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German Pages 382 Year 2015
Andrea Querfurt Mittlersubjekte der Migration
Praktiken der Subjektivierung | Band 7
Editorial Poststrukturalismus und Praxistheorien haben die cartesianische Universalie eines sich selbst reflektierenden Subjekts aufgelöst. Das Subjekt gilt nicht länger als autonomes Zentrum der Initiative, sondern wird in seiner jeweiligen sozialen Identität als Diskurseffekt oder Produkt sozialer Praktiken analysiert. Dieser Zugang hat sich als außerordentlich produktiv für kritische Kultur- und Gesellschaftsanalysen erwiesen. Der analytische Wert der Kategorie der Subjektivierung besteht darin, verwandte Konzepte der Individuierung, Disziplinierung oder der Habitualisierung zu ergänzen, indem sie andere Momente der Selbst-Bildung in den Blick rückt. So verstehen sich die Analysen des DFG-Graduiertenkollegs »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive« als Beiträge zur Entwicklung eines revidierten Subjektverständnisses. Sie tragen zentralen Dimensionen der Subjektivität wie Handlungsfähigkeit und Reflexionsvermögen Rechnung, ohne hinter die Einsicht in die Geschichtlichkeit und die Gesellschaftlichkeit des Subjekts zurückzufallen. Auf diese Weise soll ein vertieftes Verständnis des Wechselspiels von doing subject und doing culture in verschiedenen Zeit-Räumen entstehen. Die Reihe wird herausgegeben von Prof. Dr. Thomas Alkemeyer, Institut für Sportwissenschaft der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Soziologie und Sportsoziologie Prof. Dr. Thomas Etzemüller, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Neuere und Neueste Geschichte Prof. Dr. Dagmar Freist, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte der Frühen Neuzeit Prof. Dr. Gunilla Budde, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Deutsche und Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts Prof. Dr. Rudolf Holbach, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte des Mittelalters Prof. Dr. Johann Kreuzer, Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte der Philosophie
Prof. Dr. Sabine Kyora, Institut für Germanistik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Deutsche Literatur der Neuzeit Prof. Dr. Gesa Lindemann, Institut für Sozialwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Soziologie Prof. Dr. Ulrike Link-Wieczorek, Institut für Evangelische Theologie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Systematische Theologie und Religionspädagogik Prof. Dr. Norbert Ricken, Institut für Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, Fachrichtung Theorien der Erziehung und Erziehungswissenschaft Prof. Dr. Reinhard Schulz, Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Philosophie Prof. Dr. Silke Wenk, Kulturwissenschaftliches Institut der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Kunstwissenschaft
Andrea Querfurt (geb. Kirschner) war von 2006 bis 2010 Forschungsassistentin am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld. 2015 hat sie im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive« an der Universität Oldenburg promoviert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Praxisund Subjektivierungsforschung, politische Soziologie sowie Konflikt- und Gewaltforschung.
Andrea Querfurt
Mittlersubjekte der Migration Eine Praxeographie der Selbstbildung von Integrationslotsen
Die vorliegende Arbeit wurde von der Fakultät IV – Human- und Gesellschaftswissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg als Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen. Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld
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Für Amina.
Inhalt
Vorwort | 11 Einleitung | 15 Teil 1: Bestandsaufnahmen | 29
1.1
1.2 1.3 1.4
Migrationswissenschaftliche Forschungsparadigmen aus poststrukturalistischer Perspektive | 31 1.1.1 Das Defizitparadigma: Täter und Opfer, Fürsorgeempfänger und Kontrollobjekte | 31 1.1.2 Das Differenzparadigma: Exotische Fremde | 34 1.1.3 Das Individualisierungsparadigma: Bastelbiographen und Identitätsmanager | 35 Poststrukturalistische Subjektkonzeptionen – Verflüssigung und Konstitution neuer Subjektpositionen | 37 Praxeologische Spuren in der Migrationsforschung | 40 Migranten als Mittlersubjekte | 49
Teil 2: Forschungsoptik | 55
2.1
Analytik: Praktische Subjektivierung und ihr szenischer Charakter | 56 2.1.1 Prolog: Praktiken und Szenen der Subjektivierung | 59 2.1.2 „In der Nacht des Subjekt-Effektes sind alle Praxen grau“ – Subjektivierung als ideologische Anrufung bei Louis Althusser | 62 2.1.3 Performative Aufführungen des Selbst – Subjektivierende Anerkennung bei Judith Butler | 67 2.1.4 Die Tücken der Anrufung – ein Subjektauftritt bei Slavoy Žižek | 71 2.1.5 Intermezzo: Habitus und Feld – Eckpfeiler einer subjektivierungstheoretischen Lesart Pierre Bourdieus | 73 2.1.6 Interaktionen „dramaturgischer Körper“ – Szenische Selbstbildung bei Erving Goffman | 76 2.1.7 Finaler Auftritt: Subjektpositionen, Dispositive, Selbsttechniken – Subjektivierungsperspektiven bei Michel Foucault | 81 2.1.8 Eine szenische Perspektive subjektivierender Praxis/Praktiken und zentrale Analysedimensionen | 84
2.2
2.3
Heuristik: Begegnungsraum der Migration | 92 2.2.1 Das Lotsenprogramm als Teil eines Integrationsdispositivs | 92 2.2.2 Die siteontologische Perspektive nach Schatzki | 101 2.2.3 Begegnungsräume der Migration | 106 Praxeographie: Forschungsstrategie und Subjektivierungstechnik | 110 2.3.1 Warum Praxeographie statt Ethnographie? | 111 2.3.2 Feldspezifische Entfremdungsstrategien | 112 2.3.3 Teilnahme, Distanzierung, Selektivität. Vom doing und making observation zum being observer | 115 2.3.4 Die Herstellung von Beobachtbarkeit | 119 2.3.5 Praxeographisches Umschreiben | 132 2.3.6 Kritik und Praxisrelevanz | 135
Teil 3: Empirische Analysen | 139
3.1
3.2
3.3
Die Akquirierung von Alltagshelfern | 140 3.1.1 Anforderungsprofile für Lotsenanwärter | 140 3.1.2 Motivationen, Artikulationen, Präfigurationen | 145 3.1.3 Wege der Akquirierung | 148 3.1.4 Zwischenresümee | 157 Ausbildung | 160 3.2.1 Die Anordnungen der Ausbildungspraktiken | 160 3.2.2 Stufen eines Trainingsprogramms und ihre Umsetzungen in der Praxis | 165 3.2.3 Die erste Stufe: Erzeugung von Erfahrungs- und Gefühlswissen | 172 3.2.4 Die zweite Stufe: Kompetenztraining | 195 3.2.5 Die dritte Stufe: Formulierung von Standards und Profilen | 209 3.2.6 Einzelne Trainingseinheiten im Fokus | 215 3.2.7 Zwischenresümee | 238 Übergänge | 245 3.3.1 Institutionelle Erwartungen und ihre spannungsvollen Verkörperungen | 246 3.3.2 Das Zeigen und Sich-zeigen-Lassen der Lotsenpraxis | 255 3.3.3 Fallstaccato und zentrale Grundsätze des Lotsenengagements: Einstimmung auf grenzbewusste Eigeninitiative | 258 3.3.4 Eignungsdiagnostisches Tastverfahren und das Austarieren von Angebot und Nachfrage | 264 3.3.5 Die Zertifizierung | 269 3.3.6 Zwischenresümee | 280
3.4
Gestaltungsarbeit | 286 3.4.1 „Dann wurde die Geschichte immer größer und größer.“ Zum Übersetzen in die Lotsenpraxis | 289 3.4.2 Terrain erobern: Projektarbeit als neues Praxisfeld | 296 3.4.3 „Deutscher werden“: Zur Reorganisation von Begleitpraktiken | 305 3.4.4 Sich einrichten: Zum Rearrangement der Sprechstundenpraxis | 310 3.4.5 Zwischenresümee | 326
Schlussbetrachtungen | 333 Literatur | 353
„Nachdem der Philosoph auf dem sicheren Boden des Festlandes – in realistischer Erfahrung, in Einzelwissenschaften, in Kategorien- und Methodenlehre – sich orientiert und an den Grenzen dieses Landes die Welt der Ideen in ruhigen Bahnen durchlaufen hat, flattert er schließlich am Gestade des Ozeans wie ein Schmetterling, hinausdrängend auf das Wasser, erspähend ein Schiff, mit dem er auf die Entdeckungsreise fahren möchte zur Erforschung des Einen, das als Transzendenz ihm in seiner Existenz gegenwärtig ist. Er späht nach dem Schiffe – der Methode des philosophischen Lebens und der philosophischen Lebensführung –, dem Schiff, das er sieht und doch nicht endgültig erreicht; so müht er sich und macht vielleicht die wunderlichsten Taumelbewegungen. Wir sind solche Falter, und wir sind verloren, wenn wir die Orientierung am festen Lande aufgeben. Aber wir sind nicht unzufrieden, dort zu bleiben. Darum ist unser Flattern so unsicher und vielleicht so lächerlich für die, die auf dem festen Lande sichersitzen und befriedigt sind, nur begreiflich für jene, die die Unruhe erfaßt hat. Ihnen wird die Welt zum Ausgangspunkt für jenen Flug, auf den alles ankommt, den jeder aus eigenem antreten und in Gemeinschaft wagen muß, und der als solcher nie Gegenstand einer eigentlichen Lehre werden kann.“ JASPERS (2004: 100)
Vorwort
Die Forschungsreise, die mich auf die Spuren von Mittlersubjekten der Migration führte, begann vor einigen Jahren während meiner ehrenamtlichen Tätigkeit für verschiedene entwicklungspolitische Organisationen. In besonderer Erinnerung ist mir dabei eine Szene geblieben, die ich in einer diffusen Weise als verstörend erlebt habe: Auf einem Vorbereitungstreffen für eine von einem Stadtteil-Frauenzentrum initiierte Veranstaltung für Menschen „mit und ohne Migrationshintergrund“ zum Thema „Frauenbilder in unterschiedlichen Kulturen“ wird das Programm gemeinsam von den Veranstaltern und einigen Beiträgerinnen geplant. Nawal möchte einen Beitrag zum Thema „Kopftuch“ beisteuern, ist sich jedoch noch nicht sicher, was sie „da genau erzählen soll“. Nach der Bedeutung des Kopftuchs gefragt, hebt sie hervor, dass sie es v.a. als etwas Modisches, als ein Accessoire verstehe. Mitveranstalterin Fernanda macht einen Vorschlag: „Du solltest etwas zur Unterdrückung sagen – und dich dann davon distanzieren. Du solltest sagen, dass das Kopftuch kein Symbol der Unterdrückung sein muss.“ Während sie ihre Idee weiter ausführt, verändern sich Nawals Körperhaltung und Mimik zusehends. Ihr Gesicht nimmt erst irritierte, später fast schmerzverzerrte Züge an. Sie windet sich, bis ihr Körper irgendwann regelrecht ‚dicht‘ macht: Nawal verschränkt die Arme, rückt mit dem Stuhl ein Stück zurück, wendet sich mit dem Körper immer weiter von Fernanda ab und sagt schließlich mit Nachdruck: „Aber ich möchte dazu gar nichts sagen. Ich habe noch nie diese Erfahrung gemacht. Wegen des Kopftuchs diskriminiert zu werden, war nie ein Thema für mich. Ich möchte das nicht!“ Fernanda jedoch beharrt eifrig auf dem Thema „Unterdrückung“. Nawal wirkt wie erstarrt, zeigt keine Regung. Als Mitveranstalterin klinke ich mich nach einer Weile in die Diskussion ein: „Mir scheint, dass Nawal das Kopftuch vor allem als Schmuck sieht, als etwas, das man auf unterschiedliche Art kunstvoll tragen kann. Wie wäre es, wenn du diesen Aspekt in den Vordergrund rückst?“ Nawal ruft aus: „Ja, genau.“ Fernanda sieht mich verärgert an: „Lass mich doch mal ausreden! Ich wollte ja nur, dass sie etwas dazu sagt, dass ein Kopftuch nicht immer der Unterdrückung
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dient. Dazu soll sie etwas sagen. Du kannst das gar nicht beurteilen.“ Auf der Veranstaltung wenige Tage später, schlägt Nawal mit ihrem Vortrag eine Art Mittelweg ein: „Es gibt viele Vorurteile, dass der Islam dazu zwingen würde, ein Kopftuch zu tragen. Das ist Quatsch. Ich möchte, dass Sie sich ein Bild vom modischen Kopftuch machen. Kopftücher sehen nicht alle gleich aus. Man kann auch mit Kopftuch integriert sein und positiv rüberkommen.“ John Dewey hat darauf hingewiesen, dass Entdeckungsprozesse wesentlich über Momente der Irritation und Aporie vermittelt sind. So wurde die beschriebene Szene auch für mich zum Anstoß für Fragen und explorative Suchbewegungen: Was lief zwischen den Kontrahentinnen dieser Szene ab und wie lässt sich so etwas theoretisierend beschreiben? Wie war ich selbst ins Geschehen involviert, wie positionierte ich mich in der Szene – und auf was für einen Platz wurde ich verwiesen? Allmählich kristallisierte sich eine Frage heraus, die zur Initialzündung für die vorliegende Arbeit wurde: Wie machen sich Menschen wechselseitig zu Migranten bzw. zu Migrantinnen und Einheimischen und welche Widersprüche, Spannungen und Konflikte verbinden sich damit? Es folgten weitere Sondierungen, in die sodann das Diskursereignis um Thilo Sarrazins populärwissenschaftliches Pamphlet über die Abschaffung Deutschlands durch muslimische Migranten hereinbrach (vgl. Sarrazin 2010). Die Journalistin Hilal Sezgin reagierte darauf zunächst in Die Zeit vom 2. September 2010 mit dem Artikel „Deutschland schafft mich ab.“ Sezgin positioniert sich darin als Muslima und rekurriert auf die eigenen und elterlichen Erfolge in Bildung und Beruf sowie eine nicht-patriarchalische Familienordnung. Sie zeichnet damit einen Gegenentwurf zu Sarrazins stereotypem Bild des bildungsunwilligen, patriarchalen und schlussendlich gefährlichen Muslim: „Vielleicht reichen die wenigen Sätze über meine Jugend bereits, dass Sie mir glauben, dass meine Eltern und ich zwar Muslime sind – aber eben nicht von der schlimmen Sorte. Solche also, die kein Deutsch lernen wollen, Bomben gegen Andersgläubige einsetzen, Hartz IV abzocken und in ihrer Freizeit Zwangsverheiratung praktizieren. Wir also sind nicht ‚so‘. Aber bitte glauben Sie mir auch etwas viel Wichtigeres: Ganz viele andere Muslime sind es eben auch nicht! Überhaupt würde ich die These wagen: Muslime sind beinahe normale Leute. Stärkere These: Individuen sogar!“ (Sezgin 2010: 49) Als Subjekt abgeschafft zu werden, heißt demnach, seiner Individualität beraubt zu werden – zurückerobern lässt sich diese, scheinbar paradox, nur mittels Herstellung eines Kollektivs. So schreibt Sezgin weiter: „Und tatsächlich, ob ‚wir‘ dies ursprünglich wollten oder nicht, wir rücken enger zusammen. Auf Facebook chatten wir darüber, wie sehr uns die Islam-Debatte auf die Nerven geht. Sobald drei, vier türkischstämmige Ingenieure, Ärzte, Rechtsanwälte zusammen in einem Raum sind, werden sie anfangen, ihre Auswanderungsfantasien zu erzählen.“ (Ebd.)
V ORWORT
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Wenig später setzt sich dieser Kollektivierungsprozess fort: Sezgin lässt in dem von ihr herausgegebenen Manifest der Vielen (2011) weitere achtundzwanzig muslimische Intellektuelle gegen Sarrazins Thesen in essayistischer Form zu Wort kommen und legt damit, so der Tenor des Geleitwortes von Christoph Peters, beredt Zeugnis ab von all den „kenntnisreichen, differenzierten und reflektierten Muslime[n], die es in diesem Land in großer Zahl gibt“ (Peters 2011: 8). Die beiden Ereignisse, das Diskursereignis um Sarrazin und noch mehr das eigens Miterlebte, bringen den Leidensdruck spürbar nahe, der sich mit der unterwerfenden Subjektwerdung verbindet, und sie zeigen exemplarisch, wie Menschen als gleichsam ermächtigte Subjekte mit diesem Druck umgehen: sie werden nicht nur angerufen, sie rufen ebenso zurück. In beiden Fällen machen sich Menschen zu Mittlern zwischen (muslimischen) Migranten und Einheimischen und subjektivieren damit nicht nur sich selbst als Migrantinnen, sondern sie tragen auch zur Subjektivierung jener bei, die in dem hierfür notwendigerweise konstituierten Kollektiv von ‚Vorzeigemigranten‘ nicht aufgehen. Dieser Spur von Mittlersubjekten der Migration bin ich weiter nachgegangen und dabei auf so genannte Integrationslotsen gestoßen. Hierbei handelt es sich um ehrenamtliche Helfer, vorzugsweise um Migranten, die sich das Vermitteln zwischen Einheimischen und Migranten programmatisch zur Aufgabe gemacht haben. An ihrem Beispiel lässt sich die relationale Hervorbringung von Migranten und Einheimischen und eine spezifische Form der ambivalenten Selbstbildung besonders gut ausleuchten: Mittlersubjekte der Migration sind gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie im Bemühen um Integration Fremdheit beständig herstellen und aufrechterhalten müssen. Danksagung Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Version meiner Dissertation, die im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs „Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive“ an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg entstanden ist. Da ich zu vielen Fragen und Einsichten ohne einen solchen Kontext kollektiver Wissensproduktion sicher nicht gekommen wären, möchte ich allen Mitgliedern des Kollegs für Inspirationen und konstruktive Kritik herzlich danken: Es war mir eine Freude, diesen „Flug“ in Gemeinschaft zu wagen! Mein ganz besonderer Dank gilt Thomas Alkemeyer, der den Forschungsprozess als mein Doktorvater von Beginn an mit außergewöhnlichem Engagement begleitet und vorangetrieben hat. Verantwortlich hierfür waren nicht nur sorgfältige Lektüren und unzählige anregende Diskussionen, sondern vor allem seine – das Klima des Graduiertenkollegs insgesamt kennzeichnende – Begeisterung für die
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Praxis des „Wissenschaftens“, die so ansteckend war, dass ich gar nicht anders konnte, als bis zum Ende dieser Arbeit mit Spaß und Faszination bei der Sache zu bleiben. Auch meinem Zweitgutachter Thomas Etzemüller danke ich für die verlässliche Betreuung, seinen historisierenden Blick, treffsichere Nachfragen und wertvolle Hinweise zum Umgang mit den eigenen Quellen. Unmöglich wäre diese Arbeit natürlich ohne die Integrationslotsinnen, Projektkoordinatoren und Dozentinnen der Lotsenkurse gewesen, die mir nicht nur mit großer Aufgeschlossenheit und Geduld Einblicke in ihre Arbeit gewährt, sondern als überaus engagierte und nicht zuletzt kritische Forschungssubjekte ebenso Interessen bekundet und wichtige Fragen gestellt haben. Ihnen gilt mein herzlicher Dank. Schließlich möchte ich meiner Familie danken, allen voran meinem Mann, der meine „manischen“ Phasen mit mir genossen, zwischendurch großartige Aufbauhilfe geleistet, mir immer wieder zur notwendigen Distanz und neuen Blickpunkten verholfen – und sich gar in praxeologischen Sprachspielen geübt hat.
Bremen im September 2015
Andrea Querfurt
Einleitung „Der Lotse – Sicherheitsberater an Bord: Die ‚Revierfahrt‘ – das Manövrieren auf den Seeschifffahrtsstraßen und in den Häfen – stellt besondere Anforderungen an die nautische Schiffsführung. Handelsschiffe mit immer größeren Abmessungen sind bei oftmals dichtem Verkehrsaufkommen in engen Fahrwassern sicher zu navigieren. Der Lotse ist der kompetente Partner des Kapitäns bei der Bewältigung dieser verantwortungsvollen Aufgabe, die langjährige Erfahrung sowie spezifische Kenntnisse des jeweiligen Schiffes und des Revieres erfordert. Die Lotsen müssen sich innerhalb kürzester Zeit auf Fahr- und Manövriereigenschaften eines fremden Schiffes einstellen sowie Wetterlage, Strömung und Gezeiten berücksichtigen, bevor sie Anweisungen zur Fahrt und zum Kurs des Schiffes erteilen. [...] Der Lotse ist ein qualifizierter und spezialisierter Berater des Kapitäns während der Revierfahrt des Schiffes. Kapitän und Lotse bilden für einige Stunden ein Team. Dabei muss der Lotse mit Seeleuten aus aller Welt und unterschiedlichen Mentalitäten umgehen können. Er muss Vertrauen und Ruhe ausstrahlen sowie belastbar und entscheidungsfreudig sein [...].“ BUNDESLOTSENKAMMER1
1
Vgl. www.bundeslotsenkammer.de/berufsinformation/index.html, Herv. AQ [3.4.2011].
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Seit einigen Jahren gibt es in zahlreichen Kommunen und einzelnen Bundesländern Qualifizierungsprogramme für ehrenamtliche Integrationslotsen und Integrationslotsinnen, welche sich im weiteren Kontext einer wachsenden Zahl von „Integrationsbegleiterprojekten“ (Huth 2007) verorten lassen.2 In Niedersachsen wurde das Qualifizierungsprogramm im Jahr 2005 mit dem Modellprojekt „Integrationslotsen und Freiwilligenarbeit in Stadt und Landkreis Osnabrück“ ins Leben gerufen. Anlass der Projektinitiierung war die Beobachtung, dass Migranten integrationsbezogene Informations- und Beratungsangebote in ihrer Stadt oder ihrem Stadtteil kaum oder nur in einem geringen Umfang nutzten und deutlich stärker auf Informationsquellen aus ihrem persönlichen Umfeld zurückgriffen, v.a. von bereits länger in Deutschland lebenden Angehörigen oder Bekannten derselben Herkunft (vgl. Bommes et al. 2010: 7).3 Hieraus wurde geschlossen, dass bereits „gut integrierte“ Migranten, in Ergänzung zu professionellen Einrichtungen der sozialen Dienste, in besonderer Weise dazu beitragen können, „die wechselseitige Integration“ (Müller-Wille 2007: 7) zu befördern. Migranten rücken damit als Alltagshelfer im nahen Umfeld in den Fokus der lokalen Integrationsarbeit.4 Der Auftrag der Lotsinnen besteht gemäß der „Richtlinie Integrationslotsen“ des Landes Niedersachsen (2007) darin, Neuzuwanderern bei der „Orientierung in einer für sie fremden Umgebung“ zu helfen und schon länger in Deutschland lebende Migrantinnen und Spätaussiedler bei der „sprachlichen, schulischen, beruflichen oder gesellschaftlichen Integration“ zu unterstützen.5 Nach einer erfolgreichen Evaluierung
2
Laut einer Expertise zu „Integrationsbegleiterprojekten“, zu denen neben Integrationslotsen bspw. auch „Sprach- und Kulturvermittler“, „Integrationsmittler“ und „Kulturdolmetscher“ oder „Mentoren für Migranten“ gehören, gab es im Erhebungszeitraum März bis August 2007 bundesweit 163 solcher Projekte (vgl. Huth 2007). Es handelt sich hierbei nicht um ein Phänomen, das allein auf Deutschland beschränkt ist. Eine erste Studie zu Kulturmittlern in den USA und Kanada, welche die Kommunikation zwischen Zuwanderern und Vertretern von Behörden und öffentlichen Einrichtungen verbessern sollen, haben Smedley, Stith und Nelson (2003) vorgelegt (vgl. Wolfsgruber 2007: 5). Aus einer vergleichenden Studie, die 2007 im Rahmen der transatlantischen Kooperation der Entwicklungspartnerschaft (TransKom) erstellt wurde, geht hervor, dass sich ähnliche Formen der „Sprach- und Kulturmittlung“ wie in Deutschland auch in der Schweiz, Belgien, Österreich, Spanien und Italien finden.
3
Mit der Nennung der weiblichen oder männlichen Form ist in dieser Arbeit die jeweils
4
Der Begriff des Alltagshelfers wird in Kapitel 3.1 ausgearbeitet.
andere Form mit gemeint. 5
Mit der Verabschiedung der „Richtlinie über die Gewährung von Zuwendungen zur Förderung von Maßnahmen zur Qualifizierung und Begleitung von Ehrenamtlichen für die Unterstützung von Migrantinnen und Migranten im Integrationsprozess (Richtlinie Integ-
E INLEITUNG
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des Pilotprojekts wurden im Jahr 2007 erstmals landesweit so genannte „Basisqualifizierungen“ für Integrationslotsen in Niedersachsen angeboten.6 Richtete sich der Fokus zu Beginn des Lotsenprojektes zunächst darauf, vor allem Menschen „mit Migrationshintergrund“ als Integrationslotsen zu gewinnen, nehmen inzwischen auch „Einheimische“ an den rund zweimonatigen Kursen für Integrationslotsen teil, da sich bei den Programmverantwortlichen „die Erkenntnis“ durchsetze, dass auch diese „unterschiedliche Erfahrungen mit Migration und Integration haben, die sie gleichermaßen einbringen können“ (Müller-Wille 2007: 8). Zu den Basisqualifizierungen, die auf eine Förderung von „Alltagsintegration“ (Huth 2007: 50) ausgerichtet sind, sind im Laufe der Projektdurchführung zahlreiche Spezialisierungsmodule getreten, die sich auf besondere Themenbereiche beziehen und an spezifische Zielgruppen richten. Im Fokus dieser Arbeit stehen, neben den basisqualifizierten Integrationslotsen, Elternlotsen sowie Hochschullotsen. Elternlotsen sollen Eltern mit Migrationshintergrund für die Themen Bildung, Schule und Erziehung sensibilisieren, als Schnittstelle zwischen Bildungsinstitutionen, Eltern und Kindern mit Migrationshintergrund fungieren und die Zusammenarbeit migrantischer Eltern mit den Bildungsinstitutionen stärken.7 Nach dem eigens für diese Spezialisierung entwickelten Qualifizierungskonzept richtet sich diese Lotsenqualifizierung vornehmlich an Eltern mit möglichst eigenen Migrationserfahrungen (ebd.). Hohen Abbrecherquoten und Benachteiligungen von Studieren-
rationslotsen)“ des Landes Niedersachsen im Jahr 2007 gewährleistete das Niedersächsische Ministerium für Inneres, Sport und Integration bis Ende 2011 eine jährliche Förderung des Qualifizierungsangebots in Höhe von 300.000 Euro. Die „Richtlinie Integrationslotsen“ (2007) ist abrufbar unter: www.freiwilligenserver.de/doc/doc_download.cfm? random_param=414 [6.5.2012]. Mit Verlängerung der Richtlinie im Jahr 2012 bis zum 31.12.2014 wurde eine weitergehende Finanzierung sichergestellt. Vgl. www.soziales. niedersachsen.de/download/69042 [2.10.2012]. Integrationslotsenprojekte wurden laut einer Evaluierungsstudie des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) von 2005 bis 2009 hauptsächlich über Landeszuschüsse sowie zusätzliche Eigenmittel und nur zu einem geringen Teil über Bundeszuschüsse oder kommunale Gelder finanziert (Bommes et al. 2010: 25). 6
Laut der Evaluierungsstudie des IMIS wurden im Zeitraum von 2005 bis 2009 in Niedersachsen ca. 1100 Integrationslotsen durch insgesamt 64 Träger, darunter Migrantenorganisationen, Kommunen oder Landkreise, am häufigsten die ansässigen Volkshochschulen, qualifiziert (vgl. Bommes et al. 2010: V).
7
Vgl. „Elternlotsen – ein modularisiertes Qualifizierungskonzept für die aktivierende Elternarbeit mit zugewanderten Eltern“. Herausgegeben vom Niedersächsisches Kultusministerium und der Kooperativen Migrationsarbeit Niedersachsen (KMN). http://cdl. niedersachsen.de/blob/images/C42421867_L20.p [8.6.2011].
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den aus dem Ausland und solchen mit Migrationshintergrund entgegen zu wirken, ist die Aufgabe von Hochschullotsen. Diese Qualifizierung soll Studentinnen mit und ohne Migrationshintergrund sowie internationale Studierende und Gasthörerinnen ansprechen (vgl. Meinhard & Klausing 2009). Laut Nationalem Integrationsplan stellt die „Ausbildung von Migrantinnen und Migranten zu kommunalen Integrationslotsen als Mittler zur Aufnahmegesellschaft“ eine zentrale integrationsfördernde Maßnahme dar (Bundesregierung 2007: 177). Für die vorliegende Arbeit ergibt sich vor diesem Hintergrund der folgende, mit Hilfe einer praxeologisch-subjektivierungstheoretischen Forschungsanalytik bearbeitete Fragenkomplex: Inwiefern und auf welche Weise bildet sich im Rahmen des Integrationslotsenprojektes ein Mittlersubjekt der Migration? Wie werden Menschen zu Mittlersubjekten gemacht und wie machen sie sich selbst – und andere – dazu? Wie sind sie also in ihre Selbstbildung aktiv ‚involviert‘ und in welcher Weise tragen sie ihrerseits zur Subjektivierung von Migranten und Einheimischen bei?8 In empirische Fragestellungen übersetzt heißt dies zunächst: Wie findet jemand seinen Weg in eine Lotsenausbildung – und wie findet ein Lehrgang neue Lotsenanwärter? Welche „langjährigen Erfahrungen und spezifischen Kenntnisse“ müssen Integrationslotsenanwärter für die „verantwortungsvolle Aufgabe“ des Lotsens mitbringen, welche müssen sie erst noch erwerben – und wie spielt sich diese Vermitt-
8
Den Begriff der Selbstbildung verwende ich, um den Terminus der Subjektivierung für diese Studie zu schärfen. Er verweist zum einen auf die Bildsamkeit des Subjekts als Unterworfenes, zum anderen aber auch auf Selbstbildungsmöglichkeiten im Sinne praktischer Umgangsweisen mit ‚Bildungsappellen‘: Subjekte werden nicht nur geformt, sondern machen Erfahrungen mit sich und anderen und haben auf diese Weise Anteil an der Gestaltung von Selbst- und Weltverhältnissen. Während diese Facette eines weiten Bildungsbegriffes weitestgehend in einem poststrukturalistisch-praxeologischen Verständnis von Subjektivierung aufgeht, soll Bildung darüber hinaus in einem engeren Sinne verstanden werden. Stichworte wie „lebenslanges“ oder „selbstgesteuertes Lernen“ deuten darauf hin, dass derzeit neue Anforderungen an Individuen gestellt werden, welche spezifische Formen der Selbstbildung der Subjekte in den Fokus rücken. Subjekte werden dabei einerseits als „Aneigner von Wissen und Wissensverwerter“ aufgewertet und andererseits zu Unternehmerinnen ihrer eigenen (Bildungs-)Biographien stilisiert (Krüger-Charlé 2008). Für diese Arbeit heißt das, mit dem Fokus auf Selbstbildung auch nach der Arbeit an bzw. mit der eigenen Biographie, den Wissensformen und Praktiken expliziter ebenso wie – im Anschluss an Pierre Bourdieu und Louis Wacquant – impliziter Pädagogik (vgl. Alkemeyer 2009: 119) zu fragen, in denen Mittlersubjekte der Migration in unterschiedlichsten Kontexten gebildet werden und sich selbst bilden.
E INLEITUNG
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lung und Herstellung von Wissen ab? Wie wird schließlich der Übergang in die Lotsenpraxis vorbereitet? Im Rahmen einer praxeographischen Analyse wurde diesen Fragen der Akquirierung und Ausbildung künftiger Integrationslotsen sowie ihres Übergangs in die Lotsenpraxis mittels teilnehmender Beobachtungen und begleitender Interviews in zwei Basislehrgängen sowie zwei Spezialisierungsmodulen für Eltern- bzw. Hochschullotsen, die auf mehrere Städte verteilt waren und an denen jeweils ca. zwölf Lotsenanwärter teilnahmen, nachgegangen.9 Darüber hinaus habe ich regelmäßig so genannte Nachhaltigkeitsmodule besucht, die der Vertiefung ausgewählter Ausbildungsinhalte und dem Erfahrungsaustausch aktiver Lotsen dienen. Prozessen der Selbstbildung wurde somit zunächst an konkreten Bildungsorten nachgegangen, d.h. an Orten, die sich durch die dort stattfindenden Lehr- und Lernpraktiken konstituieren.10 Offen blieben nach dieser rund einjährigen Forschungsphase eine ganze Reihe weiterer Fragen: Wie vollzieht sich das ‚Übersetzen‘ von der Ausbildung in die Praxis konkret? Wie macht sich ein Lotse für wen zu einem „kompetenten Partner“ und „qualifizierten und spezialisierten Berater“? Wie vollzieht sich das Navigieren auf „engen Fahrwassern“ und welche ‚Revierkenntnisse‘ sind dafür erforderlich? Kurzum: Wie macht sich jemand in der Lotsenpraxis zu einem Mittlersubjekt der Migration? Um mich dieser Frage anzunähern und die Kontinuitäten und Brüche im ‚Übersetzungsprozess‘ von der Praxis der Alltagshilfe über die Ausbildung in die Lotsenpraxis zu beleuchten, habe ich mich in einer zweiten Forschungsphase, ebenfalls rund ein Jahr lang, auf die Spuren eines Integrationslotsenvereins begeben und seine Sprechstunden für Migranten beobachtet. Mit dem Begriff der Spur wird die Aufmerksamkeit auf drei zentrale Aspekte gelenkt, anhand derer sich der analytisch-methodologische Rahmen dieser Arbeit abstecken lässt: Erstens mache ich in poststrukturalistischer Perspektive eine Anleihe bei Lévinas (1983) Spur des Anderen, die darauf verweist, dass der Andere und auch die Forscherin selbst nie ganz zu erreichen bzw. einzuholen sind. Statt um feste Identitäten geht es mit dem Subjektivierungsbegriff um eine Beziehung, die immer nur eine der offenen Annäherung, nicht eine der abschließenden, identitäts-
9
Der Begriff der Praxeographie hebt im Gegensatz zu dem der Ethnographie hervor, dass Praktiken und nicht imaginierte Gemeinschaften (Anderson 1983) wie nationale Kulturen oder Ethnien im Sinne vorgängiger Kollektive den Ausgangspunkt der Analyse bilden. Ausführlicher wird der Begriff in Kapitel 2.3.1 behandelt.
10 Alle Orte und Institutionen wurden anonymisiert, wobei darauf geachtet wurde, die erfundenen Personennamen aus den originären ‚Namensräumen‘ auszuwählen, um der Leserin ein möglichst ähnliches (Klang-)Bild zu vermitteln, wie es sich mir selbst dargestellt hat.
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fixierenden Erkenntnis sein kann; die Spur verweist somit auf die unabschließbare Prozessualität der Subjektivierung und auf Momente der Selbstentzogenheit und Verkennung durch den Anderen. Stehen Spuren also einerseits für etwas Abwesendes, sind sie andererseits prinzipiell an Materialität gebunden: „Spuren treten gegenständlich vor Augen; ohne physische Signatur auch keine Spur. Spuren entstehen durch Berührung, also durchaus ‚stofflich‘: Sie zeigen sich im und am Material. Spuren gehören der Welt der Dinge an. Nur kraft eines Kontinuums in der Materialität, Körperlichkeit und Sinnlichkeit der Welt ist das Spurenhinterlassen und Spurenlesen also möglich.“ (Krämer 2007: 15) Spuren hinterlässt nur ein Subjekt, das sich als ein verkörpertes in der Welt, d.h. an konkreten Orten, bewegt und dort seinerseits ‚Abdrücke‘ hinterlässt. In einer praxistheoretischen Perspektive wird mit dem Begriff der Spur somit die körperlich-materielle und räumliche Dimension der Subjektivierung zum Ausdruck gebracht. Diese macht Formen des Spurenlesens erforderlich, welche nicht „in der Selbstgenügsamkeit von Zeichensystemen“ (ebd.: 12) aufgehen, sondern Subjektivierungsprozesse an lokalisierte Praktiken rückbinden.11 Und schließlich lässt sich der Begriff der Spur praxeographisch lesen. Sich auf die Spuren von Integrationslotsen zu begeben, bedeutet, offen für „Entdeckungen in Form schwacher Ahnungen“ zu sein und eine „detektivische Haltung“ an den Tag zu legen (vgl. Gasteiger 2008: 38).12 Unterstrichen wird damit zugleich, dass das in dieser Arbeit hergestellte Wissen sich nicht in verschriftlichten Daten erschöpft, sondern „auch ‚Spuren‘ enthält – Momente, die erinnert, intuitiv verstanden, leiblich eingeprägt werden“ (Amman & Hirschauer 1997: 31) – diese Spuren gehen in den Forscherkörper ein und tragen zur Subjektivierung der Praxeographin bei (vgl. Kapitel 2.3).
11 Um die prinzipielle materielle, sprachlich-körperliche Medialität des Zugangs zur Welt auf den Begriff zu bringen, greift Loenhoff (2012: 194) ebenfalls auf die Metapher der Spur zurück: „Ist kommunizierter Sinn erst als Spur einer Eigensinnigkeit und ‚unsichtbaren‘ Materialität des Mediums bestimmt, kann die Sinnverarbeitung nicht nach einem dualistischen Modell konventionalisierter Zeichenbedeutung gedacht werden.“ Das Medium hinterlässt also eine je eigene Spur bei der Sinnproduktion, weshalb der praktisch performative Vollzug nie bloß der Anwendung einer Regel, mit anderen Worten: die Praxis nie bloß einer Aktualisierung der Praktik entspricht. Auf die analytische Unterscheidung zwischen Praktik und Praxis gehe ich in Kapitel 2.1 ausführlich ein. 12 Gasteiger bezieht sich in diesem Zusammenhang auf ein diskurstheoretisches Forschungsprogramm nach Foucault. Parallelen zu einem praxeographischen Forschungsprogramm (vgl. Kapitel 2.3) zeigen sich dabei nicht nur hinsichtlich einer hier wie dort erforderlichen detektivistischen Haltung, sondern auch im Einsatz von Befremdungsstrategien (vgl. Gasteiger 2008: 36).
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Analytische Herangehensweise Aus einer poststrukturalistisch-praxeologischen Perspektive wird in dieser Arbeit untersucht, wie sich Menschen im Vollzug von Praktiken selbst und wechselseitig zu Mittlersubjekten bzw. zu Einheimischen und Migranten machen, indem sie für sich und andere als solche intelligibel und somit anerkennbar werden. Den Ausgangspunkt bilden somit nicht vorgängige soziale Identitäten, sondern beschreibbare Praktiken und deren historisch und lokal situierte Vollzüge. Während ich Praktiken als typisierte Form eines weitestgehend regelmäßig und oftmals routinierten Agierens begreife, bezeichne ich mit Praxis einen Geschehensfluss, der durch Kontingenz, Offenheit und Unverfügbarkeit gekennzeichnet ist. Da die Praxis (wie das Subjekt) eine Vollzugsgröße beschreibt, die nicht mit sich identisch ist, sondern sich in jeder ‚Wiederholung‘ verändert, impliziert sie ein transformatorisches Potential in Hinblick auf die Praktik (vgl. Kapitel 2.1). Das Subjekt der Praxis als analytische Kategorie wird aus einer praxeologisch angelegten Subjektivierungsperspektive weder als autonome, stabile Handlungsinstanz konzipiert, noch als etwas strukturell Determiniertes. Es geht weder in der objektiven Position einer vorgängigen Gesellschaftsstruktur noch in einer diskursiven Sprecherposition auf. Genauso wenig löst sich das Subjekt jedoch schlicht im Vollzug einer Praktik auf, wie manche praxistheoretische Ansätze nahelegen.13 Da sich Subjekte nie nur in einer Praktik, sondern vielmehr in unterschiedlichsten fields of practices (Rouse 1996: 149) bilden, gehören Subjekte zu spezifischen Praktiken, sie gehören diesen aber nicht.14 Zwei Aspekte treten damit in den Vordergrund: Erstens bringen Subjekte aus der Teilhabe an Praktiken in unterschiedlichsten Kontexten Arten und Weisen des Urteilens, Entscheidens und Kritisierens und damit Möglichkeiten des Gestaltens in den Vollzug einer Praktik mit ein. Subjektivierung beschreibt somit einen Vorgang, in den die „Subjektivierungskandi-
13 So geht beispielsweise Reckwitz von einer extrem reduzierten Subjektkonzeption aus, indem er Subjekte „im Grad ihrer Innenorientierung und Außenorientierung vollständig von den sozial-kulturellen Praktiken“ (Reckwitz 2006: 40) abhängig sieht. 14 Joseph Rouse hat diesen Gedanken so formuliert: „Just as the objects utilized within a practice are usually not fully constituted by that practice (the same objects may also show up in a variety of other practices), so the same agents who engage in one practice also typically participate in many others. In this sense, agents obviously do exist outside the practices in which they participate and are not simply part of any of those practices. Yet agents do not have an identity fully separate from the practices in which they participate, such that who or what the agents are is partially constituted and/or transformed by those practices. Agents therefore ‚belong‘ to practices in both a weaker and a stronger sense.“ (Rouse 1996: 143).
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dat[en]“ (Alkemeyer 2013: 48) aktiv involviert sind.15 Zweitens finden Subjektivierungsprozesse zwar im Hier und Jetzt statt, doch sie erschöpfen sich nicht in situ; vielmehr speisen sie sich aus raum-zeitlichen Vor- und Rückgriffen und spannen dabei Körper, Räume, Objekte und Artefakte als transsituative ‚Speichermedien‘ ein. Um dem partizipativen Charakter der Subjektivierung, ihrer Materialität sowie ihrer eigentümlichen Temporalität im Sinne eines zugleich situativen wie transsituativen Geschehens Rechnung zu tragen, wird die poststrukturalistischpraxeologische Optik im Rahmen dieser Arbeit um eine szenische Perspektive erweitert (vgl. Kapitel 2.1). Die Selbstbildungsorte von Integrationslotsen fasse ich heuristisch als Begegnungsräume der Migration (vgl. Kapitel 2.2). Hervorgehoben wird damit, dass Subjektivierungsprozesse nicht im ‚luftleeren‘ Raum stattfinden, sondern in räumlichmateriellen Arrangements lokalisiert sind. Als Begegnungsräume werden diese Orte performativ hervorgebracht, indem sich die Anwesenden im Wege einer „praktischen Relationierung“ (Ricken 1999) selbst und wechselseitig als Migranten und Einheimische bzw. Mittlersubjekte der Migration anerkennen bzw. anerkennbar machen. Operationalisiert wird dieses relationale Anerkennungsgeschehen als ein Geflecht verbaler wie körperlicher Adressierungen und Readressierungen. Für Begegnungsräume der Migration scheinen dabei gerade differenzmarkierende bzw. identifikatorische Adressierungen im Rahmen eines doing difference bzw. doing sameness (vgl. Mannitz 2006) konstitutiv zu sein, welche die Relation zwischen Eigenem und Fremdem aktualisieren, aber möglicherweise auch verstören und suspendieren können. Wie sich Subjekte und Begegnungsräume wechselseitig bilden und welche Medien und Modi der Begegnung dabei Bedeutung erlangen, wird mit dieser Heuristik jedoch nicht a priori festgelegt, sondern im Verlauf der Arbeit empirisch herausgearbeitet. Auf dieser Basis wird das gewählte Beschreibungsvokabular fortlaufend rekapituliert und verfeinert. Ziele: Migrationswissenschaftlicher und subjektivierungsanalytischer Beitrag Mit der vorliegenden Arbeit verfolge ich eine doppelte Zielsetzung. Zum einen soll ein eigenständiger subjektivierungstheoretischer Beitrag zur Migrationsforschung
15 Diejenige empirische Kategorie, die im Rahmen dieser Arbeit ausschließlich als Subjektivierungskandidat in den Blick genommen wird, bezeichne ich als Mensch, Person oder (menschlichen) Akteur. Mir ist dabei wohl bewusst, dass in historischer Perspektive durchaus Götter, Engel, Tiere oder Pflanzen als soziale Personen anerkannt waren (vgl. Alkemeyer et al. 2013: 27). Ebenso bin ich mir im Klaren darüber, dass die Frage nach denjenigen Entitäten, denen ein Subjektstatus zukommen kann, auch gegenwärtig kontrovers diskutiert wird (vgl. etwa Latour 2007).
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erbracht werden. Subjekte der Migration nehmen zwar v.a. im Rahmen poststrukturalistischer Arbeiten eine prominente Stellung ein, in den Blick geraten sie dabei jedoch in der Regel als in Diskursen und stereotypen Zuschreibungspraktiken geformte und positionierte. Subjektivierung wird damit erstens als ein einseitiges top down-Geschehen entworfen und zweitens auf den Bereich der Sprache enggeführt, wodurch Migranten mitunter als bloße Diskurs-Effekte erscheinen. Biographieanalytische Zugänge zeigen, wie diskursive Subjektmodelle von konkreten Akteuren gedeutet und mitunter umgedeutet werden, doch auch sie konzentrieren sich in erster Linie auf die narrativ-sprachliche Dimension von Subjektivierungsprozessen, statt Selbstbildungen als spezifische Verkörperungen in den Blick zu nehmen. Gefragt wird in solchen Arbeiten letztlich danach, wie sich Migranten im Sinne einer schon vorausgesetzten, marginalisierten Minderheit zu einer ihnen vorgängigen autochthonen Ordnung verhalten, d.h. wie sie sich in diese ‚einpassen‘ oder sie ‚subversiv‘ unterwandern, jedoch kaum, wie Subjekte der Migration in ihrem Tun multiple Ordnungen mit hervorbringen. Bislang liegen darüber hinaus nur wenige Studien (vgl. Lutz 1991, Fischer 2009) vor, die sich mit Mittlern der Migration befassen. Auf Praktiken der Vermittlung und sich darin vollziehende Prozesse der Selbstbildung wird in diesen Studien über biographische bzw. narrative Interviews rückgeschlossen, statt Praktiken der Subjektivierung in ihrem immer auch körperlichen Vollzugscharakter und ihrer räumlich-materiellen Einbettung zu erschließen. Adressiert werden in der vorliegenden Arbeit somit drei migrationswissenschaftliche Forschungsdesiderata (vgl. Teil 1): Erstens wird die Subjektivierung von Migranten als relationales Geschehen analysiert, in dem Menschen nicht nur zu Migranten gemacht werden, sondern sich auch selbst zu – mal migrationshintergründigen und mal migrationsvordergründigen – Subjekten machen und ebenso Einheimische mit hervorbringen. Zweitens werden Selbstbildungsprozesse von Mittlersubjekten der Migration unter dem Aspekt ihrer Körperlichkeit und räumlichen Situiertheit betrachtet. Drittens widmet sich die Arbeit dem bisher nur in Ansätzen beleuchteten Gegenstandsbereich von Mittlersubjekten der Migration. Mit Integrationslotsen als spezifischer Form eines Mittlersubjekts gerät – so die Ausgangsüberlegung – ein komplexes Gefüge von Relationen besonders deutlich in den Blick, das nicht in jener eigentümlich stillgestellten Figuration von etablierten Einheimischen und migrantischen Außenseitern aufgeht, wie sie in der Migrationsforschung vielfach implizit vorausgesetzt wird. Wie für jede Konzeptualisierung des Subjekts ergibt sich dabei auch hier das Dilemma, einen Begriff für etwas voraussetzen zu müssen, das kontinuierlich im Werden ist und dessen – immer nur vorläufiger – Gehalt sich erst aus der empirischen Analyse ergeben kann. Die Bezeichnung Mittlersubjekt bringt somit zunächst nur die programmatisch an Integrationslotsen herangetragenen Erwartungen hinsichtlich des Vermittelns zwischen Kulturen, Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft sowie unterschiedlichen gesellschaftlichen Fun-
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ktionsbereichen auf den Begriff und bleibt während des Forschungsprozesses offen für empirische Dekonstruktionen. Die zweite Zielsetzung dieser Arbeit besteht darin, einen substantiellen, empirisch begründeten Beitrag zu einer praxeologisch-poststrukturalistischen Analytik der Selbstbildung zu leisten. Am Beispiel des ausgewählten Gegenstandsbereiches wird ein grundlegendes methodologisches Problem angegangen: „Wie kann Subjektivierung empirisch evident gemacht werden?“ (Bogusz 2013a: 559, Herv. AQ) Daraus ergibt sich gleichsam die Frage: Wie lässt sich praxeographisches Wissen theoretisch relevant machen – in welcher Weise lässt sich aus dem empirischen Fall etwas über diesen hinaus für eine Forschungsanalytik praktischer Subjektivierung ableiten? Aufbau der Arbeit Die Arbeit ist in drei Teile untergliedert. Im ersten Teil finden Bestandsaufnahmen zum Subjekt (in) der Migrationsforschung statt. Mit der kritischen Rekapitulation von Subjektkonzeptionen in diesem Forschungsfeld und ihren expliziten und impliziten Vorannahmen verfolge ich drei Ziele: Sie dient mir erstens zum Aufspüren von Forschungsdesiderata. Zweitens werden auf dieser Grundlage vorbereitende Überlegungen zur Entwicklung einer eigenen Forschungsanalytik praktischer Subjektivierung angestellt. Drittens findet bereits eine empirische Annäherung an den Forschungsgegenstand statt, indem diskursiv nahegelegte Subjektformen und Subjektpositionen in der Migrationsforschung herausgearbeitet werden. Im zweiten Teil der Arbeit wird in drei Schritten eine Forschungsoptik entwickelt, die nicht nur das analytische und methodische Handwerkszeug für die empirischen Studien bereitstellt, sondern ihrerseits theoretisierende Auseinandersetzungen mit dem empirischen Material impliziert und somit einem ständigen „Hin- und Herlavieren zwischen Empirie und Theorie“ (Scheffer 2002: 366) Rechnung trägt. Um Prozesse der Selbstbildung vorläufig analytisch zu justieren und operationalisierbar zu machen, wird in einem ersten Schritt unter Rückgriff auf poststrukturalistische, praxeologische sowie sozialphilosophische Ansätze eine Forschungsanalytik praktischer Subjektivierung und ihres szenischen Charakters ausgearbeitet (2.1). Im zweiten Schritt entfalte ich in Auseinandersetzung mit Michel Foucaults Ansatz des Dispositivs (1978) und Theodore Schatzkis Ontologie der Site of the Social (2002) die Heuristik eines Begegnungsraumes der Migration, welche den Selbstbildungsprozessen von Mittlersubjekten der Migration gewissermaßen einen Ort verschafft, an dem sich diese beobachtbar machen lassen (2.2). Im dritten Schritt werden Praxeographien zugleich als Forschungsstrategien und Subjektivierungstechniken perspektiviert (Kapitel 2.3). Die Erläuterung des methodischen Vorgehens im Rahmen dieses Forschungsprojektes wird dabei theoretisch rückgebunden, indem ich es
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selbst noch einmal subjektivierungstheoretisch lese und daraufhin befrage, was für ein Forschersubjekt sich darin konstituiert. Der dritte Teil der Arbeit widmet sich den Empirischen Analysen im Einzelnen. Der Selbstbildung von Integrationslotsen wird in vier Kapiteln nachgegangen, welche sich entlang einer chronologischen Ordnung organisieren, jedoch nicht als Phasen eines Kontinuums fortschreitender Subjektivierung zu lesen sind, sondern vielmehr als Umschreibungen eines Prozesses, der sich durch Rück- und Vorgriffe, Kontinuitäten und Brüche auszeichnet. Im ersten Kapitel geht es um die Akquirierung von Lotsenanwärtern (3.1). Da das Integrationslotsenprojekt Menschen als Migranten und Einheimische adressiert, vor allem aber explizit an die Unterstützungsleistungen von migrantischen Alltagshelfern anknüpft, rücken diese hierbei in den Vordergrund. Das zweite und dritte Kapitel befassen sich mit der Ausbildung von Integrationslotsen (3.2) bzw. den am Ende des Lehrgangs vorbereiteten Übergängen (3.3) in die Lotsenpraxis. Diese beiden Kapitel, in denen im engeren Sinne der „Bildungsarbeit“ (Bourdieu 1997: 167) von und an Mittlersubjekten der Migration nachgegangen wird, bilden den Schwerpunkt der empirischen Analyse. Im vierten Kapitel erfolgt am Beispiel des Integrationslotsenvereins ein Ausblick in die Lotsenpraxis, die ich als Gestaltungsarbeit begreife (3.4). Dabei rücken erneut die (ehemaligen) Alltagshelfer in den Fokus: Wie gestalten sie ihr Engagement im Rahmen räumlich-materieller (Re-)Arrangements und welche Gestalt geben sie sich selbst, um sich als Integrationslotsen von migrantischen Alltagshelfern abzuheben und als Lotsen erkannt zu werden? Fragen des Sprachgebrauchs Beobachtet man das „Sprechen-Über das Sprechen der Subjekte“ (Mecheril 2003: 33) in alltäglichen wie öffentlichen Debatten über Migration und Integration, so entdeckt man, dass der Ausdruck „Menschen mit Migrationshintergrund“ vielen inzwischen nicht mehr allzu leicht über die Lippen kommt.16 Schnell werden die Ar-
16 In (wirtschafts-)politischen Debatten fällt auf, dass dort angesichts von Fachkräftemangel in Privatwirtschaft und öffentlicher Verwaltung seit einiger Zeit seltener von Menschen mit Migrationshintergrund als solchen mit „internationalem Hintergrund“ die Rede ist. So fragt der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Torsten Albig auf der Pressekonferenz zum 6. Integrationsgipfel der Bundesregierung am 28. Mai 2013: „Wie erreichen wir, dass wir in unseren Verwaltungen – und auch in unserer Polizei, in unseren Passämtern, bei der Feuerwehr; wo auch immer – nicht nur 8, 9 oder 10 Prozent [Menschen mit internationalem Hintergrund] haben – und die meist auch nur, weil wir vor allem in den Pflegeberufen einen sehr hohen Anteil von Menschen mit internationalem Hintergrund haben – , sondern dass wir mehr Menschen haben, die keinen deutschen, sondern einen internationalen Hintergrund haben? Wir brauchen sie dringend und wir müssen stärker
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me gestreckt und Anführungszeichen angedeutet, um dem eigentlich Unsagbaren doch irgendwie Ausdruck verleihen zu können. Fällt der Begriff in einem Beitrag sehr häufig, mutet das ständige Auf und Ab der Arme wie eine eigentümliche ‚Turnübung‘ an, bei deren Anblick es schwerfällt, sich noch auf das inhaltlich Gesagte zu konzentrieren. Auch im eigenen Forschungsfeld suchen Rednerinnen Deckung hinter einem mit Anführungszeichen belegten Zitat. Ferner kommt es zu stockenden Adressierungen, welche die Anrufenden erröten oder auf skurrile Wortschöpfungen zurückgreifen lassen, die von „gefühlten Ausländern“ bis hin zu „Memiumeomis“ (Menschen mit und Menschen ohne Migrationshintergrund) reichen. All dies zeigt an, wie schwierig das alltägliche, das politische und nicht zuletzt das wissenschaftliche Sprechen-über ... ist – und dass es eben nicht nur ein Sprechen-über ist. In der Migrationsforschung tritt das Bezeichnungsproblem besonders deutlich hervor, weil sie nicht umgehen kann, beständig zur (Re-)Konstruktion von Differenzen beizutragen, indem sie Kategorien bildet und Gruppen untersucht, die eben keine Gruppen sind, sondern erst durch eine spezifische wissenschaftliche Beobachtung zu solchen gemacht werden. Wissenschaft wird hier selbst zum „sozialen Platzanweiser“ und wirkt produktiv in den Raum, den sie erforscht; sie agiert deshalb immer politisch (Scharathow 2010: 88). Eine Arbeit, die sich aus einer kritisch-reflexiven Perspektive mit dem Thema Migration bzw. Integration befasst, kommt daher nicht ohne eine besondere Sensibilität für die im Feld dominierenden Bezeichnungspraktiken wie auch für den eigenen Begriffsgebrauch aus.17 Dies gilt umso mehr, wenn die Forschung mit der subjektivierungstheoretischen Fragestellung befasst ist, wie Menschen zu Migranten gemacht werden, also das MigrantWerden statt des Migrant-Seins und ebenso wenig Nationalitäten oder Kulturen als statische Entitäten in den Blick nimmt. Mit der Rede von Migranten und Einheimischen, Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft spiegeln sich nicht selten essentialisierende und homogenisierende Vorstellungen der Gesellschaft als eines national-kulturellen Containers auch auf der Ebene der Selbstbeschreibung der Gesellschaft durch die Wissenschaft wider. Um nicht in diese von Wimmer und Glick Schiller (2002) als „methodologischer Nationalismus“ bezeichnete Falle zu tappen und gleichzeitig mit der Schwierigkeit umzugehen, dass begrifflich Differenzen vorausgesetzt werden müssen, deren Hervorbringung gerade zu untersuchen ist, verwende ich die Bezeichnungen Migranten und Einheimische dort, wo die Kategorien programmatisch oder von den Teilneh-
um sie werben.“ Vgl. www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferen zen/2013/05/2013-05-28-integrationsgipfel.html [10.6.2013]. 17 Sofern nicht ausdrücklich anders markiert, bezieht sich der Begriff des Feldes hier wie im Fortgang der Arbeit auf den ethnographischen Feldbegriff (vgl. Malinowski 1979).
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menden in situ relevant gemacht werden. Differenzen werden damit nicht präjudiziert, sondern an die empirische Untersuchung praktischer Relationierungen rückgebunden. Ebenso wird auf ethnische, nationale oder kulturelle Differenzen nur dort rekurriert, wo sie in situierten Grenzziehungspraktiken markiert werden; auch sie werden somit der empirischen Analyse anheim gestellt.18
18 Sofern im Feld Differenzen zwischen Nationalkulturen, jedoch keine ‚Eigenheiten‘ einer spezifischen Nationalkultur relevant gemacht werden, wandle ich diese Kategorien, genau wie jene des Geschlechts, zwecks weiterer Anonymisierung gelegentlich ab.
Teil 1: Bestandsaufnahmen
Was macht das Subjekt (in) der Migrationsforschung – was macht es aus und wie wird es ‚gemacht‘? Auf welche Subjektkonzeptionen wird in diesem Feld rekurriert und welche expliziten oder impliziten Implikationen und Vorannahmen verbinden sich mit diesen Konzeptionen? Wie wird versucht, Subjekte der Migration beschreibbar und beobachtbar zu machen? Welche Einsichten produzieren unterschiedliche Forschungsperspektiven und wo haben sie ihre blinden Flecken? Wie tragen wissenschaftliche Paradigmen selbst zur Konstruktion bzw. Reproduktion diskursiver Subjektpositionen für Migranten bei? Von diesem Fragenkomplex angeleitet werden im Folgenden zunächst zentrale migrationswissenschaftliche Forschungsparadigmen aus einer poststrukturalistischen Perspektive kritisch reflektiert und auf ihre jeweiligen Subjektmodelle – und damit ihre Subjektivierungsangebote – hin befragt (1.1). In einem zweiten Schritt wird die poststrukturalistische Perspektive auf sich selbst ausgerichtet, indem beleuchtet wird, welche Subjektpositionen das poststrukturalistische Forschungsparadigma seinerseits für Migranten ‚bereitstellt‘ (1.2). Erste Ansätze einer stärker praxeologisch ausgerichteten Migrationsforschung werden in einem dritten Schritt skizziert und auf ihre blinden Flecken hin diskutiert (1.3). Schließlich verengt sich der Fokus viertens auf eine Sichtung von Forschungsarbeiten zu Mittlersubjekten der Migration (1.4). Das Kapitel verfolgt damit insgesamt eine dreifache Zielsetzung: Erstens werden Forschungsdesiderata aufgespürt. Zweitens erfolgen vorbereitende Überlegungen zur Entwicklung einer eigenen Forschungsoptik. Drittens kommt es bereits zu einer empirischen Annäherung an den Forschungsgegenstand, indem diskursiv nahegelegte Subjektformen und Subjektpositionen in der Migrationsforschung konturiert werden.19
19 Eine Subjektposition fasse ich mit Foucault als Sprecherposition im Rahmen von Diskursen, d.h. als diejenige Position, die „jedes Individuum einnehmen kann und muß“, um das Subjekt einer Aussage zu sein (Foucault 1981: 139). Mit Reckwitz (2010a: 140) verstehe
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Unter einer poststrukturalistischen Perspektive verstehe ich einen spezifischen „Denkstil“ (Fleck 1999), der an Foucault anschließende diskurstheoretische und gouvernementalitätsanalytische Ansätze ebenso wie solche der post colonial, cultural und gender studies darin eint, dass sie das Subjekt zugunsten diskursiver Ordnungen, welche das Bewusstsein des Einzelnen übersteigen, de-zentrieren.20 Sie wenden sich damit gegen die moderne Vorstellung des Subjekts als einem „vollkommen zentrierten und vereinheitlichten Individuum“, das „mit den Vermögen der Vernunft, des Bewußtseins und der Handlungsfähigkeit ausgestattet“ war und dessen „Zentrum“ aus einem „inneren Kern [bestand], der mit der Geburt des Subjekts entstand und sich mit ihm entfaltete, aber im Wesentlichen während der ganzen Existenz des Individuums derselbe blieb – kontinuierlich oder ‚identisch‘ mit sich selbst“ (Hall 1994: 181). Statt das Subjekt als ‚Wesen‘ zu begreifen, richtet sich der Blick auf die Prozesse, in denen Subjekte historisch, kulturell und sozial an einem „Sprecherort“ positioniert werden und sich zugleich auch selbst im Sinne einer „vorübergehenden Platzierung“ positionieren (ebd.: 22). Subjekt, Kultur und Differenz werden insbesondere in postkolonialen Ansätzen als wechselseitig aufeinander bezogen gedacht, so dass sich mit der De-Zentrierung des Subjekts zugleich eine Hinterfragung essentialistischer Konzepte von Kultur und Differenz verbindet: „Kulturelle Identitäten haben Ausgangspunkte und Geschichten. Wie alles Historische unterliegen sie ständigen Veränderungen. Weit entfernt davon, in einer wesenhaften Vergangenheit für immer fixiert zu sein, sind sie dem permanenten ‚Spiel‘ von Geschichte, Kultur und Macht unterworfen“ (ebd.: 29). Kultur und Differenz werden damit aus ihrer ontologischen Stillstellung herausgelöst und über ihre historische und diskursive Kontextualisierung in Bewegung versetzt. Kultur wird nicht als territorial gebundene Einheit konzipiert, sondern im Sinne kultureller Praktiken verstanden, „die an Elemente diverser kultureller Formationen anknüpfen und deswegen grundsätzlich über jegliche feste, in sich geschlossene und einheitliche Vorstellungen von Kultur hinausgehen“ (Baquero Torres 2009: 96). Da das Subjekt relational gedacht wird, ist seine Konstitution notwendigerweise mit Differenz verbunden, wobei insbesondere Derrida mit seinem Konzept der différance (vgl. Derrida 2004), das sich in Abgrenzung zu oppositionellen Vorstellungen von homogenen und in sich geschlossenen (kulturellen)
ich unter Subjektformen „kulturelle Typisierungen, Anforderungskataloge und zugleich Muster des Erstrebenswerten“. 20 Mit dem Begriff des „Denkstils“ (Fleck 1999) soll darauf hingewiesen werden, dass es weder den poststrukturalistischen noch den praxeologischen Ansatz gibt, sondern, wie Reckwitz (2003: 283) in Bezug auf praxistheoretische Ansätze konstatiert hat, in beiden Fällen lediglich von Theorienbündeln mit einer „Familienähnlichkeit“ (Wittgenstein) auszugehen ist.
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Identitäten begreift, dazu beigetragen hat, Differenz analytisch und weniger normativ im Sinne einer hierarchischen Ausschließung des Anderen zu denken.21 Im Folgenden wird es somit darum gehen, die Subjektkonzeptionen der unterschiedlichen Forschungsparadigmen sowie die damit verbundenen Vorstellungen von Kultur und Differenz herauszuarbeiten.
1.1 M IGRATIONSWISSENSCHAFTLICHE F ORSCHUNGSPARADIGMEN AUS POSTSTRUKTURALISTISCHER
P ERSPEKTIVE
Die Unterscheidung dreier migrationswissenschaftlicher Forschungsparadigmen und eine damit verbundene Phaseneinteilung dient im Folgenden dem heuristischen Zweck, die darin eingelagerten Subjektkonzeptionen in zugespitzter Form herauszuarbeiten. In der migrationswissenschaftlichen Forschungspraxis ist selbstverständlich nicht von einer chronologischen Abfolge solcher Paradigmen, sondern vielmehr davon auszugehen, dass mediale, politische, juridische und Alltagsdiskurse (fach-)wissenschaftliche Konjunkturen sowie innerfachliche Positionierungsund Distinktionskämpfe befördern, die mitunter auch Pendelbewegungen und Verknüpfungen zwischen Forschungsparadigmen zulassen. 1.1.1 Das Defizitparadigma: Täter und Opfer, Fürsorgeempfänger und Kontrollobjekte Ungefähr seit den 1960er Jahren bis in die 1980er Jahre stand die bundesdeutsche sozialwissenschaftliche Migrationsforschung, die damals noch unter dem Begriff der Gastarbeiter- und später der Ausländerforschung firmierte, im Zeichen des so genannten Modernitäts-Differenz-Paradigmas. Ausgehend von einem essentialistischen Kulturverständnis wurde eine grundsätzliche Dichotomie zwischen traditionellen Herkunftsländern einerseits und modernen Aufnahmegesellschaften andererseits postuliert. Damit verband sich die Annahme, dass Migranten zum Zeitpunkt ihrer Einwanderung (erstmalig) mit Modernisierungs- und Individualisierungsprozessen und einem schier unausweichlichen Konflikt zwischen der als traditionell imaginierten Herkunfts- und einer modern vorgestellten Aufnahmekultur und damit einhergehenden Spannungen hinsichtlich familiär-kultureller Bindungen konfron-
21 Letztlich ist selbstverständlich keine Analytik frei von Normativität, da sich mit der sozialen und historischen Standortgebundenheit eines interessierten Analytikers stets bestimmte Vorannahmen verbinden. In Kapitel 2.3.6 wird darauf ausführlicher eingegangen.
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tiert seien (Geisen 2010: 29ff; Gutiérrez Rodriguez 1999: 26f; Apitzsch 1994). Migrationsbedingte „Entwurzelung“ und „Desozialisierung“ infolge eines Verlusts der vormals gültigen Sinnzusammenhänge, von kulturellen Wertvorstellungen und sozialen Rollen haben nach dieser Lesart „existenzielle Unsicherheiten“, „Orientierungsstörungen“ und „Identitätskrisen“ zur Folge, welche nicht nur für Stress, psychosomatische Beschwerden und Erkrankungen (Han 2005: 215-230, vgl. z.B. Klitzing 1984), sondern auch für gewaltförmiges Verhalten der Betreffenden verantwortlich gemacht werden (vgl. z.B. Grüber 1969, Albrecht & Pfeiffer 1979, kritisch: Geißler 1995). Die an Paradigmen wie Assimilation und Integration orientierte erziehungswissenschaftliche und soziologische Forschung wie auch die auf Kontrolle und Prävention ausgerichtete kriminologische Ausländerforschung war vor diesem Hintergrund vornehmlich auf die gesellschaftliche Planung und Steuerung, die Minimierung von antizipierten Reibungen und die Aufrechterhaltung der Ordnung der ‚Aufnahmegesellschaft‘ ausgerichtet (Breckner 2009: 21).22 Ausgegangen wurde von prozesshaften Stufenmodellen, an deren Ende eine vollkommene Ablösung vom ‚Herkunftskontext‘ nach ‚erfolgreicher‘ Integration, Assimilation bzw. Absorption stehen sollte. Die Tendenzen zur Viktimisierung von Migranten auf der einen und zu ihrer Kriminalisierung auf der anderen Seite unterlagen zugleich einer vergeschlechtlichten Logik: Wurden Migrantinnen, insbesondere solche muslimischen Glaubens, vornehmlich als „Opfer des Patriarchats“ (Gutiérrez Rodriguez 1999: 27, Herv. AQ) pathologisiert, erschienen männliche Migranten in erster Linie als potentielle Täter und Bedrohung für die gesellschaftliche Ordnung.23 Tendenzen einer wissenschaftlichen Kriminalisierung und „Versicherheitlichung“ (Buzan & Wæver 2003) insbesondere männlicher Migranten werden in jüngerer Zeit in dem Diskurs um (islamistischen) Terror fortgeschrieben. Muslimische Migranten, die zurückgezogen in ‚Parallelgesellschaften‘ leben oder als potentielle ‚Schläfer‘ inmitten der Gesellschaft, werden dabei zu Prototypen eines in seiner Ambiguität unkontrollierbaren Fremden (vgl. Querfurt et al. 2008, Bade 2004: 434,
22 Zu historischen Perspektiven auf unterschiedliche Modi der Steuerung und Verwaltung von Migration seit dem späten 19. Jahrhundert vgl. Oltmer (2003). Eine genealogische Analyse der Regierung von Migration seit dem europäischen Hochmittelalter bis heute hat Karakayali (2008) vorgelegt. 23 Vergeschlechtlichte Stilisierungen von Migranten zu Tätern und Migrantinnen zu Opfern finden sich noch deutlicher in medialen Repräsentationen. Zu Kriminalisierungs- und Versicherheitlichungstendenzen männlicher Migranten haben bspw. Delgado (1972), Müller et al. (2005) und Jäger (2000) gearbeitet. Zur Exotisierung und Viktimisierung von Migrantinnen siehe etwa Röben und Wilß (1996), Huhnke (1996) oder Hentges (2006). Eine ausführliche Diskussion des Forschungsstands zu „Migrantinnen und Medien“ findet sich bei Lünenborg et al. (2011).
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Riegel & Geisen 2010: 13). Eine Subjektposition als Opfer wird Migranten nicht zuletzt in Diskursen um Asyl und ,illegale Migration‘ im Rahmen eines „Viktimisierungsdispositivs“ (Karakayali 2008: 242) zugewiesen. Rückblickend wurde diese – sich fortschreibende – Tendenz, Migranten mal zu Fürsorgeempfängern und mal zu Kontrollobjekten zu machen, vielfach kritisiert. Vertreter der Ausländerpädagogik, wie etwa Hartmut Griese, räumten selbstkritisch ein, dass die Forschung Migranten mit ihrer ethnozentristischen und kulturalisierenden Differenzkonstruktion von Deutschen und Ausländern und einer damit einhergehenden „pädagogischen Segregation“ (Griese 1984: 9) den Status einer „,abgrenzbaren und handhabbaren Randgruppe‘ ähnlich jener der Behinderten, Sonderschüler, Obdachlosen“ zugewiesen (ebd.: 200) und eine „distanzierte und objekthafte Beziehung zwischen Deutschen und ‚Ausländern‘, Forschern und Untersuchungsgegenstand, Pädagoge und Klient“ hergestellt habe (ebd.: 11). Griese forderte vor diesem Hintergrund eine „fachspezifische Forschungsethik“, welche den Forschungsprozess und seine möglichen Konsequenzen für die Beforschten zu reflektieren habe (vgl. ebd.: 14). Aufgegriffen und unterstrichen wurde die Notwendigkeit einer solchen Haltung später von Paul Mecheril (2007), der eine stärkere „Subjektorientierung“ der Migrationsforschung einforderte. Mecheril sieht die defizitzuschreibende Migrationsforschung durch einen „doppelt entsubjektivierenden Schritt der Vergegenständlichung“ gekennzeichnet, indem insbesondere „Ausländerkindern“ das Vermögen abgesprochen worden sei, „sich interpretativ, deutend und sinngebend zu ihren kontextualisierten Erfahrungen zu verhalten“, so dass sie lediglich als „reaktiv Spannung, Konflikte und Belastungen empfangende Resonanzkörper“ in den Blick gekommen seien (Mecheril 2003: 17, Herv. AQ). Mecherils Rede von der Verobjektivierung bzw. Entsubjektivierung verweist dabei auf eine normative Subjektperspektive, welche den Subjektstatus eng mit einer wertschätzenden Anerkennung verknüpft. Zusammengefasst impliziert das skizzierte Forschungsparadigma eine defizitäre Differenz, die eine aktive Bearbeitung in Form von Kontrolle oder Fürsorge erforderlich macht. Migranten erscheinen im Rahmen des Defizitparadigmas als „Beurteilungstrottel“ (judgmental dopes) oder „kulturelle Deppen“ (cultural dopes) (Garfinkel 1967: 68f.), die von unhinterfragten Normen- und Wertesystemen geradezu ,blind‘ gesteuert werden und selbst keine Interpretations- und Beurteilungsleistungen erbringen.24 Gegen einen solchen Strukturdeterminismus versucht die post-
24 Mit dem Begriff der cultural dopes bezieht sich Garfinkel auf „the man-in-thesociologist’s society who produces the stable features of the society by acting in compliance with preestablished and legitimate alternatives of action that the common culture provides“ (Garfinkel 1967: 69).
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strukturalistische Migrationsforschung das migrantische Subjekt als ein sich aktiv zu diesen Strukturen Verhaltendes stark zu machen. 1.1.2 Das Differenzparadigma: Exotische Fremde Die aktive Bearbeitung von Differenz wich Mitte, Ende der 1980er Jahre zunehmend einer selbstregulativen Logik des Multikulturalismus, in der die ‚andersartige‘ Kultur von Migranten als Bereicherung angesehen wurde. Auch in der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung setzte sich dieses „Differenz-Paradigma“ durch, welches in den homogenisierenden und essentialisierenden Konzeptionen von national-kultureller Identität des „Defizit-Paradigmas“ verblieb, diese nun aber ins Positive verklärte (vgl. Geisen 2010: 32). Die Viktimisierung und Versicherheitlichung weicht im Rahmen dieses Paradigmas einer Tendenz zur Exotisierung des Fremden. Die Selbst-Verortung von Migranten innerhalb einer als territorial fixierte Einheit begriffenen Kultur wird dabei zur Bedingung für ihre Anerkennung als handlungsfähige Subjekte. Steht im Defizit-Paradigma die Gleichmachung und die Negation von Differenz im Vordergrund, werden Identität und Alterität hier in ein dialektisches Verhältnis gesetzt und wird Gleichheit über ein ständiges ‚Selbst-Bekenntnis‘ zu Differenz versprochen: „auf der einen Seite wird der Andere im Anspruch auf Universalität unter das Diktat der Gleichheit subsumiert; auf der anderen Seite wird er aus differenzpolitischer Perspektive zum Fetisch der kulturellen Partikularität stilisiert“ (Steyerl & Gutiérrez Rodríguez 2003: 8). Im Akt der Anerkennung des Migranten als kulturell Anderem wird dieser somit auf sein kulturelles Anderssein festgelegt und zugleich treten andere Faktoren, die einen Einfluss auf Subjektivierungsprozesse haben können, wie Geschlecht, sozioökonomischer Status oder Klassenzugehörigkeit ebenso wie Möglichkeiten, ein kritisches Verhältnis zur eigenen Herkunft und Biographie zu etablieren, weitgehend in den Hintergrund (vgl. Mecheril 2003: 21). Aus postkolonialer Perspektive kritisiert Ha (2000: 377) vor diesem Hintergrund, dass die positive Diskriminierung und Exotisierung von Migranten im Kontext einer verfehlten, auf politische Korrektheit bedachten „Multikulti-Diskussion“ dazu führe, „ein falsches, unwirkliches Idyll“ aufzubauen, „in dem die Rhetorik des Dialogs und der Bereicherung über die real-existierende soziale Benachteiligung, kulturelle Nicht-Repräsentation und politische Fremdbestimmung hinwegtäuschte, anstatt diese zu benennen.“ Bedingt nach Ha die Festschreibung kultureller Differenz gerade die strukturelle Diskriminierung und Ausschließung von Migranten, womit der Autor die OpferNarration des Defizitparadigmas in gewisser Weise fortschreibt, betont Anil Jain aus einer postfordistischen Beobachtungsperspektive heraus gerade die Möglichkeiten einer Verwertbarkeit von Alterität im Rahmen einer „Ökonomie der Differenz“
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(Jain 2003: 259), welche primär auf Bildern, Wissen und Ästhetik beruhe und Eigenschaften wie Mobilität, Flexibilität, Wurzellosigkeit und Offenheit für Ambiguität und Kontingenz zu Schlüsselkategorien des Erfolgs werden lasse (ebd.: 263). Ähnlich verweist Apitzsch aus feministischer Perspektive auf die kulturindustrielle Verwertbarkeit von kulturalisierter oder ethnisierter Differenz als „marktgängigem Exotismus“ und konstatiert ironisch: „Freilich bewirkt diese Entwicklung etwas Eigenartiges in sich, etwas schwer Handhabbares, manchmal richtig Ärgerliches: die gute alte Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft lässt sich nicht stillstellen. Die Mitglieder der Kommunikations-Eliten der Aufnahmegesellschaften reiben sich erstaunt die Augen, wenn sie entdecken, dass fremde Herkunft nicht nur in Form einer Hypothek und Belastung existiert, sondern dass sie auch eine Handlungsdynamik entfalten kann, die sich als Ressource erweist“ (Apitzsch 2003: 9). Dieser Ressourcen-Hypothese zufolge verfügen Migrantinnen über spezifische Fertigkeiten, Erfahrungen, Qualifikationen und Kompetenzen, welche sie bereits vor ihrer Wanderung oder im Zuge ihrer Migrationserfahrung erworben haben und die sie – unter geeigneten Bedingungen – sowohl für sich selbst als auch die Gesellschaft produktiv einsetzen können. Apitzsch rekurriert damit auf eine Form der Ressource, welche sich nicht mehr aus der Vorstellung essentialisierter kultureller Differenzen speist, sondern aus einer Art ‚Erfahrungsdifferenz‘. Auf diese werde ich in der Diskussion poststrukturalistischer Ansätze zurückkommen. 1.1.3 Das Individualisierungsparadigma: Bastelbiographen und Identitätsmanager Im Kontext der Individualisierungstheorie (Beck 1983) etablierte sich seit den 1990er Jahren auch in der Migrationsforschung eine Perspektive, die Migranten gewissermaßen aus ihrer kulturellen bzw. traditionellen Prädeterminiertheit herauslöste und „die Gestaltung der eigenen biografischen Entwicklung zur neuen, individuellen Aufgabe“ machte (Geisen 2010: 35). Migranten werden damit in die Position von ‚Bastelbiographen‘ (vgl. Hitzler & Honer 1994) versetzt, welche die Verantwortung für die eigene Lebensgestaltung zu tragen haben und „Identitätsarbeit“ bzw. „Identitätsmanagement“ erbringen müssen (vgl. Keupp & Höfer 1998, Herv. AQ). Mit dieser Perspektive verbindet sich, im Unterschied zu den bisher skizzierten Paradigmen, insofern ein antiessentialistisches Verständnis von Identität, als dass diese nicht mehr als Besitztum, sondern als aktiv und prozesshaft Herzustellendes verstanden wird. Dieser Prozess der Identitätsbildung im Sinne einer „Identitätsarbeit“ wird dabei allerdings weniger auf seine kontingente Offenheit, auf mögliche Spannungen und Ambivalenzen hin befragt, sondern entwicklungspsychologisch auf spezifische Integrationsleistungen, die zum Aufbau einer „Metaidentität“ notwendig erscheinen, enggeführt (vgl. Weißköppel 2001: 32ff.).
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Das Individualisierungsparadigma bleibt damit in einer teleologischen Entwicklungslogik und, wie Näcke und Park kritisiert haben, „in den Grenzen und Beschränkungen moderner Identitätstheorien verhaftet“, indem sich mit dieser Perspektive implizit ein äußerer Bewertungsstandpunkt verbindet, „der definiert, was ‚gut‘ und ‚richtig‘ ist, was eine ‚gelungene‘ Identitätsarbeit darstellen könnte und/oder sollte“ (Näcke & Park 2000: 12). Neben der Problematik einer solchen impliziten Normativität ist aus analytischer Sicht hervorzuheben, dass auch hier weiterhin von der Vorstellung eines weitestgehend autonomen, zentrierten Subjekts ausgegangen wird. Die zu leistende Identitätsarbeit vollzieht sich, so könnte man überspitzt formulieren, weitestgehend isoliert und letztlich in einer Art black box, da die Alltagspraktiken, in denen sich Subjekte in Relationen zu anderen bilden, mit dem Fokus auf ein individuelles Identitätsmanagement systematisch ausgeblendet werden. Aus gouvernementalitätstheoretischer Perspektive steht das Individualisierungsparadigma in enger Verbindung mit dem politischen Integrationskonzept des Workfare-Staats, welcher sich zunehmend vom paternalistischen Fürsorgegedanken des defizitorientierten Paradigmas abwendet und stattdessen auf ‚Aktivierung‘, ‚Fordern und Fördern‘ und das Engagement der ‚Bürgergesellschaft‘ setzt. Stefan Lanz kommt in seiner Analyse des kommunalen Integrationsdiskurses in Berlin zu der Schlussfolgerung, dass der Staat den Migranten im Zuge dieser Entwicklung nun ebenfalls als „unternehmerisches Selbst“ (Bröckling 2007) anrufe, d.h. bei Lanz als ein Subjekt, das ohne Sozialleistungen auskommt und aus eigener Initiative an der städtischen Gesellschaft partizipieren kann. Auf diese Weise sei ein „gleichsam halbiertes Bild einer aktiven Gesellschaft“ entworfen worden, das sich im „Job-AQTIV“- Gesetz auf der einen und „Hartz IV“ auf der anderen Seite materialisiert habe (Lanz 2007: 255). Gouvernementalitätstheoretisch lässt sich die Hervorbringung von Migranten als „Überflüssige“ (Bauman 2005) auf der einen und als ‚nützliche‘ und vor allem eigenverantwortliche Subjekte auf der anderen Seite als Teil einer Regierung der Migration beschreiben, welche zwar nach wie vor auf die Herrschaftstechnologien der Kontrolle und Disziplinierung setzt, zugleich aber in zunehmender Weise Appelle zur ‚integrativen Selbstführung‘ an das migrantische Subjekt richtet (vgl. Velho 2010). Stellt man die bislang skizzierten Paradigmen der Migrationsforschung einander zusammenfassend gegenüber, so bleibt festzuhalten, dass das Subjekt der Migration innerhalb des Differenz- bzw. Defizitparadigmas mal als Täterfigur und mal als Projektionsfläche für viktimisierende Zuschreibungen, in beiden Fällen aber als ein durch seine (essentialistisch verstandene) Herkunftskultur weitestgehend determiniertes konzipiert wird. Im Individualisierungsparadigma werden dagegen Subjektentwürfe eines ‚Bastelbiographen‘ und ‚Identitätsmanagers‘ gezeichnet, welche in
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der Vorstellung eines zentrierten und mit sich selbst identischen Subjekts verhaftet bleiben.
1.2 P OSTSTRUKTURALISTISCHE S UBJEKTKONZEPTIONEN – V ERFLÜSSIGUNG UND K ONSTITUTION NEUER S UBJEKTPOSITIONEN Seit den 1990er Jahren haben poststrukturalistische Perspektiven, darunter vor allem postkoloniale und feministische sowie rassismustheoretische Ansätze, maßgeblich zu einer neuen Perspektivierung von Subjekten in der Migrationsforschung beigetragen. Mit Hilfe einer ganzen Reihe von Konzepten, wie „Hybridität“ (Hall 1994; Bhabha 1994), „Transnationalismus“ (Basch et al. 1994, Pries 1997, Faist 2000), „Mehrfachzugehörigkeit“ (Mecheril 2003), „Transdifferenz“ (Breinig et al. 2002; Allolio-Näcke et al. 2005; Kalscheuer & Allolio-Näcke 2008) oder „translokale Positionalität“ (Anthias 2009) wurde versucht, eine „dichotome, zwanghafte Identitätslogik zugunsten vielfältiger Identifikationsräume und -positionen zu vermeiden“ (Ruokonen-Engler 2006: 203) und stattdessen Prozesse der Durchmischung und Durchkreuzung von Identitäten in den Blick zu bekommen. In deutlicher Abhebung von den bisher besprochenen Forschungsperspektiven setzen die verschiedenen poststrukturalistischen Perspektivierungen „an die Stelle einer stabilen Forschungskategorie wie die der Identität die Untersuchung des Scheiterns der Etablierung dieser Kategorie[n]“ (Dannenbeck 2002: 59). Es werden dabei zum einen die Subjektpositionen herausgearbeitet, welche Diskurse um Nation, Migration und Integration für Migranten ‚bereitstellen‘ bzw. nahelegen (vgl. etwa Yildiz 2008, Hess et al. 2009, Transit Migration Forschungsgruppe 2007). Darüber hinaus rücken mit der Perspektivierung von „Migration als Erfahrungsphänomen“ (Breckner 2009: 43) verstärkt die Selbstpositionierungen von Migranten und ihre „Biographizität“ in den Blick, das heißt, „jene Leistung von Subjekten [...], die darin besteht, gesellschaftliche Anforderungen und persönliche Eigenschaften durch verschiedene gesellschaftliche Statuspassagen hindurch miteinander zu verknüpfen“ (Apitzsch 1990: 361). Es wird davon ausgegangen, dass Migrationsbiographien durch „biographische Arbeit von den Migrationssubjekten zugleich hergestellt und immer wieder neu rekonstruiert“ werden (Apitzsch 2003: 65). Migrationserfahrungen mit Diskontinuität und Fremdheit werden im Zusammenspiel mit anderen „lebensgeschichtlich strukturierenden Erfahrungen“ (Breckner 2009: 16) sowie in ihrer intersektionalen Verschränkung mit Kategorien wie race, class, and gender (Lutz & Davis 2006, Ruokonen-Engler 2006) untersucht. In dieser Forschungsperspektive rücken Fragen nach den kreativen Umgangsweisen von Migranten mit ihrem „biographischen Kapital“ (Lutz 2000) ebenso in den Vor-
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dergrund wie ihre (Selbst-)Verortungen im Kontext von Konstruktionen wie Nation, Kultur, Ethnie oder Geschlecht (Riegel & Geisen 2010, Hess et al. 2009, Mannitz 2006, Steyerl & Rodríguez 2003, Gutiérrez Rodríguez 1999, Ezli et al. 2009). Gefragt wird nach Subjektivierungsprozessen von Migranten im Kontext von Rassismuserfahrungen (Hall 1994, Ferreira 2003, Tate 2003, Terkessidis 2004, Broden & Mecheril 2010, Velho 2010, Rose 2010) sowie unter den Bedingungen von eingeschränkter bzw. „prekärer“ Zugehörigkeit (Mecheril 2003, Riegel & Geisen 2010), nach biographischen Verläufen und individuellen Handlungs- und Deutungsmustern von Migranten unter den Bedingungen kapital- und figurationsbedingter sozialer Ungleichheit (Juhasz & Mey 2003) sowie im Kontext von lebensgeschichtlich und gesellschaftlich verankerten Mustern im Umgang mit Fremdheit (Breckner 2009).25 In biographieanalytisch angelegten Arbeiten lässt sich mitunter eine Tendenz ausmachen, ein ‚typisches Set‘ von migrantischen Erfahrungen zu generalisieren und hieraus besondere Fähigkeiten von Migranten im Umgang mit allgemeinen gegenwärtigen Erfahrungen von Kontingenz, Unsicherheit und Ambiguität abzuleiten. Sofern die aus lebensgeschichtlichen Erfahrungen abgeleiteten Fähigkeiten dabei apriorisch und typisierend für ein vermeintliches ‚Migrantenkollektiv‘ unterstellt werden, laufen solche Forschungsarbeiten allerdings Gefahr, erneut zu einem othering von Migranten beizutragen und das Differenzparadigma in gewisser Weise fortzuschreiben. Sowohl diskursanalytisch als auch biographietheoretisch angelegte Arbeiten im Rahmen des poststrukturalistischen Forschungsparadigmas tragen somit nicht nur dazu bei, vormalige Subjektpositionen zu verflüssigen, sondern sie bringen ihrerseits eine ganze Reihe von, in der Regel positiv bewerteten, Subjektpositionen für Migranten hervor. Sie reichen von „interkulturellen Innovateuren“ (Wood et al. 2006: 45, Terkessidis 2010: 218), „Pionierinnen der Moderne“ (vgl. Zechner 2003: 6) über „Grenzgängerinnen“ (Zinnecker 2006; Rohr & Jansen 2002) und „Nomadinnen“ (Braidotti 1994) bis hin zu „Vorläuferinnen der Vervielfältigung von Lebensentwürfen“, welche sich „durch eine Lebensstärke [auszeichnen], die von autochthonen Frauen in vergleichbaren sozio-ökonomischen Situationen kaum erreicht“ werde (Lutz 1991: 32f.).
25 Der einseitige Strukturdeterminismus der früheren ungleichheitsorientierten Migrationsforschung, der selbst noch zur Viktimisierung von Migranten beigetragen hatte, indem diese als Opfer, etwa einer vierfachen Unterdrückung durch „class, gender, ethnicity and fate“ (Morokvasic 1987) gezeichnet wurden, wird damit insofern aufgegeben, als dass neben Faktoren der sozio-ökonomischen Ungleichheit auch individuelle Wahrnehmungsund Handlungsmuster als maßgeblich für die Positionierungen von Migrantinnen angesehen werden (so etwa bei Juhasz & Mey 2003).
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Eingewendet wurde gegen solche Subjektentwürfe aus gendertheoretischer Perspektive, dass die migrantische Frau auf diese Weise zu einem „,Ich-bin-so-frei‘Subjekt“ (Villa 2006: 45), stilisiert werde, das sich jedem Streben nach Verortung und Fixierung von Identität erfolgreich zu entziehen vermag (Gümen 1996, Gutiérrez Rodriguez 1999). Von einem migrationspädagogischen Standpunkt aus argumentiert Mecheril, dass es im Rahmen solcher Zuschreibungen zu einer „naiven Überschätzung der Möglichkeiten ‚Subalterner‘ zur Selbstdarstellung und zum Handeln“ komme (Mecheril 2003: 22). Aus gouvernementalitätstheoretischer Perspektive wurden die Möglichkeitsräume solcher ‚postmodernen‘ Subjektformen gegenüber der als hegemonial angenommenen eines „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling 2007) darüber hinaus grundsätzlich in Frage gestellt: „Die nomadischen, ‚queeren‘ oder hybriden Subjekte, wie sie als emphatisch aufgeladene Gegenanrufungen poststrukturalistische Theorien [...] bevölkern, mögen zwar den auch in einer nachdisziplinären Gesellschaft noch wirksamen Homogenisierungsdruck mit einem Vexierspiel unscharfer oder wechselnder Identitätskonstruktionen unterlaufen, dem Flexibilisierungsimperativ einer radikalisierten Marktökonomie haben sie wenig entgegenzusetzen“ (Bröckling 2012: 142). Poststrukturalistische Ansätze oszillieren somit zwischen Subjektkonzeptionen, die das Subjekt der Migration mal eher als Unterworfenes, das es – auch durch die Wissenschaft – zu ermächtigen gilt, und mal als ein fast Übermächtiges konzipieren. Paradigmatisch erscheint vor diesem Hintergrund das Konzept der „Autonomie der Migration“, das in den 1990er Jahren in der italienischen und französischen Linken aufkam und inzwischen vielfach reformuliert wurde (vgl. Mezzadra 2007, Transit Migration Forschungsgruppe 2007, Karakayali 2008: 251ff.). In dieser Perspektive geht es darum, dichotome Täter- und Opferzuschreibungen auf Migranten zu überwinden und der „Migration ihr ‚subjektives Gesicht‘ zurück zu geben“ (Bojadžijev & Karakayali 2007: 206). Migrationsentscheidungen, Netzwerkbildungen und Praktiken, mit denen sich Migranten staatlichen Regulationen und Kontrollen entziehen, werden dabei ins Zentrum der Analyse gerückt und auf ihr widerständiges bzw. subversives Potential gegenüber dem Staat und bestehenden Formen der Vergesellschaftung hin befragt. Wie Benz und Schwenken (2005) in ihrer Diskussion des Konzeptes aus feministischer Perspektive kritisieren, werde dabei jedoch zum einen mit simplifizierenden Subjektvorstellungen operiert, die den komplexeren Positioniertheiten von Migrantinnen kaum gerecht würden. Die Autoren heben in diesem Zusammenhang vor allem auf die Vernachlässigung des Geschlechts in seiner intersektionalen Verschränkung mit anderen Ungleichheitsfaktoren ab. Darüber hinaus werde mit dem Begriff der „Autonomie“ eine problematische Dichotomie und Homogenität von Staat und Migranten nahegelegt, wobei nicht nur der Staat als monolithischer Block erscheine, sondern ebenso verloren gehe, „dass auch migrantische Netzwerke hierarchische Machtstrukturen und damit Abhängigkeits-
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verhältnisse aufweisen, die auf Ungleichheit basieren und sie reproduzieren“ (Benz & Schwenken 2005: 13). Die Autoren schlagen daher den Begriff der „Eigensinnigkeit von Migration“ vor und machen damit statt eines Subjekts, das im Konzept der „Autonomie der Migration“ letztlich wieder als ein weitestgehend souveränes, rationales Handlungssubjekt erscheint, ein Subjekt der Migration stark, das Potentiale für gesellschaftlichen Wandel freisetzt, indem es Praktiken auf kontingente, eigensinnige und gleichsam eingewöhnte Weise vollzieht: „Die Subjekte handeln und bewegen sich nicht unabhängig von der Geschichte, den Strukturen und den damit verbundenen ‚eingeübten‘ Wegen, dennoch entsteht etwas Neues, etwas EigenSinniges. Dieses Eigensinnige ist weder von einer Autonomie noch von Determinismen bestimmt, vielmehr nicht-linear, aber auch nicht beliebig.“ (Ebd.: 14) Bevor diese praxeologische Spur in der Migrationsforschung weiter aufgenommen wird, sei festgehalten, dass die disparaten Subjektentwürfe innerhalb des poststrukturalistischen Paradigmas auf zwei divergierende Perspektiven hindeuten: Aus einer ‚von oben‘ blickenden Vogelperspektive erscheinen Migranten als passiv und strukturell unterworfen. Eine mehr oder weniger naive Übernahme von Teilnehmerperspektiven scheint hingegen eher aktivistische Subjektkonzeptionen zu befördern, welche die kreative und subversive Handlungsmacht von Migranten betonen.26
1.3 P RAXEOLOGISCHE S PUREN IN DER M IGRATIONSFORSCHUNG Vor rund zwanzig Jahren formulierte Bernd Bröskamp (1993) Perspektiven einer an Bourdieus Soziologie angelehnten praxeologischen Migrationsforschung, die er sowohl gegen assimilations- als auch ethnizitätstheoretische Ansätze in Anschlag brachte. Mit Bourdieus Instrumentarium lasse sich nicht nur ein räumliches Modell denken, um das Wechselspiel zwischen sozialen Existenzbedingungen und Lebensstilen zu beleuchten, auch könne damit „Ethnizität als Praxis“ (ebd.: 187) beschrieben und die „Fremdheit der Körper“ (ebd.: 192) im Sinne einer spezifischen körperlichen Dimension von Selbst- und Fremddefinitionen in den Blick genommen werden. Fragt man vor diesem Hintergrund danach, was sich in der Zwischenzeit in diesem Forschungsfeld getan hat, ist zu konstatieren, dass insbesondere in habitusund performanztheoretischen Ansätzen ebenso wie solchen einer „praxeologischen Intersektionalität“ (Winker & Degele 2009) Spuren einer stärker praxistheoretischen Ausrichtung der Migrationsforschung erkennbar sind, insofern diese ihre
26 Um diese einseitigen Engführungen zu überwinden, wird in Kapitel 2.3 eine ‚Schmetterlingsperspektive‘ eingeführt.
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Aufmerksamkeit zunehmend auch auf Prozesse der Verkörperung und stumme körperliche Vollzüge richten sowie Differenz als ein interaktives Hervorbringungsgeschehen beleuchten. Einige dieser Studien greife ich hier exemplarisch, d.h. ohne Anspruch auf eine vollständige Literaturübersicht heraus. Paul Mecheril (2003) verbindet in seiner Studie Prekäre Verhältnisse. Über „natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit subjektivierungs- und habitustheoretische Überlegungen miteinander. Den Subjektbegriff bringt er in Anschlag, um die nach ihren Zugehörigkeitsverständnissen und Zugehörigkeitserfahrungen befragten Migranten bzw. „Anderen Deutschen“ im „Zugleich ihrer Gebundenheit und Freiheit, im Zugleich ihrer Originalität und Uneigenständigkeit, im Wechselspiel von Heteronomie und Autonomie sichtbar werden“ zu lassen (ebd.: 50). Das „Subjekt-Sein“ von Anderen Deutschen sieht Mecheril dadurch charakterisiert, dass diese fortwährend auf ihr Anderssein Bezug nehmen müssten, was sie nur in Kategorien bewerkstelligen könnten, die ihnen in Diskursen, in die sie verstrickt seien, angeboten würden (ebd.: 51). Die Wechselwirkungen zwischen dem Selbsterleben der Subjekte, diskursiven Fremdzuschreibungen sowie sozialen Ungleichheitsstrukturen und Distinktionspraktiken beschreibt Mecheril mit Hilfe des Konzepts der „prekären Zugehörigkeit“. Andere Deutsche befinden sich demnach in einem „Zwischenstatus“, welcher weniger durch intellektuell-emotionale und identitäre Orientierungsprobleme gekennzeichnet sei, wie es die Kulturkonfliktthese im Rahmen des Defizitparadigmas nahelegen würde, als vielmehr durch einen Mangel an sozialer Anerkennung ihrer „Mehrfachzugehörigkeit“. Mit Blick auf das Selbstverhältnis äußere sich der Zwischenstatus Anderer Deutscher „in der erfahrenen und gewussten Gleichzeitigkeit von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit“ (ebd.: 304). In einer zeitlichen Dimension sei das „prekäre Zwischen“ (ebd.) sowohl durch eine Unsicherheit in Bezug auf die Zukunft gekennzeichnet, da Zugehörigkeit als widerruflich und vorläufig erfahren werde, als auch in Hinblick auf die Vergangenheit, indem eine Verbundenheit zu dem Land, in dem die Anderen Deutschen derzeit leben, beständig zur Disposition gestellt werde (ebd.: 312f.). In einer räumlichen Dimension sieht Mecheril den Zwischenstatus durch „Ortlosigkeit“ im Sinne einer „Heraussetzung“ gekennzeichnet, mit der Folge, dass für die Betreffenden „keine souveränen Orte und Praktiken vorhanden“ seien, „an denen sie sich als ‚Andere‘ zur Geltung bringen“ könnten (ebd.: 315). Mecherils Perspektive hebt sich damit ab von Studien, die Migrantinnen etwa als „Pionierinnen neuer Verortungsperspektiven“ außerhalb ethnisierender und nationaler Diskurse beschreiben (GutiérrezRodríguez 1999: 16) und Zwischenräume als ‚Verhandlungsspielräume‘ konzeptualisieren, in denen sich gegenhegemoniale Widerstände, Kreuzungen von Kulturen und De-Platzierungen von binären Zuordnungen (Yildiz 2008: 18) artikulieren können. ‚Alternative‘ Selbstverortungen bieten in Mecherils Konzeption weniger einen Ausweg aus dem Dilemma des gleichzeitigen Zwangs und Unvermögens ei-
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ner eindeutigen Positionierung als sie dieses mitunter noch verschärfen: „Positionierungen der Unpositioniertheit, öffentliche Darstellungen, in denen darauf gedrängt wird, gelungen anders zu sein, können mithin als raffinierte Bestärkung der kritisierten natio-ethno-kulturellen Praxis des Entweder-Oder gelesen werden, die Zwischenformen lediglich als Moratorium duldet, exotisiert oder als singulär tolerierbare Unfälle zulässt“ (Mecheril 2003: 315). Mecheril verweist damit auf temporale und lokale Aspekte von Praktiken der Selbst- und Fremdpositionierung, ohne letztere allerdings als zeitlich und räumlich situierte Vollzüge in den Blick zu nehmen. Da Positionierungen lediglich als sprachliche untersucht werden, gerät die körperliche Dimension ebenso wie die räumlich-materielle Einbettung von Positionierungspraktiken aus dem Analysefokus.27 Der Körper kommt hingegen dort ins Spiel, wo Mecheril mit Hilfe von Bourdieus Habituskonzept zeigen will, wie der „prekäre Zugehörigkeitsstatus Anderen Deutschen gewissermaßen ‚auf den Leib rückt‘, sie zeichnet und als ausländerhabituelle Andere bestätigt, deren ‚Monstrosität‘ darin besteht, dass sie Geschiedenes, Nähe und Distanz, Eigenes und Fremdes nicht nur zusammenbringen, sondern auch uneinfügbar und störrisch verkörpern“ (ebd.: 29; Herv. i.O.). Der Ausländerhabitus als „Verkörperung prekärer Zugehörigkeit“ drücke sich in Gesten, Gedanken, Körpern, Sehnsüchten und Ängsten aus, wobei Mecheril zwischen zwei idealtypischen Momenten konkreter ausländerhabitueller Muster unterscheidet: Inkorporierte Illegitimität und Deplatziertheit, die sich in einem Habitus der Zurückgezogenheit zeige, auf der einen und inkorporierte Ungebundenheit, die sich in einem Habitus egozentrischer Maßlosigkeit äußere, auf der anderen Seite (ebd.: 319f.). Allerdings, so räumt Mecheril ein, gäbe es keine „,durchgehende‘ Habitusformation, die Andere einheitlich und zu Ausländern machte. Viel eher handelt es sich beim Ausländerhabitus um eine durch das Anderssein nahegelegte familienähnliche Disponierung, die in Prozesse je individueller Habitusformierung, der Erstellung je spezifischer Habitusensembles mit eingeht“ (ebd.: 318). Mecheril unternimmt damit einen bemerkenswerten Versuch zu zeigen, wie sich Fremd- und Selbstzuschreibungen und eine spezifische Differenzordnung der (Nicht-)Zugehörigkeit in die Körper und Gesten von Migranten einzuschreiben vermögen und trägt einer von vielen Autoren theoretisch zwar eingefor-
27 Ulrich Bröckling würde überdies wohl bestreiten, dass diese ‚Positionierungsfalle‘ ausschließlich Andere Deutsche betrifft. Er sieht in dem Zwang, sich permanent „von anderen und von sich selbst unterscheiden“ zu müssen, vielmehr eine „Tyrannei der Alterität“, die charakteristisch für die gegenwärtig hegemoniale Subjektform des unternehmerischen Selbst ist (Bröckling 2012: 137). Auch diese genealogische Gesellschaftsdiagnose bleibt m.E. allzu einseitig vogelperspektivisch angelegt, indem sie eine Analyse der konkreten, situierten Praktiken, in denen sich ein Subjekt auf die eine oder andere Weise zum unternehmerischen Selbst macht, ausspart.
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derten, jedoch forschungspraktisch selten eingehaltenen Perspektive Rechnung, wonach Subjektivierung ganz zentral auch als ein verkörperter Prozess zu verstehen ist. Ein solcher Ansatz, Befragungen nicht nur als diskursives Material auszuwerten bzw. sich auf die linguistische Ebene zu beschränken, sondern sich in einer praxeologischen Perspektive auch auf Spuren einer verkörperten, nicht-sprachlichen Subjektivität zu begeben, erscheint durchaus fruchtbar.28 Indem Mecheril allerdings a priori Zugehörigkeit als zentrale Differenzordnung setzt und andere Differenzlinien, deren Berücksichtigung intersektionalitätsanalytische Zugänge einfordern, und, wie er selbst einräumt (vgl. ebd.: 23), die kontextuellen Bedingungen ausblendet, unter denen die natio-ethno-kulturelle Dimension als Referenz des Erfahrens und Handelns oder als Selbstbeschreibungsgröße relevant wird, erscheint fraglich, ob der Autor die von ihm angeführten habituellen Figuren wie der „peinlich Angepasste“ oder „devot Unbeholfene“, der „beflissen Ungeschickte“ oder „lächelnd Unzugängliche“ (ebd.: 318) nicht allzu holzschnittartig einem aus einer bestimmten Beobachterperspektive (der Zugehörigkeit) heraus konstruierten Ausländerhabitus zuschreibt. Ausgeblendet wird dabei, dass der jeweilige Ort oder institutionelle Kontext sowie interaktive Dynamiken und andere Differenzerfahrungen ebenso einen Einfluss auf die von ihm beobachteten körperlichen Ausdrucksweisen von Subjektivität haben können. Da das „Ausländer-Sein“ als ein schon „früh nahegelegtes Leitthema der generativen und performativen Habitusstruktur“ (ebd.: 316) bestimmt wird, kommt es ferner zu einer erneuten Setzung kollektiver Differenzerfahrungen und eindeutiger hierarchisierender Ordnungen, in denen Migranten als per se Marginalisierte und prekär Zugehörige erscheinen. Zugehörigkeit und Differenz werden in einer solchen Perspektive nicht performativ in Praktiken hergestellt, sondern ihnen wird gewissermaßen der Status von fraglos gegebenen Strukturmerkmalen rückverliehen. Die Anerkennung von Mehrfachzugehörigkeit bzw. deren Versagung wird nicht zuletzt implizit normativ im Sinne einer wertschätzenden Anerkennung konzeptualisiert. Ausgeblendet wird damit, dass „subjektivierende Anerkennung“ (Bedorf 2010: 78ff.) im Sinne einer Doppelbewegung von Unterwerfung und Hervorbringung, wie sie sich etwa in den Subjektkonzeptionen von Michel Foucault, Louis Althusser oder Judith Butler findet, nicht notwendigerweise in
28 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine Studie von Henrike Terhart (2014), die anhand von biographischen Interviews und photographischen Selbstporträts nach den Körperinszenierungen junger Frauen, für die das „Thema Migration biografische Relevanz“ besitzt, fragt. Sie arbeitet heraus, wie sich in Abhängigkeit von situativen und gesellschaftlichen Bedingungen (Interdependenzen mit anderen Differenzkategorien) Umgangsweisen mit dem Körper und seine Präsentationen unterscheiden, so dass Körperlichkeit als ein mehrdimensionaler „Möglichkeitsraum“ erscheint, der verschiedene Gestaltungsoptionen eröffnet.
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Form von Wertschätzung vollziehen muss, sondern auch qua Geringschätzung oder Missachtung erfolgen kann.29 Überdies wird mit dem Rekurs auf einen Zwischenstatus die Prozessualität und Unabschließbarkeit des Subjektivierungsgeschehens, die sich ebenfalls mit den benannten Autoren beleuchten ließe, stillgestellt. Mecherils Studie bleibt damit letztlich einem „binären Bild von Zentrum und Peripherie“ verhaftet, welches immer weniger geeignet erscheint, „die Verwerfungen, Gleichzeitigkeiten und heterogenen Lebensbedingungen in hochdifferenzierten Gesellschaften angemessen zu erfassen. Insoweit die Einzelnen in den verschiedenen Zusammenhängen ihres sozialen Lebens ganz verschiedene Positionen auch hinsichtlich der persönlichen Machtressourcen einnehmen, erweist sich sozialer Status allgemein als relativ und von der Situation abhängig“ (Mannitz 2006: 71, Herv. i.O.). Der kritisch-reflexive oder gar emanzipative Anspruch der Studie droht damit unintendiert gerade in jene „beobachtungsstrukturelle Diskriminierung“ (Mannitz 2006: 9) von Migranten zu kippen, die er zu überwinden sucht. Obgleich der Titel der Studie Die zweite Generation: Etablierte oder Außenseiter? von Juhasz und Mey (2003) zunächst auf eine ähnliche Sichtweise hindeutet, richtet sich der Fokus hier stärker auf die Relationalität und dynamische Prozesshaftigkeit von Subjektpositionierungen im Kontext wandelbarer Ungleichheits- und Machtverhältnisse, so dass die Entweder-Oder-Fragestellung im Titel letztlich – zumindest nicht eindeutig – entscheidbar erscheint. Auch hier werden habitus- und kapitaltheoretische Ansätze, in Verbindung mit Elias’ Figurationsanalyse, genutzt, um nach Prozessen der sozialen Positionierung und der Entwicklung subjektiver Handlungsmuster zu fragen. Die Autoren sehen soziale Positionierungen von Migranten einerseits als durch Strukturfaktoren, d.h. kapital- und figurationsbedingte Ungleichheit, sowie andererseits durch individuelle Wahrnehmungs- und Handlungsmuster geprägt. Migrantinnen erscheinen damit nicht a priori als Marginalisierte, ihre Stellung ist vielmehr abhängig von ihren jeweiligen Zugangs- und Verwertungsmöglichkeiten von Kapitalsorten, welche sich wiederum aus einer spezifischen historischen und gesellschaftlichen Figuration ergeben. Bei den von Juhasz und Mey mittels biographisch-narrativer Interviews befragten Schweizer Jugendlichen ausländischer Herkunft sei es, so ein zentrales Ergebnis der Studie, einerseits aufgrund von Erfahrungen der Diskriminierung und Nicht-Zugehörigkeit, mangelnder Anerkennung und Stigmatisierung und andererseits durch die „Verinnerlichung eines familiären Projekts der Mobilität“, das als „familiales Muster und als biographischer Entwurf von einer Generation auf die nächste übertragen wird“ (Juhasz & Mey 2003: 313), zur Herausbildung eines „mobilitätsspezifischen Habitus“ und eines darin eingelagerten „Sinns für den eigenen Weg“ (sense of one’s way) gekommen. Die Kapitalsorten Bourdieus werden somit in Bezug auf Migranten um ein
29 Auf die genannten Ansätze gehe ich ausführlich in Kapitel 2.1 ein.
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spezifisches biographisches Kapital erweitert, welches sich in einer gewissen „selfmade-man“-Haltung sowie einer erhöhten Fähigkeit zur Selbstreflexion (ebd.: 330f.) äußere und als „Handlungsressourcen und als strukturierendes Element des zukünftigen biographischen Projekts“ ein Potential zur Veränderung darstelle (ebd.: 105). Fruchtbar erscheint an dieser Herangehensweise vor allem, dass es den Autoren gelingt, mit Hilfe des figurationsanalytischen Ansatzes eine dynamische, prozessuale Ungleichheitsdimension einzuführen, welche sich nicht notwendigerweise mit anderen Differenzordnungen wie Ethnizität oder Herkunft decken muss. Aus Erfahrungen mangelnder Zugehörigkeit wird hier keine automatische Festschreibung von Marginalität abgeleitet, sondern der Blick wird auf Spielräume gelenkt, welche sich möglicherweise gerade aus diesen Erfahrungen ergeben können. Die Studie durchbricht damit eine Tendenz zu relativ statisch imaginierten Über- und Unterordnungsverhältnissen, innerhalb derer Migranten fast reflexartig auf die Position der Subordinierten festgelegt werden. Allerdings zeigt sich auch hier die bereits für biographietheoretisch angelegte migrationswissenschaftliche Studien konstatierte Tendenz, spezifische lebensweltliche Erfahrungen von Migranten weniger als situierte empirische Möglichkeiten denn als weitestgehend unhinterfragte verallgemeinerbare Merkmale eines konstruierten Migrantenkollektivs zu ontologisieren und die Verwertbarkeit migrationsbiographischer (statt kultureller) Differenzen übermäßig zu betonen. Gemeinsam ist den beiden exemplarisch vorgestellten, ebenso wie zahlreichen weiteren Studien innerhalb dieses „biografischen Paradigmas“ (Geisen 2010: 35), dass sie – trotz Einbeziehung etwa habitustheoretischer Ansätze – mit ihrem methodologischen Zugang über Befragungen die diskursiv-textuelle bzw. kommunikativ-sprachliche Dimension von Subjektivierungsprozessen in den Vordergrund rücken und Positionierungen weniger als immer auch körperliche Praktiken, sondern vielmehr klassisch als „soziale Positionierung im Gespräch“ (Wolf 2000) in den Blick nehmen. Mittels Interviews werden typische Migrationserfahrungen (familienbiographische Mobilitätsprojekte) bzw. Migrantenerfahrungen (Ungleichheit, Diskriminierung, Stigmatisierung, Rassismus, Fremdheit, prekäre Zugehörigkeit) rekonstruiert und sodann wird auf Subjektivierungsprozesse (soziale Positionierungen, Herausbildung eines bestimmten Habitus wie Ausländerhabitus oder mobilitätsspezifischer Habitus) rückgeschlossen. 30 Praktiken erscheinen damit immer
30 In ähnlicher Weise nutzt Henri Seukwa (2006) biographische Interviews, um die Bildungsverläufe afrikanischer Flüchtlinge und die Modalitäten des Erwerbs, Transfers und der Nutzbarmachung von Kompetenzen in Migrationssituationen zu rekonstruieren und daraus die Herausbildung eines „Habitus der Überlebenskunst“ abzuleiten. Die Untersuchung eines „Doing ‚being Jewish‘“ in der gleichnamigen Studie von Lena Inowlocki (2000) erfolgt ebenfalls mittels biographischer Interviews mit jüdischen „displaced per-
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schon in bereits diskursivierter Form und werden nicht in ihrem Vollzugscharakter und ihrer situativen Einbettung erschlossen. Dies heißt allerdings keineswegs, dass Befragungen einer Analytik praktischer Subjektivierung nicht ebenso etwas Wichtiges zu sehen geben können. Sie eröffnen einen Zugang zu je spezifischen, auf das Geschehen aus einer bestimmten Position heraus reflektierenden Teilnehmerperspektiven, die aus einer distanzierten Beobachterperspektive auf Praktiken verschlossen bleiben.31 Statt also Interviewforschung als einen ‚auf Sprache‘ fixierten Widerspruch zu einer ‚die Materialität‘ im Blick habenden Praxeographie zu begreifen und somit gleichsam erneut in einen cartesianischen Dualismus zu verfallen, wären daher beide Forschungsrichtungen produktiv miteinander zu verbinden. Teilnehmende Beobachtungen stehen im Zentrum von Cordula Weißköppels (2001) performanztheoretisch angelegter Arbeit Ausländer und Kartoffeldeutsche. Identitätsperformanz im Alltag einer ethnisch gemischten Realschulklasse. Darin geht die Autorin der Frage nach, wie Schüler sowohl in kommunikativen als auch in non-verbalen Praktiken innerhalb ihres Schulalltags mit ethnischer Differenz umgehen. Ihr Fokus richtet sich dabei auf Prozesse der interaktiven und situativen Mobilisierung und Aushandlung von ethnischer Identität. Als theoretisches Leitkonstrukt dient ihr dabei das unter Rückgriff auf den symbolischen Interaktionismus (Mead, Goffman) sowie Ansätze der Praxis-Theorie (Giddens, Bourdieu) entwickelte Konzept der Identitätsperformanz, welches sie in expliziter Abgrenzung zu den im Zusammenhang mit dem Individualisierungsparadigma erwähnten biographisch konzipierten und entwicklungspsychologisch fundierten Ansätzen der „Identitätsarbeit“ bzw. des „Identitätsmanagements“ versteht (vgl. Weißköppel 2001: 32f.). Mit dem Konzept der Identitätsperformanz versucht Weißköppel, sowohl kognitiv-diskursive Prozesse der Bedeutungsproduktion als auch nonverbale Ausdrucksformen im Rahmen von Verkörperung sowie die Materialisierung imaginärer Ressourcen in den Blick zu bekommen (ebd.: 39). Davon ausgehend, „dass Ereignisse der bewussten Bedeutungsproduktion eingebettet sind in permanente Prozesse der Habitualisierung und Sedimentierung“, will sie mit diesem Ansatz ferner eine „Doppelperspektive auf interaktive Phänomene der besonderen Bedeutungsinsze-
sons“ und ihren Nachkommen, über die rekonstruktiv erschlossen werden soll „how a person is practically dealing with the history and tradition she is involved with“ (ebd.: 175). 31 Vicki Täubig etwa verbindet in ihrer Studie „Totale Institution Asyl“ das titelgebende Konzept Goffmans mit jenem der „Alltäglichen Lebensführung“ um zu beleuchten, wie Asylbewerber „als Geprägte und Prägende ihrer Strukturen leben“ (Täubig 2009: 13). Die als zentral markierten Kategorien eines „Raummachens“, „Zeitmachens“ und „Beziehungmachens“ werden in dieser Studie aus den Selbstbeschreibungen von Asylsuchenden in themenzentrierten Interviews rekonstruiert.
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nierung und der regelhaften Performierung durch alltägliche Praktiken“ gewinnen (ebd., Herv. i.O.). Ihr Konzept soll der Einsicht Rechnung tragen, dass Akteure in konkreten Alltagssituationen herausgefordert sind, „diverse Identitätsressourcen und interaktive Techniken zu koordinieren“, wobei sie sowohl auf gewohnte Routinen zurückgreifen als auch flexibel und in Abstimmung mit anderen Interagierenden auf Spezifika einer Situation reagieren würden (ebd.). Weißköppels Studie liefert damit weiterführende Ansatzpunkte für eine praxeologische Analyse der Selbstbildung von Migranten, indem der Blick auf dynamische Prozesse der interaktiven Hervorbringung von Identifikationen und Differenzen sowohl in ihrer kontinuierlichen und routinisierten Form wie auch als situativ hergestellte kreative Momenterscheinungen gelenkt wird. Zunächst ebenfalls als teilnehmende Beobachtung in einer Schule angelegt ist die, in einer zweiten Forschungsphase sodann auf eine biographische Langzeitbefragung ausgeweitete, Studie Die verkannte Integration von Sabine Mannitz (2006). Die Autorin richtet ihre Aufmerksamkeit dabei, ähnlich wie Weißköppel, auf Situationen, die den Jugendlichen „Anlass zu identifikatorischen Mobilisierungen“ (ebd.: 21) in Bezug auf Religion, Geschlecht, Ethnizität, nationale Herkunft, deutsche Staatsangehörigkeit, ihren Berliner Wohnkiez oder andere Differenzlinien geben. Die damit verbundenen Selbstverortungen der Schüler sieht die Autorin – hier wiederum mit Parallelen zu Mecheril – als „Ausdruck einer schulischen Sozialisation [...], in deren Verlauf die Nachkommen aus Einwandererfamilien sich mit einer charakteristischen identifikatorischen Ambivalenz als ‚die Anderen‘ in Deutschland zu verstehen lernen“ (ebd.: 22). Zugleich macht Mannitz darauf aufmerksam, dass die Angemessenheit von Kennzeichnungen von Migranten als Marginalisierte oder als prototypische Vorreiterinnen einer frei flottierenden (Post-) Moderne jenseits der (Identitäts-)Eindeutigkeit stets „aus der Handlungslogik des ethnographisch befragten Alltags heraus zu ermitteln“ seien (ebd.: 20). Bei der Analyse von Praktiken der Unterscheidung bzw. der Identifikation geht Mannitz in Anlehnung an den alltagtheoretischen Ansatz des doing gender von einem Paradigma des doing difference aus, das fünf Grundannahmen beinhaltet: „(1) Menschen handeln auf der Grundlage ihrer subjektiven Deutungen, die (2) in ihrer Sinnhaftigkeit von konkreten systemischen und diskursiven Zusammenhängen abhängen und (3) in sozialer Interaktion entstehen, so dass (4) Menschen die Normen ihrer Lebenswelten und der darin wirksamen Diskurse aktiv mit hervorbringen, ihnen (5) aber auch im Sinne der Unterwerfung selbst als ,subject‘ unterliegen; auch die persönliche Selbstdeutung – ob in Identifikation, doing sameness, oder in Abgrenzung, doing difference, – erfolgt im Kontext der Ausdrucksmöglichkeiten vorhandener Diskurse und zirkulierender sozialer Kategorien“ (ebd.: 69; Herv. AQ). Bei Mannitz werden somit diskurs-, performanz- und interaktionstheoretische Perspektiven miteinander verbunden, wobei das praxeologische Potential
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eines solchen Analyserasters m.E. aufgrund des starken Fokus auf verbale Vollzüge nicht voll ausgeschöpft wird. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die auf ihre praxeologischen Spuren hin befragten Arbeiten insgesamt überwiegend biographie- bzw. konversationsanalytisch ausgerichtet bleiben. Sie zeigen, wie diskursive Subjektentwürfe von konkreten Akteuren gedeutet und mitunter aneignend umgedeutet werden, wobei sie Subjektivierungen nicht als konkret situierte körperliche Vollzüge ausleuchten. Gefragt wird danach, wie sich Migranten zu vorgängigen Ordnungen verhalten, wie sie sich ‚einpassen‘ oder diese ‚subversiv‘ in Frage stellen, jedoch nur in Ansätzen danach, wie Migranten selbst Ordnungen in ihrem Tun in konkreten örtlichen, zeitlichen und materiellen Kontexten mit hervorbringen und wie sie erst in diesem Vollzug zu ,Trägern‘ oder ‚Herausforderern‘ einer entlang von nationalen, kulturellen, ethnischen oder anderen Differenzlinien konstituierten Ordnung gemacht werden. Anerkennung wird, etwa in der Studie von Mecheril, als normative Kategorie ins Spiel gebracht und dabei implizit als einseitiges Geschehen konzipiert: Migranten werden von Einheimischen anerkannt – oder eben nicht. Obgleich viele der besprochenen Ansätze durchaus darauf hinweisen, dass Subjektivierung als interaktiver Prozess zu verstehen sei und relationale Subjektpositionierungen in den Blick nehmen, werden Subjektivierungsprozesse tendenziell nur in einer Richtung betrachtet: Migranten werden in Diskursen, Zuschreibungs- und Diskriminierungspraktiken geformt und positioniert und entziehen sich diesen Formungen und Positionierungen mitunter mittels ‚subversiver‘ Praktiken. Die Relationen, die im Fokus stehen, bleiben damit implizit einer Dichotomie von Zugehörigen vs. NichtZugehörigen bzw. Etablierten vs. Außenseitern verhaftet. Schon Bröskamp hatte kritisiert, dass sich das Interesse der Ausländerforschung „einseitig auf die ausländischen Minderheiten ausrichten“ würde, was die Neigung verstärke, „die kulturelle Heterogenität der einheimischen Bevölkerung aus den Augen zu verlieren“ (Bröskamp 1993: 178, Herv. i.O.). Vor diesem Hintergrund drängt es, nicht nur danach zu fragen, wie Menschen zu Migranten gemacht werden, sondern ebenso danach, wie Menschen sich selbst zu Migranten machen und wie sie als ,Migrationshintergründige‘ ihrerseits an der Subjektivierung von Migranten und Einheimischen beteiligt sind. Um sich dieser Frage anzunähern, bedarf es einer Perspektivierung von Anerkennung als wechselseitig subjektkonstitutierendes Geschehen (vgl. Kapitel 2.1). Integrationslotsen als in ein komplexes Relationengefüge eingebundene Mittlersubjekte der Migration in den Blick zu nehmen, verspricht vor diesem Hintergrund einen Zugang, der die Selbstbildung von Migranten und Eiheimischen in ih-
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rer wechselseitigen Bezogenheit, ihr gemeinsames doing difference und doing culture (Hörning & Reuter 2004) in den Vordergrund stellt.32
1.4 M IGRANTEN
ALS
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Prozesse der Vermittlung zwischen Kulturen bzw. Nationen stehen seit Mitte der 1980er Jahre im Zentrum der Kulturtransferforschung; seit den 1990er Jahren werden sie in der Transnationalisierungsforschung untersucht. Die Kulturtransferforschung befasst sich mit Prozessen der „interkulturellen Übertragung und Vermittlung kultureller Artefakte (wie Texte, Diskurse, Medien, Praktiken) zwischen kulturellen Systemen“ (Lüsebrink 2003: 318). Vermittlung bezieht sich dabei auf Austauschprozesse zwischen voneinander unterscheidbaren kulturellen bzw. nationalen oder regionalen Einheiten, die als „Kohärenzen“ bezeichnet werden (Schmale 2012: o.S.). 33 Als Vermittler werden professionelle (Übersetzer, Fremdsprachenlehrer, Auslandskorrespondenten etc.) und institutionelle (Kulturinstitute etc.) Instanzen, aber auch Einzelpersonen wie Künstler, Kaufleute, Touristen oder Austauschschüler in den Blick genommen. Eine zentrale Rolle spielen neben diesen Mittlerinstanzen ebenso „interkulturelle Interaktionssituationen“, die von institutionell gerahmten Situationen, wie bspw. dem Fremdsprachenunterricht, dem Verhandlungsgespräch oder diplomatischen Konsultationen, hin zu weniger formalisierten Situationen, wie dem spontanen Gespräch, reichen können (Lüsebrink 2003: 318, Herv. AQ). Als Träger von Vermittlungspraktiken, so ließe sich folgern, kommen somit einerseits professionelle Akteure qua ihres (beruflichen) Anforderungsprofils in Betracht, andererseits wird davon ausgegangen, dass auch ‚informelle‘ Mittler und
32 „Doing culture sieht Kultur in ihrem praktischen Vollzug. Es bezeichnet ein Programm, das den praktischen Einsatz statt die vorgefertigten kognitiven Bedeutungs- und Sinnstrukturen von Kultur analysiert. Es zielt auf die Pragmatik von Kultur; auf Praxiszusammenhänge, in die das Kulturelle unweigerlich verwickelt ist, in denen es zum Ausdruck kommt, seine Verfestigungen und seinen Wandel erfährt.“ (Hörning & Reuter 2004: 10, Herv. i.O.). 33 Schmale (2012) schränkt allerdings ein: „Voneinander unterscheidbar heißt jedoch nicht linear abgegrenzt, denn Kohärenzen sind in alle Richtungen miteinander verbunden. Beliebig viele Kohärenzen können Cluster oder Makrokohärenzen ausbilden, in denen Einheiten wie die ‚Nation‘, eine räumlich verwurzelte ‚Kultur‘ oder eben auch ‚Europa‘ als zeitgebundene Codierungen materieller, geschichtlicher Verhältnisse wiedererkannt werden können. Statt des Vergleichs von kompakten geschlossenen Kulturräumen rücken damit Prozesse der Vermittlung, Rezeption und Verarbeitung in den Vordergrund (vgl. Keller 2006: 101f.).
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spezifische Situationen Vermittlungspraktiken mobilisieren können. In der Transnationalismusforschung richtet sich der Fokus auf Prozesse zirkulärer Wanderung, des Austauschs und der Durchdringung von Kulturen sowie des Entstehens transnationaler Sozialräume (vgl. Pries 1998). Migranten treten damit als berufliche Vermittler, gewissermaßen als ‚Fachkräfte‘ der Vermittlung, wie auch unabhängig von ihrer jeweiligen Profession als „Mittler zwischen den Kulturen“ (Hoerder 2003) in den Blick. Inzwischen liegen vor diesem Hintergrund einige Arbeiten vor, die sich mit Migranten als Dolmetschern (Meyer 2004) oder als „Sprach- und Kulturmittlerinnen“ im psycho-sozialen bzw. gesundheitlichen Bereich befassen (Di Bernardo 2005). Hervorzuheben sind zwei, zeitlich recht weit auseinanderliegende Studien, die sich explizit mit Migrantinnen als professionellen Mittlerinnen im Bereich der Sozialberatung bzw. der psychosozialen Versorgung befassen. Im Zentrum der Studie Welten verbinden. Türkische Mittlerinnen (Intermediäre) in den Niederlanden und der Bundesrepublik Deutschland von Helma Lutz (1991) stehen Migrantinnen, die in bezahlter Berufsarbeit in unterschiedlichen sozialen Institutionen für ihre „Landsleute“ arbeiten. Lutz fragt in ihrer auf biographischen Gesprächen basierenden Studie danach, wie Migrationserfahrungen von Migrantinnen in ihrer Berufsarbeit funktionalisiert werden. Bourdieus Habituskonzept dient ihr dazu, psychische, soziale, ökonomische und körperliche Aspekte der Herstellung einer „Migrantenidentität“ (ebd.: 125) zusammenzuführen (ebd.: 40). Gegen eine Überbetonung von Momenten der Reproduktion macht Lutz einen Kulturbegriff stark, der kulturelle Identität als kulturelle Praxis definiert und Raum lässt für Transformationen und „die subjektiven Aspekte der Aneignung“ (ebd.: 56). Das Habituskonzept wird entsprechend gelesen „als individuelles und kollektives Handlungsprogramm, das Grenzen auferlegt, aber im Rahmen seiner Begrenzungen auch Handlungsoptionen zuläßt.“ (Ebd.) Lutz geht davon aus, dass „Mitteln nicht nur eine berufliche Funktion hat, sondern auch lebensgeschichtlich gebunden ist“ (Lutz 1991: 33, Herv. AQ). Sie begreift die migrantischen Fachkräfte als spezifische „Erkenntnisträgerinnen, weil ihre Alltagswelt gekennzeichnet ist von Spiegelhandlungen, vom ständigen Übersetzen und Übertragen lebensweltlicher Praxen und Terminologien“ (ebd.: 34). Indem Mittlerinnen „ihr erlerntes kulturelles Wissen, ihre sozialen Werte und Handlungsweisen für die so genannte Integrationsarbeit“ instrumentalisieren würden, seien sie „zu ständigen Reflexionen über die Aufnahmegesellschaft und die Migrantengemeinschaft gezwungen“ (ebd.). 34 Obgleich die praxistheoretische Anlage ihrer Studie m.E. nahelegt, die Formierung von Mittlersubjekten als ein in situative und lebensgeschichtliche Kontexte eingebettetes
34 Hier finden sich Parallelen zu dem von Juhasz und Mey (2003) herausgearbeiteten „mobilitätsspezifischen Habitus“ migrantischer Jugendlicher, den sie durch eine erhöhte Fähigkeit und Bereitschaft zur Selbstreflexion gekennzeichnet sehen.
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Vollzugsgeschehen zu begreifen, geht Lutz letztlich von einer relativ stabilen, einheitlichen „Migrantenidenität“ aus, welche sie analytisch gegen den Begriff der „kulturellen Identität“ ins Feld führt.35 Zu den Momenten, die „die Identität aller Migranten konstituieren“ zählt sie, ähnlich wie Mecheril, insbesondere das Moment der „Instabilität“ sowie eine Migrationserfahrung, die „auf der emotionalen Ebene“ Klassen- und nationale Herkunftsgrenzen zu überbrücken vermag (ebd.: 127). Nicht reflektiert wird dabei, inwieweit sich die befragten Mittlerinnen womöglich auch in der Interviewsituation bestimmten Adressierungen (bspw. als ‚starke‘ Migrantinnen oder ‚kompetente‘ Mittlerinnen) ausgesetzt sehen, welche sie ‚angemessen‘ zu beantworten haben. Statt zu beleuchten, wie und unter welchen konkreten Bedingungen etwas zu „Migrantenkapital“ (ebd.: 44) gemacht werden kann, wie eine Erfahrung als Migrationserfahrung ausgewiesen und somit erst als solche hergestellt wird, setzt Lutz diese Größen und damit letztlich auch ein Mittlersubjekt, das seine kulturellen bzw. biographischen Ressourcen als strategisch handelnder Akteur utilitaristisch einzusetzen vermag, immer schon voraus. Nicht zuletzt werden die Praktiken des Mittelns, in denen sich Menschen als Mittlersubjekte zeigen und somit konstituieren, nicht genauer aufgeschlüsselt. Vielmehr kommt Lutz zu dem recht vagen Schluss, dass Mittlerinnen aufgrund ihrer intermediären Stellung und der damit verbundenen Notwendigkeit zu Spiegelhandlungen einen „individuellen Beitrag zur Schaffung der Verständigungsbasis zwischen Allochthonen und Autochthonen“ (ebd.: 34) leisten würden. Nicht nur bleibt dabei die aktive Herstellung einer solchen Verständigungsbasis bzw. die konkrete, situierte Praxis des Verstehens und Verstandenwerdens unausgeleuchtet. Ausgeblendet wird ebenso die „relationale Struktur des Verstehens“ (Straub 1999, Herv. AQ). Lutz Verdienst ist es, dass ihre Studie als eine der wenigen der Frage nachgeht, wie professionelle Mittlerinnen ihren ‚Status‘ als Migrantin bzw. ihre Migrationserfahrung als Kapital einsetzen können. Gleichwohl käme es darauf an, die performativen Erzeugungen dieses ‚Status‘, d.h. die kontingenten Erfahrungen und Praktiken der Hervorbringung bzw. Selbstbildung eines migrantischen Mittlersubjekts stärker in den Blick zu nehmen, statt das ‚Mittler-Sein‘ ebenso wie die Figur der ‚starken Migrantin‘ identitätstheoretisch vorauszusetzen.
35 Lutz wendet sich damit explizit normativ gegen ein „,Festnageln‘ auf eine homogene kulturelle Identität“, die von den Migrantinnen oft als „Zwangsjacke“ erfahren werde, „wenig Raum für Selbstdefinition“ biete und letztlich nur für Autochthone die positive Funktion habe, „die ‚Fremden‘ als Türken“ „einordnen und plazieren [sic!]“ zu können (ebd.: 127). Wenn auf diese Weise „Migration zum Angelpunkt der Definition – und nicht die Herkunft der Migranten“ (ebd.) gemacht wird, verlagert sich das Problem jedoch nur, da sich auch eine in dieser Weise homogenisierte Migrantenidentität als Abgrenzungskriterium gegenüber den Einheimischen funktionalisieren lässt.
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Fast zwanzig Jahre später stehen auch in der auf narrative leitfadengestützte Interviews basierenden Arbeit von Cornelia Fischer (2009) Migrantinnen als Fachkräfte im Verhältnis zu ihren „Landsleuten“ im Vordergrund.36 In ihrer Dissertation Migranten als Mittler? Russlanddeutsche Fachkräfte in der psychosozialen Versorgung ihrer ‚Landsleute‘ geht Fischer der Frage nach, wie migrantische Sozialarbeiter in der psychosozialen Versorgung mit einer spezifischen Form der „Betroffenheit, die als Selbst- und Fremdzuschreibung“ wirkt, in der beruflichen Handlungspraxis umgehen und wie sich diese Handlungspraxis wiederum auf ihr Selbstverständnis auswirkt (ebd.: 5). Betroffenheit konzeptualisiert sie hierbei in Anlehnung an Reinhart Koselleck (1979) als einen „zumindest partiell geteilten existenziellbiografischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont“, den die Mittlerinnen aus ihrer gemeinsamen Muttersprache, Sozialisation in der ehemaligen Sowjetunion oder Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit beziehen könnten, jedoch nicht müssten (Fischer 2009: 42). Fischer geht davon aus, „dass die interviewten Fachkräfte durch die eigene Migrationserfahrung, die erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt und die Arbeit mit Landsleuten und Deutschen in eine Art Mittlerposition geraten, in der sie zwischen deutschen Institutionen, Kollegen, Vorgesetzten und Klienten Anforderungen und Möglichkeiten, Normen und Tabus etc. dem jeweils Anderen vermitteln“ (ebd.: 13). Gleichzeitig wird jedoch „der Rückschluss von biographisch begründeter Erfahrung auf eine daraus sozusagen automatisch resultierende interkulturelle Kompetenz“ hinterfragt und „als Ausgangspunkt für eine Betrachtung der subjektiven Repräsentationen kultureller Zugehörigkeit und Identität genommen“ (ebd.: 13). Anders als bei Lutz stehen hier somit „biographische Ressourcen“ und „Betroffenheitskompetenz“ in wechselseitigen Prozessen der Fremd- und Selbstzuschreibung zwischen Klienten, Therapeuten und Auftragge-
36 Die von Fischer – und ebenso von Lutz – betrachteten Mittler scheinen sich auf den ersten Blick grundlegend von Integrationslotsen zu unterscheiden, nämlich sowohl hinsichtlich ihres Professionalisierungsgrades (bezahlte Berufsarbeit hier vs. ehrenamtliche Tätigkeit im Falle dort) als auch hinsichtlich ihrer erklärten Zielsetzung. So symbolisierten die von Fischer befragten Mittlerinnen zwar aufgrund ihrer sozialen Position Möglichkeiten des gesellschaftlichen Aufstiegs und der aktiven Teilhabe an der Gesellschaft und es werde ihnen damit indirekt eine gewisse Vorbildfunktion zugewiesen (Fischer 2009: 216). Als ‚Modell‘ und Hilfesteller im Bereich der „Integration“ zu fungieren, sei aber ebenso wenig explizites Ziel“, sondern allenfalls ein „Nebenprodukt“ ihrer beruflichen Tätigkeit (ebd.: 5) wie das „Mitteln als Vermittlung zwischen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und der Gruppe der [migrantischen] Klienten“ (ebd.: 67). Ob und inwieweit sich die Vermittlungspraktiken von Integrationslotsen und den hier untersuchten Mittlersubjekten allerdings tatsächlich in dieser Weise unterscheiden, lässt sich erst in den empirischen Analysen klären.
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bern zur Disposition statt a priori als Strukturmerkmale gesetzt zu werden. So zeigt Fischer bspw. wie die Selbstzuschreibung einer solchen migrationsbiographisch begründeten Expertise als Strategie zur Kompetenzsicherung genutzt wird (ebd.: 209) und leitet daraus spezifische Konfliktpotentiale ab, die etwa darin bestehen können, dass sich Fachkräfte aufgrund von Kompetenzzuschreibungen dazu gezwungen sehen, ethnische Gruppengrenzen festzuschreiben, um die eigene Position und die Notwendigkeit einer „kulturspezifischen Sensibilisierung“ aufrechterhalten zu können (ebd.: 212). Ihre Studie liefert damit fruchtbare Erkenntnisse in Hinblick auf Grenzziehungspraktiken und relationale Subjektivierungsprozesse von migrantischen Mittlern. Auch hier werden allerdings Praktiken der Vermittlung lediglich in ihrer bereits diskursivierten Form und nicht in ihrem immer auch körperlichen Vollzugscharakter und ihrer situativen Einbettung erschlossen. Beide Studien machen auf eine grundlegende Relevanz von Kategorien wie Erfahrung, Betroffenheit, Kompetenz und Expertise in Bezug auf Mittlersubjekte der Migration aufmerksam. Im Anschluss daran ist im Rahmen dieser Untersuchung danach zu fragen, wie solche Größen (trans)situativ hergestellt werden und in welcher Weise dabei Diskurse, Körper, Räume, Objekte und Artefakte zusammenspielen. Diese und weitere Fragen im Blick, die sich aus dem notwendigerweise selektiven Forschungsüberblick über die Stellung und damit verbundene (implizite) Konzeptionalisierungen von Subjekten und Mittlersubjekten (in) der Migrationsforschung ergeben haben, wird im folgenden Kapitel eine eigene Analytik zur Erforschung von Selbstbildungspraktiken konturiert.
Teil 2: Forschungsoptik
Im Folgenden wird eine Forschungsoptik entwickelt, mit Hilfe derer die im dritten Teil dieser Arbeit präsentierten empirischen Analysen vorgenommen werden. Zugleich sind in dieser Forschungsoptik, neben den im ersten Teil gewonnenen Erkenntnissen zum Subjekt (in) der Migrationsforschung, bereits theoretisierende Auseinandersetzungen mit dem empirischen Material enthalten. Insofern werden hier nicht erst Theorien und sodann Methoden vorgestellt, mit denen schließlich der Einstieg in die Empirie folgt. Vielmehr geht es um den Versuch, eine Forschungsoptik auszuarbeiten, die der „Theoriegeladenheit aller Beobachtung“ ebenso Rechnung trägt wie der „Empiriegeladenheit von Theorien“ (Hirschauer 2008b: 167, 168, Herv. i.O.). Ich gehe in drei Schritten vor: Zunächst wird eine Forschungsanalytik praktischer Subjektivierung und ihres szenischen Charakters entwickelt (2.1). Im zweiten Schritt entfalte ich eine Heuristik des Begegnungsraumes der Migration, mittels derer Selbstbildungsprozesse von Mittlersubjekten gewissermaßen einen Ort erhalten, an dem sich diese Prozesse beobachtbar machen lassen (2.2). Wie die Beobachtbarmachung im Rahmen meiner Praxeographie ‚bewerkstelligt‘ wurde, wird im dritten Schritt reflektiert (2.3).
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2.1 A NALYTIK : P RAKTISCHE S UBJEKTIVIERUNG UND IHR SZENISCHER C HARAKTER „Es ist nicht nur eine Beobachtungsgewohnheit fehlerhafter Art, wenn man diese eigentümliche Kernlosigkeit der Individuen feststellt, nur bedeutet Kernlosigkeit nicht Substanzlosigkeit. Man hat eben neue Gebilde vor sich, die neu zu bestimmen sind. Selbst Auflösung ergibt nicht nichts. [...] auch das neue Gebilde reagiert und agiert individuell, einmalig, unschematisch.“ BRECHT (1994: 476)
Wie die Bestandsaufnahmen des vorangegangenen Kapitels gezeigt haben, oszilliert die migrationswissenschaftliche Subjektforschung, zugespitzt formuliert, zwischen zwei Polen: Auf der einen Seite finden sich Ansätze, die relativ unbeeindruckt vom „postmodernen Streit ums Subjekt“ (Ricken 2013: 73) von einem a priori vorausgesetzten, autonomen ebenso wie souveränen Subjekt der Migration ausgehen. Zumindest implizit folgen sie damit der auf Platon (vgl. Taylor 1994: 219ff.) zurückgehenden und in der modernen westlichen Philosophie wesentlich durch Descartes (vgl. ebd.: 262f.) geprägten Vorstellung eines zentrierten und mit sich selbst identischen Subjekts. Auf der anderen Seite haben poststrukturalistische Perspektiven wichtige Beiträge zur Analyse der Genese, Verfestigung und Transformation spezifischer ‚migrantischer Subjektformen‘ sowie zu Selbst- und Fremdpositionierungsprozessen geleistet. Mitunter neigen sie jedoch dazu, das Subjekt der Migration aus einer Vogelperspektive gemäß einer Zurichtungslogik mal auf einen Diskurs-Effekt zu reduzieren oder es im Wege einer, wie mir scheint, unkritischen Übernahme von Teilnehmerperspektiven emphatisch zu überhöhen als ein „Ich-binso-frei-Subjekt“ (Villa 2006: 45), das sich immer wieder neu und fast beliebig selbst zu entwerfen vermag. Auf eigentümliche Weise schleicht sich damit auch hier implizit die Vorstellung eines autonomen Subjekts ein. So disparat diese jeweiligen Perspektiven sind, so unterschiedlich sind auch die damit hervorgebrachten, wissenschaftlich mitproduzierten, migrantischen Subjektpositionen: Der ‚bedrohliche Fremde‘ und der ‚Fürsorgeempfänger‘ finden sich ebenso darunter wie die ‚Exotin‘, der avantgardistische ‚Innovateur‘ oder die frei flottierende ‚Nomadin‘. Im Folgenden geht es mir darum, mich mit meiner Arbeit sowohl im Subjektivierungsdiskurs als auch im Feld praxeologischer Ansätze zu positionieren und zugleich eine analytische Optik für die empirische Forschung im migrationswissenschaftlichen Feld zu entwickeln, die sich in Abgrenzung zu zentrierten Subjektvorstellungen und radikalkonstruktivistischen Konzeptualisierungen eines dezentrier-
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ten Diskurs-Subjekts einerseits und zu individualistischen Handlungskonzeptionen andererseits versteht. Poststrukturalistische Ansätze werden dabei praxeologisch weitergedacht, so dass sich die hiermit verbundenen Denkstile auf beiden Seiten als „unterschiedliche, sich gegenseitig anregende Sensibilisierungsinstrumente“ (Reckwitz 2010b: 183) produktiv miteinander verzahnen. Praxeologischen und poststrukturalistischen Perspektiven ist gemeinsam, dass sie in Abgrenzung zu individualtheoretischen Fassungen davon ausgehen, dass das Subjekt nicht für eine fraglose Gegebenheit oder eine stabile Entität steht, sondern immer im Entstehen begriffen ist. Sie konvergieren darüber hinaus, insofern sie den Praktiken respektive den sich in ihrem Vollzug bildenden Subjekten eine spezifische mediale Funktion zuweisen: In diesen Ansätzen werden „soziale Praktiken als eine Kategorie des Dazwischen und des Zusammenspiels etabliert“; sie destabilisieren auf diese Weise Dichotomien zwischen Körper und Geist, Handlung und Struktur, Individualität und Kollektivität, Theorie und Praxis sowie zwischen Subjekt und Objekt (Schmidt 2012: 70). Dass die Praxis als ein solches „Scharnier“ (Hörning & Reuter 2004: 13) angelegt wird, findet seine Entsprechung darin, dass das Subjekt als analytische Kategorie immer dort eingesetzt wird, wo es gilt, eine vermittelnde Perspektive zwischen Individuum und Gesellschaft, Handlung und Struktur, Mikro- und Makrokontexten oder ‚Außen‘ und ‚Innen‘ einzunehmen. Wie Giorgio Agamben in seiner Auseinandersetzung mit der Foucaultschen Dispositivkonzeption prägnant formuliert hat, sind Subjekte aus einer solchen Perspektive weder Menschen, noch bloße strukturelle Effekte, sondern „das, was aus der Beziehung, sozusagen aus dem Nahkampf zwischen den Lebewesen und den Dispositiven hervorgeht.“ (Agamben 2008: 27). Dichotomisierende Sichtweisen, die gemäß einer Konfrontationslogik von Umgangsweisen des Einzelnen mit gesellschaftlichen Erwartungen und einer Vorgängigkeit entweder von Strukturen oder von Handlungen ausgehen, werden dabei abgelöst von einem paradoxe Gleichzeitigkeiten sowie Ko-Dependenzen betonenden Denkstil und müssen Platz machen „für eher relational und figurativ gebaute Theoriemodelle, die diese Dichotomie zu überwinden suchen und insofern sowohl auf Fundierungsabsichten als auch auf lineare Ursache-Wirkungszusammenhänge verzichten“ (Ricken 2013: 74). Nach Schmidt wird aus praxistheoretischer Perspektive das „Subjekt, das die traditionelle Handlungstheorie zur primären Quelle von Bedeutung und Sinn, von zweckrationalen, wertrationalen, affektuellen oder traditionalen Handlungsorientierungen erklärt, [...] aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit geschoben, ohne einfach eliminiert zu werden. Der Ausgangspunkt für soziales Handeln wird nicht im einzelnen Subjekt lokalisiert, sondern es werden umgekehrt die Praktiken gegenüber den individuellen ‚Akteuren‘ priorisiert“ (Schmidt 2012: 70, Herv. AQ). Da der Begriff der Tradition in diesem Zusammenhang mehr verdeckt als er zu sehen gibt und zum Zwecke einer problematischen Vereinheitlichung der Handlungstheorie
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herangezogen wird, soll an dieser Stelle explizit gemacht werden, dass diese Arbeit nicht anstrebt, ein heterogenes Spektrum praxistheoretischer Ansätze auf der einen gegen eine in sich homogene Handlungstheorie auf der anderen Seite auszuspielen, sondern lediglich eine deutliche Abgrenzung von individualistisch angelegten Handlungstheorien erfolgt.37 Zudem läuft Schmidts Ansatz Gefahr, Praktiken wiederum als etwas den Subjekten Vorgängiges zu begreifen. Auch dieser Lesart wird aus einer Perspektive praktischer Subjektivierung gerade nicht gefolgt. Statt entweder die Praktik oder das Subjekt zu priorisieren, richtet sich die Aufmerksamkeit vielmehr auf die Dynamik des wechselseitig konstitutiven Verhältnisses von Subjekt und Praktiken. Die Handlungs-, Urteils-, Entscheidungs- und Kritikfähigkeit von Akteuren wird dabei ernst genommen, jedoch nicht als Eigenschaft eines autonomen Subjekts konzipiert. Vielmehr ergeben sich Mitgestaltungs- und Regulationsmöglichkeiten aus einem sozialen Spiel heraus (vgl. Alkemeyer 2013: 35). Da die Partizipation eines Teilnehmers nie nur auf ein Spiel begrenzt ist, sondern Menschen an vielfältigen und vielgestaltigen sozialen Spielen teilnehmen, bieten sich ihnen immer auch Möglichkeiten, etwas neues und in dieser Hinsicht Eigenes in ein Spiel einzubringen.38 Grundlegend für diese Arbeit ist die Annahme, dass soziale Identitäten wie Migrant, Einheimischer oder Integrationslotsin nicht a priori gegeben sind, sondern dass Menschen in Praktiken der Subjektivierung überhaupt erst zu diesen gemacht werden und sich zugleich selbst zu solchen machen. Nicht der Migrant oder die Integrationslotsin als soziale Akteure bilden somit den Ausgangspunkt der Analyse, sondern die Praxiszusammenhänge, in denen jemand als Migrant oder Integrationslotsin für sich und andere intelligibel und anerkennbar wird. Doch was können wir uns unter Praktiken der Subjektivierung vorstellen, was gerät aus dieser Perspektive in den Blick und wogegen grenzt sie sich ab? Antworten auf diese Fragen sucht das Kapitel, indem über eine Auseinandersetzung mit ausgewählten Szenen der Subjektivierung eine Annäherung an die Begriffstriade Selbst, Subjektivierung und Praktiken erfolgt und ein grundlegendes Verständnis praktischer Subjektivierung entwickelt wird, das es in den nachfolgenden empirischen Analysen weiter zu verfeinern und zu schärfen gilt.39 In Anlehnung an
37 Auf die Schieflage einer solchen dichotomisierenden Gegenüberstellung hat insbesondere Bongaerts (2007) aufmerksam gemacht. 38 Ich verwende den Begriff des Spiels hier wie im Weiteren heuristisch, um die Relationalität und Dynamik von Ordnungs- und Selbstbildungsprozessen in praktischen Vollzügen beschreibbar zu machen und ihre Regelmäßigkeiten ebenso wie überraschende Spielzüge, Unterbrechungen oder gar Spielabbrüche zu veranschaulichen. In Kapitel 3.2 geht es darüber hinaus auch um konkrete Spiele als Medien der Wissensvermittlung. 39 Die Begriffe Selbst und Subjekt werden in dieser Arbeit synonym verwendet.
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Foucaults „Analytik der Macht“ geht es mir um die Konturierung einer Forschungsanalytik, welche ich als eine historisch und gesellschaftlich spezifische „Blick- und Thematisierungsweise“ (Keller et al. 2012: 11) verstehe, die der Überwindung einer dichotomischen Trennung von Theorie und Empirie dienen soll und sich insofern komplementär zu einer praxeographischen Forschungsperspektive verhält.40 Eine so verstandene Analytik hat also eine doppelte Funktion: sie dient der Entwicklung einer spezifischen Optik für die empirischen Studien und sie leistet damit gleichzeitig einen Beitrag zur Theoriebildung, indem sie aus der empirischen Forschung heraus ein eigenes Perspektivierungsangebot generiert. Mir geht es in dieser Studie somit nicht um eine ontologische Festschreibung des Subjekts, sondern darum, Prozesse der Subjektivierung aus einem spezifischen Blickwinkel zu beleuchten. Ein sich in Praktiken bildendes Subjekt erscheint dabei als „Vollzugsform“ (Alkemeyer 2013: 58), als „ein Subjekt allenfalls im Gerundivum – nicht vorfindbar, sondern hervorzubringend“ (Bröckling 2012: 132).41 Das Kennzeichen einer Forschungsanalytik ist gerade, dass sie nie abgeschlossen oder stillgestellt ist, sondern von empirischen Fragen und Beobachtungen immer wieder irritiert, geschärft und auf diese Weise beweglich gehalten wird. Hervorzuheben ist noch einmal, dass auch die im folgenden dargestellte Forschungsanalytik den empirischen Studien in dieser Arbeit zwar konzeptionell vorangestellt wird, dieser Aufbau aber nicht als Hinweis auf ein entsprechendes chronologisches Vorgehen zu verstehen ist. Vielmehr sind die Überlegungen hierzu in ständig wechselnder Auseinandersetzung mit theoretischen Perspektiven und empirischem Material entstanden. Vor diesem Hintergrund wird praktische Subjektivierung in diesem Kapitel vorläufig analytisch justiert, für die empirische Forschung operationalisierbar gemacht und offen für mögliche Reformulierungen, Korrekturen und Ergänzungen gehalten. 2.1.1 Prolog: Praktiken und Szenen der Subjektivierung Den Begriff der Praktiken fasse ich zunächst mit Theodore Schatzki (2002: 72) als „open, temporally unfolding nexuses of actions“. Praktiken setzen sich nach Schatzki aus vier Organisationskomponenten zusammen: Mit Regeln (rules) sind
40 Auf den Begriff der Praxeographie gehe ich ausführlich in Kapitel 2.3.1 ein. 41 Bröckling bezieht sich hierbei auf das unternehmerische Selbst. Die Denkfigur des Gerundivums, welche auf den Prozesscharakter der Subjektkategorie einerseits und ihre machttheoretische Dimension andererseits hindeutet, lässt sich in meinem Verständnis jedoch auf den Begriff des Subjekts im Allgemeinen übertragen (d.h. zugleich, dass dieser nicht, wie Bröckling nahelegt, schon in einer Art gegenwärtiger Universalie eines unternehmerischen Selbst aufgeht).
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explizite, normative Vorgaben, Prinzipien oder Grundsätze gemeint, die bestimmen wann, wo, wie und von wem spezifische Tätigkeiten im Rahmen einer Praktik durchzuführen sind (ebd.: 79). Unter der teleoaffektiven Struktur (teleoaffective structure) versteht Schatzki „[...] a range of normativized and hierarchically ordered ends, projects, and tasks, to varying degrees allied with normativized emotions and even moods“ (ebd.: 80). Praktiken werden durch zwei unterschiedliche Verstehensweisen oder Arten von Übereinkünften (understandings) zusammengehalten: Allgemeine Verstehensweisen (general understandings) gelten im Sinne von Weltbildern oder grundlegenden Überzeugungen nicht nur für eine bestimmte Praktik, sondern über verschiedene soziale Praktiken hinweg, und können sich sowohl in der Art und Weise ausdrücken, wie Tätigkeiten ausgeführt werden, als auch darin, welche Aktivitäten im Rahmen einer Praktik ausgeführt werden (ebd.: 86). Praktische Verstehensweisen (practical understandings) schließlich beziehen sich auf ein knowing how, also ein verkörpertes „Können und Wissen im Blick auf erfolgreiches und passendes Handeln, mithin ein Wissen im weiten Sinne von praktisch-erfolgreicher ‚Richtigkeit‘“ (Abel 2010: 322). Hierzu gehört, dass die Teilnehmer einer Praktik einzelne Tätigkeiten ‚richtig‘ ausführen können, dass sie sie als zugehörig zu einer Praktik erkennen und dass sie diese doings und sayings einer Praktik sowohl initiieren als auch beantworten bzw. daran anschließen können (vgl. Schatzki 2002: 77). Praktiken setzen sich also aus Tätigkeiten zusammen, die Schatzki in körperliches Tun (bodily doings) und Sprechen (sayings) unterteilt. Sayings werden dabei als Teilmenge von doings, d.h also als eine zuallererst körperliche Aktivität, aufgefasst.42 Diskurs und Praxis werden damit nicht als jeweils vorgängige Orte des Sozialen gegeneinander ausgespielt, sondern es wird von einer „integralen Einheit“ (Hetzel 2008: 27) von Sprechen und Tun ausgegangen.
42 Häufig wird Schatzki eine dichotomisierende Sichtweise auf Körper und Sprache vorgeworfen, indem man ihn verkürzt mit der Formulierung von „doings“ und „sayings“ zitiert. In der Unterscheidung von bodily doings und sayings liegt jedoch gerade ein Potential, Praktiken hinsichtlich ihrer diskursiven bzw. körperlichen ‚Anteile‘ oder ‚Schwerpunkte‘ beschreibbar und vergleichbar zu machen, ohne in eine Opposition zwischen Diskurs und Praxis zu verfallen. Eine solche Dichotomie machen hingegen bspw. Bührmann und Schneider in ihrem an Foucault anschließenden Dispositivansatz auf. So sehen sie den Beitrag von Dispositivanalysen darin, „eine für Machtphänomene sensible praxeologische Brücke zwischen Reden und ‚nur‘ Handeln zu schlagen“ (Bührmann & Schneider 2008: 106). Sie tendieren so dazu, „einem Reich der sozioökonomischen Lagen und Interessen ein Reich von Sinn, Denken und Sprache gegenüberzustellen“ und laufen unterschwellig Gefahr, den „analytischen Blick auf die sprachliche Materialität der empirischen Gegenstände zu verstellen“ (Angermüller 2009: o.S.).
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Obgleich Schatzkis Forschung nicht subjektivierungstheoretisch ausgerichtet ist, erscheint sein Verständnis sozialer Praktiken anschlussfähig an eine dezentrierte Subjektkonzeption, da es sowohl die Vorstellung eines Subjekts als souveränem und unabhängigem Urheber intentional geplanter Handlungen zurückweist als auch „das Mentale dezentriert und empirisch perspektiviert“ (Schmidt 2012: 57). Um den Ansatz der Subjektivierung für diese Arbeit zu schärfen, bringe ich die „Mastertheorien“ (Alkemeyer 2013: 37) in diesem Feld von Louis Althusser, Judith Butler und Michel Foucault ins Gespräch mit Ansätzen von Slavoj Žižek, Erving Goffman und Pierre Bourdieu. In Auseinandersetzung mit den meisten dieser sowie weiterer subjektivierungstheoretischer Ansätze fällt auf, dass sich im subjektivierungstheoretischen Feld spätestens seit Althussers berühmter ‚Urszene‘ der Anrufung eine ‚Praktik der Theoretisierung‘ etabliert hat, welche das Subjekt in Szene setzt. „Das Subjekt tritt auf“ überschreibt etwa Žižek (2001: 248) ein Kapitel seiner Ausführungen über „Die Tücke des Subjekts“, bevor er dem Subjekt gut hundert Seiten später seinen buchstäblichen Auftritt in einem slowenischen Theater verschafft (ebd.: 355). Neben Judith Butler (2001) haben Jacques Rancière (2008) oder Ulrich Bröckling (2007, 2012) Subjektivierungsszenen in direkter Antwort auf Althusser entworfen.43 Anders angelegte, ihren szenischen Charakter umso stärker betonende Auftritte des Subjekts finden sich bei Erving Goffman, der das Theatermodell wohl so systematisch und konsequent wie kaum ein anderer für seine Konzeption des Selbst fruchtbar gemacht hat (vgl. Goffman 1967). Wenn in all diesen „Theorieinszenierungen“ (Wilharm 2009: 247) das Subjekt als eines thematisiert wird, das sich in Szene setzt und in Szenen gemacht wird, möglicherweise gar ausschließlich in Szenen existiert, so verweist dies, wie ich meine, nicht bloß auf ein wiederkehrendes dramaturgisches Stilmittel. Vielmehr deutet sich damit an, dass das Szenische in der Geschichte der Subjektphilosophie und -theorie, wie die Philosophin und Theaterpädagogin Céline Kaiser formuliert hat, „kein kontingentes Accessoire, sondern mitunter ein Struktur bildendes Element für die Modellierung des Subjekts“ ist.44
43 Auch Andreas Reckwitz beginnt seine Monographie über das „Subjekt“ mit der Schilderung zweier Filmszenen, welche er gerade nicht als Darstellungen sozialer Rollen, sondern vielmehr als Präsentationen der „Geburt ‚moderner‘ Subjekte“ bzw. der „Herauskristallisation einer spezifischen Version moderner, bürgerlicher Subjektordnung“ verstanden wissen will (Reckwitz 2010a: 6f.). 44 Diese Annahme bildet die Arbeitshypothese des Forschungsprojekts „Szenen des Subjekts“, in dem sich Kaiser neben der Ausarbeitung einer „Kulturgeschichte der Theatrotherapie“ der Untersuchung von Verbindungen zwischen modernen und postmodernen Subjektkonzeptionen und theatertherapeutischen Modellen, Rhetoriken und Darstel-
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Im Folgenden möchte ich daher erstens danach fragen, ob und inwiefern sich dieser spezifischen Machart der Theorie selbst etwas über ihren Gegenstand entnehmen lässt. Dies bringt mich zweitens zu der Behauptung, dass eine praxeologisch angelegte Subjektivierungsperspektive etwas gewinnen kann, wenn sie das Szenische solcher Konzeptionen ernst nimmt und auf ihren praxistheoretischen Gehalt hin befragt sowie, umgekehrt, das szenische Moment von subjektivierender Praxis herausstellt. Verbunden ist damit drittens eine reflexive Wendung insofern danach gefragt wird, was es eigentlich über das Denken des Subjekts und unsere gegenwärtigen Subjektvorstellungen aussagt, dass das Geschehen der Subjektwerdung beständig aufs Neue als szenisches konzipiert und erzählt wird. Anders ausgedrückt: Wenn wir – dafür hat insbesondere Michel Foucault sensibilisiert – davon ausgehen, dass das, was ein Subjekt (aus-)macht, historisch wandelbar und das Subjekt nicht einfach gegeben, sondern vielmehr eine spezifische epistemische Kategorie ist, und wenn wir zudem annehmen, dass das szenische Format uns etwas über das Praxismoment der Subjektivierung verrät, was folgt dann für das Subjekt daraus, wenn wir es als ein szenisches und gleichsam in Praktiken gebildetes verstehen? Mit Bourdieu geht es also um eine „doppelte Praxeologisierung nicht nur des Beobachteten, sondern auch des Beobachtens“, welche „auch die wissenschaftlichen Praktiken des Beobachtens, Beschreibens und Klassifizierens ausleuchten und die aus ihren Beziehungen zu den beobachteten Praktiken herrührenden Effekte offenlegen“ sollte (Schmidt 2012: 34). Um mich einer solchen doppelten Praxeologisierung anzunähern, werden in diesem Kapitel einige prominente Auftritte des Subjekts kritisch rekapituliert und zugleich wird damit versucht, ein eigenes Verständnis zur Unterscheidung von Praktiken der Subjektivierung und subjektivierender Praxis zu entwickeln sowie zentrale Analysedimensionen für deren Ausleuchtung heraus zu präparieren. 2.1.2 „In der Nacht des Subjekt-Effektes sind alle Praxen grau“ – Subjektivierung als ideologische Anrufung bei Louis Althusser In seiner klassischen Anrufungsszene beschreibt Louis Althusser Subjektivierung als eine Wirkungsweise der Ideologie, wodurch aus „der Masse der Individuen“ Subjekte „rekrutiert“ bzw. Individuen in Subjekte „verwandelt“ werden (Althusser 1977: 142f.). Die Szene stellt er folgendermaßen dar:
lungsweisen widmet. Das Forschungskonzept ist einsehbar unter: www.celine-kaiser. de/index.html [14.12.2012].
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„Man kann sich diese Anrufung nach dem Muster der einfachen und alltäglichen Anrufung durch einen Polizeibeamten vorstellen: ‚He, Sie da!‘ Angenommen die vorgestellte Szene spiele sich auf der Straße ab und das angerufene Individuum wendet sich um. Es wird durch diese einfache Wendung um 180 Grad zum Subjekt. Warum? Weil es damit anerkannt hat, daß der Anruf ‚sehr wohl‘ ihm galt und ‚niemand anders als es angerufen wurde.‘“ (Ebd.)
Zunächst lässt sich die Szene als ein konkret situiertes Ereignis verstehen, durch das ein empirisches Individuum zum Subjekt gemacht wird. Althusser liefert noch keine theoretische Begründung, warum die Anrufung ‚funktioniert‘ und sich das Subjekt umwendet, sondern rekurriert auf empirische Beobachtungen: „Wie durch Erfahrungen belegt, verfehlen diese praktischen Telekommunikationen der Anrufung praktisch niemals ihren Mann; sei es durch mündlichen Zuruf oder durch Pfeifen, der so angerufene weiß immer, daß er es ist, der gemeint war.“ (Ebd.: 143) Am Beispiel der Anrufung durch den religiösen Staatsapparat, welche die Interpellationsszene gleichsam figuriert (Butler 2001: 107), verdeutlicht Althusser, dass sich Individuen in Subjekte verwandeln, wenn und insofern sie sich der ideologischen Anrufung „freiwillig“ unterwerfen und die die Ideologie verkörpernden und materialisierenden (hier: religiösen) Praktiken vollziehen und sich in der Aus- bzw. Einübung von Praktiken sowohl selbst als auch wechselseitig als (gläubige) Subjekte anerkennen (vgl. Bedorf 2010: 82).45 Subjektivierung wird damit als ein dreistellig dimensioniertes relationales Anerkennungsgeschehen angelegt, das sich in Praktiken vollzieht, wobei Anerkennung als „subjektivierende Anerkennung“ (ebd.: 78ff.) nicht normativ auf positive Wertschätzung und Bestätigung enggeführt wird. Effekte der Subjektstiftung, der Herrschaftskonstitution sowie der Kollektivierung
45 Der religiöse Staatsapparat gehört in Althussers Terminologie zu den ideologischen Staatsapparaten (ISA), welche ebenso schulische, familiäre, juristische, politische und gewerkschaftliche ISA sowie ISA der Information (Presse, Radio, Fernsehen usw.) und kulturelle ISA (Literatur, Kunst, Sport usw.) umfassen. Abgegrenzt werden diese von dem Repressiven Staatsapparat, der sich u.a. aus Regierung, Verwaltung, Armee, Polizei und Gerichten bildet. Die Metapher des Apparats verweist einerseits darauf, dass Althusser auch der Ideologie eine materielle Existenz zuschreibt, welche ähnlich ‚handfeste‘, die Körper durchdringende Wirkungen entfalten kann wie die Waffen oder Gefängnisse des repressiven Staatsapparats. Angelegt ist mit dieser technischen Perspektive aber zugleich auch, dass Althusser die Funktionsweise des ideologischen Staatsapparats, ähnlich der des repressiven, als mechanistisch determiniert und kaum störanfällig konzipiert. Andererseits, und dies scheint zunächst paradox, wird er als ideologische Anrufungsinstanz zugleich im Begriff des SUBJEKTs gefasst. Allerdings werden anrufendes SUBJEKT und angerufenes Subjekt letztlich gleichermaßen mechanistisch konzipiert, so dass das Bild letztlich in sich stimmig ist.
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verschränken sich im praktischen Vollzug miteinander: Subjekte bilden sich, indem sie religiöse Praktiken vollziehen und sich in diesem Vollzug selbst als gläubige Subjekte erkennen. Nicht die Verinnerlichung einer bestimmten Wertvorstellung oder Weltsicht, sondern die Einübung charakteristischer Verhaltensweisen, in denen sich die Subjekte sowohl selbst als auch gegenseitig als Angehörige einer gemeinsamen Glaubens-, oder: „Praktikergemeinschaft“ (Lave & Wenger 1991) anerkennen, macht jemanden zu einem gläubigen Subjekt.46 Der Glaube ist also gerade Effekt und nicht Ursache einer Praxis. Umgekehrt besteht auch die „Religion nur aufgrund der und in den vollzogenen Praktiken“ (Bedorf 2010: 82, Herv. i.O.). Althusser verweist damit auf die Gleichzeitigkeit von Ermächtigung und Zwang, Fremd- und Selbstkonstitution, Aktivität und Passivität. Die damit angelegte Sensibilität für die Beweglichkeit, den Spannungsreichtum und die Ambivalenzen der subjektivierenden Praxis vergibt er sich jedoch allzu schnell, wie ich meine, wenn er der Anrufung im Verlauf ihrer Darstellung insofern ihr szenisches Moment nimmt, als er sie nicht mehr als ein historisch, sozial und lokal situiertes Geschehen begreift, sondern einen Perspektivenwechsel von der Szene eines Anrufungsereignisses hin zu einer allgemeinen, überzeitlichen Inszenierung der Selbstwerdung vornimmt: „Was uns jetzt interessiert, ist die Art und Weise, wie die ‚Schauspieler‘ dieser Aufführung der Anrufung und ihre respektiven Rollen sich in der Struktur jeder Ideologie widerspiegeln.“ (Althusser 1977: 144f.). Dies ist der Moment, in dem sich Althussers Subjektivierungsmodell „aufspaltet in ein Modell situationalistischer ‚Anrufungen‘ durch die verschiedenen konkreten ISA und eine sich überzeitlich verstehende psychoanalytische Theorie ‚ewiger‘ Unterwerfung“ (Rehmann 2008: 130). Die Umwendung der Subjekte wird nun nicht mehr mit Rekurs auf empirische Beobachtungen plausibilisiert, sondern auf die anthropologische Annahme eines psychischen Motivs zurückgeführt: Es ist „die absolute Garantie, daß alles in Ordnung ist und daß alles gut gehen wird, solange die Subjekte nur wiedererkennen, was sie sind, und sich dementsprechend verhalten.“ (Althusser 1977: 148). Dieser Garantie im Sinne von Orientierung und Erwartungssicherheit, die das unterworfene Subjekt ‚gewinnt‘, steht auf Seiten der ideologischen Staatsapparate die Garantie gegenüber, dass sich das System weitestgehend reibungslos reproduzieren kann. Das Subjekt kann sich bei Althusser letztlich nur umwenden, die Subjektivierung gelingt also immer, denn „weil das Subjekt erst im Rahmen des ideologischen Apparats zu dem wird, was es ist, kann es sich auch nicht aus freien Stücken entschließen, die Praktiken zu befolgen oder dies zu unterlassen“ (Bedorf 2010: 82).
46 Mit dem Konzept der Praktikergemeinschaft beschreiben Lave und Wenger (1991) situiertes Lernen i.S.e Weitergabe von Fähigkeiten, Wissen, Gewohnheiten und Einstellungen im alltäglichen Tun in einer Gemeinschaft praktisch tätiger Personen.
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Mit der Einführung seines psychoanalytischen, letztlich fundierungstheoretischen Arguments stellt Althusser den Vollzugscharakter der Subjektivierung gleichsam still. Momente der Routine und (Herrschafts-)Reproduktion werden betont, während die in den Praktiken ebenso liegenden Potentiale für Veränderung, Improvisationen (vgl. Hartmann 2012) und Eigensinn systematisch ausgeblendet werden.47 Das Projekt Ideologietheorie hat dieses verkürzte Verständnis sozialer Praktiken auf die prägnante Formel gebracht: „In der Nacht des Subjekt-Effekts sind alle Praxen grau.“48 Versuchen wir vor diesem Hintergrund Althussers Szene noch einmal einzufärben und auf ihren praxeologischen, von ihm selbst jedoch kaum ausgeschöpften Gehalt, hin zu befragen: Im Zentrum der Szene stehen zunächst einmal zwei Figuren, ein angerufenes Individuum und ein Polizeibeamter, sowie ein einfacher Sprechakt, jene Anrufung in Form des „He, Sie da!“, wobei Althusser selbst darauf hinweist, dass es für die Anrufung nicht zwingend eines Sprechaktes bedarf, diese vielmehr auch durch ein Pfeifen vollzogen werden könne. Beantwortet wird die Adressierung durch den körperlichen Akt der Umwendung, wodurch das Individuum die ideologische Anrufung anerkennt und selbst als Subjekt anerkannt wird. Doch reichen die Worte „He, Sie da?“, um den Polizeibeamten für das angerufene Subjekt ebenso wie für den Betrachter dieser Szene als solchen erkennbar zu machen? Wohl kaum. Vielmehr haben wir uns den Anrufenden mit einer entsprechenden Uniform, seinen Ausruf in einer bestimmten Art und Weise intoniert und eingebettet in einen über typische Gesten und Bewegungsmuster verkörperten spezifischen Gesamtauftritt eines solchen staatlichen Funktionsträgers vorzustellen. Erst entsprechende Requisiten und eine bestimmte, körper-sprachliche Performanz verleihen dem Polizeibeamten Intelligibilität und gewährleisten, dass er die ihm verliehene institutionelle Macht adäquat zur Schau stellen kann. Zudem bedarf es einer besonderen Gestaltung der Bühne, welche die Interpellationsszene erst hervorbringt. Althusser kommt nicht ohne den Hinweis auf den situativen Kontext einer Straße aus, um die Alltäglichkeit und Ubiquitarität des Geschehens zum Ausdruck bringen zu können. Erst vor diesem Hintergrund erscheint der Ruf als jederzeit und überall möglich und – wichtiger noch – jedermann könnte
47 Eigensinn bezeichnet in meiner Perspektive keine Eigenschaft eines Subjekts, vielmehr besitzt er, wie Graefe (2010: 305) herausgestellt hat, eine inter- und transsubjektive Dimension, indem er räumlich und zeitlich den Handlungsradius des Einzelnen überschreitet. Im Sinne Foucaults handelt es sich um eine „Grenzerfahrung“, die mit einer kollektiven Praxis verknüpft ist. „Das Subjekt führt diese nicht durch, sondern schreibt sich in etwas ein, was schon im Gang ist“ (ebd.). 48 Projekt Ideologietheorie (1979): Theorie über Ideologien. Berlin: 126, zit. nach Rehmann (2008: 118).
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gemeint sein und als zufällig passierender „Subjektivierungskandidat“ (Alkemeyer 2013: 48) in Frage kommen. Auch auf Seiten dieses Kandidaten erscheint das Subjektivierungsgeschehen voraussetzungsvoll: Noch bevor sich der Passant umwendet und die, so nehmen wir an, Uniform des Polizisten erblickt, muss er in anderen Kontexten einen „praktischen Sinn“ (Bourdieu 1987, Herv. AQ) dafür entwickelt haben, dass hier und jetzt der Moment ist, sich dem Anrufenden zuzuwenden und wie er sich umzuwenden hat.49 Genauso müssen wir auch dem Polizisten ein Gespür für eine ‚richtige‘ Lesart dieses körperlichen Akts der Umwendung zugestehen. Der Akt der Anrufung und jener der Umwendung bedürfen also einer spezifischen Koordination, in der eine gemeinsam geteilte Einschätzung darüber hergestellt wird, „was hier eigentlich vor sich geht“ (Goffman 1977) und wie man sich der Situation angemessen zu verhalten hat. Dass diese Koordination gelingt und alle Beteiligten eine Situation in ähnlicher Weise interpretieren, ist jedoch alles andere als selbstverständlich. In Althussers Szene könnte der Angerufene aus einer spezifischen Position heraus den Ruf des Polizisten bspw. schlichtweg nicht wahrnehmen oder nicht auf sich beziehen. Auch die Art der Umwendung und deren Wahrnehmung durch den Polizisten könnte das Geschehen anders verlaufen lassen als Althusser es hier darstellt. So könnte bspw. eine allzu schnelle und ruckartige Bewegung des Angerufenen oder eine große Unsicherheit auf Seiten eines unerfahrenen Polizeianwärters statt einer vorläufigen Verhaftung (Interpellation) des Angerufenen ein ‚jähes Ende‘ seiner Subjektivierung bedeuten. All dies kommt bei Althusser nicht zur Sprache. In seinem Modell ist kein Raum für die Kontingenz subjektivierender Praxis, sein starres Skript erlaubt weder Widersprüchlichkeiten, Mehrdeutigkeiten oder Spannungen auf Seiten der anrufenden Instanzen, noch Improvisationen und Eigensinnigkeiten auf Seiten der angerufenen Subjekte. Es weist vielmehr, erstens, eine Tendenz zur Vereindeutigung auf, da ausgeblendet wird, dass Subjektivierungskandidaten mit konkurrierenden oder gar gegensätzlichen Anrufungen konfrontiert sein können, welche zunächst einmal ‚richtig‘ interpretiert und sodann ausbalanciert und gewichtet, mitunter auch zurückgewiesen werden müssen, damit andere Anrufungen beantwortet werden können (Rehmann 2008: 118). Gleichwohl macht Althussers Anrufungsszene, als konkretes Ereignis betrachtet, darauf aufmerksam, dass solche Interpretationen entscheidend von dem jeweiligen raum-zeitlichen setting abhängen. Mit seinem Rekurs auf eine ewige Unterwerfung abstrahiert er allerdings von solchen szenischen
49 Der praktische Sinn nach Bourdieu ist „weder mit Regeln noch mit Grundsätzen belastet“ und „noch weniger mit Berechnungen und Schlussfolgerungen“, vielmehr erlaubt er es, Situationen einzuschätzen und im rechten Augenblick die „passende Antwort“ zu finden (Bourdieu 1987: 190ff.).
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Einbettungen und dekontextualisiert die Anrufung auf diese Weise. Eine Forschungsanalytik praktischer Subjektivierung müsste demgegenüber gerade den historisch und sozial situierten Charakter, kurzum: ihr szenisches Moment, stärker in den Blick nehmen. Darüber hinaus sensibilisiert Althussers Modell für einen grundlegenden Zusammenhang von Subjektwerdung, Macht und Ordnungsbildung, neigt bei der Konzeption dieses Verhältnisses jedoch zur Vereinseitigung. So hebt Althusser mit seiner top down-Anrufung auf eine dem Einzelnen vorgängige Ordnung ab und hat nicht im Blick, dass Subjekte ihrerseits Ordnungen mit ihren jeweiligen, im Rahmen einer spezifischen Praktik ‚abgesteckten‘, Anrufungsmöglichkeiten einerseits und ihren Adressierbarkeiten andererseits selbst mit hervorbringen. Zwar ist bei Althusser der Ansatz eines dreistellig relationalen Anerkennungsgeschehens der Subjektivierung prinzipiell angelegt, letztlich erscheinen die möglichen Selbst-, Anderen- und Weltverhältnisse aber durch die einseitige Perspektive auf immer schon ideologische, herrschaftsaffirmative Praktiken eindeutig vorgezeichnet. Althussers Modell tendiert mit seiner Geschlossenheit des Ideologiebegriffs zu einer institutionellen Abschließung des Subjektivierungsgeschehens. Der Begriff der „Interpellation“, wörtlich für die „vorläufige Festnahme“ (Bedorf 2010: 80, Herv. AQ), legt zwar eine gewisse prozessuale Offenheit der Subjektivierung nahe, zur Selbstbildung bedarf es aber letztlich „keiner komplex miteinander verwobenen Netze von ritualisierten Praktiken, weil ich bereits in einem ideologischen Feld situiert werde, sobald ich beim Namen gerufen werde“ (ebd.: 84). Zusammengefasst verdanken wir der Auseinandersetzung mit Althussers Anrufungsmodell vier zentrale Einsichten. Erstens macht Althusser auf die Doppelläufigkeit der Subjektivierung im Sinne von Unterwerfung und Ermächtigung aufmerksam. Zweitens lässt sich im Anschluss an Althusser der Übungscharakter der Subjektivierung im Sinne einer Wiederholung ritualisierter Praktiken in den Blick nehmen. Drittens geht das Subjekt aus einem dreistellig dimensionierten Anerkennungsgeschehen hervor, in dem Selbst-, Kollektiv- und Herrschaftsbildung untrennbar miteinander verwoben sind. Aus einer Perspektive, die Athussers Anrufungsszene als ein empirisches Ereignis in den Blick nimmt, lässt sich, viertens, die konkrete historische, soziale und lokale Situiertheit als ein szenisches Moment subjektivierender Praxis herausarbeiten. Insbesondere Judith Butler hat an zentrale Überlegungen von Althusser angeschlossen und sie produktiv weitergeführt. 2.1.3 Performative Aufführungen des Selbst – Subjektivierende Anerkennung bei Judith Butler Judith Butler hat darauf hingewiesen, dass das Werden des Subjekts weder ein einfaches, punktuelles Ereignis noch ein teleologischer, kontinuierlich fortschreitender Prozess ist, sondern vielmehr eine „ruhelose Praxis der Wiederholung“ (Butler
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2001: 33). Subjekt ist man bei Butler „nicht, indem man als Subjekt anerkannt wird oder indem in einem einmaligen Akt die Regeln eines sozialen Systems in Geltung gesetzt würden, sondern die Existenz als Subjekt erhält sich nur performativ. Nur durch den Erwerb und die beständige Wiederholung bestimmter im Rahmen dieses Systems geforderter Fähigkeiten und Fertigkeiten bewahrt sich diese Position. Diese Bewahrung ist jedoch stets fragil und vorläufig.“ (Bedorf 2010: 89, Herv. AQ). Wenngleich Butler meines Wissens ihr Verständnis von Praktiken in ihrem Werk an keiner Stelle expliziert und den Begriff der Praxis häufig synonym mit dem Handlungsbegriff verwendet, findet sich bei ihr gleichwohl eine praxeologische Perspektivierung besagter „Fähigkeiten und Fertigkeiten“: „Wenn man sagt, das Subjekt handle nach bestimmten Fähigkeiten, dann nimmt man gleichsam die Grammatik beim Wort: Es gibt ein Subjekt, das bestimmten zu erlernenden Fertigkeiten gegenübersteht, sie lernt oder auch nicht lernt, und von dem man dann und erst dann sagen kann, es beherrsche diese Fertigkeiten, oder es beherrsche sie nicht. Bestimmte Fertigkeiten beherrschen heißt nicht einfach, sie hinzunehmen, sondern sie im eigenen und als eigenes Tun reproduzieren. Das bedeutet nicht einfach, eine bestimmte Gruppe von Regeln zu befolgen, sondern Regeln im Tun verkörpern und diese Regeln in verkörperten Handlungsritualen zu reproduzieren“ (Butler 2001: 112f., Herv. AQ). Butler will solche Reproduktionen dabei weder als eine „bloße mechanistische Übernahme von Normen“ noch als „voluntaristische Aneignung“, weder als „simplen Behaviorismus“ noch als ein „überlegt beschlossenes Projekt“ verstanden wissen (ebd.):50 „Soweit die Reproduktion der Subjektbildung vorausgeht, gehört sie noch nicht der Ordnung des Bewußtseins an, und doch ist dieser unwillkürliche Zwang kein mechanistisch induzierter Effekt. Der Begriff des Rituals verweist darauf, daß sie durchgeführt, performiert wird und daß in der Durch-
50 In ähnlicher Weise wie sich Butler gegen ein Verständnis von Subjektivierungspraktiken im Sinne einer voluntaristischen Aneignung wendet, müsste möglicherweise aber auch eine kritische Distanzierung von der im Anschluss an Butler häufig gebrauchten Metapher des Aushandelns erfolgen, da beide Begriffe letztlich ein Handlungssubjekt voraussetzen, das souverän mit den ihm nahegelegten Subjektformen zu spielen vermag. Link hat aus diskursanalytischer Perspektive stark gemacht, dass der Gebrauch der Aushandlungsmetapher selbst auf eine spezifische Form der Subjektivierung verweist: „Nicht Subjekte handeln Diskurse unter sich aus, sondern sie können nur deshalb innerhalb von Diskursen etwas aushandeln, weil sie zuvor durch einen Aushandelns-Diskurs zu Aushandelns-Subjekten subjektiviert wurden. Das Aushandeln ist Diskurs – genauer gesagt: Das Aushandeln ist ein Dispositiv, das vom Diskurs parat gehalten wird.“ (Link 2012: 57, Herv. i.O.). Hier taucht nun allerdings wiederum das Problem auf, dass Diskurse als den Subjekten vorgängig konzipiert werden, statt Subjekte und Ordnungen als wechselseitig konstituiert in den Blick zu nehmen.
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führung dieser Wiederholung eine Überzeugung entsteht, die in der Folge dann in die Durchführung integriert wird.“ (Ebd.) Auch bei Butler werden bestimmte szenische Momente, wie körperliche Aufführung, Skriptförmigkeit und zugleich nuancierte Varianz, zu Eckpfeilern ihres performativitätstheoretischen Ansatzes der Subjektivation: „Eine performative Handlung ist eine solche, die das, was sie benennt, hervorruft oder in Szene setzt und so die konstitutive oder produktive Macht unterstreicht“ (Butler 1993: 123f.). Hervorzuheben ist dabei, dass die hier gemeinten Performanzen und Aufführungen des Subjekts nicht auf eine theatrale Selbstinszenierung verweisen, die eine mit Butlers Ansatz gerade nicht vereinbare Unterscheidung zwischen einer Rolle und einem dahinter liegenden ‚wahren‘ Selbst nahelegen würde. Vielmehr ist das Subjekt „seine eigene Inszenierung und diese ist nicht als strategisches Spiel misszuverstehen, sondern als die basale Existenzform von Subjektivität“ (Reckwitz 2010a: 89). Dieses Verständnis des Subjekts als „seine eigene, kulturell regulierte körperliche Performativität“ (ebd.) impliziert bei Butler, dass sich Subjekte nicht beliebig selbst hervorbringen oder entwerfen können, sondern sich im Rahmen von „Normen der Anerkennbarkeit“ (Butler 2010: 14) bilden, die sich aus einem Diskurs bzw. einem spezifischen Wahrheitsregime ergeben und festlegen, wer als Subjekt der Anerkennung in Frage kommt sowie nach welchen Normen die Anerkennung erfolgt. 51 Subjektivierung, respektive Subjektivation in Butlers Sprachgebrauch, wird dabei in Form einer Anerkennung konzeptualisiert, die den Zusammenhang von Unterwerfung und Stiftung betont (vgl. Ricken 2013: 88). Im Unterschied zu Althusser hebt Butler aber den Zusammenhang von Anerkennung und konstitutiver Verkennung durch den Anderen hervor.52 Die bei Althusser angelegte, jedoch letzt-
51 Balzer und Bergner (2012: 255) haben darauf hingewiesen, dass Normen der Intelligibilität, d.h. „Kriterien, für das, was als sinnvoll oder sinnlos, als verständlich oder nicht verständlich angesehen werden kann“, von Butler lediglich analytisch von Normen der Anerkennbarkeit unterschieden werden und sich beide wechselseitig bedingen. Knapp formuliert: Anerkennbarkeit verlangt Erkennbarkeit und erkennen lässt sich nur, was anerkennbar ist. „Anerkennungsbeziehungen sind also keine sekundären, evaluativen Handlungen gegenüber irgendwie bereits vorgängig erkannten Anderen, sondern in eins mit dem Erkennen als so oder so Anderen wird auch eine Anerkennung in einem normativen Horizont ins Werk gesetzt.“ (Bedorf 2010: 197, Herv. i.O.). 52 Die die Anrufung begleitende Verkennung bezieht sich bei Althusser (1977: 149) hingegen auf das im Ideologiebegriff enthaltene Entfremdungspostulat: „Daß jede Anerkennung etwas verkennt, läßt sich unter der Annahme nachvollziehen, daß man die Anerkennung als Entfremdung versteht. Als Verkennung gilt der performative Vollzug kultureller, religiöser und sozialer Praktiken dann, weil er in ein Leben einübt, welches das Subjekt entfremdet.“ (Bedorf 2010: 83, Herv. i.O.).
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lich in der einseitigen Anrufung wieder zurückgenommene Relationalität des subjektivierenden Anerkennungsgeschehens buchstabiert Butler als ein zirkulär angelegtes Adressierungsgeschehen aus; das Subjekt kann dabei „in der Sprache sowohl die Position des Adressaten als auch des Adressierenden (Butler 1998: 48f.)“ einnehmen, was ihm eine „Identifikation mit einer Anrede, nämlich als Komplementärbewegung zur Anrufung im Sinne Althussers“ (Villa 2010a: 411) ermöglicht bzw. abverlangt: „Die Anrede selbst konstituiert das Subjekt innerhalb des möglichen Kreislaufs der Anerkennung oder umgekehrt, außerhalb dieses Kreislaufs, in der Verworfenheit. [...] Angesprochen werden bedeutet also nicht nur, in dem, was man bereits ist, anerkannt zu werden; sondern jene Bezeichnung zu erhalten, durch die die Anerkennung der Existenz möglich wird. Kraft dieser grundlegenden Abhängigkeit von der Anrede des Anderen gelangt das Subjekt zur ‚Existenz‘. Das Subjekt ‚existiert‘ nicht nur dank der Tatsache, dass es anerkannt wird, sondern dadurch, dass es im grundlegenderen Sinne anerkennbar ist.“ (Butler 1998: 14f.). Butlers Kreislauf der Anerkennung lässt sich unter Rückgriff auf Waldenfels’ Konzept der „Responsivität“ (Waldenfels 1994, 1998) noch etwas näher ausleuchten: So ist erstens davon auszugehen, dass Anrufungen, sofern sie vernommen werden, nicht unbeantwortet bleiben können, und sei es in Form eines „antwortenden Hinhörens“ (Waldenfels 1994: 76). Zweitens können Ansprüche nie unabhängig von ihrem Antwortverhalten bestimmt werden (vgl. ebd.). Isolierte Sequenzen sind daher in ihrer Einbettung in ein ganzes Geflecht wechselseitiger Adressierungen zu sehen, wobei, drittens, eine grundlegende „Differenz zwischen dem Worauf und dem Was der Antwort“ anzunehmen ist: „Das, worauf wir antworten, bildet den blinden Fleck unseres Antwortverhaltens.“ (Ebd.) In dieser „responsiven Differenz“ nach Waldenfels liegt gewissermaßen die Quelle der Verkennung – und damit zugleich ein kreatives, transformatorisches Potential, da eine Adressierung immer auch anders beantwortet und somit resignifiziert werden kann. Butler, die das Subjekt in Anlehnung an Foucaults Konzeption der Subjektposition als „sprachliche Kategorie“ bzw. „Platzhalter“ (Butler 2001: 15) fasst, führt dieses Adressierungsgeschehen allerdings auf den Bereich der Sprache eng. „Subjekte sind demnach gewissermaßen sozial bewohnbare Zonen, die durch diskursive Semantiken geschaffen werden. Sie sind jene sprachlichen Kategorien, die anerkennungswürdige bzw. intelligible (Re)Präsentationen von Personen bereitstellen“ (Villa 2010b: 259, Herv. i.O.). Die diskursive Ordnung wird damit als dem Subjekt vorgängig konzipiert. Zusammengefasst lässt Butler mit ihrem Konzept der subjektivierenden Anerkennung die Relationalität bzw. Zirkularität subjektivierender Praxis in den Blick treten. Darüber hinaus sensibilisiert sie für die Aporien und Ambivalenzen dieses Geschehens. Während Subjektivierung bei Althusser stets gelingt, die Subjekte in den ideologischen Praktiken aufgehen und dadurch eine Selbst- und Weltgewissheit
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erlangen, formuliert Butler vor dem Hintergrund ihre Performatitivätskonzeptes gerade die Antithese eines notwendigen Scheiterns und einer prinzipiellen Fragilität, Spannung und Unabschließbarkeit von Subjektivierungsprozessen. Diese Ambivalenz der Subjektivierung leitet sich zum einen aus der Unmöglichkeit exakter „Wiederholungen körperlicher und diskursiver Akte, in denen ein Subjekt fortwährend in die Welt gesetzt wird“ (Reckwitz 2010a: 89) her. Butler lenkt damit die Aufmerksamkeit auf Potentiale performativer Verschiebungen im Vollzug subjektivierender Praktiken. Zum anderen ergibt sich eine destabilisierende „Selbstsubversion von Subjektordnungen“ aus Butlers Annahme, dass in Prozessen der Subjektivierung stets ein „psychischer Rest“ (oder eine Melancholie, ein Begehren wie Butler formuliert) erzeugt werde, welcher nie vollkommen in einer Subjektform aufgehen kann (ebd.: 91). Althusser und Butler kommen damit, obwohl sie gleichermaßen an die Psychoanalyse Lacans anschließen, zu entgegengesetzten Schlussfolgerungen. Findet Althussers Subjekt in seiner freiwilligen Unterwerfung Ruhe und Orientierung, ist Subjektivierung bei Butler durch ein konstitutives, unaufhebbares Spannungsverhältnis gekennzeichnet: Einerseits muss jemand, um in einer praktikenspezifischen Anerkennungsordnung für sich selbst und andere als Subjekt erkennbar und anerkennbar zu sein, bis zu einem gewissen Grade in dieser aufgehen. Um als spezifischer Jemand und nicht als irgendjemand anerkennbar zu sein, muss er andererseits aber auch ein Stück weit aus ihr heraustreten, indem er die praktikenspezifischen Fertigkeiten im eigenen und als eigenes Tun reproduziert. Die Inszenierung des Selbst ist nach Butler somit immer auch eine „Exposition des Selbst“, nach der das Subjekt strebt und welche es zugleich verletzlich werden lässt (Ricken 2013: 91). Mit Butler wird somit deutlich, dass diejenigen, die in Praktiken zu Subjekten gemacht werden bzw. sich selbst dazu machen, einerseits gefordert sind, sich den erwarteten Abläufen anzupassen und insofern im Vollzug von Praktiken unauffällig zu werden, aber andererseits auch, aus dem Erwartbaren herauszutreten und sich auf diese Weise zu exponieren. 2.1.4 Die Tücken der Anrufung – ein Subjektauftritt bei Slavoy Žižek In die Die Tücke des Subjekts entwirft Slavoy Žižek (2001) in Auseinandersetzung mit klassischen Subjektkonzeptionen des Deutschen Idealismus, (post-) althusserschen Perspektiven sowie postmodernen Entwürfen partikularer Subjektivitäten eine Konzeption des modernen Subjekts, das sich, ähnlich wie bei Butler, durch Fragilität, Unabschließbarkeit und Kontingenz auszeichnet. Auch bei ihm geht dieses nie vollkommen in einer Ordnung auf – sei es in einer psychischen, diskursiven oder gesellschaftlichen Struktur. Gerade weil es ein dezentriertes ist, weiß es die Gunst des Ereignisses zu nutzen: „Ich denke, das Subjekt ist seinem Wesen
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nach politisch. Damit meine ich, es ist ein Stück Freiheit, wo man nicht mehr in einer festen Substanz verwurzelt ist, oder, anders gesagt, sich in einer offenen Situation befindet.“53 Butlers und Žižeks Perspektiven konvergieren somit darin, dass es ihnen mit dem Subjektbegriff nicht nur um eine analytische Kategorie, sondern auch um eine emphatische Größe geht, deren Spielräume für Veränderungen unserer zeitgenössischen Geschlechterordnung (Butler) bzw. der kapitalistischen Gesellschaft (Žižek) es auszuloten gilt: in Form einer performativen Praxis der ‚kleinen Schritte‘ bei Butler, im Sinne einer „radikalen Neuordnung“ bei Žižek (vgl. ebd.: 363).54 Auch bei Žižek bedarf es einer spezifischen Inszenierung des Subjekts: „Eine witzige Sache ereignete sich neulich in einem slowenischen Theater. Ein halbgebildeter Neureicher kam zu einer Aufführung zu spät und versuchte eine halbe Stunde nach Beginn zu seinem Sitzplatz vorzudringen; gerade in diesem Augenblick musste der Schauspieler ganz zufällig auf der Bühne den pathetischen Satz sprechen: ‚Wer stört meine Stille?‘ – und der bemitleidenswerte Neureiche, der sich im Theater nicht gänzlich zu Hause fühlt, erkannte sich selbst als Adressat dieses Satzes, denn schließlich war er doch zu spät gekommen und fühlte sich deshalb schuldig. Er interpretierte diesen Satz also als Wutausbruch des Schauspielers, ausgelöst durch die Unruhe in der ersten Reihe und antwortete deshalb laut und für jedermann vernehmlich: ‚Ich heiße X. Es tut mir leid, zu spät gekommen zu sein, aber ich hatte auf dem Weg ins Theater eine Panne mit meinem Wagen!“ (Ebd.: 355)
Vergleicht man diese Szene mit Althussers Interpellationsszene, so fällt auf, dass der konkreten, situativ-räumlichen Einbettung der Adressierung durch den (vermeintlich) Angesprochenen ein größeres Gewicht im Subjektivierungsgeschehen eingeräumt wird und die Szene von ihrer Deutungsoffenheit lebt. Die Szene ist eng auf den performativen Sprechakt des „Wer stört meine Stille?“ bezogen, erschöpft sich darin jedoch nicht. Damit sich die Szene genauso abspielen kann, ist das zufällige zeitliche Zusammenfallen dieses Ausspruchs mit der Verspätung des Zuschauers notwendig. Auch Žižek richtet den Scheinwerfer auf eine Interaktion zwischen Schauspieler und Zuschauer, gibt die dyadische Struktur der situativen Anrufung, wie wir sie bei Althusser finden, aber zugleich auf, indem er zusätzlich ein Publikum ins Feld führt, dessen „Unruhe in der ersten Reihe“ der Zuspätkommende ver-
53 Žižek in einem Gespräch mit Sabine Reul und Thomas Deichmann im Novo-Magazin 55/56, Nov. 2001-Feb. 2002. Vgl. www.novo-magazin.de/55/novo5512.htm [12.1.2013]. 54 Žižek kritisiert Butler in dieser Hinsicht als gleichzeitig zu optimistisch und zu pessimistisch, indem sie einerseits das subversive Potential performativer Umgestaltung bzw. Verschiebung überschätze und andererseits „die radikale Geste der gründlichen Neustrukturierung der hegemonialen symbolischen Ordnung in ihrer Gesamtheit“ nicht zulasse (Žižek 2001: 362f, Herv. i.O.).
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nehmen und sodann als Auslöser für einen ‚realen‘, d.h. nicht drehbuchmäßig vorgesehenen Wutausbruch des Schauspielers interpretieren muss. Subjektivierung vollzieht sich hier als ein im doppelten Sinne öffentliches Geschehen: Der Theaterbesucher exponiert sich, indem er vor der Allgemeinheit, gewissermaßen vor Zeugen, ein Schuldeingeständnis macht. Darüber hinaus hebt er sich mit einer spezifischen Perspektive vom Rest des Publikums ab. Diese ergibt sich zum einen daraus, dass sein Körper in dem konkreten setting fast buchstäblich ‚aus der Reihe fällt‘. Zum anderen hängt die Perspektive des Besuchers in der Lesart Žižeks aber noch von einer weiteren Größe ab. So kommt Žižek nicht ohne die Behauptung aus, dass es sich bei besagtem Zuschauer um einen „halbgebildeten Neureichen“ handle, „der sich im Theater nicht gänzlich zu Hause fühlt“. Die Anrufung und ihre Beantwortung durch das Subjekt werden damit nicht nur durch die gegebene raum-zeitliche Anordnung beeinflusst, in der sie sich vollziehen, sondern ebenso durch Adressierund Affizierbarkeiten, welche sich aus dem „szenischen Verstehen“ der Beteiligten ergeben, in das „Erinnerungsspuren“ aus vergangenen Interaktionen eingehen (Lorenzer 2006: 17). 2.1.5 Intermezzo: Habitus und Feld – Eckpfeiler einer subjektivierungstheoretischen Lesart Pierre Bourdieus Bei Pierre Bourdieu ist es bekanntermaßen der Habitus, der zwischen den Wahrnehmungs- und Deutungsweisen eines Akteurs und seiner relationalen Situiertheit im sozialen Raum bzw. einem spezifischen gesellschaftlichen Feld vermittelt. Den Begriff des Feldes verwendet Bourdieu, um jene „hochdifferenzierten, thematisch gebundenen sozialen Räume zu bezeichnen, die ihre spezifische Struktur einem Netz objektiver Relationen verdanken, durch die unterschiedliche Positionen miteinander verknüpft sind“ (Rieger-Ladich 2009: 157). Soziale Felder sind zugleich Spielfelder, die bestimmten Regelmäßigkeiten gehorchen und einen Spielsinn der Teilnehmenden erfordern, wie auch Kampffelder, auf denen um knappe Ressourcen und den Zugang zu Kapitalsorten gerungen wird. Bourdieu unterscheidet dabei zwischen ökonomischem Kapital, das für materiellen Besitz steht, sozialem Kapital, welches sich aus der Teilhabe an sozialen Beziehungen ergeben kann und kulturellem Kapital, das vor allem Bildungskapital meint und in inkorporierter, objektivierter oder institutionalisierter Form vorliegen kann (vgl. Bourdieu 1983). Alle Kapitalsorten sind unter bestimmten Bedingungen gegeneinander konvertierbar und können als symbolisches Kapital eingesetzt werden, so dass sie „mit dem Erwerb des Rufs von Kompetenz und des Prestiges von Ansehen und Ehrbarkeit“ einhergehen (Bourdieu 2013: 456). Die relationale Situiertheit eines agent ergibt sich neben der jeweiligen Position, die in Abhängigkeit von den objektiven Kapitalverteilungen eingenommen werden kann, aus den Perspektiven oder „Standpunk-
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ten“ (Bourdieu 2010a: 18), die je nach Stellung im Raum der Positionen und vermittelt über den Habitus ausgebildet werden (vgl. Bourdieu 2010b: 118).55 Der Habitusbegriff ersetzt bei Bourdieu den von ihm weitestgehend vermiedenen Subjektbegriff: „Ich habe versucht zu sagen, dass das ‚Subjekt‘ sozialer Handlungen, ich verwende dieses Wort in Anführungszeichen, kein Subjekt ist, kein bewusstes ‚Ich‘, das sich explizit Ziele setzt, seine Mittel in Abhängigkeit von diesen explizit gesetzten Zielen kalkuliert etc., es ist kein rationaler Akteur – was nicht heißen soll, dass er ein Mechanismus ist, der automatisch wie eine Maschine auf äußere Stimuli reagiert – also das, was ich einen Habitus nenne, ist eine inkorporierte Geschichte, eingeschrieben in das Gehirn, aber auch in die Falten des Körpers, die Gesten, die Sprechweisen, den Akzent, in die Aussprache, die Ticks, in alles was wir sind. Diese inkorporierte Geschichte ist der Ursprung, von dem aus wir antworten“ (Bourdieu 2001b: 165, Herv. i.O.). Betrachtet man Žižeks Szene mit Bourdieu, so lassen sich drei Subjektivierungsaspekte differenzierter beschreiben, auf die wir bereits bei Althusser und Butler gestoßen sind. Erstens vollzieht sich der Prozess der Selbstbildung weder in einem einmaligen Akt der Anrufung noch als eine ewige Unterwerfung. Die bei Butler (2001: 33) beschriebene „ruhelose Praxis der Wiederholung“ kann mit Bourdieu einem auch als zeitliche Vermittlungsinstanz wirksamen Habitus zugeschrieben werden, welcher über Prozesse der Einkörperung Verbindungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herstellt und soziale Praktiken in gewisser Weise ‚überzeitlich‘ reguliert, jedoch nicht in einem strengen Sinne determiniert: „Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat. Deswegen macht gerade er die Praktiken relativ unabhängig von den äußeren Determiniertheiten der unmittelbaren Gegenwart“ (Bourdieu 1987: 105). Ob sich ein Habitus allerdings als so träge und beharrlich erweist, wie es in Žižeks Inszenierung nahegelegt wird, oder aber als anpassungsfähig, uneindeutig oder gar gespalten, bleibt eine empirische Frage, die sich nicht über eine direkte Beobachtung, sondern nur über die Rekonstruktion von Zuschreibungen beantworten lässt.56 Zweitens lässt
55 Anders als es die übliche Übersetzung des französischen agent in den deutschen Akteur nahelegt, charakterisiert Bourdieu soziale Akteure mit dieser Begriffswahl als „Abgesandte“, was sich gerade gegen die „Autonomie- Phantasmen richtet, welche dem Begriff des Akteurs anhaften“ (Sonderegger 2010: 25). Gleichzeitig kauft er sich damit jedoch den Vorwurf einer strukturalistisch verengten Perspektive ein. 56 Der Kritik, dass Bourdieu eine geradezu deterministische Entsprechung zwischen Habitus und gesellschaftlichem Feld hypostasiert und den Habitus insgesamt zu statisch und zu monolithisch konzipiert habe, ist entgegen zu halten, dass sich Bourdieu vor allem in den Meditationen, aber auch schon in seinen frühen Algerien-Studien dem Phänomen
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sich mit Bourdieu ein ko-konstitutives Verhältnis von als Subjekten angerufenen Individuen und gesellschaftlichen Institutionen denken, indem es der Habitus als „Produkt und Produzent von Praktiken“ (Rehbein 2011: 87) ermöglicht und notwendig macht, „Institutionen zu bewohnen (habiter), sie sich praktisch anzueignen und sie damit in Funktion, am Leben, in Kraft zu halten“ (Bourdieu 1987: 107). Drittens lässt sich das zentrale Moment der Wiedererkennung insofern konkreter ausbuchstabieren, als mit Bourdieu Fragen der Abgestimmtheit, oder dynamischer gehalten: der Anschlussfähigkeit, zwischen Subjekten und Feldern sowie Habitus und Habitat in den Blick treten.57 Rückblende: Zurück zu Žižek Um die mangelnde Anschlussfähigkeit zwischen dem Habitus des „Neureichen“ und dem Feld des Theaters, die sonst womöglich latent geblieben wäre, aber überhaupt hervortreten zu lassen, bedarf es, wie Žižek uns einerseits vorführt, eines Ereignisses, in dem sich zeigen kann, dass der Adressierte sich im Ruf des Anderen verkennt. Andererseits wird dieses Ereignis aber auch bei Žižek zugleich zu einer Allegorie auf eine konstitutive Selbstverkennung des Subjekts: „Wann immer wir uns im Ruf des Anderen erkennen, ist ein Minimum eines derartigen Missverständnisses am Werk; unsere Wiedererkennung in diesem Ruf ist immer eine Verkennung, ein Akt, ins Lächerliche zu kippen, indem wir prahlerisch den Platz des Adressaten einnehmen, der nicht wirklich der unsere ist...“ (Žižek 2001: 355). Žižek geht damit von einem Subjekt aus, das „weder im Sein noch gar im gesellschaftlichen Sein aufgeht. Es wird nicht, wie etwa für Althusser und Foucault, durch Anrufungen oder Subjektivierungspraktiken produziert, sondern steht für das Scheitern der Anrufung und Subjektivierung“ (Hetzel & Hetzel 2011: 338).58 Das
„gespaltener Habitus“ (habitus clivé) gewidmet hat. Nachdrücklich hat darauf Ruth Sonderegger (2010: 22ff.) hingewiesen. 57 Robert Schmidt versteht unter dem Habitat im Anschluss an Bourdieu „objektivierte und akkumulierte vergangene Praktiken“ (Schmidt 2006: 89). Diese haben sich gewissermaßen in den Dingen und Räumen manifestiert und stehen mit der Herausbildung des Habitus als „einverleibter Geschichte“ in direkter Verbindung (Bourdieu 1991: 32). 58 Das Scheitern der Subjektivierung hebt sich damit grundlegend von jenem Scheitern ab, auf das sich Butler bezieht. Bloß performative Verschiebungen in einer bestehenden symbolischen Ordnungen deuten nach Žižek immer noch auf ein Gelingen der Subjektivierung hin: „Wenn eine ideologische Identifizierung genau insofern erfolgreich ist, wie ich mich selbst als eine ‚vollständige menschliche Person‘ begreife, die ‚nicht auf eine Marionette reduziert werden kann, auf ein Instrument irgendeines ideologischen, großen Anderen‘, ist dann nicht die These des notwendigen Scheiterns der Anrufung genau das Zeichen ihres letztendlichen Erfolgs? Eine Anrufung ist immer genau dann erfolgreich,
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Subjekt geht also weder vollständig in den Praktiken noch in der symbolischen Ordnung auf, welche ebenso unabgeschlossen ist wie es selbst. Es entspringt vielmehr einem Konflikt zwischen einer Ordnung und dem, was darin keinen Platz findet, einem Konflikt, der es einem Expositions- und Positionierungszwang aussetzt, es kritisierbar und zugleich kritikfähig macht (vgl. Baratella 2014). Darin besteht nach Žižek das politische Wesen des modernen Subjekts. Es handelt sich um ein „Subjekt des Aktes“ (Žižek 2001: 523), wobei dieser Akt „seine eigene Ursache“ ist und diese nicht im Subjekt hat; vielmehr überrascht der Akt selbst „seinen Agenten“ (Hetzel & Hetzel 2011: 340). Auch Žižeks szenische Darstellung illustriert seine Subjektkonzeption also nicht bloß, sondern bereitet diese zugleich vor und vollzieht sie in konsonanter Weise mit. Zusammengefasst ergänzt Žižek die bisher skizzierte Perspektive einer praktischen Selbstbildung, insofern er weniger die Bedeutsamkeit des Einübens und Eingewöhnens in weitestgehend routinierte, mehr oder weniger eindeutige und unhinterfragte Praktiken unterstreicht, sondern das Heraustreten, oder besser: das Herausfallen aus einer Ordnung stark macht. Subjektivierung erhält bei ihm Ereignischarakter und lässt sich als Praxis beschreiben, in der Momente des Konflikts, der Irritation und der Widerfahrnis bedeutsam werden. Die Praxis wird damit in ihrer Unverfügbarkeit ausgeleuchtet.59 2.1.6 Interaktionen „dramaturgischer Körper“– Szenische Selbstbildung bei Erving Goffman Auch bei Goffman zeigt sich die Metaphorik der Szene bzw. des Theaters, die er selbst zwar als „abgegriffen“ und bloßes „rhetorisches Manöver“ (Goffman 2012: 232) bezeichnet hat, nicht bloß als eine Strategie der Analogisierung und instruktiven Verfremdung des Alltäglichen (Willems 2012: 322), vielmehr verweist sie auf
wenn ich mich selbst nicht ‚nur als das‘ begreife, sondern als ‚eine komplexe Person, die unter anderem auch das ist‘ – imaginäre Distanz zur symbolischen Identifikation ist, kurz gesagt, nichts anderes als das Zeichen des Erfolgs dieser symbolischen Identifikation.“ (Žižek 2001: 354, Herv. i.O.). Die Subjektivierung gelingt nach Žižek also solange der grundlegende Rahmen, die symbolische Ordnung, welche das „das“ und seine identifikatorischen Alternativen gleichermaßen hervorbringt, nicht radikal in Frage gestellt wird. 59 Widerfahrnis und Unverfügbarkeit stehen in einem wechselseitigen Konstitutionsverhältnis, das die Doppelläufigkeit der Subjektivierung im Sinne von Unterwerfung und Freiheit gleichsam widerspiegelt: „Jedes Handeln ist auf Widerfahrnisse angewiesen, über die es nicht verfügen kann. Jedes Verfügen über etwas steht unter Bedingungen, die dem Subjekt des Verfügens nicht zugänglich sind und einige davon, wie etwa das eigene Leben sind absolut unverfügbar.“ (Landweer 2012: 193).
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eine grundlegende anthropologische Annahme: „Als Sozial- und Kulturwesen unterliegt der Mensch für Goffman einem grundlegenden Zwang zur Darstellung und zur Selbstdarstellung, der mit einem entsprechenden Potential und einem (Performanz-)Bedürfnis gepaart ist. Der Mensch ist m.a.W. seinem (Kultur-)Wesen nach immer auch ein (Selbst-)Darstellungs- und Performanzsubjekt.“ (Ebd.: 321) Goffmans Subjekt ist eine „dramatische Wirkung, die sich aus einer dargestellten Szene entfaltet, und der springende Punkt, die entscheidende Frage, ist, ob es glaubwürdig oder unglaubwürdig ist“ (Goffman 2012: 231). Ihm geht es in seiner akribischen Beschreibung von Szenen und ihren Subjekten vor allem „darum, zu zeigen, wie wir durch spezifische Formen gegenseitiger Zuwendung (Gesten, Äußerungen, Handlungen) uns selbst und unserer Umwelt gemeinsame Wahrnehmungen und Relevanzen erklären, Teilnahme an Handlungsentwürfen ermöglichen, also soziale Wirklichkeit und gesellschaftliche Ordnung herstellen.“ (Hettlage 1991: 103). Soziale Ordnung wird dabei nicht als immer schon gegebene Makrostruktur, sondern als eine in sozialen Situationen hervorgebrachte bzw. aufrechterhaltene „Interaktionsordnung“ (Goffman 1994a) vorgestellt. Eine soziale Situation definiert Goffman „als eine Umgebung sich gegenseitig überwachender Möglichkeiten [...], in der sich eine Person überall den unverhüllten Sinneswahrnehmungen aller anderen ‚Anwesenden‘ ausgeliefert sieht, die sich ihrerseits auf gleiche Art ihr gegenüber ausgeliefert sehen.“ (Goffman 1982: 202). Ausgeliefert zu sein, bedeutet dabei immer auch, auf den anderen angewiesen zu sein. Situationsdefinitionen werden von den Teilnehmenden einer Situation gemeinsam hervorgebracht und durch „wechselseitige Bezugnahmen“ (Rouse 2007: 4) am Laufen gehalten, in Frage gestellt und gegebenenfalls modifiziert. In Ergänzung zu Bourdieu, der vor allem Momente des (Deutungs-)Kampfes und der Konkurrenz herausstellt, weist Goffman hiermit auch darauf hin, dass Kooperation und Koordination notwendig sind, um die Kontingenz sozialer Situationen bewältigen zu können.60 Die Bedeutsamkeit „unverhüllter Sinneswahrnehmungen“ verweist darauf, dass dem Körper ein zentraler Stellenwert als Medium des Ausdrucks, der Wahrnehmung wie auch der Relevanzmarkierung zukommt: „Ein Mensch kann
60 Gleichwohl kann man Goffman kaum vorwerfen, er habe seine Studien weitestgehend ‚machtblind‘ angelegt (vgl. etwa Gugutzer 2004: 99; Link & Phelan 2001), spielen insbesondere Fragen der „Körperdisziplinierung“ bei ihm doch eine zentrale Rolle (vgl. Waldschmidt 2011: 94). Richtig ist, dass sich Goffman kaum für ‚die Sozialstruktur‘ oder die Genese von Macht- und Wissensordnungen interessiert hat, die gewissermaßen über den Situationen schweben und als „Hintergrundfolie“ die „immer schon vorhandenen Denk-, Wahrnehmungs- und Bewertungsstrukturen“ (ebd.: 93) weitestgehend vorgeben. Ein solcher makrotheoretischer Blick scheint mit seinem Ansatz, die Herstellung sozialer Ordnungen in Situationen beobachtbar zu machen, auch kaum vereinbar.
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aufhören zu sprechen, er kann aber nicht aufhören, mit seinem Körper zu kommunizieren; er muss damit entweder das Richtige oder das Falsche sagen, aber er kann nicht gar nichts sagen.“ (Goffman 1971: 43).61 Goffman trägt damit einer verkörperten Subjektivität Rechnung, welche irreduzibel auf den gesellschaftlichen Habitus oder „jede heuristische Figur des Subjekts“ ist (Graefe 2010: 310, Herv. i.O.) und er stellt ein begriffliches Repertoire bereit, das es erlaubt, wechselseitige Adressierungen „dramaturgischer Körper“ (Gugutzer 2004: 92ff.), die wie „eine Art Anzeigetafel“ (Hirschauer 2008a: 979) fungieren, in Situationen empirisch beobachtbar zu machen und theoretisierend zu beschreiben.62 Hinsichtlich einer glaubwürdigen körperlichen Darstellung geht es Goffman nicht um einen wahrhaftigen, sondern vielmehr um einen durch „Erwartungserwar-
61 Hitzler weist in Auseinandersetzung mit dieser These Goffmans am Beispiel von Wachkomapatienten allerdings darauf hin, dass es durchaus Körper gibt, die – jedenfalls nicht ständig – kommunizieren können, wenngleich sie in der Interaktion zum Gegenstand von Deutungen gemacht werden (vgl. Hitzler 2011: 76). 62 In Anlehnung an Gugutzer spreche ich von „dramaturgischen Körpern“ bei Goffman, um auf den Körper als Gegenstand von Selbstdarstellungs-, Selbstgestaltungs- und Selbstbildungsaktivitäten aufmerksam zu machen: „Indem wir in Begegnungen in Rollen schlüpfen, stellen wir uns selbst jeweils als jemanden dar; und diese Selbstdarstellung als Träger einer Rolle ist immer auch eine – mehr oder weniger bewusst, gut und überzeugend gespielte – körperliche Selbstdarstellung. In diesem Sinne kann man vom Körper als dramaturgischen [sic!] Körper sprechen und das Drama des Alltags als ein durch und durch körperliches Drama bezeichnen.“ (Gugutzer 2004: 95, Herv. i.O.). Gleichzeitig distanziere mich aber von der bei Gugutzer (mehr als bei Goffman selbst) durchscheinenden rollentheoretischen Konnotation. Erstens, weil das Rollenmodell eine vorgängige Existenz von Subjekten einerseits und Rollen andererseits, das heißt auch: deren unaufhebbare Distanz, nahelegt und den Fokus auf Anpassungsleistungen und Verinnerlichungsprozesse der als Rollenträger einseitig konstituierten und gleichsam passivierten Subjekte richtet (vgl. Martens 2011: 173f, Krais & Gebauer 2002). Zweitens, weil sich mit dem Gebrauch der Rollenmetapher die problematische Annahme verbindet, dass die Forscherin von einem Außenstandpunkt aus zwischen einer Rolle und ‚Nicht-Rolle‘ unterscheiden könne. „Was der Soziologe als Rolle beschreibt, wird von den Handelnden selbst aber nicht so angeeignet und erlebt. Im Alltag agieren Handelnde weitestgehend distanzlos und Handlungsmuster werden, ohne dass man es bemerkt, einverleibt.“ (Martens 2011: 175). Die Rolle, welche die Forscherin zuallererst konstruiert und als Heuristik in eine Beobachtungssituation hineinträgt, würde damit ontologisiert und Prozesse der Inkorporierung, wie sie mit dem Habituskonzept in den Blick geraten, würden ausgeblendet werden, so dass das Individuum in dieser Hinsicht letztlich doch wieder als ein körperloses erschiene (vgl. Krais & Gebauer 2002).
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tungen konstituierten Selbstausdruck“ (Ricken 2002: 340): „Was ein Individuum für sich selbst ist, ist nicht etwas, was es erfunden hätte, sondern das, was sich bei den ihm gegenüberstehenden signifikanten Anderen als Erwartung in Bezug auf es herausgebildet hat, als was sie es behandelt haben, und als was es schließlich sich selbst sehen musste, um auf ihre Reaktionen ihm gegenüber reagieren zu können“ (Goffman 1974: 367). Goffmans Konzeption des „Selbst-als-Rolle“ und seine Unterscheidung zwischen „Vorderbühne“ und „Hinterbühne“ drücken gerade nicht aus, dass es Orte und Zeiten gibt, wo alle Masken fallen und dahinter ein wahrhaftiges Selbst zum Vorschein kommt, vielmehr lassen sie die „Unterscheidung von Sein und Schein als einer tauglichen Beschreibungsform der ‚Wirklichkeit‘“ (Ricken 2002: 340) letztlich obsolet werden, handelt es sich doch „beide Male um Bühnen, auf denen sich ein Individuum – allerdings vor unterschiedlichen Publika – präsentiert“ (Raab 2008: 74, Herv. AQ).63 Während Žižek in seiner Subjektivierungsszene von einem relativ homogenen Theaterpublikum auszugehen scheint, sensibilisiert Goffman damit zugleich für eine differenzierte Betrachtungsweise anwesender Dritter, welche mit je unterschiedlichen Perspektiven in ein Adressierungsgeschehen involviert sein können. Hierin besteht meines Erachtens eine weitere Stärke dieses Ansatzes, die sich für die Analyse von Selbstbildungsprozessen fruchtbar machen lässt: Während es bei Bourdieu um objektive, kapitalabhängige relative Positionen im sozialen Raum und bei Butler, die dabei an Foucault anschließt, in erster Linie um diskursive Subjektpositionen geht, treten bei Goffman konkrete raumzeitliche Positionen und damit verbundene situierte Perspektiven in den Blick, ohne dass er dabei in einen präsentistischen, „selbstgenügsamen Situationalismus“ (Schmidt 2012: 230) verfallen würde, denn mit der Situation geht es Goffman „um das, dem sich ein Mensch in einem bestimmten Augenblick zuwenden kann; dazu gehören oft einige andere Menschen und mehr als die von allen unmittelbar Anwesenden überblickte Szene“ (Goffman 1977: 16).
63 Insofern erscheint mir Reuters Kritik, dass Goffman „die Darstellung als Schutz des ‚heiligen Selbst‘ begreift und am Glauben eines ‚authentischen Kerns‘ festhält“, während Butler „die Trennung zwischen Innen und Außen, zwischen Vorderbühne und Hinterbühne, zwischen Inszenierung und unmittelbarem Ausdruck“ aufhebe, kaum nachvollziehbar (vgl. Reuter 2004: 106). Ebenso wenig teile ich Reuters Vorwurf, dass der „materielle Eigensinn des Körpers“ bei Goffman „auf eine Residualkategorie in Interaktionszusammenhängen verweise, die noch nicht gesellschaftlich überformt wurde“, so dass „für ihn die Materialität immer auch eine eigentümliche a-soziale Störquelle der Interaktion“ bleibe (Reuter 2004: 108). Meines Erachtens lässt sich mit Goffman gerade danach fragen, wie der immer schon sozialisierte Körper zu einer eigensinnigen Störquelle der Interaktion werden kann.
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Damit eine Situation überhaupt als Situation erkennbar werden kann, bedarf es eines Rahmens, der aus dem Handlungsfluss Körper, Dinge, Interessen, Ideen herausgreift, diese systematisiert, anordnet, und auf diese Weise Sinn einer Situation erzeugt. Sowohl der Sinn bzw. die Verstehbarkeit einer Situation als auch das Verstanden-werden eines Subjekts, seine (An-)Erkennbarkeit, sind bei Goffman somit stets nur in Hinblick auf die Situation explizierbar. Das Selbst existiert damit „nicht jenseits der sozialen Situationen, sondern wird in ihnen aufgebaut, stabilisiert, verändert – es geht jedoch nie völlig in ihnen auf.“ (Raab 2008: 62, Herv. AQ). Darüber hinaus schafft ein Rahmen „mehr als nur Sinn; er schafft auch Engagement. Bei jeder Aktivität machen sich die Beteiligten gewöhnlich nicht nur ein Bild davon, was vor sich geht, sondern sie werden (bis zu einem gewissen Grade) auch spontan gefangen genommen, in Bann geschlagen“ (Goffman 1977: 376, Herv. AQ). Zu jedem Rahmen gehören deshalb „normative Erwartungen bezüglich der Tiefe und Vollständigkeit, mit der die Menschen in die durch den Rahmen organisierten Vorgänge eingebunden sein sollten“ (ebd.). Aus einem Rahmen ergibt sich ein besonderer Grad der Aufmerksamkeit und eine gewisse Ausrichtung und Intensität von Gefühlen, die den Teilnehmern einer Situation in dem Maße entgeht, wie sie von ihr „gefangengenommen“ sind (ebd.). Ein spezifisches Engagement und dessen Form und Ausrichtung, werden damit nicht als Eigenschaft eines Akteurs konzipiert, sondern in die Interaktion und ihre situative Rahmung hineinverlagert. Diese Optik ergänzt insofern Butlers Perspektive, als es mit Goffman möglich wird, die Herstellung von impliziter Normativität und Anerkennbarkeit im Rahmen wechselseitiger Bezugnahmen zu beleuchten, etwa in Form von Bestätigungen, Versicherungen, Korrekturen oder Sanktionierungen im Praxisverlauf (vgl. Alkemeyer 2013: 58). Zusammengefasst tritt mit Goffman erstens die körperliche Dimension der Anerkennung in den Blick. Um sich in einer Szene (bzw. Interaktion) anerkennbar machen zu können, bedarf es eines spezifischen Engagements und einer glaubwürdigen (Selbst-)Darstellung vor anderen, die entscheidend davon abhängt, was sich am und auf dem Körper in oftmals unkontrollierbarer Weise zeigt. Insofern ist jemand, der sich in Praktiken bildet, stets über seinen Körper exponiert. Zweitens sensibilisiert Goffman für die implizite Normativität subjektivierender Praxis und deren szenischen Hervorbringungscharakter, welcher sich mit Gabriel (2010: 94) noch genauer beschreiben lässt: „Sobald wir uns in einer Szene befinden gibt diese einen Ausblick auf die Regeln frei, die sie konstituieren. Jede Szene verlangt so ein eigenes Gespür“ sowie „ein bestimmtes Anschlussverhalten, da sie sich in der Zeit vollziehen. Jeder Übergang von einem Moment zum nächsten wird nur dadurch gemacht, dass wir Regeln aufspüren und diese dann in den Übergang investieren.“ Drittens macht Goffman deutlich, dass die Herstellung sozialer Situationen, welche die Praxis der Subjektivierung kontextualisiert, der Kooperation und Koordination
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der Teilnehmer bedarf. Schließlich lässt sich mit Goffman viertens die aus sozial und lokal unterschiedlich situierten Teilnehmerperspektiven resultierende Deutungsoffenheit als ein weiteres szenisches Moment subjektivierender Praxis herauspräparieren. 2.1.7 Finaler Auftritt: Subjektpositionen, Dispositive, Selbsttechniken – Subjektivierungsperspektiven bei Michel Foucault Die Dramaturgie dieses Kapitels einer Forschungsanalytik praktischer Selbstbildungen kommt freilich nicht ohne einen Auftritt jenes Subjektivierungstheoretikers aus, dessen – im Rückblick erklärtes – Ziel es in seiner gesamten Arbeit war, „eine Geschichte der verschiedenen Verfahren zu entwerfen, durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden.“ (Foucault 1994a: 243). In dem kurz vor seinem Tod verfassten Aufsatz Das Subjekt und die Macht legt Foucault nicht nur sein Subjektverständnis dar, er fasst auch drei moderne Verfahren oder „Weisen der Objektivierung, die Menschen in Subjekte verwandeln“ zusammen und kennzeichnet damit zugleich drei unterschiedliche, gleichermaßen historisierende Perspektiven, aus denen er sich Subjektivierungsprozessen in seinem Werk gewidmet hat. Mit der Frage nach den Subjektivierungsweisen wird somit „nicht ein SubjektWesen unterstellt, sondern Subjektivität im Sinne einer Subjekt-Werdung betrachtet“ (Lemke 1997: 266, Herv. AQ). Das Subjekt wird bei Foucault weder als etwas Vorgängiges, noch als etwas durch Strukturen determiniertes konzipiert; Selbstkonstitution und gesellschaftliche Hervorbringung bilden vielmehr eine paradoxe Gleichzeitigkeit. Die Macht bedarf zu ihrer Realisierung gerade eines Subjekts, das als „unterworfener Souverän“ (Foucault 1980: 377) fähig ist zum Selbstbezug und zur Führung seiner selbst. Als erste Klasse von Subjektivierungspraktiken nennt Foucault die „Untersuchungsverfahren, die sich den Status von Wissenschaften zu geben versuchen“ (Foucault 1994a: 243, Herv. AQ). Diese beziehen sich auf den gesamten Komplex seiner Arbeiten, der sich aus diskurstheoretischer Perspektive mit Fragen von Wissen und Macht bzw. Wahrheitsproduktion befasst hat. Subjektivierungstheoretisch steht hier die Frage im Vordergrund, welche Subjektpositionen Diskurse und diskursive Formationen mit ihren Mechanismen der Ausschließung und Verknappung und ihren Klassifikations-, Anordnungs- und Verteilungsprinzipien hervorbringen (vgl. Foucault 1977). Zweitens bezieht sich Foucault auf „Teilungspraktiken“, durch die das Subjekt „entweder in seinem Inneren geteilt oder von den anderen abgeteilt“ wird (Foucault 1994a: 243, Herv. AQ). Sie stehen für binäre Codierungsweisen, welche die Diskurse durchziehen und diese gleichsam erst als solche hervorbringen. Diese „poly-
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morphen Differenzierungsstrategien“ fungieren „nicht nur als Teilung und Spaltung des Bevölkerungsganzen, sondern haben die innere Teilung (Körper/Seele, Bewusstes/Unbewusstes) und zugleich Individualisierung der Subjekte zur Folge, die sie wiederum von der Gemeinschaft entkoppeln. Die Kopplung und Entkoppelung der Individuen bringt sie in eine widersprüchliche, ambivalente Lage“ (Yildiz 2008: 57), indem sie „den Status des Individuums infragestellen: Einerseits behaupten sie das Recht, anders zu sein, und unterstreichen all das, was Individuen wirklich individuell macht. Andererseits bekämpfen sie all das, was das Individuum absondert, seine Verbindungen zu anderen abschneidet, das Gemeinschaftsleben spaltet, das Individuum auf sich selbst zurückwirft und zwanghaft an seine Identität fesselt.“ (Foucault 1994a: 246). Bei der Analyse solcher zugleich individualisierenden und kollektivierenden Teilungspraktiken nimmt Foucault neben den Diskursen nun zunehmend auch deren materielle ‚Befestigungen‘, die Dispositive, mit ihren „spezifischen Orten, eigenen Regelungen, sorgfältig ausgebildeten hierarchischen Strukturen, und einer relativen funktionalen Autonomie“ (ebd.: 258) in den Blick.64 Auch wenn das Subjekt in Foucaults Arbeiten nicht dezidiert in Szene gesetzt wird, nimmt er in dieser Werkphase, etwa in seinen Vorlesungen zur Macht der Psychiatrie, eine Perspektive ein, welche Praktiken analytisch in beweglichen, kontingenten Szenen statt in ‚immer schon‘ verfestigten Institutionen verortet: „Mir scheint, wenn man eine wirkliche Geschichte der Psychiatrie, jedenfalls der psychiatrischen Szene schreiben will, dann indem man ihr in dieser Serie von Szenen einen neuen Ort verschafft […] und ganz und gar nicht, indem man als Kernpunkt und Ausgangspunkt die Analyse der Institution nimmt.“ (Foucault 2005a: 58, zit. nach Kaiser 2012: 17). Unter Szene versteht Foucault „ein Ritual, eine Strategie, eine Schlacht.“ (Ebd.) Er distanziert sich von der Vorstellung einer in sich zeiträumlich abgeschlossenen und chronologisch auf eine andere folgenden theatralen Episode und betont durch die Gleichsetzung der Szene mit dem Ritual ihren performativen Hervorbringungscharakter.65 Der Fokus der Subjektivierungsperspektive verschiebt sich damit von der Zuweisung und Einnahme diskursiver (Sprecher-) Positionen hin zur Teilhabe an einer ganzen Bandbreite von Praktiken. Als drittes Verfahren der Subjektivierung bezieht sich Foucault schließlich auf die „Art und Weise, in der ein Mensch sich selbst in ein Subjekt verwandelt“
64 Auf den Dispositivansatz gehe ich in Auseinandersetzung mit Mecherils Analyse des Integrationsdispositivs in Kapitel 2.2.1 ausführlicher ein. 65 Das Ritual steht bei Foucault, und hieran schließt Butler mit ihrem Ritualbegriff an, für eine Gesamtheit von Fähigkeiten und Fertigkeiten, Gesten und Verhaltensweisen der Subjekte, die den Worten erst zu ihrer Wirksamkeit verhelfen. Es ist ein „regime of practices“, in dem „places where what is said and what is done, rules imposed and reasons given, the planned and the taken for granted meet and interconnect“ (Foucault 1991: 75).
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(Foucault 1994a: 243, Herv. AQ). Mit diesem Verfahren, dem er sich vor allem in seinen Arbeiten zu Sexualität und Wahrheit gewidmet hat, erfährt Foucaults Machtkonzeption eine „praxistheoretische Wendung“ (Moebius 2010: 95), indem die Machtausübung untrennbar mit den „Subjekten der Macht“ verknüpft wird: „Macht existiert nur in actu, auch wenn sie sich, um sich in ein zerstreutes Möglichkeitsfeld einzuschreiben, auf permanente Strukturen stützt.“ (Foucault 1994a: 254). Diese praxeologische Reformulierung der Macht korrespondiert mit jener der Subjektivierung: „Das Subjekt bildet sich nicht einfach im Spiel der Symbole. Es bildet sich in realen und historisch analysierbaren Praktiken. Es gibt eine Technologie der Selbstkonstitution, die symbolische Systeme durchschneidet, während sie sie gebraucht.“ (Foucault 1994b: 289). Das heißt, „ebenso wie sich die Machtbeziehungen nur in ihrem Vollzug behaupten, stellt sich der Bezug zu sich, der diese umbiegt, nur in seinem Vollzug her“ (Deleuze 1987: 143). Die Szene der Subjektivierung als Schauplatz und Wirkungsgefüge verschiebt bzw. erweitert sich in dieser dritten Werkphase nochmals, indem neben den Diskursen und den Dispositiven nun also die Technologien des Selbst ausgeleuchtet werden. Hierbei handelt es sich um eine hochspezifische Klasse von Praktiken, um kulturell kodierte „Formen, in denen das Individuum auf sich selber einwirkt“ (Foucault 1988: 27), sich selbst als Subjekt erkennt und bildet. Selbsttechniken konstituieren ein leibliches und reflexives Selbstverhältnis und können als Form der Selbstführung auf „freiwilligen Gehorsam“ gerichtet sein (vgl. Ricken 2004:131). Als Praktiken einer „Ästhetik der Existenz“ (Foucault 2005b: 902) zielen sie zugleich darauf, sich selbst und dem gesamten Leben Kohärenz und eine unverwechselbare Form sowie einen eigenen Stil zu verleihen (vgl. Vötsch 2010: 67). Selbsttechniken finden ihre Entsprechung in einer Machtausübung, die Foucault nun als eine Art von „Regierung“ (Gouvernementalité) begreift, als „Führen der Führungen“, als „eine Weise der Einwirkung auf die Handlungen anderer“ (Foucault 1994a: 255), welche die Freiheit des Subjekts und seine aktive Mitarbeit konstitutiv voraussetzt. Gleichzeitig nimmt Foucault aber, anders als manche Rezeptionen nahe legen, „seine früheren Annahmen über die Konstituierung von Subjektivität durch produktive Machtverhältnisse und Wissensarrangements nicht zurück. Er macht vielmehr deutlich, dass die Subjektkonstituierung nicht rein repressiv zu verstehen ist, sondern mit Selbstpraktiken, Selbstprüfungen, Selbstformierungen und Ethiken, das heißt mit ‚Techniken des Selbst‘ einhergeht.“ (Moebius 2010: 96, Herv. i.O.). Diskurse oder Wahrheitsregime sind in einer solchen Perspektive nicht als den verkörperten Subjektivierungspraktiken vorgängig angelegt, wie Butler es in kritischer Abgrenzung zu Foucault eingefordert hat, sondern Körper, Diskurs und Macht werden als gleichberechtigt miteinander verknüpft gedacht (vgl. Landweer 1993). Das Subjekt ist demnach irreduzibel auf eine diskursive Subjektposition.
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Vielmehr setzen Subjektivierungspraktiken, innerhalb und außerhalb von Dispositiven, zuallererst am Körper an, indem sie ein „Trainingsprogramm“ der Körper (Reckwitz 2010a: 30) bewirken oder betreiben, ohne wiederum auf diese Arbeit am Körper reduziert werden zu können. Ebenso wenig geht das Subjekt vollkommen in einer Machtordnung auf. Da Kräfteverhältnisse, sowohl in ihrer relativ verfestigten Form, den Dispositiven, wie auch in einzelnen Praktiken und den daran beteiligten Körpern, vielfältig und heterogen sind, sind sie zugleich stets gegenläufig und umkämpft. Zusammengefasst stellt Foucault ein Instrumentarium zur Analyse vielfältiger, miteinander verwobener und jeweils historisch situierter Subjektivierungspraktiken bereit. Mit ihm lässt sich deutlich machen, wie in der Selbstbildung Prozesse der Individualisierung und Kollektivierung sowie der Selbst- und Fremdführung miteinander verzahnt sind, wie Subjektivierungsprozesse in raum-zeitliche Anordnungen und strategische Kräfteverhältnisse von Dispositiven eingebettet sind und mit welchen spezifischen Teilungs- und Selbstpraktiken sowie Praktiken der Wahrheitsproduktion sie einhergehen. Subjektivierende Praktiken setzen dabei stets am Körper an und können darüber auch eine spezifische Reflexivität, Moralorientierung, Emotionalität und Begehrensfixierung nahelegen (vgl. Reckwitz 2010a: 30).66 Szenen erscheinen bei Foucault „als Knoten- oder Kristallisationspunkte verschiedener Diskurse, Räume, Akteure, Anordnungen, Strategien, in denen die Verschränkung von Sprache, Körpern, Blicken, Räumen, kurz: Dispositiven aktualisiert, als strategische Formationen zur Regulierung von Subjekten sicht- und greifbar werden“ (Kaiser 2012: 17). 2.1.8 Eine szenische Perspektive subjektivierender Praxis/Praktiken und zentrale Analysedimensionen Die zusammengestellten Subjektivierungstheorien werden bei allen eigenen Akzentuierungen durch wiederkehrende Ensembles ähnlicher Denkfiguren zusammengehalten, sowie dadurch, dass sie Subjektivierungsprozesse szenisch beschreiben. Mit dieser Beschreibungssprache wird, wie ich meine, auf das Problem reagiert, dass die ‚Natur‘ ihres Gegenstands sich seiner Darstellung, im doppelten Sinne von Stillstellung und Repräsentation (vgl. Baratella 2014), gerade entzieht. Ähnlich wie
66 Reckwitz spricht in diesem Zusammenhang von einem Prozess des Implantierens. Da dieser Begriff letztlich ein einseitig unterworfenes Subjekt suggeriert, welches dieser Implantierung passiv ausgesetzt ist, trifft es m.E. der Ausdruck des Nahelegens besser. Um Wirkungszusammenhänge jenseits einseitig deterministischer Verhältnisse noch präziser beschreiben zu können, wird in Kapitel 2.2.2 Schatzkis Konzept der Präfiguration eingeführt.
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Lorenzer für das szenische Verstehen konstatiert hat, suchen Aufführungen der Subjektivierung „mit Sprachmitteln das Nichtsprachliche zu erkunden. Oder, anders ausgedrückt: [...] das Nichtverständliche zu verstehen“ (Lorenzer 2006: 14). Sie sind darauf ausgerichtet, mit Explikation das Implizite, in der Gestalt einen Prozess, mit dem Begriff ein bewegtes Bild sichtbar zu machen. Wie die Sprache an sich dem Subjekt unverfügbar ist, weil sie nicht aus einem Selbst, sondern in Sprachgemeinschaften erzeugt wird, so muss dies in besonderer Weise auf die Versprachlichung jenes Prozesses zutreffen, der das Subjekt erst hervorbringt. Doch auch dieses Unverfügbare, folgen wir einem Postulat von Gunter Gebauer (2012: 218) im Anschluss an Wittgensteins Denkfigur des Sehen-Als, „bleibt nicht dazu verurteilt, im Dunkeln zu bleiben: Es zeigt sich“ – in szenischen Beschreibungen, die darin Aspekte zu sehen geben. Die „Inszenierung der Subjektivierung“ (Saar 2007: 324) ist dabei, wie Martin Saar über die Genealogien des Subjekts schreibt, an ein Publikum, an „eine Leserschaft gerichtet, die sich in einem verfremdeten Sinn wiedererkennen soll, weil es um ihre Sache bzw. um die Sache jedes einzelnen geht, der sich als Subjekt oder Objekt derjenigen Subjektivierungsprozesse begreift und erkennt, die erzählt werden.“ (Ebd.: 139) Szenen der Subjektivierung verweisen auf eine spezifische historische Thematisierungsweise des Subjekts. Wie vor allem bei Goffman und Butler deutlich wird, wird das Subjekt als seine eigene Inszenierung beschrieben. Es stellt sich in Szenen her und eignet sich die Welt szenisch an. „Der subjekttheoretische Akt eines intentionalen Weltaufbaus braucht“ braucht von diesem szenischen Subjekt „nicht eigens vollzogen zu werden, sondern realisiert sich ‚performativ‘ in basalen Formen szenischen Existierens.“ (Hogrebe 2009: 58). In seiner szenischen Erscheinungsform verliert das Subjekt sein transzendentales Schwergewicht und bezieht, hierfür sensibilisiert insbesondere Žižek, seine Stärke aus der flüchtigen, dabei keineswegs beliebigen Vorläufigkeit und Augenblicklichkeit des Ereignishaften. Betont Schatzkis Ansatz eher das regelhafte, sich selbst erfolgreich zum Abschluss bringende Moment der Praktik, lässt sich die subjektivierende Praxis aus einer szenischen Perspektive somit erstens in ihrer Ereignishaftigkeit und ihrem Widerfahrnischarakter ausleuchten. In der Semantik des Theaters bezieht sich der Begriff der Szene sowohl auf den Schauplatz als auch auf einen Abschnitt innerhalb einer dramatischen Handlung (vgl. Kaiser 2012: 8, Herv. AQ). Perspektiviert man soziale Praxis szenisch, so tritt also sowohl eine räumlich-materielle wie auch eine spezifische temporale Dimension in den Blick. Wie vor allem in der Auseinandersetzung mit den Subjektivierungsszenen Althussers und Žižeks herausgearbeitet wurde, vollziehen sich Anrufungen auf einer spezifischen Bühne, d.h. an konkreten Orten und zu bestimmten Zeiten. Sie sind, mit anderen Worten, stets historisch, sozial und lokal situiert. Die subjektivierende Praxis zeichnet sich somit zweitens durch ihre kontingente Einbet-
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tung aus. Die Szene wird dabei zum Schnittpunkt von „subjektiver Lebenspraxis“ und „objektivem Kulturzusammenhang“ (Lorenzer 2006: 17). Deutlich wurde in diesem Zusammenhang, dass ein Arrangement aus Handlungen und Materialitäten wie Bühne, Figuren, Kulisse, Objekten und Artefakten, kurz: die vielfältigen „Partizipanden“ (Hirschauer 2004) einer Praktik, die jeweilige Szene kontextualisieren und sie zugleich erst mit hervorbringen: Die Szene „besitzt keine festgelegte Bedeutung außerhalb ihres Kontextes“ und ebenso gibt es „keinen Komplex von anderen Elementen, der ihr jederzeit gleichwertig wäre“ (Langer 1965: 101, Herv. AQ). Je nach ‚Drehbuch‘ können Subjektivierungsszenen mit schlichten, hintergründigen Kulissen oder aber mit aufwändigen Bühnenbildern und bedeutsamen Requisiten verbunden sein und ihre Aufführungen mal mehr von der Sprachgewalt ihrer Darstellerinnen und mal mehr von deren Körperbewegungen und Gesten leben. Empirisch wäre daher zu fragen, wie diese szenischen Elemente bzw. Medien der Subjektivierung jeweils konkret an der Selbstbildung beteiligt sind. Subjekte sind somit weder isoliert noch getrennt von ihren szenischen Kontexten zu betrachten. Sie sind, wie angedeutet, jedoch nicht nur passiv in Szenen aufgehoben, vielmehr haben sie Teil an deren Hervorbringung. Ein drittes Moment der Praxis lässt sich vor diesem Hintergrund als die „partizipative szenische Einbettung“ (Hogrebe 2009: 56, Herv. AQ) der sich in einer Szene subjektivierenden Teilnehmer beschreiben. In allen betrachteten Szenen tritt das Subjekt genau genommen nicht immer schon auf, vielmehr verschafft es sich diesen Auftritt, d.h. seine immer nur vorläufige Subjektivität, erst in der szenischen Praxis. Dies führt uns zum Prozesscharakter als einem vierten Moment subjektivierender Praxis. Szenen sind keine starren, unbelebten Bühnenbilder, sondern werden von aufeinander Bezug nehmenden, engagierten (Goffman) und mit szenischen Vorerfahrungen und einem praktischen Sinn (Bourdieu) ausgestatteten Teilnehmern performativ hervorgebracht und erhalten erst in diesem Vollzug ihre Richtung. Eine szenisch verstandene Praxis, die ihre Intentionalität und Normativität erst im Prozess entfaltet, hebt sich von Schatzkis Perspektive auf Praktiken ab und ergänzt diese: Mit Schatzkis Ansatz lässt sich eine implizite Normativität von Praktiken herausarbeiten, der zufolge Tätigkeiten im Rahmen einer Praktik bzw. deren teleoaffektiver Struktur angemessen oder unangemessen erscheinen. Emotionalität und Zielsetzung werden in dieser Perspektive gewissermaßen durch die Praktik abgesteckt. Demgegenüber lässt sich Praxis als ein Geschehen begreifen, das sich keineswegs zwangsläufig reibungslos entfaltet, sondern offen für Unvorhergesehenes und Spontaneität ist. Fünftens deutet sich bereits an, dass sich Szenen neben ihrer prozessualen Dynamik durch eine unwillkürlich sinnlich wahrnehmbare Gestalthaftigkeit auszeichnen. In einer ‚empirischen Lesart‘ der Subjektivierungsszenen von Althusser und
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Žižek erfassen die Beteiligten die jeweilige Szene visuell und akustisch und ebenso haben wir als Zuschauer ein bestimmtes Bild vor Augen, möglicherweise spüren wir auch noch einmal die Atmosphäre eines vergangenen Theaterbesuches oder der letzten Begegnung mit einem Polizisten. Eine szenisch verstandene Praxis lässt sich vor diesem Hintergrund mit Susanne K. Langer (1965) als eine „präsentative Form“ beschreiben, die dadurch charakterisiert ist, dass sie „ihre Bestandteile nicht nacheinander, sondern gleichzeitig“ darbietet (ebd.: 99). Mit dieser spezifischen Form hebt sich Praxis von der „diskursiven Form“ einer Praktik ab, welche verlangt, „daß wir unsere Ideen nacheinander aufreihen müssen, obgleich Gegenstände ineinanderliegen; so wie wir Kleidungsstücke, die übereinander getragen werden, auf der Wäscheleine nebeneinander hängen“ (ebd.: 88). Eine Szene hingegen lässt sich, wie ein Gemälde oder eine Photographie, nicht linear wahrnehmen und in einzelne symbolische Formen zerlegen, sondern wird erst in der simultanen Erfassung des Ganzen sinnhaft und verstehbar. Praxis vermittelt, aus einer szenischen Perspektive, „in gar nicht zu beschreibenden Kombinationen ein totales Bild“ (ebd.: 101). Auch damit hebt sich die Praxis von einer Praktik nach Schatzki ab, deren teleoaffektive Struktur sich, wie oben erwähnt, auf hierarchisch geordnete Ziele, Projekte und Aufgaben bezieht.67 Szenen sind „prägnante Gestalten“ mit „Evidenzcharakter“ (Straub 1999: 318). In Szenen entsteht, wie insbesondere in der Auseinandersetzung mit Goffman hervortrat, Perspektivität und es werden je nach Blickwinkel Sichtbarkeiten wie Unsichtbarkeiten erzeugt. Mit Luc Boltanski lässt sich die Vielfalt an Positionen und Perspektiven als ein sechstes Moment subjektivierender Praxis noch näher ausleuchten. Nach Boltanski ist jedes Individuum „zwangsläufig situiert“, da es aufgrund seiner Körperlichkeit „zeitlich und räumlich auf einen Punkt gestellt ist, von dem aus sich ihm die Ereignisse darbieten [...] Daraus folgt, daß jedes Individuum gegenüber der Welt nur einen Blickpunkt haben kann“ und, „daß auch innerhalb dessen, was man als gemeinsamen Kontext ansehen kann – wenn man ihn einzig durch räumliche und zeitliche Koordinaten definiert –, unterschiedliche Personen sich noch lange nicht in derselben Situation befinden – fassen sie doch das, was geschieht, verschieden auf und machen von den gegebenen Möglichkeiten unter-
67 In diesem Praktikenverständnis scheint die implizite Empirie in Schatzkis Theorie auf. So verwundert es nicht, dass Schatzki in seiner Untersuchung von Arbeits- und Produktionsprozessen in einem Kräuterlabor, in welchem er sein theoretisches Beschreibungsvokabular entwickelt, praktische Vollzüge in erster Linie als bestimmte, aufeinander aufbauende und klar unterscheidbare Arbeitsschritte bzw. Stufen eines Produktionsprozesses beobachtet. Dies heißt nicht, dass er diese dort ‚vorfindet‘, sondern vielmehr, dass der Blick (gewissermaßen durch die spezifische szenische Einbettung der Praxis) in dieser Weise voreingestellt ist.
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schiedlichen Gebrauch“ (Boltanski 2010: 88, Herv. i.O.). Aus der zeit-räumlichen Situiertheit ergibt sich folglich nicht nur eine prinzipielle Deutungsoffenheit der Szene bzw. der subjektivierenden Praxis, sondern eine Offenheit der Praxis selbst: Aufgrund unterschiedlichster Perspektiven haben wir es mit einer „radikale[n] Unsicherheit in bezug auf das, was es mit dem was ist, auf sich hat“ (Boltanski 2010: 88, Herv. i.O.), d.h. mit einer stets interpretationsbedürftigen und nicht einfach regelbefolgenden Praxis zu tun. Auch insofern lässt sich Schatzkis Praktikenverständnis mit Hilfe einer szenischen Perspektive auf die subjektivierende Praxis für diese Arbeit verfeinern bzw. erweitern. Zusammengefasst lassen sich Praktiken als „sozial geregelte, typisierte kulturelle Formen des Agierens“ (Alkemeyer 2013: 44) in den Blick nehmen, die dank ihrer materiellen Verankerung in Körpern und Artefakten über Zeiten und Räume hinweg relativ stabil sind und spezifische Anforderungen an ihre Teilnehmer richten, während Praxis in meiner Lesart hingegen auf die (Deutungs-)Offenheit und damit auf die Kontingenz eines historisch und zeiträumlich konkret situierten Geschehens verweist, das sich durch Momente der Aporie, der Ereignishaftigkeit und der (sprachlichen) Unverfügbarkeit auszeichnet. Aus einer szenischen Perspektive lassen sich Praktiken in Anlehnung an Fischer-Lichte als Inszenierungen, die Praxis hingegen als Aufführung beschreiben. Unter einer Inszenierung versteht FischerLichte (2003: 36) einen besonderen Modus der Herstellung von Aufführungen (performances). Während Inszenierung einen Prozess bezeichnet, der häufig auf Wiederholung angelegt ist, aber auch als ein work in progress konzipiert und durchgeführt werden kann (ebd. 43, Herv. i.O.), zeichnet sich die Aufführung als eine je besondere Konstellation von Akteuren und Zuschauern dadurch aus, dass sie einmalig und unwiederholbar ist (ebd.). Die Inszenierung betont somit das Wiederholungsmoment der Praktik und die Musterhaftigkeit von Abläufen über die Zeit, welche sich diskursivieren (mitteilen) und sequenzialisieren (unterteilen) lassen. Die Aufführung steht hingegen für die Kontingenz der Praxis, in die die Teilnehmer, Artefakte und Tätigkeiten im Hier und Jetzt partizipativ eingebunden sind und deren Verlauf sie gemeinsam hervorbringen. Ich hebe mich damit von einem Begriffsverständnis ab, das Praxis als bloße Aktualisierung von Praktiken begreift, wie es bspw. Reckwitz zugrunde legt. So konzipiert er Praxis als eine „Serie von temporalen Ereignissen, die eine Aktualisierung der sozial-kulturellen Praktiken durch einzelne Körper, mit bestimmten Artefakten, in präzisen raum-zeitlichen Situationen betreiben“ (Reckwitz 2010b: 190) und tendiert damit dazu, die mechanische Reproduktion und Repetition von Praktiken einseitig zu betonen. Demgegenüber versuche ich mit dem Begriff der Praxis Momente der Innovation und Transformation von Praktiken durch die Praxis und die darin situierten Entitäten (menschliche Akteure wie Dinge) zu beschreiben. Praktiken und Praxis sind nach diesem Verständnis zirkulär aufeinander verwiesen, ohne jemals ineinander aufzugehen. Mit ande-
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ren Worten: Praktiken und Praxis stehen einander nicht dualistisch gegenüber, sondern bilden ein gemeinsames Gefüge, das sich permanent verändert, indem eine Praktik die Praxis – in einem doppelten Sinne – umschreibt, d.h. diese diskursivierbar und in einzelne Tätigkeiten zerlegbar macht und sie dabei verändert und umgekehrt die Praxis das, was durch eine Praktik nahegelegt wird, reflektiert und gleichsam auf die Praktik zurückstrahlt. Praxis und Praktiken werden dabei nicht als ontologische Einheiten konzipiert, sondern als Analysekategorien, die es erlauben, ein beobachtetes Geschehen im Hier und Jetzt aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven in den Blick zu nehmen und die es überdies ermöglichen, aus einer Beobachterperspektive Übergänge und Wandlungsprozesse auszuleuchten, beispielsweise innovative Momente innerhalb einer weitestgehend routiniert vollzogenen Praktik oder längerfristige Veränderungen von explorativen und kreativen Vollzügen hin zu eher typisierten, verregelten Praktiken. Mit der Unterscheidung zwischen Praktiken und Praxis tritt hervor, dass „die Praxis [...] zugleich regelmäßig und regelwidrig [ist], sie ist zugleich wiederholend und wiedererzeugend, sie ist zugleich strategisch und illusorisch. In ihr sind Erfahrungen, Erkenntnisse und Wissen eingelagert, manchmal sogar regelrecht einverleibt. Doch die Erfahrungen, die Erkenntnisse und das Wissen werden in der Praxis immer wieder neu eingebracht, erlebt und mobilisiert.“ (Hörning & Reuter 2004: 13). Neben der perspektivischen Unterscheidung zwischen Praktiken der Subjektivierung und subjektivierender Praxis lassen sich aus den behandelten Ansätzen drei zentrale Analysekategorien herauspräparieren und für die empirische Forschung operationalisieren. Erstens begreife ich Subjektivierung als ein dreifach relationiertes Anerkennungsgeschehen, das sich in Form wechselseitiger Adressierungen in Interaktionen empirisch untersuchen lässt. Dies führt mich zweitens zur körperlichen Dimension der Subjektivierung, die sich im Sinne von Verkörperungen, Einkörperungen sowie Körpertechniken ausleuchten lässt. Wechselseitige Positionierungen als eine dritte Analysedimension sind zwar bereits in der Kategorie der Anerkennung impliziert, lassen sich entlang einer Unterscheidung von Subjektpositionen, objektiven Positionen und raum-zeitlich situierten Positionen aber noch differenzierter in den Blick nehmen. Anerkennung: Adressierungen und Re-Adressierungen In Abgrenzung zu individualtheoretischen Perspektiven, in denen Relationen als nachträglich und dem Subjekt äußerlich konzeptualisiert werden (vgl. Künkler 2011: 408), gehe ich von einer dreifach dimensionierten Relationalität als konstitutivem Merkmal der Subjektivierung aus: Subjekte begeben sich nicht in Relationen hinein, sind also nicht vorab als solche identifizierbar, sondern sie erlangen ihren Status erst im Wege einer „praktischen Relationierung“ (Ricken 1999, Herv. AQ), indem sie sich zur Welt, zu Anderen und zu sich selbst ins Verhältnis setzen. Das
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Subjekt gerät, im Anschluss an Butler, somit nicht nur als ein Unterworfenes in den Blick, das sich anerkennbar machen muss und im Anerkanntwerden durch den Anderen konstituiert, sondern zugleich als ein Ermächtigtes, das zur Subjektivierung anderer beiträgt, indem es diese als spezifische Andere anerkennt. Wie Ricken vorgeschlagen hat, lässt sich die subjektivierende Anerkennung für die empirische Forschung als ein „sequentielles Geschehen der Adressierung und Re-Adressierung als auch als Resignifizierungen“ operationalisieren (Ricken 2013: 93; vgl. auch Reh & Ricken 2012). Wechselseitige Adressierungsprozesse, in denen sich sowohl Fremdzuschreibungen als auch Selbstthematisierungen öffentlich zeigen und beobachtbar machen lassen, können dabei unter folgenden vier Aspekten aufgeschlüsselt werden (vgl. Ricken 2013: 93ff.):
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Selektion: Wer wird auf welche Weise als Adressat markiert und wer damit zugleich implizit als Nichtangesprochener? Normation: Wie werden Situationsdefinitionen (Rahmen) gemeinsam hergestellt und welche Wertideen (general understandings) und Regeln (rules) werden dabei beansprucht, als gültig behauptet bzw. in Frage gestellt oder zurückgewiesen? Wie werden Anschlüsse hergestellt, an welchen Stellen brechen diese ab? Wie werden in wechselseitigen Beobachtungen Abgleichungen, Justierungen, Ratifizierungen oder Korrekturen vorgenommen? Positionalität und Perspektivität: Wie werden in Adressierungsakten Positionierungen und Perspektivierungen sowohl in Form räumlicher (Selbst-) Verortungen als auch „im Sinne eines mehrfachen Zueinander-ins-VerhältnisSetzens“ hervorgebracht (ebd.: 94)? Valuation: Welche Wertzuschreibungen werden mit Adressierungen verbunden und transportiert?
Verkörperungen, Einkörperungen und körperliche Selbsttechniken Im Rahmen von Adressierungen und Re-Adressierungen kann der Körper, wie Alkemeyer und Pille (2012: 7) dargelegt haben, unter drei zentralen Gesichtspunkten betrachtet werden: Als Empfänger von Adressierungen lässt der Körper erstens die expliziten oder impliziten Bezugnahmen auf den Körper eines anderen in den Blick rücken. Zweitens gehen vom Körper als Adressierungsinstanz ebenso bewusste wie unbewusste, somatisch eigensinnige Äußerungen aus (vgl. Alkemeyer & Villa 2010).68 Drittens wird der Körper „als Fläche, auf der Adressierungen sichtbar werden“ in den Blick genommen (Alkemeyer & Pille 2012: 7).
68 Alkemeyer und Villa (2010) bezeichnen mit dem „somatischen Eigensinn“ all jene Reibungen, Unwägbarkeiten und Differenzen zwischen bspw. programmatisch nahegelegten
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Der Körper „als Speicher vergangener Praktiken sowie als Medium und Agens in gegenwärtigen Praktiken“ (Schmidt 2012: 55) wird mit Bourdieu aus der Perspektive langfristig wirkender Prozesse der Einkörperung und mit Goffman unter dem Aspekt situativer und mitunter spannungsvoller Verkörperungen in Form von Bewegungen, Mimik, Gestik und Intonation des dramaturgischen Körpers betrachtet. Der Körper fungiert also als Anzeigetafel sowohl momenthafter, oftmals konfligierender Adressierungen wie auch ‚gelebter Adressierungsgeschichten‘, die er über Falten, eine habitualisierte Gestik oder Sprechweise zu erzählen vermag. Foucault lenkt die Aufmerksamkeit darüber hinaus auf den Körper als ein Medium der Selbstreflexion im Rahmen körperlicher Selbsttechniken, die von Dispositiven nahegelegt und in Trainingsprozessen eingeübt werden und zur Formung von Körpern und Bewegungen sowie (körperlichen) Haltungen beitragen können. Empirisch wäre dabei zu untersuchen, wie diese in der vollzugsoffenen Praxis ebenso ‚greifen‘ wie am Körper ‚abprallen‘ können. Sprecherpositionen, objektive Positionen, raum-zeitlich situierte Positionen Mit den behandelten Ansätzen lassen sich Subjektivierungsprozesse von drei Seiten her als Positionierungen beschreiben, d.h. als Prozesse, in denen Subjekte Positionen zugewiesen bekommen und Positionen einnehmen. Im Anschluss an Foucault und Butler geht es mir um die Frage, wie Subjekte Sprecherpositionen im Vollzug diskursiver Praktiken erlangen bzw. wie sie von bestimmten Sprecherpositionen ausgeschlossen werden. Mit Bourdieu lassen sich objektive Positionierungen im sozialen Raum, mit denen sich bestimmte Anforderungen und Möglichkeiten der Verwertung ökonomischen, kulturellen, sozialen und symbolischen Kapitals in einem spezifischen Feld verbinden, in den Blick nehmen. Bei Goffman schließlich treten raum-zeitlich situierte Positionen und damit verbundene Perspektiven auf ein konkretes Geschehen in den Blick. Empirisch ist vor diesem Hintergrund zu untersuchen, wie diese unterschiedlich dimensionierten Positionierungen in wechselseitigen Adressierungen vorgenommen werden und wie sie konkret zusammenspielen, ob sie einander etwa wechselseitig verstärken (Konsonanzen) oder ob Spannungen (Dissonanzen) zwischen ihnen entstehen. Hier wird bereits deutlich, wie sich aus der jeweiligen Kontextualisierung (Diskurs, Feld, Situation) disparate Perspektiven auf Positionen bzw. Positionierungen ergeben, die – zumindest in manchen Lesarten der Ansätze in der hier gewählten Reihenfolge – gewissermaßen von ‚oben‘ ausgehend immer näher an ein lokalisiertes Geschehen heranzoomen, dabei die Brennweite des Objektivs verringern und
Subjektformen und ihrer situativen Verkörperung, die sich in nicht-reflexiven körperlichen Akten wie z.B. Rotwerden oder Stocken zeigen können.
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dafür eine stärkere Dynamik zu fassen kriegen. Im folgenden Kapitel (2.2) gehe ich diesem Aspekt der Kontextualisierung von Positionierungen bzw. Relationen mit Hilfe der Heuristik des Begegnungsraumes weiter nach.
2.2 H EURISTIK : B EGEGNUNGSRAUM
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„Bleib nicht auf ebnem Feld! Steig nicht zu hoch hinaus! Am schönsten sieht die Welt von halber Höhe aus.“ NIETZSCHE (1955: 18)
Die in diesem Kapitel vorgestellte Heuristik ist im Rahmen erster theoretisierender Auseinandersetzungen mit dem empirischen Material entstanden und soll fortlaufend weiter ausgearbeitet werden. Sie bietet der Analyse praktischer Subjektivierung im Sinne einer „Kunst, den Hafen zu finden“ (Böschen 2009: 125) ein selbst kreativ und explorativ entwickeltes Beschreibungsvokabular, „das in der Lage ist, zugleich das situativ-kreative wie das strukturell-verfestigende Moment von Handlungssituationen zu erfassen.“ (Ebd.: 127) Die Suchbewegung, die zur Heuristik des Begegnungsraumes führte, wird in drei Schritten nachvollzogen: Zunächst wird das operative Programm des Integrationslotsenprojektes als Teil eines „Integrationsdispositivs“ (Mecheril 2011) perspektiviert, um am empirischen Gegenstand zu beleuchten, was eine dispositivanalytische Perspektive nach Foucault zu sehen gibt und was sie eher ausblendet (2.2.1). Um ihre blinden Flecken in den Blick zu bekommen, wird anschließend mit der Siteontologie Schatzkis ein Perspektivenwechsel vorgenommen (2.2.2). Mit der Heuristik des Begegnungsraumes werden schließlich beide Ansätze auf die Fragestellung dieser Arbeit bezogen zusammengeführt (2.2.3). 2.2.1 Das Lotsenprogramm als Teil eines Integrationsdispositivs Das Integrationslotsenprojekt ist verbunden mit einem operativen Programm zur kommunalen Integrationsförderung, das sich mit Paul Mecheril (2011) als Teil eines „Dispositivs der Integration“ beschreiben lässt. Mecheril versteht darunter im Anschluss an Foucault „das Netz, das zwischen kulturellen, institutionellen, bürokratischen, wissenschaftlichen und medialen Ereignissen gespannt ist, in welchem ein natio-ethno-kulturelles ‚Wir‘ sich von einem ‚Anderen‘ unterscheidet. Es ermöglicht so ein sprachliches und in Institutionen vergegenständlichtes Wissen darüber, wer ‚wir‘ sind und wer ‚wir‘ nicht sind, aber auch wer ‚sie‘ sind.“ (Mecheril 2011: 54). Das Integrationsdispositiv antworte einem strategischen Regelungsbe-
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darf, „der dadurch entsteht, dass die imaginierte Einheit ‚Nation‘ in eine Krise gerät“, bei der „Phänomene des faktischen und symbolischen Überschreitens oder Infragestellens des Prinzips der nationalen Grenze eine prominente Rolle spielen“ (ebd.: 52).69 Die Krise der Nation wird einerseits gegenwartsdiagnostisch betrachtet und auf mediale Inszenierungen der Globalisierung und öffentliche Debatten darüber zurückgeführt, „dass als fremd geltende Menschen und ihre Lebensweisen sich dauerhaft in dem Raum niederlassen, der als eigener beansprucht wird“ (ebd.: 66). Zugleich aber wird die Krise als konstitutives überzeitliches Merkmal der Nation und letztlich jeder Identitätsform konzipiert, die sich in der Krisenbewältigung erst selbst erschaffe (vgl. ebd.). Dauerhaft bleibende Migranten, so ließe sich folgern, stellen den identitätsstiftenden ‚Mechanismus‘ der Konstruktion eines konstitutiven Außen infrage, indem keine Grenze mehr markiert werden kann „zwischen dem, was legitimerweise innerhalb der intelligiblen Sphäre der Gesellschaft und ihrer akzeptablen Identitäten verläuft, und dem, was als bedrohliches, inakzeptables und kaum begreifbares Anderes außerhalb der Grenzen der Gesellschaft“ situiert wird (Reckwitz 2010a: 77f.). Das stets prekäre Eigene muss sich folglich durch die Aussonderung des Fremden im Eigenen beständig selbst versichern. Das Integrationsdispositiv sieht Mecheril (2011: 53) durch drei operative Merkmale gekennzeichnet: Es unterscheide erstens „mittels der Bezeichnungs- und Visibilisierungspraxen sowie der allseitigen Legitimität staatlicher Kontrollen zwischen natio-ethno-kulturellem ‚Wir‘ und ‚Nicht-Wir‘.“ Zweitens werde dieser Unterscheidung eine „institutionalisierte, systematisch differenzielle Behandlungsweise von ‚Wir‘ und ‚Nicht-Wir‘ zugeordnet“, wobei diese Differenzierungen drittens „fortwährend als legitime Unterscheidungen und Behandlungen ausgegeben“ würden. Es stellt sich aus dieser Perspektive also die Frage, welche Bezeichnungs- bzw. Visibilisierungspraktiken, institutionellen Behandlungsweisen und Legitimierungspraktiken durch das Lotsenprogramm ‚abgesteckt‘ werden und inwiefern diese auf eine systematische Unterscheidung von „Wir“ und „Nicht wir“ gerichtet sind. Bezeichnungs- bzw. Visibilisierungspraktiken Das Lotsenprogramm spannt zunächst einmal ein diskursives Feld auf, das sich um zwei zentrale Begriffspaare gruppiert: Orientierung und Integration auf der einen, Integration und Engagement auf der anderen Seite. Integrationslotsen sollen bereits länger in Deutschland lebende Migrantinnen und Spätaussiedler, wie die „Richtlinie Integrationslotsen“ (2007) vorsieht, bei der Integration unterstützen, wohingegen sie Neuzuwanderern bei der Orientierung helfen sollen. Auf diese Weise werden nicht nur „Migranten“ von „Einheimischen“ und „Integrationslotsen“ von „Migran-
69 Mecheril knüpft in diesem Text an einen zusammen mit Bernhard Rigelsky verfassten Aufsatz zum „Ausländerdispositiv“ an (vgl. Mecheril & Rigelsky 2007).
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ten“ unterschieden, sondern auch hinsichtlich ihrer Bedürfnisse unterschiedliche Zielgruppen der Lotsen definiert. Eine solche differenzierende Markierung unterschiedlicher Migrantengruppen findet sich in ähnlicher Weise auch im Konzept der „Integrationskurse“. Integrationskurse umfassen neben Sprachkursen auch „Orientierungskurse“, in denen „Wissen zur Alltagsorientierung“ sowie „Kenntnisse der Rechtsordnung, der Kultur und der Geschichte in Deutschland“ vermittelt werden sollen (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge BAMF 2009). Berechtigt zur Teilnahme sind dabei alle Spätaussiedlerinnen und neu zuwandernde Ausländer mit dauerhaftem Aufenthaltsstatus, Ausländer, die bereits länger in Deutschland leben, EU-Bürger und „besonders integrationsbedürftige Deutsche“. Verpflichtet zur Teilnahme sind hingegen Neuzugewanderte, „die sich nicht auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen können“, Ausländer, die „besonders integrationsbedürftig sind und von der Ausländerbehörde zur Teilnahme aufgefordert werden“ sowie Ausländerinnen, die „Leistungen nach SGB II beziehen und von den Trägern der Grundsicherung wegen mangelnder Deutschkenntnisse zur Teilnahme aufgefordert werden“ (ebd.).70 Den rechtlichen Hintergrund für diese Regelungen bildet das im Januar 2005 verabschiedete Zuwanderungsgesetz.71 Migranten mit einem entsprechenden Aufenthaltstitel erhalten damit erstmalig einen gesetzlich dokumentierten Integrationsanspruch, welcher in dem 2007 von der Bundesregierung verabschiedeten Nationalen Integrationsplan (NIP) mit über 400 Maßnahmen und Selbstverpflichtungen für diese Gruppe konkretisiert wird (vgl. Bundesregierung 2007). Menschen, die sich in einer Situation aufenthaltsrechtlicher Illegalität befinden sowie lediglich ‚geduldete‘ Asylbewerberinnen und Flüchtlinge haben hingegen nur äußerst eingeschränkten Zugang zu Erwerbsarbeit, wohlfahrtsstaatlichen Leistungen und zur Teilhabe am „bürgerlichen Leben“ (Täubig 2009). Das Zuwanderungsgesetz weist somit „einen Doppelcharakter auf, der sich in der Zuordnung von Menschen mit Migrationsbiographie zu bestimmten Kategorien niederschlägt. Auf der einen Seite wird die soziale Integration von Eingewanderten, die nicht abgewiesen werden können bzw. zum Teil auch dringend für die wirtschaftliche Entwicklung gebraucht werden, zu einer Schlüsselaufgabe. [...] Auf der anderen Seite werden gleichzeitig
70 Darüber hinaus gibt es noch weitere Integrationskurse für spezielle Zielgruppen: Jugendintegrationskurse, Eltern- bzw. Frauenintegrationskurse, Integrationskurse mit Alphabetisierung sowie Förderkurse für bereits länger in Deutschland lebende Zuwanderinnen, welche die deutsche Sprache nur unvollständig erlernt haben (vgl. BAMF 2009). 71 Inzwischen wurde das Gesetz durch die Novelle des Zuwanderungsgesetzes 2007 (das sog. „Zuwanderungsänderungsgesetz“) in einzelnen Bestimmungen reformiert, die jedoch nicht die hier betrachteten Regelungen betreffen.
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beträchtliche Mühen unternommen, im Rahmen einer selektiven Einwanderungspolitik unerwünschte Migration zu begrenzen, abzuwehren und zu kontrollieren“ (Genenger-Stricker 2009: 19).72 Institutionelle Behandlungsweisen Für die mittels gesetzlicher Regelungen, politischer Integrationskonzeptionen, sozialer Förderprogramme und anhand von statistischen Verfahren gebildeten Migranten-Gruppen werden unterschiedliche institutionelle Behandlungsweisen nahegelegt, die sich als Phasen eines Kontinuums der Integration lesen lassen73: Den einen Pol bilden Personen ohne legalen Aufenthaltsstaus, welche nicht zu integrieren, sondern auszuschließen sind. Den anderen Pol bilden bereits gut integrierte Migranten, die mitunter als Integrationslotsen angerufen werden. Dazwischen reicht das Kontinuum über (noch) nicht zu integrierende Asylbewerberinnen, Neuzuwanderer, die der Orientierung bedürfen, bis hin zu (noch) nicht (ausreichend) integrierten Migrantinnen und Spätaussiedlern, die durch die Lotsen bei ihrer Integration unterstützt werden sollen. Migranten werden damit zu einer Bevölkerungsgruppe zusammengefasst, die „erklärt, versorgt und verwaltet werden muss“ (Wasilewski 2011: 45) und zugleich werden unterschiedlich leistungsfähige und ‚nützliche‘ und damit unterschiedlich förderbedürftige Zielgruppen für verpflichtende und optionale Maßnahmen gebildet, die es erlauben, unterschiedliche Appelle an Migranten mit unterschiedlichen Integrationsstatus’ zu richten. Die „Richtlinie Integrationslotsen“ (2007) benennt als Zuwendungszweck „Maßnahmen zur Qualifizierung und Begleitung von ‚Integrationslotsen‘ mit dem Ziel, die Integration von Zugewanderten zu verbessern und das ehrenamtliche Engagement – insbesondere von Menschen mit Migrationshintergrund – zu fördern“. Der an noch nicht ausreichend integrierte Migranten und Neuzuwanderer gerichtete „Integrationsimperativ“ (Karakayali & Tsianos 2007: 8) wird somit durch einen Aufruf zu bürgerschaftlichem Engagement ergänzt, der sich an Migranten richtet, die bereits über die notwendige Orientierung und ein gewisses
72 Auf diesen „Doppelcharakter“ staatlicher Migrationspolitik ist vielfach hingewiesen worden, so bspw. von Karakayali (2008) in seiner historisch-genealogischen Analyse der Regulierung mitteleuropäischer Wanderungsbewegungen. 73 Anhand von „Integrationsindikatoren“ wird bspw. „der Stand und die Entwicklung von Integration [...] in unterschiedlichen Dimensionen der Lebenslage gemessen. Als Fortschritt von ‚Integration‘ wird darin die Angleichung der Lebensverhältnisse der Personen mit Migrationshintergrund an die der Gesamtbevölkerung gewertet“ (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2011: 10). Mit Hilfe des „Integrationsmonitorings“ sollen „Faktoren ‚gelingender‘ aber auch ‚misslingender‘ Integrationsprozesse transparenter gemacht werden“ (Filsinger 2008: 3).
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‚Level‘ der Integration verfügen, sich jedoch fortlaufend weiter in die Gesellschaft integrieren möchten. Legimitierungspraktiken Auf den ersten Blick scheint mit dem Lotsenprogramm die selbstregulative Logik des Multikulturalismus-Paradigmas (vgl. Kapitel 1.1.2) aufgegeben und durch ein aktives ebenso wie aktivierendes Integrationsmanagement ersetzt zu werden: „Integration ist nicht allein Aufgabe des Staates. Sie erfordert eine aktive Bürgergesellschaft, in der möglichst viele Menschen Verantwortung übernehmen und Eigeninitiative entwickeln“ (Bundesregierung 2007: 14, Herv. AQ). Doch zugleich appelliert das Lotsenprojekt erneut an die ‚Selbstheilungskräfte‘ der Gesellschaft und zielt darauf, eine Win-Win-Situation herzustellen: „Integrationslotsen wollen etwas Sinnvolles tun, die Integration im Kleinen mitgestalten und Chancen von Zugewanderten bei der Teilhabe an wesentlichen Lebensbereichen verbessern. Durch ihr Engagement werden nicht nur Probleme sozioökonomischer sondern auch kultureller Natur abgebaut“ (Bommes et al. 2010: x). Auf diese Weise entsteht eine Art gouvernementaler Aufforderungskomplex, der auf der Einbeziehung von Migrantinnen und Migranten „als aktive Partnerinnen und Partner“ (Bundesregierung 2007: 13) basiert und aus dem freiwilligen Engagement von Integrationslotsen und der „gleichberechtigten Teilhabe“ (ebd.: 174, Herv. AQ) von Migranten seine Legitimität bezieht. Möglich werden diese „neue[n] Wege einer aktivierenden und nachhaltigen Integrationspolitik, die die Potenziale der Zugewanderten erkennt und stärkt und nicht allein auf Defizite fokussiert“ (ebd.: 13, Herv. AQ), nicht zuletzt durch einen entsprechenden, von Seiten der Migrationsforschung beförderten Paradigmenwechsel (vgl. Kapitel 1.1.2). Migrantische Integrationslotsen werden im Zuge der Potentialorientierung aufgrund ihrer eigenen Migrationserfahrungen als „Kräfte, die über besondere interkulturelle Kompetenzen verfügen (ebd.: 27)“ und somit gewissermaßen als ‚naturwüchsige‘ Experten angerufen. Allein die Tatsache, selbst Migrant zu sein, fungiert dabei als eine für das Lotsenengagement hinreichende Disposition und als Legitimation einer Zuständigkeit für Fragen der Migration und Integration. Exkurs: Genealogische Spuren von Mittlersubjekten der Migration Im historischen Rückblick erinnern Integrationslotsen mit der ihnen zugeschriebenen naturwüchsigen Expertise an so genannte „nationale Fachkräfte“, „muttersprachliche Experten“ oder „nationale Betreuer“, die seit den 1960er Jahren in den Sozialen Diensten laut offizieller Richtlinien maßgeblich aufgrund ihrer „Betroffenheitseigenschaft“ eingesetzt wurden (vgl. Lutz 1991: 185). Sollten diese „ausländischen Sozialberater“ in der Phase der so genannten „Rückkehrorientierung“ noch eine Kommunikation mit den Arbeitsmigranten ermöglichen und gerade dazu
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beitragen, dass deren Heimatverbundenheit gepflegt, einer Entfremdung von der Heimat vorgebeugt und somit Rückkehrfähigkeit erhalten werde, wurden sie in der Phase des „Familiennachzugs“ seit den 1970er Jahren dafür eingesetzt, dass ausländische Arbeitnehmer „erste Orientierungshilfen“ erhielten, dass sie „unter Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen Ausgangsbasis in sozialen Angelegenheiten beraten“ wurden und schließlich, dass sie „durch Erlangen der Fähigkeit in einem fremden Land selbstständig zu handeln, sich in das gesellschaftliche System der Bundesrepublik integrieren“.74 Statt als ‚Rückkehrerleichterer‘ für die Gastarbeiter zu fungieren, wurden sie somit, ähnlich wie heutige Integrationslotsen, als Orientierungshelfer und Integrationsberater eingesetzt. Genauso wenig wie für die heutige Vielzahl an „Integrationsbegleitern“ (Huth 2007) gab es für die damaligen nationalen Fachkräfte, muttersprachlichen Expertinnen oder nationalen Betreuer anfangs eine offizielle, einheitliche Berufsbezeichnung und ihre Arbeitsplatzbeschreibungen waren zu Beginn so „allumfassend und vage formuliert, daß sie den jeweiligen Arbeitgebern die Möglichkeit der Ausgestaltung überließen“ (Lutz 1991: 184). In der Phase des Familiennachzugs wurden ihre beruflichen Anforderungen sodann vielfältiger und umfangreicher und es entwickelten sich eigenständige Berufsprofile in den großen Verbänden, doch erst 1984 kristallisierte sich so etwas wie ein einheitliches Berufsbild heraus, in dem Funktion und Aufgabenprofil der muttersprachlichen Experten nun erstmals offiziell auf „Betroffenheitseigenschaft verbunden mit Lebens- und Berufserfahrung in Verbindung mit dem Einsatz der Muttersprache“ festgelegt wurden (ebd.: 185). Die damaligen Mittlersubjekte der Migration weisen gewisse Parallelen zu solchen „Mittlern“ auf, die vor allem seit Lautwerden des Rufes nach interkultureller Öffnung im Bereich der professionellen Migrationsberatung eingesetzt werden (vgl. Fischer 2009: 49ff.). Unter dem Stichwort peer counseling geht es hierbei um die „Beratung durch Menschen, die in ihrem Leben vergleichbaren Problemstrukturen ausgesetzt sind oder in der Vergangenheit ausgesetzt waren“ (Wienstroer 1999: 165).75 Die angedeuteten möglichen Parallelen und Kontinuitäten von Integrationslotsen und anderen gegenwärtigen sowie vormaligen Mittlern machen zunächst eines deutlich: Die Konstitution von Migranten als Mittlersubjekten beginnen nicht erst mit der ‚Erfindung‘ von Integrationslotsen. Vielmehr scheint sich der Integrationslotse als Mittlersubjekt in ein gesellschaftliches und historisches Feld einzuschreiben, das es im Fortgang der Analyse genealogisch im Blick zu behalten gilt. Die
74 Grundsätze für Aufgaben, Arbeitsweise und Organisation der Sozialbetreuung für ausländische Arbeitnehmer und ihre Familien, Bonn 1984, zit. nach Lutz (1991): 185. 75 Anwendung findet peer counseling in der Sozialberatung bereits seit längerem im Zusammenhang mit Behinderungen, Sucht- oder HIV/Aids-Erkrankungen und seit jüngster Zeit zunehmend auch im Bereich der professionellen Migrationsberatung.
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Gewordenheit dieses Subjekts ist dabei im Sinne eines „verschärften Historismus des Selbst“ insbesondere auch auf ihre „Diskontinuitäten, Funktionsverschiebungen und Kontingenzen“ hin zu befragen (Saar 2003: 165). Der Einsatz von Integrationslotsen und anderen Mittlern der Migration deutet darauf hin, dass Migranten nicht mehr nur als Referenzobjekte, Klienten oder Fürsorgeempfänger adressiert werden, sondern nicht zuletzt dank ihrer Betroffenheitseigenschaft eine Aufwertung zu „Mitgestaltern und Koproduzenten“ erfahren (Roth 2009: 207). Dies scheint allerdings nur für Migranten in solchen Feldern zu gelten, in denen eine Migrationsbiographie in biographisches Kapital (vgl. Lutz 2000, Juhasz & Mey 2003) verwandelt werden kann, während ein ‚Migrationshintergrund‘ in anderen Feldern auch weiterhin den Zugang zu zahlreichen Bildungs- und Berufspositionen zu erschweren vermag.76 Das heißt, Migranten werden lediglich auf bestimmten objektiven Positionen nach Bourdieu aufgewertet, während darüber hinausgehende Möglichkeiten begrenzt bleiben. Die Unterscheidung von ‚Wir‘ und ‚Nicht Wir‘ In einer an Mecheril angelehnten Lesart operiert ‚das Dispositiv‘ der Integration mit Engagement- und Integrationsangeboten, die zugleich immer auch „Aufforderungsprogramm“ (Filsinger 2009: 292) sind. Angebot und Aufforderung bilden also keine disparaten Modi, sondern ineinander verzahnte Erscheinungsweisen derselben Regierungskunst, welche diejenigen, die den freiwilligen Appell zu Integration und Engagement überhören, ins Abseits geraten lassen, da sie ihre individuellen Chancen nicht zu nutzen wissen und darüber hinaus auch ihrer Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft nicht nachkommen. Deutlich wird daran aber zugleich, dass das Integrationsdispositiv ein keineswegs einheitliches Bild des Migranten produziert und sich ebenso wenig in der permanenten Aufrechterhaltung einer einfachen Wir-Die-Dichotomie erschöpft. Zwar wird in seinem ‚Kernbereich‘ die hierarchisierende Trennung von Migrantinnen und Einheimischen bzw. die Dichotomie zwischen ‚Wir‘ und ‚Nicht-Wir‘ reproduziert, gleichzeitig scheint das Dispositiv aber seine scharfen Konturen zu verlieren, indem zunehmend Subjektpositionen entstehen, die auf Durchlässigkeiten
76 So haben bspw. laut einer aktuellen Studie des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), in der 3.600 fiktive Bewerbungen für Ausbildungen in den Berufen Kfz-Mechatroniker und Bürokaufmann verschickt wurden, Schüler mit einem türkischen Namen auch bei sonst gleichen Ausgangsvoraussetzungen (überdurchschnittlich gute Noten in Realschulzeugnissen, soziales Engagement, deutsche Staatsbürgerschaft, Deutsch als „Muttersprache“) deutlich schlechtere Aussichten, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Sie ‚scheitern‘ aufgrund ihrer Herkunft somit bereits in der ersten Bewerbungsphase (vgl. SVR 2014).
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und Veruneindeutigungen einstmals befestigter Unterscheidungen hindeuten. So geraten auch und gerade aus einer dispositivanalytischen Perspektive höchst unterschiedliche und widersprüchliche Appelle und hierarchisierende Subjektpositionen in den Blick, welche die Eindeutigkeit der Unterscheidung zwischen etablierten Einheimischen und migrantischen Außenseitern irritieren: Menschen werden als migrantische ‚Mangelwesen‘ angerufen, die einer Orientierungshilfe bedürfen und gelotst werden müssen, aber auch als Integrationsmanager ihrer selbst und in Bezug auf andere. Auf diese Weise werden mitunter widersprüchliche Anrufbarkeiten erzeugt, die zwischen den Polen Migrant/Hilfebedürftiger versus Lotse/Helfer oszillieren. Letztlich geraten mit dem dispositivanalytischen Ansatz aber lediglich die durch das Dispositiv ‚abgesteckten‘ und nahegelegten Teilungspraktiken, d.h. die Möglichkeitsbedingungen des Unterscheidens in den Blick, während der Vollzug solcher Praktiken des Unterscheidens selbst ausgeblendet wird. Blinde Flecken der dispositivanalytischen Perspektive Deleuze hat den Subjekten selbst eine zentrale Bedeutung bei der Entstehung von „Riss-, Spalt-, aber auch Bruchlinien“ (Deleuze 1991: 157) in den Dispositiven – und damit auch der darin ,eingelagerten‘ Subjektpositionen – zugeschrieben: „Indem sie sich den Dimensionen des Wissens und der Macht entziehen, scheinen die Subjektivierungslinien besonders geeignet, schöpferische Wege vorzuzeichnen, die zwar immer wieder scheitern, aber auch wiederaufgenommen und modifiziert werden, bis hin zum Bruch mit dem alten Dispositiv“ (ebd.). Diese schöpferischen Wege lassen sich als praktische Vollzüge lesen, die nicht in den von einem Dispositiv ‚abgesteckten‘ Praktiken aufgehen und ihre Teilnehmer gerade in dieser Absetzbewegung als Subjekte in Erscheinung treten lassen. Sie können jedoch aus dieser Forschungsperspektive kaum beobachtbar gemacht werden. Der Dispositivansatz erlaubt, wie Rehmann einwendet, letztlich keine differenzierte Analyse derjenigen Praktiken, die sich den Zugriffen des Dispositivs entziehen: „Foucaults Versprechen, mit seiner ‚Mikrophysik‘ der Macht die Alltagspraktiken in ihrer Vielfalt analysieren zu können, wird nie wirklich eingelöst, zum einen, weil sein Machtbegriff nicht an Entfremdungen und Fetischisierungen im Alltagsbewusstsein interessiert ist, zum anderen weil er kein Instrumentarium hat, um die Widersprüche der ‚Ungleichzeitigkeit‘ (Bloch) sowie die zwischen Stereotypen des ‚Habitus‘ (Bourdieu) und erfahrungsoffenen Haltungen des ‚buon senso‘ (Gramsci) zu untersuchen.“ (Rehmann 2008: 147). Foucault konzipiert die moderne (gouvernementale) Macht zwar als „ein Ensemble von Handlungen in Hinsicht auf mögliche Handlungen“ (Foucault 1994a: 255), statt aber die Subjektivierung von handelnden und dabei mitunter widersprüchliche Erfahrungen machenden Akteuren zu untersuchen, wird dem Dispositiv in dispositivanalytischen Arbeiten meist ein ‚Quasi-Subjektstatus‘ zugeschrieben.
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Damit neigt die Analytik dazu, den produktiven Machtformen „eine sich selbst durchsetzende Tendenz zu unterstellen“ und „statt der Wechselwirkung lediglich die vermeintliche Identität von Selbsttechniken und Herrschaftsstrukturen aufzuzeigen“ (Langemeyer 2007: 237). Diese top down-Perspektive führt dazu, dass in der empirischen Dispositivforschung die Momente der Reproduktion und Verfestigung von Dispositiven weitaus größere Beachtung finden als ihre Verflüssigungstendenzen oder gar Bruchmomente. Auch Mecheril geht in seiner Analyse des Integrationsdispositivs letztlich von einem substantialistisch gefassten „Wesen des Integrationsdispositivs“ aus, das sich in einem nationalen Dispositiv spiegele (Mecheril 2011: 53f.). Beide Dispositive bringen sich wechselseitig hervor und unterstützen sich gegenseitig, indem sie im Wege „fortwährender Imaginationspraxen im Sinne einer konstanten ‚Selbstbestätigung‘“ die Vorstellung eines „nationalen Wir“ beständig reproduzieren (ebd.: 52f.). Da die Untersuchung von Dispositiven zudem meist in einer Perspektive „von außen nach innen“ verbleibt, erscheint das Subjekt am Ende als Effekt, „durch den die ausgesprochenen oder auch stummen Zumutungen der regulierenden Praktiken, räumlichen Anordnungen und kontrollierenden Instanzen, von denen die Einzelnen umstellt sind, ins Innere transportiert werden“ (Laugstien 1995: Spalten 757ff., Herv. AQ). Forschungspraktisch kommt es so zu einer Schieflage, da die „makrosoziologisch angelegte Theoriearchitektur dazu auffordert, das Material nach bestimmten gesellschaftstheoretischen Vorannahmen auszusuchen und zu interpretieren. Wie kann man dann aber in der empirischen Analyse der subsumtionslogischen Falle entgehen und die theoretisch generierten Einsichten über den Gegenstand nicht nur einfach mit mehr oder minder systematisch gesammelten Belegen illustrieren?“ (Angermüller 2009: o.S.).77 Eine mögliche Antwort auf diese Frage liefert ein Ansatz von Christoph Mautz, bei dem Personen weder als Effekte von Dispositiven, noch Dispositive als Konstruktionen der Handlungen von Personen erscheinen, sondern der Stellenwert der Praktiken, welche Dispositive charakterisieren, von dem Anwendungswissen der Akteure abhängig gemacht wird (vgl. Mautz 2012: 161f., Herv. AQ). Damit ein Dispositiv seine Machtwirkungen entfalten kann, ist es nach Mautz darauf angewiesen, dass der Betroffene die Machtwirkungen „als Gewissheit antizipiert“, was ein Verstehen der „Anordnungskomponenten“ von Praktiken voraussetzt, das vom Dispositiv selbst nicht geleistet werden kann, sondern eines spezifischen Wissens und einer Anwendung dieses Wissens durch die Akteure bedarf (ebd.:163). Dieses Wissen ist nach Mautz abhängig von den Dispositionen der Akteure, die er in Abgrenzung von Bourdieu mit Schatzki als intelligible Handlungsbefähigungen re-
77 Angermüller (2009) stellt diese Frage im Rahmen seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem an Foucault anschließenden dispositivanalytischen Ansatz von Bührmann und Schneider (2008).
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formuliert.78 Schatzki versteht unter der practical intelligibility einen individuellen praktischen Handlungssinn, den ein Akteur einer eigenen oder fremden Tätigkeit zuschreibt, und der in Praktiken erworben und modelliert wird (vgl. Schatzki 2002: 75). Hieraus folgert Mautz, dass „Dispositionen [...] im Wesentlichen in der körperlich begrenzten und ermöglichten Kapazität [bestehen], bestimmte Wissenselemente in fortlaufende Situationen einzufügen, und in der Neigung, eine bestimmte Konfiguration von Wissenselementen in einen Kontext zu bringen. Sie beruhen auf körperlichen Fähigkeiten verknüpft mit einer Intelligibilität, mit der Anforderungen des spezifischen Kontextes wahrgenommen werden können, um sie einzusetzen“ (Mautz 2012: 170, Herv. AQ). Das Verhältnis von Dispositiv und Subjekt bzw. Dispositionen gestaltet sich damit nicht von ‚Außen‘ nach ‚Innen‘, sondern als ein ko-konstitutives: Subjekte bringen Dispositive ebenso hervor wie sie von ihnen hervorgebracht werden. „Die Geltung von Dispositiven [...] wird durch Dispositionen konstituiert. Da jedoch Dispositive gleichzeitig eine materialisierte Form annehmen, die unabhängig von den Intentionen der Akteure existiert, ermöglichen und begrenzen sie den Einsatz von Dispositionen“ (ebd.:173, Herv. AQ). Mautz macht damit deutlich, dass Subjekte nicht Anforderungen ausgesetzt sind, die über ihnen ‚schweben‘, sondern die vielmehr an konkrete, materielle Kontexte gebunden sind. Um diese Kontexte noch genauer in den Blick zu bekommen, wird im Folgenden die siteontologische Perspektive Schatzkis ausgeleuchtet. 2.2.2 Die siteontologische Perspektive nach Schatzki In The site of the social (2002) fragt Schatzki nach der Ordnung, die zugleich immer auch ein Ort von Praktiken ist, welche für ihn das Soziale im Wesentlichen konstituieren. Eine site zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht bestimmte Komponenten als ein Netz einhüllt oder sie umrahmt, sondern als ein Zusammenhang konzipiert wird, der erst durch die Entitäten, die in ihm kontextualisiert sind, gebildet wird und diese zugleich bildet: „A site is a context, some or all of whose inhabitants are inherently part of it“ (Schatzki 2002: 146). Praktische Relationierungen innerhalb eines Gewebes von Praktiken und (An-)Ordnungen Die sites sozialer Praktiken sind zunächst einmal ganz konkrete Örtlichkeiten, wie bspw. ein Labor, in dem Kräuterextrakte hergestellt werden. Diese werden als soziale Räume performativ hervorgebracht, indem dort Praktiken stattfinden. Praktiken wiederum sind untrennbar mit physischen Räumen verbunden, die sowohl Orte als 78 Mautz kritisiert Bourdieus Begriff der Dispositionen wegen seiner Neigung zu naturalisierenden und ökonomistischen Erklärungsweisen (vgl. Mautz 2012: 166f.).
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auch Wege umfassen können (vgl. Schatzki 2002: 43). Schatzki geht also von einem wechselseitigen Konstitutionsverhältnis von Räumen und Praktiken aus. Zugleich bezieht sich der Begriff der site ganz ähnlich wie das Dispositiv, das ein Netz zwischen unterschiedlichen Elementen knüpft, auf ein Gewebe (mesh) von miteinander verbundenen Praktiken und Anordnungen (ebd.: 123, 154). Allerdings hebt Schatzki stärker die Kontingenz, Prekarität und Unmöglichkeit einer Totalisierbarkeit sozialer Ordnung hervor. Er hält beide Komponenten der site – Praktiken und Anordnungen – wie auch ihr Zusammenspiel beweglich und unabgeschlossen, gewissermaßen im Prozess des Webens, während das Dispositiv, wie Mecherils Lesart zeigt, häufig so konzipiert wird, dass es sich über seine Knotenpunkte schon zu einem Netz verdichtet hat und sich auf diese Weise selbst trägt. Da Schatzki soziale Praktiken als Bündel offener, sich zeitlich entfaltender Aktivitäten versteht, können aktuelle Aktivitäten (fresh actions) Praktiken kontinuierlich perpetuieren und ausdehnen (ebd.: 72) und die site so verändern. Ebenso dynamisch werden die Anordnungen (arrangements) konzipiert. Diese bilden sich aus physischen Entitäten, d.h. Menschen, anderen lebenden Organismen, Artefakten und Dingen, indem sie sie in kausale, räumliche und intentionale Relationen zueinander setzen (vgl. ebd.: 41ff.). Unter kausalen Beziehungen versteht Schatzki zum einen Relationierungen, die etwas bewirken (making something happen), wie z.B. eine Tür, die zufällt, woraufhin sich jemand erschrickt. Zum anderen fasst er darunter Relationierungen, die eine Anschlusshandlung einer anderen Entität herbeiführen (leading to another entity’s action), etwa eine Ansprache oder Geste, auf die jemand reagiert. Mit räumlichen Beziehungen werden Positionen von Entitäten in Relation zu anderen bspw. als nah oder entfernt, neben, über oder unter, innen oder außen beschrieben. In intentionalen Beziehungen, die ausschließlich Menschen vorbehalten sind, stehen diese zueinander, wenn die Gedanken, Vorstellungen, Absichten, Emotionen etc. eines Menschen auf eine andere Entität ausgerichtet sind (vgl. ebd.: 98). Vor dem Hintergrund dieses vielschichtigen Relationengefüges lässt sich die in Kapitel 2.1.8 beschriebene praktische Relationierung im Sinne eines sich zu sich selbst, zu anderen und zur Welt ins Verhältnis Setzens an konkrete Orte zurückbinden. Jeder Partizipand einer Praktik (d.h. lebendige Organismen, Artefakte und Objekte) gewinnt nach Schatzki seine Bedeutung (meaning) durch seine Beziehungen zu anderen Entitäten innerhalb einer Anordnung, d.h. durch seine räumliche, kausale und intentionale Positionalität, sowie dadurch, wie er in seinem Tun im Rahmen einer Praktik von anderen verstanden wird (ebd.: 47).79 Die Erlangung einer Identität (identity), die sich in dieser Arbeit subjektivierungstheoretisch lesen lässt, unter-
79 Mit dem Begriff der chief identity lenkt Schatzki die Aufmerksamkeit darauf, dass erst im Rahmen einer Praktik bestimmte ‚Identitätsaspekte‘ für andere erkennbar werden, während andere irrelevant oder ‚ungelebt‘ bleiben (vgl. Schatzki 2002: 48).
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scheidet Schatzki analytisch von der Bedeutung einer Entität. Sie setzt zusätzlich voraus, dass die Teilnehmerinnen einer Praktik ein eigenes Verständnis ihrer Bedeutung innerhalb einer Anordnung haben. Präfiguration, Kontingenz und Wandel Die Gerichtetheit menschlicher Aktivität konzeptualisiert Schatzki als eine Präfiguration von kausalen Tätigkeitspotentialen bzw. Handlungspfaden. Er grenzt sich damit explizit von der Foucaultschen Machtanalytik und ihrer Unterscheidung zwischen Ermöglichungen (enablements) und Zwängen (constraints) ab (vgl. Schatzki 2002: 45): „The mesh of practices and orders does not simply clear some paths and obliterate others. Rather, it figures them as more distinct or fuzzy, more threatening or welcoming, more unsurveyable or straightforward, more cognitively dissonant or soothing, smoother or more jagged, more disagreeable or appealing, and so on“ (ebd.: 226). Präfigurationen ergeben sich aus der Eingebundenheit einer Praktik in eine site, die wiederum mit weiteren Kontexten über gemeinsame settings, Handlungsketten oder Praktiken verbunden sein kann (vgl. ebd.: 148f.). Jedes einzelne Element sowie die unbegrenzten und unzähligen Kombinationen, die einen situativen Kontext ausmachen, kann damit Tätigkeiten präfigurieren: die arrangements mit ihren relational angeordneten Entitäten (Menschen, Organismen, Artefakte, Dinge), die Komponenten der Praktiken (general understandings, practical understandings, rules, teleoffactive structure) mit ihren jeweiligen Aufgaben und Projekten (tasks and projects) sowie die menschlichen Akteure mit ihrer praktischen Intelligibilität. Akteure sind nach Schatzki in diese präfigurierten Tätigkeitspfade so stark involviert, dass es ihnen kaum möglich ist, anderen die Durchführung einer bestimmten Aktivität mit Bezug auf mentale Bedingungen, Wünsche und Ziele zu erklären, vielmehr schließen sie beständig an andere Handlungen an (vgl. ebd.: 229f.). Hierin liegt für Schatzki das Potential für sozialen Wandel, der im Wesentlichen zwei Erscheinungsformen annehmen kann: Rekompositionen (recompositions) von Praktiken vollziehen sich kontinuierlich und weitestgehend „unintendiert“, indem doings and sayings und praktische Verstehensweisen variiert werden (vgl. ebd.: 241). Rekompositionen lassen sich in meiner Lesart als eine performative Veränderung von Praktiken durch die Praxis konzeptualisieren. Bei der Reorganisation (reorganization) einer Praktik verändern sich hingegen deren Regeln, allgemeinen Verstehensweisen oder ihre teleoaffektive Struktur (ebd.: 243). Hierbei handelt es sich nach Schatzki um eher seltene und intentionale Prozesse. In meiner Terminologie würden somit Transformationen in den Komponenten einer Praktik den künftigen Verlauf der Praxis verändern. Über ihre site sind Prozesse der Reorganisation und Rekomposition von Praktiken mit Veränderungen von Anordnungen verbunden, die Schatzki als rearrangements (ebd.: 246) oder reorderings (ebd.: 237) bezeichnet.
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Da sich das Tätigkeitspotential (agency) von menschlichen Akteuren, worin Schatzki die zentrale Triebkraft des Wandels sieht (ebd.: 235), immer erst im Vollzug ergibt, ist das Handeln prinzipiell unbestimmt und Akteure können ihr Tun permanent verändern: „Nothing determines ante eventum what a person – acting in a world that prefigures paths differentially – does“ (ebd.: 232, Herv. i.O.). Die miteinander verbundenen Konzeptionen der Präfiguration und des sozialen Wandels drohen damit allerdings in eine Schieflage zu geraten: So nimmt Schatzki an, dass Akteure aufgrund der Unbestimmtheit menschlichen Handelns, aber zugleich in Abhängigkeit von Verhältnissen, die durch nahezu alle Komponenten des Sozialen präfiguriert sein können, in der Lage sind, ihr Tun permanent zu verändern. Praktiken sind damit zugleich vollkommen präfiguriert und vollkommen kontingent. Ebenso verändern sich Praktiken (und ihre Anordnungen) kontinuierlich und werden gleichsam kontinuierlich beibehalten (vgl. ebd.: 238).80 Plausibel wird diese widersprüchliche Argumentation erst, wenn an dieser Stelle die analytische Unterscheidung zwischen Praktik und Praxis in Anschlag gebracht wird. Denn dann wird ersichtlich, wie die Praxis als vollzugsoffenes Geschehen durch eine Praktik im Sinne einer typisierten, über Zeit und Raum hinweg relativ stabilen Form, präfiguriert, jedoch nicht determiniert ist, sondern kontingent bleibt und dass sich die Praxis im Vollzug wandelt. Schatzki geht davon aus, dass „as a matter of fact, people generally agree about what is obligatory and acceptable in and connected with the activities they carry on“ (Schatzki 2002: 85, Herv. i.O.).81 Aus einer die Unverfügbarkeit der Praxis wie
80 Ähnliche Formulierungen finden sich in einem jüngeren Aufsatz von Schatzki (2012): Handeln sei zugleich offen und präfiguriert, determiniert und indeterminiert und erfolge intentional und freiwillig, wobei diese Intentionalität und Freiheit den Handelnden aber erst im Tun „befalle“ (befalls) (Schatzki 2012: 18). Schatzki hebt damit ganz ausdrücklich auf die Ereignishaftigkeit und den Widerfahrnischarakter von Praxis ab, ohne allerdings ein Analyseinstrumentarium zu entwickeln, mit dem sich das strukturierende und kontingente Moment der Praxis aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven einfangen und genannten Paradoxien plausibilisieren lassen. 81 Wenn dieses faktische Zusammenwirken im Sinne einer Praktik nicht gegeben ist, sondern sich – in meiner Lesart – in der Praxis Unstimmigkeiten und Widerspruch zeigen, bedeutet dies nach Schatzki, „that the practice has been destroyed, is dividing into two or more different practices, is about to coalesce, or never existed – despite appearances – in the first place“ (ebd.: 84, vgl. auch: 150). Praktiken können demnach mit anderen Praktiken zusammengehen oder sich in verschiedene Praktiken ausdifferenzieren aber – und hier liegt der theorieimmanente Widerspruch – sie können sich strenggenommen gar nicht verändern, oder anders ausgedrückt: die Praxis (fresh actions) kann keinen Wandel der Praktik herbeiführen.
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das sich darin konstituierende Subjekt gleichermaßen ernstnehmenden Perspektive ist jedoch gerade davon auszugehen, dass auch die an einer sozialen Praktik partizipierenden Teilnehmer – ja gerade mittels ihrer intelligiblen Handlungsbefähigungen (practical intelligibility) – bewusste und unbewusste Abschätzungen und explizite Zuschreibungen von Kausalitäten vornehmen, Begründungen für ihr Tun und das Verhalten anderer geben wie auch verlangen können und in der Lage sind, sich in eine kritische Distanz zum Geschehensfluss zu begeben. Schatzkis Ansatz lässt sich für die empirische Analyse also insbesondere dann fruchtbar machen, wenn dabei zwischen einer Beobachterperspektive auf die Praxis, die sich konstruierter Beobachtungskategorien bedient, und einer rekonstruierbaren Perspektive der darin involvierten Teilnehmer unterschieden wird und beide in die Analyse miteinbezogen werden. Schatzki selbst blendet die Perspektive der Teilnehmer allerdings eher aus, indem er menschliche Akteure zwar mit praktischer Intelligibilität ausstattet, aber letztlich davon ausgeht, dass diese nur dazu eingesetzt wird, um Praktiken weitestgehend routiniert und störungsfrei auszuführen. Während sich mit Schatzki aus der Beobachterperspektive Aussagen darüber treffen lassen, welche der von der Beobachterin konstruierten Kategorien wie räumliche Anordnungen, teleoaffektive Strukturen oder allgemeine Verstehensweisen den Lauf der Praxis in welcher Weise präfigurieren oder verändern, entwirft sich aus Teilnehmerperspektive jeder Spielzug, jede Adressierung, in eine unbestimmte Zukunft und es ist offen, wie daran angeschlossen beziehungsweise, wie readressiert wird. Dass die Praxis insofern wesensmäßig kontingent ist, bedeutet aber gerade nicht, dass nicht auch die Teilnehmer eine kritische Haltung zu ihr einnehmen können, weshalb in der empirischen Analyse beispielsweise auf explizite Begründungen für ein spezifisches Anschließen zu achten wäre und auf das, was von den situierten Teilnehmern als kontingent markiert wird. Solche Markierungen von Kontingenz im Sinne all dessen, was „stets auch anders möglich ist“ (Makropoulus 1997: 13), könnten sich empirisch sowohl als Kontingenzzuschreibungen beobachtbar machen lassen, durch die etwas explizit als ‚Zufall‘, ‚Unfall‘ oder plötzlicher ‚Einfall‘ ausgewiesen wird, als auch als Äußerungen der Überraschung, Irritation oder ‚Fassungslosigkeit‘, die von somatisch eigensinnigen Körpern ausgehen. Wie in Kapitel 2.1 herausgearbeitet wurde, sind die Teilnehmer einer Szene bzw. die in eine Praxis Involvierten in diese partizipativ eingebunden, d.h. sie bringen diese mit hervor und beeinflussen ihren Verlauf aufgrund ihrer jeweils eigenen Perspektive und können gerade deshalb ebenso aus ihr heraustreten. Dieser dynamische, offene und insofern auch ‚kritikanfällige‘ Charakter der Praxis lässt sich mit Schatzkis Ansatz aufgrund seiner Fokussierung auf Praktiken jedoch kaum in den Blick nehmen.
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2.2.3 Begegnungsräume der Migration Mit der Heuristik des Begegnungsraumes versuche ich, die herausgestellten Aspekte der Dispositivanalyse Foucaults und der Siteontologie Schatzkis zu synthetisieren und die Aufmerksamkeit auf die Relationalität, die Materialität, die Performativität sowie die Machtförmigkeit praktischer Subjektivierung zu lenken. Voraussetzung für die Entstehung von Begegnungsräumen sind stets konkrete Orte, an denen Menschen und andere Entitäten physisch kopräsent sind. Erst im Vollzug von Praktiken bilden sich an diesen Orten Begegnungsräume aus. Konstitutiv für diese Hervorbringungen sind elementare Handlungsvollzüge des sich leiblich Bewegens im Raum oder auch Akte des Erzählens oder Lesens, die „medial vermittelte, imaginäre Räume“ entstehen lassen (Moser 2011: 61). Als soziale Räume werden Orte also im Prozess performativer Handlungsvollzüge als Begegnungsräume hervorgebracht, welche die im Raum kontextualisierten Subjekte konstituieren. Mit anderen Worten treten Mittlersubjekte bzw. Migranten und Einheimische in Begegnungsräume nicht ein, sondern sie gewinnen ihre Bedeutung erst dadurch, dass sie an spezifischen Praktiken teilhaben, die sie als Mittlersubjekte, Migrantinnen bzw. Einheimische anerkennbar machen. Denkt man das Verhältnis von Subjekt, Raum und Praktik als ein wechselseitig konstitutives, so wird damit nicht nur erhellt, wie sich Mittler und andere Subjekte in Praktiken bilden und als solche gebildet werden, sondern umgekehrt auch, wie konkrete Orte (durch Subjekte und ihre Praktiken bzw. Praktiken und ihre Subjekte) zu Begegnungsräumen gemacht werden. Die sich mit der Raummetapher verbindende Innen-Außen-Differenz, die auf eine gewisse Geschlossenheit und besondere Qualität eines Raumes, der diesen von anderen Räumen abhebt, verweist, lässt sich in der empirischen Analyse fruchtbar machen, um zu untersuchen, wie Begegnungsräume über performative Praktiken in mehr oder weniger dynamischer Weise geöffnet oder abgeschlossen werden, so dass sie, wie erste empirische Analysen zeigen, bspw. für jene Integrationslotsen schwerer zugänglich sein können, die in einer Situation zu Einheimischen gemacht werden als für jene, die über einen Migrationshintergrund ‚verfügen können‘ (vgl. Kapitel 3.2.3). Wer von Begegnungsräumen der Migration in welcher Weise performativ ausgeschlossen wird und in welcher Weise hier etwas zu wertvollem Kapital oder Wissen wird, ergibt sich nicht a priori daraus, wie Juhasz und Mey (2003: 81) annehmen, ob ein Kapitalträger zu einer „Gruppe“ von Etablierten oder Außenseitern gehört (vgl. Kapitel 1.3). Vielmehr zeigen erste Auseinandersetzungen mit dem empirischen Material, dass Momente der Ein- und Ausschließung immer auch davon abhängen, wie soziale Plätze in konkreten Szenen, „sozusagen in der Nussschale der
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‚Interaktionsordnung‘“ (Willems 2012: 80) zugewiesen werden.82 In welcher Weise sich der Begegnungsraum als ein Machtraum konstituiert, ist somit nicht mittels vorab fixierter Relationen eindeutig festgelegt, sondern abhängig von praktischen Relationierungen und der sich darin konstituierenden Subjekte und somit stets in Bewegung. Bei einem in dieser Weise machtkritisch verstandenen Ansatz geht es somit nicht um eine entlarvende Vogelperspektive, aus der alle Beobachtungen a priori unter eine vorab analysierte strategische Funktion des Integrationsdispositivs subsummiert werden. Vielmehr wird eine Art Schmetterlingsperspektive eingenommen, die sich ‚aufwärts‘ und ‚abwärts‘ richtet und dabei nicht nur den Fluchtpunkt eines eindeutigen Über- und Unterordnungsverhältnisses zwischen Migranten und Einheimischen im Blick hat. Indem untersucht wird, welche Regeln und Verstehensweisen in praktischen Vollzügen hervorgebracht werden, wie Legitimationen in situ hergestellt und Macht im Vollzug prozessiert wird, lassen sich Machtrelationen und ein Ineinandergreifen von Herrschafts- und Selbsttechniken ebenso sichtbar machen wie schöpferische, vollzugsoffene „Subjektivierungslinien“ (Deleuze), die in dispositivanalytischen Arbeiten oft im Verborgenen bleiben. Mit der Heuristik des Begegnungsraumes wird somit eine Perspektive entwickelt, aus der sich empirisch sichtbar machen lässt, dass wir es in der Praxis weder mit einer „permanenten Aushandlung der sozialen Ordnung“ (Chateuraynaud 1991: 418, zit. nach Wagner 1993: 448) noch mit einer überzeitlichen, totalisierbaren Ordnung zu tun haben. Inwiefern handelt es sich nun aber um Räume der Begegnung? Den Begegnungsbegriff beziehe ich mit Goffman (1982: 203) aus einer interaktionstheoretischen Perspektive auf „ein strukturiertes Zusammenspiel von Akten“, welche den „Wechsel von Gesprächsbeiträgen“ organisieren. Die Begegnung als eine spezifische soziale Situation unterscheidet sich von „unzentrierten Interaktionen“ dadurch, dass sie gemeinsame Orientierungen und „Blickverpflichtungen“ voraussetzt (ebd.).83 „Hierbei ist vorzugsweise eine gegenseitige Offenheit für jede Art von Kommunikation beteiligt. Ein physisches Zusammenkommen ist typischerweise ebenfalls beteiligt, ein ökologisches Durcheinander, in dem sich die Teilnehmer zu-
82 Dies zeigt sich in Lotsenkursen etwa daran, dass es Dozenten, die aus einer Perspektive objektiver Positionen sowohl mit institutioneller Macht als auch einem ‚EinheimischenStatus‘ ausgestattet sind, in situ oftmals schwerer fällt, sich an Diskussionen über ‚interkulturelle‘ Erfahrungen zu beteiligen als dies bei Kursteilnehmern der Fall ist, welche die Sprecherposition des ‚Ausländers‘ einnehmen, aus der sie eine ‚Macht des Authentischen‘ beziehen können (vgl. Kapitel 3.2.2) 83 Insofern ist es durchaus irreführend, dass die deutsche Übersetzung des 1961 im Original erschienenen Buches „Encounters“ (Begegnungen) den Titel „Interaktion“ (1973) trägt.
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einander orientieren und von denen abwenden, die zwar in der Situation, nicht aber offiziell in der Begegnung anwesend sind“ (ebd.). Personen können folglich zwar in einer sozialen Situation präsent, aber „nicht als Teilnehmer der Begegnung anerkannt“ sein (ebd.: 204). Goffman unterscheidet also zwischen bloßen Anwesenden einer Situation und den Teilnehmenden einer Begegnung, die als solche anerkannt sind, wobei Anerkennung hier heißt, dass „sich zwei oder mehrere Personen gemeinsam in einer sozialen Situation gegenseitig als autorisierte Mitträger eines einzigen, wenn auch beweglichen Zentrums visueller und kognitiver Aufmerksamkeit bestätigen“ (ebd.: 202f., Herv. AQ). Mit Hilfe des bisher entwickelten analytischen Vokabulars lassen sich Begegnungsräume, nicht aber Begegnungsräume der Migration fassen. Solche Räume sehe ich dadurch gekennzeichnet, dass sie durch Begegnungen zwischen Selbst und Fremdem hervorgebracht werden und damit zugleich die Teilnehmer einer Begegnung entlang dieser Unterscheidung hervorbringen. Von empirischem Interesse sind damit solche Prozesse, durch die ein Anderer in der Begegnung zum Fremden gemacht wird bzw. sich selbst dazu macht. Mit seiner Differenzierung von drei Bedeutungsnuancen des Fremdheitsbegriffs liefert Waldenfels in seiner Phänomenologie des Fremden Anhaltspunkte, um den Fremden als einen vom Anderen Unterschiedenen zu begreifen. Demnach verweist Fremdheit erstens auf die Differenz zwischen einem Inneren und einem Äußeren, d.h. auf etwas, das woanders, außerhalb eines inneren Bereichs oder Ortes vorkommt. Der Gegensatz zwischen Eigenem und Fremdem deutet zweitens auf eine possessive Begriffsverwendung hin: fremd ist, was nicht in meinem Besitz ist, sondern anderen gehört. Drittens bringt die Unterscheidung von Fremdem und Vertrautem zum Ausdruck, dass etwas von anderer Art, unbekannt, unheimlich oder seltsam ist. Diese Dimension bezieht sich auf „eine Art des Verständnisses“ (vgl. Waldenfels 2006: 111, Herv. i.O.). Mit Hahn (1997: 135) ließe sich hier von einem „Wissen vom anderen“ bzw. einem Nichtwissen, einem Nichtverstehen und Nichtfassenkönnen sprechen, das „Fremdheit als Fascinans und Tremendum“ (ebd.: 143) zugleich erscheinen lässt. Der Fremde ist insofern also „mehr als nur ein Anderer“ als sich in seinem Begriff „Ein- und Ausgrenzungsprozesse mit Unverständnis und Angst, aber auch Neugier“ vereinigen und „neben das differente Andere auch das faszinierende und erschreckende Fremde“ tritt (Schondelmayer 2010: 19). Empirisch beobachtbar machen lassen sich differenzmarkierende bzw. identifikatorische Adressierungen als ein doing difference bzw. doing sameness (Mannitz 2006, vgl. Kapitel 1.3), die darauf hin analysiert werden, in welcher Weise sie die Relation zwischen Eigenem und Fremdem in dichotomer Weise aktualisieren und bestärken, verstören, zeitweilig neutralisieren oder suspendieren. Mit Waldenfels geraten darüber hinaus die mit solchen Adressierungen und Positionierungen ver-
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bundenen Praktiken der Verortung, der Besitzstandsanzeige und der Wissensproduktion in den Blick. Grundsätzlich können beim doing difference verschiedenste „Mitgliedschaftskategorien“ (Hirschauer 2001b: 217) wie Nation, Kultur, Religion, Ethnie, Generation, Geschlecht, Klassenlage oder Berufsgruppe ins Spiel gebracht werden.84 Die in dieser Arbeit untersuchten Lotsenkurse weisen allerdings die Besonderheit auf, dass sie programmatisch gerade auf eine Begegnung zwischen ‚ortsfremden‘ Migranten, Einheimischen sowie ‚kaum noch‘ fremden migrantischen Mittlern angelegt werden. Sie rücken damit bestimmte Mitgliedschaftskategorien in den Vordergrund und unterscheiden sich von all jenen Orten „der selbstverständlichen Begegnung“, wie bspw. Kitas, Schulen, Jugendzentren, Arbeitsplätzen oder Sportvereinen, „an denen ununterbrochen über Zusammenleben, Gerechtigkeit und Toleranz verhandelt wird“ (Terkessidis 2010: 217). Ob und, wenn ja, in welcher Weise sich die Lotsenkurse, wie auch die später analysierten sites der Begleitung, Beratung und Projektarbeit eines Integrationslotsenvereis in den praktischen Vollzügen der Teilnehmer als Begegnungsräume zwischen Migranten und Einheimischen über programmatisch präfigurierte nationale, kulturelle, ethnische oder religiöse Grenzziehungen konstituieren und auf diese Weise Einheimische, Migranten sowie Mittlersubjekte der Migration hervorbringen, kann sich erst im weiteren Verlauf der empirischen Analyse zeigen. Spezifische Modi und Medien der Begegnung werden somit nicht a priori festgelegt, sondern am Material ausgeleuchtet. Noch einmal zusammengefasst: Während sich jeder Raum als ein Begegnungsraum perspektivieren lässt, der im Wege sprachlicher und körperlicher Akte eines sich hin Orientierens oder sich Abwendens hergestellt wird, wodurch die Teilnehmer einer Begegnung sich wechselseitig als solche anerkennen und Andere ausgeschlossen werden, bezeichnen Begegnungsräume der Migration solche Orte praktischer Relationierungen, in denen sich Menschen selbst und wechselseitig zu Migranten und Einheimischen bzw. Mittlersubjekten machen. Sie konstituieren sich also nicht über jede Form der selektiven Adressierung, sondern über die spezifische Begegnung zwischen Selbst und Fremdem.
84 Hirschauer bezieht sich auf den Begriff der membership category des Konversationsanalytikers Harvey Sacks.
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2.3 P RAXEOGRAPHIE : F ORSCHUNGSSTRATEGIE UND S UBJEKTIVIERUNGSTECHNIK „Bei jedem guten Handwerker stehen praktisches Handeln und Denken in einem ständigen Dialog. Durch diesen Dialog entwickeln sich dauerhafte Gewohnheiten, und diese Gewohnheiten führen zu einem ständigen Wechsel zwischen dem Lösen und dem Finden von Problemen.“ SENNETT (2008:20)
Subjektivierung wird im Rahmen dieser Arbeit als ein Prozess betrachtet, der sich weder im Inneren (Kern) noch ‚hinter dem Rücken‘ der Subjekte abspielt, sondern als ein öffentliches Geschehen, das über Praktiken der Beobachtbarmachung und theoretisierenden Beschreibung erschlossen werden kann. Es geht dabei, wie Robert Schmidt herausgestellt hat, genauso wenig um Beobachtung im Sinne einer unmittelbaren visuellen Wahrnehmung wie um Öffentlichkeit im Sinne von Offensichtlichkeit oder Sichtbarkeit, vielmehr kann Öffentlichkeit „als eine gemeinsam geteilte und in sich plurale Aufmerksamkeit verstanden werden, die aber nicht auf die unmittelbare Begegnung beschränkt bleibt, sondern sich über Symbole, Artefakte und Medien auch über Raum und Zeit hinweg konstituiert“ (Schmidt 2012: 241, Herv. AQ). Methodologisch arbeiten Beobachtungsverfahren daran, „Öffentlichkeit aus immer wieder anderen Blickwinkeln zu beleuchten und zu beschreiben [...]. Sie blicken nicht ‚von oben‘ oder von außen auf die ‚Praxis‘ als ihr Anderes, sondern sie nutzen Binnendifferenzierungen einer gemeinsam geteilten Welt, um in Perspektivierungspraktiken andere Praktiken in ein neues Licht zu setzen. Die Praxeologie ist in dieser Grundperspektive irreduzibel reflexiv angelegt: Sie strebt keine statische Sicht von einem Nirgendwo aus an, sondern situiert sich, als Praktik unter Praktiken, mitten im Geschehen“ (Schmidt & Volbers 2011: 15, Herv. AQ). Die Ethnographie als „opportunistische und feldspezifische Erkenntnisstrategie“ (Amann & Hirschauer 1997: 20) bietet einer Forschungsanalytik praktischer Subjektivierung ein Repertoire vielfältiger Methoden und Verfahren. Sie bricht mit dem „Ideal der Selbstläufigkeit, das weiterhin die Illusion produziert, wir könnten als Ethnografen eine enthaltsame Vogelperspektive einnehmen“ (Weißköppel 2001: 79), aus der sich der Forscherin das Soziale dann von selbst zeigen würde und unmittelbar beobachten ließe. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass Beobachtbarkeit mit feldadäquaten und situativ angepassten Werkzeugen und Hilfsmitteln fortlaufend aktiv hergestellt werden muss (vgl. Scheffer 2002: 362). Aus dieser Haltung folgt, dass sich die Forscherin nicht von vornherein auf eine Methode festlegt, sondern ihre Methoden, d.h. ihre Praktiken der Beobachtbarmachung im Pro-
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zess des ständigen Hin- und Herlavierens zwischen Empirie und Theorie (ebd.: 366) in einer auf die Forschungspraxis flexibel reagierenden Weise beweglich und anpassungsfähig hält. Die teilnehmende Beobachtung hat sich, unter Einbeziehung von Befragungen im Sinne von Beobachtungshilfen im Forschungsprozess als besonders geeignet für eine praxeologische Analyse von Subjektivierungsprozessen erwiesen, da aus dieser Forschungsperspektive kontingente wie regelmäßige praktische Vollzüge in ihrer szenischen Einbettung, d.h. in ihrer konkreten Situiertheit, in den Blick genommen werden können. Darüber hinaus wurde bereits deutlich, wie sich diese Forschungsansätze mit diskurs- und dispositivanalytischen Perspektiven kombinieren lassen und so das Herausarbeiten von programmatisch präfigurierten Subjektivierungsweisen und Subjektpositionen ermöglichen. Die skizzierte Kombination von Methoden wurde somit nicht vorab festgelegt, sondern entstand im Prozess des Arbeitens am Gegenstand. Damit verbunden ist die Überzeugung, dass in einer multiperspektivischen Forschungspraxis die Kontextualisierung des Gegenstands zu variieren, dieser also auf unterschiedliche Weise in Szene zu setzen ist. Erst auf diese Weise entsteht besagte Schmetterlingsperspektive (vgl. Kapitel 2.2.3), die den in die situierte Praxis involvierten Teilnehmerinnen ebenso Rechnung trägt wie der historischen Gewordenheit und transsituativen Qualität der sich in Körpern, Objekten und Räumen ‚abspeichernden‘ Praktiken der Subjektivierung. 2.3.1 Warum Praxeographie statt Ethnographie? Anstelle des Begriffs der Ethnographie habe ich mich in der Entwicklung dieses Forschungsprojekts für die Bezeichnung Praxeographie entschieden. Ausschlaggebend hierfür waren Gründe, die sowohl mit der praxeologischen Ausrichtung der Studie als auch der Besonderheit eines migrationswissenschaftlichen Forschungsfeldes zusammenhängen. Folgt man Niewöhner et al. bezeichnet die Praxeographie „ähnlich der Ethnographie, verschiedene Formen der teilnehmend beobachtenden Verfahren, [sie] ruht allerdings auf einem deutlich anderen theoretischen Fundament. Sie geht davon aus, dass soziale Phänomene, z. B. Menschen, Dinge oder Diskurse, sich nicht durch ein stabiles, ihnen innewohnendes, quasi essentielles Wesen auszeichnen, das dann in sozialer Praxis interagiert, sondern dass Phänomene immer nur so sind, wie sie in einer spezifischen Praxis gemacht werden.“ (Niewöhner et al. 2012: 21).85 Mit dieser Begriffswahl verbindet sich somit eine Absetzbewegung von der Vorstellung ‚immer schon‘ vorhandener, homogen verfasster Entitäten im Allgemeinen und von Ethnien als ontologischen, in ihrer ‚Beschaffenheit‘ zu ‚enträtselnden‘ Größen im Besonderen. Mir ist wohl bewusst, dass diese
85 Ähnlich argumentiert Robert Schmidt (2012: 49, Fn. 71).
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Auffassung inzwischen auch in weiten Teilen der heutigen Ethnographie und kritischen Ethnologie geteilt wird. Zutreffend ist aber auch, dass Ethnien, insbesondere im Feld der Migrationsforschung, nicht bloß als Zuschreibungskategorien untersucht werden, sondern bisweilen immer noch mittels essentialisierender Verfahren durch dieses Feld selbst mithervorgebracht werden (vgl. Teil 1). Mir erscheint es schon daher notwendig, begrifflich deutlich zu machen, dass nicht vorab (ethnisch, national oder kulturell) definierte Gruppen den Ausgangspunkt der Analyse bilden, sondern soziale Praktiken, in denen Menschen erst zu Mitgliedern solcher Gruppen gemacht werden. Die Neuakzentuierung über den Begriff der Praxeographie würde allerdings ihren Zweck verfehlen, wenn nun „subjektlose Praktiken“ (Alkemeyer 2013: 47) ihrerseits in derselben Manier wie vormals Ethnien reifiziert würden. Stattdessen sind Praktiken und Subjekte im Rahmen der in dieser Arbeit entwickelten Forschungsanalytik als aufeinander verwiesen zu denken: Praktiken müssen von Subjekten als solche im Vollzug erkannt werden, so dass letztere sich überhaupt zu Betreibern von Praktiken machen und die „Situationspotentiale“ (Jullien 1998) der Praxis, in einer die Praktik möglicherweise transformierenden Weise, ergreifen können. Weder für den Praktiker noch für die Forscherin lassen sich Praktiken dabei als quasi ontologische Einheiten unmittelbar beobachten. Beide partizipieren zwangsläufig an Szenen und deuten diese mittels ihres szenischen Verstehens. Die Praxeographin vollzieht diesen Schritt im Unterschied zum Praktiker explizit und in verschriftlichter Form. Auf diese Weise stellt sie nicht nur im Feld Beobachtbarkeit her, sie exponiert darüber hinaus sich selbst mit ihren Deutungen vor einem wissenschaftlichen Publikum. Angesprochen sind damit die beiden Aspekte, um die es mir im Folgenden geht: Zum einen soll nachvollziehbar gemacht werden, wie die praxeographische Forschungsstrategie im Rahmen dieser Arbeit entwickelt wurde. Zum anderen möchte ich beleuchten, wie diese Forschungsstrategie in der handwerklichen Ausübung gleichsam zu einer Subjektivierungstechnik wird, durch die ein spezifisches Forschersubjekt hervorgebracht wird. 2.3.2 Feldspezifische Entfremdungsstrategien In der Kontrastierung von Ethnographie und Praxeographie deutete sich bereits ein wesentliches Merkmal dieser Forschungsrichtung an. In ethnographischer Tradition zeichnet sich die Praxeographie dadurch aus, „kulturwissenschaftliches Erkennen mit Hilfe einer Unterscheidung des Fremden vom Vertrauten [zu] organisieren“ (Hirschauer 2010: 212). In der geschichtlichen Entwicklung der Ethnographie haben sich allerdings die dabei vorausgesetzten Konzepte des Fremden wie die der Kultur grundlegend verändert. Kurz gefasst entwickelte sich Fremdheit von einem
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spezifischen Forschungsgegenstand mehr und mehr zu einer Forschungsperspektive. Dem Modellgeber der heutigen Ethno- bzw. Praxeographie, der ethnologischen Kulturanalyse, ging es mittels Analyse von Sprache, Sitten und Gebräuchen der als fremd definierten Kulturen in erster Linie um ein „Verstehen des Fremden“ (vgl. ebd.: 212), indem man sich ein Bild von seiner Sicht auf seine Welt machte. Ziel war es also sozusagen, sich die Fremdheit des Fremden vertraut zu machen.86 Die soziologische Tradition der Chicago School hingegen war auf die „Exploration von Sonderwelten“ (ebd.: 214) in der eigenen Gesellschaft ausgerichtet. Ethnisch differenzierte Stadtviertel, deviante Gruppen und Lebensstile dienten einer Entdeckung des Fremden im Eigenen. Hierbei stand nun weniger ein nachvollziehendes Fremdverstehen im Vordergrund als vielmehr die methodische Behandlung solcher Subkulturen als fremde Kulturen. Die gegenwärtige „Ethnografie als Soziologie des Alltäglichen“ (Hirschauer 2010: 216) bedient sich einer ähnlichen Verfahrensweise, widmet sich aber nicht dem Erkunden von Sonderwelten, sondern Bereichen der Alltagserfahrung. Sie hat es folglich mit allzu vertrauten Forschungsgegenständen zu tun, die sie mittels methodischer Befremdungsstrategien so betrachtet, als seien sie fremd. Auf diese Weise soll eine „Fremdheit gegenüber dem Eigenen“ (Hummrich 2006: 300, Herv. AQ) hergestellt werden, um den „Mangel an Fremdheit“ (Hirschauer 2010: 210) von alltäglichen, habituell eingewöhnten praktischen Vollzügen auszugleichen. Doch wie ist die Frage der Fremdheit in einem Feld wie der Migrationsforschung und insbesondere in einer Arbeit, deren Erkenntnisinteresse gerade auf die Frage gerichtet ist, wie Andere zu Fremden gemacht werden bzw. wie sie sich selbst dazu machen, zu handhaben? Nach dem bisher Gesagten ist zunächst einmal festzuhalten, dass Fremdheit als Perspektive „in der Migrationsforschung insofern berücksichtigt werden und als konstitutives Moment Eingang finden [muss], als dies in jedem Forschungsprozess der Fall sein muss.“ (Hummrich 2006: 307, Herv. AQ). Denken wir an die Bestandsaufnahmen zum Subjekt der Migrationsforschung, so muss aber darüber hinaus gefragt werden, ob wir es in diesem Forschungsfeld – sowohl was die Beschreibungssprachen der Forschenden als auch die Selbstthematisierungen ihrer Forschungssubjekte angeht – nicht immer wieder auch mit Relikten einer vergegenständlichten Fremdheit zu tun haben, die es methodisch in den Griff zu bekommen gilt.
86 Geradezu exemplarisch finden sich in dieser Perspektive die von Waldenfels herausgestellten phänomenologischen Merkmale des Fremden wieder (vgl. Kapitel 2.2.3): Der Fremde wird an einem entlegenen Ort lokalisiert und Fremdheit am Besitz besonderer Sprachen und Gebräuche festgemacht, die es mittels eines entsprechenden Wissenserwerbs zu verstehen lernen gilt.
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Hirschauer hat diese Problematik eines die Fremdheit festschreibenden Othering von Migranten im Blick (Hirschauer 2010: 223), doch gleichzeitig schlägt er vor, sich auf die „Weltsicht von Marginalisierten“ einzulassen, denn: „Wer sieht, was Marginalisierte [hier: Menschen mit Behinderungen oder Transsexuelle] sehen, sieht schon viel mehr, als ein durch seine ‚Normalität‘ verwöhnter Mensch zur Kenntnis nimmt.“ (Ebd.: 224) Aus einer Haltung heraus, die Fremdheit als eine allgemeine Optik begreift und das eigene Befremden methodisch provoziert, kann Fremdheit jedoch gerade nicht mehr an einen gesellschaftlichen Status der Marginalisierung zurückgebunden werden. Die marginalisierenden Fremdheitserfahrungen, in denen sich – dies soll hier keinesfalls dethematisiert werden – Migranten in empirisch zu untersuchenden Kontexten vielfach bilden, sind vielmehr klar von einer befremdenden Forschungsperspektive zu unterscheiden, um nicht Gefahr zu laufen, von vornherein selbst ein kollektives Migrantensubjekt mit einem homogenen Erfahrungshaushalt zu konstituieren. Um Fremdheit forschungsstrategisch, d.h. im Sinne einer verfremdenden Perspektive nutzbar zu machen, aber ontologisch eine Verflüssigung statt eine Festschreibung von Fremdheit zu betreiben, darf also eine „Besonderung von Lebenslagen auf Grund kollektiver sozialer Lagen (so auch auf Grund von Migration)“ (Hummrich 2006: 308) nicht a priori angenommen und auf ihr, ebenso vorausgesetztes, besonderes Irritationspotential hin befragt werden, vielmehr muss auch sie durch systematische Befremdung gerade hinterfragt werden. Die Praxeographin steht damit in der Migrationsforschung vor der Herausforderung, forschungsfeldspezifische Verfremdungsstrategien zu entwickeln. Um eine perspektivische Fremdheit auch und gerade für die Migrationsforschung fruchtbar zu machen, hat sie Vertrautes zu befremden. In diesem Feld vertraut können dabei auch die Zuschreibungen von (exkludierender) Fremdheit gegenüber Migranten sein sowie deren auf Fremdheit bzw. Marginalisierung rekurrierende Selbstthematisierungen. Diese ontologischen (Selbst-)Verfremdungen von Migranten gilt es, beobachtbar und mittels methodischer Verfremdung unvertraut zu machen. Insbesondere müssen dabei die eigenen, allzu vertrauten Fremdheitszuschreibungen immer wieder reflexiv eingeholt und perspektivisch fremd gemacht werden.87 Daraus folgt, dass Menschen, die zu Migranten gemacht werden und sich selbst dazu machen
87 Um dies zu erreichen, habe ich wiederholt auf zwei Techniken zurückgegriffen: Zum einen legte ich mir kurzzeitig selbst einen ‚Migrationshintergrund‘ zu, um herauszufinden, ob und inwiefern sich daraus möglicherweise für die Bearbeitung von Aufgaben in der Lotsenausbildung Unterschiede ergeben. Zum anderen vergab ich an die Teilnehmer gelegentlich in meinen Feldnotizen in Deutschland verbreitete bzw. ungewohnte, ‚ausländisch‘ klingende Namen und überprüfte vor diesem Hintergrund, ob meine Mitschriften und interpretierenden Randbemerkungen damit einen anderen Sinn erhielten.
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nicht a priori als „Fremde in der eigenen Kultur“ betrachtet werden, die qua einer ‚natürlichen‘ Außenseiterposition voraussetzungslos als „Beobachtungsexperten für Normalität“ (Hirschauer 2010: 221) fungieren. Wem in welcher Weise ein besonderes Potential zukommt, die „Normaldistanz zu den Dingen“ (ebd.) zu verändern, kann sich vielmehr erst empirisch erweisen. Folglich besteht der, ohnehin kaum einlösbar erscheinende, Anspruch in einer solchen Perspektive nicht darin, zu sehen, „was [immer schon] Marginalisierte sehen“ (ebd.: 224), sondern darin, mittels einer Rekonstruktion von Teilnehmerperspektiven zu beleuchten, wie sich Menschen in situativen Selbstbeschreibungen zu Marginalisierten machen sowie aus der Beobachterperspektive zu beleuchten, wie Menschen über verschiedene Situationen hinweg lernen, sich als Marginalisierte zu sehen. 2.3.3 Teilnahme, Distanzierung, Selektivität. Vom doing und making observation zum being observer Die teilnehmende Beobachtung „ist angesiedelt zwischen den beiden Polen der Teilnahme und der Beobachtung, die in einem deutlichen Spannungsverhältnis stehen: Wer vollständig teilnimmt, kann nicht mehr beobachten (denn er muss allen Erfordernissen der Teilnahme nachkommen). Wer nur beobachtet ohne teilzunehmen, dem fehlt die eigene Erfahrung mit der zu beforschenden Kultur, die ein entscheidendes Erkenntnispotenzial ethnographischer Forschung darstellt“ (Breidenstein 2006: 21). Ein Geschehen teilnehmend zu beobachten heißt also zunächst einmal, eine Erfahrung zu machen und sich den Kontingenzen dieser Erfahrung auszusetzen (vgl. Amann & Hirschauer 1997: 20f.). In szenischer Perspektive folgt die teilnehmende Beobachterin nicht einer Erzählung bzw. Aufführung, sondern sie lässt sich zunächst darauf ein, eine Szene mitzuerleben und sich von ihr involvieren zu lassen.88 Bei diesem doing observation geht es um ein Sehen, Hören, Riechen, Ertasten des beobachteten Geschehens, das sich unwillkürlich in der Praxis ergibt und den Forschungsgegenstand emergieren lässt, ehe dieser im methodisch reflek-
88 Diese Involviertheit endet nicht sofort mit dem Austritt aus einer Szene; sie lässt sich nach Beendigung eines Feldaufenthalts nicht einfach ‚abstreifen‘. Da die gesamte Körpersensorik im Feld bis zum Anschlag hochgefahren wird, bedurfte es im Rahmen dieser Forschungsarbeit häufig einiger Zeit und räumlicher Distanz, um von dem hochtourigen praxeographischen Beobachtermodus einer Forscherin in einen gemäßigteren Alltagsbeobachtermodus zu wechseln. Erst allmählich regulierten sich die Sinne herunter, so dass mich Bewegungen, Gesten und Sprechakte bspw. von Wartenden an einer Bushaltestelle oder Zugmitfahrern nicht mehr in eine übermäßige Aufnahmebereitschaft versetzten.
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tierten Umgang Kontur und Überprüfbarkeit gewinnen kann (vgl. Müller 2013: 201).89 Diese sinnlich-somatische Beobachtungserfahrung geht damit einher, dass sich die Forscherin spontan gefangen nehmen lässt und gleichsam exponiert. Goffman (1989: 125) bringt diese Anforderung auf den Punkt, wenn er die teilnehmende Beobachtung wie folgt beschreibt: „a technique [...] of getting data [...] by subjecting yourself, your own body and your own personality, and your own social situation, to the set of contingencies that play upon a set of individuals, so that you can physically and ecologically penetrate their circle of response to their social situation, or their work situation, or their ethnic situation, or whatever.“ Indem eine teilnehmende Beobachterin sich selbst, oder: ihr Selbst, als einen „personalen Aufzeichnungsapparat“ (Amann & Hirschauer 1997: 25) dem Geschehen aussetzt (subjecting yourself), bringt sie nicht bloß eine Subjektivität ein, die es sodann methodisch zu kontrollieren gilt. Vielmehr durchläuft sie in der Forschungspraxis selbst einen Subjektivierungsprozess. Das doing observation lässt sich also nicht von einem being observer trennen: Die Beobachterin bringt sich im performativen Vollzug ihrer Forschungspraktiken selbst als solche hervor, indem sie ihre Sinne fortlaufend auf die Beobachtung trainiert, den Gebrauch von praxeographischem Handwerkszeug einübt, in ihrem Untersuchungsfeld als beobachtende Teilnehmerin intelligibel wird und ein entsprechendes Selbstverhältnis ausbildet. Erkannt werden Praxeographen im Feld vor allem daran, dass sie im Vollzug ihrer Forschungspraktiken sowohl räumlich und zeitlich als auch hinsichtlich ihrer mentalen und affektiven Ausrichtungen oft eine Art Zwischenposition einnehmen. Mit Schatzki lassen sich diese auf andere gerichteten Gedanken, Vorstellungen, Absichten und Emotionen und damit verbundene Zwischenpositionierungen als intentionale Relationen beschreiben, welche sich aus dem Gewebe der situierten Forschungsanordnung und der darin vollzogenen Forschungspraktiken ergeben. Praxeographen heben sich durch exzessives Mitschreiben heraus und suchen sich zumeist gute Beobachtungsplätze auf den hinteren Rängen, tauchen gelegentlich aber auch mitten ins vordergründige Geschehen ein. Ihre Aufenthalte im Feld sind langwieriger als es bspw. in der Interviewforschung der Fall ist, doch stets zeitlich begrenzt. Sie versuchen, von den Teilnehmenden akzeptiert und aufgenommen zu werden, geben die eigene Person als Instrument ungeschützt ein und „heiligen den Kontext durch ihr (demütiges) Bemühen um Eintritt in diesen Kontext oder in eine seiner Gruppen und ihren Respekt vor dessen Regeln“ (Bühler-Niederberger 2010: 269). Gleichzeitig ziehen sie sich aus diesen Gruppen immer wieder räumlich und durch ihr Beobachten und Schreiben zurück.
89 Müller (2013) beschreibt dies als „gefühlte Erkenntnis“. In Kapitel 3.2.4.2 werde ich auf diesen Ansatz zurückkommen.
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Sie oszillieren somit zwischen der Exposition vor den Teilnehmenden durch ihr beobachtendes Tun und ihr Thematisieren der eigenen Beobachterrolle auf der einen und dem Unauffälligwerden in der praktischen Teilnahme auf der anderen Seite. Die Forscherin hat sich jedoch nicht nur für die Teilnehmer im untersuchten Feld, sondern ebenso für ihre Kollegen als Wissenschaftlerin, hier als praxeologisch-poststrukturalistisch arbeitende Soziologin, intelligibel zu machen. Ihr doing observation richtet sich somit nicht nur nach den spezifischen Anforderungsprofilen von Forschungspraktiken und „untergründige[n] libidinöse[n] Orientierungen“ (Reckwitz 2010b: 179), die sich mit dem praxeographischen Forschungsstil verbinden. Es ist darüber hinaus auch mit (fach-)wissenschaftlichen sites verbunden, aus denen Erwartungen resultieren und in denen die Forscherin bestimmte Vorverständnisse erworben und Wahrnehmungsschemata eintrainiert hat. Für die Beobachtbarkeit des Sozialen ergeben sich aus dem being observer/ sociologist spezifische Grenzen. Das doing observation einer Praxeographin muss schon deshalb selektiv sein, weil die Aufnahme- und Verarbeitungskapazitäten des Körpersensoriums endlich sind. Darüber hinaus entscheidet ihre Position in einer räumlich-materiellen Anordnung mit darüber, was sie überhaupt akustisch, visuell, sensitiv und haptisch wahrnehmen kann. Ebenso setzt ihr ihre soziale Position, z.B. die interaktiv hervorgebrachte Position einer Einheimischen wie auch ihre Positionierung in der wissenschaftlichen community, spezifische Beobachtungsgrenzen. In szenischer Perspektive ist auch die Forscherin stets partizipativ in die von ihr entworfene und beobachtbar gemachte Szenerie eingebettet. Auch ihr szenisches Verstehen macht sie nicht nur für manches mehr, für manches weniger affizierbar und für einige Teilnehmer leichter adressierbar als für andere, sondern hat auch Anteil daran, wie sie einen Forschungsgegenstand, etwa eine Praktik, konstruiert. Für ihre Praxeographie bedeutet dies, „dass sie selbst immer notwendig Teil der Praxis [bzw. der Szene] ist, in der das zu untersuchende Phänomen produziert wird“ (Niewöhner et al. 2012: 21). Entsprechend gehen auch von der Forscherin bewusste und oftmals vorbewusste Adressierungen an die Beforschten aus. Letztere beobachten ihre Äußerungen und deren Intonationen, ihr mimisches Spiel, ihre Bewegungen und Gesten, werten diese unter Einbeziehung von phänotypischen und weiteren Merkmalen, wie Kleidung oder Forschungsequipment, sowie anhand von Informationen über die soziale, professionelle und nationale Herkunft aus und machen sich auf diese Weise ein Bild von der Beobachterin und ihrer sozialen Position, welches die möglichen Relationen zwischen Forscherin und Beforschten in der site der Forschung präfiguriert. Die Herausforderung der Praxeographin besteht darin, diese dynamischen Mechanismen „zu erkennen und zu kontrollieren, und dies eben genau in der Ausübung einer Praxis, die reflektiert und methodisch sein kann, ohne die Anwendung einer Methode oder die praktische Umsetzung einer theoretischen Reflexion zu
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sein“ (Bourdieu 2010c: 394). Statt solche Dynamiken als Störungen oder, wie Bourdieu, als „Verzerrungen“ (ebd.), zu begreifen, was letztlich die Herstellbarkeit eines entzerrten, bereinigten und stillgestellten Bildes impliziert, können diese jedoch analytisch fruchtbar gemacht werden, da sie Hinweise auf die Multiperspektivität der Praxis geben. So können Positionierungs- bzw. „Selektionsleistungen“ (Breidenstein 2006: 23) selbst beobachtet und der Forschung reflexiv zugänglich gemacht werden: Warum wähle ich diesen oder jenen Platz? Warum wandert mein Blick immer wieder dorthin, warum erfährt dieses und nicht jenes häufiger meine Aufmerksamkeit? Wer adressiert mich in welchen Zusammenhängen in welcher Weise? usw. Die zentrale, „im Sinne eines mitlaufenden Monitorings“ (Wolff 2008: 250) angestellte Überlegung „Was macht die Beobachtung mit der Situation?“ (Scheffer 2002: 355) erschöpft sich damit nicht in der Beantwortung der Frage: Was macht meine Beobachtung mit der Situation? Vielmehr transformiert auch die Beobachtung zweiter Ordnung die Situation. Die Frage muss somit ebenso lauten: Was macht die Beobachtung meiner Beobachtung mit meiner Beobachtung der Situation? Und nicht zuletzt: Was macht die Beobachtung mit mir, das dann wiederum in die Beobachtung rückkoppelt.90 In der praxeographischen Forschung kann es also ebenso wenig um eine holistische Beobachtung wie darum gehen, ‚nur‘ zu beschreiben und Interpretationen zu vermeiden. Vielmehr kommt es darauf an, die eigenen Deutungen und Zuschreibungen an das dynamische Spiel von Interaktionen zwischen Forscherin und Beforschten rückzubinden und der Forschung reflexiv zugänglich zu machen. Auch Deutungen werden damit als Interpretationsleistungen begriffen, mittels derer sich etwas über die spezifische Interpretativität einer Situation lernen lässt (vgl. Breidenstein 2006: 23). Die teilnehmende Beobachtung hat einen beständigen Balanceakt des angemessenen Austarierens von Nähe, als Voraussetzung für das Machen einer Erfahrung und Entfernung, als Voraussetzung für ein Kontrollieren dieser Erfahrung zu leisten.91 Um den Teilnahme- und Distanzierungsanforderungen gleichermaßen gerecht zu werden, bedarf es der „Entfaltung einer Differenz zwischen Teilnehmer- und
90 Ethnopsychoanalytisch formuliert geht es somit um die Reflexion und analytische Nutzbarmachung von Prozessen der Übertragung und Gegenübertragung (vgl. Nadig 2000). 91 Diese Herausforderung eines möglichst adäquaten Austarierens von Nähe und Distanz, welches verstehende Explikation bzw. nachvollziehendes Verstehen erlaubt, betrifft Interviewsituationen freilich in ganz ähnlicher Weise: „Jede Befragung befindet sich also irgendwo zwischen zwei sicherlich nie erreichten Extremen: der totalen Übereinstimmung zwischen dem Interviewer und Befragtem einerseits – ein Fall, in dem dann nichts mehr gesagt werden könnte, weil nichts mehr in Frage gestellt würde und damit alles selbstverständlich wäre – und der totalen Divergenz andererseits, also dem Fall, in dem Verstehen und Vertrauen unmöglich wird“ (Bourdieu 2010c: 397, Fn. 4).
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Beobachterverstehen“, die eine Neubeschreibung des Forschungsfeldes ermöglicht, welche sich von jener der übrigen Teilnehmer abhebt, da sie die im Laufe des Beobachtungsprozesses explizierte Logik der Praxis zwar aufnimmt, aber nicht in ihr aufgeht (vgl. Amann & Hirschauer 1997: 24). In einer solchen Perspektive wird weder von einem erhabenen, von apriorischen Annahmen gesättigten theoretischen Standpunkt auf die Praxis geblickt, noch löst sich die Theorie in einer Art ‚Praxishörigkeit‘ auf. Vielmehr gilt es, die Unterscheidung zwischen theoretisierender Beschreibung und erfahrener Praxis einer „kühl arrangierte[n] Dramatisierung und Präzisierung“ (Wolff 2008: 254) zu unterziehen und auf diese Weise strategisch nutzbar zu machen. „Praxissensibilität ist – so ließe sich formulieren – nur durch sorgsam kultivierte methodische und theoretische Praxisferne zu erreichen.“ (ebd.: 254). Das reflexive Einholen der eigenen Involviertheit in das Positionierungsgeschehen und die Adressierungsdynamiken im Feld bildet die Voraussetzung für die Herstellung und Aufrechterhaltung einer solchen „gepflegten Differenz“ (ebd.: 237), welche es erst erlaubt, situativ und feldspezifisch geeignete Strategien zur Herstellung einer Varianz von Beobachtungsweisen und Beobachtungspositionen auszuwählen. Das doing observation wird mittels solcher Verfahren immer wieder von einem making observation flankiert. Im Gegensatz zur Beobachtungspraxis als kontingenter Erfahrung geht es hierbei um Praktiken der Herstellung, der Fabrikation von Beobachtbarkeit. Insofern ließe sich die praxeographische Forschung als eine Subjektivierungs-Technik im doppelten Sinne beschreiben 92 : Die Praxeographin eignet sich ein Handwerk an, das es ihr ermöglicht – und abverlangt – , sich auf eine spezifische Weise in ein Verhältnis zur erforschten Welt und damit gleichsam zu sich selbst zu setzen. Wie das praxeographische Handwerk im Rahmen dieses Forschungsprojektes konkret ein- und ausgeübt und somit Beobachtbarkeit hergestellt wurde, soll im Folgenden reflexiv offengelegt werden. 2.3.4 Die Herstellung von Beobachtbarkeit Jede praxeographische Studie beginnt mit ersten Sondierungen. Dabei geht es nicht nur darum, einen Weg zu finden, wie man sich einer – bewusst weit gefassten – Forschungsfrage annähern könnte, sondern vor allem auch um die Frage, wo sich
92 Unter Technik verstehe ich mit Alkemeyer und Michaeler (2013: 220, Fn. 23) „ein Arsenal weitgehend feststehender Handlungsabläufe und Vorgehensweisen, mit deren Hilfe ein spezifischer Zweck [...] im Kontext einer Praktik verfolgt wird. Techniken können in diesem Sinne als Partizipanden in einer Praktik aufgerufen, vollzogen und aufgeführt werden; sie erhalten ihren Sinn – wie Schatzkis ‚doings‘ und ‚sayings‘ – allein in diesem praktischen Kontext.“
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ein geeigneter Ort zum ‚Ansetzen‘ finden lässt. Das Forschungsfeld ‚Integrationslotsen‘ wird nicht einfach vorgefunden, vielmehr wird es mittels fortlaufender Erkundungsgänge, Such- und Tastbewegungen von der Forscherin selbst konstruiert, bevor es durch geeignete Beobachtungsstrategien handhabbar gemacht werden kann. Zu diesen Bewegungen gehört es, sich explorativ an mögliche Forschungsorte zu begeben, sie auf ihre Relationen und Relevanzen hin zu befragen, um das Feld in seiner Ordnung, seiner „Sozio-Logik“ (Amann & Hirschauer 1997: 20) abzustecken. Solche Konturierungen sind zunächst provisorisch, denn mit jedem Einbezug neuer Forschungsorte können sich die Ränder der Forschungsfeldes verschieben und andere Beziehungsgeflechte in den Fokus geraten. Zur Wahl von Forschungsorten Um der Frage nach der Selbst-Bildung angehender Integrationslotsen im engeren Sinne nachzugehen, habe ich zunächst einen zweimonatigen Basislehrgang für Integrationslotsen im Sinne eines zentralen Bildungsortes aufgesucht. Verbunden war damit die Erwartung, dass die Ausbildung in besonderer Weise vermitteln würde, was es heißt, Integrationslotse zu sein. Wie sich im Laufe der Forschung zeigte, war dies aus der Perspektive der Lotsenanwärter nur bedingt der Fall; diesen erschien das hier vermittelte Wissen oftmals zu „theorielastig“ und zu wenig „praxisbezogen“. Meine Erwartungen hingegen, die an der Frage nach dem wechselseitigen Konstitutionsverhältnis von Bildungsarbeit an den Lotsen und deren Selbstbildung und damit zunächst stärker am Prozess der Gewinnung von ‚Handlungsanleitungen‘ als an den handlungsanleitenden Ergebnissen selbst ausgerichtet war, wurden von der Vielfalt von Wissensformen und vor allem von den Arten und Weisen, wie sie in der Lotsenausbildung fabriziert und trainiert wurden, durchaus übertroffen. Und gleichzeitig hatte ich nach diesem ersten Ausbildungsdurchgang bei weitem mehr Fragen als Antworten, so dass ich dieses Lehrgangsformat noch ein zweites Mal durchlief. Um einen, möglicherweise auch kontrastierenden, Vergleich herzustellen, besuchte ich parallel zu diesem zweiten Basislehrgang zwei weitere Qualifizierungskurse, je einen für Eltern- bzw. Hochschullotsen. Zentrale Forschungsorte waren im Zeitraum von März 2011 bis April 2012 somit vier auf mehrere Städte verteilte Ausbildungslehrgänge, die in einer Volkshochschule (Integrationslotsen), einer Universität (Hochschullotsen) sowie einem Seminarraum eines Trägers der „interkulturellen Gemeinwesenarbeit“ (Elternlotsen) abgehalten wurden.93
93 Da sich im Laufe der Untersuchung herauskristallisierte, dass sich die jeweiligen Ausbildungsformate zwar mitunter bei der Anwerbung neuer Lotsenkandidaten, aber weniger in ihren Ausbildungspraktiken unterscheiden und insofern keinen kontrastierenden Vergleich zulassen, verweise ich in den empirischen Analysen im dritten Teil dieser Arbeit
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Berichte aus der Lotsenpraxis, in denen über die eigene Tätigkeit reflektiert und Probleme besprochen werden, lieferten neben den Lotsenkursen selbst zahlreiche Austauschtreffen im Rahmen von Nachhaltigkeitsmodulen, die nach Abschluss der jeweiligen Lehrgänge meist monatlich stattfanden. Da diese Treffen nicht zuletzt dazu dienen, die Projektkoordinatoren der einzelnen Träger auf dem Laufenden zu halten, boten sie eine gute Möglichkeit, das Übergreifen des Ausbildungsprogramms in die Lotsenpraxis im Wege der Nachsorge und Supervision zu erkunden (vgl. Kapitel 3.2.1, 3.3.3). Um der Frage nachzugehen, wie sich Integrationslotsen in der konkreten Praxis bilden und wie dabei Bezüge zu dem Wissen der Ausbildungspraktiken hergestellt werden, besuchte ich von August 2011 bis September 2012 regelmäßig die einmal wöchentlich stattfindenden „Sprechstunden“ (Feldbegriff) eines Integrationslotsenvereins mit Sitz in einer weiteren Stadt. Zunächst waren hierfür forschungspraktische Gründe ausschlaggebend, da sich die Beobachtung einzelner Lotsen bei ihren Begleitpraktiken nicht nur organisatorisch, sondern auch aus datenschutzrechtlichen Gründen als schwierig erwies. Bald kristallisierten sich die Vereinssprechstunden jedoch als ein besonders ertragreiches Forschungsfeld heraus, weil sich dort nicht nur ganz unterschiedliche Praktiken des Lotsen(s), sondern ebenso ko-konstitutive Prozesse der Subjektivierung und Institutionalisierung analysieren ließen. Feldzugänge Die Erstzugänge zum Feld waren insgesamt problemlos herzustellen. Im Fall der Lehrgänge ergaben sie sich aus persönlich, beruflich oder aus meiner ehrenamtlichen Tätigkeit in einem entwicklungspolitischen Netzwerk entstandenen Kontakten zu den jeweiligen Projektkoordinatorinnen, mit denen ich mich telefonisch oder per Email in Verbindung setzte, um mein Anliegen zu schildern und mich zu einem Vorgespräch zu verabreden. Zum Teil fügte ich meiner Anfrage eine kurze, schriftliche Skizze meines Vorhabens bei. Die Genehmigung zur teilnehmenden Beobachtung erhielt ich erst dann, wenn die gesamte Leitung wie auch die Teilnehmer sich damit einverstanden erklärt hatten. In den meisten Fällen begegneten mir die Projektbeteiligten überaus offen und an meiner Arbeit interessiert. Mein Status als Wissenschaftlerin wurde dabei zum entscheidenden „Aufenthaltstitel“ (Scheffer 2001: 25). Wie sich recht schnell zeigte, verbanden sich mit den jeweiligen objektiven Positionen im Rahmen des Lotsenprojekts allerdings ganz unterschiedliche Perspektiven und Erwartungen an meinen Aufenthalt. Die Bereitschaft der Kursteilnehmer, meine Arbeit zu unterstützen, wurde neben einem vagen Bezug auf die „Wichtig-
nur dort auf das jeweilige Format, wo sich Besonderheiten und Kontraste gegenüber den jeweils anderen markieren lassen.
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keit des Themas“ häufig damit begründet, dass es „ja auch schön“ sei, „in so eine Arbeit einzugehen“ und so gewissermaßen ein verschriftlichter ‚Teil‘ eines Forschungsprojektes zu werden. Die Projektkoordinatoren verbanden mit meiner Anwesenheit hingegen in aller Regel die Hoffnung auf eine ‚wissenschaftlich fundierte‘ Reflexion oder gar Evaluation ihrer Projekte. So äußerte eine Projektkoordinatorin, dass sie sich freuen würde, wenn ich als Wissenschaftlerin den Lehrgang „kritisch begleiten“ und „später an einem kleinen Kreis zur gemeinsamen Reflexion“ teilhaben könne. Eine weitere Koordinatorin gab an, dass sie ihr Projekt „ohnehin immer schon mal evaluieren lassen“ wollte. Um solche Erwartungen zu dämpfen, unterstrich ich mehrfach, dass es mir nicht um eine Bewertung der Projekte gehe. Im weiteren Forschungsverlauf zeigte sich jedoch, dass sich trotz wiederholter Erklärungsversuche kaum etwas an dieser Erwartungshaltung änderte. Vielmehr wurde ich in einigen Fällen weiterhin ‚hartnäckig‘ als Projektevaluatorin adressiert. Ebenso beharrliche Versuche meinerseits, mich als eine ‚andere Art‘ von Wissenschaftlerin intelligibel zu machen und die Subjektposition einer Praxeographin glaubhaft zu verkörpern, sorgten in einem Fall für Irritationen und leichte Unstimmigkeiten. „Aber was machen Sie denn nun eigentlich?“ lautete die ratlose Frage, die bei mir wiederum das ungute Gefühl erzeugte, meinen Part einer Art impliziten Abmachung, die ich qua meines ‚Wissenschaftlerinnen-Seins‘ ungewollt eingegangen war, nicht zu erfüllen und gegen unausgesprochene Regeln zu verstoßen. Ähnlich verhielt es sich, als mich ein Projektkoordinator, im „Gegenzug“ für die mir gewährte Unterstützung bei meiner Forschung, als „wissenschaftliche Expertin“ für einen Vortrag über sein Integrationslotsenprojekt gewinnen wollte und dabei auf die Wichtigkeit „öffentlicher Sichtbarkeit“ rekurrierte. Nach meiner Absage, in der ich darauf verwies, dass ich an einem anderen Termin mein Forschungsprojekt durchaus einem interessierten Publikum vorstellen, dabei aber keine Werbung für das Projekt machen könne, ließ er den Kontakt ruhen. Offensichtlich gab es hier ein klares und geradezu unverrückbares Bild von einer Forscherin und den Anforderungsprofilen sozialwissenschaftlicher Praktiken, dem mein doing science nicht entsprach. Hierzu gehörte eine allgemeine Verstehensweise von Wissenschaft als einer positivistischen Veranstaltung, die darauf gerichtet ist, Nachweise zu erbringen und Daten im Sinne eindeutiger Befunde zu produzieren, die zur Erfolgsmessung herangezogen werden können. Deutlich wurde daran, wie zusammen mit den Positionen des Projektkoordinators und der Praxeographin zugleich auch zwei disparate Register der Wissensproduktion im Kontext unterschiedlicher Projektlogiken aufeinandertrafen: Zu den Aufgaben der Projektkoordinatoren gehört es nicht zuletzt, die Qualität ihrer Projekte über bestimmte Verfahrensweisen sicherzustellen und nach außen sichtbar zu machen, um einen Fortgang der Finanzierung sichern und neue Kooperationspartner oder Unterstützer gewinnen zu können. Ein „smartes“ Projekt zeichnet sich
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in der Projektmanagementlehre durch spezifische, messbare, akzeptierte, realistische und terminierte Zielsetzungen aus (vgl. Bernecker & Eckrich 2003: 226). Bei der Zielerreichung haben Projektkoordinatoren einen effizienten Umgang mit Zeit, Kosten und anderen Ressourcen nachzuweisen. Die Zeitlichkeit eines so konzipierten Projectum (lat.: nach vorne geworfen) entfaltet sich als eine Art teleologischnormative Fortschrittsgeschichte entlang spezifischer Sequenzen, die das Projekt auf ein sicheres, eindeutiges und an expliziten und impliziten Vorstellungen darüber, was ‚gut‘ und ‚wünschenswert‘ ist, ausgerichtetes Ziel hin führen. Die Produktion messbarer Ergebnisse, aus denen sich entweder unmittelbar Verbesserungsvorschläge ableiten lassen oder die sich, im besten Falle eines als erfolgreich evaluierten Projektes, als Nachweis erprobter und bewährter best practices für die Öffentlichkeitsarbeit eignen, wird damit nahezu unabdingbar. Der Wunsch des Projektkoordinators nach ‚Bescheinigung‘ einer solchen Projektqualität durch eine ‚unabhängige wissenschaftliche Expertin‘ liegt insofern auf der Hand.94 Wissenschaftliches Wissen steht dem Alltagswissen in dieser Lesart in einem Register der „Überbietung“ (Hirschauer 2010: 211) gegenüber. Es geht um „die methodische Herstellung von besserem, also sichererem, genauerem, geprüftem Wissen“, das „das Alltagswissen in einer großen Ernüchterungsanstrengung“ überwindet (ebd.). Wissenschaftler werden dabei als Experten einsetzt, die Erklärungen bieten und unmittelbar praxisrelevante Handreichungen liefern. Aus der Position einer Praxeographin heraus, verortete ich mich hingegen in einem Projekt, das sich gerichtet und gleichsam offen in eine weitestgehend unbekannte und nur bedingt planbare Zukunft hin entwirft und sich erst im Vollzug einer kontingenten Forschungspraxis zu konstituieren vermag. Ein solcher Zugang bewegt sich in einem anderen Register der Wissensproduktion, denn er „will das Alltagswissen nicht hinter sich lassen und abhängen, er will es vielmehr vor Augen führen (Hirschauer 2010: 211)“, es neu beschreiben und dabei gerade keine hierarchisierende Differenz zwischen Experten und einfältigen Alltagsmenschen produzieren.95 Deutlich wurde mir damit, dass der Feldzugang keineswegs ein einmal zu bewältigender „Schritt“ ist, „den man dann vollzogen hätte, sondern ein komplexer und vielschichtiger Prozess, der vor allem die laufende Gestaltung der Beziehungen zu den beforschten Personen einschließt“ (Breidenstein 2006: 21). Dass die Forschungsbeziehung zu dem Koordinator in dem beschriebenen Fall mit meiner Ab-
94 Im Laufe der Forschung hat sich das große Interesse von Projektkoordinatoren an Evaluierungen noch aus etwas anderen Blickwinkeln gezeigt. Vgl. hierzu Kapitel 3.3.5.4 sowie 3.4.2.2. 95 In Kapitel 3.2 werden wir sehen, wie die Differenz zwischen wissenschaftlichen Experten und Alltagslaien die Ausbildungspraktiken der Lotsen einerseits ausrichtet, doch in der Praxis zugleich immer wieder ‚ausgehebelt‘ wird.
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sage einen jähen Abbruch erfuhr, war bedauerlich, doch zugleich ließ sich dieser Fehlschlag in der ‚Beziehungspflege‘ in einem „Verfahren der Relevanzaufspürung“ (Amann & Hirschauer 1997: 20) analytisch nutzen. Die Dozenten zeigten eine ähnliche Erwartungshaltung wie die Projektkoordinatoren. Die meist explizit formulierte Befürwortung meiner Anwesenheit war dabei allerdings gelegentlich von Nachfragen und körperlichen Regungen begleitet, die ein gewisses Unwohlsein oder gar Besorgnis zum Ausdruck brachten. Diese nicht explizit geäußerten, aber deutlich spürbaren Vorbehalte legten sich jedoch in der Regel recht schnell, wenn ich deutlich machen konnte, dass es mir bei meiner Beobachtung nicht um die Bewertung des Projekts und schon gar nicht um die Beurteilung von Qualifikationen der Dozenten ging. Meistens verlief diese Selbstpositionierung erfolgreicher als im Falle der Projektkoordinatoren. Ein Dozent hingegen, selbst wissenschaftlich tätig, begegnete mir während meines Forschungsaufenthaltes über einen weitaus längeren Zeitraum teils verhalten, teils mit offenkundigem Misstrauen. Zunächst erfolgte sein Einverständnis, mich an dem Kurs teilnehmen zu lassen, überaus zögerlich. Sodann vergewisserte er sich regelmäßig, dass ich die Anonymität der Teilnehmenden gewährleisten werde. Auch gab es seinerseits Versuche, intensivere Kontaktaufnahmen zwischen mir und den anderen Teilnehmenden zu unterbinden und Letztere daran zu hindern, mir bspw. bearbeitetes Lehrmaterial zu zeigen. Wurde ich von den Projektkoordinatoren als aufklärende Expertin in einem positiven Sinne adressiert, setzte man mich hier eher als investigative Forscherin mit dem Negativimage einer ‚Schnüfflerin‘ ein. Im Verlauf des Kurses zeigte sich der Dozent mir gegenüber offener, indem er mir bspw. – allerdings unbearbeitetes – Kursmaterial von sich aus zur Verfügung stellte. Mit der Bereitstellung dieses letztlich unbrauchbaren Datenmaterials, das in dem begleitenden Handbuch zum Lehrgang online offen zugänglich ist, konnte er vor mir und anderen Projektbeteiligten eine gewisse Kooperationsbereitschaft demonstrieren, ohne dabei etwas zu riskieren. In der Herstellung und der fortlaufenden Gestaltung des Zugangs zu dem Verein von Integrationslotsen schließlich, zeigten sich ähnliche Regelmäßigkeiten wie bei den Projektkoordinatoren auf der einen und den Kursteilnehmern auf der anderen Seite. Auch hier wurde meine Forschungsanfrage mit einem „großen Interesse an Kooperation“ und Freude über mein „Interesse an den Integrationslotsen“ beantwortet. Bei zahlreichen Zusammenkünften mit den Lotsen verfestigte sich ein erster Eindruck, dass die große Offenheit mir gegenüber und meine geradezu warmherzige Aufnahme in den Kreis der Vereinsmitglieder zum einen daraus resultierte, dass meine Anwesenheit als Wissenschaftlerin hier vor allem als Zeichen von Wertschätzung angesehen wurde. Zum anderen wurde mit meiner Forschung und der Aussicht, die Arbeit der Lotsen später in „einem Buch dokumentiert“ zu sehen, ebenso eine teils explizit geäußerte Hoffnung auf eine „stärkere öffentliche Sicht-
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barkeit“ verbunden. Meine Hinweise darauf, dass eine namentliche Nennung des Vereins aufgrund der von mir generell zugesicherten Anonymität entgegen stehe und es, davon abgesehen, bis zu meiner Buchpublikation noch ein langer Weg sei, konnten den erwartungsvollen Enthusiasmus der Lotsen nur wenig bremsen. Die Normalisierung der Forscherin In allen Ausbildungskursen zeigten die angehenden Lotsen eine große Offenheit mir gegenüber, akzeptierten mich als ‚normales‘ Kursmitglied und schienen die meiste Zeit zu vergessen, dass ich dort in einer speziellen ‚Mission‘ unterwegs war. Dass die „Normalisierung“ meiner Anwesenheit (vgl. Scheffer 2002: 355f.) sich in der Anordnung des Lehrgangs wie von selbst vollzog, hatte mehrere Gründe: Zunächst einmal kam ich nicht als Neuling in eine schon bestehende, eingespielte Gruppe, sondern die Teilnehmenden lernten sich jeweils mit Kursbeginn neu kennen, so dass es noch keine festen Sitzordnungen gab, in die ich mich hätte einfinden müssen. Ebenso wenig gab es bereits gemeinsam geteilte Erinnerungen an Anekdoten oder gemeinsame Erlebnisse, zu denen ich keinen Zugang gehabt hätte. Die beiden Basislehrgänge waren hinsichtlich Alter, Geschlecht, Herkunft und Profession sehr heterogen zusammengesetzt, so dass ich hier zunächst nicht weiter auffiel. Im Lehrgang der Hochschullotsen verhielt es sich ähnlich, weil sich dieser ausschließlich aus weiblichen Teilnehmerinnen mit einem ‚Universitätshintergrund‘ zusammensetzte. In dem Elternlotsenkurs, der mit Ausnahme eines Mannes ebenfalls ausschließlich aus Frauen bestand, die sich selbst „ausländische Wurzeln“ zuschrieben, wurde ich anfangs immer mal wieder als Französin oder Italienerin adressiert. Mitunter beantwortete ich die Adressierung entsprechend und erhielt so selbst kurzfristig einen Migrationshintergrund, was dazu führte, dass auch im weiteren Kursverlauf immer wieder in Vergessenheit geriet, dass ich, wie es eine Teilnehmerin formulierte, „ja eigentlich eine Deutsche“ bin. Auch mit dem Verfassen von Feldprotokollen fiel ich in den Lehrgängen die meiste Zeit nicht weiter auf, weil sich etliche Teilnehmer Notizen während der Kurse machten. Wenn ich allerdings an manchen Übungen nicht teilnahm, um diese aus einer gewissen Distanz heraus besser beobachten zu können, und dabei mintunter an meiner Schreiberei festhielt, wurde mein ‚schlummernder Exotenstatus‘ wachgerufen und ich wurde von den Anwesenden in einer solchen Anordnung nicht mehr nur als Kurs-Kollegin, Gleichaltrige oder Frau adressiert, sondern nun situativ als ‚Wissenschaftlerin‘ und ‚Deutsche‘ positioniert. Während der theoretischen Unterrichtseinheiten im universitären Rahmen setzten mich die Dozentin wie auch einige Teilnehmer regelmäßig als Expertin für Integrations- und Migrationsfragen ein, während ich in anderen Anordnungen von den Teilnehmerinnen wiederholt als ‚Fachfrau‘ für die deutsche Sprache und Kultur adressiert wurde. So wurde ich um Hilfestellungen bei Formulierungen gebeten und sollte Auskünfte über „typisch
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deutsche“ Gepflogenheiten geben bzw. kursierende Hypothesen über solche nach Möglichkeit verifizieren. In solchen performativ erzeugten Begegnungsräumen der Migration kam ich selbst in die Lage, mich durch widersprüchliche Adressierungen lavieren und ‚entscheiden‘ zu müssen, wie ich diese beantworte. Dieser Balanceakt lief in der Situation selten bewusst ab, vielmehr hing meine ‚Entscheidung‘ oftmals von allgemeinen Verstehensweisen der Unterrichtspraxis ab. So gab ich bspw. Hilfestellungen zu deutschen Fachwörtern, weil ‚man seinen Sitznachbarn im Unterricht eben hilft‘. Dies brachte mir das Vertrauen der Teilnehmenden ein und verschaffte mir eine „Quasi-Mitgliedschaft“, die jemanden „als ‚einen von uns‘ und ‚verschieden‘ zuordnet“ (Scheffer 2001: 25). Während kulturelles und soziales Kapital in solchen Interaktionen wertvoll wurde, erfuhr mein zuvor ‚erschlichenes‘ migrationsbiographisches Kapital gleichzeitig eine Entwertung. Meine Anwesenheit während der Lotsensprechstunde zu normalisieren, stellte sich im Vergleich zu den Lehrgängen als schwieriger, jedoch bei Weitem nicht so problematisch dar, wie ich im Vorfeld meines ersten Besuchs angenommen hatte. Die Herausforderung bestand darin, dass sich die Vereinslotsen, anders als die Anwärter in den Kursen, schon über einen längeren Zeitraum kannten und ich ein, wenn auch willkommener, Gast war und blieb. Entgegen meiner Erwartungen an das Format Sprechstunde handelte es sich dabei vor allem zu Anfang weniger um eine hochsensible und intime Veranstaltung, deren Vertraulichkeit meine pure Anwesenheit hätte sabotieren können. Vielmehr zeichneten sich Sprechstunden meist durch ein überaus heterogenes Publikum und variantenreiche Abläufe aus, so dass praxeographische Praktiken in dieser durch ein reges „Miteinander von Darstellern und Publikum“ (Scheffer 2002: 356) geprägten Anordnung recht unauffällig werden konnten. Etwa in dieser Weise unproblematisch hätte ich mir meine Anwesenheit bei öffentlichen Veranstaltungen der Vereinslotsen vorgestellt. Diese Einschätzung erwies sich auch als zutreffend – mit Ausnahme einer Veranstaltung, bei der ich plötzlich eine unerwartete Beschränkung meiner bereits eingewöhnten ‚Barrierefreiheit‘ zu spüren bekam. Hierzu ein Auszug aus einem Gedächtnisprotokoll: In dem Raum stehen sechs Tische mit jeweils deutlich sichtbaren Schildern: Russisch, Polnisch, Aramäisch, Arabisch, Kurdisch, Türkisch steht darauf. Die Schilder markieren Sprachgemeinschaften, zu denen ich nicht gehöre. Ich zögere, mache einen Schritt vorwärts, einen zurück, sehe mich um. Sonst gibt es keine Sitzmöglichkeiten. Wo soll ich hin? Eigentlich dürfte ich nirgendwo sitzen. Wenn ich mich dazu setze, privilegiere ich vielleicht eine Gruppe. Einer der Lotsen hilft mir: „Komm, setz dich zu uns“. Ich bin erleichtert: „Ok, dann bin ich jetzt aramäisch. Nachher wandere ich dann mal weiter und werde polnisch.“ Einerseits bin ich jetzt drin, andererseits auch nicht, weil der Vortrag hier ins Aramäische übersetzt wird und alle Kommentare ebenfalls auf Aramäisch erfolgen.
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Obgleich meine Studie zu diesem Zeitpunkt bereits auf die Frage nach der performativen Hervorbringung von Begegnungsräumen angelegt war und sich bereits zuvor in verschiedenen Kontexten derartige ‚Sprachräume‘ mit ihren je eigenen Einund Ausschließungspraktiken konstituiert hatten, erfuhr ich erst in dieser Situation leibhaftig, was es heißt, wenn die sprachliche Verstehens- und zugleich die eigene Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden. Mit dieser hinzugewonnenen Aufmerksamkeit fokussierte ich meine Beobachtung in der Folge immer wieder auf das Zusammenspiel von Materialität und Performativität und kam auf diese Weise zu verfeinerten theoretisierenden Beschreibungen von Begegnungsräumen und den machtvollen Relationen, die sie ko-konstituieren. Selbstbefremdung Aus praxeographischer Perspektive geht es darum, „sich – nachdem man etwas verstanden hat – noch mehr zu wundern“ (Amann & Hirschauer 1997: 29). Das Austarieren von Nähe und Distanz bringt es mit sich, dass ‚eintauchenden‘ Normalisierungstechniken spiegelbildlich solche des kontinuierlichen Befremdens des allzu Selbstverständlichen oder vertraut Gewordenen gegenüberstehen. Insbesondere bei den ‚Heimspielen‘ in der Anordnung des Hochschullotsenkurses bemerkte ich, wie die Vertrautheit des Feldes aufgrund einer nahezu perfekten Passung von Habitus und Habitat meinen Beobachtungsmöglichkeiten Grenzen setzte. Zum einen fiel es mir gelegentlich schwer, eine distanzierte Beobachtungsperspektive auf die alltäglichen Schulungspraktiken im Seminarraum (die Präsentationen, das Mitschreiben, das Melden, das Lesen, die Aufgabenbearbeitung, das Diskutieren etc.) einzunehmen. Obgleich auch in den anderen Lotsenkursen ähnliche Unterrichtsmittel (Overheadprojektor, Tafel, Handouts etc.) zum Einsatz kamen und mitunter die gleichen Aufgaben bearbeitet wurden, lief ich an diesem Ort stärker Gefahr, mich eher als beobachtende Teilnehmerin denn als teilnehmende Beobachterin ein- und auszurichten. Das Hochschulsetting schien bei mir fast automatisch einen eingewöhnten studentischen Beobachtungsmodus aufzurufen, welcher darauf ausgerichtet ist, möglichst viele der präsentierten Sachinformationen aufzunehmen und sich bei Diskussionen zu Wort zu melden. Wenn ich bemerkte, dass sich meine Aufmerksamkeit zu sehr auf die vermittelten Inhalte und zu wenig auf das eigentliche forschungsrelevante Geschehen richtete, versuchte ich über die akribische Feinauflösung der Praxis entlang von Wie-Fragen und die Konzentration auf vermeintliche Randgeschehnisse einen Wechsel in den praxeographischen Modus der Beobachtung herbeizuführen. Eine weitere zentrale Strategie, sich gerade in einer vertrauten oder allzu vertraut gewordenen Umgebung selbst zu befremden und Distanz herzustellen, besteht in der Veränderung von Perspektiven durch Positionswechsel. „Beobachtungskörper werden hier nicht nur mobilisiert, sondern gezielt mit divergierenden, parteili-
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chen Wahrnehmungsweisen konfrontiert“ (Scheffer 2002: 360). Auf diese Weise können gebrochene, widersprüchliche, „nicht mehr gar so bündige“ (ebd.: 361) Versionen des Geschehens erarbeitet und Solidarisierungseffekte mit nur einer Partei konterkariert werden. Da ich mich meistens unter den angehenden bzw. bereits länger aktiven Lotsen bewegte, zwischen ihnen saß und Pausen mit ihnen verbrachte, nahm ich fast zwangsläufig eine eher lotsenorientierte Beobachterperspektive ein. Innerhalb dieses Ensembles versuchte ich, den Fokus zwischen Lotsen mit und ohne selbsterklärten Migrationshintergrund, zwischen Frauen und Männern oder zwischen jüngeren und älteren Teilnehmerinnen wandern zu lassen. Da mir ein räumlicher Wechsel auf die Dozentenseite forschungspragmatisch schlecht möglich erschien, versuchte ich, unintendierte Teilnehmerfokussierungen und Solidarisierungsversuchungen gegenüber den Lotsen und insbesondere ‚den marginalisierten Migranten‘ durch die Einnahme wechselnder Randpositionen zu durchbrechen. Sofern ich aktiv daran teilnahm, ergaben sich räumliche Positionswechsel zudem aus der Logik der Praxis so genannter Positionierungsübungen, bei denen es die Aufgabenstellung verlangt, dass sich die Teilnehmenden durch den Raum bewegen (vgl. z.B. Kapitel 3.2.6.4). Nahm ich an solchen Übungen nicht teil, sondern zog ich mich ein Stück weit von dem Geschehen zurück, konnte ich während solcher Übungen dennoch relativ unauffällig durch den Raum streifen, da dieser nun gewissermaßen dynamisiert war und seine feste territoriale Ordnung verloren hatte. Gelegentlich suchte ich mir während solcher mobilen Übungen auch einen fixen Beobachtungsstandort in einer ruhigen Ecke des Raumes, um einen umfassenden Überblick gewinnen und mich meinen Feldnotizen widmen zu können. In solchen Fällen konnte es allerdings durchaus zu unbeabsichtigten Störungen der Abläufe kommen. Während einer Übung sollten sich die Kursteilnehmer bspw. von einer Linie aus schrittweise vorwärts bewegen. Im Verlauf rückte das Geschehen sodann ‚unbeirrt‘ weiter, so dass mir der ‚Fluchtweg‘ versperrt war, weil ich mich plötzlich schon mittendrin befand. Dies hatte zur Folge, dass ich zunächst im Weg saß und schließlich einen Teil des Geschehens im Rücken hatte. Unintendiert kam ich auf diese Weise zu einer ungewohnt aufschlussreichen Perspektive, bei der das Sehen durch ein blindes Spüren dessen, was hinter mir geschah, kompensiert werden musste.96
96 Einen unfreiwilligen räumlichen Positionswechsel erlebte auch eine Gastdozentin während der so genannten „Zitronenaufgabe“. Bei dieser Übung wird die Sitzkreisordnung zugunsten einer auf die Tafel ausgerichteten Reihe aufgegeben. Nach Abschluss der Übung verharren die Teilnehmer auf ihren neuen Positionen. Die Gastdozentin beginnt zur nächsten Aufgabe überzuleiten, wirkt dabei aber abgelenkt. Sie sagt leise: „Vielleicht könnt ihr wieder etwas näher zu mir kommen? Ich fühl mich sonst so als Vorredner.“ Die Teilnehmer reagieren nicht. Sie verknotet die Hände, wackelt unruhig auf dem Stuhl, bit-
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Re-Fokussierungen Da der Forschungsprozess so angelegt war, dass sich Erhebungs- und Auswertungsphasen immer wieder abwechselten, hatte ich nicht nur die Möglichkeit, meine Feldprotokolle am ‚stummen‘ Schreibtisch auf potentielle ‚Erkenntisfährten‘ hin durchzusehen, sondern meine Aufzeichnungen überdies einer befremdenden Betrachtung durch Kolleginnen und Kollegen auszusetzen. Mit dem coming home an den Arbeitsplatz konnte ich somit Fokussierungsoptionen aus einer involvierten wie auch aus einer an der Forschung unbeteiligten Perspektive gewinnen. Eine thematische, räumliche, zeitliche oder personelle Fokussierung der Beobachtung ist zu allererst notwendig, weil sich Wahrnehmungen und Beschreibungen „auf so vieles richten können“ (Hirschauer 2001a: 441) und dies zunächst meist unweigerlich tun. Vor diesem Hintergrund dient sie der Intensivierung, Justierung und Verdichtung der Wahrnehmung „auf den Punkt“ (Scheffer 2001: 359). Neben der Konzentration auf Raumfragen fokussierte ich mich thematisch bspw. nach einiger Zeit auf Zeugnisse und Zertifikate, da diese nicht nur am Ende verliehen, sondern von Anfang an vielfach in den Lehrgängen besprochen werden. Diese enge Fokussierung wurde im Forschungsverlauf sodann erneut durch eine erweiterte Perspektive auf ‚bezeugende‘ Schriftstücke wie Pässe, Formulare, Statistiken oder Flyer abgelöst. Bezugnahmen auf solche Dokumente und deren praktische Handhabungen standen damit im Zentrum der Aufmerksamkeit (vgl. Kapitel 3.3.5.4). Wiederholungen An einigen Stellen war bereits von ‚Störungen‘ oder ‚Regelmäßigkeiten‘ die Rede. Doch wie lassen sich diese als solche überhaupt beobachtbar machen? Was unterscheidet den ‚normalen‘, regelhaften Ablauf von einer Störung, einem Konflikt oder gar einem Unfall? Um mich diesen Fragen anzunähern, bediente ich mich der repetitiven Beobachtung, welche die „Elastizität der Regelhaftigkeit“ erfahrbar macht und eine „Soziologisierung“ des Geschehens ermöglicht, indem sie den Blick zunehmend vom spannenden Einzelfall auf die Ordnung des Geschehens lenkt (Scheffer 2002: 358). Nahm ich während der Lotsensprechstunde etwa antet schließlich noch einmal: „Könnt ihr vielleicht doch etwas näher zusammenkommen? Das ist sonst so...“ Als die Teilnehmer in die Stuhlkreisordnung zurückkehren, wirkt sie erleichtert: „Ja das ist schön, dass ihr wieder dichter zu mir kommt.“ Die Gastdozentin, die sich selbst als „Trainerin“ vorgestellt hatte, wurde erst im Rahmen der hervorgebrachten Unterrichts-Anordnung zu einer Dozentin gemacht, die ihren ‚Schülern‘ plötzlich frontal und distanziert gegenüber sitzt. Mittels Übergang in die Trainingsanordnung eines Stuhlkreises versuchte sie nun, diese Dissonanz zwischen ihrem Selbstverständnis (identity) und der Bedeutung (meaning), die ihr im Rahmen einer solchen Anordnung gegeben wird, zu überwinden.
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fangs fast ausschließlich Besonderheiten und Einzelfallgeschichten wahr, konnte ich nach mehrmaligen Besuchen zunehmend implizite Logiken und Muster identifizieren. Mit der wiederholenden Beobachtung verbindet sich also gleichsam eine „Affinität für den abweichenden Fall, den es einerseits zu entdecken, andererseits in seiner tatsächlichen ‚Normalität‘ und Regelentsprechung zu rekonstruieren gilt“ (Wolff 2008: 252). Mit dem mehrmaligen Durchlauf von Lehrgängen ging es mir nicht um die repetitive Wiederherstellung eines ‚Originals‘, sondern darum, Kontinuitäten und Varianzen deutlicher hervortreten und mich gleichsam anfällig für Irritationen und Neuentdeckungen zu halten, so dass eine Übung, eine Aufgabenstellung oder ein Diskussionsthema in verschiedenen Lokalitäten und aus unterschiedlichen Blickpositionen heraus nun gerade in variantenreichen szenischen Erscheinungsformen beobachtbar wurden. Beobachtungshilfen Um angesichts der „Überfülle und Flüchtigkeit der Geschehensoberfläche“ (Scheffer 2002: 362), welche die körpereigene Beobachtungskapazität übersteigt, Beobachtbarkeit herstellen zu können und Hintergrundwissen zu erlangen, wurde auf verschiedene Dokumente und Formen der Befragungen zurückgegriffen. Diese dienten, wie eingangs erwähnt, als Beobachtungshilfen zum Auffinden und Überprüfen von Forschungsfährten. Durch die „Ko-Artikulation“ unterschiedlicher Datentypen wurden die nutzbaren, gleichwohl „‚beängstigenden Freiheiten‘“ (Hirschauer 2001a: 448) von Beschreibungen zudem einer Disziplinierung unterzogen. Insbesondere die Hinzuziehung verschiedener Handbücher für Integrationslotsen trug in dieser Weise dazu bei, Interpretations- und Beschreibungsweisen zu überdenken, lieferte wichtige Sachinformationen und brachte Ideen für neue Fokussierungen. Vor meiner ersten Teilnahme an einem Integrationslotsenkurs hatte ich bewusst nicht auf solche Dokumente zurückgegriffen, um meinen Blick zunächst möglichst offen und unvoreingenommen zu halten und mich nicht von vornherein allzu vertraut mit der Programmatik bestimmter Zielsetzungen und Abläufe zu machen, da dies eine spezifische Erwartungshaltung evoziert und mich von vornherein einer perspektivischen Fremdheit beraubt hätte. Mit diesem Hintergrundwissen beim zweiten Durchlauf stellte sich nun manches, was mir beim ersten Durchgang besonders kreativ erschien, als die mehr oder weniger konsequente Abhandlung eines Curriculums dar. Einzel- und Gruppeninterviews sowie forschungsbegleitende Gespräche mit Koordinatoren, Dozentinnen, Gastreferenten, Kursteilnehmerinnen und aktiven Lotsen versetzten mich jedoch nicht nur in die Lage, meine Beschreibungen des Geschehens dank des „angezapften Teilnehmerwissens“ (Scheffer 2002: 364), wo nötig, sachlich zu korrigieren, sondern dienten auch dazu, das Geschehen unterschiedlich zu perspektivieren und die Analyse von Praktiken und Praxis auf diese
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Weise zu verfeinern.97 So wurden eigene Beobachtungen sowie programmatische Zielsetzungen des Lotsenprojektes bspw. mit Teilnehmerperspektiven auf Akquirierungspraktiken oder die Präsentationen von Kursleitern und aktiven Lotsinnen konfrontiert. Gelesen wurden die daraus entstehenden Transkripte als Dokumente einer Praxis des Sprechens über Praktiken, jedoch nicht als Auskünfte über die Praxis (vgl. Breidenstein 2006: 33). Mit anderen Worten, Interviews waren nicht darauf ausgerichtet, „die eigenen Befunde im Sinne einer kommunikativen Validierung den Praktikern“ (Wolff 2008) zur Stellungnahme vorzulegen und sodann ihre Problemdefinitionen und Erklärungsmodelle zu übernehmen. Mit einer solchen Lesart hätte ich mich als Forscherin zu einer Artikulationshelferin für ‚authentische Stimmen‘ erhoben und wäre einem moralisch aufgeladenen „Autorisierungstrick des Zurücktretens hinter andere (deren Äußerungen man ‚nur bezeugt‘)“ (Hirschauer 2001a: 437) verfallen. Statt einer methodologischen Perspektivierung hätte ich so bloß eine Perspektivenübernahme erreicht und mir das kritische Potential einer Neubeschreibung vergeben (vgl. Kapitel 2.3.6). Befragungen mit Projektkoordinatorinnen wurden vor diesem Hintergrund nicht als Experteninterviews konzipiert, da nicht deren machtvolle Sprecherpositionen als kundige und bereitwillige ‚Auskunftsinstanzen‘ nutzbar gemacht werden sollten, sondern von Interesse war, an welchen Konventionen sich solche Sprecherpositionen in den von mir untersuchten Kontexten zu orientieren haben und wie sie in der situierten Praxis des Interviews interaktiv performiert werden. Ferner wurden biographische Selbstthematisierungen, die mitunter einen zentralen Aspekt in den Befragungen bildeten, nicht als „Repräsentationen eines gelebten, erlebten und erzählten Lebens“ begriffen, „dessen Spuren, Gewissheiten und Wahrheiten rekonstruiert werden könnten“, sondern als in der jeweiligen Interviewsituation wechselseitig performierte „Präsentationen der jeweils aktuellen, biographisch gerahmten Selbstdeutungen und -wahrnehmungen [...] – kurzum: als situationsspezifische interaktive Produktion von Subjektivität“ (Bührmann & Schneider 2008: 101f.).98
97 Insgesamt wurden acht ca. zwei- bis dreistündige Einzelinterviews mit Dozentinnen, Lotsen und Projektkoordinatoren sowie ein ca. vierstündiges Interview mit Mitgliedern eines Lotsenvereins geführt. Die Auswertung des schriftlichen Datenmaterials erfolgte in Anlehnung an das Kodierverfahren der grounded theory (Strauss 1998). 98 Damit distanziere ich mich von jener Form der Interviewforschung, die versucht, über biographische Selbstrepräsentationen auf ein letztlich zentriert vorausgesetztes Subjekt der Migration rückzuschließen und es in seiner lebensgeschichtlichen Entfaltung zu ‚entschlüsseln‘ (vgl. Teil 1).
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2.3.5 Praxeographisches Umschreiben Praxeographisches Beobachten ist im Kern ein schreibendes Beobachten bzw. ein beobachtendes Schreiben. Im Folgenden möchte ich dieses in einem dreifachen Sinne als ein Umschreiben ausleuchten. In einer ersten Dimension lässt sich das Schreiben der Praxeographin als Umschreibung im Sinne einer Annäherungsbewegung begreifen. Wie die Beobachtung einer Suchbewegung „vom Rundblick zur analytischen Selektivität“ (Scheffer 2001: 26) folgt, durchläuft auch das Schreiben einen Verfeinerungs- und Selektionsprozess, der zunächst tastend erfolgt, indem der Forscher wie ein „Geschmackstester“ (Hirschauer 2001a: 440) einem impliziten Wissen folgend in situ Kategorien gebraucht, die er einer späteren Irritation durch andere und sich selbst preisgibt. Die Verschriftlichung dient der Einkreisung und Kleinarbeitung von Erinnertem, indem es Akzente setzt, wiederholt, festhält und auslässt. Sie materialisiert die Erinnerungen der Forscherin und bringt zugleich ihre impliziten Aufmerksamkeiten, Fokussierungen und Perspektivenwechsel und ebenso ihre Sprachlosigkeit zur Sprache. So signalisierten mir bspw. Auslassungen und das Abreißen von Beschreibungsfäden Brüche im Geschehen während immer knapper werdende Beschreibungen bis hin zur Verwendung von Schlüsselbegriffen auf eine zunehmende Vertrautheit mit dem Feld hindeuteten. Sprach- bzw. Ausdruckslosigkeit materialisierten sich in rudimentären bildhaften Skizzen, die Wiederholung von theoretisierenden Begriffen und eine Zunahme von Querverweisen deuteten hingegen auf einen Prozess fortlaufender Systematisierung und einen vorläufig bestandenen ‚Geschmackstest‘ von gebrauchten Kategorien hin. Zweitens vollzieht sich praxeographisches Schreiben, wie Hirschauer (2010: 431) herausgearbeitet hat, insofern als Umschreibung als es kontinuierlich zwischen unterschiedlichen Textgenres hin- und herpendelt.99 Die in situ verfassten Feldnotizen enthalten dichte Beschreibungen (Geertz 1983) sowie erste Theoretisierungsversuche und fungieren als Erinnerungshilfen, Merkposten und grobe Orientierungspunkte. Sie brechen die ganzheitliche Forschungspraxis gewissermaßen auf,
99 Um die aus der teilnehmenden Beobachtung sowie aus Befragungen gewonnenen empirischen Daten auf einen Blick erkennbar zu machen, werden sie im Rahmen dieser Arbeit typographisch vom Rest des Textes abgehoben. Bei den in kleinerer Schriftgröße abgesetzten Einschüben handelt es sich um transkribierte Interviewauszüge, sofern sie als solche explizit markiert sind, und in allen übrigen Fällen um nachbearbeitete Feldnotizen, zu deren Aufbereitung zusätzlich Gedächtnis- und Gesprächsprotokolle herangezogen wurden. Bei der in Anführungszeichen gesetzten wörtlichen Rede in den Feldnotizen handelt es sich um wortgetreue Transkriptionen tatsächlicher Äußerungen. Indirekte Reden sind hingegen aus Notizen und dem Gedächtnis nachgestellt worden.
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indem sie Übergänge zwischen Praktiken der Teilnahme, der Beobachtung und des Schreibens markieren und diese damit gleichsam erst als unterscheidbare Praktiken hervortreten lassen. Der Modus, in dem Feldnotizen verfasst werden, lässt sich in Anlehnung an Müller (2013: 194) mit einem Begriff von Arpaly als ein „Dämmern“ (Arpaly 2009: 537, Herv. i.O.) beschreiben, das mit Ungewissheiten, Irritationen und nur schwer explizierbaren Ahnungen einhergeht.100 Elaboriertere Protokolle, die außerhalb von Beobachtungssituationen und ihrer hohen Temporalität und Eindruckstiefe angefertigt werden, dienen dazu, solche Ahnungen auszuformulieren, in Zusammenhänge zu bringen und zu verdichten. Sie fungieren als „Folie für weitere Beobachtungen“ und strukturieren die Wahrnehmungen und Fokussierungen der Forscherin (Hirschauer 2001a: 440). Das Genre der finalen Publikation steigert den Anspruch an ein ebenso anschlussfähiges wie ausreichend plastisches und für nicht anwesende Leserinnen nachvollziehbares Schreiben. Das Führen eines Feldtagebuchs bildet im Forschungsprozess einen Ausgleich zur Exposition der Forscherin im Kollegenkreis oder vor einem breiteren Publikum, indem es einen Rückzugsraum herstellt, der in erster Linie der Selbstbeobachtung dient. Zugleich lässt diese solitär praktizierte Selbsttechnik die Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Raum, zwischen selbstreferentieller und intersubjektiver Praktik brüchig werden, da auch bei der Verschriftlichung im Feldtagebuch das beforschte Subjekt wie auch die wissenschaftliche community als imaginierte Andere ‚anwesend‘ sind. Vor diesen Anderen vollzieht sich die Reflexion auf die Bedingungen der eigenen „Sinnstiftungen“ (Amann & Hirschauer 1997: 31) und die „Kontrolle des Standpunkts, welche in Details der Niederschrift zum Ausdruck kommen“ (Bourdieu 2010c: 410). In einer dritten Dimension nimmt praxeographisches Schreiben Umschreibungen vor, indem es seinen Gegenstand grundlegend transformiert: „Darstellen im Sinne des Präsentierens ist wie jede symbolische Tätigkeit ein Akt der Transformation oder Verwandlung. Etwas, das sich mir gezeigt hat, wird in etwas Neues verwandelt, indem ich es aus seinem Kontext hervorhebe und dadurch auszeichne, dass ich genau diesen (und keinen anderen Sachverhalt) anderen Personen vor Augen führe, es sie sehen lasse mit meinen Augen und in einer von mir gewählten symbolischen Form, aber für sie.“ (Landweer 2011: o.S., Herv. AQ). Das zentrale
100 Als „Dämmern“ bezeichnet Nomy Arpaly einen Prozess der rationalen Überzeugungsbildung, der ohne Überlegung auskommt, wobei nicht alle Formen des Dämmerns unbedingt rational sein müssen und auch rationales Dämmern falsche Schlüsse zulassen kann (vgl. Arpaly 2009: 537ff.). Sie wendet sich damit gegen die Engführung, dass rationales Handeln notwendigerweise ein „bestmögliches Urteil“ voraussetze und macht deutlich, dass Emotionen und Wünschen ein zentraler Stellenwert in der rationalen Urteilsbildung zukommen kann.
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Medium dieser Umschreibung ist die Szene. Mit ihrer Hilfe wird Gesprochenes schriftlich und „Schweigsames“ (vgl. Hirschauer 2001a) überhaupt erst zur Sprache gebracht. Die Szene wird als eine Analyseeinheit konstruiert, welche die Aufmerksamkeit des Beobachters auf einen Ausschnitt des Geschehens fokussiert und damit bestimmte Aspekte zu sehen gibt und andere ausblendet. Sie fungiert dabei als „Medium der Handlung und Beobachtung, der Praxis und Theorie“ (Brauer et al.: 2008: 11) und dient dazu, empirisches Material und Analyseoptik in situ zu relationieren, indem die Szene dem Material nicht nur eine spezifische Beschreibungsform gibt, sondern das Beschriebene als Szene bzw. szenische Praxis analysiert wird. In szenischen Beschreibungen wird auf literarische Darstellungsformen zurückgegriffen, welche also nicht bloß illustrativen Charakter haben, sondern über eine eigene analytische Dimension und ein eigenes erkenntnistheoretisches Potential verfügen (vgl. Alkemeyer 2007: 15). Ein Geschehen wird mittels einer Skizze von räumlichen Anordnungen, Kleidungsstücken, Artefakten, Körperbewegungen, Gesten, Mimiken etc. plastisch zur Darstellung gebracht, um beim Leser ein Bild aufzurufen, diesen körperlich-affektiv anzusprechen und ihm so eine „imaginäre Teilhabe [...] an der dargestellten Welt“ zu ermöglichen (ebd.: 21). Die Szene als „lebenswarme[] Beschreibung des Sichtbaren“ lässt dabei den „unartikulierte[n] Sinn der sozialen Praxis an die Oberfläche“ treten (ebd.: 22). Sie fungiert nicht als Abbild, sondern als Schaubild, denn sie „soll nicht festhalten, ‚was der Fall ist‘, sondern verstehbar machen, für was etwas ein illuminativer Fall ist.“ (Hirschauer 2001a: 437, Herv. i.O.). Szenische Beschreibungen stellen (nie zum Abschluss kommende Versuche) dar, die Praxis ‚einzufangen‘, indem sie sie umschreiben: Das beobachtete Geschehen wird einerseits aus seinem Vollzug herausgelöst, sequenzialisiert und in eine spezifische Abfolge überführt. Andererseits werden realzeitliche Vorgänge zugleich (für wiederholende Betrachtungen) fixiert, gestrafft oder ausgedehnt und zu einer einprägsamen Gestalt verdichtet, die sich bspw. als ‚Verlandschaftungsszene‘ (vgl. Kapitel 3.2.6.3) erinnern lässt und über die Zeit ein bestimmtes Bild und einen leibhaftigen Eindruck subjektivierender Praxis wachzurufen vermag. Die Praxeographin versucht auf diese Weise, eine Unverkennbarkeit ihrer verschriftlichten Deutungsangebote herzustellen. Ihre szenische Beschreibung muss sich – hierin ähnelt sie dem hyperbolischen Schreiben der Genealogie (vgl. Saar 2009: 254) – eine „angemessene ‚dramatische‘ Struktur zulegen“ (Müller 2013: 188), um sich vor dem allzu Vertrauten hervorheben zu können. Auf der anderen Seite hat sie über bekannte Terminologien und Denkfiguren Anschlüsse zum wissenschaftlichen Diskurs herzustellen und auf diese Weise Wiedererkennbarkeiten zu erzeugen. Die Subjektivierung der Forscherin vollzieht sich also auch in dieser Hinsicht als eine oszillierende Bewegung zwischen Einpassung und Abhebung,
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zwischen Herstellung von Individualität und Konformität. Sie unterliegt im Schreiben Zwängen wie das Schreiben umgekehrt eine kreative Freiheit erlaubt. Weder unterwirft sich die Praxeographin im Schreiben vollständig den Maßstäben des sachlich, analytisch Angemessenen oder gar einem „Willen zu Wahrheit“ (Foucault 1977), noch kann sie sich bloß von einer „Lust am Text“ (Barthes 1996) leiten lassen. Ihre Beschreibungen sind Bezugnahmen auf Altbekanntes und zugleich Neubeschreibungen: Als Umschreibungen, die in diesem Sinne einen Unterschied machen, verfügen Praxeographien über ein spezifisches kritisches Potential, auf das ich abschließend eingehen möchte. 2.3.6 Kritik und Praxisrelevanz Kritik meint im Rahmen dieser Studie zuallererst Selbstkritik im Sinne einer praktischen Reflexivität, die das eigene Vorgehen nicht rückblickend und abschließend diskutiert, sondern sich in fortlaufenden Reflexionsschleifen in der und durch die Forschungspraxis konstituiert. „Jede Aussage dieser Wissenschaft kann und muß zugleich auf das Wissenschaft treibende Subjekt selbst wieder bezogen werden.“ (Bourdieu 1985: 50). Eine Praxeographin hat somit den Ort, von dem aus Fragen formuliert werden, in Hinblick auf die damit verbundenen Machtpositionen, Perspektiven und wirkungsvollen Diskurse deutlich zu machen (Scharathow 2010: 90f.) und sich auf das Verhältnis zwischen der „sozialen Position der Textproduzierenden und der der Besprochenen/Beschriebenen theoretisierend“ einzulassen (Broden & Mecheril 2007: 16). Derartige Positionen werden jedoch keineswegs als starr und feststehend begriffen, sondern als präfigurierte Positionierungen, die sich in Beobachtungs- bzw. Interviewsituationen zwischen einer Praxeographin und ihren Forschungssubjekten einspielen und insofern beweglich sind. Ein Forscher hat in dieser Perspektive keineswegs von vornherein qua seines Wissenschaftler-Status die machtvolle Position inne, einen „gläsernen Ausländer“ (Griese 1984: 14, vgl. Kapitel 1.1) zu produzieren, wenn er nur wollte. Vielmehr können sich einer Praxeographin, wie oben ausgeführt wurde, Quellen immer wieder auch verschließen, wenn sie bspw. nicht als ‚richtige‘ Wissenschaftlerin anerkannt wird, weil sie nicht evaluiert (vgl. Kapitel 2.3.4) oder, weil sie im – in gewisser Weise durchaus begründeten – Verdacht steht, eine investigative Mission zu verfolgen (vgl. Kapitel 2.3.3). Mit derartigen Rückzügen oder explizit kritischen Stellungnahmen konstituieren sich die Teilnehmer gerade als Forschungssubjekte, die sich keineswegs passiv ‚ausforschen‘ lassen. Wie im vorangegangenen Kapitel angedeutet, sollen in dieser Arbeit Neubeschreibungen (illocutionary acts) entstehen, „that evoke another consideration, draw attention to a different analogy for example, uncover another aspect of the situation, and so aim to provoke reconsideration of our considered judgments in this
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and related fields“ (Tully 2002: 544). Damit verbindet sich eine Form der Kritik, die sich mit Foucault als genealogische bezeichnen lässt, geht es doch gerade darum, die Gewordenheit, Variabilität und Machtbestimmtheit des Subjekts mittels einer angemessen dramatischen Beschreibungssprache auszuweisen (vgl. Saar 2009: 251).101 Martin Saar formuliert in der Genealogie als Kritik: „Wenn sie [die Genealogie der Subjektivierung] dann in der Form einer Erzählung, d.h. einer formulierten und formulierbaren Wahrheit über das Selbst vorliegt, dann kann es sich zu ihr (beginnen zu) verhalten. Damit beginnt Kritik als praktischer Vollzug, der enden kann in der Neubewertung und Veränderung von Lebensvollzügen.“ (Saar 2007: 330, Herv. AQ). Die vorliegende Studie teilt die Überzeugung, dass genealogische Verfahren als Instrumente einer – in interessierten Umschreibungen implizierten – Kritik gebraucht werden können, distanziert sich aber von deren „Imperativcharakter“ (ebd.: 253), welcher mit dem Anspruch verbunden ist, Aufrufe „zur reflexiven Selbstüberprüfung und zur Selbsttransformation“ formulieren und „eine künstlich herbeigeführte Krise im Selbstverständnis“ (ebd.) einleiten zu wollen. So klingt es bei Saar fast so, als ermögliche erst die wissenschaftliche Neubeschreibung Kritik, als setze erst sie die kritische Praxis in Gang. Um der Gefahr zu entgehen, Kritik damit erneut von einem scholastischen Standpunkt aus zu formulieren und andere Formen von Kritik implizit zu dethematisieren, soll in aller Kürze skizziert werden, wie sich ein solches Verständnis genealogischer Kritik unter Bezugnahme auf eine pragmatistische Perspektive auf Kritik relativieren ließe. Die von Luc Boltanski und Laurent Thévenot entwickelte „Soziologie der kritischen Kompetenzen“ geht davon aus, „dass jede Person über die Kompetenz verfügt, die Angemessenheit (justesse) einer Handlung bezüglich einer Situation selbst einzuschätzen, die Gerechtigkeit bzw. Legitimität (justice) einer Handlung zu beurteilen und eine Interaktion zu kritisieren.“ (Tietze 2013: 40f.). Wie sich in ersten eigenen empirischen Analysen zeigt, kann sich diese Form der Kritik in unterschiedlicher Weise vollziehen, den Ausgangspunkt der Kritik bildet aber stets ein Moment, in dem von den Situationsteilnehmern festgestellt wird, „dass etwas falsch läuft“, wobei sich diese Feststellung „zugleich auf eine reflexive Wendung nach in-
101 Forschung im Sinne einer Erfahrungswirklichkeit der Untersucherin, welche in einer spezifischen Weise ‚aufbereitet‘ und (mit)geteilt wird, gerät somit auch bei Foucault (1996: 28f.) in den Blick: „Mein Problem bestand darin, selbst eine Erfahrung zu machen und die anderen aufzufordern, vermittelt über einen bestimmten historischen Inhalt an dieser Erfahrung teilzunehmen: nämlich an der Erfahrung dessen, was wir sind und was nicht nur unsere Vergangenheit, sondern auch unsere Gegenwart ausmacht; an einer Erfahrung unserer Modernität, derart, dass wir verwandelt daraus hervorgehen.“
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nen [in Form einer Distanznahme zum Gegenwärtigen] und auf konkretes Handeln in der äußeren Welt“ bezieht (Boltanski & Thévenot 2011: 43).102 Während die Genealogie nach Saar ausschließlich darauf zielt, eine Krise künstlich herbeizuführen, um so Kritik zu initiieren, versucht eine pragmatisch inspirierte Praxeographin „den kritischen Umgang der Akteure (nicht der Soziologen) mit sozialen, politischen oder auch ökonomischen Phänomenen“ und von Teilnehmern hergestellte Konflikte zwischen sozialen Ordnungen sichtbar zu machen (Tietze 2013: 51) und so möglicherweise Kritik zu multiplizieren. Auch und gerade im being observer bleibt der Blick der Forscherin ein situierter und damit in spezifischer Weise interessierter. Indem er sich jedoch auf die Perspektiven der Teilnehmer richtet und rekonstruiert, welche Macht-WissenKomplexe (vgl. Kapitel 2.2) in praktischen Vollzügen aktualisiert und relevant gemacht werden, versucht er dem zu entgehen, was Nikola Tietze (2013: 39) als ein „verschwörungstheoretisches Dilemma“ der Soziologie bezeichnet hat.103 Die Praxeographin „nimmt gewissermaßen ‚die Personen beim Wort‘ und unterzieht die Diskurse einer pragmatischen Prüfung. Die dabei geübte Kritik ist nicht Teil des Ausgangsmodells, sondern ist eines der möglichen Ergebnisse der Untersuchung.“ (Dodier 2011: 97). Wie stellt sich vor dem Hintergrund dieses genealogisch-pragmatistischen Kritikverständnisses nun die Frage nach der Praxisrelevanz einer praxeographischen Subjektivierungsforschung? Sieht man Praxisrelevanz im Kontext eines marktförmigen Wissenschaftsbetriebes lediglich als ein Label für die Sicherstellung von Forschungsfinanzierung, so müsste ein Anspruch auf Praxisrelevanz (insbesondere aus einer kritisch-genealogischen Perspektive) grundsätzlich zurückgewiesen werden. Die Praxisrelevanz und das kritische Potential einer Studie würden sich danach geradezu ausschließen. Wolff (2008: 254) schlägt mit diesem Argument vor, von einer „Praxisnähe zweiter Ordnung“ statt vom Begriff der Praxisrelevanz auszugehen. Er stellt zudem heraus, dass praxeographische Beobachtungsstrategien erst einmal „ausgesprochen unpraktisch [sind]. Sie halten den Betrieb auf, stellen Selbstverständlichkeiten zur Disposition, nötigen zu Antworten auf Fragen, die man
102 Vgl. Kapitel 3.2.3.2. 103 Das Dilemma besteht darin, „entweder eine Verschwörungstheorie wissenschaftlich zu bestätigen und zu entlarven, wie bestimmte Gruppen eine herrschende Ordnung unterlaufen, oder aber die sichtbare, offizielle Wirklichkeitskonstruktion zu reproduzieren und damit die herrschende Ordnung zu stabilisieren.“ (Tietze 2013: 39). Tietze selbst bezieht sich in ihrer Argumentation nicht auf eine genealogische Perspektive, sondern auf verschiedene Ansätze im französischen Pragmatismus, die, wie in der Auseinandersetzung mit dem empirischen Material ersichtlich wird, mitunter ebenfalls in das Verschwörungsdilemma geraten (vgl. Kapitel 3.2.3.2).
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sich selbst kaum je stellen würde, und durchbrechen nicht selten die üblichen Regeln des sozialen Umgangs.“ (Wolff 2008: 253, Herv. i.O.). Sie liefern kein Wissen zur Verbesserung der Praxis und – so wäre hinzuzufügen – sie decken nicht im klassischen Sinne Missstände auf und befähigen nicht vormals ‚verblendete‘ Subalterne zum Widerstand. Ist diese Art der Forschung damit praxisirrelevant? Wie verhält sich ihre vordergründige Impraktikabilität dazu, dass die Relevanz der Praxis gerade ihr epistemologisches ebenso wie methodologisches Fundament bildet? Praxeographien besitzen, so ließe sich in Anlehnung an und Reformulierung von Wolff antworten, eine Art Praxisrelevanz zweiter Ordnung: In praxeographischen Umschreibungen werden implizite Relevanzmarkierungen der Teilnehmer in Form von Irritationen, Konflikten, eigensinnigen Körperäußerungen, welche „Kristallisationspunkte von und Gelegenheit für Lernen, Kreativität und Veränderung“ (ebd.: 254) darstellen, explizit und insofern für ein weiteres Publikum relevant gemacht. Die Praxeographin greift damit Potentiale für Kritik auf und vermittelt sie aus ihrer Perspektive, bringt sie aber nicht erst in die Welt.
Teil 3: Empirische Analysen
In den praxeographischen Analysen dieser Arbeit wird in Anlehnung an Foucaults Frage nach dem Wie der Macht die, damit verbundene, Frage nach dem Wie des Subjekts gestellt. Und zwar „nicht weil ich die Frage nach dem Was und dem Warum ausschalten will, sondern weil ich sie anders stellen will“ (Foucault 1994a: 251). Als Ausgangspunkt dient dabei die „kleine platte und empirische, gewissermaßen als Spähtrupp vorgeschickte Frage: Wie spielt sich das ab?“ (Ebd.) Forschungspraktisch bedeutet dies, dass Szenen der Subjektivierung sowohl in ihrem konkreten Ablauf innerhalb eines situierten Praktik-Arrangements (site) als auch in ihren Rückgriffen und Wirkungen auf andere sites nachvollzogen werden. Die folgenden Kapitel organisieren sich entlang einer chronologischen Ordnung der Selbstbildung von Integrationslotsen, beginnend bei der Akquirierung von Alltagshelfern (3.1) für entsprechende Ausbildungsgänge (3.2), an deren Ende mittels unterschiedlicher Verfahren des Übergangs (3.3) der Einstieg in die Gestaltungsarbeit des Lotsen(s) (3.4) vorbereitet wird. Nicht nahegelegt werden soll mit diesem Vorgehen allerdings eine telelogische Perspektive, der zufolge Menschen klar unterscheidbare, aneinander anschließende oder aufeinander aufbauende Phasen durchlaufen, in denen sie zu Subjekten gemacht werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich Subjektivierungsprozesse in einem überaus komplexen Geflecht von Praktiken vollziehen, die mitunter widersprüchliche Anforderungen an die Subjekte stellen und deren Selbstbildung nicht einfach kontinuierlich ‚voranschreiten‘ lassen. Darüber hinaus mögen an der subjektivierenden Praxis implizit vielfältige Prozesse beteiligt sein, sie sich einer Praxeographin in situ kaum erschließen. Subjektivierung wird daher gewissermaßen als ein doing being beschrieben und das Subjekt, wie jedes soziale Phänomen, so betrachtet, als würde es gerade erst gemacht.
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3.1 D IE A KQUIRIERUNG
VON
A LLTAGSHELFERN
Im folgenden wird zunächst danach gefragt, wer überhaupt Integrationslotse werden kann, d.h. welches Anforderungsprofil Lotsenanwärter zu erfüllen haben (3.1.1). Im Anschluss wird untersucht, wie jemand seinen Weg in einen Lotsenkurs findet und welche Rolle Motivationen, Artikulationen und Präfigurationen dabei spielen (3.1.2). Anschließend wechselt die Perspektive: der Fokus wird darauf gerichtet, wie Teilnehmer für Lotsenkurse akquiriert werden (3.1.3). Dieser Abschnitt bildet den Schwerpunkt der Analyse. Beleuchtet werden spezifische Akquirierungspraktiken in ihren jeweiligen Anordnungen sowie Formen der Akquise, die an dominant projects von Alltagshelfern anknüpfen. 3.1.1 Anforderungsprofile für Lotsenanwärter „Wenn Sie Interesse an der Aufgabe haben, Migranten bei ihrer Integration in unser Heimatland zu unterstützen, ihnen helfen möchten, Sprachbarrieren zu überwinden, Fragen zu beantworten und ihnen unsere Kultur näher bringen möchten, ihnen das Gefühl vermitteln, in unserer Stadt willkommen zu sein, dann werden Sie doch Integrationslotsin oder -lotse! Vielleicht haben Sie selbst Migrationserfahrungen und freuen sich über Ihre eigene geglückte Integration: das sind gute Voraussetzungen für die Ausbildung zur Integrationslotsin oder zum Integrationslotsen! Aufgeschlossenheit und Interesse für andere Kulturen prädestiniert Sie ebenfalls für eine Qualifizierung!“
In diesem Bewerbungsaufruf einer Volkshochschule für eine Lotsenqualifizierung werden eigene Migrations- bzw. Integrationserfahrungen sowie eine eigene „geglückte Integration“ als „gute“, aber nicht zwingende Voraussetzungen für eine Integrationslotsenlaufbahn herausgestellt. Ähnliche Aussagen finden sich in Broschüren, Flyern und Kursankündigungen verschiedener Projektträger, die insgesamt ein recht einheitliches, wenn auch überaus vages Bild des Anforderungsprofils für künftige Integrationslotsen zeichnen. Neben dem Interesse und der Kapazität für ein Ehrenamt sollte ein Integrationslotse demnach Offenheit für die eigene sowie für die deutsche Kultur mitbringen. Migranten, deren ‚eigene Phase der Integration abgeschlossen‘ ist und die über ‚eine gewisse Orientierung‘ sowie ausreichende Deutschkenntnisse verfügen sollten, werden damit einerseits in besonderer Weise adressiert. Andererseits wird von Dozenten und Projektkoordinatoren im Fortgang der Beobachtungen immer wieder die Wichtigkeit einer hinsichtlich Herkunft, Geschlecht, Alter, Bildungsgrad und Beruf heterogenen Zusammenstellung von Integrationslotsenkursen betont. So bringt eine Dozentin zu Beginn eines Lehrgangs etwa zum Ausdruck, dass sie bei der Kurszusammensetzung auf eine „möglichst bunte Mi-
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schung“ geachtet und eine Gruppe mit Deutschen und vor allem „vielen unterschiedlichen Migranten“ zusammengestellt habe, „denn so ist ja auch die Welt da draußen“. Lotsenkurse sollen demnach eine Art Miniatur der Außenwelt, gewissermaßen einen „Ort der ‚Verdichtung‘ von Gesellschaft“ (Knorr Cetina 1988, Herv. AQ) bilden.104 Programmatisch wird dabei dem Einbezug von „Einheimischen“ ein hoher Stellenwert eingeräumt: „Zielgruppe sind Menschen aus allen Bereichen der Wohnbevölkerung, Bürgerinnen mit und ohne Migrationshintergrund. Häufig wird gefragt, ob auch Einheimische teilnehmen können. Dies ist eindeutig zu bejahen. Denn es hat sich gezeigt, dass Auslandserfahrungen genutzt werden können und auch ganz besonders Erfahrungen aus binationalen oder bikulturellen Partnerschaften. Mittlerweile setzt sich die Erkenntnis durch, dass auch sogenannte Einheimische unterschiedliche Erfahrungen mit Migration und Integration haben, die sie gleichermaßen einbringen können“ (Müller-Wille 2007: 8). Gefragt sind somit Migranten und Einheimische mit spezifischen Erfahrungen. Der jeweilige Status dieser Erfahrungen – und damit auch die potentielle Eignung von Lotsenkandidaten – ist allerdings keineswegs unumstritten, wie die folgenden Auszüge aus einem Interview mit einer Projektkoordinatorin beispielhaft deutlich machen. Projektkoordinatorin: [...] nachdem ich mitgekriegt habe, dass zum Beispiel viele Kinder ihre Mütter zu Frauenärzten begleiten müssen oder auch in Krankenhäusern übersetzen müssen, wenn es um schlimme Krankheiten geht, da habe ich gedacht, das ist nicht der richtige Weg, das kann doch nicht sein, dass Kinder auch an den Elternabenden ihre Geschwister vertreten müssen. Das waren Dinge, die ich teilweise so hautnah erlebt habe und da kam das Projekt ja, greift genau da an, wo eigentlich ein Defizit ist. Nee, das kann kein Hauptamtlicher leisten, aber das können erwachsene Migranten oder Nicht-Migranten. Deshalb finde ich es auch ganz wichtig, dass Menschen ohne [betont] Migrationshintergrund an den Projekten teilnehmen, denn die sind genauso wichtig (Interview PK 1-Teil 1/ 08.04.2011, Zeilen 207-219).105
Der allgemein hohe Bedarf an Begleitung für Migranten, den Hauptamtliche nicht erfüllen könnten und migrantische Kinder nicht erfüllen sollten, begründet der Koordinatorin zu Folge die Notwendigkeit, sowohl Migranten als auch „Nicht-
104 Mit dem Begriff „Ort der ‚Verdichtung‘ von Gesellschaft“ bezieht sich Knorr Cetina auf das Labor. In Kapitel 3.2 werden wir sehen, dass sich Lotsenkurse tatsächlich insofern als Laboratorien perspektivieren lassen, als dass dort zugleich (Erfahrungs-) Gegenstände erzeugt und beforscht werden. 105 Bei Kursivsetzungen in Interviews und wörtlichen Zitaten in Beobachtungsprotokollen handelt es sich um meine Hervorhebungen. Betonungen der Befragten werden durch einen jeweils nachfolgenden Hinweis in eckigen Klammern markiert.
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Migranten“ in das Lotsenprojekt einzubeziehen. Sie setzt sich hierbei selbst als Migrantin ein, welche die Problematik „hautnah erlebt“ hat und diese somit gewissermaßen leibhaftig bezeugen kann. Während in dieser Sequenz noch die Differenz zwischen Kindern und Erwachsenen im Vordergrund steht, wird im weiteren Gesprächsverlauf jene zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund verstärkt, indem die Koordinatorin an mehreren Stellen auf die „besonderen Potentiale“ von Migranten verweist. Auf die Frage, wie sie diese beschreiben würde, erläutert sie: Ähm, es gibt ein türkisches Sprichwort. Ähm, da fällt ein Mann vom Baum und braucht dringend Hilfe und da kommt der Arzt und da sagt der Mann: „Nee, von dir will ich das nicht.“ Dann kommt der Pädagoge und dann sagt er: „Nee, von Dir auch nicht.“ Und ähm es sind alle verzweifelt und sagen: „Wieso willst du unsere Hilfe nicht?“ Und dann sagt er: „Nee, bringt mir jemanden, der auch vom Baum gefallen ist und dann sprech’ ich mit euch.“ Also, das ist einfach diese Situation der Empathiefähigkeit, nachvollziehen zu können was dieser Mensch erlebt hat. Und die Menschen mit Migrationshintergrund, egal aus welchen Ländern sie kommen, haben die gleiche Basis hier. Natürlich nicht die identische, aber man muss immer wieder sagen, diese Phasen der Integration müssen se alle durchmachen. Und wenn es jemand geschafft hat, dann ist es doch idealerweise besser, dass dieser Mensch sich auch erst mal besser orientieren kann, weiß, wo hab ich was geknackt. Also das hab ich so erlebt. Und das haben viele Migranten so erlebt (Interview PK 1-Teil 1/ 08.04.2011, Zeilen 171-189).
Obgleich der Lehrgang, wie die Projektkoordinatorin an anderer Stelle hervorhebt, „für alle offen ist“, bringt sie in dieser Sequenz die eigene Betroffenheit von Migranten als ein besonderes Eignungskriterium für die Lotsentätigkeit ins Spiel. Erneut greift sie dabei auf ihr eigenes Erleben als Begründungsressource zurück und spricht so als Migrantin für Migranten. Richtete sich das Lotsenprogramm ursprünglich in erster Linie an Menschen mit ‚Migrationshintergründen‘, steht diese unangefochtene Position zur Disposition, seitdem neben den eigens erlebten Migrationserfahrungen auch Erfahrungen aus Auslandsaufenthalten oder bikulturellen Partnerschaften von Einheimischen als biographisches Kapital eingebracht werden können. Diese einheimischen Erfahrungen werden hier implizit gegenüber ‚authentischen‘ Migrationserfahrungen abgewertet. Die folgende Passage zeigt, dass es hierbei nicht nur darum geht, die besonderen Potentiale von Migranten hinsichtlich der Lotsentätigkeit hochzuhalten und zu verteidigen, sondern Migranten öffentlich, d.h. mittels des Lotsenprojekts über dieses hinaus, als Träger von Potentialen sichtbar zu machen: AQ: Sie wählen ja Leute für diesen Kurs und die späteren Lotsenjobs aus. Gehen Sie dabei nach bestimmten Kriterien vor?
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Projektkoordinatorin (PK): Ja. AQ: Was wäre das zum Beispiel? PK: Erst mal das Interesse am Ehrenamt ist sehr wichtig. Und ähm wie man ähm [hält inne]. Das Gesamtbild macht auch was aus. Also... Es ist sehr schwierig. Weil es ja auch vielfältig ist, die Anfragen. Jeder hat irgendwo seine Stärken. Ähm. Wobei ich merke, wenn es den Lotsen Spaß macht. [...] Also das spürt man schon. Und das ist, denke ich, ist wichtig. [...] Sonst leidet auch die Qualität der Tätigkeit. Wenn das jetzt nicht vom Herzen aus kommt. AQ: Verstehe. Sind das Dinge, die für jedes Ehrenamt wichtig wären? PK: Ja. AQ: Gibt es für das Ehrenamt des Integrationslotsen auch etwas Besonderes? Irgendetwas, das alle Lotsen gemeinsam haben? PK: Ja. Die Motivation ähm, dass Menschen mit Migrationshintergrund mit positiven Seiten anerkannt werden. Also das ist deren Initiative und wenn das rüberkommt. Wenn sie das auch positiv darstellen können, dass die Migranten nicht [betont] äh Sprachprobleme haben, sondern [betont] sieben Sprachen beherrschen, dass Migranten nicht [betont] keine Schulabschlüsse haben, sondern [betont] mehrere Doktortitel in der Tasche haben. Das sieht man ja alles vorher nicht. Wenn sie das äh hervorbringen können, dann äh… Also es muss erst mal vom Herzen kommen was sie so machen, was sie motiviert. Und sie zeigen auch, dass sie Stärken haben. Sie zeigen, dass sie was mitbringen. Sie zeigen das, was eigentlich so in vielen Medien immer als negativ dargestellt wird. Und da passiert’s schon, dass man da überwältigt von ihnen ist und sagt: Aha! Und diese Gemeinsamkeit, dass sie Journalisten sind, dass sie Biologen sind, also das sind so Sachen, die keiner irgendwie mal wahrgenommen hat. Nun werden sie wahrgenommen in ihren Qualitäten. Und das ist auch ein Unterschied zwischen den Ehrenamtlichen, denk ich, mit Migrationshintergrund und ohne Migrationshintergrund. Das ist jetzt so meine persönliche Meinung (Interview PK 1-Teil 1/ 08.04.2011, Zeilen 333-382).
Die Nachfrage nach dem Spezifischen eines Integrationslotsen, das ihn von anderen Ehrenamtsträgern unterscheidet, provoziert eine aufschlussreiche Wendung im Gespräch: Hatte die Koordinatorin zuvor als Repräsentantin des Lotsenprojekts gesprochen, geht sie nun dazu über, sich als Repräsentantin von Migrantinnen und Migranten einzusetzen. Deutlich wird daran, welchen widersprüchlichen Adressierungen sie ausgesetzt ist: Einerseits muss sie als Vertreterin des Programms das offene Anforderungsprofil und damit Migranten ebenso wie Einheimische vertreten, andererseits wird sie im Rahmen der Projektdurchführung, insbesondere im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit, immer wieder auch als erfolgreiche Migrantin adressiert. Es zeigt sich, dass im Bestreben, über das Projekt ein positives Bild von Migranten in die Öffentlichkeit, d.h. die ‚Welt außerhalb des Lotsenprojektes‘ zu transportieren, weniger biographisches Betroffenheitskapital wie im ‚Binnenraum‘ des Lotsenprojektes mobilisiert werden kann (zweite Sequenz), sondern vielmehr klas-
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sisches kulturelles Kapital eingesetzt werden muss. Auf diese Weise wird eine Unterscheidung zwischen gut gebildeten, beruflich erfolgreichen Migrantinnen und solchen mit Sprachproblemen und ohne Schulabschlüsse hergestellt. Die Sichtbarmachung von Migranten ist hier „von dem Paradox bestimmt, dass sie sich – um sichtbar werden zu können – in die Bilder einschreiben müssen, die für sie im Feld hegemonialer Repräsentation mit ihren Ausschlusseffekten zur Verfügung stehen.“ (Schade & Wenk 2011: 105).106 Deutlich wird daran, dass sich Positionen und das ‚Ob‘ und ‚Wie‘ einer Verwertung von etwas als Kapital weder aus ‚immer schon‘ bestehenden Gruppenzugehörigkeiten etablierter Einheimischer und migrantischer Außenseiter noch aus den Regeln eines bereits fest etablierten Feldes ergeben, sondern entscheidend von den in der situierten Praxis hergestellten Relationen abhängen. Die unter Einsatz von Betroffenheitskapital hergestellte Differenz zwischen einheimischen und migrantischen Lotsen im Binnenraum des Lotsenprojektes weist dabei eine beweglichere „Machtbalance“ (Elias 1996: 77) auf als die auf ein ‚Außen‘ bezogene hierarchische Relation von Einheimischen und Migranten, die in Praktiken der öffentlichen Sichtbarmachung von ‚Vorzeigemigranten‘ hervorgebracht wird.107 Während aus der Perspektive der migrantischen Projektkoordinatorin vor allem die Ausweitung des Adressatenkreises auf Einheimische als ambivalent herausgestellt wird, problematisieren migrantische Lotsen oftmals, „dass immer weitere Migranten rausgeschickt werden“ und plädieren stattdessen für „Qualität vor Quantität“, wie es ein Lotse ausdrückt. Ähnlich bringt dies eine Dozentin für Lotsenkurse, die zugleich selbst als Lotsin aktiv ist, in einem Interview zur Sprache: Man muss die richtige Zielgruppe haben. Das war auch immer diese schlechte Erfahrung, dass die Leute nicht richtig verstanden haben, was von ihnen erwartet wird. Zum Beispiel war
106 Schade und Wenk beziehen sich hier allgemein auf marginalisierte und/oder alterisierte Subjekte. 107 Mit dem Begriff der Machtbalance meint Elias nicht etwa ein Gleichwicht zwischen zwei oder mehr gleich mächtigen Partnern. Vielmehr sind Machtbalancen „überall da vorhanden, wo eine funktionale Interdependenz zwischen Menschen besteht“ (Elias 1996: 77). Macht gehört damit – ebenso wenig wie bei Foucault – bestimmten Akteuren, sondern wird relational gedacht. Machtproben gehören nach Elias genauso „zum normalen Bestand aller menschlichen Beziehungen“ wie Prozesse des Einpendelns eines spezifischen Machtverhältnisses, denn nach „einiger Zeit spielen sich Menschen möglicherweise in ihrer Beziehung miteinander auf ein bestimmtes Machtgleichgewicht ein, das je nach den gesellschaftlichen und persönlichen Umständen bald stabiler, bald labiler ist.“ (Ebd.: 76) In den Blick geraten somit dynamische Prozesse des Einspielens von Machtverhältnissen, statt ‚starrer‘ Positionen.
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auch eine schlechte Erfahrung in A-Stadt bei der ersten Gruppe dort. Weil äh [seufzt] jemand wollte, sagen wir, dass dieser Kurs unbedingt stattfindet [lacht] und hat die Leute einfach reingenommen. Und? Sie konnten kein Deutsch! Das muss man mit guten Deutschkenntnissen machen. Und dann saßen da drei, vier Migranten, die haben gar nichts verstanden. Dann musste ich neben ihnen sitzen und übersetzen. Die waren Iraker. Und dann habe ich auch verstanden, die brauchten diese Qualifizierung erst mal...sie haben die parallel zum Sprachkurs gemacht. Und das sollte nachher sein, nicht vorher (Interview LV/ 31.08.2011, Zeilen 13381351).
Für eine Dozentin verbindet sich mit den unterschiedlichen Sprachkenntnissen der Kursteilnehmer ein praktischer Mehraufwand. Für sie und den zuvor zitierten Lotsen steht durch die allmähliche ‚Verwässerung‘ des an „Quantität“ statt an „Qualität“ orientierten Anforderungsprofils darüber hinaus aber noch etwas Bedeutsameres auf dem Spiel: Ihr Titel als Lotsen und das damit verbundene symbolische Kapital, welches ihnen zu einer übergeordneten Position gegenüber ‚noch nicht integrierten‘ Migranten verhilft, laufen Gefahr, entwertet zu werden. 3.1.2 Motivationen, Artikulationen, Präfigurationen „Ich habe den Integrationsprozess am eigenen Leib gespürt und möchte Erfahrungen und Wissen an andere weitergeben.“
Wie findet jemand seinen Weg in einen Lotsenlehrgang? Aus einer akteurszentrierten Perspektive könnte man diese Frage in der Weise angehen, dass man die Betreffenden dazu auffordert, Auskünfte über ihre jeweiligen Motive für ihr ehrenamtliches Engagement als Integrationslotsen zu geben. Ein solches Befragungsverfahren findet nicht nur Anwendung in der Evaluierung von Lotsenprojekten, sondern kommt ebenso in den Lehrgängen selbst zum Einsatz, wie hier in einem Elternlotsenkurs:108 Per Kartenabfrage sollen die Kursteilnehmerinnen in einer der ersten Stunden ihre Motivationen und Erwartungen an den Lehrgang angeben. Schlagworte, höchstens knappe Sätze gilt es laut der Dozentin zu formulieren. Einige schreiben eifrig und konzentriert, andere schauen umher, versuchen einen Blick in die Karten der Sitznachbarn zu erhaschen. Mitunter wird sichtlich nach Worten gerungen. Der Stift wird angesetzt, wieder weggelegt, ein Wort durch-
108 Zur Erfragung von Motivlagen vgl. etwa die Evaluierungsstudien zu Projekten für Integrationslotsen (Bommes et al. 2010: 52-54), Hochschullotsen (Meinhardt & Klausing 2009: 45ff.) und Integrationsbegleiter (Huth 2007: 35).
146 | M ITTLERSUBJEKTE DER M IGRATION gestrichen. Karten werden zerknüllt, einige Male genervt weggeschmissen oder dezent beiseite gelegt. Blicke wandern aus dem Fenster. Die konzentrierte Stille wird immer wieder durch Getuschel unterbrochen: „Was ist denn das Wort dafür im Deutschen?“. Gelegentlich tönt ein hilfloser Ausruf durch den Raum: „Wie soll ich das denn so einfach beschreiben?“ und dann leiser: „Das kann man nicht so kurz sagen.“ Schließlich haben doch alle Teilnehmenden etwas zu Papier gebracht, das der Gruppe anschließend auf einem Flipchart präsentiert wird: „Berufschancen durch Zertifizierung verbessern“, „Sprache verbessern“, „Informationen über Schulsystem und Erziehung bekommen“, „Selbstentwicklung in Deutschland“, „Migrationserfahrungen von anderen kennenlernen“, „Brücken bauen“, „Berührungsängste abbauen“, „Eltern helfen“, lauten einige Stichworte. Manche dieser „Motivationskärtchen“ versuchen die Teilnehmerinnen bei der anschließenden Präsentation wieder zurückzuziehen, da „doch eh alles schon gesagt“ worden sei. Die mündlichen Erläuterungen im Nachgang der Verschriftlichung fallen ausführlicher aus: „Ich möchte mal wissen, wie Mütter das so hinbekommen. Ihren ganzen Alltag und so. Wie die ihren Tagesablauf schaffen“, meint eine kinderlose Teilnehmerin. Eine weitere gibt an: „Ich habe den Integrationsprozess am eigenen Leib gespürt und möchte diese Erfahrungen und mein Wissen an andere weitergeben.“
Liest man solche Auskünfte von Kursteilnehmerinnen als Belege für subjektive Teilnehmerperspektiven, aus denen sich Rückschlüsse auf eine den Subjekten zueigne Intentionalität i.S.e. „sinnhaften Gerichtetheit der Akte des Bewusstseins“ (Reckwitz 2003: 288) ziehen lassen, so könnte die Frage, was jemanden in einen Lotsenkurs führt, schnell beantwortet werden. Ausgehend von einem mit sich selbst identischen und persönliche Ziele rational verfolgenden Subjekt würden die einem Selbst unmittelbar zugänglichen ebenso wie dem Anderen unmittelbar sinnhaft mitteilbaren ‚inneren‘ Ziele und Motive mit den Angaben der Kursteilnehmer gleichgesetzt werden. Um kollektive Motivlagen zu ermitteln, könnten sodann Motivationscluster gebildet werden, wonach bspw. mögliche Aussichten auf eine Verbesserung der eigenen beruflichen, finanziellen oder sozialen Situation, Wünsche, anderen zu helfen oder interkulturell zu vermitteln, zu Gruppen von Aussagen zusammengefasst würden. Aus diskursanalytischer Perspektive hingegen würde die Aufmerksamkeit darauf gelenkt werden, wie die hier gemachten (Gruppen von) Aussagen in einen weiteren Sagbarkeitskontext mit spezifischen Regeln der Ausschließung oder Verknappung eingewoben sind. Die „Eigenschaften des Mentalen“ würden dabei gerade nicht im ‚Inneren‘ der Subjekte verortet, sondern als „diskursive Codierungen dessen, was in den Subjekten vorhanden sein soll“ (ebd.: 289), gelesen werden. Wenn eine angehende Lotsin hier etwa auf das Ziel der „Selbstentwicklung in Deutschland“ verweist, würde dies nicht mit einer individuellen, intrinsischen Motivation der Betreffenden gleichgesetzt, sondern als eine durch diskursive Ordnungen und ihre spezifischen Teilungspraktiken, integrationspolitischen Imperative und
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damit verbundene gouvernementale Selbstführungstechniken nahegelegte Aussage begriffen werden. Aus einer praxistheoretischen Perspektive lassen sich die Teilnehmeraussagen weniger als durch diskursive ‚Erwartungsstrukturen‘ nahegelegte beschreiben, sondern als eine spezifische Form der Artikulation, welche Aussagen mit einer konkreten räumlichen Anordnung und den an den Befragungspraktiken beteiligten Materialitäten verbindet und damit gleichsam formt.109 Hierzu gehören kleine Abfragekarten, die „viel zu wenig Platz“ für ausführliche Erläuterungen bieten und mit ihren unterschiedlichen Farben in Kombination mit persönlichen Schriftbildern allzu leicht die jeweilige Autorschaft verraten können sowie eine räumliche Anordnung, welche die Blicke der Teilnehmer auf ein noch leeres Flipchart lenkt und ihnen ihre Aufgabe auf diese Weise nachdrücklich vor Augen führt. Es liegt zunächst nahe, das dabei an den Körpern sichtbar werdende Ringen um Worte, welches sich überdies auf leeren, mitunter wüst bekritzelten und zerknüllten Kärtchen dokumentiert, fremdsprachlichen Schwierigkeiten einiger Teilnehmerinnen zuzuschreiben. Mit Schatzkis Siteontologie ließe es sich aber auch als ein grundlegenderes Explikationsproblem perspektivieren. Demnach wären die Teilnehmer in eine Landschaft präfigurierter Tätigkeitspfade (vgl. Schatzki 2002: 210) so stark involviert, dass es ihnen kaum möglich ist, anderen mit Bezug auf mentale Bedingungen, Wünsche und Ziele zu erklären, warum sie sich letzten Endes für einen Lotsenkurs angemeldet haben. Sie bewegen sich ‚im Fluss der Praxis‘ gerichtet, aber nicht im akteurszentrierten Sinne motiviert durch diese unterschiedlichsten Zusammenhänge. Die Kartenabfrage von Motivationen verlangt, dass die Teilnehmer die komplexen Handlungspfade, die sie in einen Kurs geführt haben, auf einen oder mehrere benennbare ursächliche Faktoren ‚herunterbrechen‘ – sie haben die präsentative Form der Praxis in eine diskursive Form zu bringen. Die angegebenen Motivationen werden dabei fortlaufend hinsichtlich ihrer Angemessenheit abgeschätzt und mit den Begründungen der anderen Kursteilnehmer abgeglichen. Nur so kann es ihnen gelingen, einerseits kollektiv anschlussfähige Aussagen herzustellen, andererseits aber auch keine redundanten, bereits von anderen gemachten Beiträge zu reproduzieren, welche deren Status als individuelle Motivationen in Frage stellen
109 Stuart Hall nutzt den hier reformulierten Begriff der Artikulation (articulation) in Anlehnung an Althusser in seiner englischsprachigen Doppelbedeutung im Sinne von Ausdruck oder Sprachformung auf der einen und Verkopplung auf der anderen Seite: „Eine Artikulation ist demzufolge eine Verknüpfungsform, die unter bestimmten Umständen aus zwei verschiedenen Elementen eine Einheit herstellen kann. Es ist eine Verbindung, die nicht für alle Zeiten notwendig, determiniert, absolut oder wesentlich ist.“ (Hall 2000: 65, Herv. AQ).
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würden. Die um Worte ringenden Körper verweisen auf Spannungen zwischen den Ansprüchen dieser Praktik und den sich hierzu aktiv ins Verhältnis setzenden Subjekten. Dass Karten von einigen Teilnehmern zurückgezogen werden, deutet auf Verwerfungen nicht diskursivierbarer Motivationen hin, welche sich entweder grundsätzlich einer sequenzialisierenden Versprachlichung entziehen oder nicht anschlussfähig an den im Kurs hervorgebrachten Diskurs erscheinen. Die Formulierung von Motivationen erfolgt situativ und ist dabei auf vielschichtige Weise transsituativ präfiguriert: In anderen sites, wie Integrationskursen oder Schulen, erworbene allgemeine Anschauungen (general understandings) über ‚Integration‘ und ‚Ehrenamt‘ leiten die Kundgabe persönlicher Motive ebenso an wie ein praktischer Sinn für das, was der Rahmen der Situation erfordert. Die Aussage „Ich habe den Integrationsprozess am eigenen Leib gespürt und möchte Erfahrungen und Wissen an andere weitergeben“ erweist sich vor dem Hintergrund des von der Projektkoordinatorin ‚verteidigten‘ Anforderungsprofils für Integrationslotsen mit authentischen, eigenleiblichen Migrationserfahrungen in geradezu paradigmatischer Weise als eine angemessene Artikulation. 3.1.3 Wege der Akquirierung Die Frage, wie Qualifizierungslehrgänge ihre Teilnehmer finden, ließe sich nach Shove et al. (2012: 63ff.) auch so formulieren: Wie werden Teilnehmer von Praktiken rekrutiert? Der im Militärischen beheimatete Begriff der Rekrutierung (lat. recrescere: wieder nachwachsen) irritiert dabei allerdings. Dieser bezieht sich auf die Einberufung neuer Mitglieder in eine militärische Einheit und zugleich auf die Aufrechterhaltung der Einheit (vgl. Horstmann 2010: 13). Mit der Rekrutierungsmetapher verbindet sich ein Verständnis von Praktiken, das diese als stabile, sich ständig reproduzierende Einheiten konzipiert und ihnen einen ‚Quasi-Subjektstatus‘ zuschreibt, welcher Teilnehmer im Umkehrschluss zu passiven Rekruten degradiert. Zwar unterscheiden Shove et al. Praktiken als „Einheiten“ (entitities) im Sinne relativ stabiler, diskursivierbarer Kombinationen aus bestimmten Elementen (meanings, competences, materials) von lokal variierenden Performanzen der Praktiker, welche Praktiken durch ihr aktives Zusammenfügen dieser Elemente, ständig verändern (vgl. ebd.: 126) – und scheinen insofern zunächst in eine ähnliche Richtung zu gehen wie die von mir vorgeschlagene Differenzierung zwischen Praktik und Praxis – doch letztlich betonen sie, ähnlich wie Schatzki, vor allem das reproduktive und kaum das transformatorische Moment einer offenen Praxis: „It is through performance, through the immediacy of doing, that the ‚pattern‘ provided by the practice-as-an-entity is filled out and reproduced. It is only through successive moments of performance that the interdependencies between elements which constitute the practice as entity are sustained over time“ (ebd., Herv. AQ). Performan-
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zen (oder: die Praxis), so klingt es an dieser Stelle, halten lediglich die Praktiken als Einheiten am Laufen und reproduzieren und stabilisieren so deren Muster. Gleichwohl lässt sich der Ansatz von Shove et al. zur Ausleuchtung von Akquirierungspraktiken nutzen, deren kontingente Verläufe sich allerdings erst aus einer ergänzenden Praxisperspektive sichtbar machen lassen. Ob und wie Teilnehmerinnen von Praktiken ‚rekrutiert‘ werden und sich in diese einbringen, hängt nach Shove et al. (ebd.: 78) von drei wesentlichen Bedingungen ab: Erstens von der Verteilung bzw. Verbreitung (distribution) von dem Wissen (competences) und den Materialitäten (materials), die zur Ausübung einer Praktik notwendig sind, sowie von symbolischen Bedeutungen (meanings), die einer Praktik zugeschrieben werden.110 Zweitens davon, welche Position eine Praktik im Verhältnis zu anderen Praktiken einnimmt. Und drittens von den Charakteristika der sozialen Netzwerke, durch die Praktiken zirkulieren und welche sie gleichsam konstituieren. Im Folgenden orientiere ich mich heuristisch an diesen Kategorien, halte dabei jedoch am Begriff der Akquirierung fest, um mich von einer tendenziell einseitig von oben nach unten gerichteten auf das reproduktive Moment der Praktik fokussierten Perspektive zu distanzieren und mir den Blick für die Offenheit der Akquirierungspraxis frei zu halten. 3.1.3.1 Kontingente Verläufe von Akquirierungspraktiken Unter Akquirierungspraktiken verstehe ich solche Praktiken, die gezielt auf die Adressierung und Anwerbung von Nachwuchslotsen gerichtet sind. Der folgende Auszug aus einem Interview mit zwei Mitgliedern eines Integrationslotsenvereins – einem aktiven Lotsen und einer Lotsin, die zugleich Dozentin für Integrationslotsenkurse ist – lenkt die Aufmerksamkeit auf Probleme, die sich aus einer Teilnehmerperspektive mit solchen Praktiken verbinden können. Lotse Faris Masaad: [...] das war Ihre Frage von vorhin, wie wir in diesen Bereich gekommen sind, ja? Die Volkshochschule hat, als die erste Qualifizierung hier stattgefunden hat, überlegt: Wer ist die Zielgruppe? Sie haben das in ihrem Programm geschrieben. Und dann haben sie direkt bestimmte Leute angeschrieben. Sie wussten genau, Herr Masaad ist aktiv. Er macht das auch. Wir kennen ihn. Er ist auch ein paar mal hier bei uns in der Volkshochschule gewesen mit Begleitung und so. Dann haben sie also einen Brief an ihn geschickt. Zahra An-
110 Unter Materialitäten fassen Shove et al. (2012: 23) Objekte, Artefakte, Infrastrukturen und Körper. Mit dem Begriff der Kompetenz ist sowohl implizites, praktisches Wissen wie auch explizites Wissen gemeint. Bedeutung steht bspw. für „mentale Aktivitäten“ oder Motivationen.
150 | M ITTLERSUBJEKTE DER M IGRATION tun ist auch aktiv hier, Herr Samet [ein weiterer Vereinslotse] ist auch aktiv. Und so haben sie dann Briefe geschickt, an ungefähr – so hat mir die Dame verraten – an über fünfzig Leute. AQ: Das heißt, der erste Kurs ist quasi nur über Einladungen zustande gekommen? Faris Masaad: Nein. Es gab auch öffentliche Werbung. Dozentin/Lotsin Zahra Antun: Ja, aber die Leute wussten noch nicht was das ist. Ich hab das erfahren... Faris Masaad: Lass mich zu Ende erzählen [lächelt]. Es gab also fünfzig Einladungen, von diesen fünfzig Einladungen sind acht Personen gekommen. Dann sind durch ihre Werbung zwei Deutsche gekommen, die Interesse an dem Thema hatten. Und das war ein Fehler von der Volkshochschule, sie haben nur an Migranten geschrieben. Sie haben gedacht, die Migranten, die...dieses Thema passt zu Migranten. Aber die kommen nicht. [...] Zahra Antun: Aber bis heute haben wir das Problem, dass zwar überall geschrieben wird, im Programm der Volkshochschule, in der Zeitung und so, aber bis heute kommen die Leute nicht. Vielleicht zwei oder drei Leute, aber die meisten sind Deutsche. Die Migranten lesen keine Zeitungen. Ganz wenig. Ganz selten, das sind so Ausnahmen. Und auch dieses Programmheft, die gucken das durch nach dem, was sie suchen, Sprachkurs oder irgendwas, und suchen nur da. Ich habe das auch bei unserem Heft [...] gesehen. Ich bin sicher, niemand wird das lesen. Und genauso ist es in Y-Stadt. Auch da sollten von der Stadt bestimmte Leute angeschrieben werden. Und das haben sie gemacht. Und auch so, dass sie erklären müssen, was das ist. Weil die meisten Leute verstehen nicht: „Ist das eine Pflicht nachher? Muss ich was machen?“. Obwohl von Anfang steht, dass es ehrenamtliche Arbeit ist. Aber sie denken immer noch... Faris Masaad: Weil sie das Wort Ehrenamt nicht verstehen. Zahra Antun: Und deshalb kommen nur ganz wenige Leute freiwillig. Und, das habe ich erlebt, zwei oder drei Deutsche [betont] sind gekommen. Kein Migrant ist freiwillig gekommen. Faris Masaad: Was diese Rede bestätigt ist, dass vor zwei Wochen die Volkshochschule uns als Verein eingeladen hat, zu einem Gespräch mit Frau Hampel [Mitarbeiterin der Volkshochschule]. Die Dame hatte auch bemerkt, dass dieses Programm die Migranten nicht erreicht. Und sie wollen jetzt ihre Werbung über unseren Verein durchführen. Es soll also eine Zusammenarbeit geben, dass wir zusammen die Zielgruppe erreichen. Zahra Antun: So dass man nicht mit Einladung kommt, sondern es ist offen. Wir brauchen viel Mund-zu-Mund-Propaganda. Faris Masaad: Und das ist eine alte Geschichte (Interview LV/ 31.08.2011, Zeilen 910-966).
Die hier eingebrachten Erklärungsansätze für eine vergleichsweise geringe Zahl migrantischer Novizen rekurrieren weder auf individuelle noch auf kollektive Motivlagen von Migranten, sondern machen hierfür implizit fehlgeleitete Praktiken der Teilnehmerakquise verantwortlich. Die Trägerorganisationen des Lotsenprojekts sind nach Einschätzung der Lotsen von der allzu einfachen Annahme ausgegangen,
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dass das Thema „Integrationslotsen“ schon zu der migrantischen Zielgruppe „passen“ und diese gewissermaßen aus sich heraus mobilisieren würde. Adressiert wurde, mit Ausnahme der schriftlichen Einladung persönlich bekannter Migranten, ein zu einer homogenen Einheit zusammengefasstes ‚Migrantenkollektiv‘. Die materiellen Medien der Anwerbung, wie schriftliche Einladungen oder öffentliche Werbung über Zeitungen oder Programmhefte, haben sich im Vollzug der Anwerbepraktiken allerdings aufgrund ihrer mangelnden Passung mit den Alltagspraktiken vieler Migranten als ungeeignet erwiesen. Die Kooperation mit einem Lotsenverein sowie ein Übergehen zu persönlichen Ansprachen und „Mund-zu-Mund-Propaganda“ sind vor diesem Hintergrund als Anpassungen von Akquirierungspraktiken an die in diesen Praktiken sichtbar werdenden Adressierbarkeiten und gescheiterten Anrufungen potentieller migrantischer Nachwuchslotsen anzusehen. Aufschlussreich erscheint die von den Befragten beschriebene Unsicherheit vieler Migranten hinsichtlich des Freiwilligkeits- bzw. Verpflichtungscharakters der Lotsentätigkeit zu sein, die von ihnen auf ein sprachliches Missverständnis bezüglich des Ehrenamt-Begriffs zurückgeführt wird. Mit Shove et al. könnte die Akquirierung hier also am Aspekt der (Sprach-)Kompetenz gescheitert sein. Andererseits ließe sich ins Feld führen, dass der Praktik von den Migranten eine spezifische Bedeutung (meaning) zugeschrieben wurde, die sie davon abgehalten hat, sich für einen Lotsenkurs anzumelden. Dieser Frage lässt sich weiter nachgehen, wenn Kompetenzen, Materialitäten und Bedeutungen nicht wie bei Shove et al. (2012: 22ff.) als Elemente einer Praktik gefasst werden, sondern Schatzkis Unterscheidung von Praktiken und Anordnungen als Orte der dinglichen und verkörperten Entitäten fruchtbar gemacht wird. Vergleicht man nämlich die Akquirierungspraktiken einzelner Kursformate miteinander, so wird deutlich, dass diese jeweils mit unterschiedlichen Anordnungen und darin kontextualisierten Materialitäten verknüpft sind. Künftige Hochschullotsen werden bspw. über E-Mailverteiler zu Informationsveranstaltungen eingeladen, über Institutionen für internationale Studierende sowie von Lehrenden in Seminaren und Vorlesungen interkultureller Studiengänge angesprochen. Darüber hinaus locken Informationsstände, die eigentlich der ‚Klientenakquise‘ dienen sollen, künftige Nachwuchskräfte an und ziehen diese mitten ins Geschehen, wie eine Hochschullotsin zum Ausdruck bringt: „Ich habe da diesen Stand in der Uni gesehen und bin neugierig geworden. Eigentlich wollte ich ja nur mal schauen, aber dann war ich schon mittendrin.“ Aus einer Beobachterperspektive stellen sich solche Informationsstände folgendermaßen dar: Ein Stand mit einem großen Plakat, auf dem das Logo der Hochschullotsen zu sehen ist, bestückt mit diversen Flyern und Infobroschüren, wurde im Foyer der Hochschule so postiert, dass Studierende auf ihrem Weg in die Mensa und Caféteria zwangsläufig daran vorbeikom-
152 | M ITTLERSUBJEKTE DER M IGRATION men müssen. Zwei Unilotsen befinden sich hinter der ‚Info-Theke‘, geben Material aus und erteilen freundlich Auskünfte über die Aktivitäten der Lotsen. Ihre offene und zugleich leicht distanzierte Haltung, ebenso wie die Kleidung (sie: dunkle Jeans und Bluse, er: dunkle Hose, helles Oberhemd und Jackett) strahlen Professionalität und Kompetenz aus. Die Szene wirkt inmitten des Mensa-Trubels fast deplatziert, erinnert sie doch an einen Stand auf einer internationalen Bewerbermesse, auf der Unternehmen um die ‚High Potentials‘ unter den Hochschulabsolventen werben.
Sowohl die Professionalität ausstrahlenden Körper als auch die „Rhetorik“ (Schmidt 2012: 148) der Gegenstände an diesem Informationsstand im universitären setting verheißen gewisse Chancen und Karrieremöglichkeiten – für entsprechend ausgerichtete Teilnehmer, d.h. solche, die über ein szenisches Verstehen verfügen, das entsprechende Sinnzuschreibungen und Erwartungshorizonte aufruft. So erzählt mir eine angehende Hochschullotsin später, dass sie sich mit der UnilotsenQualifizierung „mehrgleisig aufstellen“ wolle. Die „Migrationsschiene“ eröffne ihr auch für ihr Studienfach zahlreiche Berufschancen und, so aktualisiert sie eine allgemeine Verstehensweise: „Bürgerschaftliches Engagement macht sich eh gut im Lebenslauf.“ Die im letzten Kapitel behandelten Motivationen erscheinen vor diesem Hintergrund als Artikulationen, die nicht nur durch die Anordnung einer Kartenabfrage und die situativ in Geltung gesetzten Anforderungen des Integrationsdispositivs, sondern auch durch die jeweilige räumlich-materielle Anordnung von Anwerbepraktiken präfiguriert zu werden scheinen. Im Vergleich wird dies deutlich: Anders als Unilotsen geben Elternlotsen, die oftmals in ‚geselligen‘ Kontexten wie „Interkulturellen Kochkursen“ oder Frauentreffs angesprochen werden, häufig an, dass sie sich wünschten, „nette Leute aus anderen Kulturen“ kennenzulernen, „gemütlich beisammen zu sein“ und sich über ihre „Erfahrungen auszutauschen“ und schreiben der Ausbildung damit in erster Linie eine Verwertbarkeit als soziales Kapital, und nicht, wie im Kontext der Akquise in Hochschulen, als kulturelles Kapital zu. Die Anwerbung von Teilnehmern für Basisqualifizierungen wiederum setzt nicht nur auf Programmhefte der Trägerorganisationen, sondern ebenso auf persönliche Ansprachen im Rahmen von Sprachund Integrationskursen. Teilnehmer, die im Rahmen einer solchen Anordnung angeworben wurden, begründen ihre Motivationen später häufig damit, die „eigene Sprache verbessern“, sich „besser integrieren“ oder die „eigene Selbstentwicklung in Deutschland“ vorantreiben zu wollen – Motivationen, die sich in dem PraktikenArrangement und für die sich darin konstituierende Zielgruppe als angemessen erweisen. Sieht man Praktiken-Arrangements als Szenen der Akquirierung, die von den Teilnehmerinnen unwillkürlich erfasst werden und dabei einen szenischen Erwar-
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tungshorizont aufrufen, lässt sich dies genauer ausleuchten: Innerhalb der Anordnungen von Sprach- und Integrationskursen werden von den darin Situierten Verknüpfungen zwischen bekannten Lernpraktiken und den noch nicht in der Praxis erfahrenen, sondern vorgestellten Lotsenpraktiken hergestellt. Das Lotsen wird, mit anderen Worten, vor dem szenischen Hintergrund eines Sprach- bzw. Integrationskurses gesehen. Auf diese Weise werden auch den Ausbildungspraktiken der Lotsenkurse die für Sprach- und Integrationskurse maßgeblichen normativen Ziele wie Sprachverbesserung, Integration und Selbstentwicklung zugeschrieben. Zugleich ruft die Anwerbung von Migranten in Integrationskursen, d.h. im Rahmen eines Praktiken-Arrangements, das für die meisten von ihnen verpflichtenden Charakter hat und auf verbindliche Lernziele und Prüfungen ausgerichtet ist, einen Erwartungshorizont auf, in dem auch mit den Lotsenkursen derartige Regeln assoziiert werden. Dafür spricht bspw. auch, dass Teilnehmer von Lotsenkursen immer wieder davon berichten, dass sie nach Ansprachen durch Dozenten in Integrationskursen „die Maßnahme wahrgenommen“ hätten. Die in der obigen Interviewsequenz von den beiden Lotsen beschriebene Unsicherheit von Migranten in Bezug auf den Verpflichtungs- bzw. Freiwilligkeitscharakter des Lotsenehrenamts erscheint vor diesem Hintergrund in einem anderen Licht: außer einem bloß sprachlichen Verständnisproblem hinsichtlich der Wortbedeutung des Ehrenamts lässt sie sich auf eine ‚fehlerhafte‘ Deutung eines „szenischen Arrangements“ (Lorenzer 1973: 141) zurückführen, welches in vergangenen Interaktionen entstanden ist und das Erleben der aktuellen Szene mitorganisiert. 3.1.3.2 Akquirierung über das dominant project der Alltagshilfe „Mich hat das interessiert, weil ich es wirklich immer gemacht habe.“ „Ich mache das, seitdem ich ein Kind bin. Oft wurde ich einfach angesprochen, auch weil ich schnell deutsch gelernt habe. Das ist im Blut drin, dass man gerne hilft.“
Während im letzten Abschnitt die Bedeutsamkeit von speziellen Akquirierungspraktiken und der darüber aufgespannten Erwartungshorizonte herausgearbeitet wurde, soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, wie die Anwerbung neuer Lotsen indirekt an die vormaligen Alltagshelferpraktiken migrantischer Nachwuchslotsen anknüpft. Erhellen lässt sich dies mittels rekonstruierter Teilnehmerperspektiven auf Wege in das Lotsenprojekt.
154 | M ITTLERSUBJEKTE DER M IGRATION AQ: Was mich zunächst interessieren würde: Wie kam es dazu, dass du dich bei dem Kurs angemeldet hast? Lotsin (L2): Also es kam dazu... [hält inne]. Ein Bekannter von mir war auch, ist Migrationslotse aber nicht hier, in Z-Stadt. Und der hat immer so davon erzählt und bei mir war es halt immer so, ich hab schon familiär ganz viel geholfen. Ob es Briefe übersetzen, zum Arzt begleiten und so weiter war. Immerzu. Ich hatte da keine Hemmungen. Und das hat mich schon interessiert, weil man die Hilfe nicht so... Also muss man ja ganz ehrlich sagen, man bekommt die Hilfe nicht [betont] von Deutschen oder von dem Amt, die dann mit einem mitgehen. Ja und ähm es hat mich schon immer interessiert, weil ich mein, meine Mama musste auch immer zum Arzt, dann sind wir immer mitgegangen. Dann haben wir von der Schule irgendwie zwei Stunden frei bekommen deswegen, dass wir eben mitgehen können. Ich fand’s einfach – weiß ich nicht – so was fehlt einfach. Und mich hat das interessiert, weil ich es wirklich immer gemacht habe und ähm, ich mein, ich helf gerne und wenn ich meinen Landsleuten [schmunzelt] oder auch anderen helfen kann – wieso nicht?! Daher kam ich dann. So kannst du es ja auch offiziell machen (Interview L2/ 28.06.2011, Zeilen 13-34).
Deutlich wird in diesem Interviewausschnitt, dass zu einer Akquirierung über soziale Netzwerke, hier: die persönliche Ansprache durch einen Bekannten, etwas hinzukommen muss, das die Betreffende überhaupt empfänglich für eine Adressierung als Lotsin werden lässt. Das Lotsenprojekt scheint einen Erwartungshorizont bzw. eine in der eigenen Alltagshelferpraxis der Begleitung entwickelte szenische Vorstellung von Praktiken aufzurufen, welche an jene anknüpfen, die ihr zutiefst vertraut sind, weil sie „es wirklich immer gemacht“. Implizit wird eine Gemeinsamkeit zwischen Praktiken der Alltagshilfe und den Lotsenpraktiken hergestellt, indem beiden dieselbe Bedeutung (meaning) zugeschrieben wird: es handelt sich demnach um Formen von Hilfestellungen, „die man von Deutschen oder vom Amt“ nicht bekommt. Solche Praktiken zeichnen sich aus der Perspektive der Alltagshelferin dadurch aus, ein von ihr wahrgenommenes Unterstützungsdefizit zu kompensieren, welches auch darin bestehe, dass Behördenvertreter nicht „mit einem mitgehen“. Hierbei vollzieht sich ein diskursives doing difference, das zunächst die Mitgliedschaftskategorie der Nation, dann verstärkt die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv von Funktionsträgern aktualisiert.111 Gleichzeitig werden zwischen den Praktiken der Alltagshilfe und den imaginierten Praktiken des Lotsens Differenzen hergestellt: Richtet sich die Alltagshilfe
111 Die Frage, was an dieser Repräsentation durch die Anwesenheit einer als ‚deutsch‘ identifizierten Forscherin präfiguriert ist und ob in der Praxis der Alltagshilfe ein Begegnungsraum hergestellt wird, der sich ebenfalls über diese performativen Grenzziehungen konstituiert, lässt sich anhand des empirischen Materials nicht beantworten, sondern würde eine Beobachtbarmachung von Alltagshilfepraktiken voraussetzen.
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vorwiegend auf Bekannte und eigene Landsleute, spannen sich Lotsenpraktiken in der Erwartung der Befragten auf einen größeren, „auch andere“ einschließenden Klientenkreis auf. Darüber hinaus verspricht die Lotsenausbildung dem, was die Kursteilnehmerin „immer gemacht“ hat, einen Status des Offiziellen zu verleihen. In einem Pausengespräch während der Lotsenqualifizierung führt die befragte Alltagshelferin weiter aus, dass sie durch den Kurs das eigene „Profil abrunden“ wolle und sich verbesserte Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhoffe, da „ja in Unternehmen und Behörden zunehmend Mehrsprachigkeit gefragt“ sei. Sie rekurriert damit auf jene Möglichkeitsräume, die sich aus den Verschiebungen des Integrationsdispositivs hin zu einer ‚Interkulturellen Öffnung‘ für Migrantinnen ergeben, und versucht diese, mittels einer ‚Profilabrundung‘ durch den Lotsenkurs für ihre Position auf dem regulären Arbeitsmarkt nutzbar zu machen. Die Antwort einer weiteren Lotsin und ehemaligen Alltagshelferin auf dieselbe Frage folgt in vielerlei Hinsicht einem ähnlichen Muster, lenkt die Aufmerksamkeit aber noch auf einen entscheidenden zusätzlichen Aspekt: Lotsin (L1): Ich war sechzehn [räuspert sich, lacht]. Also es hat angefangen mit meiner Familie. Ich war dann immer dabei. Bei Behörden, bei Ärzten, überall. Ich habe so Erfahrungen gesammelt. [...] Also ich bin, ich hab Mut immer zu Fragen, immer hinterher. Ich bin nicht so äh zurückgezogen, also eher, ich bin mutig und frage einfach alles und scheue gar nichts, also ich habe keine Angst vor irgendwas. [...] Und das hat sich dann rumgesprochen. Alle wussten davon: Nachbarn, Verwandte. Dies und das und wenn es nur eine Kleinigkeit auszufüllen ist, kommen sie zu mir. Also vorher hatte ich auch nicht so viel... also da hatte ich noch keine drei Kinder gehabt. Ich war ja noch nicht mal verheiratet am Anfang. Und mit einem Kind das ging noch alles. Und dann bin ich jeden Tag, jeden [gedehnt] Tag wirklich von neun Uhr bis eins mitgegangen, wieder zurückgekommen nach Hause und hab immer mit jemanden Termine gehabt. Da und hier und überall. Jederzeit. Also ich helfe gern. Ich kann nicht „nein“ sagen, wenn ich sehe, dass jemand Hilfe braucht. Wenn ich helfen kann, ein bisschen beraten, dann mache ich das auch, dann suche ich mir diese Zeit, um dem zu helfen. Also das habe ich so von Anfang an gemacht. AQ: Und das hast Du dann immer auch auf einer ehrenamtlichen Basis gemacht? L1: Ja. Immer ehrenamtlich, immer äh Menschen zu Gute, also wirklich gar nichts dabei gedacht. Aber mit der Zeit habe ich dann in der Gemeinwesenarbeit gehört, da gibt es ja auch diese ehrenamtliche Arbeit als Lotse und so. Und so kam es dann. Eins nach dem anderen (Interview L1/ 27.06.2011, Zeilen 81-110).
Deutlich wird in diesem Interview, dass Alltagshilfe neben Mut offenbar einen ebenso großen Zeit- und Energieaufwand und ein ebenso großes persönliches Engagement wie eine Berufstätigkeit erfordert, denn in dem Moment, wo mehrere
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Kinder hinzukommen, wird es für die Alltagshelferin schwierig, Familie und ihre Hilfeleistungen im expandierenden Bekanntenkreis miteinander zu vereinbaren. Mit Shove et al. lässt sich die Alltagshilfe als ein dominant project beschreiben, das mit dem des Aufziehens von Kindern konkurriert. Beide Praktikenbündel erfordern es, dass sich ihre Träger in einer bestimmten Art und Weise, zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten in besonderem Maße engagieren müssen (vgl. Shove et al. 2012: 78f.).112 Da Praktiken nach Shove et al. im Allgemeinen um Energien, Zeit und gelegentlich auch Raum konkurrieren, prägen diese Handvoll dominant projects die Tagesabläufe und Lebenswege der Praktiker in besonderer Weise und andere Praktiken müssen ihnen gegenüber in den Hintergrund treten. Deshalb haben dominant projects, in die sich Subjekte stärker einbringen (müssen) als in andere, nicht nur auf die Praktiker einen großen Einfluss, sondern ebenso auf gesellschaftliche Institutionen 113 : „Dominant projects are influential on several fronts at once. In concentrating priorities and energies they focus time and attention in some directions and not others. This has consequences for the skills and expectations that develop as a result. By these means, individuals’ lives are woven into the reproduction of dominant societal institutions“ (Shove et al. 2012: 79, Herv. AQ). Während die Frage, wie das dominant project der Alltagshilfe in ein Projekt des Lotsen(s) umgewandelt wird und inwiefern sich dieser Prozess als Reproduktion bzw. Transformation einer sozialen Institution der Hilfe lesen lässt im Verlauf der Arbeit weiterverfolgt wird, lassen sich an dieser Stelle bereits einige zentrale Merkmale des dominant project der Alltagshilfe zusammentragen. Liest man die Interviewausschnitte als Teilnehmerauskünfte über Praktiken, tritt ein Bündel von Alltagshilfepraktiken der Begleitung, der sprachlichen Übersetzung sowie der Beratung in den Blick, das in behördlichen Kontexten, aber auch bspw. bei Arztbesuchen zum Einsatz kommt. Der Einstieg in diese Praktiken vollzieht sich weder über spezifische Akquirierungspraktiken, noch folgt er einem vorab ausgearbeiteten Plan; es wird „nichts dabei gedacht“, sondern wie selbstverständlich geholfen.114 Im Vollzug der Praktiken wird ein knowing how ausgebildet, wel-
112 Shove et al. beziehen sich hierbei auf den „dominant projects“-Ansatz von Pred, A. (1981): Social reproduction and the time-geography of everyday life. Geografiska Annaler. Series B. Human Geography, 63 (1), 5-22: 16. 113 Shove et al. begreifen Zeit als „a finite ressource for which practices compete“ (ebd.: 127). In ähnlicher Weise gehen sie von „spatial needs einer Praktik“ (ebd.: 131) aus, heben allerdings hervor, dass sich Konkurrenzen um den Raum oftmals über physische bzw. virtuelle Mobilität aushebeln lassen bzw. aufgrund von Mobilität gar nicht erst entstehen. 114 Dies soll keineswegs heißen, dass es sich bei der Alltagshilfe um ‚planlos‘ vollzogene Praktiken handelt. Folgt man dem Ansatz des „erfahrungsgeleitet-subjektivierenden
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ches „kreativ und explorativ“ (Hörning & Reuter 2004: 11) zum Einsatz kommt und bei der Bewältigung neuer Situationen im Sinne eines „in der Praxis gewonnenen Erfahrungswissens“ (Böhle 2004: 40, Herv. AQ) fortlaufend weiterentwickelt wird. Die zunächst auf familiäre Arrangements bezogenen Praktiken weiten sich im Zuge dieser praktischen Professionalisierung auf Nachbarn, entferntere Bekannte oder sogar die Gemeinde aus, basieren dabei aber weiterhin auf einem Netzwerk persönlicher Kontakte und Ansprachen. Die Helfer haben keine terminierten Arbeitszeiten, sondern kommen „jederzeit“ zum Einsatz. Auch verfügen sie nicht über den festen Ort eines Büros, sondern sind „da und hier und überall“ aktiv – anders als Behördenvertreter können sie mit den Migranten „mitgehen“. Sie bilden somit in den Praktiken eine überaus hohe Mobilität und zeitliche Flexibilität aus, die sie wiederum als Fähigkeiten in die Praktiken einbringen. „Mut“ bzw. „keine Hemmungen“ im Sinne einer Bereitschaft zu haben, auch unbequeme Fragen zu stellen, kann ebenfalls als Teil der praktischen Intelligibilität der Alltagshelfer beschrieben werden, die in den Praktiken der Alltagshilfe erworben und kultiviert wird. Zusammengefasst lassen sich migrantische Helfer als „Experten des Alltags“ (Hörning 2001) beschreiben, deren Expertise weder in Ausbildungsgängen noch in formellen Arbeitszusammenhängen, sondern in alltäglichen Praktiken des Begleitens, Beratens und Übersetzens erworben wird und sich aus einer, hier lediglich angedeuteten, Vielfalt an praktisch erworbenen Wissensformen und Fähigkeiten zusammensetzt. Alltagshilfe bezeichnet somit eine Hilfe, die außerhalb spezieller Zweckorganisationen angesiedelt ist. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass es in letzteren keinen Alltag gibt und andererseits mag „der Alltag außerhalb der Zweckorganisationen keinesfalls so offen, zufällig und überschaubar [sein], wie es aus dem Blickwinkel der formalen Organisationen aussieht bzw. aussehen soll.“ (Ebd.: 32) Auf die empirisch auszuleuchtende Frage nach der Informalität bzw. Formalität der Alltagshilfe im Vergleich zur Lotsenpraxis komme ich in Kapitel 3.4 zurück. 3.1.4 Zwischenresümee Wer kann Integrationslotse werden? Vorläufige Antwort: Eigentlich jeder. Zwar wird programmatisch ein vages Anforderungsprofil abgesteckt, das eigene Migrationserfahrungen und eine geglückte Integration sowie gute deutsche Sprachkennt-
Arbeitshandeln“ kommen Pläne jedoch nicht als etwas der Handlung vorgängiges zum Einsatz, sondern sie werden in praktischen, „entdeckend-explorativen“ Vollzügen entwickelt: „Die durch eine bestimmte Handlung ausgelösten Wirkungen und Reaktionen beeinflussen das weitere Vorgehen, im Vollzug des praktischen Handelns werden die (Handlungs-)Ziele eruiert und festgelegt. Das ‚Herantasten‘ an eine Lösung ist hierfür typisch [...].“ (Böhle 2004: 45).
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nisse als Eignungskriterien hervorhebt, doch genauso wie zunehmend gerichtet programmatisch titulierte Einheimische für die Lotsenqualifizierung angeworben werden, findet eine gezielte Akquirierung von als Migranten Adressierten mitunter schon vor dem Besuch eines Sprach- oder Integrationskurses statt. Dass somit immer mehr Integrationslotsen ‚auf den Markt‘ drängen, führt im Innenverhältnis des Lotsenprojekts zu einem Positionsgerangel, das keineswegs abgekoppelt von der übrigen Welt, sondern aufs Engste auf diese bezogen ist: Aus der Perspektive migrantischer Dozenten wird die Einbeziehung Einheimischer einerseits begrüßt, da der Lotsenkurs „die Welt da draußen“ widerspiegeln solle. Andererseits werden einheimische Erfahrungen mit Migration und Integration tendenziell als weniger authentisch als die von Migranten abgewertet. Hier deutet sich an, dass leibhaftige Migrationserfahrungen in biographisches Kapital transformiert werden können und damit innerhalb des Lotsenprojektes an Wert gewinnen. Im Außenverhältnis, insbesondere dort, wo es um die öffentliche Sichtbarmachung von gut integrierten ‚Vorzeigemigranten‘ geht, scheint die Wertschöpfung hingegen weiterhin auf klassischem kulturellen Kapital wie formellem Bildungsgrad und beruflichem Erfolg zu fußen. Anders als die Dozenten befürchten migrantische Lotsen dank der Akquirierung immer weiterer Migranten, denen sie einen niedrigeren Integrationsstatus zuschreiben als sich selbst, eine Verwässerung des Lotsenprofils und damit eine Abwertung des eigenen an den Lotsentitel geknüpften symbolischen Kapitals. Der Frage nach dem Verhältnis von Möglichkeiten der Kapitalverwertung im Binnenraum des Lotsenprojektes und seinem ‚Außen‘ sowie damit verbundenen Positionierungskämpfen wird in den nachfolgenden Analysen weiter nachgegangen. Doch zunächst zu der Frage, wie Teilnehmer in das Lotsenprojekt finden: die Anwerbung neuer Lotsen erfolgt zum einen mittels spezifischer Akquirierungspraktiken und zum anderen, indem an das dominant project der Alltagshilfe angeknüpft wird. In beiden Fällen wird deutlich, dass es sich hierbei um überaus voraussetzungsvolle Prozesse handelt, die in und an der Praxis vielfach scheitern können – sie verweisen damit auf die Grenzen einer Perspektive, die von einer Rekrutierungslogik ‚überschwebender‘ Praktiken ausgeht und damit auch auf die Grenzen einer sozialtechnologischen Steuerbarkeit praktischer Akquirierungen.115 Die Modifikationen des Anforderungsprofils für künftige Integrationslotsen ebenso wie die Anpassungen der Kanäle, Materialitäten und Netzwerke der Anwer-
115 Mit Traue können Sozialtechnologien aus gouvernementalitätstheoretischer Perspektive als „die Verbindungen zwischen zeichenhaften und nicht-zeichenhaften Dingen und Wirkungen bezeichnet werden, die darauf ausgerichtet sind, die Handlungs- oder Wahrnehmungsweise von Individuen, Gruppen und ganzen Bevölkerungen zu verändern. Das strategische Moment, mit anderen Worten: ihre Instrumentalität ist ein Definitionsmerkmal von Sozialtechnologien.“ (Traue 2010: 35).
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bung können als Versuche gelesen werden, Handlungspfade der Lotsenkandidaten gezielt zu beeinflussen und neue Angriffspunkte für Akquirierungspraktiken zu entwickeln. Materialien und Medien (Briefe, Flyer, Zeitungen, Programmhefte, mündliche Ansprachen, Emailverteiler, Werbestände etc.) und die Orte der Anwerbung (Sprach- und Integrationskurse, Frauentreffs, Kochkurse, Seminare, Vorlesungen, private Kontexte, virtuelle Räume etc.) lassen sich prinzipiell so variieren, dass damit ein zunehmend breiter und heterogener Adressatenkreis seine Anrufung als potentieller Nachwuchslotse physisch und aus einer bestimmten räumlichen Perspektive heraus vernehmen kann. Darüber hinaus müssen die Adressierungen aber auch ‚richtig‘, d.h. der Praktik angemessen eingeordnet und interpretiert werden. Dies gelingt allerdings nicht in jedem Fall, da potentielle Lotsenkandidaten die Akquirierungen vor dem Hintergrund unterschiedlicher Erwartungshorizonte, die durch räumlich-materielle Anordnungen aufgerufen werden mittels ihres jeweiligen szenischen Verstehens in unterschiedlicher Weise deuten. So rufen bspw. Akquirierungen in Form einer persönlichen Adressierung durch eine Dozentin in der Anordnung eines Integrations- oder Sprachkurses, wo verpflichtende Lernpraktiken stattfinden, die Vorstellung hervor, dass eine Lotsentätigkeit einen genauso verpflichtenden Charakter besitze. Statt von einer Akquirierungspraktik rekrutiert zu werden, erfassen die Teilnehmenden die jeweilige Anwerbungsszene unwillkürlich mittels ihres in Vorerfahrungen erworbenen szenischen Verstehens und zugleich wirken sie am weiteren Verlauf der Anwerbungsszene mit. Die Akquirierung über das dominant project der Alltagshilfe kann als Versuch gelesen werden, die Wege zu beeinflussen, „in which practices relate to each other and the careers and trajectories of practices and those who carry them“ (Shove et al. 2012: 19). Doch auch hier haben wir es nicht mit einer einfachen Rekrutierung in das Lotsenprojekt zu tun. Vielmehr weisen Shove et al. selbst darauf hin, dass derartige Versuche in ihren instrumentellen Möglichkeiten begrenzt sind, denn „institutions involved in developing or circulating the elements of which practices are made [d.s. Materialitäten, Bedeutung, Wissen] rarely control the manner in which they are combined“ (Shove et al. 2012: 39, Herv. AQ). Diese Kombinationsleistungen sowie das Herstellen von Bezügen zwischen Praktiken, hier von Alltagshelferund imaginierten Lotsenpraktiken, müssen vielmehr von den Rekrutierungskandidaten selbst aktiv erbracht werden. Leuchtet man diese Verknüpfungen und Kombinationsleistungen aus, so zeigt sich, dass die Lotsenanwärter aus ihrem Erfahrungshorizont als Alltagshelfer in Verbindung mit zirkulierenden allgemeinen Verstehensweisen, wonach beispielsweise „in Unternehmen und Behörden zunehmend Mehrsprachigkeit gefragt“ ist, auf die Ausrichtung von Lotsenpraktiken schließen und diesen eine spezifische Bedeutung beimessen. Akquirierungen in das Lotsen-
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projekt werden vor diesem Hintergrund von den Kandidatinnen auf eine vielfach präfigurierte und zugleich ‚eigene‘ Weise nutzbar gemacht.
3.2 A USBILDUNG Welche „Bildungsarbeit“ (Bourdieu 1997: 167) wird in den rund zweimonatigen Lehrgängen für Integrationslotsen an den Teilnehmenden vorgenommen, um diese zu Mittlersubjekten zu machen? Welche Selbst-Welt-Verhältnisse müssen die Anwesenden herstellen, um sich als angehende Lotsen im buchstäblichen Sinne zu qualifizieren und intelligibel zu machen? Welche Medien, Techniken und Wissensformen kommen dabei zum Einsatz? Wie konstituieren sich Lotsen und Begegnungsräume wechselseitig, wie werden Teilnehmende also durch spezifische Aktualisierungen der Relation zwischen Eigenem und Fremdem zu Integrationslotsen und wie bringen sie mittels eines performativen doing difference ihrerseits Begegnungsräume hervor? Diese Fragen leiten die folgende Analyse von Ausbildungspraktiken an. Um die Ausbildungspraxis in ihrer szenischen Einbettung umschreiben zu können, werden zunächst die mit den Lehr- bzw. Lernpraktiken verwobenen Anordnungen (arrangements) grob skizziert (3.2.1). Das anschließende Kapitel gibt einen ersten Überblick über Stufen- und Schrittfolgen eines Trainingsprogramms und damit verbundene Wissensformen, welche innerhalb des Integrationslotsenlehrgangs bestimmte Zeit-Räume zugewiesen bekommen, diese in der Ausbildungspraxis aber mitunter unterlaufen (3.2.2). Wie auf den einzelnen Stufen des Lehrgangs unterschiedliche Formen von Wissen (wissenschaftliches Wissen, explizites Regelwissen, Erfahrungswissen, Gefühlswissen, selbstreferentielles Wissen, Kompetenzen) miteinander verwoben werden und angehende Integrationslotsen dabei mittels verschiedener Lehrformate (Unterrichtung, Selbst-/Befragung, Übung, Spiel) lernen, spezifische Selbst-, Anderen- und Weltverhältnisse auszubilden, wird in den darauffolgenden Kapiteln (3.2.3-3.2.5) beleuchtet. Um diese Prozesse und ihre medialen Einsätze noch nuancierter beschreiben zu können, wird der Fokus im anschließenden Kapitel (3.2.6) auf einzelne Trainingseinheiten gerichtet. 3.2.1 Die Anordnungen der Ausbildungspraktiken Ich befinde mich in einem Seminarraum mit allem was dazu gehört: Stühle, Tische, Tafeln etc.. Ich geselle mich zu den sitzenden Zuhörern und richte den Blick auf die vorne stehende Dozentin. Wenn ich ,auf stumm schalten‘ würde, könnte ich an dem Gebäude und den heterogenen Altersgruppen im Seminarraum wohl sofort festmachen, dass ich mich nicht in einer
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Schulstunde befinde. Ich könnte aber zunächst kaum unterscheiden, ob ich an irgendeinem Erwachsenenbildungsseminar oder einem Lotsenkurs teilhabe.116
Die site eines Lotsenkurses setzt sich aus spezifischen Ausbildungspraktiken und damit verwobenen Anordnungen (arrangements) zusammen. Zum arrangement der Lotsenausbildung gehören regelmäßig die oftmals zu zweit unterrichtenden Dozenten, die Kursteilnehmer sowie – im Rahmen dieser Forschung – die Praxeographin.117 Darüber hinaus nehmen als ‚Expertinnen‘ für bestimmte Themen auch externe Referentinnen sowie – meist gegen Ende des Lehrgangs – die Projektkoordinatoren an den Kursen teil. Projektkoordinatoren sind im Auftrag der Trägerorganisationen für den Einsatz ehrenamtlicher Integrationslotsen und deren Einbindung in die örtlichen Strukturen zuständig (vgl. „Richtlinie Integrationslotsen“ 2007). Gelegentlich kommen Vertreter von Institutionen wie der Ausländerbehörde, der Migrationserstberatung oder der Gemeinwesenarbeit und bereits aktive Lotsen als Gäste und (potentielle) Kooperationspartner hinzu, welche maßgeblich daran beteiligt sind, Übergänge in die spätere Tätigkeit des Lotsens vorzubereiten (vgl. Kapitel 3.3). Zum Einsatz kommen Artefakte wie Schreibtische, Stühle, Tafeln, Kopien, Flipcharts oder Computer, die zunächst einmal völlig unspezifisch für einen Lotsenkurs sind. Über sie werden die Praktiken der Lotsenausbildung, siteontologisch formuliert, in einer sie selbst präfigurierenden Weise mit allgemeinen Lehr- und Präsentationspraktiken pädagogischer Anordnungen verknüpft. Im Kontext der Ausbildungspraktiken erlangen einige dieser Artefakte allerdings eine spezifische Bedeutung (meaning im Sinne Schatzkis), welche die Voraussetzung dafür bilden, dass sich ein zunächst nicht klar einzuordnendes Erwachsenenbildungsseminar überhaupt als Lotsenkurs ausweisen kann.
116 Feldtagebuchauszug zu Beginn eines Lehrgangs. 117 Das die Qualifizierung begleitende Handbuch schlägt für die Kursleitung explizit eine Doppeldozentur vor, welche unterschiedliche „Merkmale“ hinsichtlich Herkunft, Geschlecht oder Alter einbringen solle. Eine solche sei am ehesten dazu geeignet, „Methodenvielfalt und Flexibilität in der Durchführung“ sicherzustellen, welche angesichts der Heterogenität der Teilnehmenden hinsichtlich ihrer Motivationen, Lebenssituationen, Biographien und Berufsfelder erforderlich sei (vgl. Müller-Wille 2007: 9, 11). Die Finanzierung zweier Lehrkräfte wird damit über eine Verknüpfung didaktischer und (migrations-)pädagogischer Vorstellungen legitimiert. Wie mir eine Dozentin später erzählt, wolle man inzwischen allerdings stärker zu einer Einzeldozentur übergehen. In der Aktualisierung der Richtlinie Integrationslotsen (2012) findet dies seinen Ausdruck darin, dass nun ein „Nachweis der Notwendigkeit von Doppeldozentur“ zu erbringen ist.
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Hierzu gehört das begleitende Handbuch zum Lehrgang, das als Regel- und Nachschlagewerk, Orientierungsrahmen und Anforderungskatalog für Kursteilnehmer ebenso wie für Dozenten fungiert, indem es Kopiervorlagen liefert, Lernziele beschreibt und, wie noch deutlich werden wird, auf vorangegangene Lehrgänge als ‚Anschauungsbeispiele‘ verweist. Laut der Verfasserin, Christina MüllerWille, die bis 2010 Leiterin der Migrationsberatung der Arbeiterwohlfahrt in Osnabrück war, basiert das Konzept des Basislehrgangs „auf den Erfahrungen der Arbeiterwohlfahrt in der Aussiedlerberatung, der Ausländersozialberatung und der Migrationserstberatung“ (Müller-Wille 2007: 4). Ausgearbeitet wurde dieses ‚Fahrtenbuch‘, nachdem der Basislehrgang bereits dreimal in der Stadt Osnabrück durchgeführt wurde. „Die praktischen Ergebnisse aus den drei Lehrgängen“ wurden hier „in Form von Handreichungen und Arbeitshilfen“ zusammengefasst, welche „den jeweiligen kommunalen bzw. regionalen Gegebenheiten anzupassen“ seien (ebd.). Das Handbuch lässt sich im Anschluss an Thomas Scheffer als ein „formatives Objekt“ beschreiben, das sowohl formbar als auch zu formen ist und formierend wirkt; es ist „Gegenstand von Veränderungen sowie Integrationsmittel des Zusammenhangs, der es hervorbringt“ (Scheffer 2013: 88). Indem es Vorangegangenes (praktische Ergebnisse bisheriger Basislehrgänge) und Anderweitiges (Praktiken aus sites der Migrationsberatung, der Pädagogik, des Projektmanagements etc.) einspeist und Vorgaben für Künftiges macht, übersteigt es die jeweilige Beobachtungssituation in raum-zeitlicher Hinsicht; es passiert damit bspw. bestimmte Übungsereignisse und steht weiteren Ereignissen zur Verfügung (vgl. Scheffer 2005: 376).118 Machttheoretisch lässt sich das Handbuch als ein explizites Regel-
118 Die Formungsarbeit an diesem Objekt geht fortlaufend weiter. Seit 2012 liegt ein neues, ebenfalls von Müller-Wille herausgegebenes Handbuch mit dem Titel „Integrationslotsen in Niedersachsen. Materialien für den Basislehrgang Qualifizierung für das ehrenamtliche Integrationsengagement“ vor. „Die Materialsammlung ist eine vollständig überarbeitete und aktualisierte Fassung des Handbuches. In die Materialiensammlung sind vor allen Dingen die Evaluationserkenntnisse eingeflossen [....]. Die überarbeitete Strukturgebung soll helfen, potenzielle Träger des Basislehrgangs vor Ort, aber besonders Dozentinnen und Dozenten, in die Lage zu versetzen, schnell, fundiert und dennoch überschaubar, sich einen Überblick zu den Anforderungen an Planung und Durchführung des Basislehrgangs zu verschaffen. Der Materialsammlung ist zu wünschen, dass sie schnell von der Praxis angenommen wird. Bei allen Unterschiedlichkeiten in der jeweiligen Umsetzungspraxis vor Ort liegt damit ein einheitliches Konzept zur Ausbildung von Integrationslotsinnen und –lotsen vor“ (aus dem Vorwort des Handbuchs von Müller-Wille 2012: 4, Herv. AQ). Einen ähnlichen Formatierungsprozess durchläuft auch die „Richtlinie Integrationslotsen“. Gegenüber der Fassung von 2007 wird
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werk lesen, das angibt, was geschehen soll (Zielsetzungen) und wie es zu geschehen hat, indem es die jeweiligen als notwendig für die Zielerreichung erachteten Stufen und Schrittfolgen präfiguriert.119 Es steckt somit Regeln (rules) ab, welche eine entscheidende, jedoch nicht die alleinige Quelle für eine gewisse Regelmäßigkeit der Ausbildungspraktiken ist. Denn ebenso sorgen Leitsätze von Kursleiterinnen wie „Man muss Erfolg und Misserfolg der Integration unbedingt messen, egal wo, in welchem Bereich“ als breit akzeptierte general understandings dafür, dass die Ausbildungspraktiken mit speziellen Anforderungen einhergehen, welche wiederum mit den Direktiven des Handbuchs wie auch mit allgemeinen Projektmanagementvorgaben zusammenhängen.120 Ein zu Beginn der Lehrgänge auf einem Flipchart vorläufig fixierter und mitunter im Kursverlauf modifizierter „Verhaltenskodex“ (Feldbegriff) expliziert darüber hinaus Regeln wie Pünktlichkeit und Verschwiegenheit und legt damit bestimmte Verhaltensweisen sowohl vor als auch nach, innerhalb wie außerhalb der Lehrsituationen nahe. In ähnlicher Weise halten spezielle Formate, wie die „Frageliste“ oder der „Themenspeicher“ (Feldbegriffe), verschriftlichte (Zwischen-)Ergebnisse, Fragestellungen und Klärungs- oder Vertiefungsbedarfe hinsichtlich spezieller Themenkomplexe fest. Sie sind damit zugleich als Gedächtnis vergangener und Plan künftiger Aktivitäten in die Ausbildungspraktiken verwickelt, indem sie mitunter flüch-
mit der neuen Richtlinie von 2012 bspw. der zeitliche Umfang der Kurse von 100 auf 50 Unterrichtsstunden pro Qualifizierungsmaßnahme reduziert. Eingefügt wird ein Passus, der herausstellt, dass „die Begleitung, die Vernetzung sowie der Einsatz der nach dieser Richtlinie geschulten Integrationslotsinnen und Integrationslotsen durch den Zuwendungsempfänger oder durch Kooperationspartner“ nicht finanziert wird. Ebenfalls neu hinzu tritt ein Absatz, der deutlich macht, dass „Integrationslotsinnen und Integrationslotsen [...] auch integrative Projekte initiieren oder Anregungen bzw. Hinweise auf Probleme oder Defizite im Bereich der Integration an die Kommunen weitergeben“ können. 119 Der Schulung von Dozenten und Projektkoordinatoren im Umgang mit dem „Handbuch“ kommt, wie diese immer wieder berichten, eine zentrale Bedeutung zu, denn „das Ganze basiert einfach darauf.“ 120 In Kapitel 2.3.4 wurde bereits darauf eingegangen, dass Lotsenprojekte unter einem, vor allem gegen Ende eines Lehrgangs deutlich spürbaren Druck stehen, messbare Erfolge zu dokumentieren und sich auf diese Weise als gute, unverzichtbare und weiter zu finanzierende Integrationsprojekte auszuweisen. Zu einer expliziten Regel wird die Erfolgsmessung in der aktualisierten Version der Richtlinie (2012), der zufolge die Antragsteller zur „Erfolgskontrolle des Förderprogramms“ und zur Bereitstellung der „erforderlichen Daten in Form eines standardisierten Sachberichts“ verpflichtet sind.
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tige Phänomene, bspw. spontane Gedanken und Wortbeiträge, fixieren und als jederzeit verfügbare Referenzen fungieren. Sie können zu Partizipanden im Lehrgangsgeschehen werden, indem sie noch zu Erledigendes festlegen und konservieren, zu einem geeigneten Zeitpunkt ‚wachrufen‘ und sowohl der Kursleitung als auch den Teilnehmenden eine Bearbeitung abnötigen (vgl. Scheffer 2013: 93). Manches kann auf diese Weise zurückgestellt, auf anderes hingegen vorgegriffen werden. So lassen sich bspw. auf Basis des Themenspeichers künftige Nachhaltigkeitsmodule für die Integrationslotsen planen. Hierbei handelt es sich um ein spezielles Format, das sich an bereits qualifizierte und aktive Lotsen richtet und dem Erfahrungsaustausch, der „Reflexion und Verarbeitung eigener Erfahrungen im Ehrenamt“ (Müller-Wille 2008: 10), der Vertiefung, Aktualisierung und Stabilisierung von Kenntnissen, der Vernetzung von Integrationslotsen sowie der öffentlichen Sichtbarmachung des Lotsenengagements dienen soll (vgl. ebd., Müller-Wille 2009: 10). Das Nachhaltigkeitsmodul ermöglicht somit eine Ver-Öffentlichung (i.S.e. öffentlichen Sichtbarmachung) sowie ein weitergehendes Ausarbeiten der in der Ausbildung hergestellten Wissensformen und ein zeitliches und räumliches Übergreifen von Ausbildungspraktiken in die praktischen Tätigkeitsbereiche der zertifizierten Lotsen. Indem die Lotsinnen in Nachhaltigkeitsmodulen aus der Lotsenpraxis herausgenommen werden und erneut eine Art Trainingslager durchlaufen, können Nach- und Feinjustierungen, Korrekturen und Anpassungen vorgenommen werden. Zwar sind aktive Lotsen die eigentliche Zielgruppe des Nachhaltigkeitsmoduls, doch auch hier zeigt sich eine Tendenz zur Öffnung des potentiellen Teilnehmerkreises wie sie in Kapitel 3.1 bereits für Basis- und Spezialisierungsmodule beschrieben wurde. So heißt es in der Handreichung zum Nachhaltigkeitsmodul: „Die Zielgruppe sollte allerdings je nach Laufzeit des Projektes um diejenigen Teilnehmenden erweitert werden, die, aus welchen Gründen auch immer, zeitweise kein Ehrenamt ausüben“ (Müller-Wille 2008: 10). Nicht aktiven Lotsen bieten Nachhaltigkeitsmodule somit eine verspätete Eintritts- bzw. Rückkehroption in die Tätigkeit als Lotsin. ‚Abtrünnige‘ oder unterwegs ‚verlorengegangene‘ Lotsen können auf diese Weise sozusagen re-akquiriert und unter erneuter Anleitung durch Dozenten, Expertinnen und bereits erfahrene Integrationslotsen auf ihre Tätigkeit vorbereitet werden. Die arrangements der Ausbildungspraktiken überspannen somit unterschiedliche Zeit-Räume und verweisen bereits auf eine spezifische Zeitlichkeit der darin eingebetteten und die Anordnungen mit hervorbringenden Prozesse der Selbstbildung. So vollzieht sich die Subjektivierung angehender Lotsen im Hier und Jetzt der Ausbildungspraxis, zugleich deuten die dabei involvierten, mitwirkenden materiellen Speicherformen und Trägerschaften aber darauf hin, dass es sich hierbei
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immer auch um ein Situationen, Räume und Zeiten übergreifendes Geschehen handelt. 3.2.2 Stufen eines Trainingsprogramms und ihre Umsetzungen in der Praxis „Neben dem gut ausgebauten Beratungs- und Unterstützungssystem wird der allergrößte Teil der Orientierungs- und Integrationsleistungen von den informellen Netzwerken und familiären Bezügen der Zugewanderten erbracht. Dieses hohe Maß an Engagement ist verbunden mit vielfältigen Erfahrungen und Kenntnissen, die allerdings noch nicht als vorhandenes Wissen formuliert sind und deshalb auch nicht abgerufen wurden bzw. werden. Diese Erfahrungen und Kenntnisse stellen eine wichtige Ressource dar, die für den gesamten Integrationsprozess von Nutzen sein könnte.“ (Müller-Wille 2007: 7, Herv. AQ).
Dieser Auszug aus dem begleitenden Handbuch zur Qualifizierung von Integrationslotsen verweist auf den Anlass der Initiierung des Lotsenprojekts: Migranten nehmen, so die Einschätzung der Autorin, deutlich seltener professionelle integrationsbezogene Informations- und Beratungseinrichtungen in ihrem Stadtteil in Anspruch, sondern wenden sich vorwiegend an ihr persönliches Umfeld, v.a. an bereits länger in Deutschland lebende Angehörige oder Bekannte derselben Herkunft – an jene also, die im Rahmen dieser Arbeit als Alltagshelfer bezeichnet werden (vgl. Kapitel 3.1). Geschlussfolgert wird daraus, dass Letztere über etwas verfügen müssen, das im Handbuch als „Fähigkeiten und Kenntnisse“ ausgewiesen wird und noch keine Geltung als Wissen beanspruchen kann. Damit es im programmatischen Sinne als Wissen abruf- und nutzbar wird, bedarf es zunächst eines eingehenden Formungsprozesses, der sich an einem dreistufigen Lehrgangsmodell orientiert: „Die Teilnehmenden beginnen mit ihren persönlichen Erfahrungen, werden dann über die Distanz theoretischer Modelle und gesetzlicher Rahmenbedingungen in einen Auseinandersetzungs- und Aushandlungsprozess geführt, um danach zur Konkretisierung ihrer möglichen Aufgaben und Ziele zu kommen“ (Müller-Wille 2007: 11, Herv. AQ). Auf der ersten Stufe sollen „die individuellen Erfahrungen im Integrationsprozess und die Erfahrungen der sozialen Bezugsgruppe“ genutzt werden (ebd.: 7, Herv. AQ). Auch Emotionen sollen dabei „ausgesprochen, wahrgenommen und geschätzt“ werden, „soweit sie in der Gruppe zum Tragen kommen“ (ebd.: 5). Hervorgehoben wird hierbei insbesondere „die Bedeutung emotionaler Barrieren, die aus den Migrations- und Integrationsprozessen erwachsen“ sowie von „Bedingungen und Haltungen, die durch Erfahrungen der Zugehörigkeit zu einer Minderheit im Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft geprägt sind“ (ebd.).
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Die zweite Stufe sieht eine Vermittlung von „Informationen“ und „Kompetenzen“ vor (vgl. ebd.: 7, Herv. AQ). „Informationen“ beziehen sich dabei auf ein wissenschaftliches Wissen über Zuwanderungsformen, Integrationsabläufe und Integrationsverläufe sowie auf ein Wissen hinsichtlich zuwanderungsrechtlicher Regelungen (vgl. ebd.: 7,11). Im Bereich „Kompetenzen“ sollen die Teilnehmer sowohl in der Entwicklung von „Entscheidungskompetenzen“ als auch von „sozialen und kommunikativen Kompetenzen für interkulturelles Handeln als IntegrationslotsInnen“ unterstützt werden (ebd.: 7). Indem der Ausbildung von Kompetenzen programmatisch eine höhere Priorität als der Vermittlung von „Informationen“ bzw. „Faktenwissen“ eingeräumt wird, grenzen sich Integrationslotsenkurse zugleich von Orientierungskursen im Rahmen bundesgeförderter Integrationskurse ab, welche „auf die Vermittlung von Kenntnissen über einzelne soziale Systeme“ ausgerichtet seien (ebd.). Auf der dritten Stufe sollen die angehenden Lotsinnen auf der Basis des Erlernten schließlich ihre „persönlichen Wünsche und Anforderungen“ an zukünftige Angebote formulieren (ebd.: 6). In diesem Zusammenhang steht die Erstellung eines individuellen Profils für die ehrenamtliche Tätigkeit als Lotse (vgl. ebd.: 108) wie auch die Entwicklung „eines Leitfadens für die Integration“ auf dem Lehrplan, „welcher „Anforderungen und Standards“ beinhaltet und auf der Basis der Erfahrungen der Kursteilnehmer erarbeitet werden soll (Müller-Wille 2007: 28, Herv. AQ). Mit dem Ausbildungscurriculum werden somit verschiedene Wissensformen konstituiert, unterschiedlich stark gewichtet und einer hierarchisierenden Klassifikation unterzogen. Das in der Alltagshilfe ausgebildete knowing how wird dabei programmatisch als Wissen dethematisiert, indem der Wissensbegriff lediglich für ein hier als „Faktenwissen“ bezeichnetes explizites Regelwissen (knowing that) sowie ein (migrations-)wissenschaftliches Expertenwissen reserviert wird.121 Begreift man Expertise wissenssoziologisch als „relationales Phänomen“ (Traue 2010: 72, Herv. i.O.), so konstituiert sich dieses Sonderwissen wissenschaftlicher Experten gerade in Abgrenzung zu den ‚bloßen‘ Erfahrungen der Alltagshelfer, denen damit der Status von Laien zugewiesen wird. Dass „Rationalität, Reflexivität, ein bewusstes Erkennen und Verstehen der Zusammenhänge der sozialen Welt“ letztlich als ein „Privileg wissenschaftlicher Wissensproduktion und als höher ste-
121 Die Unterscheidung zwischen knowing how und knowing that geht auf Gilbert Ryle (1949) zurück. Knowing that bezieht sich auf ein explizites Regelwissen, während knowing how für ein Wissen steht, das in praktisches Handeln eingebunden ist und sich darin entfaltet. Häufig wird knowing how ins Deutsche als „Können“ übersetzt, wodurch der Wissensbegriff für das knowing that reserviert bleibt und praktischem Wissen der Wissensstatus abgesprochen wird.
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hende Erkenntnis angesehen“ (Dölling 2010: 11) wird, kommt in einer Interviewsequenz zum Ausdruck, in der eine Projektkoordinatorin auf die Frage nach ihrem Vorgehen bei der Auswahl und dem Einsatz von (künftigen) Integrationsloten antwortet: Also nach der Schulung, aber auch meistens vor der Schulung führe ich ein intensives Gespräch. Hab aber festgestellt, dass es nach der Schulung dies Gespräch noch wichtiger ist, weil nach der Schulung können sie noch mehr reflektieren (Interview PK 1-Teil 1/ 08.04.2011, Zeilen 75-78).
Die Erfahrungen von Migrantinnen erscheinen im Handbuch als ‚emotional aufgeladen‘ und sich einem reflexiven Zugang zunächst zu entziehen. Sie bilden gewissermaßen die Rohmasse, an der die Selbstbildung der Lotsen ansetzt. Um brauchbar zu werden, ist diese durch geeignete Verfahren aufzubereiten, anzureichern und zu korrigieren. Hierzu bedarf es eines in „relativer Distanz zum praktischen Handeln“ gewonnenen wissenschaftlichen Wissens, das als Expertenwissen „für eine spezifische Praxis in jeweiligen konkreten Feldern reformuliert und neu konzipiert wird“ (Dölling 2010: 11). Zudem wird die Schulung von ‚echten Kompetenzen‘ notwendig, denen im Handbuch ebenfalls ein höherer Rang als den ‚bloßen Fähigkeiten‘ der Alltagshelfer zugewiesen wird. Programmatisch findet sich hier somit implizit jene Potentialorientierung, welche Macht und Wissen im Integrationsdispositiv auf spezielle Weise verbindet: Migrantische Kenntnisse und Fähigkeiten schlummern zunächst, sind also eher latent vorhanden und können sich in den Handlungsbezügen der Betreffenden daher auch noch nicht voll zeigen. Um diese in einem Stadium des Vor-Wissens befindlichen Ressourcen abrufbar machen zu können, gilt es, die „in den vorbewussten Tiefenschichten der Person“ (Alkemeyer 2009: 124) verborgenen Potentiale des ‚migrantischen Habitus‘ mit Hilfe des Lehrgangs für Integrationslotsen hervorzutreiben und zur vollen Entfaltung zu bringen, so dass sie als Wissen und Kompetenzen für den Integrationsprozess nutzbar werden. Im Wege einer solchen Wissensfabrikation muss die bloße Betroffenheitseigenschaft, die zusammen mit Lebens- und Berufserfahrung, wie wir in Kapitel 2.2.1 gesehen haben, bei historischen Mittlersubjekten ausreichen konnte, um jemanden zum „muttersprachlichen Experten“ zu machen und Zuständigkeit für Migrationsbzw. Integrationsfragen zu legitimieren, erst noch zu einer spezifischen „Betroffenheitskompetenz“ (Ferranti 1999: 192) geformt werden. Wissenssoziologisch formuliert, geht es bei der Lotsenausbildung um eine Denaturation (vgl. Knorr Cetina 1988: 87) von Alltagshelfern, die ‚schon immer‘ in der Begleitung von Bekannten und Angehörigen aktiv waren (vgl. Kapitel 3.1.3.2). Diese vollzieht sich mittels einer „sekundärsozialisierenden Schulung von Helfern“, bei der „die quasinatürliche
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Kompetenz des Alltagsmenschen zur ‚selbstverständlichen‘ Hilfeleistung durch Vermittlung von Sonderwissen irritiert, in Frage gestellt und als Verfahrenstechnik ‚neu‘ gelernt [wird]. Dadurch erfährt sich der Helfer subjektiv als ‚Laie‘, der erst vom Experten systematisch in die Lage versetzt werden muß, eine Aufgabe ‚korrekt‘ zu bewältigen“ (Honer 1987: 55).122 Für den Einsatz der jeweils gefragten Form des für diese sekundärsozialisierende Schulung benötigten heterogenen Wissensensembles gibt es dem skizzierten Ausbildungscurriculum entsprechende, speziell vorgesehene Zeit-Räume. Doch wenngleich Integrationserfahrungen und persönliche Migrationsgeschichten in der Lotsenausbildung keineswegs immer und überall erwünscht sind, sondern dann, wenn der Kursplan es vorsieht, werden derartige Zeit-Räume in der Ausbildungspraxis nicht selten durchkreuzt: In Gruppenarbeit sollen die Teilnehmenden sich mit dem persönlichen Werdegang eines türkischen Arbeitsmigranten beschäftigen. Zehn Minuten haben sie Zeit, um hierfür einen biographischen Text – wahlweise zum Thema Anwerbung, Familie und Niederlassung, Einwanderung oder berufliche und soziale Stellung – durchzuarbeiten und sich entsprechende Notizen machen. Die Gruppen arbeiten zunächst still vor sich hin. Nach einiger Zeit betritt eine Gasthörerin verspätet den Seminarraum und schließt sich einer zum Thema „Familie“ arbeitenden Gruppe an, der bisher nur Studierende angehörten. Um diese „etwas zu durchmischen“, sagt sie. Nachdem sie über die Aufgabenstellung aufgeklärt wurde, spricht die Gasthörerin eine andere Teilnehmerin sogleich an: „Du kommst aus Bulgarien, oder?“ Diese steigt darauf ein und erzählt, dass es im Bulgarischen auch ein spezielles Wort für Familie gäbe. „Und wie heißt das Wort?“, fragt die Gasthörerin eifrig. Die Studentin lacht und sagt, es gäbe dafür keine Übersetzung. Die Gruppe löst sich nach dieser ‚Störung‘ durch die verspätete Gasthörerin immer weiter von der ursprünglichen textbezogenen Aufgabenstellung und verstrickt sich in eine allgemeine Diskussion rund um die Frage, was Familie in unterschiedlichen Kulturen bedeutet. Die aus Bulgarien stammende Studentin wird zur Wortführerin dieser Diskussion, der nun auch die anderen Gruppen zunehmend gebannt zuhören. Der Dozent wirkt hin und her gerissen. Abwechselnd richtet sich sein Blick auf die tuschelnde Gruppe, seine Uhr und die noch immer unbeschriebene Tafel. Schließlich wendet er sich an die Gruppe und fragt: „Seid ihr so weit oder diskutiert ihr noch?“ Die Gasthörerin darauf:
122 Honer (1987) hat sich in ihrer ethnographisch angelegten Studie mit Wissenssystemen, die mit einer speziellen Hilfefunktion in einem Industrieunternehmen verbunden sind, befasst. Der dabei betrachtete heterogen zusammengesetzte freiwillige Helferkreis von MitarbeiterInnen umfasste dabei auch „trockene Alkoholiker“, die von betrieblicher Seite zur Prävention und Beratung „alkoholgefährdeter“ Kollegen eingesetzt wurden. Auch hier ging es somit um ein Abrufen und Nutzbarmachen von Betroffenheit.
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„Wir diskutieren noch. Das ist interessant.“ Der Dozent: „Ja, das glaube ich, aber wir müssen ja auch zu Ergebnissen kommen.“
Die beschriebene Aufgabe wird im Kontext des Themenfeldes ‚Migrations- und Integrationspolitik in Deutschland‘ behandelt. In dieser Einbettung ist die Ausbildungspraktik – gemäß der zweiten Ausbildungsstufe – auf die Unterrichtung theoretischer Modelle ausgerichtet. Unter Unterrichtungen verstehe ich vorläufig Praktiken des Referierens und Präsentierens von wissenschaftlichen oder rechtlichen Inhalten durch Dozenten oder Gastreferentinnen, die von den Teilnehmenden Aufnahmebereitschaft, eine weitestgehend stille Aufgabenbearbeitung sowie eine sachorientierte Präsentation von Ergebnissen verlangt. Die Szene zeigt allerdings nicht nur, wie in dieser Kurseinheit die im Curriculum angelegten Stufen- und Schrittfolgen performativ außer Kraft gesetzt werden, auch deutet sich hier an, wie umstritten und fragil Unterscheidungen von Wissen und Nicht-Wissen bzw. ‚bloßer‘ Erfahrung in der konkreten Ausbildungspraxis werden. Nachdem die verspätete Gasthörerin zunächst die Differenz Studenten versus Gasthörer und eine damit verbundene zwischen jüngeren und älteren Kursteilnehmern aktualisiert, geht sie im nächsten Schritt dazu über, eine Studentin als Bulgarin zu adressieren und somit nationale bzw. kulturelle Differenzen in Geltung zu setzen. Der Begegnungsraum spannt sich nun über die Relation zwischen Eigenem und Fremdem auf. Nicht nur wird auf diese Weise sprachlich explizit kenntlich gemacht, als was die Angesprochene klassifiziert wird, auch geht mit der Adressierung die Aktivierung einer Zuständigkeit für kulturelle bzw. interkulturelle Fragen einher. Die Studentin wird zum Subjekt ihrer (bulgarischen) Herkunft gemacht und macht sich selbst dazu. In der Situation verbindet sich hiermit eine positive Wertzuschreibung: Die bulgarische Studentin kann sich – sofern die Relation zwischen Eigenem und Fremdem aufrechterhalten wird – als Expertin für interkulturelle Begegnungen einsetzen. Ihre Position manifestiert sich im weiteren Verlauf insofern, als dass die übrigen Kursteilnehmer der Bulgarin gebannt Aufmerksamkeit schenken und sie somit in ihrem Expertinnenstatus bestätigen. Als Wortführerin der Diskussion übernimmt sie die Hauptrolle in einer von den Kursteilnehmern intersubjektiv hervorgebrachten Szene, in welcher Migrationserfahrungen ‚aus erster Hand‘ im Zentrum stehen. Der Dozent, der als eine Art Wächter einer Lernpraktik auftritt, die gegenüber autobiographischen Episoden distanziert und stattdessen auf Textarbeit ausgerichtet sein soll und nach schnellen, dokumentier- und fixierbaren Ergebnissen verlangt, kann sich indessen kaum durchsetzen. Eine höherrangige Stellung von wissenschaftlichem Expertenwissen gegenüber dem Alltagswissen von Betroffenen erweist sich im performativen Vollzug der Ausbildungspraktik somit keineswegs eindeutig fixiert. Vielmehr können ein Expertenstatus und damit die Neu-
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positionierung eines Subjekts durch eine überzeugende Performance dank ausgereifter „Kompetenzdarstellungskompetenz“ (Hitzler 1994) hervorgebracht und so Erfahrungen in Wissen konvertiert werden. Anerkennungsordnungen werden somit interaktiv hervorgebracht und Machtverhältnisse fortlaufend eingespielt. Dies zeigt sich auch in der folgenden Szene, welche allerdings nicht in einer Unterrichtungsanordnung situiert ist, sondern in einer, der dritten Ausbildungsstufe zuzuordnenden, offen angelegten Diskussion möglicher Tätigkeitsprofile hervorgebracht wird: Gegen Ende eines Lehrgangs wird über Straßenverkehrsregeln als mögliches Thema für einen von den angehenden Lotsen initiierten Gesprächskreis für deutsche und internationale Teilnehmerinnen diskutiert. Eine indonesische Studentin, die das Thema vorgeschlagen hatte, berichtet in diesem Zusammenhang von ihren Erfahrungen als Fahrradfahrerin, kurz nachdem sie nach Deutschland gekommen war. Gebannt hängen die Kursteilnehmerinnen an ihren Lippen. Immer wieder geht ein Gelächter und ein Raunen „Oh, das ist interessant“ durch den Raum. Eine Teilnehmerin ruft aus: „Sie muss ein Buch über das alles schreiben!“ Eine weitere führt an: „Das sind Sachen, an die wir alle noch gar nicht gedacht haben.“ Die Kursleiterin versucht zwischendurch wiederholt an den Diskurs anzuschließen und von ihren Problemen im Straßenverkehr zu berichten. All ihre Versuche laufen jedoch ins Leere. Hier gibt es kaum Aufmerksamkeit seitens der Teilnehmerinnen, keinerlei Nachfragen, kein Lachen oder mitvollziehendes Nicken wie bei den Schilderungen der indonesischen Studentin. Die Blicke sind eher zu Boden oder nach draußen gerichtet. Als die Studentin wenig später erneut ansetzt und von den Erfahrungen einer ebenfalls migrantischen Freundin mit dem deutschen Gesundheitswesen berichtet, wird Bewegung im Raum spürbar. Körperhaltungen und Blicke richten sich erneut auf sie. Die eben noch gelangweilten Gesichtsausdrücke signalisieren nun gespannte Aufmerksamkeit.
Auch in dieser Szene erlangt eine Studentin, indem sie sich als Indonesierin einsetzt, ihre Betroffenheit vor den übrigen Teilnehmern glaubhaft aufzuführen vermag und entsprechend adressiert wird, den Status einer Expertin für interkulturelle Fragen. Anders als in der vorangegangenen Szene wird hier nicht der Vollzug der Ausbildungspraktik als solcher von der Dozentin in Frage gestellt, geht es auf dieser Stufe doch um die Erarbeitung persönlicher Profile der künftigen Lotsinnen, so dass persönliche Erfahrungsschilderungen hier mehr Raum haben als im Rahmen einer Unterrichtung. Die Dozentin versucht vielmehr, selbst an die Schilderung von persönlichen Erfahrungen anzuschließen, was ihr als Einheimischer jedoch nicht gelingt. Im Gegensatz zur Studentin, die als eine indonesische Migrantin adressiert wird, die mit authentischer Stimme sprechen kann, und sich zu einer solchen macht, fehlt es der zur Einheimischen gemachten Kursleiterin an Betroffenheitskapital und damit an der Möglichkeit, an die Praktik anzuschließen und eine Sprecherposition
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zu erlangen. Sie ist zwar in der Situation anwesend, die mangelnde Aufmerksamkeit der Übrigen bis hin zum expliziten Abwenden von Blicken signalisieren jedoch, dass sie sich in der intersubjektiv hervorgebrachten Anerkennungsordnung nicht zur Teilnehmerin der Begegnung zwischen Fremden und Einheimischen machen kann. Beide Szenen veranschaulichen erstens, wie das im Handbuch umschriebene Trainingsprogramm lediglich Anforderungsprofile und Möglichkeitsräume abzustecken vermag, die in der Praxis reformuliert und verändert werden können. Die Trainingspraxis besteht, mit anderen Worten, nicht bloß in der Aktualisierung von Normen, sondern in ihrer kontingenten Umsetzung: Im Vollzug von Ausbildungspraktiken werden vorgesehene Einsetzungen, Stufen- und Schrittfolgen bzw. ZeitRäume für (nicht) anerkannte Wissensformen unterlaufen, andere vorgenommen und das Programm auf diese Weise im Tun verändert.123 Wenn wir uns also im Folgenden dem Nachvollzug von Stufen- und Schrittfolgen des Trainingsprogramms angehender Integrationslotsen eingehend widmen, so soll mit dieser Einteilung eben keine ‚unangefochtene‘ Korrespondenz von Programm und Ausbildungspraxis nahegelegt werden. Vielmehr wird deutlich, dass sich das stufenartige Nacheinander von Ausbildungspraktiken wie auch deren jeweiliger Vollzug immer wieder in der Praxis konkreter Lernszenen bricht.124 Auf diese Weise werden im Vollzug der Ausbildungspraktiken nicht nur eigene, von der Programmatik abweichende Stufen- und Schrittfolgen hergestellt, sondern mitunter auch die dort angelegten Selbstbildungspraktiken und Prozesse der Wissensgenerierung bzw. -umformung konterkariert. Zweitens wird anhand der Szenen deutlich, dass Machtverhältnisse in diesem performativ hergestellten Begegnungsraum überaus beweglich sind und dass die den Begegnungsraum konstituierenden situativen Positionierungen nicht den objek-
123 Solche situativen Veränderungen in der Ausbildungspraxis führen, sofern sie sich „zum situationsübergreifenden kollektiven Muster“ aggregieren (vgl. Alkemeyer 2013: 41), mitunter auch zur Um-schreibung des Ausbildungscurriculums: „Die aus der bisherigen Praxis entstandenen Änderungen wie z.B. Situationen interkulturellen Lernens als auch Verringerung der theoretischen Anteile zu Gunsten der Praxis ehrenamtlicher und hauptamtlicher Integrationsakteure wurden entsprechend eingearbeitet und Arbeitshilfen wurden aktualisiert“ (Müller-Wille 2012: 5). Aus der Perspektive der weiter unten vorgestellten transsequentiellen Analytik haben wir es hier mit dem ‚Re-Import‘ eines Zwischenproduktes von der Ausbildungspraxis in die Ausbildungspraktiken neuer Lotsinnen zu tun. 124 Im Anschluss an Langer ließe sich formulieren, dass die diskursive Form eines Lehrprogramms in der präsentativen Form der Praxis nicht aufgeht, so dass das Lehrprogramm in situ gewissermaßen fortlaufend ‚umgeschrieben‘ werden muss.
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tiven Kapitalverteilungen außerhalb dieses Raumgefüges entsprechen müssen. Vielmehr ergibt sich hier eine Figuration, die sich durch eine vergleichsweise elastische Machtbalance auszeichnet und die sich aus der Dynamik des Spiels ergebenden relativen Spielstärken zugunsten derjenigen verändert, die ihr Betroffenheitskapital einzusetzen wissen (vgl. Elias 1996: 77).125 Schließlich deuten die Beispiele drittens an, wie eine ‚Migrationserfahrung‘ erst im Verlauf einer Konversation als ein formatives Objekt hergestellt wird. In der ersten Szene schildert eine migrantische Studentin die Probleme von Migranten im deutschen Straßenverkehr aus ihrer Sicht. Je mehr sie erzählt, desto weniger werden ihre Schilderungen allerdings als persönliche Episoden, sondern vielmehr als repräsentative Geschichte behandelt. Die verallgemeinerte Migrationserfahrung nimmt immer konkretere Gestalt an. Sie wird schließlich als so konservierungs- und verbreitungswürdig angesehen, dass die Betreffende ein Buch darüber schreiben solle, welches das Dargelegte für ein größeres Publikum zugänglich machen würde. Alle weiteren Beiträge von ihrer Seite erweisen sich „am Objekt“ Migrationserfahrung als „Gewinn“, sie bleiben gewissermaßen haften und geben der Erfahrung zunehmend Kontur (vgl. Scheffer 2013: 92). Das sich formende Objekt bietet Anschlussstellen für weitere Beiträge der Migrationsexpertin, hier zum Thema Migranten und Gesundheitssystem, während es Anknüpfungsmöglichkeiten für die Beiträge der einheimischen Dozentin verschließt. Deren Schilderungen erweisen sich „am Objekt als gescheitert“ (ebd.), wie unbrauchbare Werkzeuge, die nichts an einer authentischen Migrationserfahrung auszurichten vermögen. Dieser Produktion von Erfahrungen gilt es, im Folgenden weiter nachzugehen. 3.2.3 Die erste Stufe: Erzeugung von Erfahrungs- und Gefühlswissen Auf der ersten Stufe der Ausbildung sieht der Kursplan Themen wie ‚Biographiearbeit‘ und ‚Wege der Integration‘ vor. Im Zentrum stehen dabei die persönlichen Erfahrungen der Teilnehmer mit Migration und Integration sowie damit verbundene Gefühle. Im Folgenden wird herausgearbeitet, wie mittels Praktiken der „Selbstthematisierung“ (Hahn 1987) und spezifischer „Sprachspiele“ (Wittgenstein 1989: §7) aus Erfahrungen und Gefühlen zwei Formen von Wissen generiert werden. Die Teilnehmenden lernen zum einen, ihre Erfahrungen als Migrations- bzw. Integrationserfahrungen zu reflektieren und sie im Anschluss an wissenschaftliches Exper-
125 Elias verwendet den Begriff der „relativen Spielstärke“, ebenso wie den der „Machtbalance“, als einen „Beziehungsbegriff“ in Abgrenzung zu einem statischen Machtbegriff. „Er bezieht sich auf die Gewinnchancen des einen Spielers im Verhältnis zu denen eines anderen.“ (Elias 1996: 77).
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tenwissen in einer spezifischen Weise zu diskursivieren. Auf diese Weise wird ein Wissen produziert, das sich in Anlehnung an Dewey (1995) als ein sekundäres Erfahrungswissen bezeichnen lässt. Darüber hinaus erwerben die angehenden Lotsen ein Gefühlswissen, das es ihnen erlaubt, angemessen über Gefühle im Zusammenhang mit Migrations- und Integrationserfahrungen sprechen zu können.126 3.2.3.1 Die Herstellung von Erfahrungen „Der Basislehrgang verfolgt das Interesse, die individuellen Erfahrungen im Integrationsprozess und die Erfahrungen der sozialen Bezugsgruppe zu nutzen: sie zu erinnern, zu erkennen, zu begreifen und zu reflektieren. sie zu benennen, darzustellen und sichtbar zu machen. sie zu verallgemeinern und dann zu konkretisieren. Aus diesen Arbeiten entsteht die Möglichkeit, diese Erfahrungen als vorhandenes Wissen zu formulieren, um sie in der Folge gesellschaftlich anzuerkennen und als Anforderungen und Aufgaben zu beschreiben, zu lehren, zu lernen und weiterzuentwickeln.“ MÜLLER-WILLE (2007: 7)
Am Beispiel der Einstiegsaufgabe ‚Bremsen und Brücken der Integration‘, die in allen Lotsenkursen von zentraler Bedeutung ist, lässt sich veranschaulichen, wie die
126 Begrifflich lehne ich mich hierbei an den von Frevert et al. (2011) herausgegebenen Band mit dem Titel „Gefühlswissen“ an, der sich als Beitrag zu einer historischen Semantik von Emotionen in der Moderne versteht. Anhand von Konversationslexika rekonstruieren die Autoren darin das seit dem 18. Jahrhundert zu unterschiedlichen Zeiten verfügbare und in spezifischer Weise gesellschaftlich kommunizierte und reflektierte Wissen über Gefühle. Obgleich der Begriff des Wissens bzw. Gefühlswissens in dem Band selbst nicht geklärt wird, bietet sich damit ein terminologischer Ansatz, der sich in Auseinandersetzung mit dem empirischen Material dieser Arbeit schärfen lässt. Bei dem hier gemeinten Gefühlswissen handelt es sich nicht um ein implizites Körperwissen im Sinne „leiblicher Erkenntnis“ (Böhle & Porschen 2011) oder „gefühlter Erkenntnis“ (Müller 2013). Relevant werden diese Wissensformen erst auf der zweiten Ausbildungsstufe (vgl. Kapitel 3.2.4).
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angehenden Lotsen zwecks Nutzbarmachung ihrer Erfahrungen gemäß der im obigen Handbuchauszug beschriebenen dreischrittigen Verfahrensweise zu einer spezifischen Form der „Selbstthematisierung“ (Hahn 1987) angeleitet werden. Die Teilnehmer werden dazu aufgefordert, sich an ihre eigenen Migrationserfahrungen zu erinnern und sollen in Einzelarbeit jeweils drei Aspekte notieren, die bei ihrer Integration hilfreich („Brücken“) oder hinderlich („Bremsen“) waren. Ausgenommen sei dabei das Stichwort „Sprache“. Auf meine spätere Nachfrage diesbezüglich, erklärt mir der Dozent, dass Sprache „zu häufig“ genannt werde. Die Teilnehmenden arbeiten konzentriert und still vor sich hin und präsentieren anschließend ihre Ergebnisse. Es sei „hilfreich, wenn man Informationen über Land und Leute, also Kultur und so was. Ihr wisst schon...“ habe, meint eine Teilnehmerin. Auch einer anderen habe es geholfen, dass sie sich schon vorher „mit anderen Kulturen und Lebensweisen befasst“ habe. Beide Beiträge werden unter dem Stichwort „Wissen“ an der Tafel festgehalten. „Willkommen geheißen zu werden“, wird von einer anderen als „Brücke“ benannt. Eine weitere angehende Lotsin schildert einige witzige Situationen, die ihr geholfen hätten, „den anderen besser zu verstehen“. Der Dozent notiert „Humor“ als neues Schlagwort und erläutert begleitend, dass dies noch etwas anderes sage als das vorher notierte „Willkommen“. Ein weiterer „Brücken“-Beitrag lautet: „ein Lächeln“. Der Dozent fragt daraufhin etwas unschlüssig nach: „Sehr schön auf den Punkt gebracht. Wobei sich dieses Lächeln dann worauf bezieht?“ „Auf beide“, lautet die knappe Antwort. Nach kurzem Zögern ordnet der Kursleiter das „Lächeln“ dem „Willkommen“-Stichwort zu. Auf Seiten der „Bremsen“ muss er weitaus weniger umformulieren: „Ghettobildung“ und „Parallelgesellschaften“ gehören u.a. zu den Schlagworten, die sich leicht im Tafelbild festhalten lassen.
Um von Erfahrungen zu Wissen gelangen zu können, ist es erforderlich, so ließe sich mit Hahn formulieren, ein „implizites Selbst, das sich durch sein Handeln zeigt, festigt und verwirklicht“ in ein „explizites Selbst“ zu überführen, d.h. in „ein Ich, das seine Selbstheit ausdrücklich macht, sie als solche zum Gegenstand von Darstellung und Kommunikation macht“ (Hahn 1987: 10). Die Explikation des Selbst entlang des programmatischen Dreischritts Reflektieren – Sichtbar Machen – Verallgemeinern vollzieht sich in dieser Szene folgendermaßen: Zunächst erfolgt ein stilles ‚in sich Gehen‘ in Einzelarbeit, an das sich eine Darstellung des sodann Verschriftlichten vor anderen anschließt. Aus ausführlichen und mitunter blumigen Schilderungen entstehen aber erst dadurch dokumentierbare Beiträge, dass sie auf griffige, an allgemeine Verstehensweisen (general understandings) anschlussfähige Formeln gebracht werden. Neben Verknappungsanstrengungen sorgt ausführliche Sortierarbeit im Wege von Clusterbildung dafür, dass Beiträge ineinander eingehen und nicht passförmige verschluckt werden. Die Performanz bewegt sich dabei in einem Spannungsfeld scheinbar widersprüchlicher programmatischer Zielsetzungen: Einerseits sollen individuelle, einzigartige Erfah-
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rungen ‚abgeschöpft‘ werden; die implizite Devise lautet dabei, Neues zu entdecken, weshalb ‚Sprache‘ als häufig genanntes und altbekanntes Schlagwort von vornherein als möglicher Beitrag disqualifiziert wird. Andererseits ist die Aufgabe darauf gerichtet, Verallgemeinerungen zu erzeugen. Noch deutlicher wird dieses Spannungsverhältnis in der folgenden Szenerie, die sich aus zwei Beobachtungsprotokollen, zu Beginn eines Lehrgangs und in einer späteren Sitzung in demselben Kurs, zusammensetzt. In seiner ersten Unterrichtsstunde hält der Dozent das begleitende Handbuch zur Basisqualifizierung für Integrationslotsen hoch, gibt ein paar Stichpunkte zu dessen Entstehungsgeschichte und erläutert, inwiefern sich der Kurs daran orientiere. Diese Vorstellung abschließend meint er in eifrigem, erwartungsfreudigem Tonfall, dass es „auch in diesem Kurs sicher sehr ähnliche Ergebnisse, Assoziationen, Wahrnehmungen und Einschätzungen“ gebe. Einige Sitzungen später sollen die Teilnehmenden ihre Assoziationen zum Thema Integration vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Erfahrungen äußern, die der Dozent anschließend an der Tafel notieren möchte. Eine Teilnehmerin nennt „Beschäftigungsmöglichkeiten“. Der Dozent fragt: „Könnte man das vielleicht als Arbeit bezeichnen?“ Als die Teilnehmerin bejaht, lächelt er fast dankbar und protokolliert das Stichwort. Eine andere sagt: „Wille“. Der Dozent meint daraufhin: „Kann ich dies vielleicht mit einem Schrägstrich zu ‚Freiwilligkeit‘ schreiben? Weil es ja immer heißt ‚Forderung und Förderung‘?“ Auch hier erhält er Zustimmung und begibt sich freudig an die Tafel. Bei einer anderen Wortmeldung gestaltet sich die Suche nach bekannten Schlüsselbegriffen schwieriger. Eine Teilnehmerin holt länger aus und umschreibt ihre Assoziationen. Nachdem Versuche seitens des Dozenten, diese auf ein Schlagwort zu bringen, wiederholt scheitern, schwindet sein Lächeln allmählich. Nun sichtlich angespannt, fast ungeduldig, fordert er sie auf, sie solle ihm doch einfach einen Begriff nennen. Den werde er dann aufschreiben, das sei dann „die Lösung“ und die müsse „ja nicht perfekt sein“. Während er eine weitere Teilnehmerin bittet, ihre Assoziationen zu äußern, unterstreicht er: „Wichtig sind auch Dopplungen und Mehrfachnennungen.“ Die Teilnehmerin sagt leicht verunsichert: „Habe ich nicht.“ Der Dozent: „Ach so.“ In anderen Fällen kann er dagegen Mehrfachnennungen vermerken. Hier nickt er eifrig und lobt die entsprechenden Wortbeiträger teilweise explizit. Eine Teilnehmerin nennt den Begriff „Gemeinsamkeit“. Der Dozent fragt nach: „Könnte man ‚Gemeinsamkeit und Unterschiede‘ schreiben?“ Nach kurzem Nachdenken legt er nach: „Dürfte ich dafür unsere Lieblingsworte aus interkulturellen Trainings schreiben: Das Eigene und das Fremde?“ Die Teilnehmerin zuckt mit den Schultern und sagt knapp: „Ja“. Bei bestimmten Begriffen wie etwa „Bereicherung“ und „Hilfe“ folgt ebenfalls ein lobendes „Sehr gut.“ Während bei Begriffen wie „Ausländer“ oder „Gegenseitigkeit“ nachgefragt wird, fordern andere Begriffe wie „Kultur“ und „Sprache“ keine weiteren Erklärungen. Beim Schlagwort „Sprache“ ist insbesondere bei den Einheimischen ein Raunen und eifriges Nicken zu vernehmen. Wortfetzen wie „Voraussetzung“, „Bedingung“ und „das Wichtigste“ dringen zu mir durch.
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Die künftigen Lotsen werden bei dieser Abfrage von Assoziationen zum Thema „Integration“ vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Erfahrungen in ein spezifisches, den meisten bereits bekanntes, „Sprachspiel“ (Wittgenstein 1989: §7) verwickelt und weiter auf dieses geeicht.127 Über das Sprachspiel werden diskursive Semantiken des Integrationsdispositivs aufgerufen, mit den Anforderungen des praktisch hergestellten Kontextes verbunden und in ‚Gebrauchsanweisungen‘ übersetzt, die angeben, welche Begriffe in welcher Weise in der konkreten Situation zu verwenden sind. So erscheinen Assoziationen von Integration mit Sprache als selbstevident und gehören konsensual in diesen Kontext, während der umstrittene Begriff des Ausländers eines problematisierenden Nachfragens bedarf. Da die Befragung in erster Linie auf die Herstellung von Vorhersagbarkeit, Wiederholbarkeit und Vergleichbarkeit gerichtet ist und im Zusammenspiel mit anderen Ausbildungspraktiken auf der dritten Stufe einen Prozess der Standardisierung ermöglichen und initiieren soll, wird das Geschehen in entscheidender Weise durch die im Handbuch formulierten „Lösungen“ vorgängiger Lotsenkurse, die zu expliziten Direktiven der Praktik werden, präfiguriert. Der Dozent lenkt dabei weniger die Erzeugung bestimmter normativ erwünschter Ergebnisse, als dass er sie aus dem Sprachspiel der Praxis heraus reguliert. Der Prozess ist dabei „gerichtet, aber nicht mechanisch; Ereignisse sind prozessiert, aber nicht determiniert. Die Schrittfolge des Prozesses ist an Ereignisse gebunden, die sich jeweils der umfassenden Kontrolle durch den Prozess entziehen“ (Scheffer 2008: 387). Die Regulierung im Rahmen des Sprachspiels erfolgt durch explizites Loben sowie dissonierende verbale und gestisch-mimische Äußerungen: Die Botschaft, dass „die Lösung“ nicht perfekt sein müsse, steht im Widerspruch zu Gesten, die den Teilnehmenden Ungeduld und Unzufriedenheit signalisieren und einer Mimik, die ihnen unmissverständlich anzeigt, wann eine passförmigere Antwort erwünschter gewesen wäre. Auf diese Weise werden die Teilnehmenden sowohl motiviert als auch in einer sie antreibenden Weise sanktioniert. Die Schrittfolge, in der Integrationserfahrungen bzw. damit verbundene Assoziationen in dieser Szene produziert werden, lässt sich mit Hilfe der von Scheffer entwickelten transsequentiellen Analytik (TSA) noch genauer beschreiben (vgl. Scheffer 2008, 2013). Integrationsassoziationen werden dabei als ein formatives
127 Mit dem Konzept des Sprachspiels hat Ludwig Wittgenstein darauf aufmerksam gemacht, dass Begriffe keine Bedeutung aus sich heraus besitzen, sondern diese erst in ihrem Gebrauch erhalten. Sie sind somit immer in praktische Vollzüge eingebettet. Wittgensteins Sprachspiel bezeichnet also „das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist“ (Wittgenstein 1989: §7). Als Spiel ist es dabei stets an gewisse Regeln innerhalb eines sozialen Kontextes gebunden, der gewissermaßen zugleich situativ und transsituativ hergestellt wird.
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Objekt perspektiviert, dessen Herstellung entlang einzelner Sequenzen und damit verbundener Medienwechsel rekonstruiert wird. Die TSA ermöglicht es, das Ineinandergreifen von Ereignis und Prozess im Sinne „prozessierter Ereignisse“ bzw. „sich ereignender Prozesse“ (Scheffer 2008: 384) zu rekonstruieren. Sie ist damit anschlussfähig an die in Kapitel 2.2.2 dargelegten siteontologischen Überlegungen, wonach der Kontext und seine Entitäten, einschließlich der Subjekte und ihrer Tätigkeiten, in einem ko-konstitutiven Verhältnis stehen, denn sie „wird in Stellung gebracht, wo der Kontext nicht als massive Bedingung oder beständige Ressource aufscheint, sondern selbst in Wechselwirkung mit aktuellen Vollzügen tritt“ (ebd.: 377). Die Teilnehmenden gehen in dieser Szene zunächst in sich und befragen sich selbst nach Assoziationen zum Integrationsbegriff. Mit dem Medienwechsel von stillen in mündliche Beiträge vollziehen sich sodann Prozesse der Engführung, Verfestigung und Veröffentlichung: der mündliche Beitrag verlangt nach Konkretisierung, das Gedachte muss vor anderen und für diese auf anschlussfähige Begriffe gebracht werden. In einem dritten Schritt findet ein weiterer Medienwechsel, vom Mündlichen ins Schriftliche, statt. Die Beiträge werden nun fortlaufend organisiert und systematisiert. Die auf diese Weise hergestellte Assoziation erscheint in ihrer Form zunehmend geschlossener, indem sie mit jedem Schritt Ergänzungen erfordert, die auf Vorangegangenes Bezug nehmen und das aufbewahren, was erinnerungswürdig erscheint und künftig Bestand haben soll. Die auf Standardisierung zielende Gerichtetheit der Ausbildungspraktik präfiguriert, dass persönliche Beiträge auf zentrale, bekannte Schlagworte oder diskursive Marker reduziert werden. Auf diese Weise kommt es zur Herstellung von zunehmend „subjektlosen Aussagen“, in denen die Sprechenden „lediglich eine stehende Redewendung“ aktualisieren (Boltanski 2010: 156). In einem Prozess „selegierender Aufschichtungen“ (Scheffer 2013: 97) wird von Sprechereignis zu Sprechereignis gefeilt und gefiltert, sortiert und gebündelt. Die transsequentielle Konstellation dieser Szene erstreckt sich über drei Situationen bzw. Sequenzen (S1, S2, S3), in deren Verlauf das Objekt Integrationsassoziation hervorgebracht wird. Die Sequenz S2 hebt bspw. „Gemeinsamkeit und Unterschiede“ in den Vordergrund. Als vorherige Situation setzt sie S1 praktisch voraus, da hier „Gemeinsamkeit“ als ein notwendiges Vor-Objekt (vgl. Scheffer 2013: 92) eingeführt wird. Damit S2 aus der Beobachterperspektive erkennbar, oder besser: als abgrenzbare Einheit konstruierbar wird, bedarf es zusätzlich einer anschließenden Situation S3, welche „Das Eigene und das Fremde“ als hier noch nicht erfolgende, aber angepeilte Verwertung (vgl. ebd.) in Aussicht stellt. Additionen (S1 „Wille“ < S2: „Wille“/„Freiwilligkeit“), Streichungen (S1: „Arbeit“ < S2: „Beschäftigungsmöglichkeiten“) und Subsumtionen (S1: „Gemeinsamkeit“ < S2: „Gemeinsamkeit und Unterschiede“ > S3: „Das Eigene und das Fremde“) lassen einen zunehmend abgeschlossenen Katalog an Begriffen bzw.
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Wortkombinationen entstehen, der schließlich kaum noch Abweichungen erlaubt. Das im Zuge dieses Qualifizierungsprozesses (vgl. Scheffer 2013: 95ff.) entstehende Tafelbild markiert schließlich Relevantes, indem es „Objekte erster Ordnung“ („Gemeinsamkeit“) in „Objekte zweiter Ordnung“ („Gemeinsamkeit und Unterschiede“), die erstere einschließen, überführt und Irrelevantes ausradiert („Beschäftigungsmöglichkeit“) und damit vorangegangene Arbeitsschritte unsichtbar macht. Mit dieser Engführung von Beiträgen und der fortlaufenden Verfestigung bis hin zur Abschließung eines formativen Objekts der Integrationsassoziationen in einem fixierten Tafelbild vollzieht sich neben einer weitergehenden Veröffentlichung des Gedachten, Gesagten und nun Verschriftlichten zugleich eine kollektivierende wie auch zeit-räumliche Expansion: Die auf persönlichen Erfahrungen basierende Assoziation wird nun sowohl innerhalb des Kurses als auch, über diesen hinausgehend, zu einer mit anderen, vorangegangen und kommenden Basislehrgängen gemeinsam geteilten.128 Eine solche Expansion wird über das Medium Hausaufgaben auf einer weiteren Ebene vorangetrieben. So werden die Teilnehmenden von den Dozenten regelmäßig dazu aufgefordert, schriftlich auszuarbeiten, „welche Hindernisse einem positiven Verlauf des Integrationsprozesses im Wege stehen und wie sie überwunden werden können“, wobei sie bei ihren Ausführungen auch „Erfahrungen, die wichtig bei der eigenen Migration waren und konkrete Beispiele zu benennen“ haben. Nahegelegt wird damit, dass die in den Seminarräumen initiierten Reflexionsprozesse auf das Private übergreifen, dort außerhalb der Kurszeiten vorangetrieben werden und zur weiteren Formung von Integrationserfahrungen bzw. -assoziationen beitragen, auf die wiederum innerhalb des Lehrgangs Bezug genommen werden kann. Die angehenden Lotsen werden damit nicht nur innerhalb eines spezifischen lokalen settings und zu bestimmten Seminarzeiten als Kursteilnehmer adressiert, sondern gewissermaßen als ‚ganze Personen‘ involviert und engagiert. Laut Handbuch sollen die Teilnehmenden, wie eingangs erwähnt, in der ersten Phase des Lehrgangs mit ihren persönlichen Erfahrungen beginnen und erst in einer zweiten Phase in Distanz hierzu über theoretische Modelle gebracht und dazu angehalten werden, zu „prüfen, in welchen Aspekten die theoretischen Modelle sich mit ihren eigenen Erfahrungen decken bzw. widersprechen“ (Müller-Wille 2007: 35). Die soeben umschriebenen Szenen veranschaulichen jedoch einmal mehr, wie sich diese Phasen überkreuzen, indem die explizierten persönlichen Erfahrungen von Beginn an mit wissenschaftlichem Expertenwissen verkoppelt werden. Sie machen darüber hinaus deutlich, wie mittels Praktiken der Selbstthematisierung weni-
128 So findet sich in dem Handbuch zum Integrationslotsenkurs nicht nur eine kurze Beschreibung der Assoziationsübung, sondern auch eine Übersicht über die in einem vorangegangen Kurs produzierten Ergebnisse (vgl. Müller-Wille 2007: 92, 97).
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ger ein Abgleichen von theoretischen Modellen und persönlichen Erfahrungen als vielmehr eine modellorientierte Herstellung von Erfahrungen stattfindet, durch welche die Teilnehmer „zu einem den wissenschaftlichen Erkenntnissen adäquaten Bewusstsein gebracht (Dölling 2010: 11)“ werden. Im Anschluss an Dewey lassen sich die hierbei fabrizierten Erfahrungen als „sekundäre Erfahrungen“ beschreiben, bei denen das „rohe Material“ einer „groben Primärerfahrung“ unter Hinzunahme wissenschaftlichen Wissens zu einem „geläuterten Objekt[e] der Reflexion“ (Dewey 1995: 24) wird. Als diskursivierte Form zeichnet sich die sekundäre Erfahrung durch ihre Anschlüsse „mit erprobten und intersubjektiv geteilten Erfahrungsbeständen“ (Gimmler 2008: 154) aus.129 Im Wege der Fabrikation einer sekundären, intersubjektiv geteilten Erfahrung lernen die angehenden Lotsen schrittweise, ihre persönlichen Erfahrungen als kollektive Erfahrungen zu sehen und in einer an ein kanonisiertes wissenschaftliches Wissen anschlussfähigen Weise zu repräsentieren. Das dabei produzierte sekundäre Erfahrungswissen erlaubt es nicht nur den angehenden Lotsen, in einer bestimmten Art und Weise auf ihre Erfahrungen zu reflektieren und über diese zu sprechen, es kann darüber hinaus auch wieder in weitere Lotsenkurse eingehen. Indem es aus vergangenen Lehrgängen gewonnen und via Lehrplan in künftige eingespeist wird, ist es in eine Art permanente Rückkopplungsschleife eingebunden. 3.2.3.2 Die Formatierung von Gefühlen „Emotionen werden ausgesprochen, wahrgenommen und geschätzt, soweit sie in der Gruppe zum Tragen kommen.“ MÜLLER-WILLE (2007: 6)
Gefühle nehmen „in ihrer Doppelfunktion als Markierung von Individualität und Soziabilität“ (Frevert 2011: 13, Herv. AQ) im Kursverlauf einen zentralen Stellen-
129 Primäre Erfahrungen verfügen im Unterschied zu diskursivierten sekundären Erfahrungen über eine Einheit: „Diese Einheit ist weder emotional, noch praktisch, noch intellektuell, denn diese Begriffe benennen Unterschiede, die die Reflexion innerhalb der Einheit machen kann. Wenn wir über eine Erfahrung sprechen, müssen wir diese interpretierenden Adjektive verwenden. Indem wir eine Erfahrung nachträglich noch einmal vor Augen führen, stellen wir vielleicht fest, daß eine bestimmte Eigenschaft so weit vorherrschend war, daß sie die Erfahrung insgesamt prägte.“ (Dewey 1980: 49, Herv. i.O.). Primäre Erfahrungen weisen insofern eine gewisse Familienähnlichkeit mit dem in dieser Arbeit entwickelten Praxisbegriff und sekundäre Erfahrungen mit dem der Praktik auf.
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wert ein und werden zum Gegenstand spezifischer Formungs- und Regulierungsprozeduren.130 Bei der Selbstthematisierung geht es nie nur um ein Explizieren von Erfahrungen, Handlungen oder Assoziationen, sondern auch um ein Mitteilen von Empfindungen. Von den Betreffenden muss in ihren Schilderungen also gewissermaßen „Verantwortung nicht nur für Tun, sondern auch für Erleben übernommen werden“ (Hahn 1987: 20). Die Lotsenanwärterinnen werden dabei auf einen spezifischen Umgang mit ihren Gefühlen geeicht: Anerkennung erfahren Emotionen „nur in einer sehr spezifischen Form, nämlich als Gefühl, über das man spricht oder sprechen muss“ (Hitzer 2011: 142, Herv. AQ).131 Laut Handbuch soll Gefühlen „Raum gegeben werden“, aber es sei „nicht Aufgabe der Gruppenmitglieder oder der Leitung eine/n TN dazu zu bewegen, über die Emotionen zu sprechen!“ (Müller-Wille 2007: 84). Der Lotsenkurs wird somit programmatisch als Möglichkeitsraum konzipiert, in dem Gefühle freiwillig zum Ausdruck gebracht werden können. Gleichzeitig wird an eine gewisse Selbstverpflichtung appelliert, indem der Thematisierung von Gefühlen eine geradezu kathartische Wirkung zugeschrieben wird: „Das Konzept des Lehrgangs wurde aus dem Gedanken heraus entwickelt, dass man erst bereit ist, Informationen aufzunehmen, wenn es keine starken emotionalen Barrieren gibt. Diese Gefühle müssen ausgesprochen werden, wobei jede und jeder Teilnehmende selbst entscheidet, wie viel der Gruppe mitgeteilt wird.“ (Ebd.: 6, Herv. AQ) Angelegt ist mit dieser Programmatik eine Führung der emotionalen Selbstführung. Indem „emotionale Barrieren“ insbesondere migrantischen Lotsenanwärterinnen zugeschrieben werden, werden diese selektiv als Gefühlssubjekte angerufen, denen es (noch) an einem adäquaten Wissen im Umgang mit ihren Emotionen fehlt. Erst eine spezifische, d.h. offene, reflektierte und wertschätzende Handhabung von Gefühlen ermöglicht es diesen, sich in integrationsfähige Vernunftswesen zu verwandeln. Der individuelle therapeutische Nutzen wird dabei implizit mit einer kollektiven Ausrichtung, die Selbstverpflichtung mit einer Verpflichtung gegenüber den Anderen verbunden, denn die „Beseitigung emotionaler Barrieren“ soll nicht
130 Wie Ute Frevert (2011: 13f.) in ihrem Beitrag zu einer „lexikalischen Spurensuche“ nach dem „Gefühlswissen“ der Moderne im gleichnamigen Band herausgearbeitet hat, wurden Gefühle seit dem 18. Jahrhundert „zum Gegenstand weitreichender Bildungsund Disziplinierungsambitionen“, wobei sich mit diesen Formgebungen und Regulierungsweisen zugleich immer auch Möglichkeiten der Differenzierung und Hierarchisierung sozialer Klassen und Bevölkerungsgruppen verbanden. 131 Bettina Hitzer (2011: 142f.) weist im selben Band („Gefühlswissen“) darauf hin, dass ausgesprochene Gefühle mit der „Therapeutisierung des Alltags“ im 20. Jahrhundert an Bedeutung gewinnen während nichtverbale Ausdrucksformen von Emotionen gleichzeitig eine Entwertung erfahren.
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nur der Aufnahmebereitschaft des Einzelnen zu Gute kommen, sondern auch der Lernatmosphäre im gesamten Kurs. Die Gefühlsarbeit der migrantischen Teilnehmerinnen soll „eine Art externe Immunisierung sowohl des psychischen Systems als auch der von ihm ausgehenden sozialen Irritationen“ (Hahn 2010: 15, Herv. AQ) befördern. Migrantische Lotsenanwärter und ihr angemessener Umgang mit Emotionen werden damit nicht nur für persönliches Heil, sondern gleichsam für das Gemeinwohl responsibilisiert. Wie ein solcher angemessener Umgang mit Gefühlen auszusehen hat, demonstriert die Dozentin eines Lotsenkurses im Rahmen einer Lehreinheit zum Thema ‚Konflikterfahrungen‘ am eigenen Beispiel: Wurde eben noch anhand des so genannten „Organgenkonflikts“, bei dem sich zwei Personen um eine Orange streiten, ein produktiver Umgang mit Konflikten demonstriert, meint Dozentin Andia plötzlich, dass sie den Teilnehmern noch etwas mitgeben wolle, was mit ihrer eigenen Geschichte zu tun habe. Sie erzählt, wie sie vor Jahren flüchten musste, da ihr Mann und die gesamte Familie politisch verfolgt wurden. Bei der Flucht sei das Auto der Familie von staatlichen Kräften von der Straße abgedrängt worden. Ihr Mann und ihre Kinder seien bei der Flucht ums Leben gekommen. Sie selbst sei körperlich und seelisch „von Kopf bis Fuß gebrochen“ gewesen. „Doch“, sagt sie lächelnd, ihr Leben sei dadurch „an Wert gestiegen“. Sie schätze die Freiheit und „das leichte Leben“ in Deutschland. Sie sei „immer schon stark“ gewesen und habe „es auch geschafft“. Sie schließt mit einem Appell an die Kursteilnehmer: „Es ist so wichtig, dass ihr Lotsen seid, denn ich hatte auch Hilfe!“
Die Geschichte der Dozentin reiht sich wie selbstverständlich in das bisherige Unterrichtsgeschehen ein. Die Zuhörerinnen werden involviert und gleichsam durch einen überaus klaren, eher nüchtern-sachlichen Vortragstil auf Distanz gehalten. Der dramatische Gehalt der Geschichte scheint durch das Format, in dem Erfahrung und Gefühl im Rahmen der Ausbildung eine Darstellung finden können, wie gedämpft zu werden. In der Anordnung des Lotsenkurses wird die Erzählung eines persönlichen Schicksals für die Dozentin zu einem gleichermaßen engagiert wie distanziert zu erbringenden ‚Lehrauftrag‘, der darauf gerichtet ist, den Teilnehmern am eigenen Beispiel zu zeigen, dass erst das offene Aussprechen von belastenden Erfahrungen und damit verbundenen Gefühlen es ermöglicht, nach vorne schauen und gerade aus diesen Erfahrungen eine ‚produktive Kraft‘ entwickeln zu können, welche zur Unterstützung anderer ebenso wie zur Selbsthilfe befähigt. Die Dozentin konstituiert sich damit als ein für die angehenden Lotsen vorbildliches Mittlersubjekt. Am Beispiel der Aufgabe „Zu wie viel Prozent fühlst Du Dich integriert?“ lässt sich die Formatierung von Gefühlen weiter ausleuchten. Das Gefühl, über das gesprochen wird, zeichnet sich hier dadurch aus, dass es sich dem Anspruch nach messbar erfassen lässt. Voraus geht der Aufgabenbearbeitung der Vortrag einer
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Dozentin zum Thema „Was heißt eigentlich Integration?“. Ausführlich referiert sie dabei Ergebnisse der wissenschaftlichen Studie „Integration unter Vorbehalt. Perspektiven junger Erwachsener mit Migrationshintergrund“ von Barbara Schramkowski (2006). Mittels Interviews mit „Integrationsexperten“, „integrierten Jugendlichen“ sowie Befragungen von jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund richtet sich diese Studie auf „die Rekonstruktion subjektiver Erfahrungen und Sichtweisen junger Erwachsener mit Migrationshintergrund mit bzw. auf Integration, deren Integrationsverläufe von Experten des Forschungsfeldes als positiv bewertet werden, sowie mit ihnen verbundener subjektiver Empfindungen, Interpretations- und Orientierungsmuster und Handlungsspielräume“ (ebd.: 17f.). Die im Vorfeld der Aufgabe besprochene wissenschaftliche Publikation rahmt das anschließende Geschehen und stellt eine praktische Teleologie her. Die Lehrformate der Unterrichtung (hier: ein buchstäblicher Vor-trag) und der (Selbst-)Befragung werden unmittelbar miteinander verknüpft, indem die Teilnehmerinnen während des Referats lernen, dass es so etwas wie eine gefühlte Integration gibt und, dass sich diese nicht an ‚objektiven‘ Kriterien, sondern an der ‚subjektiven‘ Wahrnehmung der Betreffenden bemisst. Korshid, die als erste gefragt wird, zu wie viel Prozent sie sich integriert fühle, zögert zunächst. Sie scheint nicht so recht zu wissen, was von ihr erwartet wird. Die Kursleiterin gibt Hilfestellungen: „Naja, du lebst hier, hast Familie hier, sprichst die Sprache, vielleicht bist du im Sportverein oder so.“ Korshid: „Also ich fühle mich wohl hier, aber die Sprache ist nicht so gut. Ich musste mich immer um meine Familie kümmern. Sie unterstützen. Ich hatte keine Zeit zu lernen. Nochmals interveniert die Dozentin: „Aber du sprichst doch deutsch“, woraufhin Korshid entgegnet, dass sie „aber wie eine Deutsche sprechen können“ möchte. Die Befragte kramt sodann einen Zettel heraus. Sie habe da etwas über „ihre Geschichte“ aufgeschrieben, ob sie das vorlesen dürfe. Die Dozentin unterbindet den Versuch mit einem „Versuch es mal ohne das.“ Korshid hält kurz inne und meint dann, sie fühle sich „fast hundertprozentig integriert“ und fügt hinzu: „Vor allem vor der Pensionierung. Durch die Arbeit“. Der andere Kursleiter klinkt sich nun ebenfalls in die Befragung ein, nickt zustimmend und ergänzt: „Und Sie sind eingebürgert, haben einen deutschen Pass“. Ein weiterer Versuch Korshids, ihre Geschichte zu verlesen, läuft wie übersehen ins Leere.
Im Rahmen dieser Ausbildungspraktik ist kein Raum für Korshids Geschichte. Die gefühlte Integration wird, ähnlich wie die Integrationsassoziationen, mittels einer auf Ermutigung und Aktivierungsappell basierenden Regulierung aus der Praxis eines Sprachspiels der Integration heraus fabriziert. Das Sprechen in Prozentangaben lässt Emotionen dabei nur in einer spezifischen Weise in Erscheinung treten: Sie sind nicht als leiblich erlebte und körperlich gezeigte von Bedeutung, sondern in
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Form von numerischen Größen.132 Die in dieser Weise formatierten Gefühle werden dabei an klassischen Integrationsindikatoren wie Sprachfähigkeiten, Erwerbstätigkeit, Vereinsmitgliedschaft oder Staatsbürgerschaft festgemacht, welche innerhalb des Integrationsdiskurses als anerkannte Währungen fungieren, um sowohl Forderungen an Migranten stellen als auch deren Förderungen legitimieren zu können. Im Reflektieren und Verbalisieren von Integrationsgefühlen werden die Lotsenanwärter zu Bestandsaufnahmen angeregt, in die somit unweigerlich implizite und explizite Erwartungen hinsichtlich künftiger Integrationsanstrengungen einfließen. Vor dem Hintergrund von Ist-Zuständen lassen sich nun Soll-Zustände konturieren – in Korshids Fall die Verbesserung deutscher Sprachkompetenzen. Nicht nur ‚Wo stehe ich?‘, sondern ebenso ‚Wo will ich hin?‘, ,Wie kann ich vielleicht hundert Prozent erreichen?‘ werden damit zu entscheidenden Fragen, die eine Aktivierung der migrantischen Lotsenanwärter präfigurieren, indem ein Bewusstsein darüber hergestellt wird, dass ein Optimum nicht ohne Weiteres zu erreichen ist, wohl aber mit der ‚richtigen‘ Einstellung. Wie eine Teilnehmerin in einem anderen Lehrgang im Rahmen der gleichen Aufgabe formuliert, wird der Lotsenkurs auf diese Weise zu einem „Ort, um sich zu finden.“133 Mittels selektiver Adressierungen werden einige Kursteilnehmer im Vollzug der Ausbildungspraktik nicht als Lotsen, sondern vielmehr als selbst noch nicht ausreichend integrierte Migrantinnen herausgehoben. Ihre Anordnung auf einer Art Zeitstrahl im Rahmen eines Fortschrittskonzepts bringt einen Begegnungsraum hervor, der sich zwischen integrierten und weiterhin integrationsbedürftigen Migranten aufspannt. Um sich finden zu können, bedarf es im Rahmen der Ausbildungspraktik einer kritischen Selbstprüfung, wo man mit seiner Integration steht. Ermöglicht wird diese dadurch, dass sich Integrationsgefühle mittels der Prozentangaben
132 Hinsichtlich der Unterscheidung von Leib und Körper halte ich mich an Helmuth Plessners Begriff der „exzentrischen Positionalität“. Ein Mensch nimmt hiernach seinen Leib wahr und kann sich selbst ins Verhältnis – in eine exzentrische Position – zu diesem als seinen Körper setzen. Er ist „immer zugleich Leib [...] und hat diesen Leib als seinen Körper“ (Plessner 1982: 237). 133 Eingebettet ist diese Äußerung in die folgende Szene: Gegen Ende eines Kurses hebt die Projektkoordinatorin hervor: „Der Kurs ist auch ein Ort der Weiterentwicklung“. Eine Teilnehmerin schließt an: „Ein Ort um sich zu finden.“ Die Koordinatorin meint daraufhin: „Ja. Wo man sieht, wo man überhaupt mit seiner Integration steht.“ Die Dozentin fügt hinzu: „Das zeigt, dass man mit Fleiß etwas erreichen kann. Die, die nicht aufgeben, erreichen etwas. Es bringt auch etwas, wenn man anderen hilft.“ Erneut die Koordinatorin: „Wenn dieser Kurs dir für die Weiterentwicklung deiner eigenen Integration hilft, haben wir schon unser Ziel erreicht.“
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verobjektivieren, gegeneinander verrechnen und unter den Teilnehmenden miteinander vergleichen lassen – Abstände in den Prozentangaben werden so zu Unterschieden zwischen den Kursmitgliedern.134 Die Aufgabe präfiguriert, dass innerhalb des Kurses Klassen mit jeweils unterschiedlichen Levels an Integrationsgefühlen gebildet werden, welche differenzierende Behandlungsweisen erlauben und erfordern. Gleichzeitig werden die Teilnehmer im Foucaultschen Sinne individualisiert: Sie werden als Einzelne herausgehoben, an die sich individuell zugeschnittene Aufforderungen richten, bspw. einem Verein beizutreten oder weiter an den eigenen Deutschkenntnissen zu arbeiten. Die so konstituierten Gruppen und Individuen können auf diese Weise zur Weiterentwicklung ihrer Integration(sgefühle) angetrieben werden. Solche mit dem Integrationsdispositiv verbundenen defizitorientierten Visibilisierungs- und Teilungspraktiken werden in der Ausbildungspraxis in einer zugleich feldspezifischen und situativ angepassten Weise vollzogen: Es werden Spielregeln aktualisiert, wonach Kursteilnehmer als Integrationslotsen nur gebildet werden und sich selbst nur als solche bilden können, sofern sie ein ausreichendes Integrationslevel nachweisen können. Der defizitorientierten Selbsteinschätzung Korshids wirken die beiden Dozenten unter Rekurs auf spezifische Integrationsindikatoren (deutsche Sprachkenntnisse, Mitgliedschaft im Sportverein, deutscher Pass) in einer ressourcenorientierten Weise entgegen. Auf diese Weise verhelfen sie ihr zu einer nahezu ‚sauberen Bilanz‘ eines Integrationsgefühls von fast einhundert Prozent – Korshid wird damit weiterhin ‚im Spiel‘ gehalten. Kommen wir nun zu einer weiteren Teilnehmerin, die weit weniger unsicher als Korshid an die Aufgabenstellung anschließt und damit einen gekonnten Umgang mit dem messbare Angaben erfordernden Sprachspiel demonstriert:
134 Im ‚großen Stil‘ misst das Allensbacher Institut im Auftrag der Bertelsmann Stiftung die „gefühlte Integration“ mittels repräsentativer Befragung. Die ausgewählten Indikatoren sagen laut der Stiftung „einzeln und für sich genommen etwas darüber aus, wie sehr sich die Zuwanderer integriert, akzeptiert und dieser Gesellschaft zugehörig fühlen. Um diese ‚gefühlte Integration‘ klarer erfassen zu können, wurde aus diesen einzelnen Indikatoren eine zusammenfassende ‚Quasiskala‘ gebildet: die Befragten werden auf einer Skala entsprechend der Zahl der Antworten auf ausgewählte Fragen einer bestimmten Richtung geordnet. Diese Statements und Einzelaussagen stehen für die Identifikation mit Deutschland als Heimatland sowie für die Verbundenheit mit diesem Land, die empfundene Zugehörigkeit, inwieweit man sich als Teil der Gesellschaft sieht, den Kontakt zu Deutschen ohne Migrationshintergrund sowie die empfundene Anerkennung und Akzeptanz von Seiten der Gesellschaft.“ (Bertelsmann Stiftung 2009: 46).
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Levanas Antwort kommt zügig und entschieden, geradezu ‚wie aus der Pistole geschossen‘: „Ich fühle mich von meiner Seite aus so siebzig Prozent integriert“, aber, fügt sie hinzu, die Leute würden zum Teil direkt vor ihr über sie sprechen. Aufgrund des Kopftuchs würden sie wohl annehmen, sie verstünde nichts. Sie spreche sie dann direkt an und konfrontiere sie damit. Es folgt ein Lob des Dozenten: „Das ist gut. Damit nimmst du auch gar keine Opferrolle ein, sondern bist im Gegenteil sehr mutig.“ Levana schiebt nach, dass Muslime im Moment global so schlecht angesehen seien. „Das ist kein deutsches Problem. Wahrscheinlich ginge es mir in Frankreich noch schlechter.“
Levana setzt sich in dieser Szene gewissermaßen als rationales Vernunftsubjekt ein, das dabei ist, das Stadium des Gefühlssubjekts hinter sich zu lassen. Die vom Dozenten ausgehende Adressierung als „mutige“ Migrantin, welche sie gewissermaßen in der Position des Gefühlssubjekts festhält, beantwortet sie mit einem verallgemeinernden Rekurs auf globale bzw. französische Vorbehalte gegenüber Muslimen und lässt sie somit ins Leere laufen. Nun ist Oksana an der Reihe: „So viele Probleme habe ich offensichtlich nicht“, meinst sie und macht dabei eine Zeigegeste entlang ihres Körpers von oben nach unten. Sie fühle sich zu neunzig Prozent integriert.
Oksana re-adressiert ihre Vorrednerin in dieser Sequenz implizit als ‚auffällige‘ Migrantin bzw. Muslima. Mit ihrer Geste, die auf aschblonde Haare, helle Haut und Augen sowie studentische Alltagskleidung deutet, setzt sie sich selbst als Jemand ein, der sich äußerlich nur schwer von Einheimischen unterscheiden lässt. Ihr Integrationsvordergrund verliert im Vergleich zu Levanas sozusagen den über einen „physiognomische Code“ (Mecheril 2003: 154) erzeugten (Migrations-) Hintergrund, vor dem er sich visuell abheben kann.135 Eine in dem Adressierungsgeflecht von Levana und Oksana gemeinsam aktualisierte allgemeine Verstehensweise, wonach Möglichkeiten und Probleme einer Migrantin auch etwas mit äußeren Merkmalen und daran anknüpfenden rassistischen oder religionsfeindlichen Zuschreibungen zu tun haben, legt nahe, dass Oksana ihr gefühltes Integrationslevel höher als das von Levana bewertet. Doch auch ihr Migrationshintergrund kann im Rahmen der Ausbildungspraktik nicht vollständig zum Verschwinden gebracht werden, so dass sie ein Integrationsgefühl von unter hundert Prozent angibt.
135 Der „physiognomische Code“ bezeichnet nach Mecheril die „dem Erkennen zugrunde liegende symbolische Ordnung“, anhand derer sich natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeiten aufgrund des Erscheinungsbildes einer Person zuverlässig einordnen lassen (vgl. Mecheril 2003: 154).
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Während bisher beleuchtet wurde, wie die Formatierung von Gefühlen relativ reibungslos abläuft, zeigt das folgende Beispiel, wie es gelingen kann, sich einer solchen Formatierung zu entziehen. So bezieht die, sich ebenfalls als migrationshintergründig bezeichnende Dozentin des Kurses auf die Frage nach ihrem Integrationsgefühl folgendermaßen Stellung: „Ich kann die Frage eigentlich gar nicht beantworten. Ich habe einen ganz eigenen Platz in der Welt.“
Mit diesem „expressiven Individualismus“ (Zifonun 2008: 207) unterläuft die Dozentin die implizite Vorgabe der Aufgabenstellung, einen fixierten Platz innerhalb eines Positionengeflechts unterschiedlicher Levels von Integrationsgefühlen einzunehmen. Zugleich modifiziert sie damit die in der Aufgabenstellung angelegten Verortungs- und Vergleichspraktiken. Sie bringt in der Praxis ein Selbstverhältnis hervor, das nicht in dem von der Ausbildungspraktik nahegelegten Beziehungsgefüge von Subjektpositionen aufgeht. Vielmehr ‚erlaubt sich‘ die Protagonistin dieser Szene aus ihrer Position als Dozentin heraus, eine andere Subjektposition einzunehmen als die übrigen Kursteilnehmerinnen und sich dem Erwartungsdruck der Praktik, ein messbares Integrationsgefühl offen zu legen, zu entziehen. Anders als die angehenden Lotsen hat sie in der Anordnung des Lotsenkurses keine mit Autorität ausgestatteten Sanktionen durch die Kursteilnehmer zu befürchten, wohingegen letztere bei Regelabweichungen durchaus daran erinnert werden können, worauf es bei einer Aufgabe bzw. in diesem Kurs ankommt.136 Mit ihrer eigensinnigen Nutzung eines sich über die Position der Lehrenden wie auch spezifische Darstellungskompetenzen entfaltenden Möglichkeitsraumes vollzieht die Dozentin zugleich eine Absetzbewegung gegenüber den migrantischen Lotsenanwärtern, welche ihre herausgehobene Stellung zusätzlich stabilisiert. Exemplarisch lässt sich hieran das performative Zusammenspiel von unterschiedlichen sites dieser Ausbildungspraktik demonstrieren: Die Relation von Einheimischen und Migranten, welche die strategische Funktion des Integrationsdispositivs bestimmt und das Dispositiv gleichsam in Bewegung hält, wird hier irrelevant gemacht, gewissermaßen ausgehebelt. Stattdessen wird situativ eine Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden in Anschlag gebracht, welche pädagogische sites
136 Dass eine solche machtvolle Subjektposition von Lehrenden zwar im Vollzug dieser Ausbildungspraktik von der Dozentin eingenommen werden kann, jedoch nicht immer und überall gegeben ist, die entsprechenden Plätze also vielmehr erst in der Praxis zugewiesen werden, wird deutlich, wenn wir uns die anfangs umschriebene Szene wachrufen, in der ein Dozent seine in anderen Anordnungen wirksame Autorität als einheimischer Kursleiter nicht performativ durchsetzen konnte (vgl. Kapitel 3.2.2).
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kennzeichnet, mit denen der Begegnungsraum des Lotsenkurses über die Ausbildungspraktiken verwoben ist. Die eigensinnige Regelauslegung der Dozentin lässt sich in Anlehnung an Deleuze als das situative Aufnehmen einer „schöpferischen Subjektivierungslinie“ beschreiben, welche „sich den Dimensionen des Wissens und der Macht“ entzieht (Deleuze 1991: 157) und es der Dozentin erlaubt, für einen Moment aus dem Rahmen der Ausbildungspraktik herauszutreten, ohne diesen aber grundsätzlich in Frage zu stellen und das, was hier geschieht, kritisch „zu qualifizieren“ (Boltanski 2010: 106).137 Exkurs: Einheimische Zugänge zu Begegnungsräumen der Migration Die Frage, wie sich Kritik im Rahmen der Ausbildungspraktik der Integrationsgefühle äußert und äußern kann, wird gleich noch einmal aufgegriffen. Doch zunächst lenkt der weitere Verlauf der Praxis die Aufmerksamkeit auf die Frage nach den Strategien, mittels derer sich diejenigen Sprecherpositionen in Begegnungsräumen der Migration verschaffen, denen der Zugang zunächst verwehrt ist, da sie als Einheimische ohne Migrationserfahrungen subjektiviert werden. Nachdem alle migrationshintergründigen Kursteilnehmer ihren Integrationsgefühlen einen numerischen Ausdruck verliehen haben, blickt sich die Dozentin im Raum um und fragt: „Haben wir sonst noch jemanden mit Migrationshintergrund? Nein, oder?“ Peter, der in Norddeutschland geboren ist, interveniert: „Ich fühle mich nur zu neunundneunzig Prozent an meinem Wohnort integriert. Ich fühle mich auch noch meinem Geburtsort zugehörig.“ Die übrigen Teilnehmer wie auch die Dozentin lächeln und nicken daraufhin.
Peter kämpft in dieser Sequenz, wenn auch ein wenig scherzhaft unterlegt, gegen seine Unsichtbarkeit in einem Raum an, der sich ausschließlich über die Begegnung von unterschiedlich weit integrierten Migranten konstituiert. Sein Beitrag transformiert den Raum in einen der Begegnung zwischen Einheimischen und Migranten und befördert Peter in eine Zone der Sichtbarkeit, die ihm zuvor unzugänglich war. Auch hier wird deutlich, wie die Skalierung von Integrationsgefühlen die Wahrnehmung und Artikulation von Unterschieden bis hin zu feinsten Nuancen präfiguriert: Peter verortet sich, anders als Korshid, auf Anhieb nahe am Optimum von hundert Prozent. Dass auch er ein Gefühl mangelnder Integration für sich reklamiert, kann als ein doing sameness gelesen werden, welches jedoch nicht mit einem
137 Nach Boltanski besteht ein solcher Qualifizierungsprozess, der immer „deskriptiv und normativ zugleich“ ist, darin, eine „Beziehung zwischen einer typischen Situation [...] und einer okkurenten, konkret gegebenen Situation“ (Boltanski 2010: 109, 107, Herv. i.O.) herzustellen.
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undoing difference (vgl. Hirschauer 2001b: 221) zu verwechseln ist, wird doch die Unterscheidung zwischen Einheimischen und Migranten mit seiner Prozentangabe gerade nicht neutralisiert, sondern einmal mehr in Geltung gesetzt und ein Unterschied gegenüber migrantischen Kursteilnehmern markiert. Wie das Nicken der Anwesenden im Anschluss an seine Intervention zeigt, gelingt es ihm gleichwohl, sich mittels dieses doing sameness Zugang zu dem Begegnungsraum zu verschaffen. Bei dem Rekurs auf eine innerdeutsche Binnenmigration handelt es sich, neben Bezugnahmen auf Reisen oder längere Auslandsaufenthalte, um eine gängige Strategie, mit der Kursteilnehmer versuchen, sich einer Subjektivierung als Einheimische zu entziehen bzw. sich zumindest zu Einheimischen mit Migrationshintergrund zu machen. Dass dies nicht immer gelingt, illustriert das folgende Beispiel einer einheimischen Gastreferentin: Eine Referentin aus dem Bereich der Elternarbeit in Schulen stellt sich als „zugewanderte Norddeutsche“ vor. Auf die Frage einer Kursteilnehmerin, woher sie denn komme, antwortet sie: „Aus Nordrhein-Westfalen.“ Die Teilnehmerin meint daraufhin ein wenig enttäuscht: „Ach so.“ Es folgen keine weiteren Fragen, und die Referentin beginnt mit ihrem Vortrag.
Der Binnenmigrationshintergrund reicht in dieser Szene nicht als Zugangsberechtigung aus und die Gastreferentin wird auf einen Platz verwiesen, von dem aus sie wohl etwas über Elternarbeit in Schulen vortragen, jedoch nicht an Begegnungen teilhaben kann, die sich über das Präsentieren ‚einschlägiger‘ Migrationserfahrungen konstituieren. Eine weitere Strategie, um sich im Lotsenkurs zum Teilnehmer einer Begegnung zu machen, besteht darin, sozusagen auf second hand-Erfahrungen von „native informants“ (Gutíerrez Rodriguez 1999: 90), bspw. migrantischen Freunden oder Lebenspartnerinnen, zurückzugreifen. Diese Strategie kommt in der folgenden Szene zum Einsatz. Die Eintrittskarte zum Begegnungsraum des Integrationsgefühls verschaffen sich die einheimischen Protagonistinnen, indem sie sich zu Fürsprecherinnen ihrer Lebenspartner machen. Diese Fürsprachen geraten allerdings miteinander in Konflikt und führen uns von der Frage nach einheimischen Zugängen zu Begegnungsräumen der Migration zurück zur Frage nach den Bedingungen und möglichen Erscheinungsformen von Kritik im Rahmen der Thematisierung von Integrationsgefühlen. Gundula meint, sie könne ja nicht über ihre eigenen Integrationsgefühle sprechen, aber etwas zu den Erfahrungen ihres aus Kenia stammenden Ehemannes sagen. Sein Leben hier sei durch „nette kleine Rassismen geprägt“. Mindestens „vierzig Prozent von der anderen Seite“ würden fehlen. Formal sei er gut integriert, er spreche sehr gut deutsch „und so“. An diese
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persönliche Lagebeschreibung schließt sie ein allgemeines Statement über ungleiche Bildungschancen migrantischer und nichtmigrantischer Kinder an. Neben persönlichen Erfahrungen aus einem Schulpatenprojekt stützt sie ihre Argumentation auf Ergebnisse wissenschaftlicher Studien. Martina entgegnet daraufhin aufgebracht: „Ja, jetzt sind alle Deutschen schlecht und die Lehrer Schuld an allem. [...] Man kann sich in die Opferrolle auch reinbegeben. Zu mir sind auch viele Busfahrer unfreundlich.“ Gundula antwortet in sachlichem Tonfall, dass dies ja nicht ihre „persönliche Meinung“ sei. Dazu gäbe es „ja auch Studien“. Anfangs sei da ja „nur so ein Gefühl“. Dann müsse man eine Studie in Auftrag geben und die würde „das dann belegen“. Levana mischt sich nun ebenfalls ein: „Ich kann das nur bestätigen. Meine Schwester hat das auch so erlebt. Und außerdem kenne ich diese Studien auch.“ Martina runzelt die Stirn: „Der Vater meines Sohnes ist auch Deutsch-Afrikaner. Der ist einen ganz geraden Weg gegangen. Immer das Negative in den Vordergrund zu stellen, das ist auch typisch deutsch. Die deutsche Jammermentalität.“
Martina und Gundula bringen hier im doppelten Wortsinn eine Szene hervor, die veranschaulicht, wie sich die in der Ausbildung angelegte Formatierung von Erfahrungen und Gefühlen nicht im Sinne einer sich selbst durchsetzenden Disziplinierung vollzieht, sondern in der Praxis Momente des Gelingens ebenso wie solche des Scheiterns hervorbringt. Nicht nur die adäquate Form, wie Erfahrungen und Gefühle zu präsentieren sind, sondern auch, wie diese zwecks Formulierung bestimmter Ansprüche bzw. Realitätsbeschreibungen als Mittel einer kritischen Praxis eingesetzt werden können, wird dabei in actu ausgefochten.138 Gundulas Kritik richtet sich darauf, dass Migranten rassistischen und bildungspolitischen Diskriminierungen ausgesetzt seien. Sie bringt in die Szene ein sekundäres Erfahrungswissen und Gefühlswissen ein, indem sie von den Rassismuserfahrungen ihres kenianischen Ehemannes berichtet, sich aber zugleich davon distanziert, lediglich ihre „persönliche Meinung“ oder „nur so ein Gefühl“ präsentieren zu wollen, und daher zusätzlich auf wissenschaftliche Rationalität rekurriert. Sekundäres Erfahrungswissen und wissenschaftliches Wissen werden in den von ihr aktualisierten „Argumentationsdispositiven“ (Boltanski 2010: 159) in einen Prozess wechselseitiger Authentifizierung und Korrespondenz gebracht. Levana schließt an diese Form der Kritik an und verleiht ihr mit ihrer ‚authentischen Stimme‘ zusätzliche Legitimität. Martinas Kritik richtet sich gegen die vorgebrachte Diskriminierungsthese. Sie mobilisiert eine allgemeine Verstehensweise, nach der nicht strukturelle
138 Das im Folgenden analysierte empirische Material war Ausgangspunkt für die in Kapitel 2.3.6 skizzierten Überlegungen zur kritischen Praxis der Situationsteilnehmer, die mit deren Feststellung einsetzt, „dass etwas falsch läuft“ (Boltanski & Thévenot 2011: 43). Zugleich wurde die empirische Analyse durch die Ansätze von Boltanski und Thévenot (2011) sowie v.a. Boltanski (2010) weiter geschärft.
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Bedingungen, sondern der Einzelne selbst verantwortlich für seinen ungeraden oder „geraden Weg“ ist. Sie greift dabei nicht auf wissenschaftliche ‚Belege‘ zurück, sondern bleibt unbeirrt bei individuellen Beispielen, obwohl sie keinerlei beipflichtende Unterstützung unter den Teilnehmern findet. Boltanski hat in Soziologie und Sozialkritik einen typologischen Ansatz zur Unterscheidung von Realitätsprüfungen, Existenzprüfungen und Wahrheitsprüfungen entwickelt, welcher sich zur Ausleuchtung von Kritikformen heuristisch an dieses empirische Beispiel anlegen lässt. Zugleich wird im Folgenden gezeigt, dass der Ansatz sowohl aufgrund seiner Tendenz zur Dekontextualisierung der Praxis als auch dank seiner entlarvenden Ausrichtung für die Analyse einer konkreten Szene Probleme birgt. Im Modus der „Realitätsprüfung“ wird nach Boltanski abgeglichen oder getestet, ob geltend gemachte Ansprüche begründet sind, da sie nicht in der Art und Weise oder dem Umfang erfüllt sind, wie sie eigentlich – nach ‚objektiven‘ Maßgaben – erfüllt sein sollten, sich also eine Kluft zwischen „Sollen und Sein, zwischen Werturteil und Tatsachenurteil“ auftut (Boltanski 2010: 159). Nach Boltanski ermöglicht diese Prüfungsform eine Form der Kritik, die er als „reformistisch“ bezeichnet (ebd.: 155, Herv. i.O.). „Existenzielle Prüfungen“ hingegen erlauben eine „radikale“ Form der Kritik, da sie sich in Erfahrungen gründen, namentlich solchen des Erleidens von Ungerechtigkeit, Kränkung oder Scham (ebd.: 155,161, Herv. i.O.). Boltanski stellt dabei heraus, dass solche Erfahrungen schwer zu thematisieren seien, da ihnen „das vorgängige Format fehlt, in dem sie Gestalt gewinnen, oder weil sie aus dem Blickwinkel der bestehenden Ordnung einen abwegigen Charakter besitzen“, was nicht selten dazu führe, dass versucht werde, sie lächerlich zu machen (ebd.: 161, Herv. AQ). Wahrheitsprüfungen schließlich stellen eigentlich keine kritischen Praktiken dar, sondern fungieren lediglich als „Bestätigungsoperationen“ (Boltanski 2010: 156) der bestehenden, d.h. offiziell etablierten Ordnung. Boltanski entwickelt damit eine Typologie, die nicht mehr nur heuristisch an das empirische Material herangetragen wird, sondern selbst den Charakter eines Klassifikationsschemas erhält, innerhalb dessen bestimmte Formen vorab als Kritik etikettiert, andere hingegen als bloße Bestätigungen des Herrschenden entlarvt werden. Deutlich wird die Problematik, wenn man Boltanskis Analyseraster auf die umschriebene Szene überträgt: Bei der Prüfung des Anspruchs auf Gleichbehandlung von Migranten und Einheimischen wird zunächst auf das existenzielle Prüfungsformat zurückgegriffen. Gundula bringt dabei die Diskriminierungserfahrungen ihres kenianischen Partners in Form „netter kleiner Alltagsrassismen“ ein. Doch anders als von Boltanski in verallgemeinernder Weise angenommen, fehlt es im Kontext der Lotsenausbildung, wie besonders am Beispiel von Andias Flucht-Geschichte deutlich wurde, gerade nicht an Formaten, die einer – auch leidvollen – Erfahrung zur Gestalt verhelfen.
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Begegnungsräume der Migration konstituieren sich hier vielmehr gerade über ein gegenseitiges Mitteilen und Teilen von Erfahrungen und Gefühlen, welche dadurch hinsichtlich ihres nach Boltanski radikalen kritischen Potentials eine Dämpfung erfahren. Zur Absicherung und Verstärkung von Ergebnissen existentieller Prüfungen ziehen Gundula und Levana daher fortlaufend Realitätsprüfungen heran. Auf diese Weise kommt es zu einem spannungsvollen Ausbalancieren unterschiedlicher Modi der Kritik, welches bei Boltanski aus dem Blick gerät, da Prüfungsformate ihres jeweiligen Kontextes enthoben und stattdessen objektiviert werden.139 Zugleich wird vernachlässigt, dass es zur kritischen Praxis einer Wissensform bedarf, die Boltanski mit seiner Unterscheidung eines „metapragmatischen“ Registers (Boltanski 2010: 106f.) der Kritik, welches sich durch ein hohes diskursives Reflexionsniveau auszeichnet und einem praktischen Register routinisierter, vorreflexiver Handlungsvollzüge (vgl. ebd.: 99ff.) gerade nicht mit Kritik in Verbindung bringt: die Teilnehmer müssen über ein praktisches Wissen verfügen, das es ihnen ermöglicht, Kritik situationsangemessen vorzubringen, d.h. hier, ihr Gefühlswissen und sekundäres Erfahrungswissen adäquat auszutarieren. Insbesondere Martinas Beitrag macht auf das Problem der impliziten Normativität von Boltanskis Ansatz aufmerksam. Ihr Rekurs auf den „geraden Weg“ ihres afrikanischen Partners und die „typisch deutsche Jammermentalität“ wäre nach Boltanski entweder als eine Wahrheitsprüfung anzusehen, welche die diskriminierende Ordnung bestätigt oder er läge schlicht außerhalb der genannten Prüfungsformate. In beiden Fällen würde das, was Martina vorbringt, als Kritik dethematisiert werden. Boltanskis Prüfungsschema weist somit eine Schieflage auf. Wie Tietze herausgestellt hat, droht er in ein „verschwörungstheoretisches Dilemma“ (Tietze 2013: 39) zu geraten, ,,indem er die „Kontingenz, Unwägbarkeiten und Ambivalenzen aus dem Konflikt über die Legitimität und Durchsetzung einer Ordnung verschwinden [lässt]. Er verdichtet [...] die ‚offene Welt‘ des Konflikts zu einer ‚feste[n] Struktur‘ und setzt ‚das Bild einer festen Ordnung‘ in Szene.“ (Ebd. 53) Dies läuft Boltanski zentraler Annahme entgegen, wonach im Konfliktfall ja gerade die Grenzen zwischen einer offiziellen, sichtbaren Wirklichkeitskonstruktion und einer verdeckten, tatsächlich erfahrenen Wirklichkeitskonstruktion verschwimmen und sich letztlich
139 Ähnlich hat Wagner in Bezug auf den Ansatz der Rechtfertigungsordnungen (cités) von Boltanski und Thévenot (2007, ursprünglich 1991) gefragt, ob mit den sechs cités alle Grundfiguren der Rechtfertigung erfasst sein sollen und darauf hingewiesen, dass bei einem solchen Ansatz die Gefahr bestehe, „daß die Diskussion auf die Frage der kategorialen Systematik konzentriert wird – und die Kategorien dann einfach angewandt und damit selber objektiviert werden, wie dies anderen soziologischen Begriffen ja auch widerfahren ist“ (Wagner 1993: 474).
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beide Wirklichkeitskonstruktionen in ihrer Unsicherheit und Unabschließbarkeit zeigen (vgl. ebd.: 56). Vor diesem Hintergrund ließe sich formulieren, dass auch Martina in der konkreten Szene als kritisches Subjekt in Erscheinung tritt, indem sie auf eine Wirklichkeitskonstruktion rekurriert, die im Feld gerade nicht anerkannt wird. In der Auseinandersetzung mit dem empirischen Material wird somit deutlich, dass sich kritische Praxis im Sinne eines Heraustretens aus einer situativ hergestellten Ordnung nicht neutral beobachten lässt, sondern selbst einen Qualifizierungsprozess darstellt, der aus einer bestimmten, offen zu legenden Beobachterperspektive erfolgt. 3.2.3.3 Integrationsbiographie und Migrationshintergrund als Werke einer Fabrikation ,,Im wörtlichen Sinne muss der Migrationshintergrund seine Ergänzung oder Fortsetzung finden in dem Integrationsvordergrund.“ MÜLLER-WILLE (2012: 137)
Die vorangegangenen Ausführungen zusammenfassend und weiterführend soll an dieser Stelle versucht werden, die bisher skizzierten Ausbildungspraktiken nunmehr weniger als einem chronologischen Nacheinander folgende Einheiten zu perspektivieren als sie zu einer Zeiten und Räume überspannenden Szenerie der Selbstbildung zusammenzufügen. Auffällig ist zunächst, dass Kursteilnehmer im Rahmen von Aufgaben der Selbstthematisierung fortlaufend selektiv als Migranten adressiert werden, während sich die durch Nichtansprache zu Einheimischen gemachten oft nur indirekten Zugang zu den über die Ausbildungspraktiken konstituierten Begegnungsräumen der Migration verschaffen können. Diese selektive Adressierung erfolgt nicht zufällig, sondern im Rahmen eines institutionellen Kontextes, der „einen professionellen Bedarf“ an einer spezifischen „Identitätsarbeit“ hat (vgl. Etzemüller 2012: 49). Migrantische Lotsenanwärterinnen haben dabei spezifische Ausschnitte – mit der Migration verbundene Erfahrungen und Gefühle – aus einem aus unzähligen Ereignissen und Erlebnissen zusammengesetzten Lebenslauf auszusondern und in eine Form zu bringen, auf welche alle weiteren Möglichkeiten und Anforderungen der Selbstthematisierung im Kursgeschehen fortan gewissermaßen fluchtpunktartig zulaufen. Der Lebenslauf als Gesamtheit sämtlicher Lebensereignisse wird auf diese Weise zum Gegenstand einer spezifischen biographischen Reflexion, welche ausgewählte Bereiche explizit zum Thema macht (vgl. ebd.: 48, 55).
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In ihrem Zusammenspiel fungieren die Ausbildungspraktiken als „Biographiegeneratoren“, welche die hergestellten sekundären Erfahrungen zu einer Migrationsbiographie zusammenfügen und verdichten und der Explikation des Selbst nicht nur rückblickend eine Überschrift geben, sondern diese auch in Form eines allgegenwärtigen Migrationshintergrundes konservieren und so „Bezugspunkte für Anschlüsse, die weiteres Erleben und Handeln ermöglichen“ herstellen (Hahn 1987: 12).140 Die gebotenen Formate für Selbstthematisierungen stecken im Wege einer „selektiven Vergegenwärtigung“ (ebd.: 13) ab, was eine Migrationsbiographie zu einer erfolgreichen Integrationsbiographie macht, dadurch und mit der Folge, dass sie filtern, was zu einem expliziten migrantischen Selbst gehören, nicht vergessen, sondern wach gehalten werden sollte und was nicht, so dass daraus ein – im doppelten Sinne, persönlich wie gesellschaftlich – integriertes Selbst erwachsen kann. Integrationsbiographie und Migrationshintergrund werden in der schrittweisen Explikation und Formung von Erfahrungen und Gefühlen zu komplementären Werken desselben Fabrikationsprozesses.141 Im Sinne formativer Objekte werden sie durch eine spezifische „Karriere“ geschleust, indem sie um relevante Elemente ergänzt oder bereinigt werden, als „Objekte sozial auf- und auch absteigen, Unterstützung erlangen oder verlieren, Bindungen erzeugen oder einbüßen“ (Scheffer 2013: 96) und sich so zu einer idealen Integrationsbiographie verdichten. Auf allen Stufen dieses Qualifizierungsprozesses zeigen sich dabei ähnliche Schrittfolgen, die durch spezifische Medienwechsel gekennzeichnet sind. Beim ersten Schritt des Erinnerns, Erkennens, Begreifens und Reflektierens geht es primär um stille, eher flüchtige Beiträge (jede arbeitet für sich, geht in sich, stellt Überlegungen an), die zunächst einmal ‚Sinn‘ für jeden einzelnen machen. Im zweiten Schritt des Benen-
140 Das, was in das explizite Selbst eingehen kann und was nicht, hängt nach Hahn somit stets auch von dem ab, was ihm an „gedächtniswürdig erachteten Handlungen in der zeitlichen Ordnung ihrer Abfolge als seine Vergangenheit“ zugerechnet wird (Hahn 1987: 10). Mit dieser Zurechnung entsteht „das Moment der Zeitlichkeit“, indem einzelne Handlungen nicht mehr für sich stehen, sondern in ein „wechselseitiges Verhältnis des Vorher, Nachher oder Zugleich“ (ebd.: 9) integriert werden. Einzelne Szenen müssen gewissermaßen zu einer chronologischen, oder zumindest durch ein Thema, eine Überschrift, zusammen gehaltenen Geschichte geformt werden, so dass sich nachfolgende Szenen hierin ‚einbauen‘ lassen. 141 Mit dem Begriff des „Werkes einer Fabrikation“ schließe ich an Scheffer (2013: 93) an, der darunter in Anlehnung an Knorr Cetina (1984) ein formatives Objekt versteht, dessen Entstehungsprozess sich entlang einer „Reihe mit ihren jeweiligen Zwischenständen und den mobilisierten Materialien“ analysieren lässt, wobei Werke einer Fabrikation je nach Stand mehr oder weniger geformt und geschlossen erscheinen und weitere „Investitionen“ erfordern können.
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nens, Darstellens und Sichtbarmachens werden die Ergebnisse sodann vor anderen auf den Begriff gebracht und auf diese Weise zugänglich gemacht. In einem dritten Schritt finden – häufig immer noch mündlich – Zusammenführungen und Systematisierungen statt. Erfahrungen werden zunehmend organisiert und kanalisiert und schließlich in einem vierten Schritt verschriftlicht. Die Niederlegung an Tafel oder Wandzeitung fügt diese zu einem ‚biographischen Modell‘ zusammen und fixiert das Objekt, das nun für jedermann sichtbar, jederzeit abruf- und rekurrierbar und als ‚das Gelernte‘ verbindlich wird. Die Migrations- bzw. Integrationserfahrung hat damit die Qualifizierungsstufe der Verallgemeinerung und Konkretisierung erreicht. Die mündlichen und schriftlichen Medienformate stellen dabei je eigene Darstellungsanforderungen an die Teilnehmenden und produzieren spezifische Einund Ausschlüsse in Form von Relevanzzuschreibungen und Invisibilisierungen von Irrelevantem. Herausgeschält wird auf diese Weise eine Integrationsbiographie, die den Migrationshintergrund gewissermaßen als ‚Abfallprodukt‘ mit abwirft. Beide Objekte lassen sich je nach situativ hervorgebrachtem Begegnungsraum als Kapital verwerten und je nach bisherigem Investitionsstand bedürfen sie hierzu möglicherweise noch weiterer Anstrengungen der Formung und (Un)Sichtbarmachung. Die Fabrikation von Integrationsbiographien orientiert sich an der Vorstellung einer individuellen Entwicklungsgeschichte und zugleich an einer erfahrungsbedingten „Konstanz des Charakters“ (Hahn 1987: 17). Der Migrationshintergrund bildet dabei die Konstante, eine Art Fixpunkt, der eine Entwicklung in Richtung eines Fluchtpunktes der Integration notwendig macht. Zugleich stellt er die Möglichkeiten zu einer solchen Entwicklung aber immer ein Stück weit still, indem er die Betreffenden – wie wir noch deutlicher sehen werden – auf ihre ‚Wurzeln‘ zurückwirft. Die Erarbeitung einer Integrationsbiographie speist sich also nicht nur aus der Umschreibung vergangener Erlebnisse, sondern regt ebenso Reflexionsprozesse an, die eigene aktuelle Situation auf den Prüfstand zu stellen und aus dieser Rückschau und Bestandsaufnahme heraus Wünsche und Erwartungen für die Zukunft zu formulieren. Die fabrizierten Integrationsbiographien, einschließlich ihrer Migrationshintergründe, reflektieren Lebensläufe somit „retrospektiv, prägen sie zugleich aber auch prospektiv“ (Etzemüller 2012: 48). In der sich transsituativ entfaltenden Szenerie der Selbstbildung werden Individualisierungs- und Kollektivierungstechniken fortlaufend miteinander verzahnt: Die angehenden Integrationslotsen werden im Rahmen der Ausbildungspraktiken einerseits als Individuen mit einzigartigen Geschichten adressiert, andererseits werden sie zu Exemplaren einer spezifischen Gattung von Subjekten gemacht, die über verallgemeinerbare Migrations- bzw. Integrationserfahrungen, damit verbundene Ge-
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fühle sowie entsprechende Assoziationen und Wahrnehmungsmuster verfügen.142 Im Ausbalancieren dieser konfligierenden Adressierungen lernen die migrantischen Lotsenanwärterinnen, ihre Explikationen des Selbst sowohl autobiographisch zu authentifizieren als auch anschlussfähig für einen Wissenskanon zu halten, welcher sich aus Ergebnissen vorheriger Lehrgänge und wissenschaftlicher Studien speist. Sie erwerben dabei ein praktisches Wissen, um Argumentationsdispositive (Boltanski) herstellen zu können, welche persönliche Migrationserfahrungen fortlaufend mit ,harten‘, objektiven und überprüfbaren Fakten verknüpfen. Auf diese Weise stellen sie ein transsituatives Selbst-Weltverhältnis (vgl. Alkemeyer 2013: 35) her, wonach ihre Erfahrungen zugleich individuelle und kollektive (migrantische) Erfahrungen sind. 3.2.4 Die zweite Stufe: Kompetenztraining „Um integrationsfähig zu sein oder zu werden, braucht es das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Ohne das eigene Spüren gelingt die Integration nicht, es bleibt bestenfalls die reine Anpassung.“ MÜLLER-WILLE (2002: 168)
Auf der zweiten Ausbildungsstufe steht neben der Vermittlung eines expliziten Regelwissens hinsichtlich des deutschen Rechtssystems die Ausbildung von Kompetenzen im Vordergrund. Unterscheiden lassen sich im Rahmen der Lotsenausbildung zwei Bündel von Kompetenzen, welche die Teilnehmer, wie im Laufe der empirischen Analysen immer deutlicher werden wird, auf ihre spätere Mittlerposition in einem komplexen Positionengefüge vorbereiten sollen: Interkulturelle Kompetenzen sollen die angehenden Integrationslotsen zu einem offenen und respektvollen Umgang mit ihren migrantischen Klienten befähigen. Entscheidungs- und Selbsteinschätzungskompetenzen sind erforderlich, um sich als Lotse ein eigenes Profil geben und sich im Verhältnis zu potentiellen Kooperationspartnern und hauptamtlichen Migrationsberaterinnen in einer angemessenen Weise positionieren zu können.
142 Vor dem Hintergrund des von Fritz Schütze beschriebenen (sozial-)pädagogischen Handlungsparadoxon, wonach professionelles Handeln mit dem Erfordernis einhergeht, „sich einerseits an wissensbegründenden Typisierungen und andererseits an der Eigenlogik des Falls orientieren zu müssen“ (Mecheril 2010: 24), ließe sich argumentieren, dass es pädagogische Anordnungen nahelegen, dass durch ihre Praktiken derartige konfligierende Adressierungen präfiguriert werden.
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Hans Ulrich Gumbrecht hat im Anschluss an den holländischen Geschichtstheoretiker Eelco Renia ausgeführt, dass Latenzen mit unerkannten und dennoch diffus wahrgenommenen „blinden Passagieren“ (Gumbrecht 2011: 10) zu vergleichen seien. Diese Metapher aufgreifend lässt sich formulieren, dass die im Folgenden beschriebenen Ausbildungspraktiken darauf ausgerichtet sind, mitreisende Potentiale, oder: Latenzen, ans Licht zu bringen, deren „Kristallisation“ (ebd.: 11) zu befördern und so in Kompetenzen zu verwandeln. „Blinde Passagiere“ werden in diesem Prozess gleichermaßen sichtbar wie sehend gemacht: Ein Können muss nicht nur von anderen ‚entdeckt‘ und gefördert werden, ein kompetentes Selbst hat vielmehr auch ein eigenes „Könnensbewusstsein“ (Gunia 2012: 6) auszubilden. Erst im Zuge dieses Kristallisationsprozesses kommt es zu einer Aufwertung von den in einer Art prä-kompetentem Stadium befindlichen migrantischen Ressourcen zu „legitimen Kompetenzen“ (Fürstenau & Gogolin 2001: 55, Herv. AQ). 3.2.4.1 Die Hervorbringung von Begegnungskompetenz und Selbstbegegnungskompetenz Die Vermittlung „interkultureller Kompetenz“ im Sinne der „Fähigkeit, interkulturell zu kommunizieren und zu handeln“ bildet keinen eigenen Unterrichtsblock im Ausbildungscurriculum, sondern eine Art Querschnittthema, das „in jeder Einheit präsent ist“ (vgl. Müller-Wille 2007: 9): „Im Verlauf des gesamten Lehrgangs werden die Teilnehmenden dazu angeregt, während der Übungen und Diskussionen in einen Aushandlungsprozess zu treten, der ihr Wissen über Kulturen und ihr Wissen über Unterschiede zwischen als auch innerhalb der Kulturen erweitern kann. Sie werden so angeregt die Stärken ihrer eigenen interkulturellen Kompetenz zu entdecken. Sie praktizieren im Grunde während des gesamten Lehrgangs ‚interkulturelles Lernen‘, was einigen Teilnehmenden zuweilen nicht bewusst ist.“ (Müller-Wille 2012: 12, Herv. AQ). Interkulturelle Kompetenz ist demnach keine Fähigkeit, die sich von selbst im praktischen Tun zeigt, sondern etwas, das erst dadurch zur Kompetenz wird, dass es die angehenden Lotsen bei sich entdecken und sich bewusst machen. Wohl werden Migranten im Zusammenhang mit ihren Erfahrungen gewisse Potentiale zugeschrieben, doch genauso wie ihre Erfahrungen erst noch in Wissen überführt werden müssen, bedürfen diese Potentiale einer Umformung und Anreicherung zu interkultureller Kompetenz. „Das Erfahrensein und die sich im Zuge dieser Erfahrungen ausbildenden Vermögen entlasten [...] – sobald und so lange es um professionelles Handeln geht – nicht von einer Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen und Vermögen, entbürden nicht von ihrer Differenz und Erweiterung.“ (Mecheril
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2010: 18). „Eine so weiterentwickelte interkulturelle Kompetenz“ erfordert insbesondere „ein hohes selbstreflexives Vermögen“ (Westphal 2007: 104).143 Nach Andreas Gelhard sind Kompetenzen ein „Ensemble von Test- und Trainingstechniken, die den Menschen als Könner/ Nichtkönner adressieren, dessen Fähigkeiten sich nicht unbegrenzt, aber doch immer ein wenig mehr steigern lassen“ (Gelhard 2011: 10). Interkulturelle Kompetenzen lassen sich als Begegnungskompetenzen im Sinne von Fähigkeiten im Umgang mit dem kulturell Fremden beschreiben.144 Das für die Ausbildung von Kompetenzen notwendige Expertenwissen wird bspw. in Unterrichtseinheiten zum Thema ‚Kommunikation‘ anhand von ‚Modellen kulturspezifischer Kommunikation‘ vermittelt: Ein Gastdozent führt aus, dass man „im Westen“ eher einen sach- und ergebnisorientierten Kommunikationsstil pflege. „Andere Kulturen sind da anders eingestellt“, für sie sei die nonverbale und Beziehungsebene wichtiger. Der Kontakt „zu unterschiedlichen Menschen“ sei „gerade bei Integrationslotsen zentral“. Entsprechend wichtig sei daher ein „Wissen um diese Unterschiede“ und „geeignete Techniken“, um damit umgehen zu können. Gegen Ende seines Beitrags adressiert er die angehenden Lotsen nachdrücklich: „Es macht das Leben leichter. Nicht nur im Umgang mit Menschen, die anders sind.“ Leise murmelnd schiebt er nach: „Auch im familiären Alltag.“
143 Das Konzept der „Interkulturellen Kompetenz“ wird in der Migrationspädagogik überaus kritisch diskutiert, so auch von den beiden hier zitierten Autoren. Mecheril (2010, ursprünglich 2003) plädiert in seinem gleichnamig überschriebenen Aufsatz für eine „Kompetenzlosigkeitskompetenz“, die als „eine Art habituelle Disposition“ ein Phänomen darstelle, „das in reflektierten, Zeit beanspruchenden Prozessen gebildet wird und sich bildet.“ Sie sei „nicht einforderbar, aber ausbildbar“ (Mecheril 2010: 33, Herv. i.O.). An Mecheril anschließend sieht Westphal (2007), stark verkürzt zusammengefasst, interkulturelle Kompetenz als „ein widersprüchliches Konzept“ an, das in vielschichtig weiterentwickelter und insbesondere um „Genderkompetenzen“ erweiterter Form gleichwohl eine „Schlüsselqualifikation“ darstelle. Am Beispiel der Lotsenausbildung wird deutlich, wie eine solche ursprüngliche Kritik am interkulturellen Kompetenzdiskurs und der darin implizierten Annahme einer Art ‚naturwüchsigen‘ interkulturellen Kompetenz von Migranten letztlich in den Kompetenzdiskurs selbst integriert wird und diesen neu ausrichtet und insofern bestärkt, als dass interkulturelle Kompetenz nun als Ergebnis gezielter Ausbildung und insbesondere geschulter Selbstreflexivität ausgewiesen wird. 144 Begegnungskompetenz bezieht sich hier auf ein „Begegnen als pädagogisches Handeln“ (Schneider 2011, Herv. AQ). Begegnungen sind in dieser Lesart auf eine Annäherung oder den Dialog zwischen Nationalitäten, Kulturen etc. ausgerichtet und setzen Fähigkeiten wie Offenheit, Mut, Empathie oder Reflexivität voraus (vgl. ebd.).
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Mit dem Referat des Gastdozenten vollzieht sich eine diskursive Teilungspraktik, die eine Grenze markiert zwischen „dem Westen und dem Rest“ (Hall 1994). Wenngleich der leise nachgeschobene Halbsatz Differenzen ebenso zwischen Individuen, Geschlechtern oder Altersgruppen aufzurufen vermag, spannt sich der Begegnungsraum hier in erster Linie über die Relation zwischen einem kollektiven Selbst namens „Westen“ und einem kulturell Fremden auf, dessen unbekanntes Kommunikationsverhalten Probleme des (Miss-)Verstehens aufwirft und diesen somit als Fremden ausweist (vgl. Kapitel 2.2.3). Die Teilnehmenden sollen im Rahmen solcher Lehreinheiten für Problematiken sensibilisiert werden, die sich aus „kulturellen Überschneidungssituationen“ (Grosch & Leenen 1998) ergeben. In den folgenden Szenen wird allerdings deutlich, wie derartige kulturalisierende Rahmungen von Situationen immer wieder auch umstritten werden. Im Anschluss an eine Einheit zum Thema interkulturelle Kommunikation diskutieren die Teilnehmer über die Frage „Duzen oder Siezen?“. Alvira errötet leicht und sagt lachend: „Mein Papa und andere aus der ersten und zweiten Generation sprechen auch bei Behörden so als wären sie beste Kumpel, duzen alle und so.“ Die Dozentin meint daraufhin: „Das ist klar, dass man den kulturellen Hintergrund, die Werte und Normen mit in die Kommunikation einbringt.“ Die darauffolgende Diskussion schließt an diesen Einwurf jedoch nicht an, sondern dreht sich um allgemeine Generationenunterschiede im Umgang mit Autoritäten, Vorgesetzten und Respektspersonen. Die Kursleiterin weist erneut darauf hin, dass das Duzen und Siezen abhängig von der Kultur sei. Für Deutsche sei es einfacher, jemanden zu duzen. Dafür brauche man „interkulturelle Kompetenz“, das sei für Ausländer schwieriger. Nochmals bekräftigt sie: „Unsere Kommunikation ist hundertprozentig abhängig von der Kultur. Das ist auch wissenschaftlich bewiesen. Das ist nicht abhängig von deinem oder meinem Willen. Es ist auch abhängig von der Erziehung.“ Alvira murmelt leise: „Kultur ist von Menschen gemacht.“ Niemand reagiert auf diesen zaghaften Einwurf. Die Dozentin führt weiter aus, dass es bspw. große Unterschiede zwischen Kulturen hinsichtlich der Herstellung von Blickkontakt gebe und fordert die Teilnehmerinnen nachdrücklich auf: „Ihr seid Lotsen! Wenn ihr so einen Klienten habt, der so nach unten guckt, müsst ihr nicht enttäuscht sein, sondern nachfragen.“145
145 Diese Beschreibung aufgreifend, werde auch ich mich in dieser Arbeit mit dem Begriff des Klienten auf Migranten beziehen, welche die Dienste der Lotsen in Anspruch nehmen. Im Feld werden diese oftmals auch als „Adressaten“ bezeichnet. Da dieser Begriff im Kontext meiner Arbeit eine Position im Rahmen wechselseitiger Adressierungsverhältnisse bezeichnet, verwende ich zwecks Klarheit durchgängig die Bezeichnung Klient.
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Entgegen dem doing difference der Dozentin entlang kultureller Linien versuchen einige Teilnehmerinnen in dieser Diskussion Alters- bzw. Generationsunterschiede in den Fokus zu rücken. Die Dozentin sieht sich vor diesem Hintergrund dazu herausgefordert, ihre These über Kulturunterschiede in der Kommunikation, die sie mit den Worten „das ist klar“ zunächst leichthin als ‚selbstevidente Tatsache‘ formuliert hatte, unter Rekurs auf einen wissenschaftlichen Nachweis neu aufzubereiten und so zu verifizieren. Eine persönliche Meinung wird damit in ein gemeinsames Wissen verwandelt, das öffentlich markiert, was „von nun an jeder weiß [...] (oder zu wissen hat)“, so dass „mögliche spätere Modifizierungen“ dieses Wissens begrenzt werden (vgl. Boltanski 2010: 114). Dies zeigt sich daran, dass Alvira mit ihrer These, wonach Kulturen von Menschen gemacht seien, in die Defensive gerät und ihre leise vorgebrachte Kritik verhallt, ohne dass die übrigen Teilnehmenden daran anschließen. Ebenso umstritten ist die Frage, inwieweit ein interkulturell kompetenter Umgang mit dem Fremden auch ein spezifisches Wissen vom Fremden voraussetzt, das auf wesenhaft fixierte kulturelle Einheiten bezogen ist (vgl. Broden & Mecheril 2007: 20, Terkessidis 2010: 77f.). Ein Beispiel: Teilnehmerin Sibille „möchte mehr Informationen über die arabische Kultur“. Mit „der russischen und der türkischen“ sei das nicht so schwer, aber „mit der arabischen Kultur ist es wohl schwieriger für uns.“ Der bei dieser Sitzung anwesende Projektkoordinator fragt mit ironischem Unterton nach: „Was erwartest Du denn? Ein Handbuch, in dem steht, wie man grüßt, was man isst und so weiter?“ Sibille schweigt und sieht etwas betreten drein. Der Koordinator schiebt nach: „Ich habe persönliche Probleme damit, jemanden zum Beispiel aus dem Libanon so darzustellen oder eine deutsche Frau so. Wir können in wenigen Stunden nicht erreichen, dass alle Teilnehmer interkulturell kompetent sind. Ist es richtig zu sagen, dass Erdal mir so ähnlich ist, nur weil wir beide aus der Türkei kommen? Meine Großmutter aß auf dem Boden. Ich esse hier am Tisch.“ – „Aber es gibt auch wissenschaftlich nachgewiesene kulturelle Unterschiede, zum Beispiel zwischen Russen und Deutschen“, entgegnet der Dozent, der sich selbst „russische Wurzeln“ zuschreibt.
In seiner Zurückweisung eines ‚Handbuchwissens‘ über einzelne Kulturen oszilliert der Projektkoordinator zwischen einem normativen und einem pragmatischen Argument: Einerseits weist er die geforderten „Informationen“ ausdrücklich zurück, indem er sie implizit als Stereotype dekonstruiert. Andererseits erkennt er ein solches Wissen, wie der Dozent im Anschluss, zugleich als einen Bestandteil interkultureller Kompetenz an, der sich in der kurzen Zeitspanne des Lehrgangs jedoch nicht vermitteln lasse. Programmatisch wird Interkulturelle Kompetenz einerseits als Ergebnis eines „nach außen gerichtete[n] Lernen[s] über unterschiedliche Blicke auf die Welt und
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die Muster, die Kulturen zeichnen“ (Müller-Wille 2012: 13f, Herv. AQ) begriffen. Erforderlich wird damit zugleich „das nach innen gerichtete Lernen über sich selbst und die eigene kulturelle Prägung [...] Es geht um die Entwicklung von Kommunikations- und Handlungskompetenzen, die Menschen befähigt, die Perspektiven zu verändern, kulturelle Muster zu erkennen, einzuordnen und sich dabei der eigenen Muster bewusst zu werden“ (ebd., Herv. AQ). Interkulturelle Kompetenzen setzen somit zuallererst die Kompetenz zur Selbstreflexion voraus: „Es ist wichtig erst mal sich selbst zu kennen. Welche Kultur habe ich? Welche Normen und Werte habe ich? Wer bin ich? Erst dann kann man in einem Konflikt agieren.“
Diese Worte gibt eine Kursleiterin den Teilnehmenden im Zusammenhang mit einer Hausaufgabe auf den Weg, bei der sie „über eine interkulturelle Konflikterfahrung nachdenken“ sollen. Interkulturelle Kompetenz ist, unter der Prämisse immer schon gegebener problematischer kultureller Überschneidungssituationen, stets auch Konfliktkompetenz, welche voraussetzt, dass die Kursteilnehmer zunächst in einem Prozess eingehender Introspektion erkennen, von welchen vorbewussten Handlungsmotiven oder kulturellen Mustern sie geleitet werden, um so zu einem reflektierten Umgang mit konflikthaften Situationen zu finden. Erst auf dieser Basis kann Empathie entwickelt werden, welche nicht nur im Umgang mit dem kulturell Fremden, sondern ebenso mit relevanten Bezugsgruppen als notwendig erachtet wird. So wird bspw. das Themenfeld ‚rechtliche Regelungen‘ von Vertretern der Ausländerbehörde referiert, damit die angehenden Lotsen ein „Verständnis für die sich daraus [aus dem Zuwanderungsgesetz] ergebenden Handlungsweisen sowie die Aufgaben der beteiligten Behörden/Ämter“ entwickeln (Müller-Wille 2007: 40). Antizipierte Spannungsverhältnisse, insbesondere zwischen migrantischen Lotsen und Behördenvertretern, sollen gewissermaßen präventiv entspannt werden, indem die Lotsenanwärterinnen durch das persönliche Kennenlernen von Amtspersonen lernen, sich in diese hineinzuversetzen und ihre Handlungsweisen nachzuvollziehen. Hier zeigt sich ein gewisses Misstrauen gegenüber dem migrantischen Alltagshelfer, welcher, um Lotse werden zu können, erst der Ausbildung eines entsprechenden Einfühlungsvermögens bedarf, das es ihm erlaubt, sich von den Migranten zugeschriebenen Vorbehalten gegenüber Behörden und ihren Repräsentanten zu distanzieren. Eine begegnungskompetente Lotsin weist sich jedoch nicht nur durch Fremdempathie aus, sondern ebenso durch Selbstempathie. So gehört bspw. zur Schulung kommunikativer Kompetenzen nicht nur, sich kulturspezifischer Kommunikationsstile bewusst zu werden, sondern ebenso, dass die Kursteilnehmer lernen, die „Bedeutung ihrer Bedürfnisse, die sie vornehmlich nonverbal ausdrücken“, zu reflektie-
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ren (Müller-Wille 2007: 43) und insbesondere „die mit der interkulturellen Begegnung verbundenen Gefühle bei sich selbst und dem Gegenüber wahrzunehmen und auszuhalten.“ (Ebd.: 15)146 Zu diesem Zweck findet eine Art Erfahrungs- bzw. Gefühlstraining statt, bei dem es weniger darum geht, angemessen über Gefühle sprechen zu können, sondern vor allem darum, diese leiblich zu spüren. 3.2.4.2 Erfahrungs- und Gefühlstraining „Wirkliches Wissen entsteht ja nur dadurch, dass ich das auch erfahre.“
Lehreinheiten, die auf ein Gefühls- und Erfahrungstraining im Rahmen der Interkulturellen Kompetenzbildung ausgerichtet sind, bedürfen eines anderen Formats als der sonst üblichen Referate und Vorträge, mittels derer die angehenden Lotsen mit wissenschaftlichen Integrations- oder Kommunikationsmodelle vertraut gemacht werden: Statt in wissenschaftlichem Expertenwissen unterrichtet zu werden, trainieren die Kursteilnehmer Kompetenzen im Rahmen von Übungen. Wie das einleitende Zitat einer Dozentin zum Ausdruck bringt, erlangt damit nun auch etwas, das (primär) erfahren wird, den Status eines Wissens. Mit Böhle und Porschen (2011) geht es im Rahmen von Übungen um die Förderung einer „leiblichen Erkenntnis“. „Der Blick verschiebt sich damit [...] zum Wissen durch den Körper. Die sinnliche Wahrnehmung der Welt erscheint in dieser Perspektive nicht mehr nur als ‚Rohstoff‘, der erst noch einer verstandesmäßiger Ordnung und Bearbeitung bedarf, sondern als Grundlage eines eigenständigen Erkennens und Begreifens von Wirklichkeit.“ (Böhle & Porschen 2011: 57, Herv. i.O.). Die leibliche Erfahrung der Kursteilnehmerinnen findet allerdings unter wissenschaftlicher Anleitung, Beobachtung und Nachbereitung statt. Die Expertise für das Durchführen solcher Trainingseinheiten liegt mitunter bei speziellen Gastdozentinnen, die sich selbst als „Trainerinnen“ bezeichnen und eigens für bestimmte Übungssessions „gebucht“ werden, wie sie sagen.147 Damit der übliche Unterricht in ein Training übergehen kann, werden die bestehenden, auf die Tafel ausgerichteten Sitzordnungen meist zu Beginn einer Übung in die Anordnung eines Stuhlkreises überführt. Diese räumlichen rearran-
146 Müller-Wille (2007: 15) zitiert hier: Handschuck, Sabine; Klawe, Willy (2004): Interkulturelle Verständigung in der Sozialen Arbeit. Weinheim; München: 49, 50. 147 Ein Großteil solcher Übungen wird allerdings von ‚gewöhnlichen‘ Dozenten durchgeführt, die jedoch nicht selten darauf hinweisen, selbst einen Trainerschein für interkulturelle Kompetenz zu besitzen und darin sogar Prüfungen abnehmen zu können.
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gements (Schatzki) bilden „das körperpraktisch-motorische Korrelat“ (Alkemeyer 2009: 131) zum Wechsel der Lehrinhalte. Mit der körperlich-leiblichen Neuausrichtung im Raum verbindet sich eine veränderte Wahrnehmungsperspektive, so dass die Lotsenanwärterinnen in mehrfachem Sinn neu eingestellt werden: Eine Unterrichtsanordnung von Stühlen und Tischen konstituiert eine Lehr- bzw. Lernsituation und stellt, mit Schatzki, nicht nur räumliche Beziehungen (spatial relations) zwischen den Anwesenden her, sondern weist diesen zugleich Subjektpositionen von Lehrenden und Lernenden zu und bringt auf diese Weise bestimmte intentional relations, also wechselseitige Ausrichtungen von Gedanken, Vorstellungen und Absichten der Anwesenden in Bezug auf die anderen hervor.148 Das rearrangement von der Unterrichtanordnung zur Trainingseinheit verändert folglich nicht nur die räumlichen Beziehungen, sondern präfiguriert auch eine Veränderung der intentionalen Relationen und zeigt den Teilnehmern an, dass es nun auf etwas anderes ankommt als in einer Unterrichtssituation. Diesem Zweck dienen auch so genannte „Warm-ups“, die Trainingsstunden gelegentlich einleiten und dabei nicht nur die Körper der Anwesenden in Bewegung versetzen und Blickachsen neu ausrichten, sondern auch gewohnte Sitzordnungen und etwaige Grüppchenbildungen auflösen. Wie sich das Gefühlstraining im Unterschied zu den bisher behandelten Ausbildungspraktiken vollzieht und welchen Unwägbarkeiten es dabei in der Praxis ausgesetzt ist, lässt sich anhand von zwei Übungen veranschaulichen. Den Auftakt bildet eine Ausgrenzungsübung: Als Thema des heutigen Tages wird „Entwicklung im Kindesalter“ an der Tafel festgehalten. Nach einem Inputreferat sollen die angehenden Elternlotsen „selbst aktiv werden“. Die Anordnung wechselt von Stuhlreihen in einen Stuhlkreis. Zwei Freiwillige werden vor die Tür geschickt. Die übrigen Teilnehmer werden von den Dozentinnen angewiesen, sich über das Thema „Kindererziehung“ zu unterhalten und die beiden Freiwilligen nach deren Wiedereintreten in den Seminarraum vollständig zu ignorieren. Die Teilnehmenden steigen in eine Diskussion über unterschiedliche Erziehungsstile in Deutschland, Polen und der Türkei ein. Die beiden Freiwilligen werden bei ihrem Eintritt in den Raum gemäß der expliziten Anweisung von den Übrigen konsequent ignoriert. Nach der Übung klären die Dozentinnen die Teilnehmenden als erstes darüber auf, dass es hier darum gegangen sei, dass sie lernen sollten, „wie es sich anfühlt, wenn man fremd ist, wenn man nicht richtig dazu gehört“. Anschließend werden die Teilnehmenden nach ihren Gefühlen während der Übung gefragt. Die meisten ge-
148 Wie wir in Kapitel 3.2.2 gesehen haben, sind Subjektpositionen allerdings auch im Rahmen einer Unterrichtsanordnung keineswegs endgültig fixiert. Vielmehr spielen sich auch dort Machtpositionen performativ ein, so dass bspw. eine Migrantin, die ihre interkulturelle Kompetenz kompetent aufzuführen vermag, einen Dozenten seines Expertenstatus berauben kann.
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ben an, dass sie es als unangenehm empfunden hätten, jemanden bewusst auszugrenzen. Marija meint hingegen: „Ich habe mich wohlgefühlt, vielleicht weil ich wusste, dass es eine Übung war.“ Selma fügt gereizt hinzu: „Ja und weil Du mutig bist. Aber jemand, der eher schüchtern ist, hat da vielleicht ein Problem.“ Marija daraufhin: „Ja. Es hängt sicher viel an der Person.“
Zunächst einmal wird deutlich, dass die angehenden Lotsinnen „Kindererziehung“ wie selbstverständlich als ein interkulturelles Thema rahmen. Sie haben inzwischen ein Gespür für die impliziten normativen Erwartungen der Ausbildungspraktiken entwickelt und aktualisieren nationalkulturelle Differenzen, ohne dass es hierzu einer expliziten Aufforderung durch die Lehrenden bedarf. Sie bringen auf diese Weise einen Begegnungsraum intersubjektiv hervor, in welchem das gesamte Interaktionsgeschehen als Durchführung einer interkulturellen Begegnung konnotiert wird. Wenngleich das Gefühl, über das man spricht und das Gefühlswissen, das notwendig ist, um diese Diskursivierung in angemessener Weise vollziehen zu können, im Nachgang der Übung erneut relevant wird, geht es, im Unterschied zu den Aufgaben der angeleiteten Selbstthematisierung der ersten Ausbildungsstufe hier in erster Linie darum, den Teilnehmenden eine „gefühlte Erkenntnis“ (Müller 2013) zu vermitteln, indem sie sozusagen lernen, angemessen zu fühlen. Nach Ronald de Sousa werden angemessene Gefühle „szenisch“ gelernt, d.h. mittels „Schlüsselszenarien“, in denen die Teilnehmenden mit „dem emotionalen Vokabular vertraut gemacht“ werden, welches ihnen die „charakteristischen oder ‚normalen‘ Reaktionen auf die Situation“ erlaubt (vgl. de Sousa 2009: 131f, Herv. i.O.).149 Aus dieser Perspektive erscheint die Übungsszene als didaktisch initiiertes Schlüsselszenario, in dem die angehenden Lotsen lernen, welches emotionale Vokabular zu einer Ausgrenzungssituation gehört. Dabei wird zunächst keine sekundäre Erfahrung fabriziert, sondern eine „primäre Erfahrung“ (Dewey 1980) gemacht.150 Erst mit der anschließenden Befragung durch die Dozentinnen wird die Erfahrung – wie bei den Selbstthematisierungsaufgaben der ersten Stufe – in eine diskursive Form, d.h. in eine sekundäre Erfahrung überführt. Im Nachgang der Übung bedarf somit die leibliche Erkenntnis ebenso „verstandesmäßiger Ordnung
149 Vgl. zu de Sousas Ansatz im Kontext professionellen Handelns auch Müller (2013). 150 Nach Dewey bildet die primäre Erfahrung, wie erwähnt, „ein Ganzes“ und sie „besitzt ihre besonderen, kennzeichnenden Eigenschaften und eine innere Eigenständigkeit“ (Dewey 1980: 47). Sie verfügt über eine spezifische geschlossene Qualität, die „nicht klar ‚gewusst‘, aber präsent“ (Gimmler 2008: 153) ist und in erster Linie sinnlich erfasst wird.
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und Bearbeitung“ (Böhle & Porschen 2011: 57) wie die gefühlte Erkenntnis eines Abgleichs mit übungsadäquatem Gefühlswissen. Die Übung ist darauf angelegt, die Ausgrenzungserfahrung mit negativen Gefühlen zu verbinden. An einer Teilnehmerin, Marija, zeigt sich jedoch, wie diese Selbstbildung scheitert. Sie hebt sich aus dem impliziten Erwartungshorizont der Praktik heraus, indem sie sich bei ihrer nachträglichen Qualifizierung der Übung auf deren Status als Übung bezieht und ihre Gefühle von diesem Status abhängig macht. Sie schreibt das entstehende Gefühl nicht ihrem Inneren zu, sondern rekurriert darauf als etwas, das erst durch die Praktik selbst hergestellt wird. Nicht die Dozentinnen weisen die ‚ausscherende‘ Teilnehmerin dabei darauf hin, was ein angemessenes Gefühl in einem Ausgrenzungsszenario gewesen wäre, sondern eine andere Teilnehmerin, Selma, erinnert Marija an die implizite normative Erwartungsstruktur der Übung. Selma versucht, die von ihr und den übrigen Teilnehmern hervorgebrachte negative Ausgrenzungserfahrung, die durch Marijas Äußerung plötzlich in Frage gestellt wurde, wiederherzustellen, indem sie ihrer Mitstreiterin eine auf persönlichen Eigenschaften beruhende Sonderposition zuweist, die keinerlei Repräsentativität beanspruchen kann und insofern auch nicht den „kollektiven Erfahrungshaushalt“ (Buschmann 2013: 146) der übrigen Kursteilnehmer, die sich selbst wiederum zu Repräsentanten von Migranten mit Ausgrenzungserfahrungen machen, tangiert. Die Kluft zwischen Praktiken, welche auf das Machen primärer Erfahrungen und ein Generieren angemessener Gefühle ausgerichtet sind, und ihrer kontingenten Praxis tritt hier ebenso deutlich hervor, wie der Möglichkeitsraum für eine spezifische Form der Kritik, der sich in dieser Kluft aufzutun vermag. Das zweite Beispiel erlaubt es, diesen Aspekt zu vertiefen, indem der szenische Charakter der Praxis noch deutlicher herausgestellt wird. Bei der „Stuhlübung“ werden an die Teilnehmer verdeckt Kärtchen mit unterschiedlichen Aufgabenstellungen verteilt. Einige fangen an, die Stühle kreisförmig zusammenzustellen. Andere bringen diese Ordnung durcheinander, indem sie die Stühle in einer Reihe aufstellen oder beginnen, sie wild übereinander zu stapeln. Mitunter brechen Kämpfe um einzelne Stühle aus, begleitet vom Kichern der Spielenden. Nach Beendigung der Übung inmitten des Stuhlchaos fragt die Kursleiterin nach der Wahrnehmung der Teilnehmer. Die Antworten kommen zunächst etwas schleppend. Schließlich sagt einer: „Kommunikation ist wichtig.“ Eine weitere meint, dass man dafür gar nicht unbedingt die jeweilige Sprache sprechen müsse, man sehe was passiert und könne einfach mitmachen. Die Dozentin scheint von den gegebenen Antworten nicht überzeugt zu sein. Schließlich klärt sie die Anwesenden nachdrücklich auf: „Regelungen! Man nimmt andere oft als weniger entwickelt oder dümmer wahr, aber es sind nur andere Regelungen!“ Nurana meldet sich zögerlich und meint mit leicht ver-
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legenem Lächeln: „Bei dem simplen Stuhl-Beispiel kann das ja noch funktionieren, aber bei komplizierteren Sachen wird das schwierig.“ Eine weitere nickt zustimmend.
In der umschriebenen Szene läuft zunächst alles ‚nach Plan‘: Die Teilnehmer hantieren ihren Aufträgen gemäß mit den Stühlen, kommen einander ins Gehege und lassen sich sichtlich in das Geschehen involvieren. Die Übungsszene lässt die Beteiligten etwas miterleben, zieht sie in das Geschehen hinein und engagiert sie im Goffmanschen Sinne. Zugleich wird deutlich, dass die Szene keine festgelegte Bedeutung außerhalb ihres praktischen Kontextes besitzt und nicht ‚über das spricht, was sie ist‘. Die Teilnehmenden rekurrieren in der anschließenden Reflexion auf die Übung nicht auf Vorurteile („andere sind weniger entwickelt oder dümmer“), die sich dank einer Bewusstmachung unterschiedlicher „Regelungen“ abbauen ließen, sondern geben an, sich in (nonverbaler) Verständigung geübt zu haben. Hieran wird deutlich, wie sich die Intentionalität der Praxis – möglicherweise präfiguriert durch ihre Einbettung in eine Szenerie vorheriger Aufgaben rund um das Thema ‚Kommunikation und Sprache‘ – erst im Verlauf ihrer intersubjektiven Hervorbringung entfaltet, statt einer teleoaffektiven Struktur der Praktik im Sinne einer vorgezeichneten Bahn zu folgen. Im Erfahrungs- und Gefühlstraining zeigt sich die Offenheit der Praxis somit in besonderer Weise – aus der Programmperspektive wird sie zum Kontingenzproblem. Dieses Problem lässt sich noch etwas näher beschreiben, wenn wir von der Trainingsperspektive für einen Moment zu einer Laborperspektive wechseln und das Geschehen in einen Ausbildungskontext eingebettet sehen, in „dem gesellschaftliche Praktiken für epistemische Zwecke instrumentalisiert und in Erzeugungsverfahren von Wissen transformiert werden“ (Knorr Cetina 1988: 87). Im Labor der Lotsenausbildung werden insofern (Erfahrungs-)Gegenstände erzeugt und zugleich in dem Sinne beforscht, als dass sie permanent ins Verhältnis zu sozialwissenschaftlichen Modellen und pädagogischen Konzepten gesetzt und Prozeduren der (Um-)Formung unterzogen werden. Die Erzeugung leiblicher Erkenntnis wirft als Untersuchungsobjekt für die Laborleitung (wie für die Praxeographin) spezifische Beobachtungsprobleme auf: Sie kann nur indirekt gehandhabt werden, indem sie durch Zeichen sichtbar und zugänglich gemacht wird (vgl. ebd.: 92). Daher bedarf es einer nachträglichen Versicherungs- oder Kontrollbefragung in Hinblick auf den ‚Sinn der Übung‘. Da auf leiblichem Wege nicht der erwünschte (Erfahrungs-)Gegenstand erzeugt wurde, muss die Laborleiterin im Nachgang der Übung zu Korrekturmaßnahmen greifen und die Teilnehmenden darüber aufklären, dass sie darauf zielte, die angehenden Lotsen mögliche Konflikte und Missverständnisse in Folge unterschiedlicher Regelungen erleben zu lassen. Im Übergang von der primären in eine sekundäre Erfahrung versucht sie, der Erfahrung eine neue
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Richtung zu geben und sie sozusagen nachträglich mit der programmatisch anvisierten Erkenntnis ‚aufzuladen‘. Beide Kompetenzübungen zeigen, dass die Lotsenanwärterinnen im ‚Ausbildungslabor‘ allerdings gerade nicht zu passiven Versuchsobjekten, deren Wahrnehmungen, Entscheidungen, Bedürfnisse und Fähigkeiten sich in Hinblick auf bestimmte Programmziele nach Belieben steuern und zurichten lassen, gemacht werden können. Sowohl Nuranas Einwand hinsichtlich der Übertragbarkeit des „simplen Stuhl-Beispiels“ auf „kompliziertere Sachen“ als auch Marijas Rekurrieren auf den Status der Übung als Übung in der Szene zuvor führen vielmehr den prinzipiell offenen und labortechnisch nicht kontrollierbaren Charakter der eingeübten Erfahrung vor. Diese bringt „im Sinne einer produktiven Erkundung erlebter Wirklichkeit“ (Buschmann 2013: 142, Herv. AQ) etwas Eigenes hervor, das sich nicht vorwegnehmen lässt und keiner teleologischen Ordnung gehorcht. Christoph Menke hat in Auseinandersetzung mit Foucaults Konzeption der Übung – als Medium der Disziplinierung auf der einen und als Selbsttechnik einer freien Lebensführung auf der anderen Seite – darauf hingewiesen, dass der Unterschied zwischen beiden keine Frage des Inhalts sei und jede einzelne Übung so disziplinierend wie befreiend sein könne (vgl. Menke 2003: 299). Vielmehr sei der Unterschied eine Frage der „Haltung, mit der man sie ausführt“, wobei sich die Haltung nicht an einer Entscheidung festmache, sondern an „der Art und Weise des Umgangs mit Tätigkeiten und Erfahrungen“ (ebd., Herv. AQ). Nimmt man die beschriebenen Übungen als offene Praxisverläufe in den Blick, die erst im Vollzug ihre Richtung und Wirkung entfaltet und von den Beteiligten im Sinne einer produktiven Erfahrung gemeinsam hervorgebracht werden, stellt sich die Frage, ob eine Disziplinierungsperspektive aus subjektivierungstheoretischer Sicht nicht möglicherweise mehr verdeckt als sie zu sehen gibt. Gleichwohl gerät mit Menke in den Blick, dass Übungen mit unterschiedlichen Haltungen ausgeführt werden können, welche der Übung nicht vorgängig sind, sondern im Vollzug entwickelt werden: Farina und Marija bringen in ihren Kommentaren und ihrem Anzweifeln der Übertragbarkeit des im Rahmen solcher Lehreinheiten hergestellten Wissens auf ‚echte‘ Lebenszusammenhänge eine kritische Haltung gegenüber einer Übung hervor, welche von anderen Teilnehmern zumindest auf den ersten Blick weitestgehend diszipliniert vollzogen zu werden scheint. Die Übung ist eingebettet in ein Kompetenztrainingsprogramm, das eine gouvernementale Führung der Selbstführung nahelegt, welche nicht normativ ein bestimmtes Verhalten fixiert, sondern die Lotsenanwärterinnen gerade zu Mitgestaltung, Reflexion und Kritik anregt. Farina und Marija wird es vor diesem Hintergrund möglich, sich mittels ihrer in der Ausbildung trainierten Kompetenzen zu diesen selbst wie auch zu dem Übungsformat ihrer Vermittlung in ein kritisches Verhältnis zu setzen. Kompetenz führt hier nicht, so ließe sich ein Ausdruck von Jürgen Gunia (2012: 10) reformulie-
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ren, zu einer Immunisierung gegen Kritikfähigkeit, vielmehr bedingen Kompetenz und Kritik einander, indem sich eine in Übungen trainierte Kritikkompetenz reflexiv zu wenden vermag in Kompetenzkritik.151 3.2.4.3 Einübung von Selbsteinschätzungs- und Entscheidungskompetenzen Neben der Ausbildung interkultureller Kompetenzen sollen den angehenden Integrationslotsen auf der zweiten Ausbildungsstufe „Wahlmöglichkeiten“ (Müller-Wille 2007: 6) vermittelt werden. Diesem Ziel dient ein ganzes Bündel von Übungen, welche auf die Entwicklung von Entscheidungs- und Selbsteinschätzungskompetenzen ausgerichtet sind: Bei einer Aufgabe mit dem Titel „Zeittorte“ haben die Teilnehmenden ein kreisförmiges Formular in Abschnitte zu unterteilen, was ihnen dabei helfen soll, individuell benötigte Zeiten für Familie, Beruf, Ehrenamt, Bildung etc. einzuschätzen und damit zugleich die Voraussetzung für ein adäquates Zeitmanagement in Bezug auf ihre künftige Lotsentätigkeit zu schaffen. Um nicht nur ein bewussteres Verhältnis zur Zeit, sondern auch zum Raum herzustellen, sollen sich die angehenden Lotsen in einer weiteren Übung durch den Raum bewegen und dabei ihre „persönlichen Raumansprüche reflektieren“, indem sie „Stopp“ sagen, wenn ihnen ein ebenfalls umherwandernder Mitstreiter zu nahe kommt. In der Übung „Blinde führen“ wird den Lotsenanwärtern nicht nur leiblich vermittelt, anderen zu vertrauen, indem sie sich mit verbundenen Augen der nur über leichte Berührungen oder leises Flüstern erfolgenden Führung eines Partners überlassen, sondern ebenso das Maß und die Art von Hilfe, die sie ihren späteren Klienten zukommen lassen sollen: Ziel sei es, wie eine Dozentin meint, „die Menschen selbstständig zu machen, sie nicht immer zu schleppen“ und ihnen beizubringen, sich
151 Gunia sieht „Kompetent-Werden“ als ein „Projekt, sich gegenüber Unwägbarkeiten zu wappnen, sie zu neutralisieren, und das möglichst zeitnah“ (Gunia 2012: 4). Ein solches Können führe letztlich zu einer „Immunisierung gegen Kontingenz“ respektive zur Erzeugung von „Resonanzkompetenz“ (ebd.: 10), welche derartig offen für Irritationen und fähig macht, diese zu handhaben, dass Irritationen gar nicht mehr als solche in Erscheinung treten können und Kritik quasi im Keim erstickt werde. Das Problem einer solchen Perspektive besteht zum einen darin, dass sie Kompetenz – ähnlich so auch bei Gelhard – einseitig darauf ausgerichtet sieht, ein „technizistisch-instrumentelles Selbstund Weltverhältnis“ (ebd.: 1) zu befördern. Zum anderen setzt sie eine Dichotomie zwischen einem mit Neugier, Erkenntnis und Interesse assoziierten, als höherrangig eingestuften Wissen und einem bloßen, stumpf-rigiden Können voraus, das sich durch „die gezielte Etablierung von Wiederholungsroutinen und Kontrollmechanismen“ (ebd.: 3) auszeichnet.
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„selbst zu helfen“. Die Ausbildung von Entscheidungs- und Führungskompetenzen wird dabei miteinander verwoben und an das leibliche Erleben des Geführtwerdens geknüpft: „Als Lotsin wird man immer wieder helfen und unterstützen. Und umgekehrt nimmt man auch selbst sein Leben lang Hilfe und Unterstützung an. Wichtig ist dabei, Distanz zu wahren. Entscheiden, was man gibt. Es ist leichter sich hineinzuversetzen, wenn man solche Erfahrungen, selbst geführt worden zu sein, selbst gemacht hat.“
Weniger eine ausgeprägte Bewegung im Raum, wie bei der Führungsübung, als die Neuausrichtung des Blicks ist zentral bei einer Übung mit dem Titel „Mein Platz in der Mitte“: Nacheinander werden die Teilnehmer aufgefordert, sich auf einen leeren Stuhl in der Mitte eines Stuhlkreises der Übrigen zu setzen und „einfach nichts zu tun“ oder „das Ganze einfach zu genießen“. Die Übrigen haben den Auftrag, auf einem Kärtchen „Stärken“ und „Fähigkeiten“ des mittig Platzierten sowie das, was man ihm oder ihr für die Zukunft wünscht, festzuhalten. Dabei wird versichert, dass die Kärtchen allesamt anonym in Briefumschläge gesteckt werden, welche die jeweiligen Teilnehmer später ausgehändigt bekommen. Die meisten scheinen sich in der Mitte sichtlich unwohl zu fühlen. Sie rutschen nervös auf dem Stuhl herum, erröten unter den aufmerksamen, mitunter prüfenden Blicken der anderen, versuchen einen Blick in die Karten zu erhaschen oder fragen unsicher nach: „Was schreibt Ihr denn alle?“ Gelegentlich gerät das kollektive Schreiben ins Stocken. Auch dies trägt nicht zur Beruhigung bei. „Tja, fällt Euch wohl nicht so viel ein zu mir, was?“, meint eine Teilnehmerin mit nervösem Lachen. Ein anderer lächelt in dieser Situation erwartungsvoll in die Runde und fordert die Teilnehmer gestisch auf, weiter zu schreiben.
Die angehenden Lotsen werden bei dieser Übung an einen Modus der Selbst- und Fremdwahrnehmung herangeführt, der mit seiner expliziten Orientierung an Stärken implizit gleichsam ein Schwächenprofil zeichnet oder, womöglich schlimmer noch, gar etwaige Profillosigkeiten des Einzelnen zu Tage fördert. Die Exponiertheit auf dem „Platz in der Mitte“ befördert so nicht nur die Sichtbarkeit des Ausgestellten sondern kann, scheinbar paradox, auch seine Unsichtbarkeit zu sehen geben. Wie einführend erwähnt, hat Andreas Gelhard (2011: 10) Kompetenzen als ein „Ensemble von Test- und Trainingstechniken“ beschrieben, welche „den Menschen als Könner/ Nichtkönner adressieren, dessen Fähigkeiten sich nicht unbegrenzt, aber doch immer ein wenig mehr steigern lassen“. Nun können die hier beschriebenen Kompetenzübungen in der Tat als Techniken angesehen werden, deren Ergebnisse nicht nur als Anlässe für weitere Trainingsangebote zu verwerten sind, bspw.
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in den so genannten Nachhaltigkeitsmodulen, sondern ebenso für stille Selbstprüfungen. Indem die künftigen Lotsen darin trainiert werden, Zeit- und Raumansprüche wahrzunehmen, anderen zu vertrauen, Führungskompetenzen (in Form einer Hilfe zur Selbsthilfe) zu entwickeln sowie die eigenen und die Fähigkeiten anderer einzuschätzen, üben sie Selbst- und Anderenverhältnisse ein, welche spezifische Selbstformungen wie auch Umgangsweisen mit dem Anderen bzw. Fremden präfigurieren. Doch gleichzeitig gehört es zum Ausbildungsprogramm, dass die Lotsenanwärterinnen selbst ihre Selbstoptimierung von vornherein limitieren und sich in bestimmten Bereichen eben nicht „immer ein wenig mehr steigern“ (Gelhard). Der angehende Integrationslotse wird vielmehr als ein Subjekt angerufen, das sich, wie es in den Kursen oftmals heißt: „seiner Grenzen bewusst“ ist und auf dieser Basis notwendige Wahlmöglichkeiten für sich entdeckt und Entscheidungskompetenz entwickelt. Der Fokus der Selbstbildung liegt, mit anderen Worten, eher auf Selbststeuerung als auf unbedingter Selbststeigerung. Die entsprechenden Übungen ermöglichen jedoch nicht nur, sich selbst Grenzen zu setzen, sondern ebenso, diese auch von Dozenten und insbesondere Projektkoordinatoren gesetzt zu bekommen. Sie machen Grenzen sichtbar, die durch individuelle Dispositionen gesetzt sind und sich der Erkennbarkeit und damit dem Zugriff von Projektleiterinnen zunächst einmal entziehen (vgl. Alkemeyer 2013: 60, Fn. 119). Über verschiedene Übungen hinweg lassen sich auf diese Weise ebenso Grenzen beobachtbar machen wie es möglich wird, Fähigkeiten, Talente oder Motiviertheiten „zu entdecken, zu definieren, zu fördern und zu kultivieren“ (ebd.) und damit erst als solche hervorzubringen. Emergierende Potentiale oder eben zu Tage geförderten Grenzen lassen sich dann nicht nur im Rahmen der Ausbildung, sondern auch bei der späteren Einsatzplanung berücksichtigen. Wie sich in weiteren empirischen Analysen immer deutlicher herausschälen wird, gehören dieser Sinn für gezogene Grenzen sowie die Kompetenz, diese selbst zu ziehen, zu den zentralen konstitutiven Merkmalen des Integrationslotsen als Mittlersubjekt – sowohl in Relation zu seinen Klienten als auch im Verhältnis zu hauptamtlichen Migrationsberatern. 3.2.5 Die dritte Stufe: Formulierung von Standards und Profilen Thematisch steht auf der dritten Stufe der Lotsenausbildung der Komplex ‚Kultur und Ehrenamt‘ im Fokus. Die Ausbildungspraktiken bündeln nun gewissermaßen alles bisher Gelehrte und Gelernte und richten es auf zwei Zielsetzungen aus: Zum einen sollen die individuellen Erfahrungen im Integrationsprozess, die inzwischen als sekundäres Erfahrungswissen ‚bereitstehen‘, zur Ausarbeitung von Integrationsstandards genutzt werden. Zum anderen werden unter Einsatz von Entscheidungs-
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und Selbsteinschätzungskompetenzen künftige Einsatzmöglichkeiten der Kursteilnehmer anhand von persönlichen Lotsenprofilen ausgelotet. 3.2.5.1 Erfahrungsgesättigte Integrationsstandards Die im Rahmen des Lehrgangs zu entwickelnden Integrationsstandards können als eine Form von Wissen verstanden werden, das zwei zentralen Ansprüchen genügen soll: Integrationsstandards fungieren als ein transsituatives Speichermedium für kanonisiertes propositionales Wissen, welches jederzeit und überall diskursiv verfügbar ist und eine Vereinheitlichung von Verfahrensweisen erlaubt. Standards „informieren, was ursprünglich so viel bedeutet wie ‚in eine Form bringen‘“ und setzen daher „Repräsentationsformen und eine Kodierung voraus, die geteiltes Wissen (common knowledge) ermöglicht“ (Thévenot 2011a: 260, Herv. i.O.). Gleichzeitig beanspruchen Integrationsstandards im Rahmen der Lotsenausbildung, nichttheoretisches, sondern empirisch gesättigtes und partizipativ entwickeltes Wissen bereitzustellen: Die Dozentin leitet den Unterricht mit dem enthusiastisch vorgetragenen Satz ein: „Wir wollen heute das Theoretische überwinden!“ Anschließend fragt sie die Teilnehmenden: „Was wäre für Sie das Leitziel eines Integrationsprogramms?“ Es breitet sich Schweigen aus. Einige Teilnehmer blicken fragend drein. Die Kursleiterin präzisiert: „Was wollen Sie in zehn Jahren erreicht haben?“ Nachdem sich erneut niemand zu Wort meldet, stellt sie schließlich ausführlich eine Folie mit „Handlungsfeldern der Integrationsarbeit“ vor. Darauf finden sich u.a. Schlagworte wie Sprachförderung, Ausbildung und Arbeitsmarkt, politische und gesellschaftliche Partizipation, Wohnen, Stadtteilorientierung, außerschulische Kinder-, Jugendund Familienarbeit, Gesundheit und Alter, interkulturelles Zusammenleben und interkulturelle Konflikte, Kultur, Religion/Förderung des interreligiösen Dialogs, interkulturelle Öffnung der Verwaltung und der Regeldienste, Öffentlichkeitsarbeit, Gleichstellungspolitik und Antidiskriminierung. „Inwieweit fühlen Sie sich in Ihrer eigenen Arbeit von diesen Handlungsfeldern betroffen? Wo gibt es Probleme?“, unternimmt die Dozentin einen weiteren Versuch, die Lotsenanwärterinnen zu aktivieren. Auch nun meldet sich niemand zu Wort. Die Blicke richten sich auf den Boden oder ‚wandern‘ aus dem Fenster. Manche Teilnehmerinnen runzeln die Stirn. Schließlich führt die Dozentin einige Aspekte der Folie weiter aus, bis sie ihren Vortrag mit den Worten beendet: „Kein Bereich unseres Lebens im Alltag ist ohne Bezug zur Integrationsarbeit. Ob Integration gelingt oder nicht gelingt, ob wir also Desintegration haben, hat mit all diesen Feldern zu tun.“
In dieser Szene ergeht die Aufforderung an die Lotsenanwärter, persönliche Ziele zu formulieren, die ein fiktives allgemeines Integrationsprogramm anleiten könnten. Die Aufgabenstellung wird durch eine Programmatik präfiguriert, die sowohl
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auf „Wissenserhärtung“ als auch auf die Herstellung „neuer“ Erkenntnisprodukte (vgl. Knorr 1981: 237) ausgerichtet ist. Deutlicher als in den bisher beleuchteten Ausbildungspraktiken werden die Teilnehmenden nicht mehr nur als Migranten mit eigenen Erfahrungen des Integriertwerdens adressiert, sondern als Mittler, die – auf der Basis ihrer verallgemeinerbaren Migrations- bzw. Integrationserfahrung – selbst etwas zur Integration von (anderen) Migranten beitragen und nun ihr sekundäres Erfahrungswissen einbringen sollen. Die Dozentin kommt in der Szene ihrem programmatisch abgesteckten Auftrag nach, dem zufolge sie die Teilnehmenden im Wege einer Art Selbstermächtigung in die Lage versetzen soll, zu „entdecken, dass sie nicht nur EmpfängerInnen von Botschaften zur Integration sind, sondern auch Botschaften senden können“ (MüllerWille 2007: 35) und damit ihre „Wahrnehmung zu schärfen, als Subjekt im Integrationsprozess aufzutreten und nicht nur als Objekt.“ (ebd.: 71, Herv. AQ). Nachdem die Botschaften der Lotsenanwärterinnen nach wiederholten Animationsversuchen jedoch ausbleiben, liefert die Dozentin mit ihrer Folie schließlich eine Art Orientierungsmatrix, anhand derer die Teilnehmenden, ähnlich wie bei der Aufgabe zu den Integrationsassoziationen auf der ersten Ausbildungsstufe (vgl. Kapitel 3.2.3.1), ihre Erfahrungen in der Integrationsarbeit von wissenschaftlichem Wissen angeleitet diskursivieren sollen. Die ausbleibende Resonanz der Anwesenden ließe sich dem Ausbildungsprogramm gemäß so interpretieren, dass sich die Lotsenanwärter hier in einen Objektstatus einfinden oder sich gar – dies schwingt in dem obigen Zitat bezogen auf migrantische Kursteilnehmer implizit mit – noch weiter als bisher schon in einem solchen ‚einrichten‘. Schaut man genauer hin, muss die mangelnde Aktivierung durch die Kursleiterin die Teilnehmer jedoch keineswegs zu passiven, willens- oder antriebsschwachen, unentschlossenen oder trägen Objekten machen. Indem sich die angehenden Lotsen sperren, werden sie zu „Reibungspunkten“ (Rammert & Schulz-Schaeffer 2002: 41) der Praxis und beeinflussen deren Verlauf.152 Mit ihrem Aussitzen der Situation konstituieren sie sich in dieser Perspektive gerade als Subjekte, indem sie sich aktiv ins Verhältnis zum erwarteten Ablauf und den Ansprüchen der Ausbildungspraktik setzen: Sie zeigen sich nicht adressiert und lassen ihre Anrufung ins Leere laufen. Eine mögliche Erklärung für dieses antwortende Nichtantworten könnte darin bestehen, dass die zwischen Personalisierung und Generalisierung changierende Fragepraxis eine Irritation und Unsicherheit darüber auslöst, welches Wissen bzw. wer in dieser Situation eigentlich gefragt ist – ein Alltagshelfer mit seinem in der
152 Rammert & Schulz-Schaeffer (2002: 41) beziehen sich mit dem Begriff der Reibungspunkte (points of friction) auf Steve Fuller.
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Praxis erworbenen knowing how oder ein Integrationsprogrammverantwortlicher mit einem längst kanonisierten und wissenschaftlich durchdrungenen Wissen. Empirisch lässt sich also kaum eindeutig festmachen, ob die Anrufung daran scheitert, dass die Lotsenanwärter nicht wissen, wie sie sie angemessen beantworten sollen oder ob sie sich der Umwendung bewusst verweigern. Neben den auf dieser Stufe explizit auf Standardisierung ausgerichteten Selbstthematisierungsaufgaben dient ein spezieller Fragebogen mit der Überschrift „Persönlicher Standard: Ehrenamtliche Tätigkeit im Integrationsprozess“ (vgl. MüllerWille 2007: 83) als weiteres Medium zur Entwicklung von Integrationsstandards. Auf diesem Bogen sollen die Lotsenanwärter tabellarische Angaben zu ihrem bisherigen Engagement in der ehrenamtlichen Integrationsarbeit machen: Wann haben sie sich, auf ihren eigenen „Einwanderungsprozess“ sowie den „Lebenslauf“ der von ihnen unterstützten Migranten bezogen, engagiert? Um welche Tätigkeiten und Aufgaben ging es dabei? Wer war daran außer ihnen beteiligt? Wie haben sie sich engagiert? Und schließlich: Wo fand das Ganze statt und warum? Im Vergleich zur Orientierungsmatrix der Folie im obigen Beispiel geben solche Fragebögen eine Konkretisierung und Präzision erfordernde Form vor und schicken die persönlichen Erfahrungen nochmals durch eine Art Filter, der sie in Hinblick auf bestimmte Kernfragen bündelt und verknappt. Die auf dieser Ausbildungsstufe hergestellten Integrationsstandards bieten gegenüber dem impliziten, als Wissen dethematisierten Wissen der Alltagshelfer und dem Rohstoff ihrer Primärerfahrungen ein explizites, sekundäres Erfahrungswissen, das sich am „,Ideal‘ der Planung“ (Böhle 2004: 13, Herv. AQ) ausrichten lässt und damit den Programmverantwortlichen wie auch den Lotsen selbst Kontrolle, Vergleich, Antizipierbarkeit und (Verhaltens-)Sicherheit verspricht. Das Standardisierungsverfahren bildet die letzte Stufe eines Prozesses, der programmatisch darauf gerichtet ist, die ‚blackbox‘ der Alltagshilfe zu erhellen, deren partikularen Charakter zu überwinden und hieraus universelle Anleitungen für Praktiken des Lotsens zu gewinnen. Im Prozess der Erzeugung eines Wissens, das programmatisch als solches anerkannt wird, werden Integrationslotsen als Subjekte konstituiert, die über die Kompetenz zur Selbstreflexion verfügen und damit zugleich legitime interkulturellen Kompetenz hervorbringen. Sie lassen sich weniger von einem vor-reflexiven, praktischen Sinn leiten als dass sie sich an für gut befundenen Vorgehensweisen (best practices) und allgemein anerkannten benchmarks orientieren. Die Etablierung von Integrationsstandards soll es damit ermöglichen, die unmittelbare Anleitung von Tätigkeiten während des Lehrgangs in eine durch
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Standards präfigurierte Führung der Selbstführung von Integrationslotsen übergehen zu lassen.153 Doch vollzieht sich die Selbstbildung auch in der Lotsenpraxis in dieser, hier bewusst aus einer Vogelperspektive beschriebenen Weise? Dieser Frage wird in Kapitel 3.4 nachgegangen. 3.2.5.2 Kompetente Profilbildung Neben Integrationsstandards wird auf der dritten Ausbildungsstufe mit Hilfe eines weiteren tabellarischen Fragebogens ein individuelles „Anforderungsprofil an den Einsatz als Integrationslotsin/Integrationslotse“ (vgl. Müller-Wille 2007: 94) ermittelt. Die angehenden Lotsen haben unter Einsatz ihrer auf der zweiten Stufe trainierten Entscheidungs-, Selbsteinschätzungs- und Grenzziehungskompetenzen in diesem Bogen u.a. Angaben zu beruflichen und ehrenamtlichen Erfahrungen, speziellen Kompetenzen und Stärken, möglichem Zeitaufwand sowie denkbaren Tätigkeitsbereichen und Formaten der Unterstützung und damit verbundenen Integrationszielen zu machen. Betrachtet man die Erstellung eines solchen Lotsenprofils aus einer medienorientierten Perspektive, ergibt sich zunächst folgender Eindruck: Mit Hilfe des Fragebogens wird ein persönliches Lotsenprofil zugleich hervorgebracht und in Form gebracht. Es erfährt dabei eine Engführung über seine tabellarische Konturierung und eine Verfestigung, indem es Erfahrungen und die damit verbundenen, nun legitimierten, Kompetenzen nicht nur in Aussicht stellt, sondern offiziell und dauerhaft dokumentiert, sozusagen fest-schreibt. In dieser veröffentlichungstauglichen Engführung und Verfestigung kann das Formular, oftmals zusammen mit während des Lehrgangs aufgenommenen Photos, Eingang in Flyer und Faltblätter finden. Die mediale Veröffentlichung des Profils lässt es nur noch schwer hintergehbar erscheinen und trägt dazu bei, Verbindungen zwischen den zertifizierten Lotsen, Projektkoordinationsstellen, hauptamtlichen Integrationsakteuren und potentiellen Klienten herzustellen und über die Zeit zu stabilisieren. Zusammengefasst entsteht aus dieser Perspektive der Eindruck eines zunehmend festgezurrten Lotsenprofils. Nimmt man in den Blick, wie der Fragebogen in der Ausbildungspraxis ausgefüllt wird, entsteht hingegen ein anderes Bild: Die Teilnehmer füllen den Bogen still für sich aus. Fragende Blicke und ratloses Getuschel aufnehmend, gibt der Kursleiter gelegentlich beispielhafte Hinweise: „Kompetenzen könnten
153 Flankiert wird diese Selbstführung allerdings durch die ‚Kontrollinstanz‘ der Nachhaltigkeitsmodule, deren Besuch für die zertifizierten Lotsinnen jedoch nicht verpflichtend ist.
214 | M ITTLERSUBJEKTE DER M IGRATION auch Sprachkenntnisse oder besondere PC-Kenntnisse sein.“ Oder: „Tätigkeitsbereiche wären zum Beispiel sprachliche Unterstützung oder Begleitung zu Behörden.“ Als Unterstützungsformate nennt er exemplarisch „Einzelbegleitung oder Workshops“. Anschließend sollen die Teilnehmer in Vierergruppen Ideen für „weitere Aktivitäten“ entwickeln. Engagierte Diskussionen gemeinschaftlicher Projekte, wie die Initiierung von „Gesprächskreisen“ oder „Willkommensbroschüren“, werden gelegentlich durch die Bedenken einzelner Teilnehmerinnen ‚ausgebremst‘: „Aber das wird schon gemacht, oder? Da können wir wohl wenig helfen.“ Wiederholt werden migrantische Lotsenanwärterinnen von den übrigen Teilnehmern wie auch von den Dozenten in besonderer Weise zu Rate gezogen: „Was hat dir denn hier gefehlt? Wo hast du dich vernachlässigt gefühlt? Vielleicht bei der Orientierung? Hattest du genügend Kontakte?“ Oder: „Was bräuchtest du denn noch, um dich hier wohler zu fühlen? Welche Angebote würdest du denn in Anspruch nehmen?“
Drei zentrale Aspekte der Lotsenprofilbildung treten hier hervor, denen in den weiteren Analysen genauer nachzugehen ist: Erstens vollziehen sich diese ersten Schritte der Profilbildung tastend. Die Kursteilnehmer scheinen nur eine ungefähre Vorstellung von ihrem künftigen Tätigkeitsfeld zu haben. Hiermit hängt zweitens zusammen, dass sich ihre Profilbildung an einer vermuteten lokalen Nachfrage orientiert, die durch die Befragung von Kursteilnehmern, die als Migrationserfahrene adressiert werden, ermittelt wird. Drittens richtet sich die Ausarbeitung des Profils an einem ebenso vermuteten, bereits bestehenden Angebot aus, das die angehenden Lotsen lediglich ergänzen, nicht aber ersetzen wollen. Das eben noch medial verfestigt erscheinende Profil verliert in dieser Betrachtung an Form und erscheint nun überaus vage.154 Den programmatischen Hintergrund hierfür bildet die „Richtlinie Integrationslotsen“ (2007), nach deren Maßgabe die Lotsen „je nach Bedarf vor Ort und nach den individuellen Einsatzmöglichkeiten und -wünschen auf allen Ebenen einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Integration von Zugewanderten“ leisten sollen.155 Angelegt ist damit eine Art strategische Leerstelle, die ebenso vielfältige
154 Blickt man aus dieser Perspektive noch einmal auf Flyer und Broschüren, die Profile zunächst abzustecken und festzuschreiben scheinen, fällt auf, dass das Profil auch in seiner medialen Veröffentlichung offen gehalten wird. So lässt sich in einer Art Werbebroschüre von Integrationslotsen nachlesen, dass die dort dargestellten Profile einzelner Lotsinnen lediglich „einen kleinen Eindruck des ehrenamtlichen Potentials vermitteln und zu weiteren Projektideen (Angebotsmöglichkeiten) der LotsInnen anregen“ sollen. 155 Ähnlich heißt es in der Neuauflage der Richtlinie (2012): „Integrationslotsinnen und Integrationslotsen mit und ohne Migrationshintergrund bringen ihre spezifischen Kompetenzen und Interessen ein und berücksichtigen in der Ausübung ihres ehrenamtlichen Engagements den Bedarf vor Ort.“
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‚bedarfs- und kompetenzgerechte‘ Einsetzungen von Integrationslotsen ermöglicht, wie sie diesen vielfältige Profilierungen erlaubt. Gefragt ist ein Lotsensubjekt, das sich sowohl kreativ als auch anpassungsfähig zeigt, sich seiner Möglichkeiten bewusst und – wenn auch nicht unbegrenzt – offen für Neues und somit vielseitig und flexibel einsetzbar ist. Ein Lotse sollte sich weder von vornherein auf ein bestimmtes Tätigkeitsfeld noch auf eine spezifische Klientengruppe ‚einschießen‘. Ausbildungspraktiken, welche im Zusammenhang mit der Entwicklung von Integrationsstandards den Lotsenanwärterinnen schier unbegrenzte „mögliche Handlungsfelder der Integrationsarbeit“ vor Augen geführt haben (vgl. Kapitel 3.2.5.1), liefern gerade den Input für die kreative Entwicklung eines Lotsenprofils, das sich gegenüber dem eines Alltagshelfers bspw. nicht mehr auf eine Begleitung zu Behörden beschränken muss, sondern ein breites Spektrum an Aktivitäten in allen möglichen gesellschaftlichen Feldern umfassen kann. Indem individuelle Migrationserfahrungen und damit verbundene Gefühle im Laufe des Lehrgangs in gemeinsam geteilte, repräsentative, überführt werden, wird darüber hinaus eine Ausdehnung des Klientenkreises gegenüber demjenigen der Alltagshelfer präfiguriert. Im Unterschied zu dem des migrantischen Alltagshelfers zeichnet sich das ideale Profil eines Lotsen neben seiner medialen veröffentlichungstauglichen Engführung und Verfestigung somit durch eine soziale und sachliche Expansion aus, die einen flexiblen, dem „Bedarf vor Ort“ angepassten Einsatz erlaubt. 3.2.6 Einzelne Trainingseinheiten im Fokus Im Folgenden werden vier Trainingseinheiten noch einmal besonders ausgeleuchtet. Mir geht es dabei sowohl darum herauszuarbeiten, wie sich in allen Episoden bestimmte Muster und Techniken der Wissensgenerierung des bisher gemäß einer Stufenfolge und schwerpunktmäßig aus einer eher von oben blickenden, auf Praktiken fokussierten Perspektive präsentierten Ausbildungsprogramms wiederfinden, als auch darum, die jeweils spezifischen medialen Einsätze, kontingenten Praxisverläufe und performativen Hervorbringungen von Begegnungsräumen in ihren jeweiligen Modi nachzuvollziehen. 3.2.6.1 Selbstschematisierung: Das „Identitätsmolekül“ „Man muss diese feste Identität aufgeben. Wenn man das nicht tut, wird man von der Gesellschaft zurückgewiesen.“
Am Beispiel der folgenden Szene lässt sich veranschaulichen, wie die Kursteilnehmer im Rahmen der Ausbildung zu eingehender Selbstreflexion angeregt werden,
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welche als zentrale Voraussetzung für einen begegnungskompetenten Umgang mit dem Fremden angesehen wird (vgl. Kapitel 3.2.4.1): Ein Mittlersubjekt der Migration hat, wie eine Dozentin die Lotsenanwärterinnen gleich zu Beginn eines Lehrgangs aufruft, seine „feste Identität“ aufzugeben und – für sich und andere – zuallererst die Frage zu beantworten: Wer bin ich? In einer Unterrichtseinheit zum Thema „Stereotypen und Vorurteile“ erhalten die angehenden Lotsen eine Art Schema mit der Überschrift „Identitätsmolekül“. Im Zentrum des vollkommen symmetrisch aufgebauten sonnenförmigen „Moleküls“ wird der jeweilige Name eingetragen. In die äußeren Kreise sollen die Teilnehmerinnen Menschen, Gruppen oder Rollen eintragen, die sie „geprägt“ haben oder die sie „ausmachen“. „Ihr sollt euch damit auseinandersetzen und euch bewusst machen, wer Ihr seid“, erläutern die Trainerinnen die Aufgabenstellung. Zusätzlich geben sie den Hinweis, dass dies auch Gruppen oder Rollen sein könnten, die man sich nicht selbst ausgesucht hat, sondern die einem zugeschrieben werden. Die Teilnehmerinnen arbeiten vollkommen konzentriert, jede für sich. Gelegentlich murmelt jemand: „Ich weiß nicht mehr.“ Oder: „Oh, schreibst Du viel. Mir fällt gar nichts mehr ein.“ Anschließend werden die Teilnehmerinnen dazu aufgefordert, sich in Zweiergruppen über ihre „Identitätsmoleküle“ auszutauschen. Während dieses Austauschs unterhalten sich einige Duos angeregt, es wird gelacht und interessiert nachgefragt. Worte und Satzfetzen wie „Mutter einer Tochter“, „eher schüchtern“, „Ich gehe gerne angeln“, „aus Bulgarien“ oder „neugierig“ dringen an mein Ohr. Andere Teilnehmer zeigen sich wortkarg, schauen zu Boden oder lauschen ihrem Gegenüber interessiert, aber zurückhaltend. Anschließend sollen die angehenden Lotsinnen im Plenum berichten, wie sie sich bei der Aufgabe gefühlt haben. Die Antworten kommen von einigen spontan und werden mitunter eifrig vorgetragen. „Man merkt durch so eine Aufgabe, wer man eigentlich ist“ oder „Im Verlauf fiel mir nach anfänglichen Schwierigkeiten vieles ein, was auch noch ein Stück von mir ist“, lauten einige solcher Aussagen. Eine Teilnehmerin sagt: „Man schreibt etwas auf und fragt sich, ob das wirklich so ist“. Eine der beiden Gastdozentinnen nickt zustimmend und fügt hinzu: „Ich wollte aufschreiben, dass ich Halbitalienerin bin und hab mich gefragt, warum ich nicht ‚Deutsche‘ schreibe, wo ich doch viel deutscher als italienisch bin.“ Die andere Gastdozentin äußert dazu eine Theorie: „Das kann daran liegen, dass Halbitalienerin zu sein das Besondere ist, das einen von anderen abhebt.“ Eine der angehenden Lotsinnen meldet sich zögerlich und sagt: „Mir fiel das schwer. Ich mag keine Beschäftigung mit mir in einer größeren Gruppe.“
Die angehenden Lotsinnen lernen in dieser Trainingseinheit, sich selbst als durch Umwelt und andere Personen vielfach beeinflusst wahrzunehmen und ihr Selbst auf eine bestimmte Weise zu thematisieren. Sie werden gewissermaßen buchstäblich an eine „Bastelidentität“ (Hitzler & Honer 1994, vgl. Kapitel 1.1.3) herangeführt, die das Selbst zu einem „reflexiven Projekt“ macht, das nicht schon gegeben ist, son-
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dern erst „in einem kontinuierlichen Prozess der Selbstbefragung und Selbststilisierung“ erschaffen wird (Eichelpasch & Rademacher 2004: 22, Herv. i.O.). Im Vollzug der Ausbildungspraktik wird zuallererst ein Selbstbegegnungsraum hervorgebracht, der sich mit Goffmans Begegnungsbegriff wie folgt beschreiben lässt: Der Blick der Teilnehmer richtet sich in der Stillarbeit konzentriert ‚nach innen‘, er ist voll auf das sich in dieser Introspektion konstituierende Selbst hin orientiert und wendet sich von allem ab, was zwar in der Situation präsent, jedoch nicht Teil der Selbstbegegnung ist. In der Bezugnahme auf ein gemeinsames Objekt, das Formular, wird zugleich ein intersubjektiver Erfahrungsraum hervorgebracht, in welchem das Identitätsmolekül einen praktisch-normativen Fokus für die Beteiligten bildet und die Selbstreflexion in spezifischer Weise ausrichtet: Es gibt den angehenden Lotsinnen vor, ihre Identität auf den Begriff zu bringen und legt ihnen nahe, sich selbst als aus Teilaspekten zusammengesetzt zu betrachten. Als Medium der „Selbstschematisierung“ (Hahn 1987: 15) macht es FormVorgaben, die aus- bzw. zu erfüllen sind: ein Kreis in der Mitte bietet Platz für den jeweiligen Namen des Teilnehmers; die umliegenden Kreise sehen das Eintragen einzelner Identitätsaspekte vor. Sie verlangen dabei nicht nur, wie die in anderen Übungen oftmals gebrauchten Abfragekärtchen, nach Vereinfachungen, Abstraktionen und Selektionen, sondern senden spezifische Bearbeitungsimpulse aus: Es gilt, die vorgegebenen Lücken auszufüllen und die vorgesehenen Felder zugleich nicht zu überschreiten. Das Formular stellt Anforderungen an jede einzelne, sich auf eine bestimmte Weise wahrzunehmen und zu beschreiben, doch zugleich wird die stille, scheinbar private Fertigung des Objekts zu einer kollektiven Angelegenheit, da sich alle Teilnehmenden auf dasselbe Objekt und mit ihren Erwartungserwartungen aufeinander beziehen. Da das jeweilige Identitätsformular einer späteren Anschauung durch andere standhalten muss, sorgt es schon jetzt dafür, dass die Aufmerksamkeit punktuell immer wieder vom sich in der Übung konstituierenden Selbst ‚abgezogen‘ und auf die anderen hin ausrichtet wird. Bereits vor der ‚offiziellen‘ Austauschrunde im zweiten Schritt wird die Selbstbegegnung somit schon zur Begegnung. Die Miniatur der Übungsszene macht konkret anschaulich, wie das „Selbstbild als Resultat von zurechnungsfähigen Selbstäußerungen [...] durch einen bestimmten Aufbau charakterisiert [ist], einen Zusammenhang, in den Wertvorstellungen, Wirklichkeitsauffassungen, Richtigkeits- und Wichtigkeitskriterien der umgebenden Gesellschaft eingehen“ und der „Sinn, den meine Identität darstellt, [...] von Anfang an verwoben [wird] mit einem Sinn, der nicht von mir stammt“ (Hahn 1987: 11). Mit dem Übergang von der Stillarbeit in die Gruppenarbeit wird das Identitätsmolekül veröffentlicht und entfaltet seine individualisierende Wirkung: Es gibt dem Selbst nun nicht mehr nur eine Form, es informiert dank dieser Form auch andere.
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Es gibt auf einen Blick klar geordnete Identitätsaspekte zu sehen, welche die Teilnehmer sich selbst vor anderen zuschreiben. Mutter einer Tochter, Hobby-Angler, arbeitslos oder Ärztin, französischer oder bulgarischer Herkunft zu sein, können nun zu Identitätsaufhängern (Goffman 1967: 74f.) werden, d.h. zu „unverwechselbare[n] Merkmale[n] einer Person [...], an die weitere Eigenschaften angeheftet werden können, die ‚wie Zuckerwatte um die Person herum gewickelt‘ werden können und klebrig an ihr haften bleiben“ (Kardorff 2009: 141). Das Identitätsmolekül fungiert damit als transsituatives Medium, das den Teilnehmenden Rückbezüge, Erinnerungen und Nachfragen im weiteren Kursverlauf erlaubt. Doch nicht nur die explizierten ‚Identitätsaspekte‘ treten dank der MolekülForm im Zuge der wechselseitigen Offenbarung hervor, sondern auch solche des sich ‚dahinter verbergenden‘ impliziten Selbst. So dokumentieren sich auf dem Formular nicht nur Streichungen und Wortabbrüche (wie bei sonstigen schriftlichen Abfragen auf Flipcharts oder Kärtchen), sondern es zeigen sich darüber hinaus Leerstellen (unausgefüllte Kreise) und Überschreitungen (überschriebene Kreise) der Formvorgaben. Aus diesen können Zuschreibungen von (weiteren) Fähigkeiten bzw. Eigenschaften erwachsen, die nicht schriftlich expliziert wurden, etwa schüchtern oder extrovertiert, kreativ oder einfallslos, unsicher, selbstbewusst oder fähig zur Selbstreflexion zu sein. Zugleich gibt das Formular anderen damit Hinweise darauf, wie die Aufgabenstellung empfunden, wie leicht oder schwer sie wahrgenommen worden sein mag. Diese impliziten, unfreiwilligen schriftlichen Selbstoffenbarungen bieten der expliziten Selbstoffenbarung im Rahmen der üblichen Gefühlsabfrage im Plenum somit Aufhänger für gezielte Nachfragen. So können diejenigen, deren Moleküle dank nicht ausgefüllter Felder mangelnde Auskunftswilligkeit oder Schüchternheit bekunden oder diejenigen, deren Formulare dank vielfacher Streichungen auf Unsicherheit hindeuten, selektiv adressiert und auf ihre Gefühle hin befragt werden. In diesem dritten Schritt der Veröffentlichung von Identitäts- und Gefühlsauskünften wird ein Begegnungsraum hervorgebracht, der spezifische Ein- und Ausschlüsse produziert. Etliche der Anwesenden tauschen sich bereitwillig, mitunter geradezu enthusiastisch über ihre hinzugewonnenen (Selbst-)Einsichten aus. Hierzu zählt auch eine der Gastdozentinnen, bei der im Laufe der Erarbeitung ihres Identitätsmoleküls ein Reflexionsprozess in Gang gesetzt wird, warum sie sich fast als Halbitalienerin statt als Deutsche beschrieben hätte, wo sie „doch viel deutscher als italienisch“ sei. Ihr öffentliches Nachdenken darüber erlaubt es ihrer Kollegin, ihr eine Selbst-Interpretation anzubieten, die auf eine Art ‚Selbstbeschreibungsrendite‘ rekurriert, welche sie mit der Selbsteinsetzung als exotische Halbitalienerin verbunden sieht. Auf diese Weise bringen die beiden Dozentinnen inmitten eines Begegnungsraumes, der sich im Modus einer Individualisierung und gleichzeitigen „anthropologischen Universalisierung“ (vgl. Schondelmayer 2010: 317) konstituiert
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(‚Jeder Mensch besitzt eine individuelle Identität‘) einen Begegnungsraum der Migration hervor. Zugleich wird den Teilnehmenden spätestens jetzt klar, worum es hier geht: Die Ausbildungspraxis entfaltet unter Mitwirkung von Dozenten wie Teilnehmern eine Intentionalität, die darauf gerichtet ist, sich vor anderen und sich zugleich wechselseitig zu lesen und zu dechiffrieren. Diejenigen, denen es schwer fällt, sich vor anderen mit ihrer expliziten wie impliziten Selbst-Darstellung zu exponieren, drohen aus dem im Vollzug hervorgebrachten normativen Erwartungshorizont der Praxis ‚herauszufallen‘. Sofern man Subjektivierung aus einer auf das unterwerfende Moment fokussierten Perspektive als einen Prozess der Unauffälligwerdung in einer klaren Regeln gehorchenden Praktik liest, wäre sie etwa bei jener Teilnehmerin, die angibt, keine Beschäftigung mit sich in einer größeren Gruppe zu mögen, gescheitert. Aus einer stärker das ermächtigende Moment der Subjektivierung in den Blick nehmenden Perspektive ließe sich ihr ‚Herausfallen‘ hingegen ebenso als ein ‚Heraustreten‘ aus dem Erwartungshorizont der Ausbildungspraktik lesen: die Teilnehmerin exponiert sich gewissermaßen in ihrer öffentlichen Ablehnung einer Selbst-Exposition und tritt in dieser Perspektive damit gerade als Subjekt in Erscheinung. Medienanalytisch zeigt diese Trainingseinheit zusammengefasst, wie der Einsatz eines Formulars eine spezifische Selbstbildung präfiguriert (nicht jedoch determiniert, wie zuletzt herausgestellt wurde), die auf Introspektion, Selbstüberprüfung und Selbstpräsentation basiert. Die Ausbildungspraktik erfordert ein stilles Nachdenken über sich selbst, das es in Form von Ergebnissen zu verschriftlichen gilt. Mit diesem Medienwechsel vollzieht sich der Schritt zur Selbstüberprüfung: „Man schreibt etwas auf und fragt sich, ob das wirklich so ist“, bringt dies eine Teilnehmerin auf den Punkt. Es kann jedoch nicht irgendetwas über die eigene Identität zu Papier gebracht werden. Vielmehr sorgt das Identitätsmolekül mit seiner spezifischen Form dafür, dass ausufernde Selbstbeschreibungen beschränkt werden und sich die Teilnehmenden auf das bzw. ihr Wesentliches konzentrieren. Umgekehrt markieren allzu knappe oder lückenhafte Selbstbeschreibungen in Form von kaum oder gar nicht ausgefüllten Feldern des Formulars das explizierte Selbst eines Teilnehmers in seiner Selbstpräsentation vor anderen und ihm selbst, formelhaft ausgedrückt, als unzureichend, unterkomplex, einfach strukturiert. Diese Formeln lassen sich in Zuschreibungen von Persönlichkeitseigenschaften wie unkreativ, langweilig oder unreflektiert übersetzen. Das Molekül als Medium der Selbstschematisierung verlangt nach einem klaren und geordneten Selbst-Bild und es leistet, dass dieses künftig und andernorts leicht zu erinnern und anderen zu vermitteln ist. Es wird auf diese Weise zu einem transsituativen Medium, das ein über die Situation hinausgehendes Erlernen bzw. Verfestigen einer Hermeneutik des Selbst vorantreibt. Die im Einleitungszitat beschriebene „feste Identität“ wird im Vollzug
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der Lerneinheit zugleich hinterfragt (zerlegt, reduziert, re-kombiniert) und stabilisiert (geordnet, haltbar gemacht). 3.2.6.2 Sprach(en)spiel eines Herkunftsdialogs „Da der Lehrgang immer eine mehrsprachige Zusammensetzung haben wird, sind diese Aspekte bei der praktischen Durchführung zu berücksichtigen. Auch wenn eine wesentliche Voraussetzung für die Teilnahme ausreichende Deutschkenntnisse sind, sollte der Lehrgang so gestaltet werden, dass sich die Teilnehmenden auch in ihrer Sprache wohl fühlen können, d.h. in dem wie sie die deutsche Sprache sprechen und wie sie ihre Sprachenvielfalt nutzen können. Vor allem, wenn unterschiedliche Schriften vertreten sind, sollten zumindest die Namen auf den Wandzeitungen oder die Definitionen zum Ehrenamt in beiden Schriften/ Sprachen zu sehen sein. Es darf eben auch in der Muttersprache geantwortet bzw. geschrieben werden. Die Übersetzung findet dann am Ende gemeinsam statt. Die Suche nach Bedeutungen erweitert den Horizont, es entstehen neue Wortschöpfungen und andere Perspektiven.“ MÜLLER-WILLE (2007: 16)
Eine zweite, mit der ersten untrennbar verbundene Frage, die sich ein angehender Lotse zu stellen und öffentlich zu beantworten hat, um sich als ein Mittlersubjekt der Migration anerkennbar zu machen, lautet: Wo komme ich her? Die Teilnehmer werden dazu aufgefordert, in Stichworten ihre Assoziationen zum Thema „Ehrenamt“ auf kleinen Karten zu notieren. Während die meisten von ihnen mit ihren Karten da sitzen und überlegen, schiebt die Dozentin nach: „Was bedeutet Ehrenamt in eurer Heimat?“ Einige blicken daraufhin fragend drein, fangen aber nach einiger Zeit, wie die übrigen, an zu schreiben. Währenddessen bittet die Kursleiterin die angehenden Lotsinnen mehrfach, in ihrer jeweiligen „Muttersprache“ zu schreiben. Als die beschriebenen Kärtchen schließlich an der Metaplanwand hängen, fällt auf, dass alle Assoziationen auf Deutsch notiert wurden. Die Dozentin fragt die Kursteilnehmer daraufhin nacheinander nach den Gründen dafür. An Levana gerichtet: „Warum hast du nicht auf Arabisch geschrieben?“ Diese errötet, schaut kurz nach unten und antwortet dann: „Ich kann besser auf Deutsch schreiben.“ Faghira ent-
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gegnet auf die gleiche Frage: „Den Begriff Ehrenamt gibt es so nicht im Türkischen. Beziehungsweise bedeutet er dort was anderes.“ Dabei rutscht sie auf dem Stuhl herum, so als winde sie sich. Gereizt fragt sie: „Was soll ich denn jetzt sagen?“ Auch an Ravi ergeht der Vorwurf: „Ich vermisse deine eigene Sprache!“. Dieser versucht sich zu erklären: „Aber Deutsch verstehen hier alle und ich möchte meine Sprache verbessern.“ Die Dozentin zögert kurz, scheint zu überlegen. Schließlich verleiht sie ihrer Forderung Nachdruck: „Ja, aber ich will das Wort in deiner Sprache!“ Nachdem Korshid und Faghira nach einigem Zögern schließlich einen Ehrenamt-Begriff auf Persisch bzw. Türkisch zu Papier gebracht haben, schreibt auch Ravi etwas auf Hindi und wird daraufhin von der Dozentin gelobt: „Sehr schön diese Schrift.“ Am Ende der Lehreinheit bekommt Levana ein Kärtchen mit der Frage „Welche Werte sind in deiner Heimat wichtig und relevant für das Ehrenamt?“ zugeteilt. Sie reagiert zögerlich und wirkt unsicher. Schließlich sagt sie: „Ich habe Probleme, hier eine richtige Antwort zu geben, weil ich ja nie im Libanon gelebt habe.“ Die Dozentin hakt nach: „Aber du hast sonst immer wieder von ‚Wir‘ und ‚Bei uns‘ gesprochen.“ Levana versucht sich zu rechtfertigen: „Ja, ich habe auch ‚bei uns‘ gesagt, aber ich habe auch gesagt, dass ich viel Wissen [über den Libanon] aus dem Fernsehen habe. Ich fühle nicht, was sie dort fühlen.“ Auch der Aufforderung, etwas in ihrer „Ursprungssprache“ zu dieser Frage zu sagen, kann Levana nicht nachkommen: „Aber ich denke ja auf Deutsch.“
Wie sich dem einleitenden Zitat aus dem Ausbildungscurriculum entnehmen lässt, wird der Lotsenkurs nicht nur als eine Art Probebühne für ein freies Einüben der deutschen Sprache entworfen, sondern ebenso als ein Schutzraum, in dem die jeweilige Muttersprache ohne Befürchtung von Sanktionen gesprochen werden kann. In der Szene zeigt sich jedoch, wie diese programmatische Rahmung im Vollzug der Ausbildungspraktik ihre neutrale Unschuld verliert. Der Möglichkeitsraum für einen Gebrauch nichtdeutscher Sprachen und Schriften verwandelt sich in der Praxis zunehmend in einen Zwangsraum, der auf ein fremdsprachliches Bekenntnis zur wahren, ursprünglichen, nichtdeutschen Heimat verpflichtet. Die Teilnehmenden werden dabei in ein Sprach(en)spiel des „Herkunftsdialogs“ verwickelt, das, wie Santina Battaglia herausgearbeitet hat, Double-bind-Situationen entstehen lässt, indem es widersprüchliche Imperative wie „Sei deutsch!“ und gleichzeitig „Sei anders!“ an die Betreffenden richtet (vgl. Battaglia 2007: 194). Astride Velho (2010) beschreibt die Grundzüge des mit solchen Sprachspielen in Gang gesetzten Subjektivierungsprozesses unter Rückgriff auf Foucaults Selbsttechnologie des Geständnisses folgendermaßen: „Ein die Sichtbarkeit bestätigendes, assimiliertes Subjekt wächst heran, wird erschaffen. Ein Subjekt, das beständig darum bemüht ist, Modernität und die Zugehörigkeit sowie die Anerkennung des Phantasmas der deutschen oder westlichen Kultur zu beweisen“, wobei gleichzeitig authentische Bekenntnisse und Praxen gefordert sind, „die ‚exotische Würze‘ in den grauen bundesdeutschen Alltag bringen“ (ebd.: 120, 121).
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Die angehenden Lotsen haben im Vollzug der Ausbildungspraktik nicht mehr ihre hiesigen „Ortskenntnisse“ (Müller-Wille 2007: 5) unter Beweis zu stellen, sondern eingehende Herkunftskenntnisse. Gefragt ist nicht der gut integrierte Migrant, der fließend deutsch spricht und sich in Deutschland zu Hause fühlt und damit gerade einem idealen Lotsenprofil entspricht, sondern der in der Fremde verwurzelte Migrant, der über die Sprache Verbundenheit mit seiner ‚Ursprungsheimat‘ zeigt. In der Praxis wird über die Aktivierung des Dispositivs des Herkunftsgeständnisses somit ein Begegnungsraum mit einer eigenen Anerkennungsordnung und sich hiermit verbindenden Möglichkeiten der Kapitalverwertung hervorgebracht. In Relation zu einer Anerkennungsordnung, in der sich jemand als Lotse zuallererst durch eine glaubwürdige Versicherung eines starken Integrationsgefühls intelligibel macht (vgl. Kapitel 3.2.3.2), kommt es in der Szene zu einer situativen Umwertung von Wertigkeiten: ein (fremd-)sprachlich aufgeführter Migrationsvordergrund wird zu symbolischem Kapital, während die Integrationsbiographie im Vergleich dazu verblasst und an Wert verliert – sie erscheint nunmehr als Integrationshintergrund. Die plötzlich migrationsvordergründig gewordenen Teilnehmer zeigen sich angesichts dieser ungewohnten Anforderungen sichtlich irritiert. Sie wissen nicht, was sie „denn jetzt sagen“ sollen, was eine „richtige Antwort“ wäre, wo es doch sonst – innerhalb wie außerhalb des Lotsenkurses – überaus angemessen ist, sich darauf zu berufen, die deutsche „Sprache verbessern“ zu wollen. Ihre kritische Haltung gegenüber der via Sprach(en)spiel vermittelten Herkunftsverortung zeigt sich sowohl an der Widerständigkeit von Körpern, die sich auf ihren Stühlen winden, als auch an expliziten Abwehräußerungen. Erst im Zuge wiederholter und immer nachdrücklicherer Adressierungen als Herkunftssubjekte gehen die Teilnehmer nach und nach zu jener Fremdheitsinszenierung über, welche in dieser Situation – statt des sonst üblichen Integrationsnachweises – gefordert ist. Die Glaubhaftigkeit dieser Inszenierung hängt nicht zuletzt davon ab, inwiefern die Selbstthematisierungen der Teilnehmenden den Kohärenzanforderungen einer Migrationsbiographie genügen. So ‚überführt‘ die Dozentin Teilnehmerin Levana gewissermaßen der Inkonsistenzen ihres Selbst, indem sie ihr vorwirft, sich mit den Worten „bei uns“ einerseits offen zum Libanon als ihrer Heimat zu bekennen, andererseits aber in Distanz zu dieser Selbstverortung zu gehen. Auch den übrigen migrantischen Teilnehmerinnen wird damit eine geringe Toleranz für Inkohärenzen und Ambiguitäten in Herkunftsaufführungen angezeigt und deutlich gemacht, dass die in situierten Geständnispraxen erzeugten Selbstbilder über den Moment hinaus Gültigkeit und Verpflichtungscharakter besitzen. Die zu Migrationsvordergründigen gemachten Lotsenanwärter lernen auf diese Weise, „biographisch zu denken, sich in immer neuen und dem Kontext angepassten biographischen Modellen zu präsentieren.“ (Etzemüller 2012: 49, Herv. AQ).
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Anders als in den von Velho und Battaglia auf Rassismen hin befragten Alltagsinteraktionen wird das Sprachspiel des Herkunftsdialogs im Vollzug dieser Ausbildungspraktik nicht von fragenden Einheimischen und antwortenden Migranten getragen. Vielmehr wird den als Migranten konstituierten Lotsenanwärterinnen das Geständnis des gleichzeitigen Gleich- und Fremd-Seins von Dozentinnen abverlangt, die sich ebenfalls zu Migrationsvordergründigen machen. Diese führen den Lotsenanwärterinnen vor, wie man integrationsfähig und gleichermaßen ‚treu zu den eigenen Wurzeln‘ stehen kann. Kurz: sie zeigen sich ihren ‚Schützlingen‘ in der Praxis als vorbildliche Mittlersubjekte. Aus der Begegnung unter Fremden bzw. fremd Gemachten werden die auf ihren Einheimischen-Status zurückgeworfenen Teilnehmerinnen vollständig ausgeschlossen und damit implizit in ihrem Eignungsprofil als Integrationslotsen in Frage gestellt. Ein Mittler zwischen Kulturen hat zuallererst eine fremde Herkunftskultur vorzuweisen und zu dieser zu stehen. Das Geständnis vor anderen ist ein Geständnis über das Selbst und verknüpft somit auch in dieser Trainingseinheit die Begegnung mit einer im Vergleich zum „Identitätsmolekül“ subtileren Weise der Selbstbegegnung. Zusammengefasst zeigt sich am Beispiel dieser Übung im Kleinen, wie die Fabrikation eines Migrationsvordergrundes funktioniert, welche spannungsvollen Adressierungen sich damit verbinden und welche Wirkung das Medium des Dialogs in der Praxis entfaltet: Nicht ein Formular oder Schema nötigt spezifische Selbstbeschreibungen ab und fixiert diese (in schriftlicher Form), sondern die dialogische Struktur hält einmal gemachte Aussagen wach, spielt diese fortlaufend zurück, sorgt gemäß einer Kohärenzanforderung für nötige Korrekturen und schließt Rücknahmen oder Relativierungen des Ausgesprochenen aus. Beiläufig gemachte mündliche Beiträge (die Erwähnung, im Libanon geboren zu sein oder türkische Eltern zu haben) verlieren ihren flüchtigen, singulären Charakter und gewinnen stattdessen von Sprechereignis zu Sprechereignis an Verbindlichkeit. Einzelne Äußerungen werden als Bestandteile einer zusammenhängenden und über die Zeit konsistent gemachten Migrationsbiographie zurückgespielt. Der Dialog lebt von einem ständigen Wechsel zwischen einer Adressierung als Herkunftssubjekt und dem vergeblichen Versuch der Angesprochenen, sich dieser Adressierung verbal zu entziehen und körperlich herauszuwinden. Für eine Praxeographin, die sich dieser Szene im Sinne eines „personalen Aufzeichnungsapparat[es]“ (Amann & Hirschauer 1997: 25) aussetzt, ist die schier ausweglose Zwangslage der Adressierten spürbar – diese können, so das aufkommende Bild, den ihnen zugespielten Ball nur fangen oder werden von diesem getroffen, haben aber keine Möglichkeit, ihm auszuweichen oder ihn zurückzuspielen. Sie selbst haben mit ihren Antworten Teil an der intersubjektiven Hervorbringung einer Anerkennungsordnung, die in Konflikt steht mit jener, die sie aus anderen Kontexten kennen und deren Gültigkeit sie auch hier
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beanspruchen. Hieran zeigt sich, dass wertschätzende und subjektivierende Anerkennung nicht in eins zu setzen sind: Wertschätzung erfährt in dem Herkunftsdialog jemand, der sich stolz zu seinen Wurzeln bekennt. Die angehenden Lotsinnen sträuben sich nun allerdings zunächst bis in die Fasern ihres Körpers hinein gegen eine adäquate Antwort, die ihnen eben diese Wertschätzung sofort brächte. Dies deutet darauf hin, dass sie zuvor in einer Anerkennungsordnung subjektiviert wurden, welche für sie nicht plötzlich an Gültigkeit verliert, sondern eingekörpert ist und über die Zeit, d.h. auch in diesem situierten Kontext, der etwas anderes erfordert, Wirksamkeit entfaltet. 3.2.6.3 „Ich bin jetzt hier – aber wo ist das?“: Die Verlandschaftungsübung „Um die eigene aktuelle Position zu ermitteln, peilt man beim terrestrischen Navigieren in Küstengewässern mit dem Kompass verschiedene sichtbare Landmarken an. [...] Die eigene Position bestimmt man [...], indem man ihre relative Position zu anderen Punkten ermittelt, deren ‚absolute‘ Position aus der Seekarte bekannt ist. [...] Die Orientierung funktioniert natürlich nur für Fixpunkte.“ KEIL (2011: 23, HERV. AQ)156
Mittlersubjekte der Migration fungieren als Orientierungshelfer für Migranten. Die folgende Übung macht deutlich, wie die angehenden Lotsen für diese Aufgabe zunächst eine spezielle Form der herkunftsbewussten ‚Selbstorientierung‘ erlernen müssen. Die Frage lautet: Wo gehöre ich hin? Die Kursteilnehmer sollen sich entsprechend ihrer „geographischen Herkunft“ im Raum aufstellen und sich dabei an einer an der Wand befestigten Weltkarte orientieren. Nach kurzem Zögern und fragendem Umherblicken beginnt ein chaotisches Durcheinandergewusel. Es herrscht offenkundig weit verbreitete Orientierungslosigkeit. Keiner scheint genau zu wissen, wo er oder sie sich hinstellen muss, ja, wo er oder sie in diesem performativ erzeugten WeltRaum hingehört. Geographische Unkenntnisse – wo liegt eigentlich Persien in Bezug auf
156 Die Teilüberschrift dieses Kapitels „Ich bin jetzt hier – aber wo ist das?“ stammt, ebenso wie das einleitende Zitat, aus einem so betitelten Aufsatz des Philosophen Geert Keil (2011), der sich darin mit dem Verhältnis zwischen indexikalischen und nichtindexikalischen Orts- und Zeitbestimmungen und den zugehörigen Lokalisierungsverfahren befasst.
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Deutschland oder die Türkei von Indien aus gesehen? – und das Problem der Maßstabstreue in dem dann doch plötzlich recht klein erscheinenden Seminarraum kommen hier zusammen und nicht zuletzt die Ungewohntheit der Situation. Denn anders als im Rahmen des Frontalunterrichts wie auch im Unterschied zu den geordneten Stuhlkreisen finden sich alle Kursteilnehmer, mich eingeschlossen, reichlich unvermittelt wie auf eine Bühne versetzt, aufrecht stehend und den mitunter korrigierenden Blicken der anderen ausgesetzt. Immer wieder werden Positionen schrittweise korrigiert, wobei sowohl Blicke an die Wand in Richtung Karte als auch die Anordnung der anderen Teilnehmerinnen, deren Herkunftsländer man inzwischen kennt, als Orientierungsmarker dienen. Nicht zuletzt versuchen die beiden Kursleiterinnen, die selbst an der Übung teilnehmen, korrigierend und lenkend auf uns andere einzuwirken. Nach einer Weile, als Ruhe eingekehrt ist und alle ihren Herkunftsort gefunden zu haben scheinen, werden wir aufgefordert, unsere Gefühle zu beschreiben und zu sagen, ob wir uns dort wohl fühlen, wo wir stehen. Diejenigen, die eher vereinzelt und entfernt von ‚Deutschland‘ stehen, werden gesondert angesprochen: „Möchtet Ihr lieber dorthin rücken, wo mehr Menschen stehen?“, fragt Dozentin Haleh an diese gerichtet. Eine von ihnen fokussierend hakt sie nach: „Oder würdest Du lieber dort drüben stehen?“ und zeigt von der Angesprochenen und zugleich von sich selbst weg auf diejenigen, die sich in ‚Deutschland‘ eingefunden haben. Die meisten Teilnehmer gehen eher zögerlich auf die Frage ein und scheinen sich bei der Aufgabenstellung nicht recht wohl zu fühlen. Die Antworten fallen eher kurz und ausweichend aus. Viele geben an, sich dort, wo sie stünden, „ganz wohl“ zu fühlen. Levana ist als erste an der Reihe, ihre Gefühle ausführlicher zu beschreiben. Sie tritt etwas nervös auf der Stelle und erzählt, dass sie bisher erst zweimal zu Verwandtenbesuchen im Libanon gewesen sei. „Doch. Wo ich jetzt stehe, fühle ich mich wohl. Das Land ist sehr schön und ich würde es gern besser kennenlernen, aber die Zeit während der Besuche ist oft so knapp und meistens mit Verwandtenbesuchen verplant.“ Dann zögert sie kurz, scheint zu überlegen und meint schließlich leise, dass Touristen wohl mehr von dem Land sehen würden als sie selbst. Schließlich verkündet sie eifrig und mit lauterer Stimme: „Aber ich will noch viel mehr über das Land wissen.“ Oksana, die sich nun ebenfalls zu ihrer nichtdeutschen, wie Dozentin Haleh vermutet: kasachischen, Herkunft äußern soll, sagt: „Ich bin keine Kasachin. Wenn, bin ich Russin. Ich bin international! Ich könnte überall hin!“ Ihre Stimme wird dabei immer lauter bis sie die Worte „Ich könnte überall hin!“ schließlich ausruft. Dabei macht sie flügelschlagartige Bewegungen, indem sie ihre Arme ausbreitet und andeutungsweise durch den Raum ‚schwebt‘. Die andere Dozentin, Irina, wird sogleich hellhörig und fragt nach: „Du bist Russisch? Vielleicht Deutsche sogar?“ Sie selbst, sagt sie, habe ja keinen „Aussiedlerhintergrund“, aber sie habe auch irgendwo „deutsche Wurzeln“. Ravi steht nahezu bewegungslos, fast wie erstarrt, an seinem Platz. Auf die Frage, ob er sich „in Indien“ wohl fühle, antwortet er knapp und scheinbar ausdrucklos: „Das Internet macht ja ohnehin aus der Welt ein Dorf.“ Smilla steht sichtlich gelangweilt in der ‚deutschen Ecke‘. Missmutig meint sie, sie fände es „langweilig, in Deutschland aufgewachsen zu sein“ und dass sie „jetzt viel lieber da
226 | M ITTLERSUBJEKTE DER M IGRATION drüben“ stehen würde. Dabei zeigt sie auf die geographische Ballung derjenigen, die sich dem Libanon, dem Iran, der Türkei und Indien zugeordnet haben. Nach einiger Zeit sind alle Stimmungslagen abgefragt und es fällt auf, dass die in der Türkei geborene Faghira versehentlich östlich von Korshid und der Dozentin Haleh steht, die sich im Iran positioniert haben. Haleh fordert sie auf: „Die Türkei soll doch bitte weiter nach Europa kommen!“ Faghira bewegt sich zögernd und missmutig in Richtung ‚Europa‘ und meint mit einem schiefen Lächeln: „Das dauert noch!“. Der gesamte Kurs lacht.
In dieser Trainingseinheit werden die Teilnehmenden dazu und dahin bewegt, der eigenen, kulturalisierten Identität einen geographischen Ort zu geben und ihr Selbst im buchstäblichen Sinne zu verlandschaften (to landscape) (Hall 2008: 268).157 Platzierung und Deplatzierung gehen dabei Hand in Hand, indem die Lotsenanwärterinnen nicht nur von einem Ort weg, sondern auch zu einem Ort hin bewegt werden (vgl. Battaglia 2007: 192). Die Übung bringt, anders als das vorherige herkunftsorientierte Sprach(en)spiel, eine Anordnung hervor, in der Subjektpositionen nicht nur diskursiv eingenommen, sondern zudem im Raum verkörpert werden müssen.158 Der Seminarraum verwandelt sich dabei in eine Landschaft, die kartographiert und physisch eingenommen wird. Als verkörperte Subjekte befinden sich die Teilnehmenden nicht an „raumzeitlichen Punkten“, für die sie keine Sinnesor-
157 Nach Hall sind unsere Vorstellungen von Kultur und kultureller Identität stets mit Bildern oder Szenen von (imaginierten) Orten verbunden, sie werden – so ließe sich folgern – szenisch verstanden: „[...] we think of cultures as strongly places, not because all cultures are but because that is how we imagine them. [...] when we think of or imagine cultural identity, we tend to ‚see‘ it in place, in a setting, as part of an imaginery landscape or ‚scene‘. We give it a background, we put it in a frame, in order to make sense of it. Can we think of ‚Englishness‘ without seeing, somewhere, in our mind’s eye, England’s ‚green and pleasant land‘, rose-trellised thatched cottages, village green and church steeple, a ‚sceptred isle‘, ‚this precious stone set in a silver sea‘? [...] There is a strong tendency to ‚landscape‘ cultural identities, to give them an imagined place or ‚home‘ [...].“ (Hall 2008: 268, Herv. i.O.). 158 Damit soll nun keine erneute Dichotomie zwischen diskursiven und körperlichen Praktiken aufgemacht werden. Auch die vorherige Trainingseinheit war freilich kein ‚körperloses‘ Geschehen, sondern eines, in dem sich Körper ja mitunter gerade in ihrer Widerständigkeit gezeigt haben. Nur mittels einer Aufrechterhaltung der Unterscheidung von diskursiven und körperlichen Tätigkeiten lassen sich aber die jeweiligen medialen Einsätze und ihre Wirkungen im Vollzug von Ausbildungspraktiken miteinander vergleichen.
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gane haben, sondern sie füllen körperlich-leiblich „ausgedehnte Gebiete aus“ (Keil 2011: 26, Herv. i.O.).159 Die sonst übliche Raumordnung, in der von der Mitte aus (Position der Lehrenden) hin zu den Rändern (Position der Lernenden) unterrichtet wird, geht mit der Übung in einen performativ erzeugten Welt-Raum über, welcher neue, geographisch bzw. über die nationale Herkunft definierte Randpositionen, Zentren und Ballungsgebiete hervorbringt. Nicht mehr der Bereich der Tafel bildet hier „eine Zone herausgehobener Sichtbarkeit“ (Breidenstein 2006: 45), sondern die Raummitte, in der die Lotsenanwärter wie auf einer Bühne exponiert sind und sich weder der Aufmerksamkeit der übrigen Teilnehmer noch den Blicken der Kursleiterinnen entziehen können. Auf diese Weise entsteht ein „Beobachtungsdispositiv“ (Alkemeyer 2011: 58), das sich nicht nur auf das sich selbstthematisierende explizite Selbst richtet, sondern ebenso auf die Sichtbarmachung des impliziten Selbst. Ähnlich wie in einem sportlichen Trainingsprozess werden die Körper der Übenden auf der Bühne der Verlandschaftung so disponiert, „dass für die [...] Praktik relevante Phänomene aus der Verborgenheit ans Licht treten können und als ‚Körperzeichen‘ lesbar werden“ (Alkemeyer 2011: 58f.). Beobachtungsdispositive verlangen und ermöglichen ein „Sehen und Sich-zu-sehen-Geben, was immer auch ein Deuten, ein Interpretieren und Bewerten einschließt“, in dessen Vollzug „das eigene ‚Selbst‘ gebildet und auch verändert wird“ (Wenk 2013: 278). Sie erlauben den Dozenten wie den übrigen Teilnehmern nicht nur, sich ein diskursiv (re-) präsentiertes Bild vom anderen zu machen, sondern gestatten ihnen auch einen ungehinderten Blick auf das körperliche display der jeweils Exponierten und ermöglichen so die Zuschreibung von Gefühlen, Kompetenzen oder eines adäquaten bzw. mangelnden Spielsinns. Im Laufe des Lehrgangs entsteht auf diese Weise ein ganzes „Netz von Übungen, das sich auf eine Vielzahl pädagogischer Funktionäre stützt“ und neben Dozenten auch Mitstreiterinnen „als Intendanten, Beobachter, Monitoren, Repetitoren, Vorbeter, Vorschreiber, Tintenmeister“ einsetzt und in ein „System gegenseitiger Überprüfung und Beobachtung“ einbindet, das das „ununterbrochene Gesehenwerden“ der angehenden Lotsinnen gewährleistet (vgl. Gelhard 2011: 38f.). Die Aufmerksamkeit der Dozentinnen richtet sich in dieser Trainingseinheit auf jene, die mittels des Beobachtungsdispositivs der Verlandschaftung als Fremde zu
159 Hierin liegt nach Keil die „anticartesianische Pointe“ der raumzeitlichen Selbstlokalisierung: „Die Aufgabe, den eigenen Ort zu bestimmen, stellt sich nur für Wesen, die selbst in der Raumzeit sind, und nur für solche ist sie auch lösbar. In Raum und Zeit orientieren müssen und können wir uns, weil wir keine körperlosen cartesianischen Subjekte sind.“ (Keil 2011: 25f.).
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sehen gegeben werden.160 Deren Bewegungen im Raum lassen über die Geschwindigkeit, Zielstrebigkeit und Präzision, mit der sie ihre jeweiligen Herkunftsräume einnehmen, Rückschlüsse der Trainerinnen auf herkunftsbezogene Ortskenntnisse zu und ermöglichen erste Einschätzungen der jeweiligen Gefühlslagen, mit denen die Aufgabe angegangen wird. Das Standbild, in dem die Bewegung schließlich stillgestellt wird, macht die nicht herkunftsdeutschen Teilnehmer dank ihrer räumlichen Positionierung auf einen Blick sichtbar und erlaubt eine eingehendere Analyse von Mimiken und vor allem von Körperhaltungen, welche bei der vorherigen Ausbildungspraktik weitestgehend hinter Tischen verborgen blieben. Die aus dem ‚deutschen Zentrum‘ auf versprengte Orte zurückgeworfenen Lotsenanwärterinnen werden auf dieser Bühne nun ebenfalls in einen Herkunftsdialog verwickelt und zusätzlich mittels ihrer räumlichen Positionen zu Migrationsvordergründigen gemacht. Noch deutlicher als bei dem Sprach(en)spiel des Herkunftsdialogs wird hier, wie die Ausbildungspraktik an zuvor und andernorts erworbene „szenische Modelle“ (Lorenzer 2006: 17) der migrationsvordergründigen Teilnehmer von Herkunftsdialogen anknüpft und bei diesen sofort eine Erwartung von ‚Herkunftszuständigkeit‘ evoziert.161 Gefragt ist dabei weniger „der integrierte Mensch, der QuasiDeutsche, sondern der auslands-repräsentative und -kompetente Ausländer.“ (Battaglia 2007: 194). Dem Herkunftsdialog liegt die Vorstellung eines Kulturwissens zugrunde, das sich sozusagen automatisch qua Geburt einstellt (vgl. Broden & Mecheril 2007: 20, Terkessidis 2010: 77f.). Besonders zeigt sich dies am Beispiel Levanas, die sich in dieser Szene letztlich als unzureichend kompetente Repräsentantin und Expertin ihres Herkunftslands ‚outet‘. Sie leitet ihren Beitrag mit den Worten ein: „Doch. Wo ich jetzt stehe, fühle ich mich wohl.“ Das „doch“ klingt dabei so, als müsse sie nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst davon überzeugen, dass sie sich im Libanon bzw. an dessen virtuellem Platzhalter wohl fühlt. Ihre Erklärung, „das Land“ noch nicht richtig gut zu kennen, kommt in dieser Trainingseinheit einem aufgrund der körperlichen Exposition nochmals dramatisierten Geständnis gleich, das in die Absichtserklärung mündet, das bisher Versäumte nachzuholen, „sich sozusagen selbst nach[zu]sozialisieren und [eine] ‚ausländische‘ (Pseudo-)Zugehörigkeit [] zu entwickeln“ (Battaglia 2007:197). Während Levanas aufrechte, geradezu stoische Körperhaltung vergleichsweise wenig über sie ‚verrät‘, fordert die gesteigerte Sichtbarkeit die sonst eher stillere
160 Fremd wird, im Anschluss an Waldenfels (2006) etwas, das woanders, außerhalb eines inneren Bereichs vorkommt (vgl. Kapitel 2.2.3). 161 Nach Lorenzer werden „Erinnerungsspuren“ aus vergangenen Interaktionen zu „szenischen Modellen“ geformt, welche dynamische und „virulente Faktoren zukünftiger Lebenspraxis bilden“ (Lorenzer 2006: 17).
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Oksana zu einer besonderen Performanz heraus. Oksana beantwortet ihre Adressierung als Nichtdeutsche den Anforderungen der Praktik gemäß zunächst insofern angemessen als sie mit Rekurs auf ihr nicht-kasachisches, ‚höchstens‘ russisches Sein im nationalen Herkunftsdiskurs verbleibt. Spätestens mit der expressiven Geste des Flügelschlags und dem Ausruf „Ich könnte überall hin!“ unterläuft sie allerdings die eindeutige Positionierungsanforderung der Verlandschaftung. Mit Gutiérrez Rodríguez, die sich hierbei auf Braidottis „nomadisches Subjekt“ (Braidotti 1994) bezieht, könnte man sagen, dass sich Oksana im Praxisverlauf in einem „Zustand der Wanderung“ verortet, welcher jede Position als Provisorium und somit als eine vorläufig eingenommene markiert (vgl. Gutiérrez Rodríguez 1999: 256). Ihre ‚Schwebefigur‘ verleiht dabei nicht bloß einem Gedanken oder Gefühl einen gestischen Ausdruck. Vielmehr sehen wir Oksana thinking by hand (Streeck 2009: 151) bzw. body: Oksana beschreibt bzw. erklärt weder nachträglich ihre Bewegung mit Worten noch verkörpert ihre Bewegung zusätzlich das Gesagte. Beides bildet vielmehr eine Einheit. Gebraucht man eine Unterscheidung, die der Gestenforscher Jürgen Streeck zwischen Gesten der Darstellung (depiction) und solchen der Konzeptualisierung (conceptualization) gemacht hat (vgl. ebd.: 151), so gerät in den Blick, dass Oksana weniger einen für Darstellungsgesten charakteristischen „visual account of some reality“ (ebd.), die in der Situation gerade nicht verfügbar ist, gibt, als dass sie abstrakte Inhalte oder Konzepte – wie ein Überall, ein InternationalSein – mit Hilfe eines manuellen Schemas visualisiert. Im Zuge einer solchen gestural conceptualization „a person in a situation of communication draws upon and enacts for symbolic purposes bodily schemata and thereby gives visible and haptic form to content“ (ebd.: 162). Denkt man körperliche und symbolische Aktivität auf diese Weise zusammen, lösen sich Dichotomien zwischen Körper und Geist, Kognition und Emotion gleichsam auf. Mit ihrer Flügelschlaggeste löst sich Oksana ‚körperlich denkend‘ und zugleich symbolisch von der ihr zugewiesenen Position einer Kasachin bzw. Russin mit deutschen Wurzeln, so dass es ihr möglich wird, das hiermit verbundene doing difference zu neutralisieren, die Solidarisierungsofferte von Kursleiterin Irina aufgrund gemeinsamer deutscher und russischer „Wurzeln“ auszuschlagen und den Herkunftsdialog abzubrechen. Ravi besetzt in dem Verlandschaftungsstück gewissermaßen Oksanas Gegenfigur. Nutzt letztere das Beobachtungsdispositiv als Bühne für den Vollzug einer Absetzbewegung, in der sie sich auf eine Weise zu sehen gibt, welche räumlichsymbolische Grenzen überschreitet und ihre Exponiertheit noch weiter steigert, tritt Ravi die Flucht in eine Art reglose Unauffälligkeit an. Auch er kann seine Adressierung als Nicht-Deutscher im Rahmen der Übung nicht nicht beantworten. Sein geradezu erstarrt wirkender Körper und seine fast unbewegte Mimik bieten jedoch vergleichsweise wenig Fläche, auf der sich die Antwort spiegeln kann. Sein display ist gewissermaßen so weit heruntergefahren, dass es mehr verbirgt als es zu sehen
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gibt – wobei freilich auch das nicht Zu-Sehen-Gegebene etwas zeigt und einer Antwort gleichkommt. Sowohl bei Oksana als auch bei Ravi korrespondiert das, was zu sehen bzw. nicht zu sehen gegeben wird, mit dem jeweils Zu-hörenGegebenen (vgl. Schade & Wenk 2011: 9). Der Festlegung durch viermaliges „Ich“-Sagen im Falle Oksanas steht bei Ravi der Rekurs auf einen Allgemeinplatz gegenüber: „Das Internet macht ja ohnehin aus der Welt ein Dorf.“ Mit seinem Zurücktreten hinter diese subjektlose Aussage (Boltanski) treibt Ravi nicht nur seine eigene Verunauffälligung voran. Indem er sich mit einem „Akt der Verundeutlichung“ (Gvozdeva 2010: 14) jeder persönlichen Festlegung entzieht, verschafft er sich gleichsam eine Art „dritten Raum“ im Sinne Bhabhas (1994), der auf einer nationalstaatlichen Landkarte nicht mehr zu verzeichnen ist. Am Beispiel Faghiras wird deutlich, wie das in dieser Übung hervorgebrachte Beobachtungsdispositiv nicht nur buchstäblich für Kurskorrekturen seitens der Dozenten genutzt wird, sondern allen Anwesenden ermöglicht bzw. abverlangt, auf einen möglichst reibungslosen Vollzug der Ausbildungspraktik hinzuwirken. Faghira befindet sich mit ihrer Verkörperung der Türkei zu weit entfernt von ‚Europa‘ und muss sich daher in Beziehung zu den fixierten übrigen Teilnehmern nochmals neu orientieren. „Das Wissen, wo man ist“, ist ein „relationales Wissen davon [...] wie der eigene Standort zu anderen Punkten liegt.“ (Keil 2011: 24, Herv. AQ). Ihre Neupositionierung verbindet Faghira mit einer ironischen Äußerung, die eine noch ausstehende Annäherung der Türkei und Europas zum Thema macht. Diese Äußerung und das anschließende Gelächter der übrigen Teilnehmenden können als Sequenzen eines „protektive[n] Manöver[s]“ (Goffman 1994b: 22) beschrieben werden, das darauf gerichtet ist, die im Raum spürbare Spannung im Zusammenhang mit der Platzanweisung durch die Dozentin abzubauen und Faghira nach ihrem buchstäblichen Fehltritt wieder in das „Ensemble“ (Goffman 2012: 73ff.) der Verlandschaftung aufzunehmen.162 In Anlehnung an Adorno lässt sich das Gelächter als ein „Mitlachen“ im Sinne einer „Bürgschaft des Dazugehörens“ (Adorno 1964/65, zit. nach Schörle 2003: 103) lesen. Es reintegriert, „was aus dem sozial gestreckten Rahmen herausfällt“ (Adorno 1967, zit. nach ebd.: 106) und verdeckt so ein kritisches Moment der Praxis. Wie in der Szene des Sprach(en)spiels machen sich die Dozenten auch während dieser Übung selbst zu Fremden, indem sie sich im Iran bzw. Weißrussland verorten und sich von denen „da drüben“, d.h. den in ‚Deutschland‘ Platzierten, abgrenzen. Im Wege dieses gleichzeitigen doing sameness und doing difference wird ein Migrantenkollektiv hergestellt, das über nationale bzw. ethnische Selbst- und
162 Goffman verwendet den Begriff des Ensembles (team) interaktionstheoretisch für „eine Gruppe von Individuen, die eng zusammenarbeiten muß, wenn eine gegebene Situationsbestimmung aufrechterhalten werden soll“ (Goffman 2012: 96).
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Fremdpositionierungen sogleich wieder unterteilt wird. Die Kursleiterinnen machen sich auch in dieser Figuration selbst zu Mittlersubjekten, die am eigenen Leib vorbildhaft demonstrieren, dass und in welcher Weise migrantische Mittler ihre ‚kulturellen Wurzeln‘ zu bewahren haben. Anders als in der vorherigen Trainingseinheit versucht sich im Vollzug der Verlandschaftungsübung auch eine Einheimische zur Teilnehmerin der Begegnung zu machen. Die Betreffende, Smilla, wertet es hierbei als langweilig ab, ‚in Deutschland‘ stehen bleiben zu müssen und aktualisiert auf diese Weise eine Differenz zwischen einem exotischen Unvertrauten und einem als allzu gewöhnlich abgewerteten Eigenen auf.163 Sie findet damit Zugang zu einem gemeinsamen Begegnungsraum, der während der Übung in einem spezifischen Modus hervorgebracht wird. In Anlehnung an eine von Katja Gvozdeva (2010: 18f.) vorgenommene Unterscheidung zwischen einem „hybriden“ und einem „paradoxen“ Modus der performativen Kulturbegegnung, lässt sich dieser als paradoxer Modus beschreiben. Dieser ist nicht, wie der hybride Modus, auf die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Eigenem und Fremdem gerichtet, indem wie bei anderen Ausbildungspraktiken auf geteilte Erfahrungen rekurriert wird, sondern darauf, die Spannung zwischen diesen Gegensätzen zu erhalten. Deutlich wird daran, wie die „erfolgreiche Praxis der Selbst- und Fremdlokalisierung“ in diesem Begegnungsraum „auf dem System der Relationen der Dinge, Ereignisse und Personen [beruht], welches für alle dasselbe ist, auch wenn jeder eine andere Stelle in ihm einnimmt.“ (Keil 2011: 32, Herv. AQ). Im Rahmen dieser Übung erfolgt eine symbolisch wie leiblich-körperlich vollzogene herkunftsbezogene Selbstorientierung. Der diskursive Mobilisierungsprozess, der zuvor noch latente, ruhende Herkunftsdifferenzen hervorbringt, wird in der Trainingseinheit über die körperliche Bewegung der Teilnehmenden und schließlich deren Stillstellung in fixierten Positionen performativ mitvollzogen. Die Lotsenanwärter haben sowohl im physischen Raum der Verlandschaftung als auch im diskursiven Raum des Herkunftsdialogs den Ort zu finden, an dem sie ‚jetzt sind‘. Ihre Selbstlokalisierung orientiert sich dabei, wie in der nautischen Navigation, an den fixierten Positionen der anderen wie auch an absoluten Positionen, die sich der Weltkarte an der Wand entnehmen lassen. Die Ausbildungspraktik bringt dabei nicht nur veränderte räumliche, sondern ebenso neue zeitliche Relationen hervor: Die migrationsvordergründig gemachten Lotsenanwärter lernen, dass sie
163 In einer späteren Aufgabe zur Un-/Zufriedenheit mit dem eigenen Vornamen erklärt Smilla, nach jugendlichen „Phasen der Unsicherheit“ inzwischen sehr glücklich mit ihrem norddeutschen, „exotisch“ klingenden Namen zu sein. Sie durchläuft im Rahmen der Lotsenausbildung einen Subjektivierungsprozess, durch den ein Selbstverhältnis hervorgebracht bzw. kultiviert wird, das auf einer Affinität zum Fremden als Unvertrauten basiert.
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jetzt nicht nur hier in Deutschland sind und zuvor an einem anderen Herkunftsort waren, sondern dass sie im Hiersein aufgrund ihrer ‚Wurzeln‘ zugleich immer auch dort sind. Die Szene veranschaulicht, wie im Rahmen von Übungen ein „konjunktiver Erfahrungsraum“ (Mannheim 1980: 217-225) migrationsvordergründiger Teilnehmer zugleich vorausgesetzt und im Vollzug der Ausbildungspraktik noch einmal hervorgebracht werden soll.164 Die Erfahrung der Selbstverortung erfolgt damit im Wechselspiel unterschiedlicher Medien. Zentral ist die Positionierung von Körpern im Raum. Die Teilnehmenden bewegen sich auf ‚ihre Plätze‘ hin und verharren dort für die restliche Dauer der Übung. In dieser an eine Familienaufstellung erinnernden Anordnung bekommen sie leiblich zu spüren, wie ihre Bewegung stillgestellt und in einer starren Position fixiert wird. Die Aufstellung führt nicht nur Nähen und Distanzen zu anderen verkörperten Herkunftssubjekten vor Augen, sondern lässt die Teilnehmenden diese ebenso wie die eigene eingeschränkte Beweglichkeit leiblich erfahren. Der an Ort und Stelle geführte Herkunftsdialog wird durch die körperliche Positionierung gestützt, indem sich die Verortung des Selbst zusätzlich ins leibliche Gedächtnis der Teilnehmenden einprägt.165 Anders als bei dem Sprach(en)spiel der Herkunftsverortung wird bei der Verlandschaftung allerdings deutlich, dass sich leibliche Erfahrungen im Rahmen von Ausbildungspraktiken kaum planvoll und reibungslos generieren lassen. Die
164 Knapp zusammengefasst verbinden sich Menschen in einem konjunktiven Erfahrungsraum zu einer lokal gebundenen Gemeinschaft oder auch Generation, welche sich durch ein in gemeinsamen Erfahrungen erworbenes geteiltes praktisches Verstehen und sedimentiertes Wissen auszeichnet (vgl. Mannheim 1980: 217-225). 165 Die in der Ausbildungspraktik mündlich wie körperlich-leiblich vollzogene Verlandschaftung der angehenden Lotsen setzt sich im Laufe des Lehrgangs fort und wird dabei immer wieder auch in eine schriftliche Form überführt. So haben die Kursteilnehmerinnen Selbstthematisierungsergebnisse in so genannten „Landkarten der Integration“ festzuhalten, welche als „eine Art Tagebuch oder Protokoll“ dienen und „zum Abschluss der Qualifizierung Grundlage eines Leitfadens für die Integration werden, in dem Anforderungen und Standards entwickelt und formuliert werden“ (Müller-Wille 2007: 28). Das formative Objekt der „Landkarten der Integration“ speist quasi sämtliche Ergebnisse der ersten und zweiten Ausbildungsstufe ein und führt sie auf der dritten Stufe in standardisierter Form zusammen. In dieser Form werden sie zu einem Medium, welches das, was in einem Seminarraum geschieht, in zweifacher Weise nach außen transportiert: sie machen Kursinternes für ein breiteres Publikum potentieller Kooperationspartner und Förderer öffentlich sichtbar und sie liefern Richtwerte, an denen sich die künftigen Aktivitäten der Lotsen und die Integrationsanstrengungen ihrer migrantischen Klienten messen lassen müssen.
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Übungspraxis formatiert keine durch und durch ‚geständigen‘ Herkunftssubjekte, sondern bringt unterschiedlichste Erfahrungssubjekte hervor, die sich partizipativ in die sie subjektivierenden Szenen einbringen und so zugleich „dem kollektiven Erfahrungshaushalt wiederum ihren Stempel aufdrücken.“ (Buschmann 2013: 146). 3.2.6.4 Sich Bewegen in Selbst- und Weltverhältnissen: Ein „Strukturspiel“ „Die Entwicklung von Empathiefähigkeit wird durch einen selbsterfahrungsorientierten Perspektivenwechsel ermöglicht.“ MÜLLER-WILLE (2007: 15)
Auch das im Folgenden beschriebene Spiel bedient sich des Körpereinsatzes als Medium der Selbstbildung. Anders als bei der Verlandschaftungsübung werden Körper dabei nicht im Raum aufgestellt, um den angehenden Lotsinnen eine spezifische Selbstorientierung nahezulegen und ihre Herkunftsverortung nachhaltig spürbar zu machen, vielmehr werden die Körper nach bestimmten Spielregeln durch den Raum bewegt, um die Teilnehmenden in die Lage eines leiblichkognitiven Perspektivenwechsels zu versetzen und so ihre Empathiefähigkeit zu trainieren. Die Teilnehmerinnen werden aufgefordert, sich an einer Seite des Raumes nebeneinander aufzustellen und während des gesamten Spiels nicht mehr miteinander zu sprechen. Jede erhält nun ein Kärtchen. Die Trainer erklären, dass sie damit eine „neue Identität“ bekommen hätten, in die sie sich möglichst gut hineinversetzen sollten. Gleich würden sie Fragen gestellt bekommen, die eine bestimmte Situation beschreiben, welche für ihre neue Rolle entweder eine Möglichkeit darstellen könnte, oder nicht. Lautet die Antwort „Ja“, sollen sie einen Schritt nach vorn machen, bei „Nein“ haben sie stehenzubleiben. Die angehenden Lotsinnen lesen sich ihre Kärtchen aufmerksam durch und stellen sich nebeneinander auf. Das Spiel beginnt. Die nun folgenden Fragen, welche die Trainerinnen von kleinen Karten ablesen, beziehen sich bspw. darauf, ob eine Person weniger Rechte oder Probleme beim Reisen hat, abends Angst in der U-Bahn oder Schwierigkeiten bei der Adoption eines Kindes bekommen könnte. Bei manchen Fragen wirken die Teilnehmenden sich ihrer Sache sicher und bleiben entschlossen stehen bzw. gehen einen Schritt vorwärts. Meist zögern sie allerdings oder machen Schritte vor und zurück. Ein Abgleich mit dem, was die anderen tun, funktioniert hier nicht, verspricht keinerlei Orientierung. Während des Vorlesens betrachten die Trainer das Geschehen aufmerksam. Gelegentlich tauschen sie sich leise aus, sehen kurz in ihre Unterlagen und widmen sich dann wieder der Gruppe. Eine polnische Studentin, die relativ weit vorne steht, mutmaßt: „Da hinten stehen die ganzen Ausländer!“ Die Trainerin entgegnet: „Das
234 | M ITTLERSUBJEKTE DER M IGRATION ist nur ein Vorurteil und schon eine Bewertung.“ Die Studentin ruft daraufhin aus: „Nein, das ist ein Urteil, eine Feststellung!“ Die Trainerin gibt zu Bedenken: „Es könnte auch ein Mensch mit Behinderung sein. Oder eine alleinerziehende Mutter.“ Nachdem alle Fragen gestellt wurden, sollen die Lotsenanwärter ihre Identität lüften. Ganz vorne steht „Michael, 25 Jahre, Lehrer an einem Gymnasium in Dortmund, wurde in Dortmund geboren“, repräsentiert durch eine ältere Kursteilnehmerin. Neben ihm „Christine, eine 35-jährige Hochschuldozentin (Fachgebiet Pädagogik) an der Universität Bremen“, die von der polnischen Studentin vertreten wird. Ganz hinten steht „Carla, eine 28-jährige Lehrerin aus den Philippinen, die in Dortmund als Haushaltshilfe in einer deutschen Familie arbeitet und weder über eine Aufenthaltserlaubnis noch über eine Arbeitserlaubnis verfügt“. Sie wird von einer aus Indonesien stammenden Kursteilnehmerin dargestellt. Eine weitere Teilnehmerin steht als „Susanne, eine 30-jährige verheiratete deutsche Hausfrau mit zwei kleinen Kindern, wohnhaft in Dortmund“ im vorderen Mittelfeld. Während der jeweiligen Vorstellung hören die übrigen Teilnehmerinnen gespannt zu. Einige wirken skeptisch. Die aus Indonesien stammende Lotsenanwärterin, welche die philippinische Haushaltshilfe repräsentiert, ruft: „Wo sind denn die gut ausgebildeten Fachkräfte? Die müssen doch auch irgendwo stehen. Wenn solche Personen fehlen, kann das gefährlich sein. Man könnte ja denken, vorne stehen nur Deutsche und hinten nur Ausländer.“ Die Trainerinnen nicken ein wenig betreten. Eine blättert nervös die übrigen Kärtchen durch und murmelt: „Wir haben uns eigentlich bemüht, dass von allem was dabei ist.“ Zwei ältere Teilnehmer schließen an die Kritik an und sagen, dass auch Ältere gefehlt hätten oder eine deutsche Sozialhilfeempfängerin. Die indonesische Teilnehmerin meint: „Ich finde mich in dem Spiel nicht wieder. In Indonesien haben die Ausländer die Führungspositionen und die Einheimischen stehen ganz unten.“ Eine andere sagt, sie habe die Aufgabe gut gefunden, weil „man solche Unterschiede mal räumlich erfahren konnte“. Sie habe sich geärgert, wenn sie nicht nach vorne gehen durfte. Auch die indonesische Teilnehmerin meint, sie habe sich schlecht gefühlt, wenn sie stehen bleiben musste. Die polnische Studentin sagt, dass sie sich erst habe „in die Rolle hineinfinden“ und „sich daran gewöhnen“ müssen, dass sie „plötzlich immer nach vorne“ gehen durfte. Zum Abschluss der Übung erläutern die Trainerinnen die zentralen Zielsetzungen: Die angehenden Lotsinnen sollten sich die „unterschiedlichen Möglichkeitsräume“ der anderen bewusst machen, Einfühlungsvermögen entwickeln sowie „Unterschiede zwischen neu Eingewanderten und der deutschen Mehrheitsgesellschaft“, aber auch „andere Differenzen, wie das Geschlecht“, wahrzunehmen. Die räumliche Anordnung habe dabei „die unterschiedlichen Positionen der gesellschaftlichen Wirklichkeit widerspiegeln“ sollen.
In Anlehnung an Bourdieu lässt sich diese Trainingseinheit als eigentümliche Form einer „Strukturübung“ beschreiben, die ich zwecks begrifflicher Abgrenzung von Übungen im Folgenden als Strukturspiel bezeichnen werde. Die Ausbildungspraktik vollzieht sich weder über ein „Lernen durch schlichte Gewöhnung“ noch mittels expliziter Unterweisungen, vielmehr operiert sie in einem spielerischen Modus „des
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So-tun-als-ob“ (vgl. Bourdieu 1987: 138). Die Teilnehmer treten in diesem Spiel hinter ‚geliehene‘ Identitäten zurück, in die sie sich so weit hineinversetzen sollen, dass sie aus wenigen Informationen auf deren jeweilige Kapitalausstattung rückschließen und sich ohne lange Bedenkzeit der stellvertretend eingenommenen Position angemessen fortbewegen können. Die Angemessenheit von Bewegungen wird dabei nicht von expliziten Spielregeln vorgegeben, vielmehr wird ein implizites Wissen (Polanyi 1985) darüber vorausgesetzt – und weiter trainiert –, wer sich in dieser Gesellschaft aus welcher strukturellen Position heraus wie bewegen kann.166 Ging von dem Identitätsmolekül aufgrund seiner äußeren Gestalt die Aufforderung aus, dem Selbst eine spezifische Form zu geben, nötigen hier Identitätskärtchen dank ihrer semantischen Aufladung mit Diskursen um strukturelle Benachteiligungen von Alteritäten und Minoritäten den Teilnehmenden im intersubjektiven Spielgeschehen bestimmte Körperbewegungen (Stehenbleiben oder Voranschreiten) ab. Das Spiel fungiert dabei als Technik ebenso wie als Medium einer Herstellung von „ludischen Selbstverhältnissen“ (Strätling 2012: 20): Zug um Zug bringen die Teilnehmenden die durch die Karten präfigurierten sozialen Mobilitätsregeln performativ hervor und konstituieren so einen Spielraum, der spezifische Modi der Herstellung von Selbstbezügen bereitstellt. Den Lotsenanwärtern wird in diesem Spielraum sowohl eine Anschauung als auch eine Selbsterfahrung vermittelt, der zufolge Menschen in bestimmten sozialen Positionen hinderlichen bzw. ermöglichenden Strukturen gegenüberstehen. Der in dieser Ausbildungspraktik erzeugte Begegnungsraum entsteht nicht wie bei der Verlandschaftungsübung im Modus der Kulturalisierung, sondern im Modus der Strukturierung; er bringt Relationen zwischen strukturell Ungleichen hervor. Die Handlungsmacht einer Mitspielerin ergibt sich in der Konzeption des Spiels aus der mit ihrer Identitätskarte verbundenen objektiven Position, welche ihr über ihre Positionalität als Körper im Raum vermittelt wird. Wie bei der Verlandschaftungsübung geht es darum, eine primäre Erfahrung zu machen, wobei hier eine spezifische gefühlte Erkenntnis erzeugt werden soll: Die Teilnehmenden sollen lernen, wie es sich anfühlt, wenn man nicht mitziehen kann, von der Gesellschaft abgehängt wird oder ungehindert seiner Wege gehen kann. Genauer: sie sollen über das Medium des Spiels ein diesen Szenarien angemessenes emotionales Vokabular (de Sousa) erwerben (vgl. Kapitel 3.2.4.2). Entscheidend ist nun, dass der Spielraum der Selbsterkundung „einen Zwischen- oder Schwellenraum [bildet], einen Raum, der der sozialen Welt sowohl angehört als auch von ihr abgehoben“ und somit durch „ontologische Ambivalenz“
166 Michael Polanyi (1985) bezieht sich mit dem Konzept des impliziten Wissens (tacit knowledge) auf eine Form des Wissens, das sich durch seine Körperlichkeit auszeichnet und sich nicht explizit darstellen und beschreiben lässt.
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gekennzeichnet ist (Strätling 2012: 12).167 Das Spiel weist klare räumliche und zeitliche Grenzen auf und konstituiert insofern einen eigenen Raum, doch der im Spiel hervorgebrachte Erfahrungsraum ist zugleich auf Erfahrungswelten außerhalb des Spiels bezogen.168 So setzt das Strukturspiel an einem Wissen an, welches außerhalb der Spielwelt von den Teilnehmerinnen alltäglich und selbstverständlich gelernt, aber in unterschiedlicher Weise erfahren wurde. Dies führt dazu, dass die Teilnehmenden ihre außerhalb des Spiels gesammelten Erfahrungen permanent mit der Spielerfahrung abgleichen und deren Diskrepanzen mitunter explizit problematisieren: Manche finden sich in dem Spiel überhaupt nicht wieder, andere haben Schwierigkeiten, in die Rolle hineinzufinden und müssen sich erst daran gewöhnen, voranschreiten zu können. Ihnen fällt es schwer, von der Erfahrungswelt außerhalb ins Spiel zu finden und eine ungewohnte Position adäquat auszufüllen. Irritationen zeigen sich darüber hinaus im körperlichen Zögern oder Vor- und Zurücktreten von einigen Teilnehmern im Spielverlauf. Anders als bei der Verlandschaftung, die darauf ausgerichtet ist, den künftigen Lotsinnen über eine spezifische Platzierung im Raum die ihnen auch jenseits der Übung zugeschriebene ‚eigene‘ geographische, national-kulturelle und soziale Position leiblich erfahrbar zu machen, dient das Spiel gerade dazu, die Teilnehmenden körperlich neu zu situieren und für die Zeit des Spiels räumlich und sozial in eine Position zu versetzen, von der aus sie einen anderen Blickpunkt auf ihre Mitspieler und sich selbst erlangen, indem sie sich selbst zum Zuschauer werden. Das Spiel zielt somit einerseits auf eine Simulation der ‚Realität‘ gemäß einer im Spiel enthaltenen Wirklichkeitsauffassung (Nachbildung einer Gesellschaftsstruktur mit festen Positionen und damit verbundenen Möglichkeiten und Grenzen) und andererseits auf die Hervorbringung einer Spielrealität, die sich von der ‚echten‘ abhebt (Positionen sollen mittels Karten neu ‚verteilt‘ werden). Die Trainingseinheit ist darauf gerichtet, den angehenden Lotsen nicht nur „Einfühlungsvermögen“ und die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme zu vermitteln, sondern ihnen über die körperlich-leiblich gemachte Erfahrung struktureller Ungleichheiten zwischen Migranten und Einheimischen, Frauen und Männern etc.
167 Strätling verwendet den Begriff der „ontologischen Ambivalenz“ im Anschluss an Ingeborg Heidemann (1968): Der Begriff des Spiels und das ästhetische Weltbild in der Philosophie der Gegenwart, Berlin. 168 Mit Goffman lassen sich Spiele rahmentheoretisch als „Modulationen“ beschreiben, durch die „eine primär sinnvolle Tätigkeit in etwas transformiert [wird], was dieser nachgebildet ist, von den Beteiligten aber als etwas ganz anderes gesehen wird. Sie wissen vielmehr, daß es nicht das ist, was es zu sein scheint. Dabei gibt es räumliche und zeitliche Hinweise (Klammern), wann die Situation beginnen und enden soll.“ (Hettlage 1991: 138).
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auch einen spezifischen Sinn für Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit nahezubringen. Bereits während des Spielverlaufs und besonders in der Besprechungsrunde danach wird deutlich, wie die Teilnehmenden gerade diesen (Un-)Gerechtigkeitssinn einsetzen, um die Anforderungen und den spezifischen Verlauf des Spiels aus ihren jeweiligen Positionen, im Spiel und außerhalb des Spiels, heraus zu kritisieren. Der Spielraum soll mittels der Kartenverteilung als eine Art Miniatur der Gesellschaft konzipiert werden, in der sich, wie eine Trainerin sagt, „die unterschiedlichen Positionen der gesellschaftlichen Wirklichkeit widerspiegeln“ und „von allem was dabei“ ist. Dass diese Simulation der Realität aus Teilnehmerperspektive misslingt, zeigt sich daran, dass die angehenden Lotsen im Abgleichen des Spielraumes mit ihrer sozialen Erfahrungswelt zu der kritischen Feststellung gelangen, dass das Fehlen oder unbeabsichtigte Weglassen von Spielkarten bzw. sozialen Plätzen, bspw. für deutsche Sozialhilfeempfänger, ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit entstehen lasse. Besonders deutlich wird dies im Fall der indonesischen Studentin, die von einer der Trainerinnen die Position einer „philippinischen Haushaltshilfe mit illegalem Aufenthaltsstatus“ zugewiesen bekommen hat, und aus ihrer ‚realen‘ Position als gut ausgebildete Migrantin das Fehlen von Positionen für gut ausgebildete ausländische Fachkräfte kritisiert. Sie macht darauf aufmerksam, dass die Spielkarten zur Reproduktion jener Vorurteile beitragen, die mit dem Spiel erklärtermaßen problematisiert und abgebaut werden sollen. Hieran wird deutlich, wie sich das Material (Karten mit einer selektiven Anzahl von Positionen) und seine zufällige Auswahl als Sand im Getriebe der Ausbildungspraktik erweisen: die Praxis entfaltet im Verlauf eine Richtung, welche der programmatischen Ausrichtung der Ausbildungspraktik in gewissem Sinne buchstäblich entgegenläuft. Mit dem im Spiel trainierten Gerechtigkeitssinn wird somit zugleich ein spielkritisches Potential generiert, das die Teilnehmenden dazu animiert, in Abhängigkeit von ihrer sozialen und spielräumlichen Position eine je eigene Perspektive auf das Spielgeschehen zu entwickeln. Von diesem an der Kreuzung von Spiel und Nicht-Spiel hervorgebrachten Standpunkt aus vermögen sich die Lotsenanwärterinnen reflexiv zu ihrer spielerischen wie sozialen Positionierung ins Verhältnis zu setzen. Zusammengefasst kommt in dieser Trainingseinheit das Medium des Spiels zum Einsatz, um bei den Teilnehmenden eine Selbstreflexivität zu erzeugen, die sich auf die Welt außerhalb des Spiels bezieht und in dieser zur Anwendung kommt. Die regelgeleiteten Bewegungen im Raum sollen strukturelle Benachteiligungen spürbar machen und ein negativ besetztes emotionales Szenario entstehen lassen, das sich bei den Teilnehmenden so stark ‚einbrennt‘, dass es sie in der späteren Lotsenpraxis zu einem empathischen Umgang mit strukturell Benachteiligten
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befähigt. Auch in dieser Szene zeigt sich allerdings die Kluft zwischen einer programmatisch ausgerichteten Ausbildungspraktik und der Unverfügbarkeit und Kontingenz der Praxis. Die angehenden Lotsen setzten sich aufgrund der in der Praxis auftretenden Irritationen in ein kritisches Verhältnis zur Praktik und treten damit, aus einer auf die Vollzugsoffenheit der (subjektivierenden) Praxis fokussierten Perspektive, als Subjekte in Erscheinung. 3.2.7 Zwischenresümee Die Lotsenausbildung ist darauf gerichtet, Erfahrung in Wissen zu transformieren und zu diesem Zweck ein implizites Selbst, das sich unwillkürlich zeigt, in ein explizites Selbst zu verwandeln, das sich zum Reflexionsgegenstand macht, indem es über sich nachdenkt, über sich spricht und schreibt. Angeleitet von der programmatischen Vorstellung, dass migrantische Alltagshelfer zwar über Erfahrungen und Fähigkeiten verfügen, die aber ‚aus sich heraus‘ noch keinen Status als Wissen bzw. Kompetenzen beanspruchen können, zielen die Ausbildungspraktiken zum einen auf die Hervorbringung eines kollektiven Erfahrungsschatzes, der in Form von erfahrungsgesättigten Integrationsstandards in ein kanonisiertes und öffentlich zugängliches Wissen verwandelt wird. Diese Wissensfabrikation ist eingebunden in eine permanente Rückkopplungsschleife: Neben wissenschaftlichen Modellen werden Ergebnisse vorangegangener Kurse importiert, welche die Produktion aktueller Ergebnisse anleiten und in künftige Lotsenkurse exportiert werden können. Zum anderen konstituieren Ausbildungspraktiken zunächst verborgene individuelle Potentiale, aus denen legitime Begegnungskompetenzen, d.h. interkulturelle Kompetenzen im Umgang mit dem Fremden gebildet werden. Legitim werden diese dadurch, dass sie einer wissenschaftlichen Fundierung unterzogen und mit der Ausbildung von Selbstbegegnungskompetenzen i.S.v. Fähigkeiten der Selbstreflexion in „kulturellen Überschneidungssituationen“ (Grosch & Leenen 1998) verbunden werden: Interkulturelle Kompetenz kann, so die Annahme, erst unter der Voraussetzung entstehen, dass die Fähigkeit zur Selbstreflexion in ausreichendem Maße ausgebildet wurde. Das Ausbildungscurriculum bringt unterschiedliche Formen von Wissen bzw. ‚Prä-Wissen‘ somit in eine hierarchische Ordnung und sieht bestimmte Stufen- und Schrittfolgen für deren Einsatz vor. In ihrer praktischen Umsetzung werden diese sequentiell angelegten Zeit-Räume für (nicht) anerkannte Wissensformen allerdings häufig unterlaufen, so dass nicht nur programmatische und praktikenspezifische Vorgaben in der Praxis verändert, sondern auch Unterscheidungen zwischen Wissen und Nicht-Wissen situativ herausgefordert werden. Ein Expertenstatus und damit verbundene Machtpositionen von Teilnehmenden und Dozenten wie auch von zu Migranten bzw. Einheimischen gemachten Lotsenanwärterinnen werden auf die-
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se Weise performativ eingespielt. Dies geschieht insbesondere in Form von impliziten Pädagogiken (vgl. Alkemeyer 2013: 58f.), in denen sich Teilnehmende genauso wie Dozenten zu ‚Lehrmeistern‘ machen, indem sie das, was „aus dem sozial gestreckten Rahmen herausfällt“ (Adorno 1967, zit. nach Schörle 2003: 106) sanktionieren bzw. integrieren und reparieren und dem ‚Herausgefallenen‘ am eigenen Beispiel zeigen, wie ein Mittlersubjekt zu sein hat. Die zum Einsatz gebrachten Lehrformate – Unterrichtung, Befragung/Selbstthematisierung, Übung, Spiel – kooperieren in Hinblick auf das übergeordnete Ausbildungsziel und setzen dabei je eigene Akzente: In Kapitel 3.2.2 wurden Unterrichtungen nach einer ersten Sichtung des Materials als Praktiken des Referierens und Präsentierens von wissenschaftlichen oder rechtlichen Inhalten durch Dozenten oder Gastreferentinnen beschrieben, welche von den Teilnehmenden Aufnahmebereitschaft, eine weitestgehend stille Aufgabenbearbeitung sowie eine sachorientierte Präsentation von Ergebnissen verlangen. Im weiteren Verlauf zeigte sich hingegen, dass die unterrichteten sozialwissenschaftlichen Integrations- und Migrationsmodelle nicht für sich stehen, sondern beständig in Selbstthematisierungsaufgaben aktualisiert werden und als explizite oder implizite Orientierungsmarker für Selbstauskünfte fungieren. In ähnlicher Weise werden Modelle interkultureller Kommunikation und Konfliktbearbeitung nicht nur präsentiert, vielmehr leiten sie zugleich Spiele und Übungen methodisch-didaktisch an. Wir haben es somit weniger mit separaten Unterrichtsblöcken zu tun als vielmehr mit Unterrichtsinhalten, welche in den anderen Lehrformaten unmittelbar zur Anwendung kommen und diese in einer spezifischen Weise ausrichten. So geht es im zweiten Lehrformat der Selbstbefragung bzw. Selbstthematisierung um ein Schritt für Schritt erfolgendes Herstellen von sekundären Migrationsbzw. Integrationserfahrungen, die an sozialwissenschaftlichen Modellen orientiert sind. Diese Erfahrungen werden im Kursverlauf zu einer Migrations- bzw. Integrationsbiographie verdichtet, welche sowohl anschlussfähig an wissenschaftliche Expertendiskurse als auch durch die ‚am eigenen Leib gemachten‘ Erfahrungen der Kursteilnehmer ‚authentifiziert‘ ist. Als Migranten angerufene Kursteilnehmer sind somit ständig konfligierenden Adressierungen ausgesetzt: Einerseits werden sie als Subjekte mit individuellen Erfahrungen und Gefühlen adressiert und andererseits als Teile eines kollektiven Erfahrungs- und Gefühlssubjekts mit verallgemeinerbaren Erfahrungen sowie Gefühlen, die sich als numerische Größen miteinander vergleichen lassen. Im Ausbalancieren dieser konfligierenden Adressierungen üben sie sich in „Praktiken der Selbstbegründung“ (Vötsch 2010: 67), die auf persönliche, lebensgeschichtliche Narrationen rekurrieren und diese mittels Rückgriff auf ‚gesicherte‘ Daten wissenschaftlicher Studien zugleich objektivieren. Sie individualisieren und kollektivieren sich damit zugleich.
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Selbstthematisierungsaufgaben bringen als gedächtniswürdig erachtete Erfahrungen eines explizierten migrantischen Selbst hervor, die nicht mehr für sich stehen, sondern zu einer verallgemeinerbaren Migrations- bzw. Integrationsbiographie zusammengefasst werden, unter die sich alle möglichen vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen subsummieren lassen (müssen) und die Bezugspunkte für künftiges Erleben und Handeln bietet. Auf diese Weise wird ein spezifisches transsituatives Selbstverhältnis der sich als Migrationshintergründige bzw. Migrationsvordergründige konstituierenden Lotsenanwärter hervorgebracht. Zugleich wird auf diese Weise eine sachliche und soziale Ausweitung ihres Tätigkeitsbereichs im Vergleich zu jenem eines Alltagshelfers präfiguriert: Eine Erfahrung, die alle Migranten sowie sämtliche Probleme wie Möglichkeiten in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft betrifft, legt es den späteren Integrationslotsen nahe, nicht mehr nur Migranten in ihrem persönlichen Umfeld zu Behörden oder zum Arzt zu begleiten, sondern Migranten im Allgemeinen bei allen möglichen Problemlagen zu helfen, d.h. sich flexibel an den „Bedarf vor Ort“ („Richtlinie Integrationslotsen“ 2007, 2012) anzupassen. Teilnehmer, die in zahlreichen Ausbildungspraktiken zunächst als Einheimische, denen es an ‚authentischen‘ (eigenleiblichen) Migrationserfahrungen mangelt, subjektiviert werden, haben im Rahmen von Selbstthematisierungsaufgaben das Defizit einer fehlenden Integrationsbiographie bzw. eines Migrationshintergrundes auszugleichen und ihren Status als Integrierte zu verflüssigen und zu relativieren. Um Einlass in Begegnungsräume der Migration zu erhalten, werden sie unter Bezugnahmen auf längere Auslandsaufenthalte oder bi-kulturelle Partnerschaften zu Migranten – oder wenigstens: zu migrationshintergründigen Einheimischen – gemacht und sie machen sich selbst dazu, wenn es ihnen gelingt, sich etwa als Binnenmigranten ins Gespräch bringen und eigene Migrationserfahrungen kreativ herzustellen, die als solche von den übrigen Teilnehmerinnen (an-)erkannt werden. Geht es im Format der Befragung bzw. Selbstthematisierung um eine Erfahrungsfabrikation und den kontinuierlichen, schrittweisen Aufbau eines migrationshinter- bzw. vordergründigen Mittlersubjekts, vollzieht sich Subjektivierung im dritten Lehrformat der Übung in erster Linie qua Wiederholung.169 Hier geht es darum, dass Erfahrungen gemacht werden. Weniger sind es hierbei Subjekte, die Erfahrungen machen, als dass sich die Teilnehmer erst in der Erfahrung als Subjekte konstituieren. Besonders deutlich tritt das Wiederholungsmoment im Kompetenz-
169 Zu heuristischen Zwecken nehme ich hier idealtypische Unterscheidungen vor. Auch im Wege der (sekundären) Erfahrungsfabrikation machen die Teilnehmer selbstverständlich (primäre) Erfahrungen, die sie gleichsam konstituieren. Umgekehrt gehen die in Selbstreflexionsübungen hervorgebrachten Selbstbeschreibungen in die Erfahrungsfabrikation ein.
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training hervor, welches darauf gerichtet ist, interkulturelle Kompetenzen (Selbst-/ Begegnungskompetenzen) sowie Selbsteinschätzungs- und Entscheidungskompetenzen hervorzutreiben und weiter zu fördern. Hier sollen die Teilnehmer lernen, sich in ihre migrantischen Klienten hineinzuversetzen, diese zu verstehen und sie später auf eine spezifische Weise anzuleiten, ihnen Orientierung zu geben, kurzum: sie zu lotsen. Zugleich bilden diese Kompetenzen die Voraussetzung, um sich selbst ein auf ‚introspektiver Potentialanalyse‘ basierendes Lotsenprofil zu geben. Solche Lehreinheiten sind damit mal eher auf ein Training von Empathie ausgerichtet, die als notwendig für interkulturelle Überschneidungssituationen erachtet wird, und mal mehr auf die Einübung von Selbstempathie, die es ihnen erlauben soll, einen Zugang zu ihren verborgenen Gefühlen, Bedürfnissen, Ressourcen, Wünschen und Zielen zu finden. Kompetenztraining ist somit immer auch mit Selbstreflexionsübungen verbunden, in denen die Teilnehmenden lernen, den Blick auf das sich in diesem Blick konstituierende Selbst zu richten und es zu beschreiben (z.B. in schematischer Form eines Identitätsmoleküls). In den hierauf ausgerichteten Ausbildungspraktiken werden Selbstbegegnungsräume hervorgebracht oder, wie es eine Teilnehmerin formuliert, „Orte, um sich zu finden“. Während Selbstreflexionsübungen in erster Linie ein expliziertes, d.h. mündlich artikuliertes und schriftlich dokumentiertes Selbst zu sehen geben, bringen Körperübungen zusätzlich Beobachtungsdispositive hervor, in denen sich auch ein implizites Selbst in seinen Gesten, Gefühlsregungen oder unsicheren Körperbewegungen zeigt.170 Der Körper fungiert dabei als eine Fläche, die gerade nicht bloß oberflächlich ist, sondern sich durch ihren Verweischarakter auszeichnet: Was sich am und auf dem Körper für die Beobachtenden wie für den Beobachteten selbst zeigt, setzt einen Zuschreibungsprozess in Gang, der diesem ‚Außen‘ ein ‚Innen‘ zuordnet. Spiele als ein viertes Lehrformat haben mit Übungen gemeinsam, dass sie die üblichen Unterrichtsanordnungen auflösen und die Teilnehmenden neu ausrichten und (zueinander) positionieren und ähnliche Beobachtungsdispositive entstehen lassen. Sie unterscheiden sich dadurch, dass sie imaginäre Räume hervorbringen, welche die ‚Realität‘ und die damit verbundenen ‚echten‘ Positionen nicht nur symbolisch nachbilden oder simulieren (Verlandschaftungsübung), sondern auch
170 Nochmals sei unterstrichen, dass es mir nicht um eine Dichotomie zwischen Körper, Implizitem, Vorreflexivem auf der einen und Sprache, Explizitem, Reflexiven auf der anderen Seite geht. Körpergesten können ebenso explizit sein und eine praktische Reflexivität entfalten (so etwa die ‚Flügelschlaggeste‘ einer Teilnehmerin in der Verlandschaftungsübung, vgl. Kapitel 3.2.6.3) wie sich ‚Schriftspuren‘ unwillkürlich zeigen können, ohne dass sie mit einer Explikation einhergehen (dies wurde beim Identitätsmolekül deutlich, vgl. Kapitel 3.2.6.1).
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eine eigene Spielrealität hervorbringen (Strukturspiel). Spiele operieren nicht im Modus der Wiederholung, sondern sie zielen darauf ab, Irritationen zu erzeugen, ein Aha-Erlebnis zu initiieren und auf diese Weise Erkenntnisse zu befördern, die sich im (leiblichen) Gedächtnis der Teilnehmenden abspeichern. Sieht man die Lehrformate unter dem Gesichtspunkt ihrer medialen Einsätze zusammen, so wird deutlich wie die Sprache als „Werkzeug der Werkzeuge“ (Dewey 1995: 185) im Ausbildungsgeschehen ihren herausgehobenen Status verliert. Mündliche und schriftliche Selbstthematisierungen, Körperbewegungen sowie sprachliche Reflexionen darauf wirken als einander stützende Medien der Selbstbildung, indem sie gemeinsam dafür sorgen, dass Positionen mündlich besetzt und gespiegelt (Herkunftsdialog), schriftlich fest-gestellt (Identitätsmolekül), in Form von fixierten Positionen (Verlandschaftung) bzw. regelgeleiteten Bewegungen im Raum (Strukturspiel) verkörpert und leiblich gespürt werden. Auf diese Weise wird es den Kursleitern möglich, über unterschiedliche Kanäle einzugreifen und weitere Trainingsbedarfe einzuschätzen: Im mündlichen Dialog kann unmittelbar nachgehakt, erinnert und wiederholt werden. Anhand schriftlicher Dokumentationen, die innerhalb des Kurses wie zu Hause erstellt werden, werden Lernstände ablesbar, auf die mittels Planung nachfolgender Lehreinheiten reagiert werden kann. In Übungen und Spielen zeigt sich an den Körpern, wie eine darüber vermittelte Botschaft bei diesen ankommt, so dass sowohl unmittelbar nachjustiert als auch weitere Trainingseinheiten nachgeschoben werden können, um Lerneffekte zu erreichen bzw. zu vertiefen. In allen Lehrformaten wird dabei deutlich, wie sich zu Migranten gemachte Lotsenanwärter in einem Spannungsfeld widersprüchlicher Erwartungen zu bewegen haben: Um sich als Mittlersubjekte intelligibel machen zu können, dürfen sie den Status ihres Migrant-Seins gerade nicht hinter sich gelassen haben, vielmehr müssen sie diesen immer wieder performativ in Geltung setzen und ihre Fremdheit für andere glaubhaft verkörpern. In Verlandschaftungsübungen und damit verbundenen Sprachspielen des Herkunftsdialogs wird ihnen nahegelegt, sich als vorbildlich integrierte Migrantinnen zu zeigen und zugleich ihren ‚ursprünglichen‘ kulturellen Wurzeln treu zu bleiben. Ihre Integrationsbiographie steckt für sie selbst und ihre künftigen Klienten einen Erwartungshorizont ab und wirkt so gewissermaßen als Fluchtpunkt, während ihr Migrationshintergrund als Fixpunkt bestehen bleibt. Hieraus folgt, dass das Kapital, welches sich aus einer idealen Integrationsbiographie ergeben kann, nur um den Preis einer kontinuierlichen performativen Aufrechterhaltung des eigenen Migrationshintergrundes oder gar dessen Transformation in einen Migrationsvordergrund abzuschöpfen ist. Werden in der Ausbildung Mittlersubjekte der Migration bzw. Einheimische und Migrantinnen also schlicht gemäß eines Programms gemacht? Haben wir es gar mit einer „Tyrannei der Partizipation“ (Cooke & Kothari 2001) zu tun, bei der eine
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bloß fingierte Beteiligung der Teilnehmer ausgebeutet wird, um einem Programm, das beansprucht durch den ‚Input‘ von Betroffenen entstanden zu sein eine höhere Legitimität verschafft?171 Das bisherige Resümee mag diesen Eindruck zunächst erwecken: Erfahrungen werden fabriziert, Kompetenzen eingeübt und Erkenntnisse leiblich eingeprägt. Wie verhält es sich mit der Selbstbildung der Teilnehmenden, wie machen sich diese selbst zu Mittlersubjekten? Zunächst lässt sich festhalten, dass im Laufe des Lehrgangs Begegnungsräume einerseits durch ein doing difference entlang (national-)kultureller Differenzmarkierungen bzw. der Unterscheidung Migrant vs. Einheimischer hervorgebracht und aufrechterhalten werden. Andererseits werden kulturalisierende Rahmungen in der Praxis immer wieder umstritten und mitunter ausgehebelt. Nicht selten überlappen sich Begegnungsräume der Migration dabei mit anderen Begegnungsräumen oder bringen neue hervor, die sich über die performative Aktualisierung anderer Unterscheidungen, bspw. Geschlecht, Alter oder funktionale Differenzen zwischen Lehrenden und Lernenden oder im Modus der Individualisierung (jeder ist anders) bzw. Universalisierung (alle sind gleich) konstituieren. Das Dispositiv der Integration bildet für diese Begegnungsräume einen Kontext, der in Wechselwirkung mit situierten Vollzügen tritt. So werden in den lokal erzeugten Sprachspielen und Beobachtungsdispositiven bestimmte Bezeichnungs- und Visibilisierungspraktiken des Integrationsdispositivs aktiviert, während andere ruhen oder irritiert werden. Das Integrationsdispositiv erscheint vor diesem Hintergrund nicht als eine sich selbst am Laufen haltende Apparatur, sondern als ein „Ressourcenkomplex“, der mittels unzähliger „Vermittlungsleistungen“ der vor Ort Anwesenden, welche „die Sprache mit dem Körper, den Objekten und der Umgebung“ verbinden, situativ entfaltet werden muss (vgl. Dodier 2011: 96). Die auf diese Weise in den Begegnungsräumen hergestellten und diese gleichsam konstituierenden Machtverhältnisse zwischen jenen, die als Einheimische und jenen, die als Migranten angerufen werden und sich selbst dazu machen, bringen dabei in der situierten Praxis immer wieder auch ‚ungewohnte‘ Etablierte (z.B. migrantische Teilnehmer als Experten) und Außenseiter (einheimische Dozenten als Laien) hervor. Die Subjektivierung von Mittlersubjekten der Migration vollzieht sich somit nicht gemäß einer top down gerichteten Disziplinierung oder einer dressurartigen Inkorporierung von Normen und Erwartungen durch bloßes Mittun.172 Vielmehr
171 Bill Cooke und Uma Kotahri (2001) beziehen sich auf partizipative Ansätze in Projekten der Entwicklungszusammenarbeit. 172 Eine solche Sichtweise legt Reckwitz nahe: „Wenn ein Mensch eine Praktik erwirbt, dann lernt er, seinen Körper auf bestimmte, regelmäßige und ‚gekonnte‘ Weise zu bewegen und zu aktivieren oder besser: auf eine bestimmte Art und Weise Körper zu ‚sein‘.“ (Reckwitz 2003: 290).
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bringen sich die Teilnehmer mit ihren trainierten Kompetenzen aktiv in ‚ihre‘ Subjektivierungsszenen ein, wirken an der normativ-intentionalen Entfaltung der Praxis mit und setzen ihre Kompetenzen mitunter ein, um am Trainingsprogramm selbst, im doppelten Sinne, Kritik zu üben. Selbstthematisierungen werden darüber hinaus nicht nur formativ, sondern im Ausbalancieren konfligierender Adressierungen bzw. Imperative (‚Sei einzigartig!‘ und ‚Sei repräsentativ!‘) auch kreativ hergestellt. Insbesondere Übungen und Spiele werfen aus Sicht der (programmverantwortlichen) Dozentinnen zudem ein Beobachtungsproblem auf, lässt sich doch auch im Rahmen der oben erwähnten Beobachtungsdispositive nie vollständig beobachtbar machen, welche Erfahrung tatsächlich gemacht wird und somit auch nicht sicherstellen, ob das anvisiertes Übungsziel einer spezifischen, leiblich vermittelten Erkenntnis tatsächlich erreicht wird. Dieses Problem der ‚Schweigsamkeit der Erfahrung‘ wird versucht, mittels einer Transformation der primären in eine sekundäre Erfahrung handhabbar zu machen, lässt sich jedoch nicht auflösen. Das Beobachtungsproblem stellt sich aus programmatischer Perspektive als ein Kontingenzproblem dar, das aus einer vollzugsoffenen Praxis erwächst, die stets einen eigensinnigen Verlauf nehmen kann. So bringen sich Kursteilnehmer in Übungen und Spielen als Erfahrungssubjekte hervor, die „dem kollektiven Erfahrungshaushalt wiederum ihren Stempel aufdrücken“ (Buschmann 2013: 146) und so dafür sorgen, dass die performativen Erfahrungsräume der Praxis und die Erwartungshorizonte einer Praktik oftmals auseinandertreten. Lotsenanwärter entziehen sich bspw. eindeutigen Positionierungsanforderungen, indem sie sich mittels expressiver Gesten fliegend Raum greifen (Verlandschaftungsszene) oder im Sinne eines „schöpferischen Antwortens“ (Alkemeyer 2013: 43) einen ganz eigenen Platz in der Welt für sich reklamieren.173 Zu solchen Reibungspunkten der programmatisch ausgerichteten Ausbildungspraktiken werden ebenso kritische Kommentare, die auf den Status von Übungen als Übungen abheben oder ein zauderndes, antwortendes Nichtanworten, das die Versuche eines Dozenten, ein allgemeines Integrationsprogramm zu erarbeiten ins Leere laufen lässt.174 In all diesen Zusammenhängen erscheinen die Kursteilnehmer nicht als einseitig Zugerichtete eines Programms oder Eingepasste in eine Ordnung (im Sinne eines überschwebenden Dispositivs oder einer rekrutierenden Praktik), sie machen sich in der Praxis vielmehr zu Subjekten ihrer Selbstbildung.
173 Vgl. Kapitel 3.2.6.3 sowie 3.2.3.2. 174 Vgl. Kapitel 3.2.4.2 sowie 3.2.5.1.
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3.3 Ü BERGÄNGE „Ich weiß immer noch nicht, was so ein Lotse eigentlich genau macht.“
Zum Ende der Lehrgänge breitet sich in den Seminarräumen regelmäßig eine Atmosphäre aus Unmut, Unsicherheit und ungeduldiger Aufbruchstimmung aus.175 Die Lotsenanwärter sind in ihrer bisherigen Ausbildung auf spezifische Sprachspiele der Integration und Selbstthematisierungsweisen geeicht worden, sie haben Begegnungs- und Selbstbegegnungskompetenzen, Selbsteinschätzungs- und Entscheidungs- bzw. Grenzziehungskompetenzen ausgebildet und etwas über die vielfältigen „Handlungsfelder der Integrationsarbeit“ gelernt (vgl. Kapitel 3.2.5.1). Was sie bisher nicht gelernt haben, ist, so die Kritik einer Kursteilnehmerin, was so ein Lotse eigentlich genau macht. In den folgenden Kapiteln wird gezeigt, wie die Lotsenanwärter mittels unterschiedlicher Verfahren und damit verbundener Appelle am Ende ihrer Ausbildung schrittweise auf die Lotsenpraxis vorbereitet werden.176 „Verfahren“ meint dabei „dasjenige Vorgehen, das nicht (oder nur zu missverständnisträchtigen Teilen) auf vorweg angebbaren Regeln beruht, sondern sich – allein faktisch, technisch oder praktisch kunstvoll – den wichtigeren Teil seiner Regeln erst unterwegs erfindet, gleichwohl aber aus Erfahrung um sein schlussendliches Gelingen weiß. Verfahren ähneln dem konstruierenden Vorgehen des Ingenieurs. Sie sind problemorientiert, richten sich auf die konkreten Gegebenheiten eines Gegenstandsfeldes jeweils neu ein und umschließen auch Selbstabweichungen wie die bastelnde Vorgehensweise des Surrealismus. Sie beruhen aber auf Wissen, nicht auf Spekulation. Dieses Wissen steckt aber im Tun – und ist daher nicht sagbar.“ (Gehring 2009: 381f, Herv. AQ). Die ersten drei Kapitel beschreiben Verfahren, mittels derer die künftigen Lotsen an institutionelle Erwartungen herangeführt werden (3.3.1), einen Einblick in die Lotsenpraxis gezeigt bekommen (3.3.2) sowie auf ihre Tätigkeit eingestimmt und für die Bearbeitung akuter Fälle und ein Spektrum an Möglichkeiten aktiviert werden (3.3.3). Die darauffolgenden Kapitel widmen sich einem eignungsdiagnostischen ‚Tastverfahren‘ (3.3.4) sowie der Zertifizierung der Lotsen (3.3.5).
175 Unter Atmosphären verstehe ich in Anlehnung an Hermann Schmitz räumlich verfasste Gefühle, „die sich über viele Menschen gemeinsam legen können“ und mitunter von denjenigen getragen werden, über die sie sich legen (Schmitz 1990: 293). 176 Appelle sind nach Schmitz Formen der Darstellung eines Programms durch Worte oder Gesten, in der Absicht, es zur Geltung zu bringen (vgl. Schmitz 1990: 323).
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3.3.1 Institutionelle Erwartungen und ihre spannungsvollen Verkörperungen Im letzten Drittel der Ausbildung erhalten die angehenden Lotsinnen regelmäßig Besuch von Vertretern der Migrationsberatungsstellen, der städtischen Ausländerbehörden, lokalen Vereinen, Integrationsprojekten, Bildungseinrichtungen oder Freiwilligenagenturen sowie spezieller Einrichtungen im Fall von Eltern- und Hochschullotsen.177 Im Feld werden diese Akteure meist kurz als „Hauptamtliche“ bezeichnet. Laut Handbuch werden Gäste aus „relevanten Einrichtungen“ (MüllerWille 2007: 5) von den Projektkoordinatoren eingeladen, um Kooperationsideen vorzustellen oder diese mit den angehenden Lotsinnen zusammen zu erarbeiten (3.3.1.1) und gegebenenfalls erste „Probeeinsätze“ (ebd.: 85, Herv. AQ) mit ihnen zu vereinbaren (3.3.1.2). Die Lotsenanwärter werden dadurch mit institutionellen Erwartungen konfrontiert, welche durch deren Vertreter – mitunter reibungsvoll – verkörpert werden (vgl. Boltanski 2010: 115ff.).178 3.3.1.1 Kooperationsideen und Harmonisierungsappelle Der Leiter einer Kindertagesstätte führt in seinen Gastvortrag bei den Elternlotsen mit der Information ein, dass in seiner KiTa einundfünfzig Prozent Kinder mit Migrationshintergrund seien und bloß siebzehn Prozent der Mitarbeiterinnen einen Migrationshintergrund hätten. Dies sei bedauerlich zumal man ja wisse, dass „Muttersprachler vielfach als Agenten wirken können und Brücken bauen“, wobei sie „nichtsdestotrotz die fachlichen Qualifikationen mitbringen“ müssten. Nach einer kurzen Diskussion darüber, unter welchen Voraussetzungen mehr Menschen mit Migrationshintergrund in derartigen Einrichtungen beschäftigt werden könnten, fragt die Projektkoordinatorin schließlich, wie die Elternlotsinnen in diesem Bereich helfen könnten. Der KiTa-Leiter nennt daraufhin einige Punkte: Die Lotsen könnten den Eltern bestimmte „Behörden in Elternbildungskursen näher bringen“. Er könne sich „VorleseOmas, die sonst nur deutsche Märchen vorlesen“, vorstellen. Die Lotsen könnten Patenschaf-
177 Elternlotsenkurse werden bspw. von Vertreterinnen der Familienhilfe, von (migrantischen) Elternvereinen oder schulischen Elternbeiräten besucht, während Gastreferenten der Hochschullotsen hauptsächlich universitätsinterne Einrichtungen repräsentieren, etwa studentische Einrichtungen für (internationale) Studierende, psychosoziale Beratungsstellen oder Sprachenlehrzentren. 178 Boltanski (2010: 117) beschreibt eine Institution als „ein körperloses Wesen, dem die Aufgabe übertragen wurde, zu sagen, was es mit dem, was ist, auf sich hat.“ Da sich Institutionen als körperlose Wesen nicht äußern können, haben sie diese Aufgabe an körperliche Wesen zu delegieren und sich so „in Sprechern zu inkarnieren“ (ebd.: 132, Herv. i.O.).
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ten für Kinder übernehmen. Den Eltern könne durch die Lotsen „eine sinnvolle Freizeitgestaltung näher gebracht werden, das heißt, wie gestalte ich ein positives Familienleben?“ Einen Lotsen begreife er als jemanden, „der sowohl die eigene als auch die andere Kultur versteht und zusammenbringen kann“. Vor diesem Hintergrund könne eine weitere Aufgabe der Lotsinnen darin bestehen, „Symbole und Rituale zu vermitteln, zu erklären und nahe zu bringen.“ Er führt diesen Aspekt weiter aus: „So im Bereich von Kulturtechniken und Kulturwissen könnte ein Lotse eine wichtige Funktion haben, weil das immer ein kommunikativer Prozess ist. Aufgeschrieben finde ich das schrecklich. Das hat dann immer so was von Schubladenwissen.“ Als letzten Punkt führt der Referent an, dass die Lotsen dafür sorgen könnten, dass „nicht ganz autoritär die große KiTa-Leitung den kleinen Eltern etwas erklärt, sondern ein Lotse könnte das tun.“
Das von dem KiTa-Leiter entworfene Spektrum möglicher Kooperationsideen (Vermittlung zwischen Eltern und Behörden, Patenschaften, Gestaltung von Familienleben und Freizeit) könnte zunächst alle Kursteilnehmer betreffen. Schon in der Einleitungssequenz wird jedoch eine allgemeine Verstehensweise aktualisiert, der zufolge Kinder mit Migrationshintergrund auch einer Betreuung durch migrationshintergründige Fachkräfte bedürfen und „Muttersprachler“ in besonderer Weise als „Agenten“ und Brückenbauer fungieren können.179 Mit dem anschließend explizierten Verständnis eines Lotsen als jemand, der über eine „eigene“ und eine „andere“ Kultur verfüge, zwischen denen er „vermitteln“, die er „erklären“ und „nahe bringen“ könne, werden auf diese Weise migrationsvordergründig gemachte Lotsenanwärter selektiv adressiert und all jene ohne „andere“ Kultur aus diesem im Modus der Kulturalisierung hergestellten Begegnungsraum ausgeschlossen. Sie sind, mit Goffman, noch anwesend in der Situation, jedoch nicht mehr Teil der Begegnung. Angerufen wird der migrantische Lotse als jemand, der „Kulturtechniken“ und „Kulturwissen“ – d.h. sein Wissen vom eigenen Fremden – nutzbar macht, um zu einem besseren Verstehen des anderen Fremden beizutragen. Seine Mittlerposition ist die eines kulturellen Übersetzers zwischen Migrantinnen und Einheimischen. Diese Adressierung steht im Einklang mit jener des Lehrgangskonzeptes, demzufolge ein Lotse „durch kulturelle Übersetzungsarbeit (nicht im wörtlichsprachlichen, sondern im deutend-wahrnehmenden Sinn) ein Ankommen ermöglichen soll“ (Müller-Wille 2007: 7, Herv. AQ). Einerseits wird dabei ein Verständnis
179 Aktualisiert wird damit eine im Nationalen Aktionsplan Integration für den Bereich frühkindlicher Förderung erhobene Forderung: „Im Kontext des Betreuungsplatzausbaus ist es dringend erforderlich, zusätzliches pädagogisches Personal für Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege zu gewinnen und zu qualifizieren. Dabei sind insbesondere die Potenziale pädagogischer Fachkräfte mit Migrationshintergrund stärker als bisher zu erschließen.“ (Bundesregierung 2011: 35).
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von kultureller Übersetzung aufgerufen, das an postkoloniale Theorieansätze erinnert, indem die Prozesshaftigkeit und Hybridität von Kultur bzw. von kulturellen Übersetzungsvorgängen betont wird (vgl. Bhabha 1994). Andererseits orientiert sich die Gegenüberstellung von monolithischen Blöcken einer „eigenen“ und einer „anderen“ Kultur an einem klassischen Übersetzungsideal, das Kriterien wie „Original, Treue, Äquivalenz, Repräsentation“ (Bachmann-Medick 2004) verpflichtet bleibt und ein ontologisch-essentialistisches Kulturverständnis impliziert. Die Wechselseitigkeit der Übersetzung hebt sich dabei im einseitigen Ankommen auf. Kulturelle Übersetzung durch eine Lotsin zeichnet sich dadurch aus, dass sie – darauf lässt die Vorrede des Kita-Leiters schließen – keiner besonderen fachlichen Qualifikation bedarf und nicht auf ein schriftliches „Schubladenwissen“ zurückgreift, sondern einen kommunikativen Prozess anregt. Es wird ein Ideal mündlicher Interaktion entfaltet, das mit Offenheit, Austausch, Wechselseitigkeit und Symmetrie assoziiert ist, während die Weitergabe eines schriftlichen Kulturwissens im Verdacht steht, einseitig und fixierend zu sein und Asymmetrien zu befördern. Das Mündliche wird dem Schriftlichen ferner als „Vermittlungsmodus von Wahrheit und Wahrhaftigkeit“ (Scheffer 2001: 108) vorgezogen, da es für das authentische, individuell Erfahrene und nicht für ein erlerntes Wissen steht, das in Schubladen abgelegt werden und letztlich von jedem gelernt werden könnte. Die Begriffe des Wissens und der Erfahrung werden damit ähnlich gefüllt wie im Lehrgangsprogramm, aber in Bezug auf migrationsvordergründig gemachte Lotsen in eine umgekehrte normative Ordnung gebracht: Die theoretisch ‚unbelasteten‘ Erfahrungen von Migranten werden gegenüber wissenschaftlichem Wissen aufgewertet. Anderes gilt hingegen für migrantische Fachkräfte, die „nichtsdestotrotz die fachlichen Qualifikationen mitbringen“ müssen. Den allein aus ihren Erfahrungen und ihrer Betroffenheit schöpfenden Lotsen wird somit zugleich ein professioneller Status, der an fachliche Expertise gebunden wird, abgesprochen. Ein Lotse wirbt, wie es im Ausbildungscurriculum heißt, um „Verständnis“ für Handlungsanweisungen und Aufgaben von Behörden (Müller-Wille 2007: 40). Der KiTa-Leiter setzt diesen Appell situativ in Geltung, indem er die künftigen Lotsen nicht nur als Mittler zwischen nationalen Kulturen, sondern sozusagen zugleich als Vermittler institutioneller Kulturen adressiert: Auch zwischen Migrantinnen und Behörden, insbesondere zwischen „kleinen“ Eltern und der „große[n] KiTaLeitung“ sollen Lotsen ausgleichend und harmonisierend wirken und den autoritären Modus von Institutionen gewissermaßen ‚abpuffern‘. Übersetzt man dies in eine prominente Feldterminologie, ist der Lotse für die Herstellung von Niedrigschwelligkeit zuständig: Er dient dem ‚Abflachen‘ von Hierarchien und bringt Migrantinnen das ‚Notwendige‘ – Erwartungen von Bildungseinrichtungen und Behörden, ein positives Familienleben, eine sinnvolle Freizeitgestaltung etc. – na-
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he, jedoch auf einfache, leicht verständliche, behutsame und versöhnliche Art und Weise.180 Zusammengefasst konstituiert sich das von dem KiTa-Leiter entworfene Bild des migrationshintergründigen Lotsen über ein Ensemble von Oppositionen, die über Äquivalenzketten miteinander verbunden sind: Informell vs. formell, nicht institutionalisiert vs. institutionalisiert, mündlich vs. schriftlich, Erfahrung vs. Wissen, Praxis vs. Theorie, ausgleichend vs. autoritär. Die Kooperationsideen beziehen sich auf ein mit Ausgleich und Fürsorge assoziiertes und in diesem Sinne weiblich konnotiertes Subjekt, an das sich Appelle zur Harmonisierung der Beziehungen zwischen Einheimischen und Migranten im Allgemeinen sowie zwischen einheimischen Institutionen und Migranten im Besonderen richten.181 3.3.1.2 Kraftprobe Probeeinsatz: Subjektivierung mit der und über die Institution hinaus Mit der folgenden Szene, in der nicht nur mögliche Kooperationsideen, sondern bereits erste Probeeinsätze im Vordergrund stehen, möchte ich lediglich kurz auf eine etwas andere Variante des Harmonisierungsappells eingehen und die Aufmerksamkeit dann stärker auf eine konflikthafte Dynamik richten, aus der sich etwas über die Verflechtung von Institutionalisierungs- und Subjektivierungsprozessen ablesen lässt. Die Projektkoordinatorin stellt den heutigen Gast, Frau M., als Vorsitzende einer Leitstelle aus dem Bildungsbereich vor und erläutert, dass Frau M. eine Projektidee an sie „herangetragen“ habe, die sie gerne weitergebe. Die kurze Vorstellung schließt sie mit den Worten ab: „Ich komme ja aus der Türkei und bin kollektiv aufgewachsen und bin daher immer offen für spontane gemeinsame Projektideen.“
Mit dieser Einleitung setzt sich die Koordinatorin des Integrationslotsenprojekts als eine migrationshintergründige Entscheidungsinstanz ein. Sie spricht nicht nur als institutionelle Vertreterin des Lotsenprojekts, sondern auch als jemand türkischer Herkunft. Assoziiert wird diese Herkunft mit ‚kulturellen Eigenschaften‘ wie Kollektivität, Offenheit und Spontaneität, die mit Persönlichkeitseigenschaften gleichgesetzt werden und so nicht nur ihre Kultur, sondern auch einen spontanen, offenen Umgang mit Kooperationsideen kennzeichnen. Als Entscheidungsinstanz werden
180 Ausführlicher wird auf den Topos der Niedrigschwelligkeit in Kapitel 3.4.2.1 eingegangen. 181 Wie die dabei zwischen den Lotsen und ihren Klienten hergestellte Symmetrie dazu beiträgt, bestimmte Asymmetrien zu befestigen, wird in Kapitel 3.3.2 herausgearbeitet.
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an sie Projektideen „herangetragen“ und sie befindet darüber, ob und inwiefern sie diese an die Lotsinnen weitergibt. Frau M., die von mehreren Schülerinnen begleitet wird, stellt sodann ein Projekt zur Integration von vor allem aus dem Irak und Afghanistan stammenden jugendlichen Flüchtlingen vor. Sie möchte die Integrationslotsinnen „möglichst bald für die Mitarbeit gewinnen“. Es gehe dabei nicht nur um Übersetzung, erklärt sie, denn dafür könne auch ein Dolmetscher besorgt werden. Vielmehr sei „Begleitung“ gefragt. Es könne „jemand aus beiden Kulturen“ sein, deutsch oder arabisch. Die Jugendlichen hätten eine „spezifische Sozialisation“ durchlaufen, seien eher „abwartend“ und bräuchten „Anleitung“ und, so bekräftig sie nochmals, „Begleitung“. Die Lotsen könnten den Migranten die wichtigsten administrativen „Anlaufstellen“ in der Stadt sowie Sport- und Freizeitstätten zeigen, damit sie wüssten, „was sie so in ihrer Freizeit machen können.“ Später solle es ein „kulturell gemixtes Fest“ geben, wo „jeder seinen Beitrag leisten“ könne. Hiermit wolle man erreichen, „dass sie ein bisschen lockerer werden“; es solle ein „spielerisches Kennenlernen“ erfolgen, so „dass sich alle ein bisschen aufeinander einlassen“. Die Projekttage hätten auch den Zweck, die „Zeit zu überbrücken, so dass sie [die Flüchtlinge] nicht die ganze Zeit in der Luft hängen“. Die Flüchtlinge seien „sehr liebe, nette, aufgeschlossene Menschen, die sich freuen, wenn sie so aufgenommen werden.“
Integrationslotsen werden in dieser zweiten Szene zunächst noch expliziter von sprachlichen Übersetzern abgegrenzt als in der ersten und weniger als interkulturelle Vermittler denn als Begleiter der Flüchtlinge adressiert. In der Figur des Begleitens tritt ein Führungsprinzip hervor, das auf einer sanften, kaum wahrnehmbaren Lenkung basiert. Kann eine Vermittlung an einem festen Ort stattfinden, macht es die Begleitung erforderlich, sich mit dem Begleiteten mitzubewegen, sich ‚im Gleichschritt‘ auf dessen Tempo einzulassen und zugleich vorausschauend den gesamten Weg im Blick zu haben, so dass etwaige Hindernisse antizipiert und auf leichteste Wegabweichungen sensibel reagiert werden kann. Leiblich-körperlich eingeübt wird diese Form der Begleitung während der Ausbildung in dem bereits erwähnten Spiel „Blinde führen“ (vgl. Kapitel 3.2.4.3), bei dem die angehenden Lotsinnen lernen, ihre Partner, deren Augen verbunden sind, nur mittels leichter Berührungen oder leisen Flüsterns durch einen Raum zu führen und sich ihrerseits auch einer solchen Führung zu überlassen, um eine entsprechende Empathiefähigkeit auszubilden. Handelt es sich vom Ausbildungscurriculum her also um ein Führungsprinzip, das jede Lotsin nach entsprechendem Training beherrschen sollte, werden von der Leitstellenvorsitzenden gleichwohl diejenigen Teilnehmer, die „aus der arabischen Kultur“ kommen aufgrund ihrer eigenen Betroffenheit als besonders disponiert für eine solche empathische Begleitung angesehen und daher gesondert adressiert.
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Eine Teilnehmerin meldet sich und erwähnt ihren Mann, der aus Kenia stamme und einen Weg finden wolle, um „seine Erfahrungen hier weiterzugeben.“ Sie fragt, ob auch er an den Projekttagen teilnehmen könne, ohne dass er an dem Lotsenkurs teilgenommen hat. Frau M. und die Koordinatorin sehen einander an und zögern. Die Fragende fügt hinzu: „Er spricht auch Arabisch.“ Frau M. ruft daraufhin begeistert aus: „Das ist natürlich toll, natürlich darf er kommen!“ Schnell geht ihr Blick daraufhin zur Koordinatorin des Lotsenprojektes, deren Gesichtszüge sich verhärten. Frau M. wirkt unsicher und lächelt verlegen. Die Koordinatorin meint daraufhin knapp und mit verschränkten Armen: „Sie entscheiden. Von meiner Seite aus geht das in Ordnung.“ Zwei weitere Teilnehmer ohne Migrationshintergrund sowie eine aus Afghanistan stammende Lotsin melden ebenfalls Bereitschaft an, an den Projekttagen mitzuwirken und werden von der Leitstellenleiterin auf der Stelle schriftlich als Mitwirkende festgehalten. Die Koordinatorin wendet sich daraufhin an die Projektleiterin und meint sachlich, bestimmt: „Sie halten mich während des Projekts auf dem Laufenden.“ Mit Blick ins Plenum sagt sie nochmals, dass ihr die Projektbeschreibung „vorgelegt“ worden sei und dass sie „recht spontan entschieden“ habe zu kooperieren, da sie „das wichtig“ fände. Ihr sei die „Nachhaltigkeit“ der Kooperation wichtig, weshalb das Projekt auch im nächsten Lotsenkurs vorgestellt werden solle.
Mit Bourdieu tritt aus feldtheoretischer Perspektive in den Blick, dass die für ihren Ehemann sprechende Lotsenanwärterin den Sinn für das Spiel erfasst hat, indem sie gekonnt die Migrationserfahrung ihres Mannes einspielt. Diese wird zu biographischem Kapital auch ohne, dass sie durch die Lotsenausbildung in spezifischer Weise aufbereitet und formatiert wurde. Wenngleich sich damit der Einstieg des kenianischen Ehemannes in das Projekt vorzubereiten scheint, wird im weiteren Verlauf deutlich, dass sich das biographische Betroffenheitskapital des Ehemannes nicht als die entscheidende Kapitalsorte durchsetzen kann. Anders als es die vorangegangene Sequenz vermuten lassen würde, geben nun vielmehr seine arabischen Sprachkenntnisse im Sinne kulturellen Kapitals den Ausschlag für die Kooperationspartnerin und erweisen sich letztlich als die höher dotierte Währung. Was in dieser Situation überhaupt als Kapital eingesetzt werden kann und welche Wertigkeit und Position damit jeweils verbunden ist, wird von den Teilnehmern also mit jedem neuen Spielzug aktiv hervorgebracht. Auf diese Weise bildet sich im Verlauf ein Positionengefüge heraus, das in zwei zentralen Aspekten von dem anfänglich hergestellten abweicht: Zum einen ist als Lotse nun doch eher ein Dolmetscher als ein Orientierungshelfer mit Ortskenntnissen gefragt. Zum anderen setzt sich letztlich nicht die Koordinatorin des Lotsenprojekts als Entscheidungsinstanz durch, sondern die Kooperationspartnerin, indem diese nicht nur über die mitzubringenden Voraussetzungen befindet, sondern angehende Lotsen und sogar eine abwesende Person ohne Lotsenausbildung ‚vom Fleck weg‘ engagiert. Das Feld tritt damit immer
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deutlicher als ein Kampffeld in Erscheinung, auf dem um Entscheidungshoheit und legitime Deutungsmacht gerungen wird. Statt die feldtheoretische Perspektive und Boltanskis institutionentheoretischen Ansatz der Kritik, der sich in Abgrenzung hierzu versteht, gegeneinander auszuspielen, werde ich im Folgenden zwischen beiden Perspektiven wechseln, um die Szene von verschiedenen Seiten her auszuleuchten.182 Folgt man Boltanski, so lässt sich hier eine institutionelle Ordnung erkennen, die unvollständig ist und von den Beteiligten situativ handhabbar gemacht und beurteilt werden muss. An der Beurteilung sind keine Kursteilnehmer beteiligt, sondern lediglich die Projektkoordinatorin und die Kooperationspartnerin, die ihre objektiven Leitungspositionen im Vollzug aktualisieren. Sie verkörpern die institutionellen Interessen des Lotsenprojekts auf der einen und der Bildungsleitstelle bzw. des Flüchtlingsprojekts auf der anderen Seite. Ihr gemeinsamer Auftrag besteht darin, eine Kooperation herzustellen, die aus Sicht der Koordinatorin möglichst nachhaltig sein soll, während die Kooperationspartnerin an einer zügigen Mitarbeit der Lotsen interessiert ist. Im Unterschied zu der reibungslosen Präsentation von Kooperationsideen des KiTa-Leiters in der ersten Szene wird die Unvollständigkeit der institutionellen Ordnung des Lotsenprojekts hier erst dadurch beobachtbar, dass die Ordnung umstritten wird. Es kommt zu einem Konflikt, der zwar nicht offen ausgetragen wird, sich aber in – mitunter dissonanten – verbalen und körperlichen Äußerungen der beiden leitenden Personen zeigt und als spannungsgeladene Atmosphäre spürbar wird. Der Konflikt kreist dabei um zwei zentrale Fragen. Erstens, nach welchen Kriterien sind Lotsen auszuwählen, d.h. hier insbesondere: Kann jemand auch ohne vorherige Ausbildung als Lotse in ein Projekt einsteigen? Zweitens, wer entscheidet über die Auswahl eines Lotsen? In beiden Fragen sind die Projektkoordinatorin und die Kooperationspartnerin gefordert, intersubjektiv eine Einigung zu erzielen. Hinsichtlich der ersten Frage fehlt es an verbindlichen Formaten für „Auswahlprüfungen“ (vgl. Boltanski 2010: 125, Herv. AQ), so dass Kriterien für Zugangswege in besonderer Weise streitbar sind. Gleichwohl wird mit jedem Lehrgang für Integrationslotsen eine Konvention aktualisiert, der zufolge eine Lotsenlaufbahn mit einer entsprechenden Ausbildung beginnt.183 Vor dem Hintergrund dieser Konven-
182 Boltanskis Soziologie ist stark durch seinen Lehrer Bourdieu geprägt, distanziert sich aber später unter dem Vorwurf des Strukturalismus zunehmend von Bourdieus Habitusund Feldkonzeption. Im Zwischenresümee dieses Kapitels werde ich zusammenfassen, wie sich Bourdieu und Boltanski wechselseitig ergänzen können, statt die eine der anderen Perspektive vorzuziehen. 183 Mit Konvention wird in der Soziologie der Konventionen „eine soziokulturell verankerte Handlungslogik bezeichnet, die es Akteuren ermöglicht, sich in Situationen und unter
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tion stellt der Quereinstieg des abwesenden Ehemannes ein „Slot“ dar, der die „nachträgliche Öffnung“ (Scheffer 2013: 104) eines üblichen Prozedere herstellt und den konventionellen Geschehensablauf durch eine Abkürzung unterläuft. Obgleich die Projektkoordinatorin nicht explizit auf die Konvention Bezug nimmt, markiert sie die von der Kooperationspartnerin zunächst im Alleingang getroffene Entscheidung über den Quereinstieg des kenianischen Ehemannes als Konventionsbruch gerade dadurch, dass sie ihre Gegenspielerin mit verschränkten Armen und verhärtetem Gesichtsausdruck nachträglich zur Entscheidung autorisiert. Die Koordinatorin bringt sich damit – wie auch mit der späteren Aufforderung der Kooperationspartnerin, sie künftig „auf dem Laufenden“ zu halten – wieder als Entscheidungsinstanz ins Spiel und macht zugleich deutlich, dass der Quereinstieg nicht dem üblichen Vorgehen im Rahmen des Lotsenprojektes entspricht. Sie beansprucht damit eine transsituative Ordnung als gültig, auch wenn sie situativ außer Kraft gesetzt wurde. Die Konvention unterliegt somit einer performativen Modifikation und wird zugleich bestätigt.184 Mit Boltanski und Chiapello haben wir es hier mit einer Kraftprobe zu tun, die darauf zielt, „zu verhindern, dass ein Einzelfall in seiner Situiertheit auf Konventionen und Rechtfertigungsordnungen übertragen und insofern verallgemeinert wird. Mit einer Kraftprobe umgehen die Handelnden die Bezugnahme auf transsituative Konventionen und Rechtfertigungsordnungen. Sie ‚verschieben‘, anders gesagt, das Problem einer Interaktion auf punktuelle und praktische Zwänge.“ (Tietze 2013: 51). Deutlich hervor tritt damit der Verfahrenscharakter des Ausgleichs institutioneller Erwartungen: Es werden situationsadäquate Regeln ‚erfunden‘ und von den Beteiligten problemorientiert auf die Erfordernisse der Situation ausgerichtet. In ihren abschließenden Bemerkungen, die sich über den Blick ins Plenum vor allem an die künftigen Lotsen richten, meint die Koordinatorin, dass ihr die Projektbeschreibung „vorgelegt“ worden sei und dass sie „recht spontan entschieden“ habe zu kooperieren, da sie „das wichtig“ fände und ihr die „Nachhaltigkeit“ der Kooperation wichtig sei. Sie schlägt damit einen doppelten Bogen zur Einleitungs-
Bedingungen der Unsicherheit handelnd zu koordinieren und eine gemeinsame Intention zu realisieren. Konventionen dienen Akteuren in Situationen als kollektiver interpretativer Rahmen für die Evaluation der Angemessenheit und der Wertigkeit von Handlungen, Personen, Objekten und Zuständen.“ (Diaz-Bone 2011: 23). 184 Ein ähnliches Beispiel bietet ein Internetforum für Hochschullotsen, zu dem nicht nur diese, sondern gelegentlich auch Freunde und Bekannte der Lotsen Zugang erhalten. Die Konvention wird dabei einer Modifikation unterzogen und zugleich als Konvention in Geltung gesetzt, indem die Freunde und Bekannten begrifflich anders markiert werden. So erklärt eine Lotsin: „Wir nennen die Assistenten, damit man einen Unterschied hat.“
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sequenz: Zum einen bekräftigt sie, dass die Leistellenleiterin die Projektidee an sie herangetragen habe und setzt sich erneut als Entscheidungsinstanz ein. Zum anderen rekurriert sie nochmals auf ihre Spontaneität, welche anfangs von ihr als eine herkunftskulturell bedingte Eigenschaft eingeführt wurde. Sie begründet ihr Handeln somit nicht nur als institutionelle Vertreterin, sondern erneut als spontane, kollektiv orientierte türkische Migrantin. Wir haben es sozusagen mit einem doppelten „Instandsetzungsprozess“ zu tun, der zum einen darauf gerichtet ist, „die (fiktionale) Präsenz des körperlosen Wesens [des Lotsenprojekts] wiederherzustellen“, indem dazu gemahnt wird, zumindest künftig „die Formen einzuhalten [...]“ (Boltanski 2010: 125, Herv. i.O.) und zum anderen darauf, das Subjekt, das diese Institution verkörpert, wieder in Stand zu setzen. Der Projektkoordinatorin gelingt es dabei, sich trotz ihres Nachgebens mittels feldadäquater „Praktiken der Selbstbegründung“ (Vötsch 2010: 67) als ein kohärentes Subjekt dieser Szene hervorzubringen: Sie bringt ihr Migrantsein hervor und begründet damit einen eigenen Stil, ihre institutionelle Funktion auszuüben.185 Aus feldtheoretischer Perspektive zeigt sich, wie der Versuch einer Konturierung der eigenen Position im Gleichklang mit dem Versuch einer Konturierung des Feldes der Integrationslotsen praktisch vollzogen wird: Das Markieren von Grenzen und Hoheitsbereichen schreibt sich nicht in ein bereits bestehendes Feld ein, sondern trägt dazu bei, ein solches erst allmählich zu etablieren. Der Kampf um die eigene Position wird damit zugleich zum Kampf um die Hervorbringung einer spezifischen Ordnung. Wechseln wir wieder in eine an Boltanski anschließende Perspektive, wird anschaulich, wie Subjektivierungs- und Institutionalisierungsprozesse wechselseitig aufeinander bezogen sind, ohne dass der Körper eines institutionellen Repräsentanten in (s)einer Institution jemals vollkommen aufgeht. Vielmehr bleibt eine unaufhebbare „Spannung zwischen dem körperlosen Wesen der Institution und dem Wesen aus Fleisch und Blut, das in ihrem Namen spricht“ bestehen (Boltanski 2010: 131f.) – und damit auch ein besonderes Spannungspotential zwischen den inkarnierten Institutionen. Die Verkörperung einer Institution nach Boltanski unterscheidet sich somit deutlich von Bourdieus Ansatz der habituellen Einkörperung. Während bei Bourdieu das Verhältnis zwischen Institution und Körper letztlich als ein
185 Ich lehne mich hierbei an Vötsch (2010: 67) an, der Selbsttechniken als „Praktiken der Selbstbegründung“ beschreibt, welche dadurch gekennzeichnet sind, dass sie auf die Herstellung von Kohärenz anstelle von Identität ausgerichtet sind: „Die Kohärenz des Lebens bezeichnet die Möglichkeit, ‚einen Zusammenhang des Lebens zu bilden, beständig und nachhaltig die unterschiedlichen und widersprüchlichen Bestandteile des Lebens miteinander zu verknüpfen und dem Ganzen Gestalt zu geben. So wird die Lebensführung zur Kunst, dem gesamten Leben Form und Stil zu verleihen.‘“ (ebd.: 71).
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harmonisches konzipiert wird, da der Körper (Habitus) die Institution trägt, wird bei Boltanski die Institution geschwächt, gerade weil sie sich verkörpern muss und somit gewissermaßen „verletzungsoffen“ (Popitz 1992: 43f.) wird.186 Die Institution muss fortlaufend in Praktiken hergestellt werden und bleibt dabei prinzipiell unvollständig, weil stets ungewiss ist, ob ein verkörpertes Subjekt die Institution oder seine eigenen Interessen vertritt. Zugleich wird damit der „Begriff der Institution [...] sozusagen theoretisch entlastet. Er soll weiterhin jene sozialen Praktiken benennen, die sich durch eine gewisse Regelmäßigkeit und Stabilität über Raum und Zeit auszeichnen. Diese aber erfordern eine ständige Konstruktion von Gemeinsamkeit, ein ‚Gleichsetzen‘ von Personen und Objekten, die nicht natürlich und selbstverständlich ‚gleich‘ und ‚gleichwertig‘ sind.“ (Wagner 1993: 470). 3.3.2 Das Zeigen und Sich-zeigen-Lassen der Lotsenpraxis Ein zweites Verfahren der Herstellung von Übergängen basiert darauf, dass bereits langjährig aktive Integrationslotsen den Nachwuchskräften auf eine bestimmte Art und Weise zeigen, wie die Lotsenpraxis aussieht bzw. wie sie aussehen könnte. Drei Gäste, die von der Kursleiterin als „sehr erfahrene Integrationslotsen“ vorgestellt werden, erzählen von ihren Erfahrungen als Lotsinnen. Eine beginnt mit den Worten: „Am Anfang denkt man: Nun bin ich Lotsin. Jetzt kommen sie alle. Doch so ist es nicht. Aber wenn man erst mal drin ist, dann läuft es von selbst. Dann erkennt man selbst was man tun kann. Der Basislehrgang ist ein erster, notwendiger Schritt. Das gibt Vertrauen und öffnet einem die Augen. Dort lernt man, wo man ansetzen kann.“ Eine weitere führt mit strahlendem Lächeln, eifriger Stimme und ebenso eifrigen Gesten aus, dass „die Neuen an die Hand zu nehmen“ und „ihnen die neue Gesellschaft zu zeigen“ ihre „Leidenschaft“ sei. Die anderen Lotsen schalten sich mit großem Mitteilungsdrang ein, der mitunter so weit geht, dass sich ihre Stimmen überschlagen oder sie einander ins Wort fallen: Es gehe darum, „Freundschaft zu zeigen“, „die Neuen Willkommen zu heißen“, „da zu sein“ und „zuzuhören“. Immer wieder kommt es dabei auch zu Bezugnahmen auf die „eigene Migrationsbiographie“ und „ähnliche Erfahrungen“, die ihnen „damals geholfen“ hätten. Nach einer Weile geht eine der Integrationslotsinnen dazu über, von einem konkreten „Fall“ zu erzählen: einer Person, die sie bereits seit vier Jahren „betreue“ und der sie auf deren Wunsch hin durch Gespräche mit Lehrerinnen sowie Nachhilfe dabei geholfen habe, schreiben und lesen zu lernen. Bis zu dieser Zeit sei die Betreffende Analphabetin gewesen. Nun habe diese Person den Wunsch geäußert, einer Arbeit nachzugehen. Die Lotsin könne dies
186 Wie in Kapitel 2.1.6 ausgeführt, ermöglicht es der – ‚träge‘ verstandene – Habitus „Institutionen zu bewohnen (habiter), sie sich praktisch anzueignen und sie damit in Funktion, am Leben, in Kraft zu halten“ (Bourdieu 1987: 107).
256 | M ITTLERSUBJEKTE DER M IGRATION einerseits nachvollziehen, befürchte jedoch andererseits, dass die Betreffende dadurch nicht zu ihrer Ausbildung käme. Dies sei von der Betreffenden „zu kurzfristig gedacht“ und „nicht nachhaltig“. Die Lotsin schildert ihre „Strategie“, mit so etwas umzugehen, folgendermaßen: „Wenn man sie drängt, wollen sie gar nicht. Ich habe sie deshalb erst mal in Ruhe gelassen. Doch jetzt will ich sie dahin stoßen, dass sie die Ausbildung doch macht.“ Lächelnd fügt sie hinzu: „Die freuen sich, dass jemand für sie da ist, ihnen Rückhalt gibt, einen Schubs gibt, sie an die Hand nimmt.“ Die Kursteilnehmer folgen den Lotsinnen während ihrer ‚Aufführung‘ hoch konzentriert und vollziehen das Gesagte mitunter nickend mit.
In dieser Szene wird durch das Zeigen ein Raum geteilter Aufmerksamkeit hergestellt, an dessen performativer Hervorbringung die erfahrenen Lotsen als die, die zeigen, wie auch die Novizen, die ihre Aufmerksamkeit auf das richten, was ihnen gezeigt wird, intersubjektiv beteiligt sind.187 Das Zeigen der Lotsenpraxis entspricht in dieser Szene keinem praktischen Demonstrieren, wie es in den Spielen und Übungen der Ausbildung zum Einsatz kommt, sondern vielmehr einem „aufweisenden Sehenlassen“ (vgl. Landweer 2011: o.S.).188 Diese spezielle Form des Zeigens ist dadurch charakterisiert, dass sie „der Rede bedarf und dennoch etwas anderes ist als eine Erklärung. Im Aufweisen ist ein Etwasdarstellen oder Etwaspräsentieren enthalten, und zwar dessen, wovon in der Rede ‚die Rede ist‘. Dies soll nicht einfach nur repräsentiert werden, es soll vielmehr dem anderen zugänglich gemacht werden.“ (Ebd., Herv. AQ) Die Worte „Wenn man erst mal drin ist, dann läuft es von selbst. Dann erkennt man selbst was man tun kann“ bringen zum Ausdruck, dass die Lotsenpraxis – und das dabei zum Einsatz kommende implizite Erfahrungswissen – sich letztlich einer sprachlichen Verfügbarkeit entzieht. Die Praxis wird sich den Novizen vielmehr von sich aus zeigen, genauso wie sie „sich [den aktiven Lotsen] zunächst von sich aus gezeigt hat“ (Landweer 2011: o.S.). Kann die Lotsenpraxis als etwas, das sich von sich aus zeigt und gezeigt hat, den Novizen somit nicht einfach mitgeteilt werden, so kann sie doch „im Darstellen zum Sichzeigen gebracht“ werden (ebd., Herv. AQ). Den Nachwuchslotsen wird die ‚Leidenschaft‘ gezeigt, mit der man Lotse ist (und sein sollte), und zwar vor allem mittels präsentativer Aspekte der Rede in Form einer bestimmten Gestik, Mimik, Körpersprache und Sprechgeschwindigkeit. Ebenso bringen metaphorische Sprachelemente, wie jemanden ‚Willkommen zu heißen‘ oder ‚an die Hand zu nehmen‘ „durch anschauliche Deskriptionen etwas
187 Das Zeigen fordert somit die Dichotomie heraus zwischen aktiv zeigenden Akteuren und jenen, die bloß passiv dem ‚beiwohnen‘, was ihnen gezeigt wird (vgl. Landweer 2011). 188 Landweer bezieht sich mit ihrer Konzeption des Sichzeigens auf Heideggers „aufweisendes Sehenlassen“.
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Bildliches in den Sprechakt ein, das von den Redenden geteilt werden muss, um verstanden werden zu können.“ (Ebd.) Den „sozial konstituierten Verstehenshintergrund“, der „im Akt des Zeigens mitproduziert und aktualisiert wird“ (Alkemeyer 2011: 44), bilden dabei die Sprachspiele der Ausbildung wie auch eingeübte Selbstthematisierungsweisen, etwa dann, wenn die aktiven Lotsinnen auf ihre eigene Migrationsbiographie oder ähnliche Erfahrungen wie ihre Klienten rekurrieren. Das Zeigen der Lotsenpraxis vollzieht sich darüber hinaus am Beispiel der Analphabetin, die – wie andere migrantische Klienten auch – ‚einen Schubs‘ brauche. Dabei wird eine dreistellige „figurative Konstellation des Zeigens“ (Alkemeyer 2011: 44) hervorgebracht, die erstens die Position einer erfahrenen Lotsin, von der aus gezeigt wird und zweitens die Position des Novizen, dem gezeigt wird, konstituiert, sowie drittens das Objekt des Zeigens, hier eine bestimmte Strategie im Umgang mit Klienten. Die Lotsenpraxis wird mittels dieses Beispiels als etwas Spezifisches zu sehen gegeben und dabei einer Deutung wie auch einer Transformation unterzogen, indem ein bestimmter Aspekt aus einem Kontext hervorgehoben und auf diese Weise ausgezeichnet wird (vgl. Landweer 2011: o.S.). Betrachtet man das am Beispiel zu sehen gegebene Bild der Lotsenpraxis vor dem Hintergrund der Analyse von Ausbildungspraktiken sowie der im ersten Abschnitt dieses Kapitels untersuchten Appelle von Kooperationspartnern, so gerät eine Führung qua Asymmetrie in den Blick, die darauf basiert, Symmetrien zwischen Klienten und Migranten herzustellen, zu nutzen und im gleichen Moment zu suspendieren. Präfiguriert wird diese spezifische Machtförmigkeit durch Ausbildungspraktiken, in denen Teilnehmende immer wieder einerseits als migrationsvordergründige Lotsen mit gleichen Erfahrungen wie ihre (späteren) Klienten angerufen werden, denen sie ‚auf Augenhöhe‘ begegnen bzw., die sie ‚im Gleichschritt‘ begleiten können, und andererseits als integrationsvordergründige Lotsen, die einen ‚Vorsprung‘ haben und (andere) Migranten deshalb ‚anleiten‘ können. Die von der Lotsin vertretene Ansicht, dass „die sich freuen, dass jemand für sie da ist, ihnen Rückhalt gibt, einen Schubs gibt, sie an die Hand nimmt“, leitet diese Führung nicht immer schon als eine ‚stumpf‘ befolgte Regel an, vielmehr kann sie, mit Butler, als eine aus dem ständig wiederholten Ausbalancieren dieser konfligierenden Adressierungen entstehende Überzeugung angesehen werden, „die in der Folge dann in die Durchführung integriert wird“ (Butler 2001: 112f, Herv. AQ). Versteht man Appelle mit Hermann Schmitz als Formen der Darstellung eines Programms durch Worte oder Gesten, in der Absicht, es zur Geltung zu bringen (vgl. Schmitz 1990: 323), so wird deutlich, wie hier ein Programm performativ hervorgebracht und gleichsam veranschaulicht wird, demzufolge das Lotsen (bzw. der Lotse) sowohl eines leidenschaftlichen Engagements bedarf als auch einer abwartenden, offenen Haltung für die Möglichkeiten, die sich ihm in der Lotsenpraxis selbst auftun werden, denn ‚wenn man erst mal drin ist, dann läuft es von selbst.
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Dann erkennt man selbst was man tun kann.‘ Der implizite Appell wird hierbei mittels einer Zeigepraxis artikuliert, welche sich nicht innerhalb eines Machtgefälles von aktiven, zeigenden Lotsen und passiven Kursteilnehmern, denen gezeigt wird, vollzieht, vielmehr gleicht das Zeigen einem „intersubjektiven Verfahren praktischer Entdeckung“ (Alkemeyer 2011: 62), bei dem nicht von vornherein feststeht, was gezeigt und auf welche Weise es gezeigt wird (wie bspw. bei PowerpointPräsentationen, die im Rahmen von Unterrichtungen zum Einsatz kommen). Es findet ein versuchsweises „Vortasten“ (ebd.) statt, bei dem sich die Zeigenden fortlaufend rückversichern, ob und wie das Gezeigte beim ‚Publikum‘ ankommt. Mittvollziehendes Nicken der Teilnehmer hält die Zeigepraxis am Laufen, Aufmerksamkeitsverschiebungen erfordern situative Anpassungen der Zeigepraxis, wie hier in Form des Rückgriffs auf ein Beispiel. 3.3.3 Fallstaccato und zentrale Grundsätze des Lotsenengagements: Einstimmung auf grenzbewusste Eigeninitiative Auch das folgende Übergangsverfahren basiert darauf, den angehenden Lotsen, nun durch einen Projektkoordinator, ein Bild ihrer künftigen Tätigkeit zu vermitteln. Diskursive und präsentative Elemente der Rede verbinden sich dabei zu einer spezifischen Einstimmung auf die Lotsenpraxis. Zugleich werden die Novizen damit an eine Fallorientierung sowie zentrale Grundsätze des Lotsens herangeführt. Vorletzte Sitzung. Der Projektkoordinator stellt einen „aktuellen Fall“ vor, der gerade bei ihm „eingegangen“ sei. Es handelt sich um eine Familie mit sechs Kindern, die „viele Probleme“ habe. Sein Vorgehen in einem solchen „Fall“ sehe so aus, dass er zunächst nach dem Herkunftsland und der Sprache frage und kläre, ob Unterstützung für die gesamte Familie oder einzelne Familienmitglieder notwendig sei. Ursprünglich habe dieser „Fall“ Eingang in das „Bildungspatenprojekt“ gefunden, welches der Koordinator ebenfalls betreut.189 Schnell sei
189 Das Bildungspatenprojekt wurde ursprünglich als ein vom Integrationslotsenprojekt unabhängiges Projekt konzipiert und fand im ersten Ausbildungscurriculum zur Basisqualifizierung für Integrationslotsen (Müller-Wille 2007) noch keinerlei Erwähnung. Inzwischen hat das Projekt Bildungspaten neben „Ausbildungslotsen“, „Elternlotsen“, „Hochschullotsen“ „Toleranzlotsen“ und „Umweltlotsen“ Eingang in das zweite Handbuch zur Basisqualifizierung gefunden und wird dort wie folgt beschrieben: „Zielsetzung des Projektes ist durch die Einrichtung von Bildungspatenschaften die Bildungschancen benachteiligter Grundschulkinder mit Migrationshintergrund zu verbessern und Brücken zu bauen zwischen Schule und Eltern. Ferner möchte das Projekt die Wertschätzung der Zuwandererfamilien und die Anerkennung ihrer Integrationsbereit-
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jedoch ersichtlich geworden, dass es sich hier um „einen Fall für einen Lotsen“ handle, zumal es kaum möglich sei, sechs Paten für alle Kinder bereitzustellen. Der Lotse habe in diesem Fall dafür zu sorgen, dass die Kinder beim Kinderarzt angemeldet und begleitet würden, sowie dafür, dass sie rechtzeitig zur Schule gingen und Schlafens- und Aufstehzeiten einhielten. Auch müsse gesichert sein, dass Miete und Rechnungen bezahlt und Kontakte mit Ämtern gehalten würden. Gefragt sei ein „Brückenbauer für die gesamte Familie“, der zwischen Familie und Schule bzw. Behörden vermittle. Er blättert währenddessen in seinen Unterlagen und geht dann dazu über, weitere Fälle jeweils kurz zusammenzufassen: Es gäbe da einen Jungen, zwei Jahre, bei dem Förderschulbedarf bestehe. Eigentlich sei dies eine Angelegenheit für die „Bildungspaten“. Da diese aber schon „besetzt“ seien, könne er vorübergehend auch von einem Lotsen betreut werden. Eine Fahrradwerkstatt für Frauen mit Migrationshintergrund suche Unterstützung. Eine Lotsin werde für die Betreuung eines Cafés für Senioren mit Migrationshintergrund gebraucht. „Dann habe ich hier jemanden aus dem Irak, kurdischer Abstammung, fünf Jahre. Es gibt eine Anfrage vom Kindergarten. Er muss zum Kinderarzt begleitet werden. Vielleicht ist Frühförderung nötig. Die Mutter kann das nicht bewältigen“, verliest der Koordinator im Staccato seine Stichworte. Und weiter: „Hier habe ich jemanden mit Elternteilen aus Marokko und Palästina. Es gibt eine Anfrage vom Sprachheilkindergarten.“ Ein Lotse werde für die Entlastung der Mutter benötigt. Des weiteren gäbe es zwei Jungen mit „auffälligem Verhalten“. Der Lehrer habe einen Lotsen angefragt. „Vielleicht besteht hier auch Förderschulbedarf.“ Der nächste Fall: „Eine Anfrage vom Frauenhaus. Eine arabisch-afrikanische Frau. Die wird schon länger von Lotsen betreut. Die bekommt viel Post und braucht Hilfe beim Sortieren und Begleitung zu Behördengängen. Oder Informationen wann sie diese Termine wahrnehmen muss.“ Der Koordinator blättert weiter geschäftig in seinen Unterlagen, entdeckt einen letzten Fall. Hierbei handle es sich um eine Anfrage von der Diakonie. „Eine Frau, die Unterstützung für sämtliche Behördengänge bräuchte. Also Jobcenter, Finanzamt und so weiter.“ Sie spreche recht gut deutsch, verstehe das „Behördendeutsch“ aber nicht. „So. Mehr habe ich im Moment nicht.“, schließt er seine Ausführungen ab und fragt in die Runde: „Vielleicht ist ja für jemanden was Passendes dabei? Freiwillige vor!“ Mit dieser Frage werden die Teilnehmer, die der Fallpräsentation aufmerksam gefolgt waren und das Gesagte, oftmals nickend, mitvollzogen hatten, zunächst wie mit einer ‚Pausentaste‘ in ein Moment des Stillstands und Innehaltens versetzt, bevor sie erneut in Bewegung geraten. So meldet sich ein angehender Lotse nach kurzem Zögern: „Ich nehme die mit der Post“. Auch für zwei weitere Fälle finden sich Teilnehmer. Die anderen tauschen sich aus, diskutieren und wollen „das erst mal sacken lassen“. Abschließend hebt der Projektkoordinator hervor, dass die Lotsen nicht nur auf seine Anfragen „angewiesen“ seien. Sie sollten auch „Eigeninitiative ergreifen“ und müssten kooperierende Institutionen
schaft erreichen, durch eine freiwillige Leistung, ohne behördliche Kontrolle, die Familien unterstützen und neu zugewanderten Kindern sprachliche Orientierungshilfen geben.“ (Müller-Wille 2012: 129f., Herv. AQ).
260 | M ITTLERSUBJEKTE DER M IGRATION „auch von sich aus kontaktieren“. Darüber hinaus sei es wichtig, dass sie auch bei Behördengängen über Angebote der Lotsen in der Stadtteilarbeit und im Gemeinwesen informieren und so „das Projekt weitertragen“.
Die angehenden Lotsen werden in dieser Szene nicht mehr bloß unterrichtet, dass „kein Bereich unseres Lebens im Alltag [...] ohne Bezug zur Integrationsarbeit“ ist; sie bekommen dies regelrecht zu spüren.190 So generiert die Intonation des Vortrags samt des geschäftigen Blätterns des Koordinators in seinen Fallunterlagen einen staccatoartigen Rhythmus, dessen performative Atemlosigkeit eine Sogwirkung entfacht, durch welche die Lotsenanwärter in ein schier unendliches Spektrum an Möglichkeiten hineingezogen werden. Der propositionale Gehalt des Sprechens, der auf eine Aktivierung der Kursteilnehmerinnen sowohl für die konkret anstehenden als auch alle möglichen Fälle gerichtet ist, wird akustisch dadurch mitvollzogen und verstärkt, dass von der Taktung der Fallvorstellung zugleich eine leiblich aktivierende „Bewegungssuggestion“ (Schmitz 2002: 186) ausgeht: Es muss ‚angepackt‘ werden, denn es gibt viel zu tun.191 In „der einfachen Rhythmisierung und der damit gegebenen Überprägnanz“ ahmt sich ein Sprechhandeln nach Gehlen „selbst nach“ beziehungsweise „es stellt sich in sich selbst dar“ und die „Handlung, die das Verhältnis zu sich selbst durch Überprägnanz artikuliert, enthält damit Symbolfähigkeit.“ (Gehlen 2004: 167, Herv. i.O.). Das Staccato verleiht der Botschaft eine besondere Dringlichkeit oder „Sollform“ (Gehlen 2004: 167), die nicht nur ein Spektrum an Möglichkeiten, sondern bei aller Freiwilligkeit auch einen gewissen Verpflichtungscharakter des Engagements symbolisiert und an die Eigeninitiative
190 Die zitierte Formulierung einer Dozentin ist uns in Kapitel 3.2.5.1 im Rahmen einer Lehreinheit zur Erarbeitung von Integrationsstandards begegnet, bei welcher die Dozentin nach ausbleibender Resonanz der Teilnehmer auf die Aufforderung, ein fiktives Integrationsprogramm zu entwickeln, schließlich dazu übergegangen ist, Tätigkeitsfelder der Integrationsarbeit zu referieren. 191 Bewegungssuggestionen, die von der Gebärde des zeigenden Fingers ebenso wie von einer Melodie oder einem Gedicht ausgehen können, versteht Schmitz als „Als-obBewegungen“ bzw. „Anmutungen oder Vorzeichnungen von Bewegung“, die „allen wahrnehmbaren Gestalten eigen“ sind und „einen Hauptzug ihres sinnfälligen Gepräges“ ausmachen, insofern sie „in gleicher Weise die Physiognomie wahrgenommener Gestalten und das Spüren am eigenen Leib“ prägen (Schmitz 2002: 186). Bewegungssuggestionen sind nicht an bestimmte Medien gebunden, sondern überstehen vielfältige Medienwechsel: „[...] die Bewegungssuggestion ist invariant gegen den Übergang von optischer zu akustischer, von simultaner zu sukzessiver Darbietung. Derselbe Schwung kann sich in den konvex-konkaven Wölbungen der Fassaden und Schiffe barocker Kirchen und in der Barockmusik darstellen.“ (Schmitz 1990: 142).
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der Lotsenanwärter appelliert. Die geforderte Eigeninitiative bezieht sich dabei nicht nur auf eine eigenständige Fall- bzw. Projektakquise, sondern auch darauf, als eine Art Botschafter des Lotsenprojekts in der Öffentlichkeit aufzutreten. Das Verfahren basiert auf einem Modus der leiblich-diskursiven Einstimmung, wodurch die Kursteilnehmer zum ‚Mitschwingen‘ gebracht und in eine Atmosphäre des Aufbruchs versetzt werden. Sie werden dabei von dem Koordinator ebenso eingestimmt wie sie sich im Mitschwingen selbst auf die Lotsenpraxis einstimmen.192 Herangeführt werden die Novizen mit diesem Verfahren zugleich an eine Orientierung „,über den Fall‘: was ansteht und was möglich ist“ (Scheffer 2011: 209). Das Staccato kurzer, stoßartig und mit Tempo vorgebrachter Eckdaten trägt dazu bei, dass ‚ehemalige‘ Personen quasi als eine endlose Serie von Fällen konstituiert werden, welche wie eingeebnet und um alles Unwesentliche bereinigt gleichrangig nebeneinander stehen. Falldaten werden dabei im Sinne Goffmanscher „Identitätsaufhänger am Körper der Fallperson ‚festgemacht‘“ (Scheffer 2011: 190) und ermöglichen es, Rechte und Pflichten zuzuschreiben, die Lotse wie Klient „fallgemäß zuwachsen“ (ebd.: 189). Sie erlauben hier und jetzt, ebenso wie später und andernorts eine schnelle Orientierung und machen aus einer Person ‚die mit der Post‘ – einen nunmehr körperlosen, schriftlich abgebildeten und gewissermaßen als Ton im Raum vernehmbaren Fall, der jederzeit abgerufen und weiterverfolgt werden kann. Vor diesem Hintergrund kann der Lotse, der sich dem Fall ‚die mit der Post‘ angenommen hat, einige Wochen später in einem Nachhaltigkeitsmodul, das der Reflexion und Verarbeitung von ersten Erfahrungen der Novizen dient, in einem erstaunlich ähnlich klingenden Fallstaccato folgenden Bericht erstatten: Der Fall sei „kompliziert“, meint der Lotse, aber auch „sehr interessant“, denn „da mangelt es an allem“: „Eheprobleme, psychische Probleme, Geldprobleme“ – die Person habe „einfach Schwierigkeiten in allen Lebensbereichen“. Der Projektkoordinator pflichtet dem Lotsen bei: „Ja, das ist eine völlig unstrukturierte Lebensführung.“ Ein bei diesem Treffen ebenfalls anwesender hauptamtlicher Migrationsberater meint, dass dies ein „typischer Case Management-Fall“ sei, „wo das und das und das erreicht werden muss.“ Der Lotse gibt zu bedenken, dass „ein Problem bei diesem Fall“ auch sei, dass immer davon ausgegangen werde, dass jemand, der arbeitet, auch mit seinem Leben zurechtkomme. Das sei hier eben nicht so. Von einem Migrationsberater mit einer vierzehn-Stunden-Stelle könne so ein Fall nicht bearbeitet werden, so dass die Unterstützung durch ihn als Lotsen unbedingt notwendig sei. Der Pro-
192 Das „Sicheinstimmen“ ist dem „Sichzeigen“ insofern vergleichbar, als dass beides „weder als aktiver, bewusster Prozess noch als ein passiver Vorgang“ zu begreifen ist (Landweer 2011: o.S.). Vielmehr kommt es nach Landweer, die dabei ebenfalls an Hermann Schmitz anschließt, zu einer wechselseitigen leiblichen Einstimmung, welche Dichotomien zwischen Subjekt und Objekt, Passivität und Aktivität aufhebt.
262 | M ITTLERSUBJEKTE DER M IGRATION jektkoordinator stellt daraufhin mit Nachdruck klar, dass ein Lotse nicht das abdecken könne, was von den „Hauptamtlichen“ geleistet werde, er sei nur für „akute Hilfestellungen“ da und dann müsse „sich die Person selbst helfen“.
Hier zeigt sich, wie ein Nachwuchslotse innerhalb kürzester Zeit den kasuistischen Blick des Projektkoordinators und eine entsprechende Intonationsweise übernimmt. Dieser Subjektivierungsprozess, in dem sich der Lotse zum ‚Fallbearbeiter‘ macht, ließe sich in Anlehnung an Bourdieu als Einkörperung beschreiben: Der Novize erwirbt ein Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster, das ihn seine Klientin nur noch als Fall sehen und bearbeiten lässt. Mit Goffman ließe sich sein Auftreten allerdings ebenso als ein durch Erwartungserwartungen konstituierter Selbstausdruck (Ricken) lesen: Er verkörpert mit seiner Darstellung des Falles das, was ihm dank der früheren Fallvorstellung durch den Projektkoordinator auch in dieser Situation angemessen erscheint. Von welcher Richtung aus man es auch betrachtet, der Novize zeigt, dass er sich ‚voll auf den Fall eingelassen‘ hat, wird jedoch in seinem Engagement von dem Koordinator gebremst und an einen Platz verwiesen, der nicht dem eines Hauptamtlichen, d.h. hier einer Case Managerin in der Migrationsberatung entspricht, sondern lediglich eine Zuständigkeit für ‚akute Hilfestellungen‘ vorsieht. Das Nachhaltigkeitsmodul wird von dem Projektkoordinator somit genutzt, um im Rahmen einer Art Supervision der ersten Fallbearbeitungen, Nachjustierungen und Korrekturen vorzunehmen und den Novizen zu ermahnen, zentrale Prinzipien der Lotsentätigkeit einzuhalten. Diese Leitlinien sind im Ausbildungscurriculum wie folgt beschrieben: „Ein wichtiger Grundsatz für die Vermittlung der Einsätze ist, dass Lotsen das anbieten, was sie geben können. Als zweiter Grundsatz gilt, Mittler auf den unterschiedlichen Wegen zu den Experten zu sein und das Prinzip ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ nicht aus den Augen zu verlieren. Kurz gefasst: Lotsen helfen dabei, den richtigen Weg zu finden – in diesem Fall den Weg zur Integration in die deutsche Gesellschaft.“193 Dieser Grundsatzkatalog wurde zunächst in der Koordinierungsstelle Integrationslotsen bei der Volkshochschule Hannover entwickelt (vgl. Müller-Wille 2012: 114) und später in das überarbeitete Curriculum des Lehrgangs übernommen. Erst mit dem Import in dieses translokale Speichermedium stehen die in der Praxis entwickelten Grundsätze als Regelwerk bereit, das auch andernorts eine spezifische Ausrichtung von Lotsenpraktiken und darin einnehmbarer Positionen präfiguriert. Der erste Grundsatz, dass jeder Lotse das anbietet, was er geben kann, wird offiziell auch als das Prinzip des „Jeder nach seinen Möglichkeiten“ (ebd.) bezeich-
193 Vgl. www.hannover.de/integration/projekte/integrationslotsen, zit. nach Müller-Wille (2012: 114f., Herv. AQ).
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net, weshalb im Fortgang dieser Arbeit kurz von dem Möglichkeitsprinzip die Rede sein wird. Verbunden ist mit diesem Grundsatz ein Appell zur Selbstorganisation und Eigeninitiative. Die Lotsen werden dabei als Kreativsubjekte angerufen, die ihre Aktivitäten – im Rahmen bestimmter Grenzen – schöpferisch selbst entwickeln. Ihr Engagement wird damit gewissermaßen strategisch offen gehalten. Als Integrationslotse anerkannt wird, wer in der Lage ist, sich selbstständig ein eigenes Lotsenprofil zu schaffen (vgl. Kapitel 3.2.5.2) und aufgrund seiner Fähigkeit zur Selbstaktivierung wenig ressourcenaufwändiger Fremdorganisation bedarf, wie ein Projektkoordinator zum Ausdruck bringt: „Es gibt Integrationslotsen, die sind in bestimmten Institutionen immer wieder gefragt. Und auch aktiv. Da muss ich auch nicht immer dazwischen. Also es kann auch sein, dass sie dann direkt angesprochen werden. Das müssen sie dann selber wissen, ob sie das übernehmen.“
Der zweite Grundsatz, den ich im Folgenden als das Komplementärprinzip bezeichne, adressiert Lotsen als Mittler zu den (hauptamtlichen) Experten. Konkret heißt dies: „Die ehrenamtliche Tätigkeit der Integrationslotsen ist kein Ersatz für die hauptberufliche Erfüllung von Integrationsaufgaben durch soziale Fachkräfte, sondern stellt eine wichtige und gerade im Integrationsbereich unverzichtbare Unterstützung der Professionellen dar“ (Müller-Wille 2012: 114, Herv. AQ). Mit diesem Grundsatz verbunden ist eine beratende Funktion, die sich allerdings ausschließlich auf eine Verweisberatung zu den sozialen Diensten beschränken soll. Während wir in Kapitel 3.4 sehen werden, dass diese Position von engagierten Lotsen mitunter nicht widerstandslos eingenommen wird, zeigt das folgende Beispiel, wie Novizen im Wissen um das Komplementärprinzip bestrebt sind, eine ‚Lücke‘ für sich zu finden: Kurz vor Ausbildungsabschluss diskutieren die Teilnehmer mit ihrem Dozenten über künftige Aufgaben und Tätigkeitsbereiche. Der Dozent unterstreicht zum wiederholten Mal: „Wir wollen ja keinesfalls als Konkurrenz auftreten.“ Eine Teilnehmerin schließt an: „Genau. Wo gibt es vielleicht Lücken, in die wir hinein könnten, in die wir passen könnten?“
Diese kurze Sequenz macht deutlich, wie der Appell zur kreativen Eigeninitiative mit einem Appell zur Selbstbegrenzung in einer Weise zusammenwirkt, die präfiguriert, dass sich die Aktivitäten der Lotsinnen nicht ins ‚Uferlose‘ auswachsen und allzu weit in das ‚Hoheitsgebiet‘ der Hauptamtlichen vordringen können.194
194 Der Appell zur Selbstbegrenzung wird im Training von Selbsteinschätzungs- und Entscheidungskompetenzen (vgl. Kapitel 3.2.4.3) häufig mit einer Schutzfunktion begrün-
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Mit dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe schließlich wird der an die Lotsen gerichtete Appell der Selbstbegrenzung mit einem an die Klienten gerichteten Appell der Selbstorganisation verbunden. Die Mittlerposition des Integrationslotsen konstituiert sich hier darüber, dass er den vernommenen Appell zur Selbststeuerung zu seinem eigenen macht und ihn an die von ihm gelotsten Migranten weiterträgt. Die Hilfe, „den richtigen Weg zu finden“ (Müller-Wille 2012: 115), besteht darin, „den Weg des Begünstigten zu Autonomie und individueller Verantwortung zu fördern“ (Thévenot 2011a: 245). Hier zeigt sich somit eine gewisse Kontinuität zu historischen Mittlersubjekten der Migration, welche noch nicht in der Phase der Rückkehrorientierung, aber mit Einsetzen des Familiennachzugs dafür sorgen sollten, Migranten zu selbständigem Handeln zu befähigen, sie also zu ‚autonomen Subjekten‘ zu machen (vgl. Kapitel 2.2.1). Die drei skizzierten Grundsätze lassen sich als Strukturierungsprinzipien eines sich allmählich herausbildenden Feldes des Lotsen(s) lesen.195 Sie sind nicht von vornherein programmatisch fixiert und richten ‚von dort oben‘ die Lotsenpraktiken aus, vielmehr werden sie im Sinne von Spielregeln aus dem Spiel der Lotsenpraxis und einem dort erkannten Problem heraus entwickelt: Die Grundsätze stellen einen Versuch dar, Positionen von Integrationslotsen, Klienten und Hauptamtlichen abzustecken, d.h. sie zu objektivieren. Sie reagieren auf ein erst in der Praxis sichtbar werdendes Problem und finden Eingang in die Ausbildungspraktiken, insbesondere in das Training von Selbsteinschätzungs- und Entscheidungskompetenzen, durch das sich die Lotsen sowohl ihre Wahlmöglichkeiten als auch bestimmte Grenzziehungserfordernisse bewusst machen sollen (vgl. Kapitel 3.2.4.3).196 3.3.4 Eignungsdiagnostisches Tastverfahren und das Austarieren von Angebot und Nachfrage Übergänge in die Lotsenpraxis werden seitens der Projektkoordinatoren nicht nur durch die Präsentation konkreter – und zugleich repräsentativer – Fälle vorbereitet, sondern ebenso durch Gespräche mit den Novizen, welche am Ende oder kurz nach Abschluss der Ausbildung geführt werden. Hierbei geht es darum, sowohl passende Kandidaten für unmittelbar anstehende Fälle und Projekte zu finden als auch da-
det. So formuliert eine Dozentin bspw.: „Das wollten wir euch Lotsen auch mitgeben. Ihr seid keine Berater, auch weil ihr euch abgrenzen sollt!“ 195 Ich bezeichne die genannten Grundsätze als Strukturierungsprinzipien, um ihrem performativ-dynamischen Charakter Ausdruck zu verleihen und sie von einer präpraktischen Struktur abzugrenzen. 196 In Kapitel 3.4 wird herausgearbeitet, wie dieses Problem aus einem Positionsgerangel innerhalb eines Gefüges einander überlappender Felder erwächst.
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rum, Absolventen hinsichtlich ihrer Tauglichkeit für alle möglichen Lotsenjobs ‚abzuklopfen‘. Bevor im Rahmen dieser Gespräche das Angebot sondiert wird, muss aber zunächst die Nachfrage ermittelt und handhabbar gemacht werden. Eine Projektkoordinatorin beschreibt diesen Prozess folgendermaßen: Projektkoordinatorin (PK): Ich hab einen Bogen entwickelt [zeigt mir einen Fragebogen mit Einträgen]. Ist nichts Dramatisches, aber es ist für mich einmal ganz wichtig. Da steht: „Wer fragt an?“, „Woher kommt diese Anfrage?“. Das ist eine der Fragen. „Aus welchem Land kommt diese Person?“, „Welche Sprachen, welche Muttersprache ist da gewünscht?“. [Telefon klingelt] [...] (Interview PK 1-Teil 1/ 08.04.2011, Zeilen 297-301). AQ: Könnten Sie noch mal ganz kurz umreißen, mit wem Sie insgesamt in dem Projekt kooperieren, von wem die Anfragen kommen? PK: Ja. Also ich könnte jetzt einige auch vorlesen [liest im folgenden jedoch nicht vor]. Ich hab sie nicht alle im Kopf. Möchte sie...nicht alles überspringen. Natürlich die Gemeinwesenarbeit ist äh ist ein Kooperationspartner, Migrationserstberatungsstellen, ähm Arbeiterwohlfahrt, dann äh auch vereinzelt Schulen, Gesamtschulen, weiterführende Schulen sowie auch die Berufsschulen. Wirtschaftsgymnasium ist mit drin. Also ich erzähl mal das, was mir so spontan einfällt. Gerade eben Kinderklinik. Mehrmals auch Kinderklinik. Mütter mit kleinen Kindern. Mütter, die nicht gut deutsch sprechen, es auch nicht verstehen, was das Kind jetzt hat. Logopäden, diese Einrichtungen. Kindergärten besonders. Ähm dann äh Schulen, Förderschulen auch mit immer wieder. AQ: Und wenden sich auch manchmal, ich sag mal, Privatpersonen an Sie? PK: Ja, ja. Auch immer mehr. Junge Leute oder auch junge Frauen. Frauenhaus hab ich vergessen. Also Frauenhaus, sehr viele Anfragen. Und da sind auch immer wieder Frauen gewünscht. Also deshalb muss ich gucken, dass ich die Männer doch anderswo unterbringe. Ähm. Die Frage noch mal, die wir jetzt äh... (Interview PK 1-Teil 1/ 08.04.2011, Zeilen 266289).
Ähnlich wie das Fallstaccato wirkt auch diese auf Lückenlosigkeit bedachte, fast hektisch vorgetragene Aufzählung der Koordinatorin ein wenig atemlos. Die präsentative Form des Vortrags und seine Einbettung in ein knapp einstündiges Interview, das insgesamt fünf mal von Telefonklingeln unterbrochen wird, bringen eine Szene hervor, die nicht nur die Geschäftigkeit einer durch und durch engagierten Projektkoordinatorin zur Darstellung bringt, die pausenlos mit Telefonhörern jongliert und im Dickicht unterschiedlichster Anfragen dennoch den Überblick behält – aufgeführt wird in dieser Szene auch die Nachfrage selbst. Die offenkundig hohe Nachfrage nach Integrationslotsen erfordert „Forminvestitionen“, die es ermöglichen, „die Reichweite der Koordination zu erhöhen, indem sie eine verallgemeinerte Behandlung von Personen und Objekten erleichtern“ (Thévenot 2011b: 262). Der von der Projektkoordinatorin entwickelte Fragebogen trägt als eine solche Formin-
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vestition zu einer Institutionalisierung der Nachfrageerhebung bei, welche sich darin fortschreibt, dass einige Koordinationsstellen für Integrationslotsen inzwischen formalisierte Fragebögen für nachfragende Institutionen entwickelt haben.197 Weniger formalisiert vollzieht sich hingegen die Sondierung des Angebots. Auf die Frage, was einen ‚guten‘ Lotsen ausmache, antwortet die befragte Projektkoordinatorin: PK: Ja äh [lacht]. [murmelt] Sehr schwer. Das ist ’ne schwierige Frage! Ich finde alle Lotsen gut, abgesehen davon. Aber ähm [seufzt], mit Herz und Blut dabei zu sein ist wichtig. [Telefon klingelt] Ach Mensch, ich… (Interview PK 1-Teil 1/ 08.04.2011, Zeilen 319-322).
Um Lotsen zu finden, die „mit Herz und Blut dabei“ sind, bedarf es der eingangs erwähnten Gespräche am Ende der Ausbildung. Die Koordinatorin hebt solche „Zweitgespräche“, wie sie sie bezeichnet, deutlich von den Erstgesprächen vor Ausbildungsbeginn ab: PK: Also, nach der Schulung, aber auch meistens vor der Schulung führe ich ein intensives Gespräch, hab aber festgestellt, dass es nach der Schulung, dies Gespräch noch wichtiger ist, weil nach der Schulung können sie noch mehr reflektieren [hält kurz inne]. Ähm, vor der Schulung findet immer ein kurzes Gespräch statt. Äh. Dann können sie die Schulung machen, aber nach der Schulung, bevor ich die Teilnehmer einsetze, findet ein Gespräch, so circa eine Stunde bis eineinhalb Stunden lang, statt. Ähm. Auch auf der Beziehungsebene [hält kurz inne]. Dass ich dann auch mehr erfahren möchte, was sie vorher ehrenamtlich gemacht haben, was gut in dieser Tätigkeit war, was sie sich wünschen in diesem Ehrenamt. [hält kurz inne] Dann, wenn ich dann besondere Fälle habe, die ich ihnen dann vorschlage, auch in den Einzelfällen ähm, ist es für mich wichtig zu hören, ob es etwas ist, was ihnen liegt, etwas, was sie gerne machen möchten. Ähm und in dem Gespräch finde ich schon raus oder hab [hält kurz inne], entwickle ich ein Gefühl dafür, ob es das Passende ist (Interview PK 1-Teil 1/ 08.04.2011, Zeilen 75-91).
197 In diesen Fragebögen sollen interessierte Vereine, Institutionen, Interessengruppen oder Initiativen Angaben zu den Aufgaben der jeweiligen Einrichtung, zu den (künftigen) Aufgaben der Integrationslotsen, der Zielgruppe (Kinder, Jugendliche, Frauen, Familien, Eltern oder weiter) zu gewünschten Kenntnissen und Fähigkeiten, zum Geschlecht und Alter sowie Zeiten (Tageszeit, Wochentage) machen. Angaben zu den Leistungen der Träger umfassen darüber hinaus bspw. Fragen nach einer Aufwandsentschädigung, Fortbildung und Versicherung der Lotsen sowie deren Einarbeitung und Begleitung durch Fachpersonal.
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Zur Beurteilung der Kandidaten werden im Rahmen der „Zweitgespräche“ unterschiedliche Wissensformen miteinander in Verbindung gebracht: Der Lotse ist gefordert, seine in der Ausbildung geschulten Reflexions-, Entscheidungs- und Selbsteinschätzungskompetenzen einzubringen, um die von der Koordinatorin erfragten Wünsche und Fähigkeiten sowie relevante Vorerfahrungen im Ehrenamt artikulieren zu können. Die Projetkoordinatorin verlässt sich bei der Kompetenzzuschreibung jedoch nicht allein auf derartige Angaben. Um „das Passende“ für einen Lotsen zu finden, setzt sie vielmehr einen Spürsinn ein, der sich, wie ein anderer Projektkoordinator ähnlich beschreibt, auf „Fingerspitzengefühl, Bauchgefühl und gesunden Menschenverstand“ verlässt. Anders als die Klienten werden Nachwuchslotsen dabei nicht zu Fällen oder ‚Profilakten‘ gemacht, deren „Identitätsaufhänger“ (Goffman 1967: 74f.) aus den ausgearbeiteten Lotsenprofilen den Ausschlag geben, bspw. nach dem Muster ‚Für diesen Auftrag nehmen wir den, der arabisch spricht und sich mit Computern auskennt‘. Zur Auswahl geeigneter Integrationslotsen wird vielmehr eine Art eignungsdiagnostisches Tastverfahren eingesetzt, bei dem die ‚Diagnose‘ auf einem leiblichen Vermögen der Koordinatorin basiert, das sich „nicht nur an exakt definierten und eindeutig fassbaren Informationen, sondern eher an diffusen und nicht präzise definierbaren Eigenschaften und Ausdrucksformen konkreter Gegebenheiten“ orientiert (Böhle & Porschen 2011: 58).198 Ihre „spürende Wahrnehmung“ (ebd.) ist es, die sie darüber informiert, ob ein Nachwuchslotse zu einem Auftrag passt bzw. ob er allgemein tauglich für dieses Ehrenamt ist. Die Ertastung bzw. das Aufspüren des Angebots (bei dem der Leib zum sensorischen Erkenntnismedium wird) hebt sich somit deutlich von der auf einem standardisierten Fragenkatalog basierenden Erhebung der Nachfrageseite ab. Dies findet seinen Ausdruck nicht zuletzt im jeweiligen Duktus, mit dem die Projektkoordinatorin über die unterschiedlichen Seiten spricht: Die knappe, sachlichgeschäftige, fast hektische Schilderung der Nachfrage weicht bei der Schilderung des Angebots leiseren Tönen, einem insgesamt gedrosselten Sprechtempo bis hin zu mehrfachem Innehalten. Das Sprechen selbst bekommt gewissermaßen etwas tastend-exploratives. Statt um ‚körperlose‘ Einrichtungen und Auftraggeber geht es um leibliche Wesen, die sich – so der Appell – mit Herz und Blut und „Leidenschaft“ (vgl. Kapitel 3.3.2) in die Lotsenpraxis einbringen sollen. Das eignungsdiagnostische Tastverfahren ermöglicht eine spezifische ‚Handhabung‘ von Kontingenzen, welche sich aus dem Möglichkeitsprinzip ergeben. Lot-
198 Gugutzer bezeichnet dieses Vermögen als „reflexive Leiblichkeit“ (2002: 295ff.). Das Konzept ist, wie der Ansatz der leiblichen Erkenntnis von Böhle und Porschen (2011), darauf gerichtet, Gegensätze zwischen Emotion und Kognition, Leib und Ratio, Erfahrung und Reflexion zu überwinden.
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senkandidaten haben demnach ein Gespür für lokale Bedarfe und Möglichkeiten zu entwickeln und sich vor diesem Hintergrund ein eigenes Profil zu schaffen. Im Rahmen des Lotsenprojekts trifft somit keine feste Angebotsstruktur auf eine ebenso feste Nachfragestruktur, vielmehr müssen Angebot und Nachfrage vor Ort fortlaufend hervorgebracht und austariert werden. Sowohl auf Seiten des Lotsen als auch auf Seiten des Projektkoordinators wird mit dieser Unbestimmtheit eine unaufhebbare Ungewissheit generiert – beide bewegen sich im Übergang von der Ausbildung in die Lotsenpraxis sozusagen durch ‚unsichere Fahrwasser‘ und müssen sich weitestgehend auf ihren Spürsinn verlassen. Um diese Unsicherheit etwas ‚abzupuffern‘, nehmen die Projektkoordinatoren selbst eine navigierende Position gegenüber ihren Schützlingen ein, so dass die „frischen Lotsen“, wie es eine Dozentin formuliert, „keine Angst haben müssen in der Luft zu hängen“. Die Koordinatorinnen machen sich, wie der folgende Interviewauszug zeigt, also gewissermaßen zu Lotsen der Lotsen, denen eine Begleitung obliegt, welche sanfte Orientierungshilfe, Beobachtung und Kontrolle ermöglicht. Begleitung erscheint damit als ein das gesamte Feld charakterisierendes Prinzip einer „Führung der Selbstführungen“ (Foucault), welches die intentionalen Beziehungen zwischen Lotsen und Klientinnen (vgl. Kapitel 3.3.1.2.) sowie Koordinatoren und Lotsinnen in einer spezifischen Weise affektiv ausrichtet und Integrationslotsinnen entsprechende Selbstverhältnisse (wie das einer sanften Begleiterin, die „an die Hand nimmt“ und lediglich „einen Schubs“ gibt, vgl. Kapitel 3.3.2) ausbilden lässt. PK: [...] Und es ist wichtig, dass ich die erste Zeit dieser Tätigkeit, wenn es wirklich um ein Ehrenamt geht, was sehr anspruchsvoll ist, oder um eine Begleitung äh von einer Situation, die jetzt ungewöhnlich ist, ist es für mich wichtig, dass ich das mit begleite. Dass ich den ersten Termin mit einhalte, dass ich zwischendurch immer bei den Netzwerken oder bei den Anfragen auch mal telefonier’: „Wie kommt dieser Lotse an?“. Oder auch bei dem Lotsen frage: „Ist alles okay?“. Diese erste Zeit ist sehr wichtig. AQ: Was wären das so für ungewöhnliche Situationen, die Sie erwähnen? Hätten Sie ein Beispiel? PK: Ja [seufzt]. Also es gibt so Situationen, wo ich nicht immer unbedingt dabei sein muss, wo ich denke: „Die Lotsin, die macht das schon alleine“. Aber wenn bei einer äh Person die verschiedenen Ebenen...wenn sie Probleme mit ihren jungen heranwachsenden Kindern hat, wenn sie Probleme mit ihrem jetzt in Scheidung lebenden Partner hat, wenn sie erhöhte Rechnungen hat und sie weiß nicht, wo sie alle herkommen. Ähm und ich diese Anfrage zum Beispiel von der Migrationserstberatung bekomme und sage: „Also da wär jetzt jemand ganz wichtig, der diese Person begleitet und auch mal guckt, was für Rechnungen kommen da an, kann man da was kündigen.“ Ähm, dann ist es für mich wichtig, das mit dem Lotsen gemeinsam zu starten. Denn da sind viele ähm Bereiche, die einem An… die die Lotsinnen auch
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bewältigen möchten. Aber die Abgrenzung ist wichtig. Und die enormen Anforderungen der Lotsen auch, das alles schaffen zu wollen. Also das muss, denke ich, auch so’n Stückchen mit begleitet werden und in Schutz genommen werden. Das ist so ne Extremsituation. [...] Und da kann man nicht einfach sagen: „Geh mal hin und mach mal da was“, sondern man muss auch den Lotsen ’n Stückchen beobachten: Wie macht er sich? (Interview PK 1-Teil 1/ 08.04.2011, Zeilen 91-130).
Deutlich wird in dieser Interviewsequenz darüber hinaus, dass nicht ein einmaliges Eignungsgespräch darüber entscheidet, ob ein Kandidat als Lotse anzuerkennen ist; vielmehr muss er sich im wahrsten Sinne machen und seine Intelligibilität fortlaufend in der Praxis unter Beweis stellen. Darüber hinaus zeigen sich hier die Grenzen der Selbstorganisation in zweifacher Weise: Zum einen setzt sich die Projektkoordinatorin in besonders anspruchsvollen Situationen als eine Art Backup des Lotsen ein. Indem Fälle nicht nur mit Fallpersonen, sondern ebenso fest mit einzelnen Lotsinnen assoziiert werden können, stellt das Format des Falls die hierfür notwendige Transparenz her und ermöglicht ihr einen kontrollierenden Nachvollzug der fallbezogenen Aktivitäten des Lotsen. Zum anderen wird der Appell an den Lotsen, ‚alles‘ zu geben und sich gewissermaßen mit seiner ‚ganzen‘ Person zu engagieren, durch das mahnende Erinnern an die Grenzen der eigenen Möglichkeiten ergänzt – die Maßgabe lautet auch hier: grenzbewusste Selbststeuerung statt unbedingte Selbststeigerung (vgl. Kapitel 3.2.4.3). 3.3.5 Die Zertifizierung „Mit dieser Urkunde seid ihr zertifizierte Lotsen. Nicht mehr und nicht weniger.“
Im Folgenden wird herausgearbeitet, wie sich mit der Zertifikatsübergabe – nach Abschluss der Ausbildung mit einer finalen Feedbackrunde (3.3.5.1) – nicht nur ein erster öffentlicher Auftritt (3.3.5.2) der Integrationslotsen vollzieht, sondern auch ein Titel (3.3.5.3) und Schriftstück zur Selbst-Beglaubigung (3.3.5.4) vergeben wird. Die Stimmung bei der heutigen Abschlusssitzung ist anders als sonst, ernster und doch ausgelassen zugleich. Einige Teilnehmerinnen wirken nervös. Viele haben sich ‚in Schale geworfen‘; manche waren extra beim Friseur. Angesprochen auf sein „schickes Outfit“ meint ein Teilnehmer: „Heute ist ja auch ein besonderer Tag“.
Besonders ist dieser Tag insofern, als dass nach diesen letzten Unterrichtsstunden die Zertifikatsübergabe ansteht, welche die Lotsenausbildung feierlich abschließen
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wird. Voraussetzung für die Ausstellung des Zertifikats sind laut Ausbildungscurriculum neben der Erfüllung einer mindestens achtzigprozentigen Anwesenheitspflicht die Erstellung der „Landkarten der Integration“ sowie weiterer schriftlicher Ausarbeitungen, die sich auf den eigenen Integrationsprozess, mögliche Tätigkeiten als Integrationslotsen sowie Anforderungsprofile für die Einsatzstellen beziehen (Müller-Wille 2007: 12). Doch bevor die Absolventinnen in diesem Kurs ihre Zertifikate erhalten, gibt es eine letzte Feedbackrunde, mit der nicht, wie sonst üblich, ein einzelner Seminartag ‚verarbeitet‘ wird, sondern der gesamte Kursverlauf. 3.3.5.1 Die Feedbackrunde Neben ausgiebigen Dankesworten, die zwischen Dozenten und Teilnehmerinnen, zwischen den beiden Dozentinnen sowie innerhalb der Teilnehmerschaft ausgetauscht werden, heben alle Absolventen hervor, wie sehr sie die nette Atmosphäre in dieser „schönen interkulturellen Gruppe“ genossen hätten. Eine Teilnehmerin, die schon fünfzehn Jahre ehrenamtlich „mit und für Migranten“ aktiv ist, meint, dass sie manche Nationalitäten noch gar nicht gekannt und so noch „etwas dazu gelernt“ habe. Dabei blickt sie zwei Teilnehmerinnen an, die in Turkmenistan bzw. Marokko geboren wurden, und ruft lachend: „Wegen euch [betont] beiden bin ich hier!“. Eine andere fügt hinzu: „Wir kommen aus unterschiedlichen Ländern, aber wir sind wie Geschwister geworden.“ Eine weitere Teilnehmerin meint, dass sie wieder festgestellt habe, dass „sich die eigenen Kompetenzen verfestigt und bestätigt“ hätten; manchmal habe man ja das Gefühl, man arbeite sich „sinnlos an der Gesellschaft ab“, aber hier sei das nicht so gewesen. Fast jeder meint, froh über das „zusätzliche Wissen“, die „sozialen Kompetenzen“, die „tolle Selbsterfahrung“ durch die Gruppenspiele und die „persönliche Weiterentwickelung“ durch den Kurs zu sein. Viele entschuldigen sich für ihr gelegentliches Fehlen und führen einen „chronischen Zeitmangel“ als Erklärung an, der auch weiterhin ein Problem darstelle. Eine Teilnehmerin meint begeistert, dass ihre Erwartungen bei Weitem übertroffen worden seien und sie richtig Lust habe „jetzt durchzustarten“.
Über das Medium des Feedback (wörtlich: „Rückfütterung“ oder „Rück-Einspeisung“) wird in dieser Szene eine Zeitlichkeit hergestellt, die sich über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erstreckt. Das Erlernte und Antrainierte wird rückblickend bilanziert und hier und jetzt eingesetzt. Zugleich werden Vorgriffe auf Künftiges getätigt, sei es in Form der Ankündigung, nun „durchzustarten“ oder einer Art präventiven Entschuldigung, aufgrund „chronischen Zeitmangels“ möglicherweise künftig wenig Zeit für das Engagement als Lotsin zu haben. Die Absolventinnen zeigen damit in unterschiedlicher Weise, wie sie auf ihre neue Aufgabe eingestimmt sind. Feedback wird vom Einzelnen gegeben und zugleich intersubjektiv als etwas hervorgebracht, das sowohl der Selbst- als auch der Fremdvergewisserung dient.
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Die Absolventen explizieren, bestätigen und evaluieren in dieser Abschlussrunde noch einmal vor den Dozentinnen wie auch vor einander, über welche Begegnungsund Selbstbegegnungskompetenzen ein Integrationslotse verfügt bzw. verfügen sollte und stellen auf diese Weise ein Kollektiv von Mittlersubjekten her: Das Vermitteln zwischen Menschen unterschiedlicher Nationalkulturen bedarf „sozialer Kompetenzen“, kulturspezifischen Wissens (durch das Kennenlernen von „Nationalitäten“), selbstreflexiven Wissens (durch „Selbsterfahrung“) sowie einer großen Einsatzbereitschaft, um „durchzustarten“. Auf diesem Fundament „zusätzlich“ erworbener oder „verfestigter und bestätigter“ Wissensformen sind ‚trotz‘ kultureller Unterschiede harmonische Beziehungen (wie bei „Geschwistern“) nicht nur möglich, sondern auch normativ erstrebenswert. Wie zentral diese normative Übereinkunft ist, wird in dem Moment deutlich, wo sie durch eine Teilnehmerin in Frage gestellt wird: Tatjana meint an die Runde gerichtet, sie habe ja nichts gegen Stefan [der einzige Kursteilnehmer ohne Migrationshintergrund], aber Ausländer würden sich untereinander besser verstehen. Rasend schnell verändert sich die Atmosphäre im Raum. Eben noch lächelnde Gesichter verwandeln sich in verstört, mitunter fassungslos und ärgerlich dreinblickende. Statt bestätigenden Nickens fängt sich Tatjana als erste lauten Widerspruch ein: „Nein! Das ist genau umgekehrt! Man lernt ja gerade voneinander!“ Eine andere schließt an: „Wir haben hier so viel von anderen Kulturen gelernt. Und dazu gehört eben auch die deutsche!“ Ein weiterer Lotsenanwärter bekräftigt: „Es müssten viel mehr Deutsche dabei sein, damit sie mehr über Migranten erfahren!“ Schließlich schaltet sich Stefan selbst mit hochrotem Kopf ein: „Ausländer beschweren sich oft, dass sie an den Rand gedrängt und isoliert werden. Dein umgekehrtes Argument ist totaler Quatsch!“ Eine andere Teilnehmerin meint, dass sie „allgemein viel von einer guten Mischung“ halte. Auch „mehr Männer wären zwecks Austausch schön gewesen“. Noch einmal meldet sich Stefan aufgebracht: „Mensch ist Mensch in Problemvierteln. Da haben Deutsche genauso Probleme wie Ausländer!“ Eine der Dozentinnen wirkt während der eskalierenden „Feedbackrunde“ wie erstarrt, die andere versucht die Diskussion zu unterbrechen und meint, man solle jetzt mal zu einem Abschluss kommen. Eine Teilnehmerin startet daraufhin einen letzten Vermittlungsversuch: „Tatjana hat das nicht so gemeint. Ich kenne ihre Kultur. Deshalb verstehe ich was sie meint und könnte das erklären.“ Die Dozentin meint daraufhin an Tatjana gerichtet, dass sie selbst etwas dazu sagen könne. Tatjana, die bisher nur geschwiegen hatte, schüttelt den Kopf und sagt leise: Ich habe nur meine Meinung gesagt.“
Tatjanas Äußerung bringt das einträchtige Mittlerkollektiv gehörig durcheinander. Sie stellt die eben noch in ihrer Gültigkeit bestätigte soziale Ordnung der angehenden Lotsen fundamental in Frage, da sie nicht irgendeine Regel verletzt, sondern die Daseinsgrundlage des Lotsen als harmonisierendem Vermittler zwischen Kultu-
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ren bzw. Einheimischen und Migranten zur Disposition stellt. Im Anzweifeln dieses Mittlerprinzips lässt sie es gerade in aller Deutlichkeit hervortreten. Zu Beginn dieser Szene ist völlig unklar, ob wir es hier mit einem kritischen Heraustreten aus der situativ hergestellten Ordnung oder einem Herausfallen mangels besseren Wissens, was in der Situation gefordert ist, zu tun haben. Erst im weiteren Verlauf wird angesichts ihres ‚Beharrungsvermögens‘ deutlich, dass Tatjana – zumindest in dem Moment, wo sie ihre Außenseiterposition nochmals bewusst einnimmt – aus der Ordnung heraustritt. Indem die übrigen Teilnehmer Tatjanas Statement harsch als eindeutigen Regelverstoß ahnden, versuchen sie einerseits, die vormalige Ordnung samt ihres soeben präsentierten Selbstbildes als kulturelle Mittler wiederherzustellen. Doch vorläufig verändert sich die Ordnung durch Tatjanas Fehltritt. Wir haben es nicht mit einem Urheber von Kritik zu tun und dennoch wird eine Praxis in Gang gesetzt, die sich insofern als kritisch beschreiben lässt, als dass sie eine spezifische, wenngleich nur vorübergehende transformatorische Wirkung entfaltet: Bis zu diesem Moment wurde von den Teilnehmern ein Begegnungsraum im Modus der Kulturalisierung hervorgebracht. Tatjana selbst ‚verlässt‘ diesen Raum nicht, nimmt darin aber einen falschen Platz ein und initiiert so eine Irritation, die nach sich zieht, dass von den Teilnehmenden plötzlich neue Begegnungsräume mittels Aktualisierung geschlechtlicher Relationen (eine „gute Mischung“) oder anthropologischer Universalisierungen („Mensch ist Mensch“) hervorgebracht werden. Erst indem Tatjana schließlich eine Teilnehmerin zur Seite springt und versucht, den entstandenen Schaden an der Ordnung wie auch an der in eine Außenseiterposition abgeglittenen Tatjana zu reparieren, indem sie deren Worte stellvertretend zurücknimmt und eine kulturelle statt einer persönlichen Erklärung für die ‚Entgleisung‘ anbietet, wird die Situation in ihre ursprüngliche, kulturalisierende Rahmung rücküberführt. Hieran zeigt sich nicht nur, wie schwierig es im empirischen Einzelfall sein kann, beobachtete Vollzüge als Heraustreten oder Herausfallen aus einer Ordnung zu qualifizieren, sondern ebenso, dass es von der jeweiligen Beobachtungsperspektive abhängt, ob sich ein Praxisverlauf als gelingende oder als scheiternde Subjektivierung darstellt. In Auseinandersetzung mit zwei Szenen, in denen Teilnehmerinnen aus einer Übungspraktik heraustreten, indem sie auf diese als Übung reflektieren (vgl. Kapitel 3.2.4.2) wurde deren Auffälligwerdung als Moment ihrer Subjektivierung perspektiviert. Bringt man die Kategorie des Subjekts hingegen dort in Anschlag, wo Subjekte unauffällig werden und sich in eine Subjektform einpassen, so ließe sich die Auffälligwerdung Tatjanas, gleich ob im Sinne eines Heraustretens oder Herausfallens, gerade als Moment einer scheiternden Subjektivierung als Mittlersubjekt der Migration beschreiben.
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3.3.5.2 Ein erster öffentlicher Auftritt Als die Abschlussrunde beendet ist, ist es früher Abend. Nun endlich rüber in den deutlich größeren Raum nebenan, in dem die Zertifikatsübergabe stattfindet. Begleitet von aufgeregtem ‚Geschnatter‘ wird schnell das „internationale Buffet“ aufgebaut, zu dem alle etwas beigetragen haben. Da tauchen auch schon die ersten Gäste auf. Familienangehörige und Bekannte werden freudig begrüßt. Das Licht wird heruntergedimmt. Mit dem Eintreten der geladenen Journalisten samt Photographen sowie Vertretern der Bildungsbehörde und verschiedener Einrichtungen aus dem Stadtteil wird es immer ruhiger im Raum bis dieser mit der Ankündigung eines Grußwortes einer Vertreterin der Senatskanzlei schließlich ganz mit erwartungsvoller Stille ‚ausgefüllt‘ ist. Die Rednerin erhebt sich von ihrem Platz und betont in ihrem Grußwort, wie wichtig die zertifizierten Lotsinnen seien, gerade um Neuzugezogenen das komplexe deutsche Bildungssystem nahe zu bringen und wünscht den Lotsinnen viel Erfolg bei ihrer Tätigkeit. Der Vorstand des Trägervereins des Lotsenkurses hebt in seiner anschließenden Rede hervor, dass das Projekt zeige, dass das Ehrenamt „auch von migrantischer Seite sehr ernst genommen“ werde. Es müsse „in die Öffentlichkeit gebracht werden, dass wir in der Lage sind, ehrenamtlich zu arbeiten und Nützliches für die Gesellschaft zu tun.“ Seine Worte ernten großen Applaus. In dem Moment, wo die Dozentinnen den Platz ihrer Vorredner einnehmen, geht ein Getuschel unter den ‚fast fertigen‘ Lotsinnen um: Nun sind sie dran. Nacheinander werden sie aufgerufen, verlassen ihre Plätze an der gedeckten Tafel und gehen nach vorne, um unter dem Applaus der Anwesenden ihr Zertifikat, eine Rose und Glückwünsche der Kursleiterinnen entgegen zu nehmen. Private Gäste und journalistische Photographen begleiten die Auftritte mit ihren Kameras, die neben den Porträtaufnahmen schließlich den gesamten Lehrgang inklusive der Dozentinnen in mehreren Gruppenphotos ‚einfangen‘.
Die Vergabe des Lotsenzertifikats hebt sich aus anderen Aufführungen im Rahmen der Ausbildung deutlich heraus, da sie sich in Form eines Rituals vollzieht. Rituale zeichnen sich nach Fischer-Lichte (2003: 47) dadurch aus, dass sie „der Selbstdarstellung, Stiftung bzw. Bestätigung oder auch Transformation von Gemeinschaften dienen und unter Anwendung je spezifischer Inszenierungsstrategien und -regeln geschaffen werden.“ Die Zertifikatsverleihung, die von einigen Lotsen mit einer Abschlussfeier nach bestandener Ausbildungsprüfung oder einer Abiturfeier verglichen wird, verläuft im Wesentlichen nach einem immer gleichen Muster: Die Absolventen werden einzeln nach vorne gerufen, erhalten ihr Zertifikat, werden händeschüttelnd beglückwünscht und währenddessen unter Applaus der Anwesenden photographiert. Stets handelt es sich um ein Ereignis, das den während der Ausbildung eingeleiteten Prozess der Veröffentlichung weiter vorantreibt: Der verliehene Titel ermöglicht und verlangt es von den Absolventen, hier und jetzt erstmalig und von nun an auch andernorts als Lotsen aufzutreten. Mit der feierlichen Zertifikats-
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übergabe wird symbolisch und praktisch der Schritt nach ‚draußen‘, in die Welt des Lotsen, vollzogen. Sie bildet den, zumindest vorläufigen, Endpunkt der Ausbildung und zugleich ein Nadelöhr in Hinblick auf die künftige Praxis.199 So erzeugt die öffentliche Markierung als Integrationslotse einen Passagepunkt (obligatory passage points, Callon 1986), durch den der Novize als Kandidat für Anfragen und Kooperationsgebote von potentiellen Klienten und Hauptamtlichen ‚bereitgestellt‘ und in ein Lotsenkollektiv aufgenommen wird, dem gegenüber er fortan eine gewisse Verantwortung trägt, da das, was er als Lotse tut, auf diese Gemeinschaft zurückfällt bzw. zurückstrahlt.200 Nicht in allen Kursen vollzieht sich das Ritual der Zertifikatsübergabe allerdings vor einem so großen Publikum wie in der oben umschriebenen Szene. Die Inszenierung ist hier in besonderer Weise darauf ausgerichtet, öffentliche Sichtbarkeit zu erzeugen. Das besondere ‚Gewicht‘ dieser Veranstaltung lässt sich im Vergleich mit einer anderen Zertifizierungsszene veranschaulichen. Rufen wir uns hierzu die kapiteleinleitenden Worte einer Dozentin: „Mit dieser Urkunde seid ihr zertifizierte Lotsen. Nicht mehr und nicht weniger“, noch einmal in Erinnerung und stellen uns dabei vor, dass diese in einem schlichten Seminarraum mit durch und durch sachlicher ‚Ausstrahlung‘ mitten am Tag an die Lotsen gerichtet wurden, ohne dass irgendein geladener Gast anwesend gewesen wäre. Auch dort wird an die Lotsinnen appelliert, Verantwortung zu zeigen, da man nun „nicht weniger“ als ein Lotse sei. Neben dieser Untergrenze wird aber zugleich ein Bereich des „nicht mehr“ markiert, welcher die Verantwortung und Selbstverpflichtung nach oben hin begrenzt. Dem Appell zur Verantwortungsübernahme und Selbstverpflichtung wird also auch hier der Appell an das Grenzbewusstsein zur Seite gestellt. Anders verhält es sich in der oben ausführlich umschriebenen Szene. Das szenische Arrangement der Zertifikatsverleihung ist das einer Abendveranstaltung in einem feierlich hergerichteten Raum mit schick gekleideten Lotsen und Gästen, in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit erhobenen Rednerkörpern, Rosenüberreichungen, gedimmtem Licht, einer immer wieder einkehrenden andächtigen Stille und einem anschließenden Buffet. Das Ganze ähnelt hier tatsächlich weniger einer schlichten Zeugnisübergabe als einer Zertifikatsfeier. Vom gesamten Raum, der wie eine Miniatur des Stadtteils erscheint, geht eine Adressierung an die Lotsen als verdienstvolle Hoffnungsträger aus: Sie können stolz auf das bislang Erreichte sein,
199 Vorläufig ist das Ausbildungsende insofern, als dass in der Regel Nachhaltigkeitsmodule und gelegentlich Spezialisierungsmodule folgen, in deren Anordnungen sich die aktiven Lotsen wieder in Auszubildende ‚zurückverwandeln‘. 200 Der Rekurs auf chronischen und insofern auch künftig zu erwartenden Zeitmangel lässt sich als eine Strategie lesen, diesen Erwartungsdruck abzumildern und sich im Bewusstsein der Unumkehrbarkeit des Prozesses eine Art ‚Exit Option‘ offen zu halten.
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aber damit gehen auch gewisse Verbindlichkeiten für die Zukunft einher. Zahlreiche Blicke von ‚hochrangigen‘ Persönlichkeiten, Journalisten, Verwandten und Freunden richten sich voller Erwartung auf die Lotsen. Von dem Vorstand des Trägervereins werden sie als ehrenamtlich engagierte Migranten nicht nur für das Prestige der Integrationslotsen responsabilisiert, sondern für das Ansehen und die Sichtbarkeit eines ganzen Migrantenkollektivs, dem sich der Vorstand selbst zuordnet. Als migrationsvordergründige Lotsen haben sie stellvertretend zu zeigen, dass das Ehrenamt „auch von migrantischer Seite sehr ernst genommen“ wird und „in die Öffentlichkeit“ zu bringen, „dass wir in der Lage sind, ehrenamtlich zu arbeiten und Nützliches für die Gesellschaft zu tun.“ Mit diesem Appell lastet die Verantwortung für eine ganze „Migrantencommunity“ auf den Schultern der Lotsen.201 3.3.5.3 Der Titel als Türöffner „Man muss sich bei der Behörde nur als Integrationslotse vorstellen, und dann wissen alle Bescheid. Die sind dann sehr offen und freuen sich.“
Mit dem Zertifikat wird den Lehrgangsabsolventen ein Titel verliehen, der von aktiven Lotsen immer wieder als ein „Türöffner“ qualifiziert wird: Auf die sichtlich überraschte Nachfrage eines Kursteilnehmers, wie es denn sein könne, dass eine Lotsin so einfach in die Schule gehen und Lehrer ansprechen könne, der Lehrer würde dann doch sagen „Da kann ja jeder kommen“, antwortet die Lotsin mit einem energischen, geradezu entrüsteten: „Nein! Das ist nicht so. Wenn sich jemand als Integrationslotse bei einem Lehrer vorstellt, ist die Tür offen!“
Als ausgewiesene Lotsen erhalten die Absolventen einen legitimierten Zugang zu administrativen Einrichtungen, der ihnen sonst erschwert oder ganz verwehrt wäre, denn der Titel ist „mit der eigentümlichen Wirksamkeit des ‚Offiziellen‘“ versehen (Bourdieu 1983: 198). Er verleiht dem Lotsen eine Autorität, die weit über jene des Alltagshelfers hinausgeht. Voraussetzung dafür ist, dass der Titel „angeeignet und in Auseinandersetzungen als Waffe und als Einsatz verwendet wird“ (ebd.: 189, Herv. AQ):
201 Beim Begriff der „Migrantencommunity“ handelt es sich um einen häufig gebrauchten Feldbegriff, der auch am Abend der beschriebenen Zertifizierungsfeier mehrfach zu hören war.
276 | M ITTLERSUBJEKTE DER M IGRATION AQ: Hat sich mit der Lotsenqualifizierung etwas für Dich verändert? Lotsin: Ja, doch. Weil sonst heißt es ja immer: „Wer sind Sie denn?“. Und nun kann man halt sagen: „Ich bin der Migrationslotse, ich bin dafür beauftragt, diesen Fall – oder Fall nicht – aber mit der Person das zu klären“ oder so.202 Also das ist schon ein Unterschied. Das war ja bei meiner Bekannten [ebenfalls eine migrantische Alltagshelferin, die inzwischen Lotsin ist] nicht anders. Sie ist ja auch immer mit und zu ihr haben sie dann auch gesagt: „Wer sind Sie denn eigentlich?“ Und bei ihr war es halt dann auch so. Damit halt offiziell gesagt werden kann: „Ich bin der Lotse. Ich kümmer’ mich jetzt darum.“ Damit die dann halt nicht sagen können: „Nee, nee.“ [...] Also es nimmt schon ein paar Hürden (Interview L2/ 28.06.2011, Zeilen 312-325).
Wie jemand, der inzwischen regelmäßig von Lotsen bei Amtsgängen begleitet wird, deutlich macht, färbt die Autorität des Lotsen dabei auch ein Stück weit auf seinen Klienten ab, indem sie ihm Sichtbarkeit und eine stärkere Stimme verleiht. „Dadurch, dass ein Lotse dabei ist, werde ich mehr wahrgenommen. Die hören dann auch besser zu.“ In der Überzeugung, dass es einen Unterschied macht, ob jemand als Lotse oder aber als ein Alltagshelfer in eine Situation eintritt, appellieren die Projektkoordinatoren an die Novizen immer wieder, Gebrauch von ihrem Titel zu machen: „Integrationslotsen sind bei Behörden sehr gut angesehen. Deshalb solltet Ihr Euch dort immer als Lotsen vorstellen. Das ist dann etwas anderes als wenn man sich zum Beispiel als ‚ein Nachbar‘ vorstellt. Außerdem habe ich dann auch einen Ansprechpartner und kann bei der Institution nachfragen, wie sich der Lotse macht und sehen, wo ich ihn wieder hinschicken kann.“
Das Zitat verdeutlicht noch eine weitere Funktion des Titels: Er präfiguriert nicht nur eine Veränderung des Positionengefüges zwischen Lotse (im Vergleich zum migrantischen Alltagshelfer), Klient und Institutionenvertreter und entlastet die Situation von ausführlichen Erklärungen (wie die Begleitperson zu dem Migranten steht und was sie autorisiert, diesen zu begleiten), er fungiert – ähnlich wie Fall und Fragebogen – auch als ein transsituatives Medium im Umgang mit Kontingenz: Was Personen als offizielle Lotsen tun, und nicht als Alltagshelfer, lässt sich von Projektkoordinatoren und institutionellen Repräsentantinnen über Raum und Zeit hinweg leichter verfolgen, regulieren und koordinieren. Der Titel wird gebraucht, um die Lotsenpraxis mit ihrem weiten Spektrum an Möglichkeiten zumindest etwas
202 Hier macht sich eine gewisse Irritation der ehemaligen Alltagshelferin bemerkbar, die sich unsicher darüber wird, ob sie als Lotsin von ‚Personen‘ oder ‚Fällen‘ zu sprechen hat.
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transparenter und antizipierbarer zu machen und Erwartungen und Verantwortlichkeiten zu organisieren, die mit der Zertifikatsfeier noch relativ diffus ‚im Raum stehen‘. Ein Titel dient nach Bourdieu der Objektivierung von inkorporiertem Kulturkapital; er verleiht diesem institutionelle Anerkennung und erlaubt den Vergleich und Austausch von Besitzern des gleichen Titels (vgl. Bourdieu 1983: 189f.). Er trägt damit dazu bei, Beziehungen zu entpersonalisieren. Statt einer auf persönlicher Bekanntschaft basierenden Beziehung zwischen Migranten und Alltagshelfern stellt der Titel eine Beziehung zwischen Lotse und Klient bzw. Fall her, so dass wechselnde Variationen von Lotsen und Fällen möglich werden. Der Lotsentitel fungiert damit zugleich als transsituatives Medium der sozialen Expansion (vgl. Kapitel 3.2.5.2), indem er eine dem Bedarf vor Ort entsprechende Ausweitung von Zuständigkeiten für Klienten bzw. Fälle erlaubt, zu denen keinerlei persönliche Verbindung bestehen muss. „Ich betreue seit zehn Jahren Migrantinnen. Ich übersetze und gehe mit ihnen zum Arzt. Jetzt möchte ich das auch mal schriftlich haben.“
Diese Äußerung einer ehemaligen Alltagshelferin, die inzwischen Lotsin ist, macht deutlich, dass Titel noch mehr leisten: Sie „schaffen einen Unterschied zwischen dem kulturellen Kapital des Autodidakten, das ständig unter Beweiszwang steht, und dem kulturellen Kapital, das durch Titel [...] sanktioniert und rechtlich garantiert ist, die (formell) unabhängig von der Person ihres Trägers gelten.“ (Bourdieu 1983: 189f, Herv. AQ). Eine Trägerin des Lotsentitels ist im Vergleich zum migrantischen Alltagshelfer vom Zwang des sich beweisen zu müssen, zumindest punktuell entlastet. Sie verfügt mit dem Zertifikat über ein Schriftstück, das sie als Expertin ausweist und sie somit vom alltagshelfenden Animateur unterscheidet. Institutionelle Anerkennung erfährt dabei nicht das in der Praxis der Begleitung erworbene Erfahrungswissen, sondern die in der Ausbildung erworbenen Wissensformen und Kompetenzen. Der Titel wird für dieses Bildungskapital verliehen und nicht dafür, dass jemand einen anderen ‚gut und sicher‘ durch schwierige Behördengänge lotst. In einem Gespräch mit einer migrantischen Alltagshelferin, in dem es um ihre Schwierigkeiten bei der Jobsuche geht, wird deutlich, wie es durch diese Hierarchisierung von Wissensformen quasi zu einer paradoxen Umkehr von Theorie und Praxis kommt. Gefragt nach den vielen Fähigkeiten, die sie doch sicher durch ihre langjährige Erfahrung in der Begleitung erworben habe, meint die Alltagshelferin: „Ja, aber, wissen Sie, das ist auch alles theoretisch. Das ist kein Beweis. Was man richtig gemacht hat. Vielleicht hab ich mehr Erfahrung als jemand, der frisch die Uni absolviert hat, aber der Arbeitgeber wird das nicht so sehen. Die wollen für alles immer Zertifikate und
278 | M ITTLERSUBJEKTE DER M IGRATION Fortbildung und so was. Ich weiß, die Gesellschaft hier ist so und deshalb suche ich jetzt so eine kleine Fortbildung.“
Die Alltagshelferin zeigt hier einen „gesunden Menschenverstand“ (buon senso) oder eine „Weltauffassung“ im Sinne Gramscis (1997), der zufolge ein praktisches Wissen, dem die institutionelle Beglaubigung durch einen Titel fehlt, insofern zu etwas bloß Theoretischem, gar Virtuellem wird, als dass es in dieser Gesellschaft nicht (an-)erkannt wird und sich somit kaum zur materiellen Existenzsicherung einsetzen lässt. Wenngleich formalisierte Bildungs- und Ausbildungsabschlüsse als arbeitsmarktliche Zugangsbarrieren bzw. -schlüssel für nahezu jeden fungieren, scheint für viele Migranten solchen und anderen schriftlichen „Beweis“-Stücken jedoch ein besonderer Stellenwert zuzukommen, was es notwendig macht, das Lotsenzertifikat in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. 3.3.5.4 Schriftstücke: Das beglaubigte Selbst Bisher wurde deutlich, dass nicht nur schriftliche Belege eines jahrelangen ehrenamtlichen Engagements von (ehemaligen) migrantischen Alltagshelfern als überaus wichtig angesehen werden, sondern auch, dass migrantische Lotsen in ihren Selbstthematisierungen ihre mündlich vorgebrachten Migrationserfahrungen und ‚Integrationsideen‘ immer wieder durch Bezugnahmen auf schriftliche Quellen in Form wissenschaftlicher Studien, insbesondere statistischer Daten, zu ‚fundieren‘ und in schriftliche Formen zu überführen haben (vgl. Kapitel 3.2). Die folgende Interviewsequenz macht darüber hinaus Gewicht und Tragweite von allgemeinem „Papierkram“ im Leben von Migranten nahezu greifbar. Sie stammt aus einem Interview mit einer gerade ausgebildeten Lotsin, die darin ihre langjährigen Alltagshelferpraktiken im Familien- und Bekanntenkreis beschreibt: Lotsin (L2): Die haben ja voll viel Papierkram. Erstens, wenn sie neu hier sind, dann halt den ganzen Papierkram für die Gemeinden, [Stimme geht in eine Art genervten ‚Singsang‘ über] für die Krankenkassen, was die da alles haben. Also das ist schon ordentlich. AQ: Mhm. L2: Ja, ständig. Also da würd’s mich wundern, wenn die einen Tag keinen Brief kriegen. [lacht] Also das war ’ne Zeit lang bei uns so. Da hab ich mich echt gewundert, einen Tag haben wir keinen Brief gekriegt, da hab ich nur gedacht: „Oh. [lacht] Was ist da denn schief gelaufen?“ Also doch da kommt immer irgendwas. Entweder von der Gemeinde [Stimme geht wieder in genervten ‚Singsang‘ über], vom Arbeitsamt, von den Krankenkassen, egal welche Behörden oder öffentliche Einrichtungen wie Volkshochschule wegen Sprachkursen oder so was. Ständig! Also es ist schon ganz viel. AQ: Mhm.
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L2: Ja. Und dann muss man irgendwie nachweisen, was verdienen die, ob die überhaupt was verdienen [erneuter Singsang], was die an Gas und Strom allgemein, egal was die da..., was im Haushalt quasi passiert, was rausgeht, reinkommt. Muss alles angezeigt werden. Und das muss man immer und immer wieder. Auch wenn sie die Sachen...Ich meine, alle drei Monate muss das alles wieder gemacht werden von den Gemeinden und so...Da musst du auch alle... Schulbescheinigungen der Kinder und ... Alles Mögliche. Also das ist schon heftig was da für Papierkram gemacht werden muss (Interview L2/ 28.06.2011, Zeilen 359-385).
Ähnlich wie diese ehemalige Alltagshelferin berichtet eine hauptamtliche Migrationsberaterin bei einem Kursbesuch, dass „Integrationspläne“, die im Rahmen des „Case Managements“ erarbeitet werden, „als allererstes die Vorlage von Kopien des Aufenthaltsstatus, der Zeugnisse, der Bildungsnachweise, et cetera, et cetera“ voraussetzen. Da Migranten bei Ämterschreiben nichts falsch machen wollten, würden sie zusammen mit den Beratern „Routinen des Ausfüllens“ entwickeln, was dann problematisch werde, wenn neue Antragsformulare erscheinen, „wo das Kreuzchen plötzlich woanders hinkommt“. Dieser Parcours macht deutlich, dass Migranten in verschiedensten Kontexten als verwaltete und sich verwaltende, als erklärte und sich erklärende Subjekte hervorgebracht werden, die sich beständig auf schriftliche Nachweise, objektivierte, d.h. etwa gesetzlich festgeschriebene Ansprüche und statistisch belegbare Problemlagen zu beziehen haben. Schriftstücke dienen ihnen dazu, sich ausweisen (Staatsbürgerschaft), Rechenschaft abzulegen (Behördenbriefe), Erfolge nachzuweisen (Evaluierungen von Lotsenkursen, vgl. Kapitel 2.3.4), Leistungsbeweise zu erbringen (Zertifikate) und nicht zuletzt Sichtbarkeit (Flyer, Broschüren etc.) zu erlangen.203 Obgleich sich ein migrationshintergründiger Lotse, wie in Kapitel 3.3.1.1 herausgearbeitet wurde, gerade dadurch ausweist, dass er seine Schützlinge beglei-
203 Nirgendwo sonst wie in den Räumlichkeiten und bei Veranstaltungen von Integrationslotsen habe ich es bisher erlebt, dass Passanten und Besucher so häufig und nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht wurden, dass man „da auch einen Flyer und eine Broschüre“ habe, die man unbedingt mitnehmen müsse. Die hier umrissenen Prüfungs- und ‚Evaluierungsdispositive‘, die sich durch das Erfordernis auszeichnen, die Qualität einer Leistung, das Vorliegen bzw. die Angemessenheit eines Anspruchs etc. nachweisen zu müssen, sind freilich nicht allein charakteristisch für das Lotsenprojekt. Vielmehr werden sie in unzähligen gesellschaftlichen Bereichen aktualisiert. Insbesondere Bezieher von Arbeitslosengeld (v.a. ‚Langzeitarbeitslose‘ nach SGB II) haben ebenfalls beständig Nachweise zu erbringen, dass sie diese Unterstützung auch tatsächlich ‚verdienen‘. Allein aus zuwanderungsrechtlichen Bestimmungen ergeben sich für Migranten jedoch besondere Anforderungen, ihr Selbst im Beibringen schriftlicher Belege zu beglaubigen.
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tet, indem er theoretisch ‚unbelastete‘, authentische Erfahrungen mündlich mit ihnen teilt (Migrationserfahrung) bzw. an sie weitergibt (Integrationserfahrung), hat er sein migrantisches Selbst doch zugleich ständig schriftlich zu beglaubigen. Für ihn besteht die Herausforderung somit darin, zugleich Appelle an ein mündlich authentifiziertes und an ein schriftlich beglaubigtes Selbst beantworten zu müssen. Das Zertifikat erlangt deshalb eine so große Bedeutung, weil es den Lotsen von einem Teil seines Beweiszwanges entlastet und oftmals die einzige, wenngleich indirekte Möglichkeit zu bieten scheint, Zugang zum regulären Arbeitsmarkt zu erhalten. 3.3.6 Zwischenresümee Betrachtet man die untersuchten Verfahren, welche den Übergang von der Ausbildung vorbereiten bzw. mitunter bereits direkte Einstiege in die Lotsenpraxis befördern (vgl. Kapitel 3.3.1, 3.3.3) in der Gesamtschau, so ergeben sich hieraus erste Hinweise auf ein sich allmählich konstituierendes Feld des Lotsen(s). Bourdieus feldtheoretischen Ansatz lese ich dabei mit Boltanski. In der Perspektive, Institutionen prinzipiell als unvollständige Einrichtungen zu betrachten, liegt die entscheidende Abgrenzung Boltanskis (sowie der neuen pragmatischen Soziologie in Frankreich insgesamt) von Bourdieus Feld- und Habituskonzeption, denn daraus folgt, „Handlungsformen und -möglichkeiten von Menschen wesensmäßig nicht nur auf die Existenz anderer Menschen in einem objektiven sozialen Raum (einem ‚Feld‘ oder einer ‚Struktur‘), sondern auch auf die immer erst interaktiv durchzuführende soziale Bestimmung von Räumen gemeinsamer Geltung von allgemeinen Kriterien zu beziehen und die Aufmerksamkeit auf die Frage der situativen wechselseitigen Anerkennung zu richten. ‚Felder‘ und ‚Kapitalformen‘ [...] sind dann nicht objektiv vorgegeben und eindeutig – strukturell – handlungsleitend, sondern die jeweils geltenden Maßstäbe der Orientierung [...] werden in den ‚realen Welten‘ der Handlung, die aus historischen und situativen Kompromissen zwischen Rechtfertigungsregimen resultieren, erst im Handeln selber bestimmt.“ (Wagner 1993: 473, Herv. AQ). Statt das Feldkonzept zu verwerfen, lässt es sich in dieser Weise offener und dynamischer lesen und subjektivierungstheoretisch anschlussfähig machen (vgl. bereits Kapitel 2.1.6). Konsequenter als Bourdieu dies getan hat, wird es dabei als Feld der objektiven Positionen und als Raum der Möglichkeiten perspektiviert. Bogusz konstatiert in diesem Zusammenhang: „Der ‚Raum der Möglichkeiten‘ (espace des possibles) bildet in der Feldtheorie Bourdieus zwar einen konstitutiven Bestandteil der praxistheoretischen Perspektive, die er in den Algerienstudien entwickelt hatte, doch sein heuristischer Zweck verlor in der Zuspitzung des HabitusKonzeptes an Bedeutung. Der ‚Raum der Möglichkeiten‘ ist hingegen genau der
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Ort, an den Boltanski sich begibt, um das für die französische Soziologie so zentrale Spannungsverhältnis von Erfahrung, Praxis und Erkenntnis zu entschlüsseln.“ (Bogusz 2010: 151f., Herv. AQ). Kurz gefasst: Während mit Bourdieu der Aspekt der Ordnungsbildung und -reproduktion in den Blick gerät, d.h. die Genese von Feldern, die sich dank spezifischer Strukturprinzipien (die ich in dieser Arbeit als Strukturierungsprinzipien bezeichne), weitestgehend regelmäßig ablaufender Praktiken und habitualisierter Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata aufrechterhalten, macht Boltanski auf die Offenheit, Beweglichkeit und Wandlungsfähigkeit von Ordnungen aufmerksam, welche in kontingenter Praxis hervorgebracht werden, einer interaktiven wechselseitigen Anerkennung durch verkörperte Subjekte mit jeweils eigenen Perspektiven bedürfen und durch situative Prüfungen herausgefordert werden können. Beleuchtet wurde zunächst, wie Gäste kooperierender Einrichtungen und Projektkoordinatoren die angehenden Lotsen als Verkörperungen ihrer jeweiligen Institutionen an ein Spektrum von potentiellen Einsatzgebieten heranführen und diesen zum Teil erste konkrete Probeaufträge verschaffen. Wie sich am Beispiel des Quereinstiegs eines ‚Migrationserfahrenen‘ ohne vorherige Lotsenausbildung gezeigt hat, basiert die Anwerbung neuer Lotsen nicht auf klaren Auswahlformaten, sondern auf unterwegs erfundenen Regeln und verfahrensmäßigen „Selbstabweichungen“ (Gehring 2009: 381f.), welche mit Boltanski als Ausdruck der Unvollständigkeit der institutionellen Ordnung gelesen werden können. Dass die Positionen von Entscheidungsinstanzen nicht eindeutig feststehen, sondern von der Projektkoordinatorin und der Kooperationspartnerin ebenso umkämpft werden wie die Konventionen der Auftragsvergabe, führt nicht nur zu Spannungen zwischen ‚inkarnierten‘ Institutionen, sondern eröffnet auch spezifische Möglichkeitsräume für Novizen. So kann die Frau eines Kenianers, der keine Lotsenausbildung absolviert hat und somit nicht über kulturelles Kapital in Form von Ausbildungswissen und einem Lotsenzertifikat verfügt, dessen biographischem Betroffenheitskapital und kulturellem Kapital in Form von Fremdsprachenkenntnissen in situ Geltung verschaffen, weil sich zwischenzeitlich die Kooperationspartnerin als Entscheidungsinstanz durchsetzt und damit die Deutungshoheit der Projektkoordinatorin, welche auf einen formellen Zugangsweg (Lotsenausbildung) und den Nachweis von Ausbildungskapital pocht, zumindest vorübergehend außer Kraft setzt. Wenngleich sich an dieser Kraftprobe zeigt, wie die Wertigkeit feldspezifischen Kapitals umkämpft und Verfahrensregeln mit Rekurs auf die besonderen praktischen Zwänge der Situation im Verlauf interaktiv verändert werden, wird von beiden Kontrahentinnen zugleich ein Bewusstsein darüber zum Ausdruck gebracht, dass es bestimmte Spielregeln (Konventionen) gibt, die trotz punktueller Abweichungen transsituative Gültigkeit beanspruchen können.
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Neben mehr oder weniger geregelten Einstiegspraktiken wird der Übergang in die Lotsenpraxis durch Verfahrensweisen vorbereitet, die auf Zeigen und Einstimmen basieren. Das Zeigen wurde als ein intersubjektives Verfahren „praktischer Entdeckung“ (Alkemeyer 2011: 62) beschrieben, welches auf etwas (sprachlich) Unverfügbares verweist, das von den aktiven Lotsen bereits zuvor praktisch entdeckt wurde und nur „im Darstellen zum Sichzeigen gebracht“ (Landweer 2011) werden kann. Mit Hilfe sprachstilistischer Mittel (Beispiele, Metaphern) sowie präsentativer Elemente der Sprache (Gestik, Mimik, Intonation) machen die aktiven Lotsinnen den Novizen die Lotsenpraxis zugänglich, indem sie ein leidenschaftliches Engagement körperlich aufführen und leiblich ‚nachspürbar‘ machen. Verbunden ist damit ein Appell zu vollem Einsatz und Eigeninitiative wie auch zu einer Sensibilität und gelassenen Offenheit für die Möglichkeiten, die sich den Nachwuchslotsen in der Praxis zeigen werden. Deutlich wird daran, dass das Feld des Lotsen(s) sich nicht über einen festen und mehr oder weniger abschließbaren Kanon klar beschreibbarer Lotsen-Praktiken konstituiert. Die Lotsenpraxis und damit gleichsam das, was ein Lotse in dieser Praxis sein kann, ergibt sich vielmehr erst im Aufspüren und Ergreifen von Möglichkeiten im Vollzug. Noch deutlicher kommt der erwähnte doppelte Appell (Eigeninitiative und abwartende Offenheit) bei der Einstimmung auf die Lotsentätigkeit mittels einer staccatoartig intonierten Fallpräsentation eines Projektkoordinators zum Ausdruck. Über die sprechrhythmisch hergestellte Bewegungssuggestion werden die Anwesenden zum Mitschwingen gebracht und in eine Aktionsbereitschaft versetzt, die einige von ihnen sogleich Fälle ‚anpacken‘ lässt und anderen ein weites Spektrum dessen vermittelt, was alles möglich wäre. Doch wie lassen sich in der Übergangsphase gerade jene Lotsen aus dem wachsenden Pool von Absolventinnen ‚herausfiltern‘, die ihre Möglichkeiten nutzen und gleichzeitig grenzbewusst genug sind, dass sie dabei nicht ‚über das Ziel hinausschießen‘? Eingesetzt wird zu diesem Zweck eine Art eignungsdiagnostisches Tastverfahren, das sich nicht nur auf eine Reihe von Informationen im Sinne expliziter Selbstauskünfte der Novizen verlässt, sondern weit mehr auf ein verfahrensmäßiges „Wissen, das im Tun steckt“ (Gehring 2009: 381f.) und sich als leibliches Gespür der Koordinatoren für ‚passende‘ Kandidaten äußert. Im Feld des Lotsen(s), das gerade dadurch charakterisiert ist, dass sich das Angebot nicht an einer vorab definierten Nachfragestruktur orientiert, sondern flexibel entwickelt wird, kommen statt institutionalisierter Auswahlformate oder schriftlich ausgearbeiteter Lotsenprofile (vgl. Kapitel 3.2.5.2) auf Erfahrungswissen basierende Eignungskriterien zum Einsatz, welche sich an jeweils konkreten Bedarfen orientieren. Dem leiblichen Gespür, mittels derer die Projektkoordinatoren aus ihrer dominanten (wenn auch gelegentlich situativ herausgeforderten) Position über Auftragsvergaben befinden,
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kommt damit eine zentrale Bedeutung für die Genese und Reproduktion des Feldes und seiner Regeln für Ein- und Ausschlüsse zu.204 Wenngleich der Einstieg in die Lotsenpraxis somit keinen vorgezeichneten Bahnen folgt, bedarf es ‚in aller Regel‘ – dies wurde im Zusammenhang mit der Kraftprobe Probeeinsatz deutlich (Kapitel 3.3.1.2) – institutionalisierten kulturellen Kapitals in Form eines Titels, um Eintritt in das Feld des Lotsen(s) zu erhalten. Eingebettet ist die Zertifikatsverleihung in eine Art Abschlusszeremonie, bei der Wissensbestände der Ausbildung rekapituliert, vertieft und letzte normativ-praktische Kurskorrekturen und Feinschliffe vorgenommen werden, bis sie schließlich schriftlich belegt und öffentlich beglaubigt werden. Im Vergleich zweier Szenen wurde hierbei deutlich, wie die Novizen mittels der jeweiligen materiellen Anordnung auf unterschiedliche Weise in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit gerückt werden. Die damit jeweils verbundene leiblich-körperliche Exponiertheit in diesen nun weitergehend veröffentlichten Beobachtungsdispositiven trägt dazu bei, Erwartungshaltungen der Projektleiter und lokaler Akteure sowie Verantwortlichkeiten der Lotsinnen von unterschiedlichem Gewicht und unterschiedlicher Reichweite zu transportieren. So hat sich gezeigt, dass die Novizen an diesem point of no return nicht nur eine gewisse Verpflichtung gegenüber den Projektverantwortlichen und einem ‚Mittlerkollektiv‘ von Integrationslotsen eingehen, sondern mitunter auch für eine stärkere, prestigeträchtige Sichtbarkeit der gesamten „Migrantencommunity“ (Feldbegriff) responsabilisiert werden. Die Adressierten werden damit widersprüchlichen Appellen ausgesetzt: Ihr Engagement basiert auf Freiwilligkeit, welche konstitutives Merkmal ehrenamtlichen Engagements ist, doch zugleich gehen die Integrationslotsinnen eine moralische (Selbst-)Verpflichtung ein, und zwar nicht nur gegenüber dem einzelnen Klienten, der einer Begleitung bedarf, sondern insbesondere als Mittler zwischen Migranten und Einheimischen, die am eigenen Leib demonstrieren, dass sich Migranten in besonderer Weise in die hiesige Gesellschaft einbringen. Es schälen sich somit immer deutlicher die unterschiedlichen Facetten einer Mittlerposition im Feld des Lotsen(s) heraus. Wie in den Ausbildungspraktiken ist die Hervorbringung eines Mittlersubjekts untrennbar mit einer Subjektivierung als Migrant verbunden. Novizen werden selektiv adressiert und entlang binärer Codes – Informalität (statt Formalität), Mündlichkeit (statt Schriftlichkeit), Praxis (statt Theorie) und Erfahrung (statt ‚Schubladenwissen‘) – zu migrationshintergründigen Lotsen gemacht. Vor dem Hintergrund dieser Zuschreibungen richten sich seitens
204 Ein Projektkoordinator gibt beispielsweise in einem Gespräch an, dass er bei einem bestimmten Lotsen „irgendwie ein schlechtes Gefühl“ habe. Auf meine Nachfrage erläutert er, dass der Lotse „ständig vorpreschen“ würde und ein wenig „überengagiert“ sei, weshalb er ihn „nun erst mal rausgenommen“ habe.
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der Kooperationspartner Harmonisierungsappelle an die Lotsen, welche im Sinne kultureller Übersetzer zum wechselseitigen Verstehen von Einheimischen und Migranten beitragen und insbesondere zwischen Migranten und den Vertretern einheimischer Institutionen vermitteln sollen. Die Novizen werden so an einen spezifischen Führungsstil herangeführt, der ihnen von den aktiven Lotsen gezeigt wird: Das Lotsen basiert darauf, dass zunächst Symmetrien zwischen migrantischen Integrationslotsen und Klienten auf der Basis eines konstruierten (und von den zeigenden Lotsen performierten) Migrantenkollektivs mit besonderen Erfahrungen, Denk- und Praxisstilen herstellt. In der Lotsenpraxis werden diese Symmetrien nutzbar gemacht, um institutionelle Hierarchien ‚abzuflachen‘ und institutionelle Erwartungen mit Hilfe der Lotsen in ‚gemilderter‘ Form an Migranten weiterzutragen. Zugleich werden diese Symmetrien im Rahmen des Selbsthilfeprinzips suspendiert und in Asymmetrien transformiert. Bildlich gesprochen ist der Wegbegleiter ‚auf Augenhöhe‘ im Rahmen dieser Führung der Selbstführung zugleich ein Wegbereiter, jemand, der im ‚Gleichschritt‘ (gemeinsame, universalisierte Migrationserfahrung) geht und doch stets einen Vorsprung hat (bereits ‚geglückte‘ Integration) und daher nach dem feldspezifischen ‚Vorbildprinzip‘ am eigenen Beispiel Entwicklungswege sowie Nachholbedarfe aufzeigt, die von den Migranten selbstorganisiert einzuschlagen bzw. anzugehen sind. Auf diese Weise treten Integrationslotsen als Multiplikatoren des sie selbst in ihrem Engagement anleitenden Möglichkeitsprinzips auf. Die Lotsen werden im Rahmen dieses Prinzips als Kreativsubjekte angerufen und darauf eingestimmt, sich Fälle und Tätigkeitsfelder eigenständig zu erschließen. Das Möglichkeitsprinzip ist als zentrales Strukturierungsprinzip sowohl Ergebnis als auch Motor des oben angedeuteten Verhältnisses von Angebot und Nachfrage im Feld des Lotsen(s): Es reagiert auf eine vage, unabgeschlossene Nachfrage und sorgt gleichsam dafür, dass sich keine feste Angebotsstruktur etabliert, sondern das Angebot so beweglich gehalten wird, dass es sich nicht nur einer ebenso instabilen Nachfrage vor Ort flexibel anpassen, sondern diese auch selbst generieren kann. Um das Engagement der ‚unberechenbaren‘ Kreativsubjekte kanalisieren zu können, bedarf es wiederum bestimmter Grenzen, die im feldspezifischen Komplementärprinzip ihren institutionalisierten Ausdruck finden. Im Rahmen dieses Prinzips werden die Lotsen als Mittler zu den Hauptamtlichen angerufen und der Appell zur Eigeninitiative mit einem Appell zur Selbstbegrenzung (auf die so genannte Verweisberatung) verbunden. Führt man diese beiden Anrufungen zusammen, wird deutlich, dass Integrationslotsen als Mittlersubjekte der Migration nicht in eine feldspezifische Subjektform eingepasst werden, sondern dass sie in die Genese des Feldes gerade als Subjekte mit eigener Gestaltungskraft, Kreativität und einem Spürsinn für das, was möglich ist und das, was ihre Kompetenzen überschreitet, verwickelt sind. Ihr aktives, selbsttätiges Engagement unterliegt dabei einer subtilen Regulierung, welche
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an während der Ausbildung, und besonders in der Übergangsphase, trainierten Sinnen der Lotsen ansetzt: Auf der einen Seite bedürfen Integrationslotsinnen eines „Realitätssinn[es]“ (Bourdieu 1985: 18, Herv. AQ), d.h. eines „Sinn[es] für die eigene Stellung im sozialen Raum – Goffmans ‚sense of one’s place‘“ (ebd.17). Der Realitätssinn bezeichnet ein „Gespür dafür, was man ‚sich erlauben‘ darf und was nicht“, einen „Sinn für Grenzen (das ist nichts für uns‘) oder [...] einen Sinn für Distanz, für Nähe und Ferne, die es zu signalisieren, selber wie von anderen einzuhalten und zu respektieren gilt“ (ebd.: 18). Auf der anderen Seite haben die Lotsen einen feldspezifischen „Möglichkeitssinn“ zu entwickeln, welcher auf ihren Realitätssinn in der Weise bezogen ist, dass er „die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt“ (Musil 2014: 16, Herv. AQ). Er lässt sich mit Robert Musil „als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken, und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist“ (ebd.). Musils Aphorismus „Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben“ (ebd.) kehrt sich im Feld des Lotsen(s) sozusagen um: Wenn es Möglichkeitssinn gibt – und gerade geben soll –, muss es auch einen Wirklichkeitssinn geben, der diesen ‚im Zaum‘ hält. Der Raum der objektiven Positionen, welcher über performative Aktualisierungen des Komplementärprinzips hervorgebracht wird und hauptamtlichen Fachkräften mit institutionalisiertem Bildungskapital eine höherrangige Stellung gegenüber Lotsen mit ‚bloßem‘ Betroffenheitskapital zuweist (vgl. Kapitel 3.3.1.1), wird über den Möglichkeitssinn der Lotsinnen mit einem Raum von Möglichkeiten verbunden und durch diesen zugleich in dynamischer Weise herausgefordert, da Möglichkeiten zwar gewissermaßen „in Form ‚struktureller Lücken‘ virtuell bereits existieren“ (Bourdieu 2001c: 372), diese Lücken aber nicht bloß in vorhersehbarer Weise ausgefüllt, sondern, wie wir in Kapitel 3.4. sehen werden, in der kontingenten Praxis immer auch überschritten werden können. Um diese Dynamiken zu kanalisieren und die Kontingenzen, die aus dem Möglichkeitsprinzip resultieren, handhabbar zu machen, bedarf es neben dem Realitätssinn der Lotsinnen bestimmter Institutionalisierungsverfahren. Hierzu zählen spezielle „Forminvestitionen“ (Thévenot) wie Fälle und Fragebögen sowie der Titel, der das Lotsenengagement offiziell und – im Vergleich zu dem des Alltagshelfers – transparenter und transsituativ nachvollziehbarer macht. Auch das eignungsdiagnostische Tastverfahren fungiert als ein Medium der Kontingenzhandhabung, das allerdings zugleich selbst Kontingenzen produziert. Da es einem beweglichen Austarieren von Angebot und Nachfrage dient, bringt es keine festgezurrten Kriterienkataloge in Anschlag, sondern es verlässt sich auf den Möglichkeitssinn der Lotsen und einen Spürsinn für geeignete Lotsen auf Seiten der Projektkoordinatorinnen. Ob und in welcher Weise ein Kandidat allerdings tatsächlich als Mittlersubjekt ge-
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eignet ist, entscheidet sich nicht in einem einmaligen Auswahlverfahren, sondern zeigt sich erst in der Praxis: Ein Lotse muss sich machen.
3.4 G ESTALTUNGSARBEIT „Man muss auch den Lotsen ’n Stückchen beobachten: ‚Wie macht er sich?‘.“
In der Analyse von Ausbildungspraktiken wurde gezeigt, wie die angehenden Lotsinnen während des Lehrgangs mit Hilfe eines dezidierten Trainingsplans weitestgehend spielfremd trainiert werden. Das Spiel wird dabei gegenüber dem als amateurhaft abqualifizierten Spiel des Alltagshelfers kultiviert und verwissenschaftlicht, d.h. mit Expertenwissen durchdrungen. Zum Ende der Ausbildung werden die Kursteilnehmer mittels verschiedenster Übergangsverfahren langsam an das Spiel herangeführt, indem erfahrene Spieler ihnen einzelne Spielzüge zeigen und ihre Trainer sie mit zentralen Spielregeln vertraut machen. Doch was macht das Training in Hinblick auf das Spiel? Wie professionalisiert sich dieses im weiteren Verlauf? Kurzum: „Wie weiter damit?“ (Scheffer 2013: 99, Herv. i.O.). Diese Frage stellt sich nicht nur der Forscherin, sondern ebenso den Praktikern im Feld, wie die folgenden Interviewauszüge mit zwei Alltagshelferinnen bzw. Nachwuchslotsinnen zeigen. AQ: Hat sich durch den Lehrgang etwas für Dich verändert? Lotsin (L1): Ja. Also ich habe nicht viel gelernt, weil ich schon weiter bin als das, was wir gelernt haben. Aber vielleicht so die eine oder andere Person, die ich kennengelernt habe, die mir wirklich in solchen Situationen [bei Behördengängen] weiterhelfen kann. AQ: Mhm. L1: Also ich kann jetzt, wenn ich jemanden begleite, kann ich mich als Integrationslotse vorstellen. Also das ist alles, was sich bei mir da so geändert hat. Aber jetzt Großes... Durch meine langjährige Erfahrung habe ich jetzt nichts Großes dazugelernt. Wirklich (Interview L1/ 27.06.2011, Zeilen 118-127).
Die durch die Interviewfrage provozierte Bilanzierung des ‚Damit‘ in Bezug auf das, was vor der Ausbildung war, fällt in einer Weise negativ bezüglich der Ausbildungserträge aus, die in deutlichem Kontrast zur Euphorie steht, wie sie in der Feedbackrunde am Ende eines Lehrgangs zum Ausdruck kam (vgl. Kapitel 3.3.5.1). Offensichtlich haben die Novizen im Übergang in die Lotsenpraxis eine Art ,Praxisschock‘ erfahren, in dessen Folge sich nun Ernüchterung breit macht. So schneidet das in der Ausbildung vermittelte Wissen aus der Perspektive der befrag-
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ten Nachwuchslotsin im Vergleich zu dem im dominant project der Alltagshilfe gewonnenen Erfahrungswissen schlecht ab. Sie nimmt für sich einen Vorsprung an praktischem Alltagshelferwissen in Anspruch, hinter dem das Ausbildungswissen hinterherhängt. Der Lotsentitel allerdings ermöglicht es ihr, sich soziales Kapital zu verschaffen. Bei einer weiteren Nachwuchslotsin verhält es sich anders. Diese zeigt sich hinsichtlich des Status ihres Alltagshelferwissens und ihrer damit verbundenen Position so verunsichert, dass es ihr nicht gelingt, sich den Lotsentitel in der Praxis anzueignen und ihn als Türöffner zu gebrauchen. AQ: Und was hattest du so erwartet, was sich dadurch [die Ausbildung] ändern würde? Lotsin (L2): [...] Also ich hab mir schon vorgestellt, dass man auch gleich... Also nicht sofort, aber nach ’ner kurzen Zeit dann auch...gesagt wird: „Hier du kannst da mal helfen oder hier mal helfen.“ Ist aber gar nicht. Da war ich schon ’n bisschen enttäuscht. [...] Also ich hab mir schon so ’n bisschen vorstellen können, dass man vielleicht irgendwie...irgend ’nen Fall vielleicht bearbeitet oder so was. [hält inne] AQ: Also einen konkreten Lotsen-Fall sozusagen? L2: Ja. Weil, ich mein, okay wir haben uns das angehört, aber so wenn wir jetzt losgehen und da einen betreuen, ich mein... [...] Man hat nicht die Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln. Und das hätte man vielleicht im Kurs irgendwie so... dass man irgendwie... Man muss es ja nicht selber bearbeiten, aber dass man halt sieht, wie wird was gemacht. [...] Wenn man’s dann wirklich selber sieht oder halt dabei ist, wie die Person das macht, find ich’s eigentlich viel besser. Bringt mehr. AQ: Und was hättest du dir da noch so vorgestellt? Was hättest du da noch lernen wollen? Du warst ja auch vorher schon aktiv, oder? L2: Ja, natürlich, aber äh ich mein, das ist ja dann der offizielle Teil und die Lotsen haben da ja mehr, also die können da ja mehr machen. Und ähm ja also, dass man... Also ich hätt’s schon gerne gesehen, wie die das machen. Ich mein, ich mach’s anders wie die anderen es machen. Ich geh da mit und mach’ halt so wie ich das kann. Aber ich weiß nicht, ob die’s halt anders machen. Es wär schon mal schön zu sehen, wie die das machen. Ob’s anders ist wie die das da bearbeiten (Interview L2/ 28.06.2011, Zeilen 256-308).
Hier zeigt sich geradezu exemplarisch, wie „die quasinatürliche Kompetenz des Alltagsmenschen zur ‚selbstverständlichen‘ Hilfeleistung durch Vermittlung von Sonderwissen irritiert, in Frage gestellt und als Verfahrenstechnik ‚neu‘ gelernt“ werden muss (Honer 1987: 55). Die Novizin scheint nach Abschluss der Ausbildung zwischen zwei Positionen ‚festzuhängen‘: Die Alltagshelferposition kann sie aufgrund des Titels und der damit verbundenen ‚Aura des Offiziellen‘ nicht mehr voll einnehmen und die Lotsenposition weiß sie noch nicht so recht auszufüllen, da sie zwar über das Erfahrungswissen der Alltagshelferin verfügt, sich jedoch unsicher geworden ist, ob ihr möglicherweise ein hiervon zu unterscheidendes prakti-
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sches Lotsenwissen fehlt, das sie bisher nie in Anwendung gesehen hat. Während die erste Nachwuchslotsin, zwar unter Aneignung des Lotsentitels und Abschöpfung des damit hervorgebrachten sozialen Kapitals, doch hinsichtlich des eingesetzten praktischen Wissens weitestgehend nahtlos an vormalige Alltagshelferpraktiken anzuschließen und sich somit letztlich nicht als Lotsin zu bilden scheint, deutet sich hinsichtlich der zweiten Novizin ein Subjektivierungsprozess dank eines „Bruches von Erfahrungswelten“ (passages emotionnels) an (vgl. Périlleux 2009). 205 Die Nachwuchslotsin befindet sich dabei erst am Anfang eines Übersetzungsprozesses (vgl. ebd., Renn 2012: 155), in dessen Verlauf sie ihr implizites Alltagshelferwissen und das Wissen der Ausbildung zu verbinden und in ein situativ angemessenes Lotsenwissen zu transformieren hat.206 In dieser Hinsicht weiter ist ein Integrationslotsenverein, auf dessen Spuren ich mich im Folgenden begebe, um diesen Übersetzungsprozess näher auszuleuchten. Ich nehme die Worte der Projektkoordinatorin aus dem einleitenden Zitat also gewissermaßen als Arbeitsauftrag und beobachte den Lotsen dabei, wie er sich – und seine Institution – macht. Aufgesucht wird dazu ein Vereinsraum, in dem regelmäßig „Sprechstunden“ (Feldbegriff) der Integrationslotsen stattfinden. Scheint der Vereinsraum zunächst eine Art Einheit ‚der Sprechstundenpraxis‘ zu stiften, fächert er sich im Laufe der Beobachtungen immer weiter in verschiedene, miteinander verwobene Räumlichkeiten auf. Performativ hergestellt wird ein Raum, in dem Projekte organisiert und beworben werden, ein Raum, in dem Begleitungseinsätze vor- und nachbereitet werden sowie ein Raum, in dem die eigentliche Sprechstunde mit ihren Beratungspraktiken stattfindet. Zum Vorgehen: Zunächst wird der Prozess des Übersetzens in die Lotsenpraxis anhand einer im Interview präsentierten Teilnehmersichtweise beleuchtet (3.4.1). Anschließend wechselt der Fokus auf die Ebene der beobachtbar gemachten Arbeitspraktiken der Lotsen und der in ihrem Engagement hergestellten Selbst-, Anderen- und Weltverhältnisse. Anhand einiger Schlaglichter auf die Projektarbeit wird zunächst gezeigt, wie sich Integrationslotsen, im Vergleich zu Alltagshelfern, neue Praxisfelder und mitunter Klientenkreise erschließen (3.4.2). Die Frage, welchen Veränderungen vormalige Alltagshelferpraktiken unterzogen werden, steht im
205 Périlleux, Thomas (2009): Épreuves du travail et vie affectée, In: Breviglkieri, Marc et al. (Hrsg.): Compétences critiques et sens de la justice. Paris: 151-161, zit. nach Bogusz (2013a: 562). 206 Nach Renn sind in den Übergängen zwischen institutionalisierten Ordnungen und situiertem Handeln „Übersetzungen“ zwischen unterschiedlichen Rationalitätsformen, d.h. insbesondere zwischen den Kriterien und Prinzipien eines expliziten und den praktischen Gewissheiten eines impliziten Wissens erforderlich (vgl. Renn 2012, sowie ausführlich Renn 2006).
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Zentrum der beiden nachfolgenden Kapitel. Zunächst wird an einer spezifischen Aufbereitung von Begleiteinsätzen deutlich gemacht, wie die Lotsen zwar an die frühere Alltagshilfe anschließen, sie aber gleichsam einer Reorganisation unterziehen (3.4.3). Anschließend erfolgt ein Perspektivenwechsel, durch den Veränderungsprozesse von Beratungspraktiken im Kontext räumlich-materieller Rearrangements der Sprechstunden sichtbar gemacht werden (3.4.4). Im Laufe dieses Kapitels wird herausgearbeitet, in welcher Weise der Verein Gestaltungsarbeit verrichtet. Gestaltungsarbeit wird daher nicht vorab als fester Begriff gesetzt, sondern als heuristisches Konzept genutzt, das sich in Auseinandersetzung mit dem empirischen Material gewissermaßen selbst ausgestaltet und an Kontur gewinnt. 3.4.1 „Dann wurde die Geschichte immer größer und größer.“ Zum Übersetzen in die Lotsenpraxis „Die anfängliche Vorstellung, dass IntegrationslotsInnen ihre Einsatzstellen über die jeweiligen Einrichtungen erhalten, hat sich verändert. Nachdem sich zu Beginn des Projektes die damals noch wenigen Integrationslotsinnen und Integrationslotsen einzelne Einsatzstellen ausgesucht hatten, mussten mit wachsender Anzahl neue Formen des Einsatzes entwickelt werden. Inzwischen wurden im Netzwerk selbsttragende Strukturen entwickelt. Die IntegrationslotsInnen bemühen sich nun selbst [...] um Einsatzmöglichkeiten. Zunehmend finden die IntegrationslotsInnen [...] ihre Positionen im kommunalen Raum.“ MÜLLER-WILLE (2007: 9)
Die folgende Interviewpassage soll einen Einblick in Prozesse des Übersetzens in die Praxis aus der Perspektive eines Lotsenvereinsvorsitzenden geben und dem Leser, wie zuvor der Forscherin, hinsichtlich der nachfolgenden empirischen Analysen als Beobachtungshilfe dienen. AQ: Mich würde nochmal interessieren, wie die Idee für den Verein entstanden ist. [...] Wie ist es von der Qualifizierung zu dem Verein gekommen? Faris Masaad [Vorsitzender des Vereins]: Als wir die erste Qualifizierung hatten, waren wir zwölf Personen. Heute sind von dieser Gruppe fünf geblieben. Diese Gruppe war ein bisschen aktiv. Sechs oder sieben von denen waren richtig aktiv in der Stadt. Also ich bin von der
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Die hier präsentierte Entstehungsgeschichte des Lotsenvereins liest sich weniger als das Hineinwachsen in eine typisierte Subjektform des Integrationslotsen, sondern vielmehr als ein Prozess des explorativen Hineintastens in die Praxis des Lotsens, die von dem Lotsen selbst an zahlreichen Stellen in ihrer Kontingenz ausgewiesen wird. Der zwischen Momenten der Aktivität und der Widerfahrnis oszillierende
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Prozess lässt sich unter Rückgriff auf die Kategorie des Engagements genauer nachzeichnen: Im Sinne Goffmans bringen sich die Lotsen engagiert in Praktiken ein, und sie werden in ihrem Engagiertsein gleichsam „gefangen genommen, in Bann geschlagen“ (Goffman 1977: 376). Während sich bei Goffman die „normative[n] Erwartungen bezüglich der Tiefe und Vollständigkeit, mit der die Menschen in die durch den Rahmen organisierten Vorgänge eingebunden sein sollten“ (Goffman 1977: 376), aber letztlich aus dem Rahmen selbst ergeben, tritt bei dem Ansatz der Engagementregime des französischen Pragmatisten Laurent Thévenot stärker die Doppelläufigkeit von Unterwerfung und Ermächtigung eines subjektivierenden Engagements hervor207: „Das Engagement zielt darauf ab, eine Form von Abhängigkeit in Macht zu transformieren. Zu diesem Zweck müssen Welt und Mensch eine gemeinsame Formung erfahren. Selbst die Seinsweise des autonomen Individuums samt der damit verbundenen Macht realisieren sich nur in Abhängigkeit von einer adäquat geformten Umwelt.“ (Thévenot 2011a: 231, Herv. AQ). Thévenot geht somit davon aus, dass Subjekte in ihrem Engagiertsein Weltbezüge herstellen, die, so weiter, in Abhängigkeit von unterschiedlichen Regimen variieren, mit denen sich Subjekte in die Welt einbringen. Er differenziert dabei zwischen dem Regime des Engagements im Vertrauten, dem Regime des planenden Engagements sowie dem Regime des Öffentlichen bzw. des rechtfertigungsfähigen Handelns. Jedes Engagementregime ist durch unterschiedliche Möglichkeiten einer „gemeinschaftliche[n] Verfügbarmachung des Engagements“ (Thévenot 2011a: 238, Herv. AQ) gekennzeichnet und impliziert „für den Akteur bestimmte, gleichwohl vielfältige kognitive und normative Maßstäbe“ und somit „eine Pluralität ideeller Bezüge, In-
207 In diese Richtung geht auch Schatzkis Kritik an Goffmans Konzept der Interaktionsordnung, welche er (wie das Bourdieusche Feld) als ein „bounded realm“ auffasst (vgl. Schatzki 2002: 145). Unter „bounded realms“ versteht Schatzki „fields whose contents are defined by principles, rules, constraints, ends, functions, or underlying generating factors“ (Schatzki 2002: 145). Vor dem Hintergrund des Ansatzes der Engagementregime ließe sich derselbe Einwand allerdings auch gegen Schatzki einwenden. Die Regime, mit denen sich Teilnehmer in die soziale Praxis aktiv einbringen, implizieren kognitive, normative und affektive Maßstäbe (vgl. Thévenot 2011a: 233), die sich bei Schatzki in der Konzeption der teleoaffektiven Struktur finden lassen. Hierbei geht Schatzki davon aus, dass sich mit einer Praktik bestimmte Motive und affektive Zustände verbinden, welche die Partizipanden in der Ausübung der Praktik übernehmen. Demnach ist es nicht der situative Rahmen, wie bei Goffman, sondern ‚die Praktik‘ im Sinne eines Quasi-Subjekts, genauer: ihre teleoaffektive ‚Metastruktur‘, die nach einer bestimmten Form und Intensität des Engagements verlangt und entsprechende Engagementanforderungen an die Teilnehmer stellt.
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teressen und Bedürfnisse“ (Tietze 2013: 42), welche in die Handlungskoordination der Praxis eingehen. Der Prozess des Übersetzens in die Lotsenpraxis lässt sich vor diesem Hintergrund heuristisch in drei Phasen unterteilen, im Laufe derer sich ein recht eindeutiger ‚Regimewechsel‘ des Lotsenengagements herauszuschälen scheint: In einer ersten Erkundungsphase nach Abschluss der Ausbildung machen die Novizen, die als Alltagshelfer bereits vorher „hier und da“ unterwegs waren, zunächst alles „genau wie vorher“. Wie im Fall der eingangs befragten irritierten Novizin wird auch hier deutlich, dass die Tatsache, „einen Titel, einen Schein in der Hand“ zu haben, allein noch keinen Lotsen macht – es fehlt an praktischem Wissen. Da also zunächst niemand weiß, „wie das läuft“, knüpfen die Novizen an bekannte Alltagshelferpraktiken an, indem sie einzelne Personen etwa bei Amtsgängen unterstützen. Mit diesen Praktiken engagieren sie sich, wie als vormalige Alltagshelfer, in einem Regime des Vertrauten, das sich auf oftmals persönlich bekannte, im sozialen Nahraum situierte Andere konzentriert und sich auf die „vertrauten Verbindungen zur materiellen Umgebung“ stützt, d.h. auf bekannte Dinge und Orte, welche „nicht zu trennen sind von dem Milieu, zu dem sie gehören“ (Thévenot 2011b: 267). Als mit der nächsten Qualifizierung weitere Lotsen auf den Markt drängen, müssen die bisherigen Aktivitäten neu organisiert und koordiniert werden. „Wir müssen etwas anders machen“ – diese „praktische Einsicht“ (Hörning 2011: 15f.) leitet eine Vernetzungsphase ein, in der sich die Praktikergemeinschaft (Lave & Wenger 1991) der Lotsen zunächst als ein „freies Team“ formiert. Die immer noch vergleichsweise lose Organisation verschafft den Aktivitäten der Lotsen eine wachsende Präsenz und erzeugt eine unvorhergesehene Aufmerksamkeit in der Bevölkerung und in den Medien. Das Engagement geht damit in eine Phase zunehmender Veröffentlichung über und weitet sich vom „Nahen zum Öffentlichen“ (Thévenot 2011a: 236) hin aus.208 „Die Geschichte [wird] immer größer und größer“ – die Praxis überholt sich gewissermaßen selbst und zeigt sich den Lotsen in ihrer Unver-
208 Der pragmatistische Öffentlichkeitsansatz Thévenots, wie auch Boltanskis, ist an einen praxistheoretischen Öffentlichkeitsbegriff, wie ihn Robert Schmidt vorgelegt hat (vgl. Kapitel 2.3; ein ähnlicher Öffentlichkeitsbegriff findet sich implizit auch in der TSA von Thomas Scheffer) anschlussfähig, da er ebenfalls Prozesse des Herstellens von Öffentlichkeit im Sinne einer geteilten – und koordinierten – Aufmerksamkeit in den Blick nimmt, die konkret lokalisierbar wie auch medial vermittelt sein können. Allerdings ist er stärker politisch konnotiert. So geht es Thévenot (und Boltanski) um Fragen der Rechtfertigung (vgl. Boltanski & Thévenot 2007) und um Fragen der Urteilskraft in unterschiedlichen sozialen Arenen. Insofern weist ihr Öffentlichkeitsbegriff eine engere Nähe zum politischen Öffentlichkeitsbegriff von Hannah Arendt (2007) auf als derjenige Robert Schmidts, der sich explizit auf Arendt bezieht.
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fügbarkeit und Eigensinnigkeit. Ab einem bestimmten Punkt scheint sie die Vereinsgründung geradezu eigenmächtig voranzutreiben. Bei genauerem Hinsehen wird allerdings deutlich, dass die Lotsen ihre neue Organisationsform genauso aktiv hervorbringen wie sie in den fortlaufenden Institutionalisierungsprozess hineingezogen werden. Die Vereinsgründung resultiert aus einem Bestreben der Lotsen, sich auf einen ungesteuerten Prozess, der ihnen widerfährt, neu einzustellen, indem sie ihr Engagement materiell, räumlich, zeitlich und personell auf Dauer stellen und ihm somit planerische Stabilität verleihen: Um das Ungeplante, oder besser: das „Unplanbare“ (Böhle 2004) planbar machen zu können, bedarf es eines festen Personalstammes sowie eines Raumes, in dem die Lotsen zu bestimmten Zeiten für Klienten und potentielle Kooperationspartner auffindbar sind. Es muss ein Grundsockel an finanzieller Unterstützung gesichert sein, um sich „in der Gesellschaft ein bisschen freier bewegen zu können“ und nicht „immer wieder wie ein Bettler vor der Tür stehen“ zu müssen. Das planende Engagement der Lotsen strebt nach größerer (finanzieller) Unabhängigkeit, nach einer Macht, die nicht mehr die „Macht der in ihre vertrauten Abhängigkeiten gestellten intimen Person“ ist, sondern die „Macht des in seiner Planung autonomen Individuums“ (Thévenot 2011a: 253, Herv. AQ). Mit der Fremdfinanzierung werden Praktiken wie das Ausstellen von Quittungen erforderlich, welche als Beweisdokumente fungieren und das Engagement in ein Regime überführen, das es erlaubt und verlangt, öffentlich Rechenschaft über die Tätigkeiten der Lotsen abzulegen. Sich rechtfertigungsfähig zu engagieren heißt darüber hinaus, dass die Aktivitäten der Lotsen „entsprechend einer legitimen Größe bewertet [werden], die sich an einer spezifischen Form des Gemeinwohls anlehnt“ (vgl. ebd.: 242, Herv. i.O.): Mit der Vereinsarbeit soll nunmehr weniger dem persönlich Vertrauten geholfen, sondern ein Beitrag zur „Integration“ geleistet werden, der „den Zusammenhalt von Menschen, Deutschen und Migranten“ befördert. Das Engagement bezieht sich also weniger auf den Einzelnen als auf ein gesellschaftliches Gut. Wie dieses Engagement aus Sicht des Vorsitzenden aussieht, zeigt sich in der folgenden Interviewsequenz noch etwas deutlicher: AQ: Könnten Sie noch einmal kurz zusammenfassen, worum es Ihrem Verein geht? Faris Masaad: Wir reden über Integration. Integration heißt anpassen. Zusammen ja?! [vergewissert sich, dass ich verstehe] Manche denken immer noch, ohne [betont] die Deutschen können wir was machen. Also dann wären wir ein Kulturverein in einem Raum, in einem bestimmten Raum, einem geschlossenen Raum, wie zum Beispiel heute die russischen Kulturvereine. Sie sprechen nur russisch, russische Kultur und so weiter und so fort. Das hilft der Integration nicht. [...] Beim Lotsen ist auch wichtig, dass Deutsche drin sind. [...] Ungefähr drei Prozent von unseren Lotsen [...] sind Deutsche. [...] In der Stadt zum Beispiel versuchen wir, ein paar Leute von der Stadt, die Beamte oder so sind, versuchen wir für unseren Verein eine Art von Spende oder Unterstützung zu bekommen. Wenn wir sagen, unsere Mitglied-
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Liest man die bisherigen Interviewausschnitte zusammen, wird deutlich, dass die Lotsen von der Hilfe für einzelne Migranten zunehmend zu einer zwischen Migranten und Einheimischen vermittelnden Projektarbeit übergehen. Diese allmähliche Profilbildung der Integrationslotsen vollzieht sich nicht im Sinne eines passiven sich Einfügens in ein schon bereitstehendes Lotsenprofil oder im Sinne der Einnahme einer verfügbaren Mittlerposition, sondern vielmehr im Sinne eines Austarierens von Möglichkeiten und Grenzen, die sich aus der Stellung der Lotsen innerhalb eines komplexen Positionengefüges und damit verbundenen Erwartungen und Verpflichtungen ergeben: Die Lotsen geben ihrem Engagement die institutionelle Form eines Vereins und verleihen ihm damit die Anerkennung und Macht des Offiziellen, welche es ermöglicht, Aufträge und Projekte zu akquirieren und zu finanzieren. Doch zugleich haben sie sich von dem Verdacht des allzu Offiziellen nach zwei Seiten hin frei zu machen: Von ihren Klienten dürfen sie – als Mittler zwischen Migranten und Institutionen – nicht als eine Einrichtung „der Stadt“ wahrgenommen werden, da dies „die Leute misstrauisch“ mache und Vorbehalte gegenüber Behörden und anderen offiziellen Einrichtungen wecke. Im Verhältnis zu den hauptamtlichen Migrationsberatern haben sie sich wiederum an dem Komplementärprinzip des Lotsenprogramms zu orientieren und dürfen mit diesen daher nicht „in Konkurrenz gehen“. Die Projektarbeit erscheint vor diesem Hintergrund unverfänglicher als die Unterstützung einzelner Migranten, welche in gefährlicher Nähe zur offiziellen Migrationsberatung angesiedelt ist. Als Mittler zwischen Einheimischen und Migranten hat sich der Lotsenverein schließlich auch von Kulturvereinen abzugrenzen, die den Verdacht der kulturellen Abschottung oder gar der Staatsfeindlichkeit erregen können, wie im Handlungsprogramm „Integration in Niedersachsen“ deutlich wird: „Selbstorganisationen nehmen eine Scharnierfunktion zwischen der Minderheits- und der Mehrheitsbevölkerung wahr. Sie sind Interessenvertreter und Sprachrohr für die Einforderung von Rechten, aber auch Multiplikatoren für die Verdeutlichung von Pflichten im Aufnahmeland. Mit ihrer Vermittlerrolle tragen sie dazu bei, die Voraussetzungen für die politische, soziale und ökonomische Integration wesentlich zu verbessern. Orientierung allein auf das Herkunftsland oder gar bewusste Abschottung gegenüber der aufnehmenden Gesellschaft
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oder anderen Zuwanderergruppen erschwert Integration und interkulturellen Austausch oder macht sie sogar unmöglich. Von großer Bedeutung ist es daher, dass sich auch die Selbstorganisationen der Zugewanderten interkulturell öffnen. In diesem Sinne ist es notwendig, dass sie sich in ihrem Selbstverständnis und ihrer Rolle weiter entwickeln oder sich diesbezüglich auch ganz neu orientieren. Die Selbstorganisationen von Zugewanderten müssen gegen jegliche nationalistischen und integrationsfeindlichen Tendenzen in der Gesamtgesellschaft wie innerhalb der eigenen Gruppe aktiv auftreten und ihre eindeutige Haltung zu den Grundwerten unserer Verfassung verdeutlichen.“ (Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport 2005: 21f, Herv. AQ).
Die geforderte eindeutige Haltung demonstriert der Vorsitzende, indem er das Bild eines Vereins entwirft, der nicht „in einem bestimmten Raum, einem geschlossenen Raum“ angesiedelt ist, sondern sowohl für vielfältige andere Nationalitäten, sämtliche Alters- und Berufsgruppen und, wie ein anderes Vereinsmitglied deutlich macht, vor allem auch für Deutsche offen ist: „Deutsche Mitglieder sind immer sehr gut. Es ist immer gut, wenn es gemischt ist. Das schafft mehr Vertrauen, wenn die Deutschen sehen, dass auch ihre Landsleute dabei sind. Das macht auch in der Presse ein gutes Bild. Wenn die Auswertung ergibt, dass an einem Projekt keine Deutschen teilgenommen haben, ist etwas falsch gelaufen.“
Im Vergleich zum dominant project der Alltagshilfe erfährt das Engagement eine Ausweitung, die „in alle Ebenen“ der Gesellschaft hineingeht – es wird, mit Thévenot, immer weiter gemeinschaftlich verfügbar gemacht.209 Die Abgrenzung von den Hauptamtlichen ebenso wie von ‚geschlossenen‘ Kulturvereinen präfiguriert, dass dem neuen Praxisfeld der zwischen Einheimischen und Migranten vermittelnden Projektarbeit eine höhere Priorität eingeräumt wird als der Begleitung und Unterstützung von Migranten. Die Schärfung des Vereinsprofils vollzieht sich somit unter Einsatz des Realitätssinns wie des Möglichkeitssinns der Lotsen. Das in einem ersten Schritt anhand des Interviews rekonstruierte Übersetzen in die Lotsenpraxis legt einen Prozess nahe, der das Engagement einer impliziten Teleologie folgend von einem Regime des Vertrauten hin zum Planbaren und schließlich zum Öffentlichen führt. Doch verläuft die Entwicklung auch in der situierten Praxis derartig glatt und eindeutig oder bricht sich diese chronologische Erzählung in der präsentativen Form der Lotsenpraxis? Mit welchen Regimen engagieren sich die Vereinsmitglieder vor Ort? Und: bringen sie in ihrer (Selbst-)Verpflichtung auf
209 Zur sukzessiven Vorbereitung dieser sozialen und sachlichen Expansion während der Ausbildung vgl. Kapitel 3.2.5.2.
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das gemeinschaftliche Gut der Integration und in ihrer Absetzbewegung von Kulturvereinen dabei gänzlich ‚unbestimmte‘, ‚offene‘ Begegnungsräume hervor? 3.4.2 Terrain erobern: Projektarbeit als neues Praxisfeld „[...] die wichtigste Aufgabe, sagen wir, ist nicht Begleitung, sondern das kommt dazu. Weil die meisten Migranten haben jemanden gefunden. Von Anfang an, schon vor dieser Lotsengeschichte. Immer wenn man hierher kommt, dann findet man Nachbarn oder lernt jemanden kennen. Aber die Kurse und die Projekte und diese Entwicklung – das ist sehr wichtig bei dieser Lotsengeschichte. Dass es ein bisschen die Augen öffnet, dass es nicht nur darum geht, was mach ich bei Behörden, sondern wie werde ich mich entwickeln und wie kann ich mit den Deutschen leben. Das ist das wichtigste.“
Während sich der hier zitierten Vereinslotsin zufolge für die Begleitung von Migranten gewissermaßen ‚naturgemäß‘ Alltagshelfer finden, machen Projekte das Besondere der „Lotsengeschichte“ – und das Kerngeschäft des Vereins aus. Mit Tanzund Kochprojekten, einem Grundschulprojekt, einem ehemals binationalen, inzwischen jedoch international ‚geöffneten‘ Gesprächskreis, einem Projekt zur Pflege älterer Migranten sowie einem Kooperationsprojekt mit einer Justizvollzugsanstalt zur Betreuung von Häftlingen versuchen die Integrationslotsen, in der Formulierung des Vereinsvorsitzenden Masaad, „in alle Ebenen der Gesellschaft ein bisschen hineinzugehen“. Sie machen sich dabei insofern zu Multiplikatoren von Ausbildungspraktiken, als dass sie zur Vermittlung normativer Vorstellungen hinsichtlich einer auf Selbstentwicklung und Eigenverantwortlichkeit hin orientierten Lebensführung ebenso wie zum „Erlernen politischer und moralischer Grammatiken des Zusammenlebens mit Anderen“ (Thévenot 2011a: 249) beitragen. Zeigen lässt sich dies am Beispiel des Projekts „Internationales Kochen“.
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3.4.2.1 Niedrigschwellige Begegnungsräume und ihre Hürden: Das Projekt „Internationales Kochen“ „Die Lotsen sorgen dafür, dass Eltern nicht an der Schwelle der Schultür stehen bleiben.“ Faris Masaad: Wir haben ein Projekt, das „Internationales Kochen“ heißt. [...] Die Zielgruppe sind Mütter und Väter von Kindern aus einer bestimmten Grundschule. Wir haben bemerkt, dass es dort ein großes Problem gibt. Die Eltern gehen nicht zu Elternabenden und auch wenn sie kommen, stehen sie in einer Ecke und sagen: „Das gehört uns nicht. Wir müssen einfach nur herkommen, dass die Lehrerin uns sieht und dann ‚Tschüss‘.“ Sie machen ihren Mund nicht auf und reden über ihre Probleme. Und das ist richtig schlecht. Durch dieses Internationale Kochen [...] ist das besser (Interview LV/ 31.08.2011, Zeilen 211-278).
Im Laufe des Interviews kommen wir auf das Projekt noch einmal zu sprechen: Faris Masaad: Die Eltern von Deutschen und Migranten essen und kochen und reden miteinander...Oder sie sind nur zusammen, essen nur, ohne reden. Zahra Antun: Essen hilft immer [lacht]. Faris Masaad: Und da können die Migranten auch ein bisschen mit Händen und Füßen erklären. Das Problem bei der Integration ist immer: Wer macht den ersten Schritt, ich oder der, der Deutsche oder der Migrant? Wer macht den ersten Schritt? (Interview LV/ 31.08.2011, Zeilen 1091-1098).
Das von den Vereinsmitgliedern beschriebene Projekt wird an einer Schule mit dem Ziel durchgeführt, die Eltern von deutschen und migrantischen Kindern zusammenzubringen und migrantische Eltern zu aktivieren, sich stärker in Elternabende einzubringen. Initiiert wurde es von den Lotsen selbst, die dort ein „Problem bei der Integration“ festgestellt haben. Praktiken des Essen und Kochens wird dabei ein Potential zugeschrieben, Gemeinschaft stiften zu können. Das Problem soll dadurch bearbeitet werden, dass Einheimische und Migranten durch das „Internationale Kochen“ miteinander ins Gespräch oder auch ‚nur‘ in Kontakt kommen, ohne dass es eines großen Redens bedarf. Implizit wird dabei eine Dichotomie zwischen einfachen, harmonisierenden Praktiken des Essen und Kochens auf der einen und anspruchsvolleren, tendenziell konflikthaften Redepraktiken auf der anderen Seite hergestellt. Über das Kochen soll ein Begegnungsraum hergestellt werden, der gewissermaßen von der Last des Gesprächs befreit und Migranten unmittelbar zugänglich ist. Übersetzt in eine gebräuchliche Feldterminologie heißt das: Der Begegnungsraum soll ein niedrigschwelliger sein.
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Der Grundsatz der Niedrigschwelligkeit fungiert im Rahmen des Lotsenprojekts als eine Art implizites Strukturierungsprinzip, welches eng mit dem Komplementärprinzip verbunden ist. So sind Lotsen für Niedrigschwelliges zuständig, Hauptamtliche hingegen für das, was vergleichsweise höhere Schwellen mit sich bringt.210 Im Verhältnis der Lotsen zu ihren Klienten präfiguriert das Prinzip der Niedrigschwelligkeit die in Kapitel 3.3.2 beschriebene Führung qua Asymmetrie. Die Grundlage hierfür bildet die Konstruktion einer migrantischen Denk- und Gefühlsgemeinschaft, der eine Präferenz für das Mündliche gegenüber dem Schriftlichen und ein eher leibliches, vor-reflexives ‚Welterfassen‘ statt eines theoretischen Wissens zugeschrieben wird. So müssen bspw. Migrantinnen, wie eine Leiterin „niedrigschwelliger Frauenkurse“ erklärt, dort „nicht alles wissen“, vielmehr gehe es lediglich darum, dass die Lotsinnen den Migrantinnen „Appetit machen, sie auf den Geschmack bringen“ – angesetzt wird somit nicht am ‚hohen‘ Intellekt sondern an den ‚niederen‘ Bedürfnissen und Tätigkeiten des Leibes. Mit Schondelmayer ließe sich formulieren, dass über Praktiken des Kochens und Essens ein „implizites Fremdverstehen in gemeinsamer Praxis“ hergestellt werden soll (Schondelmayer 2010: 324). Dieses, von Schondelmayer auch als „praxeologisches Fremdverstehen“ (ebd.: 325) bezeichnete Verstehen unterscheidet sich von Formen des Fremdverstehens, welche auf der Aneignung theoretischen Wissens oder auf Erzählungen und vermittelter Kommunikation basieren, indem es sich „im Sinne eines unmittelbaren Erfassens der Anderen“ vollzieht und einen „Zugang zur praktischen Lebenswelt des Anderen“ ermöglicht, ohne dass es einer Intention, den Anderen zu verstehen, oder einer nachträglichen Reflexion und Begründung des Handelns bedürfe (ebd.: 324f, Herv. AQ). Mit einem solchen Ansatz verbindet sich zwar eine praxeologische Sensibilität für die leibliche Dimension von Verstehensprozessen, doch wird dabei von einer Opposition zwischen einem vorreflexiven, leiblichen Erfassen und einem reflexiven, intentionalen Handeln ausgegangen. Auf diese Weise gerät sowohl aus dem Blick, dass sich Intentionalität und Reflexivität im Vollzug von Praktiken entfalten als auch, dass dabei „das Denken [...] nicht dem Spüren geopfert, aber [...] ‚anders‘ gedacht“ wird (Böhle & Porschen 2011: 60). Dass sich das „implizite Fremdverstehen in gemeinsamer Praxis“ darüber hinaus keineswegs so harmonisch vollziehen muss, wie in der von Schondelmayer unterstellten Weise, wurde in der Beobachtung einer ‚internationalen Kochsession‘ deutlich:
210 So meint z.B. der Vertreter eines Amtes für soziale Dienste, er brauche einen „Lotsen für Niedrigschwelligeres“, damit er „nicht gleich einen Familienhelfer losschicken“ müsse.
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Die Schulküche wird immer mehr zur ‚Kampfzone‘. Es wird korrigiert und kritisiert, Personen werden wortlos beiseite geschoben und Kochutensilien aus den Händen genommen. Eine Frau, die auf diese Weise des Platzes verwiesen wird, tritt den Rückzug auf die sicheren Zuschauerränge an und meint: „Die sagen, wir können das nicht so gut.“ Man sieht genau, wer „die“ sind: Diejenigen, die heute ihr „Heimatland“ über ein „typisches Nationalgericht“ repräsentieren, haben sich zu einem geschlossenen, in sich ebenfalls hierarchisch geordneten Grüppchen formiert, das die Federführung hat und „die anderen“ kaum mehr als Handlanger akzeptiert. Auch während des gemeinsamen Essens bleibt diese Ordnung an den Tischen erhalten. Einige, die zuvor an den Rand gedrängt wurden, schicken ein Lob an die richtige Adresse und versuchen, ihren Ärger buchstäblich herunterzuschlucken.
Auch die auf den ersten Blick so leicht zugänglich erscheinende Praktik des Kochens erfordert seitens der Teilnehmenden Koordinationsleistungen und „praktisches Reflektieren“ im Sinne eines „situativen, in die Handlung eingebundenen Nachdenken[s], das erforderlich ist, auf der Stelle die vollführte Handlung oder Geste zu beurteilen [...]“ (Bourdieu 2001a: 209), um angemessen an diese anschließen zu können. Notwendig sind also Verstehensprozesse, die – wie bei einem Gespräch – misslingen können und dann implizite und explizite Korrekturen nach sich ziehen. Darüber hinaus wird deutlich, wie die Grenze zwischen Sprechen und Körperhandeln sich auch aus der Teilnehmerperspektive auflöst: Jene Frau, die vollkommen stumm des Platzes verwiesen wird, beschreibt dies mit den Worten, dass „die sagen“ würden, dass sie nicht mitkochen könne. Das „Internationale Kochen“ ist in dieser Szene keine neutrale, sondern vielmehr eine symbolisch hochaufgeladene Praxis, deren Verlauf durch die Anrufung der federführenden Köchinnen als Repräsentantinnen ihres Heimatlandes präfiguriert wird. So geht es nicht nur darum, etwas Wohlschmeckendes zu kochen, sondern ebenso darum, sich mit einem authentischen Nationalgericht (vor „den anderen“) zu beweisen.211 Es wird kein herrschaftsfreier Raum hervorgebracht, zu dem
211 An derartige Integrationsprojekte können mühelos weitere, ‚zielgruppenspezifisch‘ ausgerichtete Projekte andocken, die bspw. auf die Vermittlung einer gesunden, ernährungs- und bewegungsbewussten Lebensführung ausgerichtet sind. Wie solche Kopplungen dann bspw. begründet werden, bringt die folgende Formulierung eines Lotsen auf den Punkt: „Wir sind auch hier, wir gehören hierher und sind Teil dieser Gesellschaft. Deshalb wollen wir, dass Deutschland gesund bleibt.“ Als ein paradigmatisches Beispiel für die Verkopplung von Gesundheits- und Integrationszielen und vielfältigen „Zusatzangeboten“ kann das vom Deutschen Olympischen Sportbund durchgeführte und vom Bundesministerium für Gesundheit im Rahmen des Nationalen Aktionsplans „IN FORM – Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewegung“ geförderte Projekt „Bewegung und Gesundheit – mehr Migrantinnen in den Sport“ ange-
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jeder gleichermaßen Zugang hat, sondern ein kulturell wie funktional differenzierter Begegnungsraum, in dem Kompetenzbereiche nachdrücklich abgesteckt, Kompetenzüberschreitungen sanktioniert und Machtverhältnisse fortlaufend eingespielt werden. 3.4.2.2 Integrationslotsen als Impulsgeber für neue Ausbildungsformate: Das Projekt „Pflegelotsen“ Während das Wissen der Ausbildung im Fall des Internationalen Kochens die Projektarbeit des Vereins normativ-affektiv ausrichtet, macht ein anderes Beispiel deutlich, wie Vereinsprojekte ebenso in die Ausbildung neuer Lotsen zurückwirken, indem die Integrationslotsen als „Impulsgeber für Spezialisierungen“ (MüllerWille 2012: 127) fungieren. So hat der Lotsenverein laut eines Mitglieds nach Durchführung eines ebenfalls selbstinitiierten Projektes zur Pflege älterer Migranten „den Auftrag erhalten“, ein neues Lehrgangsformat für „Pflegelotsen“ zu erarbeiten. Die Lotsen geraten mit diesem Auftrag in einen Qualifizierungsprozess, durch den ein lokales zu einem öffentlichkeitsfähigen Lotsenprofil gemacht wird. Perspektiviert man das Profil als ein formatives Objekt, lässt sich dessen Formung entlang der folgenden Schrittfolge nachzeichnen: Integrationslotsen engagieren sich nach dem Möglichkeitsprinzip in ihrer lokalen Umgebung in neuen Tätigkeitsfeldern, was ihnen ein spezifisches Profil verleiht. Dieses aus der Praxis heraus entwickelte Lotsenprofil erregt Aufmerksamkeit, findet lokale Förderer und wird einer Evaluierung unterzogen. Kann es sowohl seinen Wert für das Gemeinwohl als auch seine Marktfähigkeit unter Beweis stellen, gelangt es in Form von Handlungsempfehlungen an politische Entscheidungsträger, die den Auftrag erteilen, ein entsprechendes Curriculum zu entwickeln. Das Profil wird darin nach spezifischen didaktischen und normativen Maßstäben und entlang einer Stufenfolge aufbereitet und umgesetzt (vgl. Kapitel 3.2.2), bis es als geformtes und gleichsam formierendes Lotsenprofil in die Praxis re-importiert wird, um dort erneut geöffnet und weiterentwickelt zu werden. Nochmals zeigt sich daran, dass sich die Profilbildung eines Lotsen nicht im Sinne einer Einpassung von oben nach unten, sondern vielmehr in Form von Rückkopplungsschleifen vollzieht: die Eigensinnigkeit und Kreativität der Praxis und der sich darin subjektivierenden Lotsinnen überschreitet programmatische Vorgaben, wird versucht im Curriculum ‚einzufangen‘ und kann sich doch jederzeit wieder im Sinne eines neuen Profils entfalten.
sehen werden. Vgl. www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/dateien/Publikationen/Praevention/abschlussbericht/Projektdokumenation_Bewegung_und_Gesundheit__mehr_Migrantinnen_in_den_Sport.pdf [8.4.2014].
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Das Beispiel lässt das Charakteristische des Mittlersubjekts deutlich hervortreten: Während auf der dritten Ausbildungsstufe zwar individuelle ‚Kompetenzprofile‘ ausgearbeitet und dokumentiert werden (vgl. Kapitel 3.2.5.2), bleibt das Lotsenprofil als solches weiterhin unscharf und amorph. Der Begriff der Subjektform zeigt sich hier besonders irreführend, da Integrationslotsen als Mittler der Migration gerade nicht in einer in sich geschlossenen oder abgeschlossenen Subjektform aufgehen sollen. Eine Lotsin hat sich ihre Konturen vielmehr permanent selbst zu schaffen und sich dabei nicht bloß an einen spezifischen Bedarf vor Ort anzupassen, sondern diesen selbst hervorzubringen. Zeichnet dies aber nicht möglicherweise jede neu entstehende Subjektform, so etwa auch historische Mittler der Migration aus? Dieser Einwand lässt sich zurückweisen, wenn man sich an die „nationalen Fachkräfte“, „muttersprachlichen Expertinnen“ oder „nationalen Betreuer“ seit den 1960er Jahren zurückerinnert (vgl. Kapitel 2.2.1). Zwar war auch deren Anforderungsprofil anfangs „allumfassend und vage“ formuliert“, wie Helma Lutz gezeigt hat, doch die „Ausgestaltung“ dieses Profils oblag dabei den jeweiligen Arbeitgebern (vgl. Lutz 1991: 184). Erscheint die Offenheit des Lotsenprofils aus einer distanzierten Beobachterperspektive als ein Zugewinn an Freiheit, stellt sie sich aus Teilnehmersicht oftmals gerade als Problem dar. In einem Engagementregime des rechtfertigungsfähigen Handelns gründen sich Anerkennung und Vertrauen nicht mehr auf persönliche Bekanntschaft, sondern auf öffentliche, d.h. offiziell anerkannte Formate wie Titel oder Projektevaluierungen. Ein auffällig hohes Interesse des Lotsenvereins an „wirklichen Projektauswertungen“, die „nicht bloß sagen, dass ein Projekt stattgefunden hat“, sondern dessen Qualität nach anerkannten Standards beurteilen wie auch das fast vehemente Einfordern von Projektevaluierungen durch die Praxeographin seitens einiger Projektkoordinatoren (vgl. Kapitel 2.3.4) erscheint vor diesem Hintergrund in einem neuen Licht. Erfolgreiche Projektevaluierungen, die schriftlich und wissenschaftlich fundiert belegen, was Lotsen tun, tragen zur subjektivierenden Anerkennung und Selbstvergewisserung der Lotsen bei, indem sie ihnen gewissermaßen nachträglich offiziell ein Profil verleihen, das sie sich zuvor in der Lotsenpraxis erarbeitet haben. Sie werden dabei nicht nur in einem öffentlichen Format anerkannt, sondern überhaupt erst anerkennbar gemacht. Die Möglichkeit, sich selbst ein Profil schaffen zu können, kann folglich ebenso als Kampf um ein Profil beschrieben werden. Die Doppelläufigkeit der Subjektivierung als Ermächtigung und Unterwerfung tritt damit deutlich hervor.
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3.4.2.3 Die Erschließung von Klientenkreisen „Das System hat keine Nationalität.“212
Nachdem beleuchtet wurde, wie die Projektarbeit der Lotsen immer weiter veröffentlicht wird, zeigt sich im Folgenden, wie sich die Lotsen in die Projektarbeit selbst mit einem planenden Engagementregime einbringen, das bestimmte Anforderungen sowohl an die Lotsen wie auch ihre Klienten stellt. Obgleich der Verein mit seiner Bandbreite an Projekten „gut aufgestellt“ sei, wie einer der Vorsitzenden meint, beklagt er sich bei seinen Kollegen während einer Lotsensprechstunde mehrfach darüber, dass einige Projekte aufgrund unzureichender Öffentlichkeitsarbeit „nicht gut laufen“ würden: „Wo sind die Türken?“, fragt Faris Masaad seine Lotsenkollegin Behye ein wenig aufgebracht, die daraufhin betreten dreinblickt. Kein Türke sei bei einem Projekt gewesen, bei dem es um Fragen der Altenpflege für Migranten und Unfallprävention ging. „Du hast Deine Leute nicht genug mobilisiert. Genauso ist es mit den Russen. Wo war Oksana?“ Es sei wie immer, „die Deutschen“ würden die Angebote sehr viel mehr in Anspruch nehmen und zu schätzen wissen, „die Migranten“ kämen hingegen immer erst, wenn es zu spät sei, wenn schon etwas passiert und „alles durcheinander ist“.
Hier wird deutlich, dass das Engagement in einem planerischen Regime dank der „stärker formalisierte[n] Modalität“ des Projektes gegenüber dem Modus des „Versprechens“ im Regime des Vertrauten einen stärkeren Verpflichtungscharakter aufweist (vgl. Thévenot 2011a: 241). Der Unmut des Vorsitzenden richtet sich vor diesem Hintergrund zunächst auf seine migrantischen Kollegen, welche ihren jeweiligen ‚nationalen Zuständigkeiten‘ für die Mobilisierung ‚ihrer Leute‘ nicht ausreichend nachgekommen sind und damit ein implizites Organisationsprinzip der Projektarbeit verletzt haben. Anschließend wird eine allgemeine Opposition zwischen aktiven, planend vorausschauenden Deutschen und trägen, chaotischen Migranten hergestellt, welche sich in ähnlicher Weise in der folgenden Interviewsequenz wiederfindet: Faris Masaad: Die Migranten sind sowieso ein bisschen faul. Sie wollen nicht viel machen... Zahra Antun: Sehr faul, viele sind sehr faul. Faris Masaad: Sie fühlen sich nicht wohl in der Gesellschaft, ja? Sie denken, sie gehören hier nicht her. Denken wir von Elternabenden bis zu großen Geschichten. Bei Elternabenden stehen sie nur in einer Ecke.
212 Zitat einer Vereinslotsin in einem forschungsbegleitenden Gespräch.
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Zahra Antun: Sie kommen nur wegen der Anwesenheitsliste. [lacht] Faris Masaad: Und wenn die Deutschen dort stehen und miteinander lachen. Sie kennen einander nicht. Die Deutschen reden miteinander, trinken Kaffee, aber die Migranten stehen an der Seite und sagen: „Mhm, nee.“ (Interview LV/ 31.08.2011, Zeilen 1073-1083).
Aus der Perspektive eines planvoll engagierten Lotsen, der seine Ziele ‚autonom‘ verfolgt, erscheinen die migrantischen Eltern schüchtern, passiv und von dem normativen Ideal der Selbsthilfe noch allzu weit entfernt. Dies soll sich dadurch verändern, dass Migranten nicht nur als Teilnehmer, sondern auch in die Öffentlichkeitsarbeit der Lotsenprojekte eingebunden werden: Während einer Sprechstundensitzung fordert ein Lotse seine Kollegen auf: „Wir wollen unsere Leute auch ein bisschen nach vorne schieben. Sie sollen sich an den Projekten und den Flyern beteiligen.“ Ein anderes Vereinsmitglied meint, dass die Lotsen dies auch allein schaffen würden, aber räumt zugleich ein: „Die Migranten sollten sich mehr engagieren“. Ein weiterer Lotse bekräftigt: „Manche sind ein bisschen faul geworden, ein wenig eingeschlafen.“ Durch die Projekte sollen sie „motivierter“ werden und auch die Behörden würden damit gleich sehen: „Die Leute sind engagiert“.
Deutlich wird hier, wie sich planendes und öffentlich rechtfertigungsfähiges Engagement in der Projektarbeit miteinander verbinden. Als ehrenamtlich aktive Bürger bewegen sich die Lotsen in einem Regime, das das Engagement sowohl an der legitimen Größe der ‚Integration‘ als auch an der Größe des ‚freiwilligen Engagements‘ bemisst. Ein Lotse, der sich in dieser Weise in die Gesellschaft einbringt und sie damit zu ‚seiner‘ Gesellschaft macht, leistet fortlaufend Beiträge zu seiner Integrationsbiographie und lässt seinen Migrantenstatus in den Hintergrund rücken. Dadurch wird es ihm möglich, sich selbst zum Mittlersubjekt zu machen und Andere als „faule“ Migranten anzurufen, die wohlgemeinte Angebote, zu partizipieren und sich bürgerschaftlich einzubringen, ‚leichtfertig‘ ausschlagen. Das Integrationsdispositiv mit seinem charakteristischen Zusammenspiel von Integrationsimperativ und Engagementaufruf wird von den Lotsen mit dieser Moralisierung von Passivität situativ entfaltet. Dass sich der Lotsenverein mit seiner Projektarbeit, die „in alle Ebenen der Gesellschaft ein bisschen hineingeht“, allerdings nicht nur seinen ‚alten‘ Klientenkreis neu erschließt, sondern auch eine ganz neue Klientel zu erobern vermag, zeigt das Beispiel eines Kooperationsprojektes mit einer Justizvollzugsanstalt. Auch dieses war auf Eigeninitiative eines Integrationslotsen entstanden, welcher beobachtet hatte, dass die Ausgangszeiten der Inhaftierten nicht mit muslimischen Praktiken des Fastenbrechens und Betens während des Ramadan vereinbar waren. Nachdem dieses Problem durch eine Neuregelung der Ausgangszeiten gelöst war, weitete sich
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der Anstoß des Lotsen zu einem inzwischen auf zwei Städte ausgedehnten Projekt aus, über das der Vereinsvorsitzende folgendes berichtet: Faris Masaad: Zuerst waren es Menschen mit Migrationshintergrund, aber jetzt sind die Hälfte ohne Migrationshintergrund. Das gefällt denen auch toll. Mit der Beratung, äh mit der Besprechung dort...213 Mustafa Gevci, unser Lotse, hat dort eine zweistündige Sprechstunde und ich war letztes Mal dort und habe bemerkt, dass da viele Deutsche waren und sag zu ihm: „Da sind viele Deutsche“. Und er sagte: „Ja, sind Deutsche, aber wir bemerken das nicht mehr. Wir sitzen zusammen in einer Gruppe und es ist so toll.“ (Interview LV/ 31.08.2011, Zeilen 305-313).
An dieser Stelle kommt es weniger auf die vielfältig präfigurierte Repräsentation an, wonach Deutsche und Migranten im Rahmen dieses Projektes eine harmonische Gruppe bilden, in der sich Alteritäten vollständig auflösen.214 Bemerkenswert ist hingegen, dass nicht nur der Adressatenkreis der Lotsenqualifizierung im Laufe der Entwicklung des Lotsenprojektes für Einheimische geöffnet wird (vgl. Kapitel 3.1.2), sondern dass die Lotsen im Erschließen immer weiterer Praxisfelder Einheimische auch als Klienten (und nicht bloß Beteiligte an Integrationsprojekten) für sich entdecken. Migrationshintergründige Integrationslotsen sind damit nicht mehr nur an der Selbstbildung von Migranten, sondern ebenso an der Subjektivierung von solchen Einheimischen beteiligt, welche den „Gesellschaftskörper“ (ebenfalls) herausfordern (vgl. Foucault 1976). Deutlich wird daran, wie „new and emerging practices exploit connections forged and reproduced by practices that co-exist or that went before“ (Shove et al. 2012: 67): Die Bedeutung des Lotsens im Sinne einer Orientierungshilfe für mangelhaft Integrierte wird in einer Weise reinterpretiert, dass nun auch Kriminelle als Orientierunglose erscheinen und zu Lotsenden gemacht werden.
213 Hier wird deutlich, wie das Komplementärprinzip situativ wirksam wird, indem es das mit Hauptamtlichen assoziierte Wort der Beratung für den Lotsen quasi unsagbar macht. In Kapitel 3.4.4 kommen wir auf dieses Sagbarkeitsregime zurück. 214 So liegt es nahe, diese Repräsentation nicht nur durch die site der Projektarbeit, sondern auch durch die Anwesenheit einer deutschen Wissenschaftlerin präfiguriert zu sehen.
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3.4.3 „Deutscher werden“: Zur Reorganisation von Begleitpraktiken „Ich hab jetzt diese Anerkennung. Und auch selbst als Person: Ich weiß jetzt wo ich stehe. Ich weiß, wenn ich das mache, dann gibt es das und das. Ich hab dieses Selbstbewusstsein, dass ich einfach weiß, was ich mache.“215
Wurde mit der Projektarbeit der Fokus auf das Kerngeschäft des Integrationslotsenvereins gerichtet und herausgearbeitet, wie sich Integrationslotsen in ihrem Engagement neue Praxisfelder erschließen, geht es bei Begleitungseinsätzen sozusagen um das klassische Kerngeschäft von Alltagshelfern. In den Vordergrund tritt damit die Frage, wie sich jemand im Rahmen der Begleitung von Migranten zu einem Lotsen – und nicht zu einem Alltagshelfer – macht. Was also unterscheidet die Begleitungspraktiken von Alltagshelfern und Lotsen, oder anders: welchen Wandel durchläuft die Begleitung, welche aus Alltagshelfern Lotsen macht? Um dieser Frage nachzugehen, wird im Folgenden nicht die Begleitungspraktik der Lotsen selbst beobachtet, sondern ihre praktische Aufbereitung im Rahmen von Sprechstunden.216 Während einer Sprechstundensitzung tauschen sich zwei Lotsen zwischenzeitlich über ihre „Fälle“ aus. Der eine ist eifrig dabei, etwas aufzuschreiben. „Und welche Papiere hat er schon?“ – „Das schreibe ich gerade alles auf.“ Bei seinem „Fall“, berichtet der andere Lotse, habe es aus verschiedenen Gründen „richtig Probleme“ mit den Behörden gegeben. „Was da schiefgelaufen“ ist, habe er aufgeschrieben. „Müssen wir alles merken. Muss alles dokumentiert werden. Müssen wir lernen“, meint er. „Wann kommt eigentlich Elzbieta [eine Klientin, die sehr häufig in der Sprechstunde zu sehen ist]?“ – „Um halb zwölf. Dann muss ich mit ihr zum Jobcenter. Sie hat den Anspruch. Habe ich geprüft.“
Um die Qualität des Neuen, das hier vor sich geht, erkennen und somit den Wandel von Begleitpraktiken nachvollziehen zu können, müssen wir uns die Begleitung
215 Zitat eines Vereinslotsen aus einem forschungsbegleitenden Gespräch. 216 Aus einer im Jahresbericht des Integrationslotsenvereins veröffentlichten Statistik geht hervor, dass die Vereinslotsen ihre Klienten u.a. zu Ausländerbehörden, Schulen und anderen Bildungs- sowie Gesundheitseinrichtungen, Jobcentern und Sozialämtern, zu Standes- und Finanzämtern, Anwälten und Gerichten sowie zu den Migrationsberatungsstellen der Wohlfahrtsverbände begleiten.
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von Alltagshelfern vorstellen. Auf der Basis zahlreicher Gesprächsprotokolle lässt sich folgende Szene konstruieren: Eine Migrantin kommt nach der Schule nach Hause, wo ihre Eltern zusammen mit einem ebenfalls migrantischen Nachbarn sitzen, der von einem Problem bei einer Behörde berichtet. Die Eltern bitten ihre Tochter daraufhin, mit dem Nachbarn, der nicht so gut deutsch spricht, zu dem Amt zu gehen und ihm „bei der Sache zur Seite zu stehen“. Die beiden machen sich sogleich auf den Weg. Auf die Frage der Forscherin, was passiert, wenn es auf dem Amt Schwierigkeiten gäbe und ob sie sich mit jemandem darüber austauschen würde, was sie bei der Behörde erlebt hat, antwortet die Alltagshelferin: „Ähm, nee. Also wenn ich jetzt jemanden begleite, der hat dieses Problem, das muss gelöst werden. Das andere ist dann halt nicht meine Sache.“
Während die Begleitungspraktik der Alltagshelfer im Regime des Vertrauten weder einer eingehenden Vor- noch Nachbereitung bedarf, wird sie im planenden Engagement der Lotsen einer Reorganisation (reorganization) unterzogen und dabei zugleich in eine andere zeit-räumliche Anordnung (rearrangement) überführt (vgl. Schatzki 2002: 243ff): Verbindliche Terminvergaben erlauben es den Lotsen, sich auf ihre Aufträge intentional einzustellen. Der Vereinsraum, in dem sich Lotsen und Klienten treffen, führt eine Art Zwischenstopp ein, der den Weg von der häuslichen Welt von Klienten bzw. Lotsen in die öffentlichen Amtsräume unterteilt und es erfordert und ermöglicht, innezuhalten. Die Begleitungspraxis wird durch den Austausch mit anderen Lotsinnen im Sinne einer Art internen Supervision wie auch mittels einer problemorientierten Dokumentation der Begleitvorgänge zukunftsgerichtet aufbereitet. Initiiert werden soll damit ein Lernprozess, der, wie die folgende Interviewsequenz deutlich macht, standardisiertes Wissen generiert und ein neues Verhältnis zwischen Begleiter (Lotse im Vergleich zum Alltagshelfer) und Klient präfiguriert: Faris Masaad: Diese Begleitung, diese Vermittlung wird dokumentiert in einem Wegweiserkatalog: Was haben wir in diesen Fällen gemacht, was in diesen Fällen. Es ist anonym, also keine Namen, sondern nur die Fälle. Ein Nachschlagewerk für uns. Zum Beispiel kriegt ein Bürger aus der Europäischen Union andere Rechte als jemand aus der Türkei oder dem Irak oder was. Und diese Rechte kannten wir auch nicht. Das haben wir mit Erfahrungen gemacht. Wir haben gesagt: „Häh“? Dann haben wir gedacht, wir schreiben das alles auf, was passiert ist und noch was, nicht nur solche Sachen, sondern auch, was wir getan haben. Und jeder, der Lotse mit der Begleitung, er schreibt auch in einem Dokumentationsformular auf, was er dort gefunden hat: Wie ist das? Welches Problem gab es? Schreibt er auf. Er selbst, als Lotse. Und das war für uns auch ein großer Auswertungsprozess. Es ist viel Arbeit, hat aber unsere Leistung auch sehr verbessert.
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AQ: Und das hat dann jeder Lotse sozusagen an die Hand bekommen? Faris Masaad: Ja, er hat ein Formular bekommen, das er ausfüllen soll. Und diese werden dann gesammelt und analysiert. Dann haben wir auch gedacht, dass wir ein kleines Magazin machen, das monatlich herumgeschickt wird und mitteilt, was es Neues gibt. Zum Beispiel: Der Lotse hatte Probleme damit, die hat er so und so gelöst. Dass auch die anderen Lotsen etwas lernen. Auch wenn sie zu Hause sitzen, dass sie selbst lernen oder auch etwas nachschlagen können. Eben hat zum Beispiel jemand angerufen, der einen Dolmetscher brauchte. Ich weiß, wo man so jemanden bekommt. Aber wenn ein Lotse das nicht weiß, dann kann er entweder in diesen Nachschlagkatalog hineingucken und sieht: „Ah, Faris hat ja hier jemanden“ und ruft an. Oder auch ein Bulgare ist zum Beispiel gekommen und hatte bestimmte Ansprüche gegenüber der Stadt. Er ist kein Asylbewerber, sondern ein europäischer Bürger. Er darf hier bleiben. Aber darf er einen Sprachkurs bekommen? Bekommt er den vom Bundesamt finanziert oder nicht? Was sollen wir mit ihm machen? Viele Sachen wussten wir nicht. Wir sind keine Profis, wir lernen. Und darum haben wir dieses Heft mit so einer Doppelseite, einmal die Information, wo gibt es was, und zum anderen die Seite mit Erfahrungen, um unsere persönliche Leistung zu verbessern (Interview LV/ 31.08.2011, Zeilen 788-827).
Das Regime des planenden Engagements setzt nach Thévenot ein „autonomiebegabtes Individuum“ voraus, „das in der Lage ist, sich erfolgreich in die Zukunft zu versetzen“ (vgl. Thévenot 2011a: 240, Herv. i.O.). Dies geschieht hier, indem die Lotsen ihr Engagement auf „Leistungsverbesserung“ ausrichten und die Begleitung einer Analyse und Evaluierung unterziehen. Ausgewertet werden soll dabei nicht nur das, „was passiert ist“ sondern auch das, was seitens der Lotsen „getan“ wurde. Der Befragte präsentiert die Lotsen damit als Akteure, die nicht passiv Widerfahrnissen ausgesetzt sind, sondern ihre Tätigkeit aktiv und selbstbestimmt vollziehen. Dass sie ein ebensolches Engagement im Gegenzug auch von ihren Klienten erwarten, wird in einem forschungsbegleitenden Gespräch mit einem anderen Vereinslotsen deutlich: „Wenn ich jemanden begleite, sage ich: ‚Ich rede nicht. Du sollst reden.‘ Er kann das selber. Er muss aktiv werden. Wir machen unsere Begleitung nach diesem Maßstab. Wir gehen nicht als Dolmetscher. Das sind wir nicht. Wir sind Brückenbauer.“
Mit diesem neuen „Maßstab“ der Begleitung machen sich die Lotsen zu Mittlersubjekten, welche nach dem Selbsthilfeprinzip den eigens vernommenen Appell zur Verantwortungsübernahme und Selbstaktivierung an ihre Klienten weitervermitteln. Die Begleitung erfordert, dass Integrationslotsen Ansprüche im Vorfeld einer Begleitung nunmehr sorgfältig „prüfen“, wobei sich ihre Beurteilungen an offiziellen Richtwerten und Gesetzen orientieren und vor Dritten valide und legitim er-
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scheinen müssen. Auch hier verbindet sich somit das Regime des planenden mit dem des rechtfertigungsfähigen Engagements. Die Ergebnisse der Fall-Analysen gehen in einen „Wegweiserkatalog“ ein, welcher ein Planungswissen bereitstellt, das nicht mehr, wie im Fall der Alltagsbegleitung, in der tastend-explorativen Praxis der Begleitung selbst entsteht, sondern die Begleitpraktiken als etwas Vorgängiges anleitet. Das in der Praxis gewonnene Erfahrungswissen wird dabei, in Fortsetzung der durch den Lehrgang angestoßenen Selbstbildung, in ein propositionales, standardisiertes Wissen überführt. Die Dokumentation dieses Wissens erfordert es, persönlich vertraute Personen in namenlose Fälle zu überführen. Auf diese Weise wird an die am Ende der Lotsenqualifizierung eingeleitete Fallorientierung angeknüpft und der kasuistische Blick weiter trainiert (vgl. Kapitel 3.3.3). Ebenso kommt die während der Ausbildung immer wieder eingeübte Kompetenz zur ‚Selbstbilanzierung‘ zum Einsatz:217 Die Lotsen entwickeln in ihrem Engagiertsein vor diesem Hintergrund eine eigene Vision ihrer Fortschrittsgeschichte und den Willen zu einem Wissen, das es ihnen erlaubt, in planvoller und öffentlich rechtfertigbarer Weise eine Vielzahl von Fällen zu begleiten und auf diese Weise ihren Statusabstand zu den hauptamtlichen „Profis“ nicht sofort, aber doch allmählich zu verringern.218 Während die hierfür erforderliche Weiterbildung bis in die häusliche Welt der Lotsen übergreift, veranschaulicht die folgende Szene, dass bei der Begleitung selbst auf eine strikte Trennung zwischen privatem und öffentlichem (Vereins-)Raum geachtet wird: Ein wenig verschmitzt meint Lotsin Saime zu ihrem Kollegen: „Ich neige ja immer dazu, Klienten zu mir nach Hause einzuladen, um die Begleitung zu besprechen.“ Ihr Kollege ermahnt sie daraufhin, dass sie doch wisse, dass sie „Grenzen ziehen“ müsse: „Du solltest darauf achten, die Klienten in den Vereinsraum einzuladen und hier den Vorgang zu dokumentieren.“
An diesem Beispiel zeigt sich nicht nur, wie das in der Ausbildung initiierte Training eines Grenzbewusstseins fortgeführt wird, auch wird deutlich, dass die Lotsinnen in der Begleitung von Migranten nicht einfach von einem Engagement im Vertrauten auf ein planendes und rechtfertigungsfähiges Engagement ‚umschalten‘, sondern diese heterogenen Engagementformen vielmehr eigensinnig miteinander verbinden. Daraus ergibt sich die spannungsvolle Anforderung, zwar einerseits na-
217 Insbesondere bei der Aufgabe „Zu wieviel Prozent fühlst du dich integriert?“ haben die Lotsen trainiert, Ist-Zustände und vor diesem Hintergrund Soll-Zustände zu formulieren (vgl. Kapitel 3.2.3.2). 218 Ausführlich dokumentiert ist dieser Anspruch in einem Jahresbericht des Vereins, der den Titel „Professioneller werden“ trägt.
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he am Klienten zu agieren, aber zwecks Planbarkeit und öffentlicher Rechtfertigungsfähigkeit andererseits dafür zu sorgen, dass sich die Beziehung zwischen Lotse und Klient nicht „in Vertraulichkeit auflöst“ (Thévenot 2011a: 245). Die bis hierhin aus unterschiedlichen Materialsorten hergestellte Szenerie der Begleitung enthält bereits zahlreiche Hinweise darauf, wie die Ausbildung der Alltagshelfer in die Begleitungspraktik der Lotsen hineinwirkt, indem sie Formen ebenso wie Wahrnehmungsweisen von Wissen verändert. Explizit nach der Bedeutung des Lehrgangs für die Veränderung der Begleitung gefragt, antworten zwei Vereinslotsen: AQ: Ich habe nochmal eine Frage, die die Begleitung betrifft. Würden Sie sagen, dass sich durch die Qualifizierung diese tägliche Arbeit, Leute zu begleiten, verändert hat? Lotse 1: Ja, klar. Lotse 2: Mehr Prestige. [lacht] Ja, das ist wichtig. [ernst] Lotse 1: Wir haben jetzt mehr Angst. ... Wir sind jetzt deutscher geworden. ... Ich erkläre das. Bei unserem Verein haben wir fünf Deutsche dabei. Wenn ich die Deutschen mit den Migranten vergleiche: Der Migrant, er geht sofort rein, er denkt nicht nach. Der Deutsche sagt: „Ähm, warte mal, warte mal. Wir müssen hier erst noch überlegen, ob das passt mit dem BGB Paragraph so und so.“ Die Deutschen denken immer an die Gesetze und das Recht. Wir haben das nach dieser Qualifizierung auch gelernt. Wir haben uns jetzt auch ein bisschen gebremst. Ah, das darf ich nicht, das darf ich. Wir sind jetzt mehr in der Richtung, was hier in der Gesellschaft läuft. Also ich finde sehr gut an der Qualifizierung, dass die den Leuten beibringen: Hier gibt es Gesetze, hier gibt es Vorschriften, also muss man nicht spontan...spontan ist gut, schön, toll, aber manchmal ist es nicht gut und es entsteht richtig Theater. Und das haben wir durch diese Qualifizierung gelernt (Interview LV/ 31.08.2011, Zeilen 1214-1239).
Deutlich wird an dieser Interviewsequenz, wie sich im (durch die Ausbildung präfigurierten) Wandel einer Praktik auch der darin engagierte Praktiker mit seinen Selbst- und Anderen-Verhältnissen verändert. Die beiden Lotsen nehmen bei ihrer Repräsentation der ‚neuen‘ Begleitpraktik einen immer größeren Abstand zu ihrem vormaligen Alltagshelferdasein ein, das nun rückblickend mit mangelnder Reflexion und einer problematisierten Spontaneität assoziiert wird. Der von vielen Alltagshelfern hochgehaltene Mut (vgl. Kapitel 3.1.3.2) weicht einer nunmehr positiv bewerteten Angst, die dafür sorgt, dass der Lotse „mehr in der Richtung [ist], was hier in der Gesellschaft läuft.“ Um sich als Lotse intelligibel machen zu können, kommt es im Rahmen der Begleitung – ganz anders als bei der Projektarbeit – darauf an, sich selbst „deutscher“ zu machen. Ein Lotse, der sich in seinem Lotsesein selbst als „deutscher“ versteht, trägt gleichsam indirekt zur Subjektivierung seiner
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deutschen Kollegen (wie auch anderer Deutscher) bei, die nun an bestimmten ‚Maßstäben‘ des Deutschseins gemessen werden können. 3.4.4 Sich einrichten: Zum Rearrangement der Sprechstundenpraxis „[...] wir leben nicht in einer Leere, innerhalb derer man Individuen und Dinge einfach situieren kann. Wir leben nicht innerhalb einer Leere, die nachträglich mit bunten Farben eingefärbt wird. Wir leben innerhalb einer Gemengelage von Beziehungen, die Platzierungen definieren, die nicht aufeinander zurück zu führen und nicht miteinander zu vereinen sind.“ FOUCAULT (1992: 38)
Bisher wurden Praktiken der Lotsen beleuchtet, die im Rahmen von Sprechstunden geplant, beworben und evaluiert sowie in dort stattfindenden Interviews präsentiert werden. Im Folgenden fokussiert sich die Beobachtung auf die Sprechstundenpraxis selbst. Gefragt wird danach, wie sich Beratungspraktiken und die darin vielfach engagierten Lotsen im Kontext räumlich-materieller rearrangements verändern. Es werden nacheinander zwei Sprechstunden-sites analysiert, wobei die erste Analyse auf Beobachtungen zu Beginn und die zweite auf Beobachtungen gegen Ende der rund dreizehnmonatigen Feldphase in dem Lotsenverein basiert. Herausgearbeitet wird dabei, wie jeweils zunächst unbespielte Bühnenbilder durch praktische Vollzüge und die partizipative Einbettung der Akteure in die Szene zu Schauplätzen der Sprechstundenpraxis werden und ihr eine immer prägnantere Gestalt verleihen. Sprechstundenpraxis, die erste: Nähe zu den Gästen und Abstand zu den Hauptamtlichen Es dauert eine Weile, bis ich das Büro des Lotsenvereins finde. Schließlich werde ich in einem ‚toten Winkel‘ am Ende einer recht düsteren, menschenleeren Einkaufspassage in der Nähe eines Spielcasinos fündig. Ein kleines Plakat an der offen stehenden Eingangstür deutet auf den Lotsenverein hin. Die geöffnete Tür erlaubt einen Blick in das Innere des Raumes, dessen breite Glasfront durch einen Lamellenvorhang sonst vollständig verdeckt ist. Zwei schwere, etwas speckige dunkle Ledersofas bilden einen Kontrast zu den fast lückenlos mit verblichenen Blumenbildern, Kunstdrucken und einem Spiegel bedeckten Wänden. Es liegt ein leicht staubiger Geruch gepaart mit Duft nach Croissants und frischem Kaffee in der Luft. In den Raum ragt eine Kochzeile hinein. Auf einem großen Tisch zwischen den Sofas befinden sich Keksdosen, Unterlagen und einige Flyer. Vom hinteren Teil des Raumes geht hinter
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einer Tür ein kleiner Flur ab, der zu einer Toilette sowie einem kleineren Raum führt, der als Abstellraum und Lagerplatz für Werbe- und Informationsmaterial dient.
Auch ohne eine genaue Vorstellung davon zu haben, wie ein Ort auszusehen hat, an dem Integrationslotsen ihre Sprechstunden abhalten, irritiert das noch unbespielte Bühnenbild zunächst. Der Begriff der Sprechstunde ruft szenische Vorstellungen von nüchternen Arztpraxen oder Amtsstuben hervor, zu denen dieser eher wie ein etwas altbackenes Wohnzimmer wirkende Raum, der eine Atmosphäre der Gemütlichkeit ausstrahlt, nicht so recht passen will. Wie sich später herausstellt, stammt die Wanddekoration aus einem schon länger durchführten Kunstprojekt eines anderen Vereins, mit dem sich der Lotsenverein die Räumlichkeiten tageweise teilt. Einmal pro Woche wird der Vereinsraum zum Schauplatz der Sprechstundenpraxis: Noah Samet, aktiver Lotse der ersten ‚Qualifizierungskohorte‘ und Gründungsmitglied des Vereins, öffnet den Raum pünktlich um zehn Uhr, stellt Kekse, Kaffee und Tee bereit, setzt sich auf das Sofa und wartet geduldig, dass jemand ‚eintrudelt‘. Faris Masaad, der Vorsitzende des Vereins, genannt „der Boss“, kommt meist eine viertel Stunde später und bringt außer einer Tüte Croissants Leben in die Bude. Er berichtet von laufenden Projekten, neuen Kontakten und Schwierigkeiten bei seinen Behördengängen mit Migranten. Bevor irgendwann die ersten „Gäste“ [Feldbegriff] eintreffen, kommt Klaus Petersen hinzu, der für die Finanzen des Lotsenvereins zuständig ist. Ob altbekannte oder neue Gesichter, Klienten werden fast immer geduzt und mit lockerem Handschlag oder Umarmung Willkommen geheißen. So auch ein ‚neuer‘ nigerianischer Klient, der mit seiner kleinen Tochter den Raum betritt und sich auf eines der Ledersofas setzt, auf dem er fast ein bisschen einsinkt. Faris Masaad meint, er sei vom Jobcenter bereits informiert worden und wisse, dass es um ein sprachliches Problem beim Ausfüllen von Unterlagen gehe. Eine Weile sind Lotse und Klient in ein angeregtes Gespräch vertieft, bis dieses durch weitere Gäste unterbrochen wird, die sich mit an den Tisch setzen. Einige von ihnen wollten „einfach mal vorbeischauen“. Andere haben dagegen konkrete Anliegen, die mehr oder weniger parallel und oftmals begleitet von privatem ‚Schnack‘ und wechselseitigem Schulterklopfen bearbeitet werden: Eine Klientin hat Probleme mit der Ausländerbehörde und braucht Unterstützung, um eine Arbeitsgenehmigung zu erhalten. Jemand möchte einen Sprachkurs beantragen und benötigt dafür Hilfe, während ein anderer die Lotsen besucht, um dort „ein wenig deutsch“ zu lernen. Der nächste braucht einen Lotsen, der seine Frau in ein Krankenhaus begleitet. Eine Klientin möchte zu ihrer Schwester in eine andere Stadt ziehen und braucht dabei aufenthaltsrechtliche wie auch tatkräftige Unterstützung. Sie wird schon seit zwei Jahren von den Lotsen begleitet, die ihr u.a. über einen Anwalt bei der Umwandlung einer Duldung in eine Aufenthaltserlaubnis und beim Durchsetzen von Ansprüchen auf Sozialhilfe geholfen haben und als Vermittler einer eigenen Wohnung wie auch in einem Konflikt zwischen ihr und ihrem Part-
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Bereits das unbespielte Bühnenbild ließe sich dank der offen stehenden Tür und der gemütlichen Einrichtung des Vereinsraums als einladend beschreiben. Dieser Einladungscharakter wird in der Sprechstundenszene durch die fast freundschaftlichen Begrüßungsformen, das wechselseitige Schulterklopfen, den lockeren Plauderton der Gespräche und das Bindungsritual (van Gennep 1986: 37) des gemeinsamen Kaffeetrinkens weiter verstärkt. Hervorgebracht wird dank dieser materiellen und körperlichen Medien ein Begegnungsraum, der wechselnde, oftmals aber auch altbekannte Gäste beherbergt und für deren „Annehmlichkeit“ sorgt, d.h. zu ihrem „Wohlbefinden innerhalb eines behaglichen Umfelds“ (Thévenot 2011a: 238) beiträgt. Er dient als Rückzugsort vor familiärem Stress, als informeller Versammlungsort und als Schutzraum: Die Anordnung, bestehend aus einem Tisch, um den sich die Anwesenden versammeln und der beiden Sofas, in denen man ein wenig versinkt, verleiht dem Raum einen fast wohnlichen Charakter, der seine Gäste einhüllt, sie gewissermaßen umfriedet und ihnen spürbar vermittelt, dass sie ihre An-
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liegen hier ohne Sprachhemmungen und ohne rechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen, äußern können.219 Doch finden in diesem Raum auch Beratungspraktiken im Rahmen einer Sprechstunde statt? Warum kommt diese Frage hier und jetzt auf – lässt sich dem etwas über den empirischen Gegenstand selbst entnehmen? Erinnern wir uns an andere in dieser Arbeit untersuchte Praktiken, so riefen weder die Begleitung oder die Projektarbeit noch die Ausbildungspraktiken vergleichbare Irritationen hervor, da sie eine entsprechende (Selbst-)Auslegung nahelegten. Die Frage wurde also nicht einfach stillschweigend übergangen, vielmehr wurde sie nicht evident. Dass bei der Betrachtung der Sprechstundenszene hingegen Zweifel am Status von Tätigkeiten als einer Beratungspraktik aufkommen, verdankt sich – so die vorläufige These – einem szenischen Arrangement, das sich aus der Beobachterperspektive zunächst weit weniger durch eine prägnante Gestalt als durch Ambiguität auszeichnet. So wirkt die Szene als Bühne wie auch als Schauplatz von Tätigkeiten, die eher an eine gemütliche Kaffeerunde erinnern, auf eine praxeographische Betrachterin weit weniger stimmig und eindeutig als bspw. eine Anordnung, in der Textaufgaben gestellt, Tafelbilder nach einem Lehrbuch erarbeitet oder Powerpointpräsentationen gezeigt werden und die sich szenisch unwillkürlich als ein Seminarraum verstehen lässt, in dem Lehr- und Lernpraktiken stattfinden. Für Irritation sorgt in diesem Fall bereits eine Kulisse, deren Artefakte auf ein Kunstprojekt, nicht aber auf eine Beratung von Migranten hindeuten. Die festen Öffnungszeiten verleihen der Szene zwar einen Sprechstundencharakter, der sich jedoch dank der Vielzahl von Gästen, die „einfach mal vorbeischauen“, wieder verliert. Charakteristisch für die Abläufe vor Ort ist eine additive Ausrichtung: mit jedem neuen Gast kommen neue Anliegen und oftmals persönliche Gespräche hinzu, zwischen denen weder räumliche, zeitliche noch intentionale Differenzierungen hergestellt zu werden scheinen. Auf diese Weise entsteht eine Szene, in der die darin eingebetteten Beratungspraktiken zunächst schwer erkennbar sind. Deutlich wird dies am Beispiel des Gesprächs mit dem nigerianischen Klienten, das weder einen gesonderten Platz in dem Vereinsraum noch einen bestimmten,
219 Für Hermann Schmitz besteht das Charakteristische der Wohnung darin, mittels Umfriedung ein „Verfügen über Atmosphärisches“ zu ermöglichen, wodurch sich die Wohnung als ein „geschützter Raum“ konstituiert (vgl. Schmitz 1990: 320). Deutlich gemacht hat er dies an einer Wohnentität, die den hier betrachteten Sofas, auf denen man einsinkt und die einen somit umgeben – oder umfrieden – recht ähnlich ist: „[...]man braucht sich nur entspannt in einen Sessel zu setzen, dessen Rückwand und seitliche Armlehnen den Körper auf drei Seiten umgeben, die Arme aufzulegen und die Augen zu schließen, als ob ein Vorhang nach vorn falle; dann lernt man so etwas wie das Urphänomen des Wohnens in angegebenem Sinn kennen“ (ebd.: 319).
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vorab terminierten Zeitrahmen oder eine höhere Priorität als andere Aktivitäten erhält. Die hohe Fluktuation der Gäste, mit denen zwischendurch geplaudert wird, sowie vereinsinterne Organisationsbesprechungen bringen immer wieder ‚Unordnung‘ in das Gespräch und lassen es nahezu unstrukturiert erscheinen. Erst bei genauerem Hinsehen schält sich aus diesem Gespräch die Beratungspraktik in ihrer eigenen zeit-räumlichen und materiell-körperlichen Verfasstheit heraus. Während der Beginn der Beratung mit der Begrüßung klar markiert wird, werden darauffolgende Sequenzen und das Ende der Beratung über performative Übergänge hergestellt, welche die Praxis zwischendurch förmlich auslaufen, in ein Privatgespräch und schließlich in eine Anwerbung potentieller Nachwuchslotsen übergehen lassen. Obgleich die Praktik nicht an einem separaten physischen Ort vollzogen wird, bringen Lotse und Klient inmitten von anderen Praktiken (Privatgespräche, Projektplanung, Rauchen etc.) intersubjektiv einen Begegnungsraum der Beratung hervor, indem sie sich körperlich einander zuwenden und ihre Aufmerksamkeit auf das gemeinsame Bezugsobjekt des Businessplans richten. Während der Beratung vollzieht sich die zwischen Lotse und Klient hervorgebrachte Begegnung in einem asymmetrischen Modus, der während des sodann folgenden privaten Austauschs in einen für das Engagement im Regime des Vertrauten charakteristischen kameradschaftlichen Modus des „wechselseitigen SichEinlassens“ übergeht (vgl. Thévenot 2011a: 239, Herv. AQ). Mit dem Gespräch über Migrationserfahrungen und Fremdsprachenkenntnisse wechselt die Begegnung schließlich in einen Modus, der die Asymmetrie einer einseitigen Befragung durch den Lotsen mit den Symmetrien gemeinsamer Migrationserfahrungen und der Potentialität einer gemeinsamen Lotsenkarriere verbindet.220 Es wird somit eine beratungstypische „Asymmetrie zwischen Beratendem und Beratenem“ (Traue 2010: 29f.) hergestellt, die mittels symmetrisierender Elemente immer wieder performativ ‚abgemildert‘ wird. Deutlich wird daran zugleich, wie die auf den ersten Blick symmetrisch anmutende Raumordnung von Menschen, die scheinbar gleichranging um einen Tisch herum sitzen und Kaffee trinken, keineswegs aus sich heraus ausgeglichene Machtpositionen zwischen Lotsen und Klienten kreiert. Die räumliche Anordnung wird in den Gesprächsphasen vielmehr auf unterschiedliche Weisen ge-
220 Der Vereinslotse engagiert sich bei dieser Anwerbung eines potentiellen Nachwuchslotsen insofern zugleich in planvoller Weise, als dass er mit der Ermittlung eines ‚Eignungsprofils‘ vorausschauend die Ziele des Vereins und seine ‚Bestandssicherung‘ in den Blick nimmt. Ähnlich wie bei der in Kapitel 3.3.1.2 geschilderten ‚Spontanakquirierung‘ zeichnet sich dabei eine Bereitschaft ab, die Konvention, der zufolge Integrationslotse nur werden kann, wer zuvor einen offiziellen Lehrgang besucht hat, zu unterlaufen. Der Möglichkeitssinn wird somit nicht nur eingesetzt, um neue Tätigkeitsfelder zu erschließen, sondern auch, um den Lotsennachwuchs anzuwerben.
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braucht, die je eigene Machtpositionen hervorbringen. Die asymmetrische Kommunikationsstruktur, in welcher der Lotse steuert und nachhakt, wird in diesem Arrangement nicht aufgehoben, sondern für einen zunächst ungeschulten Blick lediglich weniger sichtbar. Diesem ungeschulten Blick ist es zu verdanken, dass sich die Beratungspraktik erst allmählich als solche zeigt. Greifen wir die obige These auf und führen diese weiter, so stellt sich heraus, dass der Blick der Praxeographin nicht nur bezogen auf die eigentümliche Kulisse der Beratungsszene ungeschult, sondern vor allem unvertraut mit dem darin auf vertraute Weise engagierten Lotsen ist. Nach Thévenot zeichnet sich das Regime der Vertrautheit gerade dadurch aus, dass „eine Person aufs Engste mit einer vertrauten Umgebung beschäftigt [ist], ob nun zu Hause oder am Arbeitsplatz. Die Dynamiken des Engagements sind in hohem Maße von persönlichen und lokalen Begleitumständen abhängig, die sich einem nicht mit der Situation vertrauten Beobachter eindeutig nicht erschließen. All die vielen Eigenheiten werden einem solchen Beobachter bizarr erscheinen, fehlt es ihm doch an dem detaillierten Wissen, das die Persönlichkeit im Laufe eines langen, teilweise beiderseitigen Anpassungsprozesses an das Umfeld konstituiert.“ (Boltanski & Thévenot 2011: 48, Herv. AQ). Interessanterweise weisen die Beobachterperspektive der Praxeographin und die Teilnehmerperspektive eines einheimischen Lotsen gewisse Ähnlichkeiten auf. So wird das Beratungsgespräch mit dem nigerianischen Klienten von Klaus Petersen als zu vertraut kritisiert. Der Lotse beklagt die mangelnde zeitliche und räumliche Abgrenzung der Beratung von anderen Gesprächen und mahnt an, dass man „erst beraten und anschließend die organisatorischen Sachen klären“ solle, statt das „alles in großer Runde zu palavern“. Da es Petersen (wie der Praxeographin) an einem über lange Jahre in der Alltagshilfe im nahen Umfeld erworbenen Wissen fehlt und er sich mit seinem Engagement ausschließlich in den Regimen des planbaren und rechtfertigungsfähigen Handelns bewegt, das sich an Beratungskonventionen wie Anonymität und einem klar strukturierten Ablauf orientiert, müssen ihm die Vorgänge bizarr erscheinen: „Hier läuft eben alles etwas anders.“ Faris Masaad hingegen ist vor dem Hintergrund seiner Vergleichsmatrix eines langjährigen Engagements als Alltagshelfer im Vertrauten nicht darüber besorgt, dass die Beratung zu wenig einer konventionellen Migrationsberatung entsprechen könnte, als dass sie es zu sehr tut. Auch er engagiert sich somit zugleich in rechtfertigungsfähiger Weise, indem er das Komplementärprinzip des Lotsenprogramms in Geltung setzt und öffentlich einräumt, dass man „den Titel Beratung“ nicht tragen dürfe. Er zeigt damit, dass er weiß, wo sein Platz als Lotse ist. Mit diesem auf Realitätssinn gründenden Abstand zu den Hauptamtlichen und der vertrauten Nähe zu den Gästen (welche nicht mit einer symmetrischen Beziehung gleichzusetzen ist) bringen die Lotsen „in ihrem vielfachen Engagiertsein“
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(Thévenot 2011a) eine widersprüchlichen Anforderungen genügende Beratungspraxis hervor, die Beratung leistet, ohne eine – nach beiden Seiten hin – allzu verdächtige Ähnlichkeit mit der offiziellen Migrationsberatung aufzuweisen. Der Vereinsraum ist weit mehr als ein bloßer Behälter dieser eigensinnigen Beratungspraxis; er fungiert als Medium einer grenzbewussten Profilbildung der Integrationslotsen. Einer von ihnen bringt dies wie folgt auf den Punkt: „Wir sind keine Behörde. Haben keine Tische zum Ausfüllen von Formularen oder so. Wir sind keine Konkurrenz zu den Sozialen Diensten. Wir sind ein Kulturhaus, wo Menschen zusammenkommen.“
Wie sich nach einem Jahr das Engagement der Integrationslotsen und ihre Selbstund Anderenverhältnisse im Kontext einer neuen räumlichen Anordnung verändert haben, wird im übernächsten Abschnitt behandelt. Um die beiden szenischen Momentaufnahmen nicht bruchlos gegenüberzustellen, bedarf es jedoch zuvor einer kurzen Ausleuchtung des Weges, der zwischen ihnen liegt. Raumsuche: Der Vereinsraum als Medium der Anerkennung und ‚Mitteilungsarchitektur‘ Bereits nach wenigen Wochen Feldforschung wird deutlich, dass der Vereinsraum von den Lotsen eher als eine Art Transitort denn als dauerhafte Lösung angesehen wird. Man brauche einen eigenen, d.h. nicht mit dem o.g. Kunstprojekt geteilten Raum, welcher allerdings nicht irgendwo sein dürfe: „Wir brauchen einen offenen Raum und nicht in einem Verwaltungsgebäude.“ Gesucht wird von den Lotsen ein Raum, der Offenheit ausstrahlt und vor dem Hintergrund des ihren Klienten zugeschriebenen Misstrauens gegenüber Behörden nicht den Verdacht einer offiziellen Einrichtung erweckt. Die Raumfrage zieht sich fortan durch die gesamten Beobachtungen. Bald stellt sich heraus, dass es hierbei weniger um „spatial needs“ (Shove et al. 2012: 131) von Vereinspraktiken geht, die eines größeren und leichter zugänglichen Raumes bedürfen, als um Fragen der ‚spatial representation‘ – einer stärkeren öffentlichen Präsenz und Sichtbarmachung der Lotsen und ihres Engagements durch einen Raum, der dabei, wie noch deutlicher werden wird, buchstäblich als eine Art Mitteilungsarchitektur (vgl. Barthes 1988a: 183) fungiert.221 Die Raum-
221 Roland Barthes verwendet den Begriff der „Architektur von Mitteilungen“ in Das semiologische Abenteuer, um deutlich zu machen, wie sich mit jeder Mitteilung (hier am Beispiel eines Werbespots) denotative, konnotative und metakommunikative Implikationen verbinden (vgl. Barthes 1988a: 181-186). In einer Reformulierung des Begriffes der „Mitteilungsarchitektur“ (Schade & Wenk 2011: 105) beziehe ich mich hier auf den
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frage wird damit zu einer Frage der Anerkennung, welche in engem Zusammenhang mit dem nicht nur vagen, sondern auch prekären Profil der nicht beraten dürfenden Berater steht: Ein Lotse beklagt sich: „Die Hauptamtlichen wollen das Wort [Beratung] nicht bei uns haben, obwohl ‚Beratung‘ sogar im Lotsenzertifikat steht. Wir machen die ganze blöde Arbeit und die Hauptamtlichen streichen die Belohnung ein.“ Eine andere Lotsin pflichtet ihm bei: „Wir werden ständig gelobt, aber wenn es darum geht, uns etwas dafür zu geben, einen Raum oder so, dann wird kaum reagiert. Wir nehmen der Stadt sehr viel ab. Die Behörden kommen ja mit den Migranten nicht klar und sind froh, dass wir Lotsen da sind.“
Hier zeigt sich in zweifacher Hinsicht, wie sich aus dem Engagement der Integrationslotsen im Regime der öffentlichen Rechtfertigung nicht nur Verpflichtungen für diese ergeben, sondern ebenso Erwartungen und Ansprüche. Festgestellt wird zunächst ein – nach Boltanski für die Unabschließbarkeit institutioneller Dynamiken typischer – „Widerspruch zwischen Semantik und Pragmatik“, aus dem eine „Leerstelle“ für Kritik hervorgeht (Bogusz 2010: 140). Die Kritik richtet sich darauf, dass das immer wieder mündlich erteilte ‚Beratungsverbot‘ (nach dem Grundsatz des Komplementärprinzips) im Widerspruch steht zu dem, was die Integrationslotsen tagtäglich und mit einer durch das Zertifikat verliehenen Legitimation tun: beraten. Ihr Engagement als Berater, die „der Stadt“ viel Arbeit abnehmen, verlangt nach einer Modalität der Anerkennung (vgl. Thévenot 2011b: 253), die über lobende Worte hinauszugehen hat. Es bedarf eines Raumes, der weniger als materieller Gegenwert, sondern eher als physisches Substrat einer Botschaft fungiert, die da lautet, dass die Lotsen offiziell anerkannt sind und sich einen festen Platz in dieser Stadt verdient haben.222 Wie sich zeigt, erreichen die Lotsen dieses Ziel nur näherungsweise. So bleiben sie nach längerer Suche letztendlich in ihrem alten Vereinsraum, was der Vereinsvorsitzende so erklärt: „Wir sind keine Beamten, wo jeder seinen festen Schreibtisch hat. Wir wollen näher an den Leuten dranbleiben. Und es hat sich herumgesprochen, dass wir hier sind.“
Aspekt einer spezifischen Zeichenhaftigkeit der Architektur, den Barthes im selben Band im Rahmen seiner Stadtanalysen herausarbeitet (vgl. Barthes 1988b: 199-208). 222 Auch dort, wo explizit ein finanzieller Ausgleich eingefordert wird, wird dieser weniger als monetäre Größe, sondern vor allem als ein Symbol der Anerkennung ins Feld geführt. So erläutert eine Lotsin resigniert: „Wenn Integrationslotsen von Ämtern als Übersetzer beauftragt werden, erhalten sie eine Aufwandsentschädigung von 12,50€. Jetzt, wo die Ämter immer öfter Klienten zu uns schicken, ist das dann ehrenamtliche Arbeit, die nicht vergütet wird. Das war es dann mit der Wertschätzung!“
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Von den Künstlern, mit denen sich die Lotsen den Raum zunächst geteilt hatten, übernehmen sie nicht nur die Örtlichkeit, sondern dank ihres Sinnes für Möglichkeiten, die sich auftun, gleich auch das Kunstprojekt: Sie wollen es künftig für „gemischte Gruppen“ anbieten. Darüber hinaus hat der Verein einen weiteren Raum angemietet, um „alle Projekte an einen Ort zu holen“, da die Lotsen „nicht immer wie die Beduinen mit Beamer und Werbemitteln umherziehen“ wollen. Im Folgenden werden wir noch deutlicher sehen, wie dieses Bestreben nach Sesshaftigkeit die Raumfrage zu einer Frage der subjektivierenden Anerkennung macht: Der Raum wird zu einem Medium, das daran beteiligt ist, die Lotsen und ihre Praktiken erkennbar (intelligibel) und damit anerkennbar zu machen. Sprechstundenpraxis, die zweite: Performative Anähnlichung an die Hauptamtlichen Rund ein Jahr später weist schon von weitem ein großer Aufsteller mit Plakat auf den Lotsenverein hin. Der blickdichte Lammellenvorhang an der Glasfront wurde durch offene Vorhänge ersetzt. Die Tür ist geschlossen. Dank dieser ungewohnten ‚Barriere‘ kostet es mich plötzlich ein wenig Überwindung einzutreten. Auch im Inneren hat sich fast alles verändert: An den inzwischen in einem dezenten Blau mit einer Tupftechnik gestrichenen Wänden hängen statt der Blumenbilder und Kunstdrucke eine Pinnwand mit Informationen und Kopien von Zeitungsausschnitten über den Verein sowie eine Weltkarte. Darüber hinaus wurden Zertifikate und Urkunden, eine Magnetwand, ein großes Banner mit dem Vereinslogo sowie ein überdimensionierter Scheck eines finanziellen Unterstützers aufgehängt. Vereins- und Projektflyer, Mitteilungen und Ankündigungen sowie das Vereinsmagazin mit inzwischen neuem Layout finden sich sauber geordnet in einem Ständer im Eingangsbereich, wo sich außerdem ein schmales Bücherregal befindet. Die Kochzeile ist durch einen Vorhang abgetrennt worden. Die beiden Sofas samt Tisch mit Kaffee und Keksen sind geblieben. Hinzugekommen sind eine akkurat angeordnete Stuhlreihe sowie ein Computertisch mit Bürostuhl. Auf einem direkt an der Glasfront platzierten kleinen Tisch sind wie in einem Stillleben zwei Kaffeetassen, ein kleiner Aufsteller mit dem Vereinslogo, Süßigkeiten, eine Vase mit Blumen und Visitenkarten arrangiert. Der ‚Abstellraum‘ nebenan hat sich in ein Büro mit einem Schreibtisch und zwei Stühlen verwandelt.
In seinem neuen alten Raum hat sich der Verein inzwischen in einer Weise eingerichtet, die nicht nur dem Wunsch nach Sesshaftigkeit, sondern auch einem spannungsvollen Profilierungs- und Professionalisierungprozess materiell Ausdruck verleiht: Die geschlossene Tür steht in deutlichem Kontrast zu der neuen gläsernen Offenheit des Raumes. Die im Raum verteilten funktionalen Büromöbel und die akkurate Stuhlreihe an der Wand brechen mit ihrer ernsthaften Sachlichkeit die Gemütlichkeit der beiden Ledersofas. An den Wänden ringen die kühle, nüchterne blaue Farbe und die verspielten hellen Tupfen um Balance. Wie eine Miniaturaus-
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gabe spiegelt das an der Glasfront arrangierte Stillleben auf dem kleinen Tischchen mit seinen wohnlichen Accessoires und vereinstypischen Artefakten den liminalen Charakter des gesamten Raumes wider (vgl. Turner 2005). Statt einmal wird diese neue Bühne inzwischen dreimal wöchentlich zum Schauplatz der Sprechstundenpraxis: Eine Frau öffnet die Tür und betritt zögerlich den Raum. „Darf ich hereinkommen?“, fragt sie etwas verunsichert. „Ja, klar“, antwortet Noah Samet und lädt sie ein, sich auf das Sofa zu setzen. Die Frau erklärt, dass sie einen polnischen Übersetzer suche. Der Lotse gibt ihr daraufhin einen Flyer mit Kontaktadressen und meint, dass in einer Stunde eine polnische Lotsin zur Sprechstunde komme. „Was heißt Sprechstunde?“, fragt sie. Noah Samet erklärt: „Wir sind für Menschen da, die Unterstützung benötigen. Gegebenenfalls begleiten wir Sie.“ Die Polin wirkt erleichtert: „Das ist gut. Ich spreche nicht so gut deutsch.“ – „Doch, doch. Man sollte sich nicht schämen. Ein bisschen selbstbewusster sein“, meint der Lotse und bittet sie, ein Formular mit ihrem Anliegen und ihren Kontaktdaten auszufüllen und in einer Stunde wiederzukommen. Die Klientin bedankt sich und will Noah Samet förmlich die Hand zur Verabschiedung entgegenstrecken. Der Lotse hingegen hebt locker die Hand zum Gruß, sagt lächelnd „Danke und bis bald“ und vertieft sich in seine Zeitung. Als er kurz aufblickt, sieht er eine junge Frau, die unschlüssig vor der Tür steht und schüchtern in den Raum hineinblickt. Er geht nach draußen, spricht eine Weile mit ihr und gibt ihr einen Vereinsflyer und eine Visitenkarte in die Hand. Währenddessen sind Faris Masaad und Klaus Petersen mit einem Klienten in das ‚Beratungszimmer‘ nach hinten gegangen. Kurz zuvor hatte ein ebenfalls hinzugekommener Klient auf Masaads Nachfrage, woher er denn komme, an der Weltkarte seinen Herkunftsort gezeigt, und anschließend Platz auf einem der an der Wand aufgereihten Stühle genommen. Ein weiterer Klient kommt hinzu und nimmt dort ebenfalls wie selbstverständlich Platz. Beiden wird ein Formular zum Ausfüllen gegeben und mitgeteilt, dass es länger dauern könnte, da noch ein Vertreter der Wohlfahrtspflege erwartet werde. Die Klienten widmen sich den Formularen – und warten. Eine weitere Vereinslotsin schaut vorbei, bewundert den frisch renovierten Raum und macht zwei „kleine Verbesserungsvorschläge“: Die Urkunden sollten so aufgehängt werden, dass sie besser gelesen werden können und an der Pinnwand sollten lieber Originalartikel über die Lotsen hängen: „Das ist professioneller. Oder nein, nicht professioneller, aber schöner. Das macht mehr her.“ Sie spricht die wartende Klientin an, plaudert eine Weile mit ihr und meint dann lächelnd an ihre Kollegen gerichtet, die inzwischen wieder aus dem Beratungszimmer zurück sind, dass die Klientin morgen auch zum „Internationalen Kochen“ komme. Nachdem sie dafür von ihren Kollegen gelobt wurde, verlässt sie die Sprechstunde wieder. Während sie auf den ‚hohen Besuch‘ aus der Wohlfahrtspflege warten, zeigt Faris Masaad seinen Kollegen einen Brief, in dem es offenkundig um die Anfrage für einen Vortrag über die Vereinsaktivitäten geht. Er streicht über das hochwertige Papier und meint: „Guckt mal.
320 | M ITTLERSUBJEKTE DER M IGRATION Das ist auch ein Zeichen von Anerkennung. Wir sind nicht billig!“ Schließlich betritt die Vertreterin der Wohlfahrtspflege den Raum und wird von den Lotsen Masaad, Petersen und Samet mit freundlichem Händedruck begrüßt. Die Besucherin wirkt erstaunt: „Habt Ihr Euch vergrößert? Ich war doch schon mal hier.“ – „Nein, nein! Wir haben nur ausgeräumt“, meint Faris Masaad schnell. Nachdem das Gespräch über die künftige Zusammenarbeit beendet ist und die Repräsentantin der Migrationsberatung den Raum verlassen hat, widmet sich Faris Masaad den beiden immer noch wartenden Klienten, die inzwischen in ein Gespräch vertieft sind. Mit einem Klienten wird ein Begleitungstermin zu einer Behörde vereinbart, die andere solle zum ersten Termin beim Jobcenter alleine gehen, beim zweiten Termin komme er dann mit. Das sei „seine Methode“, erklärt er, „die Leute erst mal allein hinzuschicken, statt alles abzunehmen“, das sei „ein Trick, um ihnen mehr Selbstvertrauen zu bringen.“
Bereits von außen bietet sich dem Betrachter ein grundlegend verändertes Bild des Vereinsraumes – und der darin eingerichteten Integrationslotsen. Der Aufsteller in der Passage macht nicht nur Werbung für den Verein, er markiert auch das Terrain der Lotsen weitaus offensiver als das vormalige kleine Plakat an der Tür. Mit den weit geöffneten Vorhängen, welche die breite Glasfront kaum noch verdecken, erlaubt der Verein von außen einen ungehinderten Einblick in das Innere des Raumes – er macht sich für die Öffentlichkeit transparent. Zugleich erzeugt die nun enthüllte Gläsernheit des Raumes eine Blickachse von innen nach außen. Statt wie bisher geduldig zu warten, bis ein Klient von sich aus den Raum betritt, wird es den Integrationslotsen nun möglich, aktiv auf draußen stehende Unentschlossene zuzugehen, ihnen ‚auf die Sprünge‘ zu helfen, sie mit Informationsmaterial an den Verein heranzuführen oder sie, wie in anderen Szenen zu beobachten war, direkt in den Raum zu lotsen.223 Bleibt die Tür hingegen geschlossen, entfaltet sie ihre Wirkung als eine Schwelle, die dem Eintretenden eine Praktik des Türöffnens abnötigt. Dann ist es an den Klienten, aktiv eine Barriere zu überschreiten. Am Beispiel der polnischen Klientin zeigt sich, wie sich diese im Vollzug der Praktik in eine Art Grenzzone hineinbe-
223 Darüber hinaus sprechen die Lotsen regelmäßig Passanten an, welche sie vorübergehen sehen, und versorgen sie mit Informationsmaterial über den Verein. Angeleitet wird diese Werbepraktik durch ein von den Lotsen entwickeltes Prinzip, das da lautet: „Jeder von uns ist ein Pressesprecher und macht den Verein bekannt“. Flyer und Broschüren machen die Lotsinnen nicht nur öffentlich sichtbarer, sondern sie beglaubigen als Schriftstücke auch die Lotsen in ihrem Engagement (vgl. Kapitel 3.3.5.4) und stellen eine gewisse Gleichrangigkeit mit anderen offiziellen Einrichtungen her: „Am Anfang haben wir kein Material gehabt, keine Broschüre oder so was. Aber jetzt haben wir auch was. Wir stehen dort genau wie die anderen und informieren die Deutschen [betont] und die Migranten.“
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gibt, die sie verunsichert werden und auf ein Zeichen des Hereinbittens warten lässt. Die materielle Vorrichtung der Tür präfiguriert die Hervorbringung eines asymmetrischen Positionengefüges: Gäste, die „einfach mal vorbeischauen“ wollen, werden nun zu Klienten, die um Einlass bitten, der ihnen von den Integrationslotsen gewährt werden muss. Die Schwelle bringt zudem einen point of no return hervor, dessen Überschreitung eine gewisse Verbindlichkeit erzeugt: Mit dem Türöffnen ziehen die Eintretenden die Aufmerksamkeit der Lotsen auf sich, was ihnen eine Umkehr ungleich schwerer macht als im Fall einer offen stehenden Tür, durch die sie notfalls noch unbemerkt ‚zurückhuschen‘ könnten. Darüber hinaus stellt die Schwelle einen Passagepunkt dar, der die Besucher in eine Übergangszone führt, in der sie sich „an eine neue Welt anzugliedern“ (van Gennep 1986: 29) haben. Der Eintritt in die ‚neue Welt‘ der Sprechstundenszene vollzieht sich mit dem „Angliederungsritual“ (ebd.: 40) der Begrüßung, der Austritt mit der Verabschiedungspraxis. Zwischenzeitlich wird unter Zuhilfenahme des Artefakts der Weltkarte die Initiierung eines Herkunftsdialogs mitunter zu einem weiteren Angliederungsritual, durch das diejenigen, die die Welt der Lotsen betreten, zunächst nicht zu Klienten mit sachlichen Anliegen, sondern zu Migranten mit Wurzeln an anderen Orten und Migrationserfahrungen gemacht werden. Sieht man das Angliederungsritual der Begrüßung und die Verabschiedung in der Begegnung von Lotse Samet und der polnischen Klientin zusammen, so gerät in den Blick, dass Lotse und Klientin die Sprechstundenszene im Verlauf unterschiedlich verstehen. Während sich die Begrüßung von beiden Seiten eher formlos vollzieht, kommt es bei der Verabschiedung zu einer gewissen Irritation auf Seiten der polnischen Klientin, der nach Angliederung an die Welt des Lotsen nun eine förmlichere Vollzugsweise angemessener erscheint. Zwischenzeitlich muss also etwas passiert sein, das sie die Szene anders deuten lässt als bei ihrem Eintritt in diese Welt. Da sich das Bühnenbild nicht verändert hat, liegt eine Betrachtung des Schauplatzes der Handlungsvollzüge nahe: Es wurde seitens der Klientin ein Anliegen vorgebracht, woraufhin der Lotse „gegebenenfalls“, d.h. unter bestimmten Voraussetzungen, eine Begleitung in Aussicht gestellt hat, ferner wurde ein Formular ausgegeben und ausgefüllt sowie ein Termin vereinbart. Der Lotse unterzieht die Begleitungsanfrage damit einer formalisierten Handhabung, die dem Standard und Prozedere des planbaren wie des öffentlich rechtfertigungsfähigen Engagements entspricht. Man könnte sagen, dass im Vollzug dieser Tätigkeiten eine Sprechstunde entstanden ist, die von der Klientin – auch wenn ihr der Begriff unbekannt ist – allmählich mit Hilfe von „Erinnerungsspuren“ (Lorenzer 2006: 17) aus der Migrationsberatung als solche erkannt wird und daher aus ihrer Sicht einer hierzu ‚passenden‘ förmlichen Verabschiedung bedarf. Lotse Samet geht bei der Verabschiedung und dem anschließenden annehmlichen Zeitunglesen hingegen erneut in ein Engagement der Vertrautheit über. Hatte er sich im Vollzug der Sprechstundenpra-
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xis zunächst zu einem Lotsen gemacht, der in formeller Distanz zu seiner Klientin steht, orientiert sich seine Verabschiedung wieder an einem vertrauten Gegenüber, das jedoch nicht ‚mitzieht‘, sondern sich vielmehr irritiert zeigt. Deutlich wird daran, wie sich die Selbst- und Anderenverhältnisse der Lotsen nicht im ‚Gleichklang‘ mit räumlich-materiellen Rearrangements verändern. Vielmehr entstehen Reibungen zwischen habitualisierten Umgangsweisen mit Gästen auf Seiten der Lotsen und den Erwartungen von Klienten, welche aus deren Verstehen einer Sprechstundeszene herrühren. Folgen wir nun den Lotsen Faris Masaad und Klaus Petersen, die mit ihrem Klienten in dem ehemaligen Lagerraum, der nun zu einem Büro umgerüstet ist, verschwunden sind – so stehen wir vor verschlossener Tür. Das Büro schottet die Beratung räumlich und akustisch von anderen Tätigkeiten ab und trägt zu ihrer zeitlichen Strukturierung bei, da Beratung nun nicht mehr überall und nebenher stattfindet, sondern an den Aufenthalt in diesem, gewissermaßen materiell fundierten, eigenen Beratungsraum gebunden ist. Sie wird damit als eine von anderen Tätigkeiten eindeutig abgegrenzte eigenständige Form vollzogen und institutionalisiert. Während das übrige Geschehen für jedermann einsehbar ist, erhält die Entität der Beratung einen Sonderstatus der Intimität und Vertraulichkeit. Gemessen an den von Petersen in der vorherigen Szene eingeklagten Beratungskonventionen ist damit der Übergang von einer in ein kameradschaftliches „Palaver“ integrierten Beratungspraxis zu einer öffentlich rechtfertigungsfähigen Form der Beratung vollzogen. Zurück im großen Raum haben inzwischen zwei Klienten wie selbstverständlich auf den neu hinzugekommenen Stühlen an der Wand Platz genommen. Am Artefakt der Stuhlreihe zeigt sich etwas, das für die Szene insgesamt charakteristisch ist: Die vormalige additive Ausrichtung der Sprechstundenpraxis, in der zahlreiche Tätigkeiten zur selben Zeit am selben physischen Ort gleichrangig vollzogen wurden, weicht nun einer stärker priorisierenden Ausrichtung, welche einzelnen Aktivitäten nicht nur spezielle Räume und Zeitfenster, sondern auch Wertigkeiten zuweist, die in der Gestalt materiell befestigter Reihenfolgen zu Tage treten. Aus der Beobachterperspektive nimmt die Praxis dabei zunehmend die Gestalt einer erkennbaren, typisierten Praktik mit einer teleoaffektiven Struktur im Sinne Schatzkis an: „a range of normativized and hierarchically ordered ends, projects, and tasks, to varying degrees allied with normativized emotions and even moods“ (Schatzki 2002: 80). Die materielle Anordnung der Stuhlreihe orientiert die Beratung auf ein Case Management, das zum Ziel hat, „vielfältige Angelegenheiten, die uns beschweren, ‚auf die Reihe‘ zu bringen. Gemeint sind der mentale und praktische Versuch, in komplizierter Lage, die Übersicht zu behalten, eine Ordnung zu erreichen, zu korrigieren, was fehl gelaufen ist, das Leben zu bewältigen und zielgerichtet voranzu-
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kommen.“ (Wendt 2011: 3). Die buchstäblich auf die Reihe gebrachten Fall-Körper werden dank der formalisierten Steifheit der Stühle, auf denen sie weder einsinken können noch von schützenden Lehnen umfriedet werden, in eine ebenso steife, aufrechte Haltung versetzt und auf diese Weise körperlich mobilisiert, sich bereit zu halten und bis sie an der Reihe sind – zu warten. Die Anordnung der Stuhlreihe erzeugt somit eine räumlich verfasste institutionalisierte Praktik des Wartens, welche nicht nur Körperhaltungen und zeitliche Abläufe reguliert, sondern – ähnlich wie die Türschwelle – auch ein asymmetrisches Machtgefüge zwischen einem Kollektiv wartender Klienten und den Lotsen als einer Instanz, die auf sich warten lässt, hervorbringt. Anders als ein separates Wartezimmer erzeugt die Anordnung der Wartestuhlreihe ein synchrones Moment der Inklusion und Exklusion: Innerhalb eines physisch geteilten Raumes werden die Wartenden in einem performativ hervorgebrachten Randgebiet ‚geparkt‘, das aus dem Zentrum der Begegnung zwischen Lotse und aktuellem Fall verschwindet. Dieses Randgebiet liegt während der Zeit des Wartens jedoch nicht einfach ‚brach‘, sondern wird in zweifacher Weise als ein eigener activity-place space (Schatzki 2002: 43) jenseits der Fallbearbeitung hervorgebracht224: Zum einen werden in dieser Randzone Klienten für Projekte angeworben, ohne dass es die formalisierten Abläufe im Zentrum stört. Auf diese Weise werden Synergien zwischen den heterogenen Tätigkeitsfeldern der Lotsen erzeugt und der Verein für die Anwesenden mit seinem gesamten ‚Portfolio‘ sichtbar gemacht. Zum anderen kommen die Wartenden im intimen Randgebiet der Stuhlreihe, das für jedermann sichtbar und doch außerhalb der Begegnung der Übrigen ist, miteinander ins Gespräch. Schien die Anordnung der Stühle zunächst in deutlichem Kontrast zu dem wohnlichen Sofaarrangement zu stehen, wird nun deutlich, wie sich auch hier ein performativer Nahraum konstituiert, der aus dem Warten auf einer Stuhlreihe ein Verweilen in einer Sitzgruppe macht. Die anfängliche Dissonanz zwischen einer asymmetrischen Anordnung hier und einer symmetrischen dort löst sich somit im Verlauf der Praxis auf. Auch dieser zweite in kontingenter Praxis hervorgebrachte activity-place space lässt sich für die Lotsen im Sinne eines Möglichkeitsraumes nutzbar machen: Die Erfahrung, „dass sich Migranten in der Sprechstunde kennenlernen und sich dann gegenseitig unterstützen“, wird dabei in eine explizite Zielsetzung des Vereins überführt, gerade den Austausch und die wechselseitige Unterstützung von Migrantinnen zu befördern, so dass, wie mir ein Vereinsmitglied sagt, auch die Lotsen entlastet werden, zumal „das Ganze“ sonst ihre „Kräfte“ überstei-
224 „An activity-place space is a matrix of places and paths where activities are performed. These places and paths are invariably stationed, furthermore, at particular entities. Insofar, consequently, as these entities are physical beings, places and paths are anchored in physical space.“ (Schatzki 2002: 43).
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ge. Deutlich wird vor diesem Hintergrund, dass die zum Ende der Szene erläuterte „Methode“, Klienten zu mehr Autonomie und Selbstvertrauen zu verhelfen, sie zu aktivieren, statt ihnen „alles abzunehmen“ im Rahmen einer Vereinsgeschichte, die „immer größer und größer“ wird, weniger der Verinnerlichung eines normativen Programms entspringt, sondern vielmehr die Züge eines Verfahrens (vgl. Gehring 2009) trägt, das in der Praxis entwickelt wird. Vergleicht man schließlich die beiden Szenen miteinander, so zeichnet sich die Sprechstundenpraxis in der Anordnung vom Typ ‚Wohnzimmer‘ aus der Beobachterperspektive vor allem durch ihre Ambiguität und ihre performativen Übergänge zwischen einzelnen Tätigkeiten aus, während sie in der zweiten Anordnung eine immer prägnantere Gestalt gewinnt und sich in deutlich erkennbare Praktiken mit materiell befestigten zeit-räumlichen Anordnungen ausdifferenziert. Im Anschluss an Fischer-Lichte formuliert, weicht die kontingente, einmalige Aufführung der Praxis zunehmend einer Inszenierung, die an einem impliziten Skript weitestgehend regelhafter, mitteilbarer wie unterteilbarer Schrittfolgen orientiert ist.225 Die Beratung und Begleitungsvorbereitung wird dabei einer an Konventionen orientierten Reorganisation unterzogen, die sich verbindlicher Formate wie der Terminvereinbarung oder des Formulars bedient. Anhand derer können Ansprüche geprüft und Einsätze in Abhängigkeit davon geplant werden, ob die Voraussetzungen und wann Kapazitäten für die Bearbeitung eines Anliegens gegeben sind. Materielle Vorrichtungen wie die geschlossene Tür und die Stuhlreihe tragen zu dieser formalisierten Organisation der Sprechstundenpraxis bei, indem sie institutionalisierte Praktiken des Eintretens und Wartens hervorbringen und einzelnen Fällen bestimmte Zeitfenster und Plätze zuweisen. Die „,persönlich maßgeschneiderten‘ Strukturen“ eines noch stärker auf Vertrautheit und Nähe basierenden Engagements
225 Zu unterstreichen ist hier zweierlei. Zum einen mag sich diese Beobachterperspektive von Teilnehmerperspektiven, die in sich ebenso heterogen sind, unterscheiden. So wurde deutlich, dass das, was im Rahmen der Anordnung vom Typ ‚Wohnzimmer‘ aus einer Beobachterperspektive als Praxis ausgewiesen wurde, dem damit vertrauten Lotsen (dem ehemaligen Alltagshelfer – im Unterschied zum einheimischen Lotsen ohne Vorerfahrungen) als routinisierter und klar gegliederter Ablauf und insofern als Praktik erschienen sein mag. Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass sich die kontingente, vollzugsoffene Praxis freilich nicht in institutionalisierten Praktiken auflöst. Um die Differenz zwischen Praktiken und Praxis zur Ausleuchtung sozialer Wandlungsprozesse noch fruchtbarer zu machen, müsste in künftigen Forschungen systematisch danach gefragt werden, inwieweit sich die kontingenten ‚Entfaltungsräume‘ der Praxis im Rahmen solcher Institutionalisierungsprozesse möglicherweise verengen, aber auch, welche neuen Spielräume sich für die sich in institutionalisierten Praktiken bildenden Subjekten auftun.
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gehen damit zusehends in ein „Format regelmäßiger anonymer Abläufe mit funktionalen Gegenständen“ über (vgl. Boltanski & Thévenot 2011: 48). Das Rearrangement des Vereinsraums erscheint im Rückblick wie „ein ,Aufräumen‘ [,das] notwendig [wurde], um Bedingungen zu schaffen, die einem ganz anderen Regime des Engagements angemessen sind, das auf geregeltem, geplantem Handeln beruht, auf Plänen und Funktionalität“ (ebd.). Dieses Aufräumen bringt jedoch nicht nur eine Mitteilungsarchitektur hervor, die über die Integrationslotsen spricht. In Anlehnung an Roland Barthes wird der Raum auch gesprochen – von Lotsen, die hinter verschlossenen Türen beratend tätig sind, ihren Klienten Einlass gewähren, sie warten lassen, fallmäßig organisieren, Herkunftsdialogen unterziehen, sich kameradschaftlich verabschieden, Zeitung lesen und den Wartebereich für spontane Projektwerbung nutzen.226 Ebenso wird der Raum von Klienten gesprochen, die verunsichert in den Raum eintreten oder wie selbstverständlich auf einer Wartestuhlreihe Platz nehmen und dort nicht nur warten, sondern auch Kontakte herstellen und sich vernetzen. All diese verkörperten Mitteilungen des Raumes zeugen einerseits davon, wie das räumliche Arrangement und Engagement der Integrationslotsen und die darin hervorgebrachten praktischen Relationierungen zwischen Lotse und Klient zusehends näher an das einer offiziellen Migrationsberatungsstelle heranrücken und andererseits von den Spannungen, die sich aus dem multiplen Engagement eines Lotsen ergeben, der „kein Beamter mit festem Schreibtisch“ sein will – und darf, sondern „näher an den Leuten dranbleiben“ will – und soll. Die Subjektivierung der Mittler vollzieht sich vor diesem Hintergrund als eine eigensinnige und kreative, möglichkeits- wie grenzbewusste performative Anähnlichung (Wulf 2005) der Lotsen an hauptamtliche Migrationsberater: Ihr Möglichkeitssinn sorgt dafür, dass „die Geschichte“ des Vereins immer größer und die Lotsen, wie ihr Jahresbericht bereits im Titel dokumentiert, „Professioneller Werden“. Er bringt sie dahin, ein Kunstprojekt kurzerhand zu einem Integrationsprojekt für „gemischte Gruppen“ zu machen und Zugangsbarrieren zu Beratungspraktiken zu überwinden – oder besser: sie ‚niedrigschwellig‘ zu unterwandern, ohne dabei die impliziten Machbarkeits- und Sagbarkeitsregeln im Machtgefüge mit den Hauptamtlichen zu verletzen. Im Bewusstsein ihres Platzes achten die Lotsen sorgsam darauf, dass ihr Engagement auf die hauptamtlichen Kräfte nicht allzu groß wirkt. Der kurze Dialog zwischen dem Vereinsvorsitzenden und der
226 Barthes geht es in seinen Stadtanalysen darum, dass nicht nur die Stadt zu ihren Bewohnern spricht. Auch „wir sprechen unsere Stadt, die Stadt in der wir uns befinden, einfach indem wir sie bewohnen, durchlaufen und ansehen“ (Barthes 1988b: 202).
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Hauptamtlichen hat vor diesem Hintergrund geradezu paradigmatischen Charakter: „Habt Ihr Euch vergrößert?“ – „Nein, nein! Wir haben nur ausgeräumt“.227 3.4.5 Zwischenresümee Lotse zu werden, setzt nicht nur eine Ausbildung und einen Titel – manchmal sogar nicht einmal das – voraus, sondern macht es erforderlich, sich in der Praxis als Lotse intelligibel und somit anerkennbar zu machen. Hierzu bedarf es der Ausarbeitung eines eigenen Profils, welches erst im Vollzug räumlich situierter Praktiken Gestalt annehmen kann. Gestaltungsarbeit umfasst in diesem Sinne eine Selbstgestaltung, die wechselseitig auf die Gestaltung von Räumen und Praktiken bezogen ist.228 Aus feldtheoretischer Perspektive sind die Lotsinnen in ihrer Gestaltung von Selbst, Räumen und Praktiken darüber hinaus zugleich an der fortlaufenden Gestaltung eines sich herausbildenden Feldes des Lotsen(s) beteiligt (vgl. Kapitel 3.3.6). Gestalten meint dabei kein intentionales Einwirken auf die Welt und ebenso wenig haben wir es mit losgelösten Gestalten medialen Charakters zu tun, die schon unabhängig in der Welt sind und bloß noch angenommen werden müssen. Vielmehr bezeichnet Gestaltungsarbeit ein wechselseitiges Gestalten von Selbst und Welt. Im Folgenden geht es mir darum, das ko-konstitutive Verhältnis der Gestaltung von Subjekt, Raum, Praktik und Feld rückblickend noch einmal etwas genauer auszuleuchten. Die figurative Metapher der Gestalt lenkt den Blick zunächst auf das Verhältnis von Vordergrund und Hintergrund. Integrationslotsinnen haben sich innerhalb eines komplexen Positionengeflechts sowohl von anderen als auch von einem vormaligen Selbst abzuheben, um sich ein eigenes Profil verschaffen und als Mittlersubjekte in Erscheinung treten zu können. Sie distanzieren sich erstens von Kulturvereinen, denen der Verdacht einer nationalkulturellen Abschottung anhaftet, welche sich mit der Position eines Mittlers zwischen unterschiedlichen Nationalkulturen, insbesondere zwischen Migrantinnen und Einheimischen, nicht verträgt (vgl. Kapitel 3.4.1). Zweitens grenzen sie sich von ihren Klientinnen ab, zu deren Subjektivierung als Migranten sie beitragen, indem sie ihre Passivität moralisieren und sie zu mehr Eigeninitiative aufrufen. Die Lotsen machen sich auf diese Weise zu Multiplikatoren der Ausbildungspraktiken, indem sie normative Ansprüche an ein selbst-
227 Wenn eine Lotsin erklärt, dass eine Raumgestaltung „[...] professioneller. Oder nein, nicht professioneller, aber schöner“ werden soll, so zeugt auch dies von einem Gespür für das, was man sich als Lotse erlauben darf und was nicht. 228 Gestaltungsarbeit i.S.v. Selbstgestaltung ließe sich insofern auch als „Autoformation“ (Foucault 1985: 10) beschreiben, im Zuge derer Menschen in Praktiken der Selbstbildung „sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen“ (ders. 1986: 18, Herv. AQ).
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organisiertes und sich ständig weiterentwickelndes Subjekt an ihre Klienten herantragen (vgl. Kapitel 3.4.2.3.). Sie heben sich drittens von ihrem früheren Alltagshelferdasein ab, das sie mit einem durch die Ausbildung und Lotsenpraxis neu eingestellten Blick in der Rückschau mit mangelnder Reflexion und problematischer Spontaneität assoziieren (vgl. Kapitel 3.4.3.). Das wissenschaftliche Expertenwissen der Ausbildung wie auch die dort eingeübten Selbstreflexionskompetenzen kommen bei der kritischen Überprüfung der vormaligen Alltagshelferpraxis zum Einsatz, sorgen jedoch nicht für eine bloße Unterwerfung unter neue Standards und Wissensordnungen, sondern vermitteln einem Lotsen, wie er es ausdrückt, zugleich das „Selbstbewusstsein“, dass er nun „einfach weiß, was er macht.“ Dieses Selbstbewusstsein und der in der Ausbildung wie in der Lotsenpraxis fortwährend trainierte Möglichkeitssinn ermächtigen die Lotsen zugleich, die ihnen im Sinne des Komplementärprinzips zugedachte subordinierte Position gegenüber den Hauptamtlichen nicht einfach widerstandslos hinzunehmen, sondern diese allmählich immer deutlicher und doch auf eine stets grenzbewusste Weise herauszufordern. Die Distanzierung von Alltagshelfern und Klienten einerseits und ihre performative Anähnlichung an Hauptamtliche andererseits lässt sich zugleich als Versuch der Lotsen beschreiben, ihr Migrantsein immer weiter in den Hintergrund treten zu lassen: Sie machen sich, wie sie sagen, „deutscher“, wobei Deutschsein aus der Perspektive der Lotsen bedeutet, professionell zu sein, Schriftstücke wie Flyer und Projektevaluierungen vorweisen zu können, nach vorgefassten Plänen zu agieren, Regeln korrekt einzuhalten, Eigeninitiative zu zeigen und Angst zu haben (vgl. Kapitel 3.4.3). Indem sie solche Bilder und damit verbundene Ansprüche und Erwartungen an ihre Kollegen herantragen, sind Integrationslotsen zugleich an deren Subjektivierung als Deutsche bzw. Einheimische beteiligt.229 Wie die Ausbildung zeigt auch die Lotsenpraxis, dass die sich darin subjektivierenden Lotsinnen ihren Migrationshintergrund keineswegs vollständig hinter sich lassen können, sondern diesen vielmehr performativ aufrechterhalten müssen, indem sie sich als Mittlersubjekte immer auch selbst zu Migrantinnen machen. Sowohl im Verhältnis zu ihren Klienten als auch zu den Hauptamtlichen wird der Migrationshintergrund dabei als symbolisches Vertrauenskapital eingesetzt: Er signalisiert den Klienten, dass sich Integrationslotsen sozusagen auf Augenhöhe, von
229 Wenngleich sich die Vereinsmitglieder bemühen, „deutscher“ zu werden, legen spezifische Positionierungen innerhalb des Vereins Zeugnis von der Langfristigkeit solcher Prozesse der Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen ab. So scheint es kein Zufall zu sein, dass die deutscher werdenden und doch migrationshintergründig bleibenden Lotsen zwar innerhalb des Vereins Positionen in der Öffentlichkeitsarbeit und Projektleitung besetzen, aber einen zum ‚vorsichtigen‘, ‚vorausschauenden‘ und ‚genauen‘ Deutschen gemachten Kollegen als Kassenwart wählen.
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Migrant zu Migrant, für diese einsetzen, statt – wie mit formeller, offiziell autorisierter Macht ausgestattete Migrationsberater – von oben nach unten Forderungen an diese zu richten. Die Lotsen haben damit an einer subtilen Führung der Selbstführungen Teil, welche Asymmetrien qua Symmetrisierung generiert und tragen so zur Aktualisierung des Integrationsdispositivs bei, das dieses Führungsprinzip in Form einer Hilfe zur Selbsthilfe präfiguriert. Den Hauptamtlichen wiederum zeigt die performative Aufrechterhaltung des Migrationshintergrundes an, dass Integrationslotsen vornehmlich aus ihrer eigenen Betroffenheit heraus agieren, aber nicht über eine den Migrationsberatern vergleichbare, offiziell beglaubigte fachliche Expertise verfügen, welche den Statusunterschied zu diesen verringern oder gar aufheben würde. Integrationslotsen bilden bereits während der Ausbildung einen entsprechenden Realitätssinn aus und trainieren diesen in der Lotsenpraxis in Auseinandersetzung mit den Hauptamtlichen weiter. Dieser hält sie einerseits ‚am Platz‘, macht sie lediglich zuständig für ‚Niedrigschwelliges‘ (vgl. Kapitel 3.4.2.1), gerät jedoch andererseits immer wieder in ein Spannungsverhältnis mit dem ebenso fortlaufend eingeübten Möglichkeitssinn der Lotsen. Damit richtet sich der Fokus auf einen weiteren Aspekt, der sich mit dem Gestaltbegriff beleuchten lässt: Das Verhältnis von Kontur und Offenheit. Die Gestaltungsarbeit der Lotsen vollzieht sich als „soziale Arbeit“ (travail social), d.h. in Abgrenzung von und in Koordination mit anderen.230 Integrationslotsen passen sich also nicht in eine bestehende Subjektform ein, sondern sie erarbeiten sich im Wege praktischer Relationierungen eine Gestalt, die vor dem Hintergrund von Klienten, Alltagshelfern, Kulturvereinen und Hauptamtlichen zunehmend erkennbare Konturen annimmt. Butlers prozessualer Subjektbegriff der „in Formierung begriffenen Struktur“ (Butler 2001: 15f.) geht zwar in eine ähnliche Richtung, indem er die paradoxe Gleichzeitigkeit von erkennbarer Form einerseits und Formbarkeit andererseits betont, letztlich impliziert er aber eine teleologische Ausrichtung in Hinblick auf eine bestimmte Form (welche bei Butler nie vollständig ausgefüllt wird, sondern stets eine Melancholie, ein Begehren zurücklässt). Das Charakteristische des Lotsen besteht, im Unterschied zu historischen Vorläufern von Mittlersubjekten der Migration, aber nun gerade darin, dass er sich selbst kreativ eine Gestalt erarbeiten muss, die strategisch offen gehalten ist, so dass immer neue Profilierungen, bspw. als Pflegelotsen oder JVA-Lotsinnen, möglich sind (vgl. Kapitel 3.4.2.2). Feldtheoretisch perspektiviert, bedienen Integrationslotsen weder eine bestehende Nachfrage aus dem etablierten Feld der Sozialen (Integrations-)Arbeit, noch suchen sie sich darin eine vorhandene Lücke. Vielmehr schaffen sie sich ein eigenes Feld, das an der Schnittstelle zwischen dem Feld der Sozialen Arbeit und nichtinstitutionalisierter Alltagshilfe angesiedelt ist. Hierbei nutzen die Lotsinnen einen
230 Quéré, zit. nach Wagner (1993: 467).
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Möglichkeitsraum, der sich am Rande des Feldes der Sozialen Arbeit im Zuge von normativ-praktischen Neuausrichtungen hin zu ‚peer counseling‘ und ‚Interkultureller Öffnung‘ auftut und es ihnen ermöglicht, ihr in der Alltagshilfe gewonnenes Betroffenheitskapital, Erfahrungswissen und soziales Kapital in Form von persönlichen Beziehungen im Nahbereich gerade gegen ein theoriebelastetes, praxis- und menschenfernes Fachwissen der Hauptamtlichen ins Feld zu führen. Mit ihrem Sinn für Möglichkeiten gelingt es ihnen darüber hinaus, ihr Feld immer weiter auszugestalten und es in der Praxis mit anderen Feldern (wie Pflege und Justiz) zu verkoppeln, was weitere Angebotsmöglichkeiten und Nachfragen generiert und damit zugleich neue Perspektiven der Selbstgestaltung eröffnet. Mit dem Begriff der Gestaltung wird somit das kreativ-schöpferische, vollzugsoffene Moment der subjektivierenden Praxis betont, welche sich als wechselseitige Gestaltung von Selbst und Welt (Räumen wie sozialen Feldern) vollzieht. Mittlersubjekte der Migration konstituieren sich dabei jedoch nicht im Sinne frei flottierender Kreativsubjekte, sondern sie bewegen sich in ihrem Feld zugleich immer auch in dem Raum der Möglichkeiten und dem Raum der objektiven Positionen des Feldes der institutionalisierten Integrationsarbeit. Das sich ausgestaltende Feld des Lotsen(s) ist, mit anderen Worten, kein abgekoppelter Bereich mit eigenen, völlig unabhängigen Spielregeln, sondern über Praktiken (insbesondere der Verweisberatung sowie der finanziellen Unterstützung) aufs Engste mit dem etablierten Feld der Sozialen Arbeit verwoben. Statt zu versuchen, die Spielregeln in diesem, ihr vergleichsweise junges eigenes Feld einschließenden, historisch gewachsenen Feld so zu verändern, dass sie ihre Kapitalformen noch besser einsetzen können, eignen sie sich schrittweise zusätzliches Kapital an, mit dessen Hilfe sie ihr eigenes feldspezifisches Kapital in einer Weise modifizieren, dass sie es besser zur Geltung bringen können. Auf diese Weise bilden die Lotsinnen ein professionelles Selbstverständnis aus, das sich sowohl in der Reorganisation der Begleitung wie auch am Rearrangement der Sprechstundenpraxis zeigt (vgl. Kapitel 3.4.3 sowie 3.4.4). Die Praxis der Begleitung und Beratung wird dabei stärker am Ideal der Planbarkeit und in Orientierung an Maßstäben eines öffentlich rechtfertigungsfähigen Engagements ausgerichtet und nimmt im Rahmen eines veränderten räumlich-materiellen Arrangements allmählich immer deutlicher die Gestalt von Beratungspraktiken an, die jenen der Hauptamtlichen ähneln. Die Relationen zwischen den ehemaligen Alltagshelfern und ihren Gästen bzw. Klienten bleiben von dieser Professionalisierung der Lotsenpraxis nicht unberührt. Praktiken wie das Ausfüllen (lassen) von Formularen und Evaluierungsbögen, feste Terminabsprachen und räumliche Rearrangements (Einrichtung von Türschwellen, Wartestuhlreihen oder separaten Beratungszimmern) tragen vielmehr dazu bei, die Beziehungen zwischen Lotsen und Klienten und damit gleichsam die Selbstverhältnisse der Beteiligten nachhaltig zu verändern: sie werden in aktivierender bzw. pas-
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sivierender Weise räumlich-körperlich wie affektiv-intentional neu eingestellt und zueinander positioniert. Bewegungen, Mimiken und Gesten verdichten sich dabei zu unwillkürlich wahrnehmbaren Gestalten wartender und beratender Körper. Der vertraute und vertrauensbildende Umgang mit den ehemaligen Gästen, welche den Vereinsraum als Schutzraum und Versammlungsort nutzen, weicht in der reorganisierten Sprechstunde nicht vollständig, kann sich aber im Rahmen von Praktiken, die sich zunehmend am Prinzip des Case Management orientieren, auch nicht mehr voll entfalten. Eine Distanz zwischen Lotsen und Klienten wird darüber hinaus durch das Selbsthilfeprinzip präfiguriert: Um aus Migrantinnen autonome Subjekte zu machen, ist es notwendig – und legitim – , sich als Lotse immer wieder zurückzuziehen und Klienten sich selbst und einander zu überlassen. Doch nicht nur dieses normative Programm, sondern auch ein sich fortlaufend ausdehnendes Aufgabenspektrum macht es notwendig, dass die hohe zeit-räumliche Mobilität des Alltagshelfers, der als ständiger Begleiter flexibel in Erscheinung tritt, auf punktuelle Begleiteinsätze reduziert werden muss. Mit Boltanski und Thévenot ließe sich hier – wie auch beim Zügeln von Risikobereitschaft des nun ängstlicher („deutscher“) gewordenen Lotsen – von einer Zerstörung von Kompetenzen im Übergang vom Engagement des Vertrauten hin zum Planbaren sprechen (vgl. Boltanski & Thévenot 2011: 48). Der Vereinsraum bildet nicht bloß den Ort, auf den sich die Lotsenpraktiken zunehmend konzentrieren, sondern er wird selbst zum Medium einer grenzbewussten wie – im doppelten Sinne – raumgreifenden Profilbildung und ist an der subjektivierenden Anerkennung der Lotsen maßgeblich beteiligt. Die Lotsen investieren gewissermaßen in den räumlich-materiellen Hintergrund, um vor diesem erkennbar und anerkennbar zu werden. Raumgreifende Gestaltungspraktiken machen somit nicht an der Oberfläche der Dinge halt, sondern gehen insofern in die Tiefe, als sie dazu beitragen, der Lotsenpraxis und der sich darin bildenden Lotsen eine prägnante Gestalt zu verleihen. Dabei ist es weder, wie in Bourdieus berühmtem Diktum, „der Habitus, der das Habitat macht“ (Bourdieu 1991: 32), noch macht das Habitat den Habitus. Wir haben es nicht mit „qua Inkorporierung auf die Artefakte vorangepasste[n]“ Akteuren (Schmidt 2006: 92) zu tun, sondern mit Habitus in the making, welche lernen, ein Habitat zu bewohnen, das erst unter ihrer Mitwirkung Gestalt gewinnt. Im Vollzug wechselseitig konstitutiver Praktiken der Raum- und Selbstgestaltung rücken die Lotsen immer näher an die Hauptamtlichen heran und fordern deren dominante Position so weit heraus, dass ihr Engagement mittels eines offiziellen Grundsatzes (Komplementärprinzip) und des fortlaufenden Appells an ihren Realitätssinn ‚eingehegt‘ werden muss. Doch auch ohne institutionalisierte und explizite Platzverweise können die Lotsen hauptamtlichen Migrationsberaterinnen ihre dominante Position derzeit (noch) nicht wirklich streitig machen. Das Feld des
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Lotsen(s) ist abhängig von dem „aus vergangenen Kämpfen ererbten Raum der Möglichkeiten“ (Bourdieu 2001c: 330, Herv. AQ). Es geht aus Kämpfen im Feld der Sozialen Arbeit hervor und genauso ist es das Produkt einer Geschichte des Feldes ehrenamtlicher Hilfe. Mit dem Ehrenamt verbindet sich eine Art Prinzip der ‚reinen Hilfe‘, von dem sich die Lotsen in ihrem Engagement nicht ohne Weiteres frei machen können. Als ehrenamtliche Helfer sind sie nicht am eigenen Profit, sondern am Gemeinwohl orientiert und beziehen gerade daraus ihre Reputation. Dieses symbolische Kapital lässt sich kaum in ökonomisches Kapital konvertieren, eine Vergütung ihres Engagements würde vielmehr gerade dessen freiwilligen Engagementcharakter in Frage stellen und das hieraus erwachsende symbolische Kapital der Lotsinnen vernichten. Im Schnittfeld zwischen Ehrenamt und dem etablierten Feld der Sozialen Arbeit besetzt der Lotse somit gewissermaßen die Position eines unfreiwillig Freiwilligen, dessen Vorbildcharakter und moralische (Selbst-) Verpflichtung Quelle seiner Unterwerfung wie seiner Ermächtigung ist.
Schlussbetrachtungen „Schwellen, die verbinden, indem sie trennen, lassen keinen Vermittler zu, der auf beiden Seiten der Schwelle zugleich Fuß fasst.“ WALDENFELS (2006: 114F.)
Da eine abschließende Zusammenschau dem analysierten Material in seiner Vielfalt kaum gerecht werden könnte und in den vier Zwischenresümees im dritten Teil dieser Arbeit zentrale empirische Ergebnisse bereits gebündelt und konturiert wurden, soll in den folgenden Schlussbetrachtungen darauf verzichtet werden, die Ergebnisse noch einmal in umfassender Weise zusammenzutragen. Statt einen sicheren Zielhafen anzulaufen und das Erarbeitete dort abzuschließen, wird dieses vielmehr für einen kritischen Rückblick wie auch für weitergehende Reiserouten in Hinblick auf künftige Forschungen geöffnet. Zunächst werde ich daher rekapitulieren, welche Zugewinne diese Arbeit hinsichtlich der doppelten Zielsetzung, sowohl einen Beitrag zur Migrationsforschung als auch zur Erarbeitung einer Forschungsanalytik praktischer Subjektivierung zu leisten, eingebracht hat. Anschließend skizziere ich einige Spuren, die in dieser Studie bislang eher auf einem impliziten Nebengleis mitliefen und deren weitergehende Verfolgung mir lohnenswert erscheint. Migrationswissenschaftlicher Beitrag Während Migrantinnen in diskurs- und dispositivanalytischen Arbeiten oft als einseitig Subjektivierte und immer schon Unterworfene von Diskursen bzw. ‚des Integrationsdispositivs‘ erscheinen, wurde in dieser Arbeit anerkennungstheoretisch ausgeleuchtet, wie sich ihre Subjektivierung als praktisches Geschehen wechselseitiger und oftmals konfligierender Adressierungen vollzieht. In den Blick gerät damit erstens die Relationalität der Subjektivierung: Menschen werden nicht bloß qua einseitiger Anrufung zu Migranten bzw. Mittlersubjekten gemacht, sondern sie machen sich im Beantworten von Anrufungen selbst dazu und haben ihrerseits Anteil an der Subjektivierung anderer, d.h. sie rufen auch selbst an. Adressierungen um-
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fassen dabei neben wörtlichen Ansprachen auch Appelle in Form von Einstimmungen, Zeigepraktiken oder rhythmischen Bewegungssuggestionen (vgl. Kapitel 3.3). Sie gehen darüber hinaus nicht nur von anderen Körpern, sondern mitunter auch von Dingen aus, die einen spezifischen Aufforderungscharakter entfalten, oder Räumen, deren Atmosphären sich über die darin Situierten ausbreiten. Ob und in welcher Weise diese vielschichtigen Adressierungen beantwortet werden, ergibt sich dabei nicht aus einer dem anrufenden Körper, Ding oder Raum ‚eigenen‘ Qualität. Zum einen ist ein praktisches Wissen erforderlich, um eine Adressierung adäquat beantworten zu können (vgl. Kapitel 3.2.3). Zum anderen hängt die Antwort vom szenischen Verstehen der Angerufenen ab, d.h. davon, zu welcher Szene sie (sprechende) Körper, Dinge und Räume anhand ihrer szenischen Modelle zusammenfügen und welche Erwartungserwartungen sie sodann damit assoziieren (vgl. Kapitel 3.1.3, 3.4.4). Migrationswissenschaftlichen Ansätzen, die sich durch eine eigentümliche Ortund Körperlosigkeit subjektivierender Anrufungen auszeichnen, wurde somit eine Perspektive entgegengehalten, aus der sich Selbstbildungen auch in ihrer stummen körperleiblichen und affektiven Dimension zeigen und sich in konkreten räumlichmateriellen Anordnungen verorten lassen. Betont wurde also zweitens die Materialität der Subjektivierung. Um beide Dimensionen in den Blick zu bekommen, wurde mit dem Begegnungsraum der Migration eine Heuristik entwickelt, mit der Migrantinnen nicht als bloß Gemachte betrachtet werden, sondern mit Hilfe derer beleuchtet werden kann, wie sich Menschen in ihrem Engagement, mit kreativer Gestaltungsarbeit und „kritischen Kompetenzen“ (Boltanski & Thévenot 2011) auch selbst zu Migrantinnen bzw. Lotsen machen und an der Subjektivierung anderer als Migranten oder Einheimische sowie der Hervorbringung von Ordnungen (Praktiken, situativen Rahmen, Dispositiven, Feldern) teilhaben. Drittens hatte die Arbeit zum Ziel, sich mit dem Fokus auf Integrationslotsen als Mittlersubjekten der Migration der Genese eines Subjekts zu widmen, das bislang in weiten Teilen der Migrationsforschung unterbelichtet oder aber in einem gewissen Sinne immer schon vorausgesetzt erscheint, so dass sich konkret situierte Positionierungen als Mittler in einem Geflecht wechselseitiger Adressierungen nicht mehr in den Blick nehmen lassen. Aus einer zunächst stärker von oben blickenden Perspektive des GemachtWerdens geriet in den Blick, wie Teilnehmer während der Ausbildung sowie in ihrer Lotsentätigkeit vielfältigen konfligierenden Adressierungen ausgesetzt sind, die sie beantworten müssen, um sich als Mittlersubjekte intelligibel und somit anerkennbar zu machen. Herausgearbeitet wurde dabei, dass Menschen zuallererst als Migrantinnen – beziehungsweise Einheimische mit einem second hand- oder Binnenmigrationshintergrund (vgl. Kapitel 3.2.3.2) – subjektiviert werden, bevor sie sich überhaupt zu Mittlersubjekten der Migration machen können. So werden ange-
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hende Lotsinnen etwa in situativ hervorgebrachte Sprachspiele des Herkunftsdialogs verwickelt, die ihnen ein permanentes ‚Sei-Deutsch‘ und ‚Sei-Anders‘ abverlangen (vgl. Kapitel 3.2.6.2). Verstärkt werden diese widersprüchlichen Imperative im Rahmen von Verlandschaftungsübungen, welche zusätzlich die Anforderungen an Körper im Raum stellen, zugleich ‚hier‘ (in Deutschland) und ‚dort‘ (im ‚Heimatland‘) zu sein und den Teilnehmenden ihre Ver-Ortungen somit nicht nur diskursiv anzeigen, sondern zugleich leiblich spürbar machen (vgl. Kapitel 3.2.6.3). Wie die Teilnehmenden solche Adressierungen beantworten und sich somit selbst zu Migrantinnen machen, vollzieht sich allerdings auf höchst unterschiedliche Weisen, die vom Zurücktreten hinter „subjektlose Aussagen“ (Boltanski 2010: 156) oder schöpferische Antworten (Alkemeyer 2013: 43) bis hin zu kritischen Readressierungen oder einem körperlichen Überschreiten vorgesehener Raumareale reichen können, wodurch geordnete Landschaften zerstört und neue Landschaften mit veränderten Plätzen hervorgebracht werden. Indem mit Hilfe der BegegnungsraumHeuristik Selbstbildungen in ihrer körperlichen Dimension und räumlichmateriellen Verfasstheit in den Blick genommen wurden, konnte somit gezeigt werden, wie vermeintlich strukturell gefasste Positionen erst über bestimmte Raumordnungen und darin positionierte Körper vermittelt oder herausgefordert werden. Diskursive Mobilisierungsprozesse wurden dabei in Bezug zu Körperbewegungen im Raum gesetzt und darauf hin befragt, wie sie einander verstärken, mitvollziehen oder konterkarieren. Statt bei diskursiven Subjektpositionen buchstäblich stehenzubleiben, wurde gezeigt, wie Positionen in konkret situierten Ausbildungspraktiken mündlich besetzt, schriftlich fest-gestellt, vor anderen verkörpert und leiblich ausgefüllt oder in Gesten und Körperbewegungen somatisch eigensinnig überschritten werden. Als weitere zentrale spannungsvolle Adressierung wurde herausgearbeitet, dass (angehende) Mittlersubjekte der Migration einerseits am eigenen Leib erlebte und auf diese Weise ‚authentifizierte‘ Migrations- bzw. Integrationserfahrungen ins Feld zu führen haben, ihre Erfahrungen bzw. ihr Erfahrungswissen aber andererseits mittels Rekurs auf sozialwissenschaftliches Expertenwissen (während der Ausbildung) und mit Hilfe generalisierten Fach- und Fallwissens (als aktive Lotsinnen) objektivieren müssen. Wie sich Machtverhältnisse vor diesem Hintergrund nicht nur während der Ausbildung (zwischen Dozentinnen, migrantischen und einheimischen Lotsen) situativ immer wieder neu einspielen, sondern sich auch die Beziehungen zwischen Lotsen und ihren Klienten sowie zwischen Lotsen und hauptamtlichen Migrationsberatern über die Zeit verändern, zeigte sich aus einer raumorientierten Perspektive beispielsweise an materiellen Vorrichtungen wie Türschwellen oder Stuhlreihen, mit denen sich Praktiken verbinden, in denen sich um Einlass bittende bzw. wartende Klienten und Einlass gewährende bzw. warten lassende Lotsen konstituieren. Auf diese Weise konnte beleuchtet werden, wie Macht-
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ordnungen in Praktiken mit Hilfe materieller Vorrichtungen zwar in gewisser Weise temporär fixiert werden, aber zugleich in der Praxis performativ hervorgebracht werden müssen und somit nie vollkommen stillgestellt sind. Sich verändernde Räume gerieten dabei als Medien der (An-)Erkennbarkeit in den Blick, welche eine performative Anähnlichung der Integrationslotsen an Hauptamtliche nicht nur anzeigen, sondern an dieser mitwirken (vgl. Kapitel 4.4). Wurde die performative Hervorbringung von (Anerkennungs-)Ordnungen also zum einen aus einer raumtheoretischen Perspektive betrachtet, ließ sie sich darüber hinaus mit Hilfe dispositiv- und feldanalytischer Ansätze ausleuchten. Räume, Felder und Dispositive wurden dabei jeweils siteontologisch perspektiviert, indem sie als Kontexte betrachtet wurden, die sich erst durch die darin situierten Entitäten und Praktiken bilden und letztere zugleich hervorbringen. Durch ein „ständiges Hinund Herlavieren zwischen dem ‚Inneren‘ und dem ‚Äußeren‘ der Ereignisse“ (Clifford, zit. nach Scheffer 2001: 22) wurden beobachtete Situationen in konkreten Begegnungsräumen der Migration fortlaufend neu relationiert. Auf diese Weise konnte gezeigt werden, wie das Integrationsdispositiv in praktischen Vollzügen performativ hergestellt wird und dabei in Wechselwirkung mit anderen aktualisierten Dispositiven tritt, etwa einem Expertise- oder Kompetenzdispositiv, das bestimmte Wissensformen als Wissen bzw. Kompetenzen – und damit die Betreffenden als Wissende bzw. Kompetente – ausweist und anderen diesen Status abspricht. Der Fokus richtete sich damit auf die Vermittlungsleistungen von Akteuren, welche die Dispositive mit hervorbringen, in denen sie sich subjektivieren und durch die sie subjektiviert werden.231 So ließ sich beleuchten, wie Teilungs- und Klassifizierungspraktiken, die durch die jeweiligen Dispositive nahegelegt werden, unter Beteiligung der Subjektivierungskandidatinnen aktiviert, irritiert, wechselseitig verstärkt oder suspendiert werden. Aus feldtheoretischer Perspektive wurde im Wege der Relationierungsarbeit deutlich, wie Integrationslotsen allmählich ein eigenes Feld mit spezifischen Möglichkeiten der Kapitalbildung hervorbringen, in dem sie sich als Mittlersubjekte der Migration konstituieren und das sie in Distanzierung von der vormaligen Alltagshilfe und in raumgreifenden Praktiken der Annäherung an das Feld der etablierten Sozialen (Integrations-)Arbeit fortlaufend ausgestalten. Betrachtet man das Feld des Lotsen(s) als eine Art Kopplungsbereich der Sozialen Arbeit auf der einen und des Ehrenamts auf der anderen Seite, wird deutlich, wie es in diesem Feld zu einer „an-
231 Mit Chateauraynaud (1991: 25, zit. nach Wagner 1993: 467) lassen sich diese Vermittlungsleistungen auf den Punkt bringen: „Zwischen dem Ereignis und der Form, in der die dort auftauchenden Objekte und Beziehungen kohärent gemacht werden – der Struktur im Sinne der klassischen Soziologie –, liegt die Arbeit der Transformation, die die Akteure durchführen, um mit dem Ereignis umzugehen.“
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tagonistischen Koexistenz“ (Bourdieu 2001c: 229) zweier entgegengesetzter Wertschöpfungslogiken mit je eigenen, konfligierenden Subjektivierungsanforderungen kommt: An dem einen Pol, nahe dem ehrenamtlichen Feld, können Betroffenheitskompetenz, Erfahrungswissen und ein Migrationsvordergrund statt einer Integrationsbiographie als symbolisches Kapital eingesetzt werden und verschaffen den Lotsen einen gewissen Vorsprung gegenüber hauptamtlichen Migrationsberatern – sofern diese nicht ebenfalls über einen Migrationshintergrund verfügen. Da sich die das Feld des Lotsen(s) hervorbringenden Praktiken an einem Prinzip der ‚reinen‘, das heißt freiwilligen und unentgeltlichen Hilfe orientieren, lässt sich dieses Kapital jedoch nicht in ökonomisches Kapital konvertieren. An dem anderen, auf das Feld der etablierten Sozialen Arbeit ausgreifenden Pol erlangt hingegen nur eine Integrationsbiographie Wertigkeit, die maßgeblich über kulturelles Kapital wie fachliche Expertise und institutionalisierte Bildungstitel und Abschlüsse ausgewiesen wird, so dass weitergehende Professionalisierungsanstrengungen notwendig werden.232 Ein zentrales Ergebnis dieser Arbeit ist, dass Integrationslotsen in verschiedensten Praxiszusammenhängen lernen, ihren selbst mit hervorgebrachten Migrationshintergrund gerade nicht hinter sich zu lassen, sondern ihn in einer dem jeweiligen situativen, institutionellen und räumlichen Kontext angepassten Weise performativ in Geltung zu setzen oder ihn gar zu einem Migrationsvordergrund zu machen und sowohl vor anderen Migranten (als Gemeinsamkeit) wie auch vor Einheimischen (als Fremdheit) glaubhaft zu verkörpern und im Vollzug von feldspezifischen Wertschöpfungspraktiken, wenn möglich, als Kapital einzusetzen. Anders als in biographieanalytischen Arbeiten, die zeigen, wie Migrationsbiographien gedeutet und mitunter umgedeutet werden, aber trotz aller Sichtbarmachung von Varianzen dank der apriorischen Perspektivierung einer Erzählung als Migrationsbiographie Gefahr laufen, selbst zur Konstruktion eines migrantischen Kollektivs mit einem gemeinsamen Erfahrungshaushalt beizutragen, wurden Migrationsbiographien in dieser Arbeit somit nicht vorausgesetzt, vielmehr wurde praxeographisch untersucht, wie diese in Ausbildungspraktiken fabriziert und in der Lotsenpraxis performativ aufrechterhalten werden. Im Ausbalancieren der soeben noch einmal zusammengefassten spannungsvollen Adressierungen und im damit verbundenen Austarieren von objektiven, diskursiven und räumlichen Positionierungen in der Praxis konstituieren sich Mittlersub-
232 In jüngsten Gesprächen mit Integrationslotsen deutet sich die Tendenz einer fortlaufenden Professionalisierung des Selbst und damit auch des Feldes an. So versuchen zahlreiche Lotsen mit weiteren Weiterbildungsprogrammen und Studiengängen, wie es ein Lotse formuliert, den „Sprung von der Freiwilligenarbeit in einen echten Beruf zu schaffen.“ Dabei zeichnet sich ab, dass das Lotsen (bzw. Kulturmitteln) selbst zu einem institutionalisierten Berufszweig werden könnte (s.u.).
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jekte der Migration, deren Mittlerposition weit vielschichtiger ist als die eines bloßen Vermittlers zwischen Kulturen bzw. Einheimischen und Migranten: sie bewegen sich permanent zwischen dem Migrationshintergründigen und dem Integrationsvordergründigen, dem Informellen und dem Formellen, dem nicht Institutionalisierten und dem Institutionalisierten, dem Mündlichen und dem Schriftlichen, dem Ausgleichenden und dem Autoritären, dem Laienhaften und dem Professionellen, zwischen Erfahrung und Wissen, Praxis und Theorie. Von Simmel (1908) über Park (1928) bis Schütz (1972) gilt das DazwischenSein im Sinne einer spezifischen Relation von Nähe und Entferntheit, von Zugehörigkeit und Marginalisierung – mal eher als Folge einer freiwilligen Selbstverortung (Simmel), mal eher als Konsequenz einer gesellschaftlichen Positionszuweisung (Park) – als konstitutives Merkmal des Fremden. Hinsichtlich der Folgen dieser ambivalenten Position wird entweder eine Krisis-Erfahrung (Schütz) oder eine Überlegenheit des Fremden i.S.e. größeren Objektivität, Scharfsinnigkeit, Freiheit und Rationalität gegenüber dem Einheimischen (Simmel) akzentuiert.233 In der neueren migrationswissenschaftlichen Forschung wird an solche Beschreibungen insofern angeknüpft, als dass Migranten auch hier aufgrund ihres prekären Zugehörigkeitsstatus (Mecheril) oder einer mit mangelnder Verortbarkeit assoziierten Freiheit (Braidotti) in einem Raum des Zwischen bzw. einem durch Hybridisierung gekennzeichneten Dritten Raum (Bhabha) verortet werden (vgl. Teil 1). Erscheinen Migranten in solchen Lesarten qua Positionierung an einem durch Ambivalenzen gekennzeichneten Un-Ort des Zwischen letztlich immer schon als Mittlersubjekte, wurde in dieser Arbeit herausgearbeitet, wie Migranten als Integrationslotsen in einem vielschichtigen Relationengefüge von Lotsinnen, Klienten, hauptamtlichen Migrationsberaterinnen und Kulturvereinen überhaupt erst zu Mittlersubjekten gemacht werden und sich selbst dazu machen. Was in der klassischen Soziologie des Fremden bis in die neuere Migrationsforschung hinein gemeinhin vorausgesetzt wird, wurde somit als ein performatives, relationales und konkret situiertes Hervorbringungsgeschehen ausgeleuchtet: Statt dem Fremden qua seiner Biographie immer schon einen Zwischenstatus zuzuweisen, geriet das Mittlersubjekt der Migration als ein in spezifischer Weise fremd gemachtes und sich selbst fremd machendes in den Blick. Indem der Genese von Fremdheit und Ambivalenz in lokalisierten und performativ hervorgebrachten Begegnungsräumen der Migration nachgegangen wurde, wurde ‚das Zwischen‘ aus dem Bereich einer räumlichen Metapher herausgeführt und das einleitende Zitat von Waldenfels wörtlich genommen:234 Es wurde
233 Ein ausführlicher Überblick über klassische bis hin zu neueren Konzeptualisierungen des Fremden findet sich bei Breckner (2009: 65-120). 234 Damit wird keineswegs der analytische Wert der Metapher bestritten. Im Gegenteil: der Einsatz wie die Untersuchung von Metaphern sind von zentraler Bedeutung für eine
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gezeigt, wie materielle oder symbolisch ‚niedrige‘ „Schwellen, die verbinden, indem sie trennen“ unter Beteiligung von jenen, die getrennt werden, hervorgebracht werden und untersucht, wo und in welcher Weise ein Mittlersubjekt der Migration entlang dieser Schwellen „Fuß fasst“.235 Beitrag zu einer Forschungsanalytik praktischer Subjektivierung Zunächst stellt sich die grundlegende Frage, ob und, wenn ja, wie und ‚bis wohin‘ sich eine im ständigen Hin- und Herpendeln zwischen Theorie und Empirie erarbeitete Forschungsanalytik über den empirischen Fall hinaus, an dem sie entwickelt wurde, überhaupt verallgemeinern lässt. Reckwitz weist in diesem Zusammenhang auf eine „paradoxe Konstellation“ bei Praxistheoretikern hin (er bezieht sich dabei auf Bourdieu und Butler), die darin bestehe, dass letztere ihrem Anspruch nach allgemeine Aussagesysteme formulierten, wenn sie auf das universale Konzept der Praktiken zurückgriffen, zugleich aber eine Tendenz hätten, „zumindest bestimmte ihrer allgemeinen Annahmen über die Funktionsweise von Praxis aus sehr spezifischen, aus partikularen, lokal-temporal situierten sozialen Praktiken zu gewinnen und die Aussagen über diese Fälle kurzerhand zu verallgemeinern“ (Reckwitz 2004: 48f.). Damit sieht Reckwitz „eine Generalisierungstechnik am Werke, die unter jene rationalistisch-intellektualistischen Verfahrensweisen fällt, die Praxistheoretiker als ‚stratégie d’univeralisation‘ (Bourdieu) ansonsten gerne kritisieren“ (ebd.: 49). Gerade diese „Generalisierung von Aussagen über die Praxis aus ganz bestimmten, letztlich kontingenten kulturellen Kontexten“ (ebd.) sei es, die dazu führe, dass Bourdieu soziale Praktiken durch ihre Routiniertheit gekennzeichnet sehe, Butler hingegen ihr subversives Potential betone. Als Ausweg bietet Reckwitz an, „die Frage nach Routiniertheit und Unberechenbarkeit wiederum gut praxeologisch vom Typus der Praktiken und ihren historisch spezifischen kulturellen Codes beantworten zu lassen.“ (Ebd.: 52, Herv. AQ) Doch trägt eine Bildung von Praktikentypen und übergeordneten Codes nicht erneut zur weiteren Generalisierung und Entbettung der Praxis aus ihrem eben kontingenten Kontext und somit gerade zur Potenzierung des Problems bei?
subjektivierungstheoretische Analytik, weil sie auf Momente der sprachlichen Unverfügbarkeit hindeuten. Weiter unten komme ich darauf zurück. 235 In Waldenfels „Topographie des Fremden“ (1997) ist dieser konkrete Ortsbezug selbst angelegt: „Der Umgang mit dem Fremden, der von einem in seiner Unzugänglichkeit Zugänglichen ausgeht, verweist buchstäblich auf ein Gehen, das den Raum durchmisst, das sich bestimmten Orten annähert, indem es sich von anderen entfernt, das auf Hindernisse stößt, das Einlass findet oder Einlass verwehrt, das Schwellen überquert oder an ihnen verweilt.“ (Waldenfels 1997: 186).
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Das sich hier andeutende Problem zeigte sich in dieser Arbeit auch in der Auseinandersetzung mit Boltanskis Soziologie der Kritik. So wurde am empirischen Material deutlich, wie eine von Boltanski ursprünglich empirisch entwickelte Heuristik, wenn sie sich zu einer objektivierten Typologie der Prüfungsformate verfestigt, Gefahr läuft, Praxisverläufe zu dekontextualisieren und das, was als Kritik zu gelten hat (und implizit auch das, was zu kritisieren ist) vorab als (reformistische oder radikale) Kritik zu etikettieren und anderes als bloße Bestätigungen des Herrschenden zu entlarven, statt das Kritiküben an unterschiedlich situierte, jeweils explizit zu machende Perspektiven zurückzubinden (vgl. Kapitel 3.2.3.2). Der Verallgemeinerungsanspruch der in dieser Arbeit entwickelten Forschungsanalytik ist vor diesem Hintergrund ein tiefer gelegter. Mir geht es nicht darum, von einem letztlich ontologischen Standpunkt aus, Idealtypen von Praktiken zu bilden, die ‚aus sich heraus‘ unberechenbarer oder routinisierter bzw. kritischer sind, sondern ein Perspektivierungsangebot zu machen, mit dem sich auch vermeintliche Routinepraktiken im Vollzug in ihrer Unberechenbarkeit in den Blick nehmen lassen und sich zunächst nach allen Seiten hin offen wirkende Praktiken in ihrer Ausübung als zunehmend ‚abgeschlossen‘ erweisen können. Ob und in welcher Weise Praktiken im Vollzug Situationspotentiale für Kritik entstehen lassen und zu kritischer Praxis werden, indem Teilnehmer diese Potentiale erkennen und ergreifen und sich auf diese Weise subjektivieren, muss sich empirisch zeigen. Das ‚sich zeigen‘ ist hierbei nicht empiristisch zu verstehen, so als ob sich die Praxis selbst auslegen, oder: Szenen über sich selbst sprechen würden. Vielmehr wurde herausgearbeitet, dass es sich hierbei um einen Qualifizierungsprozess handelt, der von einem bestimmten, offen zu legenden Beobachtungsstandpunkt aus erfolgt (vgl. Kapitel 3.2.3.2). Subjektivierungstheoretisch ist die angesprochene Problematik deshalb hoch relevant, weil die Bildung von Praktikentypen und übergeordneten Codes eine top down-Logik impliziert, wonach bestimmte Praktiken nur routiniert bzw. unkritisch vollzogen werden können, während andere eine unberechenbarere bzw. unkritische Struktur aufweisen. In beiden Fällen wird letztlich das Zutun und aktive Mitwirken von Akteuren an Praxisvollzügen, durch das sich diese zu Subjekten machen, ausgeblendet. Bevor ich auf das in dieser Arbeit entwickelte Perspektivierungsangebot noch einmal im einzelnen eingehe, zur besseren Einordnung der folgenden Ausführungen noch eine kurze Vorbemerkung zum tool der Forschungsanalytik: Charakteristisch für diese ist, dass sie nicht nur im Gebrauch eines vorab festgelegten theoretischen Werkzeugkoffers besteht, sondern zugleich explorativ entwickelt wird. Es wird weniger chronologisch abgearbeitet, sondern vielmehr eklektizistisch und gleichsam gerichtet hantiert, indem die theoretische Arbeit entlang situierter Gegenstände erfolgt. Bogusz beschreibt dieses Vorgehen in Anlehnung an Dodier als eine „sozio-
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logische Experimentation“ (expérimentation sociologique), welche „das Erfahren und das Experimentieren als wissenschaftliche Praxis aufgreift“ (Bogusz 2010: 153).236 Ergebnis eines solchen Prozesses ist eine „architekturierte Pragmatik“ (Dodier, zit. nach Bogusz 2010: 153), die zwar gewissermaßen auf einem bestimmten Grundstück erfolgt, jedoch offen für Bau- und Umbaumaßnahmen bleibt und niemals zur Errichtung eines fertigen Hauses führt.237 Die folgenden Ausführungen sind daher im Sinne weiterer Bau- und Umbaumaßnahmen auf die im zweiten Teil dieser Arbeit skizzierten Analysedimensionen zu beziehen. Sie greifen daraus einige Aspekte auf, entwickeln und vertiefen diese weiter und integrieren solche, die sich erst in späteren Forschungsphasen herauskristallisiert haben. Mit der in dieser Arbeit entwickelten begrifflichen Unterscheidung von Praktiken und Praxis wird es möglich, Subjektivierung in Praktiken bzw. in der Praxis sowohl in ihrer Regelmäßigkeit und ordnungsstabilisierenden Wirkung wie auch in ihrer kontingenten Offenheit und ihrem transformatorischen Potential zu beleuchten, ohne sich konzeptionell entweder auf die eine oder die andere Seite schlagen zu müssen – oder spezifische, dekontextualisierte Praktikentypen (der Subjektivierung) zu bilden. Das Subjekt wird damit nicht einseitig als etwas durch überschwebende Ordnungen oder Strukturen gebildetes verstanden, gleich ob man diese als Diskurse, Dispositive, Rahmen, Felder oder Praktiken in den Blick nimmt, sondern als Analysekategorie auch und gerade dort in Anschlag gebracht, wo Menschen Strukturen nicht ‚ordentlich‘ und routiniert in Geltung setzen bzw. aufrechterhalten, sondern wo sie aus Ordnungen kritisch wie kreativ heraus- und damit als Subjekte in Erscheinung treten. Ein Subjekt zeigt sich aus einer solchen Perspektive weder als ‚stumpfes‘ Vollzugsorgan einer routinisierten Praktik, noch als ‚blinder‘ Erfüllungsgehilfe eines Dispositivs, vielmehr bringt es die Ordnungen, in denen es sich bildet, selbst aktiv mit hervor und trägt zu deren Stabilisierung wie zu deren Veränderung bei. Genauer ausgeleuchtet wurden die Praktiken der Subjektivierung bzw. die subjektivierende Praxis mit Hilfe einer theoretisch hergeleiteten und empirisch weiterentwickelten szenischen Perspektivierung. Betont man den Prozesscharakter der Szene, richtet sich die Aufmerksamkeit darauf, dass sich Subjektivierungen als offene, kontingente Praxisvollzüge entfalten, welche erst im Vollzug und unter Mit-
236 Im Anschluss an Dewey hat Bogusz den „Experimentalismus“ als einen zugleich analytischen, methodologischen und wissenschaftstheoretischen Ansatz weiter ausgearbeitet (vgl. Bogusz 2013b). 237 Mit Scheffer ließe sich diese Pragmatik als ein formatives Objekt beschreiben, d.h. als ein Objekt, das sowohl formbar als auch zu formen ist und formierend wirkt. Sie ist Gegenstand von Veränderungen und ebenso „Integrationsmittel des Zusammenhangs“, den sie hervorbringt (vgl. Scheffer 2013: 88).
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wirkung der sich darin bildenden Subjekte ihre Richtung erlangen. Menschen besetzen also nicht bloß eine in einem überschwebenden oder inkorporierten ‚Subjektivierungsskript‘ vorgeschriebene Rolle, sondern sie bringen ihre Subjektivierungsszenen als „Gefangene einer variationsfähigen, aber unvermeidlichen Partizipation“ (Hogrebe 2009: 56) selbst aktiv mit hervor, indem sie sich kreativ und mitunter kritisch in die Praxis einbringen. Empirisch zeigt sich dies beispielsweise an Kursteilnehmerinnen, die während der Lotsenausbildung auf Übungen als Übungen bzw. Spiele reflektieren oder deren Übertragbarkeit auf die ‚wirkliche‘ Welt in Zweifel ziehen und so dazu beitragen, dass programmatisch angelegte Lernziele konterkariert und in Modifizierungen von Handbüchern mitunter langfristig verändert werden. Stellt man das präsentative Moment der Szene in den Vordergrund, tritt die Praxis in ihrer Gestalthaftigkeit in den Blick. So zeigte sich an Akquirierungsszenen, wie diese von Lotsenkandidaten in Abhängigkeit von dem jeweiligen räumlichen Arrangement unwillkürlich erfasst, d.h. szenisch verstanden und mit entsprechenden Erwartungserwartungen verbunden werden (vgl. Kapitel 3.1.3.1). Am Beispiel des Lotsenvereins wurde darüber hinaus deutlich, wie die sich fortlaufend entwickelnde Lotsenpraxis aus der Beobachtungsperspektive zunehmend Gestalt in Form klar unterscheidbarer Praktiken gewinnt. Die Lotsen, die sich in dieser Entwicklung bilden, können und müssen sich damit selbst eine prägnante Gestalt geben, welche gewissermaßen ein unfertiges, temporär fixiertes Produkt ihrer „sozialen Arbeit“ (Quéré) darstellt (vgl. Kapitel 3.4.4). Der Gestaltbegriff wurde somit doppelt in Anschlag gebracht: zur Beschreibung des sinnlich wahrnehmbaren Charakters der Praxis und als Prozesskategorie, mit der sich Subjektivierungen im Übergang von der Praxis in musterhafte, institutionalisierte Praktiken aus der Beobachtungsperspektive ausleuchten lassen. Die Subjektivierung der Vereinslotsen vollzieht sich im Zuge ihrer Gestaltungsarbeit weniger im Sinne eines Heraustretens als vielmehr im Sinne eines Einswerdens mit, oder: ‚Heimischwerdens‘ in den Praktiken des Lotsens (Beratung, Begleitung, Projektarbeit). So wurde deutlich, wie sich die Novizen zunächst explorativ in die noch unbekannte Praxis des Lotsens hineintasten und sodann lernen, sich auf das, was ihnen widerfährt immer wieder neu einzustellen (Vereinsgründung, Raumgestaltung bzw. Rearrangement sowie Reorganisation von Praktiken). Im Verlauf lassen sie sich immer stärker involvieren und schließlich engagieren sie sich in der Lotsenpraxis in Form eines (neuen) dominant project. Mit der Kategorie des Engagements geraten somit affektive Bindungen in den Blick, welche im momenthaften wie langfristigen Engagiertsein in der Praxis hergestellt werden. Während Engagement zu Beginn dieser Arbeit mit Goffman fruchtbar gemacht wurde, um situative Erwartungen hinsichtlich der Intensität und Vollständigkeit, mit der sich Teilnehmer in eine Praktik einbringen sollten, zu beschreiben, hat sich Théve-
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nots Ansatz der Engagementregime im weiteren Verlauf als noch geeigneter erwiesen, um sowohl längerfristiges Engagement als auch die Gleichzeitigkeit von Unterwerfung und Ermächtigung des subjektivierenden Engagements in den Blick zu bekommen. Zentral für Thévenots Ansatz ist, dass Macht, um sich realisieren zu können, Engagement braucht. Engagierte Subjekte, d.h. solche, die sich von konkret situierten Ereignissen gefangen nehmen lassen oder sich langfristig an eine Praktik bzw. ein spezifisches Praktikenbündel binden, verhelfen nicht nur der Macht zur Wirkung, sondern erlangen in ihrem Engagement ihrerseits Macht, in die Welt einzugreifen. Gerade aus dem intensiven und zeitraubenden Engagement in einem dominant project ergibt sich, dass Menschen, die sich in ihrem Engagement zu Subjekten machen, nicht beliebig zwischen unterschiedlichen Engagementregimen hin und her wechseln oder nahtlos von einem zum anderen übergehen (vgl. Kapitel 3.4). Vielmehr verbinden sie heterogene Formen des Engagements aus unterschiedlichen Praxisfeldern, woraus Eigentümlichkeiten und kritische Spannungen hervorgehen können, welche Potential für Veränderungen mit sich bringen (vgl. Kapitel 3.4). Wurde Subjektivierung also einerseits als ein sich über längere Zeiträume erstreckendes Geschehen beleuchtet, ließ sie sich ebenso in ihrer Ereignishaftigkeit ausleuchten.238 Ein „Subjekt des Aktes“ (Žižek 2001: 523) bildet sich durch eine Art Aha-Erlebnis: Eine Kursteilnehmerin gewinnt bspw. während eines Spiels eine leibliche Erkenntnis, indem sie, wie sie sagt, strukturelle Unterschiede plötzlich „mal räumlich erfährt“ (vgl. Kapitel 3.2.6.4). Diese Erfahrung hinterlässt Erinnerungsspuren (Lorenzer 2006) und präfiguriert im Sinne eines Schlüsselszenarios nachfolgende Erfahrungen. Statt die Kategorie der Erfahrung individualtheoretisch zu fassen, wird sie damit subjektivierungstheoretisch lesbar: Nicht nur die Teilnehmerin macht die Erfahrung, auch wird sie in der Erfahrung zum Subjekt (gemacht). Das Subjekt erscheint damit als Konstituens und Konstitutum von Erfahrungen. Die Selbstbildung basiert hier auf Momenten der Überraschung und Irritation. Im Rahmen anderer Trainingseinheiten vollzieht sich die Subjektivierung hingegen in Form eines kontinuierlichen Aufbaus des Selbst, wie im Fall einer sich über die gesamte Dauer der Lotsenausbildung erstreckenden Fabrikation einer Integrationsbiographie bzw. eines Migrationshintergrundes, die mit Hilfe einer transsequentiellen Analytik Schritt für Schritt und Zug um Zug nachvollzogen wurde.
238 Ereignishaftigkeit und Langfristigkeit bzw. Kontinuität beschreiben lediglich heuristisch unterschiedliche Momente der Subjektivierung. Wie besonders am Beispiel der Lotsenausbildung deutlich wurde, vollzieht sich die Selbstbildung der Integrationslotsen keineswegs in der einen oder der anderen Form. Vielmehr lassen sich empirisch beide Momente herausarbeiten und in Abhängigkeit vom Erkenntnisinteresse akzentuieren.
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Gezeigt wurde ferner, wie Kursteilnehmer und Vereinsmitglieder immer wieder und in unterschiedlichsten Kontexten erfahren, dass integrationsbiographisches Kapital nur um den Preis einer permanenten performativen Aufrechterhaltung eines Migrationshintergrundes zu haben ist, dass sie mit dem Lotsentitel fortsetzen, ihr Selbst schriftlich zu beglaubigen oder dass sie mittels ständiger Wiederholung allmählich einen kasuistischen Blick auf ihre migrantische Klientel einüben. Herausgearbeitet wurden damit unterschiedliche Temporalitäten der Subjektivierung. Beschränkt man Selbstbildung nicht auf spezielle Typen von Praktiken, so bedeutet dies im Umkehrschluss nicht, dass Subjektivierung in der Praxis immer und überall stattfindet. Dies würde den Ansatz überdehnen und seines analytischen Potentials berauben. Folglich stellt sich die Frage, ‚ab wann‘ wir überhaupt von Subjektivierung sprechen können. Die empirischen Beispiele zeigen, dass es hierfür keine vorab und unumstößlich festgelegten Kriterien geben kann. Sie zeigen aber auch, dass sich ereignishafte wie kontinuierliche Momente der Subjektivierung weder voraussetzungslos noch folgenlos vollziehen: in jedem Fall haben wir es mit einer Aus-, Weiter- oder Umbildung transsituativer Selbst- und Weltverhältnisse zu tun, welche Orte und Zeiträume überspannt. Szenisch lassen sich diese Selbstbildungen als längere oder kürzere Abschnitte innerhalb einer dramatischen Handlung (vgl. Kaiser 2012: 8) in den Blick nehmen, deren weiterer Verlauf für die darin involvierten Teilnehmer nicht absehbar ist und der von einer Beobachterin nur mittels Hinzunahme weiterer Abschnitte nachträglich rekonstruiert und in diesem Konstruktionsakt prozesshaft verdichtet werden kann. Deutlich wird damit zugleich, dass sich Subjektivierungsszenen von jedem raumzeitlichen Blickpunkt aus und in Abhängigkeit von dem jeweiligen szenischen Verstehen unterschiedlich darstellen. Dies gilt nicht nur für die darin involvierten Teilnehmer, sondern ebenso für die aus einer bestimmten Perspektive beobachtende Praxeographin. Diese Perspektivität und Deutungsoffenheit der szenisch verstandenen Praxis lässt sich analytisch nutzbar machen, sofern sie fortlaufend kontrolliert wird. Zu diesem Zweck wurde im Rahmen dieser Arbeit eine Schmetterlingsperspektive eingenommen (vgl. Kapitel 2.2.3), aus der sich sowohl Teilnehmer- und Beobachterperspektiven als auch kontextuelle Beobachtungskategorien (Praktiken, Szenen, Situationen, Räume, Dispositive, Felder) systematisch relationieren lassen. Für die Praxeographin bedeutet dies, dass sie ihre Blickpunkte innerhalb eines Beobachtungskontextes mittels räumlicher Positionswechsel sowie ihre Perspektive auf den Beobachtungskontext mittels begleitend geführter Interviews, Hinzunahme relevanter Dokumente (Handbücher, Evaluierungsbögen, Formulare, Flyer etc.) sowie theoretischer Texte gezielt variiert und so den analysierten Gegenstand jeweils neu konstruiert. Wie folgenreich diese Perspektivenwechsel für die Arbeit am empirischen Material sind, zeigt sich insbesondere an der Frage, wann wir es mit einem Gelingen oder mit einem Scheitern der Subjektivierung zu tun haben.
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Aus einer von oben blickenden Perspektive, welche auf Unauffälligwerdung in routinisierten Praktiken und Einpassungen in Subjektformen fokussiert ist, scheitern Selbstbildungen etwa dort, wo Erfahrungen einem Programm folgend generiert werden sollen, sich jedoch einer störungsfrei ablaufenden Fabrikation entziehen, indem sich die Körper der Teilnehmer gegen eine solche sperren oder sich aus ihr herauswinden und insofern buchstäblich Stellung zu den subjektivierenden Praktiken beziehen. Ebenso mögen Teilnehmer explizit aus einer Praktik austreten oder diese nachträglich kritisch hinterfragen, indem sie die Übertragbarkeit von Erfahrungen in der ‚Laborwelt‘ des Lotsenkurses auf die ‚echte‘ Welt in Zweifel ziehen oder auf Diskrepanzen zwischen der Welt eines Spiels und der Realität hinweisen. Erfahrungen werden in diesen Fällen zu Reibungspunkten der subjektivierenden Praxis. Aus einer stärker von unten ausgerichteten Perspektive, welche die Kontingenz der Praxis und die sich darin konstituierenden Subjekte im Sinne von – zwangsläufigen – Mitgestaltern im Blick hat, würden sich Subjekte hingegen gerade in diesen Erfahrungen bilden, indem sie im Sinne „produktiver Erkundungen“ (Buschmann 2013: 142, Herv. AQ) etwas Neues, Unerwartetes und Unkontrollierbares in die Welt bringen, das sich nicht den programmatisch anvisierten Übungszielen fügt. Man hätte es aus dieser Perspektive also gerade mit gelingender Subjektivierung zu tun. Statt sich eine dieser beiden Perspektiven zu verschließen, wird es mittels der Schmetterlingsperspektive möglich, sie gezielt als wechselseitige Korrektive einzusetzen und Selbstbildungsprozesse unter Angabe des jeweiligen Beobachterstandpunkts auf ihre Momente des Scheiterns wie des Gelingens hin empirisch auszuleuchten, statt Subjektivierung a priori als eine grundsätzlich gelingende (Althusser) oder prinzipiell scheiternde (Butler, Žižek) Angelegenheit zu betrachten und entweder ihren unterwerfenden oder ihren ermächtigenden Charakter zu betonen. Ebenso lässt sich so die Doppelläufigkeit der Subjektivierung als Exposition und Unauffälligwerdung im Sinne Butlers empirisch ausleuchten und an die jeweilige Beobachtungsperspektive zurückbinden (vgl. Kapitel 3.2.5.2). Eng verbunden mit dem Scheitern bzw. Gelingen der Subjektivierung ist die Frage, wie sich praktische Vollzüge als Kritik zeigen. Dass es sich hierbei um einen von den Teilnehmenden wie von der Praxeographin unternommenen Qualifizierungsprozesses handelt, der ebenfalls aus einer bestimmten, offen zu legenden Beobachterperspektive erfolgt, wurde bereits deutlich. Darüber hinaus zeigte sich in der Arbeit am empirischen Material, dass sich beobachtete Vollzüge oftmals sowohl als ein kritisches Heraustreten aus dem normativen Erwartungshorizont einer Praktik als auch als ein Herausfallen dank mangelnder Mitspielfähigkeit von Teilnehmern beschreiben ließen (vgl. Kapitel 3.2.5.1, 3.2.6.1). Auf diese Weise entstehen widersprüchliche und „nicht mehr gar so bündige“ (Scheffer 2002: 361) Versionen des Geschehens, welche, wie ich meine, etwas zur Erhellung kritischer Praxis beitragen. So wurde in Auseinandersetzung mit Boltanskis Unterscheidung zwi-
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schen einem praktisch-vorreflexiven Register und einem diskursiv-reflexiven metapragmatischen Register der Kritik am Material ausgeleuchtet, dass auch eine kritische und somit nach Boltanski metapragmatische Praxis nicht ohne ein knowing how und einen praktischen Sinn auskommt. Die Akteure müssen wissen, wie sie Kritik üben, bspw. wie sie bestimmte Argumentationsdispositive aufbauen (vgl. Kapitel 3.2.3.2) und wie sie Kritik in einem spezifischen situativen, institutionellen und historischen Kontext artikulieren. Um Kritik im Sinne eines Unterschiedes zu dem, was ist, machen zu können (im Sinne von doing und making), bedarf es eines Wissens darüber, was einem Kontext angemessen ist. Erst dieses erlaubt es überhaupt, sich unangemessen zu verhalten. Das praktische Anwendungswissen, das zur Hervorbringung und Aufrechterhaltung einer Ordnung (einer Praktik oder eines Dispositivs) notwendig ist, kann somit gleichermaßen zu einem Abwendungswissen werden. Betrachtet man kritische Praxis mit Hilfe einer solch großen Brennweite, öffnet sich der Blick für ein breites und heterogenes Register von Problematisierungen, Widerständigkeiten und Momenten des Dissenses (Rancière 2000), die sich mitunter stumm vollziehen und „nicht interpretationsunabhängig sind, sich aber [...] doch irgendwie melden“ (Jaeggi 2014: 306). Diesen Gewinnen stehen allerdings auch Verluste gegenüber: Das Resultat ist eine geringe Tiefenschärfe, da alle möglichen Vollzüge als Kritik in Betracht kommen, ohne dass sich raumzeitliche Reichweiten und transformatorische Potentiale präzise ausloten ließen. Um diesen ja gerade mit dem Subjektbegriff aufgerufenen Fragen nachgehen zu können, bedürfte es in künftigen Forschungen einer enger gefassten, jedoch nicht auf definitorische oder gar normative Abschließung gerichteten Konzeption von Kritik, mit Hilfe derer sich unterschiedliche Kritiktypen heuristisch differenzieren lassen.239 Schlagwortartig zusammengefasst treten Subjektivierungsprozesse aus der in dieser Arbeit entwickelten Forschungsperspektive in ihrer Relationalität, ihrer Materialität, ihrer Kontextualität, ihrer Perspektivität sowie in ihrer Temporalität in den Blick, wobei es diese Dimensionen sowie das entwickelte analytische Vokabular (Praxis/Praktiken, Szene, Gestalt) empirisch weiter zu erproben, auszuarbeiten und zu verfeinern gilt. Daneben ergeben sich einige weitere konkrete Anknüpfungspunkte für künftige Forschungen. Künftige Forschungen In den letzten Jahren hat sich gezeigt, wie sich Integrationslotsen in fortlaufender Gestaltung ihres Profils, das immer wieder Eingang in spezifische Ausbildungscurricula findet (vgl. Kapitel 3.4.2.2), zahlreiche gesellschaftliche Bereiche erobert und darin neue Felder erschlossen haben: Neben den in dieser Arbeit betrachteten (ba-
239 Ausgearbeitet hat eine solche Konzeption etwa Rahel Jaeggi mit ihrer „Kritik von Lebensformen“ (2014).
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sisqualifizierten) Integrationslotsinnen, Eltern- und Hochschullotsen, gibt es inzwischen Berufs- und Ausbildungslotsen, die vorwiegend Jugendliche beim Einstieg in das Erwerbsleben unterstützen. Stadtteillotsen sind „darauf spezialisiert, Probleme und Anregungen im Stadtteil aufzugreifen, diese im Lotsenteam zu reflektieren und ggf. an zuständige Institutionen weiterzuleiten“ (Bommes et al. 2010: 58). Eine Qualifizierung von Umweltlotsen richtet sich darauf, Umweltwissen an Migranten zu vermitteln. Sportlotsen „setzen sich je nach Bedarf in Konfliktsituationen ein und fungieren als Kommunikationslotsen, die mit kulturellen Unterschieden im Breitensport angemessen umgehen können“ (Bommes et al. 2010: VIII). In dieser Arbeit wurde gezeigt, wie sich Integrationslotsen nicht nur als Pflegelotsen (vgl. Kapitel 3.4.2.2) für Migranten, sondern auch als Gefängnislotsen profilieren, indem sie ihre Orientierungshilfe so interpretieren, dass auch Gefängnisinsassen gleich welcher Herkunft zu Lotsenden gemacht werden (vgl. Kapitel 3.4.2.3). Die enorme Bandbreite an Lotsen-Projekten wird inzwischen von Müller-Wille (2009: 8), welche die Handreichungen sowohl zum Basislehrgang als auch zum Nachhaltigkeitsmodul der Integrationslotsen entwickelt hat, als problematisch eingestuft: „Zuweilen scheint die Verwendung des Begriffs ‚Lotse‘ inflationäre Ausmaße anzunehmen und die Frage ‚Was machen die denn nun alles?‘ scheint durchaus berechtigt.“ Hieran zeigt sich die Unverfügbarkeit der Praxis aus Sicht der Programmverantwortlichen noch einmal in aller Deutlichkeit: Integrationslotsinnen werden nicht bloß top down gebildet, sondern sie bilden sich in einer Weise, die programmatisch nie vollständig ‚einzufangen‘ ist. Verfolgt man die Spur der Lotsen über das Integrationslotsenprojekt hinaus weiter, so entdeckt man Lotsenprogramme in zahlreichen Feldern, die teils direkte Bezüge zu dem hier betrachteten Projektrahmen aufweisen und teils unabhängig davon sind, jedoch stets gewisse Analogien aufweisen: Ein vom DBH-Fachverband für Soziale Arbeit, Strafrecht und Kriminalpolitik unterhaltenes Projekt mit dem Titel „LOTSE“ zeigt an, dass der Einsatz von ehrenamtlichen Lotsen zur Resozialisierung von Straffälligen, der sich im Rahmen des Integrationslotsenprojekts jüngst entwickelt, andernorts längst gängige Praxis ist.240 Ähnlich verhält es sich mit Pflegelotsen, die auch jenseits von Fragen der Migration pflegenden Angehörigen den „Weg durch [den] ‚Pflege-Dschungel‘“ weisen.241 Ferner stoßen wir auf Programme für ehrenamtliche Inklusionslotsen mit und ohne Behinderungen, welche „auf die Erschließung von Potenzialen der Selbsthilfe (Peer Counseling) als auch der Akteure insbesondere in den Bereichen Bildung, Kultur, Freizeit, Jugendarbeit sowie ehrenamtliches und politisches Engagement erfolgen. Inklusionsbegleiter/
240 Vgl. www.dbh-online.de/unterseiten/fachverband/lotse.php [2.4.2014]. 241 Vgl.www.nwzonline.de/oldenburg-kreis/bildung/lotsen-weisen-angehoerigen-wegdurch-pflege-dschungel_a_3,1,37751131.html [5.9.2013].
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Inklusionslotsen sollen dahingehend befähigt werden, vor Ort gemeinsam mit Betroffenen und Angehörigen nach Möglichkeiten einer selbstbestimmten Gestaltung des Lebens zu suchen sowie soziale Netzwerke im örtlichen Gemeinwesen erschließen bzw. aufbauen.“242 Mitunter wird auch in der Sterbebegleitung „ein erfahrener Nautiker oder Kapitän, der Schiffe sicher durch Untiefen und vorbei an Hindernissen geleiten kann“ gesucht.243 Wie im Fall der Integrationslotsen werden diejenigen in besonderer Weise als Sterbebegleiter adressiert, die über entsprechende eigene Erfahrungen und besondere Qualitäten verfügen, welche sich jeglicher Formalisierung zu entziehen scheinen: „Was Sie einbringen, kann nie Gegenstand von Arbeitsverträgen sein: Intuition, Herzensbindung, Mitmenschlichkeit und warmherzige Freundlichkeit.“ Dass es angesichts eines solch dichten Verkehrsaufkommens von Lotsen in allen möglichen Feldern des Ehrenamts weiterer Lotsen bedarf, um sich in diesem ‚Lotsendschungel‘ zurechtzufinden und die Lotsen selbst sicher durch enge und zunehmend unübersichtliche Fahrwassern zu navigieren, liegt fast nahe. So verwundert es nicht, dass seit einigen Jahren in zahlreichen Bundesländern und Kommunen gezielt Freiwillige ausgebildet werden, die als „Engagementlotsen“ andere aktivieren und bereits Aktive in ihrer ehrenamtlichen Arbeit unterstützen, helfen neue Freiwillige zu gewinnen und eine das Engagement fördernde Infrastruktur zu verbessern.244 Was hat es mit diesen vielgestaltigen Lotsen auf sich? Haben wir es hier mit einer neuen Sozialfigur zu tun, die als eine „zeitgebundene historische Gestalt“ einen spezifischen „Blick auf die Gegenwartsgesellschaft eröffnet“ (Moebius & Schroer 2010: 8)?245 Unter dieser genealogisch angelegten Fragestellung ließen sich einige
242 Vgl. „Aktionsprogramm Inklusion“ der Landesstiftung Baden-Württemberg: www. bwstiftung.de/gesellschaft-kultur/laufende-programme-und-projekte-gesellschaftkultur/inklusion/aktionsprogramm-inklusion.html [1.6.2014]. 243 Vgl. www.familienhafen.de/lotsen sowie www.familienhafen.de/uploads/Informationen %20EA-%20Homepage.pdf. [7.6.2014]. 244 Unter dem Dach der Freiwilligenakademie Niedersachsen werden in Zusammenarbeit mit den Kommunen und lokalen Einrichtungen bspw. seit 2006 pro Jahr bis zu 100 Personen landesfinanziert zu Engagementlotsen ausgebildet. Vgl. www.ms. niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_id=5043&article_id=13735&_psmand=17 [27.8.2011]. 245 Sozialfiguren sind nach Moebius und Schroer (2010: 8) dadurch gekennzeichnet, dass sie verschiedene Sphären des Sozialen übergreifen. „Für sie ist typisch, dass sie zwar aus verschiedenen Feldern stammen, ihre Tätigkeiten sich aber mehr und mehr verselbständigen“ und „zu Praktiken geworden sind, die ihr angestammtes Feld verlassen haben, um durch die gesamte Gesellschaft zu vagabundieren“ (ebd.).
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in dieser Arbeit verfolgte Spuren noch einmal begehen, neu lesen und weiterverfolgen. Es lassen sich drei mögliche Reiserouten skizzieren: Erstens könnte danach gefragt werden, wie Lotsen in den genannten Feldern jeweils in spezifischer Weise in die Vergesellschaftung von Alteritäten ‚verwickelt‘ sind. In seiner sozialphilosophischen Studie über „Andere“ (2011) markiert Bedorf in diesem Zusammenhang eine interdisziplinäre Forschungslücke: Zwar sei „von Aristoteles bis Lévinas immer wieder die Einbettung der Begegnung mit Alterität in soziale Praktiken herangezogen [worden], um die Struktur der Intersubjektivität herauszuarbeiten“, doch fehle es weiterhin an einer „Phänomenologie der vergesellschafteten Alterität unter unseren zeitgenössischen Bedingungen“ (Bedorf 2011: 190). Aus der in dieser Arbeit entwickelten Perspektive würde man sich vor diesem Hintergrund für Praktiken der Fremd- wie der Selbstvergesellschaftung von Alteritäten in unterschiedlichen Feldern sowie für die Widersprüche, Ambivalenzen und Krisen der (Selbst-)Vergesellschaftungspraxis interessieren. Der Lotse könnte hierbei sowohl als Medium der Vergesellschaftung, d.h. als ein in seiner jeweiligen Eigentümlichkeit herauszuarbeitendes Mittlersubjekt, wie auch als Antwort auf bzw. Ausdruck von ambivalenten und spannungsvollen Vergesellschaftungen von Alterität in den Blick genommen werden.246 Zweitens lassen sich die in dieser Arbeit angelegten Spuren hinsichtlich einer Analyse wechselseitig aufeinander bezogener Subjektivierungs- und Institutionalisierungsprozesse weiterverfolgen, um noch systematischer das wechselseitig konstitutive Verhältnis von Subjektivierung, Praxis und Feldgenese bzw. -transformation auszuleuchten: Wie bilden sich nicht nur Subjekte, sondern wie tragen sie im Prozess der Institutionalisierung von (Selbst-)Hilfe auch zur Etablierung und Gestaltung von Feldern bei? Welche Kooperationen und Unterscheidungskämpfe lassen sich dabei ausmachen? Welche Kompetenzen werden im Zuge solcher Institutionalisierungsprozesse unterhalb staatlicher Hilfseinrichtungen erforderlich, welche bleiben möglicherweise auf der Strecke? Wie wird implizites Helferwissen explizit und somit öffentlich gemacht? Welche Reibungen und Verluste ergeben sich aus der Versprachlichung und Standardisierung von Wissen einerseits, welche Möglichkeiten für Wandel und Kritik an verkörperter institutionalisierter Hilfe ergeben sich daraus andererseits? Wenn Lotsen gerade etwas einbringen sollen, das, wie es bei den Sterbebegleitern heißt, „nie Gegenstand von Ar-
246 Simmels prozessuales Vergesellschaftungskonzept einer „Kreuzung sozialer Kreise“ im Sinne ineinander verwobener Kreise komplexer dynamischer Relationen könnte hierbei einen zentralen Anknüpfungspunkt bieten (vgl. Simmel 1992).
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beitsverträgen sein“ kann, was folgt dann, wenn sich auch hier die Beruflichkeit durchsetzt, wie es sich im Falle von Integrationslotsen bereits andeutet?247 Eine dritte Reiseroute schließlich könnte dahin führen, an die Sozialfigur des Lotsen dezidiert Fragen nach dem Verhältnis von Kontingenz und Ordnung anzuknüpfen. Diese sind zwar in den bisher skizzierten Forschungslinien bereits impliziert, ließen sich jedoch noch weiter zuspitzen. Die Metapher des Lotsen schreibt sich in ein Feld der Metaphorik von Seefahrt und Schiffbruch ein, deren „Bedeutungslast“ nach Blumenberg durch zwei Voraussetzungen bestimmt ist: „einmal das Meer als naturgegebene Grenze des Raumes menschlicher Unternehmungen und zum anderen seine Dämonisierung als Sphäre der Unberechenbarkeit, Gesetzlosigkeit, Orientierungswidrigkeit“ (Blumenberg 1979: 10). So verwundert es nicht, dass Makropoulus (1997: 7-13) den Einstieg in seine Abhandlung über Moderne und Kontingenz über „Nautische Räume“ beschreitet. Der Rückgriff auf die nautische Metaphorik indiziert wahrgenommene und begrifflich nicht fassbare Kontingenzen.248 Die offenkundig rasante Verbreitung von Lotsen ließe sich folglich als Anzeichen einer gesteigerten Wahrnehmung gegenwärtig zunehmender Kontingenzen und Orientierungslosigkeiten wie auch bereits als eine spezifische Antwort darauf fassen. Welcher Art sind die Orientierungsräume, die Lotsen hervorbringen und in denen sie sich zugleich als Lotsen konstituieren? Welche Ordnungsvorstellungen werden darin aktualisiert und hervorgebracht? Wie werden Orientierungslosigkeiten und damit neue Orientierungsbedarfe erzeugt?249 Geradezu symptomatisch für
247 So soll laut einer Studie der Entwicklungspartnerschaft (EP) TransKom auf zwischenstaatlicher und europäischer Ebene künftig ein Austausch und die Entwicklung von gemeinsamen Standards befördert werden, damit „die sprachliche und kulturelle Vermittlung als ein klar entwickeltes Berufsbild in Zukunft dazu beitragen [kann], die Beteiligung von MigrantInnen im Alltagsleben und durch Förderung ihrer Integration zu verbessern“ (Wolfsgruber 2007: 64, Herv. AQ). 248 Nach Blumenberg bieten Metaphern i.S.v. Unbegrifflichkeit Möglichkeiten für eine „Überschreitung der Formelhaftigkeit“: „Formeln gewährleisten vor allem, die Ausgangszustände von Prozessen mit beliebigen Endzuständen zu verbinden, ohne für das Zwischenfeld oder für die Totalität empirische Gegenstände vorauszusetzen. Unbegrifflichkeit will mehr als die ‚Form‘ von Prozessen oder Zuständen, sie will deren ‚Gestalt‘.“ (Blumenberg 1979: 101). 249 Heuristisch fruchtbar erweisen könnte sich dabei Foucaults Ansatz der Heterotopien. Diese sind im Sinne wirklicher und wirksamer Orte von dem verbleibenden Raum abgehoben und haben diesem gegenüber entweder als Illusionsheterotopien die Funktion, den „Realraum“ als illusorisch zu denunzieren oder fungieren als Kompensationsheterotopien mit ihrer Vollkommenheit und sorgfältigen Ordnung als Ausgleich für die Unordnung und Wirrheit des übrigen Raumes (vgl. Foucault 1992: 45). Das Schiff als
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eine Potenzierung von Kontingenz dank Kontingenzbewältigung erscheinen die Engagementlotsen als Orientierungshelfer orientierungslos gemachter Orientierungshelfer. In der vorliegenden Arbeit zeigte sich diese Ambivalenz gleichzeitiger Kontingenzbewältigung und -erzeugung daran, dass beträchtliche Anstrengungen der Kontingenzbewältigung mittels Verfahren der Standardisierung und spezifischer Medien wie Fall, Fragebogen oder Titel gerade in einem Projekt, das zugleich eine strategische Leerstelle für den Möglichkeitssinn derjenigen Instanz lässt, die zur Kontingenzbewältigung – hier also zur Orientierung als orientierungslos und orientierungsbedürftig begriffener Migranten – beitragen soll, beständig neue Kontingenzen produziert. Das Subjekt erscheint damit nicht nur als etwas, dem die Kontingenz der Praxis widerfährt, sondern das mit daran beteiligt ist, diese fortlaufend hervorzubringen. Sieht man das übergreifende Feld des Lotsen(s) dadurch gekennzeichnet, dass es sich entlang der Aufgabe konstituiert, Kontingenzen zu beseitigen, die in anderen Feldern produziert, dort jedoch nicht beseitigt und als derart problematisch angesehen werden, dass sie eine urgence im Sinne Foucaults begründen, so ließen sich hieran zugleich Fragen nach dem Verhältnis von Feld und Dispositiv anschließen. Statt Dispositive als das, was gesellschaftliche Felder hervorbringt und strukturierend auf sie einwirkt zu betrachten (vgl. Bührmann & Schneider 2006: 156), würde etwa danach gefragt werden, aus welchen Kämpfen um Positionen und Anerkennbarkeit innerhalb eines Feldes Dispositive der Kontingenzbewältigung hervorgehen und welche Gestaltungsspielräume sich hieraus wiederum in Hinblick auf neue Felder und sich darin konstituierende Lotsen-Subjekte ergeben. Auf diese Weise würde nicht nur das wechselseitig konstitutive Verhältnis von Feldern und Dispositiven in den Blick treten, sondern auch, dass dieses erst durch die Vermittlungsleistungen von den sich in diesen Dispositiven und Feldern konstituierenden Lotsen-Subjekten hervorgebracht wird. Gehen wir nun einstweilen vor Anker, indem wir von der Kontingenz über das Subjekt zum Politischen in dieser Arbeit kommen. Aus einer pragmatistischen Perspektive der „Prüfungen der Zugehörigkeit“ offenbart sich jede politische Grammatik „in der spezifischen Prüfung, die sie dem Neuankömmling auferlegt, damit er einbezogen wird, seinen Anteil an den gemeinschaftlichen Gütern erhält und am öffentlichen Leben teilnimmt“ (Thévenot 2011a: 247). In dieser Studie wurde der Blick auf die Vielschichtigkeit und Unabschließbarkeit derartiger Prüfungen gerichtet, sowie darauf, wie Migranten solchen Prüfungen nicht nur unterzogen werden, sondern sich darin erst selbst bilden und wie diese Selbstbildung immer nur vorläufig zum Abschluss kommen kann – und somit kontingent bleibt. Bedorf begreift
„ein schaukelndes Stück Raum [...], ein Ort ohne Ort, der aus sich selber lebt, der in sich geschlossen ist und gleichzeitig dem Unendlichen des Meeres ausgeliefert ist“ gilt Foucault als „die Heterotopie schlechthin“ (ebd.: 46).
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„das Politische“ von „als Gesamtheit der Politik verstandenen Prozeduren“ positiv abgehoben und wesentlich durch Kontingenz gekennzeichnet (Bedorf 2010: 233): „Politisches geschieht dort, wo kollektive Identitäten gestiftet werden, Politik vollzieht sich dort, wo mit institutionell gesicherten Identitäten ge- und verhandelt wird.“ (Ebd.: 237, Herv. i.O.) In diesem Sinne ist der Integrationslotse zugleich Subjekt einer Politik der Integration wie auch ein eminent politisches Subjekt, das erst dabei ist, sich selbst eine Gestalt zu verleihen: „Überall dort, wo Subjekte ‚entre-deux‘ erfunden und neu formiert werden, ohne daß sie sich auf bereits eingespielte Anerkennungsmuster verlassen können, findet Politisches statt. Es probt als Praktik des Als-ob die Grenzen der Politik.“250
250 Bedorf (2010: 239f.). Binnenzitat: Rancière, Jaques (1998): Politique, identification, subjectivation, In: ders.: Aux bords du politique. Paris: 112-125, hier: 119.
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Dagmar Freist (Hg.) Diskurse – Körper – Artefakte Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung März 2015, 408 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2552-3
Kristina Brümmer Mitspielfähigkeit Sportliches Training als formative Praxis 2014, 290 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2932-3
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Praktiken der Subjektivierung Sabine Kyora (Hg.) Subjektform Autor Autorschaftsinszenierungen als Praktiken der Subjektivierung 2014, 360 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2573-8
Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde, Dagmar Freist (Hg.) Selbst-Bildungen Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung 2013, 378 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1992-8
Thomas Pille Das Referendariat Eine ethnographische Studie zu den Praktiken der Lehrerbildung 2013, 262 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2289-8
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