So scheinen im Wort »fremd« und seinen Äquivalenten in anderen Sprachen Urerfahrungen der Menschheit sedimentiert zu sein, die in vielen sprachlichen Wendungen noch immer nachvollzogen werden können. Diese Urerfahrungen betreffen den Gegensatz zwischen der Sicherheit und Verlässlichkeit des Heimischen und der Befremdlichkeit und Bedrohlichkeit dessen, was von außerhalb dieser Zone des Heimischen kommt. Wir haben es hier zu tun mit dem

3 Vgl. F. Rodi, Lebensbezug; in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. J. Ritter, Bd. 5, Darmstadt 1980, 114 f. 4 Eine differenzierte Studie über das Problem der qualitativ fremden Kultur legte Eberhard Scheiffele vor: Affinität und Abhebung. Zum Problem der Voraussetzungen interkulturellen Verstehens; in: A. Wierlacher (Hg.), Das Fremde und das Eigene. Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik, München 1985, 29–46.

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Heroisierung der Fremdheit

Anschauungsschema einer ursprünglichen, ethnozentrischen bzw. ipsozentrischen Weltsicht. Schon die Etymologie des Wortes »fremd« weist hin auf die Verbindung des räumlichen Anschauungsschemas Nähe-Ferne mit dem Ausdruck der genannten Urerfahrung. Aus der germanischen Wurzel »fram« leiten sich im Gotischen, Englischen und den verschiedenen Entwicklungsstufen der deutschen Sprache zahlreiche Wörter ab, die den räumlichen Bezug zur Ferne (»von … her«, »fort«, »vorwärts«, »Entfernung« usw.) mit der Qualität des Nicht-Heimischen verbinden. Noch im Mittelhochdeutschen bedeutet vremdecheit neben »Fremdheit« auch »Entfernung« und »Trennung«. Noch deutlicher kommt die Qualität des Nicht-Heimischen zum Ausdruck in den Wortverbindungen des Griechischen, in denen oikos (Haus) als Bezugspunkt für die Charakterisierung des Fremden (paroikos) oder des in der Ferne Wohnenden (apoikos) dient. Oikeios (häuslich, vertraut, eigen, geeignet) drückt denn auch in seinem Bedeutungsfeld die Vertrautheit und Vertrauenswürdigkeit der heimischen Sphäre aus. 5 Bekanntlich ist nicht nur in Zeugnissen naiv ethnozentrischer Weltsicht, sondern in zahlreichen philosophischen, anthropologischen und soziologischen Deutungen der conditio humana dieser Gegensatz von Vertrautheit und Fremdheit in seiner gesteigerten Form »Freund – Feind« besonders hervorgehoben worden. Statt vieler Belege sei hier ein Gedanke Nietzsches angeführt, der kennzeichnend ist für eine bestimmte Stimmungslage des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts: »Ein Volk, das auf sich stolz ist, das im Aufgange des Lebens ist, deutet das Anders-sein immer als Niedriger-, Wertloser-sein; es betrachtet die fremde, unbekannte Welt als seinen Feind, als seinen Gegensatz, es fühlt sich ohne Neugierde, in voller Ablehnung gegen das Fremde (…). Ein Volk würde nicht zugeben, dass ein anderes Volk das ›wahre Volk‹ wäre.« 6

Nietzsche zieht dieses Beispiel eigentlich nur heran, um darzutun, dass der Glaube an eine hinter der diesseitigen Welt liegende »wahre« Welt Ausdruck einer Dekadenz-Philosophie ist, und er setzt dem die »gesunde« Haltung eines Volkes »im Aufgange des Lebens« gegenüber, das seine Eigenart in naiver Robustheit über alles Fremde stellt. Aber wenn dieser Gedanke an dieser Stelle des Werkes auch nur als Wichtiges sprachgeschichtliches Material zum Bedeutungsspektrum gibt E. Fascher, Zum Begriff des Fremden; in: Theologische Literaturzeitung 96 (1971) 161–168. 6 F. Nietzsche, Werke in 3 Bd., hrsg. v. K. Schlechta, Bd. III, München 1966, 719. 5

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Das Nahe-Bringen von Überlieferung

Beispiel herangezogen ist, so spielt er doch im gesamten Denken Nietzsches eine zentrale Rolle. Es ist der Gedanke von der Lebensnotwendigkeit der »plastischen Kraft«, also jener Kraft, »aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben« 7. Nietzsche hat dieses Prinzip zu einem absoluten des »Willens zur Macht« gesteigert, das er – in einer Radikalisierung der Schopenhauer’schen Lehre vom Willen in der Natur – in allen Naturreichen am Werke sieht. Schon im Reich des Anorganischen sieht er jedes Machtquantum »essentiell als Wille zur Vergewaltigung und sich gegen Vergewaltigung zu wehren«; organisches Leben ist ihm gleichfalls letztlich Willen zur Macht, »der von innen her immer mehr ›Äußeres‹ sich unterwirft und einverleibt«; und auch das menschliche Ich »unterjocht und tötet: es arbeitet wie eine organische Zelle: es raubt und ist gewalttätig«. So gilt schließlich für jedes Volk nicht nur das Recht, sich zu verteidigen, sondern anzugreifen, als »Necessitäten für jedes Lebendige«, als »Fatalität des Lebens selbst«: »Alle Begriffe, die die Feindschaft und Rangdistanz der Staaten verewigen, dürfen daraufhin sanktioniert erscheinen.« 8 Eine Konsequenz, die nachdenklich werden lässt, was das ethno- bzw. ipsozentrische Schema von Vertrautheit und Fremdheit betrifft.

3.

»Zuhandenheit« und ihre Grenzen

Im Gegensatz zu einer solchen heroischen Überhöhung sehen all diejenigen phänomenologischen Analysen der menschlichen Lebenswelt, die von der Fraglosigkeit und Selbstverständlichkeit des »schlicht Gegebenen« ausgehen, den Gegensatz von fremd und vertraut nicht als einen solchen zwischen Heimischkeit und Fremde. Es geht in dem, was Scheler 9 über die »Milieudinge« oder Jaspers 10 über die »unmittelbare Welt«, Alfred Schütz 11 über das »fraglos Gegebene« und vor allem Heidegger 12 über die »Zuhandenheit« gesagt haNietzsche, Werke I, 213. Nietzsche, Werke III, 777, 898, 842, 700, 635. 9 M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Halle 31927, 139 ff. 10 K. Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 21922, 170 f. 11 A. Schütz, Strukturen der Lebenswelt I, Frankfurt a. M. 1979, 30–36. 12 M. Heidegger, Sein und Zeit, Halle 1927, 66 ff. 7 8

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»Zuhandenheit« und ihre Grenzen

ben, nicht um eine Qualität des Vertrautseins, in der die Wärme des Heimischseins dominierte. Das Anschauungsschema, mit dem hier (vor allem bei Heidegger) operiert wird, ist denn auch in der Regel nicht das von Nähe und Ferne, sondern von Handlichkeit und deren Beeinträchtigungen. Unsere Welt des alltäglichen Handhabens ist gekennzeichnet durch die Normalität des Funktionierens und die Geläufigkeit unserer Handgriffe. Erst wo eine Störung auftritt, »begaffen« wir – wie Heidegger sagt – das nun nicht mehr Zuhandene, das jetzt in seiner bloßen Vorhandenheit nicht mehr »Zeug«, sondern »Ding« ist. Die Nähe zu den Sachen, um die es hier geht, ist also nicht eine solche des heimischen Angemutetseins, sondern die der Geläufigkeit und Gewohnheit. Dies ist eigentlich eine für eine Analyse der Alltäglichkeit nicht selbstverständliche Einschränkung. In Heideggers Bestimmung des »Zeugs« sind Elemente affektiver Zuwendung bewusst ausgeklammert, um jeden Anklang an thematisch gewordene Gegenständlichkeit zu vermeiden. Dies mag bei dem Paradebeispiel des Hammers ohne Gewaltsamkeit der phänomenologischen Deskription abgehen. Wie aber würde die Zuhandenheit eines in seiner Einmaligkeit geliebten Musikinstruments, etwa einer Geige, bezogen auf den Besitzer und Künstler, zu beschreiben sein? Würde hier nicht ein quasi persönlicher Bezug eine Art der Sachnähe bedeuten, die keineswegs ein »Begaffen« und »Anstarren«, sondern ein immer erneutes Bewundern beinhaltet? Schon für den typischen deutschen Autofahrer gilt ja, dass sein Wagen ihm mehr bedeutet als bloßes Fahr-zeug. Dieser Bezug geht über das Vertraut-sein mit Schaltern, Knöpfen und Pedalen weit hinaus und ist nicht als bloße Zuhandenheit zu interpretieren. Es bedarf also auch in einer Analyse der Lebenswelt der Berücksichtigung von Umgangsqualitäten und Lebensbezügen, die über die Selbstverständlichkeit des fraglos Gehandhabten in Richtung einer intimen Sachnähe hinausgehen. Auf sie wird unter dem Titel »Intimität« noch näher einzugehen sein. Eine zweite Grenze für die Anwendungsmöglichkeit des Begriffs »Zuhandenheit« liegt da, wo Strukturen einer Vertrautheit mit Welt zu untersuchen sind, deren Qualität man als Normalität des Bekannten bezeichnen kann. Die Selbstverständlichkeit in der Gewissheit des »es gibt …« reicht weiter als die des handhabenden Umgehens mit »Zeug«. Auch hier also hat Heidegger einen bestimmten Akzent gesetzt, der Wesentliches in der Struktur der Umweltlichkeit hat sehen 189 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Das Nahe-Bringen von Überlieferung

lassen, anderes jedoch verdeckt. So würde man den Begriff der Zuhandenheit allzu sehr dehnen müssen, wollte man den Bezug der Normalität des Bekannten ihm noch subsumieren. Vielmehr müsste man die Zuhandenheit als Bestandteil eines weiteren Feldes annehmen, für das hier der Name Proximität eingeführt wird.

4.

Proximität

Dieses durch die Normalität des Bekannten gekennzeichnete Feld bestimmt zusammen mit dem, was auf eine ebenso selbstverständliche Weise mir nicht bekannt, aber in seinem Vorhandensein vorausgesetzt ist, die durchschnittliche Lebenswelt weit stärker als die sehr viel speziellere Struktur der Zuhandenheit. Auf eine »normale«, d. h. verlässliche und selbstverständliche Weise bekannt ist mir z. B. mein jeweiliger Wohnort. In vieler Hinsicht ist er das Nächste, das mich umgibt und in dem ich mich bewege. Dass ich mich in ihm auskenne und nicht als Fremdling umherirre, gibt mir eine Art der Sicherheit, die auch Bestandteil des komplexen Lebensbezuges des Heimischseins ist. Und doch würde man nicht sagen können, dass jeder Wohnort eo ipso dem Menschen eine Art Heimat bedeutet, die sich in ihrer Vertrautheit von einer »Fremde« positiv unterscheidet. Für viele Menschen verbindet sich mit der Selbstverständlichkeit ihres gewohnten Lebensrahmens eine Indifferenz diesen Alltagskulissen gegenüber, die sich stark abhebt z. B. von den emotionalen Bezügen zu einer nach langen Jahren wieder einmal besuchten Heimatstadt. Was dort auf Proust’sche Art in symbolischer Überhöhung einfacher Wege und Stege in kindliche Erlebniszonen gegliedert sein mag, 13 ist hier, am nicht-heimatlichen Wohnort, u. U. kaum mehr als ein räumlich-»hodologisches« Orientierungsgefüge, 14 und ist in der Qualität des Lebensbezuges austauschbar mit anderen Städten, in denen ich mich gleichfalls auskenne und mit Selbstverständlichkeit bewege. Diese Art indifferenter Vertrautheit des selbstverständlich Gewohnten, die den spezielleren Bezug der Zuhandenheit mit umfasst, nennen wir Proximität. Sie ist als »Nähe« zu unterscheiden einerseits von dem, was wir »Urvertrautheit« nennen können, also von jenem Bezug, in dem Gefühle des Gewohnt-seins 13 14

Vgl. dazu O. F. Bollnow, Mensch und Raum, Stuttgart 1963, 72 f. Bollnow, a. a. O., 191 ff.

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Proximität

und Zuhause-seins eine Abwehr alles Fremden implizieren; andererseits von dem Bezug unmittelbarer Zugewandtheit, der in vorläufiger Kennzeichnung »Intimität« genannt wurde. Es ist diese Indifferenz der Nähe, die Helmuth Plessner im Blick hatte, als er das geisteswissenschaftliche Verstehen auf die »Kunst des entfremdenden Blicks« zurückzuführen versuchte, d. h. auf die Kunst, Vertrautheit zu zerstören, »so daß es uns wie Schuppen von den Augen fällt«. »Nicht nur fremdes Leben, auch das eigene Milieu, das eigene Land, die eigene Tradition und ihre großen Figuren mit anderen Augen sehen lernen, ist die Kunst der Geisteswissenschaft.« Die Art der Vertrautheit, die es hier aufzubrechen gilt, ist die der »Fraglosigkeit des täglichen Umgangs«: »Alles geht wie von selbst, natürlich, als ob es so sein müßte, und auch wir gehen wie von selbst auf den vertrauten Wegen, ohne viel zu sehen. Die Wahrnehmungstätigkeit ist stark herabgesetzt, wir verlieren langsam den Blick für die Merkwürdigkeiten und Schönheiten der Stadt und ihrer Landschaft. Die Macht der Gewohnheit läßt die sinnliche Anschauung verkümmern. Wir laufen u. U. an der Brandruine eines Hauses vorbei, das wir dreißig Jahre lang auf seinem Platz gesehen haben, wir müssen mit der Nase draufgestoßen werden, um das vertraute Bild der neuen Wirklichkeit zu opfern.« 15

Wir können in dem, was hier sachlich gemeint ist, Plessner völlig folgen, nicht jedoch in der Terminologie. Wenn uns eine gewisse Vorsicht im Umgang mit dem Begriffspaar Vertrautheit-Fremdheit geboten und eine Differenzierung dieser Begriffe notwendig zu sein scheint, so geht dies nicht nur auf die problematische Konsequenz zurück, die Nietzsche aus dem ethnozentrischen Anschauungsschema gezogen hat. Vielmehr ist gerade auch Plessner selbst dadurch zu einem warnenden Beispiel geworden, dass er – wenige Jahre vor Hitlers Machtergreifung und der damit für ihn notwendigen Emigration – in ahnungsloser Anlehnung an Carl Schmitts Konzeption des Politischen die »urwüchsige Lebensbeziehung von Freund und Feind« zu einer Wesensbestimmung des Menschen heranzog und dabei diese Beziehung durchweg mit der von Vertrautheit und Fremdheit gleichsetzte. 16 Dies ist nicht hämisch angemerkt; denn Plessner ist über den 15 H. Plessner, Mit anderen Augen. Gesammelte Schriften, Band VIII, Frankfurt a. M. 1983, 92–95 (Schriften). 16 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht; in: Schriften V, 135–234; bes. 143, 191–200.

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Das Nahe-Bringen von Überlieferung

Verdacht erhaben, Schrittmacher des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Wer diese grundlegende anthropologische Schrift genau liest, sieht auch bald die innere Unstimmigkeit, die darin besteht, dass der Kerngedanke, nämlich die fundamentale Struktur der Verschränkung von Eigensphäre und Fremdsphäre des Menschen, aus eher äußerlichen Gründen 17 zum anthropologisch-politischen Urphänomen hochstilisiert wurde. Dies hat uns hier nicht weiter zu beschäftigen. Es wird nur angeführt als weiteres Argument dafür, dass ein undifferenzierter Gebrauch des Begriffs ›Vertrautheit‹ auf Abwege führen kann und einer lebensweltlichen Analyse keine guten Dienste leistet. Er verstellt den Blick für das, was wir mit Plessner die zu durchbrechende »Verdeckung der Vertrautheit« 18 nennen können und als Proximität bestimmen. Dass damit die Möglichkeit anderer Bezüge nicht geleugnet wird, versteht sich von selbst. Es gibt selbstverständlich die Irritation durch das Andersartige, die feindliche Bedrohung, das Unheimliche der Fremde usw. usw. Aber wir halten sie für Grenzphänomene, die nicht den Kernbestand lebensweltlicher Bezüge ausmachen. Dass nicht nur räumliche, sondern vor allem zeitliche Nähe blind macht, hat Ernst Bloch in einer kleinen Skizze über Große Augenblicke, unbemerkt festgehalten. »Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterland; dieses Vaterland ist aber noch mehr in der Nähe der Zeit als der des Raumes.« So gibt es »die auffallende Schwäche auch im starken Jetzt und vor ihm«, d. h. die Unfähigkeit des unmittelbar beteiligten Zeitgenossen, die historische Bedeutsamkeit des Jetzt und Hier zu erfassen: der junge Beethoven spielt – sicherlich ohne Bewusstsein einer »Sternstunde der Menschheit« – vor Mozart; Hegel prüft als Routine-Sache den Habilitanden Schopenhauer; Napoleon bietet als junger Leutnant einem Verleger vergebens ein Manuskript über Julius Caesar an; Hölderlin merkt nicht, dass er mit Goethe in einem Raum zusammen ist. Sie alle, und vor allen andern: Pilatus, stehen im »Dunkel des Jetzt und Hier«. Auch die Jünger »schliefen nicht trotz, sondern noch wegen der allzu großen Nähe dessen, was sich hier zutrug«, und Petrus war »gleichfalls der unmittelbaren Ge-

Die Abhandlung erschien in der Reihe »Fachschriften zur Politik und staatsbürgerlichen Erziehung«, was eine Bezugnahme auf das Phänomen des Politischen unerlässlich machte, obgleich es Plessner ja um eine »Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht« ging! 18 Plessner, Schriften VIII, 97. 17

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Alienität

genwart seines ihm Erschienenen nicht gewachsen, sondern gewachsen war er erst dem Abstand, der gewordenen Kreuzfigur, der Nachreife von Jesu Wandel«. So ist »das Erlebnis eines großen Augenblicks durch seine Nähe das von sich noch entfernteste«, und nur in Ausnahmefällen gelingt es der Geistes-Gegenwart der Beteiligten, das Dunkel des Jetzt und Hier durch eine »tendenzkundige Einsicht ins aktuell wirklich Geschehene« aufzuhellen. 19

5.

Alienität

Wenn Plessner in der Abhandlung von 1948 davon spricht, dass es darauf ankomme, die »Kunst des entfremdenden Blicks«, des »entfremdenden Umwegs« zu entwickeln und die Zone der Vertrautheit »mit anderen Augen« sehen zu lernen, um »aus dem Bekannten durch das Unbekannte hindurch zur Wiederbegegnung mit dem Vertrauten« zu kommen, 20 so können wir ihm darin in einer Theorie der Proximität folgen. Denn in diesem Begriff liegt selbstverständlich der dialektische Bezug zu dem, was nicht in »bloßer« Proximität aufgeht und deshalb wahr-genommen wird: »Das Vertraute versteht sich, aber an solchem Verständnis hat der Mensch nur dann etwas für seine Erfahrung, wenn es erworben ist. Erwirb es, um es zu besitzen. Um es erwerben zu können, muss man es verloren haben, und nicht immer tut das Leben uns den schmerzlichen Gefallen, dem vertrauten Kreise uns zu entrücken. Die Kunst des entfremdenden Blicks erfüllt darum eine unerlässliche Voraussetzung allen echten Verstehens.« 21

Wir würden heute für das, was Plessner »distanzierende Entfremdung« nennt, wohl eher »Verfremdung« sagen; Verfremdung, die – zumal in sozialkritischer Absicht – sein muss, »damit Hören und Sehen nicht vergehe« 22. E. Bloch, Verfremdungen I, Frankfurt a. M. 1962, 18–23. Plessner, Schriften VIII, 94. 21 Plessner, ebd. 22 Vgl. Bloch, Verfremdungen, 88. – Auf den schon bei Hegel (Phänomenologie des Geistes [Jub. Ausg.], hrsg. v. H. Glockner, Stuttgart–Bad Cannstatt 1964, Bd. II, 108) zu findenden Topos von jenem Hören und Sehen, das uns in der Dialektik der sinnlichen Gewissheit vergeht, bezieht sich auch Richard Schaeffler in seinem Buch Fähigkeit zur Erfahrung. Zur transzendentalen Hermeneutik des Sprechens von Gott, Freiburg–Basel–Wien 1982. Im Kontext der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit sinnvollen Sprechens von Gott konstatiert Schaeffler eine zweifache Bedro19 20

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Das Nahe-Bringen von Überlieferung

Ob nun »Entfremdung« oder »Verfremdung« – entscheidend ist der Gedanke des Aufhebens der blindmachenden Nähe, der Schaffung von Distanz, aus der gesehen das noch so Selbstverständliche aus den vertrauten Bezügen herausgelöst erscheint. Diese Distanz schafft eine Spannung, die dem Bezug der Proximität fehlt, so dass wir Proximität geradezu als die Struktur der Distanz- und Spannungslosigkeit bezeichnen können. Das »mit anderen Augen« Gesehene dagegen steht als das Außer-Gewöhnliche in einer Spannung zum Gewohnten und Gewöhnlichen, unabhängig davon, ob diese Verfremdungsleistung die eines Kindes, eines Clowns, eines Dichters, eines Politikers oder eines Philosophen ist. Da die Begriffe der Ent- und Verfremdung schon mannigfach besetzt sind, empfiehlt es sich, im Sinne unseres Ausweichens vor dem undifferenzierten Schema von Vertrautheit und Fremdheit hier einen Begriff vorzuschlagen, der als Gegenbegriff zur Proximität die Distanz und Spannungshaftigkeit des »mit anderen Augen« Gesehenen ausdrückt: Der Proximität als blindmachender Nähe entspricht die Alienität der scharfsichtig machenden Distanz. Hier bedarf es einer wichtigen Abgrenzung: Alienität sollte nicht verwechselt werden mit derjenigen Andersartigkeit, die das selbstverständliche Anders-sein im Rahmen der Proximität darstellt und hier Alterität genannt wird. Selbst scharfe und eigentlich »schreiende« Unterschiede zwischen Personen oder Sachverhalten innerhalb lebensweltlicher Bezüge können durch Gewohnheit, Routine und Nähe so eingeebnet erscheinen, dass das jeweils Andere als das Selbstverständliche gilt und seine Aufhebung die gewohnten Bezüge erschüttern würde. Dagegen kann der unscheinbarste Charakterzug des als selbstverständlich genommenen Anderen im distanzierenden Blick so hung unserer Erfahrungsfähigkeit: Wir werden einerseits durch unsere »Selbstverfangenheit« in der »verblüffungsresistenten« (Lübbe) Systemimmanenz gegen die Erfahrung des Neuen immunisiert und sind deshalb auf Erfahrungen des Absurden und Paradoxen angewiesen; andererseits erzeugt die bloße Paradoxie-Erfahrung ein Verstummen und den Abbruch von Kommunikation. Erst im dialektischen Bezug zwischen vorhandenen Erfahrungshorizonten und horizontsprengenden ParadoxieErfahrungen, die kommunikativ verarbeitet werden, kann uns »ein Licht aufgehen«. Es entsteht »unter dem Eindrucke solch paradoxer Erfahrung nicht notwendig Stummheit, Einsamkeit, Kommunikationslosigkeit. Vielmehr geht aus der religiös bezeugten Erfahrung eine spezifische Weise von Kommunikation und Interaktion hervor. Die Wechselrede ist konstitutiv für religiöse Gemeinden.« (46) – In der Sprache unserer Darlegungen gesagt ist dies ein zentrales Phänomen kultureller Resonanz.

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Intimität

isolierend apostrophiert werden, dass er das »vertraute« Bild verklärt oder zerstört. In diesem Sinne gehören das »gängige« Feindbild, das »typische« Vorurteil, die ›geläufigen‹ Unterschiede, die ›gewohnte‹ Distanz zur Zone der Proximität, während die kleine, irritierende Nuance in einer Formulierung, die frappierende Wendung eines Gesprächs, der als Offenbarung empfundene Farbklecks in einem Gemälde nicht »bloße« Alterität, sondern spannungshafte Alienität bedeuten können. »Deshalb muß in jeder künstlerischen Wiedergabe, die zu dem Bereich des Geistes in der Erscheinung vordringt, eine Entstellung am Werke sein, Vereinseitigung, Auslese, Betonung, mit einem Wort: distanzierende Entfremdung, um das Objekt in den Blick zu bekommen.« 23

6.

Intimität

Plessner versucht, in dieser Theorie der »distanzierenden Entfremdung« einen Weg des Verstehens »aus dem Bekannten durch das Unbekannte hindurch zur Wiederbegegnung mit dem Vertrauten« zu zeichnen. Dies führt in unserer modifizierenden Nachzeichnung dieses Gedankens zu einer dritten Kategorie, auf die oben schon beiläufig hingewiesen wurde: die Intimität als Lebensbezug unmittelbaren Zugewandtseins nicht in der spannungslosen Relation der Selbstverständlichkeit, sondern in spannungshafter Nähe. Der undifferenzierte Begriff der Vertrautheit verwischt gerade diesen Unterschied. »Vertraut« ist mir einerseits das Gewohnte, andererseits das »innig« Angeeignete. Eine mittlere Zone des »Anheimelnden« kann diese beiden Seiten verbinden. Aber damit ist der entscheidende Unterschied eingeebnet, den wir – wie behelfsmäßig auch immer – mit Begriffspaaren, wie »selbstverständlich« – »nicht-selbstverständlich« oder »spannungslos« – »spannungshaft« herauszuarbeiten versuchen. Wenn oben die eine Grenze des Zuhandenheitsmodells dadurch bestimmt wurde, dass mir ein Instrument zwar durch und durch »zuhanden« sein kann, ohne dadurch im Verweisungszusammenhang einer »Zeugganzheit« selbstverständlich und unthematisch aufgehen zu müssen, so wurde damit schon auf eine »Nähe« zur Sache hingewiesen, die mit handhabender Vertrautheit im Rahmen der Proximität wenig zu tun hat. 23

Plessner, Schriften VIII, 94.

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Das Nahe-Bringen von Überlieferung

Das Beispiel zeigt allerdings auch, dass der von Plessner genannte Weg keine zwingende Reihenfolge von Annäherungsstufen festlegen kann, d. h. dass der Weg zur Intimität als »spannungshafter Nähe« nicht notwendigerweise »aus dem Bekannten durch das Unbekannte hindurch« zu führen hat. Das geliebte und bewunderte Instrument als Quasi-Du wird kaum seine Qualität durch verfremdete Proximität gewonnen haben. Es ist »an sich« außergewöhnlich und beweist seinen Rang dadurch, dass es auch im täglichen Umgang nie als etwas Selbstverständliches genommen wird. So wird auch Liebe »auf den ersten Blick« auf diesen Umweg verzichten und sich doch darin bewähren können, dass ihre spannungshafte Nähe nicht absinkt in distanzlose Selbstverständlichkeit und Gewöhnung. Dies gilt auch für den Umgang mit Überlieferung. Es gibt auch hier Entdeckungen, die nicht als Durchbrüche durch Verkrustungen einer verordneten Bildungswelt gedeutet werden können, sondern als die Herstellung einer unmittelbaren Sachnähe aus unbefangener, sozusagen ahnungsloser Distanz zu gelten haben. Für eine solche »Entdeckung« gibt Thomas Mann in den Buddenbrooks ein gutes Beispiel: Gegen Ende des Romans, als der Senator Thomas Buddenbrook zu der Überzeugung gekommen ist, »daß dies alles nicht lange währen könne und daß sein Hintritt nahe bevorstehe«, gerät »halb gesucht, halb zufällig« ein Buch in seine Hände, das er vor Jahren »beim Buchhändler zu einem Gelegenheitspreis achtlos erstanden hatte« 24. Es ist – der Titel wird nicht ausdrücklich genannt – der Zweite Band von Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung, in dem er »vier volle Stunden lang mit wachsender Ergriffenheit« liest. Thomas Buddenbrook »begriff nicht alles; Prinzipien und Voraussetzungen blieben ihm unklar, und sein Sinn, in solcher Lektüre ungeübt, vermochte gewissen Gedankengängen nicht zu folgen«. Aber dann gerät er an das Kapitel »Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich«, und dies liest er »vom ersten bis zum letzten Buchstaben, […] mit einem vollkommenen, beinahe erstorbenen, von keiner Regung des Lebens um ihn her beeinflußbaren Ernst in der Miene« 25. Thomas Mann hat, wie er mehrfach berichtet hat, seine eigene Entdeckung Schopenhauers (»das teure Erlebnis, das hohe Abenteuer«) seinem Helden und Doppelgänger als Geschenk kurz vor dessen Ende mitgegeben, und er hat keine Ausführlichkeit ge24 25

Th. Mann, Buddenbrooks. Stockholmer Gesamtausgabe, 651 ff. Buddenbrooks, 655.

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Nähe zur Überlieferung: das Beispiel der Parodie

scheut, um auch die äußeren Umstände jener erschütternden eigenen Lektüre zu schildern, als er »tagelang hingestreckt auf ein sonderbar geformtes Langfauteuil oder Kanapee […] den Zaubertrank dieser Metaphysik schlürfte«. »So liest man nur einmal. Das kommt nicht wieder.« Von nun an rechnete er Schopenhauer (neben Nietzsche und Wagner) zu den Fundamenten seiner geistig-künstlerischen Bildung, und das »überdeutsche Geisteserlebnis zu einer der Quellen seines literarisch so anstößigen ›Patriotismus‹« 26. Dies also ein Beispiel für eine unmittelbar hergestellte Nähe zur Sache, die keiner Verfremdung bedurfte. Es war nicht so, dass Thomas Mann auf dem Lübecker Gymnasium Schopenhauer als Pflichtlektüre zu lesen gehabt und dann seinen intimen Bezug im Widerstand gegen ein trivialisiertes Bildungsgut aus einer glückhaft hergestellten Alienität gewonnen hätte. Aber ebenso sicher ist, dass der andere, von Plessner aufgezeigte Weg gerade für das Verhältnis zur Überlieferung immer dann beschritten werden muss, wenn diese in allzu zäher und vielleicht penetranter Weise der Zone bloßer Proximität angehört.

7.

Nähe zur Überlieferung: das Beispiel der Parodie

Dieses Problem macht sichtbar, was man die »Tragik der Schule« nennen kann: das institutionell geforderte Schaffen von Proximität, wo eigentlich Intimität erwünscht und das Erzeugen von Alienität geraten wäre. Das Herstellen von Geläufigkeit und Griffigkeit im Handhaben von Wissensstoff, die Gewöhnung an Bedeutsames, die trivialisierende Abfragbarkeit des Erschütternden, – all dies ist immer wieder beklagt worden als Verfehlung des Bildungsauftrags der Schule. Es wäre verwegen, hier einen Ausweg auch nur andeuten zu wollen. Was eine solche Problemskizze allenfalls zu leisten vermag, ist die Schärfung des Bewusstseins für die Notwendigkeit differenzierterer Begriffe. Dass das Nahe-Bringen von Überlieferung bedeuten kann, Vertrautheit im Sinne von Geläufigkeit, Gewöhnung und Routine zu erzeugen, sollte mit Hilfe der Kategorie »Proximität« stärker akzentuiert werden, als es etwa die Rede vom »Vertraut-machen« erkennen lässt. Wie das Ideal der Herstellung »spannungshafter Th. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen. Stockholmer Gesamtausgabe, 64 ff. Vgl. Th. Mann, Adel des Geistes. Stockholmer Gesamtausgabe, 322.

26

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Das Nahe-Bringen von Überlieferung

Nähe« erreicht werden kann und wie der Kunstgriff des Erzeugens von Alienität anzuwenden sei, darüber kann hier nichts gesagt werden. Vielmehr soll abschließend von einem – zunächst vielleicht befremdlich erscheinenden – Beispiel aus die Vielfalt möglicher »Nähe« zur Überlieferung beleuchtet werden. Wir orientieren uns am Beispiel der Parodie. Eine Verschränkung von Nähe und Ferne zur Überlieferung ist im Grunde schon im dialektischen Begriff der Proximität angesprochen, insofern als die dort gemeinte Nähe zugleich ein Blind-sein für das mich in gewohnten Bezügen Umgebende darstellt. Es gibt nun eine besonders beliebte Form des Umgangs mit Texten und Melodien, in denen diese Verschränkung von Nähe und Beziehungslosigkeit zum Ausdruck kommt. Es ist diejenige Form der Parodie, in der nicht satirisch auf eine Bloßstellung der Schwächen eines Originals abgezielt wird, sondern wo aus einer allzu großen Geläufigkeit eines vorhandenen Musters ein teils überdrüssiges, teils behaglich alberndes Weitermachen entsteht. Die verbreitetste Form ist wohl die, in der auf eine vorhandene Melodie ein neuer Text gemacht wird, also die sogenannte Kontrafaktur. Es gibt Anthologien, in denen dieses Verfahren dadurch veranschaulicht wird, daß auf der einen Buchseite das Original, auf der anderen Seite die Parodie steht, die wir hier der Einfachheit halber auch dann Kontrafaktur nennen wollen, wenn das Original nicht vertont ist und nur die prosodische Struktur des Textes und einige Wendungen (»Hinaus in die Ferne«) parodistisch neu aufgefüllt sind. Ich nenne diese Form der Parodie »volkstümliche Kontrafaktur« 27. Man wird das, was hier als Proximität vorgestellt wurde, kaum besser illustrieren können als durch diese Art der volkstümlichen Kontrafaktur. Eine äußerliche Nähe zur Sache besteht in solchen Fällen in der Regel dadurch, dass Texte auswendig gelernt und beliebig verfügbar sind. Es besteht zu ihnen ein spannungsloser Bezug der Selbstverständlichkeit, allenfalls ein Gefühl des Überdrusses. Das Original soll nicht karikiert oder getroffen werden. Keiner von denen, die jemals Freude an einer populären Version von »Hinaus in die Ferne« oder »Freut euch des Lebens« gehabt haben, bezog sich dabei kritisch auf den Stil Methfessels oder Usteris. 28 Mit im Spiel bei solZum Begriff der Kontrafaktur vgl. Th. Verweyen, Eine Theorie der Parodie. Am Beispiel Peter Rühmkorfs, München 1973. 28 A. Methfessel (1785–1869) dichtete 1813 »Hinaus in die Ferne«. – Von J. M. Usteri 27

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Nähe zur Überlieferung: das Beispiel der Parodie

cher Freude ist sicher auch das travestierende Moment, vor allem im Umgang mit religiösen und klassischen Texten. Aber auch hier bleibt die Verfremdung spannungslos in dem Sinne, dass im Grunde die Kommunikation mit der Überlieferung abgebrochen ist. Man will durch die Verfremdung nicht zum Original zurück, man will es nicht erwerben, um es zu besitzen. Man hat es durch die volkstümliche Kontrafaktur aufgegeben. Ein ganz anderes Verhältnis zur Überlieferung besteht in derjenigen Form der Parodie, durch die ein einzelnes Werk, häufiger noch der Stil eines Autors oder eine ganze Dichtungsgattung, in satirischer Bloßstellung getroffen werden sollen. Dies kann zwar auch in Gestalt einer Kontrafaktur geschehen, etwa, wenn Brecht nach dem prosodischen Muster von »Lobet den Herren« dichtet: »Lobet von Herzen das schlechte Gewissen des Himmels Und daß er nicht Weiß euren Nam’ und Gesicht. Niemand weiß, daß ihr noch da seid.« 29

Aber häufiger wird in der satirischen Parodie gar nicht in der Weise auf ein bestimmtes Werk Bezug genommen, dass man Original und Parodie einander im Stil besagter Anthologien gegenüberstellen könnte. Trotz dieses fehlenden konkreten Bezugstextes findet jedoch eine ausdrückliche Thematisierung statt, die bei der volkstümlichen Kontrafaktur gerade fehlt. Das parodierte Werk ist nun alles andere als selbstverständlich. Es wird in der Parodie in den spannungshaften Bezug zwischen Original und Karikatur gebracht. Wiederum können wir sagen: Was oben zum Thema »Alienität« gesagt worden ist, kann kaum besser verständlich gemacht werden als durch das Beispiel der satirischen Parodie. Eine treffende Parodie dieser Art entkleidet den parodierten Stil oder eine ganze Dichtungsgattung jeder Selbstverständlichkeit. Allein schon die Tatsache, dass eine so große Ähnlichkeit erzielt werden kann, dass der Unkundige zwischen Original und Imitation nicht unterscheiden kann, nimmt dem parodierten Text seine Authentizität, die nun als reproduzierbare »Masche« erscheint. Die Sachnähe in diesem Bezug zur Überlieferung ist durch die Tat(1763–1827) stammt das Lied »Freut euch des Lebens«, das von I. Hirzel vertont wurde und heute fast nur noch in Gestalt der diversen volkstümlichen Kontrafakturen bekannt sein dürfte. 29 B. Brecht, Großer Dankchoral, Gesammelte Werke Bd. 8, Gedichte I, Frankfurt a. M. 1967, 216.

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Das Nahe-Bringen von Überlieferung

sache des »Treffens« gegeben. Trotz großer Distanz zum parodierten Autor erfasst der Parodist die satirisch verfremdeten Texte gleichsam von ihrem Dreh- und Angelpunkt aus, während die populäre Kontrafaktur dafür geradezu blind ist. Schließlich gibt es noch eine dritte Form einer parodistischen Verfremdung, und in ihr wird am ehesten jener von Plessner beschriebene Weg von der Proximität über die Alienität zur Intimität gegangen: das Pastiche. Der Name ist noch immer relativ wenig bekannt und bedarf einer kurzen Erläuterung: »Pasticcio«, eigentlich »Pastete«, war in der Spätrenaissance die Bezeichnung für eine bestimmte Art der Kunstfälschung, nämlich für das Kombinieren sämtlicher Stilelemente eines bestimmten Künstlers in einem frei erfundenen, also nicht auf dem Weg der Kopie, sondern der Nachempfindung entstandenen Bild. 30 In Frankreich wurde das entsprechende Wort pastiche vom Ende des 18. Jahrhunderts ab dann auch für literarische Stilnachahmungen und Stilfälschungen verwendet. Und hier vollzog sich nun ein wichtiger Bedeutungswandel: Das Wort verlor mehr und mehr seine abwertende Bedeutung und wurde zur Bezeichnung für die in künstlerischer Absicht vorgenommene, ironische Imitation eines älteren Stils. Bei Proust taucht das Wort dann im Titel einer Sammlung solcher artistischer Stilübungen »à la manière de …« auf, 31 und von ihm stammt auch die Unterscheidung zwischen dem pastiche volontaire und dem pastiche involontaire – also zwischen der bewussten, distanzierend-aneignenden Stilnachempfindung und dem Ausgeliefert-sein an ein Vorbild, das man mehr oder weniger imitiert 32. Auch für den Fall des uns hier primär interessierenden »pastiche volontaire« gibt es ein schönes Beispiel in Gestalt einer (natürlich wiederum nicht volkstümlichen) Kontrafaktur. Mörike hat in seinem Gedicht »In der Frühe« nicht nur den Stil des Choral-Dichters Philipp Nicolai (1556–1608) imitiert, sondern auch die strophische Form von Nicolais berühmtem Kirchenlied »Wie schön leuchtet der Morgenstern« in leichter Abwandlung der Struktur der ursprünglichen Straßburger Psalmweise dem eigenen Gedicht zugrunde gelegt: Vgl. W. Hempel, Parodie, Travestie, Pastiche. Zur Geschichte von Wort und Sache; in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 46 (1965) 150–176. – W. Karrer, Parodie, Travestie, Pastiche, München 1977. Dort umfangreiches Material zur Theorie des Pastiche. 31 M. Proust, Pastiches. Dt. Übersetzung v. L. Harig, Frankfurt a. M. 1969. 32 M. Proust, Chroniques, Paris 1927, 204. Vgl. Karrer, Parodie, 49. 30

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Nähe zur Überlieferung: das Beispiel der Parodie

»Kein Schlaf noch kühlt das Auge mir, dort gehet schon der Tag herfür an meinem Kammerfenster. Es wühlet mein verstörter Sinn noch zwischen Zweifeln her und hin und schaffet Nachtgespenster. – Ängste, quäle dich nicht länger, meine Seele! Freu’ dich! schon sind da und dorten Morgenglocken wach geworden.«

Dies ist weder in blindem, distanzlosem Umgang mit einer geläufigen Vorlage, noch in der Absicht satirischer Bloßstellung einer überkommenen Geisteshaltung geschrieben, sondern in spannungshafter Nähe zu einem Text, dessen naiv gläubige Zuversicht und dichterische Unbeholfenheit in stärkstem Kontrast zu Mörikes artistischer Einfühlungsgabe und seiner resignativen Gesamtstimmung stehen. Indem der Dichter die subjektive Erfahrung einer in Verstörung und Zweifeln durchwachten Nacht in der Tonlage eines Chorals des ausgehenden 16. Jahrhunderts ausspricht und mit einer tröstlichen Schlusswendung versieht, persifliert er weder diese Erfahrung noch die überlieferte Ausdrucksform. Aber eine Spannung zur Überlieferung ergibt sich schon daraus, dass die selbstverordnete Freude sich nur noch auf die Morgenglocken und das durch sie bezeichnete Ende der durchwachten Nacht beziehen kann und keinen wirklich religiösen Gehalt mehr hat. Es ist nur noch jener »sentimentalische« Bezug zu den Kirchenglocken, der auch Faust vor dem Selbstmord bewahrt hat. Dieser Bezug ist auch konstitutiv für die Verwendung des überlieferten Musters. Der »verstörte Sinn« flüchtet sich in die Trost verheißende Sphäre des Morgenchorals, dessen Sprache damit in neuer Weise »erworben« wird. In schärfstem Gegensatz zu einem gedankenlos hingesprochenen Morgengebet stehend drückt dieses Gedicht die Angst und Verzweiflung der sich quälenden Seele gerade dadurch aus, dass die aus dem Kirchenlied geborgte Freude sich nicht mehr auf einen Erlöser, sondern nur noch auf die Verscheuchung der Nachtgespenster beziehen kann. Aber dies geschieht wiederum nicht im entlarvenden Gestus des »Niemand weiß, daß ihr noch da seid«, sondern in der Evokation einer Zuversicht und Trost vermittelnden Glaubenswelt. In diesem Sinne macht sich der Dichter den überlieferten Text aufs Neue vertraut. Dass hier zum Schluss dieses Wort vertraut einen ihm zukom201 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Das Nahe-Bringen von Überlieferung

menden Platz gefunden hat und ohne Anführungszeichen geschrieben werden konnte, soll als das eigentliche Ergebnis unserer Differenzierungsbemühung festgehalten werden: Erst dort, wo gesichert ist, dass keine Verwechslung mit blinder Gewohnheit, reibungsloser Zuhandenheit oder gar aggressiver Ethnozentrik stattfindet, sollte das Wort wieder in seine alten Rechte eingesetzt werden. Das Nahe-Bringen von Überlieferung kann auch Vertraut-machen heißen, wenn man sich darüber verständigen kann, dass die spannungshafte Nähe der Intimität den Bedeutungskern dieses nur mit Behutsamkeit zu verwendenden Begriffs ausmachen sollte.

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Der Anspruch der »Kultur« Ein begriffsgeschichtlicher Versuch

Behind our speaking of »Culture« there lies a kind of tension between a merely descriptive and a normative use of the word. The originally normative meaning of Cicero’s metaphor »cultura animi« was taken up in the Age of Enlightenment, thus leading to a cosmopolitan ideal of culture as a universally high grade of humanity. However, a new historical consciousness, influenced by Vico and promoted by Herder, discovered the growth and decay of societies as a plurality of »cultures«. This lead to a morphological concept by which we refer to »a« culture amongst others. However, the normative implications of »culture« are still alive and have recently gained a new importance in the strife of peoples for new cultural autonomy and authenticity.

Jede Beschäftigung mit dem Kulturbegriff stößt früher oder später auf eine Schwierigkeit: man kann zwar, wenn man die verschiedenen Aspekte des Kulturbegriffs auseinanderzuhalten versucht, einen eindeutig normativen Kulturbegriff leicht vom rein deskriptiven Gebrauch des Wortes unterscheiden. So kann ich von der »Kulturhoheit der Länder«, von der »Kultur der Ägypter« oder von »Kulturanthropologie« sprechen, ohne damit eine schon im Begriff implizierte Wertung oder Präskription zu verbinden, die sich etwa beziehen könnte auf die Verwirklichung eines bestimmten Kulturideals oder die Erreichung einer bestimmten Kulturhöhe. Dies letztere geschieht dagegen schon in der einfachen sprachlichen Wendung, in der ich jemandem bescheinige, »Kultur zu haben«, ganz zu schweigen von dem fast nie ohne Herablassung gebrauchten »civilized« im Englischen. Ich möchte im Folgenden versuchen, die Sonderstellung des rein normativen Kulturbegriffs, wie er sich seit der frühen Neuzeit und besonders in der Aufklärung herausgebildet hat, deutlich zu machen und von drei anderen Aspekten abzugrenzen. Der normativ-präskriptive Anspruch besteht vor allem darin, dass hier die Rede von »Kul203 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Der Anspruch der »Kultur«

tur« letztlich immer von dem Gegensatz »Natur-Kultur« bestimmt ist und der »bloßen« oder »rohen« Natur die Kultur als das zu Erreichende und zu Erringende und das vielleicht mit Bedacht und Anstrengung zu Bewahrende gegenübergestellt wird. Kultur, – so klingt es uns aus diesem Gebrauch des Wortes entgegen – soll sein. Nun setzt sich aber, wie ich zeigen möchte, dieser normative Anspruch auch dort noch durch, wo wir nicht mehr kulturphilosophisch von der Kultur, sondern vermeintlich rein deskriptiv kulturanthropologisch von einer Kultur sprechen. Eine Kultur, die zu erforschen ist, tritt mir in der Regel nicht als Norm oder Ideal gegenüber. Sie kann es zwar für den begeisterten Ethnologen oder Archäologen werden. In der Regel jedoch bildet sie das Insgesamt all dessen, was im Einzelnen zu erforschen ist, ändert sich dementsprechend mit den gewonnenen Einzelerkenntnissen und modifiziert in ihrer Veränderlichkeit bisherige Fragestellungen. Dass wir jedoch auch in diesem vermeintlich rein deskriptiven Gebrauch des Wortes noch ein Restpotential von normativem Anspruch vorfinden, hängt damit zusammen, dass die Ganzheitsqualität einer Kultur letztlich immer bezogen bleibt auf ihre Kontingenz und Fragilität. Kultur ist, selbst dort, wo sie das scheinbar Selbstverständlichste der Welt ist, nie eigentlich selbstverständlich oder natürlich, und dies scheint der Kulturbegriff auch dann noch zu implizieren, wenn er sich auf rein deskriptiv zu erfassende Befunde bezieht. Ich möchte im Folgenden die vier Aspekte des Kulturbegriffs so vorstellen, dass ich beginne mit dem umgangssprachlich gängigsten und philosophisch unergiebigsten Kulturbegriff, der sich auf die Kultur als Teilsystem der Gesellschaft bezieht. Von hier aus gehe ich weiter zum anthropologischen Kulturbegriff, dessen normatives Anspruchspotential uns zum eigentlich normativen Kulturbegriff weiterleitet. Schließlich soll der deskriptiv-morphologische Kulturbegriff in seiner eben schon kurz skizzierten dialektischen Beziehung zum normativen Kulturbegriff noch etwas ausführlicher erörtert werden.

1. Wir beschäftigen uns also zunächst mit der Kultur als einem Teilsystem der Gesellschaft. Es ist dies heute vielleicht die gängigste Bedeutung des Wortes Kultur, sofern dies im Singular gebraucht wird. Denn »die Kultur« ist für uns primär jenes Teilsystem im Leben der 204 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Der Anspruch der »Kultur«

Gesellschaft, das scheinbar bis in kleinste administrative und fiskalische Details abgrenzbar ist von anderen Teilsystemen, wie Wirtschaft, Politik und Recht, und das in zunehmendem Maße auch von Wissenschaft, Erziehungswesen und kirchlichem Leben, wie auch von Sport und Unterhaltung, unterschieden wird. Als »höhere« oder »geistige« Kultur ist sie dann praktisch beschränkt auf die Künste und deren Präsentation in Büchern, (Film-)Theatern, Konzertsälen, Kirchen, Museen und Galerien, sowie auf Literatur jenseits von Wissenschaft und Unterhaltung. Abgrenzungen sind schwierig und unterliegen häufig dem Zufall der erwähnten Ressort-Zuweisungen. Aus der Begriffsgeschichte dieses speziellen Kulturbegriffs lässt sich in erster Linie erkennen, wie wenig selbstverständlich hier entsprechende Abgrenzungen dem Wort von Anfang an mitgegeben sind. Jacob Burckhardt bestimmte die Kultur als eine der drei historischen »Potenzen« neben Staat und Religion, die im Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit zueinander stehen. Während die beiden letzteren als stabile Größen mit universalem Geltungsanspruch auftreten, ist die Kultur »die ganze Summe derjenigen Entwicklungen des Geistes, welche spontan geschehen und keine universale oder Zwangsgeltung in Anspruch nehmen« 1. Inhaltlich wird Kultur bestimmt als »der Inbegriff alles dessen, was zur Förderung des materiellen und als Ausdruck des geistig-sittlichen Lebens spontan zustande gekommen ist, alle Geselligkeit, alle Techniken, Künste, Dichtungen und Wissenschaften« 2. In merkwürdiger Verkennung der Macht wirtschaftlicher Faktoren und der Konsequenzen der industriellen Revolution sind hier »die Techniken« in die Kultur völlig integriert, wie auch der »Handel« primär in seiner Funktion gesehen wird, dem Austausch und der Verbreitung höher entwickelter Produkte und damit der interkulturellen Kommunikation zu dienen. Stellt man neben diese Sätze die berühmten Formulierungen von Marx und Engels aus der »Deutschen Ideologie« über den Zusammenhang von geistiger und materieller Produktion, so wird die ganze Spannweite deutlich, innerhalb derer um die Mitte des 19. Jahrhunderts dieses Verhältnis aufgefasst werden konnte: »Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre 1 2

J. Burckhardt, Ges. Werke, Darmstadt 1962, Bd. IV, 41. J. Burckhardt, a. a. O., S. 20.

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Der Anspruch der »Kultur«

materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens.« 3

In diesen Sätzen, die in das viel und fast immer falsch zitierte Diktum einmünden: »Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein«, sprechen Marx und Engels zwar nicht ausdrücklich von »Kultur«. Ich erwähne diese Position hier auch nur als extreme Gegenposition, betrachtet unter dem Gesichtspunkt der Gegenüberstellung von geistiger und materieller Produktion. Wie wenig eindeutig der Kulturbegriff auch noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur Abgrenzung eines Teilbereichs verwendet wurde, zeigt auch der Versuch Diltheys, verschiedene »Systeme der Kultur« nebeneinanderzustellen, die ihrerseits wieder jeweils in Beziehung zur »äußeren Organisation der Gesellschaft« treten. Solche Systeme der Kultur sind Sprache, Religion, Recht, Wirtschaft, Kunst, Wissenschaft und Sittlichkeit. Es sind überindividuelle und überzeitliche Zweckzusammenhänge, zentriert in der Realisation einer Leistung, die »einen gemeinsamen Wert für alle diejenigen, welche auf diese Leistung gerichtet sind«, verwirklicht. 4 Das als Koexistenz der einzelnen Systeme von Dilthey aufgezeigte Ineinanderwirken lässt keine hierarchische Ordnung, kein Zentrum und keine Dominanzen erkennen. Es gibt hier zwar nicht die Abwertung eines »Überbaus«, aber auch nicht den festen Stellenwert einer »Potenz« im Gefüge anderer »Potenzen«. Die Kultur ist in einem nicht näher bestimmten Sinn das Insgesamt der Teilsysteme, zu dem dann die »äußere Organisation der Gesellschaft« in mannigfache Beziehungen tritt. Mit diesen drei Beispielen aus der Begriffsgeschichte des Wortes »Kultur« sind zwar drei sehr verschiedene philosophische Positionen zitiert. Sie haben jedoch eine unverkennbare Gemeinsamkeit darin, dass sie sich alle auf Kultur im Sinne eines (Teil-)Systems der Gesellschaft beziehen, abgegrenzt einmal im Sinne eines »Überbaus« und schließlich im Sinne eines Gegensatzes zu »äußeren Organisationen der Gesellschaft«.

3 4

K. Marx/Fr. Engels, Werke, Berlin 1959, Bd. III, S. 26 f. W. Dilthey, Ges. Schr., Bd. VII, S. 168; vgl. Bd. I, S. 42 ff.

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Der Anspruch der »Kultur«

2. In einem völlig anderen Begriffsfeld bewegt man sich, wenn von »Kultur« gesprochen wird im Sinne einer Bestimmung des Menschen durch seine Hervorbringungen. Als anthropologisch im weitesten Sinn kann jede Rede von Kultur gelten, da es sich bei jeder kulturellen Leistung eo ipso um eine über die »natürlichen« Daseinsbedingungen des Menschen hinausgehende, ihn in seinem Wesen partiell kennzeichnende und zugleich die Vielfalt menschlicher Möglichkeiten zum Ausdruck bringende Errungenschaft handelt. Im engeren Sinn anthropologisch zu nennen sind Ansätze, wie sie etwa durch W. Diltheys Diktum charakterisiert sind: »Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte.« 5 In diesem Sinn sieht Plessner den Menschen als »Schöpfer und die produktive ›Stelle‹ des Hervorgangs einer Kultur« 6 und versteht Kunst, Wissenschaft, Religion, Politik etc. als Medien einer anthropologischen Erkenntnis, indem »die Philosophie sie je zu ihrem Organon machen« kann. 7 Das damit verbundene »Prinzip der Unergründlichkeit oder der offenen Frage« 8 kann, wie O. F. Bollnow gezeigt hat, als »anthropologische Betrachtungsweise« auf jedes Kulturgebiet, z. B. die Pädagogik, angewandt werden. 9 Eine so orientierte »Kulturanthropologie« (nicht zu verwechseln mit der ethnologisch ausgerichteten cultural anthropology!) kommt schließlich zur Anerkennung eines Wechselverhältnisses, das den Menschen nicht nur als Schöpfer, sondern zugleich als Geschöpf der Kultur sichtbar macht. 10 Während es sich bei den geschilderten Ansätzen um eine Erneuerung der alten Frage »Was ist der Mensch?« im Blick auf die von ihm geschaffene Welt handelt, hat die Kulturtheorie A. Gehlens ihre Wurzeln im Mensch-Tier-Vergleich, wie er die Philosophische Anthropologie seit Uexküll und Scheler bestimmte. Die von Scheler postulierte »Weltoffenheit« des Menschen, d. h. die jede artspezifische und individuelle »Umweltgebundenheit« überwindende FähigW. Dilthey, Ges. Schr., Bd. VIII, S. 226. H. Plessner, Ges. Schr., Frankfurt a. M. 1980, Bd. V. S. 42 ff. 7 H. Plessner, a. a. O., S. 142. 8 H. Plessner, a. a. O., S. 175. 9 O. F. Bollnow, Die anthropologische Betrachtungsweise in der Pädagogik. Essen 2 1968. 10 Vgl. M. Landmann, Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur. München/ Basel 1961. 5 6

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Der Anspruch der »Kultur«

keit zur freien Vergegenständlichung von Welt, 11 wurde von Gehlen primär als biologische Instabilität aufgefasst. Gehlen modifiziert damit den von Herder erneuerten Gedanken des »Protagoras« 12, dass der Mensch im Vergleich zu den Tieren in seiner Instinkt- und Organausstattung mangelhaft ausgerüstet ist und der Selbsthilfe bedarf. Herder hatte beide Seiten betont: »Das instinktlose, elende Geschöpf, das so verlassen aus den Händen der Natur kam, war auch vom ersten Augenblick an das freitätige, vernünftige Geschöpf, das sich selbst helfen sollte und nicht anders, als konnte.« 13 So entsteht für Herder die Sprache – aus »dringenden Anlässen« zwar, aber doch als freie Tat eines mit »Besonnenheit« ausgestatteten (und damit doch nur scheinbar als Mängelwesen sich erweisenden) Geschöpfes. Für diese Ursprungssituation der Kultur macht Gehlen sehr viel stärker die biologische Zwangssituation eines »von Natur aus auf Kultur angewiesenen« Lebewesens verantwortlich. »Weltoffenheit« bedeutet für ihn Belastung, Reizüberflutung, d. h. Ausgesetzt-sein in ein Überraschungsfeld nicht artspezifisch gefilterter Reize und Herausforderungen. Die Unspezialisiertheit des Menschen verlangt »Entlastung« durch Handlung im Sinne »produktiver Akte der Bewältigung der Mängelbelastung« 14. Die so ins Lebensdienliche anverwandelte Natur ist die Kultur: »An genau der Stelle, wo beim Tier die ›Umwelt‹ steht, steht daher beim Menschen die Kulturwelt.« 15 Kultur ist »zweite Natur« (ebd.). Im symbolisch vermittelten Umgang mit Welt, in Sprache zumal, und in den Entlastung und Führung gewährenden Institutionen baut sie sich auf. Wenn Gehlen gelegentlich seinen Ansatz auch »kulturanthropologisch« 16 nennt, so bedeutet dies wiederum nicht cultural anthropology, aber auch nicht die von den Kulturleistungen her beantwortete Frage nach den Möglichkeiten des Menschen im Sinne einer offenen Wesensaussage, sondern die »anthropobiologisch« fundierte Bestimmung des Menschen als handelndes Wesen. Der Mensch als das »nicht festgestellte Tier« (Nietzsche) macht sich durch die Kultur zu dem, was er ist. Hier sehen wir nun zum ersten Mal, wie das, was ich das »AnVgl. M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos. Bern/München 1962. Vgl. Platon, Protagoras 320 d ff. 13 J. G. Herder, Sämtl. Werke (ed. B. Suphan), Bd. V, S. 94. 14 A. Gehlen. Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Wiesbaden 12 1978, S. 37. 15 A. Gehlen, a. a. O., S. 38. 16 A. Gehlen, a. a. O., S. 139. 11 12

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Der Anspruch der »Kultur«

spruchspotential« im Kulturbegriff nenne, auch dann noch durchschlagen kann, wenn eigentlich deskriptiv-analytisch von Kultur geredet werden soll. Wenn Gehlen in diesem Zusammenhang feststellt: »Selbstzucht, Erziehung, Züchtung als In-Form-Kommen und InForm-Bleiben gehört zu den Existenzbedingungen eines nicht festgestellten Wesens« und wenn er den Menschen als ein »Wesen der Zucht« bezeichnet, 17 so ist damit die Verzahnung des deskriptiv-anthropologischen mit dem normativen Kulturbegriff gegeben. Dieser enge Zusammenhang ist natürlich nicht zufällig. Das, was den Menschen zum Menschen macht, kann letztlich nie rein deskriptiv behandelt werden. Dennoch besteht ein großer Unterschied zwischen der kulturanthropologischen Aussage: »Der Mensch ist von Natur ein Kulturwesen«, und dem Postulat: »Der Mensch soll nicht nur rohes Naturwesen, sondern soll ein Kulturwesen sein«.

3. Damit kommen wir zu demjenigen Begriff von Kultur, der von allen hier behandelten Kulturbegriffen die längste Geschichte hat. Das Wort »Kultur« ist ja abgeleitet von dem lateinischen Verbum colere, bebauen, pflegen, schmücken etc. Der ursprüngliche Sinn des landwirtschaftlichen Kultivierens und Züchtens hat sich bis heute erhalten und findet sich das ganze 19. Jahrhundert hindurch in deutschsprachigen Lexika als (bisweilen eigentliche) Bedeutung des Wortes verzeichnet. Doch spricht schon Cicero von »cultura animi« 18, ein Topos, der in der Renaissance wieder aufgenommen wird. So gehört zum ursprünglichen Anschauungsschema das »Hegen und Pflegen« im wörtlichen und übertragenen Sinn. Unabhängig davon, ob »Kultur« explizit der »Natur« gegenübergestellt wird oder nicht, ist Kultur ein Korrelatbegriff zu Natur als dem Natürlich-Rohen, Ungeformten, Wilden und Unedlen. Das »Pflegen« setzt dabei das »Hegen« 19 immer voraus, denn nur innerhalb eines geschützten Bezirks kann etwas der Wildform des Lebens entzogen und in die »Zucht« genommen werden. Das Bewusstsein des notwendigen Ausschlusses A. Gehlen, a. a. O., S. 32. Cicero, Tusc. disp. II, 5. 19 Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes »hegen« ist »einzäunen«, »mit einer Hecke umgeben«. 17 18

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des Unkultivierten oder Unkultivierbaren drückt sich sprachlich in vielfältigen Formen polarer Gegensätze aus, in denen das ungezähmt Natürliche (»Ungeziefer«, »Unkraut« etc.) in der negativ-pejorativen Form repräsentiert wird. Die Fortwirkung des ursprünglichen Bedeutungsfeldes von colere zeigt sich vor allem dort, wo in der Renaissance und der beginnenden Aufklärung der Topos der cultura animi neu aufgegriffen wird. Die Übertragung des »Hegens und Pflegens« auf den Menschen selbst wird nun in dem Sinne verabsolutiert, dass »cultura« zum Inbegriff dessen werden kann, was als Resultat des Strebens zu einer höheren Existenzform zu gelten hat. Samuel Pufendorf hat in seiner Schrift »Eris Scandica« (1686) den – nunmehr ohne Genitivattribut gebrauchten – Kulturbegriff als erster dem »status naturalis« gegenübergestellt. 20 Damit waren die Voraussetzungen für den modernen Kulturbegriff geschaffen, und zwar sowohl in seinem normativen Gehalt als auch in seiner Ambivalenz, die darin begründet ist, dass der Gegenbegriff »status naturalis« je nach Perspektive der Betrachtung seinerseits zur Norm erhoben und gegen die Künstlichkeit der vom Menschen geschaffenen Verhältnisse ausgespielt werden kann. Hier ist bekanntlich der Einsatzpunkt Rousseaus und der klassischen, nicht nur auf ihn zurückgehenden Kulturkritik gewesen, die ich hier nicht behandeln möchte. In einem Satz gesagt: das Anspruchspotential des Kulturbegriffs ist hier in der Weise auf den Naturbegriff übergegangen, dass das neu zu Erringende und zu Bewahrende die Natürlichkeit und Unverdorbenheit ist, – also genaugenommen eine Kultur zweiter Potenz. Das Grundschema der Aufklärung jedoch, wie es etwa Kant in seinem Aufsatz »Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte« skizziert hat, ist der Weg »aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit« 21, und der Naturzustand des Menschen ist der des bloßen Instinkts, der Rohigkeit und Einfalt, die es zu kultivieren gilt. »Die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit) ist die Kultur. Also kann nur die Kultur der letzte Zweck sein, den man der Natur in Ansehung der Menschengattung beizulegen Ursache hat.« (Kr. d. Urteilskraft, S. 83)

Vgl. E. Hirsch, Der Kulturbegriff; in: Deutsche Vierteljahreschrift f. Lit. Wiss. u. Geistesgeschichte 3 (1925), S. 399. 21 I. Kant, Akademie-Ausg., Bd. VIII, S. 115. 20

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In ähnlichem Sinn sagt Fichte: »Die Sinnlichkeit soll kultiviert werden: das ist das höchste und letzte, was sich mit ihr vornehmen läßt«. Kultur bedeutet für ihn die Erwerbung einer »Geschicklichkeit in der Durchsetzung der Selbstbestimmung des Menschen gegenüber der eigenen Natur und den Dingen um ihn her« 22. Wir sind hier an einem Punkt der begriffs- und geistesgeschichtlichen Entwicklung, wo der normative Kulturbegriff gleichsam das Maximum seines Anspruchspotentials erreicht hat. Es ist zugleich der Punkt des größten europäischen Gleichklangs in diesem Bereich. Norbert Elias hat mit Recht darauf hingewiesen, dass der deutsche Ausdruck »kultiviert« dem westeuropäischen Zivilisationsbegriff sehr nahe steht, während im Übrigen die Begriffe »Kultur« und »Zivilisation« in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts mit einem vom englischen und französischen Sprachgebrauch abweichenden Bedeutungsgehalt gefüllt werden. Zur Markierung des hier betonten europäischen Gleichklangs kann auch herangezogen werden, was Elias über den Begriff der Zivilisation gesagt hat (und in diesem Stadium der Entwicklung genauso für den deutschen Kulturbegriff gilt): dass er das Selbstbewusstsein des Abendlandes zum Ausdruck bringt: »Er faßt alles zusammen, was die abendländische Gesellschaft der letzten zwei oder drei Jahrhunderte vor früheren oder vor primitiveren zeitgenössischen Gesellschaften voraus zu haben glaubt« (I, 2). Es ließe sich von hier ausgehend ein interessantes Stück europäischer Geistesgeschichte schreiben, das dem Ausdifferenzierungsprozess nachzugehen hätte, dem diese beiden Begriffe »Kultur« und »Zivilisation« unterliegen. Das Kapitel, das Elias im »Prozeß der Zivilisation« diesem Thema widmet, ist zwar materialreich, es fehlt jedoch, von einigen Anspielungen abgesehen, das Hauptstück der deutschen Sonderentwicklung von Wagner über Nietzsche, Chamberlain und Leopold Ziegler zu Spengler und Thomas Mann; jenes nicht eben rühmliche Stück deutscher Kulturideologie, in dem der Gegensatz von Kultur und Zivilisation nicht nur deutsche Innerlichkeit, sondern auch Germanen- und Ariertum verklären half. Auf die Sonderstellung Spenglers werde ich noch zurückkommen. Doch zurück zum Höhepunkt in der Entwicklung des normativen Kulturbegriffs. Er erweist sich, was die deutsche Sonderentwicklung betrifft, zugleich als Scheitelpunkt. Denn während in Formulie22

J. G. Fichte, Sämtl. Werke (ed. I. H. Fichte), Bd. VI, S. 299.

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rungen wie »Hervorbringung« und »Erwerbung« das prozessualfunktionale Element der »Kultivierung« noch dominiert und das Genitivattribut (Natur) im Begriff der Kultur gleichsam noch immer mitschwingt, verselbständigt sich der Begriff in der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert mehr und mehr im Sinne der Bezeichnung für einen Idealzustand sowohl des Individuums als auch ganzer Völker und Gesellschaften. Hierbei spielt das Postulat der Selbstverwirklichung und das stark ästhetisch bestimmte Ideal der Totalität und Einheit aller Lebensformen eine besondere Rolle: »Kultur« wird zum Namen für die Norm des mit sich selbst und seinen Daseinsbedingungen in Einklang stehenden Menschen. Der neuplatonisch beeinflusste Bildungsbegriff der deutschen Klassik wirkt sich hierbei besonders aus. Die ursprüngliche Natur des Menschen soll nicht mehr gezähmt und überwunden, sondern zur Entfaltung der in ihr liegenden Möglichkeiten gebracht werden. Schillers Ideal der Versöhnung von Natur und Vernunft verlangt, dass der Mensch »mit der höchsten Fülle von Dasein die höchste Selbständigkeit und Freiheit verbinde« 23. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird dieser Immanenzgedanke emphatisch ausgesprochen, wenn etwa G. Simmel die Kultur als »Weg der Seele zu sich selbst«, als »Vollendung ihrer Totalität« bezeichnet. Höchstes Ideal einer solchen individuellen Kultur ist die Herstellung einer Einheit, »die in sich geschlossen und deshalb ein selbstgenügsames Ganzes« sein soll, freilich unter Einbeziehung objektiver Gehalte, »an denen das Ich diese Organisation zu einer eigenen einheitlichen Welt vollziehen soll« 24. In ähnlicher Weise hatte Nietzsche als Kriterium für die Kultur eines Volkes die »Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäußerungen« genannt. 25 Nimmt man in diesen Zusammenhang Herders Wort, die Kultur eines Volkes sei »die Blüte seines Daseins« 26, so wird durch die organologische Metapher des pflanzlichen Wachstums die Grenze des normativen Anspruchs deutlich: Kultur als Inbegriff einer alles durchdringenden Einheit und Totalität unterliegt dem Gesetz alles Lebendigen, zu wachsen, zu blühen und abzusterben. Diese Einsicht ist schon in ältesten Zeiten durch Vergleiche nicht nur mit Blühen 23 Fr. Schiller, Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen. Sämtl. Werke (Säkular-Ausgabe) Bd. XII, S. 48. 24 G. Simmel, Philosophische Kultur. Potsdam 1923, S. 236 ff. 25 Fr. Nietzsche, Werke. Krit. Gesamt-Ausgabe (ed. G. Colli u. M. Montinari) 3. Abt., Bd. I. S. 159. 26 J. G. Herder, a. a. O.

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und Welken, sondern vor allem mit den Lebensaltern ausgedrückt worden. Das einlinige Schema der allmählichen Kultivierung, wie es die Aufklärung vertreten hatte, wird jeweils dort durch ein zyklisches Schema verdrängt, wo kulturelle Blüte als ein konkretes, in räumlicher und zeitlicher Begrenztheit erscheinendes, historisches Phänomen in den Blick kommt. Das Studium von Verfallszeiten und die Frage nach dem Lebensgesetz der Völker (Vico, Montesquieu etc.) dürfte der entscheidende Faktor für die Entstehung des historischen Bewusstseins und damit für einen neuen Kulturbegriff gewesen sein. In diesem Zusammenhang wird – freilich erst nach 1800 – das Wort »Kultur« im Plural gebraucht. Dieser höchste Anspruch im Begriff Kultur führt also gleichsam zu einem dialektischen Umschlag ins Deskriptive. Je höher der Wert einer kulturellen Blütezeit veranschlagt wird, desto größer wird die Einsicht in ihre Singularität und Fragilität und desto selbstverständlicher regt sich das Interesse an vergleichbaren Phänomenen. Dieser Umschlag des Interesses hat sich, historisch gesehen, vollzogen in der Wende von der Aufklärung zur Romantik und zum Historismus. Er hat sich aber auch dort vollzogen, wo die selbstbewussten westeuropäischen Nationalstaaten als Kolonialmächte mit anderen »Civilisations« zusammenstießen.

4. Dies führt uns zu jenem deskriptiv-morphologischen Kulturbegriff, mit dem wir heute ebenso selbstverständlich operieren wie mit dem eingangs charakterisierten Wort für die Kultur als Teilsystem unserer Gesellschaft. Es geht nun nicht mehr um die Kultur, sondern um eine Kultur. Auf die innere Logik jeder organologischen Metaphorik ist schon hingewiesen worden, der zufolge die »Blüte« im Dasein eines Volkes einen Höhepunkt seiner Entwicklung darstellt, dem Niedergang und Verfall folgen müssen. Eine wissenschaftliche Bearbeitung dieses Problems versuchte als erster Giambattista Vico, der in seiner »Scienza Nuova« (1725), von der »gemeinschaftlichen Natur der Völker« ausgehend, das allgemeine Gesetz ihres Lebensrhythmus zu finden suchte und dabei mit der Analogie der menschlichen Altersstufen operierte. Ein solcher geschichtsphilosophischer Ansatz setzt die Einheit und Individualität der Träger der organologisch gedachten Ent213 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

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wicklung voraus, also der »Völker« oder »Nationen«. Hier vollzog sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ein begrifflicher Wandel, indem der Begriff »Kultur« an die Stelle von »Volk« oder »Nation« treten und dementsprechend eine Mehrheit von »Kulturen« bezeichnen konnte. Mit dieser begriffsgeschichtlich bedeutsamen Neuerung ist der normative Anspruch in der Rede von »der« Kultur, verstanden als Resultat bzw. Ziel des Fortschritts der Menschheit, teilweise aufgegeben zugunsten der deskriptiven Erfassung des Gestalthaft-Individuellen einzelner Kulturen und ihrer Schicksale. Die Kulturen werden zu Quasi-Subjekten der Geschichte und relativieren in ihrer Pluralität den Sinn jedes einlinig gedachten geschichtlichen Prozesses. Konsequenzen aus dieser bis in die vor-antike Mythologie zurückreichenden, zyklischen Geschichtsauffassung wurden in der von Herder beeinflussten »Kulturkreis« – bzw. »Kulturzyklentheorie« gesogen, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland (Ernst von Lasaulx) und Russland (Nikolaj Danilewskij) hervortrat und in den Kulturtheorien von Leo Frobenius, Oswald Spengler und Arnold Toynbee kulminierte. Während Toynbee jedoch jeden biologistischen Determinismus ablehnte und im Leben der einzelnen Kulturen das offene System des Wechsels von »Challenge and Response« betonte, haben Frobenius und Spengler eine extreme geschichtsmetaphysische Ausdeutung des organologischen Wachstums- und Verfallsschemas aufgenommen und im Lebenszyklus der Kulturen die Unentrinnbarkeit des Absterbens (»Untergang des Abendlandes«) betont. Für Spengler waren Begriffe wie Jugend, Aufstieg, Blütezeit, Verfall nicht Ausdrücke subjektiver Wertschätzungen, sondern »objektive Bezeichnungen organischer Zustände«. Er sah in der Geschichte »das Schauspiel einer Vielzahl mächtiger Kulturen, die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoße einer mütterlichen Landschaft, an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist, aufblühen, […] von denen jede ihre eigene Idee, ihre eigenen Leidenschaften, ihr eigenes Leben, Wollen, Fühlen, ihren eigenen Tod hat« 27.

Für eine vergleichende Kulturmorphologie dieser Art ergeben sich »Gleichzeitigkeiten« zwischen den einzelnen Kulturen im Sinne von Entsprechungen der Stufen ihrer Entwicklung. Die durchgängigste dieser Entsprechungen ist der jeder Kultur naturgesetzlich vorbe-

O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. München 1923, Bd. I. S. 27 f.

27

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stimmte Eintritt in das »Greisenalter« im Sinne des Absterbens der kreativen Möglichkeiten, also der Eintritt in die Phase der Zivilisation. »Kultur« und »Zivilisation« sind »als Ausdrücke für ein strenges und notwendiges organisches Nacheinander gefaßt. Die Zivilisation ist das unausweichliche Schicksal einer Kultur.« 28 Man darf allerdings Spenglers scheinbar nüchterne Gleichbewertung von »Kultur« und »Zivilisation« in ihrem organischen Nacheinander nicht zu wörtlich nehmen. Das Anspruchspotential des Kulturbegriffes, hier verbunden mit der Norm des »Organischen«, wird nur überspielt, wenn Spengler in einem gleichsam trotzigen Pathos die Spätzeiten aller Kulturen charakterisiert: »Statt einer Welt eine Stadt, ein Punkt, in dem sich das ganze Leben weiter Länder sammelt, während der Rest verdorrt; statt eines formvollen, mit der Erde verwachsenen Volkes ein neuer Nomade, ein Parasit, der Großstadtbewohner, der reine, traditionslose, in formlos fluktuierender Masse auftretende Tatsachenmensch, irreligiös, intelligent, unfruchtbar, mit einer tiefen Abneigung gegen das Bauerntum (und dessen höchste Form, den Landadel), also ein ungeheurer Schritt zum Anorganischen, zum Ende.«

5. Unabhängig von den extremen Positionen einer solchermaßen organizistisch orientierten Kulturmorphologie ist der historisch-morphologische Kulturbegriff leitend für jede Beschäftigung mit Kultur, sofern unter Kultur in einem allgemeinen Sinn »die Gesamtheit der typischen Lebensformen einer Bevölkerung, einschließlich der sie tragenden Geistesverfassung, insbesondere der Wert-Einstellungen« verstanden wird. 29 Zu den »typischen Lebensformen« werden ausdrücklich gezählt »auch die technischen Grundlagen des Daseins samt ihren materiellen Substraten (Kleidung, Obdach, Werkzeuge und Geräte usw.) und dem gestalteten Naturraum als ›Kulturlandschaft‹. Während sich in der Kulturmorphologie Spenglers der normative Kulturbegriff noch in der Weise erhalten hatte, dass unter »Kultur« nicht nur das morphologisch abgrenzbare, quasi-organische Gebilde in seiner geschichtlich-physiognomischen Individualität, sondern O. Spengler, a. a. O., S. 41. W. E. Mühlmann, Artikel »Kultur«; in: Wörterbuch der Soziologie, hrsg. v. W. Bernsdorf. Stuttgart 1969, S. 598–602.

28 29

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auch und gerade das jeweilige Stadium höchster Kreativität zu verstehen war, wird in der gegenwärtigen Erforschung einzelner Kulturen auf Wertungen dieser Art durchweg verzichtet. Der Kulturbegriff ist damit in einem doppelten Sinn rein deskriptiv geworden: Er bezeichnet sowohl die Gesamtheit aller Lebensformen, d. h. »alles, was es an menschlich Erschaffenem auf der Erde gibt« (Mühlmann) als auch die jeweilige Bündelung der für eine Bevölkerung typischen Lebensformen. Dies bedeutet ferner, dass für die Erforschung einzelner Kulturen weder sog. Hochkulturen noch europäische oder andere ethnozentrische Normen einen Bewertungsmaßstab abgeben müssten. Das einzige normative Element in diesem Kulturbegriff liegt darin, dass für die Abgrenzung einer einzelnen Kultur eine gewisse morphologische Kohärenz der Objektivationen vorausgesetzt werden muss, d. h. eine Art von »Kulturstil«, der jedoch nicht unter der von Nietzsche gesetzten, hohen Norm der »Einheit des künstlerischen Stils« steht. Diese deskriptive Neutralität in der Charakterisierung einer Kultur von außen gilt jedoch nicht für das Selbstverständnis der Betroffenen. Wir finden, im Gegenteil, gerade dort die größte Parteilichkeit und das leidenschaftlichste Engagement, wo es den Menschen nicht mehr, wie den Aufklärern im 18. Jahrhundert, um »die« Kultur als Sache einer kosmopolitisch verstandenen Menschheit geht, sondern um »unsere« Kultur, »unsere« Gemeinschaft. Wir haben es hier also mit einer Art von doppeltem dialektischen Umschlag in der Auffassung von Kultur zu tun: nachdem die normative Auffassung von Kultur als Menschheitsaufgabe sich in die deskriptiv-morphologische Auffassung einer Pluralität von »Kulturen« verwandeln konnte, ist zugleich das Stichwort gegeben für die emotionale, zu neuer Normativität hindrängenden Auffassung der jeweils einzelnen Kultur im Wir-Gefühl der »Kultur-Gemeinschaften«. Die Betonung des Eigenwerts nationaler Besonderheit, wie ihn schon Herder geschichtsphilosophisch zu begründen versucht hat und damit dem erwachenden Nationalbewusstsein vor allem der slawischen Völker wichtige Impulse gab, ist also gleichsam nur die andere Seite des sozusagen ästhetisch-interesselosen Wohlgefallens an der Mannigfaltigkeit einzelner Kulturen in ihrer Lebendigkeit und in sich ruhenden Kraft. Hier liegt denn auch der eigentlich aktuelle Bezug zum Problem der Mehrseitigkeit des Kulturbegriffs. Wir erleben heute eine neue Phase der Besinnung der Völker auf die Eigenständigkeit ihrer Traditionen und Werte und des Anspruchs auf Anerkennung nicht nur 216 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Der Anspruch der »Kultur«

ihrer politischen, sondern vor allem auch ihrer kulturellen Autonomie. Ein neues Zeitalter scheint angebrochen zu sein, ein Zeitalter der Selbstverwirklichung einer Vielzahl von einzelnen Kulturgemeinschaften auf der Suche nach ihrer wahren Identität. Mit den begrifflichen Mitteln dieser Untersuchungen gesagt: Der normativ-kosmopolitische Kulturbegriff der Aufklärung, wie er in Gestalt des Vernunft-Ideals der Moderne auch in unserem Jahrhundert neu artikuliert wurde, sieht sich heute nicht nur konfrontiert mit dem vielbeschworenen Evangelium postmoderner Beliebigkeit, sondern ist gleichzeitig bedroht durch den atemberaubenden Elan der neuen ethnischen, religiösen und kulturellen Selbstfindungen. Dies ist nicht nur eine Frage der Politik nach dem Ende des kalten Krieges, sondern es ist ein sehr viel tiefer reichendes Problem: das Problem eines neu aufbrechenden Gegensatzes zwischen Aufklärung und Romantik; zwischen Modernismus und Fundamentalismus; zwischen dem Glauben an den einlinigen Fortschritt und an die zyklische Struktur der Geschichte. Es ist das Problem, ob es der Menschheit gelingen wird, zwei Formen der Freiheit dauerhaft zu erringen und miteinander zu versöhnen: die Freiheit zur Toleranz und die Freiheit zur Bindung an das Erbe gemeinsamer Überlieferung.

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Conditio Humana Zu der gleichnamigen Schrift von Helmuth Plessner und zur Neuauflage seines Buches Die Stufen des Organischen und der Mensch

Als Einleitung zur Propyläen-Weltgeschichte wurde Helmuth Plessners kleine Schrift »Conditio Humana« 1961 erstmals veröffentlicht. 1 Sie liegt jetzt auch als Nr. 14 der Reihe »Opuscula aus Wissenschaft und Dichtung« des Verlags Günther Neske, Pfullingen, vor. Zusammen mit Plessners Beiträgen zu den Festschriften für Theodor Litt (1960) und Theodor W. Adorno (1963) 2 und einigen kleineren Veröffentlichungen 3 gibt sie die neudurchdachte, methodisch stärker abgesicherte und begrifflich schärfer gefasste Grundposition einer philosophischen Anthropologie wieder, wie sie seit dem Ende der zwanziger Jahre in immer neuen Ansätzen entwickelt worden ist. Zweifellos handelt es sich hier um den Versuch, eine Quintessenz zu geben, Resümee und Revision in einem, zugleich auch Rückblick auf das Schicksal einer Konzeption, die vor nunmehr vierzig Jahren Gestalt anzunehmen begann. Dieser Eindruck verstärkt sich noch bei der Lektüre von Vorwort und Nachtrag zur 2. Auflage der »Stufen« 4. Die philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts, die als neue philosophische Strömung durch Schelers bekannten Vortrag »Die Stellung des Menschen im Kosmos« förmlich inauguriert wurde und deren Anfänge mit dem Erscheinungsjahr (1928) des Scheler1 Propyläen-Weltgeschichte, Hrsg. von Golo Mann und Alfred Heuß. Bd. 1: Vorgeschichte. Frühe Hochkulturen. Berlin 1961, S. 33 ff. 2 Soziale Rolle und menschliche Natur; in: Erkenntnis und Verantwortung, Festschrift für Theodor Litt, hrsg. von J. Derbolav und Fr. Nicolin, Düsseldorf 1960, S. 105 ff. – Immer noch Philosophische Anthropologie?, in: Zeugnisse, Festschrift für Theodor W. Adorno, Frankfurt a. M., 1963, S. 65 ff. (Im Folgenden zitiert als: »Zeugnisse«.) 3 Zu nennen wären vor allem: Über einige Motive der philosophischen Anthropologie, in: Studium Generale, Bd. 9, 1956, H. 8, und: Artikel »Philosophische Anthropologie«; in: RGG, Bd. 1, 3. Aufl., Tübingen 1957. 4 Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Zweite, um Vorwort, Nachtrag und Register erweiterte Auflage. Berlin 1965 (hier zitiert als »St«).

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schen Vortrags leicht fixierbar sind, hat immer darunter gelitten, einerseits von Anfang an im Schatten der Diskussion um »Sein und Zeit« (1927) gestanden und andererseits nur noch fünf Jahre echter Diskussionsmöglichkeit in ihrem Ursprungsland zur Verfügung gehabt zu haben. So ist auch Plessners erster großer Versuch einer Einleitung in die philosophische Anthropologie, das gleichfalls 1928 erschienene Buch »Die Stufen des Organischen und der Mensch« in Deutschland nie in dem Maße diskutiert worden, wie es der Sache wohl angemessen gewesen wäre. Auch die Wirkung seiner späteren Werke ist dadurch beeinträchtigt worden, dass sie entweder, wie »Macht und menschliche Natur« 5, zu unmittelbar vor 1933 erschienen sind, oder, wie »Lachen und Weinen« 6, während des Krieges im Exil publiziert und erst nach 1945 in Deutschland aufgenommen werden konnten. Hinzu kommt bei Plessners ganzem Werk die besondere Schwierigkeit, auf eigentümliche Weise eingekeilt zu sein zwischen der nach 1945 zu neuer Aktualität gekommenen Existenzialanalyse und dem in der Zwischenzeit entstandenen Werk von Arnold Gehlen. 7 Während in der Fragestellung Heideggers das Problem der Naturseite menschlichen Daseins überspielt wurde, gewann andererseits in der Anthropologie Gehlens der biologische Aspekt ein Übergewicht, wodurch Plessners eigentliches Anliegen, Person und Natur in ihrer unauflöslichen Verschränkung zu fassen, eher verdunkelt als bestätigt wurde. So trat nun neben die bekannte Ablehnung der philosophischen Anthropologie durch Heidegger der Vorwurf von Seiten der »Anthropo-Biologie«, dass auch Plessners Lehre vom Menschen, das heißt die philosophische Begründung von der These der Exzentrizität des Menschen, letztlich Metaphysik im Stile von Scheler und Klages sei und als »Groß-Information« eine im Wesentlichen doch nur »dichterische Evidenz« habe. 8 Es kann in den folgenden Betrachtungen weder auf den einen Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht; in: Zwischen Philosophie und Gesellschaft. Ausgewählte Abhandlungen und Vorträge. Bern 1953. (Hier zitiert als »PhG«). 6 Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens. (1. Aufl. 1941). München 1950. (Hier zitiert als »LW«). 7 Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. 1. Aufl. Berlin 1940. – Ders.: Zur Systematik der Anthropologie; zuerst erschienen in: Systematische Philosophie, hrsg. von Nicolai Hartmann, Berlin 1942. 8 Vgl. Arnold Gehlen, Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen. Rde Nr. 138, Reinbek b. Hamburg 1961, S. 141. 5

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noch auf den andern Einwand eingegangen werden. Wichtig ist jedoch, diese Zwischenstellung Plessners immer im Auge zu haben, wenn man versucht, die Vielschichtigkeit seines Werkes richtig zu verstehen. Allzu leicht könnte man sonst geneigt sein, die Schwankungen in der Akzentsetzung zu sehr überzubewerten. Das herausgehobene Thema, die von den beiden genannten Seiten als entweder zu viel oder zu wenig berücksichtigt gesehene »Naturseite« des Menschen, ist fraglos der Angelpunkt für alles, was Plessner während der letzten vierzig Jahre – nach der einen oder der anderen Seite hin vorstoßend – vorgebracht hat. Hierbei ergab sich aus der jeweils notwendigen Abgrenzung von selbst die Akzentverteilung. Konnte er in den »Stufen« noch allgemein von einer »philosophischen Biologie und Anthropologie« sprechen, so war schon in dem großen Essay von 1931 eine starke Differenzierung notwendig geworden. Auf der einen Seite wurde – zwei Jahre vor Hitlers Machtübernahme – gegen die Kurzschlüssigkeit einer naturalistischen Fassung der Anthropologie, das heißt einer »Nutzanwendung ausschließlich biologischer Erkenntnisse auf das politische Leben der Völker« 9, Sturm gelaufen; auf der anderen Seite aber hieß es doch unmissverständlich: »Jede Lehre, die das erforschen will, was den Menschen zum Menschen macht, sei sie ontologisch oder hermeneutisch-logisch, und die methodisch oder im Ergebnis an der Naturseite menschlicher Existenz vorbeisieht oder sie unter Zubilligung ihrer Auch-Wichtigkeit als das Nicht-Eigentliche bagatellisiert, für die Philosophie oder für das Leben als das mindestens Sekundäre behandelt, ist falsch, weil im Fundament zu schwach, in der Anlage zu einseitig, in der Konzeption von religiösen oder metaphysischen Vorurteilen beherrscht.« 10

Gefordert wurde demgegenüber die Anerkennung der Offenheit der Tatsache, ebenso eigentlich Körper zu sein als es eigentlich nicht zu sein. »In dieser Offenheit hat ihn [den Menschen, Verf.] die Wissenschaft, die Philosophie zu erfassen, keiner ›Seite‹, keinem Gliede dieser Unverbindung den Vorrang zu geben, bei keinem monistischen oder pluralistischen Kompositionsmodell sich zu beruhigen.« 11 In den späteren Schriften tritt naturgemäß die Abwehr der »geschickt gewählten Perspektive der Existenzialanalyse« 12, welche die NaturPhG 246. PhG 312. 11 PhG 313. 12 LW 42. 9

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seite im Dunkeln lasse, stärker in den Vordergrund. So heißt es besonders ausdrücklich in dem Beitrag zur Adorno-Festschrift: »Was dem Existenzbegriff aber fehlt, und worauf er keine Rücksicht nimmt, ist die unübersehbare Verklammerung der menschlichen Art zu sein mit dem menschlichen Organismus.« 13 Oder in der jüngsten Schrift: »Mit einer puren, um nicht zu sagen: purifizierten Existenz […] ist hier nichts gewonnen.« 14 (158) Doch wäre es falsch, von hier aus eine Schwenkung ins Lager der biologisch-empirischen Anthropologie zu vermuten. Noch immer geht es um das schon in den »Stufen« klar ausgesprochene Programm, »den Menschen als Menschen und doch als Naturwesen in Einer Perspektive zu sehen« 15. Allerdings ist deutlich zu spüren, dass seit dem Erscheinen jenes Buches die fortschreitende Differenzierung biologisch-anthropologischer Bestimmungen von den verschiedensten Seiten her auf Plessner zurückgewirkt hat. Man könnte vielleicht sagen, dass der empirische Unterbau, den Plessner zwar wohl nie aus den Augen verloren, aber doch um des Ganzen einer von jeder puren Anthropo-Biologie wegtragenden Konzeption willen gleichsam erst einmal zurückgestellt hatte, inzwischen von anderer Seite mit solcher Gründlichkeit bearbeitet worden ist, dass es nun an der Zeit schien, die Geschlossenheit der Einen Perspektive durch diesen Nachtrag zu befestigen. Wenn wir nun in der uns neu vorliegenden Schrift als eigentliche Aufgabe bezeichnet finden, an die Quelle der Möglichkeiten des Menschen heranzuführen, das heißt »sie an die vitalen Bindungen zu knüpfen, denen der Mensch von Natur unterworfen ist« (217), oder wenn es in anderem Zusammenhang heißt: »Hermeneutik fordert eine Lehre vom Menschen mit Haut und Haaren, eine Theorie seiner Natur, deren Konstanten allerdings keinen Ewigkeitsanspruch gegenüber der geschichtlichen Variabilität erheben, sondern sich selber zu ihr offenhalten, indem sie ihre Offenheit selber gewährleisten« (158), so ist damit zwar deutlich eine weitere Akzentverschiebung, aber keine Richtungsänderung zu registrieren. Letztlich im Hintergrund steht nach wie vor das Problem von der »Rückwand der Kulissen«, von der Dilthey einst sagte, daß sie für die Bühne des Lebens einerlei sei. Georg Misch hatte seinerzeit in dem Aufsatz Zeugnisse 72. Abweichend von der Erstfassung dieses Textes wird bei den Zitatnachweisen nach Bd. 8 von Plessners Gesammelten Schriften (Frankfurt a. M. 1983) zitiert. (2015) 15 St 315. 13 14

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»Die Idee der Lebensphilosophie in der Theorie der Geisteswissenschaften« 16 diese Formulierung Diltheys zitiert als ein Beispiel dafür, dass Dilthey zwar an dem phänomenalistischen Grundsatz der naturwissenschaftlich orientierten Erkenntnistheorie seiner Zeit nicht rütteln wollte, andererseits dem Entwicklungsgang doch kein schroffes Ignorabimus entgegengeworfen habe. Und wenn auch das »Dahinter«, also die Natur, mit diesem »Einerlei« offengelassen worden sei, so sei doch immerhin für Dilthey jene Bühne des Lebens »aufgebaut auf etwas, was von der Natur her sich hineinerstreckt in das Leben und in sie zurückdeutet vom Leben aus« 17. Mit dieser Interpretation verband Misch die Forderung, den Gegensatz von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft »produktiv, das heißt intuitiv zu überwinden« 18. Bekanntlich hat dieser Aufsatz von Misch stärkstens auf Plessner gewirkt. Er dürfte in erheblichem Maße mitverantwortlich sein für die Grundkonzeption der Einen Perspektive. Und so ist auch das eigentliche Problem der »Conditio Humana« von hier aus gestellt: »Natur ist also nicht der bloße Rahmen, das Bühnenhaus und die Rückwand der Kulissen, sondern zugleich eine szenische Macht. Das heißt aber, daß mit einer Grundlegung der geisteswissenschaftlichen Erfahrung die Aufrollung von Problemen verbunden ist, die vor der leibhaften Sphäre des Lebens nicht haltmachen können.« 19 (158)

Es ist vor diesem Hintergrund nun zunächst von Interesse, zu sehen, wie das Kernstück der Anthropologie Plessners, also die Lehre von der Exzentrizität des Menschen, in den – man möchte sagen: empirisch verengerten Rahmen eingepasst ist. Dieser Gedanke der Exzentrizität ist zuerst ausführlich dargestellt worden im letzten Teil des Buches »Die Stufen des Organischen und der Mensch«. Plessner hat bekanntlich in diesem Buch, das ursprünglich unter dem Titel »Elemente einer Kosmologie der lebendigen Form« angekündigt war, den Versuch gemacht, die Korrelationsgesetze von Leibform und Umweltform auf der pflanzlichen, tierischen und menschlichen Stufe Kant-Studien 31, 1926, S. 536 ff. Wieder abgedruckt in: Vom Lebens- und Gedankenkreis Wilhelm Diltheys. Frankfurt a. M. 1947. Wir zitieren nach der letzteren Ausgabe. 17 Misch, a. a. O., S. 50. 18 Misch, a. a. O., S. 51. 19 Ähnlich in den »Stufen« (S. 24): »Infolgedessen erzwingt der Gedanke einer Grundlegung der geisteswissenschaftlichen Erfahrung die Aufrollung von Problemen, die in die sinnlichstoffliche, körperliche Sphäre des ›Lebens‹ hineinreichen …« 16

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vergleichend darzustellen, wobei es um die jeweils typische »Positionalität«, d. h. das je eigentümliche Darinnenstehen des Lebewesens in seiner ihm zugeordneten Welt ging. Dieses naturphilosophische Programm sollte allerdings nur Teil eines größeren Ganzen sein, in dem eine Grundlegung der Geisteswissenschaften durch Hermeneutik, Konstituierung der Hermeneutik als philosophische Anthropologie und Durchführung der Anthropologie auf Grund eben dieser »Philosophie des lebendigen Daseins und seiner natürlichen Horizonte« 20 geleistet werden sollte. Innerhalb dieser bewusst auf einen empirischen Unterbau verzichtenden philosophischen Biologie wurde als spezifisch menschliche Positionsform herausgearbeitet, nicht wie das Tier aus seiner positionalen Mitte heraus zu leben, sondern in die Mitte seiner Position gestellt zu sein. Dieses Gestelltsein bedeutet für die Natur des Menschen: Er geht nicht reflexionslos auf in seiner Welt, sondern hält Abstand, er ist gleichsam »hinter sich« gekommen, er steht »über« seiner Mitte, oder besser: über seine Mitte hinaus. In dieser Distanz zu sich selbst liegt der Verlust des reflexionslosen, tierischen Gleichgewichts. Die exzentrische Position bedeutet eine konstitutive Gleichgewichtslosigkeit. »Als exzentrisch organisiertes Wesen muß er sich zu dem, was er schon ist, erst machen. Nur so erfüllt er die ihm mit seiner vitalen Daseinsform aufgezwungene Weise, im Zentrum seiner Positionalität – nicht einfach aufzugehen […], sondern zu stehen und so von seiner Gestelltheit zugleich zu wissen.« 21

In diesem frühen Entwurf unterblieb nun allerdings, wie schon angedeutet, eine konkretere Bestimmung dieser »vitalen Daseinsform«. Die Darstellung beschränkte sich in dieser Hinsicht auf die Herausarbeitung des Doppelaspekts Leib-Körper, das heißt die »doppelsinnige Position des Menschen als Leib in seinem Körper« 22, wie sie dann später in ihrer grundlegenden Bedeutung für die Phänomene Lachen und Weinen im Einzelnen untersucht worden ist. Hier ist nun in der »Conditio Humana« vieles nachgeholt, wenn nicht neu bestimmt worden. Die beiden auf das historisch-methodologische Einleitungskapitel folgenden Hauptabschnitte haben zum Thema den »Menschlichen Bauplan« und »Elemente menschlichen Verhaltens«. Die für den gesamten Hauptteil der Schrift gültige Frage heißt also: 20 21 22

St 30. St 309. LW 41.

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»Um die Stellung des Menschen in der Welt in ihrer ganzen Dimensionenfülle, die vormenschliche Grundstruktur des Menschen in ihm, die konstante conditio humana oder, wie die Alten sagten, die natura hominis zu fassen, bietet sich zunächst sein Bauplan an. Wie weit in ihm Verhalten und Umweltstruktur mit eingeschlossen sind, muß die Analyse lehren.« (164)

Schon in dieser Fragestellung ist eine Korrektur des naturphilosophischen Ansatzes der »Stufen« enthalten, wo noch ausdrücklich die Bindung des Menschseins an eine bestimmte Gestalt abgelehnt worden war (es könnte »unter mancherlei Gestalt stattfinden, die mit der uns bekannten nicht übereinstimmt« 23) und der Strukturzusammenhang der Exzentrizität vielmehr ganz aus der philosophischen Bestimmung der Positionalität abgeleitet worden war. Diese Korrektur – so muss jedoch gleich hinzugefügt werden – betrifft nur den methodischen Ansatz, also das Gewicht des empirischen Befundes. Denn gerade in der Konzentration auf den menschlichen Bauplan wird nun jenes anthropologische Grundgesetz in voller Konkretion veranschaulicht, das schon in dem frühen Entwurf Teilbestimmung der exzentrischen Positionsform gewesen war: das Gesetz von der vermittelten Unmittelbarkeit des Menschen. Gemäß der veränderten Bedeutung der empirischen Tatsachen geht diesmal allerdings die Untersuchung in ganz anderer Richtung. Plessner setzt ein bei dem Strukturzusammenhang der Vertikalität als dem Inbegriff des menschlichen Bauplans. Aufrechte Haltung, die Dominanz des Auge-Hand-Feldes, dessen Überhöhung durch die Sprache, Sinn für Reziprozität der Perspektiven im Verhältnis von meinem leibhaften Dasein zum Dasein des andern, – das sind, stichwortartig zusammengefasst, die Elemente. Die vermittelte Unmittelbarkeit, wiederzufinden als »fundamentale Struktur in jeder spezifisch menschlichen Situation und in jedem menschlichen Monopol« (171), ergibt sich schon auf der Ebene des Zusammenspiels von Auge und Hand, wo der unmittelbaren Vergegenwärtigung im Sehen die Stütze und Kontrolle der greifenden Hand so zugeordnet ist, dass in diesem »Zusammenwirken von Präsenz und Aktion« dem Menschen der Sinn für die Instrumentalität des eigenen Körpers nahegelegt ist. In der gleichen Richtung gehend, vielleicht noch sinnfälliger: die durch die Labilität der aufrechten Haltung verlangte Kontrolle des eigenen Körpers »begünstigt die Entdeckung seiner Emanzipation von ihm wie von dessen unmittelbarer Umgebung« (176). Die ganze 23

St 293.

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Darstellung zielt also darauf ab, das Prinzip der Vertikalität strukturell in Zusammenhang zu bringen mit dem Vermögen des Menschen, »von sich abzusehen und sich in ein anderes versetzen zu können« (176). Das kann an Hand der Sprache am deutlichsten gemacht werden. In ihr erfolgt eine Steigerung der schon im Auge-Hand-Feld erschlossenen Möglichkeit der Vergegenständlichung, die den eigenen Körper einschließt, indem jetzt auch der selbsterzeugte Laut in seiner instrumentalen Funktion erfasst und in seiner Rückkehr zum Sprechenden verdinglicht wird. Zugleich eröffnet sich damit die Dimension des »Dort«, denn der Sprechende, angewiesen auf die strukturelle Bedingung des Füreinander, empfindet sich in dem auf ihn zurückkommenden Laut als austauschbar mit dem andern. In dieser Reziprozität von Hier und Dort steigert sich die Verdinglichung des eigenen Leibes, die übrigens nach Plessner schon in der Tatsache des sogenannten »extrauterinen Frühjahrs« als Chance des Menschen, »sich in und mit seinem Körper zugleich zurechtzufinden« (191), angelegt ist. Wir können diese Gedankengänge hier nicht im Einzelnen weiterverfolgen, zumal, da die bis zur Unverständlichkeit verkürzende Nachzeichnung eines ohnehin schon stark konzentrierten Textes kaum sinnvoll sein könnte. Wichtig ist, zu sehen, wie die hier aus der Analyse des menschlichen Bauplans abgeleitete Theorie der Distanz des Menschen zu sich selbst als wichtigstes Element den Gedanken vom Doppelgängertum des Menschen vorbereitet und damit den Menschen in einer weitergehenden Bestimmung zu dem Wesen macht, das sich nur im Umweg über andere und anderes als ein Jemand hat. Auf die Nahtstelle von philosophischer Anthropologie und Soziologie, die hier vorliegt, soll hier aber nicht näher eingegangen werden. Die wenigen Seiten der kleinen Schrift, über die hier zu berichten wäre, bringen eigentlich nur eine Kurzfassung von Plessners schon erwähntem Beitrag »Soziale Rolle und menschliche Natur« zur Festschrift für Theodor Litt, ein Beitrag, der nicht zuletzt innerhalb der Diskussion um R. Dahrendorfs »Homo Sociologicus« seine Wirkung gehabt hat. 24 Wie sehr die Loslösung einer einzelnen These Vgl. hierzu: R. Dahrendorf, Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle. 1. Aufl. Köln 1959. – Ders.: Beitrag »Soziologie«; in: Wege zur pädagogischen Anthropologie, hrsg. von A. Filtner, Heidelberg 1963.

24

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– in diesem Fall die These vom Menschen als Rollenspieler – aus dem größeren Zusammenhang, dem sie entwachsen ist, den Kern der Sache verdunkeln kann, ist gerade in jener Diskussion deutlich geworden. Plessners Bemühung nämlich um eine Differenzierung des Rollenbegriffs geriet in den Hintergrund zugunsten der Frage, ob eine privative »Anthropologie des Protests gegen die gesellschaftliche Entfremdung« den Vorwurf Plessners ernst zu nehmen habe, im Sinne des deutschen Innerlichkeitskultes einseitig für die private und gegen die öffentliche Existenz des Rollenspielers zu optieren. Damit blieb die geforderte Differenzierung, in der mit Hilfe der anthropologischen Struktur der elementaren Rollenhaftigkeit das Auseinanderklaffen der beiden Seiten von vornherein aufgehoben werden sollte, unerörtert. Sie ist auch tatsächlich nur vor dem Hintergrund des Ganzen der Anthropologie Plessners verständlich, und es ist deshalb als das Hauptverdienst der Schrift »Conditio Humana« zu verzeichnen, den soziologischen Ansatz präzise mit dem Ganzen der Lehre von der Exzentrizität in Zusammenhang gebracht zu haben. Dies geschieht unter dem Stichwort »Personalität« als dem »formalen Grundzug unserer leibhaften Existenz, welche zwischen körperlichem Sein und dem Zwang, dieses körperliche Sein zu beherrschen, das heißt es zu haben, einen Ausgleich finden muß«. (196) Kehren wir zurück zur Frage nach der Einen Perspektive. Die in den »Stufen« erstmals formulierten anthropologischen Grundgesetze der »natürlichen Künstlichkeit« und der »vermittelten Unmittelbarkeit«, dort Resultate einer naturphilosophischen Bestimmung der Positionalität des Menschen im Unterschied zu Tier und Pflanze, werden auch in der neuen Schrift in direkte Verbindung gebracht mit zentralen Fragen nach dem Menschen als Kulturwesen. Da sie gegenüber ihrer ersten Ausarbeitung in den »Stufen« sehr viel stärker auf die Analyse des menschlichen Bauplans (Vertikalität) bezogen sind, wird damit zugleich eine stärkere Verankerung der Kultur in den vitalen Bedingungen vorgenommen. Dies kann am Beispiel eines Gedankens besonders deutlich gemacht werden, der schon in »Macht und menschliche Natur« ausführlich entwickelt worden war und den wir jetzt im Anschluss an die jüngste Schrift mit dem Stichwort »künstliche Horizontverengung« bezeichnen können. Es geht hierbei um die bereits klassisch gewordene Frage innerhalb der modernen Anthropologie, wie weit der Begriff »Umwelt« auch auf den Menschen anwendbar sei und in welchem Maße gegenüber der (tierischen) Umweltgebundenheit die »Weltoffenheit« des 226 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

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Menschen zu betonen sei. Scheler hatte noch einseitig formuliert: »Der Mensch ist das X, das sich in unbegrenztem Maße ›weltoffen‹ verhalten kann. Menschwerdung ist Erhebung zur Weltoffenheit kraft des Geistes.« 25 Das war der dem Schichtenmodell der Schelerschen Anthropologie entsprechende Gedanke vom Geist in seiner existentiellen Entbundenheit vom Organischen, in seiner radikalen Entgegensetzung gegen das »Leben«. Dass Plessner gerade in diesem Punkt Scheler nicht folgen konnte, ergibt sich aus dem bisher Gesagten von selbst. (Umso erstaunlicher das jetzt auch im Vorwort zur 2. Auflage der »Stufen« nicht ohne Ironie erwähnte »akademische Ballgeflüster«, nach dem die »Stufen« als das Vermächtnis Schelers anzusehen wären, also die erklärte »Biophilosophie« als Ausführung der Schelerschen Konzeption vom Dualismus Geist-Leben!) Das Eigenständige der Philosophie Plessners lässt sich nirgends deutlicher zeigen als durch die Tatsache, dass das Prinzip der »Weltoffenheit« (im Sinne der radikalen Geistmetaphysik Schelers) durch das Prinzip der Exzentrizität vorweggenommen und zugleich aufgehoben war, bevor es zu einer Auseinandersetzung mit der im Erscheinungsjahr der »Stufen« veröffentlichten Geistlehre Schelers kommen konnte. Denn im Begriff der exzentrischen Positionalität ist zwar die eine Seite dessen enthalten, was »Weltoffenheit« meint: Aufhebung des Gebundenseins an eine bestimmte Umwelt. Aber die Frage nach der Positionalität, nach dem möglichen Zentrum eines Umfeldes, hebt zugleich die radikale Freiheit, das Frei-Schwebende des weltoffenen »Geistes« auf. Die »prinzipielle Abschüttelung des Umweltbannes« (Scheler) wird dadurch relativiert, dass in der leibgebundenen Existenzform grundsätzlich das Verhältnis von Mitte und Peripherie erhalten bleibt, dass also bei aller Freiheit der Distanz zur eigenen Mitte doch immer die Notwendigkeit einer (wenn auch künstlichen) Horizontbildung korrelativ mitgegeben ist. In diesem schon 1928 ausgesprochenen Gedanken war die Verbindung von biologisch orientierter Anthropologie und dem, was wir seither Kulturanthropologie zu nennen gelernt haben, schon angelegt. Denn die Labilität des »konstitutiv heimatlosen«, exzentrisch organisierten Menschen bedarf der Einbettung in eine zwar vom Menschen geschaffene, ihm aber doch als Objektivität gegenüberstehende Welt – der Kultur. Dieses Grundgesetz der »natürlichen Künstlichkeit« (dem erstaunlicherweise gerade von Gehlen nur »dichterische Evidenz« zu25

Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos. 6. Aufl. Bern 1962, S. 40.

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gebilligt wird, obwohl doch seine eigene Lehre vom Außenhalt durch Kultur und Institutionen schon im Ansatz auf Plessners Lehre von der natürlichen Künstlichkeit aufbaut) findet also in der Schrift »Conditio Humana« eine stärkere Verankerung im biologischen Bauplan. In der Exposition der in diesem Zusammenhang zentralen Frage geht Plessner aus von der Tatsache der Umstrukturierung des Umweltverhältnisses, das sich in der Individualentwicklung des Kindes vollzieht beim Übergang zum Stehenlernen und Sprechen der ersten Worte. Und hier stellt sich die Frage: »Ist damit die Umweltbindung verschwunden und in Weltoffenheit aufgegangen, oder besteht sie neben ihr gegen sie weiter?« (182) Bejaht man das erstere, so würde man jeder biologischen Betrachtung des Menschen als Person ihr Recht absprechen müssen. Die Bindung des Wesens des Menschen an die »Naturseite«, die »Lehre vom Menschen mit Haut und Haaren« wäre damit verfehlt. Im zweiten Fall aber ginge wiederum die Eine Perspektive verloren, und die anthropologische Betrachtung zerfiele in zwei Teile, einmal den biologischen Unterbau, der bestimmte physische Leistungen des Körpers in ihrer Umweltgebundenheit untersucht, und zum andern die letztlich wieder auf Schelers Geistlehre zurückkommende Betrachtung der höheren Schichten, in denen Weltoffenheit herrscht. Dieser Gefahr des Verlustes der von Anfang an geforderten, übergreifenden Sichtweise gegenüber fragt nun Plessner: »Wie aber, wenn der Status der Weltoffenheit selber eine dem Menschen spezifische Form seiner Umweltbindung ist, in der sich vielleicht engere und weitere Zonen der Korrespondenz zum Bauplan unterscheiden lassen, ohne die Korrespondenz im ganzen in Frage zu stellen?« (182) Der Status der Weltoffenheit eine spezifisch menschliche Form der Umweltbindung? In der Paradoxie dieser Formulierung ist schon angedeutet, was Plessner später noch ausdrücklicher sagt: Umweltgebundenheit und Weltoffenheit können nur begriffen werden im »Verhältnis einer nicht zum Ausgleich zu bringenden gegenseitigen Verschränkung«. (182) Dies bedeutet zunächst methodisch: Von dem puren Nebeneinander, Übereinander oder Gegeneinander von Vitalwesen und Person (und damit von Umwelt und Welt) soll zu dem weder auflösbaren noch auszugleichenden Ineinander weitergeschritten werden. In der Sache: Umweltgebundenheit kann hier nicht heißen: natürliches Eingestimmtsein auf die Töne der Dinge, deren Auswahl in einem unerforschlichen Schöpfungsplan vorweggenommen scheint, sondern relative, erworbene Begrenztheit und Einseitigkeit 228 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

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eines jeweils verschieden geprägten kulturellen Daseinsrahmens. Umgekehrt: Weltoffenheit heißt nicht beliebige Verfügungsmacht über die unendlichen Wirklichkeitsbereiche, sondern Ausgeliefertsein an eine »offene Ordnung verborgener Hintergründigkeit« (183), also primär Hintergrund, nicht Spielraum. In dem Zwang zur künstlichen Horizontverengung vor dem Hintergrund der offenen und unübersehbaren Wirklichkeit, und in dem Zwang, über diese relativen Begrenzungen immer wieder hinauszugehen, liegt das Wesen der Verschränkung. Ähnliches, nur ohne jede Bezugnahme auf den »Bauplan«, war schon in dem großen kulturanthropologischen Essay von 1931 ausgeführt worden: »In beständigen Umbrüchen erobert so der Mensch zwischen Umwelt und Welt, zwischen der heimischen Zone vertrauter Verweisungen und Bedeutungsbezüge, die ›immer schon‹ verstanden worden sind, und der unheimlichen Wirklichkeit der bodenlosen Welt seine Umwelt aus der Welt.« 26

Daneben tritt jetzt ergänzend aus der »Conditio« der folgende Satz: »Die künstliche Horizontverengung ist […] die Art und Weise vermittelnder Unmittelbarkeit, welche das ganze menschliche Verhalten charakterisiert, vorgebildet in dem Zusammenspiel von Auge und Hand, verdichtet in dem meinend-artikulierenden Wesen der Sprache und fortgeführt durch alle schöpferischen Gestaltungen auf immer anderen Ebenen, in denen es sich abspielt.« (189)

Damit ist von der biologisch orientierten Anthropologie her, aber nicht aus naturalistisch verengter Sicht, der Zusammenhang noch einmal aufgezeigt, der programmatisch ja schon in den »Stufen« gefordert worden war, dort in der Formel: »Konstituierung der Hermeneutik als philosophische Anthropologie, Durchführung der Anthropologie auf Grund einer Philosophie des lebendigen Daseins und seiner natürlichen Horizonte.« 27 Nehmen wir diese Forderung der Einen Perspektive ernst, dann wird es sich als notwendig erweisen, in der anthropologischen Begriffsbildung auf solche Begriffe zu achten, durch welche die Gefahr der Aussplitterung in Schichten, Dualismen (wie: Vitalwesen-Person) etc. gebannt wird. Aus dem bisher vorliegenden Werk Plessners, vor allem aus den in großer Nähe zu Georg Misch entstandenen Arbeiten, ließe sich wohl eine ganze Rei26 27

PhG 207. St 30.

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he solcher Kategorien, von denen hier nur das Begriffspaar Vertrautheit-Fremdheit genannt sei, zusammenbringen. Es muss deshalb zum Abschluss die Enttäuschung darüber zum Ausdruck gebracht werden, dass die neue Auflage der »Stufen« in dieser Hinsicht keine Anregungen gibt. Hat Plessner die Wirkung der früheren Auflage so pessimistisch beurteilt, dass es ihm die Mühe nicht wert schien? Ein Blick auf die Vielgestaltigkeit seines Einflusses auf die jüngere philosophische Anthropologie hätte ihn eines Besseren belehren sollen.

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Kultur und Zivilisation Versuch einer Neubesinnung auf ein abgewertetes Begriffspaar

1. Die Beschäftigung mit dem Kulturbegriff lässt darauf aufmerksam werden, dass sich seit der Auflösung des im Kalten Krieg zementierten Ost-West-Gegensatzes neue Antagonismen und Polarisationen abzeichnen, die auch für eine Neubestimmung der Begriffe Kultur bzw. Zivilisation von Bedeutung sind. Dies beginnt schon im Umfeld des Begriffs Globalisierung. Unter diesem Stichwort werden zwar im Allgemeinen in erster Linie die wirtschaftlichen Verflechtungen und Prozesse verstanden, die zu einem immer dichteren Netz von Verfügungsmacht einer verhältnismäßig kleinen Zahl multinational operierender Firmen geführt haben. Man kann mit diesem Wort jedoch auch das über den Erdball sich ausbreitende Gewebe verstehen, das zu einer wachsenden Homogenisierung und Nivellierung von Konsumund Unterhaltungsbedürfnissen und damit von Lebensgewohnheiten und -stilen beiträgt. Auf eine ähnliche Verflechtung der beiden Seiten, nämlich die Verbindung von Kapitalismus und »Kulturindustrie«, haben die gesellschaftskritischen Analysen der Frankfurter Schule, vor allem von Adorno, schon früh aufmerksam gemacht. 1 Herbert Marcuse hat dann den nivellierenden Einfluss der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, den er durch den Begriff der »repressiven Entsublimierung« charakterisierte, unter Rekurs auf das in Deutschland verwendete Begriffspaar »Kultur – Zivilisation« analysiert. 2 Die »Eindimensionalität« der modernen Massenkultur wird in dieser Kapitalismus-Kritik ähnlich wie bei Adorno auf die Tendenz 1 M. Horkheimer u. Th. W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 1969, vor allem das Kapitel Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug. – Th. W. Adorno: Résumé über Kulturindustrie; in: Gesammelte Schriften, Bd. 10, 1, S. 336–345. 2 H. Marcuse: Bemerkungen zu einer Neubestimmung der Kultur; in: Kultur und Gesellschaft 2. Frankfurt a. M. 1965, S. 147 ff. – Ders.: Der eindimensionale Mensch.

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der modernen Industriegesellschaft zur totalen Kommerzialisierung aller Lebensbereiche, vor allem auch der Kunst, zurückgeführt. Der Zivilisation wird hierbei die Rolle des Angreifers zugewiesen, vor der die Kultur auf dem Rückzug ist und sich in ihren »Bereichen der Zurückgezogenheit« der Entfremdung und Verflachung entzieht. Die Parole der »Großen Weigerung« 3 war – von hier aus gesehen – weniger ein antikapitalistischer als ein antizivilisatorischer Kampfruf, was Marcuse denn auch den Vorwurf von links eintrug, »mit verzweifeltem Eigensinn auf […] Heilswissen und Romantik« zurückzugreifen. 4 Während die Frontlinien jener Debatten in den fünfziger und sechziger Jahren noch weitgehend innerhalb der westlichen Industriegesellschaft verliefen und dem etablierten ›System‹ eine Mannigfaltigkeit von Subkulturen entgegengestellt wurde, haben sich später neue Formen eines Gegensatzes zur modernen westlichen Zivilisation herausgebildet, in denen sich die genannten zivilisationskritischen Motive mit antikolonialistischen, anti-amerikanischen und religiös-fundamentalistischen Motiven verbanden. Zwar war bereits im Unabhängigkeitskampf Indiens die zivilisationskritische Komponente ein starker Faktor im Ringen nicht nur um die politische, sondern vor allem auch um die religiös-kulturelle Autonomie. Doch hat sich diese Frühform eines antiwestlichen Fundamentalismus (Gandhi) unter dem Druck der massiven Industrialisierung Indiens (Nehru) und im Spannungsfeld des Kalten Krieges bald verflüchtigt. Erst mit der wirklichen Globalisierung im Sinne der Zweiheit und Allgegenwart von Kapitalismus und Konsum-Nivellierung, wie sie vor allem die elektronischen Medienkonzerne verwirklicht haben, scheinen sich auch ›globale‹ Tendenzen durchzusetzen, durch die sich der alte Gegensatz aufs Neue etabliert und verfestigt. Im Sinne einer prägnanten Vereinfachung ist dieser Gegensatz Anfang der 1990er Jahre auf die Formel »Dschihad (Heiliger Krieg) vs. McWorld« gebracht worden. Der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin R. Barber bezeichnet mit diesem von ihm geprägten Wort »McWorld« das Resultat jener Tendenz, gemäß welcher Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Neuwied u. Berlin 1976, vor allem S. 76 ff. 3 Marcuse: Der eindimensionale Mensch, S. 83 f. 4 G. Kl. Kaltenbrunner: Revolutionärer Eros. Der Denker Herbert Marcuse; in: Merkur, Heft 236 (1967). Zitiert bei H. H. Holz: Utopie und Anarchismus. Zur Kritik der kritischen Theorie Herbert Marcuses. Köln 1968, S. 16.

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»die nach vorn preschenden Kräfte von Wirtschaft und Technik eine Vernetzung und Vereinheitlichung einfordern und die Menschen allenthalben mit schneller Musik, schnellen Computern und schnellem Essen hypnotisieren, mit MTV, Macintosh und McDonald’s, und die Völker zu einem gleichförmigen weltweiten Vergnügungspark vereinen, zum weltweiten McWorld, vernetzt durch Kommunikation, Datentausch, Entertainment und Kommerz.« 5 »McWorld ist vor allem ein Produkt einer vom expansionistischen Kommerz beflügelten Allerweltskultur.« (87)

Nicht zuletzt als Reaktion auf diese vereinheitlichenden Tendenzen sieht Barber die zentrifugalen Kräfte am Werk, die – beginnend im Streben nach kultureller Autonomie und heimatlicher Bindung – zu jener »blutrünstigen Volkstumspolitik« sich auswachsen können, wie sie überall auf dem Globus hervortritt. Barber gebraucht das Wort »Dschihad« verallgemeinernd »zur Kennzeichnung eines dogmatischen und gewalttätigen Ausschließlichkeitsanspruchs, der von Christen nicht weniger bekannt ist als von Muslimen und für den die Deutschen und die Hindus ebenso berüchtigt sind wie die Araber« (13). Barber verwendet also »Dschihad« nur als Metapher für ein weit über den Islam hinausgreifendes Phänomen, nämlich den »Kampf gegen den Westen und den Universalismus« (221); als Abbreviatur »für eine fundamentalistische Gegnerschaft gegen die Moderne, wie sie in den meisten Weltreligionen vorkommt« (219). Er sieht hier aber nicht nur ein religiöses Phänomen, sondern fasst unter diesem Begriff jede Form des zur Militanz tendierenden völkischen und kulturellen Partikularismus zusammen, wie er sich etwa in den antipluralistischen und antimodernen Bewegungen im postkommunistischen Russland zeigt – ganz allgemein also als Kampf »gegen die Moderne, gegen das Säkulare, den Kosmopolitismus« (225). In diesem weiten, metaphorischen Sinn genommen kann »Dschihad« auch auf das inneramerikanische Problem des »staatsfeindlichen Fundamentalismus der christlichen Rechten, der zutiefst antimodernen, fundamentalistischen Protestanten« (226) angewandt werden. 6

B. R. Barber: Coca Cola und Heiliger Krieg. Wie Kapitalismus und Fundamentalismus Demokratie und Freiheit abschaffen. Dt. Übersetzung Bern-München-Wien 1996. Im Folgenden werden Zitate aus diesem Buch durch einfache Seitenzahl in Klammern belegt. 6 Diese Bedeutung des Wortes ist allerdings durch die Entwicklung seit dem 11. September 2001 schnell obsolet geworden. (2015) 5

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Barber betont die dialektische Wechselbeziehung von Dschihad und McWorld. Nicht nur die Aushöhlung des religiösen Lebens durch die Popkultur, sondern vor allem die Umwandlung der Staatsbürger in Konsumenten, deren kulturspezifische Lebensformen (z. B. Essgewohnheiten) durch globale Strategien marktgerecht manipuliert werden, rufen fundamentalistische Defensivbewegungen hervor, die ihrerseits jedoch in nicht geringem Maße des Schreckbildes von McWorld bedürfen, um ihren identitätsstiftenden Elan begründen zu können. Dabei wird allerdings deutlich, dass Barber, der von einem kommunitaristischen Standpunkt aus argumentierte, in McWorld den gefährlicheren Machtfaktor sah, in dessen Beschreibung er sich jener europäischen Kulturkritik annäherte, die er selbst als eine der Wurzeln des (maßvollen) »parochialistischen« Dschihad seit Rousseau interpretierte (181). Er unterschied sich allerdings grundsätzlich von jener Tradition dadurch, dass er seine massive Kritik an McWorld nicht im Namen einer partikularistischen Heilsvorstellung, sondern im Namen von Demokratie und Kosmopolitismus führte, die er beide zwischen McWorld und Dschihad zerrieben sah. Seine KapitalismusKritik kann zwar in einem vagen Sinn als »links« bezeichnet werden, ist aber von Marxismus ebenso weit entfernt wie seine Charakterisierung des Dschihad, die sich ganz außerhalb eines gängigen RechtsLinks-Schemas bewegt. Diese differenzierte Sichtweise zeigt sich auch in Barbers Blick auf die deutschen Verhältnisse. Er betont, nicht zu denen zu gehören, die an eine Anfälligkeit der Deutschen glauben, ihre Geschichte zu wiederholen. Und er glaubt, dass der »Kampf um die postmoderne deutsche Seele« von denen gewonnen werde, die mit Mahnwachen und Kerzen gegen die rechtsextreme Gewalt demonstrieren. Doch er fährt fort: »Aber nicht so sicher bin ich mir hinsichtlich der Fähigkeit der Deutschen (oder anderer Völker), McWorld in die Schranken zu weisen oder zu demokratisieren. Und es könnte der Kampf gegen McWorld sein, der Deutschlands jugendlichen Faschisten und Rocknazis ihre umfangreichste und potentiell gefährlichste Gefolgschaft einbringt.« (195)

Damit bestätigt sich die zuvor getroffene Kennzeichnung, dass der eher links einzustufende Kritiker des Kapitalismus in den rechtsextremen Potentialen gleichsam nur einen sekundären Gegner sieht und auf das Primärphänomen McWorld konzentriert ist. Dass er dennoch nicht einer restaurativen Kulturkritik zuzurechnen ist, geht, wie 234 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

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wir gesehen haben, darauf zurück, dass der Angelpunkt seiner Kritik nicht das Problem der Zersetzung moralisch-religiöser Werte durch die Popkultur ist, sondern das Problem der Unfähigkeit zur Demokratie, wie sie sich in einer Massenkultur manipulierter Konsumenten auszubreiten droht. Barber steht damit jenseits jener Dichotomie, wie sie von der traditionellen deutschen Kulturkritik immer wieder betont worden ist, nämlich der Gegenüberstellung von einer (bloß) äußerlich technisch-politischen ›Zivilisation‹ und einer innerlich religiös-künstlerischen »Kultur«.

2. Dieser Gegensatz ist in Deutschland praktisch nur von den Vertretern der »Kultur« beschworen worden, die darin vor allem die Sonderstellung Deutschlands gegenüber den westeuropäischen Großmächten und ihren Metropolen Paris und London, und später dann Amerika gegenüber zum Ausdruck brachten. 7 Vor allem, nachdem französische Intellektuelle, wie der ältere Mirabeau im 18. Jahrhundert, Paris zur Hauptstadt der civilisation ausgerufen hatten, 8 war es eine Sache der Selbstachtung der deutschen Philosophen und Dichter, die eigene – und so ganz andere – Kultur diesem Universalitätsanspruch gegenüber geltend zu machen. Seit dieser Zeit ist das Wort ›Zivilisation‹ in der deutschen Sprache in besonderem Maße ein Fremdwort geblieben. Es hat häufig einen pejorativen Unterton, etwa, wenn man von »bloß« zivilisatorischem Fortschritt oder von Zivilisationsschäden und -krankheiten spricht. »Zivilisation« ist eine negative Grundkategorie der Sprache der deutschen Innerlichkeit und der Kritik an der Moderne. »Kultur« dagegen hat – neben dem rein deskriptiven und administrativen Gebrauch des Wortes – einen eindeutig positiv wertenden Akzent. Es bezeichnet in der Sprache einer höheren Bildungsschicht all das, was unserem Leben einen besonderen Sinn gibt und in

Die deutsche Sonderentwicklung einer antithetischen Gegenüberstellung von »Kultur« und »Zivilisation« hat u. a. Norbert Elias behandelt: Über den Begriff der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 1. Bd.: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. 2. Aufl. Bern 1969, S. 7–42. Elias hat allerdings den aggressiv-völkischen Traditionsstrang dieser Antithese nicht ausdrücklich behandelt, sondern nur angedeutet. 8 Vgl. Elias, a. a. O., S. 47. 7

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seiner Werthaftigkeit nur noch vom Bereich des Religiösen übertroffen werden kann. Dieser Sprachgebrauch, also insbesondere der antithetische Gebrauch der Begriffe, wird häufig auf Spenglers Untergang des Abendlandes zurückgeführt, ein Buch, das nach dem Ersten Weltkrieg einen ungeheuren Erfolg hatte. 9 Spengler unterschied bekanntlich Kultur und Zivilisation in dem Sinne, dass er nach einem organologischen Schema bestimmte Wachstumsstadien der einzelnen Weltkulturen unterschied und dabei das jeweilige »Greisenalter« dieser Kulturkreise »Zivilisation« nannte. Darin lag ja das, was der Verlag dann den »Untergang des Abendlandes« nannte, dass nämlich der Kulturkreis von Mittel- und Westeuropa, wie andere vor ihm (z. B. der indische, ägyptische usw.), nunmehr in das Stadium der Vergreisung eingetreten sei und typische, sogenannte morphologische Ähnlichkeiten mit anderen Greisenaltern innerhalb der Weltgeschichte aufweise: die großstädtische Massenanhäufung entwurzelter, parasitärer Individuen; eine vorwiegend technische Daseinsbewältigung und ein nur noch epigonales, unschöpferisches Kulturleben. Von dieser Zivilisationsphase hob Spengler die eigentlichen Blütezeiten als Kultur im engeren Sinne ab. Wenn Spengler auch behauptete, rein deskriptiv als Morphologe verfahren zu sein, so war die zivilisationskritische Tendenz seiner Analysen doch offenkundig und hat wohl in besonderem Maße auf das deutsche Publikum gewirkt. Das Erscheinen des Buches fiel zusammen mit dem Zusammenbruch der Monarchie in Deutschland und Österreich und ihrer Wertordnungen. Spenglers Buch gab dem Krisenbewusstsein Ausdruck und beeinflusste es zugleich. Der Hinweis auf Spengler, was die Wirkungsgeschichte des Wortpaares angeht, ist nicht falsch, aber er reicht nicht aus, um die noch immer weithin bestehende Verankerung dieses Schemas in den deutschen Köpfen zu erklären. Im selben Jahr wie Spenglers Untergang, also 1918, erschien ein anderes viel gelesenes Buch, dessen gesamter Aufbau und Gedankengang von dem Gegensatz Kultur-Zivilisation

9 O. Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. München 1918/1920. Zur Terminologie Spenglers ist hervorzuheben, dass er das Wort »Kultur« in zwei verschiedenen Bedeutungen gebraucht: erstens zur Bezeichnung der einzelnen Weltkulturen, zweitens zur Bezeichnung des Stadiums höchster kreativer Möglichkeiten der jeweiligen Weltkultur.

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bestimmt ist: Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen. 10 Hier war nicht von einer quasi deskriptiven Kulturmorphologie die Rede. Thomas Mann ging es um die höchst persönliche und höchst polemische Auseinandersetzung mit seinem Bruder Heinrich. Der Gegensatz betraf einerseits das durchaus verschiedene Künstlertum der beiden rivalisierenden Brüder, aber mehr noch die politische Einstellung. Heinrich Mann war Verehrer der republikanischen Tradition Frankreichs, der parlamentarischen Demokratie, der Menschenrechte und vor allem des sozialkritischen Romans in Frankreich. Thomas Mann fühlte sich als Schriftsteller eher den großen Russen verwandt und rechnete im übrigen zu den ihn am stärksten beeinflussenden Kräften des 19. Jahrhunderts: Schopenhauer, Wagner und Nietzsche. Dies war eine anti-demokratische, anti-egalitäre und (insbesondere bei Wagner) eine anti-französische und teilweise antisemitische Welt, die Thomas Mann nun in den Jahren des Ersten Weltkriegs, gleichsam seinen persönlichen Kriegseinsatz am Schreibtisch leistend, beschwor. Er projizierte auf diesen vielschichtigen Gegensatz die Formel Kultur vs. Zivilisation. Die Kultur – das war Thomas Mann selbst, mit seinen Wurzeln in der besten Tradition der deutschen Dichtung, Philosophie und Musik. Die Zivilisation – das war Bruder Heinrich mit seinen frankophilen, demokratischen und pazifistischen Tendenzen. In seinem Hass auf den Bruder prägte Thomas das Wort »Zivilisationsliterat«, um Heinrich zugleich politisch und künstlerisch zu denunzieren; denn der Zivilisationsliterat ist nur Literat, nicht Dichter, und er gehört nicht zur Kultur, sondern bloß zur Zivilisation. Eine Art Grundformel für jenes monströse Buch, von dem sich Thomas Mann nie völlig distanziert hat, lautet denn: »Der Unterschied von Geist und Politik enthält den von Kultur und Zivilisation, von Seele und Gesellschaft, von Freiheit und Stimmrecht, von Kunst und Literatur; und Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur.« 11 Man versteht von hier aus das Befremden der Jungen Linken in Europa, als Marcuse auf dieses so eindeutig konservativ und deutschtümelnd besetzte Begriffsschema zurückgriff, um von seiner als NeoTh. Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen. Zitiert wird nach der Stockholmer Gesamtausgabe, Frankfurt a. M. 1956. 11 A. a. O., S. 23. – Mann spricht in diesem Zusammenhang vom Ersten Weltkrieg als dem »Krieg der ›Zivilisation‹ gegen Deutschland« (S. 24). 10

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marxismus verstandenen Position aus die Kultur vor der Zivilisation zu retten. Denn Thomas Mann stand mit seiner Art von Zivilisationsfeindschaft in Deutschland ja nicht allein; vielmehr war diese nur die autobiographische Version einer weitverbreiteten deutschvölkischen Kulturideologie, deren Wurzeln in ihrer harmloseren Spielart bis auf Kant und W. v. Humboldt, in ihrer aggressiven Variante u. a. auf Richard Wagner und den Wahl-Deutschen H. St. Chamberlain zurückgehen. Man muss allerdings, was Kant und Humboldt betrifft, betonen, dass sie beide nicht mit der später gängigen Antithese operieren, sondern jeweils mit einer Triade, die bei Kant »Kultivierung – Zivilisierung – Moralisierung« heißt und bei Humboldt »Zivilisation – Kultur – Bildung«. In beiden Fällen bezieht sich »Zivilisation« primär auf die äußere, gesellschaftliche Seite des Lebens. Kant sagt: »Wir sind zivilisiert bis zum Überlästigen zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit.« Die Idee der Moralität, auf die es Kant hier ankommt, entstammt der Kultur. »Der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit hinausläuft, macht bloß die Zivilisierung aus.« 12 Es ist dies wohl das erste Mal im deutschen Schrifttum, dass von »bloßer« Zivilisierung die Rede ist. Humboldt bestimmt die Zivilisation als die »Vermenschlichung der Völker in ihren äußeren Einrichtungen und Gebräuchen und der darauf Bezug habenden inneren Gesinnung« 13. Dies sind noch keine Kampfbegriffe, wenngleich man durch die Zielpunkte »Moralisierung« bzw. »Bildung« mit ihren Werten der Innerlichkeit einen Kontrast zur äußerlichen Zivilisation erkennen kann. In zugespitzterer Form findet sich dieser Gegensatz »Bildung – Zivilisation« auch bei Droysen, der in seiner Auseinandersetzung mit Buckle sagt: »Die Zivilisation begnügt sich mit den Resultaten der Bildung; sie ist in der Fülle des Reichtums arm, in der Opulenz des Genießens blasiert.« 14 Was hier noch in einer friedfertigen Gegenüberstellung aneinander gemessen wird, gerät dann bei Richard Wagner ganz in das SpanI. Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Akademie-Ausgabe Bd. 8, S. 26. 13 W. v. Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. Akademie-Ausgabe Bd. 7, S. 30. 14 J. G. Droysen: Erhebung der Geschichte zum Range einer Wissenschaft; in: Ders.: Historik. Hrsg. v. R. Hübner, 7. Aufl. Darmstadt 1972, S. 395. 12

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nungsfeld seiner Auseinandersetzung mit allem Romanischen, sei es Frankreich oder Rom. In seinem Aufsatz Kunst und Klima von 1850 15 finden wir den Anfang jener unseligen Tradition deutscher Kulturideologie, in der schließlich – nämlich bei H. St. Chamberlain – die Zivilisation als ein »beständig höher potenziertes, zunehmend emsigeres, bequemeres und unfreieres Ameisenstaatendasein« bezeichnet und das Semitentum als eine »ausschließlich zivilisatorische Macht« denunziert werden. 16 Chamberlains Buch erschien 1899 und erreichte bis 1942 28 Auflagen. Man kann es also gleichfalls als einen Bestseller der ersten Jahrhunderthälfte bezeichnen, wobei zu beachten ist, dass sein Erfolg nicht erst im »Dritten Reich« einsetzte. Wir befinden uns damit in der dunkelsten Zone dieser völkischen Kulturideologie als einer direkten Vorbereitung des nationalsozialistischen Rassenwahns. Es ist unnötig zu betonen, dass Thomas Mann innerhalb dieses Traditionsstranges lediglich eine (nicht rassistische!) Episode darstellt, da er sich alsbald mit der Demokratie (und dem Bruder) versöhnte und für sie gekämpft und gelitten hat. Aber als Symptom für eine bestimmte Bewusstseinslage des deutschen Bildungsbürgertums sind die Betrachtungen eines Unpolitischen eine Quelle ersten Ranges, gerade auch an den Stellen, wo der Ekel vor der Moderne einen prophetischen Blick auf McWorld ermöglichte: »Laßt jede Utopie des Fortschritts, laßt die Vernunftheiligung der Erde sich – jeden Traum des sozialen Eudämonismus sich erfüllen, die pazifizierte Esperanto-Erde Wirklichkeit werden: Luftomnibusse brausen über einer weißgekleideten, vernunftfrommen, staatlos geeinigten, einsprachigen, technisch zur letzten Souveränität gelangten, elektrisch fernsehenden Menschheit […].« 17

Und mit dieser verblüffend treffenden Prophetie verbindet sich das Bekenntnis zur ästhetischen, anti-zivilisatorischen Verweigerung: »Der Krieg, das Heldentum reaktionärer Art, aller Unfug der Unvernunft wird auf Erden denkbar und also möglich sein, solange die Kunst existiert, und ihr Leben dauert und endigt mit dem der ›Menschheit‹.« 18 »Und würde es die Menschheit nicht eher ehren als schänden, wenn sie es im bürgerlichen Sicherheits- und Regenschirmstaat auf die Dauer nicht R. Wagner: Ges. Schriften und Dichtungen. Hrsg. v. W. Golther, Bd. 3 o. J., S. 215. H. St. Chamberlain: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. 25. Aufl. München o. J., S. 68 u. 881. 17 Th. Mann, a. a. O., S. 390. 18 A. a. O., S. 391. 15 16

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aushielte? […] Der Mensch empfindet Zivilisation, Fortschritt und Sicherheit nicht als unbedingtes Ideal; es lebt ohne Zweifel unsterblich in ihm ein primitiv-heroisches Element, ein tiefes Verlangen nach dem Furchtbaren […].« 19

3. Man könnte, um die unbeabsichtigte Abwertung unseres Begriffspaares durch die deutsch-völkische Kulturideologie darzutun, viele andere Belege zusammentragen, in denen, wie etwa bei dem wenig bekannten Paul Krannhals, von der »Durchsetzung der organisch gewachsenen Kultur mit mechanischen Zweckgebilden der Zivilisation« 20 gesprochen wurde, wobei zu den letzteren folgendes Vielerlei gerechnet wird: die Kirche, das parlamentarische System, das römische Recht, die Nationalökonomie englischer Provenienz, der Kapitalismus, der Pazifismus, der Rationalismus, ja, letztlich jeder Ismus! Bei Alfred Rosenberg, dem Chef-Denker des NS-Staates, wird zwar der Dualismus nicht auf das Begriffspaar Kultur vs. Zivilisation gebracht; aber wenn er als »das tiefste Gesetz jeder echten Kultur« die »Bewußtseinsgestaltung des Vegetativ-Vitalen einer Rasse« bestimmt und diese dem »abstrakten Universalismus« entgegenstellt, dann fehlt hier bei durchgehend sachlicher Entsprechung lediglich die Vokabel Zivilisation. 21 Angesichts dieser Tradition muss es als verwegen erscheinen, mit einer »Neubesinnung« auf dieses Begriffspaar anderes zu verbinden als die Offenlegung heilloser Philosopheme, die das deutsche Bildungsbürgertum im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts offenbar mit großem Interesse rezipiert hat. Wenn ich trotzdem den Versuch wage, einige Komponenten der berühmt-berüchtigten Dichotomie zu übernehmen, so geschieht dies in vollem Bewusstsein des Risikos eines solchen Versuchs. Dieser erscheint jedoch aus zwei Gründen als sinnvoll: Erstens führt die offenkundig gewordene Krise des universalistischen Geltungsanspruchs der westlichen Zivilisation zu einer NeubeA. a. O., S. 455. P. Krannhals: Das organische Weltbild. Grundlagen einer neuentstehenden deutschen Kultur. München 1936, S. 43. 21 A. Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit. 28. Aufl. München 1934, S. 140. 19 20

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wertung dieser Zivilisation in ihrem Verhältnis zur Multikulturalität auf dem gesamten Planeten. Hierfür ist nicht nur Barbers Gegenüberstellung von Dschihad und McWorld symptomatisch, sondern vor allem die These von Samuel P. Huntington, dass sich die politische Weltordnung nach der Abdankung der Ideologien neu formiere, und zwar auf der Basis primär religiös fundierter kultureller Identitäten. Einer wachsenden »Indigenisierung« der Weltpolitik entspreche die Reduzierung des Westens auf eine neben mehreren anderen Zivilisationen. 22 Zweitens verbindet sich mit dieser und anderen Theorien eine beträchtliche terminologische Verwirrung im Hinblick auf die Begriffe Kultur und Zivilisation, vor allem dort, wo sich deutsche und westliche Denktraditionen überschneiden. Eine solche Überlegung kann jedoch nicht ausgehen von der gleichsam asymmetrisch konzipierten Antithese der traditionellen deutschen Kulturkritik, die mit einem letztlich pejorativen Zivilisationsbegriff operierte. Dem emphatischen Kulturbegriff jener Tradition muss der emphatische Zivilisationsbegriff gegenübergestellt werden, der letztlich bestimmt ist von dem bis in die Antike zurückreichenden Gegensatz zur Barbarei. 23 Norbert Elias hat darauf aufmerksam gemacht, dass im westlichen Zivilisationsbegriff stärker als im deutschen Kulturbegriff der Prozess und die Resultate des Prozesses von Steigerung, Verfeinerung, Fortschritt usw. angesprochen werden, so dass dieser Begriff »das Selbstbewußtsein des Abendlandes zum Ausdruck« bringt. 24 Man muss ferner ausgehen von der jeweils zweifachen Implikation, wie sie im emphatischen Zivilisationsbegriff und im emphatischen Kulturbegriff enthalten ist. Wie Norbert Elias gezeigt hat, lässt der Zivilisationsbegriff »die nationalen Differenzen zwischen den Völkern bis zu einem gewissen Grade zurücktreten; er akzentuiert, was allen Menschen gemeinsam ist, oder – für das Gefühl seiner Träger – sein sollte«. Demgegenüber betont der emphatische Kulturbegriff die jeweilige Eigenart eines Volkes. »Der Begriff ›Kultur‹ grenzt ab.« 25 Damit verbindet sich der zweite Gegensatz, der sich auf den inhaltlichen Aspekt des jeweils Implizierten bezieht: Die 22 S. P. Huntington: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Dt. Übersetzung München/Wien 1996. 23 Die emphatisch-normativen Begriffe von Kultur bzw. Zivilisation, die jeweils nur im Singular auftreten, sind zu unterscheiden von deskriptiv-morphologischen Begriffen, die sich auf einzelne Kulturen bzw. Zivilisationen beziehen. Vgl. oben, S. 203 ff. 24 N. Elias, a. a. O., S. 1. 25 N. Elias, a. a. O., S. 4.

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Resultate des Prozesses der »Zivilisierung« der Menschheit sind in hohem Maße empirisch aufweisbare Etappen eines im Prinzip als unendlich konzipierten Progresses in den Bereichen von Gesellschaft, Politik, Wissenschaft und Technik. Demgegenüber betont der Kulturbegriff stärker die Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit der Ausdrucksleistungen in Religion, Mythos, Philosophie, Kunst und Literatur, in denen es keinen wirklichen Fortschritt, dafür aber umso nachhaltigere Authentizität und Kreativität gibt, die ich im Folgenden im Begriff der Inkommensurabilität zusammenfassen möchte. Der Zweiheit »Universalität und Fortschritt« steht also die Zweiheit »Partikularität und Inkommensurabilität« gegenüber. 26 Als Kampfparolen gegeneinander ausgespielt ergeben diese Gegensätze jene seit 250 Jahren immer wieder beschworenen Dualismen, wie Aufklärung vs. Romantik, Fortschritt vs. Restauration, Emanzipation vs. Traditionalismus, Kosmopolitismus und Liberalismus vs. Nationalismus und Reaktion usw. – Parolen und Schemata, die uns nach den bisherigen Erörterungen nicht mehr weiter zu beschäftigen haben. Überträgt man jedoch den Dualismus in die politische Wirklichkeit der Gegenwart, dann scheinen sich einige der zentralen Probleme der Zeit mit unserem Begriffspaar kategorial erfassen zu lassen. So erweist sich das Problem der Multikulturalität als Problem des richtigen Verhältnisses von kultureller Eigenständigkeit einzelner Bevölkerungsgruppen und ihrer zivilisatorischen Einbindung in politische, administrative und technologische Strukturen der Lebensgestaltung, soweit diese ethisch fundiert sind in rational begründbaren Prinzipien der individuellen Freiheit und Menschenwürde, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit und gegenseitiger Verantwortung. Auch das Problem der Globalisierung der Wirtschaft wird in zunehmendem Maße als ein Problem des richtigen Verhältnisses von ökonomisch-technologischer Rationalität und besonnener Solidarität im Blick auf gewachsene Strukturen, regionale Besonderheiten, heimische Bindungen etc. gesehen, bei deren Charakterisierung wohl auch jeweils ein Stück heimatlicher Kultur als Standortvorteil beschworen wird. Auch die zunehmenden nationalen und regionalen Vorbehalte der europäischen Einigung gegenüber scheinen teilweise von einem Unbehagen gespeist zu sein, das die traditionellen und Vgl. auch die Unterscheidung zwischen Gesellschaftsprozess, Zivilisationsprozess und Kulturbewegung bei A. Weber: Prinzipien der Geschichts- und Kultursoziologie. München 1951, S. 44 ff.

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kreativen Besonderheiten auf dem Altar der politischen und wirtschaftlichen Einigungsvernunft geopfert sieht und vor dem Einheitsbrei einer europäischen Allerweltskultur mit letztlich amerikanischer Standardisierung von Kultur- und Konsumbedürfnissen warnt. In besonderem Maße aber ist die gegenwärtige Debatte um das Selbstverständnis des Westens kategorial mit unserem Begriffspaar zu erhellen. Nach den Zeiten des Imperialismus und Kolonialismus, in denen die Ausbreitung der Zivilisation über den Planeten als fraglos geltende Aufgabe für die Ideologie der Kolonialmächte maßgebend war; nach den Zeiten des wirtschaftlich-technischen Neokolonialismus unter Führung der USA; und nach den Zeiten des Kalten Krieges zwischen zwei tödlich verfeindeten Fortschrittsideologien, – kurz: nach den Zeiten optimistisch-universalistischer Tendenzen und gnadenlosen Hegemonialstrebens führt die Krise im Selbstbewusstsein des Westens zu neuen nationalistischen Tönen in den USA. So rät Samuel P. Huntington dem Westen nicht nur, seinen »Absolutismus« aufzugeben: »Die Vorstellung, dass wir anderen Kulturkreisen unser westliches Wertesystem, unsere Institutionen gewaltsam aufdrängen sollten, ist falsch und womöglich unmoralisch.« Er verbindet mit diesem Postulat ein zweites, neonationalistisch gewendetes: Um Amerika für einen künftigen »Kampf der Kulturen« zu rüsten, müsse es von gewissen extremen Positionen abrücken, müsse die Idee einer multikulturellen Gesellschaft revidieren, den Immigrantenstrom stoppen und sich auf seine eigene Kultur, seine eigenen Gemeinsamkeiten und politischen Prinzipien besinnen. 27 In allen genannten Fällen geht es um das Problem des richtigen Verhältnisses zwischen der Rationalität »vernünftiger« Ordnungen und Maßnahmen im staatlichen, politischen, wirtschaftlichen und technologischen Bereich und der Inkommensurabilität größerer Wert- und Bedeutungszusammenhänge, in denen sich die Identität und Solidarität von Nationen, Schichten, Minderheiten, Gruppen usw. konstituiert und die durch geschichtliche, regionale, sprachliche, religiöse, institutionelle usw. Gemeinsamkeiten und entsprechende Ausdrucks-möglichkeiten gebildet werden. Wenn wir die Formalstruktur dieser Gegliedertheiten als »Kultur« bezeichnen, dann gebrauchen wir dabei noch nicht einen rein deskriptiv-morphologischen Begriff, mit dem etwa die Ethnologie oder die Soziologie von der KulVgl. das Spiegel-Gespräch mit S. P. Huntington: »Und dann die Atombombe«. Der SPIEGEL 48/1996, S. 178–186, hier: S. 185.

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tur einer bestimmten Gesellschaft sprechen und darunter die Gesamtheit aller typischen Lebensformen begreifen. Vielmehr behält dieser Kulturbegriff dadurch, dass er antithetisch auf den Zivilisationsbegriff bezogen bleibt, ein Element des emphatisch-normativen Begriffs, in dem neben der Inkommensurabilität auch die Schutzbedürftigkeit der jeweiligen Kultur zum Ausdruck kommt, ohne doch notwendigerweise im Stil der traditionellen Kulturkritik die »organische« Kultur gegen die »mechanische« Zivilisation auszuspielen. Auf der anderen Seite unserer Dichotomie erscheint es gleichfalls als sinnvoll, die Formalstruktur rationaler, fortschrittsorientierter und internationaler Handlungszusammenhänge (z. B. des Kommunikations- und des Rechtswesens) als »zivilisatorisch« zu bezeichnen, ohne damit einen universalistisch-emphatischen (oder, im Gegensatz dazu: einen pejorativen) Begriff von Zivilisation zu verbinden. Aber auch hier erlaubt der antithetische Bezug zum Kulturbegriff die Erhaltung jenes ursprünglichen Wertgefühls, das wir im Blick auf die rechtsstaatlichen und technischen Errungenschaften der Moderne nicht verlieren dürfen und in dem der ursprüngliche Gegensatz von Zivilisation und Barbarei noch immer mitschwingt. Der unproduktive Dualismus der traditionellen Kulturkritik müsste sich also verwandeln lassen in ein Verhältnis der Komplementarität von Kultur und Zivilisation und die damit verbundene Aufgabe, zwischen beiden Seiten immer neue Möglichkeiten eines vernünftigen Ausgleichs zu finden. So müsste das Prinzip der Multikulturalität dort auf seine Grenzen stoßen, wo die in Jahrhunderten der Zivilisierung herausgebildeten liberalen Institutionen und Normen friedlichen und freiheitlichen Zusammenlebens gefährdet sind. 28 Ebenso müssten einer hemmungslosen Globalisierung dort Grenzen aufgezeigt werden, wo die ökonomisch-technologische Rationalität »gewachsene« kulturelle Strukturen vernachlässigt oder zerstört. Über die (manchmal fragwürdige) bürokratische Rationalität im Prozess der europäischen Einigung wird im Blick auf die Inkommensurabilität der einzelnen »Vaterländer« noch viel zu debattieren sein. Ferner: Huntingtons Absage an den Universalismus der höchsten Errungenschaften der abendländischen Zivilisation zugunsten einer Vgl. hierzu auch K. Acham: Historismus – Multikulturalismus – Kommunitarismus; in: G. Scholtz (Hrsg.): Historismus am Ende des 20. Jahrhunderts. Eine internationale Diskussion. Berlin 1997, S. 155 ff.

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Stärkung der Abwehrkräfte des Westens im Blick auf den »Kampf der Kulturen« erscheint – vor dem Hintergrund unserer begriffsgeschichtlichen Überlegungen betrachtet – als eine direkte Parallele zu einer defensiv agierenden, deutsch-völkischen Kulturideologie. So, wie damals dem Siegeszug der westlichen Zivilisation gegenüber eine militante Beschwörung der eigenen Kulturwerte inszeniert wurde (z. B. in der deutschen Kriegspropaganda von 1914), so scheint jetzt im erhofften Rückzug auf die eigentlichen amerikanischen Werte die einst kosmopolitisch-liberale Aufklärung zur Nationalkultur im Wettstreit mit anderen Weltmächten schrumpfen zu sollen. Schließlich: Der Antagonismus von Dschihad und McWorld, von dem wir ausgegangen waren, erscheint im Lichte unserer Antithese als ein Dualismus der Degenerationsformen von Kultur und Zivilisation. In McWorld hat jene »Dialektik der Aufklärung«, die Horkheimer und Adorno einst an so viel harmloseren Phänomenen diagnostiziert haben, einen weiteren Höhepunkt im Umschlagen von Rationalität in irrationale Machtausübung erreicht. Und im Dschihad meldet sich aufs Neue der Irrationalismus völkischer Kulturideologien. Es bleibt wenig Spielraum für einen »kritischen Humanismus« 29, dessen Aufgabe es sein müsste, das labile Gleichgewicht von Kultur und Zivilisation in immer neuen Anstrengungen der Vernunft zu wahren. Dabei würde die begriffliche Orientierung von einer jeweils dreifachen Abgrenzung auszugehen haben: Neben der schon genannten komplementären Beziehung zwischen Kultur und Zivilisation müssten die beiden Begriffe jeweils von ihren extremen Degenerationssymptomen, aber auch von den jeweils anderen Extremen scharf abgehoben werden. Das Insistieren auf »Kultur« dürfte also nicht mit einem militanten Fundamentalismus oder Faschismus verwechselt werden, gerade auch dann nicht, wenn es um eine dezidierte Ablehnung von McWorld geht. Auf der anderen Seite dürfte das Insistieren auf »Zivilisation« nicht mit einem Plädoyer für schrankenlosen Pseudoliberalismus verwechselt werden, auch dann nicht, wenn es sich um die Abwehr eines zivilisationsfeindlichen Fundamentalismus handelt. Dies bedeutet konkret: Es muss als legitimes Bedürfnis anerkannt werden, gegen die Nivellierung der Inkommensurabilität kultureller Vgl. vom Verfasser: Provokation – Affirmation. Das Dilemma des Kritischen Humanismus. Stuttgart 1970.

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Traditionen Widerstände und Verweigerungen zu mobilisieren, die sich freilich nur im rechtsstaatlich garantierten Rahmen eines freien Spiels der Kräfte und des Wettkampfes (nicht Kampfes!) der Kulturen bewegen dürfen. 30 Auf der anderen Seite muss es als legitimes Bedürfnis anerkannt werden, einem Übermaß an kultureller Autarkie, Modernitätskritik und Beschwörung partikularer Solidaritäten Grenzen zu ziehen, sofern diese die Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Gleichheit auszuhöhlen drohen. Dies darf freilich nicht mit den Mitteln profit- und machtorientierter Strategien geschehen, die sich hinter pseudoaufklärerischen Rationalitätsargumenten und Freiheitsideologien verstecken, sondern gleichfalls nur im rechtsstaatlich gesicherten Rahmen eines lebendigen Pluralismus. Der dabei durchzuhaltende, antithetische Bezug zwischen Kultur und Zivilisation im Sinne einer produktiven Polarität bzw. spannungshaften Komplementarität wäre vielleicht am ehesten geeignet, das Abgleiten in die Extreme von Dschihad und McWorld theoretisch zu erhellen.

4. Das Bemühen, von diesen allgemeinen Umrissen des Problems aus zu einer konkreteren Ausfüllung der Hauptbegriffe zu kommen, wird sich naturgemäß auf Abgrenzungskriterien richten wollen, durch die sich das mit den Begriffen Kultur und Zivilisation zu Bestimmende genauer fassen lässt. Hierbei ergibt sich jedoch eine methodische Schwierigkeit. Die bisherigen Abgrenzungen waren nicht von ungefähr darauf beschränkt, bestimmte Implikationen und Konnotationen zu akzentuieren und zu bündeln, ohne zu festen Definitionen zu gelangen. Eine solche scharf abgrenzende Definition würde ja nur zirkelhaft dasjenige vorab bestimmen wollen, was in der vorsichtigen, an Begriffsgeschichte und alltäglichem Sprachgebrauch orientierten Analyse erst herauskommen kann. Eine solche Definition würde auch zu dem weiteren Schritt verleiten, gebietsmäßige Abgrenzungen vorzunehmen, und dieses als zur Kultur, jenes als zur Zivilisation gehörig zu bestimmen – etwa jener banalen Faustregel folgend, dass Goethes Faust im Gepäck Kultur bedeute, die Zahnbürste dagegen Eine ausführlichere Darlegung müsste zwischen inter- und intrakulturellen Problemebenen unterscheiden. Das hier skizzierte Verhältnis einer produktiven Komplementarität gilt primär für intrakulturelle Beziehungen.

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Zivilisation. Gerade ein solches klassifikatorisches Interesse gilt es jedoch zu zügeln; denn es würde dem Bemühen, ein eher komplementäres als antagonistisches Verhältnis von Kultur und Zivilisation zu betonen, kaum förderlich sein. So muss die bisherige Abgrenzung als eine heuristische und nicht weiter einzuengende Orientierung gelten, der gemäß also einer (möglicherweise durch Tradition und Religion bestimmten) weitgehend zweckfreien Symbol- und Ausdruckswelt (Kultur) der Bereich einer zweckrational auf unendliche Perfektionierung hin angelegten, gesellschaftlichen und technischen Daseinsveränderung (Zivilisation) gegenübergestellt wird. Diese Unterscheidung lässt sich jedoch nur für wenige Phänomene reinlich durchführen. So sind etwa Jahrtausende alte Rituale wie Taufe, Beschneidung, Begräbnis- und Totenkulte der einen Seite und das in Jahrtausenden zu immer größerer Perfektion entwickelte Verkehrswesen der anderen Seite ziemlich eindeutig zuzuordnen. Und hier begegnen sich die beiden Welten auch in einer drastischen Weise: Der mit modernstem technischen Gerät ausgerüstete Tourist erreicht in kürzester Zeit die entlegensten Weltgegenden, in denen traditionsgebundene Gesellschaften ihre von der Zivilisation scheinbar unzerstörten Lebensformen einer wie auch immer zu beurteilenden Teilnahme und Neugier preisgeben. Schwieriger wäre das weite Feld der Architektur aufzugliedern, in dem sich gemäß unserer Abgrenzungen kulturelle und zivilisatorische Elemente auf komplizierte Weise durchdringen. Während man den technischen Fortschritt etwa im sanitären Bereich als »bloß« zivilisatorisch relativ leicht vom kulturellen Anspruch des Baustils unterscheiden kann, werden Grenzziehungen dort komplizierter, wo die Verwendung innovativer Materialien und die Entwicklung neuer Funktionen neue architektonische Aussagemöglichkeiten erschließen. Kultur ist nicht einfach ›Kunst am Bau‹, und jenes rein additive Verhältnis von Zweckbau und Dekoration sollte als Warnung vor einem zu einfach zu handhabenden Schematismus dienen. Auch die Festschreibung traditionell-folkloristischer Normen des Bauens für bestimmte Regionen, wie sie in manchen touristisch heimgesuchten Landschaften zu einer penetranten Heimat-Monotonie geführt haben, macht den Begriff »kulturell« fragwürdig. Die Zivilisation frisst dort die Kultur nicht direkt auf durch die Verdrängung der traditionellen Architektur, sondern indirekt durch das Anwachsen des Tourismus und die dafür notwendigen, pseudo-bodenständig getarnten Massenquartiere. 247 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

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Sehr viel bedrängender und einschneidender werden Abgrenzungen und Bewertungen dort, wo kulturelle Lebensformen in einem traditionalistischen und restaurativen Anspruch der Bildung einer aufgeklärten Weltgesellschaft im Wege stehen. Es bedarf gar nicht des Hinweises auf Fälle von kulturspezifisch bedingten Verletzungen der Menschenwürde und -rechte, wie sie etwa die Witwenverbrennung in Indien darstellte und im Zuge der Zivilisierung des Landes verschwand. Schon einfachere Formen traditioneller Benachteiligung von Frauen, Kindern, Alten, Behinderten, Minderheiten, Fremden usw. fordern heutzutage die emanzipatorischen Energien zivilisierter, d. h. aufgeklärter Individuen und Institutionen heraus, die jedoch nicht selten mit erheblichen Problemen der Abwägung von »kulturalistischen« und »universalistischen« Werten konfrontiert sind. So hat Bundespräsident Roman Herzog in einem vielbeachteten und kontrovers diskutierten Artikel die universale Geltung der Menschenrechte vorsichtig relativiert und zu behutsamerem Umgang mit fremden Kulturen und ihren Werten und Normen gemahnt. 31 Andererseits wurde in den USA der Beschluss einer Schulkommission im kalifornischen Oakland, »den schwarzen Straßenjargon künftig als eine eigene und förderungswürdige Sprache (›Ebonics‹) anzuerkennen«, als Symptom einer überbordenden political correctness gewertet. 32 Wurde hier das Prinzip der Toleranz – ein Kernstück westlicher Zivilisation – in den Augen der schweigenden Mehrheit bis zum Umschlagen in eine neue Ungleichheit überstrapaziert, liefert auf der anderen Seite z. B. das neue Sprachengesetz der Slowakei ein drastisches Beispiel für die geradezu klassische Intoleranz eines rückständigen Nationalismus, der im Namen kultureller Autarkie auftritt. Man wird angesichts solcher Probleme, die im Wesentlichen durch die Formel »Kulturalismus vs. Universalismus« zu bündeln sind, das hier vorgeschlagene Schema nicht überanstrengen wollen. Selbstverständlich kann es auch keine Basis abgeben für die Lösung intra- und interkultureller Großkonflikte, wie sie sich etwa durch Versuche einer kulturalistischen Legitimation massiver Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen (z. B. ethnische Säuberungen oder rassistische »Endlösungen«) oder durch die profitorientierte Ausbeutung und Zerstörung ganzer Stammesgebiete in der Dritten Welt ergeben. In heuristischer Absicht vorgetragen, sollten diese 31 32

R. Herzog: Die Rechte des Menschen. Die ZEIT 37/1996. K. Harpprecht: Keine Mehrheit unterm Regenbogen. Die ZEIT 4/1997.

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Kultur und Zivilisation

Überlegungen dazu anregen, in einem beständigen »Sowohl-alsauch«-Diskurs wechselseitige Begrenzungen und Ergänzungen innerhalb einer spannungshaften Synthese von Kultur und Zivilisation zu diskutieren und abzuwägen. Dieser Versuch kann nicht mehr sein wollen als eine Anleitung zur Besonnenheit im Sinne eines kritischen Humanismus, der von seinem Wesen her dazu verurteilt ist, zwischen allen Fronten zu stehen.

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Zugehörigkeit und Fremdkultur Einige kritische Fragen an die philosophische Hermeneutik

1. a) Gemessen an der Fruchtbarkeit der Anstöße, die nach verschiedenen Richtungen von Gadamers Wahrheit und Methode 1 ausgegangen sind, haben sich für das Problemfeld »interkulturelles Verstehen« von diesem Werk kaum unmittelbare Fragestellungen ergeben. Dies kann nicht als Zufall angesehen werden, wenn man z. B. bedenkt, unter welchen Umständen und Einflüssen sich die Konzeption dieses großen Buches gebildet hat. Gadamer hat selbst mehrfach darüber berichtet. 2 Er war im Sommersemester 1923 von Marburg zu Heidegger nach Freiburg gegangen, wo er dessen Vorlesung über Hermeneutik der Faktizität hörte. Offenbar hatte sich schnell ein persönlicher Kontakt hergestellt, denn im Inflationsherbst desselben Jahres war Gadamer Gast in Heideggers Hütte im Schwarzwald und wurde Zeuge von dessen Lektüre des Briefwechsels zwischen Dilthey und Graf Yorck. Der Eindruck von Heideggers Begeisterung für die Radikalität, mit der Yorck das Problem der Geschichtlichkeit anpackte, muss groß gewesen sein. Dies geht nicht nur aus Gadamers Berichten über jene Wochen in der Hütte (»die entscheidenden Wochen« 3) hervor, sondern indirekt auch aus der ursprünglichen Fassung von WM, wie sie vor einigen Jahren zugänglich geworden ist. Hier sind die beiden Briefpartner Dilthey und Yorck, wie auch ihre Beurteilung

H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 1. Aufl. Tübingen 1960. Im Folgenden stehen Zitat-Nachweise mit »WM« im Text. 2 H.-G. Gadamer: Erinnerungen an Heideggers Anfänge, in: Dilthey-Jahrbuch Bd. 4/ 1986–87, S. 14. 3 H.-G. Gadamer: Brief v. 29. April 1992 an den Verfasser, in dem es um die Datierung von Heideggers Lektüre des Briefwechsels Dilthey-Yorck ging. Vgl. Dilthey-Jahrbuch Bd. 8/1992–93, S. 125 A. 1

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Zugehörigkeit und Fremdkultur

durch Heidegger, von Anfang an präsent. Mit Yorck, so wird gesagt, teile Heidegger eine doppelte Kritik an Dilthey, »nämlich einmal die an seiner mangelnden Radikalität gegenüber den naturwissenschaftlichen Methoden, und in eins damit gegenüber der ›historischen Schule‹ […]. Wenn Graf Yorck das Sein als ›Virtualität‹ denkt und die ›generische Differenz von Ontischem und Historischem‹ gegen Dilthey schärfer betont, steht er den Intentionen Heideggers in der Tat näher.« 4

Zu den von Yorck übernommenen Begriffen gehört auch der der Zugehörigkeit. Yorck hatte ihn Dilthey gegenüber geltend gemacht als Kategorie für den eigentlich geschichtlichen Lebensbezug, der »von der eigenen Lebendigkeit aus sich rückwärts wendet zu dem der Erscheinung nach Vergangenen, der Kraft nach Aufbehaltenen« 5. Geschichtlichkeit als »Virtualität«, wie Heidegger dies dann in Sein und Zeit weitergedacht hat, ist ohne diesen Lebensbezug der Zugehörigkeit nicht denkbar. Darauf hatte schon Fritz Kaufmann – hier vermutlich Ideengeber für Gadamer – nachdrücklich aufmerksam gemacht: »Die Zugehörigkeit zur geschichtlichen Lebenswelt bedeutet vielmehr ein derartiges inneres Verhältnis zu ihr, daß das Bewußtsein unserer Zugehörigkeit zu ihr die Innigkeit des Gefühls ihrer Zugehörigkeit zu uns hat. Als geschichtliche Menschen spüren wir uns durchdrungen, getragen und gefördert von einem Leben, das das unsere und doch nicht nur der Ablauf des eigenen Daseins ist: das uns wie unser Fleisch und Blut angehört […].« 6

Es kann hier nicht darum gehen, im Einzelnen zu entwickeln, wie diese Kategorie im Gespräch zwischen den Philosophenfreunden Dilthey und Yorck sich herausgebildet und durch Fritz Kaufmann einerseits und Heidegger andererseits auf Gadamer gewirkt hat. Es ist meine These, dass hier eine der zentralen Wurzeln der Gesamtkonzeption von WM liegt und dass sich durch sie ein Begriff von Verstehen gebildet hat, der in seiner gleichsam fundamentalistischen Intensität zugleich auch ein Element der Exklusivität enthält. Denn im Begriff der Zugehörigkeit kann auch die Möglichkeit der Nicht-ZugehörigH.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Der Anfang der Urfassung (ca. 1956). Hrsg. v. J. Grondin und H.-U. Lessing. Dilthey-Jahrbuch Bd. 8/1992–93, S. 131–140, hier: S. 139. 5 Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck v. Wartenburg 1877–1897. Neudruck Hildesheim 1995, S. 167. 6 F. Kaufmann: Die Philosophie des Grafen Paul Yorck von Wartenburg. Halle a. d. Saale 1928, S. 47. 4

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keit mitgedacht werden, und es wird für die folgenden Überlegungen darauf ankommen, ob wir unter Zugehörigkeit nur die Formalstruktur der Gemeinsamkeit geschichtlicher Wesen verstehen oder zugleich auch die Möglichkeit, zwischen konkreten historischen Bezügen von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zu unterscheiden. Was den Yorck-Spezialisten Fritz Kaufmann betrifft, so muss zur Verdeutlichung dieser Problematik sogleich darauf hingewiesen werden, dass er den Begriff der Zugehörigkeit bei Yorck nicht nur emphatisch heraushob, sondern später, nach den Erfahrungen von Hitler-Diktatur und Holocaust, auch von den Gefahren einer »Verengung des geschichtlichen Zugehörigkeitshorizontes« im Blick auf Yorck sprach. 7 Die Möglichkeit einer solchen Verengung hat nun aber zu tun mit dem Problem des interkulturellen Verstehens. Unsere Frage lautet: Ist Verstehen nur möglich im Lebensbezug konkreter historischer Zugehörigkeit zur jeweiligen Überlieferung? b) Wenn wir uns dem zuwenden, was in WM über Zugehörigkeit gesagt wird, müssen wir immer die soeben vorgenommene Differenzierung im Auge behalten: Gadamer gebraucht diesen Begriff einerseits ganz in dem Sinn, wie ihn Kaufmann positiv bei Yorck aufgenommen hatte. Es geht ihm um die »Besonderheit der Seinsart«, welche den beiden Seiten, dem Erkennenden und dem Erkannten gemeinsam ist. »Sie besteht darin, dass weder der Erkennende noch das Erkannte ›ontisch‹, ›vorhanden‹ sind, sondern ›historisch‹, d. h. von der Seinsart der Geschichtlichkeit sind.« (WM 247) Im Sinne Heideggers wird hervorgehoben, »daß die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins in ihrer ganzen Bewegtheit des Gewärtigens und des Vergessens die Bedingung dafür ist, daß wir Gewesenes überhaupt vergegenwärtigen« (ebd.). Die beiden Seiten sind einander dadurch zugehörig, dass sie sich in ihrer ontologischen Struktur entsprechen. Heideggers Konzeption vom Dasein als »geworfener Entwurf« wird auf die beiden Seiten angewandt: Die »Zugehörigkeit zu Traditionen« gehöre »genau so ursprünglich und wesenhaft zu der geschichtlichen Endlichkeit des Daseins wie sein Entworfensein auf zukünftige Möglichkeiten seiner selbst« (WM 248). F. Kaufmann: Wiederbegegnung mit dem Grafen Paul Yorck. Hrsg. v. I. Fetscher; in: Archiv für Philosophie 9 (1959), S. 207 – Vgl. F. Rodi: Die Intensität des Lebens. Zur Stellung des Grafen Yorck zwischen Dilthey und Heidegger; in: Ders.: Das strukturierte Ganze. Studien zum Werk von Wilhelm Dilthey. Weilerswist 2003, S. 246.

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Mit der Formulierung »Zugehörigkeit zu Traditionen« ergibt sich jedoch eine andere Perspektive. Anstelle der allgemeinsten ontologischen Bestimmung, der zufolge sich geschichtliches Sein auf die beiden Seiten in gleicher Weise erstreckt und sie deshalb »zugehörig« sind, zeigt sich jetzt eine gleichsam ontische Bestimmung des Daseins, indem es als in Traditionen stehend beschrieben wird. Damit ist der Weg eröffnet zu einer ersten »Verengung des Zugehörigkeitshorizontes«. Die Geworfenheit des Daseins bedeutet in dieser Anwendung auf das Verstehensproblem der Geisteswissenschaften vor allem die »Zugehörigkeit des Interpreten zu seinem Gegenstande«, und zwar in dem Sinn, dass »konkrete Bindungen von Sitte und Überlieferung und ihnen entsprechende Möglichkeiten der eigenen Zukunft im Verstehen selbst wirksam werden« (WM 249). Auf dieser Stufe des Gedankengangs von WM geht es also vor allem darum, Heideggers Konzeption des Daseins als »geworfener Entwurf« zur Ausgangsbasis für eine Hermeneutik zu machen, die ihre Gegenstände nicht als »vorhandene« Objekte methodisch zu bearbeiten sucht, sondern sich in einer noch zu klärenden Weise mit ihnen ins Benehmen setzt. In der Durchführung dieses Gedankens verdichtet sich die »Zugehörigkeit« immer mehr zu dem »Moment der Tradition im historisch- hermeneutischen Verhalten« (WM 279). Der Verstehende gehört zur Überlieferung »durch die Gemeinsamkeit grundlegender und tragender Vorurteile«. In diesem Sinne ist Überlieferung das Vertraute, das uns fraglos gegeben ist und uns führt. Sie ist aber zugleich die »historisch gemeinte, abständige Gegenständlichkeit« und damit das Fremde, das den Gegenpol zum Vertrauten bildet (ebd.). Dies ist, wenn ich richtig sehe, die erste Stelle in WM, von der aus mit den bisher entwickelten Denkmitteln das Problem des interkulturellen Verstehens hätte angegangen werden können. Statt der »historisch gemeinten, abständigen Gegenständlichkeit« ließe sich auch eine fremde Kultur in das Spannungsverhältnis gegenüber der vertrauten Überlieferung setzen. Und selbst dort, wo die Spannung von Fremd und Vertraut ihre produktive Lösung durch die »Horizontverschmelzung« zwischen Überlieferung und Gegenwart erfährt, könnte es einen Augenblick lang so scheinen, als wäre auch hier das Thema »Fremdkultur« im Prinzip einzubringen: »Die hermeneutische Aufgabe besteht darin, diese Spannung nicht in naiver Angleichung zuzudecken, sondern bewußt zu entfalten. Aus diesem

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Grunde gehört notwendig zum hermeneutischen Verhalten der Entwurf eines historischen Horizontes, der sich von dem Gegenwartshorizont unterscheidet.« (WM 290)

Aus der diachronischen Ebene in die gleichsam räumliche des Nebenund Gegeneinander von Kulturen übersetzt, könnte man sich vorstellen, dass auch hier eine »Horizontverschmelzung« denkbar wäre. Wir wissen aber, dass die Konzeption in ganz andere Richtung weist. Das Verstehen als »wirkungsgeschichtlicher Vorgang« (WM 283) ist ein »Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln« (WM 275). Von hier aus kommt der Überlieferung ein ganz anderer Stellenwert zu als der, den das historische Bewusstsein ihr zuweist. Sie ist nicht der historische Stoff, dem sich die methodisch geleitete Forschung zuwendet wie zu fremden Gegenständen. Das Stehen in Überlieferungen ist für Gadamer »kein vergegenständlichendes Verhalten, so daß das, was die Überlieferung sagt, als ein anderes, Fremdes gedacht wäre, – es ist immer schon ein Eigenes, Vorbild und Abschreckung, ein Sichwiedererkennen, in dem für unser späteres historisches Nachurteil kaum noch Erkennen, sondern unbefangenste Anverwandlung der Überlieferung zu gewahren ist.« (WM 266)

Hier ist also der Gedanke der Zugehörigkeit zur Tradition ausgeweitet im Sinne einer lebensweltlichen Kontinuität, in der sich die Lebensbezüge des Jetzt und des Früher unlösbar verschlingen. Je stärker Gadamer diese Seite der Geworfenheit herausarbeitet, desto geringer wird die Möglichkeit, in diese hermeneutische Position auch das interkulturelle Verstehen einzubringen. c) Gadamer nimmt im 3. Teil des Buches, der die »ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache« (WM 361 ff.) vornimmt, das Thema Zugehörigkeit noch einmal auf. Es geht ihm darum, »den Begriff der Zugehörigkeit vom Boden der sprachlich verfassten Welterfahrung aus näher zu bestimmen« (434). Auch hier wird der Geschehenscharakter des Verstehens betont, jedoch in der Weise konkretisiert, dass jetzt von einem Gespräch zwischen der Überlieferung und ihrem Interpreten gesprochen wird. Wie Gadamer schon an früherer Stelle des Buches ausgeführt hatte, sieht er im Verhältnis von Überlieferung und ihrem Interpreten eine Beziehung von Frage und Antwort. Dieses Verhältnis ist jedoch nicht einlinig zu denken in dem Sinne, dass die Überlieferung 254 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

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allein das Befragte, womöglich das objektiv Erforschbare ist. Vielmehr betont Gadamer die Dialektik, die sich hier vollzieht: der Fragende wird zum Gefragten. »Das eigentliche Geschehen ist dadurch aber nur ermöglicht, nämlich dass das Wort, das als Überlieferung auf uns gekommen ist und auf das wir zu hören haben, uns wirklich trifft und so trifft, als rede es uns an und meine uns selbst.« (437) Der Autor lässt hier die ›Zugehörigkeit‹ an das Wort ›Hören‹ anklingen, ohne freilich eine Schein-Etymologie à la Heidegger zu suggerieren. Die Dialektik der Frage ist zugleich eine solche des Hörens: wer hört, wird sozusagen angeredet, und wer angeredet wird, muss hören, »ob er will oder nicht« (438). So kann Gadamer schließlich sagen: »Zugehörig ist das, was von der Anrede der Überlieferung erreicht wird.« (Ebd.). Dies ist nach meiner Meinung die zweite Stelle in WM, von der aus eine Beziehung zum Problem des interkulturellen Verstehens hergestellt werden könnte. Dazu bedarf es allerdings eines fast gewaltsamen Eingriffs in die zuvor entwickelten Voraussetzungen. Wenn wir nämlich statt ›Überlieferung‹ das Thema ›Fremdkultur‹ einbringen und unterstellen, dass auch diese uns anreden kann und uns zum Gefragten macht, müssen wir fast ganz absehen vom Kernstück von Gadamers philosophischer Hermeneutik, nämlich vom Prinzip der wirkungsgeschichtlichen Vermittlung von Überlieferung und Interpreten und von der Theorie der Vorstruktur des Verstehens. Die fremde Kultur, wenn sie nicht einfach nur eine andere, vor unserer Haustür liegende Welt sein soll, bezieht ihre Fremdheit ja gerade davon, dass wir nicht wirkungsgeschichtlich mit ihr vermittelt sind. Für die Beschreibung unseres Verhältnisses zu ihr benötigen wir Begriffe, in denen das »Unstetige« (Bollnow), das Diskontinuierliche und Abrupte ausgedrückt werden kann. Wir müssen diese Welt »entdecken«, sie »bricht ein« in unsere Welt, wir werden mit ihr »konfrontiert«, sie »stößt uns vor den Kopf, wir »begegnen« ihr. Und doch erscheint es mir möglich, mit dieser Relativierung der wirkungsgeschichtlichen ›Geworfenheit‹ das andere Element von ›Zugehörigkeit‹ zu verbinden, das Gadamer durch die Dialektik des Hörens herausgehoben hat. Auch die fremde Kultur ist nur dann ein hermeneutisches Phänomen im engeren Sinne, wenn wir »von ihrer Anrede erreicht« werden. Auch von ihr muss gelten können, dass ihr Wort, »auf das wir zu hören haben, uns wirklich trifft und so trifft, als rede es uns an und meine uns selbst« (437). 255 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

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Es ist selbstverständlich, dass auch in solchen Begegnungen ein erhebliches Maß an Vorstruktur die Verstehensbemühungen leitet, ganz zu schweigen von jenen echten Vorurteilen, die zunächst dazu geführt haben mögen, das Fremde auszublenden oder zu neutralisieren. Entscheidend aber ist der Unterschied zum wirkungsgeschichtlichen Bewusstsein, der sich dadurch ergibt, dass das Stehen in Überlieferungen für die Begegnung mit dem Fremden bei weitem nicht in dem Maße konstitutiv ist wie im Falle einer intra-kulturellen »Horizontverschmelzung«. Die Spannung von Fremd und Vertraut kann bis an die Grenze dessen gehen, wo Verstehen-wollen in Irritation, ja Aggression und Hass umschlägt. Man denke etwa an die befremdliche, eine lange Gewöhnung erfordernde »Musik« im japanischen No-Spiel oder im Sologesang der klassischen indischen Musik. Auch das Ohr hat seine Vorurteile und ist von allen unseren Sinnesorganen vielleicht am stärksten durch die Überlieferung geprägt. Entsprechend mag der Anprall umso härter, die Irritation umso größer sein. Und doch ist es denkbar, dass sich im Zuge einer allmählichen Annäherung in diesen Tönen und Geräuschen etwas artikuliert, das uns »so trifft, als rede es uns an und meine uns selbst«. Zusammenfassend kann man sagen, dass wir bei der Beschäftigung mit Gadamers Text auf drei verschiedene Bedeutungsnuancen des Begriffs ›Zugehörigkeit‹ zu achten hatten. Da war zunächst das bei Yorck aufgegriffene Theorem von der ontologischen Allgemeinstruktur des Geschichtlichen, die es uns gestattet, als geschichtliche Wesen für geschichtliches Sein offen zu sein. Ferner verwies uns die Formulierung »Zugehörigkeit zu Traditionen« auf die im Einzelnen ontisch bestimmbare, inhaltliche Bindung an Überlieferungen, mit denen wir wirkungsgeschichtlich auch dann vermittelt sind, wenn sie selbst Thema unserer interpretatorischen Bemühung werden. Drittens ergab sich dann eine vertiefte Bedeutung durch die Dimension der Sprachlichkeit, in der das hermeneutische Geschehen als Gespräch gedeutet wurde. Um die einprägsame Formel noch einmal zu zitieren: »Zugehörig ist, was von der Anrede der Überlieferung erreicht wird.« (438) Während durch die zweite Bedeutung das Thema ›interkulturelles Verstehen‹ als prinzipiell ausgeschlossen erscheint, bleibt die erste Bedeutung im Sinne einer allgemeinen Strukturformel für alles Geschichtliche unserem Problem gegenüber indifferent, während die Heranziehung der dritten Nuance eine prinzipielle Infragestellung 256 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

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der wirkungsgeschichtlichen Voraussetzungen alles Verstehens und damit eine weitgehende Relativierung der Konzeption der ›Geworfenheit‹ bedeutet. Es soll nun im 2. Teil dieser Überlegungen an Hand von zwei neueren Auseinandersetzungen mit Gadamer versucht werden, die Möglichkeiten und Grenzen der philosophischen Hermeneutik im Blick auf das Problem des interkulturellen Verstehens noch genauer zu bestimmen. Dabei wird sich zeigen, wie verschieden man die Ansätze bewerten kann, die zu dem im engeren Sinn wirkungsgeschichtlichen und zu dem dialogisch orientierten Sinn von ›Zugehörigkeit‹ geführt haben.

2. a) Es kennzeichnet die Situation der sechziger Jahre in Deutschland, dass in den Diskussionen um WM das Problem des interkulturellen Verstehens nur eine marginale Rolle spielte. Das Beispiel fremder Kulturen wird z. B. in der Argumentation von Habermas nur gelegentlich und in einem Atemzug mit »zeitlichem und sozialem Abstand« erwähnt, um die Grenzen des hermeneutischen »Einrückens in ein Überlieferungsgeschehen« darzutun. Im Vordergrund des Interesses stehen in dieser Argumentation Aporien intra- und nicht interkultureller Verstehensprozesse, vor allem ideologiekritisch aufzuarbeitende Phänomene »systematisch verzerrter Kommunikation«. Auch wenn K. O. Apel in diesem Zusammenhang Beispiele außereuropäischer Kulturen heranzieht, so geht es ihm gleichfalls um die jeweils innerhalb dieser Gesellschaften zu bewältigende Diskrepanz zwischen traditionellem Selbstverständnis und seinen Verfremdungen durch die westliche Zivilisation. Auch hier wurden, wie bei Habermas, explanatorische Verstehensleistungen eingefordert, die nicht »von innen an Wände des Traditionszusammenhangs« stoßen, sondern gemäß dem Modell von Arzt und Patient die Tradition von außen kritisch befragen. Natürlich ließe sich das Syndrom einer »systematisch verzerrten Kommunikation« auch auf das Gespräch zwischen Kulturen übertragen. Klischees, Stereotypen, Feindbilder, nationalistische Überheblichkeit und Aggression sind keineswegs nur »naturwüchsige«, sondern auch manipulierte Vorurteile und Produkte einer system257 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

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stabilisierenden Propaganda. Die moderne Friedensforschung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten mit wechselndem Erfolg dieser Behinderungen des interkulturellen Dialogs angenommen. Aber in den Diskussionen der sechziger Jahre in Westdeutschland waren die Binnenaspekte einer Gesellschaft oder Kommunikationsgemeinschaft von zwei Seiten her nachdrücklich in den Vordergrund gerückt worden: Sowohl die existenzialanalytische Konzentration auf die Seinsweise des Daseins als auch die neomarxistische Ideologiekritik waren in erster Linie mit der je eigenen Tradition und dem Umgang mit ihr befasst. Vermutlich haben erst die großen Migrationsbewegungen und die damit sich bildenden Strukturen von Multikulturalität die Augen für andere Dimensionen des Verstehensproblems geöffnet. Aus heutiger Sicht betrachtet erscheinen manche Züge jener Debatten geradezu provinziell. Die Welt schien sich um Heidelberg und Frankfurt zu drehen. Inzwischen hat eine weltweite Diskussion längst auch das Problem des interkulturellen Verstehens in die Hermeneutik-Debatte eingebracht. Dabei haben naturgemäß zwei Grundsätze der Hermeneutik Gadamers besonderen Anstoß erregt: Erstens die konstitutive Macht der Überlieferung auch beim Verstehen und Interpretieren von Neuem und Fremdem; und zweitens die radikale Ausklammerung eines objektiven Sachwiderstandes aus dem Befund dessen, was im Verstehensprozess als relevant zu gelten hat. Ich möchte im Folgenden die Fragestellungen von zwei Arbeiten aus der jüngeren Forschergeneration aufnehmen, um meine eigenen Fragen an die philosophische Hermeneutik deutlicher artikulieren zu können. b) In seinem 1992 vorgelegten Buch Die Macht des Dialogs 8 fragt der Habermas-Schüler Hans-Herbert Kögler nach der Möglichkeit, die bisher schon aufgezeigten Aporien zu vermeiden, »wenn statt dem ›wirkungsgeschichtlichen Bewußtsein‹, welches sich die totale Abhängigkeit vom Sprachgeschehen des Verstehens eingestehen soll, vielmehr das Konzept eines ›dialogisch- kritischen Bewußtseins‹ eingeführt wird, dem es um eine aktive und reflexive Inanspruchnahme der Möglichkeiten des Sinn- und Fremdverstehens geht.« (Kögler 100)

H.-H. Kögler: Die Macht des Dialogs. Kritische Hermeneutik nach Gadamer, Foucault und Rorty. Stuttgart 1992.

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Vorgeschlagen wird eine »kritische Dialogik wechselseitig aufeinander bezogener Sinnperspektiven« (12), durch die »ein echter Pluralismus – der die wirkliche Anerkennung und Akzeptanz, nicht bloß Duldung und Toleranz verschiedener Sichtweisen und Lebensformen – allererst begründet« (13) wird. Gegenüber den »idealistischen Verkürzungen« (69), die der Autor in Gadamers Theorie feststellt, fordert er die Ergänzung einer Theorie des hermeneutischen Vorverständnisses, der es um das Zusammenwirken von drei Momenten geht, die »symbolische Ordnung«, »soziale Praxis« und »individuelle Subjektivität« genannt werden (ebd.). Negativ gewendet heißt dies, dass dem »Sprachontologismus« Heideggers und Gadamers eine dreifache Reduktion vorgeworfen wird: Die Reduktion »der Differenz und Besonderheit verschiedener symbolischer Ordnungen«; die Reduktion »der Unaufhebbarkeit und Nichtidentität sozialer Machtverhältnisse mit dem hermeneutischen Selbst- und Seinsverständnis der Subjekte und Sprecher«; und schließlich die »völlige Aufgehobenheit der individuellen Sinnperspektive im Gewölbe des sprachlichen Sinngeschehens« (77). Es ist leicht erkennbar, dass für das Problem des interkulturellen Verstehens das Thema »symbolische Ordnung« von deutlich größerem Interesse sein muss als die beiden anderen Momente. Es ist das Thema, dem seit Umberto Ecos Rückgriff auf die anthropologischen Studien von David M. Schneider bis hin zu Clifford Geertz’ Buch Dichte Beschreibung zunehmende Bedeutung in der hermeneutischen Diskussion zugekommen ist. Kögler entwirft das Verfahren einer »distanzierenden Erschließung symbolischer Ordnungen«, bei dem es ihm um eine »verstehende Explikation grundsätzlich divergenter Sinn-Standards« (134) geht. »Distanzierend« nennt er diese Erschließung fremden Sinnes, weil er sie als eine »die anderen Bedeutungszusammenhänge als andere entfaltende und damit uns von uns entfernende« Explikation bestimmt (ebd.). Dies wird an anderer Stelle auch beschrieben als »die nichtassimilierende Erfassung des anderen Sinnes und die davon ausgehende Möglichkeit substanzieller Neubeschreibung des eigenen, vertrauten Selbst- und Seinsverständnisses« (295). Köglers Kritik an Gadamer bezieht sich vor allem auf dessen »idealisierende Sprachontologie«, die für die verstehende Auslegung ein »gleichsam ontologisches Miteinanderverständigtsein« unterstelle, wo in Wirklichkeit häufig eine »radikale Verschiedenheit anderer 259 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

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symbolischer Ordnungen« vorliege. Bei aller Anerkennung des historisch-kulturellen Vorverständnisses als Bedingung der Möglichkeit des Verstehens und Interpretierens wird die »Hypostasierung der Sprache zum idealistischen Seinsmedium« (70) abgelehnt: »Dialogisches Verstehen kann nun nicht mehr von der Idee eines allgemeinen Konsensus oder eines vorgängigen In-der-Wahrheit-seins ausgehend entworfen werden, sondern muß sich an der bescheideneren Prämisse der möglichen Vergegenwärtigung eigener Schranken durch das Verstehen des Andern wie auch der Erkenntnis gewisser Grenzen des Andern durch die eigene Perspektive orientieren.« (70 f.)

Mit seinem Dialogmodell nimmt Kögler also einerseits das Prinzip Gadamers von der durchgängigen sprachlichen Vermitteltheit des Verstehens und die dialogische Struktur des Umgangs mit Anderem auf, versucht andererseits aber, die Vorstruktur des Verstehens beider Dialogpartner durch das Geflecht von »symbolischer Ordnung«, »sozialen Machtpraktiken« und »individueller Erlebnisgeschichte« gegenüber dem wirkungsgeschichtlichen Ansatz gleichsam aufzusprengen und so stark zu modifizieren, dass eine Vergleichbarkeit mit Gadamers Position kaum noch möglich ist. So ist mit Recht bemerkt worden, »daß die kritische Hermeneutik mit einem ganz anderen Interpreten handelt, als Gadamer dies tat. Dort war der Verstehende wie ein Spieler in einem Spiel involviert, das ihn erst konstituierte, hier wird er zu einem Fremdgänger, der nirgends gebunden ist. Die Position, von der aus dieser Interpret blickt, ist nicht mehr die des in Sprache und Tradition aufgehobenen, sondern […] die des entfremdeten Subjekts.«

c) Diese Sätze entstammen dem Buch Verstehen und Fremdheit in der philosophischen Hermeneutik von Werner Kogge. 9 Der Autor thematisiert in ähnlicher Weise wie Kögler die Grenzen des Verstehens, die er bei Gadamer gleichfalls zu wenig scharf gezogen findet. Aber im Unterschied zu dem Habermas-Schüler bezweifelt Kogge, dass eine Ausweitung der hermeneutischen Fragestellung in Richtung des interkulturellen Verstehens von der »Brüchigkeit des modernen Sinnhorizontes« (Kogge 126) aus gewonnen werden kann. Seine Kritik an Gadamer setzt gerade dort an, wo Kögler bei aller Distanz doch W. Kogge: Verstehen und Fremdheit in der philosophischen Hermeneutik: Heidegger und Gadamer. Hildesheim 2001.

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die Möglichkeit einer produktiven Weiterführung gesehen hat, nämlich beim Prinzip der Sprachlichkeit des Verstehens. Die Gebrochenheit des Verhältnisses zur eigenen Überlieferung sollte sich bei Kögler ja gerade in der »distanzierenden Erschließung« symbolischer Ordnungen in ihren produktiven Möglichkeiten erweisen, und dazu bedurfte es des Mediums »gemeinsam unterstellter Begriffe«, die im »kritisch-dialogischen Zirkel« zu einer »Erfahrung gänzlich anderer Welt- und Sinnentwürfe« (Kögler 142) führen sollte. Demgegenüber sieht Kogge in der Weiterentwicklung der Theorie des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins, wie sie in WM vorgenommen wird, eine schrittweise Verflachung des ursprünglichen Ansatzes. Hier rückt nun noch einmal der Begriff Zugehörigkeit in den Vordergrund. Kogge greift ihn positiv wertend auf und bejaht auch – ganz im Gegensatz zu Kögler – die »Begrenztheit der semantischen Tradition« (Kogge 129), die als Implikation des Begriffs Zugehörigkeit zu denken ist. Die Bedingtheit des Verstehens durch die Überlieferung bedeute zwar keine abgeschlossene Menge möglicher konkreter Sinnvermittlungen, beinhalte aber »zu jedem Zeitpunkt nur bestimmte Fragen, Gedanken, Ideen und Lösungsmöglichkeiten« (ebd.). Kogge konstatiert nun eine erste Stufe einer Abschwächung dieser ursprünglichen Konzeption des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins, die durch den Übergang zur ›Sprachlichkeit‹ des Verstehens, wie ihn Gadamer vornimmt, gegeben sei. Gadamer überspiele das Problem, das sich daraus ergibt, dass jede konkrete Sprachgemeinschaft »ihren inneren Zusammenhang dadurch erlangt, daß sie in ihrer sprachlich verfaßten Welt eine gemeinsame Ordnung der Dinge und Werte herstellt« (Kogge 129). Weder durch das Prinzip der Horizontverschmelzung, noch durch das Prinzip einer universalen Sprachlichkeit könne erklärt werden, »wie die Offenheit kultureller Horizonte mit der wirkungsgeschichtlichen Bedingtheit jeglichen Verstehens zu vereinbaren« sei (Kogge 131). So kommt der Autor zu dem Ergebnis: »Im Gegensatz zum Begriff der Überlieferung, der in der ersten Konzeption schon angab, in welcher Weise vorgegebener Sinn bedingend ist, stellt der Begriff der Sprachlichkeit eine Entleerung dieser Einsicht dar.« (Kogge 137; Hervorhb. i. Orig.) Eine weitere Abflachung der ursprünglichen Konzeption sieht Kogge in der Einbeziehung des Weltbegriffs in den sprachontologischen Teil von WM. Es erscheint in der Tat als eine erhebliche Zurücknahme des emphatischen Zugehörigkeitsbegriffs, wenn Gadamer im Schlussteil seines Buches schreibt: »In einem ähnlichen Sinne wie 261 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

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beim Wahrnehmen kann man von der sprachlichen ›Abschattung‹ reden, die die Welt in den verschiedenen Sprachwelten erfährt.« (WM 424) Anspielend auf Husserls phänomenologische Beschreibung der verschiedenen perspektivischen Ansichten eines Gegenstandes, deren Kontinuum den Gegenstand »an sich« ausmacht, betrachtet Gadamer hier die einzelnen Sprachwelten als Abschattungen der einen, mit sich identischen, wenn auch nicht »an sich« erfassbaren Welt. Man muss Kogge zustimmen, wenn er sagt, dass hier zur Überwölbung der einzelnen Zugehörigkeitshorizonte durch die Sprachlichkeit nun noch die Überwölbung durch eine Welt als Kontinuum aller sprachlichen Weltansichten hinzukommt. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn Gadamer hier die ursprüngliche Stringenz der wirkungsgeschichtlichen Grenzziehungen auflockert: »Gewiß sind die geschichtlichen ›Welten‹, die einander im Laufe der Geschichte ablösen, voneinander und von der heutigen Welt verschieden. Gleichwohl ist es immer eine menschliche, d. h. eine sprachverfaßte Welt, die sich, in welcher Überlieferung auch immer, darstellt. Als sprachlich verfaßte ist eine jede solche Welt von sich aus für jede mögliche Einsicht und damit für jede Erweiterung ihres eigenen Weltbildes offen und entsprechend für andere zugänglich.« (WM 423)

Kogge merkt an: »Von der Bedingtheit jedes Verstehens durch Zugehörigkeit zu einem Überlieferungsgeschehen kann nun nicht mehr gesprochen werden, wenn sich, via Sprache, in jedem Verstehen ›die Welt darstellt‹.« (Kogge 139) Aber er will doch an Gadamers ursprünglicher Konzeption festhalten »und diese so weiter zu denken, daß die spezifische Offenheit, aber auch die Verschlossenheit von fremden Sinnwelten bedacht werden kann« (Kogge 141). d) Ich möchte abschließend nur kurz auf den positiven Lösungsvorschlag von Werner Kogge eingehen und diesem einige eigene Überlegungen zum möglichen Stellenwert des interkulturellen Verstehens in der philosophischen Hermeneutik Gadamers anfügen. In seinem Bemühen, Gadamer vor dessen eigener Verflachung der ursprünglichen Konzeption zu bewahren, erinnert Kogge ein weiteres Mal an den Begriff der Zugehörigkeit: »Zugehörigkeit zeigte sich als Zugehörigkeit zur Tradition, die Situationen des Verstehens durch das Überlieferungsgeschehen bestimmt. Traditionen oder Kulturen sind der situative Rahmen, in dem Verstehen erst und nur möglich ist. Das Problem unterschiedlicher Kulturen ist in Wahrheit und

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Methode – so Gadamers eigene Worte – aber schlecht vorbereitet.« (Kogge 158)

Es geht dem Autor also darum, wenigstens skizzenhaft anzudeuten, von welcher Stelle im Gesamtwerk Gadamers aus ein anderer Blick auf das Problem des interkulturellen Verstehens denkbar ist. Er erinnert dabei an den Aufsatz Verstehen und Spiel von 1963, in dem Gadamer von der »Resonanzfähigkeit der Zeiten füreinander« spricht. 10 Diese Resonanzfähigkeit gehe über die Beliebigkeit von Affinitäten oder historischen Sympathien hinaus und habe »eine wesenhafte wirkungsgeschichtliche Bestimmtheit zu ihrem Grund« (Kogge 159). Kogge schlägt vor, dieses Prinzip nicht nur auf das Verstehen der eigenen Geschichte in ihren einzelnen Stadien anzuwenden, sondern auch auf das Verhältnis »unterschiedlicher bedeutsamer Welten« (Kogge 160). Statt des einen Spieles, für welches »das Zueinander der ins Spiel Gebrachten oder im Spiele Seienden« (Kogge 159) schon vorgängig festgelegt sei, könne man sich auch ein »Verhältnis solcher Spiele zueinander« vorstellen (Kogge 160). Mit dieser vagen Andeutung ist wenigstens ein Anknüpfungspunkt gegeben, um nach weiteren Möglichkeiten Ausschau zu halten, die Grenzen des wirkungsgeschichtlich bedingten Verstehens für andere Sinnwelten zu öffnen, ohne die zentralen Voraussetzungen des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins radikal aufzugeben. Ich möchte dabei noch einmal auf den Begriff der Welt zurückkommen, wie Gadamer ihn in dem Abschnitt Sprache als Welterfahrung (WM 415 ff.) eingeführt hat. Er bezieht sich dabei (leider nur allzu flüchtig!) auf die Unterscheidung zwischen Welt und Umwelt, wie sie in den Gründungsschriften der Philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts (Scheler, Plessner, Gehlen) vorgenommen worden ist (WM 420). Scheler hatte dazu das Stichwort gegeben, indem er der »Umweltgebundenheit« des Tieres die »Weltoffenheit« des Menschen gegenüber stellte. Der menschliche Geist als »NeinsagenKönner«, so sah es Scheler, ist in der Lage, sich dem biologischen Eingelassensein in eine dem Organismus entsprechende natürliche Umwelt zu entziehen und sich die Welt frei zu vergegenständlichen. Dieser allzu optimistischen Konzeption der Weltoffenheit gegenüber haben Gehlen und Plessner die Labilität und Riskiertheit der mensch10 H.-G. Gadamer: Verstehen und Spiel; in: Kerygma und Mythos VI, 1. Hamburg 1963, S. 69–76.

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lichen Natur geltend gemacht. Plessner sprach von einer »nicht zum Ausgleich zu bringenden gegenseitigen Verschränkung« von Umweltgebundenheit und Weltoffenheit: »Nur auf dem offenen Hintergrund einer nicht mehr in vitalen Bezügen aufgehenden Welt, die den Menschen in unvorhergesehene Lagen bringt und mit der er stets neue und brüchige Kompromisse schließen muß, hält er sich in jenem labilen Gleichgewicht einer stets gefährdeten, selbst wieder schutzbedürftigen Kultur. 11«

Dies ist nicht unter einem gnoseologisch-hermeneutischen Gesichtspunkt gesagt. Es geht Plessner nicht darum, verschiedene Sicht- und Deutungsweisen für die eine, uns als Erfahrungskontinuum gegebene ›Welt‹ aufzuzeigen. Die Verschränkung von Welt und Umwelt betrifft die leibhaftige Existenz des Menschen, seine Gefährdungen so gut wie seine Daseinschancen. Von daher gesehen ist ›Welt‹ nicht das substanziale, quasi statische »an sich«, von dem uns die verschiedenen sprachlichen Weltansichten als »Abschattungen« Kunde geben. Sie ist das dynamisch zu deutende ›Überraschungsfeld‹, das in immer neuer Weise einbricht in die durch künstliche Horizontbildungen abgeschirmten, sprachlich und sozio-kulturell durchstrukturierten Kulturen. Anstatt nun den Begriff der Welt zum Prinzip einer letzten Überwölbung des zur universalen Sprachlichkeit erhobenen wirkungsgeschichtlichen Verstehens zu machen, sollte im Sinne der Plessnerschen Verschränkung von Umwelt und Welt die letztere als die beständige Herausforderung verstanden werden, der sich die jeweiligen »symbolischen Ordnungen« zu stellen haben. Wirkungsgeschichtliche Vermittlungen, Überlieferungsstränge und -zwänge, sprachliche Weltansichten usw. sind Bestandteile der künstlichen Horizontbildung und der damit erreichten, immer labil bleibenden kulturellen Umweltgebundenheit. Mit welcher Wucht die ›Welt‹ in scheinbar stabile Strukturen moderner Zivilisation buchstäblich einschlagen kann, zeigen die Beispiele von Aids, fundamentalistischem Terror, Klimawandel und neuen Selbstverständlichkeiten kriegerischen Planens. Eine philosophische Hermeneutik muss auch solche Einbrüche mit im Blick haben, wenn sie sich ihres kategorialen Rüstzeugs immer wieder versichern will. Fremde, d. h. außerhalb des je 11 H. Plessner: Die Frage nach der Conditio humana. Ges. Schriften VIII. Frankfurt 1983, S. 182 u. 186.

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eigenen Verständnishorizontes liegende Sinn- und Wertsysteme sind für einander nicht Umwelt, sondern Welt. Diese Terminologie entspricht zwar nicht der Systemtheorie Luhmanns, in der die Umwelt jeweils das Korrelat eines Systems ist. Im Sinne der philosophischen Anthropologie dagegen benötigen wir eine Kategorie für jenen diffusen Bereich, aus dem immer neue Überraschungen, Faszinierendes und Bedrohliches, in das Gehäuse unserer jeweils ad hoc geordneten Kultur eindringen. Ganz im Sinne der philosophischen Hermeneutik kann man sagen, dass wir zur Bewältigung der Herausforderungen auf Überlieferung, Wirkungsgeschichte, Sprache, selbst Vorurteile angewiesen sind. Sie bilden zusammen jenes Gerüst, das früheren Begegnungen mit Welt abgewonnen wurde und immer wieder neu aufs Spiel gesetzt werden muss. Auch die Zugehörigkeit hat hier ihren legitimen Ort, sofern sie nicht Gewaltsamkeit des Sich-verschließens, sondern Souveränität des Sich-offen haltens der ›Welt‹ gegenüber bedeutet.

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Nachweise

Bedeutsamkeit und Befremdlichkeit. In: G. Rupp (Hrsg.): Was leisten die Geisteswissenschaften für die Zukunft? Beiträge zum Modellversuch Geisteswissenschaftliches Studium fundamentale an der Ruhr-Universität Bochum. Bochum 1992, S. 93–109. – Der ursprüngliche Entwurf als Beitrag zu dem deutsch-polnischen Symposium »Sinn – Bedeutsamkeit – Wert« (Oktober 1989 in Bochum) erschien in »Reports on Philosophy« 14/1991, S. 5–7 u. 17–25. Diesseits der Pragmatik. Semiotische und hermeneutische Aspekte der Reflexivität des Lebens. In: F. Rodi: Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20. Jahrhunderts. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. (stw) 1990, S. 168–187. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. – Der ursprüngliche Text, von dieser späteren Fassung erheblich abweichend, erschien in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, Bd. X (1979), S. 288–315. Marken und Male. Über die Grenzen einer reinen Pragmatik. In: A. Eschbach (Hrsg.): Perspektiven des Verstehens. Bochum 1986, S. 1–20. Die Artikulation des Eindrucks. Über die Bedeutung der reflektierenden Urteilskraft für das Projekt einer hermeneutischen Logik. In: F. Rodi (Hrsg.): Urteilskraft und Heuristik in den Wissenschaften. Beiträge zur Entstehung des Neuen. Weilerswist 2003, S. 225–246. Die energetische Bedeutungstheorie von Hans Lipps. In: Journal of the Faculty of Letters. The University of Tokyo. Aesthetics. Vol. 17/1992, S. 1–12. 267 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Nachweise

Anspielungen. Zur Theorie der kulturellen Kommunikationseinheiten. In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft, Bd. 7/1975, H. 2, S. 115–134. Zur Metaphorik der Aneignung. In: Bildung und Erziehung. 20. Jahrgang 1967 H. 6, S. 425–438. Das Nahe-bringen von Überlieferung. Über die kulturellen Lebensbezüge der »Vertrautheit« und »Fremdheit«. In: J. Kirchberg u. J. Müther (Hrsg.): Philosophisch-Theologische Grenzfragen. Festschrift für Richard Schaeffler. Essen 1986, S. 219–229. Der Anspruch der »Kultur«. Ein begriffsgeschichtlicher Versuch. In: Studia Culturologica 4/1996, Sofia 1996, S. 11–24. Conditio Humana. Zur gleichnamigen Schrift von Helmuth Plessner und zur Neuauflage seines Buches Die Stufen des Organischen und der Mensch. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. XIX/1965, S. 703–711. Kultur und Zivilisation. Versuch einer Neubesinnung auf ein abgewertetes Begriffspaar. In: A. Baruzzi u. A. Takeichi (Hrsg.): Ethos des Interkulturellen. Würzburg 1998, S. 90–105. Zugehörigkeit und Fremdkultur. Einige kritische Fragen an die philosophische Hermeneutik. Deutsche Erstfassung des Vortrags »Problemi della comprensione interculturale. Alcune domande critiche alla filosofia ermeneutica.« In: M. Gardini u. G. Matteucci (Hrsg.): Gadamer: bilanci e prospettive. Macerata 2004, S. 15–30.

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Personenregister

Seitenverweise, die sich auf eine Fußnote beziehen, werden grotesk dargestellt. Acham, K. 244 Adorno, TH. W. 12, 165, 218, 221, 231, 245 Agnew, Sp. 162 f. Apel, K.-O. 59, 70, 71, 72, 75, 257 Aristoteles 29, 130 Armstrong, N. 82 Aso, K. 60 Austin, J. L. 149 Bachelard, G. 177 Bacon, Fr. 181 Barber, B. R. 42 f., 232 ff. Baumgarten, A. 60 Beethoven, L. van 192 Bergson, H. 109, 171 Bernsdorf, W. 215 Binswanger, L. 39 Bismarck, O. v. 80, 152, 154 Blatty, W. P. 156 Bloch, E. 82, 164, 192 f. Boeckh, A, 30, 155 Bollnow, O. F. 19, 20, 37, 39, 110, 138, 142, 170, 173 f., 183, 255 Bourdieu, P. 31 Brecht, B. 199 Breuer, D. 90 Buckle, H. Th. 238 Buddemeier, H. 90 Burckhardt, J. 24, 205 Burdick, E. 161 Caesar 192 Carnap, R. 150 Cassirer, E. 14, 24, 169

Chamberlain, H. St. 211, 238 f. Chopin, Fr. 100 Cicero 36, 203, 209 Czerny, K. 164 Dahrendorf, R. 225 Danilewskj, N. 214 Derbolav, J. 218 Dewey, J. 106 Dietz, Th. 118 Dilthey, W. 11, 13–20, 22, 27, 30, 32, 33, 41, 45, 65, 67, 84, 107, 108, 110, 112, 116, 128, 176 f., 221 f., 250 f., Dray, W. 58 Droysen, J. G. 76 f., 238 Duchamp, M. 85 Eco, U. 30, 149–153, 259 Eibl-Eibesfeldt, I. 96 Eickstedt, E. v. 39 Elias, N. 211, 235, 241 Engels, Fr. 205 Fascher, E. 187 Fetscher, I. 46 Fichte, J. G. 211 Foucault, M 48 Frege, G. 145–148, 151, 153, 156, 159 Friedrich, H. 166 Frobenius, L. 214 Fukuyama, Fr. 43 Gabriel, G. 12, 22, 28, 55 Gadamer, H.-G. 12, 45, 46 ff., 70, 136, 250–263

269 https://doi.org/10.5771/9783495807941 .

Personenregister Gandhi, M 232 Geertz, Cl. 259 Gehlen, A. 37 ff., 97, 129, 184, 185, 108 f., 219, 227, 263 Goethe, J. W. v. 24, 26, 66, 80 f., 82 f., 84, 90, 112, 157, 175, 177, 192, 246 Granier-Deferre, P. 102 Groethuysen, B. 115 Gründer, K. 162 Haas, G. 165 Habermas, J. 70, 71, 72, 75, 257 f. Harpprecht, K. 248 Hartmann, N. 219 Hegel, G. W. F. 41, 110, 192, 193 Heidegger, M. 17, 37, 39, 44 ff., 52, 79, 80, 109, 121 f., 129, 188 f., 219, 250–255, 259 Heintel, E. 78 Hempel, C. G. 47 Heraklit 18 f. Herder, J. G. 64 f., 77 f., 123, 203, 208, 212, 214, 216 Herzog, R. 248 Hesse, H. 25, 124 Heuss, A. 38, 218 Hirsch, E. 210 Hirzel, I. 199 Hitchcock, A. 157 f. Hitler, A. 158, 220 Hölderlin, Fr. 192 Holz, H. H. 232 Horkheimer, H. 231, 245 Humboldt, W. v. 238 Huntington, S. P. 241, 243 Husserl, E. 17, 29, 107, 108, 131, 136 ff., 262 James, H. 32, 158 James, W. 32, 109, 115, 158 Jaspers, K. 39, 188 Jean Paul 65 Jung, M. 22 Kafka, Fr. 125 Kaltenbrunner, G. 232

Kant, I. 25, 109, 112, 117, 175, 210, 238 Karrer, W. 200 Kaufmann, Fr. 45 f., 251 f. Kayser, R. 165 Kellermann, Fr. Ch. 27 Kennedy, J. F. 160 Kierkegaard, S. 183 Klages, L. 219 Kleist, H. v. 118 Klopstock, Fr. G. 157 Kogge, W. 48, 260 ff. Kögler, H. H. 48, 258 ff. König, J. 18, 20, 37, 67, 107, 109, 122, 141, 142, 143 Kosellek, R. 154 Krannhals, P. 240 Kühne-Bertram, G. 17 f., 66, 110 Kümmel, Fr. 142 Kurosaki, M 60 Lassaulx, E. v. 214 Lederer, W. J. 161 Leibniz, G. W. 61 Lessing, G. E. 60 Lessing, H.-U. 14, 37, 110, 142 Lipps, H. 20, 22, 24, 29, 107, 109, 110, 119, 120 ff., 127 ff., 130–144, 166, 190 Liszt, Fr. 164 Litt, Th. 19, 110, 218, 225 Lotze, H. 27 Löwith, K. 39 Lübbe, H. 194 Ludwig XIV. 158 Luhmann, N. 265 Luther, M. 118 Mahler, G. 165 Makkreel, R. A. 109 Mann, G. 38, 218 Mann, H. 237 Mann, Th. 196 f., 211, 237 ff. Marcel, G. 182 Marcuse, H. 231 f., 237 Marcuse, L. 158 Marx, K. 171, 205

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Personenregister Matteucci, G. 109 Mead, G. H. 74 Meier, G. F. 60 Methfessel, A. 198 Meyer, R. M. 166 Meyer-Drawe, K. 127, 131 Mirabeau, V. de 235 Misch, G. 13, 17–20, 22 f., 26 f., 33, 66 f., 77, 104, 106–123, 133, 142, 144, 167, 221 f., 229 Mohanty, J. N. 142 Montesquieu, Ch. 213 Mörike, E. 34, 200 f. Morris, Ch. W. 71, 73 f., 84, 89, 92, 130 Mozart, W. A. 192 Mühlmann, W. E. 215 f. Mutzenbecher, A. 37 Napoleon I. 149, 192 Napoleon III. 32 Nehru, J. 232 Nicolai, Ph. 34, 200 Nietzsche, Fr. 50, 59, 109, 164, 171, 177 f., 180, 187 f., 191, 197, 208, 211 f., 216, 237 Nixon, R. 162 Nohl, H. 19, 110 Novalis 165 Ogden, Ch. K. 148, 150 f., 153 Otabe, T 60, 61 Otto, R. 115 ff. Patzig, G. 67, 107, 142 Peirce, Ch. S. 71 f., 74, 92 Perikles 154 Petrus (Apostel) 192 Pilatus 192 Platon 208 Plessner, H. 13, 15, 18, 20, 25, 27, 33– 40, 48, 98, 191–197, 200, 218–230, 263 f. Pöggeler, O. 159 Proust, M. 190, 200 Pufendorf, S. 210

Reinach, A. 107 Richards, A. 148, 150 f., 153 Rickert, H. 13, 110, 113 Rorty, R. 48 Rosenberg, A. 240 Rothacker, E. 11, 19, 33, 38 Rousseau, J. J. 42, 210, 234 Rühmkorf, P. 198 Rüsen, J. 44 Saint-Exupéry, A. de 173 Sartre, J.-P. 172, 179, 181 Schaeffler, R. 193 Scheffel, J. V. v. 164 Scheiermacher, Fr. 60, 72, 176, 180 f. Scheiffele, E. 138, 186 Scheler, M. 37 ff., 53, 188, 208, 218 f., 227 f., 263 Schiller, Fr. 164, 175 f., 212 Schmidt, S. J. 162 Schmitt, C. 191 Schneider, D. M. 151, 259 Scholtz, G. 12, 13, 59, 62 Schopenhauer, A. 65, 78, 82, 188, 192, 196 f., 237 Schubert, Fr. 165 ff. Schumann, K. 141 Schürmann, V. 18 Schütz, A. 188 Searle, J. R. 84, 102, 131, 162 Shaftesbury, A. C. 177 Simenon, G. 102 Simmel, G. 177, 212 Spengler, O. 33, 42, 211, 214 f., 236 Spranger, E. 19 Stierle, K. 90 Talleyrand, Ch. M. de 24 Thyssen, J. 136 Tugendhat, E. 148 Uexküll, J. v. 39 Usteri, J. M. 198 Verweyen, Th. 198 Vico, G. 203, 213

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Personenregister Wagner, R. 164, 197, 237 ff. Weber, A. 242 Weber, M. 14 Whorf, B. L. 184 Wieland, Chr. M. 66 Wilhelm I. (dt. Kaiser) 80 Winckelmann, J. J. 24 Windelband, W. 13, 113 Wittgenstein, L. 18, 74, 149

Wright, G. H. v. 56 Yamauchi, S. 60 Yorck, P. Graf v. Wartenburg 44 ff., 250–252, 256 Zeller, B. 124 Ziegler, L. 211

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