Turbulente Ränder: Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas [2 ed.] 9783839407813

Heute über Migration nach Europa zu reden, heißt fast immer von der »Festung Europa« zu sprechen. Ins kollektive Gedächt

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German Pages 252 Year 2015

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INHALT
Movements that matter. Eine Einleitung
Europeanizing Transnationalism! Provincializing Europe! – Konturen eines neuen Grenzregimes
New Governance oder. Die imperiale Kunst des Regierens. Asyldiskurs und Menschenrechtsdispositiv im neuen EU-Migrationsmanagement
Denaturalizing „Camps“: Überwachen und Entschleunigen in der Schengener Ägäis-Zone
Najkrači put u svet – Der kürzeste Weg in die Welt. Migration, Bürgerrechte und die EU in den Staaten des ehemaligen Jugoslawien
BLOK 70 Sound Journal
Das zur Schau gestellte Elend. Gender, Migration und Repräsentation in Kampagnen gegen Menschenhandel
Pauschal, Individual, Illegal: Aufenthalte am Mittelmeer
Strategien des Mappings
Eine Bewegung der Zukunft. Die Bedeutung des Blickregimes der Migration für die Produktion der Ausstellung Projekt Migration
Die Grenze filmen
Autonomie der Migration. 10 Thesen zu einer Methode
Alte Träume, neue Praktiken: Migration und Kosmopolitismus an den Grenzen Europas
Literatur
AutorInnen
Dank
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Turbulente Ränder: Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas [2 ed.]
 9783839407813

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TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe (Hg.) Turbulente Ränder

TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe (Hg.)

Turbulente Ränder Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas

TRANSIT MIGRATION ist ein Teilprojekt des »Projekt Migration«, eines Initiativprojekts der Kulturstiftung des Bundes 2003–2006.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2007 transcript Verlag, Bielefeld 2., unveränderte Auflage Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: MigMap 2, Labor k3000/TRANSIT MIGRATION 2005 Lektorat: Thomas Atzert, Offenbach Satz: Peter Spillmann, Zürich Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-781-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT Movements that matter. Eine Einleitung Serhat Karakayalı/Vassilis Tsianos Europeanizing Transnationalism! Provincializing Europe! – Konturen eines neuen Grenzregimes Sabine Hess/Vassilis Tsianos New Governance oder Die imperiale Kunst des Regierens. Asyldiskurs und Menschenrechtsdispositiv im neuen EU-Migrationsmanagement Sabine Hess/Serhat Karakayalı

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Denaturalizing „Camps“: Überwachen und Entschleunigen in der Schengener Ägäis-Zone Efthimia Panagiotidis/Vassilis Tsianos

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Najkrači put u svet – Der kürzeste Weg in die Welt. Migration, Bürgerrechte und die EU in den Staaten des ehemaligen Jugoslawien Manuela Bojadžijev

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BLOK 70 Sound Journal Ultra-red

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Das zur Schau gestellte Elend. Gender, Migration und Repräsentation in Kampagnen gegen Menschenhandel 121 Rutvica Andrijašević Pauschal, Individual, Illegal: Aufenthalte am Mittelmeer Ramona Lenz

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Strategien des Mappings Peter Spillmann

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Eine Bewegung der Zukunft. Die Bedeutung des Blickregimes der Migration für die Produktion der Ausstellung Projekt Migration Marion von Osten

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Die Grenze filmen Brigitta Kuster

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Autonomie der Migration. 10 Thesen zu einer Methode Manuela Bojadžijev/Serhat Karakayalı

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Alte Träume, neue Praktiken: Migration und Kosmopolitismus an den Grenzen Europas Regina Römhild

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Literatur

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AutorInnen

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Dank

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MOVEMENTS THAT MATTER. EINE EINLEITUNG Serhat Karakayalı/Vassilis Tsianos

Im Januar 2006 verabschiedete das Polyzentrische Weltsozialforum in Bamako (Mali) eine Erklärung, in der zum ersten Mal afrikanische AktivistInnen, Intellektuelle und NGOs die europäische Politik der Auslagerung von detention camps in afrikanische Länder verurteilten. Gefordert wird unter anderem die Schließung dieser Lager, in denen MigrantInnen festgesetzt und an ihrer Reise nach Europa gehindert werden sollen. Aber das ist nicht alles: Das Forum schlug „ein Jahr der internationalen Mobilisierung für das Recht jedes Menschen, sich frei auf der Welt zu bewegen und über seine eigene Zukunft zu entscheiden“ vor und rief zu einer europäisch-afrikanischen Kooperation auf, um ein internationales Netz zum Austausch von Informationen und Aktionen für die Rechte von MigrantInnen zu etablieren. Dieser Einsatz markiert die Umrisse einer transnationalen Form der politischen Organisierung, die in einem von Migrationsbewegungen durchzogenen Gebiet interveniert. In der medialen Verarbeitung der Migrationen der Gegenwart herrschen jene Bilder vor, die sich in die melodramatische Evidenz pressen lassen, mit der die „neue Völkerwanderung“ und der „Ansturm der Armen“ (Spiegel) das kosmopolitische Gewissen Europas erschüttern: Leitern, Boote, Handschellen. Auf der anderen Seite des Bilderregimes fungieren Kopftücher, Moscheen, Hassprediger und brennende Autos als Blickfilter, mit denen ganze Segmente der Gastarbeits- und postkolonialen Migration in Europa nicht unsichtbar gemacht, sondern im Gegenteil, unter dem Gesichtspunkt eines neuen anti-islamischen Rassismus re-kodiert werden. Mit dem Projekt TRANSIT MIGRATION haben wir in zweijähriger Feldforschungsarbeit eine kaum erforschte Migrationslandschaft untersucht: die südöstliche Peripherie, den anderen „Rand“ Europas. MigrantInnen haben dort in den letzten zwei Jahrzehnten neue Migrationsrouten etabliert und dadurch ehemalige Anwerbeländer der Gastarbeitsmigration wie die Türkei, Griechenland und das ehemalige Jugoslawien ins Visier supranationaler Apparate der Migrationskontrolle gerückt. Unsere Forschungen auf EU-Ebene und zur regionalen Praxis haben eine „Kunst, Migration zu regieren“ aufgefunden, einen neuen gouvernementalen Politikstil der Steuerung und Aktivierung. Diese neue Kunst, Migration zu regieren, zeichnet sich unter anderem durch die gestiegene Bedeutung aus, die den

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medialen Diskursen und der visuellen Kultur als gewichtiges Kampfterrain zukommt. Südosteuropa ist nicht nur Konfliktzone, sondern auch migrationspolitisches Laboratorium.

Der „methodologische Nationalismus“ in Theorie und Praxis Theoretischer und forschungspolitischer Ausgangspunkt unseres Untersuchungsprojekts ist das „Elend der Migrationstheorie“ in Deutschland. Gemeint sind die zwei Hauptachsen der epistemologisch-politischen Matrix der wissenschaftlichen und politischen Wissensproduktion über Migration: die Territorialisierungsnorm und der daran gleichsam unablösbar gebundene Integrationsimperativ. Das öffentliche, symbolische und juridische Ordnungsraster von Migration wird hierzulande bis heute dominiert durch eine raumgebundene und -bindende Konzeption von Migration, d.h. Migration wird als unidirektionaler Ortswechsel, als raum-zeitlich begrenzter Prozess der Aus- und Einwanderung gedacht, vielfach konzeptualisiert in Anlehnung an naturalistische Vorstellungen von Entwurzelung und Wiedereinpflanzung. Dem liegt die Vorstellung eines nationalstaatlichen Containermodells von Gesellschaft zugrunde, welche die soziologische und kulturwissenschaftliche Wissenspraxis der Moderne durchgehend kennzeichnet (Pries 1997, 29 ff.; Römhild 2003, 65). Der methodologische Nationalismus entnennt die gewaltvollen Territorialisierungsprozesse, mit denen versucht wird, Raum, Gesellschaft und Kultur symbolisch und juridisch zur Deckung zu bringen, und resultiert schließlich in einer Integrationsforderung an jeden einzelnen Migranten. Selbst das Exklusionsparadigma, das in direkter Abgrenzung zu Konzepten der Integration entwickelt wurde, bewegt sich noch innerhalb dieser epistemologischen Matrix. Dabei sind es ökonomische, politische und soziale „Schließungen“, die als Verteidigung von Vorrechten durch privilegierte Gruppen – die „Mehrheitsgesellschaft“ – im Rahmen ungleicher Machtverhältnisse konzipiert werden, die in den Blick genommen werden. Obgleich die MigrantInnen auf diese Weise nicht als Träger eines „Integrationsdefizits“ angerufen werden, folgt auch das Exklusionskonzept der klassischen „Ausländerforschung“, insofern die „methodologisch nationalistische“ Normativität der Integrationsperspektive unumstritten bleibt. Diese Verengung lässt sich etwa an den sich überschneidenden Diskursen über migrantische „Ghettos“ und die so genannte „Parallelgesellschaft“ zeigen. Darin lassen sich grundsätzlich zwei Argumentationsmuster erkennen: Zum einen werden Fragen der sozialen Ungleichheit thematisiert, zum anderen geht es um die Problematik gemeinsam geteilter Werte und Normen. Beide Semantiken sind über einen Referenzpunkt verknüpft, dass nämlich die räumliche „Ausgrenzung“ oder die „Absonderung“ einer sozialen Gruppe

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den Zusammenhalt in der Gesellschaft zerstöre. Diese Form der Sozialkritik, deren mediale Popularisierung vor allem von Sozialwissenschaftlern wie Hartmut Häußermann (1995) oder Wilhelm Heitmeyer (2000) betrieben wird, beschränkt sich weitgehend darauf, an die integrative Verantwortung von Staat und Gesellschaft zu appellieren. Die Ambivalenz der Integration, insbesondere was die Dimension der Normalisierung und Disziplinierung anbetrifft, ist aus diesem Konsensmodell getilgt. Das Einklagen ausgleichender Maßnahmen erfolgt aus der Perspektive einer präventiven Pazifizierung, die auf das Bedrohungspotential von „Risikopopulationen“ verweist.

Transnationalismus Das Transnationalisierungsparadigma, das in der Migrationsforschung im US-amerikanischen Kontext seit gut fünfzehn Jahren diskutiert wird, verstehen wir als erkenntnistheoretische und methodische Hilfskonstruktion, mit der sowohl Entwicklungen auf politischer und konzeptueller Ebene als auch Strategien von MigrantInnen in den Blick genommen werden können, die vom Mainstream der sozial- und kulturwissenschaftlichen Migrationsforschung in Deutschland konzeptionell nicht erfasst werden konnten und sollten (vgl. Hess/Tsianos 2004). Die Transnationalisierung von Lebensführungen ist eine Reaktion auf die globale Restrukturierung der Ökonomien, wie der US-amerikanische Stadtsoziologie Mike Davis am Beispiel der mexikanischen Migration aufzeigt: „Transmigration ist ein neuer Modus der sozialen Reproduktion unter den Bedingungen globaler Restrukturierung, die die Communities zwingt, Besitz und Bevölkerungen zwischen zwei unterschiedlichen örtlichen Existenzen auszubalancieren.“ (Davis 1999, 121) Diese Ressourcenoptimierung bewegt sich zugleich an den Rändern und entlang migrationspolitischer Restriktionen. Studien zur transnationalen Migration zeigen, wie mehrortige Migrationsstrategien im konzeptionellen Sinne neuartige soziale Formationen konstituieren (vgl. Pries 1998, 75). Sie bilden, so geografisch verstreut sie auch immer sein mögen, in zunehmenden Maße die Referenzstruktur der alltäglichen Lebensführung: von ökonomischen und politischen Aktivitäten bis hin zu biografischen Lebensentwürfen.1 Sie transzendieren das national-staatli1 Transnationalisierung reicht bis hinein in die Alltagswelten und generiert z.B. transnationale Eltern- und Mutterschaft. Rhaczel Salazar Parreñas zeigt am Beispiel philippinischer Hausarbeiterinnen in Italien und den USA, wie die weitgehende Illegalisierung transnationale Familienkonstellationen hervorbringt, bei denen Kinder und Ehepartner zurückgelassen werden (müssen) und Mutterschaft auf kommunikativer und virtueller Ebene gelebt wird (Parreñas 2001, 85 ff.). Dies führt auch zu einer neuen „global division of reproductive labour“ und bringt ungeahnte transnationale Genderkonstruktionen hervor. (Vgl. Hess 2004)

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che Container-Modell von Gesellschaftlichkeit und lenken den Blick auf post-, und transnationale Lebensverhältnisse, Arbeits- und Reproduktionsweisen (vgl. Hess 2004). Der soziale Raum der Migration wird mit dem Integrationsdispositiv gleichsam gekerbt, um einen Begriff von Gilles Deleuze und Félix Guattari (1992) zu verwenden. Die Kerbung ist ein Vorgang, bei dem der gelebte Raum reterritorialisiert, d.h. zählbar, regierbar und planbar gemacht wird. Dagegen beinhaltet der transnationale Raum Momente der Deterritorialisierung, in denen die MigrantInnen jenen oben beschriebenen Verengungen gleichsam „fliehen“. Diese Flucht und die institutionalisierten Versuche, die Flucht zu „binden“, sie zu regulieren und in Bahnen zu lenken, konstituieren den Raum der Migration.2 Deterritorialisierung hängt auf diese Weise intrinsisch mit Reterritorialisierung zusammen.3 Der transnationale soziale Raum existiert damit in einer – konfliktuellen – Relation zum Integrationsparadigma und seinen praktischen Auswirkungen. Indem die MigrantInnen auf die Bedingungen des nationalstaatlich eingefassten Raums reagieren, transformieren sie die Regulierungs- und Integrationsbemühungen, die die Zielländer unternehmen, in eine eigene, „klandestine“ Migrationsform um und kreieren dabei einen „driftenden“ sozialen Raum, d.h. selbst dort, wo sie sich auf national- oder suprastaatliche rechtliche und soziale Strukturen stützen, deterritorialisieren sie diese. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Reaktion der MigrantInnen auf die Kindergeldkürzungen durch den bundesdeutschen Staat Mitte der 1970er Jahre: Einerseits haben restriktive Gesetze über Wohnraum es den MigrantInnen verunmöglicht, ihre Kinder in Deutschland wohnen zu lassen, andererseits sollte ihr Kindergeldanspruch auf diese nicht in Deutschland lebenden Kinder aufgehoben bzw. gekürzt werden. Die massiven Kämpfe um die Rücknahme dieser Gesetze zielten auf den ersten Blick auf eine Gleichbehandlung innerhalb eines nationalen Raums ab: gleiches Kindergeld für alle (Bojadžijev 2005). In Wirklichkeit reagierten die MigrantInnen auf eine Ein2 Alain Tarrius hat in seiner ethnografischen Arbeit über die migratorischen Praktiken in den Städten Südfrankreichs gezeigt, wie sich die MigrantInnen im Raum bewegen: Die Knotenpunkte der Bewegung, das Koordinatensystem sind nicht die Sesshaften und ihre Gesellschaft, sondern der Migrant bezieht seine „Legitimität“ „von den ihm vorausgegangenen Migrationsgruppen“ und nicht aus der Logik eines Ankommens und der Besetzung eines Raums. „Sie machen den Raum zu einem Territorium jenseits unseres Gemeinwesens, der von unaufhörlichen Bewegungen belebt wird.“ (Tarrius 1994, 114) 3 Unter dem Begriff der Deterritorialisierung verstehen wir damit entgegen einer verbreiteten Lesart nicht die Auflösung von Räumlichkeit oder den Verlust staatlicher Souveränität. Der Begriff zielt nicht darauf ab, MigrantInnen die Aufgabe von Sargträgern nationaler Staatlichkeit im Rahmen einer eschatologischen Vorstellung von Geschichte zuzuweisen.

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schränkung ihrer transnationalen Lebensweise. Dass der transnationale Ansatz nicht bloß ein Produkt der Notwendigkeit ist, im Wissenschaftsbetrieb mit immer neuen Paradigmen aufzuwarten, zeigte eine Parole, mit der lateinamerikanische MigrantInnen im Frühjahr 2006 in den USA für ihre Legalisierung kämpften: „We didn’t cross the border, the border crossed us!“ Zurecht hat Michael Bommes (2002) darauf hingewiesen, dass der Begriff des transnationalen sozialen Raums in der Transnationalismus-Forschung oftmals nur eine Negativ-Kategorie darstellt und die vom Nationalstaat gleichsam „ererbten“ raumtheoretischen Vorstellungen auf einen nunmehr transnationalen „Container“ überträgt. Bommes hebt dabei hervor, dass erst das Überschreiten der Staatsgrenzen Migration überhaupt zum Problem macht. Die transnationale Perspektive wird daher nicht als Beleg für die Irrelevanz staatlicher Souveränität herangezogen, sondern um zu zeigen, dass der „methodologische Nationalismus“ Teil von Wissen-Macht-Komplexen ist, in und mit denen die Probleme bearbeitet und reguliert werden, die durch die beständige „Flucht“ der Menschen vor und aus den nationalstaatlich-räumlichen Strukturen entstehen können.

Europäisierung von unten Genau dieses Verhältnis zwischen durch Migrationen strukturierten transnationalen Räumen und ihrer staatlichen Reterritorialisierung konstituiert das Terrain der Europäisierung der Migrationspolitik. Mit der Europäisierung der Migrationspolitik hat sich eine transnationale Dimension von Migrationspolitik entwickelt, die in einem Wechselwirkungsverhältnis zur migrantischen Transnationalisierung „von unten“ steht. Europäisierung verstehen wir daher nicht als eine simple Verschiebung staatlicher Souveränität auf eine höhere, suprastaatliche Ebene, sondern als Antwort und Reaktion auf die turbulenten Dynamiken der Migration in Europa. Aus dieser Perspektive stellt unsere Forschung auch einen Beitrag zur „Lösung“ bestimmter Aporien der europäischen Integrationsforschung und -theorie dar. Denn die EUForschung oszilliert einerseits zwischen nationalstaatszentrierten Ansätzen mit der „realistischen“ Tendenz, den einzelnen Staaten bestimmte Interessen zuzuschreiben, die sie dann auf der EU-Ebene zur Geltung bringen und Mehrebenen-Ansätzen, die die suprastaatlichen Instanzen in den Vordergrund stellen und das Netzwerk als die Matrix einer neuen Form des Regierens konzeptualisieren (vgl. Jachtenfuchs/Kohler-Koch 1996). Seit den 1990er Jahren wird versucht, die Kluft zwischen supranationalen und realistischen Theorien zu schließen – u.a. mit Anleihen bei der Regimetheorie (vgl. Bieling/Steinhilber 2000). Im Kontext einer „kritischen Integrationstheorie“ wird darüber hinaus versucht, die institutionalistischen Beschränkungen der herkömmlichen Theorien, d.h. deren Vernachlässigung gesell-

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schaftlicher Kräfteverhältnisse, zu überwinden. Gerade im Kontext der Migrationsforschung wird oftmals noch die Vergemeinschaftlichung bzw. die Europäisierung der Migrationspolitik gleichsam für bare Münze genommen. Die Metapher von der „Festung Europa“ und die Etablierung immer neuer Instrumente der Migrationskontrolle auf europäischer Ebene nähren entweder die Vorstellung, es gebe eine einheitliche Politik der EU in diesem Zusammenhang, oder es werden bestimmte Einzelstaaten, hier vor allem die Bundesrepublik Deutschland, als „Hegemone“ identifiziert, die ihre Migrationspolitik hegemonialisieren, wenn etwa immer wieder betont wird, dass die Bundesrepublik Deutschland die „Hauptlasten“ der Asylmigration nach Europa zu tragen habe. Der Einsatz der Migrationsforschung auf diesem Feld kann sich aber nicht darin erschöpfen, transnationalen Praktiken und Netzwerken von Migrierenden eine Aura der Widerständigkeit zu verleihen, wie dies in der Forschung oftmals geschehen ist. Es ist vielmehr notwendig, die transnationale Perspektive auch auf die institutionellen politischen Akteure und ihre Praktiken zu erweitern. Wir behaupten nichts weniger, als dass die Erweiterung und Diffusion der Außengrenzen der EU durch den Erweiterungsprozess und die zahlreichen Kooperationen mit den Anrainerstaaten nicht verstanden werden können, wenn man sie ausschließlich als souveräne Ausweitung von staatlichen Kontrollansprüchen versteht. Vielmehr ist dieser „imperiale Charakter“ (Beck) der Europäischen Union Ausdruck auch der Migrationen, die Europa zwingen, seine institutionelle Apparatur bis in die Sahel-Zone auszudehnen. Das bedeutet nicht, dass die Migration den Platz des Souveräns annimmt. So wie die Anwerbeabkommen in der fordistischen Gastarbeiter-Ära auch Versuche waren, die Migration in Bahnen zu lenken (vgl. Schönwälder 2001, Yano 1998, Bojadžijev/Karakayalı 2005), so sind die vielfältigen Abkommen zwischen der EU und ihrer Peripherie Ausdruck dieser „Wiedervereinnahmung“ oder Reterritorialisierung der Migration. Das Projekt der Europäisierung, entstanden unter anderem aus der Krise des sozialen Nationalstaats als dessen neoliberale Rekodierung, nimmt die Dynamik der Migrationsströme auf und benutzt sie, um sie in eine Dynamik des Europäisierungsprozesses umzumünzen (vgl. Beiträge von Efthimia Panagiotidis und Vassilis Tsianos, von Sabine Hess und Vassilis Tsianos, sowie von Manuela Bojadžijev). Viele Studien zur Europäisierung der Migrationspolitik konzeptualisieren diese als Baustein einer „Festung Europa“ und fokussieren insbesondere auf die Vorverlagerung und Verschärfung von Einwanderungskontrollen an den Außengrenzen der Europäischen Union sowie auf den Ausbau der Anrainerstaaten zu Pufferzonen für Angehörige von Drittstaaten (Angenendt/Kruse 1997, Bade/Münz 2000). Ein derartig „strukturalistischer“ Repressions-Ansatz entnennt nicht nur die transnationalen Praktiken der Migration, er wird damit auch den paradoxen Wirkweisen und Effekten des europäischen Grenzregimes nicht gerecht. Er verkennt etwa, dass die

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NGOisierung innerhalb des Migrationsregimes einerseits eine Ausweitung und Privatisierung staatlicher Verfügungsansprüche über die Bewegungen der Migration darstellt, andererseits führt dies aber zur einer Verrechtlichung bzw. zur Etablierung eines Menschenrechtsregimes, auf das sich auch MigrantInnen in ihren Projekten beziehen können, wie etwa Efthimia Panagiotidis und Vassilis Tsianos sowie Manuela Bojadžijev in ihren Beiträgen zeigen. Eine der Arbeitshypothesen im Forschungsprojekt TRANSIT MIGRATION war, dass die Vorstellung einer „Festung Europa“ weniger als Deskription des Grenzgeschehens an den Peripherien Europas, sondern vielmehr als Ausdruck der Schwierigkeit zu verstehen ist, die Turbulenzen der Migration adäquat zu fassen und ein repräsentationales Gefüge zu denken, in dem Migrationen Gesellschaften verändern und nicht gleichsam an ihnen abprallen. Wir vertreten auch nicht die These, dass hier eine Lücke zwischen Realität und Anspruch, also ein reines Implementierungsproblem vorliegt, bei dem die Vorgaben „von oben“ eben lokal nur bedingt umgesetzt werden. Vielmehr verstehen wir Grenzen selbst als Aushandlungsräume, in denen die Widersprüche und Paradoxien dieser Institution ausgetragen werden. Aus diesem Grund haben wir im Verlauf des Forschungs- und Diskussionsprozesses ein interdisziplinäres Verfahren entwickelt: die ethnografische Regimeanalyse. Der Begriff der „ethnografischen Regimeanalyse“ reflektiert die unterschiedlichen disziplinären Bezüge der ForscherInnen aus Kulturanthropologie, Politologie, Soziologie und Kulturproduktion. Zugleich wird es damit, wie wir im Folgenden zeigen werden, möglich, mit dem von der kritischen Integrationstheorie postulierten gesellschaftstheoretischen Defizit produktiv umzugehen, nämlich die Migration als ein soziales Verhältnis zu fassen, sie nicht nur als „Objekt“ eines technisch verstandenen Vorgangs institutioneller Bearbeitung zu konzipieren, sondern die dynamische Kraft, die von ihr ausgeht, in die Analyse eines Migrationsregimes einzubeziehen.

Regime der Migration Um die verschiedenen und durchaus heterogenen theoretischen Zugänge miteinander verknüpfen und für die Untersuchung des Verhältnisses von Migration und ihrer gesellschaftlichen und staatlichen Bearbeitung fruchtbar machen zu können, beziehen wir uns auf den Begriff des „Regimes“. Der Regimebegriff ermöglicht, sowohl ökonomistische als auch funktionalistische Theoreme in der Migrationstheorie zu vermeiden. So fasst Giuseppe Sciortino ein Migrations- und Grenzregime als mehr oder weniger ungeordnetes Ensemble von Praktiken und Wissen-Macht-Komplexen: „It is rather a mix of implicit conceptual frames, generations of turf wars among bureaucracies and waves after waves of ‚quick fix‘ to emergencies, triggered by chan-

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ging political constellations of actors. The notion of a migration regime allows room for gaps, ambiguities and outright strains: the live of a regime is a result of continuous repair work through practices. Finally, the idea of a ‚migration regime‘ helps to stress the interdependence of observation and action. Migration regimes are rooted both in ways of observing and acting. The overall structure of the migration will determine how flows – regardless of their ‚true‘ nature – will be observed and acted upon. Similar flows will be observed very differently within different regimes. Differential treatments will feed back in different ways of observing.“ (Sciortino 2004, 32) Mit dem Regimebegriff wird das Verhältnis zwischen den Handlungen der MigrantInnen und den Agenturen der Kontrolle nicht als binäres Subjekt-Objekt Verhältnis gedacht. Die Vorzüge des Regimebegriffs sind freilich nicht erst von MigrationstheoretikerInnen entdeckt worden. Seit der Grundlegung einer Regimetheorie durch die Internationalen Beziehungen Anfang der 1980er Jahre ist der Begriff von Autoren der Regulationstheorie (Lipietz 1985) oder der Bourdieu-Schule (Boltanski/Chiapello 2003) aufgegriffen und auf andere theoretische und empirische Gegenstände angewendet worden. Bearbeitet wird die Frage, wie es möglich ist, dass ein „Gewirr von autonomen Prozessen ein kohärentes, gesellschaftliches Produkt darstellt, in dem sich alle privaten Arbeitsverausgabungen (mit Kapitaleinsatz) verwerten können“ (Lipietz 1985, 119). Es geht also um das Problem der Verstetigung von Verhältnissen, die ihrer Natur nach als äußerst instabil angesehen werden müssen, von denen aber nicht angenommen werden kann, dass sie exogen, also etwa vom Staat gesichert oder gesteuert werden. Die „Regularisierung“ sozialer Verhältnisse wird vielmehr als Resultat sozialer Auseinandersetzungen begriffen, die in immer wieder zu erneuernden (oder umzuwerfenden) institutionellen Kompromissen münden. Von einem Migrationsregime zu sprechen, legt daher nicht nur nahe, den systemischen Aspekt eines solchen Verhältnisses eher gering einzuschätzen, sondern auch, eine Perspektive einzunehmen, in der Migrationen nicht als zu steuernde Naturabläufe erscheinen (vgl. Karakayalı/Tsianos 2005). Unter Regime verstehen wir also ein Ensemble von gesellschaftlichen Praktiken und Strukturen – Diskurse, Subjekte, staatliche Praktiken – deren Anordnung nicht von vorneherein gegeben ist, sondern das genau darin besteht, Antworten auf die durch die dynamischen Elemente und Prozesse aufgeworfenen Fragen und Probleme, zu generieren. Die Produktivität eines Grenzregimes etwa besteht in der Regulation der grenzüberschreitenden Arbeitsmobilität, in der Verwaltung und Bearbeitung des „Überschusses“: „Es ist offensichtlich, dass ein solches Migrationsregime – auch wenn zu seinen eher unmittelbaren Auswirkungen die Befestigung der Grenzen und die Verfeinerung der Internierungs- und Abschiebemaschinerie gehören – nicht auf die Exklusion der Migrantinnen und Migranten zielt, sondern darauf, die

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Momente des Überschusses (also der Autonomie), die für die Migrationsbewegungen heute charakteristisch sind, zu verwerten, auf ihre ökonomische Dimension zurückzuführen und so auszubeuten.“ (Mezzadra 2006a)

Ethnografische Regimeanalyse Nach unserem Verständnis von „Regime“ sind die „subjektiven“ Momente eines solchen Gefüges nicht auf eine individual-methodologische Verabsolutierung von Praktiken der Akteure reduziert. Oftmals, vor allem in den diaspora studies und cultural studies, mündet dies in eine emphatische Überhöhung subjektiver Praxis zu einem beständigen Garanten für Subversion. Auf methodischer Ebene ging es also darum, die disziplinären Sackgassen von so genannten Makro- und Mikroanalysen, die jeweils der Soziologie und der Kulturanthropologie zugeschrieben werden, wenn nicht völlig zu vermeiden, so doch reflektiert zu wenden.4 Während die globale (Politik-)Analyse von Regierungs- oder Steuerungssystemen tendenziell deren Omnipotenz betont und (soziale) Subjekte nur als Spielfiguren in einer vorgegebenen Matrix denkbar erscheinen, haben sich die Kulturwissenschaften zum theoretischen Pflichtverteidiger von Subjektivität und Subversion entwickelt. Dieser Parodie einer mehr oder weniger friedlichen Koexistenz und der ihr scheinbar entsprechenden epistemologischen Arbeitsteilung haben wir mit TRANSIT MIGRATION einen dritten Raum entgegen gestellt, in dem die subjektive Seite des Migrationsgeschehens nicht auf individuelle Tricks der MigrantInnen reduziert ist, und umgekehrt die Handlungsmuster in der Migration nicht einfach institutionell vorgegeben sind. Dabei haben wir sowohl im Rahmen der Erhebung als auch der Auswertung der „Forschungsdaten“ unter anderem auf Methoden aus dem Kontext der Kulturanthropologie und Kulturproduktion rekurriert, wie etwa der multi-sited ethnography, dem Mapping, dem Sound-Recording, der Analyse von Blickregimen und deren Rolle für die „Kunst, die Migration zu regieren“. Es geht darum, ethnografisch und empirisch das „subjektive Gesicht“ der Migration und des staatlichen Handelns gleichermaßen in ihrer konstitutiven und produktiven Dimension zu fassen (vgl. Beiträge von Ramona Lenz und Brigitta Kuster). Strukturen, Apparate, Institutionen sind aus einer praxeologischen Perspektive nur unterschiedliche Aggregatzustände 4 Als ForscherInnen und KulturproduzentInnen betraten wir ausgehend von unseren unterschiedlichen disziplinären Zugängen ein Forschungsfeld, das unsere „eigenen“ methodologischen „Egoismen“ permanent herausforderte und in ihre Schranken wies. So bestand der Forschungsprozess nicht nur in einer Produktion von „Forschungsergebnissen“, sondern auch in der Aushandlung und Kreation einer kollaborativen Theorie- und Forschungspraxis.

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von Handeln und deshalb einander nicht entgegengesetzt. Bestimmte Handlungen sind dabei in der Lage, andere zu vereinnahmen und zu rekuperieren und sich dabei institutionell zu verdichten oder zu einem Aggregratwechsel beizutragen. Die MigrantInnen machen, mit jenem berühmten Satz von Marx aus dessen Schrift über den 18ten Brumaire des Louis Bonaparte, ihre Migration selbst, aber sie machen sie nicht frei von Bedingungen, sondern „unter vorgefundenen Umständen“. Was macht man aber mit „Umständen“? Man kann sich darin einrichten, arrangieren und die Umstände reproduzieren, oder – „unter Umständen“ – akkumulieren sich die Praktiken des Umgehens bis zur Krise. Aber schon das einfache Reproduzieren kann nicht bruchlos gelingen. Weil die MigrantInnen nicht angetreten sind, Strukturen zu reproduzieren, sondern ihr Leben zu verbessern, weil sie Teil verschiedener „Umstände“ sind und weil jedes Migrationsprojekt anders aussieht. Die Umstände der Migration verändern sich also durch die Projekte, mit denen die MigrantInnen, als gesellschaftliche Subjekte, diese Umstände stets aufs Neue reproduzieren und in diesem Prozess verändern. Es gibt keine Migration ohne Strategien und Projekte der Migration. Hierin liegt die Notwendigkeit, das zu konzeptualisieren, was wir Autonomie der Migration nennen (vgl. Beitrag von Manuela Bojadžijev und Serhat Karakayalı). Bei einem solch emphatischen Statement stehen zu bleiben, liefe darauf hinaus, innerhalb des heroischen Paradigmas der cultural studies zu verbleiben. Um jene Momente der Migration, die die gegenwärtigen nationalstaatlich formierten Gesellschaften und ihre Formen des Regierens überschreiten, politisch artikulieren zu können, bedarf es weiterer Überlegungen. Das wird etwa daran deutlich, dass die Bewegung der Migration gegenwärtig weitgehend nur in Modi der Viktimisierung fassbar zu sein scheint: es herrscht Konsens in Europa darüber, dass die MigrantInnen Opfer von Schleppern, Traffickern (vgl. Beitrag von Rutvica Andrijašević) oder den verschiedenen Pull- oder Push-Faktoren sind, Marionetten ihrer eigenen Projekte. Dieser Konsens reicht von der Europäischen Innenministerkonferenz über die humanitären Nichtregierungsorganisationen, die IOM und die Mainstream-Medien bis hin zu den kritischen und linken Flüchtlings- und MigrantInnenorganisationen und AktivistInnen. Die Opferfigur – in Gestalt der Schlepper jedoch als ihr Negativ: als kriminelle Täter – scheint die einzig evidente Subjektposition zu sein, in der die Migrationen verhandelt und repräsentiert werden können. Mit anderen Worten, die Wissensproduktion ist nicht unschuldig, sondern Teil eines Dispositivs, in dem Subjektpositionen generiert werden. Nun waren die Forschungsteams institutionell angesiedelt an universitären Institutionen wie dem Institut für europäische Ethnologie und Kulturanthropologie der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt am Main und dem Institut für Theorie der Gestaltung und Kunst an der Hochschule

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MOVEMENTS THAT MATTER. EINE EINLEITUNG

für Gestaltung und Kunst in Zürich. Nichtsdestotrotz war unsere Forschungsperspektive und damit der Modus der Wissensproduktion theoretisch und politisch der Bewegung der Migration verpflichtet, in die die ForscherInnen biografisch und/oder politisch eingeschrieben waren. Dies bedeutete nicht nur, die Machtwirkungen von Wissensproduktionen zu reflektieren, sondern auch den Mythos neutraler Wissenschaft zu hinterfragen. Was sich als „neutrale“ und wissenschaftliche Produktion von Wissen ausgibt, erweist sich oftmals – wenn auch nur auf der Ebene ihrer epistemologischen Struktur – als durchaus interessiert. Statistisches Wissen, etwa über illegale Grenzübertritte, mag den Falsifizierbarkeitskriterien positivistischen Wissenschaftsverständnisses gerecht werden, es schweigt aber über den „Nutzen“ eines solchen Wissens, das offenbar entlang der institutionellen Rationalität staatlicher Apparate ausgerichtet ist. Aus dieser Perspektive war und ist es also notwendig Partei zu ergreifen, will man, zugespitzt formuliert, nicht selbst „Kontrollwissen“ hervorbringen. Diesen Perspektivwechsel haben wir in forschungs- und theoriepolitischer Hinsicht ebenso wie auf dem Feld der repräsentationalen und Medienstrategien versucht weiterzuentwickeln: mit Projekten wie der MigMap (vgl. Beitrag von Peter Spillmann), der Ausstellung PROJEKT MIGRATION (vgl. Beitrag von Marion von Osten) oder der Sound-Performance Blok 70 (vgl. Beitrag von Dont Rhine), sowie den zwei Symposien transnational europe I (2004, University of Rethymnon, Kreta) und transnational europe II (2005, Kölnischer Kunstverein)5 oder der Frage nach einem radikalen Kosmopolitismus, mit dem sich die in den Migrationen praktizierte Imagination eines anderen Europas konzeptionell fassen ließe (vgl. Beitrag von Regina Römhild).

5 Die Beiträge internationaler ForscherInnen zu den beiden Symposien erscheinen 2007 in englischer Sprache.

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EUROPEANIZING TRANSNATIONALISM! PROVINCIALIZING EUROPE! – KONTUREN EINES NEUEN GRENZREGIMES Sabine Hess/Vassilis Tsianos

Transnationalisierung der Migrationsdebatte „Is there a european space for transnationalism?“ fragte Alisdaire Rogers vor einigen Jahren in seinem gleichlautenden Vortrag (2001). Um es kurz zu machen, natürlich ist darauf mit einem Ja zu antworten, betrachtet man allein die seit dem Ende des Kalten Krieges sich über ganz Europa spannenden Mobilitäten osteuropäischer KofferhändlerInnen, SaisonarbeiterInnen oder die Lebenspraktiken der ArbeitsmigrantInnen der ersten Stunde, die ihre Verbindungen zu ihren Herkunftskontexten zwar verändern, doch bis heute nicht aufgaben. Und doch bleibt ein kleines Nein bestehen. Denn die Anerkennung der Faktizität eines „european space for transnationalism“ ist das eine, das andere wäre es, auch ihren Implikationen für die Migrationsforschung nachzukommen. So scheint bislang weitgehend die forschungspolitische Antwort, nämlich die Migrationsforschung in Europa selbst zu transnationalisieren, auszubleiben. Dabei ist die Frage von Rogers auch dahingehend zu lesen, dass das Transnationalisierungsparadigma selbst zu lokalisieren und der europäische Kontext hinsichtlich seiner Strukturierungsfaktoren für Transnationalismen genauer zu betrachten ist. So beschränken sich die wenigen Transnationalisierungsstudien in Europa – wie die von Mirjana Morokvasić (1994) oder Norbert Cyrus (1997) – darauf, zwischen den Migrationsstrategien des Pendelns und den restriktiven Migrationspolitiken ein nicht weiter zu definierendes Wechselwirkungsverhältnis zu konstatieren. Die mobilen Migrationsstrategien bewerten die Studien als kreative Reaktion auf die Aussichtslosigkeit, ein reguläres Niederlassungsrecht zu erhalten. Gängigerweise war der Fokus der Transnationalisierungsforschungen bislang vornehmlich auf transnationale Praktiken und Netzwerke von Migrierenden gerichtet, die in den meisten Studien als „counter-hegemonic political space“ betrachtet werden (vgl. Appadurai 2000). In dieser Perspektive erscheint die Transnationalisierung als widerständige Antwort und zugleich nicht intendiertes Produkt einer restriktiven Migrationspolitik, die sie vorgeblich zu unterbinden versucht – und dabei allerdings scheitert (vgl. auch Rogers 2001, 15). Doch dieses Verständnis des kontrollpolitischen „Scheiterns“ verkennt die Produktivität der

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neuen Formen der Regierung der Migration innerhalb des Prozesses der europäischen Integration. Diese scheint gerade die flexible Anpassung der migrantischen Subjektivierungsweisen im Kontext der Grenzüberschreitungen zum Gegenstand ihrer Steuerung und nicht zur Zielscheibe ihrer Abschottung zu machen. Die Transnationalisierung der Migrationspolitiken, die als Antwort auf die zunehmende Transnationalisierung der „Praktiken der Migration“ selbst zu verstehen ist, erfordert auch eine Neuausrichtung des „transnational approach“ (vgl. Bash/Glick-Schiller/Szanton Blanc 1994). Angesichts der forcierten Etablierung einer supranationalen und vielfach multilateralen Migrationspolitik auf europäischer Ebene, die weit über den Kreis der Mitgliedsstaaten der EU hinausgeht, muss die transnationale Perspektive auch auf die politischen Akteure und ihre Praktiken angewendet und von einer Transnationalisierung, wenn nicht gar Globalisierung des Migrationsregimes in Europa gesprochen werden, das den Raum nationalstaatlicher Regulationen ergänzt, erweitert, ablöst, deterritorialisiert, und letztlich transformiert. Wenn wir für eine derartige Perspektiverweiterung der transnationalen Migrationsforschung plädieren, dann eingedenk der produktiven Verunsicherungen, die von den Beschreibungen transnationaler migrantischer Praktiken ausgehen. In diesem Sinne plädieren wir für eine transnationale Analyse der europäischen Migrationspolitiken, die die Bewegungen der Migration in ihren Mittelpunkt stellt und von ihnen ausgehend das Feld des Politischen erkundet. Dies hat einige forschungspraktische Konsequenzen. So war es auch für unseren Ansatz entscheidend, nicht an den Kategorien anzusetzen, die von den Ausländer- und Migrationsgesetzen vorgegeben sind, sondern umgekehrt Strategien in den Blick zu nehmen, die MigrantInnen im Umgang mit migrationspolitischen Kategorisierungen entwickelt haben. Unsere Forschung zeigt deutlich, dass die neuen MigrantInnen auf sehr mobile und multidirektionale Strategien zurückgreifen. Die hierüber entstehende Migrationslandschaft ist dann auch um einiges dezentrierter als klassische Vorstellungen von Migration als Einwanderung in das „reiche Zentrum“ suggerieren. Darüber hinaus wurde deutlich, dass MigrantInnen ihre Entscheidungen angesichts der Ausdehnung der Migrationspolitiken auf der EU-Ebene schon an den Rändern Europas treffen müssen. Aus diesem Grund sind wir den Spuren der Migration an die südost-europäische Peripherie gefolgt, wo sich in den letzten zwei Jahrzehnten wichtige Migrationsrouten etabliert haben. Damit sind die Länder dieser Region ins Visier jener Institutionen gerückt, die sich mit der Regulation und Kontrolle von Migrationsbewegungen im globalen und europäischen Rahmen beschäftigen. Die Forschung war dabei nicht nur deshalb in der Türkei, Griechenland und Serbien angesiedelt, weil einige ForscherInnen unserer Gruppe über gute Beziehungen in diese Länder verfügten, sondern auch weil diese Länder angesichts ihres unter-

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schiedlichen Integrationsgrads in die Europäische Union zugleich verschiedene Typen der „Kunst, die Migration zu regieren“ repräsentieren: Griechenland ist Mitglied der EU, die Türkei Beitrittskandidat und Serbien fällt unter den Stabilitäts- und Vereinigungsprozess. Ferner legte ein praxeologisches Verständnis politischer Prozesse nahe, die diversen nationalen und lokalen Akteure in die Analyse der Europäisierung der Migrationspolitik mit einzubeziehen. Sie sind es, die eine europäische Migrationspolitik in lokalen Aushandlungen und Umsetzungspraktiken gestalten. In diesem Sinne haben wir die Außengrenzen der Europäischen Union als Konflikt- und Interaktionszone in den Blick genommen, wobei wir die Praktiken der Migration sowie unterschiedliche lokale, regionale, nationale und europäische Akteure untersucht haben. Diese ethnografische Politikanalyse erlaubte uns, zwei zentrale Tendenzen herauszuarbeiten, von denen wir glauben, dass sie entscheidend für die Transformation des europäischen Grenz- und Migrationsregimes sind: Gouvernementalisierung und Exterritorialisierung. Während der Beitrag von Serhat Karakayalı und Sabine Hess, „New Governance oder Die imperiale Kunst des Regierens“, die Implementierungspolitiken der EU-Migrationspolitik in der Türkei als Fallbeispiel für Prozesse der Gouvernementalisierung liefert, wollen wir uns hier auf die Prozesse und politischen Praxen der Exterritorialisierung konzentrieren.

Europäisierung der Migrationspolitik Die höchst verzweigte Entstehungsgeschichte des neuen europäischen Grenzregimes, dem in und außerhalb von EU-Gremien über die letzten fünfzehn Jahre Gestalt gegeben wurde, wollen wir hier nicht im Einzelnen darstellen. Es wäre eine Aneinanderreihung von Treffen des EU-Ministerrats, der Kommission, von interministeriellen Tagungen und Konferenzen mit Polizeichefs, Exekutivbeamten und Wissenschaftlern, die sich mindestens jährlich dazu versammelten (vgl. Leuthardt 1999; Düvell 2002, siehe www.transitmigration.org/migmap, Karte zur Europäisierung). Vielmehr wollen wir hier einige herausragende Entwicklungslinien skizzieren, die die Konstruktion des europäischen Grenzregimes wesentlich kennzeichnen und es von seinen Vorläufern unterscheiden. Bevor wir jedoch ins Detail gehen, werden wir kurz unser theoretisches Verständnis des Europäisierungsprozesses der Migrationspolitik darlegen. Europäisierung revisited Unter Europäisierung der Migrationspolitik verstehen wir zwei unterschiedliche, jedoch miteinander verbundene Prozesse: zum einen eine grundlegende Transformation im Modus des Politischen, wobei die Supra-

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nationalisierung – was gängigerweise in der öffentlichen Debatte und der Europaforschung unter Europäisierung verstanden wird – nur einen Aspekt unter vielen ausmacht. Zum anderen verstehen wir darunter eine Transformation der Migrationspolitik, wie sie u.a. im Prozess der Exterritorialisierung zum Ausdruck kommt, was nicht nur als Effekt der politischen EUEuropäisierung, sondern vielmehr als generierendes Prinzip des EUIntegrationsprozesses zu interpretieren ist. Unter Europäisierung der Migrationspolitik wird in der öffentlichen Debatte wie in der wissenschaftlichen Europaforschung meist die „Harmonisierung“, also die politisch betriebene Angleichung der nationalstaatlichen Migrationspolitiken im Rahmen der EU, verstanden. Die Fortschreibung der nationalstaatlichen Politik auf multinationaler Ebene gilt dabei als eine Art Nullsummenspiel: Mehr EU heißt weniger nationalstaatliche Regulation. Wie wir in der Einleitung zu diesem Buch bereits andeuteten, stehen wir derartig funktionalistischen Ansätzen skeptisch gegenüber. Auch Ulrich Beck und Edgar Grande kritisieren das funktionalistische Schema und schlagen dagegen den Begriff des Nebenfolgen- bzw. Transformationsregimes vor. Unter dem Nebenfolgen- bzw. Transformationsregime verstehen die Autoren, dass „zwar der Prozess der Europäisierung“ – die „Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“, wie es im EU-Vertrag heißt – intendiert war, dass aber seine institutionellen und materiellen Folgen nichtintendiert waren. Wichtig ist ihnen vor allem, dass die einzelnen Integrationsschritte keinem Masterplan folgten, d.h. dass das Ziel bewusst offengelassen wurde. Europäisierung „findet statt“, „handelt“ geradezu in „institutionalisierter Improvisation“ (Beck/Grande 2004: 62). Seine Stärke bezieht der Ansatz durch die Fähigkeit, die Ebene der expansiven Transnationalisierung der Policy-Felder zu denken ohne gleichzeitig dem Realismus der gängigen Analyseansätze der Neorealismus-, Intergouvernamentalismus- oder Föderalismusschulen zu erliegen, die den Europäisierungsprozess als Nullsummenspiel konzipieren. Der Begriff der „Nebenfolge“ beinhaltet dagegen, dass es sich um ein „Positivspiel“ handelt. Denn der Prozess der transnationalen Souveränitätserweiterung ist mehr, er produziert mehr unintendierte Effekte auf allen und für alle politischen Ebenen als es der Begriff eines „nationalstaatlichen Souveränitätsverzichts“ zum Ausdruck bringt. Dabei entsteht das „Mehr“ gerade in der Kunst, die „Nebenfolgen“, die unintendierten Effekte des Prozesses, zu regieren. Hierbei entfaltet sich dann auch ein neuer Politiktypus und die Konturen neuer politischer Praxen werden erkennbar, die Beck und Grande insbesondere in Entwicklungen wie der „Entkopplung von Entscheidung und öffentlicher Kontroverse“ sehen. Sie schreiben: „Diese (zeitliche, örtliche und soziale) Entkopplung verweist einerseits die Akteure der demokratischen Mitsprache und Kontrolle ins präventive Post-hoc; anderseits wird dadurch die die sogenannte „Eigendynamik“ des Europäisierungsprozesses in direkter Exekutivkooperation zwi-

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schen Regierungen und europäischen Instanzen politisch hergestellt und implementiert.“ (Ebd., 64) Das Weißbuch über Europäisches Regieren von 2001 (Kommission 25.7.2001), das von der Debatte um die Europäische Verfassung stark in den Hintergrund gedrängt und deshalb kaum in einer breiteren Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wurde, liest sich wie das Drehbuch hierzu (vgl. http://europa.eu.int/comm/governance/governanceeu.htm). Es fordert die strategische Partizipation der Zivilgesellschaft, die stärkere Nutzung von „Experten-Wissen“, die dezentralisierte Durchführung von Maßnahmen mittels „Agenturen“, eine „multi-level governance“, um nationale, regionale und lokale Akteure stärker in die EU-Politiken mit einzubeziehen. Wie unsere Forschungen in der Türkei, in Griechenland und auf dem Balkan zeigen, sind in der Tat neben der EU-Kommission und den Mitgliedsstaaten eine Reihe informeller Gremien und zwischen- sowie nichtstaatlicher Institutionen zu wichtigen Akteuren der Europäisierungspolitik geworden. Auf einige davon, wie den UNHCR, den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, oder die IOM, die Internationale Organisation für Migration, werden wir im weiteren zu sprechen kommen. Die Grenzen des Ansatzes von Beck und Grande liegen allerdings dort, wo die Dynamiken der transnationalen europäischen Souveränität auf die Begrenzungen der Mobilität prallen oder, um mit Foucault zu sprechen, dort, wo die „politische Effizienz der Souveränität an eine räumliche Aufteilung anschließt“ (Foucault 2004, 32). So lässt sich zeigen, dass bereits das zentrale, den Europäisierungsprozess anleitende postnationale Projekt, nämlich die Konstitution des gemeinsamen Binnenmarkts mit interner Freizügigkeit auf mehrfache Begrenzungen stößt und der so genannte Binnenraum mehrfach räumlich segmentiert ist. Die Aussetzung der Arbeitnehmer-Freizügigkeit für die neuen osteuropäischen Mitgliedsstaaten für sieben Jahre nach ihren Beitritt ist nur ein Beispiel, allerdings ein überdeutliches. Der räumlichen Segmentierung korrespondiert eine fragmentierte Bürgerschaft, die nicht nur unterschiedliche Mobilitäts-, sondern auch unterschiedliche politische, soziale und ökonomische Rechtsstandards produziert. Die europäischen Migrationspolitiken operieren gänzlich auf einem Regulationsfeld, in dem die Souveränität deterritorialisiert und im Falle der irregulären Migration jenseits der Bürgerschaft hergestellt wird (vgl. Balibar 2003). Sehr deutlich lässt sich dieser Widerspruch zwischen postnationaler Zielsetzung und realpolitischer Regulation an den von der EU-Kommission als „Meilenstein im europäischen Integrationsprozess“ bezeichneten Beschlüssen von Tampere demonstrieren: Der EU-Gipfel in Tampere im Oktober 1999 sollte primär einer europäischen Migrationspolitik und der Schaffung eines europäischen Rechtsraums neue Impulse geben, wie er dann auch im gleichen Jahr als europäischer „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ in den Amsterdamer Vertrag einging. Betont wurde, dass einerseits ein künftiges gemeinsames Asylsystem auf der „uneingeschränkten und

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allumfassenden“ Anwendung der Genfer Konvention beruhen solle, anderseits wurde eine weitgehende Harmonisierung der „Wohn-, Bildungs- und Arbeitsrechte“ der „langfristig in der EU ansässigen Drittstaatsangehörigen“ verabredet (EU-Kommission 2000). Beides wurde bisher nur eingeschränkt eingelöst. So konnte bis heute keine Einigung über die Herstellung eines EU-Asylsystems mit einer entsprechenden Anpassung aller nationalen Regelungen herbeigeführt werden. Auch die proklamierte Rechtsharmonisierung für die „Drittstaatsangehörigen“ musste ein Jahr auf die Verabschiedung der „Charta der Grundrechte der EU“ in Nizza warten, die mit einer entscheidenden Präzisierung versehen wurde: Gemeint waren nur „legal in der EU lebende Drittstaatsangehörige“ (Amtsblatt, 2000). Unter Europäisierung verstehen wir daher auch den Prozess der Ausdehnung der europäischen Migrationspolitik weit über das formale Territorium der Europäischen Union hinaus, sei es durch nationale Strategien einzelner Länder oder der EU (siehe den Beitrag von Serhat Karakayalı und Sabine Hess in diesem Band). Hierbei wird deutlich, dass gerade die Migrationspolitik und letztlich die Bewegung der Migration selbst als ein wesentlicher Motor des EU-Erweiterungsprozesses zu begreifen sind, wie wir im Folgenden näher ausführen werden. Schengener Prozess Zum zentralen, offiziellen Instrument der Vereinheitlichungs- und Erweiterungspolitik wurde das Schengener Vertragswerk. Dabei ist die Geschichte des Schengener Abkommens höchst exemplarisch für den Modus der Europäisierung der Migrationspolitik im Allgemeinen. Es geht auf eine informelle Runde von fünf Regierungschefs zurück, die sich 1985 in dem belgischen Städtchen Schengen trafen, um Maßnahmen zur Vereinheitlichung des Binnenmarkts und insbesondere zum Abbau von Grenzkontrollen im Innern zu besprechen. Dabei hielten die fünf Gründerstaaten Deutschland, Frankreich, Belgien, die Niederlande und Luxemburg es für geboten, kompensatorische Maßnahmen für den Wegfall der nationalen Grenzkontrollen zu ergreifen und erfanden die „europäische Außengrenze“ (vgl. Walters 2002). Die Vorverlagerung der Kontrollen ist jedoch nur ein Baustein der hierdurch eingeleiteten Restrukturierungspolitik von Grenzkontrollen. Schengen brachte auch eine Ausweitung von Grenzzonen im Innern mit sich. So wurden immer mehr inländische Räume wie Bahnhöfe oder Bundesstraßen zu „Grenzräumen“ umdefiniert. Neben der Kompensationslogik im Rahmen des Binnenmarkt-Projekts bestimmte von Anfang an auch der Sicherheitsaspekt die Europäisierung der Migrationspolitik. So begannen in den 1980er Jahren die ersten EUweiten Zusammenschlüsse wie die TREVI-Gruppe – eine informell unter höchster Verschwiegenheit tagende Runde aus Polizeichefs und hohen

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Beamten der Innenministerien – eine europäische Migrationspolitik in engem Zusammenhang mit einer Politik gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität zu formulieren. Diese Sicherheitsmatrix stellt auch für den Schengener Prozess ein leitendes Dispositiv dar, das einfach und schnell popularisierbar ist. Es hilft vor allem dabei, Migration in Begriffen der organisierten Kriminalität zu rekodieren. Ein Paradebeispiel dafür ist der Anti-Trafficking-Diskurs, mit dem die Bewegungen der Migration als böse Schlepper und Schleuser einerseits und deren arme Opfer andererseits aufgefasst werden. Mit dem 11. September hat das Sicherheitsdispositiv einen erneuten Schub erfahren und explizit Fragen der Migrationskontrolle mit dem militärischen Komplex verknüpft. Auch die neue EU-Sicherheits- und Militärpolitik bekam eine deutliche migrationspolitische Komponente. Dabei zeigen die Kriege im Kosovo, in Afghanistan oder im Irak zum Einen, wie eine Anti-Migrationspolitik als Instrument auch auf militärische Interventionen zurückgreift. Zum anderen zeigen sie, dass die neuen Krieger ihre Flüchtlings-Schutz-Truppen selbst im Gefolge haben und Migrationscontainment Teil der Militärstrategie wurde. So gilt die Lagerpolitik während des Kosovokrieges vielen als Vorbild für die Exterritorialisierung und Regionalisierung der Migrationspolitik der letzten Jahre (vgl. Dietrich/ Glöde 2000). Doch erst mit dem Vertrag von Amsterdam im Jahre 1999 wurde das bislang multilaterale Schengener Abkommen Teil der offiziellen EU-Politik (vgl. Leuthardt 1999), wobei „Schengenland“ mit seinem „Schengenvisum“ nach wie vor einen eigenen Rechtsraum darstellt, dem Großbritannien und Irland nicht angehören, im Unterschied zu Nicht-EU-Ländern wie Norwegen, Island und der Schweiz. Vereinfacht gesagt sieht das Schengener Abkommen drei Punkte vor: die Einreisekontrollen an die Außengrenzen zu verlegen, die Visaregelungen, Einreisebestimmungen und die Asylpolitik anzugleichen und gemeinsame Maßnahmen gegen illegale Einwanderung und grenzüberschreitende organisierte Kriminalität zu treffen. Mindestens fünf EU- Institutionen sind bisher daraus hervorgegangen: Europol als europäische Polizei, das Schengener Informationssystem (SIS) zum europäisierten Datenabgleich, das Center for Information, Discussion and Exchange on the Crossings of Frontiers and Immigration (CIREFI), das ein Frühwarnsystem über globale Migrationsbewegungen organisiert sowie die External Borders Practitioners Common Unit, der mittlerweile die Grenzschutz-Agentur FRONTEX zur Seite gestellt wurde. Nachdem sich die konkrete operative Zusammenarbeit als schwierig erweist, sollen die beide letzteren Einrichtungen die Kooperation sowie den Informationsaustausch zwischen den involvierten nationalstaatlichen Behörden besser koordinieren und sie durch Schulungsprogramme und gemeinsame Projekte dabei unterstützen, die Maßnahmen der EU (besser und schneller) zu implementieren. Zur Finanzierung der Maßnahmen wurde ein „Aktions-

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programm zur Verwaltungszusammenarbeit im Bereich Asyl, Einwanderung, Außengrenzen und Visapolitik“ namens ARGO aufgesetzt. Auch wenn die neue Migrations- und Grenzkontrollpolitik einen Informatisierungs- und Vernetzungsschub der Administrationen, verschiedener nationalstaatlicher Behörden und Exekutivorgane bedeutet, ist das Bild eines informationstechnologischen Repressionsapparates doch fern der Realität – zumindest noch (Koslowsky 2002). Dass der Informationsaustausch und die operative Kooperation trotz der diversen Informationssysteme und Zentren immer noch defizitär sind – nicht zuletzt aufgrund der nationalstaatlichen Inkompatibilitäten –, zeigen die immer wiederkehrenden Appelle in Kommissionstexten, jene zu intensivieren. So kommt eine Studie der Kommission über illegale Migration aus dem Jahre 2004 zu dem Ergebnis, dass ein Mangel an zuverlässigen und vergleichbaren Daten vorliegt, welcher eine vergemeinschaftete Politikstrategie eigentlich unmöglich macht (Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament: „Studie über die Zusammenhänge zwischen legaler und illegaler Migration“, 4.6.2004). Auch mussten die Regierungschefs auf ihrer Ratstagung 2004 in Brüssel eingestehen, das Ziel der Vergemeinschaftung, wie in Tampere beschlossen, nicht erreicht zu haben, wie etwa die Migrationspolitik aus dem Zuständigkeitsbereich der Mitgliedsstaaten in die volle Hoheit der Kommission zu überführen. Als neue Deadline wurde das Jahr 2010 genannt (vgl. FR 6.11.2004). Angesichts dieser Schwerfälligkeiten haben vor allem auf zwischenstaatlicher Ebene beschlossene Maßnahmen die Europäisierung der Migrationspolitik vorangetrieben. Dazu gehören etwa die von Deutschland auf EUEbene durchgesetzte Drittstaatenregelung und die Rechtskonstruktion „sichere Herkunftsländer“ für Flüchtlinge (von 1993), verschärfte Visumsbestimmungen, Sanktionen gegen Beförderungsunternehmen, womit Flughäfen und Flugunternehmen Grenzschützerfunktionen übertragen bekommen, oder die Einrichtung so genannter Rückübernahmeabkommen (Angenendt/Kruse 2003). Dennoch ist das Schengener Vertragswerk als äußerst produktives Element der Europäisierung der Migrationspolitik zu betrachten, da es mit der Aufnahme in den Amsterdamer Vertrag auch Teil des acquis communitaire wurde, den die Beitrittskandidaten zur Europäischen Union zu erfüllen haben. Dadurch wurde die Übernahme des Schengen-Acquis mit anderen Politikfeldern und finanziellen Programmen junktimiert, so dass die Nichterfüllung weitreichende Folgen für die Kandidatenländer haben kann. Die Exterritorialisierungspolitik greift jedoch weit über den Kreis der Beitrittsländer zur Europäischen Union aus. So sind Maßnahmen wie Ausrüstungshilfe und die Vermittlung von Know-how der Migrationskontrolle nicht auf den Kreis der EU-Beitrittskandidaten beschränkt, sondern Teil von EURegionalabkommen wie dem Stabilitätspakt für die Balkan-Länder, dem

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MEDA-Programm für den Mittelmeerraum oder dem Phare-Programm für die mittelosteuropäischen Staaten. Bei beiden letzteren handelt es sich um EU-Programme „zur technischen und infrastrukturellen Zusammenarbeit“, die seit neuerem auch polizeiliche und Grenzkontrollaufgaben beinhalten (vgl. http://europa.eu.int/comm/external_relations/euromed/). Neben der supranationalen Ebene mit dem Kernelement SchengenAcquis erfolgte die Ausdehnung der EU-Migrationspolitik auch über bilaterale Abkommen, wobei Deutschland vor allem gegenüber den osteuropäischen Ländern eine Vorreiterrolle innehat. Diese beinhalten neben der „Beratung“ die technische, administrative und Ausbildungshilfe zum Ausbau der Grenzsicherung, den Informationsaustausch wie die Entsendung von Verbindungsbeamten, die vor Ort auch operativ tätig werden können (Holzberger 2003). Deutschland ist neben Finnland darüber hinaus „country of best practice“ in der Ausländer- und Asylpolitik, verfügt also in EU-Sprache über das „beste Anwendungsverfahren“. Deutschland muss gar nicht mehr selbst in den sogenannten „Angleichungsprozessen“ auftreten, um die Übernahme seiner institutionellen Praktiken gewährleistet zu sehen. So sollen auf die nachdrücklichen Beratungen durch die Außenstelle der Europäischen Kommission für Erweiterung hin die migrationspolitischen Institutionen in der Türkei nach dem Vorbild des Bundesamtes zur Anerkennung ausländischer Flüchtlinge sowie des Bundesgrenzschutzes errichtet werden. Ähnliches wird seitens der mediterranen Länder der EU, wie Spanien und Italien, für den „Vorbildcharakter“ der griechischen Grenzkontrollpolitik konstatiert (Baldwin-Edwards 2004). Unter dem Strich betrachtet lässt sich feststellen, dass die europäisierte Migrationspolitik mittlerweile bis nach China oder in den Senegal reicht – unter anderem durch die Ausweitung und sprichwörtliche Exterritorialisierung des Lagerregimes. Globalisierung des Migrationsregimes Doch nicht nur die EU versucht sich als globale Steuerungsmacht in Sachen Migration zu profilieren, sondern auch die USA. So drohten sie der Türkei, Russland und Griechenland in ihrem Trafficking-Bericht von 2002 mit Sanktionen, sollten sie nicht restriktivere Migrationspolitiken entwickeln. Und auch die NATO ist auf diesem Feld aktiv. So zeichnet sich seit 2003 eine neue Arbeitsteilung zwischen der griechischen Marinepolizei, den italienischen NATO-Verbindungsbeamten und der Führung der NATO-Basis auf Kreta ab. Da offensichtlich die internationalen Gewässer entlang der südkretischen Küsten keine operativen Kontrollräume von Schengen sind, dafür aber unter den Observationsbereich der NATO fallen und gleichzeitig als Passage nach Italien gelten, fungiert die griechische Marinepolizei als Vollstreckungsorgan des NATO-Liaisonoffiziers. Das Bündnis wiederum

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bekommt von der kretischen NATO-Basis Informationen über verdächtige Frachter aus Ägypten oder dem Libanon. Im Bereich der Anti-TraffickingPolitik sind die imperialen Konturen dieser Arbeitsteilung in Griechenland als im fortgeschrittenen Stadium zu charakterisieren (Panagiotidis/ Tsianos 2004). Obwohl Griechenland im Jahre 1998 das Europol-Protokoll zur Bekämpfung des Menschenhandels ratifizierte und damit offiziell eine Zusammenarbeit auf EU-Ebene begann, entwickelte es erst auf Druck von USA und NATO unter diskursiver Schützenhilfe der IOM einen eigenen Regulationskomplex zu diesem Bereich. Dieser trug eindeutige Signaturen der NATO-Präsenz im Kosovo und wurde parallel zur EU-Direktive „implementiert“. Leitend war hierbei die Gruppe mit dem Kürzel SECI. SECI ist eine transnationale Organisation mit Sitz in Bukarest, die im Jahre 2000 auf Initiative und mit Finanzierung durch NATO und FBI gegründet worden war. Im gleichen Zeitraum sorgte auch die Veröffentlichung des State-Department-Reports zu Trafficking für Aufruhr in der damaligen Regierung. Wurde Griechenland doch damit auf die schwarze Liste derjenigen Länder gesetzt, deren Engagement gegen Trafficking als unzureichend qualifiziert wurde. Interessanterweise nahm der Bericht den strengen Grenzschutz –zentraler Bestandteil des Schengener Abkommens – lakonisch zur Kenntnis, rügte aber die mangelnde Finanzierung der IOM durch Griechenland (http://www.state.gov/g/tip/rls/tiprpt/2004/33186.htm). Ein Jahr danach wurde ein Gesetz gegen Trafficking verabschiedet und eine umfassende Transformation der operativen Schwerpunktsetzung innerhalb der Aufgabenbereiche der griechischen Polizeiführung veranlasst.

Migrationsmanagement: Exterritorialisierung im Gewand des neuen Humanitarismus „People Flow. Managing Migration in a New European Commonwealth“ lautet eines von zahlreichen Positionspapieren von der EU nahestehenden Think Thanks wie des britischen DEMOS oder des European Policy Centre (EPC) unter der Leitung von Theo Veenkamp, welcher zugleich „Head of Strategy“ des niederländischen Innenministeriums ist. Während People Flow nach einem Slogan der antirassistischen Linken in Europa klingt, lassen sich zentrale Elemente des visionären Papiers in neueren politischen Empfehlungen der britischen Regierung zur Exterritorialisierung von Lagern wiederfinden. Dabei gehen die Positionspapiere längst von einer Unkontrollierbarkeit der Migration aus. Sie konstatieren nicht nur, ganz auf der Höhe der wissenschaftlichen Migrationsforschung, den „subjektiven Faktor“, sondern sprechen auch von der Notwendigkeit eines pragmatischen Umgangs mit dem „humanitären Dilemma“, das darin bestehe, gemäß der binären Zweiteilung des migrationspolitischen Kategoriensystems die „wahren Flücht-

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linge“ von den „eigentlichen“ MigrantInnen zu trennen. Vor allem gelte es aber, die Dynamik der Migration – den „autonomous migration drive“ – zu verstehen. Die Volte dieser neoliberalen Management-Logik besteht nun darin, zu fordern, diese „umzulenken“, um in konstruktiver Weise die Migrationsströme für die Zielländer ökonomisch nutzen zu können. People Flow schlägt hierfür vor, ein Netz so genannter „European Union mobility service points“ in den Ländern südlich des Mittelmeers zu errichten. Diese Service Points sollen für MigrantInnen und AsylbewerberInnen, die nach Europa wollen, im Sinne von internationalen Arbeitsagenturen zu Anlaufstellen auf den Transitstrecken werden. EU-Beamten fiele dabei die Aufgabe zu, die Migrationswege „umzulenken“, um sie in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen der Zielländer und der globalen Migrationssteuerung zu bringen. Weiter schlagen die Autoren vor, dass Asylanträge und die daraus resultierende Gewährung von Schutz zur Aufgabe „offener“ Einrichtungen werde, die ebenfalls außerhalb Europas liegen. Die so gewährte Hilfe könne, so der Vorschlag, durch Arbeitsleistungen der MigrantenInnen und AsylbewerberInnen abgegolten werden oder sei durch niedrigverzinste Darlehen zu finanzieren, die nach Ankunft abzuzahlen seien. Unter dem Strich formuliert People Flow ein globalisiertes, vollständig in die Herkunftsregionen der Migration vorverlagertes Einwanderungssystem. Binnen der letzten vier Jahre wurde diese migrationspolitische Programmatik zur neuen Maxime der EU-Migrationspolitik, wobei die Neuausrichtung ihre Dynamik aus einzelnen medial aufgemachten „humanitären Katastrophen“ zu beziehen scheint. Während die offiziellen Entscheidungsstrukturen der Europäischen Union sich als schwerfällig erweisen und bis heute die in Tampere verabschiedeten Vergemeinschaftungsziele nicht erreicht wurden, scheint die Ad-hoc-Politik äußerst produktiv zu sein. Dieser Modus bedient sich eines Mechanismus der Umkehrung in der medialen Verarbeitung: Die Kraft der Bewegung der Migration wird von der Wucht der Bilder in der öffentlichen Wahrnehmung in eine Opfererzählung rekodiert. Dennoch ist festzustellen, dass es in den letzten Jahren letztlich die dynamischen Momente der Bewegung der Migration sind, an die die Politik anschließt. So hatte die britische Regierung bereits 2003 die so genannte „heimatnahe“ Errichtung von sogenannten Regional Protection Zones (regionalen Schutzzonen) bzw. Transit Processing Centres angeregt, in denen sowohl MigrantInnen im Transit als auch aus der EU zurückgeschobene Flüchtlinge festgehalten werden sollten. Zunächst kritisierten jedoch einzelne Mitgliedsstaaten (wie Deutschland) den Vorstoß Großbritanniens. Die EU-Kommission dagegen gab auf dem Gipfeltreffen in Thessaloniki 2003 die Parole aus, „to bring safe havens closer to the people“. Die öffentlich breit inszenierte Kritik an der gescheiterten Rettungsaktion der Cap Anamur von schiffbrüchigen MigrantInnen im Mittelmeer im

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Sommer 2004 dynamisierte jedoch die Debatte und verhalf ihr schließlich zum Durchbruch, da sie es schaffte, einen breiten liberalen Konsens herzustellen. So griffen der damalige bundesdeutsche Innenminister Otto Schily und sein italienischer Kollege unter dem Eindruck der gesteigerten öffentlichen Aufmerksamkeit für das Thema die Idee wieder auf. Dabei vermochte das Duo die Exterritorialisierung von Lagern als humanitär gebotene Reaktion auf die teils tödlichen Auswirkungen der zunehmenden Militarisierung der Grenzen darzustellen und inszenierte die Initiative als Empörung „über die große Zahl derer, die sich in oft seeuntüchtigen Booten auf den Weg nach Europa machen und dabei Leib und Leben riskieren“ (Pressemitteilung des Bundesinnenministeriums anlässlich des Treffens Schilys mit Pisanu in Lucca/Toskana, 12. August 2004). Dabei zeigt sich die Produktivität dieses Politikstils der humanitären Skandalisierung darin, dass der politische Vorstoß sofort die Zustimmung der ehemaligen Ausländerbeauftragten Barbara John (CDU) oder des Vorsitzenden des Roten Kreuzes fand, während Wolfgang Schäuble (CDU) sich gegen „Internierungslager in der Sahara“ aussprach. Österreich folgte dem Beispiel und forderte die Einrichtung von Lagern für Tschetschenien-Flüchtlinge in der Ukraine. An der Debatte partizipierte auch der UNHCR mit einem eigenen Konzept der Auslagerung, welches sich letztlich nur dadurch unterschied, dass er die Errichtung von Lagern innerhalb der EU-Grenzen in den neuen Mitgliedsstaaten forderte. Ferner mischte die IOM in dieser Debatte mit, die bereits auf der kleinen Pazifikinsel Nauru ein exterritoriales Lager für Australien organisiert. Herkunftsnahe Lager existieren allerdings seit einiger Zeit, so etwa ein mit italienischen Geldern errichtetes Lager in Tunesien, die nordirakische Schutzzone oder die Lager im Kontext des Kosovokrieges. Auch in den zwei darauf folgenden Jahren stand die südeuropäische Grenze und das Mittelmeer im Fokus der MigrationspolitikerInnen und der liberalen Öffentlichkeit. Im Sommer 2005 waren es die Bilder vom Ansturm hunderter afrikanischer MigrantInnen auf die Grenzzäune der spanischen Enklaven Ceuta und Melilla in Marokko, mit denen sich die Migration ihren Weg in die internationalen Medien bahnte. Die Bilder waren kaum verblasst, als die internationalen Kameras 2006 Bilder überfüllter kleiner Holzboote einfingen, die täglich an den Küsten der kanarischen Inseln anlanden. Nachdem die Kontrollen der Straße von Gibraltar in Folge der Ereignisse in Marokko verstärkt wurden, ist die afrikanische Migration auf immer entlegenere Küstenstrecken und damit weitere Wege angewiesen. Und wieder wiederholt sich der Mix aus humanitärer Bestürzung ob der menschlichen Tragödien, die jedoch übertönt wird von Schreckensszenarien und darauf folgendem Aktionismus der EU-Minister. Und wie im Falle der Ereignisse in den Jahren davor wird das Narrativ des neuen Humanitarismus angestrengt, welches fordert, die Migration abzu-

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halten, um menschlichen Tragödien zu vermeiden. Die Logik des neuen Humanitarismus beinhaltet darüber hinaus einen Imperativ zum Aktionismus – einem Notstandsregime gleich –, der es den europäischen Grenzregime-Strategen ermöglicht, Veränderungen durchzusetzen und Gesetze zu umgehen, die in „Friedenszeiten“ nicht möglich waren. So müssen die Ereignisse nicht nur herhalten, um die Transitländer und schließlich weite Teile des afrikanischen Kontinents an das EU Grenzregime anzubinden. So saßen afrikanische Transit- und Herkunftsländer mit der EU und den großen nicht-staatlichen Akteuren des Migrationsmanagements wie der IOM im Juni 2006 in Marokko um einen Tisch, um herkunftsnahe Kontrollen zu verabreden. Auch helfen die moralpanischen Kampagnen, große Geldsummen für neue Grenzkontroll-Projekte zu mobilisieren: So gelang es der EU-Kommission unter dem Eindruck von 9000 auf den kanarischen Inseln gestrandeten MigrantInnen, die Finanzierung eines mehrere Milliarden Euro schweren Überwachungspakets zu finanzieren, das etwa die Umrüstung von militärischen Drohnen zur Grenzsicherung beinhaltet. Auch die lange umstrittene EU-Grenzschutz-Agentur Frontex, die letztes Jahr in Warschau ihre Arbeit aufnahm, kann nun ihren Nutzen unter Beweis stellen und die Unterstützung der EU-Mitgliedsstaaten für die spanische Regierung koordinieren. Auf einer Konferenz zum Thema, die 2006 in Ungarn stattfand – der 14. International Border Control Conference, an der über 40 Länder aus Europa, Asien und Afrika teilnahmen – verabredeten acht EU-Staaten, eine gemeinsame Patrouille mit fünf Kriegsschiffen und Helikoptern vor die westafrikanische Küste zu schicken. Falls diese gemeinsame Grenzschutztruppe erfolgreich ist, soll sie an andere Brennpunkte der Migration geschickt werden, womit am Europäischen Parlament vorbei eine gemeinsame Grenzschutz-Truppe sich formiert hätte, die noch vor drei Jahren abgelehnt wurde. Allerdings sind diese jüngsten Aktionen der EU in Sachen Vorverlagerung der Migrationskontrollen bereits im Den Haager Programm angelegt, das die Ministerpräsidenten 2004 nach einer Evaluierung der in Tampere fünf Jahre zuvor ausgerufenen Programmatik verabschiedeten. Während sie konstatieren mussten, die Zielsetzungen von Tampere bezüglich der Vergemeinschaftung der Migrationspolitik nicht erreicht zu haben, proklamierten sie nun, in eine neue Phase der Asyl- und Einwanderungspolitik einzutreten. Dabei geht auch diese neue Programmatik von der Einsicht aus, dass es „internationale Wanderungsbewegungen auch weiterhin geben“ wird. Um sich dieser Realität zu stellen, sei eine „umfassende“ und pragmatische Herangehensweise erforderlich. Vor allem müsse man sich um die „externe Dimension von Asyl und Zuwanderung“ kümmern. In Pilotprojekten sollen regionale Schutzzonen in Drittländern geschaffen werden, und zwar – gemäß der EU Diktion – in „Partnerschaft“ mit den Behörden der betreffenden Länder und in enger

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Zusammenarbeit mit dem UNHCR.1 Marokko scheint ein derartiges Pilotprojekt darzustellen. Die neue „integrierte Migrations- und Grenzmanagementpolitik“ formuliert weitere, positiv klingende Strategien, um Migrationssteuerung im globalen Maßstab zu betreiben. Neben der „partnerschaftlichen Zusammenarbeit“ mit den Herkunftsländern soll die „Bekämpfung von Flucht- und Migrationsursachen“ prioritär betrieben werden. Migrationspolitik wird ferner zur Querschnittsaufgabe gemacht und gehört zur Definition von „good governance“. So ist die Entwicklungshilfe längst in den Dienst des Migrationsmanagements gestellt worden: Während die Übernahme migrationspolitischer Maßnahmen mit der Gewährung von Entwicklungsgeldern belohnt wird, wird die Nicht-Erfüllung durch deren Entzug bestraft. So drohte Blair der Türkei erst unlängst Sanktionen an, d. h. die Einbehaltung von Kredittranchen, sollte sie nicht schärfer gegen Menschenschmuggel und Grenzübertritte vorgehen. Zusätzlich werden die traditionellen Auswanderungsländer mit Einwanderungsquoten geködert (Morice 2004).

Zur Produktivität des Grenzregimes: Transnationalisierung Die Externalisierung der Migrationsteuerung in Marokko, Mauretanien oder Libyen konstituiert einen heterogenen und hierarchisierten Zirkulationsraum abgestufter Souveränitätszonen, d.h. „Räume der Steuerung, der Zulassung, der Sicherstellung und Regierung der Zirkulation“ (Foucault 2004, 52 ff.), die nicht nach dem nationalstaatlichen Prinzip der Territorialität regiert werden (homogene Räume gleichen Rechts). Es wäre jedoch falsch, den Prozess der Vorverlagerung der Grenzkontrollen allein als souveränen Akt einer Kompetenz- und Machtausweitung zu verstehen, die die Staaten aufgrund eines abstrakten Kontroll- und Herrschaftsanspruchs vornehmen. Vielmehr ist die Transformation von Souveränität selbst als Effekt der globalen Bewegung der Migration zu denken, die die Grundlagen, auf denen Souveränität bislang funktionierte, tendenziell unterlaufen. Die EU-europäischen Migrationspolitiken haben mit einer Autonomie der Migration zu rechnen, die gelernt hat, mit ihnen umzugehen, ihnen auszuweichen und sie ins Leere laufen zu lassen. Deshalb spricht auch die EU nicht mehr die Sprache der Abschottung, sondern des Migrationsmanagements. Auch die Politik der Erweiterung und der Vorverlagerung der Grenzkontrollen lässt sich als eine Reaktion auf diese Selbstbehauptungskräfte der Migration lesen. Sie bremst den einen oder anderen an den Rändern und in den Pufferzonen ab, sie verlängert Wege und „leitet“ Teile der Migration um. So trägt die Erweiter1 Vgl. Tagung des Europäischen Rates (Brüssel, 4./5. November 2004), Schlussfolgerungen des Vorsitzes – 14292/04, Anlage I: Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union.

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ungspolitik der Migrationskontrollen dazu bei, dass die Ränder der Europäischen Union zum Hotspot des Migrationsgeschehens werden. Dies konfrontiert klassische Transitländer wie die Türkei oder die Länder des ehemaligen Jugoslawien zunehmend damit, dass sie zur Endstation für Migrierende auf ihrem Weg nach Nord- und Westeuropa werden. Darin wird nicht nur ihr Funktionswandel von Ausreise- über Transit- zu Immigrationsländern deutlich, sondern auch die „Produktivität“ des europäischen Migrations- und Grenzregimes. Je schwieriger die Migration nach Nord- oder Westeuropa wird, desto mehr werden die Süd-, Südost- und osteuropäischen Länder zu attraktiven Einwanderungsländern. Dabei demonstrieren die Strategien der MigrantInnen, dass der migrationspolitische Mythos der Kontrolle der Migration dem Realitätscheck nicht standhält. Nicht nur zeigen viele Migrationsverläufe, wie pragmatisch verschiedene Migrationsmöglichkeiten probiert werden. Darüber hinaus kursiert in den Netzwerken der Migration das Wissen, wo und wie der Transit und die Einwanderung am besten zu bewerkstelligen seien. In diesem Sinne haben sich jenseits der Zentrums-Peripherie-Struktur semiperiphere- und periphere Migrationsrouten entwickelt, die beispielsweise die türkische Textilindustrie mit russischen, osteuropäischen, aber auch nordafrikanischen Konsummärkten aufs Engste verbinden und zwischen Kreta und Städten in Indien ein kleines Migrationsregime entstehen lassen. Dadurch verschiebt sich die Migrationsgeografie Europas im Verhältnis zur Situation vor 1990. Offenbar wird diese Veränderung in den nordwestlichen Ländern mit ihren Überflutungsdiskursen noch nicht realisiert. Diese Migration scheint Voraussetzung und Motor für eine spezifische periphere Globalisierung der Ökonomien an den europäischen Rändern zu sein (vgl. Öncü/ Karamustafa 1999). Die Überlebensstrategien bergen für die meisten MigrantInnen jedoch immense Kosten: Denn ihre Arbeitskraft wird als illegalisierte und dadurch noch billigere als die einheimische nachgefragt. Doch auch auf die Migrationsordnung in den nordwesteuropäischen Ländern wie Deutschland hat das europäische Grenzregime direkte Auswirkungen. Sie besteht darin, dass das Gros der MigrantInnen durch den ersten Grenzübertritt auf undokumentierte Wege und in die Illegalität abgedrängt wird. Auch hier basieren ganze Wirtschaftssektoren auf der Verfügbarkeit illegalisierter Arbeitskraft, etwa im Bau-, Agrar-, oder Dienstleistungssektor. Vor allem Sex- und Hausarbeit sind europaweit zwei wichtige Beschäftigungssektoren von Migrantinnen. Mobile transnationale Migrations- und Haushaltsstrategien scheinen hierauf die Antwort darzustellen, wie Sabine Hess (2003) am Beispiel osteuropäischer PendelmigrantInnen nach Nordwesteuropa oder Rubah Salih für maghrebinische Migrantinnen nach Italien zeigen können. Die Unsicherheiten und Diskriminierungspraktiken im Migrationskontext – vor allem in der Illegalität – lassen es MigrantInnen ratsam erscheinen, ihre Lebenskontexte im Herkunftsland nicht aufzugeben, sie vielmehr mit den

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Migrationsgeldern aufrecht zu halten, wenn nicht sogar auszubauen. Auch verweisen die migrationspolitischen Restriktionen MigrantInnen zurück auf ihre Netzwerke als einziges sozial-ökonomisches Kapital. In diesem Sinne produziert das europäische Grenzregime gerade jene grenzunterwandernden, subversiven Praktiken mit, die es vorgibt unterbinden zu wollen. Die Frage ist nur, zu welchem Preis, denn der wird mit fortschreitender Entrechtung immer höher. Daher tritt in den transnationalen Migrationsstrategien zwar die Wirkungsmacht der Autonomie der Migration gegenüber den Steuerungsansätzen hervor, doch ist sie erst im Kontext der postfordistischen Restrukturierung des globalen Arbeitsmarktes für „undokumentierte Arbeitskräfte“ zu verstehen. Denn im Gegensatz zum fordistischen Kompromiss, wo Arbeit und ihre Reproduktion in der Regel auch für MigrantInnen am gleichen Ort gewährleistet war, kommt in den transnationalen Migrationen die flexible Abkopplung der Arbeit von ihren Reproduktionsorten und Ressourcen zum Ausdruck. Dabei zeigen unsere Analyse der konkreten Implementierungen der europäisierten Migrationspolitik, dass in Südosteuropa entgegen aller offiziellen Absichtsbekundungen, Migration stärker zu unterbinden, ein Migrationsregime im Begriff ist zu entstehen, das den Transit und eine prekäre Einwanderung institutionalisiert. Es handelt sich um ein Modell von Regierung, das seine Kraft aus dem bezieht, was es zu lenken beabsichtigt. Es geht also nicht nur um die Tendenz einer Provinzialisierung Kerneuropas durch seine Peripherie: Die Verlagerung der Politik an die Außengrenzen bringt zugleich die MigrantInnen in eine Position innerhalb des Migrationsregimes, die ihre Taktiken und Bewegungen zum Element der Steuerung von Migrationsbewegungen macht.

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NEW GOVERNANCE ODER DIE IMPERIALE KUNST DES REGIERENS. ASYLDISKURS UND MENSCHENRECHTSDISPOSITIV IM NEUEN EU-MIGRATIONSMANAGEMENT Sabine Hess/Serhat Karakayalı Luis ist einer von vielen Transitmigranten, die seit Jahren an den Grenzen Europas ausharren, warten, ihr Glück suchen und bisweilen finden, auf dem Weg nach Europa. Ein Weg, den manche auch verlassen, um die Zonen des Transits selbst zu besiedeln, wie viele MigrantInnen aus dem Kaukasus und Afrika, die in der Türkei oder Griechenland ihr Auskommen suchen. Ist Luis repräsentativ und wenn ja, wie viele sind sie? Die Fragen nach Repräsentation und exakten Zahlen werden immer zuerst gestellt. Aus verschiedenen Gründen sind es jedoch nicht unsere Fragen. Es erscheint problematisch, klandestine Migrationen, die sich ihrer Natur nach jeder Zählung entziehen, messen zu wollen. Quantitative Forschungsmethoden sind Teil von Macht-Wissen-Komplexen, d.h. sie entstehen unter gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen Raum und Bevölkerung auf spezifische Weise erfasst und geordnet werden. Die Erfindung der Statistik zur Messung von Bevölkerungsbewegungen etwa diente historisch der Inventarisierung der Migrationen unter der Perspektive ihrer Kontrolle im Kontext der Produktion, Regulierung und Stabilisierung von nationalen Kollektiven (vgl. Kleinschmidt 2002). Die Statistik ist nicht nur etymologisch Staatswissen: Das Wissen über Bevölkerungen, ihre Fluktuationen und Bewegungen, ist mit dem Aufkommen der Biomacht, die das Leben der Menschen in produktiver, reichtumsproduzierender Weise neu gliedern und organisieren will, von entscheidender Bedeutung. Anfang des 19. Jahrhunderts finden in Frankreich und England erste Volkszählungen zur Erhebung der Bevölkerungsfluktuationen durch Wanderarbeiter statt. Es werden Geburtsort und Wohnort erfasst, aus deren Differential Migrationsforscher Wanderungen ermitteln, die zuvor im Kontext vormodernen Gelehrtenwissens bearbeitet wurden (Kleinschmidt 2002, 140).1 1 Daraus folgt aber auch, dass die Sozialwissenschaften sich diesem Dispositiv vorerst nicht entziehen können. Um die Signifikanz ihrer Forschungsgegenstände zu untermauern, müssen sie, und so auch wir, darauf verweisen, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt. Schätzungen einzelner ForscherInnen und behördliche Zahlen sind freilich nur Indikatoren eines Sachverhalts.

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Den Spuren von Luis zu folgen bedeutet gleichsam eine Legende über Konfliktherde, Paradoxien und die generische Kraft eines Migrationsregimes zu erstellen. Wenn wir dies aus der Perspektive eines Indivuums darstellen, so geschieht dies nicht, um dem Mythos des vereinzelten und isolierten Migranten Vorschub zu leisten, der, gleich einer ökonomischen Robinsonade mit einer Kosten-Nutzen-Tabelle im Kopf, seines Glückes Schmied ist. Erzählt werden soll nicht die – je nach politischer Präferenz – tragische oder heroische Geschichte des Migranten XY. Es geht vielmehr darum Schnittpunkte aus einer Bewegung der Migration zu untersuchen, „die Wissen besitzt, eigenen Regeln folgt und ihre Praxis kollektiv organisiert“ (Boutang 2002). Was geschieht mit der Bewegung der Migration, bevor sie als Nachricht von gestrandeten Schiffen auf die Bildschirme westeuropäischer Haushalte oder als neueste Ziffer in die Berichte der zuständigen EU-Kommission gelangt? Folgt man Luis, ergibt sich ein anderes Bild, als wenn man die Berichte, Erlasse und Papiere liest, die die europäischen und nationalen Einrichtungen der Regulierung von Migration ohne Unterlass anfertigen. Luis ist bereits seit einigen Jahren in der Türkei und erst vor Kurzem aus der Haft entlassen worden. Wie andere TransitmigrantInnen wollte er das Land am Rande der Europäischen Union als Brückenkopf nach Westeuropa nutzen und hatte sich auf den Weg an die ägäische Küste gemacht (vgl. İçduygu 2003, 8).2 Von dort ist es nur ein Katzensprung zu einer der vielen griechischen Inseln und damit in die Europäische Union. Doch Luis hat es nicht bis an die Küste geschafft. Der Minibus, mit dem er aus Istanbul kam – einem zentralen Knotenpunkt des Transits –, wurde abgefangen und die Gruppe in einer leer stehenden Schule gefangen gesetzt. Mangels einer funktionierenden staatlichen Migrations- und Asylpolitik und entsprechender Einrichtungen nutzen die lokalen Vollzugsorgane in der Türkei auch Hotels oder Fabrikgebäude als temporäre Abschiebehaftanstalten. Für die Versorgung sind die Eingesperrten auf die Hilfe von Familie und Freunden angewiesen. Ohne Bestechung der Wachhabenden ist dies allerdings oft nicht möglich. ForscherInnen, JournalistInnen oder VertreterInnen von NGOs, die sich angesichts einer solchen behördlichen Willkür empören, finden Unterstützung von prominenter, wenn auch nicht gänzlich unerwarteter Seite, nämlich der Europäischen Union. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den durchaus ambivalenten Effekten, die aus den Arbeitsbündnisse resultieren, die an Schnittstellen wie diesen – zwischen Migrationsapparaten und „kritischer“ Forschung etwa – entstehen und spezifische Macht-WissensKomplexe erzeugen. Denn eine effektive Regierung der Migration bedarf nicht nur der technischen Umsetzung von Gesetzen in Verwaltungshandeln. Offenbar, dies markiert die Passage vom Governing zur Governance, 2 Die jährliche Anzahl von nicht dokumentierten TransitmigrantInnen, die ihren Weg durch die Türkei machen, schätzt İçduygu auf 200.000 (vgl. İçduygu 2003).

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sind Aushandlung, die Herstellung einer kritischen Öffentlichkeit und Diskursproduktion unabdingbare Elemente von Implementierungsprozessen in Sachen Migration.

Türkei als Transit-Zone An Ländern wie der Türkei oder Serbien und Montenegro lässt sich dieser Prozess gut aufzeigen. So sind beide Länder schon seit Jahren EUMigrationspolitikern ein Dorn im Auge, denn sie gelten als unkontrollierter transitorischer Raum für transnationale Migrationen. Auf zahlreichen EU-Gipfeltreffen wurde die Türkei wegen ihrer fehlenden oder mangelnden Migrationspolitik kritisiert. Auf dem Gipfel-Treffen in Sevilla 2002 etwa drohten einige EU-Mitgliedsstaaten gar mit Sanktionen, sollte die türkische Regierung nicht entschlossener gegen illegale Migrationsbewegungen und Schlepper vorgehen. Auch die USA zeigen sich interessiert am Migrationsgeschehen auf der asiatischen Halbinsel: Im alljährlich veröffentlichten Report des State Department über weltweiten Menschenund Frauenhandel gilt die Türkei eher als Teil des Problems denn als Teil der Lösung. Der politische und institutionelle Rahmen der migrationspolitischen Auseinandersetzung bildet die so genannte „Vor-Beitrittsphase“ der Türkei zur EU, die 2000 mit der Annahme des sogenannten BeitrittsPartnerschafts-Dokuments (APD) seitens der EU begann und mit ihrer offiziellen Anerkennung als Beitrittskandidat zur EU im Oktober 2004 endet (vgl. Kirişci 2003, 80).3 Dabei lobten die sogenannten Fortschrittsberichte der EU – zentrales Kontrollinstrument zur Durchsetzung der Übernahme der Kopenhagener Kriterien – regelmäßig die türkischen Anstrengungen, den „Schengen-Acquis“ zügig umzusetzen. Während die EU jedoch im Falle der Türkei auf den „legalen Rahmen“ der Vor-Beitrittsverhandlungen zurückgreifen konnte, um ihre migrationspolitischen Vorstellungen durchzusetzen, ist das Vehikel der europäischen Migrationspolitik im kriegsgeschüttelten Südosten Europas die Konstruktion des so genannten Stabilitätspakts und das CARDS-Programm (Community Assistance for Reconstruction, Development and Stabilization Programme) (CARDS 2004). Die Stabilitätsabkommen mit Albanien, Kroatien, Mazedonien, Bosnien und Herzegovina sowie Serbien und Montenegro dienen sozusagen als Vorstufe zur Aufnahme von Beitrittsgesprächen, wobei die Länder aufgefordert sind, EU-kompatible legale und institutionelle Strukturen aufzubauen – u.a. auch im Migrationsbereich. Denn, so 3 Als zentrale Maßnahmen werden genannt: Angleichung des Visaregimes an EU Standards, die Unterzeichnung von Rückübernahmeabkommen, die Verbesserung der Kontrollen der Außengrenzen v.a. im Osten sowie der Aufbau von asylrechtlichen Strukturen und „Kapazitäten“ (vgl. Kirişci 2003, 81).

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das Migrationsprogramm des Stabilitätspakts (MARRI): „Solche Bevölkerungsbewegungen, sofern sie nicht gemanagt werden, könnten die laufende ökonomische und soziale Rekonstitution und Transformation unterminieren. […] Zugleich könnte ein konstruktives Management der Bevölkerungsbewegungen zu einem besseren Nutzen der vorhandenen Humanressourcen auf der Basis eines flexiblen Arbeitsmarktes beitragen und die Region für formale Verbindlichkeiten, individuell oder kollektiv, mit anderen europäischen Staaten besser positionieren, eine breitere Freizügigkeit zu befördern.“ Allerdings sind Programme das eine – der Implementierungsprozess etwas ganz anderes. Und im Falle der Türkei war die EU nicht nur mit dem Problem einer fehlenden oder unzureichend umgesetzten Migrationspolitik konfrontiert. Die Angelegenheit war weitreichender: Bislang wurde weder in der staatlichen Politik, noch in der Öffentlichkeit oder in der Wissenschaft Transitmigration überhaupt als solche wahrgenommen, konzipiert und als „Problem“ verhandelt.4 Dieser blinde Fleck spiegelte sich auch in der Forschungspraxis von TRANSIT MIGRATION wider: Unsere GesprächspartnerInnen assozierten mit Migration entweder die Gastarbeiter-Ära, die oft erzwungene Binnenmigration von Kurden in die west-türkischen Metropolen oder den so genannten Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei nach dem Abkommen von Lausanne von 1923. Nur selten erschien die Migration der Gegenwart als von politischem oder wissenschaftlichem Belang. In diesem Zusammenhang häufig geäußerte Anmerkungen waren, dass „innere“ Probleme der Türkei, wie der Kurdenkonflikt, Wirtschaftskrisen oder der in unmittelbarer Nachbarschaft stattfindende Irakkrieg, Migration und ihre politische Regulierung nachrangig erscheinen ließen. Während in den EU-Ländern, in denen die MigrantInnen „ankommen“, sich die Öffentlichkeit in eine ablehnende bis indifferente Mehrheit sowie eine politisch aktive Minderheit von FlüchtlingsunterstützerInnen aufgliedert, interessierten sich weder linke noch rechte Gruppierungen und schon gar nicht die Mehrheit der Menschen für die MigrantInnen, ob nun als gesellschaftliches Feindbild oder als Opfer staatlicher Politik.5 Der Versuch etwa, eine rechtspopulistische Kampagne mit dem Slogan „Ivan nimmt Mehmet den Arbeitsplatz weg“ zu lancieren, verlief schnell im Sande – kein Wunder angesichts der gesellschaftlichen Normalität informalisierter Arbeitsver4 Zu den wenigen Ausnahmen zählen Forscher wie Ahmet İçduygu und Kemal Kirişci. 5 Für den türkischen Nationalismus ist die Frage der Migration anders als in Westeuropa (noch) nicht konstitutiv. Die Themen der Rechten sind auf einem ähnlichen Terrain angesiedelt, gelten aber nicht als migrationsinduziert, sondern sind „Binnen“-Probleme: Die Auseinandersetzungen um die „Identität“ der türkischen Bevölkerung, die repressive Behandlung der Minderheitenfrage, der Kemalismus

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hältnisse und einer breiten metropolitanen Armut. Darüber hinaus hat die Türkei nach den Aussagen aller höheren politischen Beamten, mit denen wir in den Ministerien Ankaras sprechen konnten, auch kein Interesse an der ihr von der EU zugedachten Rolle einer Pufferzone, würde sie dadurch doch ganz offiziell zu einem Erst-Einwanderungsland. Die offenen Grenzen Richtung Westen waren in dieser Hinsicht auch eine Versicherung, die historische Rolle als Transitland beizubehalten. Vor diesem Hintergrund mussten Transitmigration sowie Migration überhaupt erst einmal als „Problem“ konstruiert werden, um es zu einem Objekt politischer Regulation machen zu können. Angesichts des „schwachen“ oder „widerwilligen“ Staatsapparats setzte die EU hierbei auf öffentliches Agenda-Setting und die Erzeugung zivilgesellschaftlichen Drucks. So meinte ein Mitarbeiter der deutschen Botschaft, dass der Einfluss der EU eingeschränkt sei. Es sei bekannt, dass um Gesetze auch Praxis werden zu lassen, „Druck von unten“ notwendig sei. Angesichts eines solchen Szenarios erscheinen Luis’ Erfahrungen als symptomatisch. Während Kontrollen und Razzien entlang der Außengrenzen und in den westtürkischen Metropolen schon intensiviert wurden, zog sich der Aufbau von Gesetzen und Infrastrukturen in die Länge. Dies führte für eine gewisse Zeit zu lokalen Regimen der Improvisation untergeordneter staatlicher Akteure, etwa zu der Nutzung von Hotels als Gefängnissen. Hinzu kommt, dass insbesondere Abschiebeflüge nach Afrika kostspielig und die Staatsangehörigkeiten afrikanischer Migranten für türkische (ebenso wie für deutsche) Beamte nur schwer bestimmbar sind. Wenn es zuweilen scheint, als seien über die Hälfte der AfrikanerInnen in türkischem Polizeigewahrsam Bürger beispielsweise des Senegal, so ist dies keiner Soziologie der Kettenmigration zuzuschreiben. Vielmehr hängt die Staatsangehörigkeit, die sich MigrantInnen hier oder dort erwählen, auch von guten oder schlechten Kontakten zu Konsularbeamten und der Praxis der jeweiligen Vertretungen ab. Das Abschiebehindernis „Flugkosten“ führt aber auch zur behördlichen Praxis illegaler Abschiebungen über die nächst gelegene Grenze. So wurde 2001 der Fall einer Gruppe afrikanischer MigrantInnen bekannt, die von türkischen Polizisten über die griechische Grenze abgeschoben, von der griechischen Seite jedoch nicht akzeptiert wurden. Wochenlang wurden sie daraufhin hin- und hergetrieben.6 und seine Krise durch die islamische Herausforderung. Dort, wo Grenzüberquerungen die „innere Sicherheit“ gefährden, geht es um Probleme des „Terrorismus“ bzw. Separatismus, so beim regen Verkehr zwischen den kurdischen Provinzen im Nordirak und den überwiegend kurdisch besiedelten Gebieten auf dem Territorium der Türkei. 6 Dieses Ereignis erregte einiges Aufsehen in Medien und gehörte zu den wenigen Fällen, in denen Transitmigrantinnen von türkischen NGOs betreut wurden, hier vom Menschenrechtsverein IHD.

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Luis konnte dagegen stets mit Tricks seine Freilassung erreichen. Schmunzelnd erzählt er, wie er beispielsweise letzten Winter in einem überfüllten, nassen und kalten Keller eines Polizeigefängnisses in Istanbul eingesessen habe. Nach einer längeren Grippeerkrankung starb einer der Häftlinge, worauf die anderen Krach schlugen bis die gefürchtete Riotpolizei kam, die sich nach dem Grund der Unruhe erkundigte. Hierauf wurden weitere kränkelnde Migranten entlassen, so dass schließlich alle von einer Grippe-Epidemie geschüttelt wurden und frei kamen. Die meisten TransitmigrantInnen jedoch kommen aus benachbarten Ländern und müssen mit einer Abschiebung rechnen. Auf Drängen der EU ist die Türkei gerade dabei, sogenannte Rückübernahmeabkommen mit ihren Nachbarn zu unterzeichnen. Diese Abkommen gehören zu den zentralen Instrumenten der Erweiterungspolitik der EU, wodurch Kettenabschiebungen von Deutschland bis nach Syrien oder in den Iran möglich werden. In der klassischen Migrationsforschung nennt man Luis einen „VisaOverstayer“. Er hatte sich in Deutschland und der Türkei für einen Studienvisum beworben, das Türkische jedoch zuerst erhalten. Als er sich die Studiengebühren nicht mehr leisten konnte, wurde sein Visum nicht verlängert und er wurde „illegal“. Nach gescheiterten Weiterwanderungsversuchen ist er Teil des großen informellen Sektoren der Istanbuler Ökonomie geworden, in der die niedrigen Löhne zusammen mit den hohen Mieten aber kein ausreichendes Einkommen ermöglichen. Er wohnte, so wie auch viele kurdische BinnenmigrantInnen und Einwanderer aus dem Nahen und Fernen Osten, in einem der innerstädtischen Armutsquartiere. Seine Optionen sieht er darin, wie viele der Papierlosen, in der Türkei zu bleiben und zu versuchen, auf dem informellen Arbeitsmarkt zu überleben, zurück ins Herkunftsland zu gehen und von dort erneut einen Visumsantrag zu stellen, diesmal für die USA bzw. Kanada, oder noch einmal zu versuchen, in den Westen zu kommen. Warum beantragt Luis kein Asyl?

Der Asyl-Poker Die Türkei hat zwar die Genfer Flüchtlingskonvention als eines der wenigen international verbindlichen Rechtsregime im Migrations- und Asylbereich unterzeichnet, doch schließt sie bislang alle nicht-europäischen Flüchtlinge aus dem Verfahren aus. Allerdings führt der UNHCR auf der Basis einer fragilen, inoffiziellen Kooperation mit der türkischen Regierung7 für diese Flüchtlinge Asylverfahren durch. Auch in anderen Ländern, 7 Nach großen Flüchtlingsbewegungen aus dem Irak Anfang der 1990er Jahre hatte die türkische Regierung 1994 ihr Asylverfahrensgesetz erheblich verschärft, was vom UNHCR, amnesty international und einigen westeuropäischen Regierungen

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die (noch) kein Asylsystem kennen, ist der UNHCR tätig, beispielsweise in Serbien.8 So liegt am Rande Belgrads das Motel 1000 Rosen, das heute eine „UNHCR Aufnahmeeinrichtung“ ist. Hier werden die Asylantragssteller während ihres Verfahrens untergebracht. Bis ins Motel, dessen gute Tage längst der Vergangenheit angehören, schafft es jedoch nur, wer sein Asylbegehren den UNHCR-Mitarbeitern zu Gehör bringen kann. Viele, die über Monate dort auf den Abschluss ihres Verfahrens – zum Nichtstun verdammt – warten, waren auf dem Transit in Richtung Westen oder lebten schon einige Zeit ohne Papiere in Belgrad. Auch viele MigrantInnen, die es von der Türkei nach Griechenland geschafft haben, nutzen die so genannte „Balkanroute“ für ihre Weiterwanderung nach Schengenland. Wenn sie in eine der immer häufiger stattfindenden Razzien kommen, werden sie ins Abschiebegefängnis Padinska Skala gebracht. Dort hat der UNHCR das Mandat, potentielle Asylberechtigte unter den MigrantInnen herauszufinden und ihnen ein Asylverfahren zu „ermöglichen“. Wenn die wenigen MitarbeiterInnen vor Ort allerdings überfordert sind, können die MigrantInnen lange Asyl buchstabieren (vgl. Andrijašević/Bojadžijev 2004). In der Türkei wird das UNHCR-Verfahren seit den 1980er Jahren von immer mehr MigrantInnen aus immer mehr Ländern in Anspruch genommen (vgl. Kirişci 2003, 84f.).9 Doch ein Freund von Luis, selbst langjähriger Transitmigrant, warnte ihn davor: „Stay away from this system!“ Alle seine Bekannten, selbst diejenigen, die aus Bürgerkriegsländern wie Liberia oder Sierra kritisiert wurde. Hierauf nahm sie gegen Ende der 1990er Jahre einige der restriktiven Eckpunkte wieder zurück. Wie der türkische Politologe Kemal Kirişci schreibt, entwickelte sich seitdem ein Klima der Kooperation mit dem UNHCR. Dies führte zu einigen Verbesserungen für die MigrantInnen, wie etwa die Ausweitung der Frist, innerhalb derer ein Asylantrag nach Ankunft im Land zu stellen ist (von 5 auf 10 Tage) oder die Einrichtung gerichtlicher Klagemöglichkeiten gegen einen negativen Bescheid (Kirişci 2003, 87). 8 Während Ex-Jugoslawien in Deutschland bis heute vor allem als Auswanderungsregion bekannt ist, ist die Region im Windschatten der Kriege selbst zum Zielgebiet von Migrationsbewegungen geworden. So gehören die ehemaligen Staaten Jugoslawiens zum einen immer noch zu den Ländern, die die Hitliste für Asylanträge in der EU anführen. Während der Kriege in den 1990er Jahren wurde Bürgerkriegsflüchtlingen von den EU-Staaten eine befristete Aufenthaltserlaubnis bewilligt. Seit einigen Jahren werden allerdings wieder Rückkehrprogramme erlassen und Bürgerkriegsflüchtlinge zwangsweise zurückgeführt. Dabei leben bis heute immer noch schätzungsweise eine Million Flüchtlinge in der Region, die während der Kriege in andere Teile des zerbrechenden Staates flohen. 9 So sollen zwischen 1980 und 1991 ca. 1,5 Millionen Iraner sich als Flüchtlinge in der Türkei aufgehalten haben. Die meisten sind weiter in Drittländer migriert. Angesichts der Kriege im Iran und Irak war die Türkei Zieltort großer Flüchtlingsbewegungen aus der unmittelbaren Nachbarschaft (Kirişci 2003, 85ff.).

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Leone kommen, waren skeptisch. Denn was sie von denjenigen, die Asyl beantragt hatten, erfuhren, erinnerte sie an die Polizei: Unfreundliche Interview-Verhöre, rigide Definition politischer Verfolgung, Beweislast auf der Seite des Flüchtlings, lange Verfahrensdauer und Unsicherheit, niedrige Anerkennungsquote, keine finanzielle Unterstützung. Allerdings ist Asyl auch in der Türkei – wie generell in EU-Europa – neben dem Studienvisum, geringen Kontingenten für saisonale Arbeit, Familienzusammenführung oder Heirat weiterhin die einzige Möglichkeit, den Aufenthalt zu legalisieren. Kein Wunder, wenn sich immer noch viele MigrantInnen trotz der Verschärfungen und Einschränkungen einiges vom Asyl versprechen und ihre Geschichten entsprechend umschreiben. An Knotenpunkten der Migration wie in Istanbul oder in den grenznahen Metropolen des Ostens kursiert auch ein reichhaltiges Wissen darüber, wie der Prozedur der Asylanerkennung Genüge zu leisten ist. Ein äußerst kreativer Dienstleistungssektor ist um die Anforderungen des Asylsystems, v.a. die strikte Beweislast, entstanden: Manche wissen, wie Fluchtgeschichten biografisiert und plausibilisiert werden müssen und wurden als ehemalige Flüchtlinge zu „Geschichtenschreibern“, die ihre Kenntnisse in den innerstädtischen Quartieren den Neuankommenden anbieten. Andere produzieren Beweismaterial wie selbstgedrehte Foltervideos oder Pornostreifen, mit denen Frauen dokumentieren können, dass sie im Nahen Osten gefährdet sind. Angesichts eines populären Feminismus, der sich im Westen in den letzten Jahren exklusiv in Bezug auf Islam bzw. die arabische Welt konstituiert, eine lohnende Strategie. Allerdings wissen deutsche Behörden um die Effekte des rigiden Authentisierungsdrucks des Asylsystems und fahnden ihrerseits nach Zeitungsunikaten, die sich MigrantInnen haben drucken lassen – mit ihrer persönlichen Geschichte als Headline.

Governance of Migration Mit dem europaweiten staatlichen Abbau des Asylrechts geriet jedoch auch der UNHCR unter Druck. Der UNHCR war im internationalen Kontext die einzige Organisation mit einem völkerrechtlichen Mandat und „Asyl“ basierend auf der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 war bislang die einzige im internationalen Rechtssystem verbriefte Möglichkeit, legal zu migrieren. Die Wanderarbeiterkonvention der ILO ist viel jüngeren Datums und hat bei weitem nicht ein derart globales Rechtssystem mit dazugehörigen zivilgesellschaftlichen Akteuren hervorgebracht. Doch bereits Mitte der 1990er Jahre sprachen führende Think Tanks wie das ICMPD, das Internationale Zentrum für Migrationspolitische Studien mit Sitz in Wien, von einer „Überdehnung“ des Asylrechts und plädierten für einen Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik. Sie forderten, Asyl auf die seltenen „echten“ Fälle zu beschränken, Fluchtbewegungen schon in der Herkunftsregi-

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on aufzufangen und Möglichkeiten für eine legale Arbeitsmigration zu schaffen. Sadako Ogata, Chefin des UNHCR in den 1990er Jahren, strebte dann auch eine Transformation der UN-Organisation an: „Es ist unmissverständlich klar geworden, dass der UNHCR mehr sein muss als eine Anwaltschaft für Asylsuchende. Von dem Amt wird erwartet, als globaler Krisenmanager, think tank und in vielen Fällen Katalysator für politisches Handeln aufzutreten.“ (Ogata 1997, 239) „Krisenmanager“, „think tank“ und „Katalysator für politisches Handeln“ sind drei Bezeichnungen aus der Trickkiste der neuen Politikkultur der „New“ oder „Global Governance“, die seit den 1980er Jahren von Politikern, Beratern und Politikwissenschaftlern als Antwort auf die verschiedenen globalen Herausforderungen entworfen wird (vgl. Messner/Nuschler 2003; Brand 2000). Im Gegensatz zu „Government“ sei Politik im Rahmen der Governance „dezentralisiert“, auf „multiplen Ebenen“, in „Netzwerken“, unter „strategischer Partizipation der Zivilgesellschaft“ und der starken Einbeziehung von „Experten-Wissen“ zu gestalten, wie auch im Weißbuch „Europäisches Regieren“ der EU-Kommission von 2001 nachzulesen ist.10 Einige neuere politikwissenschaftliche Ansätze versuchen diesen Politikstil, der es unmöglich macht, weiterhin die Architektur und Praxis der EU mit klassischen Konzeptionen aus der Ära des Nationalstaats zu fassen, dann auch mit Begrifflichkeiten aus dem Governance-Diskurs zu beschreiben. Sie sprechen von „network state“, was das Fehlen eines eindeutigen Entscheidungszentrums zum Ausdruck bringen soll; oder vom „MehrEbenen-Staat“ bzw. von der EU als „multi-level system of governance“, um die spezifische mehrdimensionale und dezentralisierte Form der Entscheidungsstrukturen zu bezeichnen (vgl. Beck/Grande 2004, 82ff). Angesichts der zunehmenden Verwendung der Trend-Bezeichnung „governance“ sowohl in den Wissenschaften als auch der politischen Praxis betrachten wir im Folgenden die Begriffsgenese.

Die kritischen Potenziale des Regimebegriffs Der Begriff der Governance ist eine Weiterentwicklung aus der Regimedebatte, die innerhalb der Internationalen Beziehungen in den 1980er Jahren geführt wurde. Vor dem Hintergrund wachsender Verflechtung verschiedener Akteure auf internationalem politischen Terrain und dem Auftreten neuer Akteure wie multinationaler Konzerne und NGOs wurde die Regimeanalyse von Autoren aus dem Umkreis des Interdependenzansatzes entwickelt, um u.a. die Beschränkungen der neo-realistischen Schule zu überwinden. Für sie 10 Siehe http://europa.eu.int/comm/governance/governance_eu/index_en.htm (Link vom 15.3.2004).

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stand von vorneherein fest, dass die letzten Instanzen politischen Handelns Staaten sind, auf deren (Macht-)Interessen alles politische Handeln letztlich zurückgeführt werden kann. Dem gegenüber behaupten die Regimetheoretiker, dass internationale Organisationen und Regime eine eigenständige Rolle annehmen. Internationale Regime werden in diesen Ansätzen als eine „institutionalisierte Form des norm- und regelgeleiteten Verhaltens bei der politischen Bearbeitung von Konflikten oder Interdependenzproblemen in unterschiedlichen Sachbereichen“ definiert. Regime setzen sich demnach „aus Prinzipien, Normen, Regeln und Entscheidungsverfahren zusammen“ (Wolf 1994, 423). Ein Regime ist damit ein relativ autonomer Prozess, den die Akteure, die ihn installierten, für eine Zeit lang als objektives Regelwerk akzeptieren. Deutlich wird auch, dass der Regimebegriff auf der Ebene internationaler Politik (der Staaten) das Problem reflektiert, dass es keinen äußeren Gewaltmonopolisten geben kann, also keinen Weltstaat. In der neueren Diskussion gewinnt der Begriff des Migrationsregimes zunehmend an Bedeutung, da er dem Bedürfnis entgegenkommt, den konstatierten Verlust (national)staatlicher Souveränität begrifflich Geltung zu verschaffen. Wo vorher von als überwiegend durch staatliche Politik bestimmten Migrationssystemen die Rede war, ermöglicht der Regime-Begriff eine Vielzahl von Akteuren in die Analyse einzubeziehen, deren Praktiken zwar aufeinander bezogen sind, nicht aber in Gestalt einer zentralen (systemischen) Logik. Was den Regimebegriff so bedeutsam macht, ist, dass er es erlaubt, Regulationen als Effekte, als Verdichtungen11 von sozialen Handlungen zu verstehen und sie nicht funktionalistisch vorauszusetzen. So steht beispielsweise für AutorInnen wie Lydia Potts fest, dass „die Metropolen“ in der Lage sind, die Arbeitsmigrationen „perfekt“ zu steuern (vgl. Potts 1988, 251), während für die Anti-Neoliberalisten der Staat eine Art geheimes Bündnis mit den Interessen der Arbeitgeber eingeht und eine „Reservearmee“ herbeizieht. Mit dem Begriff des Regimes ist eine Kritik an derartigen Vorstellungen verknüpft, nach denen der Staat als Ausgangspunkt gesellschaftlicher Handlungen, als „erster Beweger“, verstanden werden könnte. Um genau diese Problematik dreht sich auch die Mainstream-Debatte um 11 Der Begriff der Verdichtung geht, wie auch der Begriff der Überdetermination, auf den marxistischen Philosophen Louis Althusser zurück, der ihn wiederum der Psychoanalyse entlehnt. Soziale Widersprüche können sich demnach in kontingenter Weise überdeterminieren, sich wechselseitig aufstufen und damit zu Verdichtungen führen, in denen Widersprüche und konfliktorische Energien (Kämpfe) absorbiert werden und keine andere Artikulationsform finden (als den Staat etwa). Im Kontext der Staatstheorie weist der Begriff der Verdichtung darauf hin, dass der Staat von Kämpfen durchzogen ist. In ihm reproduzieren sich die Kämpfe nicht synchron, sondern eine Mischung verschiedener Kämpfe führt an bestimmten Punkten zu Energiezusammenballungen, die in unterschiedlicher Weise genutzt werden können (vgl. Buci-Glucksmann 1977).

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„Governance of Migration“, die vor allem von den Akteuren im Umfeld der internationalen Institutionen vorangetrieben wird. Mit dem Leitspruch „Governance statt Government“ wurde die Regimetheorie sozusagen zur praktischen Anwendung gebracht. Zwar war transnationale Migration lange vor der Governance-Debatte Gegenstand intergouvernementaler und transnationaler Institutionen, sie erlangt aber in den Institutionen erst seit den 1990er Jahren den Status eines genuin globalen Phänomens. Kennzeichnend dafür ist unter anderem die Debatte um ein „General Agreement on Movements of People (GAMP)“, die von Mitarbeitern der IOM dominiert wird. Zwar wird die Frage der „Regierung der Migration“ unter der Prämisse gedacht, dass der Staat darin nicht der zentrale Akteur ist. Vielmehr nimmt die Governance-Perspektive ein breites Feld politischer Praktiken und Diskurse in den Blick, die außerhalb des klassischen parlamentarisch-politischen Bereichs angesiedelt sind, die unter den gegenwärtigen veränderten Bedingungen nicht nur notwendige Begleitmusik des klassischen politischen Handelns darstellen, sondern es zu ersetzen scheinen. Darüber hinaus lenkt der Governance-Begriff die Perspektive auch auf die gesteigerte Bedeutung von immaterieller und symbolischer Arbeit und Ressourcen in der politischen Praxis. Damit rücken auch Akteure als staatstragend ins Blickfeld, die sich selbst auf der anderen Seite des als Antagonismus konstruierten Verhältnisses sehen würden.

The Making of „Irregular Migration“ Dies bringt in den Implementierungsprozessen in Ländern wie der Türkei und Serbien und Montenegro internationale, nicht-staatliche Organisationen wie den UNHCR aber auch kleine lokale NGOs ins Spiel – grundsätzliches Merkmal der gegenwärtigen weltweiten Entwicklung der Migrationspolitik (vgl. Lahav/Guiraudon 2000). In der Türkei – anders als in Griechenland oder Serbien etwa – kam dabei vor allem dem UNHCR die wichtige Rolle zu, das diskursive und politische Terrain zur Übernahme der EU-Migrationspolitik zu präparieren sowie „Akteure“ und Subjektpositionen (für) diese(r) Politik zu organisieren. Wichtiges Medium war hierbei die dialogische Praxis von Seminaren und Konferenzen, was sich auch die EU als Politikform der Vorbeitrittsphase zu eigen gemacht hat. So veranstaltete der UNHCR schon seit 1997 mit EU-Geldern Aufklärungsseminare, in denen mittleren und leitenden türkischen Beamten asylrechtliche Fragen näher gebracht wurden. Ferner initiierte der UNHCR Roundtable-Gespräche und Seminare zur Beratung und Vernetzung zivilgesellschaftlicher Gruppen bzw. produzierte sie mit Hilfe von EU-Geldern erst und setzte sie auf den Asyl-Pfad. Bei dieser spezifischen Ausrichtung von Initiativen ist der UNHCR nicht allein, vielmehr unterstützt auch die in den 1990er Jahren stark gewordene europäische Men-

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schenrechtsszene den asylrechtlichen Diskurs von und innerhalb türkischer NGOs (und bekommt dafür ebenfalls Mittel aus EU-Töpfen). Mit Hilfe dieser transnationalen Kanäle konnten einzelne Vorfälle in der EU skandalisiert und das Problem der Migration in der Türkei als das von Flucht dargestellt werden. So beschäftigten sich die von uns aufgesuchten NGOs und Menschenrechtsgruppen in der Westtürkei wenn überhaupt, dann mit Fragen von Flucht und Asyl. In diesem Zusammenspiel und in seinem Gelingen sieht Saskia Sassen die Existenz eines internationalen Menschenrechtsregimes.13 An diesen kleinen, doch relativ etablierten Asyldiskurs scheint nun die EU-Kommission in ihren Beitrittsverhandlungen andocken und die Anpassung an ihre Migrationsregularien als menschenrechtlich gebotene Maßnahme preisen zu können. So erklärte uns gegenüber die EU-Vertreterin für Inneres und Justiz in der Türkei, dass die Anpassungsmaßnahmen dafür da seien, um die echten Flüchtlinge aus der Masse irregulärer MigrantInnen herauszufiltern und die Errichtung von Lagern zu ihrem „Schutz“ dringend geboten sei. Angesichts der Willkür, die das derzeitige Verfahren in der Türkei bedeutet, ist der EU der zivilgesellschaftliche Applaus und in Folge der Druck auf die Regierung sicher. Dabei wird übersehen, dass mit der Einrichtung eines derartigen Asyl-Verfahrens und Selektionsprinzips auch sein Zwillingsbruder, die „irreguläre Migration“ erst geschaffen und zu einem real existierenden Objekt wird. Wer in Zukunft den etablierten Migrationskategorien nicht entspricht, bekommt fortan amtlich bescheinigt, ein „Illegaler“ zu sein. Im Bereich der „irregulären Migration“ kommt eine weitere internationale Organisation zum Zug, die federführend an der Konstruktion und anschließenden Regulation der „irregulären Migration“ beteiligt ist: die Internationale Organisation für Migration, kurz IOM. Sie wurde 1951 im Zeichen des Kalten Krieges auf Initiative der USA als Organisation westlicher Staaten gegründet und hieß damals noch Intergovernmental Committee for European Migration (ICEM). Es ging darum, Vertriebenenbewegungen in Folge des Zweiten Weltkriegs – die berühmten „Unwanted“ (Marrus) der Nachkriegsära – zu verwalten und Ostblockflüchtlinge willkommen zu heißen. Nach dem Ende des Kalten Krieges wuchs die IOM nicht nur auf über 75 Mitgliedsstaaten und 43 Länder mit Beobachterstatus an, sondern globalisierte auch ihren Handlungsanspruch und benannte sich in Internationale Organisation für Migration um (vgl. Düvell 2002, 101-107). Sie verkörpert den Prototyp einer Politik des Migrationsmanagements, die längst Asyl als Residualkategorie behandelt, und steht damit in schärfster Konkurrenz zum UNHCR. Auch ist die IOM der maßgeschneiderte Akteur für die EU-Politik 13 Saskia Sassen (2004) hat in ihren jüngeren Arbeiten von Menschenrechtsregimen gesprochen, um die Funktion der Menschenrechte bei der Etablierung eines transnationalen Apparates der geopolitischen Ordnung zu analysieren.

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einer „Governance of Migration“, die sie selbst über internationale Kongresse, Foren und konkrete Politikberatung federführend mitentwickelt. Im Gegensatz zur Abschottungsrhethorik mancher westeuropäischer Innenminister folgt sie dem Credo der „geordneten Migration zum Wohle aller“, wobei sie die Regulation der Migrations- und Mobilitätsströme im Sinne einer „effizienteren Allokation von Arbeitskraft“ als zentrales Instrument einer globalisierten kapitalistischen Wirtschaftspolitik versteht (vgl. Gosh 1997, 264ff). In dieser Hinsicht plädiert die IOM für ein „international harmonisiertes Migrationsregime“, das sowohl auf internationalen Vertragssystemen wie beispielsweise der WTO beruhen solle als auch auf international tätigen Organisationen wie ihr selbst, da die Nationalstaaten damit alleine überfordert seien. Dabei ist nach Aussagen ihres ehemaligen Leiters vor allem die IOM, auch wenn sie kein formales völkerrechtliches Mandat hat, „mit ihrem weiten und flexiblen Mandat den geänderten (weltweiten) Umständen“ besonders gut angepasst: „Beobachtern zufolge könnte diese Institution zumindestens einen Teil des Vakuums des institutionellen Gefüges füllen.“ (Gosh 1997, 268) So bietet die IOM Ihren Mitgliedsstaaten in ganz unterschiedlichen Bereichen ihre Dienste an, wie etwa bei der Entschädigungszahlung ehemaliger Zwangsarbeiter des NS-Regimes, bei der sogenannten „freiwilligen Rückkehr“ illegalisierter MigrantInnen, beispielsweise von Tausenden Roma-Flüchtlingen aus Deutschland nach Serbien, beim Aufbau und bei der Vermittlung von Know-how in Sachen „border management“, beispielsweise in der Ukraine, der Türkei oder Serbien und Montenegro, aber auch bei Kriseninterventionen in Konfliktzonen sowie beim privatisierten Management kontrollierter Arbeitsmigration, wie im Falle von Spanien und Ecuador (vgl. Düvell 2002).14 In Serbien und Montenegro übernimmt die IOM neben dem UNHCR angesichts der Nachkriegssituation wesentliche konkrete Maßnahmen des Migrationsmanagements. So ist sie im Rahmen des zentralen EU-Projekts „Establishment of EU compatible legal, regulatory and institutional framework in the field of asylum, migration and visa matters“ im Bereich Rückführung und Abschiebungen tätig (IOM 2004). Vor allem führt die IOM auch hier ihr „Assisted Voluntary Return Programm“ (AVR) durch, in dessen Rahmen sie zwischen 1979 und 2002 bereits 487000 so genannte „freiwillige Rückführungen“ in über 100 Ländern betrieb. Ferner betätigt sie sich in der Einrichtung und Verbesserung der „Abschiebe-Infrastruktur“ und managt das Abschiebegefängnis Padinska Skala (vgl. auch das EU „Aktionsprogramm Rückführung“ 2004). Auf diese Weise agiert die IOM im Auftrag der EU und staatlicher Institutionen in einem Bereich, der bislang nationalstaatlicher Souveränität unterstand. Darüber hinaus vermag sie als nicht-staatliche, ja humanitäre Organisation aufzutreten und in Ländern wie Lybien zu operieren, in denen der EU (noch) 14 Mehr zur Arbeit der IOM in Serbien, siehe den Artikel von Rutvica Andrijašević in diesem Band.

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die Hände gebunden sind. So bindet sie diese Länder weit vor der Aufnahme offizieller Beziehungen zur EU über ähnliche Strategien, wie sie der UNHCR praktiziert, an die politischen Strukturen der EU. Auch in ihrem zentralen „Aufgabenbereich“, der Steuerung der irregulären Migration, wendet sie ähnliche Popularisierungs- und Rationalisierungsstrategien an wie der UNHCR im Feld von Asyl. Hierzu nutzt sie vor allem die ambivalenten Effekte der Kampagne gegen Menschenhandel, die zunächst einen von zivilgesellschaftlichen Gruppen aufgebauten und getragenen Diskurs und eine politische Praxis darstellte. Die IOM hat sie zu einer staatstragenden Kampagne gemacht, die auch die EU-Gesetzgebung anleitet. Dabei ist es die Logik und Rationalität des Anti-Trafficking-Diskurses, die dem Flüchtlingsschutz-Diskurs ähnelt, die ihn so ausbeutbar macht: Beide operieren mit einer humanistischen Argumentation und mit Versatzstücken des Menschenrechtsdiskurses; beide machen hierbei MigrantInnen zu Objekten eines behaupteten Schutzbedürfnisses und trennen das soziale Feld in individualisierte Opfer und böse Schlepper-Banden; beide legitimieren mit Hilfe der „Schutzbehauptung“ ein verschärftes Vorgehen gegen illegale Migration und zwar als menschenrechtlich gebotene Maßnahme. Und beide scheinen damit Erfolg zu haben, da sie an ein breites Praxisfeld von Initiativen anknüpfen können und hierüber ihre Politik direkte materielle Effekte zeitigt. Die politische Brisanz der Anti-Trafficking-Kampagne, die auch die IOM in der Türkei seit einigen Jahren zu lancieren versucht, wurde während des NATO-Gipfeltreffens 2004 in Istanbul offensichtlich. So bekam die bislang einzige Frauengruppe, die in diesem Bereich aktiv ist und ein Frauenhaus für gehandelte Frauen unterhält, vom US-Außenminister Powell persönlich vor den laufenden Kameras der internationalen Presse eine Auszeichnung für ihren „Kampf gegen Frauen- und Menschenhandel“ verliehen. Dabei soll nicht in Abrede gestellt werden, dass es auch MigrantInnen gibt, die gegen ihren Willen „gehandelt“ und zur Prostitution gezwungen werden. Doch auch die von der IOM in Auftrag gegebene Studie über Frauenhandel in die Türkei „Irregular Migration and Trafficking in Women“ von Sema Erder (2003), konnte die von der IOM gewünschte und proklamierte Breite und Dramatik des Geschehens nicht bestätigen, was dazu führte, dass sich die IOM von den Ansichten in der Studie offiziell distanzierte.15

Konfliktive Praxen Ohne Akteure wie die IOM läuft die Implementierungspolitik der EU ins Leere. Sie ist darüber hinaus angewiesen auf zivilgesellschaftliche Akteu15 Vgl. http://www.iom.int/documents/publication/en/irregular_mig_in_turkey.pdf (vom 15.7.2005)

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re, die auf andere Ressourcen zurückgreifen und andere Diskursstrategien verfolgen können als sie selbst.16 Diese politische Kultur und Praxis der EU lässt sich als NGOisierung der Politik bezeichnen – zum einen im Sinne des Outsourcings und Subcontractings ehemals staatlicher Aufgaben an nicht-staatliche Akteure, aber auch im Sinne eines Formwandels der klassischen politischen Akteure und ihrer Praxen selbst, die immer stärker wie NGOs agieren. Diese Entwicklung beruht auf der Einsicht in die geringe Tiefenwirkung formaler Macht. Damit Gesetze Praxis würden, ist man nicht nur auf ein neues Staatspersonal angewiesen, sondern v.a. auf gesellschaftlichen Druck. Hierbei kommt den internationalen Organisationen und großen NGOs eine wichtige Bedeutung als Schanier zu, das zivilgesellschaftliche Feld mit dem des erweiterten Staates zu verknüpfen, und in diesem Sinne Diskurse und Subjektpositionen zu organisieren. Der Asyl- und der Anti-Trafficking-Diskurs scheinen hierfür besonders geeignet zu sein, da sie imstande sind, den sozialen Kosmos humanistischer Subjektpositionen zu organisieren. Darüber hinaus haben die so genannte nicht-staatlichen Akteure in vielfacher Hinsicht eine wichtige Funktion als Wissensproduzenten, was die grundlegende Bedeutung von Expertensystemen und Wissen für die neuen Formen des Regierens deutlich macht. Sie müssen nicht nur Daten generieren – Voraussetzung moderner Regulationspolitik –, als Politikberatungsinstitution gegenüber den nationalen Staatsapparaten fungieren und als Frühwarnsystem vis-à-vis der EU, sondern auch als Supervisor für die junge NGO-Szene, Auftraggeber für wissenschaftliche Arbeiten und als think tank. Diese Entwicklung des Politischen im Kontext der Europäisierung ist weniger als defensiver Rückzug des Staates zu verstehen – wie viele linke KritikerInnen diagnostizieren –, eher handelt es sich um eine Ausdehnung des Staates und eine Aktivierung immer breiterer Gruppen der Gesellschaft. Damit werden umgekehrt die scheinbar externen Akteure selbst zum Staat, denn dieser ist kein Subjekt, kein Set von Apparaten, sondern ein spezifi16 Nach der Serie von gewaltfreien Regierungsstürzen, die seit den Protesten gegen Milosevic in Serbien in einigen Ländern der Einflusssphäre Russlands angesetzt hat und mit der Orangen-Revolution in der Ukraine und der Rosen-Revolution in Georgien fortgeführt wurde, scheint eine Skepsis gegenüber Nichtregierungsorganisationen bestätigt zu werden, die es in der Türkei seitens nationalistischer Kreise gibt. Dass die Organisationen, die die Umstürze anführten, finanzielle Unterstützung von regierungsnahen US-amerikanischen Stiftungen erhielten, führte auch auf der Linken zu Verschwörungstheorien über die manipulativen Machenschaften der USA. Im Jahre 2003 wurde ein Prozess gegen deutsche Stiftungen angestrengt, denen vorgeworfen wurde, sich gegen den türkischen Staat verschworen zu haben. Sie hatten eine Bürgerinitiative gegen den Goldabbau (welcher zu einer erheblichen Vergiftung des Grund- und Trinkwassers führen würde) im westtürkischen Bergama unterstützt.

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sches strukturiertes soziales (Kräfte-)Verhältnis, aus dem Institutionen und Staatsapparate erst entstehen (vgl. Poulantzas 2002, Demirović 2006). Die These vom „erweiterten Staat“ (Gramsci) meint dabei keineswegs die vollendete Ausdehnung der Kontrollpraxis eines sich selbst gleichbleibenden Staates. Aber auch die spiegelverkehrte Vorstellung, der Staat zöge sich mit der Delegation an formal private Akteure aus dem Geschehen zurück, greift ins Leere. Vielmehr führt die Erweiterung zu einer Transformation von Staatlichkeit und nicht zur Auflösung gesellschaftlicher Widersprüche. Die Politik der NGOisierung generiert nicht nur willige Vollstrecker, sondern auch ihre Kritiker, die die EU an ihren selbstformulierten Maßstäben messen. So zeigten sich hohe Grenzschutzbeamte der Türkei im Gespräch äußerst kritisch beispielsweise gegenüber der neuen EU-Praxis von Sammelabschiebungen, haben sie doch gerade im UNHCR-Seminar gelernt, dass Asyl ein individuelles Recht darstellt. Massenabschiebungen seien abzulehnen, Menschen kein Frachtgut. Zum anderen stellt sich auch die konkrete Realität und Praxis des Grenzregimes weit widersprüchlicher dar, da die bislang dargestellten politischen Prozesse meist auf die Metropolen und dort auf spezifische gesellschaftliche Gruppen und Schichten beschränkt bleiben. Die Grenzschützer an der ägäischen Küste sind in andere Widersprüche und Interessen verstrickt. Angesichts ihres Erfahrungswissens über grenzüberschreitende Alltagspraxen amüsieren sie sich über die politischen Steuerungsversuche. So meinte ein höherer Polizeibeamter, dass der damalige deutsche Innenminister Schily wohl noch der einzige sei, der meine, Migration kontrollieren zu können. Doch nicht nur die neue Migrationsmanagement-Politik greift menschenrechtliche Diskurse auf und instrumentalisiert sie für ihre Ziele. Auch die MigrantInnen, die wir auf der anderen Seite des acht Meilen breiten ägäischen Meeresstreifens im Auffanglager auf der griechischen Insel Lesbos trafen, wussten um die Macht des Menschenrechtsdiskurses. Sie brachten ihn bei unserem Besuch sofort in Stellung, um ihre „menschenunwürdigen“ Lebensverhältnisse in dem Lager zu skandalisieren und dirigierten demgemäß unsere Blicke und Kameraobjektive. Andererseits wussten sie auch um seine Fallen und beantragten kein Asyl in Griechenland. Denn die „first country regulation“, die mittlerweile einen Grundpfeiler der harmonisierten EU-Asylpolitik darstellt, würde es ihnen nicht gestatten, weiter in den Norden zu migrieren, wohin ihre Verwandten als „Gastarbeiter“ kamen, später als Flüchtlinge und heute als „Illegale“. So sitzen sie lieber die vorgeschriebene Aufenthaltsdauer von drei Monaten in den Transitlagern ab (über die Vassilis Tsianos und Efthimia Panagiotidis in diesem Band mehr schreiben), um anschließend entweder in informellen Ökonomien und migrantischen Communities der griechischen Großstädte oder der Landwirtschaft einzutauchen und dort ein mehr oder weniger prekäres

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Leben zu führen. Oder machen sich weiter auf den Weg in den Westen bzw. Norden. Transnationale Netzwerke sind es auch, auf die MigrantInnen sich in Istanbul oder Athen stützen können und die ihnen Wege eröffnen, wenn auch manchmal nur bis zu den nächsten informalisierten großstädtischen Konglomeraten.

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DENATURALIZING „CAMPS“: ÜBERWACHEN UND ENTSCHLEUNIGEN IN DER SCHENGENER ÄGÄIS-ZONE Efthimia Panagiotidis/Vassilis Tsianos

Ende 2004 wurde in Griechenland der Film „Die Bräute“ intensiv diskutiert. Der Film über die griechische Auswanderung in die USA zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts handelt von „legal“ und massenweise geschmuggelten jungen unverheirateten Immigrantinnen und von ihren auf sie in den USA wartenden, aber ihnen bis dahin unbekannten Ehemännern. Alle vertrauten Elemente der Dramaturgie sind vorhanden: Schmuggel, Schiffe, junge Migrantinnen, transnationale familiäre und andere Migrationsnetzwerke, ungewöhnliche Seeüberfahrtsdienste und Schulden, Liebe und Verrat. Obwohl dies auch Elemente der Dramaturgie der gegenwärtigen transnationalen Migration nach und durch Europa sind, scheint nicht vieles dafür zu sprechen, Ellis Island, die „Insel der Tränen“ in der New Yorker Bucht, mit den Lagern für MigrantInnen auf den griechischen Inseln Lesbos, Kos, Samos oder Kreta zu assoziieren. Bestenfalls eine Nachfolgerin der Träneninsel erscheint als Pendant des ägäischen Lagerarchipels: Die Grüne Grenze, la Frontera, mit ihren Nachtsichtgeräten, der Menschenjagd, den Wachpatrouillen und dem Drahtzaun. Während Ellis Island ein kontrollierter Durchgangsraum für transatlantische Einwanderung war, werden die gegenwärtigen Orte der Grenzüberschreitung an der US-amerikanisch/mexikanischen Grenze und die an der Schengen-Grenze angesiedelten Lager mit einem militarisiertem Bild des gegenwärtigen Mythos der Grenze Europas als jenes der Festung assoziiert. Eine Art Synthetisierung aus hochtechnologischer Grenzkontrolle, europäischen Integrationsbestrebungen und den hilflosen kleinen Booten oder den Menschen vor den hohen Zäunen von Ceuta. Es ist der Mythos der Undurchdringlichkeit auf der einen Seite und ein humanisierender Blick auf die Opfer-Subjekte der Migration auf der anderen Seite. Die meisten Dokumentarfilme, die in den letzten Jahren über Migration nach Europa produziert wurden, schreiben sich in diese Logik ein (vgl. ausführlicher dazu den Beitrag von Brigitta Kuster in diesem Band). In der aktuellen Diskussion über die Analyse der europäischen Grenzen, die sich gegen die Rede von der Festung Europa richtet, die aber auch dem Verlust bzw. der Transformation nationalstaatlicher Souveränität im Zuge des europäischen Integrationsprozesses Rechnung trägt, hat sich der Regi-

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EFTHIMIA PANAGIOTIDIS/VASSILIS TSIANOS

me-Begriff durchgesetzt (vgl. TRANSIT MIGRATION 2005, Sciortino 2004). Entgegen dem Bild der Festung betont der Regimebegriff die verschiedenen Wissensformen und die nicht zuletzt darüber organisierten Regelungsweisen von Handlungen bei einer Vielzahl von Akteuren, deren Praktiken zwar aufeinander bezogen, nicht aber in Gestalt einer zentralen (systemischen) Logik geordnet sind. Darin lässt sich auch ein Zusammenhang von Subjektivierung und Herrschaft denken, bei dem etwa das Verhältnis der Handlungen der MigrantInnen und der Agenturen der Kontrolle nicht einfach als Subjekt/Objekt-Verhältnis gedacht wird (vgl. dazu Karakayalı/Tsianos 2005). Trotzdem fällt die Debatte um die europäischen Grenzregime oft entweder auf eine akribische Deskription der Grenzkontrollpolitiken angesichts wachsender irregulärer Migration oder aber auf die Rekonstruktion der sich etablierenden inter-, trans- und para-staatlichen Erfassungsinstanzen zurück (vgl. Andreas/Snyder 2000, Dietrich 2005). Mit einer derartigen Konzeptualisierung droht man nicht nur den migrationspolitischen Mythos der Kontrollierbarkeit von Migrationsprozessen zu reifizieren. Es besteht auch die Gefahr, die Analyse kontrollpolitischer Praktiken von dem Aspekt ihrer Funktionalität für die Migrationsregime, in die sie eingebettet sind, abzukoppeln. Die Geschichte der Grenze als ein soziales Verhältnis zu erzählen bedeutet allerdings, ein komplexeres, anspruchsvolleres Bild von Grenzsituationen zu entwerfen und die Grenze weder als technische Installation noch als natürlichen, unwegsamen Raum zu porträtieren. Die Kulturwissenschaftlerin Laura Marie Agustin geht sogar einen Schritt weiter und plädiert für eine De-Viktimisierung der Projekte der Migration, die an den Grenzen stattfinden: „The migration-project consists of a vast complex of forces, from the national and global to the most local, personal and serendipitous (whom one happens to meet in a café). How people move, how necessary knowledge moves toward them, how they move their money and how its values moves them, as well as how they encourage other migrants to make similar moves: all form part of these flows. We are surrounded by images and sounds that foment the desire to 'see the world', and although we don’t have solid proof that this vision affects the desire to travel, we all know that it does. Granting agency to migrating individuals does not mean denying the vast structural changes that push and pull them. However, granting them autonomy does not mean making them overresponsible for situations largely not of their own making. Global, national and local conditions intervene in individuals’ decisions, along with doses of good and bad luck.“ (Agustin 2003: 34)

Wir verfolgen vor diesem Hintergrund zum einen die Frage, inwiefern die Grenzregime als kontingente Regulationsfelder zur Lenkung, Entschleuni-

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gung oder Aussetzung der transnationalen Arbeitskraftmobilität, in die sich die turbulente Dynamik des migrantischen Exodus einschreibt, erfasst werden können. Zum anderen sollte der Begriff des Regimes es ermöglichen, Aspekte einer Theorie der „Autonomie der Migration“ zu artikulieren und so eine ökonomistische oder systemische Herangehensweise zu vermeiden.

Transitraum Ägäis: Bordercrossing Im Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko werden kommerzielle Fluchthelfer, welche im Stande sind die Staatsgrenze zu überqueren, „Coyote“ genannt. Britische Seeleute nannten die Vermittler blinder Schiffspassagen „Shark“ (Hai). Im Chinesischen gibt es „Shetou“ (Schlange). Im Englischen ist die Rede von „Snakehead“, einem Menschen, der schlau wie eine Schlange ist und seinen beweglichen Kopf zu nutzen weiß, um sich durch schwierige Hindernisse einen Weg zu bahnen. So lautete auch der Name des chinesischen Netzwerkes, das für die Tragödie von Dover verantwortlich gemacht wurde. Tiernamen werden auch von den Netzwerken des Migrationsbusiness in der Ägäis benutzt. An der griechisch-albanischen Grenze heißen die Transporter „Korakia“ (Raben). Der türkische Ausdruck „Koyun ticareti“ wiederum (Schafshandel), hat wenig gemein mit dem Phantom einer weltweit agierenden „Schlepper“-Mafia, sondern benennt eine Vielzahl von Akteuren, die auf eigene Rechnung mitmischen und jeweils nur das nächste Glied in der Transportkette kennen. Dazu gehören diejenigen, die abgetakelte Schiffe aufkaufen und in das Business einbringen, ebenso wie Fischer, korrupte Beamte und Hotelbesitzer, die mal ihre Zimmer Polizisten zur Prostitution zur Verfügung stellen, und an anderen Abenden MigrantInnen auf dem Zwischenstopp in ihrer Küche arbeiten lassen: Nicht nur eine gute Tarnung, sondern auch eine Möglichkeit, die hohen Reisekosten begleichen zu können. In so manchen Sweatshops um Izmir und Istanbul erarbeiten ganze Reisegruppen ihre Tickets in den Westen (vgl. Hess/Karakayalı 2004). Grenzen waren stets favorisierte Objekte der Mythenbildung, eine beständige Quelle für Fiktionen und Erzählungen. Politische Konzepte, Kontrollentwürfe, populäre Darstellungsweisen aber auch kollektive Nutzungsweisen tragen dazu bei, den Grenzraum zu kennzeichnen und ein topokratisches Selbstverständnis herzustellen bzw. zu verstärken. Diese „Ideologien des Raumes“ (Lefebvre) oder – in Anlehnung an die Terminologie von Roland Barthes – „Mythen der Grenze“, entwerfen ein Bild vom gesellschaftlichen Ganzen, das die differierenden Praxisformen der Individuen und sozialen Kollektive synthetisiert und zugleich formiert. „Der Mythos“, so Roland Barthes, „leugnet nicht die Dinge, seine Funktion besteht im Gegenteil darin, von ihnen zu sprechen. Er reinigt sie nur einfach, er macht

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sie unschuldig, er gründet sie als Natur und Ewigkeit, er gibt ihnen eine Klarheit, die nicht die der Erklärung ist, sondern die der Feststellung“ (Barthes 1964, 131). Sein Grundprinzip besteht darin, die Geschichtlichkeit mehrfach bevölkerter transitorischer Orte in natürliche Räume der Grenze zu verwandeln. Als wir während unserer Feldforschung entlang der neuen europäischen Grenzen im „Dreiländereck“ der Evrosregion und entlang der ägäischen Inseln auf der Suche nach den differierenden Praxisformen der „Ankunft“ in diesem Teil der „Festung Europa“ waren, stießen wir sowohl auf den „Limes“ dieses Abschottungsmythos, als auch auf die Grenzen unserer eigenen Selbstwahrnehmung als ForscherInnen. Es hat lange gedauert, die relative Zurückhaltung der DorfbewohnerInnen von Lagina zu reflektieren und zu bemerken, dass nicht wir diejenigen waren, welche das Grenzgeschehen beobachteten, sondern von ihm beobachtet wurden: Die BewohnerInnen gingen davon aus, dass wir „Korakia“ (Schmuggler) waren. Erst als klar war, dass unser Umherschweifen in der Gegend nichts mit dem Warten auf die nächtliche Ankunft von MigrantInnen zu tun hatte, begannen sie, uns in ihre gelebte Praxis dieser durchlöcherten „Festung“ einzuführen. Ähnlich wie die Evroszone bildet das griechische Lesbos zusammen mit der gegenüberliegenden türkischen Stadt Ayvalık und dem Hafen von Izmir einen gemeinsamen sozialen Raum, der erst im Zuge des Bevölkerungsaustausches (Psimmenos 2000, 82f.) zwischen den jungen griechischen und türkischen Nationalstaaten in den 1920er Jahren neu „kartiert“ wurde, und zur ersten Flüchtlingsaufnahmestation auf dem Weg nach Piräus führte. Die hinterlassenen Spuren und das Wissen um die Modalitäten dieses transitorischen, mehrfach fragmentierten Raumes prägen nicht nur die kollektiven Raumvorstellungen der Grenzregion, sie sind auch in die aktuelle politische Geografie des griechischen Nationalstaates eingeschrieben: „Die Grenzlinie der Ägäis-Zone stellt in der Praxis keine klare und kontrollierbare Linie dar wie die Landesgrenzen, sondern einen legal durchschiffbaren Raum, laut dem Regime der ‚innocent passage‘. […] Der dichte internationale Schiffsverkehr im griechischen Raum, in dem Schiffe die westlichen Seite des Mittelmeers, das Schwarze Meer, den Nahen Osten, die Adria und den Suez durchqueren, macht praktisch die vollständige Kontrolle unmöglich. Die weite Küstenlinie (16.000 km) aber auch die Menge an Inseln und Felseninseln (über 3.000) schaffen einen fragmentierten Raum, der von unzähligen Richtungen aus erreicht werden kann, wie die Beispiele an illegalen Ankünften in Laurio, Eubia, Piräus, Ermoni, Katakolo, Mykonos sowie anderen Orte des griechischen Territoriums zeigen. Das bedeutet, dass die kontinuierliche Präsenz der Schiffspatrouille nicht die Verhinderung der illegalen Einwanderung gewährleisten kann.“ (Griechisches Ministerium für Handelsschifffahrt, http://egov.yen.gr/shipping/03-immigrate/01-borders/04-face)

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Das Ägäische Archipel, so wie die Meerenge von Gibraltar oder die zwischen Tunesien und Lampedusa, markieren auf einer geografischen Karte zwar Orte der nationalen Kontrolle, zugleich gewährleisten diese skalierten Räume in ihrer Definition als internationale Gewässer die unbehinderte Warenzirkulation und Bewegungsfreiheit. Griechenland unterzeichnete zwar am 13. Dezember 2000 das „Protocol against the Smuggling of Migrants by Land, Sea and Air, supplementing the United Nations Convention against Transnational Organized Crime“ der UNO. Bis jetzt wurde es jedoch noch nicht ratifiziert. Eines der wichtigsten Resultate beim Treffen des Europäischen Rates in Thessaloniki am 19.-20. Juni 2003 war die Hervorhebung der Bedeutung der Kontrolle der Meeresgrenzen. Doch laut dem Ministerium der Handelsmarine birgt der Schutz der griechischen Meeresgrenze einige spezifische Schwierigkeiten. Der Leiter der Küstenwache auf Lesbos erklärte etwa1, dass die Hafenschutzpolizei, sobald sie unbekannte Schiffe in griechischen Gewässern entdeckt, diese zurück auf türkische Gewässer zu bewegen versucht. Manchmal folgten die Schiffe einer solchen Aufforderung und kehrten um. Es bleibe jedoch zu vermuten, dass sie nach der Weiterfahrt der Kontrollstreife an einer anderen Stelle versuchen würden, griechisches Territorium zu erreichen. In anderen Fällen versuchten MigrantInnen auf Schlauchbooten nach Lesbos zu kommen, weil diese Boote nicht von den Sicherheitskameras erfasst werden können. Die Insassen solcher Boote reagierten auf ein drohendes Abdrängen in türkische Gewässer oftmals mit einer riskanten Aktion: Sie bringen ihre Boote zum Kentern bzw. Sinken. Die Aufgabe der Küstenwache verwandelt sich in diesem Moment in das „grenzwertige“ Problem einer Rettungsaktion, denn sobald ertrinkende Menschen sich in griechischen Gewässern befinden, muss die Küstenwache Hilfe leisten und diese retten. Die Geretteten werden aufs Festland gebracht und der Polizei übergeben. Die Hauptaufgabe der Grenzkontrolle im maritimen Bereich wird dadurch erschwert. Zwar wurde bereits der Versuch unternommen, die schiffbrüchigen MigrantInnen mit Linienschiffen von Lesbos aus wieder in die Türkei zu schicken. Allerdings rief diese Praxis ein „diplomatisches Problem“ hervor, da nun die Türkei den griechischen Staat der Beförderung und Organisierung „illegaler Migration“ bezichtigte. Lesbos und Bodrum sind 8 km Luftlinie voneinander entfernt. Der Kommandant der Küstenwache in Izmir erklärt – ähnlich wie sein griechischer Kollege – hinter vorgehaltener Hand: Die Küstengrenze zu Griechenland sei nicht nur aus geografischen Gründen unkontrollierbar, auch könne die Küstenwache mit der Schnelligkeit und dem Einfallsreichtum des „Transportgeschäfts“ kaum Schritt halten. 1 Die Recherche in Griechenland und der Türkei führten im Rahmen des Projekts TRANSIT MIGRATION Efthimia Panagiotidis, Vassilis Tsianos, Sabine Hess und Serhat Karakayalı durch.

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Die türkische Ägäis-Küste ist zu einem transitorischen Ort geworden, in dem diverse Dynamiken dieses transnationalen sozialen Raumes aufeinander prallen. Paradigmatisch für dieses Feld ist die Nutzungsweise von Hotels, wie dem „Hotel Almanya“. Es wird, wie viele kleine und mittlere Pensionen und Hotels, die an der türkischen Riviera liegen, von den türkischen Behörden als Lager und Haftanstalt des Grenzregimes genutzt. So werden dort nicht nur deutsche und russische TouristInnen beherbergt, sondern auch TransitmigrantInnen von der Polizei festgehalten, bis ihr Status festgestellt ist und sie entweder frei gelassen oder abgeschoben werden. „Eingecheckt“ werden hier auf engstem Raum MigrantInnen aus dem Irak, Afghanistan, Syrien, Liberia und dem Sudan. Viele von ihnen verfügen über ein reichhaltiges Migrationswissen: wie man weiterkommen könnte, wo es sich lohnt, Asyl zu beantragen, und was man dafür berücksichtigen muss. Improvisierte „Deportation Camps“ in Schulen, Hotels, leerstehenden Fabrikgebäuden oder Polizeistationen gibt es mittlerweile viele in der Türkei. Sie werden mangels einer staatlichen Migrations- und Asylpolitik und entsprechenden Infrastruktureinrichtungen von den lokalen Vollzugsbeamten als temporäre Haftanstalten genutzt. In diesem unvollständigen System ergeben sich Spielräume. So werden einerseits MigrantInnen nach Syrien verfrachtet, ganz gleich ob sie von dort kamen. Andererseits kann unter diesen Bedingungen schon eine kollektive Grippewelle oder eine angebliche Ehe zur Freilassung aus dem Polizeirevier führen. Auch existiert ein Markt für fakes und frauds: Gehandelt werden gefälschte Fluchterzählungen, Zeitungsartikel und gestellte Foltervideos. Hier werden nicht nur die Kategorien der EU-Migrationspolitik bedient, es wird auch klar, dass es ein verbreitetes Wissen um die Bedingungen der Migration gibt: Wie man es macht, nicht aus einem „sicheren Herkunftsland“ zu kommen; wie man den Dokumentationspflichten des europäischen Asylverfahrens genügt. (Vgl. den Beitrag von Sabine Hess und Serhat Karakayalı in diesem Band) Ein Wissen über die Modalitäten des irregulären Grenzübertritts scheint auch in der EU-„Binnenzone“ – bei den BewohnerInnen der Evrosregion im Dreiländereck Griechenland, Türkei und Bulgarien – weit verbreitet zu sein. Dass die Kontrolle der Grenzen von den beteiligten Beamten wie auch der lokalen Bevölkerung als prinzipiell nicht durchsetzbar kommuniziert wird, zeigt auch folgende Erzählung eines Restaurantbesitzers und Ex-Grenzsoldaten in der Region: „Selbstverständlich sehen wir hier alles, […] die Region hier ist schon lange ein Weg, ein Korridor.“ Für die MigrantInnen erweist sich der Fluss Evros als lebensbedrohlich, seine Überquerung stellt die „billigste und gefährlichste Route“ dar. Doch es gibt zahlreiche Furten, um diese Grenze zu überqueren. Die Schmuggler begleiten die MigrantInnen nur bis an den Rand des Flusses, der von dort mit kleinen Booten überquert wird. Oft kämen Familienangehörige der GrenzgängerInnen aus Athen angereist um sich nach ihren Freunden und Verwandten zu erkundigen. „Einige ver-

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bringen einfach Zeit hier […]. Wir wissen ganz genau, sie warten auf ihre Leute. Wenn sie keine Zeit mehr haben, weil sie arbeiten müssen, geben sie dir ein Foto, Geld und eine Telefonnummer in Athen. Einige von uns machen es und einige nicht. Es gibt Leute hier, die von heute auf morgen neue Autos kaufen.“ Immer wieder berichteten die griechischen Medien über Fälle, in denen TransitmigrantInnen beim Überqueren des Grenzflusses in Minenfelder getrieben wurden. Es ist ein offenes Geheimnis, dass MigrantInnen in nächtlichen Aktionen illegal in die Türkei rückgeführt werden. „Als wir Soldaten waren, von 1995 bis 1996, hatten wir fast täglich damit zu tun“, meinte ein ehemaliger Grenzsoldat und Mitglied der Grenzbürgerwehr. „Als Evros-Junge weißt du es aus Erfahrung […]. Es gab kein System, es gab Nächte wo wir nichts unternahmen. Andere wiederum wo wir sie festnahmen, oder sie auf Anweisung in die Richtung der Minenfelder zwangen, damit sie zurückkehren, wenn sie die Warnschilder sehen.“ Doch die Soldaten wussten, dass dort wo es Schilder gab, diese in der Nacht schwer zu erkennen sind. „Es gab Nächte, in denen sie plötzlich mit nasser Kleidung im Zentrum des Dorfes auftauchten und nach der nächsten Zugverbindung nach Athen fragten.“ Einige hatten Geld bei sich. Andere zeigten kleine Zettelchen mit Routen, Verkehrsverbindungen und griechischen Namen darauf und fragten wo diese zu finden seien. „Was sollten wir machen? Sollten wir die Polizisten holen? Unsere Mütter besorgten schnell warme Klamotten oder Essen. Wir waren auch Flüchtlinge, weißt du, wir zeigten den Weg und sie verschwanden in der Nacht.“2

„Sheep trade“ – Wilde Schafsjagd in Ägäis Im Unterschied zu den bekannten Touristendomizilen am türkischen Mittelmeer ist Ayvalık ein kleines und nahezu verschlafenes Badeörtchen, nur wenige Kilometer entfernt von der griechischen Insel Lesbos gelegen. Bei den GesprächspartnerInnen in der Türkei stieß der Ausdruck „Migrant“ auf Unverständnis: „Migranten – göçmen? Ihr wollt die Geschichten des Austauschs zwischen Griechen und Türken von 1923 untersuchen? Hier leben einige, die von Lesbos damals vertrieben worden sind.“ Erst die Nachfrage nach Geschichten von Flüchtlingen, „mülteciler“, führte zu folgender Erzählung: „Ja, erst letzte Woche hat mir unsere Putzfrau wieder von einem Schiff erzählt, welches mit 23 Leuten ausfuhr und schon irgendwo in der Nähe kenterte. Nur drei haben überlebt. Die Küstenwache macht sich schon keine Mühe mehr die gesunkenen oder gestrandeten Schiffe zu bergen, es sind so viele. Ich kann euch zu einem hinbringen.“ Der Weg führte zwar 2 Die Narration über die kollektive Fluchterfahrung bezieht sich auf den erwähnten Bevölkerungsaustausch zwischen der Türkei und Griechenland 1923 und ist immer noch virulent unter den Evros-BewohnerInnen.

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nicht zum gestrandeten Schiff, aber zu einer weiteren Person, die den „Schafshandel“ aus eigener Erfahrung kannte. Erst vor wenigen Jahren hatte der Mann 800 MigrantInnen auf einen Tanker verholfen. Es lief wie immer. Er bekam einen Anruf aus Istanbul, dass sie seine Hilfe bräuchten. Sie schafften es, die 800 Leute an die dünn besiedelte Küste zu transportieren und von dort auf den Tanker, der sie direkt nach Italien fahren sollte. Unvorstellbar, dass 800 Menschen in diesem Küstenstreifen, der nur durch einen Schotterweg mit dem nächsten größeren Ort verbunden war, unerkannt bleiben konnten. „Nichts ist wirklich unerkannt oder geheim“, bemerkte der Interviewpartner. Einen Tag später bekam er die Nachricht, dass der Tanker aufgebracht worden ist. „Das ist das Berufsrisiko. Wir hier an der Küste sind da rein gerutscht. Anfang der 1990er Jahre fing alles an, zunächst sehr klein und geheim, mittlerweile ist es ein großer Sektor.“ Der Transport begann, als ein irakisches Ehepaar nach Ayvalık zog und sich an der Küste ein Ferienhaus nahm. Zunächst half das Paar einigen Angehörigen vor dem Golfkrieg zu fliehen. „Mitte der 1990er kamen die Kurden hinzu, heute kommen sie aus allen Himmelsrichtungen. Am Anfang kamen sie alleine mit öffentlichen Verkehrsmitteln, dann wurden sie mit Kleinbussen gebracht und schließlich kamen sie mit drei, vier großen Bussen, bis die Polizei es merkte. Heute werden sie daher in Lastwagen transportiert, zusammengepfercht wie Schafe.“ Er selbst wurde in das Business involviert, als ihn eines Tages zwei junge Männer in seinem Hotel fragten, ob er ihnen helfen könne. Ihr Boot, mit welchem sie aus Istanbul hergefahren waren, sei von der Polizei beschlagnahmt worden. Außerdem sei Eile geboten, da eine Gruppe von MigrantInnen in dem nahe gelegenen Wald auf die Weiterfahrt wartete. Sie baten ihn, etwas zu unternehmen, um ihr Boot frei zu bekommen. Als er von den Männern in den Wald geführt wurde, habe er seinen Augen nicht getraut und sei schockiert gewesen. Denn dort – es war Dezember, also kalt und regnerisch – warteten Männer, Frauen und Kinder seit Tagen auf ihre Überfahrt. Aus Furcht, aufzufallen, hatten sie sie kein Feuer gemacht. Er beschloss aktiv zu werden und, wenn’s sein muss, ein Boot zu kaufen. Wenige Tage später stachen die Flüchtlinge in See, wurden jedoch kurz vor Lesbos aufgegriffen und festgenommen. Die zwei Männer hielten dicht und sagten wie vereinbart aus, dass sie das Boot von ihm gestohlen hätten. Allerdings wollte auch er sein Geld haben, schließlich sei er kein „heiliger Samariter“. Weshalb er erfolglos versuchte, sein Geld in Istanbul – dem zentralen Umschlagplatz und Knotenpunkt des Business – zurückzufordern. Die Geschichte eines anderen Schmugglers, eines alten Fischers, klang ähnlich. Auch er führte seinen Einstieg ins Geschäft auf den Kontakt zu dem irakischen Ehepaar zurück. Es begann mit einem Freundschaftsdienst, in dessen Folge sich immer öfter irgendwelche Leute an ihn wandten und ihn um „Hilfe“ baten, bis er vor drei Jahren festgenommen wurde. Erst während sei-

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ner zweijährigen Haft in Griechenland habe er gemerkt, dass der „Schafshandel“ ein großes Geschäft an der Küste geworden sei, erzählte er schmunzelnd. Ähnlich wie der Hotelbesitzer wollte er den „poor migrants“ helfen, aber durchaus auch ein wenig Geld nebenbei verdienen. „Solange es Kriege und Zerstörung auf der Welt gibt, solange fliehen Menschen eben. Denn wenn Menschen nur zwischen Tod und Verhungern wählen können, machen sich die Leute auf den Weg, auch wenn das gefährlich ist, […] und dann werde ich auch helfen.“ Unsere Berichte von der ehemaligen ostdeutschen Grenze und dem Kontrolldiskurs in Deutschland rufen bei ihm nur ein Lächeln hervor: „Ich sage euch doch, dass Menschen immer fliehen werden und andere immer helfen.“ Die Situation finde zwar unter erschwerten Bedingungen statt, weil die Kontrollen verstärkt werden. Der „Schafshandel“ gehe aber trotzdem weiter, mit dem einzigen Problem, dass an der nächsten Ecke eine andere Polizeitruppe warte, die nicht geschmiert ist. (Vgl. Hess/Karakayalı 2004) Ein professioneller Schmuggler in Griechenland schildert seinerseits die Erfahrungen mit der Praxis des Bordercrossings: „Die Bezahlung findet erst am Ende des Geschäfts statt.“ Das sei die Sicherheit welche den Kunden oder ihren Familienangehörigen bleibt. Die Vereinbarung erfolge immer auf mündlicher Basis. Ein Kapitän ist dann „vertrauenswürdig“, wenn er oft finanzielle Probleme habe und auf das Geld angewiesen ist. Sobald der Kapitän kontaktiert wird und die Verbindung steht, bestimmt man das Datum, man zählt die „Köpfe“ und anschließend vereinbart man den Preis und die Art der Auszahlung. Der Preis variiert je nach „Köpfen“ und dem Bedarf der Reise. Der Kapitän kann, bis zu 15.000 Dollar pro „Transport“ kriegen. „Manchmal im Sommer sind wir in fünf Minuten fertig“. Die Figur des „Traffickers“ bzw. Schmugglers ist wie ein blinder Fleck in den gegenwärtigen Analysen der migrantischen Netzwerke: selten erforscht und am meisten kriminalisiert. Der Mafia-artige Schleier, der die Transport-Netzwerke umhüllt, wird allerdings in den wenigen Untersuchungen (vgl. Sciortino 2005, İçduygu/Toktas 2002) als generalisierend kritisiert, in dem Sinne, dass TransitmigrantInnnen auf Ressourcen, oder vielmehr eine Vielzahl von separaten Verbindungen aktiv zurückgreifen, die den Transport schrittweise ermöglichen können, diesen aber nicht systematisch organisieren.3 Die sozialen Verhältnisse im direkten Grenzraum sind auch mit den gegenwärtigen Entwicklungen in den westtürkischen Metropolen aufs Engste verbunden, wie die zufällige Begegnung mit Mike 3 Eine vorsichtige Interpretation in der gleichen Richtung liefern auch Friedrich Heckmann, Tanja Wunderlich, Susan F. und Martin Kelly McGrath in dem Protokoll der Transatlantischen Tagung zum internationalen Menschenschmuggel, organisiert vom Institute for the Study of International Migration (ISIM) an der Georgetown University und vom Europäische Forum für Migrationsstudien (efms) an der Universität Bamberg (vgl. auch Neske et al. 2004).

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in Bodrum zeigt. Mike lebte einige Jahre als Transitmigrant in Istanbul und begab sich entlang der Küste, mit einem kleinen Bild in der Hand, auf die Suche nach einem vermissten Freund, dessen Spuren er nach einem gescheiterten Grenzübertritt verloren hatte. „Noch Fragen?“ meinte Mike leicht reserviert bei einer zweiten Begegnung in Istanbul. Als Basketballer war er vor Jahren zusammen mit seinem Freund in den Libanon gegangen. Sie hatten dort einen Job gefunden, eine temporäre Arbeitserlaubnis war kein Problem. Doch der Libanon sei nach den jahrelangen Bürgerkriegen ein chaotisches und hartes Land. Die beiden machten sich auf dem Weg nach Europa mit gefälschten Pässen und 1500 Dollar in der Tasche. Über Syrien kamen sie dann in die Türkei. Von dort aus unternahmen sie drei Versuche der Weiterreise: mit Visa und Linienflug nach Polen bzw. Kroatien und mit dem Schiff nach Griechenland. Alle Versuche scheiterten – vom Geld blieb nicht viel übrig. In Istanbul sei es äußerst schwierig, Geld zu sparen. Mike klagte, dass sie nur selten Arbeit fänden, überhöhte Mieten zahlten und immer wieder die Wohnung wechseln müssten. Die Gegenden, in denen sie wohnten, seien besonders häufig von Razzien betroffen. Oft sitze er für Tage und Monate in Haft. Doch finde er immer Mittel und Wege, aus der Haft entlassen zu werden und das nicht nur, weil die Abschiebeflüge nach Afrika teuer und die staatliche Infrastruktur hierfür noch nicht ausgebaut ist. Er könne sich nicht erinnern, erzählt er lachend, unter wie vielen Namen er bereits verhaftet war.

Lager als Heterotopien4 der Migration Auch Luis wurde vor längerem aus der Haft entlassen. Er reiste offiziell mit einem Studienvisum, konnte jedoch bald die Studiengebühren nicht mehr bezahlen, weshalb sein Visum nicht verlängert wurde. Wie viele andere, für die aufgrund ihres gefälschten Passes der Erwerb eines Flucktickets als Option ausscheidet, hatte er sich auf den Weg an die ägäische Küste gemacht, doch der Minibus aus Istanbul wurde vorher abgefangen und die Gruppe in einer leerstehenden Schule inhaftiert. So musste er sich erneut überlegen, in welche Schublade der offiziellen Migrations- und Mobilitätspolitik er sich stecken sollte: ganz in Istanbul bleiben und ein mageres Überleben organisieren, wieder zurück nach Ghana, von dort ein neues Visum oder besser noch gleich Asyl, diesmal in Deutschland, beantragen? Oder auf irregulärem Weg versuchen, nach Deutschland zu kommen? Griechenland würde ihm eigentlich schon reichen. 4 Heterotopien sind im Sinne von Michel Foucault „Orte, die sich allen anderen widersetzten und sie in gewisser Weise sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen sollen. Es sind gleichsam Gegenräume“ (Foucault 2005, 10).

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Tatsächlich stellt Griechenland den ersten „point of entry“ nach Schengenland in der Region dar, in dem die Knotenpunkte der Migrationsrouten unter neuen Bedingungen verknüpft werden. Zwei iranische Migranten, der eine mit britischem Pass und der andere illegal in Griechenland, wurden 2004 beim Aussteigen aus einem Linienboot auf Lesbos festgenommen. Der erste brachte gefälschte Papiere und Aufenthaltserlaubnisse für seine Frau, deren Schwester und seine Tochter mit. Allerdings waren alle drei Frauen, so seine Aussage, noch nicht auf der Insel. Er erwartete ihre Ankunft aus der Türkei innerhalb der nächsten zwei Tage. In einem anderem Fall stellte sich bei einer Razzia in zwei Wohnungen in der Nähe der Stadt Mitilini folgendes heraus: Vier „Fluchthelfer“ aus der Türkei und Griechenland hielten vierzig MigrantInnen als „Sicherheit“ fest, bis deren Familienangehörige in Athen die Reisekosten erstatten würden. Bei einigen der Festgenommenen konnte, so der Bericht eines UNHCR-Mitarbeiters, nachgewiesen werden, dass sie mindestens schon zwei Mal in die Türkei ausgewiesen worden waren. Sie hatten in der türkischen Stadt Marmaris, Mitilini gegenüberliegend, solange gewartet, bis ihre Familien oder Netzwerke ihre Weiterreise über Griechenland nach Italien finanzieren konnten. Resa, ein Migrant aus Bangladesch, organisierte auch den Transport von Lesbos nach Italien. Im Sommer 2004 wurde er in Mitilini wegen des Verdachts auf „Trafficking“ festgenommen. Er verfügte über eine Wohnung in Mitilini, wo er MigrantInnen unterbrachte, die er vor dem Lager in Pagani anwarb. Er war mit dem Flugzeug auf die Insel gekommen, nachdem er telefonisch von einem palästinensischen Insassen aus dem Lager in Pagani kontaktiert wurde. Er teilte dem Transitmigranten im Lager mit, dass der „Transport“ nach Italien, inklusive der Erstunterbringung in einer Wohnung in Mitilini und Athen, 500 Dollar koste. In dem erwähnten Lager in Pagani auf Lesbos saßen circa 750 Leute fest – bewacht von acht Polizisten. Eine Kleidersammlungsaktion der örtlichen Flüchtlingsunterstützungsgruppe von Mitilini bot sich als Gelegenheit, die Flüchtlinge zu besuchen. Der Präfekturbeamte, der den LKW mit den Kleidungsstücken und Medikamenten fuhr, rief beim Anblick des Lagers ernsthaft begeistert aus: „Hier ist es schön, wie im Gefängnis!“ Die Festgehaltenen wussten meist, dass sie noch drei Monate im Lager bleiben und danach nach Athen gehen müssen. Sie fragen nach Telefonkarten, und nach Telefonnummern von NGOs in Athen. Auf die Frage, ob sie etwas benötigen, antwortete Minu mit verblüffender Bestimmtheit: „Ja. Ein Englischbuch. […] Wir wollen doch nach Kanada!“ Auch Apo saß in diesem Lager, das als so genanntes Aufnahmezentrum errichtet wurde. Er erzählte, dass er aus Stuttgart komme, wo er seit Anfang der 1980er Jahre mit seinen Verwandten als „Gastarbeiter“ lebe. In den 1990ern ging er zurück in die türkischen Berge, um mit der PKK zu kämpfen. Als die PKK einen Waffenstillstand ausrief, zog er sich in den Irak

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zurück. Seit einigen Monaten sei er nun auf seiner Rückreise und habe endlich über die türkische Küste die ägäische Insel Lesbos erreicht. Denn auf direktem Weg könne er nicht mehr nach Deutschland einreisen, da ist sein legaler Aufenthalt – laut dem deutschen Ausländergesetz – aufgrund seiner langen Abwesenheit annulliert. Apo würde also, obwohl er schon 25 Jahre in Deutschland gelebt hatte, illegal sein. Nun versuchte er mit seinen Verwandten in Deutschland Kontakt aufzunehmen, damit sie ihn aus dem Lager und zurück nach Deutschland holten, egal wie. Obwohl er als politisch Verfolgter gelten kann, will er auf Lesbos keinen Asylantrag stellen. Die Prozedur ist ihm zu unsicher und es dauert zu lange. Die Anerkennungsquote lag 2004 bei 0,6% und Wartezeiten bis zu zwei Jahren sind keine Seltenheit (vgl. Petracou 2005). Hätte Apo einen Asylantrag in Griechenland gestellt, müsste er sich zudem in Laurio – ein vor 10 Jahre errichtetes Lager für politisch Verfolgte vor allem aus der Türkei – registrieren lassen. Sich als Asylbewerber in Griechenland registrieren zu lassen, würde aber bedeuten, dass seine Erstankunftsdaten im Schengener Informationssystem (SIS) gespeichert werden.5 Dies wiederum brächte aufgrund der Dubliner First-Country-Regelung mit sich, dass er nicht nach Deutschland weiterreisen könnte, da er bei einer Festnahme mit der Rückführung nach Griechenland rechnen müsste6. Apo will aber in Deutschland leben und so nimmt er die Gefahren des illegalen Bordercrossing in Kauf. Er setzt darauf, mit Hilfe seiner Familiennetzwerke Griechenland illegal zu verlassen. In Deutschland will er auch keinen Asylantrag stellen. Denn als Asylbewerber würde er zwangsläufig einem Asylbewerberheim zugewiesen werden, in dem er weder arbeiten noch aufgrund der Residenzpflicht in der Nähe seiner Familienangehörigen wohnen dürfte. Auf Kreta wiederholt sich das Szenario im pompösen Hotel Royal direkt gegenüber des verlassenen US-amerikanischen Stützpunkts, wo vor ein Paar Jahren hohe Nato-Generäle residierten, sind 140 Migranten untergebracht. 5 Die Prüfung seiner Fingerabdrücke durch eine im September 2003 in Betrieb genommene EU-weite Datenbank („Eurodac“) ergäbe, dass er bereits in Griechenland um Asyl nachgesucht hatte. 6 Apo würde deswegen inhaftiert und für ca. sechs Monate in Deutschland interniert. So lange dauerte es, bis im Einklang mit der im Februar 2003 ratifizierten „Dublin II-Regelung“ geklärt wäre, dass Griechenland für seinen Asylantrag innerhalb der EU verantwortlich ist. Asylsuchende, die von anderen EU-Staaten zurückgeschickt werden, haben in Griechenland das Problem, dass ihr Verfahren unterbrochen wurde und deswegen laut griechischem Gesetz nicht wieder aufgenommen werden kann. Genau dies widerfuhr Mohammed bei seiner „Rückführung“ von London in Griechenland im Juni 2004. Mohammed kam über die Türkei auf der ägäischen Insel Leros an, aber obwohl er einen Antrag auf Asyl gestellt hatte, reiste er weiter nach London, wo er mit einer kürzeren Bearbeitungsdauer rechnete und Familienangehörige schon auf ihn warteten. Er wurde informiert, dass infolge seiner „nicht autorisierten“ Ausreise die Bearbeitung

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Das gleiche Dekor wie im Lager auf Lesbos: gelangweilte, Karten spielende Marineoffiziere trinken Frappé mit zwei Migranten. Der Sprecher der Festsitzenden, der in Ägypten Lehrer war, erzählt, dass die Hälfte der festgehaltenen MigrantInnen Palästinenser sind und Anträge auf Asyl gestellt haben, die andere Hälfte jedoch keinen stellen wollte. Außerdem seien sie irrtümlicherweise in Griechenland. Eigentlich wollen sie nach Italien. Ihre einzige Forderung war, ihnen dabei zu helfen „ihren Bruder“ zu befreien, der beim Verhör von den Polizisten als „Trafficker“ identifiziert wurde, „weil sie noch einen Schuldigen brauchten“. Tatsächlich waren laut einem Marineoffizier vor dem Hotel die vier „Trafficker“ noch nicht gefasst. „Die Migranten wissen genau was sie wollen“, meinte der Aktivist von Amnesty International von Heraklion, der mit dem Fall betraut war, wenig erstaunt. „Die Palästinenser, oder diejenigen, die als solche einen Antrag stellen, kommen nicht aus Ägypten. Für diejenigen aber, die aus Ägypten kommen und nach Italien wollten, ist es besser, keinen Asylantrag zu stellen, weil sie dann im sicheren Falle der Rückführung in Ägypten als Landesverräter im Gefängnis landen. Damit können sie keinen erneuten Versuch der Einwanderung unternehmen. Denn sie machen es wieder!“ Während der repressionstheoretische Blick – der für die Rede von der „Festung Europa“ so kennzeichnend ist – in den Lagern den ultimativen Beweis für die Effektivität und das Elend der Abschottung findet, zeugen die Geschichten von Mike, Resa, Minu und Apo exemplarisch von der turbulenten Porösität und vom Scheitern dieser als panoptisch und omnipotent apostrophierten „Festung“. Ihre Hartnäckigkeit und die Flexibilität, mit der Migrationsbiografien multidirektional arrangiert werden, sowie die aktive Einbettung in kriminalisierte Netzwerke der grenzüberschreitenden Mobilität legen uns im Gegenteil nahe, die Lager als erduldete Transitstationen und Heterotopien der Migration zu begreifen.

Transiträume durch NGOisierung Der Prozess der Europäisierung der Migrationspolitik dokumentiert auf spezifische Weise gegenwärtige Tendenzen der Transformation von Staatlichkeit bzw. von staatlicher Souveränität. Denn Migration spielt im Transformationsprozess der Europäischen Integration eine wesentliche Rolle. Ihre Bedeutung ist exemplarisch am Feld der Etablierung einer relativ autonomen Vermittlungsebene der Regulierung abgestufter Zonen der Souveranität aufseines Falles unterbrochen worden war und es deshalb nicht möglich sei, seinen Antrag weiter zu bearbeiten. Er wurde für weitere drei Monate inhaftiert, dann mit der Aufforderung entlassen, Griechenland binnen eines Monats zu verlassen. Durch das erste Legalisierungsgesetz aus dem Jahre 2001 ist Mohammed heute legal.

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zeigbar. Der Begriff der NGOisierung oder des Menschenrechtsregimes verweist auf diese Vermittlungsebene zwischen einem „harten“ exekutiven Segment des Staates und einem Regulationsbereich, der faktisch peripher in der Struktur eines sozialstaatlichen Kompromisses angesiedelt ist. Nicht-dokumentierte, illegalisierte Migration wird somit, in einem etatistisch-legalistischen Sinne, per definitionem lediglich als Kontrollrisiko und als krimineller Grenzverkehr begriffen. Regulation bedeutet jedoch mehr als Kontrolle: Sie impliziert die immer wieder und je nach Konjunktur bestimmbare Möglichkeit, die Reproduktion der Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse zu gewährleisten. In diesem Falle betrifft sie, die Gesamtheit der Verhältnisse eines mediterranen Migrationsregimes, in das Migration hineinwirkt und zugleich zum Gegenstand von Kontrolle gemacht wird (vgl. Sciortino 2004, Gildas 1995, Nikolinakos 1975).7 Der NGOisierungsprozess als „sanfte“ Institutionalisierung der Krise bestimmter wohlfahrtsstaatlicher Elemente in dem Prozess der neoliberalen Transformation der Staatlichkeit ist keinesfalls Schadensbegrenzung. Sie ist genuin produktiv, insoweit sie im Kontext der Europäisierung bzw. der Durchsetzung einer neuen erweiterten EU-Staatlichkeit stattfindet. (Vgl. den Beitrag von Sabine Hess und Serhat Karakayalı in diesem Band) Die Regulation der Einwanderung nach Griechenland wurde schon Anfang der 1990er über einen von der EU geförderten Prozesses der NGOisierung vorangetrieben.8 Das Auftauchen des illegalen Grenzverkehrs und seine asyl- und menschenrechtlichen Implikationen als neuer Regulationsgegenstand etablierten gegenwärtig eine neue Generation NGOisierter Interventionen. Amnesty International ist hier exemplarisch. Diese Organisation darf gemäß der eigenen Statuten nicht in die Angelegenheiten des Staates intervenieren, in dem sie lokal agiert. Im Falle aber der katastrophalen Menschenrechtslage innerhalb der Ägäislager fühlen sich immer mehr MitarbeiterInnen in Griechenland gezwungen, mit dieser Direktive ihrer Organisation zu brechen. Um einen totalen Bruch zu vermeiden, benutzen sie transnationale Strukturen, so widmen sich z.B. KollegInnen aus London dem Fall, oder sie arbeiten an der Etablierung einer landesweiten Koordinations- und Interventionsstruktur zur juristischen Betreuung festgenommener TransitmigrantInnen.

7 Der marxistische Migrationstheoretiker Marios Nikolinakos hat schon in den 1970er Jahren auf diese Interdependenz zwischen den westlichen „Anwerbeländern“ und dem sukzessiven Wandel der mediterranen „Entsendeländer“ in künftige Einwanderungsländer hingewiesen (Nikolionakos 1975). 8 Anfang der 1990er Jahre bis zur Verabschiedung des ersten LegalisierungsGesetzes (2001) forcierte das griechische Innenministerium eine restriktive Migrationspolitik, die vor allem durch die Militarisierung der griechisch-albanischen Grenze und die Massenausweisung von albanischen MigrantInnen durch flächendeckende Straßenkontrollen und Razzien geprägt war. Gleichzeitig fand

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Apo, Reza, sowie auch die TransitmigrantInnen, die an den Grenzen festgenommen werden, sitzen, solange nicht genau geklärt ist, aus welchen Ländern sie stammen, in den Lagern auf den Inseln fest. Die Lager entlang der Ägäis fungieren daher weniger als eine gegen die Migration gerichtete Seeblockade, sondern eher als eine Art Eintrittsticket zur Weiterwanderung. Seit 2001 gibt es auf Druck der EU ein Rückführungsabkommen zwischen Griechenland und der Türkei, das eine bis dahin ineffektive bilaterale Rückführungsvereinbarung ersetzte.9 Allerdings wird auch dieses faktisch unter anderem durch das etablierte Menschenrechtsregime außer Kraft gesetzt. Herkunfts- und Transitstaaten wie auch Griechenland sollen unter Androhung von Strafe und diplomatischen Sanktionen gezwungen werden, einem „gemeinsamen Management von Migrationsflüssen“ und der Rücknahme ihrer in Europa unerwünschten BürgerInnen bzw. TransitmigrantInnen zuzustimmen.10 Die Anwendungspraxis des Abkommens weicht somit vom Schengener Abschreckungsszenario radikal ab und muss in die Praxis der Institution Grenze übersetzt werden. Die beteiligten Akteure vor Ort sind nicht einfach die MigrantInnen und die militarisierte Grenzschutzpatrouille, sondern auch der dazwischen eingeschaltete Aushandlungsraum, in dem die unterschiedlichen NGOs für die Implementierung des europäischen Asylrechts agieren (vgl. Hess/Tsianos 2003). Die Rückführungen in Griechenland sind in diesem Sinne illegal, weil die „just in time“-Sanktionierung des illegalen Grenzübertritts (Verwaltungsabschiebung nach §50 des Gesetzes 2910/2001 zum illegalen Ein- und Austritt aus dem griechischen Territorium) aufgrund der generellen Asylvermutung oder der Gewährleistung humanitärer Hilfe menschenrechtlich zweitrangig ist. Die Klärung dieser Prozedur dauert in der Regel siebzig Tage. Das Abkommen funktioniert nur in Fällen, in denen die MigrantInnen eindeutig als ArbeitsmigrantInnen aus der Türkei als Effekt der Vergemeinschaftung der Migrationspolitik eine Stärkung der Elemente der so genannten sanften Regulation statt, wie beispielsweise die soziale Integration der MigrantInnen durch Sprachförderung, rechtliche Gleichstellung von ethnischen Minderheiten etc., die im Zuge eines Prozesses der wohlfahrtsstaatlichen Schrumpfung staatlicher Interventionsfelder als Aufgabenbereiche an NGOs ausgelagert (z.B. EQUAL Programme gegen soziale Exklusion) wurden. 9 Nach dem Gesetz 2926/2001 und 3030/2002. 10 Dieser Beschluss ging zurück auf ein informelles Treffen der EU-Innenminister am 14.2.2002 in Santiago de Compostela. Dort war ein „umfassender Plan zur Bekämpfung illegaler Migration und des Menschenhandels“ diskutiert worden (vgl.: Council of the European Union (2002): Presidency Conclusions at the Seville European Council, III, Absatz 33; Council of the European Union (2002): Advances made in combating illegal immigration, 10009/JAI 141, Migr 56, Brüssel 14.6. 2002). Die Umsetzung der siebzehnten flüchtlings- und einwanderungspolitischen sowie grenzpolizeilichen Beschlüsse des EU-Gipfels in Sevilla hat gegenüber älteren Richtlinienentwürfen der EU-Kommission (z. B. Familienzusammenführung,

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deklariert werden, und entweder schon wegen illegalen Grenzübertritts im SIS- System registriert worden sind, oder sich als solche antizipativ „outen“, um das Bordercrossing von Istanbul oder Ayvalık aus unter besseren Bedingungen nochmals zu unternehmen. Für MigrantInnen aus Afghanistan, China und Afrika ist die Rückführung noch schwieriger, weil diese in das angrenzende Herkunftsland übergeben werden müssten, sofern es ein ‚Drittstaat‘ ist.11 Der illegale Grenzübertritt wird normalerweise vom Küstenwache oder der Grenzschutzpolizei protokolliert und die Polizei verordnet bei der Festnahme eine sofortige Verwaltungsabschiebung wegen illegaler Einreise. Die Staatsanwaltschaft setzt diese allerdings provisorisch außer Kraft, in dem sie keine individuelle Anklage gegen die illegal Eingereisten erhebt. Dies ist eine Reaktion auf die Tatsache, dass die Polizei die Asylverfahren in den Lagern nicht gewährleisten kann und deshalb die illegal Eingereisten aufgrund der Asylvermutung auch nicht direkt zurückweisen darf. In der Regel werden diejenigen, die nicht Asyl beantragen können oder wollen, oder z.B. eindeutig als Iraner oder Iraker identifiziert werden, so schnell wie möglich nach Evros transportiert und schlimmstenfalls nachts über die Gewässer des Grenzflusses Evros „klandestin“ zurückgeführt. Meistens unter Androhung von Gewalt. Diejenigen unter den LagerbewohnerInnen, die nicht sofort abgeschoben werden, verlassen nach einem dreimonatigen Aufenthalt das Lager mit einem Dokument, das sie auffordert, innerhalb von zwei Wochen das Land „freiwillig“ zu verlassen. Dabei ist der Nebensatz interessant, der auf dem „Freilassungsdokument“ steht: „in einer Richtung ihrer Wahl“. Apo und die anderen könnten also, insofern sie es schaffen mit dem „Freilassungsdokument“ das Lager zu verlassen, ins Festland weiter reisen. Wer, mündlich oder schriftlich, Asyl fordert, darf laut Gesetz nicht rückgeführt werden. Innerhalb von drei Monaten soll es zu einem Interview mit dem Antragsteller kommen, aber in der Praxis dauert diese Phase ein bis zwei Jahre. Diese Verwaltungspraxis dokumentiert ein offen eingestandenes poliAsylverfahren) Vorrang. Das bedeutet konkret die Umsetzung zweier grenzpolizeilicher Projekte: 1.) Seegrenzprojekt: Von den vier vorgesehenen Aktionen im Mittelmeer – unter Leitung von Spanien, Griechenland, Großbritannien und Italien – sollen schon zwei im Jahr 2006 stattfinden. 2.) Kontrollen an den südöstlichen Landesaußengrenzen: Hier plante die EU – unter Leitung Griechenlands – polizeiliche Schwerpunkteinsätze (so genannte High Impact Operations-HIO). Derartige polizeiliche Großrazzien gegen MigrantInnen gibt es bereits seit 1998 in der Region. 11 Nach dem §44 des Gesetzes für „Eintritt, Aufenthalt und Soziale Integration“ wird die Entscheidung für die Verwaltungsabschiebung zu einer längerfristigen Angelegenheit bilateraler Korrespondenz zwischen der Türkei und Griechenland. Der/die Festgenommene hat einen Anspruch auf Widerspruch im örtlichen Verwaltungsgericht, es gibt also eine Reihe von Schutzrechten gegen die Entscheidungen der Polizei.

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tisches Kalkül: dass die Migranten auf das Interview verzichten und illegal bleiben bzw. ihre Reise fortsetzen. In dieser Phase erhalten die TransitmigrantInnen ein Dokument, die so genannte Rosa Karte, auf der die Antragstellung bestätigt wird. Die Rosa Karte wird den MigrantInnen jedoch oftmals abgenommen und manchmal von Polizeibeamten zerrissen, erzählt die NGO-Mitarbeiterin im Centre of Solidarity for Repatriates and Migrants – Ecomenical Refugee Program, Euthalia Pappas. Es sei eine Frage des politischen Willens, die nötige Infrastruktur bereitzustellen, betonte die NGO-Mitarbeiterin, und das habe damit zu tun, dass Fragen des Asyls auf der Prioritätsskala ganz unten angesiedelt sind: „Wenn du drei Prüfer hast und 8000 Anträge, dann sagt das schon etwas aus über den politischen Willen, der dahinter steht. Sie wollen sich nicht damit beschäftigen.“ Bis 1992 oblag die Zuständigkeit sowohl für die Anerkennung des Rechts auf Asyl als auch die Finanzierung von Erstaufnahmen primär dem UNHCR. Die offizielle Asylpolitik war geprägt von dem migrations- und asylpolitischen Credo, Griechenland sei nur eine Transit-Station auf dem Weg nach Kerneuropa.12 In Athen residieren nicht nur die Zentralen der migrationspolitischen Kontrollinstanzen wie z.B. die zentrale Aufnahmestelle für Asylanträge, das Innenministerium und nicht zuletzt die neulich eingerichtete Vertretung der „Agentur“. Die Metropole ist auch der große urbane Raum, an dem die Kontrollzugriffe scheitern. Während die griechische Asyl- bzw. Migrationspolitik zunächst wie ein unkoordinierter selektiver Zugriff seitens der Grenzpolizei erscheint, stellt sie bei genauer Betrachtung eine neuartige Institutionalisierung der Transitmigration im Regulationsmodus des neuartigen mediterranen „complex migratoire“ (Gildas 1995; vgl. Sitaropoulos 2000; King/Lazaridis/Tsardanidis 2000; Sitaropoulos/Skordas 2004). Die Durchsetzung EU-asylrechtlicher Standards sorgt, vermittelt vor allem über die Interventionen von NGOs, für eine Eindämmung der Restriktivität der Grenzkontrollen und verrechtlicht in gewisser Weise die Mobilitätsdynamik der Transitmigration (vgl. Karakayalı/Tsianos 2004). Frau Pappas, die auch ein Gründungsmitglied der Pressgroup13 ist, in der Maßnahmen im Rahmen 12 Symptomatisch für die diskursive „Kriminalisierung“ des Asyls durch die Omnipotenz des kontrollpolitischen Topos der illegalisierten Transitmigration in der griechischen Migrationspolitik ist, dass das für das Asyl zuständige Ministerium das Ministerium für „Öffentliche Ordnung“ war und auch nach der Reform des Ausländergesetzes (G. 2910/2001) blieb. Damit wurde die Regulation der Migration dem Ministerium des Inneren unterstellt. 13 Dieses Netzwerk ist für die Massen-Ankünfte zuständig. Wenn ein Transport bekannt gemacht wird durch örtliche Kontakte oder durch die Presse, dann wird die örtliche Polizei angerufen und die Ankunft der „Gruppe der Massenankünfte“ mit einem Sozialarbeiter, einer Juristin oder einem Arzt vor Ort bekannt gegeben (vgl. Dokument der Druckgruppe im EU-Programms EQUAL, Subprogramm Nr. 5, Asylbewerber).

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des Programms EQUAL zur Durchsetzung der Genfer Flüchtlingskonvention entlang der Grenze forciert werden, erzählt von einem exemplarischen Fall für das Scheitern der restriktiven Praxis der Grenzschutzpolizisten in Evros: Ali kam vor Jahren aus Pakistan. Nachdem er legalisiert worden war, arrangierte er eine „undokumentierte Familienzusammenführung“, indem er die Reise seines Bruders finanzierte. Mit ihm hatte er zuletzt telefonisch in Istanbul gesprochen, als letzterer ihm mitteilte, er warte mit einer Gruppe von MigrantInnen aus Pakistan, Somalia und Indien auf günstiges Wetter. Danach brach der Kontakt zwischen den beiden ab. Einige Zeit verging, bis Ali von drei indischen Reisegefährten seines Bruders in Athen kontaktiert wurde. Sie erzählten ihm, dass die Gruppe in Evros festgenommen wurde und sein Bruder Unterkühlungen bei der Überquerung des Flusses erlitt. Die Telefonnummer, die die drei dem Bruder übermittelten, war die des grenzpolizeilichen Gefängnisses in Didimotoixo (Evros). Ali kontaktierte das Büro der Pressgroup und erfuhr, dass sein Bruder immer noch in dem Grenzgefängnis einsaß und bekam die Erlaubnis, ihn zu besuchen. Als ihm Ali beim Abschied einige Telefonkarten hinterlassen wollte, sagte ihm der Grenzpolizist ironisch: „Du brauchst sie ihm nicht zu geben. Das Telefon ist draußen, er wird sie sowieso nicht gebrauchen. Wir werden ihn nicht anrufen lassen.“ Bevor Ali ging, wurde er noch ins Büro gerufen, wo ihn der Polizist warnte: „Wenn dein Bruder dir Namen anderer Häftlinge gegeben hat und du verständigst ihre Verwandten in Athen, wirst du deinen Bruder nicht wiedersehen.“ Einige Wochen vergingen und Alis Bruder meldete sich nicht. Daraufhin verfasste Frau Pappas von der Pressgroup ein schriftliche Beschwerde an die Zentrale des Ministeriums für öffentliche Ordnung. Parallel dazu rief sie einen Kollegen des Grenzschutzpolizisten an, den sie von ihren Kursen kannte und sagte ihm nebenbei, dass sie vorhabe, einen Beschwerdebrief an dessen Vorgesetzten zu schicken. „Nachdem wir aufgelegt hatten, rief mich sofort der Grenzpolizist an. Er fragte mich, ob es ein Problem zwischen uns gäbe. Habe er nicht das Telefonat der Brüder und den Besuch erlaubt, sei er also nicht in Ordnung?“ Sie erwiderte, dass seine „Erlaubnis“ keine Freundlichkeit, sondern seine Pflicht sei, unterbrach ihn dann und schlug ihm einen Deal vor: Der Festsitzende solle einmal die Woche anrufen können. Drei Wochen danach erreichte Alis Bruder Athen. Vor Jahren, meinte Frau Pappas, als sie die Genfer Konvention den Grenzbeamten vorzeigten, erwiderten diese: „Das ist nur Papier, das habt ihr in eurem Büro geschrieben“. Inzwischen gebe es aber ein etabliertes Regelwerk. Das habe damit zu tun, dass der Kreis der intervenierenden NGOs sich verbreitert habe, und der Einfluss der Kommission zur Durchsetzung einheitlicher asylrechtlicher Rahmen Früchte gezeigt habe. Es könnte zunächst mal als Paradox bezeichnet werden, dass das griechische Innenministerium abgelehnt hat, den vom Europäischen Rat in Thessaloniki 2003 beschlossenen Bau eines großen, für mehr als 2000 MigrantInnen

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vorgesehenen Internierungslagers im Dreiländereck Evros zu finanzieren. Dem Präfekten von Evros zufolge jedoch würde ein solches als „Mammutprojekt“ apostrophiertes Megalager die Grenzregion zur beliebten Raststation transnationaler „Migrationsströme“ machen. Die Orte würden wie Anziehungspunkte wirken, wodurch das Kontrollgleichgewicht über die existierenden „Passagen“ außer Kraft gesetzt würde. Eher nimmt man daher in Kauf, die von der EU für die Lager bewilligten Summen zurückzahlen zu müssen. Grenzschutzbeamte in Evros, aber auch der Regierungsbeauftragte für die Durchführung des POSEIDON-Programms auf Kreta bekräftigten diese Logik. Frau Pappas kommentierte die Argumentationsweise kritisch: „Das ist aber die staatliche Logik. Sie denken, wenn sie die MigrantInnen wie Tiere zusammenpferchen, dass sie davon abgeschreckt werden. Das ist aber nicht die Logik derjenigen, die weggehen.“ Transitlager markieren also eine vorläufige Topographie von Stationen der jeweiligen Migrationsrouten. Während auf der türkischen Seite, vor den Toren der „Festung“, der Aspekt einer improvisierten Immobilisierung im Vordergrund steht, liegt der Fokus auf der griechischen Seite umgekehrt auf der Institutionalisierung der Mobilität. Die improvisierten Lager auf der türkischen Seite sind jedoch nicht einfach als Effekte der Vorverlagerung oder der Exterritorialisierung des Lagerkordons außerhalb Europas zu verstehen. Sie markieren Orte, in denen die Direktionalität einer Migrationsroute auf dem Weg zur anderen Seite, zu den griechischen Transitlagern, temporär „abgelenkt“ wird. Diese Ablenkungstaktiken setzen sich im Schengenraum auf der anderen Seite in Lesbos, in London aber auch in Berlin fort. Hinsichtlich der europäischen Migrationspolitik ist es nicht so, dass Kerneuropa die Eckpunkte festlegt und der Süden in der Pflicht steht, diese lokal zu übersetzen. Die mediterranen EULänder gestalten diese zentral und aktiv mit. Der Anfang einer produktiven Transformation der (europäischen) Migrationskontrollen geht u.a. mit dem beschriebenen Funktionswandel der Lager in Südosteuropa einher. Das entstehende Migrations- und Grenzregime in der Ägäis-Zone ist keinesfalls als einfaches Produkt von EU-Migrationsbürokraten oder „balkanischer Korruption“ zu verstehen. Die Modi der Regulation und weniger der Kontrolle sowie des Transits im gesamten südosteuropäischen Raum und seine informellen grenzüberschreitenden Ökonomien werden in den EU-Migrationspolitiken für Südosteuropa implementiert: Die Regulation wechselt dabei ihre Richtung. Diese Beobachtung birgt die Notwendigkeit, sowohl die klassische Migrationstheorie als auch die Forschung zur europäischen Integration neu zu überdenken – und damit auch den Begriff des „Lagers“.

Überwachen und Entschleunigen Lesbos befindet sich genau dort, wo zwei Karten der gegenwärtigen kritischen Globalisierungs- und Migrationsbewegung sich emblematisch über-

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schneiden. Der „Atlas der Globalisierung“ von Le Monde Diplomatique verzeichnet Todesfälle und Misshandlungen an den neuen Außengrenzen der Europäischen Union in homozentrischen Kreisen, während der „LagerAtlas“ des Projekts Migreurop die Ränder der Festung Europa mit schwarzen Punkten markiert, die Detention Centers anzeigen.14 Am südöstlichen Rand der Europäischen Union bilden sie beinahe eine Linie. Im ägäischen Meer existiert demnach die höchste Konzentrationsdichte von Lagern in Europa. Was aber ist ein Lager? Die auf beiden Seiten der Debatte – der kritischen wie der affirmativen – einhellige Rede von einer Festung, die Europa gegen die Migration errichtet habe, erweckt Assoziationen, die an einen Kriegsschauplatz denken lassen. Dieser Assoziationsraum ist vor allem für die ideologische und politische Auseinandersetzung wichtig. Sowohl die MigrantInnen in den Lagern, als auch die KritikerInnen der Lager in den Metropolen referieren auf einen Menschenrechtsdiskurs, der gegenwärtig das scheinbar einzige Vehikel ist, mit dem die Interessen von MigrantInnen artikuliert werden können. Bei dem Besuch des Lagers auf Lesbos wiesen die Festgenommenen sofort auf die skandalösen und menschenunwürigen Lebensbedingungen hin und forderten uns explizit auf, die mangelnden sanitären Einrichtungen zu fotografieren. Eine ethnografische Regimeanalyse des Grenzraumes kann sich jedoch nicht darauf beschränken, den kontrollpolitischen Nominalismus15 auf einer forschungspolitischen Ebene zu wiederholen. Vielmehr gilt es einen konzeptiven Rahmen für die Klärung des Verhältnisses von Lager und Regulation innerhalb des Zusammenhangs 14 In dem „Lager-Atlas“ von Migreurop (www.pajol.org) gibt es eine letztlich aufschlussreiche Erklärung zur Methodik des Mappings: „Das Netzwerk Migreurop verwendet eine breite Definition des Lagers , die viele verschiedenartige Orte einschließt. Auf der Karte sind jedoch nur Inhaftierungszentren oder geschlossene ‚Lager‘ dargestellt – Orte, wo Migranten in Gewahrsam genommen und ihrer Bewegungsfreiheit beraubt werden.“ Nur kraft dieser breiten Definition des Lagers und unter Zuhilfenahme der naturalistischen Darstellung der europäischen Grenzgeographie als Lagergeographie findet die Skandalisierungsfigur der „Festung Europa“ ihr karthographisches Pendant. Man müsste aber in der gleichen Karte von Migreurop die Kartierung auch der offenen „Lager“ – wie in Ceuta und Melilla, der französischen „Wartezonen“ und nicht zuletzt den informellen Aufenthaltsorten in Tanger, Rom oder Calais, „wo sich die Migranten sammeln, ohne direkt der Aufsicht der Behörden zu unterstehen“, nicht als im buchstäblichen Sinne kosmetische Markierungen interpretieren. Für einen überzeugenderen Versuch, die Tücken des Mappings von Lagern zu bearbeiten, siehe die kollaborative Arbeit der mapping-aktivistischen Gruppe AnArchitektur und der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration, die im Rahmen der Ausstellung PROJEKT MIGRATION in Köln im Jahre 2005 gezeigt wurde. 15 Unter kontrollpolitischen Nominalismus verstehen wir die in den Analysen zur Grenze Europas weit verbreitete Praxis, Untersuchungsfelder der grenzüberschrei-

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von sozialer Macht und Repräsentation in der Verräumlichung gesellschaftlicher Beziehungen zu erarbeiten. Der Begriff des Lagers, von Giorgio Agamben zum Symbol der souveränistischen Verfügung über das Leben schlechthin erklärt, ist von diesem historischen Assoziationsraum nicht zu trennen. Darauf basiert letztlich auch die Evidenz von Agambens Ansatz (2003). Nicht umsonst heißen offiziell die Lager in Ländern wie Italien oder Griechenland „Willkommenszentren“ oder „Kasernen“. Gerade in Griechenland lässt sich die Verbindung zum Konzentrationslager nicht abschütteln: Noch vor dreißig Jahren existierten im putschistischen Regime derartige Lager für KommunistInnen und RepublikanerInnen. Wenn Agamben von Lagern spricht und die Foucaultsche Forschungsperspektive aufruft, so scheinen Lager nichts anderes als repressive Einschließunsgmilieus darzustellen – auch wenn man unseres Erachtens Foucault damit Unrecht tut. Agamben untersucht das Verhältnis von Souveränität, Ausnahmezustand und Lager, um die Bedeutung des Lagers innerhalb einer veränderten politischen Ordnung zu reflektieren. Sein Interesse gilt der Analyse des Politischen vor dem gegenwärtigen Hintergrund der Krise seiner Repräsentation, d.h. genau diesem neuen politischen Raum, der sich öffnet, wenn das politische System des Nationalstaats in die Krise gerät. Er untersucht die sich darin verändernde Funktionsweise von Macht und versucht eine Neudefinition des Verhältnisses zwischen Souveränität und Territorium theoretisch auszubuchstabieren.16 Die Definition von Souveränität als der Macht „über den Ausnahmezustand zu entscheiden“, ist zu einem Gemeinplatz geworden. Der Ausnahmezustand als abstrakt rechtliche Dimension bedarf indessen eines Ortes, an dem er konkret wird: Bei Agamben ist es das Lager. Im Lager erhält der Ausnahmezustand, der im Wesentlichen eine zeitweilige Aufhebung der Ordnung war, eine permanente räumliche Verortung. Lager sind Ausnahmebereiche innerhalb eines Territoriums, die sich außerhalb des Geltungsbereiches des Gesetzes befinden. Das Lager ist darüber hinaus der Ort, an dem die biopolitische Dimension der souveränen Macht produktiv wird. Hier greift sie tenden Migration begriffspolitisch direkt und in unkritischer Anlehnung an das etablierte Vokabular des Forschungsauftraggebers anzuknüpfen (wie z.B. an den umstrittenen Begriff des Traffickings in den EU-Forschungen), oder die in kritischer Absicht durchgeführten Untersuchungen, welche die Festungs-Programmatik der EU als schon gegeben voraussetzen, um sie damit zu skandalisieren. 16 Die bisherige Struktur des Nationalstaats, die sich auf den funktionalen Zusammenhang von drei Elementen – die Rechtsordnung des Staats, das entsprechende Territorium und die Zugehörigkeit der Staatsbürger zur jeweiligen Nation – gründet, befindet sich Agamben zufolge in Auflösung. Er entwickelt aus der Untersuchung dieses Prozesses ein Modell von Macht, das sowohl das juridischinstitutionelle, also die Konzeption von Souveränität und Staat, als auch das biopolitische Machtmodell, die Disziplinierung der Körper, zu vereinen sucht.

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auf internierte Subjekte zu. Indem sie ihnen – wie beispielsweise im Flüchtlings- und Gefangenenlager – jeglichen rechtlichen oder politischen Status verweigert, reduziert sie diese auf ihre physische Existenz. Agamben führt aus, dass dieser zeitweilige oder territorial begrenzte Ausnahmezustand zur neuen Norm wird und beschreibt somit das Lager als einen Ort, an dem aus der dortigen Rechtlosigkeit heraus neues Recht geschaffen wird. Es ist eine Art Katalysator, der die Aufhebung der Ordnung in eine neue permanente räumliche und rechtliche Ordnung überführt. Die Aussetzung der Ordnung verwandelt sich von einer provisorischen Maßnahme in eine permanente Technik des Regierens. Der Ausnahmezustand, der sich in den verschiedenen Formen der Exterritorialität manifestiert, wird zum neuen Regulator des politischen Systems der Gegenwart. Unterschiedliche Autoren wie Luciano Ferrari Bravo (2001) oder Sandro Mezzadra (2003) kritisieren Agambens Konzept des „nackten Lebens“, weil darin die Frage der Arbeitskraft ausgeklammert wird. Solche Ansätze kehren Agambens Lagerkonzept um: Im Zentrum steht nun die Frage nach dem Artikulationsmodus zwischen Abschiebelager und der Restrukturierung des globalen Arbeitsmarktes für Arbeitskräfte im gegenwärtigen Kapitalismus. In seiner Kritik spricht Sandro Mezzadra von der Figur des gegenwärtigen Lagers als eine Art „Unterdruckkammer“, deren Funktion darin besteht, den Druck, der auf den Arbeitsmarkt wirkt, sektoral, lokal und exterritorial zu zerstreuen: „Diese Orte sind das andere Gesicht der neuen Flexibilität des Kapitalismus, sie sind Orte staatlicher Unterdrückung und eine allgemeine Metapher der despotischen Kontrolle über die Mobilität der Arbeitskraft. […] Wenn, wie oft hervorgehoben wurde, der globalisierte Kapitalismus neue Formen der Flexibilität entstehen lässt, dann zeigen die Bewegungen der MigrantInnen ein subjektives Gesicht dieser Flexibilität. Zugleich werden die Migrationsbewegungen vom globalisierten Kapitalismus ausgebeutet, und Internierungszentren sind in diesem Ausbeutungssystem unverzichtbar. Der Versuch, die Kontrolle über die Mobilität zu erlangen, ist in dieser Perspektive der Antrieb des kapitalistischen Systems. […] Das Internierungszentrum heute erscheint als ein Moment in einer langen Reihe von Maßnahmen, die diesem Ziel dienen.“ (Mezzadra/Neilson 2003, 2)

Obwohl die These der „Unterdruckkammer“ der migrantischen Mobilität ihr „subjektives Gesicht“ zurückverleiht, muss sie jedoch, wie unsere Forschung nahe legt, um den Aspekt der NGOisierten Verrechtlichung der Lager ergänzt werden. Denn analog zu dem Scheitern des „Rotationsprinzips“ der fordistischen Gastarbeiterära aufgrund u.a. der Unkontrollierbarkeit der migrantischen Mobilität, dem die Institutionalisierung eines Kompromisses der temporalisierten Inklusion der GastarbeiterInnen folgte (Karakayalı/Tsianos

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2002), ist das „Scheitern“ des Lagerkordons ein postfordistisches Laboratorium für die Institutionalisierung eines neuen Kompromisses innerhalb der flexiblen Inklusionslogik eines „irregulären europäischen Migrationsregimes“.17 In diesen verrechtlichten Orten vollzieht sich die Transformation der undokumentierten Arbeitsmigration in Fluchtmigration, d.h., der Prozess, der in Anlehnung an De Genovas Forschungen zur amerikanisch-mexikanischen Grenze die Produktion der Klandestinisierung „Deportability“ genannt wird. In diesem Sinne sind die Lager in Südosteuropa omnifunktionale Institutionen der Migrationspolitik18, weil sie die flexible Trennung von Aufenthaltsund Arbeitsrechten und die Auslagerung der Reproduktionkosten der undokumentierten Arbeitskraft „produzieren“. Sie sind keineswegs Orte der totalitären Immobilisierung. Die Lager sind Räume, in denen Kraftfelder wirken, welche die Migrationspolitik der EU-Länder auf verschiedenen Achsen durchziehen. Die MigrantInnen unterliegen dort einem, auf den ersten Blick, rigiden System der Kontrolle von Mobilität, das sie aber, wo sie es vermögen, mit „mikroskopischen“ Listen zu hintergehen versuchen. Das Lager gilt weniger als das paradigmatische Einschließungsmilieu im Zeitalter der autoritären Neoliberalismus (Agamben), sondern als der verräumlichte Versuch, Bewegungen temporär zu beherrschen, d.h. Verkehrswege, Routen zu verwalten, die regulierte Mobilität produktiv zu machen. Die Durchlässigkeit ist daher Ausdruck einer institutionalisierten Grenzporösität, die durch Kräfteverhältnisse entstehen. Kräfteverhältnisse, in denen die Handlungen der MigrantInnen und ihrer „Reiseunternehmen“ ebenso eine Rolle spielen wie die Politik der EU. Die Geschichte der Mobilität der Arbeit wurde bisher auf unterschiedliche Weise von unterschiedlichen Blickwinkeln aus geschrieben, in den meisten Fällen aber ist die Thematik der Mobilität selbst nur untergründig anwesend. Die in den letzten Jahren auch in Deutschland geführten Debatten um die Gouvernementalität haben nun einen unbeabsichtigten Effekt: Sie aktualisieren auch regulations- und regimetheoretische Fragen. Liegt der Fokus der Analysen der „Governmentality Studies“ auf dem Verhältnis von Subjektivierungsprozessen und Herrschaftsformen, so erlauben regimetheoretische Überlegungen, die regulative Dimension sozialer Transformationsprozesse als Resultate von Regularisierungsweisen von historisch kontingenten Handlungen und sozialen Auseinandersetzungen, welche immer wieder in erneuernden (oder umzuwerfenden) institutionellen Kompromissen münden, in den Blick zu nehmen. Beide Forschungsansätze sind an einem Punkt 17 Wir leihen uns den Begriff des „irregulären Migrationsregimes“ von der unveröffentlichten Magisterarbeit von Michael Willenbücher (2005). 18 Schenkte man den offiziellen Schätzungen der EUROPOL Glauben, reisen jährlich 500.000 MigrantInnen über die mediterranen Routen undokumentiert ein. Das entspricht einem Fünftel der gesamten undokumentierten Einwanderung nach Europa.

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mehr komplementär als man annimmt: Sie helfen die Frage nach der Produktivität der Grenzen machtanalytisch zu stellen, und ihre Produktivität wiederum als Handlungseffekt von Subjektivierungsprozessen, die sie herausfordern, gemeinsam zu denken. Die konzeptionelle Komplementarität beider Ansätze haben wir methodologisch herausgearbeitet, um sie für die empirische Grenzregimeanalyse zu operationalisieren. Wenn Foucault Rationalitäten und Technologien des Regierens analysierte, suchte er nach Machtverhältnissen, die sich über die Rationalitäten von Praktiken erschließen: über die Formen des Wissens, die sich in Praktiken der Macht einschreiben. Diese analytische Perspektive beziehen wir auf bestimmte Aspekte der Kontrolle der (Arbeits-)Mobilität. Die Frage, wie Menschen zu (Arbeits- und Mobilitäts-)Subjekten gemacht werden, verweist zugleich auf die Formen der Subjektivierung und die Kontrolltechniken, die sie hervorbringen. Gegenwärtig wird Foucaults Überwachen und Strafen vor allem als das Gründungsdokument einer Historiographie der Produktion des Körpers gelesen. Bei genauer Lektüre zeigt sich, dass Foucaults Formulierung von der „politischen Ökonomie des Körpers“ (Foucault 1976, 36) kein unschuldiger Lapsus ist. Seine Analyse der Disziplinartechniken findet vor dem Hintergrund der Zunahme einer nomadisierenden Bevölkerung statt. Die Disziplinarmacht bringt „Bewegungen zum Stillstand oder unter Regeln“ (ebd., 281f.), um mit den umherziehenden Arbeitern, den so genannten Vagabunden, fertig zu werden. Die Disziplinartechniken, die mit den Instrumenten der feudalen Macht nicht mehr in eine produktive Korrespondenz zu bringen waren, bilden eine Art Scharnier zwischen der „Akkumulation von Menschen“ und der „Akkumulation von Kapital“ (ebd., 283). Die Disziplin löst die feudalen Machtmechanismen ab und etabliert Machtformen, die sich an der Wertschöpfung orientieren. Foucault hebt hervor, dass die politische Besetzung des Körpers, die durch die Disziplin bewirkt wird, an die ökonomische Nutzung des Körpers gebunden ist. Dieses Element der Unterwerfung des produktiven Körpers exemplifiziert Foucault mit der historischen Figur des „Arbeitshauses“: als ein Modell temporärer Einsperrung zur Förderung einer bestimmten Arbeits- und Mobilitätssubjektivität. Arbeitshäuser waren Anstalten, die den Auftrag hatten, „Bettler und junge Tunichtgute“ (ebd., 155f.) umzuerziehen. Die Häftlinge wurden nicht eingesperrt und sich selbst überlassen. Sie hatten ein ganztägiges Arbeitsprogramm zu absolvieren und erhielten dafür Lohn, mit dem sie einen Teil ihrer Lebensmittel bezahlten. Arbeitsverläufe und Tätigkeiten liefen innerhalb eines von der Anstaltsleitung streng überwachten Systems von Verboten und Verpflichtungen ab. Mit Überwachen und Strafen liefert Foucault nicht nur ein überzeugendes Interpretationsraster für die Verschränkung von Kontrolle der Arbeitsmobilität und ihrer Disziplinierung durch Einschließungsordnungen. Er bestimmt darüber hinaus die Funktion der Kontrolle für die Erfordernis-

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se kapitalistischer Arbeits- und Produktionsverhältnisse. Während mit dem Topos der „Produktion des Körpers“ der Fokus auf die Regime disziplinatorischer Selbstverhältnisse fällt (vgl. Bröckling et al. 2000), konzentrieren wir uns auf den, in dieser Debatte offensichtlich „übersehenen“, Aspekt der topokratischen Kontrolle der Mobilität durch Entschleunigung. Wie bereits erwähnt, bilden die Lager, in denen Migrationsbewegungen temporär fixiert werden sollen, ein Element nicht nur der Migrationsregime unserer Gegenwart, sondern auch der politischen und philosophischen Debatten um Souveränität und Bürgerschaft, von der die Arbeit Agambens Zeugnis ablegt. Unsere Perspektive, die Dynamiken von Mobilität und Immobilisierung zu untersuchen, weisen in eine andere Richtung. Die deutlichen Abgrenzungsbemühungen in diese Richtung verfolgen ein doppeltes Ziel: Zum einen, um die von uns bis hier entwickelte Perspektive zu verdichten, und zum anderen, um eine weniger katastrophische Lesart von Biopolitik vorzuschlagen.19 Die Konzentration Agambens auf die „negative Grenze der Menscheit“ reduziert die Biopolitik lediglich auf die verborgene Seite der politischen Souveränität, die ihre existenzielle Grundlage bildet. Die Biomacht ist bei Agamben also negativ auf die juridische Form der Souveränität bezogen, während sie bei Foucault ein Ensemble neuer Machttechniken darstellt, die neben und in Auseinandersetzung mit der Souveränitätsmacht operieren. Kann man aber Lager „von unten“ zu denken? Mit Paul Virilio kann der katastrophologische Funktionalismus des „Ausnahmezustandes“ bei Agamben insofern infrage gestellt werden, als der disziplinarpolitischen Konnotation des „Lagers“ zur „Einsperrung“ und Ausgrenzung die kontrollpolitische Figur der entschleunigten „Zirkulation“, der Mobilität entgegensetzt wird: „[…] die Tore der alten Stadt, ihre Zollämter und Grenzen sind Staudämme und Filter gegen die Fluidität der Massen und das Eindringen der wandernden Meuten. Die alten sumpfigen und ungesunden Gestade, welche die befestigte Stadt umgaben, die ‚congoplains‘ des amerikanischen Sklaven, die alten Befestigungen, Zonen, Barackenviertel und ‚favelas‘, aber auch Hospiz, Kaserne und Gefängnis sind weniger ein Problem der Einschließung oder der Ausgrenzung als ein Problem der Zirkulation; sie alle sind ungewisse Orte, denn da sie zwischen zwei Durchgangsgeschwindigkeiten liegen, wirken sie auf die Durchdringung und deren Beschleunigung als Bremsen.“ (Virilio 1980, 14)

19 Slavoj Žižek (2005) ironisiert diese Konstante im Agambenschen Denken mit einem Verweis auf seine intellektuelle Wahlverwandschaft mit Benjamin, Heidegger und Adorno: „Agamben beteiligt sich hier an einer der beliebtesten intellektuellen Übungen des 20. Jahrhunderts, nämlich dem Drang, aus jeder Situation eine Katastrophe zu machen.“ (Ebd., 168)

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Die Schengener Lager sind in diesem Sinne weniger panoptische Gefängnisinstitutionen der Überwachung, sondern in Anlehnung an Virilio „Geschwindigkeitsboxen“. Lager, wie sie in Želimir Žilniks Film „Fortress Europe“ vorkommen, sind Orte der medizinischen Versorgung wie der Hygiene und Disziplin. Sie sind auch Markierungen auf der Landkarte der Reise, Kommunikation- und Informationszentren, Rasthäuser und nicht selten kleine Banken der undokumentierten Mobilität. Vor dem Hintergrund der Lektüre von Überwachen und Strafen scheint es zudem wichtig, die kontrollpolitische Figur der entschleunigten „Zirkulation“ hinsichtlich ihres veränderten Verhältnisses von Zeit und Körpern zu betrachten.20 Dies ist auch dadurch begründet, dass das Zeitregime des Lagers sich gerade dadurch auszeichnet, dass die Körper/Zeit-Beziehungen und deren ökonomische Ausnutzung nicht mehr miteinander verkoppelt sind, wie in den ersten „Ausländerwohnheimen“ der Gastarbeiterära (vgl. Oswald 2002). Wie sind aber dann das Warten, sich Verstecken, die unkalkulierten Umwege, Zwischenstationen und Niederlassungsorte, das Zurückgewiesenwerden und Wiederkommen, das mögliche tödliche Ende der Reisenden vor diesem Hintergrund zu verstehen? Ist die Entschleunigung der Migration durch die Politik der Lager und der Grenzkontrollen wirklich produktiv für den europäischen Arbeitsmarkt? Die Heterotopik der Lager, welche die Zirkulation verzögert, scheint die Umherschweifenden wieder in eine zeitliche Ökonomie zu fügen, die sie auf ihrem Weg längst verlassen haben. Der Ausdruck also genau jener „Autonomie der Migration“, in der es dem „undokumentierten“ Leben der TransitmigrantInnen gelingt, temporär und unerwartet andere Nutzen, Temporalitäten, und turbulente Mobilitätsgeographien durchzusetzen und zwar dort, wo „Festungen“ lauern. Wie Ellis Island, in deren Wartesälen Migrationsbiographien gebastelt, Namen und Alter erfunden, weitere Routen geplant wurden, sind diese neuartigen Heterotopien der transnationalen lebendigen Arbeit als Entschleunigungsmaschinen zu fassen, die Geschwindigkeiten der Ankunft temporär bremsen und dabei Subjektivitäten des Eintritts produzieren. Das Regieren über Migrationsbewegungen bedeutet, ihre Dynamik in Zeit-Zonen abgestufter Mobilität zu lenken, so dass aus unregierbaren Strömen regierbare Mobilitätssubjekte gemacht werden. Zeit ist Mobilität. Das „humanitäre Dilemma“ des europäischen Grenzregimes, das darin besteht, die an bestimmte asylrechtliche Bedingungen gebundene Unterscheidung zwischen einer sanktionierten, grenzüberschreitenden Arbeitsmigration und der Schutzgewährleistung vor Flucht zu institutionalisieren, generiert Heterotopien der Souveranität, in denen aus kriminalisierten Arbeitskräften Flüchtlingsbiographien neu „subjektiviert“ werden. In dieser Hinsicht besteht die produktive Funktion des 20 Diesen Hinweis auf das veränderte Verhältnis von Zeit und Körper in den gegenwärtigen Lagern verdanken wir Brigitta Kuster und Marion von Osten.

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Grenzregimes, wie zahlreiche Forschungen zur US-amerikanisch-mexikanischen Grenze (vgl. De Genova 2005) und auch zum südosteuropäischen Raum (vgl. Andrijašević et al. 2005) zeigen, weniger in der Stilllegung der Migrationsbewegungen. Die effektive „Regierung“ der Grenzporosität operiert vielmehr durch das Registrieren von Bewegungen (Dromokratie) und die „Disziplinierung“ der MigrantInnen in den „lagerartigen“ Stationen ihrer De-Subjektivierung als Arbeitsubjekte (Topokratie). Mit Foucault könnte man sagen, dass „Regierung“ etwas ist, das mit Kräfteverhältnissen essentiell zu tun hat und mit der Organisation von Kompromissen, deren Effekt die Regulation von Mobilitäten ist. Entscheidend für dieses Konzept von Regierung ist die Überlegung, dass sie über keine transzendente oder unabhängige Quelle der Macht verfügt, sondern ihre Kraft und Legitimität aus dem bezieht, was sie zu lenken beabsichtigt. Die staatlichen Maßnahmen zur Regulierung der Bevölkerung und der Widerstand dagegen operieren auf dem gleichen biopolitischen Feld: „Während der gesamten Geschichte der Moderne haben die Mobilität und die Migration der Arbeitskräfte die Disziplinierungen, denen die Arbeiter unterworfen waren, gesprengt.“ (Hardt/Negri 2002, 224) Die Legalisierungsgesetze in Griechenland verdeutlichen, vor dem Hintergrund des bisher skizzierten theoretischen Rahmens, exemplarisch den biopolitischen Charakter dieser Regulierungspraktiken. An dieser Stelle wollen wir besonders auf den in der Debatte oft vernachlässigten Nebeneffekt dieser Gesetze verweisen, die auf eine Verschiebung der Funktionselemente des Migrations- bzw. Grenzregimes hindeuten: Im Zuge der Massenregistrierungen bei der Beantragung legaler Aufenthaltstitel wurden vor allem mobilitätsbetreffende Informationen gesammelt, die weniger dem Aufenthalt und mehr dem Erfassen der Routen, der Netzwerke, etc. der TransitmigrantInnen dienen (vgl. Fakiolas 2003). Die Kontrollen und ihre restriktiven Prämissen werden zunehmend antizipativ konzipiert. Sie zielen weniger auf die Verhinderung von Einwanderung, sondern dienen vielmehr der informationsbasierten Risikoreduktion des Kontrollverlustes über existierende grenzüberschreitende Transitrouten und Migrationsformen und nicht zuletzt der unkontrollierten Repatriierung. Diese Biopolitisierung der Regulation scheint mit dem neuen Gesetz zum „Eintritt, Aufenthalt und sozialer Integration von Drittstaatsangehörigen im griechischen Territorium“ (G.3386/2005)21, fortgesetzt zu werden. Die für die Legalisierung vorgesehenen Interviews beinhalten nicht nur die akribische Registrierung und Rekonstruktion der local points of entry. Dieses Gesetz reguliert geradezu die transitorischen Effekte des Lagerkordons in der Ägäis-Zone. Es werden nun diejenigen legalisiert, die aufgrund ungültiger Aufenthaltstitel im Zuge 21 Dieses Gesetz legalisiert, zusammen mit den Übergangsregelungen (G. 3386/2005, §10), die bis zum Stichtag 31.12.2004 stattgefundene undokumentierte Migration.

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der bisherigen Legalisierungen keine Papiere kriegten, vor allem MigrantInnen, deren Anträge wegen unerlaubten Eintritts abgelehnt wurden, sowie auch abgelehnte Asylbewerber, BesitzerInnen der Rosa Karte und zur „freiwilligen“ Ausreise Aufgeforderte.22 Der kanadische Politologe William Walters spricht in Anlehnung an Foucault von einer Biopolitisierung der Grenze, die gerade in der Filterfunktion der Grenzkontrolle besteht: „Die Grenze kann als priviligierter institutioneller Raum aufgefasst werden, in dem die politischen Autoritäten biopolitisches Wissen über Bevölkerungen erlangen – über ihre Bewegungen, Gesundheit, Reichtum. In diesem Sinne trägt die Grenze zur Produktion einer Bevölkerung als einer bekannten, zu regierenden Einheit bei.“ (Walters 2002, 573) Diese Beobachtung birgt die Notwendigkeit, sowohl den Souveränismus der klassischen Migrationstheorie (vgl. Karakayalı/Tsianos 2005) als auch den funktionalistischen Transnationalismus neu zu überdenken und den Begriff der Grenze mit einzubeziehen. Die Institution der griechisch-albanischen Grenze kann hier exemplarisch für dieses biopolitisches Verständnis angeführt werden. Sie ist weniger durch ihre Topographie gekennzeichnet, als vielmehr durch die Art und Weise, wie sie als Grenzinstitution das Verhältnis zwischen dem Zugang zum nationalen Arbeitsmarkt eines Einwanderungslandes und der Gesamtheit der Mobilitätsformen einer exterritorialen Bevölkerung ausländerrechtlich als Arbeitseinwanderung organisiert.23 Aber auch die „fehlenden“ Lager werfen zunächst ein Rätsel auf: Entlang der zahlreichen binationalen Routen des Bordercrossings der griechisch-albanischen Grenze gibt es bekanntlich keine Lager. Es gab sie auch nicht in der Zeit des „großen Massenexodus“ aus Albanien Anfang der 1990er. Für die massenhaften Abschiebungen sorgte schon immer das griechisch-albanische Rückfüh22 Als Legalisierungsvoraussetzungen gelten das Vorweisen eines gültigen oder ungültigen Passes und das Vorweisen von Sozialversicherungsbeiträgen, die dem Volumen von 150 Arbeitstagen entsprechen. Das Einreichen des Antrags auf Legalisierung bringt eine automatische Streichung aus der „Liste unerwünschter Ausländer“ (EKANA) und des Eintrags im EURODAC mit sich und annulliert laufende Abschiebungen. 23 Die Regelung der illegalen Einwanderung (vor allem aus Albanien) in Griechenland, erfolgte mit der Verabschiedung des „Ausländergesetzes“ (1975/1991). Das Gesetz wurde in starker Anlehnung an das Deutsche Ausländerrecht entwickelt und gilt inzwischen als ein vergeblicher Versuch, einwanderungsbedingte Herausforderungen in aufenthaltsrechtliche Barrieren zu übersetzen. In der Folge des Scheiterns der Regulierung qua Abschottung, welches zu einer Konsolidierung der Zentralität der undokumentierten Migration führte, folgten zwei staatliche Legalisierungswellen, die den Aufenthalt als Ausnahmesituation regulieren, ohne grundsätzlich den Aufenthaltsstatus der Einwanderer zu regeln. In diesem Sinne können diese Legalisierungsgesetze als ex post Einwanderungsgesetze der neuen

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DENATURALIZING „CAMPS“

rungsprotokoll aus dem Jahre 1998, das explizit keinen Asylgrund vorsieht. Albanische MigrantInnen, die z.B. auf Korfu gefasst werden, werden binnen einer Stunde zurückgeführt. Die Konstruktion der Einwanderung aus Albanien also – als per definitionem illegalisierte Arbeitsmigration – gewährleistet die völker- und menschenrechtlich reibungslose Anwendung dieses Rückübernahmeabkommens mit Albanien und verunmöglicht die Etablierung eines Menschenrechtsregimes, wie im Falle der Ägäis-Zone.24 Es ist also nicht das „nackte Leben“ (Agamben), das zum Gegenstand der biopolitischen Form des Regierens der transnationalen Migration gemacht wird, sondern die wahrlich entsubjektivierte25 nackte Arbeitskraft, die auf der Flucht vor den La Migras dieser Welt dromokratisch mobilisiert und temporär in den neuen „Arbeitshäuser“ topokratisch demobilisiert wird. In den Lagern wird nicht nur das Wissen der MigrantInnen und ihre Erfahrung des Grenzraumes registriert, sondern auch die Zeit ihrer rätselhaften Ankunft reguliert.

südeuropäischen Transit-Einwanderungsländer aufgefasst werden. Für die Legalisierungswellen in Griechenland im Zeitraum 1998-2001 (vgl. Baldwin-Edwards 2004). 24 Zwischen 2000 und 2004 vermeldete das Ministerium für Öffentliche Ordnung ca. 110.000 Rückführungen, allerdings mehr als die Hälfte davon nach Albanien. 25 Das heißt, auf eine bestimmte Art Nicht-Subjekt sein zu dürfen, nämlich als nationalisiertes bzw. „naturalisiertes“ mit Rechten versehenes Arbeitssubjekt.

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NAJKRAčI PUT U SVET – DER KÜRZESTE WEG IN DIE WELT. MIGRATION, BÜRGERRECHTE UND DIE EU IN DEN STAATEN DES EHEMALIGEN JUGOSLAWIEN Manuela Bojadžijev Für Toni und Ramiz

Einige Jahre nach dem Ende des Krieges in Jugoslawien bleibt die Region weiterhin ein signifikanter Indikator für den europäischen Einigungsprozess. Schon während der millitärischen Auseinandersetzung bestand keine Einigkeit darüber, ob der Balkan zu Europa gehört oder nicht. Fürsprecher militärischer und politischer Interventionen oder des NATO-Bombardements argumentierten, eine Vertreibungspolitik, wie sie in diesem Krieg stattfand, könne nicht auf europäischen Boden zugelassen werden, andererseits war es Europa, das hier im Namen der Menschenrechte eingriff. Einer der politischen Motoren dieser fortschreitenden Unklarheit ist der Stabilitätspakt für Südosteuropa1, erdacht zur „Förderung der EU-Fähigkeit“; Pakt-Koordinator Erhard Busek erklärte kürzlich, dass der Stabilitätspakt eigentlich „ein Trainingscamp“ sei (vgl. FAZ vom 09. April 2006). Unsere Untersuchung zu Migrationsbewegungen und den Konflikten um das Konzept von Bürgerschaft erlaubt demgegenüber die These, dass die Region umgekehrt auch als Trainingscamp für die EU verstanden werden kann. Bis heute reproduziert sie ihre eigene Unmöglichkeit durch die inneren Grenzen, die sie durch ihre Migrationspolitiken auf dem Balkan schafft. Bei dieser Forschung ging es deshalb auch um die Unmöglichkeit und die Möglichkeiten des Konzepts von Bürgerschaft in Europa (vgl. Balibar 2003).

1 Dem 1999 gegründeten Stabilitätspakt für Südosteuropa gehören über 50 Staaten (u.a. alle Staaten des ehemaligen Jugoslawien außer Slowenien, daneben Albanien, Bulgarien, Moldawien, Rumänien, die Staaten der EU und Kanada, Japan, Norwegen, Russland, die Schweiz, die Türkei und die USA an) und Organisationen (politische und Finanzinstitutionen sowie regionale Initiativen) an. Er ergänzt den Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess der EU.

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The Erased – Die Ausgelöschten Gemeinhin gilt Slowenien, das als souveräner Staat aus dem Krieg in Jugoslawien hervorgegangen ist, als Vorbild für die Entwicklung anderer Staaten in der Region. Übersehen wird dabei, quasi als Kollateralschaden, die Geschichte einer „Auslöschung“ eines Teils der Bürger, die kaum als Vorbild für demokratische Konstitutionsprozesse herhalten kann. Tatsächlich bietet Slowenien nämlich eine gewissermaßen etwas andere, besondere Geschichte der Migration und der Homogenisierung von Bevölkerung. Am 26. Februar 1992, ein halbes Jahr nach der Unabhängigkeitserklärung Sloweniens im Juni 1991, löschten die Behörden ca. 30 000 Personen aus allen öffentlichen Registern. Von einem auf den anderen Tag existierten sie schlicht nicht mehr. Sie verloren ihre Rentenansprüche, ihre Führerscheine, Sozialversicherungsnummern, ihren Anspruch auf Gesundheitsversorgung usw. Das einzige Versäumnis dieser Menschen bestand darin, in einem sehr knappen Zeitraum von drei Monaten die slowenische Staatsbürgerschaft nicht beantragt zu haben und als Serben, Kroaten, Bosnier „qualifiziert“ worden zu sein. Die meisten wussten nicht, dass sie eine Staatsbürgerschaft in einem Land beantragen sollten, in dem sie seit vielen Jahren oder Dekaden, lange vor Beginn des Krieges, wie alle anderen mit jugoslawischer Staatsbürgerschaft gelebt hatten. So erging es auch Aleksander Todorovic, der die Assoziation der Ausgelöschten gründete und ihre Unsichtbarmachung an die slowenische, aber auch europäische Öffentlichkeit brachte. Die Assoziation der Ausgelöschten initiierte eine Karawane durch Slowenien, die zeitweise öffentliche Gebäude besetzte. Außerdem drehten die Aktivistinnen und Aktivisten ein dokumentarisches Video. Ihre Aktivitäten fanden in nationalen und internationalen Medien Aufmerksamkeit. Schließlich lancierte die Organisation eine Kampagne, die ihren Fall vor das Verfassungsgericht brachte. Im Jahr 2003 – also 11 Jahre nach ihrer Auslöschung – entschied das Gericht schließlich, dass einige Paragrafen des Staatsbürgerrechts von 1999, das den rechtlichen Status von Bürgern aus dem ehemaligen Jugoslawien regelt, nicht verfassungsgemäß seien, weil es ihnen zum einen nicht erlaubte, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Zum anderen, weil es von ihnen ohne besondere Spezifikation forderte, nachzuweisen, dass sie in Slowenien gelebt hatten, nachdem sie ausgelöscht worden waren. Ferner wurde die Drei-Monats-Frist zur Beantragung der Staatsbürgerschaft annulliert. Dieses Urteil hatte nachhaltige Konsequenzen und brachte das Verständnis von Bürgerschaft in eine Krise. Während die parlamentarische Linke, die zu der Zeit die Regierung stellte, zwei Gesetze dazu verabschiedete, argumentierte die Assoziation der Ausgelöschten, dass dies überflüssig sei, da die Verfassung bereits den korrekten rechtlichen Rahmen dafür biete. Als das zweite Gesetz in der Nationalversammlung verabschiedet werden sollte,

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stimmten die rechten Parteien dagegen. Durch ein Veto im Nationalrat wurde das Gesetz schließlich gekippt, weil Wiedergutmachungsklagen in erheblicher Höhe seitens der Ausgelöschten befürchtet wurden. Diesem Eklat folgte eine Kampagne, getragen von der parlamentarischen Rechten, die auf ein Referendum abzielte und die Auslöschung per Abstimmung aus der jüngsten Geschichte des Landes selbst auslöschen sollte. Das Verfassungsgericht befand jedoch ein solches Referendum als unrechtmäßig und es konnte daher nicht durchgeführt werden. Inzwischen haben die Ausgelöschten offiziell eine „zweite Chance“ erhalten, die slowenische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Todorovic argumentiert aber, dass er ein Ausländer mit unbefristetem Aufenthaltsrecht sei und dies auch bleiben möchte. Etwa 12.000 Personen nahmen die neue Möglichkeit wahr, 7000 davon erhielten die slowenische Staatsbürgerschaft und 4800 bekamen eine dauerhafte oder zeitlich befristete Aufenthaltserlaubnis. Die verbleibenden 4200 Fälle gelten als ungeklärt. In einem Interview erklärte Todorovic uns gegenüber seine Enttäuschung über die politische Entwicklung: Mit der Möglichkeit zur Legalisierung sei die Assoziation der Ausgelöschten nach Jahren erfolgreicher politischer Arbeit auseinandergefallen. Im Vorfeld des Wahlkampfes zur neuen Nationalversammlung im September 2004 seien sie durch linke Parteien unter Druck gesetzt worden, auf den Fall der Ausgelöschten nicht mehr zu insistieren, da dies der Rechten in die Hände spielen würde. In diesem Kontext wies die Assoziation auf einen wichtigen Aspekt hin: Mit der Frage danach, wer überhaupt als Bürger gilt, stellten sie die Verfassung in Frage. Genau diese Fragestellung trifft jedoch, wie der Politikwissenschaftler Andrej Kurnik zuspitzend formuliert hat, in das Herz des EU-Erweiterungsprozesses. Ihmzufolge ist Slowenien, seit 2004 Teil der EU, Europas größtes Internierungslager: keine Rechte im Inneren und keine Freizügigkeit nach Außen. In diesem Sinne berührt der Fall der Ausgelöschten den Kern von Etienne Balibars Frage: Europa – eine unmögliche Bürgerschaft? (Vgl. Balibar 2003, 24)

Krieg, Staatlichkeit, Migration Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien ging über die Zerstörung der feindlichen Armeen hinaus. Er organisierte das Leben der Bevölkerung vollständig neu, definierte Grenzen und konstruierte die politische Geografie der Region. Er setzte Regierungen und Nichtregierungsorganisationen ein, während internationale und nationale Gerichte einen Teil der Versöhnungspolitik à la Balkan übernahmen. Eine neue Kontrolle der Produktionsformen und der Mobilität entstand (vgl. Negri 2003). Um weitere Konflikte nach über einem Jahrzehnt kriegerischer Auseinandersetzungen in der

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Region zu vermeiden, wurden eine Reihe von bis heute existierenden Protektoraten und Semi-Protektoraten eingesetzt, die Fragen bezüglich ihrer internen und externen Souveränität offen lassen. Häufig wird übersehen, dass die Verwicklung der EU in den so genannten Stabilisierungsprozess der Region Nebeneffekte in Bezug auf die Unterminierung und Transformation von Staatlichkeit hat, die gerade anhand von Migrations- und Bürgerrechtspolitiken mit ihren vielen Akteuren wie staatlichen Apparaten, supra-nationalen Agenturen, NGOs und migrantischen Praktiken mit Deutlichkeit hervortritt. Der umstrittene und konflikthafte Stabilisierungs- und Assoziationsprozess (SAP), der inzwischen über das CARDS-Programm (Community Assistance for Reconstruction, Development and Stabilization Programme) läuft, bildet den Rahmen für die verschiedenen Dynamiken und Geschwindigkeiten unter den Staaten des Westlichen Balkan (zu denen auch Albanien, aber nicht mehr Slowenien gerechnet wird) in Bezug auf die Implementierung der Migrationspolitiken, von Grenzkontrollen und der Bürgerrechte. Ziel ist es, diese Politiken zu homogenisieren und einen Raum der Freizügigkeit zu schaffen. Wobei das Projekt, auf dem Balkan eine Art Mini-EU zu schaffen, die dann als Ganze integriert werden soll, inzwischen einer Politik der unterschiedlichen Geschwindigkeiten gewichen ist, insofern Kroatien und Mazedonien offiziell bereits als Beitrittskandidaten gelten. Um die mehrschichtigen Prozesse der Deregulierung und Re-Regulierung der Territorien und Bevölkerungen zu verstehen, ist das Schlagwort des „Management of Population Movements“ zentral. Er gilt aufgrund von vier Aspekten als zentraler strategischer Topos für die EU: (1.) Als Kriegsfolge leben weiterhin geschätzte eine Millionen Flüchtlinge (eine der größten Zahl in der Welt) in dieser Region, (2.) vier der fünf so genannten Westlichen Balkanstaaten gehören zu den häufigsten Herkunftsländern bei Asylgesuchen in der EU, (3.) die Rückkehr der in der EU lebenden (selbst die dritte Generation wird genannt) Migrantinnen und Migranten aus ExJugoslawien soll unterstützt werden, (4.) aufgrund der relativ schwachen Grenzstrukturen gelten diese Länder, unterstützt von Schleppern, als Transit-Länder in die EU. Das operative Hauptziel für die Zukunft ist die Bekämpfung der „illegalen Migration“. Dafür sollen eine in allen Ländern einheitliche Asylgesetzgebung und das „Integrated Border Management“ in der gesamten Region implementiert werden. Beide bilden zentrale Kontrollmechanismen für staatliche Migrationskontrolle. Der Kontrollaspekt findet im Migrationsmanagement seine Ergänzung: „Kontrolle allein“, so steht es in einem der MARRI2-Papiere des Stabilitätspakts, „wird keine 2 MARRI (Migration, Asylum, Refugees Return) ist das Migrationsmodul des Stabilitätspakts für Südosteuropa, das nach einem konflikthaften Verhandlungsprozess von einer zentralen Steuerung aus Wien und Brüssel im Juli 2004 in das Regionalbüro nach Skopje übertragen wurde.

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Sicherheit für die Staaten garantieren, wenn sie nicht durch Maßnahmen begleitet wird, die die produktiven Ressourcen der Bürger, einschließlich der Migranten und Rückkehrer freisetzen.“ Der Slogan „freedom of movement“ macht hier eine neue Karriere und meint hier die Liberalisierung des Visaregimes innerhalb und aus der Region.3 Denn die Freizügigkeit gilt als entscheidend, um die Stabilität der Region zu gewährleisten und ökonomische Reformen voranzubringen. Die Implementierung der EUMigrationspolitiken sind in den Länder Ex-Jugoslawiens unterschiedlich weit fortgeschritten – je näher an den Grenzen der EU, desto reglementierter, so könnte man sagen.

Wer sind die Migranten? Auch wenn es nicht hinreichend zur Kenntnis genommen wird, findet ein Prozess der EU-Erweiterung jenseits ihrer Außengrenzen statt. Dieser Prozess – so lautete eine Prämisse des TRANSIT MIGRATION-Forschungsprojekts – lässt sich nicht verstehen, ohne die verschiedenen Migrationsbewegungen zu untersuchen, die diese Länder, basierend auf diversen Netzwerken, durchkreuzen oder die von ihnen ausgehen. Sie sind es, die eine fragile Grundlage für die Implementierung der EU-Migrations- und Bürgerrechtspolitiken formen. So entstehen im ehemaligen Jugoslawien neue „Grenzlandschaften“ (Balibar). Nicht nur expandiert die EU über ihre Außengrenzen, die multidirektionalen Migrationsbewegungen treiben ihrerseits eine Europäisierung des Kontinents voran. Wie wir in unserer Forschung in Slowenien, Kroatien und Serbien und Montenegro festgestellt haben, existieren gegenwärtig verschiedene Gruppen von Migrantinnen und Migranten, deren Geschichte die politischen, sozialen und ökonomischen Veränderungen abbilden, die sich in der letzten Dekade in Jugoslawien vollzogen haben. Sie prägen den sich permanent verändernden politischen Prozess der Migration.4

3 Um die in den SAp erfassten Staaten in Einklang mit den Anforderungen der EU zu bringen, interveniert das CARDS-Programm in einem ersten Schritt in Fragen von Asyl, Visa und Migration über drei Module: das Asyl-Modul wird durch den UNHCR, das Visa-Modul über das ICMPD (International Centre for Migration Policy) und das Migrations-Modul über die IOM ausgeführt. 4 Das ehemaligen Jugoslawien war vorwiegend durch Emigrationsprozesse geprägt, die durch verschiedene Anwerbeabkommen (z.B. mit der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1969) erst relativ spät unter Kontrolle zu bringen versucht wurden. Darüber hinaus gab es eine gewisse Zahl an Asylbewerbern aus Ländern Osteuropas, die in Jugoslawien, einem Land der so genannten Blockfreien Staaten, Schutz suchten.

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Internally Displaced Persons Der Krieg hat in großem Ausmaß Fluchtbewegungen in Gang gesetzt und Vertreibungen organisiert. In Belgrad trafen wir auf die Vukovci. Mehrheitlich Männer, die sich um den Park am Denkmal des serbischen Philologen Vuk Stefanovic Karadzic am ehemaligen Bulevar Revolucije, einer der Hauptstraßen Belgrads, als Tagelöhner verdingen. Die meisten von ihnen sind dem Krieg entflohen, manche kamen während des NATO-Bombardements aus dem Kosovo. Wir treffen einige, die Erfahrungen in der Arbeitsmigration nach Deutschland gesammelt haben. Hier warten sie als billige Arbeitskräfte jeden Tag darauf, abgeholt und auf Baustellen oder in der Landwirtschaft für einen geringen Tages- oder Stundenlohn eingesetzt zu werden. Viele leben in den über 400 Baracken und Unterkünften, die für die „Internally Displaced Persons“ eingerichtet wurden. Belgrad ist ein Flüchtlingslager, sagt einer von ihnen im Interview. Eine andere Gruppe von Tagelöhnern kommt, vorwiegend saisonbedingt im Sommer, aus Rumänien oder Bulgarien. Sie fällt unter die Zahl der Papierlosen, die jährlich von der Polizei aufgegriffen und abgeschoben wird (vgl. Nikolic-Ristanovic 2004, 40). Nicht alle Kriegsflüchtlinge machten sich auf den Weg in Länder, denen sie ethnisch zugerechnet werden, sondern entkamen dorthin, wo sie sich Schutz versprachen. Manche von ihnen lebten mehr als zehn Jahre in einem Barackenlager am Stadtrand von Ljubljana mit einem temporären Aufenthaltsstatus, der es ihnen nicht erlaubte zu arbeiten und ihnen keinen Anspruch auf soziale Leistungen oder Gesundheitsversorgung gewährte. Zwar konnten Kinder Schulen besuchen und Jugendliche Ausbildungen abschließen, aber danach keine Arbeit aufnehmen. Viele von ihnen suchten folglich in informellen Arbeitsverhältnissen ihr Auskommen und riskierten auf diese Weise ihre Abschiebung. Andere setzten alternative Entwürfe um und zogen nach Deutschland oder Österreich weiter. 2002 entschloss sich die Stadt Ljubljana, das von etwa 2000 Flüchtlingen bewohnte Barackenlager aufzulösen und EU-Maßgaben im Bereich der Migrationspolitik im Sinne der Erfordernisse für den Erweiterungsprozess umzusetzen: An der gleichen Stelle planten sie den Bau eines Asylbewerberheims. Die Bewohnerinnen und Bewohner des Barackenlagers wurden aufgefordert, sich eine neue Unterkunft zu suchen oder, noch besser, nach Bosnien zurückzukehren. Das war nicht nur eine zynische Forderung, sondern auch ein kompliziertes Unterfangen, weil die meisten aus Srebrenica geflohen waren. Um der erneuten Vertreibungspolitik zu entgehen, organisierten sie sich im „Bosnischen Flüchtlingskomitee“ und verschafften sich mit der Unterstützung von slowenischen Gruppen öffentliche Aufmerksamkeit. Gemeinsam stellten sie ein Festival auf die Beine, das von etwa 7000 Menschen besucht wurde. Im Rahmen dieses Festivals wurde am Nachmittag ein Fußballturnier ausgerichtet, bei dem die Mannschaften um den „Tem-

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porary Winner Cup“ spielten. Am Abend stand, neben Bands aus Slowenien und Kroatien, auch Manu Chao auf der Bühne. Es folgten weitere Aktionen, die ebenfalls einen Widerhall in der Öffentlichkeit fanden und in der politischen Auseinanderansetzung von Bedeutung waren. Sie führten letztlich im politischen Kampf um eine unbefristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, sowie um das Recht auf Ausbildung und Schulbildung der Kinder zum Erfolg. Sogar neue Unterbringungen in Ljubljanaer Wohnungen wurden garantiert.

Transit Migration – „ein großer Zirkus“ Wissenschaftliche Arbeiten zu Migration unterstellen üblicherweise, dass es der Staat sei, der den Aufenthalt und die Einreise in ein Territorium reguliert. Wie Hess und Karakayalı für die Türkei in diesem Band zeigen, so sind es auch in Serbien eine Reihe von supranationalen und internationalen Organisationen, die erheblichen Einfluss auf die staatlichen Politiken nehmen und diese an unterschiedlichen Momenten des Migrationsprozesses formen und bestimmen. So kennt das migrationspolitische Regime auch in Serbien unterschiedliche Akteure. Es sind das Innenministerium und die Grenzpolizei, die die Grenzen kontrollieren, und innerhalb des staatlichen Territoriums die Polizei, die Ausweiskontrollen vornimmt. Sie sind es auch, die das „Aufnahmezentrum“ Padinska Skela leiten, in das Migranten ohne Papiere eingewiesen werden. Während unseres Forschungsaufenthalts hatten wir die seltene Gelegenheit, diese Einrichtung zu besuchen. Hier konnten wir feststellen, dass ein Teil eines regulären Gefängnisses zu einem Internierungslager für Migranten umgebaut wurde, die „illegal“ die Grenze überschritten hatten. Seitdem werden Migrantinnen und Migranten, die ohne Papiere an der Grenze oder in Serbien ohne Papiere aufgegriffen werden, nach Padinska Skela gebracht. Dort sollen sie nicht länger als 30 Tage inhaftiert sein.5 In dieser Zeit werden Rückkehrmaßnahmen in ihre Herkunftsländer getroffen. Falls die Migranten einen Antrag auf Asyl stellen, werden sie in das am Stadtrand von Belgrad gelegene Motel 1000 Rosen gebracht. Bei unserem Besuch in Padinska Skela wurden uns Gespräche mit den Inhaftierten unter dem Vorwand verweigert, dass die Migranten aus China und Bangladesch kämen und keine der Sprachen sprechen würden, die uns zur Verfügung stünden. Bei dem Interview mit den verantwortlichen Leitern des Abschiebelagers erfuhren wir, dass sie an Abschiebungen von serbischen Bürgern aus Deutschland von staatlicher Seite beteiligt sind. Nach der Rückführungspraxis und den Möglichkeiten von Migrationsregulation gefragt, erklärten unsere Gesprächspartner, dass es sich um einen großen Zirkus handle, bei dem Transitmigranten hin- und hergeschoben würden. Das würde sich nicht ändern, solange die Welt Armutsunterschiede kenne. 5 Interview mit Andrej Mahečić, Pressesprecher des UNHCR in Belgrad.

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Obwohl das Lager dem Innenministerium untersteht, sind Fragen, die den Aufenthalt und den Status der Migrantinnen und Migranten in Padinska Skela betreffen, Gegenstand von Entscheidungen, die auch von anderen Apparaten getroffen werden. Das Rote Kreuz, der UNHCR und die IOM besuchen das Abschiebelager regelmäßig. Das Rote Kreuz trägt die Verantwortung für die medizinische Versorgung und verteilt Telefonkarten, damit die Migrantinnen und Migranten Kontakt nach Außen aufnehmen können.6 Der UNHCR unterhält ein Büro im Gebäude, wo sie Interviews mit den Inhaftierten durchführen, die Asyl beantragen wollen. Wenn es sich um Familien handelt, medizinische Gründe vorliegen oder die Personen nach der Genfer Konvention von 1951 Asyl beantragt haben, werden sie in das Auffanglager Motel 1000 Rosen gebracht. Bis Mai 2005 existierte in Serbien und Montenegro kein Asylgesetz.7 Migrantinnen und Migranten konnten folglich kein Asyl in diesen Ländern beantragen, so dass der UNHCR beurteilte, in welchen Fällen Asyl etwa für ein europäisches Land oder Kanada gewährt werden konnte. Nach dessen Entscheidung bleibt es den staatlichen Apparaten allein überlassen, einer Person den offiziellen Status eines Asylsuchenden zuzusprechen.8 Aufgrund eines Rückübernahmeabkommens etwa zwischen Serbien und Bulgarien, riet der UNHCR in Belgrad im Fall, dass Migrantinnen und Migranten aus der Richtung gekommen waren, dorthin zurückzukehren und Asyl zu beantragen. Nicht alle Migrantinnen und Migranten, die wir bei unseren ersten beiden Besuchen – bevor uns das Zugangsrecht unter dem Vorwand verweigert wurde, wir könnten das Asylverfahren stören – im Motel 1000 Rosen getroffen haben, wurden bei einem Grenzübertritt aufgegriffen. Einige lebten schon seit Jahren ohne gültige Papiere in Belgrad. Im Motel 1000 Rosen lernten wir Personen aus Afghanistan, Aserbaidschan, dem Iran, Jordanien und Somalia kennen, die auf ihrem Weg in die EU oder die USA aufgegriffen worden waren. Manche reisten anfangs mit einem Touristenvisum, andere hatten mit Hilfe von Schleppern die Grenzen passiert. Die professionellen Grenzüberschreitungshelfer behaupteten, sie seien bereits in Österreich und verschwanden daraufhin. Für die Migrantinnen und Migranten, mit denen wir sprachen, war ein solcher Umgang Teil der Geschäftsgrundlage. Es stellte sich heraus, dass sie sich bereits vor Reiseantritt keine Illusionen hinsichtlich eines fairen Umgangs gemacht hatten. Die meisten Migrantinnen und Migranten im Motel 1000 Rosen waren zuvor in Padinska Skela 6 Interview mit Dragan Knežević vom Roten Kreuz in Belgrad. 7 Wie wir bei dem Interview mit Dragan Knežević vom Roten Kreuz erfuhren, existierte noch das alte jugoslawische Asylgesetz, das aber keine Anwendung fand. Er erklärte uns auch, warum. Völlig absurd fand er darin die dort aufgeführten Asylgründe, von denen er zwei nannte: Kolonialismus oder die Verhinderung künstlerischer Freiheit. 8 Interview mit Andrej Mahečić, Portparol UNHCR Belgrad.

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interniert. In unseren Gesprächen schilderten sie drastisch die katastrophalen Verhältnisse, unter denen sie mitunter länger als drei Monate dort inhaftiert waren. Im Motel 1000 Rosen warteten sie darauf, dass ihr Asylgesuch bearbeitet wird.9 Manche gaben aufgrund der völlig unklaren Wartezeit und des Prozedere auf und setzen ihre Reise eigenständig fort. Im Gegensatz zu Serbien, wo die wenigsten Migranten, die wir sprachen, leben wollten, ist Ungarn aufgrund seiner EU-Zugehörigkeit ein attraktives Ziel. Zweifelsohne ist ein Ort wie das Motel 1000 Rosen eine Schnittstelle von Kommunikation und Austausch. So erfuhren wir dort diese Geschichte: Wenn du nach Ungarn gelangen willst, musst du über die Grenze nach Österreich gelangen. Und wenn die Grenzpolizei dich schnappt, sagst du, du kommst aus Ungarn, dann bringen sie dich dorthin. Bei mehreren Besuchen ist deutlich geworden, dass die Zusammensetzung des Camps von Transition geprägt ist. Eine Reihe von Leuten lebt dort zwar – ohne Aussicht auf Veränderung – seit geraumer Zeit, gleichzeitig kommen immer weitere Personen, andere verlassen auf regulärem Weg oder auf eigene Faust das Camp. Eine Frau lebte dort seit zwei Jahren mit ihren fünf Kindern. Ein Mann aus Somalia kam vor 20 Jahren nach Jugoslawien zum Studieren, verliebte sich und entschied sich, dort zu bleiben, auch nachdem er sich später von seiner Freundin getrennt hatte und seine Aufenthaltspapiere abgelaufen waren. Seitdem er bei einer Polizeikontrolle ohne Papiere angehalten worden war, lebte er in diesem Camp. Ein weiterer Flüchtling aus Afrika berichtet uns von zahllosen gescheiterten Versuchen, Serbien zu verlassen und über Kroatien und Slowenien in die EU zu gelangen. Drei Personen (aus dem Irak, aus Armenien und aus Afghanistan) hatten das Camp bei unserem folgenden Besuch bereits verlassen und waren auf unterschiedlichen Wegen in die USA bzw. in die EU gekommen. Von dieser Weiterreise erfuhren wir über einen anderen im Motel 1000 Rosen gestrandeten Mann. Abdel10 hatte, da seine Familie aus Palästina (Gaza) nach Jordanien geflohen war, dort nur eine temporäre Staatsangehörigkeit erhalten. Als er später in Zypern arbeitete, lernte er eine Frau aus Bosnien kennen. Sie verliebten sich und heirateten. Mit einem Touristenvisum für 15 Tage gelangten sie nach Belgrad, wo er mit seiner Frau und seinem dort geborenen Sohn achtzehn Monate lebte. Er verdiente sein Geld als Tapezierer und Maler, bevor er im März 2003 – kurz nach der Ermordung des Ministerpräsidenten Zoran Dindic – ohne Papiere in eine Polizeikontrolle geriet. Nachdem Abdel zunächst ins Abschiebegefängnis Padinska Skela kam, lebte er nun mit seinem Sohn seit März 2003 in dem Camp. Seine Frau musste zurück nach Bosnien und bekam keine Aufenthaltserlaubnis für Ser9 In den Jahren 2003-2004 wurde nur 13 Personen Asyl in Serbien gewährt. Eine Information, die uns der Pressesprecher des UNHCR in Belgrad, Andrej Mahečić, gab. 10 Name geändert.

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bien. Die Befragungen des UNHCR bezeichnet Abdel als „CIA-Methoden“. Seine jordanischen Papiere sind abgelaufen, er hatte sich nicht im entsprechenden Zeitraum um eine Verlängerung bemüht. Seine Aussichten, das Camp oder Serbien zu verlassen (wo er gerne leben würde), sind gering. Von der Campleitung wurde ihm bereits mitgeteilt, dass sie wahrscheinlich nichts für ihn tun könnten. Außerdem ließen sie ihn wissen, dass es ihnen auch egal sei, wenn er dort weitere zwanzig Jahre leben würde. Abdel wiederum wollte sich nicht selbst auf den Weg nach Europa machen, da er sagt: „Ohne Dokumente, kein Leben.“ Den Stuhl, auf dem er Tag für Tag sitzt, hat er zu zerschlagen versprochen, wenn er eines Tages das Camp verlassen kann. Najkrači put u svet – Der kürzeste Weg in die Welt Noch eine weitere Gruppe setzte sich während des Krieges aus Jugoslawien ab. Wir trafen in Belgrad auf Roma, die nach Deutschland geflohen waren und von denen einige mehr als zehn Jahre dort gelebt hatten. Als Bürgerkriegsflüchtlinge erhielten sie eine so genannte Duldung, die sie alle drei Monate erneuern mussten. Die meisten waren durch eine „freiwillige Abschiebung“ nach Serbien zurückgekehrt, die ihnen etwa zwei Wochen Zeit lässt, nötige Vorkehrungen zu treffen und Sachen zu packen. Die „freiwillige Rückkehr“ erfolgt, nachdem die Ansprüche auf Sozialhilfe ausgesetzt oder die Arbeitserlaubnis eingezogen wurde. Das Verfahren geht schnell. Morgens von der Polizei abgeholt und an den Flughafen gebracht, wurden sie noch am selben Tag mit einer Maschine der JAT nach Belgrad geflogen. Dort erwartete sie ein altes Plakat der Jugoslawischen Fluglinie, das immer noch hängt und in ihrer Headline Großes verspricht: Najkrači put u svet – Der kürzeste Weg in die Welt. Das Verfahren der „freiwilligen Abschiebung“ ermöglicht, nach Deutschland zurückzukehren – aber nur für einen kurzen Aufenthalt oder einen Urlaub. Der Tag könnte aber unerwarteter enden. Denn andere sind morgens um 6 Uhr von der Polizei abgeholt worden, ohne Zeit zu haben, ihre Sachen zu packen. Nachdem sie dann zum Flughafen gebracht worden waren, fanden sie sich wenige Stunden später auf einem Abschiebeflug nach Belgrad oder Pristina, der Hauptstadt des Kosovo, wieder. Damit durften sie auch vier Jahre lang nicht mehr nach Deutschland einreisen. Einmal abgeschoben, müssen sich die Roma auf ihre verwandtschaftlichen oder freundschaftlichen Netzwerkstrukturen verlassen. Denn es existiert kein Rückkehr- oder Integrationsprogramm, dass ihnen die Ankunft erleichtern würde. Ein Rückübernahmeabkommen zwischen der deutschen und der serbischen Regierung, das durch die IOM abgewickelt wird, sieht jährlich die Abschiebung von ca. 10.000 Roma und Ashkali nach Serbien und Montenegro sowie in den Kosovo vor. Um das Überleben finanziell zu

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sichern, arbeiten einige der Roma als Tagelöhner auf den Märkten der Stadt oder in einer Shoppingmall in Novi Beograd.

Blok 70 – Prekäre Einwanderung Novi Beograd liegt an der Mündung der Sava in die Donau. Die ersten Ideen für die dritte Stadt (neben dem alten Belgrad und dem Stadtteil Zemun) auf dem unfruchtbaren, öden Sumpfgebiet gehen auf Pläne des Chefurbanisten von Sankt Petersburg im Jahre 1922 zurück. Sie blieben unverwirklicht, weil sie nicht finanzierbar waren. Erst nach der Gründung Jugoslawiens bekam das Projekt wieder Auftrieb, als Novi Beograd der Ort für die Bundeshauptstadt werden und das alte Belgrad Hauptstadt der Republik Serbien bleiben sollte. Das Terrain musste um fünf, sechs Meter angehoben werden. Schnell schossen würfel- oder quaderförmige Betonbunker hervor, die heute an manche Plattenbausiedlungen europäischer Vorstädte erinnern. In diesem Wohn-Areal liegt Blok 70, eine zweistöckige Shoppingmall, in deren etwa 300 Läden Billigprodukte verkauft werden – von Kleidern bis zu Küchenutensilien. Die Shoppingmall, auch Chinesischer Markt genannt, ist ein umtriebiger Ort. Jeden Tag ist er ein Marktplatz für Einkäufer, Verkäufer und Händler. Meist sind serbische Frauen als Angestellte in den Shops beschäftigt. Sie jobben in chinesischen Garküchen, schneiden das Gemüse und liefern Essen an die Läden in dem Areal. Sie arbeiten jeden Tag von 9 bis 6 oder von 6 bis 4 für ca. 300 Dinar, was ca. 3,50 Euro einbringt. Manche von ihnen hatten ihre Arbeit verloren, nachdem ein vormals staatliches Unternehmen privatisiert worden war. Andere, vor allem junge Frauen, hatten zuvor überhaupt keinen Job, konnten keine andere Arbeit finden und haben sich aus Mangel an Alternativen für Blok 70 entschieden. Es ist keineswegs so, dass alle hier eine geregelte Arbeit gefunden hätten. Manche arbeiten hier nur zeitweise, kommen und gehen, wenn es für sie etwas zu tun gibt. Blok 70 ist der Aufenthaltsort für eine große Zahl von Roma, von denen nicht wenige aus Deutschland abgeschoben wurden. Trotzdem waren wir überrascht, als wir an einem Nachmittag, den wir in Blok 70 verbrachten, junge Männer hörten, die sie sich auf Deutsch unterhielten. Wir haben erfahren, dass ihre Abschiebung aus Deutschland erst nach einem sieben Monate langen Widerstand erfolgte. Vom April 2002 an organisierten sie eine Protestkarawane durch Deutschland, die in der Besetzung eines öffentlichen Platzes in Düsseldorf vom Juli bis zum Dezember gipfelte. Es fanden außerdem mehrere Demonstrationen und Hungerstreiks statt. Nach einer Polizeirazzia besetzten einige der Roma die Büros der SPD und der PDS. Sie forderten die Einstellung der Abschiebeflüge, die drei Mal die Woche im Einsatz waren, und für sich und andere das Bleiberecht in Deutschland.

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Wir stellten im Rahmen unserer Untersuchung fest, dass einen schlecht bezahlten Job in Blok 70 zu finden, für jene, die in Deutschland geboren wurden oder hier mehr als 12 Jahre gelebt haben, kein Trost ist. Manche sprechen Serbisch nur sehr schlecht oder haben Schwierigkeiten, die kyrillische Schrift zu lesen. Sie konnten in Deutschland nicht ihren Schulabschluss machen oder ihre Ausbildung abschließen. Ihr größter Traum ist eine Rückkehr in das Land, in dem sie ihre Freunde haben. Prekarität ist in Blok 70 keineswegs nur eine Situation für die, die dort arbeiten. Denn auch die chinesischen Ladenbesitzer in Blok 70 leben in Prekarität. Ihre Anwesenheit wird zwar als eine de-facto-ImmigrantInnen-Gruppe geduldet, eine entsprechende rechtliche Absicherung gibt es dafür nicht. Auch wenn manche Chinesen in Serbien bereits zehn Jahre und länger leben, wird ihnen nur eine Aufenthaltserlaubnis zwischen drei und sechs Monaten gewährt, die immer wieder verlängert werden muss. In der Vergangenheit, vor allem in den Kriegsjahren der 1990er, konnten die chinesischen ImmigrantInnen bis zu zwei Jahre Aufenthalt beantragen. Heute ist die Verlängerung der Erlaubnis von den Steuern abhängig, die sie zahlen. Visa werden nur für enge Verwandte erteilt, nicht an Tanten, Geschwister oder Cousinen. Aufgrund dieses prekären Aufenthaltsstatus schicken chinesische Eltern ihre Kinder, die in Serbien geboren wurden, mehrheitlich auf Schulen in China. Weil sie auch kein Eigentum besitzen dürfen, müssen sie mit serbischen Eigentümern verhandeln, um ihre Shops zu mieten. Die kleinen Läden kosten zwischen 200 und 3000 Euro im Monat. Es ist vielleicht kein Zufall, dass wir bei unserer Forschung auf eine weitere Gruppe von Personen gestoßen sind. Die Vermittler an diesem Ort sind Übersetzerinnen. Es handelt sich meist um junge serbische Frauen, die Chinesisch studieren und ihr Geld damit verdienen, das sie Zolldeklarationen, Aufenthaltserlaubnisse, Heiratsurkunden und andere offizielle Dokumente für ihre chinesischen Auftraggeber übersetzen. Das ist nicht weiter überraschend. Doch ihr Jobprofil geht weiter. Die Übersetzerinnen arbeiten in einem Reisebüro in Blok 70, buchen Flüge für die Geschäftsmänner und -frauen nach China oder, wie sie uns berichten, erstmals in jenem Jahr unserer Forschung, für einen Urlaub in Montenegro. Dieses Reisebüro ist eine Drehscheibe der Information. Hier sitzen auch die übrigen Übersetzerinnen, trinken Kaffee und warten – quasi auf standby mit ihren Mobiltelefonen – auf ihren nächsten Job. Sie sind die Kuratorinnen der Kommunikation in Blok 70. Die prekarisierte serbische Angestellte, gezwungen einen schlecht bezahlten Job auszuüben, die jungendlichen Roma, die kürzlich aus Deutschland abgeschoben wurden, und die chinesischen Ladeninhaber sind nur mithilfe dieser Übersetzerinnen fähig, miteinander zu sprechen.

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Prekarisierung der Arbeit, Prekarisierung der Migration Mit Kopfschütteln haben eine Reihe unserer Interviewpartner reagiert, wenn wir sie nach der existierenden (Transit-)Migration in Serbien gefragt haben. Die geschönten Zahlen offizieller Statistiken beziffern die Arbeitslosigkeit in Serbien auf über 30 Prozent. Gerade unter Jüngeren, die meist aus finanziellen Gründen bei ihren Eltern wohnen bleiben, hat so gut wie niemand einen festen Job. Arbeitsverträge sind eine Seltenheit, die meisten arbeiten mal hier, mal da für einige Monate und verdienen dazwischen gar kein Geld (vgl. Kanzleiter 2004). Transitmigration ist kein nennenswertes Thema. Während unseres letzten Forschungsaufenthalts im Sommer 2004 befanden sich im Zusammenhang mit Privatisierungen gleich vierzehn Fabriken im Streik. Das bestehende Regime von Prekarisierung und Risiko hat eine neue Verbindung von Lohnarbeit und Unternehmertum, zwischen Arbeits- und Freizeit implementiert. Ein großer Teil der Arbeit, das zeichnet sich ab, kehrt nicht in die alten Formen der relativ gesicherten Beschäftigungsverhältnisse wie während der Industrialisierungsphase Jugoslawiens mit ihren entsprechenden politischen Organisierungsformen in Gewerkschaften zurück, d.h. eine zukünftige Formalisierung der Arbeitsverhältnisse kann kaum unterstellt werden. Darüber hinaus finden sich die informellen Formen der Arbeit nicht in einem bestimmten abgrenzbaren Sektor, vielmehr unterliegen ein Großteil der Beschäftigungsverhältnisse diesem Muster. In dieser Situation erlangen soziale Netzwerke und Kooperationen eine zunehmende Bedeutung für Überlebensstrategien und Alltagsökonomien. Auch die Emigration, selbst wenn sie nur der Traum vom Exodus bleibt, muss diesen Überlebensstrategien und dem ihnen eignen Kalkül auf ein besseres Leben zugerechnet werden. Ähnliche Tendenzen lassen sich in den Migrationsbewegungen und diversen Migrantengruppen, wie wir sie im ehemaligen Jugoslawien untersucht haben, erkennen. Migration findet unter prekären Bedingungen des Aufenthalts statt. Sie unterminiert das alte Migrationsregime und konstituiert ein neues, sie stützt sich auf Netzwerke, die das individuelle oder kollektive Projekt ermöglichen. Sie helfen ein Unternehmen oder Geschäfte aufzubauen, Wohnungen zu finden, das Auskommen zu sichern, organisieren die Kinderbetreuung und den Spracherwerb und machen die Gesundheitsversorgung zur privaten Sache. Alle diese Praktiken finden ohne staatliche Garantien statt, ohne Anspruch auf soziale oder politische Rechte.

Regulation der Mobilität und Transformation von Staatlichkeit Die neue Kontrolle, Regulation und Begrenzung der Mobilität lässt sich auf Programme wie MARRI oder CARDS zurückführen, die diese Situation der Prekarisierung produktiv machen und verwalten. Gleichzeitig sollen sie

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darauf zielen, eine Stabilisierung demokratischer Institutionen und die Freizügigkeit innerhalb der Region zu befördern. Tatsächlich resultieren die Visums-, Grenz- und Migrationspolitiken der EU – in Osteuropa insgesamt – in erheblichen Hierarchisierungen, was den Zugang zu Bürgerrechten betrifft. Der bisherige Erweiterungsprozess führte zur Herstellung differenzierter Räume mit unterschiedlichen Graden der Arbeitskraftmobilität und unterschiedlichen Zugängen zu Bürgerrechten, die nicht den Nationalstaatsgrenzen osteuropäischer Staaten entsprechen (vgl. Rigo 2005). Sich überlappende Räume formen Europa zu einer Grenzlandschaft, die weder mit dem Schengenvertrag noch mit den EU-Außengrenzen übereinstimmt. Überall befindet man sich an der Grenze, die sowohl zunehmend im Inneren verläuft als auch über kapillare Wege nach Außen gelenkt wird. Die Grenzen erhalten die regulierende Funktion, nicht die Migration zu unterdrücken, sondern vielmehr die Anzahl der Migrantinnen und Migranten zu limitieren und einen Zustand permanenter Prekarisierung für sie einzurichten (vgl. Balibar/Mezzadra/Bojadžijev/Saint-Saëns 2006). Wie bereits ausgeführt, sind supranationale Organisationen und NGOs ein entscheidender Faktor bei der Implementierung des EU-Migrationsregimes. Sie arbeiten Hand in Hand mit staatlichen Apparaten. Was bedeutet ihr Auftreten? Nicht nur für Serbien gilt, dass sich in und durch NGOs politische Aktivisten professionalisieren. So gibt es neben supranationalen Akteuren wie dem Roten Kreuz, dem UNHCR und der IOM zahlreiche NGOs, die sich auf Fragen der Migration spezialisiert haben und inzwischen von nationalen Regierungen anerkannt werden. Sie arbeiten Gesetzestexte aus, kümmern sich um die gesundheitliche Versorgung von Flüchtlingen oder agieren schlicht als Pressuregroup. Sie nehmen als solche Einfluss auf die Regierung und den gouvernementalen Apparat und agieren vorgeblich im Namen von einzelnen Gruppen wie etwa Migrantinnen, die als Sexarbeiterinnen arbeiten. Durchaus kritische Positionen einnehmend, setzen sie sich etwa für die Entschärfung von Visapolitiken seitens der EU ein. In Verhandlungen und bei der Informationsbeschaffung, zwischen Polizei, Innenministerium und Selbstorganisierung, verstricken sie sich nicht selten in Anerkennungsverhältnissen und Aushandlungsprozessen. Die Vermehrung von NGOs und zivilgesellschaftlichen Aktivisten im ehemaligen Jugoslawien ebenso wie in Osteuropa seit Anfang der 1990er Jahre gilt gerade in der demokratietheoretischen Diskussion als Ausdruck des Demokratisierungsprozesses und gesellschaftlicher Partizipation, allerdings bedeutet das noch nicht notwendigerweise, dass letztere demokratisch verläuft. Das hat, wie Alex Demirović zu Recht betont, mit internen Schwierigkeiten demokratischer Repräsentation zu tun. NGOs repräsentieren meist Interessen oder Bevölkerungsgruppen, die sie nicht delegiert oder gewählt haben, vielmehr entscheidet häufiger die Nähe zu Regierungen oder Netzwerken über ihre Aktivität. Es ließe sich also davon sprechen,

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dass die Repräsentierenden die Repräsentierten erst erzeugen. Das kann zu einer angemessen Repräsentation führen, aber auch Interessen usurpieren (vgl. Demirović 2001, 143). Der Staat selbst kann sich aufgrund dessen als wirklicher Repräsentant gegenüber NGOs legitimieren und suggerieren, alle Interessen könnten an der Politikgestaltung teilhaben, die von NGOs sei aber partikulär. Umgekehrt kann das besondere lokale oder wissenschaftliche Wissen von NGOs seitens des Staates genutzt, kooptiert und instrumentalisiert werden. Aufgrund der Vielfalt von NGOs muss man sie, anstatt zu verallgemeinern, als besondere politische Form begreifen, „also als ein soziales Verhältnis, das sich in und durch eine besondere Widerspruchskonstellation der sozialen Akteure bildet und dann mit einer gewissen zwingenden Kraft wiederum ihr Handeln bestimmt“ (ebd., 147). Die Verbreitung von NGOs kann als Hinweis dafür dienen, und gerade im Kontext der Reorganisation post-sozialistischer Staaten wie in Serbien spricht einiges dafür, dass eine Krise von Staatlichkeit vorliegt. So übernehmen NGOs gerade im Kontext der Migrationspolitik häufig Aufgaben, die üblicherweise in den Souveränitätsbereich von Staaten fallen. Der Staat muss insofern selbst als Feld strategischer Kräftekonstellation verstanden werden, in das die NGOs eintreten und damit zu einer Veränderung des Staates in seiner Form beitragen (vgl. ebd., 150). Das Verhältnis der von uns untersuchten NGOs und staatlicher sowie supranationaler Apparate ist nicht selten eines von Information und Konsultation. Netzwerke ergeben sich durch „Governance-Mechanismen der Absprache, der Vereinbarung, der Beteiligung“ und setzen „lokale, föderale, nationale und suprastaatliche Entscheidungsträger miteinander und mit gesellschaftlichen Gruppen in Verbindung“ (ebd., 164). Auf diese Weise wirken NGOs internationalisierend, verbinden staatliche Apparate und sorgen für eine Transnationalisierung von Entscheidungsprozesse. So ist uns in Interviews mit NGOs in Kroatien und Serbien mehrfach dargelegt worden, dass bei dem Entwerfen von Gesetzesvorlagen für ein Asylgesetz im Sinne des Schengen-Acquis eine Menge „Cut and Paste“-Arbeit geleistet wurde: Das deutsche Asylgesetz diente so mancher NGO als Grundlage für die neuen Asylgesetze. Ein anderes Beispiel ist die serbische NGO „Citizens Pact for Southeastern Europe“, die eine Kampagne lanciert hat, damit die Visa-Restriktionen für Bürger des Westlichen Balkans seitens der EU abgeschafft werden. Einerseits übt sie Druck auf die Regierungen der Region aus, die Verordnung 539/2001 der Europäischen Kommission einzuhalten, die definiert, welche Staaten auf die „weiße Schengenliste“ kommen, das bedeutet, dass deren Bürger von der Visumspflicht befreit sind.11 Andererseits wirkt sie etwa durch die Herausgabe und Lesungen des Buches „Die besten Geschichten aus der Visaschlange“ auf 11 Die Verordnung beinhaltet Kriterien, nach denen die Bekämpfung „illegaler Migration“, „Grenzkontrollen bei Einreise, Transit und Ausreise, Visumpolitik, Reisedokumente und Personalausweise, Gesetze und sonstige Rechtsvorschriften über die

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die europäische und serbische Öffentlichkeit ein, setzt sich gegen die zur Zeit geplante Erhöhung der Visumsgebühren auf 60 Euro und für die Freizügigkeit als Grundrecht ein. Dabei operiert sie mit einem Bedrohungsszenario: Die „Schengenmauer“ schaffe Ghettos an den Grenzen der EU, die nur ein unweigerliches Resultat zur Folge hätte: das massenhafte Begehren nach Emigration (vgl. http://www.citizenspact.org.yu/).

Chinesische Migration – ein role model? Prekarisierung ist eine alltägliche Erfahrung in Post-Jugoslawien. Sie geht mit einer Transformation von Staatlichkeit und der Zunahme gouvernementaler Strukturen einher, die – so lautete eine weitere der Thesen des Forschungsprojekts – einen neuen Typ von Migration adressieren. Im Fall der Migration aus China nach Serbien tritt dies deutlich hervor. Es handelt sich in den meisten Fällen nicht um Transitmigration, sondern um Migration zum Zweck der Niederlassung, zumindest für eine gewisse Zeit, die es erlaubt, ein Geschäft aufzubauen oder genügend Geld zu verdienen. Die Bedingungen, unter denen diese Migration stattfindet, unterscheiden sich erheblich von derjenigen, die wir aus der Zeit von Anwerbeverträgen der 1950er und 1960er Jahren oder der Flüchtlingsmigration über das Asylverfahren der 1980er und 1990er Jahre kennen. Die Migrantinnen und Migranten verlassen China, nachdem sie einen Reisepass erhalten haben, mit einem Touristenvisum; ihre Aufenthaltserlaubnis währt, auch nachdem sie 10 Jahre in Serbien leben, selten länger als sechs Monate; sie sind Unternehmer, ohne Arbeitsvertrag, garantierte Gesundheitsversorgung oder gesichertem Zugang für ihre Kinder zu Kindergarten oder Schule. Ihr Status scheint der Willkür vollkommen ausgesetzt. Aber selbst unter diesen Bedingungen erklärten sie in Interviews, dass sie nicht in die EU wollen. Das begründeten sie damit, dass sich für sie in Serbien, wo die Bevölkerung mehrheitlich arm ist, ein Markt für billige chinesische Waren erschließt. Untersuchungen zur chinesischen Community etwa auf den capverdischen Inseln oder in den USA ergeben, dass sie die Fähigkeit besitzt, ein gesellschaftliches Band in der Migration aufrechtzuerhalten und damit gewisse nationalistische Abschottungen aufzusprengen (vgl. Carling/ Østbø Haugen 2005). Aihwa Ong spricht von einer „flexiblen Staatsbürgerschaft“, die sich entlang solcher Praktiken etabliert (vgl. Ong 2005). Praktiken, die die institutionellen Formen repräsentativer Demokratien Staatsangehörigkeit und Staatenlose, Rückübernahme von Drittstaatsangehörigen, die sich illegal in den Mitgliedstaaten aufhalten, sowie wirtschaftliche und soziale Dimensionen“ und schließlich die „Auswirkungen auf die innere Sicherheit und die illegale Einwanderung in den Mitgliedstaaten“ bemessen werden.

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umgehen. Was aber als der innere Zusammenhalt, das Netzwerk und als Mittel des Widerstands gelesen werden kann, funktioniert zugleich als ein Mittel der ökonomischen Anpassung und der Expansion. In diesem Sinne ist die chinesische Community der Transnationalisierung quasi gut angepasst – sowohl im Gegensatz zu den nationalistischen Tendenzen, die in Serbien zur Zeit als aggressive, defensive Praxis des Staates existieren, als auch im Kontext sich wandelnder Konzepte von Staatlichkeit und Bürgerrechten.

Praktiken der Bürgerschaft In Serbien etabliert das Set institutioneller und alltäglicher Praktiken eine hierarchische Ordnung von Verhältnissen im Sinne einer „partiellen Bürgerschaft“ (vgl. Mezzadra/Rigo 2003). Die Mittel zur Kontrolle und Begrenzung von Mobilität der Migrantinnen und Migranten entwickeln sich zu einer Regierungsweise, in der die EU versucht, die Grenzen sowie den Zugang zur europäischen Bürgerschaft zu definieren. Allerdings kann die europäische Bürgerschaft, darauf hat Sandro Mezzadra hingewiesen, nicht nur von ihrer institutionellen Seite her bestimmt werden. Die Praktiken der Migrantinnen und Migranten deuten auf zahlreiche Konflikte hin, die das Konzept umstritten machen. Nimmt man die Perspektive der Migration ein, dann deutet Mobilität auf die Konflikte hin, die entstehen, wenn Migration kontrolliert und begrenzt wird. Das Konzept der Bürgerschaft ist selbst ein soziales Verhältnis und insofern Teil sozialer Kämpfe. (Vgl. Mezzadra 2006b) Kann man angesichts dieser Überlegungen imperiale Migrationsregime im neuen Europa erkennen? Wenn Migrationspolitiken nicht wieder in die Maßgaben staatlicher Souveränität zurückfallen – wie steht es dann um die Formen der Selbstorganisierung und der Kämpfe von Migrantinnen und Migranten in diesem Prozess? Was ist dann überhaupt ein Migrant? Im Blok 70 ist der Begriff Migrant vorläufig. Der jugendliche Roma mit den Abschiebepapieren weiß nicht, dass die chinesische Ladenbetreiberin, für die er arbeitet, unter ähnlichem unsicheren Aufenthaltsbedingungen lebt, wie er sie selbst in Deutschland erlebt hat. Die serbische Frau, die dem Krieg aus Vukovar entflohen ist und in der chinesischen Küche arbeitet, weiß nicht, dass der Mann im Shop nebenan eine Geschichte des Widerstands gegen Abschiebung erlebt hat. Ein chinesischer Händler, der zu uns durch eine Übersetzerin spricht, sagt, dass es für ihn unmöglich ist, sich als Migrant zu bezeichnen. Ein Migrant, sagt er, ist jemand, der wenigstens ein paar Rechte hat. Sich als Migrant zu bezeichnen, ist offenbar selbst ein politischer Akt, eine Form von Widerstand, eine Forderung nach Bürgerschaft.

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Abkürzung in die EU Sind Bürgerrechte überhaupt eine nützliche Kategorie für Migration, die die Grenzen des Konzepts der Bürgerrechte notwendig infrage stellten? Wie gewährt man Personen Rechte, die keine Rechte haben? Wie steht es um die Situation der Bürgerschaft der Internally Displaced Persons in Kroatien, der Roma in Deutschland und Serbien, der Ausgelöschten in Slowenien, der Serben, wenn sie in die EU reisen wollen oder der Chinesen in Belgrad? Wie steht es um die Bürgerschaft in Europa und an seinen Grenzen? Modernisierungstheoretische Unterscheidungen, die in Übergangsstadien von informellem zu formellen Beschäftigungsverhältnissen, illegalem zu legalem Aufenthalt, von prekären zu vollen Bürgerrechten denken, können die Dynamiken der Ungleichzeitigkeit, die sich hier versammeln, nicht fassen. Das Scheitern von „Integrationsstrategien“ wird deutlich. Das Modell, nach dem sozialem Ausschluss durch Inklusion, durch Gewährung von Rechten und Teilhabe an Öffentlichkeit begegnet werden kann, scheint im Postkriegsjugoslawien an den Rändern Europas ein wenig adäquates Konzept. Ein weiterer Hinweis mag das verdeutlichen: Während eine mazedonische Regierungsdelegation kürzlich in Brüssel erklärte, sie sei an Erleichterungen bei der Visa-Vergabe durch die EU nicht interessiert, allein eine Aufhebung des Visumszwangs könne sie akzeptieren12, vollzieht sich eine neue Bewegung, die das Problem mit erweiterter staatsbürgerlicher Souveränität angeht: Zehntausende Mazedonier haben sich inzwischen zu Bulgaren erklärt, um an einen Pass des Landes zu kommen, das in einem Jahr der EU beitreten soll und die Kroaten Bosniens und die Rumänen der Republik Moldau machen es ähnlich. Ohne Migration gehen sie nach Europa. Eine Reihe von Vorkehrungen müssen getroffen werden, will man die Transformation des europäischen Migrationsregimes aus der Perspektive der Migrationsbewegungen untersuchen. Wenn wir davon sprechen, dass das Konzept von Bürgerschaft ein soziales, umkämpftes Verhältnis ist, dann muss nicht nur geklärt werden, um welches Verhältnis es sich handelt, was umkämpft ist und wer kämpft. Untersucht werden müssen auch die Veränderungen, die diejenigen erfassen, die in diesen Prozess eintreten. Die Prozesse der Subjektivierung – oder, mit den Worten des chinesischen Händlers in Blok 70: der Prozess des Migrantwerdens – kennzeichnen den Widerspruch zwischen der Forderung nach Bürgerrechten einerseits und den alltäglichen Subjektivierungsprozessen in Formen praktischer Aneignung von Rechten andererseits. Es handelt sich um einen spannungsvollen Widerspruch, der zugleich Folge und Ursache der gegenwärtigen Transformation von Staatlichkeit und des Konzepts von Bürgerrechten ist. 12 Zahlen der mazedonischen Regierung besagen, dass ihre Bürger etwa 10 Millionen Euro jährlich für Schengen-Visa-Gebühren ausgeben.

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Die konstante Unterminierung staatlicher Souveränität durch die Governance-Politiken der EU machen die Grenzen des Konzepts von europäischer Bürgerschaft deutlich und beeinflussen notwendigerweise die Formen, in denen sich Konflikte um Bürgerschaft entwickeln. Gerade unter Bedingungen der Unmöglichkeit europäischer Bürgerschaft ergibt sich vielleicht die beste Voraussetzung dafür, die Unterminierung der Institution der Bürgerrechte ihrerseits zu unterwandern: durch autonome Praktiken der Bürgerschaft. Wer am Ende die Oberhand behält, wer in der Lage ist, den Konflikt zu bestimmen und ihn letztlich zu entscheiden, ist keineswegs gewiss. Dieser Text beruht auf gemeinsam mit Dont Rhine und Rudvica Andrijašević durchgeführter Forschung.

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BLOK 70 SOUND JOURNAL Ultra-red Im Sommer 2004 hielten sich die Sozialwissenschaftlerinnen Rutvica Andrijašević und Manuela Bojadžijev sowie die Musiker Elliot Perkins und Dont Rhine drei Wochen lang in der serbischen Hauptstadt Belgrad auf. Der Anlass ihres Besuchs war eine militante Sound-Untersuchung inmitten der Bewegungen der Migration, die das Land kreuz und quer durchziehen und die offizielle Migrationspolitik unterminieren, eine Politik, die in jüngster Zeit aufgrund der Erweiterung der Europäischen Union nach Osteuropa auf dramatische Weise in Fluss geriet. Ursprünglich hatte die Gruppe vor, das Motel 1000 Rosen, ein unter der Leitung des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) stehendes Flüchtlingslager, zum Schauplatz ihrer Untersuchung zu machen. Beim ersten Besuch des 1000 Rosen jedoch zwang man das Team den Ort zu verlassen; einen neuerlichen Zutritt zum Motel verweigerte der UNHCR. Dieses Journal, niedergeschrieben von Dont Rhine, berichtet aus den Tagen, nachdem Utra-red des Flüchtlingslagers verwiesen worden war. Das Konzept des Sound Journal – sound diary – geht auf kanadische Forscher zurück, die, um die Klangfülle der Umwelt zu erkunden, das World Soundscape Project ins Leben riefen. 1975 machten sich fünf Mitglieder des World Soundscape Project, alle Wissenschaftler an der Simon Fraser Universität, zu einer Forschungsreise auf, die sie fünf Monate lang quer durch Europa führen sollte. Das Projekt, die akustische Landschaft fünf ländlicher Gemeinden in Schweden, Deutschland, Italien, Frankreich und Schottland zu kartographieren, machte es erforderlich, dass das Fünf-Personen-Team ausgedehnte Reisen durch jedes Land unternahm, auch wenn das Augenmerk vornehmlich auf fünf ganz spezifischen Dörfern lag. Zusätzlich zu den umfänglichen Audioaufnahmen führten die wissenschaftlichen Mitarbeiter des Teams Sound Journale, also Arbeitsjournale mit detaillierten Notizen. Diese Journale unterstützten die Forscher dabei, die Praxis des genauen Hörens zu vervollkommnen, erlaubten ihnen aber zugleich auch, individuelle Interessen, was die mögliche Wahrnehmung, die Interpretation und den Umgang mit der Klanglandschaft angeht, zu entwickeln. Nach Kanada zurückgekehrt, bearbeitete R. Murray Schafer 1977 die Journale für das Buch European Sound Diary (Schafer 1977a). Der von Schafer herausgegebene Band, „ein informeller Bericht“, versammelte detaillierte Auszüge aus den Journalen der vier Forscher, Diagramme, Photographien, Karten und sogar

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einen Brief an französische Experten in Sachen Lärmbelastung, geschrieben nach einer besonders unerfreulichen Nacht in einem Hotel in Lyon. „Kann die Beschreibung von Klängen die Stimulationen, auf die sie zurückgeht, jemals adäquat erfassen?“ fragt Schafer in seinem Resümee zum European Sound Diary. „Vermutlich nicht; doch reicht sie – gut geschrieben – um in der Vorstellung einen Widerhall hervorzurufen. Was letztlich jedes Journal zutage fördert, ist eine durch die Haltung und die Person der Schreibenden stark eingefärbte Bezugnahme auf Klänge, die häufig genug nur vage oder möglicherweise sogar ungenau beschrieben werden.“ (Ebd., 81) Die von Schafer und seinen Kollegen entwickelte Terminologie und Methode strahlt in den Jahren nach diesen ersten forschenden Streifzügen durch Klanglandschaften in eine Reihe von Wissenszweigen aus: das Interesse gilt dabei der Untersuchung der akustischen Umwelt, und zwar sowohl phänomenologisch wie auch im Sinne historischer und kultureller Formierung. Die Rede vom Soundscape findet sich im Diskurs von Musikerinnen, Klangkünstlern und Umweltaktivisten wieder, und in jüngster Zeit machte sich eine Reihe historischer Untersuchungen die Terminologie aus der Untersuchung von Klanglandschaften zu Eigen. So haben die Historikerin Emily Thompson und der Historiker Mark M. Smith Schafers Modell einer kulturwissenschaftlichen Untersuchung von Klang und seiner sozialen Bedeutungen aufgegriffen. In ihrer Studie The Soundscape of Modernity (Thompson 2002) verwendet Thompson die Analysewerkzeuge Schafers, um zu untersuchen wie die sich entwickelnden Einstellungen akustischen Phänomenen gegenüber architektonische Entwürfe im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts instruierten. Smith untersucht in Listening to Nineteenth-Century America (Smith 2001) die in der Zeit des Amerikanischen Bürgerkriegs anzutreffenden Einstellungen akustischen Phänomenen gegenüber, um die konkurrierenden Sichtweisen im Norden und im Süden, versklavt und frei, auf das Wesen der Nation und auf eine kollektive gesellschaftliche Identität zu verstehen. Insbesondere Smith hält an dem analytischen Vokabular fest, das auf Schafer und seine Studien zur Klanglandschaft zurückgeht. Smith zitiert die Untersuchung The Tuning of the World (Schafer 1977b), mit der Schafer, was eine Theorie und Praxis der akustischen Umwelt angeht, einen Meilenstein setzte, und schreibt: „Als der Soundscape-Theoretiker R. Murray Schafer die Frage stellte, welche Beziehung zwischen den Menschen und den Klängen ihrer Umwelt bestehe und was geschehe, wenn diese Klänge sich veränderten, war dies eine Frage im Hinblick auf die Geschichte.“ Smith merkt anerkennend an, dass es „dank der bahnbrechenden Arbeit des World Soundscape Project theoretisch möglich“ sei, jene Geschichte zu erforschen (Smith 2001, 263). Von dem Kunstkritiker Hal Foster stammt die Warnung, dass Künstler, die ethnographisch arbeiten, durch Selbstreflexivität möglicherweise ledig-

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lich das Ausmaß verbergen, in dem sie das Objekt ihrer Auseinandersetzung als ebendies betrachteten: als ein Objekt. Umgekehrt, so erinnert uns Foster, entwickeln Anthropologen eine Art „Künstlerneid“, um ihren eigenen Narzissmus zu verbergen (oder gar zu legitimieren) (Foster 1996, 180). Das Interesse von Ultra-red an einer militanten Untersuchung inmitten der Klanglandschaft von Blok 70 hat allerdings weniger damit zu tun, die Geschichte dieses Ortes schreiben oder unsere imaginären Identifikationen mit Belgrader Migranten kartographieren zu wollen. Das Sound Journal verzeichnet die Situiertheit des Hörens: eine Art über einen Ort zu schreiben, an dem unser Hören beobachtet wird. Das Sound Journal, als geschriebenes Zeugnis, ermöglicht es einer militanten Sound-Untersuchung, das in der Sozialforschung meist anzutreffende „asymmetrische Verhältnis der Unterwerfung und Abhängigkeit, das der Dualismus von Subjekt und Objekt impliziert, aus freien Stücken und eigener Erfahrung aufzubrechen“, wie es bei Orlando Fals-Borda heißt (Fals-Borda/Rahman 1991, 5). Eine solche Orientierung in der Feldforschung zeigt, wie aus dem Hören – in geographischen, institutionellen oder diskursiven Situationen – eine konspirative Verständigung zwischen Forschenden und jenen Subjekten werden kann, die für die Veränderung der herrschenden Verhältnisse kämpfen. Subjekte handeln in sozialen (Macht-)Verhältnissen immer schon als Träger der Veränderung. Die militante Sound-Untersuchung, als Art zu hören, verortet sich und unsere Forschung im Organisieren jener Formen von Widerstand, die schon praktiziert werden. Freitag, 16. Juli 2004 Während Rutvica Andrijašević, Manuela Bojadžijev, Elliot Perkins und ich auf eine Antwort warten, ob wir noch einmal das Flüchtlingslager im Motel 1000 Rosen besuchen dürfen, beginnen wir eine den ganzen Tag dauernde Untersuchung von Korridoren als Akustikkammern. Die Untersuchung gründet sich auf drei Fallstudien: (1) das Büro des Roten Kreuzes in Serbien und Montenegro, (2) das Amt für Privatisierungen und (3) den Ramschmarkt im Komplex Blok 70 in Novi Beograd. (1) Rotes Kreuz. Am oberen Ende der Treppe befindet sich ein Korridor, dessen fehlende Länge die hohe Decke ausgleicht. Der tiefrote Läufer, ein Relikt aus dem Jugoslawien der Tito-Ära, dämpft das Knarren der Dielen. Eine Reihe Fenster nimmt den größten Teil der linken Seite ein und lässt breit das warme Licht von draußen hereinfallen. An der Wand gegenüber hängt eine Serie offizieller Plakate des Roten Kreuzes in Reih und Glied. Zwischen den Plakaten eine Folge von Türen aus dunklem Holz, hinter denen man Stimmen in Telefone sprechen hören kann, vernehmbar doch gedämpft dank des Teppichläufers auf dem Boden und der hohen Decke des Korridors. Nach der Fensterreihe gelangt man auf der Linken zum Büro von

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Dragan Knežević. Sein Arbeitszimmer befindet sich hinter einem kleinen Vorraum, der in ein Empfangszimmer verwandelt wurde. Durch die Risse in den Doppeltüren dringt die Stimme von Knenević, energisch und kräftig, doch hörbar nur bis in den Vorraum. Wenn man den Korridor hinunter geht, gewinnt man allgemein den Eindruck, das Gebäude sei kaum genutzt. (2) Amt für Privatisierungen. Im fünften Stockwerk des Gebäudes, das auch die regierungsnahe Serbische Gewerkschaft beherbergt, befindet sich eine Reihe von Korridoren. Diese Flure bieten ein Gefühl der Zeitzeugenschaft; niedrige Decken, karg, schmucklos – im Unterschied zum selbstbewussten Art Déco der Gebäudefassade. Ein eindrucksvolles Treppenhaus führt im Gebäude nach oben, einem Rückgrat vergleichbar, das die unteren mit den oberen Stockwerken verbindet. Verlässt man den Treppenabsatz im fünften Stock, stößt man in den abgehenden Fluren auf keine Fenster. Die inneren Korridore sind in jeder Hinsicht tote Räume, deren Bestimmung es insbesondere ist, die freie Ausbreitung des Klangs zu vereiteln. Bei unserem Besuch bringen über hundert streikende Arbeiterinnen und Arbeiter aus einer pharmazeutischen Fabrik Leben in die Räume. Der Schallpegel steigt, wird dichter und energischer, während die Streikenden miteinander debattieren. Die Verhandlungsführer des Streiks wollen das Wort an die Gruppe richten, es werden vergebliche Versuche unternommen, die Stimmen in ihrer Lautstärke zu dämpfen. Beamte des Amts für Privatisierungen suchen hinter ihren verschlossenen Türen Schutz, Zuflucht vor der Verzweiflung und der Wut des Korridors. Selbst mit amtsgrauem Teppichbelag und niedrigen Decken gelingt es nicht, die Menge, ihre Stimmen zu bändigen. Die Gruppe, zumeist Arbeiterinnen, ist die gleiche, die zweimal einen Angriff der Sicherheitskräfte abwehrte und die den neuen Mafiabesitzern der Fabrik die Stirn bot. Die frühere staatliche Fabrik sollte für einen Euro verkauft werden. Die Arbeiterinnen werden nicht so leicht verkauft werden. (3) Blok 70. Was hätte Walter Benjamin zu diesen Passagen gesagt? Ein Labyrinth aus Verkaufsständen, die einzige weiche Oberfläche bieten die Einkaufenden in ihrer Unzahl, zusammen mit den Serben, den Roma, den Chinesen, die jeden Tag den Markt beschicken. Selbst wenn man versucht, die aufgetürmten bunten Hemden und gemusterten Taschen zu ignorieren, dem Ozean aufgeregter Stimmen wird man sich nicht entziehen können. Händler verramschen ihre Ware auf Serbisch und Chinesisch. Chinesen in Gruppen knallen die Damesteine aufs Spielbrett, ihre Frauen kümmern sich ums Geschäft, verkaufen, sehen nach den Kleinen und passen auf die jugendlichen Serben und Roma auf, die für sie arbeiten. Kinder rasen durch die Gänge, berauscht vom wilden Nachhall ihrer Stimmen. Ineinanderkrachende Karren, kreischende Kleinkinder, das Rascheln von Plastiktaschen, Klebebandabroller, Pfeifen, verstärkte Musik vom Café draußen. Verwerfungen im gesellschaftlichen Geflecht scheinen ebenso

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wie Sprachbarrieren für die Einkaufenden auf der Jagd nach Schnäppchen wenig ins Gewicht zu fallen. Serben reden auf Roma ein, Roma auf Chinesen, Chinesen auf Serben – all das für ein T-Shirt um einsfünfzig oder eine Handtasche für zwei Euro. Samstag, 17. Juli 2004 Noch einmal geht es heute in die Gänge von Blok 70. Wir unternehmen einen Versuch einen möglichen Informanten, einen Einheimischen, zu treffen. Bei einer flüchtigen Begegnung auf dem Bürgersteig morst uns der chinesische Händler nur kleine Informationsschnipsel zu und ist allgemein sehr abgeneigt, uns weiterzuhelfen. Können wir ihm das verübeln? Für ihn sind wir bloß eine Gruppe von Fremden. Unser Projekt hat offen gesagt, zumindest im Augenblick, die Orientierung verloren. Ohne Zugang zum Motel 1000 Rosen fehlt uns der soziale Raum für die Untersuchung. Blok 70 könnte diese Rolle übernehmen, aber nur bei einer neuen Ausrichtung des ganzen Projekts. Natürlich gibt es in jedem Projekt potenziell Umwege und Neuorientierungen, aber man will sichergehen, dass alle Routen rund um die ursprüngliche Idee wirklich ausprobiert wurden, bevor man den Kurs ändert. Gibt es in Belgrad keinen mit Transitmigration in Verbindung stehenden sozialen Raum, den wir erforschen könnten? Die Chinesen von Blok 70 lassen sich nicht der Transitmigration zurechnen, denn als Gruppe von Migranten sind sie nicht auf dem Weg nach irgendwo anders. Sie sind hierher gekommen um zu arbeiten. Am Ende der ersten Woche klingen unsere Aussichten äußerst bescheiden. Donnerstag, 22. Juli 2004 Das Erste, was man wahrnimmt, wenn man an einen unbekannten Ort kommt, an dem man Klänge aufnehmen möchte, ist eine ganz allgemeine akustische Umwelt. Die unmittelbare Erfahrung bringt eine Reihe von Eindrücken ohne Besonderheiten hervor. Man hört den Krach wie ein Objekt, Fliesenböden, hohe Decken, Glas- und Metalloberflächen verstärken diesen Eindruck, dazu eine amorphe Menge, die durch Korridore strömt, erhobene Stimmen in einem Universum von Gesprächen. Was dabei an Aufnahmen herauskommt, weist alle Merkmale eines Flusses oder einer Autobahn auf: ein unendlicher tosender Strom. Nach dem zweiten Besuch tritt die allgemeine akustische Umwelt zurück und kleinere Klangräume tauchen auf. Das passiert, wenn man sich durch einzelne Räume bewegt, die alle eigene klangliche Kennzeichen aufweisen, einen Fernseher etwa, ein Radio, eine Gruppe charakteristischer Stimmen, eine Maschine, das Rascheln, das mit einer bestimmten Hand-

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lung in einem distinkten Raum verbunden ist, wie beispielsweise mit dem Durchwühlen von in Plastik eingeschweißten Kleidungsstücken. Beim zweiten Besuch fangen selbst größere Räume an, sich als distinkte Klangorte zu präsentieren. So kann ein Flur weiterhin aus objekthaftem Krach bestehen, wie bei der Aufnahme am ersten Tag. Und gleichzeitig zeigt ein anderer Korridor, oben im ersten Stock, eine neue akustische Mischung aus Stimmen und anderen Soundereignissen. Als nächstes kommt die Subjektivität: unser subjektives Eingehen in den Raum ebenso wie die Subjektivität jener, die den Raum nutzen. In diesem Moment, zu einem Zeitpunkt nicht vor dem dritten Besuch, beginnen wir die Organisierung eines akustischen Raums zu erkennen und an ihr zu partizipieren. Mit Organisierung meine ich nicht die spezifische Organisierung, damit daraus Musik wird (das kommt viel später). Vielmehr taucht das Erkennen – auch wenn es, immer schon, mit Ver-Kennen einhergeht – im Übergang zum Hinterfragen auf. Unser Material ist Klang als sozialer Raum, doch führt die Bedeutung, die jenen Klängen – affektiv – zugeschrieben wird, zum Hinterfragen der Kategorien von Geräusch und Stille. Freitag, 23. Juli 2004 Wir sind an einem wichtigen Punkt. Die heute getroffenen Entscheidungen erfordern, die bisherigen Besuche in Blok 70 stärker formal zu rubrizieren. Bisher umfasst das Register folgende Daten im Juli 2004: (1) Freitag, den 16., (2) Samstag, den 17., (3) Donnerstag, den 22., und (4) Freitag, den 23. Morgen wird unser fünfter Besuch stattfinden. Einen sechsten bereiten wir gegenwärtig für Montag vor. Nach der geplanten Präsentation im Studentski Kulturni Centar (SKC) am Dienstag werden sich zweifellos weitere Besuche anschließen. Die eher allgemeine Atmosphäre, die wir bei den ersten Besuchen erfuhren, hat sich zum aktuellen Zeitpunkt sedimentiert. Mit wachsender Erfahrung, nach dem eingehenden Abhören der Aufnahmen und dank weiterer Reflektion (in Form dieses Journals wie in der täglichen Nachbesprechung) richtet sich die Aufmerksamkeit beim Hören auf Mikromilieus. Diese mikroakustischen Räume haben durch persönliche Begegnungen und durch sich entwickelnde soziale Beziehungen Form angenommen. Ein Beispiel: Der obere östliche Korridor im Südgebäude wurde dauerhaft markiert, als Manuela und Elliot sich auf Deutsch unterhielten, ein Gespräch, das die Aufmerksamkeit dreier Arbeiter – Aleksander, Toni and Milorat – erregte. Die drei Roma waren zwangsweise nach Serbien repatriiert worden, nachdem sie über ein Jahrzehnt lang als Kriegsflüchtlinge in Deutschland gelebt hatten. Der obere östliche Korridor im Südgebäude ist von nun an der Gang, in dem man Deutsch spricht.

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Andere mikroakustische Räume tauchen auf; im Mittelpunkt der beiden prominentesten stehen das chinesische Restaurant im Nordgebäude und das Reisebüro 888. Natürlich gibt es weitere Mikromilieus, die sich bei wiederholten Besuchen zu verstetigen beginnen: die chinesischen Damespieler am Straßeneingang des Südgebäudes; das Café im Hof zwischen den beiden Gebäuden, wo ein Mix aus Disco, US-amerikanischem Soul und Afro-House läuft; die Straße zwischen dem Markt und den Wohngebäuden von Blok 70; schließlich die untere wie die obere Terrasse, die auf der Ostseite von Blok 70 zum Parkplatz hinausgehen (und zweifellos wird sich dieser Bereich im Verlauf späterer Besuche in spezifischere Bereiche auszudifferenzieren beginnen). Der Anspruch, vor Ort Interviews durchzuführen, lässt sich kaum mit dem Anspruch in Einklang bringen, Soundaufnahmen zu machen: aktuell stellt uns das vor ein Dilemma. Solange das Team »weiß« bleibt und kein Chinesisch spricht, werden wir Verdacht erregen. Wer sind diese Fremden mit ihrem Deutsch, ihrem amerikanischen Freund und den Mikros, die sie in die Taschen gestopft haben? In meiner Phantasie tragen wir Megaphone auf dem Kopf und eine Durchsage kündigt uns als die ausländischen Künstler an, die gekommen sind, um Tonaufnahmen zu machen. Wie auch immer, auch wenn wir die Aufnahmegeräte erfolgreich verbergen können (wie heute bei 888-Reisen), ließe sich dann die Verwendung solcher Aufnahmen ethisch rechtfertigen? Vielleicht lösen sich derartige Probleme mit der Zeit, wenn es gelingt, zwischen den Übersetzern im Reisebüro und uns ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Augenblicklich bin ich der Meinung, dass einfache Tonaufnahmen vor Ort, ohne Interviews, als Grundlage späterer Sound-Arbeiten dienen sollten. Diese Tonaufnahmen könnten ein möglicher Ausgangspunkt einer Reihe von Überlegungen, Beschreibungen und Analysen sein. Was etwa wie ein typisches Büro klingt, erfährt seine Spezifik durch den Klang der Sprache (des Serbischen, des Chinesischen), durch das Gender derer, die den Raum nutzen, schließlich durch die Situiertheit in Blok 70, Novi Beograd, Serbien. Mein Interesse ist es, die Zahl der Mikromilieus in Blok 70 zu erweitern. Dieser zentripetalen Bewegung entsprechend lassen sich zahlreiche Verbindungen zu Orten außerhalb herstellen, etwa zur benachbarten Stadt Ledine, zu anderen chinesischen Geschäften, zum Gefängnis von Padinska Skela und sogar zum UNHCR-Flüchtlingslager im Motel 1000 Rosen. Ausgehend von diesem einen Ort können wir zu einem immer komplexer werdenden Netzwerk gelangen, das sich innerhalb wie außerhalb dieses Ortes ausspannt. Samstag, 24. Juli 2004 Blok 70, fünfter Tag. Auf Manuelas Vorschlag hin fahren sie und ich um acht Uhr morgens nach Novi Beograd. Bei unserer Ankunft sind die Gänge leer. Die meisten Läden sind verrammelt; Serben sind keine zu sehen.

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Als dieser unbewegte und stille Moment sich schließlich auflöst, geschieht es wie in einem minutiös choreographierten strukturalistischen Film. Der an der Ostseite des Markts gelegene Parkplatz füllt sich mit Fahrzeugen, voll mit Waren oder chinesischen Geschäftsleuten oder beidem. Verschlafen schlurfen die Händler hinein, rollen die Gitter hoch und schließen die Vorhängeschlösser an den Türen auf, um dann unentwegt Sachen aus Kartons auszupacken. Ohne die Stimmen der Einkaufenden, in den kurzen Augenblicken, bevor die Flotte der Klimaanlagen ihr eintöniges Rauschen gegen die Mittagshitze anstimmt, sind die Flure von einer fast melancholischen Ruhe beherrscht. Einzelne Geräusche treten hervor. Das Geräusch von Schlüsseln in Schlössern, von Kartons, die über den Boden gezogen werden, das Kratzen von Absätzen auf dem Stein, das Abreißen von Klebeband, das benutzt wird, um Kartons mit Waren offen zu halten, Bügel an provisorischen Kleiderstangen, Metall auf Metall, nicht zuletzt der Klang von Anweisungen auf Serbisch, garniert mit chinesischem Akzent. Draußen im Innenhof die Cafés in Wartestellung, die Soundsystems ruhig, eine Blok 70 gnädig gewährte Gelegenheit, die eigene morgendliche Stimme zu finden. In dieser Atmosphäre sind es nicht nur einzelne Geräusche, die in ihrer Klarheit hervortreten. Ich fange an, distinkte akustische Milieus an bestimmten Verkaufsständen wahrzunehmen. Dazu gehört etwa der Spielzeugverkäufer auf dem östlichen unteren Gang im Südgebäude, der seine aufblasbaren Dinosaurier mit einem Tretblasebalg aufpumpt. Derweil zeigt sich oben, in dem Gang, in dem man Deutsch spricht, das Milieu des Schuhstands, wo Aleksander, der abgeschobene Rom, arbeitet. Dann gibt es da das Milieu rund um den unglaublich peniblen Kleiderhändler im unteren westlichen Gang des Nordgebäudes. Ich trage mein Mikro runter zu der Frau mit den musikalischen Absätzen, die Steppdecken in bunten Farben verkauft. Nebenan der junge Mann, der im Labyrinth seines Ladens Schuhe und nicht identifizierbaren Krimskrams anbietet. Beiden gegenüber das junge Paar mit dem plappernden Kleinkind. Ganz hinten im westlichen Korridor, im gleichen Gebäude, eine Symphonie für knisternde Plastiktüten im kleinen Laden eines jungen Chinesen. Unterstützt wird er von zwei Jungs, Roma, die pflichtschuldig seinem Gefuchtel folgen. Um neun Uhr verlieren sich all diese Räume und ihre diskreten Klänge in der allgemeinen Umwelt von Blok 70. Kaufhungrige kommen auf der Suche nach Dingen, die nicht viel kosten. Die Klimaanlagen versetzen die Gebäude wie Maschinenbataillone in Schwingung. Und die Cafés heizen mit ihren Soundsystems ein. Heute morgen heißt die Musik der Wahl Afro-House. Mit einem Hauch von postmodernem Utopismus stellt Manuela fest: „Echt nett, Afrika-House auf einem chinesischen RomaMarkt in Belgrad.“

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Als Blok 70 das Normalniveau an Kakophonie erreicht, beschließen wir, dem Büro der Chinesischen Handelsvereinigung, das sich oben zwischen dem östlichen und dem westlichen Gang des Südgebäudes befindet, einen neuerlichen Besuch abzustatten. Bei unserem ersten Besuch stießen wir auf das Büro, die Tür war verschlossen. Bei unserem dritten Besuch vor zwei Tagen platzten Manuela und ich in eine Gruppe chinesischer Männer, in etwas versunken, das ein ernsthaftes Gespräch zu sein schien. Nachdem sie den Fernsehapparat leiser gedreht hatten, machten die Männer einen Versuch, Manuelas Serbisch zu verstehen. Kommt mit einem Dolmetscher wieder, lautete ihre Antwort auf unsere Fragen. Heute, bei unserem fünften Besuch, kommen wir mit Jasmina, unserer Dolmetscherin, und mit Wang, einem chinesischen Geschäftsmann, wieder. Die Männer lassen uns im Büro allein, der Fernsehapparat ist ganz leise gedreht, sodass er stumm bleibt. Der massive Krach des Markts drückt gegen die Fenster, die zur Innenseite hinausgehen. Manuela und Rutvica beginnen mit dem Interview. Das neunzig Minuten währende Gespräch wird in Serbisch und Chinesisch geführt. Ich sitze am Tisch und schaue interessiert – eine Maske. Mehrmals macht Jasmina die verunsichernde Erfahrung, an meinem aufmerksamen Blick hängen zu bleiben. Das unterbricht ihre Gedanken. Sie kann mich nicht anschauen und dabei wissen, dass ich sie nicht verstehe. Allerdings sind das Mikro und ich zwischen Manuela und Rutvica postiert. Ich bin der blinde Fleck, der hört aber nicht versteht. Wenn Jasminas Augen zwischen meinen beiden Kolleginnen hin und her wandern, senkt sie den Blick oder blinzelt, sobald der Blick die Mitte streift. Aus dieser hörenden/nicht-verstehenden Mitte heraus dringt der Blick, der das Ereignis registriert und zugleich droht, dessen prekäre Kohärenz zu zersetzen – eine Kohärenz der Verständlichkeit, Bedingung für die Kommunikation auf Serbisch, für das Übersetzen des Serbischen ins Chinesische, für das Chinesische, für das Übersetzen des Chinesischen ins Serbische, schließlich wieder für das Serbische. Tatsächlich trägt die Fiktion einer transparenten und kohärenten Übersetzung unsere Begegnung. Diese Fiktion aufrecht zu erhalten ist für den Zweck des Gesprächs absolut unerlässlich. Dennoch offenbart die Tatsache, dass der Mann mit dem Aufnahmegerät Chinesisch wie Serbisch als bloßen Klang hört, die Irreduzibilität des Rauschens in der gesprochenen Sprache. Ein Rauschen, das vom stummen Fernsehapparat und dem gegen die Bürofenster drückenden Krach noch verstärkt wird. Ein Rauschen, das sich auf der Abschirmung des Mikrophons niederschlägt. Als das Interview sich dem Ende nähert, sind Rutvica, Manuela und ich uns einig, dass wir in unserem Projekt einen Durchbruch erzielt haben. Ein Mitglied der chinesischen Community formuliert es in einem langen Interview so: „Ich kann mich nicht Migrant nennen. Migrant zu sein heißt Rechte zu haben.“

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Donnerstag, 29. Juli 2004 Zurück in Blok 70, unser Besuch Nummer sechs. Nataša vom Reisebüro 888 hat uns eingeladen, ein richtiges Interview in Englisch zu führen. Am Anfang stößt Ivana hinzu, die für einen Schiffsmakler arbeitet, sowie Sonja, eine junge Frau, die gerade angefangen hat, in Blok 70 als Übersetzerin zu arbeiten. So sehe ich endlich aus erster Hand, wie das Reisebüro funktioniert, und vor allem lerne ich Nataša kennen. Die Frau ist beeindruckend: ihre weit gespannte Erfahrung und ihr umfangreiches Wissen, die Nüchternheit und der glasklare analytische Blick, wenn sie über das Leben der Chinesen spricht. Sie ist eine Frau von Welt. Sie hasst die Art, in der viele Leute in Serbien auf die Chinesen herabschauen. Was das Büro selbst angeht, huscht der Alltag von Blok 70 draußen an dem großen Fenster vorbei, das auf den Balkon beziehungsweise auf den Übergang hinausgeht. Das Reisebüro befindet sich an einem symbolischen Ort in Blok 70, nämlich auf dem Übergang, der im ersten Stock das Süd- mit dem Nordgebäude verbindet. Unter dem Balkon hämmert die Musik des Cafés im Freien. Die jungen Übersetzerinnen, die alle Chinesisch an der Universität Belgrad studieren oder studiert haben, kommen bei 888-Reisen vorbei, um Neuigkeiten und Klatsch auszutauschen oder Verbindungen zu knüpfen. Die Kunden des Reisebüros sind die chinesischen Händler selbst. Sie kommen zu Nataša, um Ferien in Montenegro, Abstecher nach China oder Familienbesuche zu buchen. Die Tür geht auf und zwei Chinesen kommen herein. Im Kopf übersetzen sie ihr Anliegen aus ihrem speziellen südlichen Dialekt ins Mandarin, Nataša hört ein Mandarin mit südchinesischem Akzent, sie übersetzt sich das ins Serbische und antwortet in Mandarin mit serbischem Akzent. Die Männer fragen, ob Nataša drahtloses Internet hat. In Blok 70 kursiert das Gerücht, 888 habe WLAN. Nachdem wir bei Nataša fertig sind, bummle ich durchs Nordgebäude. Es ist sechs Uhr abends und die Händler beeilen sich zu schließen. Das morgendliche Crescendo rückwärts. Die herausgeräumten Sachen werden wieder eingeräumt, Metallrollgitter eins nach dem anderen heruntergelassen. Türen werden abgeschlossen, um so Nachzügler aus dem Markt zu vertreiben. Im schwächer werdenden Tönen von Stimmen, Geräuschen und Widerhall bewegen sich zwei ältere Roma-Frauen durch das Gebäude: Sie kehren den Boden mit traditionellen Strohbesen. Ein Auftritt für zwei. Ich stehe im Schatten und nehme die letzten Geräusche des Tages auf, mit den anderen Überbleibseln auf einen Haufen gekehrt. Zum Abschluss des Tages machen wir schließlich einen Abstecher nach Ledine, in ein Dorf, das scheinbar Stunden entfernt auf dem Land liegt, tatsächlich jedoch ein Vorort von Belgrad ist. In den engen Straßen drängen sich Autos und Bewohner, Roma, Chinesen, einige Serben. Manuela und Rutvica finden Toni und Ramiz, die Deutsch sprechenden

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Teenager aus Blok 70. Der Klang ihrer Stimmen bewegt sich durch die dunklen Straßen der ländlichen Stadt. Schnell versammeln sich ein paar Deutsch sprechende Roma mit ihren Kindern um uns. Die Gespräche ersterben laufend, jedes Mal, wenn ein Flugzeug, das auf dem Weg zum oder vom nahegelegenen Belgrader Flughafen ist, über unsere Köpfe hinwegdonnert. Dann kehrt die Ruhe zurück. Es ist eine Ruhe, in der einzelne Stimmen und Klänge zu hören sind. Die Atmosphäre erscheint beinahe prämodern, ohne lärmenden Verkehr, ohne das Geräusch von Generatoren, ohne eine elektrische Straßenbeleuchtung. Toni bringt uns zur Einzimmerwohnung einer Familie. Die Roma wurden vor kurzem erst aus Deutschland abgeschoben. Außer ihrer Verzweiflung besitzen sie nichts. Doch selbst in ihrer Armut verströmen sie Großzügigkeit und Gastfreundschaft, bieten uns türkischen Mokka an und lassen uns die besten Sitzplätze auf dem Fußboden. Die Geschichte, die sie uns erzählen, unterbrechen öfters die kleineren Kinder durch ihr Spiel. Die Situation ist dennoch schlimm. Während unseres Besuchs bleibt der Fernseher an, die feste Größe, die den äußeren Schein von Modernität aufrecht erhält. Freitag, 30. Juli 2004 Der ursprüngliche Plan lautete einfach: Siebter Besuch in Blok 70, ein Treffen mit Ivana, der Übersetzerin, und ein Interview mit dem chinesischen Händler Hang (Xiaochang Chuo). Danach, wenn das abgeschlossen ist, ein Treffen mit Milorat, dem Mann, der aus Deutschland zurück nach Serbien abgeschoben wurde. Es gab im Team zunächst Diskussionen, ob auch mit der Polizei ein Interview geführt werden sollte. Schließlich hatten wir beschlossen, dass Rutvica eine Vertreterin der Belgrader Menschenrechtskommission interviewen würde, um danach zu uns zu stoßen, zum gemeinsamen Treffen mit Milorat in Blok 70. Hang ist, wie sich herausstellt, ein sehr angenehmer junger Mann in den Zwanzigern; er studiert an der Universität Informatik und spricht fehlerfrei Serbisch. Seine Kenntnisse der chinesischen Community allerdings sind bestenfalls mittelmäßig. Wir erfahren nichts, außer dass er vorhat, ein erfolgreicher Geschäftsmann zu werden. Nach dem Interview begleiten Manuela und ich Ivana ins gleiche chinesische Restaurant, in dem wir seit unserem zweiten Besuch regelmäßig essen waren. Das Gespräch dort entwickelt sich für uns alle drei überraschend. Wie sich herausstellt, ist Ivana in Bosnien, in Tuzla, geboren. Während des Krieges war sie zwei Mal in Situationen, in denen eine Waffe auf sie gerichtet war. Ihre Mutter wurde gekidnappt und die Familie floh nach Belgrad, nachdem sie zuvor andernorts untergekommen war. Ivana erzählt uns, wie eines Tages Soldaten ihren Schulbus stoppten und alle Kinder zum Aus-

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steigen zwangen. Mit vorgehaltener Waffe forderte man sie auf, das Paternoster aufzusagen. Kinder, die das nicht konnten, wurden von den anderen getrennt und mitgenommen. Die Waffe am Kopf, versuchte Ivana krampfhaft sich zu entsinnen, doch das Einzige, woran sie sich erinnern konnte, war ihr Name. Als die Soldaten schließlich in ihr die Tochter eines serbischen Generals erkannten, tätschelten sie ihr den Kopf: „Gute Serbin.“ Während ich die Geschichte höre, stürze ich in ein Wechselbad der Gefühle. Das veranlasste Ivana zu der Frage, ob es denn stimme, dass während des Krieges die Amerikaner in den Jugoslawen Barbaren sahen. Sie fragte, warum wir Anfang der 1990er nichts getan hätten, um die Gewalt zu stoppen. Wie kann ich ihr sagen, dass das genau die Zeit war, in der ich mitansehen musste, wie meine Freunde einer nach dem anderen an Aids starben? Wie erzähle ich ihr von den Demonstrationen, den Verhaftungen, unserer Wut, die sich gegen die US-Regierung und ihre Untätigkeit in der Aids-Krise richtete? Ivana fragt weiter, ob es denn stimme, dass die Amerikaner später, während des Krieges in Kosovo, die Kriegsbilder am Fernsehen wie eine Show verfolgten. Ich erwähne die Proteste gegen die Bombardierung Serbiens. Ivana hatte nie gehört, dass es derartige Proteste in Amerika gegeben hat. Sie weiß lediglich, dass Rage Against the Machine gegen das NATO-Bombardement sangen. Während das Restaurant um uns herum allmählich ruhiger wird, reden wir weiter. Ivana berichtet uns, dass ihre Familie bis heute kein richtiges Zuhause hat. Sie leben in einem ehemaligen Lebensmittelladen und warten darauf, dass die Regierung ihre Versprechungen wahr macht und für Armeeveteranen Wohnungen zur Verfügung stellt. Und sie fragt, was unser Projekt dazu beitragen würde, dass ihre Familie ein Zuhause bekommt. Gut, räumt sie ein, es sei gut, wenn wir wenigstens etwas tun. Aber sie möchte in die USA oder nach Deutschland und das tun können, was wir dort machen. Sie möchte wie wir mobil sein, über unsere finanziellen Möglichkeiten verfügen, und sie möchte Reisefreiheit genießen. Es sei großartig, dass wir etwas tun, aber es sei wichtiger, dass wir in den USA oder in Deutschland was tun, damit die Lage in Serbien besser wird. Ivana gesteht, dass, hätte sie gewusst, dass ich Amerikaner bin, als wir uns kennen lernten, sie mich zur Hölle gewünscht hätte. Doch nun würde sie mich kennen, würde wissen, warum ich hier in Belgrad bin und was mir wichtig ist. Das, so spüre ich, ist das Ende. In den Klängen ist die Möglichkeit abhanden gekommen, Klänge an und für sich zu registrieren. Sie offenbaren Dinge, deren Entwicklungslinien eine Million Widersprüche zu bündeln scheinen. Ich habe einmal gewusst, worum es in diesem Projekt geht. Heute habe ich keine Ahnung mehr. Statt weiter aufzunehmen, muss ich zuhören. Ich muss den Rückzug antreten, aus der Gefahrenzone vielleicht. Warum sehe ich mich gezwungen, hier etwas zu tun? Warum hier überhaupt auf-

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treten? Es sind die USA oder Deutschland, wo dieses Projekt komponiert und aufgeführt werden muss. Andernfalls setzen wir uns der Art von Anschuldigungen aus, die Ultra-red immer zu vermeiden hofften. Doch wer wird dann in den Räumen sprechen, die unsere Sounds schaffen? Ultra-red waren immer der Meinung, dass unsere Subjektivität als Organisierende in die Strukturen unseres Organisierens eingebunden ist. Nicht unsere Stimme trägt diese Strukturen durch ihren Widerhall; es sind die Stimmen derer, die sich selbst organisieren. Doch wenn dieses Projekt nach Deutschland oder in die USA gehört, wessen Stimme wird dann die Strukturen durch ihren Widerhall tragen, Strukturen, zusammengesetzt aus Sound? Wer wird nach Deutschland reisen und als Mitglied von Ultra-red die Bühne betreten? Nataša? Ivana? Jasmina? Toni? Milorat? Hang? Jin? Wang? Samstag, 31. Juli 2004 Der Morgen bietet eine letzte Gelegenheit, nach Blok 70 zu fahren. Es ist unser achter und abschließender Besuch und es regnet. Eine Stunde lang bin ich auf den Korridoren unterwegs, vornehmlich im Nordgebäude. Rutvica und ihre Freundin Bettina gesellen sich zu mir und wir statten gemeinsam Ivana einen letzten Besuch ab. Der Regen hat auf die Klanglandschaft von Blok 70 einen elektrisierenden Effekt. Statt des zufälligen Hinein- und Hinausgehens bleiben die Kunden im Innern des Marktes, wo sie Zuflucht vor dem Regen finden. Die Flure sind voller Klänge, sie sind die Bühne eines außergewöhnlich lauten Stimmengewirrs, und der Regen fügt dem Schauspiel eine weitere Oberfläche hinzu, von der Stimmen und Klänge zurückgeworfen werden. Die Cafés im Freien bleiben bei Regen leer, die Soundsystems aus. Nur der Verkehr auf den umliegenden Straßen hält dem Regen stand, Reifen rauschen durchs Wasser. Die kühlere Luft macht den Besuch der oberen Stockwerke für die Einkaufenden viel angenehmer. Die Geschäfte, so will es scheinen, gehen deutlich rascher vonstatten. Amüsiert höre ich einen recht stattlichen Serben mit einem gewitzten (soll ich sagen: gerissenen?) chinesischen Geschäftsmann verhandeln. Ersterer ist gewillt, kleine Teppiche und einen großen Sonnenschirm zu kaufen, den Coca-Cola-Logos schmücken. Auch wenn ich kein Wort von dem, was sie sagen, verstehe, lässt ihr Ton jenes Spiel erahnen, bei dem es darum geht, aus jedem Geschäft das letzte herauszuholen. Auf einen Sprung schaue ich bei 888-Reisen vorbei, um Nataša Lebewohl zu sagen. Nach dem Abschied von ihr gehen wir. Unser Vorbeischauen bei Nataša wird ebenso wenig aufgezeichnet wie das gestrige Mittagessen mit Ivana, als sie mich fragte, ob das alles stimme. Aus dem amerikanischen Englisch von Thomas Atzert

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DAS ZUR SCHAU GESTELLTE ELEND. GENDER, MIGRATION UND REPRÄSENTATION IN KAMPAGNEN GEGEN MENSCHENHANDEL Rutvica Andrijašević

Einleitung Die Migration von Frauen aus den Ländern Osteuropas in die Europäische Union nahm seit den 1990er Jahren kontinuierlich zu. In der Forschung wird der Anstieg weiblicher Präsenz in transnationalen Migrationsströmen gewöhnlich mit dem Ausdruck „Feminisierung der Migration“ gefasst. Wie auch in anderen Fällen der Migration von Frauen steht hinter der Ost-West-Migration in Europa für die Frauen der Wunsch, sich wirtschaftlich besser zu stellen, patriarchalen gesellschaftlichen Verhältnissen zu entkommen und sich im Leben neue Möglichkeiten zu eröffnen. Zugleich sind es die im Gefolge der marktwirtschaftlichen Reorganisation in Osteuropa steigende Erwerbslosigkeit beziehungsweise Unterbeschäftigung von Frauen sowie die Nachfrage nach weiblicher Arbeitskraft für den Niedriglohnsektor in der EU, die für die Migration osteuropäischer Frauen weitere entscheidende Faktoren darstellen. Eine selbstständige Migration von Frauen unterliegt allerdings erheblichen Beschränkungen durch Visums- und Arbeitsrechtsbestimmungen. Im Zuge des Integrationsprozesses schaffte die EU Binnengrenzen zwischen den Mitgliedsstaaten ab und verstärkte die Außengrenzen im Osten. Die EUBeitrittskandidaten müssen Grenzübertritts- und Visumsregelungen vom Schengen-Typus einführen sowie ihre Einwanderungs- und Asylgesetzgebung den EU-Richtlinien entsprechend harmonisieren. Das schafft ein Regime differenzierter Mobilität zwischen den EU-15-Staaten, den Ländern Mittel- und Osteuropas (MOE-Länder), die im Mai 2004 EU-Mitglieder wurden, und Staaten, die keine Beitrittskandidaten sind. Das Regime erleichtert die Mobilität der Arbeitskraft, was Bürgerinnen und Bürger der EU-15-Staaten angeht, aber es setzt bis 2009 für Staatsangehörige aus den MOE-Ländern das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht sowie das Recht, in einem EU-15-Staat zu arbeiten, aus. Darüber hinaus wird die Mobilität der Arbeitskraft, was Bürgerinnen und Bürger der Nicht-Kandidaten-Staaten, also der Balkanländer und der Gruppe der Neuen Unabhängigen Staaten (NUS), angeht, durch umfängliche Visumsbestimmungen beschränkt.

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Wie schon verschiedentlich angemerkt wurde, hindern Grenzkontrollen und Visumsregelungen Menschen weder am Verlassen ihres Herkunftslandes noch daran, in die EU zu gelangen (Andreas/Snyder 2000, Mezzadra/Rigo 2003). Doch erhöhen verstärkte Grenzkontrollen die Kosten, die Dauer und die Gefahren der Migration. Es kommt häufiger zu Reisen ohne gültige Papiere, Schleusernetzwerke sind stärker involviert und der Profit für Dritte wird höher (Andrijašević 2003, Koslowski 2001). Die Mechanismen der Migrationskontrolle, so wird von wissenschaftlicher Seite argumentiert, führen Migrantinnen im Zielland in Sektoren der Ökonomie, in denen es Nachfrage nach undokumentierter migrantischer Arbeit gibt, insbesondere also im Bereich der Hausund Sexarbeit. Darüber hinaus beschränken die restriktiven Regelungen zum Aufenthalts- und Arbeitsrecht die Mobilität von Migrantinnen und erlauben an Sklaverei erinnernde Methoden, insbesondere in Bereichen nicht legaler Beschäftigung beziehungsweise in der Schattenökonomie sowie in Branchen, in denen kaum Regelungen existieren oder deren Kontrolle schwer durchzusetzen ist (Anderson/O’Connell Davidson 2003). Häufig wird in der politischen und akademischen Diskussion, wo es um die Aufrechterhaltung von Verhältnissen geht, durch die Migrantinnen ohne gültige Papiere im Dienstleistungs- und Sexgewerbe besonders verwundbar sind, die Rolle der Einwanderungspolitik sowie die Bedeutung der GenderKodierung von Arbeitskraft ausgeblendet. Gerade im Hinblick auf die Sexbranche fasst man Migration, die von Dritten (seien dies Einzelne oder Gruppen) organisiert ist, sowie die aus solchen Arrangements möglicherweise erwachsenden Situationen des Missbrauchs gerne unter der Kategorie des Frauenhandels zusammen. Frauenhandel wird dabei mit der Überführung von Personen in ausbeuterische und an Sklaverei erinnernde Verhältnisse durch Zwang, Täuschung oder Gewalt identifiziert, und allgemein verbindet man damit sexuelle Sklaverei und organisierte Kriminalität. Tatsächlich dreht sich die Rhetorik des Menschen-/Frauenhandels um das diskursive Binärzeichen Opfer-Verbrecher, und Mafia-ähnliche Organisationen gelten als Protagonisten der Versklavung von Frauen in der Prostitution mithilfe von Gewalt und Schuldknechtschaft. Auch wenn eine zunehmende Zahl wissenschaftlicher Arbeiten, die sich mit Menschenhandel beschäftigen, das konzeptuelle Ineinssetzen von Frauenhandel und Kriminalität sowie das Reduzieren osteuropäischer Migrantinnen auf Opfer kritisiert, gründen die politischen Kampagnen und Programme zur Prävention und Bekämpfung des Menschenhandels doch weiterhin auf dem Dualismus von Tätern und Opfern. Zu den politischen Maßnahmen gegen den Frauenhandel gehören eine strengere Strafgesetzgebung und die Verbesserung der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit, Programme zum Opferschutz und Kampagnen, die darauf zielen, junge Frauen über Menschenhandel aufzuklären. In verschiedenen Ländern Osteuropas, in denen die gesetzlichen Maßnahmen gegen Menschenhandel erst noch aus-

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gearbeitet werden, fällt den Informationskampagnen eine privilegierte Rolle bei der Prävention des Menschenhandels zu. Seit den späten 1990er Jahren sind in fast allen osteuropäischen Ländern Plakate und Broschüren erschienen, die vor den Gefahren des Menschenhandels warnen. Die verwendeten Formate sind vielfältig; Plakate für drinnen und draußen (für Busse und Plakatwände) gehören dazu, ebenso Flugblätter, Flyer, Postkarten, Aufkleber, Einkaufstaschen oder Kalenderkarten. Auch Radio- und Fernsehspots sowie Dokumentarfilme werden eingesetzt. Konzeptioniert und realisiert werden die Kampagnen größtenteils von der Internationalen Organisation für Migration (IOM), einer der wichtigsten europaweit agierenden Einrichtungen, wenn es um Programme gegen Menschenhandel, um die Beratung von Staaten bei Maßnahmen gegen den Menschenhandel und um Untersuchungen über Menschenhandel für die Sexbranche geht. Als eine zwischenstaatliche Agentur arbeitet die IOM eng mit einzelnen Regierungen wie auch mit der Europäischen Kommission zusammen, außerdem mit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und mit verschiedenen Stellen der Vereinten Nationen. Angefangen bei der IOM-Kampagne in der Tschechischen Republik aus den Jahren 1998/99, die eine der ersten osteuropäischen Kampagnen der IOM gegen den Menschenhandel war, bis zu einer Kampagne jüngeren Datums, aus dem Jahr 2002, in den baltischen Staaten (Litauen, Lettland und Estland) werde ich eine Reihe von Repräsentationsstrategien beziehungsweise Elemente identifizieren, die den verschiedenen IOM-Kampagnen gemeinsam sind und die sich von Darstellung zu Darstellung wiederholen. Wie ich zeigen werde, entsteht so ein besonderes Regime der Repräsentation von Menschenhandel, in dessen Zentrum der oben erwähnte Dualismus von Opfern und Tätern steht. Um dieses Regime der Repräsentation detaillierter darzustellen, werde ich meine Untersuchung der Kampagnen in der Tschechischen Republik und in den baltischen Staaten durch zusätzliche Beispiele aus den IOM-Kampagnen in der Ukraine und in Moldawien aus dem Jahr 2001 ergänzen. Bilder weiblicher Körper stehen durchgehend im Zentrum der IOMKampagnen gegen Menschenhandel: Zurückgegriffen wird dabei auf viktimisierende Abbildungen, um potenzielle Migrantinnen vor den Gefahren der Migration und Prostitution zu warnen; so sollen ihnen informierte Entscheidungen über Arbeiten und Reisen im Ausland ermöglicht werden. Doch führt, wie ich in diesem Beitrag zeigen werde, die Darstellung der Körper gehandelter Frauen als gefangen, verwundet und/oder gebrochen zu Konsequenzen, die solchen Intentionen entgegenlaufen dürften. Repräsentationsstrategien, die verwundete und unbelebte weibliche Körper einsetzen, um Migrantinnen vor Menschenhandel zu warnen, nehmen das vertraute Szenario wieder auf, das weibliche Körper als passive Objekte männlicher

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Gewalt darstellt und ihnen ihren Platz im Heim und in der Nation zuweist. Meine Untersuchung der Kampagne in der Tschechischen Republik (im zweiten Abschnitt) wird zeigen, wie die verwendeten Repräsentationsstrategien, die auf die Gefahren des Menschenhandels hinweisen sollen, die Migration von Frauen mit Zwangsprostitution gleichsetzen und indirekt die Frauen auffordern zu Hause zu bleiben. Die Gefahren der transnationalen Arbeitsmigration werden, wie ich (im dritten Abschnitt) erläutern werde, zudem in verschiedenen Bildern präsentiert, die Menschenhändler darstellen sollen. Diese Bilder zeigen, weit entfernt davon unschuldig zu sein, metaphorisch den Menschenhandel als ein unpersönliches und weit verzweigtes Kontrollsystem, was umgekehrt die Kriminalisierung der Gesellschaften Osteuropas, die nach 1989 einsetzte, fördert. Die Art und Weise, wie viktimisierende Bilder inszeniert werden, zeitigt paradoxe Effekte; sie trägt selbst dazu bei, Frauen zu Objekten zu machen, ungeachtet der entgegengesetzten Absicht. Meine Untersuchung der IOMKampagne in den baltischen Staaten (im vierten Abschnitt) macht deutlich, wie die Inszenierung des Körpers als Opfer, als verwundet, die Frauenkörper in erotisierter beziehungsweise voyeuristischer Art zur Schau stellt. Eine solche Darstellung gehandelter Frauen schließt, statt zum Mittel des Empowerment zu werden, die Frauenkörper in stereotypen Repräsentationen von Weiblichkeit ein und steckt so die Grenzen ab, innerhalb derer Frauen als aktiv Handelnde beziehungsweise Subjekte vorgestellt werden können. Der vorliegende Essay untersucht die symbolische, in hohem Maße stereotype Art und Weise, wie Weiblichkeit und Männlichkeit für die Menschen aus den Ländern Osteuropas konstruiert werden, und schlägt somit vor, in den IOMKampagnen gegen Menschenhandel Schauplätze zu sehen, auf denen die Auseinandersetzung über Grenzen und Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft ausgetragen wird. Die geschundene Haut und die Körper toter Frauen, die in der Kampagne für die baltischen Staaten die Gewalt im Menschenhandel symbolisieren, lese ich als Versuche, die gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Transformationen zu stabilisieren und Frauen innerhalb der in hohem Maße starren Grenzen des Zeichens „Frau“ einzuschließen. Frauenkörper werden einmal mehr zum Schauplatz, auf den die Ängste gesellschaftlicher Dispositionen projiziert werden; entdecken lässt sich dabei die Sehnsucht nach einer Rückkehr zu einer vertrauten und beruhigenden Ordnung von Race und Gender in Europa.

Das Bild der selbstständigen Migration von Frauen Eine große Kampagne gegen den Menschenhandel in der Tschechischen Republik realisierte die IOM 1999 in Zusammenarbeit mit La Strada, einer Nichtregierungsorganisation für Frauen. Die Kampagne verwendete vier

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Bild-Text-Poster, die eine Beziehung zur Arbeit in der Unterhaltungsbranche, in Pflegeberufen, in der Gastronomie und in der Modebranche herstellen. Die Poster sind in Schwarz-Weiß-Tönen gehalten, die Ansicht ist vertikal in zwei Hälften geteilt. Links findet sich die Fotografie einer Frau, rechts steht ein Erlebnisbericht, der persönliche Erfahrungen mit Migration und Zwangsprostitution schildert. Unter dem Text finden sich die Notrufnummer von La Strada (in Gelb), das Logo der IOM und die Namen der Sponsoren.1 Ein gelbes Rechteck, das wie eine Stellenanzeige gestaltet ist, steht im oberen Teil des Posters. Die Geschichten auf der rechten Seite der Poster sind nach folgendem Muster gegliedert: Der Text beginnt jeweils mit einer Überschrift: „Nach Hause geht’s nicht so leicht“ (Abbildung 1), „Weißt du, was dich erwartet?“, „Leichtgläubigkeit macht blind“ und „Du meinst, dir kann das nicht passieren?“ (Abbildung 2). Den Überschriften folgt eine in kleinerem Schriftgrad gesetzte Passage, in der eine Ich-Erzählerin ihre Migrationsgeschichte schildert. Jede der vier Erzählerinnen berichtet darin vom Wunsch, auszuwandern und im Ausland zu arbeiten, vom Kontakt mit einer Agentur oder mit einem Vermittler, die anbieten Reise und Arbeit zu arrangieren, von der Arglist bei der Ankunft am Zielort und schließlich von der Nötigung zur Prostitution. Im zweiten Abschnitt wird der Faden aufgenommen, um die Leserinnen vor den Gefahren der Migration zu warnen und ihnen Ratschläge zu geben, wie sie sicher auswandern können.2 Eine Erzählprogression gibt es in diesem Absatz allerdings nicht mehr. Anders gesagt: Nachdem das Thema der Zwangsprostitution im vorhergehenden Absatz eingeführt wurde, kommt die Erzählung zum Stillstand. Im Modebranchen-Beispiel (Abbildung 2) erzählt die Figur Monika, wie sie auf eine Zeitungsanzeige antwortet, in der Models für Aufnahmen im Ausland gesucht werden. Nach einem kurzen Kursus schickt die Agentur sie zu einem Shooting ins Ausland, doch stellt sich heraus, dass es um Aufnahmen für einen Pornofilm geht. Durch Fettdruck hervorgehoben: „Die Männer lösten sich auf mir ab wie am Fließband. Sie beobachteten mich genau, ich konnte nicht fliehen.“ Neben einem anderen Motiv, wo es um die Arbeitsmigration in der Unterhaltungsbranche geht, berichtet die Figur Anna: „Sie nahmen mir meine Papiere ab, setzten mich unter Drogen und zwangen 1 Als Unterstützer werden die US-Regierung, das Ministerium für Erziehung und Jugend sowie das Innenministerium der Tschechischen Republik genannt. Die gesamte Arbeit von La Strada CZ wird vor allem durch das Programm PHARE/TACIS der Europäischen Union finanziert (www.ecn.cz/lastrada/ czechia/index_en.html). 2 So berichtet die Figur Marta, der eine Stelle in einem Restaurant in Deutschland versprochen wurde: „Ich habe lange versucht, hier rauszukommen, aber ich glaube, das werde ich nie schaffen. Ich weiß jetzt, dass man extrem aufpassen muss, bevor man so eine Reise macht. Du darfst keinem trauen, den du nicht schon lange kennst, und du musst dich um alles selbst kümmern.“

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mich, als Prostituierte zu arbeiten […] Ich werde wohl nie meinen Schulabschluss machen.“ (Abbildung 1) Bei Monika und Anna wie auch in den beiden anderen Fällen, wo die Protagonistinnen auswandern, um im Pflegebereich und als Kellnerin zu arbeiten, sich dann aber als Zwangsprostituierte wiederfinden, ergibt sich mit dem Aussetzen der Erzählprogression eine Situation des Stillstands: Die Figuren sitzen in der Falle. Das Thema der Zwangsprostitution wird eingeführt und die voller Hoffnung erzählte Migrationsgeschichte bricht abrupt ab; so wird zu verstehen gegeben, dass für die vier Frauenfiguren die Zwangsprostitution zur Endstation auf ihrem Migrationsweg wird.

Abbildung 1

Abbildung 2

Die Situation des Stillstands wiederholt sich in den Fotografien der Frauengestalten auf der linken Seite der Materialien. Der Zustand des Gefangenseins wird durch die Organisation und Inszenierung der Bilder sichtbar. Verstärkt wird dies durch die dramatische Wirkung der Schwarz-WeißAufnahmen und eine vertikale Streckung der Photografien. Durch das Hochformat und die Streckung wirkt das Bild „gequetscht“, gleichzeitig werden die Bilder durch den Text eingezwängt, und dies führt, wie die Kultursoziologin Anne Cronin erklärt, „zu einer graduellen Schließung des Sinns“ (Cronin 2000, 80). Innerhalb der Ökonomie der Materialien von La Strada/IOM korrespondiert der Schließung des Sinns das Eingeschlossensein der Frauengestalten in der Zwangsprostitution. Eine genauere Betrachtung der Bildkomposition und der Technik der Fotografien vermag diesen Punkt zu verdeutlichen. Die Verwendung von körnigerem Filmmaterial – also eines langsameren Films – verstärkt im ersten Bild (Abbildung 1) den Eindruck der schäbigen Umgebung und der „erniedrigenden“ Tätig-

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keit, die darin stattfindet. Der Eindruck des Schmutzigen wird gesteigert durch die eingenommene Schlüssellochperspektive3, durch die voyeuristische Verengung und Lenkung des Blicks auf eine Frauengestalt; ihre helle Hautfarbe bildet einen starken Kontrast zum dunklen und schäbigen Hintergrund. Das voyeuristische Element wird durch die Positionierung der Frauengestalt leicht außerhalb des Bildmittelpunkts noch verstärkt, wodurch ihr Gesäß ins Zentrum des Blicks gerät: entlang einer Diagonale – ihrem rechten Bein – wird das Auge des Betrachters sehr dynamisch nach oben dirigiert, das Gesäß der Frauengestalt wird so zum Fokus der Komposition. Der enge Raum, die dunkle und schäbige Umgebung, die sie gerade betreten will, ist kein Ort, der dazu einlädt, ihr zu folgen, oder an dem man gerne wäre. Auch auf einer anderen Photografie (Abbildung 2) wird eine Situation des Stillstands geschaffen, genauer: ein Zustand stillgestellten Schwebens, und zwar dadurch, dass das, worauf die abgebildete Person steht, wie abgeschnitten ist. Somit ist der Abstand der Person zum festen Boden nicht nachzuvollziehen. Der Zustand des Schwebens wird noch betont durch den nachdenklich nach unten gerichteten Blick der Frauengestalt. Diese Pose und die Abwesenheit sichtbaren festen Bodens unter den Füßen lassen erahnen, dass die Person im Zweifel ist, ob sie einen Sprung wagen soll. Zugleich ist sie nicht in der Lage zu springen, denn ein großer Haken neben ihr hält sie in ihrer Position und verhindert den Sprung. Zusammen mit der Geschichte auf der rechten Hälfte des Posters transportiert das Bild die Vorstellung, dass für diese junge Frau, gefangen in der Welt der Hardcorepornos und der Zwangsprostitution, Flucht nicht im Entferntesten möglich sein dürfte. „Sie beobachteten mich genau, ich konnte nicht fliehen.“ Nun ist es auch möglich, den (unmöglichen) Sprung, statt diese Bewegung als eine in die Freiheit zu lesen, als einen Sprung in den Tod zu interpretieren. Eine solche Interpretation in Richtung Suizid gewinnt Plausibilität, wenn wir sie zu der Erzählung auf der rechten Seite in Beziehung setzen: „Für die Bilder haben sie die Blessuren und blauen Flecke auf meinem Körper überschminkt. Aber wie kann ich die Narben auf meiner Seele verkraften?“ Der Verweis auf die (verwundete) Seele drückt, da die Seele gemeinhin für das „Wesen“ des individuellen Seins steht, ein Verständnis der Prostitution aus, das in ihr nicht bloß eine Form physischer Gewalt sieht, sondern auch eine Art Gewalt, die das Menschsein an sich zerschmettert, sodass es letztlich keine Rettung mehr geben kann. Der Zustand stillgestellten Schwebens in der Sexbranche nimmt daher dieser jungen weiblichen Gestalt sogar noch den verzweifelten letzten Ausweg, den Suizid; anders gesagt: Ihr wird nicht nur die Kontrolle über ihr Leben entzogen, sondern auch die über ihren Tod. 3 Die Schlüssellochperspektive geht historisch auf die voyeuristischen BallerinaBilder von Edgar Degas zurück.

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Das Zusammenspiel von textuellen und visuellen Aussagen auf den Postern beschränkt in der La Strada/IOM-Kampagne das Thema Migration letztlich auf den Bereich der Zwangsprostitution. Zwischen Text und Bild artikuliert, fixiert und übersetzt sich der Sinn: Die gängigen (und alle möglichen) Formen der Migration von Frauen führen in die Zwangsprostitution, weibliche Körper werden zu passiven Objekten der Gewalt. „Zwei Diskurse – der Diskurs der geschriebenen Sprache und der Diskurs der Fotografie – werden aufgeboten, um Sinn zu produzieren und zu ,fixieren‘“, schrieb Stuart Hall in seiner Untersuchung zu Praxisformen der Repräsentation (Hall 1997, 228). Auch wenn Anna sich über eigene Beziehungen eine Arbeit als Tänzerin im Ausland besorgt, Veronika sich mit einer Familie in Verbindung setzt, die in einer Zeitungsannonce eine Au-pair sucht, Marta einen Job im Restaurant durch eine Bekannte angeboten bekommt und Monika auf die Stellenanzeige einer Fotomodellagentur reagiert: Die Art des getroffenen Arrangements spielt kaum eine Rolle, denn alle vier finden sich am Ende in der Zwangsprostitution gefangen. Da alle möglichen Migrationswege in die Zwangsprostitution zu führen scheinen, ist die sicherste Option, so legt die Kampagne nahe, zu Hause zu bleiben. Statt Frauen Empowerment bei der Auswanderung zu bieten, lassen sich die Materialien am ehesten als Entmutigung der informellen Arbeitsmigration beschreiben; junge Frauen bekommen den Rat zu Hause zu bleiben, das sei das Sicherste. Die Kampagne platziert Bilder von Frauen in den traditionellen Repräsentationsformen von Weiblichkeit. Frauen stehen demnach außerhalb des Arbeitsmarkts, also der Produktion, ihr Platz ist der häusliche Bereich. Frauen wird so die im Privatbereich situierte Reproduktionssphäre zugewiesen. Die La Strada/IOM-Serie trägt eine binäre Logik privater Häuslichkeit, die mit Feminität assoziiert ist, und öffentlicher Arbeitskraft, assoziiert mit Maskulinität, und umgekehrt leistet die Serie einen Beitrag zur Aufrechterhaltung dieser Logik, die die Idealisierung des Heims als Ort frei von Konflikten, Gefahren und Ausbeutung konserviert. Die Kampagne fasst so die gängigsten und am weitesten verbreiteten Formen der informellen Arbeitsmigration von Frauen als Wege auf, die unausweichlich in die Zwangsprostitution führen, und verdunkelt damit die Tatsache, dass neben der Arbeit im häuslichen und im Pflegebereich die Sexarbeit für Migrantinnen ohne gültige Papiere in der EU die am weitesten verbreitete Arbeit und Einkommensquelle darstellt.4 Ungeachtet der guten Absicht, Frauen vor den Risiken einer irregulären Migration zu warnen, zieht die Kampagne nicht in Betracht, dass es aufgrund der gegen4 Die Kampagne verzichtet auf eine explizite Bezugnahme auf Migration im Bereich der Sexarbeit; das impliziert, dass die Kampagne sich nicht an Frauen richtet, die im Bereich der Sexarbeit mit Dritten einverständlich Vereinbarungen treffen. Hier könnte eingewandt werden, dass die Prostitution implizit eingeschlossen ist, nämlich durch das Bild der Frau, die als Tänzerin arbeitet. Allerdings bedeutet Tanzen

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wärtigen restriktiven Einwanderungs- und Arbeitsmarktpolitik der EU für junge Frauen aus Nicht-EU-Ländern ohne größere finanzielle Ressourcen extrem schwierig ist, Einreise- und Arbeitserlaubnisse zu bekommen (Parreñas 2001, Anderson/Phizacklea 1997). Zudem versäumt es die Kampagne in Rechnung zu stellen, dass es ja gerade verschärfte Einwanderungskontrollen und restriktive gesetzliche Regelungen am Arbeitsmarkt sind, durch die Bedingungen geschaffen werden, die Menschenhandel und Ausbeutung befördern (Anderson/O’Connell Davidson 2003, Andrijašević 2004, Berman 2003, Sharma 2003).

Die binäre Ordnung von Verbrechern und Opfern Die Lehre der La Strada/IOM-Kampagne für die Betrachterinnen und Betrachter lautet, dass junge Frauen von Agenturen oder einzelnen arglistig getäuscht und dann zur Prostitution im Ausland gezwungen werden. Die Darstellung des Menschenhandels setzt auf einen extrem vereinfachenden Dualismus, der junge und unschuldige Opfer von bösen Menschenhändlern unterscheidet, die erstere zur Migration verleiten und ins Ausland locken. Anders formuliert: In der Ökonomie der Diskurse um Menschenhandel ist die Erzählung über die Opferrolle der Frauen durchwirkt und abhängig von der Erzählung über die Kriminalität. In der 1998 in der Ukraine angelaufenen IOM-Kampagne zeigt ein Plakat die Umrisse einer riesigen Männergestalt, die einen Vogelkäfig mit einer Frauengestalt darin in der rechten Hand und ein Bündel Geldscheine (genauer: US-Dollar) in der linken hält (Abbildung 3). Die Überschrift lautet: „Möchtest du deine Würde, Freiheit und Gesundheit gegen ein Leben im Käfig eintauschen?“ In der 2001 in Moldawien gestarteten IOM-Kampagne gegen Menschenhandel findet sich als Hauptmotiv eine Frauengestalt, die von einer Hand – dem Augenschein nach einer männlichen – gegen Geld (wieder sind es US-Dollar) in eine andere übergeht (Abbildung 4). Die Darstellungen legen so zunächst den Schluss nahe, US-Dollar seien die „harte“ Währung für beide Länder; zugleich wird auf einen Zusammenhang zwischen Menschenhandel und kriminellen Netzwerken verwiesen, insofern die in beiden Fällen gezeigten maskulinen Attribute – Bargeld, Goldarmband und Siegelring – für Zuhälter oder Mafia-Mitglieder stehen.

in einer Bar nicht notwendigerweise, dass die Person als Prostituierte arbeitet. Tatsächlich betonen Wissenschaftler in Untersuchungen zur Sexarbeit, man müsse zahlreiche Arten sexueller Dienstleistungen differenzieren, um allzu starke Verallgemeinerungen zu vermeiden und zu einem besseren Verständnis der Unterschiede zwischen verschiedenen Arten von Sexarbeit zu gelangen (Weitzer 2000, 3-7).

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Abbildung 3 In anderen Kampagnen der IOM wird die Vorstellung der Gefahr und der Kontrolle, deren Objekt weibliche Körper sind, durch Signifikanten transportiert, die nicht offensichtlich männlich sind. So benutzt die IOM-Kampagne in der Ukraine von 2001 das Bild des Spinnennetzes, um Frauenhandel als allumfassende Gefahr, ohne Gender, darzustellen (Abbildung 5). Statt der Silhouette eines Mannes steht für die Bedrohung durch den Menschenhandel eine riesige Spinne, die in ihrem Netz eine nackte Frauengestalt gefangen hat und sich ihr nähert. Im Spinnennetz zappelnd, findet sich die nackte Frau eingezwängt zwischen zwei Zeitungsannoncen. Die Gefahren des Menschenhandels werden so durch das Zusammenspiel der textlichen Ebene – mit der Überschrift „Das Netz der Menschenhändler“ und der

Abbildung 4

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Unterzeile „Unwissenheit tötet“ – und der visuellen Ebene – dem Gefangensein des Frauenkörpers im Spinnennetz und der gewaltigen Spinne, die sich der Beute nähert – dargestellt. Die Kampagne in den baltischen Staaten verwendet zur Darstellung einer anonymen und allgegenwärtigen Gefahr Haken und Schnüre (Abbildung 6). Mitten in der Luft hängt ein an Schnüren baumelnder weiblicher Körper; die Schnüre lenken das Auge der Betrachterin oder des Betrachters aus dem Bild und verweisen auf einen abwesenden, unsichtbaren Dritten. Dieser abwesende Akteur übt – so legt es die Darstellung nahe – absolute Kontrolle über die hängende Frauengestalt aus und lenkt ihre Bewegungen. Das Geschlecht der Menschenhändler bleibt, wie in der ukrainischen Kampagne von 2001, unbestimmt. Die Darstellung von Menschenhändlern als offensichtlich männlich ist hier ersetzt durch eine geschlechtslose Gefahr, für die die Haken und Schnüre stehen. Wollten die IOM-Kampagnen nur adäquat darstellen, dass sowohl Männer als auch Frauen als Dritte in Erscheinung treten, wie Untersuchungen zum Menschenhandel belegen (Maluccelli 2001, Hopkins/Nijboer 2004), so bedürfte es, um die Vielzahl der dritten Parteien sichtbar zu machen, anderer Metaphern, durch die sich eine Identifizierung von Menschenhändlern als männlich vermeiden ließe. Die IOM-Kampagnen verzichten zwar auf Bilder von Männerhänden, die protzigen Goldschmuck tragen und Bargeld halten, verwenden statt dessen Darstellungen ohne personalisierte Akteure und trennen so die Vorstellung vom Menschenhändler von der nahe liegenden Identifikation mit einem Mafioso und/oder Zuhälter. Zugleich jedoch werden, wenn depersonalisierte Bilder die Männerhände ersetzen, Menschenhändler als ein allgegenwärtiges und nicht unmittelbar erkennbares Netzwerk dargestellt; in der Konsequenz befördert dies weit verbreitete Vorstellungen über die Kriminalisierung der Gesellschaften Osteuropas in der Zeit nach 1989. Die Konstruktion osteuropäischer Frauen als Opfer greift auf das metaphorische Bild der Puppe zurück, die der privilegierte Signifikant für die Situation des Missbrauchs im Frauenhandel ist. Am deutlichsten sichtbar ist das in der Kampagne in den baltischen Staaten, die explizit auf die Puppenmetapher zurückgreift. Der leblose Körper, die Schnüre und der „unsichtbare“ Dritte laden die Betrachterin und den Betrachter dazu ein, Opfer des Menschenhandels mit einer Puppe zu assoziieren. Auch Variationen des Themas finden Verwendung, beispielsweise wenn derselbe weibliche Körper hockend abgebildet wird oder einfach nur Körperteile, etwa hängende Beine, zu sehen sind (Abbildungen 7 und 8). Zwei Schlagzeilen verstärken die Darstellung der Frauengestalt als Puppe: „Verlass dich nicht aufs schnelle Geld im Ausland“ und „Du wirst wie eine Puppe verkauft“. Die Aussagen nehmen den Körper buchstäblich in die Zange und binden ihn an den Referenten „Puppe“.

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Die Trope der Puppe ergreift von der weiblichen Gestalt Besitz; das liegt durchaus in der Intention der für die Kampagne Verantwortlichen, insofern die lebendige Erfahrung gehandelter Frauen vermittelt werden soll: „Die Nacktheit sollte die Hilflosigkeit und Verwundbarkeit gehandelter Frauen zeigen. Die Haken sind visuelle Metaphern, die eingesetzt werden, um einen wesentlichen Aspekt des Menschenhandels zu vermitteln, nämlich wie gehandelte Frauen Manipulation und Ausbeutung unterworfen sind. […] Frauen werden geschlagen, vergewaltigt, unter Drogen gesetzt; sie werden skrupellos ausgebeutet und leben unter sklavenähnlichen Bedingungen, in schäbigen Löchern mit Handschellen an Betten gefesselt. Manche leben nicht lange genug, um ihre Geschichte erzählen zu können, weil sie ermordet werden oder sich aus Verzweiflung das Leben nehmen. […] Die meisten gehandelten Frauen finden sich wie Sklaven behandelt wieder, sie haben keinerlei Kontrolle über ihr Leben. Das ist es, wovon wir eine Vorstellung vermitteln wollten.“5

Die Konstruktion von Frauen als Opfer des Menschenhandels greift auf die visuelle Metapher der Puppe als privilegierten Signifikanten zurück, um die Umstände von Missbrauch, Ausbeutung und Unfreiheit, die als typisch für den Menschenhandel gelten, darzustellen.6 Innerhalb dieses Rahmens fungieren Nacktheit und Haken als visuelle Synekdochen der tatsächlichen 5 Der E-Mail-Austausch zwischen Ann Jordan und Laurentiu Ciobanica, der Zuständigen der IOM für Masseninformation, wurde auf der Stop trafficking Mailing List (Vol. 1, #744 am 13. Dezember 2002) gepostet. 6 In den IOM-Kampagenen wird die grenzüberschreitende Arbeitsmigration von Frauen häufig mit Sklaverei gleichgesetzt. Sklaverei taucht als zentrales Motiv in Textanzeigen aus IOM-Kampagnen sowohl in Kosovo als auch in Bosnien und Herzegowina (BiH) auf. In der Kampagne in Kosovo heißt es: „Du zahlst für eine Nacht – Sie bezahlt mit ihrem Leben. Zwangsprostitution-Sklaverei: Es bleibt keine Wahl“, in der in BiH: „Menschenschmuggel Menschenhandel: Moderne Sklaverei“. Jenseits der Textebene erscheint bemerkenswert, dass die IOM-Kampagne in BiH genau dieselbe Farbgebung (gelb, schwarz und weiß) verwendet wie die La Strada/IOM-Kampagne. Bei der erzählten Geschichte erweist sich der Flyer für BiH als Sammlung schon bekannter Textelemente: Eine Schlagzeile ist beinahe identisch mit der aus der Kosovo-Kampagne („Sie wird wohl den Rest des Lebens dafür bezahlen“), der Abschnitt „Wie werden die Frauen für gewöhnlich angeworben“ entspricht fast vollständig dem Text aus der „Unwissenheit tötet“-Kampagne der IOM in der Ukraine; der Bericht der gehandelten Frau schließlich ist teilweise dem Bericht auf einem der Poster der La Strada/IOM-Kampagne entnommen. Eine Reihe von Elementen taucht so in verschiedenen Kampagnen der IOM gegen den Menschenhandel quer durch Osteuropa wieder auf; dies verweist auf das Vorhandensein einer recht spezifischen Menschenhandel-Ikonographie der IOM.

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Erfahrung der Frauen. Anders ausgedrückt, gründet die Vorstellung der „menschlichen Marionette“ auf Seiten der IOM auf einer Projektion, die eine geradlinige Beziehung zwischen den Erfahrungen von Frauen und ihrer Repräsentation annimmt. Feministische Wissenschaftlerinnen und Künstlerinnen haben verschiedentlich darauf hingewiesen, wie problematisch es sei, Bilder von Frauen und die Erfahrung der Verkörperung zu verschmelzen (Reckitt/Phelan 2001). Feministinnen betonen den Unterschied zwischen „Frau als Repräsentation“ und „Frau als Erfahrung“. Frauen in ihrem geschichtlichen Sein und als Subjekte sozialer Verhältnisse dürfen demnach nicht mit „FRAU“ verwechselt werden, die „bloß eine Repräsentation, eine Positionalität im phallischen Modell des Begehrens und Bezeichnens“ ist (De Lauretis 1987, 20). FRAU als Repräsentation ist ein durch eine symbolische Ordnung gebundener Signifikant, durch eine Ordnung, die SIE als das irrationale Andere des Mannes positioniert, mit Körper und Emotion identifiziert, ohne Bewusstsein, beschränkt auf Immanenz (Braidotti 1994). Die Repräsentation von Frauen als Puppen ist Teil des patriarchalen Repertoires abendländischer Kultur, eine Art „Kultur-Text“, der Hoch- wie Popularkultur (also Kunst, Literatur, Popmusik etc.) gleichermaßen durchdringt und immer wieder aufgerufen wird, wenn es darum geht, der Drohung weiblicher Subjektivität zu begegnen (Meijer 2002). Nacktheit, Schnüre und Haken, wie die IOM-Kampagnen sie verwenden, vermitteln nicht so sehr die Ähnlichkeit zwischen „Frau als Erfahrung“ und „Frau als Repräsentation“, sondern zeigen vielmehr, so meine These, den Abstand zwischen beiden; sie verwandeln jedes Mal aufs Neue Frauen in FRAU, ein Vorgang, der Frauen an ihren spezifischen Ort als Bedeutungsträgerinnen in der symbolischen Ordnung bindet (vgl. Mulvey 2003, 44). Indem die IOM-Kampagnen Frauen als Puppen darstellen, reduzieren sie sie auf FRAU; so erscheinen das Handeln und die Wünsche der Frauen kontrollierbarer und weniger bedrohlich. Die Viktimisierungsstrategien sind also zumindest problematisch. Statt Frauen zu unterstützen und einen aktiven Beitrag zu leisten, um neue Weiblichkeitsbilder in Zeiten der politischen und symbolischen Reorganisierung Osteuropas zu schaffen, greifen die IOM-Kampagnen auf Signifikanten (-Ketten) und Repertoires zurück, die aufs Neue stereotype Vorstellungen von Frauen aus Osteuropa als stumme, schöne doch leblose Körper einsetzen; Frauen werden so in der in hohem Maß restriktiven und schwächenden Ordnung von FRAU als erotisierter Repräsentation gefesselt. Die IOMKampagnen verwenden bestimmte Signifikantenketten – rund um Passivität, die Abwendung des Blicks, Bedrohung/Gefahr –, die sie an verschiedenen Punkten ins Spiel bringen; so wird eine höchst stereotype und symbolische Repräsentation osteuropäischer Frauen und Männer befördert.

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Weiblichkeit, Voyeurismus und Tod Ein stummer, bewegungsloser, misshandelter weiblicher Körper – der Körper eines Opfers – wird zum Inbegriff der Objektivierung: ein Körper, der ausgestellt wird, ein Körper, der angestarrt werden soll.7 Die weiblichen Gestalten richten nie den Blick ins Publikum, den Kopf halten sie gewöhnlich geneigt, sodass ihnen das Haar übers Gesicht fällt, oder aber sie haben den Betrachtenden den Rücken zugewandt. Eine solche Art des Schauens ohne selbst gesehen zu werden, da die passiven und verletzten weiblichen Körper den Blick nicht erwidern können, analysierten feministische Filmwissenschaftlerinnen als männlichen Voyeurismus (De Lauretis 1987, Mulvey 2003).8 Im Bild der menschlichen Marionette findet allerdings eine Verschiebung statt: eine Verschiebung des Sinns. Die narbige Haut, selbst nur ein Teil des Körpers, steht als Metonymie für den misshandelten Körper, den Körper, der zum Opfer wurde. Die metonymische Substitution eines Teils für ein Ganzes ist für die Praxis des Fetischismus charakteristisch; Hall wies dabei auf die Verbindung zur Verleugnung hin, als „Strategie, einem mächtigen Drängen des Begehrens nachzugeben und es zugleich zu verleugnen“ (Hall 1997, 267). Die Haken, von denen der Körper durchbohrt ist, verschieben den Blick vom Körper zur Haut und erlauben es dem Betrachter, weiter zu schauen und gleichzeitig die sexuelle Natur des Blicks zu leugnen. Ein weiterer Aspekt der Repräsentation wird deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die viktimisierenden Bilder der weiblichen Körper sich nicht nur auf Menschenhandel, sondern auch (und vielleicht vor allem) auf Zwangsprostitution beziehen. Hall formulierte es in seiner Untersuchung über Freud und die Erotisierung des Blicks so: „Das Schauen wird häufig durch die uneingestandene Suche nach unerlaubter Lust und ein Begehren, das nicht erfüllt werden darf, gelenkt.“ (Hall 1997, 268) Der weibliche Körper der „menschlichen Marionette“ erhält für den Betrachter seine Bedeutung, so meine These, genau durch dieses Oszillieren zwischen Begehren und Verleugnung, ein Oszillieren, das in mehrdeutiger Art die Faszination/Erotisierung der Prostitution durch den Hautfetischismus verbindet mit einer gleichzeitigen Zurückweisung aufgrund der Verletzung der Haut. Die Lektüre der Körper 7 In semiotischer und psychoanalytischer Perspektive haben Feministinnen und Kulturwissenschaftlerinnen auf das sexuelle Moment beim Betrachten einer anderen Person als Objekt sowie auf die daraus resultierende Lust hingewiesen. Laura Mulvey nennt diese Schaulust „Skopophilie“ (Mulvey 2003, 46). 8 Der voyeuristische Aspekt ist den meisten hier untersuchten IOM-Kampagnen gemeinsam, schließlich stellen sie immer wieder weibliche Körper als Objekte den Blicken zur Schau, oder aber sie greifen auf bestimmte fotografische Darstellungstechniken, etwa die „Schlüssellochperspektive“ (vgl. La Strada/IOM in Abbildung 1), zurück, die die Position des Betrachters als eines Voyeurs verstärken.

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durch die Haut zeigt, wie die weiblichen Körper in der IOM-Kampagne konstruiert werden, nämlich als sexuelle/sexualisierte Objekte, die durch eine uneingestandene (und vielleicht unbewusste) Wahrnehmung der (Zwangs-) Prostitution als erotisch geformt sind. Die Produktion von Weiblichkeit mit Hilfe der Repräsentationsstrategien Viktimisierung und Erotisierung scheint dabei untrennbar vom Zur-Schau-Stellen des weiblichen Körpers.

Abbildung 6 Die Produktion eines misshandelten weiblichen Körpers – mit Hilfe der von Narben gezeichneten Haut – rückt Fragen der Subjektformation in den Vordergrund. Feministische Wissenschaftlerinnen haben darauf hingewiesen, dass die Haut, als „äußere“ Schicht des Körpers, auch als „Grenzobjekt“ funktioniert, das das Selbst vom Anderen trennt (Ahmed/Stacey 2001) beziehungsweise als „Schwelle“ des Zugangs zum Anderen und zu anderen (Irigaray 1993). Die Haut als Schwelle des Zugangs trennt und verbindet gleichermaßen Selbst und Andere(s). In der Ökonomie der IOM-Kampagnen nimmt die Begegnung mit dem Anderen und den anderen eine Vielzahl von Bedeutungen an. Steht der Migrationsaspekt im Vordergrund, verweist die verletzte Haut auf gewalttätige und verletzende Begegnungen mit Menschen unterschiedlicher nationaler und kultureller Identität, denen SIE im Verlauf der Auswanderung begegnet. Im Bezug auf den Menschenhandel bedeutet die Begegnung mit dem Anderen und den anderen dann allerdings nicht nur Kontakt mit anderen, deren Kultur oder Nationalität fremd ist, sondern insbesondere die sexuelle Natur dieses Ausgesetztseins. Die misshandelte und beschädigte Haut der menschlichen Marionette zeigt ein Subjekt an, dessen Selbst durch die Begegnung mit anderen Körpern unwiderruflich verwundet wird.

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Gerade weil die Haut durch, wie Sara Ahmed es ausdrückt, „die konstitutive Möglichkeit, zwischen dem einen und einem anderen durchlässig zu sein“, charakterisiert ist, weil sie zugleich das „Außen“ daran hindern soll, zum „Innen“, und das „Innen“ daran, zum „Außen“ zu werden, kann sie am besten als ein „Ort sozialer Krise und Instabilität“ verstanden werden (Ahmed 1998, 36). Um die bedrohliche Unsicherheit einzudämmen, muss das weibliche Andere, das beständig die Differenzkategorien sprengt, unterdrückt werden. Die Haken und Stricke erfüllen genau diese Funktion: Sie halten den weiblichen Körper am Platz, um so den binären Gegensatz zwischen Selbst und Anderem aufs Neue zu etablieren und die hierarchische Ordnung wieder herzustellen, die SIE unter Kontrolle bringt, indem sie als FRAU dingfest gemacht wird (vgl. Bronfen 1992: 189). Das Weibliche durch eine statische Gestalt zu fixieren, ist für alle hier untersuchten IOM-Kampagnen charakteristisch, doch in der Kampagne in den baltischen Staaten wird diese Inszenierung auf die Spitze getrieben.9 Die Positionen des Kopfes, der Arme, Hände, Beine und Füße dienen sämtlich dazu, das Bild einer gehandelten Frau als unbelebtes Objekt zu befördern. Diese Konstruktion wird in den Abbildungen 7 und 8 noch deutlicher, wo die Fokussierung ausschließlich auf die Beine und Füße der Frau geradezu dazu auffordert, den weiblichen Körper als toten Körper zu lesen.

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Abbildung 8 9 In anderen IOM-Kampagnen erfüllen Käfig (Abbildung 3), Spinnennetz (Abbildung 5) und Männerhände (Abbildung 4) die Funktion, das Subversive des Zeichens FRAU zurückzudrängen und die symbolische Ordnung zu stabilisieren.

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Wie die Trope der Puppe ist auch der tote weibliche Körper Teil des gemeinsamen Bildrepertoires abendländischer Kultur. Elisabeth Bronfen zeigt in ihrem Buch über Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, dass die Paarung von Weiblichkeit und Tod ein populäres und beständiges Thema in der Literatur und Malerei von der Zeit der Empfindsamkeit bis zur Moderne ist (Bronfen 1992). Gerade weil die Bilder des weiblichen Todes so vertraut und so überaus nahe liegend sind, erklärt Bronfen, schenkt man ihnen häufig keine Beachtung. Verstärkt wird das dadurch, dass alles, was tatsächlich über die Repräsentation des toten weiblichen Körpers verhandelt wird, nicht sichtbar ist. Tatsächlich sind sowohl Tod als auch Weiblichkeit bevorzugte Tropen, durch welche die Kultur ihr Wissen um den Tod als auch ihr Begehren nach Unveränderbarkeit verdrängt (und artikuliert). In der Repräsentation des Todes wird die Existenz des Todes zugleich anerkannt wie verdrängt, gerade da der Tod als Bild auftritt und als solches auf den Bereich der Repräsentation beschränkt bleibt, und weil er den Körper eines anderen betrifft und dadurch den Betrachtenden bestätigt, lebendig zu sein. Das Weibliche als ein Zeichen, das das symbolische Register destabilisiert, wird im Tod eine statische Gestalt, die auf stabile Art Andersheit bezeichnet. Der geopferte weibliche Körper, führt Bronfen weiter aus, ist ein Ort, an dem der Kampf um die Re-Affirmation der Grenzen zwischen Selbst und Anderem sowie einer bedrohten Ordnung verhandelt wird: „Über ihren toten Körper werden kulturelle Normen bestätigt oder abgesichert, sei es, weil das Opfer der tugendhaften, unschuldigen Frau der sozialen Kritik und Transformation dient, oder weil das Opfer der gefährlichen Frau eine Ordnung wiederherstellt, die aufgrund ihrer Anwesenheit gegenwärtig außer Kraft gesetzt ist.“ (Ebd., 181) Was in der IOM-Kampagne in den baltischen Staaten tatsächlich dargestellt wird, nämlich der verletzte weibliche Körper, „durchdringt“ seine Repräsentation (und geht über sie hinaus); es offenbart sich so die Beunruhigung über die Veränderungen, denen die Grenzen der politischen Gemeinschaft unterworfen sind, und zwar durch die Migration von Frauen, durch den „Übergang“ zur Marktwirtschaft wie durch die europäische Integration. Die Ambivalenz und Krisenhaftigkeit von Grenzen repräsentiert ein poröser weiblicher Körper. Die Integrität der politischen Gemeinschaft soll wieder gewonnen werden, die Grenzen sollen erhalten bleiben; das, so meine These, erfordert, dass der weibliche Körper in eine fixierte Haltung gebracht und in einem stabilen Zeichen festgezurrt wird. Der tote Körper der Frau verweist auf ein Moment der Beunruhigung über die Instabilität der politischen Gemeinschaft und bewahrt zugleich – durch seine Stabilisierung – die Illusion von Kontrolle und Sicherheit. Damit gesellschaftliche Ordnung (oder das Phantasma davon) wieder hergestellt werden kann, wird eine Frau symbolisch getötet, ihre Subjektivität ausgelöscht und in ein Stereotyp verwandelt.

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Schluss Die IOM-Kampagnen zielen darauf, junge Frauen vor den Risiken der (selbständigen) Arbeitsmigration (von Frauen) zu warnen und sie zugleich durch Zugang zu notwendigen Informationen zu unterstützen. In Verfolgung dieser Ziele konstruieren und verwenden die Kampagnen viktimisierende Bilder, um Engagement und Entscheidung der Frauen aktiv zu fördern (Ciobanica 2002). Berücksichtigen wir allerdings die zahlreichen wissenschaftlichen Beiträge von Feministinnen und insbesondere feministische Arbeiten zur Repräsentation von Frauen, so wird aus der möglicherweise ernst gemeinten Strategie des Empowerment eine recht zweifelhafte und sogar schlecht gewählte Praxis. Der Ausdruck Empowerment war für den Feminismus immer schon ein Schlüsselbegriff, und er wird im Allgemeinen mit dem Begriff der Handlungsfähigkeit verknüpft, insbesondere im Hinblick darauf, Frauen zu befähigen „in der Welt Akteurinnen ihrer selbst zu werden“ (Andermahr et al. 2000, 13). Ein wesentlicher Schritt in Richtung Empowerment ist die Anerkennung der Erfahrung von Frauen als Quelle (feministischen) Wissens sowie das Entwirren und Entdecken weiblicher/feministischer Genealogien und ihre Anerkennung als GegenGedächtnis. Um diese politische Transformation zu verfolgen, betonen Feministinnen die Bedeutung, die es hat, eine Kritik existierender Definitionen und Repräsentationen von FRAU als das Andere zu entwickeln und dabei das Zeichen FRAU neu zu bezeichnen, um die Positivität der sexuellen Differenz hervorzuheben, die Annahmen über Gender (und Sex) bloßzustellen, die Entstellungen und Stereotype in Bildern von Frauen anzugreifen und die (Kunst-)Geschichte durch eine kritische Analyse der Darstellungen rassisierter und sexualisierte Frauenkörper in Frage zu stellen (Fusco 2001, Reckitt/Phelan 2001, Rogoff 2000). Für feministische Wissenschaftlerinnen und Künstlerinnen ist (politisches) Empowerment – verstanden als Anspruchspraxis – aufs Engste damit verknüpft, stereotype Darstellungen als herrschende Repräsentationspraxis anzugreifen: durch Aneignung negativer Bilder, ihr Einschreiben in neue umkodierte Bedeutungsumfelder (Hall 1997)10 und das Bestreben, neue Formen der Repräsentation für weibliche Subjekte zu finden. Mit diesen Überlegungen im Hinterkopf fällt es schwer zu dem Schluss zu kommen, die IOM-Kampagnen gegen Menschenhandel würden Frauen Empowerment bieten. Die hier diskutierten Bilder orientieren weder die Zeichenpraxis herrschender Repräsentation neu, noch schlagen sie neue Formen der Repräsentation von Frauen vor. Im Gegenteil, sie verwenden Techniken, die Frauenkörper auf voyeuristische Art inszenieren und sie in der Bewegungslosigkeit fixieren. So vermitteln die IOM-Kampagnen Bil10 Beispiele sind die Umkehrung von Stereotypen, die Produktion „positiver“ Bilder oder das Infragestellen der Repräsentation selbst (Hall 1997).

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der unglücklicher, verzweifelter und selbstmordgefährdeter Frauen; konsequenterweise restituieren sie die stereotype Darstellung weiblicher Körper als passive Objekte von Gewalt. Mehr noch: Durch die Betonung der Unschuld und des Widerstrebens dieser jungen weißen weiblichen Körper verstärken die IOM-Kampagnen die überkommene Rhetorik über den Menschenhandel. Diese Rhetorik ist, wie Jo Doezema in ihrer Untersuchung zum Medienbild des Frauenhandels zeigt, zentriert um „das paradigmatische Bild […] einer jungen und naiven unschuldigen Frau, die von bösen Menschenhändlern in eine Falle gelockt oder arglistig betrogen wird und die ein schäbiges, grauenhaftes Leben führen muss, dem zu entkommen beinahe unmöglich ist“ (Doezema 1999, 2). Inszeniert wird eine einfache Abgrenzung zwischen Zwangs- und freiwilliger Prostitution, und erweitert zwischen uninformierten Opfern und Sexarbeiterinnen; die IOM-Kampagnen greifen so auf die Gegenüberstellung Madonna vs. Hure als Erklärungsmuster zurück, auf die Dichotomie Eva vs. Jungfrau Maria, eines der „klassischen“ Repertoires der abendländischen Kultur (Bronfen 1992), das in der Geschichte durchgängig auftaucht, wenn es darum geht, das Verhalten, die Sexualität und den Zugang zu Rechten von Frauen zu kontrollieren. Darüber hinaus schürt die Verwendung entpersonalisierter Bilder, um Menschenhändler als unpersönliches und kapillar verzweigtes System der Kontrolle weiblicher Körper darzustellen, die Angst vor der Expansion der Mafia in den Westen und nährt verbreitete Vorstellungen über die Kriminalisierung osteuropäischer Gesellschaften. Die von der IOM-Kampagne gegen Menschenhandel hervorgebrachte „Gendertechnologie“ – der Ausdruck „technology of gender“ wird von De Lauretis vorgeschlagen, um auf die Techniken und diskursiven Praktiken zu verweisen, durch die Gender konstruiert und Gewalt erzeugt wird (De Lauretis 1987: 38) – legt die Auseinandersetzungen um die Kontrolle von Frauenkörpern, Sexualität und Arbeitsmobilität bloß, die den Prozess des ökonomischen „Übergangs“ und die Integration in ein erweitertes Europa begleiten. Die Konstruktion viktimisierender Bilder unterstützt die Produktion von FRAU als häuslich, passiv und sexuell. Die Opferrolle und das Unschuldige befördern Rettungsphantasien und stärken eine „Politik des Heils“ (Puwar 2003), der die Privatsphäre als der sicherste Ort für Frauen gilt. In der Repräsentationsordnung der IOM führen die am weitesten verbreiteten Arten informeller Arbeitsmigration von Frauen unausweichlich in die Sklaverei oder in die Zwangsprostitution. Die IOM-Kampagnen, das zeigt meine Untersuchung, hemmen daher die (Arbeits-)Migration von Frauen und zielen darauf, die Mobilität und Sexualität der Frauen zu kontrollieren, indem sie das Ausland (und das Auswandern dorthin) als bedrohlich darstellen, während sie die heimische Sphäre als sicher unterstellen. Das „Heim“ wird so implizit als Ort ohne Gefahr gezeigt, also auch ohne Prostitution; die IOM-Kampagnen setzen den Ort der Frauen in eins mit ihrer

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Sexualität und versuchen letztere dadurch zu regulieren, dass sie Frauen ihren Platz innerhalb des vertrauten Raums heterosexueller Häuslichkeit zuweisen (vgl. Pollock 1998, 81-82). Gerade zu einem Zeitpunkt, da die Mobilität der Arbeitskräfte innerhalb der EU gefördert wird und diese sogar zu einem der Hauptattribute zur Beschreibung der Europäischen Gemeinschaft und ihrer Bürgerinnen und Bürger geworden ist, hemmt die IOM-Kampagne gegen Menschenhandel die Mobilität osteuropäischer Frauen und bestärkt sie darin, zu Hause zu bleiben. Der Rückgriff auf die Institution/Repräsentation FRAU zeigt das paradoxe Ergebnis, dass die Kontrolle weiblicher Sexualität Hand in Hand mit ihrer Erotisierung geht. Das Zur-Schau-Stellen leidender, dabei schöner Opfer postiert den Frauenkörper als Objekt des (männlichen) Blicks und mobilisiert erotische Arten des Betrachtens, eine voyeuristische Erotisierung und fetischistische Faszination durch den herben Anblick des gefangenen weiblichen Körpers. Die Darstellung von Gewalt ist so selbst gewalttätig, bestätigt sie doch Stereotype über osteuropäische Frauen als schöne Opfer; sie setzt das Weibliche mit einem passiven Objekt gleich, trennt den Körper von seiner Materialität und vom historischen Kontext, in dem sich der Menschenhandel abspielt, und beschränkt schließlich Frauen, um die imaginäre soziale Ordnung aufrecht zu erhalten, auf das höchst passivierende symbolische Register FRAU. So inszeniert die IOM-Kampagne – in einer Zeit tiefgehender sozialer und symbolischer Neuorganisation des europäischen Raums – eine (diskursive) Eindämmungspolitik, die die Möglichkeiten, neue Bilder weiblicher Subjektivität zu erzeugen, begrenzt und so die Körper osteuropäischer Frauen fixiert, an ihrem Platz und außerhalb der Bürgerschaft. Es ist recht paradox, dass es ihr misshandelter Körper ist, durch den die IOM ihre Glaubwürdigkeit und ihren Expertenstatus auf den Gebieten des Kampfs gegen den Menschenhandel und der Unterstützung für die Opfer erlangt. Aus dem Englischen von Thomas Atzert

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Asylbewerber, Saisonarbeiterin, Illegaler, Flüchtling, Drittstaatenangehöriger – diese und mehr Kategorien werden von EU-Staaten angelegt, um Grenzüberschreitungen zu ordnen und zu kontrollieren. Den entsprechenden Aufenthaltsgenehmigungen oder -verweigerungen liegen dabei arbeitsmarktpolitische, demographische, humanitäre, sicherheitspolitische, nationalistische oder rassistische Argumentationen zugrunde. In jedem Fall werden dadurch Subjekte mit eingeschränkten Bürgerrechten produziert, was zusammen mit einer Abschottungsrhetorik bestimmte Mobilitäten in Richtung EU-Europa abschrecken oder begrenzen soll. Im Sinne einer europäisierten Arbeitsmarktregulierung werden gleichzeitig die Bürgerinnen und Bürger in der EU dazu aufgerufen, mobil und flexibel über nationalstaatliche Grenzen hinweg Beschäftigungsverhältnisse einzugehen und Qualifikationsmaßnahmen wahrzunehmen. So soll nicht nur eine optimale innereuropäische Verteilung von Arbeitskräften gewährleistet, sondern auch das kulturelle und soziale Zusammenwachsen Europas gefördert werden.1 Als Chance oder Zumutung, verhindert oder gefördert, wird Mobilität so konstitutiv für Subjektpositionen im transnationalen Europa. „In der vermeintlichen Peripherie liegt heute das Zentrum der Mobilitäten; hier treffen und kreuzen sich die verschiedenen Bewegungen des transnationalen Europas auf kleinstem Raum“, schreibt Regina Römhild (2005: 95) und verweist auf die Figur des Touristen als Kreuzungspunkt verschiedener Mobilitätsprojekte. Für viele aus dem Norden bedeutet Tourist zu sein einen temporäreren Ausstieg aus dem Arbeitsalltag, für viele aus dem Süden ist daran die Hoffnung auf Grenzübertritt mit dem Ziel (illegaler) Arbeit geknüpft. Die südlichen Ränder der Europäischen Union sind nicht länger nur ehemalige Entsendeländer der „Gastarbeitermigration“ der 1960er und 1970er Jahre und seither Teil der Vergnügungsperipherie für west- und nordeuropäische TouristInnen, sondern wurden „zum Hotspot des Migrationsgeschehens“ (TRANSIT MIGRATION 2005, 690), an dem sich die Züge eines neuen Migrationsregimes studieren lassen. 1 Zum strategischen Einsatz von Kultur zur Herstellung sozialer Kohäsion durch die EU vgl. Shore 2000, Welz 2005.

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Im „touristischen Ereignisraum“ (Spillmann/Zinganel 2004, 48f.) am europäischen Mittelmeer treffen Reisende, Bereiste und DienstleisterInnen aufeinander. Touristische und migrantische Praktiken überkreuzen und vermischen sich hier auf vielfältige Weise. Flüchtlinge werden in den Hotels der TouristInnen untergebracht, zurückgekehrte „GastarbeiterInnen“ machen sich mit touristischen Unternehmen selbstständig, ehemalige TouristInnen lassen sich im Süden nieder und beschäftigen migrantische Pflegekräfte, MigrantInnen mit oder ohne Papiere werden als billige Arbeitskräfte auf dem Bau oder für Dienstleistungstätigkeiten im Tourismus nachgefragt, um nur einige Beispiele zu nennen. Im Folgenden soll zunächst die Wechselbeziehung von Tourismus und Migration in der Nachkriegszeit skizziert werden und die damit einhergehende Produktion von Bildern über den Mittelmeerraum. Im Anschluss daran soll am Beispiel migrantischer Arbeitskräfte im Tourismussektor auf Kreta schließlich verdeutlicht werden, welche Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten, welche Grenzziehungen und Vermischungen das gegenwärtige europäische Mobilitätsregime im Zusammenspiel mit machtvollen europäischen Identitätskonstruktionen insbesondere dort produziert, wo verschiedenen Mobilitätskategorien zugeordnete AkteurInnen aufeinander treffen. Taktiken und Strategien von migrantischen Arbeitskräften veranschaulichen, wie migrationspolitische Versuche der Kategorisierung und Sichtbarmachung im mit kulturellen Bedeutungen aufgeladenen touristischen Raum in nicht vorgesehener Weise angeeignet oder hintergangen werden.

Tourismus und Migration in Europa Tourismus und Migration standen und stehen in enger Beziehung zueinander. An ihrer sich gegenseitig bedingenden Entwicklung lässt sich nachzeichnen, wie die unter fordistischen Bedingungen hervorgebrachten Mobilitätsformen – gekennzeichnet unter anderem durch die staatlich regulierte Anwerbung von „GastarbeiterInnen“ oder durch einen tarifvertraglich abgesicherten Urlaubsanspruch – im Postfordismus durch unreguliertere und entgrenztere Formen der Mobilität ergänzt und teilweise abgelöst werden. Auch wenn es in allen Phasen der Nachkriegsmigrationsgeschichte Formen unregulierter Migration gab, war der staatlich angeworbene „Gastarbeiter“ die migrationspolitisch leitende Figur. Dieser Geschichtsschreibung entsprechend kann jetzt eine Ablösung von regulierten Migrationsformen zu deregulierteren diagnostiziert werden. So wird von einer Ablösung der Figur des staatlich angeworbenen „Gastarbeiters“ durch die des bedrohlichen und/oder hilfsbedürftigen „Flüchtlings“ und schließlich durch die des „illegalen Migranten“ gesprochen, der die massive Ausbreitung personenbezogener Dienstleistungen abfedert. Alle drei Figuren sind allerdings

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nun simultan Regulationsobjekte der EU-Migrationspolitik, die „auf die Freizügigkeit der EU-Arbeitsmigranten, auf die partielle sozialrechtliche Integration bereits eingewanderter Drittausländer und auf eine gemeinsame restriktive Politik gegenüber Migrantinnen und Migranten ohne Papiere [zielt]“ (Karakayalı/Tsianos 2005, 420). Ebenso wie das Migrationsgeschehen hat sich auch der Tourismus transformiert und über die Jahre unterschiedliche Figuren des Touristen hervorgebracht, beispielsweise den Bildungsreisenden, die Alternativtouristin, den Ökotouristen, die Pauschaltouristin, den Individualreisenden oder die Abenteuertouristin. Postmoderne Tourismusanalysen, die eine Ablösung des „Genormt-Homogenen“ durch das „Flexibel-Individuelle“ behaupten und eine „neuartige, nämlich dekontextualisierte, künstlich-atopische Touristenwelt“ (Spode 2005, 155) diagnostizieren, übersehen über der Konzentration auf das Nacheinander häufig das Nebeneinander verschiedener touristischer Praktiken. „Und weder der Individualisierung und Stilisierung des Erlebten, noch dem Verschwinden des Einmalig-Echten bzw. des Kontexts, und damit auch nicht dem Spielerisch-Simulierten kommt die Qualität eines Strukturbruchs zu. Vielmehr sind dies per se Kennzeichen der touristischen Reise.“ (Ebd., 154) Touristische Reisen in den Mittelmeerraum lassen sich dementsprechend weder auf delokalisierende touristische Praktiken wie kontextunabhängigen Strandurlaub reduzieren noch auf Praktiken, die ausschließlich auf das Partikulare des konkreten Ortes bezogen sind. Die im Folgenden vorgenommene Unterteilung der Tourismusgeschichte in unterschiedliche Phasen soll also keineswegs nahe legen, dass sich die unterschiedlichen Formen des Tourismus abgelöst haben. Sie haben sich vielmehr gegenseitig bedingt und hervorgebracht. Um 1960 herum führte der wirtschaftliche Aufschwung in Nordeuropa dazu, dass Reisen in den Mittelmeerraum nicht länger nur für die Mittelschicht, sondern zunehmend auch für die Arbeiterklasse attraktiv wurden. (Vgl. Löfgren 1999, 157ff.) So entwickelte sich um 1960 herum in großem Maßstab ein industriell organisierter Massentourismus.2 Anfang der 1970er wurde Kritik am Massentourismus laut. Das konsumistische, vergnügungssüchtige und ignorante an dieser Art des Reisens wurde beklagt und vor der 2 Die Ursprünge des Massen- und Pauschaltourismus werden meist in die Mitte des 19. Jahrhunderts datiert. Mit Industrialisierungsprozessen in Westeuropa, die eine Trennung von Arbeit und Freizeit beförderten, entstanden neben den Fabriken, den Orten der Arbeit, Orte, die der Erholung dienen sollten. Sie sollten einen Ausgleich bieten für die Ermüdungserscheinungen, die der Arbeitsalltag mit sich brachte, um dann den kommenden Arbeitsbelastungen wieder gewachsen zu sein. In den frühen 1840er Jahren begann Thomas Cook, in England organisierte Gruppenreisen für Arbeiterfamilien anzubieten, was als Ursprung von Pauschalreisen und Massentourismus gilt. Insgesamt nahmen jedoch nur wenige an diesen Rei-

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Zerstörung traditioneller Strukturen in den Zielregionen gewarnt. Demgegenüber wurde das Reisen in vom Tourismus unberührte Landschaften beschworen. Das kolonialistische Narrativ von der Entdeckung „jungfräulicher“ Küsten und Dörfer ist allerdings nicht neu. „There is a constant nostalgia for an earlier ,then‘, which tends to move around in time, as virginity is made and remade in different generational and social experiences of ,the local‘. In the old days, back in the 1850s or 1980s, ,when we first came here, there wasn’t even a tourist/hotel/airport/disco‘ or ,life was so different then‘.“ (Löfgren 1999, 184) In den 1980er Jahren wurde diese Kritik durch Positionen aus der Ökologiebewegung ergänzt und alternative Formen des Tourismus wurden propagiert. Diese kritischen Positionen fanden Eingang in die Nachhaltigkeitsdebatte der 1990er Jahre. (Vgl. Backes/Goethe 2003) Die Forderung nach ökologisch, ökonomisch und kulturell nachhaltigem Tourismus durchzieht seitdem auch EU-Programme und Papiere. (Vgl. EU-Kommission 2003, 5) In einer Mitteilung der Europäischen Kommission werden zwei Herausforderungen für die Nachhaltigkeit hervorgehoben: Erstens, der „Mangel an qualifizierten Arbeitskräften“ und zweitens, „mögliche Auswirkungen der Fremdenverkehrsentwicklung auf die wirtschaftliche und soziale Lage der örtlichen Bevölkerung […], das Risiko, Kultur aus ihrem örtlichen Zusammenhang und aus ihrer Rolle für die lokale Gesellschaft zu lösen, und der

sen teil und Cook dehnte sein Angebot auf kaufkräftigere Schichten aus. Während der Weimarer Republik wurde – befördert auch durch den wachsenden Einfluss der Gewerkschaften – für einen Teil der Arbeiterschaft Anspruch auf bezahlten Urlaub durchgesetzt. Urlaubsreisen blieben aufgrund mangelnder Kaufkraft jedoch nach wie vor einigen wenigen vorbehalten. Erst der von den Nationalsozialisten nach italienischem Vorbild gegründeten Organisation „Kraft durch Freude“ („KdF“) gelang es, Billigreisen im großen Maßstab anzubieten und ArbeiterInnen, die es sich vorher nicht hätten leisten können, eine Urlaubsreise zu ermöglichen. „Die Idee, den Tourismus mittels ,Normierung, Montage, Serienfertigung‘ (Enzensberger 1987, 671f.) anzukurbeln und nach dem Motto ,großer Umsatz, kleine Preise‘ verbilligte Sonderfahrten zu organisieren, war freilich keineswegs neu; sie ist fast so alt wie die Eisenbahn selbst. Neu war die hemmungslose Konsequenz, mit der diese Idee von nun an umgesetzt werden sollte.“ (Spode 1997, 22) Entgegen der KdF-Propaganda, dass Reisen kein bürgerliches Privileg mehr sei und alle „Volksgenossen“ unabhängig von Schicht und Einkommen gleichermaßen ihr Recht auf Erholung in Anspruch nehmen könnten, lassen Statistiken erkennen, dass insbesondere die im Vergleich zu den Landreisen kostspieligen Seereisen nach Portugal, Italien oder Griechenland dem Mittelstand vorbehalten waren. (Vgl. Fromm 1992, 265ff.) Wirklich geboomt hat der Massentourismus im Mittelmeerraum tatsächlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg, zunächst in Form von Bustouren und später mit Charterflügen.

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Verlust der lokalen Authentizität soziokultureller Ausdrücke infolge globalisierter Tourismusentwicklungen und -investitionen“ (ebd., 29). Folglich werden zum einen Fortbildungsmaßnahmen für Beschäftigte im Tourismus gefordert und zum anderen sollen Umwelt- und Traditionsbewusstsein gefördert werden. Im nachhaltigen Tourismus wird darüber hinaus die Möglichkeit gesehen, die „Menschen Europas“ näher zusammenzubringen und den Sinn der EU-BürgerInnen für eine „gemeinsame Identität“ zu schärfen. (Vgl. Committee on Transport and Tourism 2005) Es wird davon ausgegangen, dass europäische TouristInnen auf europäische Einheimische treffen und der Vielfalt der Kulturen Europas Ausdruck verleihen, wobei die Kultur der Bereisten als klar abgrenzbare, territorial gebundene Einheit verstanden wird.3 Die lokale Bevölkerung, deren Belange der nachhaltige Tourismus berücksichtigen möchte, wird dabei kaum weiter ausdifferenziert. Durch Ausbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen für Beschäftigte im Tourismus soll Qualitätseinbußen entgegengewirkt werden, deren Ursache in der Beschäftigung unqualifizierter Saisonarbeitskräfte gesehen wird. So entsteht der Eindruck, schlecht bezahlte, unqualifizierte Tätigkeiten in prekären Beschäftigungsverhältnissen – häufig von MigrantInnen ausgeübt – seien nicht etwa integraler Bestandteil des Tourismussektors, sondern nach und nach völlig entbehrlich. Mit veränderten Jobprofilen, die keine Stabilität und Sicherheit mehr garantieren, sondern Flexibilität und Mobilität voraussetzen, haben sich seither auch veränderte touristische Praktiken herausgebildet. Alternativer, nachhaltiger Individualtourismus ist zu einem distinktionsfähigen biographischen Projekt geworden, mit dem die eigene Konkurrenzfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt erhöht werden kann.4 (Vgl. Binder 2005) Da es sich bei Mittelmeerreisen aber zu einem großen Teil um im Reisebüro gebuchte 3 Die Idee von Völkerverständigung durch Tourismus wurde bereits unmittelbar vor und nach dem Ersten Weltkrieg als Zweck der Organisation von Arbeiteraustauschreisen formuliert. Die Nationalsozialisten machten sich diese Idee für ihre KdF-Reisen zueigen, wobei diese Reisen gleichzeitig zu einer Stärkung der Identifikation mit der deutschen Volksgemeinschaft beitragen sollten. (Vgl. Fromm 1992) Später haben auch Institutionen wie die katholische Kirche und die Vereinten Nationen das völkerverbindende Potenzial des Tourismus betont. (ebd.: 308) Im Zuge des europäischen Integrationsprozesses haben Europarat und Europäische Union in ihrem Bemühen um die Schaffung einer gemeinsamen kulturellen Identität dem „Kulturtourismus eine Schlüsselrolle für eine dauerhafte Integration und den transkulturellen Dialog zuerkannt“, wobei „sowohl auf die kulturelle Vielfalt Europas als auch auf das gemeinsame kulturelle Erbe hingewiesen“ wird (Enser 2005, 108). 4 Diese Art des Reisens zum Zweck distinktionsfähiger Persönlichkeitsbildung kann in der Tradition der so genannten „Grand Tour“ gesehen werden, die zahlrei-

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Pauschalreisen handelt, haben die Veranstalterkataloge einen starken Einfluss auf den „touristischen Blick“ (Urry 1990) der UrlauberInnen (Pagenstecher 2004, 14). Der touristische Blick auf den Mittelmeerrraum bestimmt auch die westeuropäische Wahrnehmung des Migrationsgeschehens in Südeuropa.

Der touristische Blick auf den Mittelmeerraum Wenn es um den Mittelmeerraum geht, dominiert in Westeuropa das „Blickregime des Reisens“, schreibt Marion von Osten in diesem Band. Zu Zeiten der „Gastarbeitermigration“ hat sich hierzulande die Vorstellung vom hoffnungslos unterentwickelten Süden Europas durchgesetzt, der die „GastarbeiterInnen“ in den reichen Norden trieb und eine Kontrastfolie bot, die den eigenen beginnenden Wohlstand umso deutlicher erscheinen ließ. Neben den Attraktionen Sonne und Meer war es genau diese Vorstellung von Rückständigkeit, die – umgedeutet in Tradition, Ursprünglichkeit und Naturnähe – den Mittelmeerraum für den touristischen Konsum attraktiv machte. Gegenwärtig – im postfordistischen Migrationsregime – sind es wieder Bilder aus dem Mittelmeerraum, die das Migrationsgeschehen repräsentieren. Inzwischen sind jedoch aus den Herkunftsländern der „GastarbeiterInnen“ EU-Mitgliedstaaten oder -Beitrittskandidaten und Einwanderungsländer geworden. Als migratorischer Raum wird das Mittelmeer daher jetzt von Bildern verzweifelter Flüchtlinge und illegaler MigrantInnen beherrscht, die es unter Einsatz ihres Lebens überqueren, um in die „Festung Europa“ zu gelangen. In diesen aktuellen Darstellungen wird das „koloniale Narrativ der MigrantInnen als Angehörige eines Territoriums von Unterentwickelten“ (von Osten in diesem Band) fortgeschrieben. Eine Übersetzung des migrantischen Raums in den touristischen scheint – anders als zu Zeiten der „GastarbeiterInnenmigration“ – so ohne weiteres jedoch nicht mehr möglich. Das, was den touristischen Raum ausmacht, scheint mit dem migrantischen nichts (mehr) zu tun zu haben. Über den touristischen Raum Kretas wird von vielen Reiseführern ein Bild gezeichnet, für das der folgende Auszug exemplarisch ist: „Das mediterrane Urlaubsparadies mit seinen geschützten Buchten, hübschen Stränden und türkisfarbenem Meer, mit seinen Hotelburgen, pulsierendem Nachtleben und unzähligen Georgos und Kostas, die mit Touristinnen flirten, ist nur die eine Seite von Kreta. Abseits der zugebauten Küstenabche junge Aristokraten im 17. und 18. Jahrhundert in den Mittelmeerraum brachte. Sie begaben sich dort auf die Spuren der klassischen Antike und der Renaissance. Insofern die jungen Männer dabei die Ursprünge westlicher Zivilisation kennen lernen und ihre Manieren schleifen sollten, galt die „Grand Tour“ als wichtiges edukatorisches Projekt. (Vgl. Löfgren 1999, 157ff.)

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schnitte zeigt die Insel ihr wahres Gesicht. Im Inselinnern gehen die Uhren anders, und die Stille bietet einen wohltuenden Kontrast zum touristischen Treiben an den Küsten. Die Dörfer im Hinterland sind in einen verschlafenen Alltag versunken, alte Traditionen werden wie eh und je gepflegt. Frauen und Männer auf Eseln kreuzen die Straße, und die Besucher erleben die vielgerühmte griechische Freundlichkeit, die in den künstlichen Touristenwelten durch findige Geschäftstüchtigkeit verdrängt wurde.“ (Vista Point Pocket: Kreta 2000, 8) Hier werden unverbrauchte Gastfreundschaft, griechische Kultur, naturnahe Lebensweise und traditionelle Geschlechterverhältnisse beschworen, die es hinter der künstlichen Welt des Tourismus zu entdecken gilt. Was für den migrantischen Raum als Modernisierungsrückstand gilt, wird im touristischen zu „alter Tradition, die wie eh und je gepflegt wird“. Auch diese „alte Tradition“ wird freilich bisweilen für den touristischen Konsum inszeniert (vgl. Beck/Welz 1997), denn der Tourismus ist nicht nur „für die unzähligen Georgos und Kostas“ an den „zugebauten Küstenabschnitten“ „ein Ort der Performanz, […] Bühne eines ritualisierten Kulturtransfers“ (Spillmann/Zinganel 2004, 7), der Möglichkeiten bietet, sich neu zu erfinden. Auf einem Kontinuum von Bühnen werden unterschiedliche Grade von Authentizität für den touristischen Blick inszeniert, wie Dean MacCannell es in der Metaphorik Goffmans formuliert (vgl. MacCannell 1976), also auch da, wo das Unverfälschte, Ursprüngliche hinter aller Inszenierung vermutet wird. Nicht nur große Reisekonzerne und Tourismusbehörden greifen mit groß angelegten Werbekampagnen und gezielten Investitionen machtvoll in die Lenkung des touristischen Blicks ein; alle Beteiligten – TouristInnen, KleinunternehmerInnen, migrantische DienstleisterInnen – wirken affirmativ oder subversiv an den touristischen Inszenierungen mit.

Tourismus und Migration in Kreta/Griechenland Die touristische Bildproduktion wirkt auf migrantische Praktiken und wird umgekehrt von ihnen beeinflusst. Diese Wechselwirkung unterliegt dabei historischen Veränderungen, wie das Beispiel Kreta/Griechenland verdeutlichen mag. Zwischen 1961 und 1973 wanderten rund eine Million GriechInnen aus, mehr als zwei Drittel von ihnen nach Mittel- und Nordeuropa, insbesondere in die Bundesrepublik. (Vgl. Kaiser 1985, 497) Parallel dazu nahm auch die Mobilität von Deutschen in umgekehrte Richtung zu. Bis in die 1950er Jahre war Griechenland vornehmlich Urlaubsziel für Bildungsreisende , die sich auf die Spuren des europäischen Kulturerbes begaben und sich vor allem für archäologische Ausgrabungsstätten interessierten. Diese Art von Tourismus basierte auf der Konzeptionalisierung Griechenlands als „Wiege der Zivilisation“, von der aus (West-)Europa vor langer Zeit seinen

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Ursprung nahm. Dieser Griechenlandtourismus war gesellschaftlichen Eliten vorbehalten und stand in der Reisetradition des 18. und 19. Jahrhunderts. (Vgl. Galani-Moutafi 2004, 171) In den 1960er Jahren entwickelte sich Griechenland zum beliebten Reiseziel für AlternativtouristInnen. Sie interessierten sich weniger für die Pilgerstätten der Kulturreisenden, die eine vergangene Hochkultur bezeugten, sondern eher für die zeitgenössisch in Griechenland lebende Lokalbevölkerung, deren „einfache“, „naturverbundene“ Lebensweise und Gastfreundschaft sie als Gegenbild zu ihrer Entfremdungserfahrung in den westlichen Industriegesellschaften entwarfen. „Authentizität“ und „Tradition“ wurden in ländlichen Regionen vermutet, städtisches Leben wurde als Ausgangspunkt drohender Modernisierung gemieden. (Vgl. Römhild 2002, 165) Einige dieser TouristInnen sind in Griechenland geblieben. Die anderen verlängerten ihr Urlaubserlebnis mit dem Besuch von Restaurants, mit denen GastarbeiterInnen in Deutschland seit Mitte der siebziger Jahre ihre prekär werdenden Beschäftigungsverhältnisse gegen eine selbstständige Existenzsicherung eintauschten. (Vgl. Bojadžijev 1998, 303; Gogos 2005, 387) Zwischen 1974 und 1985 kehrte fast die Hälfte der in Europa verstreuten GriechInnen wieder nach Griechenland zurück (vgl. Fakiolas 2000), manche in Begleitung westeuropäischer PartnerInnen. Auf Kreta und in anderen inzwischen zu beliebten Tourismuszielen gewordenen Regionen fanden die RückkehrerInnen häufig Arbeit in Hotels und Restaurants (vgl. Buck-Morss 1987, 203) oder eröffneten eigene touristische Unternehmen. Das kulturelle Kapital, das sie aus ihrer Zeit in Westeuropa mitbrachten, konnten sie hier durch die Arbeit mit westeuropäischen TouristInnen in ökonomisches verwandeln. Seit Beginn der 1960er Jahre wurde Griechenland auch vom Massentourismus erschlossen, der zu einem großen Teil von internationalen Tourismusunternehmen organisiert wird. Die AlternativtouristInnen fürchten den Verlust der „unverfälschten Tradition“ durch den Massentourismus. Gleichzeitig dienen die MassentouristInnen ihnen jedoch zu Distinktionszwecken, insofern sie sich ihnen gegenüber als „Insider“ betrachten, die sich auskennen, die mit Angehörigen der Lokalbevölkerung befreundet sind und die „authentische Tradition“ von „touristischer Inszenierung“ unterscheiden können. (Vgl. Römhild 2002, 172)

Machtvolle Differenzen Im Unterschied zu anderen TouristInnen verstehen sich AlternativtouristInnen als „kosmopolitisch, multikulturell und reisend“ (Backes 2002, 159). Um den Distinktionsgewinn ihres mobilen und multikulturellen Lebensstils aufrechterhalten zu können, brauchen sie nicht nur den verteufelten Mas-

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sentourismus als Gegenpol zur eigenen Individualität, sondern auch ein unbewegliches, monokulturelles Gegenüber: die bereiste Gesellschaft. Deren Kultur wird dabei nicht weiter ausdifferenziert an ein klar abgrenzbares Territorium gebunden und in eine vormoderne Zeit verlagert. Reiseführer und -prospekte sind voll mit Repräsentationen von Urlaubsdestinationen als territorial begrenzte kulturelle Einheiten, deren „Ursprünglichkeit“ durch Modernisierungsprozesse bedroht ist. Den Bereisten wird hier die Bewegung im selben Raum und in derselben Zeit abgesprochen. Die eigene kulturelle Identität wird dabei jedoch nicht konkreter bezeichnet. „Vielmehr beanspruchen auch die KonsumentInnen eine privilegierte Leerstelle für sich“, wie Martina Backes (2002, 161) schreibt, „indem ihre weltumspannende und multikulturelle Ideologie die ‚Fremden‘ als Marionetten ihrer Kollektive betrachtet (schließlich ist deren Bodenständigkeit für die Abgrenzung zum mobilen Touristen konstitutiv), während sie selbst die Anerkennung der Kulturenvielfalt als politisch korrekte Einstellung vor sich hertragen und zugleich Wertneutralität gegenüber kulturellen Unterschieden deklarieren. Voraussetzung wie Resultat dieses auf Kulturenverständnis setzenden Ferntourismus ist ein Bewusstsein über eine gesellschaftliche Ordnung aus immobilen kulturellen Identitäten und mobilen multikulturellen TouristInnen. Damit versetzen sich letztere durch ihre eigene vermeintliche Inhaltsleere und proklamierte Wertneutralität in eine gehobene Position.“ Diese gehobene Position ist durch einen privilegierten Zugang zu einer möglichst großen Anzahl immobilisierter Kulturen gekennzeichnet, also durch das Privileg nahezu uneingeschränkter eigener Mobilität bei gleichzeitiger Unbeweglichkeit der Anderen. (Vgl. Goethe 2002, 27; Steyerl 2002, 41) Durch die Differenzkonsumbedürfnisse der TouristInnen, durch die dominante Bildproduktionen der Reisebranche und auch durch (EU-)Programme zum nachhaltigen Tourismus wird so ein Blickregime etabliert, das Mobilität jenseits von Tourismus in den bereisten Gesellschaften unsichtbar macht bzw. vom touristischen Erlebnis abspaltet. Können die gastronomischen Betriebe der GastarbeiterInnen in Westeuropa gut zur kulinarischen Verlängerung des mediterranen Flairs über den Urlaub hinaus dienen und sind auch die griechischen RemigrantInnen mit ihren in Westeuropa erworbenen interkulturellen Kompetenzen im Umgang mit TouristInnen wohlgelitten, so lässt sich die neue Migration nach Europa nur schwer mit dem eigenen Erholungsbedürfnis oder dem für das eigene distinktive Reiseerlebnis so wichtigen Bild vom traditionellen und unveränderlichen Griechenland vereinbaren. Diese territoriale Festschreibung des touristisch konsumierbaren Raumes – die zumindest als Zitat auch in delokalisierenden touristischen Raumpraktiken zu finden ist – trägt dazu bei, die europäische Peripherie zu immobilisieren, also Mobilität jenseits von Tourismus auszublenden. Dieser touristische Blick hat Konsequenzen für Einheimische und MigrantInnen, die sich

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ebenfalls im touristischen Raum bewegen. Als DienstleisterInnen bedienen sie die touristischen Erwartungen, schreiben sich aber auch eigenwillig in den touristischen Raum ein und machen sich Mobilitätskategorien und Identitätskonzepte des EU-Grenzregimes in nicht intendierter Weise zunutze.

Begegnungen In den Wahrnehmungen und Repräsentationen der TouristInnen scheint die Anwesenheit von MigrantInnen kaum eine Rolle zu spielen. Für manche schmälert sie jedoch das Differenzerlebnis: Ein Deutscher, der Kreta als Tourist kennen lernte und dann auswanderte, schwärmte von der Ursprünglichkeit der Insel und betonte seine eigene Integration in die Lokalgesellschaft. Die albanischen EinwanderInnen waren für ihn ein lästiges Ärgernis. „Die Griechen mögen die Albaner nicht“, meinte er und übernahm diese Haltung in seinem Assimilationsbedürfnis. Eine belgische Touristin bedauerte es, dass das Personal häufig nicht griechisch war, meinte damit aber vor allem WesteuropäerInnen. Gegen albanisches Personal hatte sie nichts, da die AlbanerInnen sich in ihren Augen optisch nicht von den GriechInnen unterschieden und daher also ihren touristischen Differenzkonsum nicht beeinträchtigten. Ihr kam es also nicht auf die „Echtheit“ des Griechischen an, sondern darauf, dass es „Griechisch“ aussah. Die Möglichkeiten, den eigenen migrantischen Hintergrund zu verbergen, die der Tourismus bietet, begreifen einige MigrantInnen als Chance. Einerseits machen sie sich unsichtbar, um den touristischen Imaginationen von griechischer Kultur zu entsprechen, andererseits entziehen sie sich mit transnationalen Kompetenzen und Praktiken der Zurichtung durch den touristischen Blick. An den folgenden Beispielen wird deutlich, dass „die touristische Bildproduktion nicht nur maßgeblich dazu beitragen [kann], tradierte kulturelle Hierarchien und Abhängigkeiten durch die Konstruktion des Anderen in postkolonialen Machtverhältnissen fortzuschreiben“, sondern auch als „Werkzeug des Widerstands“ angeeignet werden kann (Spillmann/Zinganel 2004: 7). Alban kam Anfang der 1990er Jahre von Albanien nach Athen, zu Fuß über die Berge. Das Leben in Athen war hart, deshalb beschloss er, sein Glück auf einer griechischen Insel zu versuchen. Er mischte sich in Piräus unter eine Gruppe von TouristInnen und gelangte so unbemerkt auf ein Schiff nach Kreta. Nach einigen anstrengenden Jobs als Bauarbeiter fand Alban Arbeit als Hilfskellner in einer griechischen Taverne. Dort arbeitet er jetzt seit über sieben Jahren. Fragen Gäste, wo er herkommt, behauptet er meist, er sei Einheimischer, um die Erwartung der Gäste nicht zu enttäuschen. Sind die Gäste selbst GriechInnen und leben im Norden Griechenlands, behauptet er,

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er sei Kreter. Und wenn es KreterInnen sind, die fragen, antwortet Alban, er komme aus Nordgriechenland. Das gefalle den TouristInnen und sei gut fürs Geschäft.5 Wenn er alleinreisenden Touristinnen imponieren möchte, gibt er sich auch schon mal als Halbitaliener aus ... Die Arbeitssituation in einer Tourismusregion erfordert und ermöglicht gleichzeitig aber auch das Spiel mit verschiedenen Rollen, Identitätszuschreibungen und Mobilitätskategorien. Die benachteiligte Position im europäischen Mobilitätsregime bringt in diesem Zusammenhang nicht nur überlebensnotwendige Taktiken im Umgang mit Mobilitätskategorien hervor, sondern kann auch eine strategisch günstige Ausgangsposition beim Spiel mit Identitätszuschreibungen sein, von der aus sich hierarchische Differenzmarkierungen geschickt aneignen und profitabel einsetzen lassen. Vorzugeben, er sei „Tourist“, ermöglichte es Alban, der zu diesem Zeitpunkt „illegal“ war, innerhalb Griechenlands unbemerkt mobil zu sein. Im ständigen Kontakt mit TouristInnen hat er sich dann schnell das Wissen angeeignet, für jede Kundin und jeden Kunden die entsprechende nationale oder regionale Zugehörigkeit vorzutäuschen. Angesichts weitverbreiteter rassistischer Ressentiments gegen AlbanerInnen in Griechenland hat sich für ihn die Behauptung, Grieche zu sein, gegenüber griechischen TouristInnen bewährt. Auch gegenüber west- und nordeuropäischen TouristInnen, die in ihrem Urlaub den Kontakt mit „echten“ GriechInnen suchen, kann er diese Rolle gewinnbringend einsetzen. Darüber hinaus verfügt er über Kompetenzen, sich die mediterranisierenden und exotisierenden Männlichkeitsvorstellungen von Touristinnen zunutze zu machen. Ähnlich wie Alban und viele andere nimmt auch Renata von Zeit zu Zeit die Mobilitätskategorie „Touristin“ an, um als Arbeitsmigrantin innerhalb der Europäischen Union mobil sein zu können. Renata ist Serbin. 1993 kam sie zum ersten Mal nach Griechenland. In dem Sommer, in dem wir uns getroffen haben, arbeitete sie in der Küche eines der zahlreichen Cafés an der touristischen Strandpromenade einer Stadt im Norden Kretas. Im Winter, wenn nur wenige TouristInnen auf der Insel sind und es kaum Arbeitsmöglichkeiten gibt, wird Renata dann selbst zur „Touristin“. In den letzten Jahren ist sie immer wieder für einige Monate mit einem Touristenvisum nach Deutsch5 Die Kombination aus „authentischem Griechentum“ und günstiger Arbeitskraft, die albanische Kellner für kretische ArbeitgeberInnen interessant macht, entspricht im Wesentlichen den Gründen für die Anwerbung von Arbeitskräften aus Griechenland für die griechische Gastronomie in Deutschland, wie Myrto Kougievetopoulos (2005) sie in ihrer Untersuchung beschreibt. Über diese Anforderungen wird die griechische Gastronomie in Deutschland und Griechenland zu einem transnationalen Arbeitsmarkt und das „authentisch Griechische“ zu einem transnationalen Produkt.

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land gereist und hat im Rhein-Main-Gebiet als Putzfrau oder Küchenhilfe gearbeitet, unter anderem in einer der griechischen Tavernen, in der die deutschen GriechenlandurlauberInnen ihre Urlaubserinnerungen aufwärmen. Linda Basch, Nina Glick Schiller und Cristina Szanton Blanc (1997) analysieren die zunehmend mobil und „mehrortig“ werdenden Migrationsstrategien einerseits als Antworten auf die immer begrenzteren Möglichkeiten, sozio-ökonomische Grundbedürfnisse an nur einem Ort zu befriedigen und als andererseits Reaktion auf die immer restriktiveren nationalen Migrationspolitiken westlicher Industrienationen. Renatas Migrationsstrategie ist beispielhaft für diese Entwicklung. Die Befriedigung ihrer sozio-ökonomischen Grundbedürfnisse ist für sie an nur einem Ort nicht möglich. Deshalb pendelt sie zwischen Serbien, Griechenland und Deutschland. Da das europäische Mobilitätsregime ihr keine legale innereuropäische Mobilität als Arbeitsmigrantin ermöglicht, muss sie ihre offizielle Mobilitätskategorie bei jedem Grenzübertritt wechseln. Wenn sie nach Griechenland kommt, ist sie eine Arbeitsmigrantin mit beschränkten Arbeits- und Aufenthaltsmöglichkeiten. Wenn sie nach Deutschland kommt, wird sie zur „Touristin“, die illegal arbeitet. Ähnlich transnational gestaltet sich der Arbeits- und Lebensraum Europa auch für Dardan. Dardan ist Albaner, aber in Griechenland hält man ihn meist für einen Griechen. Er spricht fließend Griechisch, außerdem Englisch und Norwegisch und versteht Schwedisch, was ihm bei seiner Arbeit mit TouristInnen häufig zunutze kommt. Dardan jobbt den Sommer über auf Kreta bei einem Wassersportanbieter. Von den meisten TouristInnen wird er nicht als Albaner erkannt. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, lässt er TouristInnen seine Nationalität erraten. Viele sind überrascht, wenn er sie schließlich preisgibt. Manchmal hat er den Eindruck, die TouristInnen würden von ReiseleiterInnen und RezeptionistInnen vor Albanern gewarnt und seien erstaunt, wenn ein so netter Kerl wie er sich dann als Albaner entpuppe. Den Winter über lebt Alban in Norwegen. Er hat vor, dort bald eine Ausbildung zum Polizisten zu beginnen. Dafür sieht er sich aufgrund seiner Tätigkeit im Tourismus auf Kreta bestens vorbereitet. Die vielfältigen Kontakte zu Menschen aus verschiedenen Kulturen, die sein Job auf Kreta mit sich bringe, qualifizierten ihn hervorragend für den polizeilichen Umgang mit den Problemen der multikulturellen Gesellschaft Norwegens, meint er. Er schreibt sich hier in den Multikulturalismus ein, der aus der Perspektive des westeuropäischen Zentrums um Anerkennung und Aufwertung der Differenzen der Anderen bemüht war. Mit der Vorstellung vom friedlichen Nebeneinander der Kulturen in den westeuropäischen Einwanderungsgesell-

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schaften schrieb sie nicht nur ein Konzept homogener Ethnizität fort, sondern etablierte gleichzeitig eine Multikulti-Idylle, die zu Paternalismus neigte und über ökonomische und rechtliche Unterschiede hinwegtäuschte. Die eigene Gesellschaft konnte als multikulturell aufgewertet werden, brauchte dazu aber die monokulturellen Herkunftsgesellschaften der so genannten „GastarbeiterInnen“, die als solche auch touristisch konsumierbar waren. Ironisch daher letztlich das Einschreiben in den multikulturalistischen Diskurs durch den Saisonarbeiter, der als „Albaner“ zu denen gehört, vor denen TouristInnen an Hotelrezeptionen im Süden Europas gewarnt werden, und der aufgrund seiner Erfahrungen mit TouristInnen aus unterschiedlichen Kulturen als Polizist die Probleme der multikulturellen Gesellschaft Norwegens lösen helfen will. Wenn man möchte, kann man in ihm einen „postkolonialen Eulenspiegel“ (Ha 2004, 150) sehen, der den hegemonialen Diskurs durch Persiflage herausfordert.

Schluss Die gegenwärtige Migration aus dem globalen Süden und Osten wird häufig als Herausforderung für den Multikulturalismus oder gar als Bedrohung dargestellt. Die Grenze der „Integrierbarkeit“ hat sich verschoben. Die ehemaligen griechischen „GastarbeiterInnen“ sind als zivilisierte, christliche EuropäerInnen zu Verbündeten in der nationalen Integrationsdebatte und bei der europäischen Identitätskonstruktion geworden. Als Bedrohung werden nun osteuropäische „BilliglohnarbeiterInnen“ und vor allem muslimische MigrantInnen angesehen. Sie bringen nicht nur das multikulturelle Arrangement mit den „GastarbeiterInnen“ in den europäischen Zentren durcheinander, sondern gefährden auch die geschmeidige Konsumierbarkeit von homogener Kultur im Mittelmeerurlaub. Indem sie eine Mobilitätskategorie für sich in Anspruch nehmen, die das Grenzregime für sie nicht vorsieht, erschweren MigrantInnen die Registrierung und Kontrolle ihrer Mobilität durch das Migrationsregime mit seinen Technologien der Sichtbarmachung und Quantifizierung. Sie verweigern Differenzmarkierungen, die eine sichtbare und eindeutige Verbindung zwischen der Person und ihrer Herkunft, ihrem Körper und ihrer Identität herstellen. Man kann sie als TransmigrantInnen oder auch KosmopolitInnen (Pécoud 2000) bezeichnen, da sie mit dem Grenzregime umzugehen wissen und über eine Art „strategische Transkulturalität“ (Pütz 2004, 28) verfügen, die ihnen die Möglichkeit gibt, sich reflexiv in verschiedenen Symbolsystemen zu orientieren und die Unsichtbarkeiten zu nutzen, die der touristische Blick auf den Mittelmeerraum produziert. Es ist nun möglich, diese Strategie als internalisierten Kolonialismus/ Rassismus oder simple Überlebensstrategie zu deuten (vgl. Ha 2004, 148)

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oder aber im Sinne von Mimikry. „Mimikry ist eine Form der strategischen Kriegsführung für Unterlegene, die die Ambivalenz des kolonialen Diskurses zur Alltagslist der Irreführung, Täuschung und Tarnung für sich ausnutzen. Sie ist ein intimes Wissen, das trotz aller systematischen Ausschlüsse von der unvermeidlichen Nähe und Innigkeit mit dem vertrauten Feind in der kolonialen Situation zeugt und sich nun gegen den Kolonialisierer selbst, den Hüter des Wissens und der Rationalität, wendet“, schreibt Kien Nghi Ha (2004, 148) in Anlehnung an Homi K. Bhabha. Übertragen auf das gegenwärtige Migrationsregime nutzen MigrantInnen wie Dardan, Renata und Alban die Unsichtbarkeiten, die das touristische Blickregime produziert, das den aktuellen migrantischen Raum offenbar nicht mehr in den touristischen zu übersetzen weiß und daher absondert, als Spielraum für Mimikry. Die Praxis der Mimikry ist dabei mehr als eine kreative Persiflage hegemonialer Identitätskonzepte. Die kulturellen Differenzmarkierungen, die hierbei imitiert werden, sind nicht einfach nur unschuldige Beschreibungen verschiedener, objektiv beobachtbarer Identitätskategorien, sondern Versuche, die Wirklichkeit entlang dieser Kategorien zu regieren. Insofern MigrantInnen machtvolle Figuren des gegenwärtigen europäischen Mobilitätsregimes wie „echter Grieche“, „Touristin“ oder auch „Asylbewerber“6 durch Mimikry bedienen und sich unter Verdrehung der Perspektive in mehrheitsgesellschaftliche Identitätsdiskurse einschreiben, imitieren sie nicht einfach Identitätszuschreibungen, sondern durchkreuzen migrationspolitisch wirksame Ordnungskategorien und Sichtbarmachungsstrategien.

6 Auch die für das gegenwärtige Migrationsregime kennzeichnende Figur des Asylbewerbers liefert eine Vorlage für Praktiken der Mimikry. So verweisen Sabine Hess und Serhat Karakayalı in diesem Band auf die migrantische Praxis, die eigenen Migrationsgeschichten und -bilder so umzugestalten, dass sie dem „rigiden Authentisirungsdrucks des Asylsystems“ genügen.

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STRATEGIEN DES MAPPINGS Peter Spillmann „At that time there were many blank spaces on the earth, and when I saw one that looked particularly inviting on a map (but they all look that) I would put my finger on it and say, When I grow up I will go there.“1

Im März 2003 erschien der von „Le Monde diplomatique“ herausgegebene „Atlas der Globalisierung“. Er stellt den Versuch dar, das in seiner Vieldeutigkeit nicht mehr fassbare Phänomen der Globalisierung in Form von Karten und Statistiken zu unterschiedlichen Themen, Schauplätzen und Akteuren zur Darstellung zu bringen. Als Begründung für die Notwendigkeit einer neuen Art von Atlas führen die HerausgeberInnen an: „Da die Konturen der Welt sich unablässig wandeln und unsere Kenntnisse über die Veränderungen immer detaillierter werden, brauchen wir von Zeit zu Zeit eine Bestandsaufnahme – der vorliegende Atlas dokumentiert den Status Quo zu Beginn des 21. Jahrhunderts.“ (Ramonet 2003, 5) Der „Atlas der Globalisierung“ ist nur eines von zahlreichen Projekten, die im Umfeld einer künstlerischen und wissenschaftlichen Praxis seit Ende der 1990er Jahren kartografische Verfahren oder Strategien des Mapping benutzen, um spezifische Momente politischer, sozialer und/oder ökonomischer Realitäten festzuhalten und einer kritischen Debatte zugänglich zu machen. Mapping ist mittlerweile eine der wichtigsten künstlerischen Strategien in der zeitgenössischen kritischen Kunstproduktion. Auch das Projekt „MigMap – Governing Migration eine virtuelle Kartografie der Europäischen Migrationspolitik“2, das in Kollaboration zwischen Soziologie, Politologie, Anthropologie, politischem Aktivismus und künstlerischer Praxis im Rahmen von TRANSIT MIGRATION entstanden ist, startete mit dem Anspruch, parallel zu den Forschungsberichten eine Kartierung der Migration in Europa seit 1989 vorzunehmen. Ziel war die Sichtbarmachung der Dynamik und politischen Evidenz der normalerweise in der medialen 1 Josef Conrad: The Heart of Darkness 2 MigMap wurde entwickelt und realisiert von Labor k3000 (Peter Spillmann/ Susanne Perin/Marion von Osten/Michael Vögeli) und den ForscherInnen von TRANSIT MIGRATION (Sabine Hess, Serhat Karakayalı, Efthimia Panagiotidis und Vassilis Tsianos). Das Projekt MigMap wurde von der Kulturstiftung des Bundes/Projekt Migration, von Pro Helvetia, Schweizerische Kulturstiftung und vom Aargauer Kuratorium unterstützt.

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Berichterstattung nicht repräsentierten Autonomie der Migration und das Zugänglichmachen von entsprechenden Informationen über das Internet. Unter www.transitmigration.org/migmap kann man durch die bislang vier realisierten Karten navigieren. MigMap vermittelt ein Bild davon, wie und wo die „Wissensproduktion“ über und durch Migration zur Zeit stattfindet und wer daran teilnimmt und teilhat. Untersucht wird, wie die neuen Formen des suprastaatlichen Regierens, welche im europäischen Migrationsregime beobachtet werden können, ineinandergreifen. Kartografie wird im Projekt MigMap als künstlerisch motivierte Strategie eingesetzte, die nicht territoriale Grenzen (re-)produziert, sondern den sozialen Raum des Grenzregimes sichtbar macht und die Transformation der Nationalstaatlichkeit in eine textuelle und visuelle Erzählung bringt, die auch ein nicht-wissenschaftlich geschultes Publikum ansprechen soll. Was macht Kartografie- und Mappingstrategien als künstlerische, aktivistische und wissenschaftliche Methode im Moment so interessant, welches sind die Zugänge und Möglichkeiten, die sich dadurch auftun, wo ergeben sich mögliche Probleme? Gleich am Anfang seines Essays „The New Nature of Maps“ weist J.B. Harley auf die eigenartige Ambivalenz hin, die Karten eigen ist (Harley 2001). Unter den vielen verschiedenen Arten von Dokumenten, die von Historikern benutzt werden, nehmen Karten neben andern nichttextuellen Quellen wie Zeichnungen, Stichen, Bildern oder Fotografien eine eher untergeordnete Rolle ein. Sie gelten als „slippery“ (Parry 1976). Karten sind offensichtlich schnell ungenau, veraltet und ohne Kenntnisse ihres Entstehungs- und Verwendungskontextes oft unbrauchbar. Da Karten immer eine spezifische Mischung aus visueller und textueller Information darstellen, scheinen im Gegensatz dazu Bilder oder Texte durch ihre mediale Eindeutigkeit „verlässlichere“ Wissensquellen zu sein. Zugleich war und ist die Kunst und später Wissenschaft der Kartografie immer geprägt von der großen Anstrengung, möglichst rationelle und objektive Darstellungen für komplexe und mehrschichtige Informationen zu entwickeln. Das gilt für die Seekarten des 16. Jahrhunderts, die den Seeleuten Anhaltspunkte zur Orientierung und Navigation für den schwankenden Aufenthalt zwischen den Wellen des Ozeans, schemenhaften Landstrichen und den Gestirnen des Himmels boten, genauso wie für die Karten und Tableaus, die der Atlas der Globalisierung für seine durch die komplexen Entwicklungen der Gegenwart verunsicherten Leser bereit hält. Karten sind in einem genau definierten Kontext nützlich und präzise, außerhalb derselben sind sie verwirrend, bestenfalls ästhetisch interessant. Die „Natur der Karte“ ist Text und Kontext zugleich, wie es Harley formuliert. Karten können nicht einfach als Bild betrachtet oder als Text gelesen, sie müssen interpretiert werden. Um Karten lesen zu können, bedarf es

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einer Vielzahl von sozialen und politischen „Grammatiken“. Unter anderem ist die Kartografie Kreuzungspunkt verschiedener Wissenschaften wie z. B. Geographie, Geschichtswissenschaft, Archäologie, Biologie, Klimatologie, Meteorologie, Medizin, Politikwissenschaft, Pädagogik, Demographie, Soziologie und Sprachwissenschaft. Kartografie gehört zweifellos mit zu den wichtigsten „Leittechnologien“ der Neuzeit. Bei der Eroberung neuer Gebiete oder der Erschließung neuer Ressourcen waren Karten ein zentrales strategisches Instrument zur Definition eines Territoriums. Sie dienten zudem der Legitimation von europäischen Besitzansprüchen wie auch der Herstellung und Festschreibung von neuen Grenzen. Das kontinuierliche Nachtragen und Verbessern der Landkarte ist neben dem Zeichnen und Einsammeln von unbekannten Pflanzen und Tierarten ein festes Ritual zur Objektivierung der zugleich beängstigenden wie faszinierenden Erfahrungen, welche die europäischen Expeditionstrupps bei ihrem Vorstoß in die in Europa anhin unbekannten Gebiete der Welt praktizierten. Während der auf dem Papier sich langsam abzeichnende Plan von Küstenlinien, Flussläufen und markanten Erscheinungen in der Landschaft für den Moment vielleicht ein Gefühl der Sicherheit vermittelte, stellte die Karte auf der Ebene des Wissens die Reproduzierbarkeit eines Ortes in der Welt sicher. Zurück von der Reise luden die vielen, zwischen den Linien immer deutlicher Kontur gewinnenden weißen Flecken zu fantastischen Spekulationen über eine exotische Wildnis ein. Die von Karten und Plänen jeweils repräsentierte Übersicht suggeriert die Darstellbarkeit objektiver Zusammenhänge und Planbarkeit. Die Karten ermöglichen die Kontrolle über ein Territorium und liefern – je nach strategischer Absicht – die gewünschten Argumente. Karten sind aber zugleich als kulturelle Repräsentation in die ideologische Besetzung von Territorien verwickelt. Am Beispiel historischer Karten von New England zeigt Harley auf, wie durch systematische Auslassungen und Überschreibungen sämtliche Hinweise auf indigene amerikanische Kultur – etwa Flurnamen, Lager- oder Kultplätze – getilgt und somit die Existenz einer entwickelten Zivilisation vor der Ankunft der Europäer negiert wurde (Harley 2001). Die Techniken des schematischen und statistischen Erfassens von Territorien und Bevölkerung haben konstitutive Bedeutung bei der Errichtung von Staaten und bei der Festschreibung von territorialen Ansprüchen. Die Karten, welche die Souveränität eines Staatsgebiets innerhalb seiner geschlossenen Grenzen anschaulich werden lassen, sind dabei unverzichtbar. Die Formen der europäischen Staaten, die sich mit der Gründung von Nationalstaaten auf der Karte wie ein Puzzle ineinander zu verzahnen beginnen und ihre großen Schatten, die überall auf dem Globus wachsenden und wieder zerfallenden Flecken der Kolonialreiche, stellen bis heute die plausibelste und zugleich anschaulichste Repräsentation jener Einheit von Bevölkerung und Territorium dar, die der Idee von Nation zugrunde liegt.

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Mapping und der Aktivismus der KulturproduzentInnen Karten haben vermutlich gerade wegen ihrer Ambivalenz in Erscheinung und Praxis, zwischen Text und Bild, Technologie und Wissenschaft, als Artefakte immer schon KünstlerInnen fasziniert. Die Annahme aber, dass Kritik- und Handlungsfähigkeit angesichts komplexer gesellschaftlicher Verhältnisse nur erhalten werden kann, wenn man sich eine Art kartografische Übersicht, ein Modell erarbeitet, ist zumindest im Bereich der Kunst neu. Die künstlerischen Mappingstrategien in den 1960er und 1970er Jahren dienten eher dazu, die auf dem Plan der Zeit rational und übersichtlich erscheinende Realität durch individuelle Eintragungen und Überschreibungen zu verwischen. Der Künstler und Architekt Constant3 benutzte in den 1960er Jahren gängige Stadtpläne von Paris, Brüssel und Amsterdam, um seine eigene Vision der Stadt der Zukunft darzustellen. Seine Überarbeitungen von Karten zeigen rhizomartig verästelte Strukturen entlang bestimmter Verkehrsachsen oder Geländestrukturen, wo sich die Stadt in Zukunft verdichten und von mehrschichtigen Nutzungen überlagert wird, während die homogenen Flächen dazwischen an Bedeutung verlieren. Constants Entwurf für eine Stadt des Homo Ludens, New Babylon, organisiert sich entlang von Funktionen, Kontakten und Informationsflüssen und ist nicht mehr an traditionell hierarchischen Strukturen oder am Prinzip von Zentrum und Peripherie ausgerichtet. Die Karten von New Babylon entstanden in einem zur Kartografie inversen Prozess. Die objektive Ordnung der Strukturen wird durch ein subjektives System von Bedeutungen überzeichnet. Die territoriale Integrität, durch die sich Staaten, Bezirke und Städte auf ihren Gebieten gleichsam naturalisiert haben, löst sich in den subjektiven und partikularen Interessen auf, die auf die bestehende Karte projiziert werden. Dem offiziellen Masterplan stellten die Situationisten das Prinzip der Psychogeografie entgegen. In einer Ausgabe der Zeitung der Situationistischen Internationale wurde ein Diagramm abgebildet, das gewissermaßen Anregung und Plan für das von den Situationisten praktizierte derive darstellen könnte. Es ist eine Aufzeichnung aller Wege, die von einer im XVI. Pariser Bezirk wohnenden Studentin innerhalb eines Jahres gegangen wurden.4 Aus dem gleichförmigen Netz von Straßen treten bestimmte Routen hervor. Sie betreffen nur einen kleinen Teil des Stadtgebiets und konzentrieren sich vom Wohnort der Studentin im Wesentlichen auf drei Strecken, die – mit einigen Abstechern in unterschiedliche Richtungen – ein Dreieck bilden. Dieses ganz individuelle Mapping, welches die täglichen Bewegungen durch Stadt und Landschaft erfasst, greift in den 1970er Jahren u.a. die ame3 Mitbegründer der Situationistischen Internationale 4 Der französische Soziologe und Urbanist Paul Henry Chombart de Lauwe veröffentlichte die Grafik 1952 in seiner Untersuchung „Paris und das Pariser Stadtgebiet“ (Paris et l’agglomération parisienne)

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rikanische Künstlerin Morgan O’Hara in ihren „Portraits for the TwentyFirst Century“ auf.5 O’Hara ging von der Idee aus, dass die präzise Aufzeichnung der Reisen, die eine Person im Laufe ihres Lebens macht, zu einem genauso adäquaten Bild dieser Person führen kann, wie z.B. ein fotografisches Porträt. Was das Mapping oder allgemeiner das Aufzeichnen von Bewegungen und Routen ihrer Ansicht nach zu einem dem 21. Jahrhundert angemessenen Verfahren macht, ist der Umstand, dass dabei die Dimension der Zeit mit in die Darstellung einbezogen wird. Mapping erfasst für sie nicht nur die Dimensionen des Raumes, sondern das Verhältnis von Raum in der Zeit, die Bewegung im Raum. In den künstlerischen Arbeiten der 1960er und 1970er ist bereits angelegt, was die aktuellen Strategien des Mappings charakterisiert, von denen MigMap nur eines von vielen weiteren Projekten ist. Mapping als künstlerische Praxis basiert auf einer mehr oder weniger reflektierten Umdeutung der traditionellen Methoden der Kartografie. Ausgangspunkt ist das Wissen um die Lückenhaftigkeit und die Beschränkung von Karten sowie die Kritik am einseitigen Herrschaftswissen, das durch sie repräsentiert wird. Der Anspruch auf eine möglichst detailgetreue objektive Darstellung einer konsistenten Realität wird durch die Schichtung und Verknüpfung mit subjektiven und partikularen Informationen unterwandert. Der Prozess der Recherche und des Sammelns von Daten und Informationen wird zu einem Akt einer bewusst subjektiv wertenden und partikularen Wissensproduktion. Ein aktuelles Beispiel sind die Karten und Diagramme der französischen Künstlergruppe „bureau d’études“. Eine ihrer Karten zeigt z.B. das globale Netzwerk von Medienunternehmen, eine andere versucht das Netzwerk von Gruppen und Initiativen, die in der Anti-Globalisierungsbewegung aktiv wurden, nachzuzeichnen (Bureau d’études).6 Während die Herausgeber des „Atlas der Globalisierung“ mit relativ konventionellen Mitteln der Infografik arbeiten und große Mengen Daten in Schaubilder umsetzten, bilden die Karten von „Bureau d’études“ mit einer Vielzahl von inhaltlichen Verweisen und Zitaten, unterschiedlichen Icons, Logos und Schriftzügen eher ein assoziatives Geflecht von Bedeutungen rund um das untersuchte Thema ab. „Bureau d’études“ formuliert seine eigenen Erwartungen an Karten auf folgende Weise: „Die bildhafte Darstellung aller sozialen Beziehungen auf der Welt, wie sie durch die Informationen, die sie dokumentieren, aufgezeichnet sind, würde im Idealfall eine Karte des globalen sozialen Raums herstellen. So eine Karte, nach den Beziehungen gezeichnet, die den sozialen Raum gestalten, kann uns helfen, unseren Standort festzustellen, zu erkennen, was gera5 Zu Morgan O’Hara siehe auch www.projektmigration.de/kuenstlerliste/ ohara.html 6 http://bureaudetudes.free.fr/

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de passiert und – tatsächlich – zu entscheiden, was wir tun können.“7 Was solche Verfahren auch für das Projekt MigMap als Arbeitsstrategie interessant macht, ist die Möglichkeit, soziale Vernetzungen, die sonst vielleicht nur in einzelnen Momenten der Begegnung manifest werden, dauerhaft sichtbar zu machen und dadurch eine Orientierungshilfe zu bieten. Mapping, das Kartieren sozialer und geografischer Räume bzw. die soziale De- oder Umkodierung des Raums, gehört zu den ureigenen Strategien einer „kritischen Kartografie“ seit den ideologischen Kämpfen um die Winkel- oder Flächentreue geografischer Karten und damit etwa um die Frage, wie groß die Fläche Europas auf einer Karte abgebildet wird (vgl. Monmonier 1996). Die „Gegenstrategien“ kritischer Kartografie verlaufen heute entlang unterschiedlicher Fluchtlinien. Während sich die französische Gruppe „migreurop“ in aufklärerischer Tradition – jedoch nicht repräsentationskritisch – auf Karten bezieht und die klassische Europakarte mit alternativem Wissen bestücken möchte, will das spanische Projekt „indymedia estrecho“ die Blickrichtung der Karten und damit ihre Verwendungsweise entlang des „estrecho“ (der Meerenge zwischen Spanien und Marokko) neu darstellen und umdeuten. So sind die Karten wie Gebrauchsanleitungen der Migration ausgelegt, ähnlich dem „Philo-Atlas“, den jüdische Verbände 1938 herausbrachten, um die jüdische Auswanderung aus Deutschland zu kartieren (vgl. Philo-Atlas 1998). In einer Form von militanter Kartierungspraxis versucht die aktivistische Künstlergruppe „Gruppo de Arte Callejero“ aus Argentinien mit ihren Stadtplänen, auf denen die Adressen von nie zur Rechenschaft gezogenen Massenmördern aus der Zeit der Diktatur markiert sind, gezielt die Bevölkerung einzelner Stadtteile für politische Aktionen zu aktivieren. „Karten erstellen ist eine Aktion der Erkenntnis; es kann eine Wissenserweiterung sein, ein Werkzeug zur Aneignung und Beherrschung, eine Denunziation, ein Plan zur Sabotage, eine Form der Verheimlichung und anderes.“8 Die spanische Gruppe „Precarias a la deriva“ ist durch ihre an der situationistischen Methode des „Umherschweifens“ geschulten Untersuchungspraxis migrantischer und feministischer sozialer Kämpfe bekannt geworden.9 Das Erstellen von sozio-geografischen Karten entspricht hier zugleich der Reorganisierung des sozialen und politischen Raums. In ihren Kartierungsprojekten verbinden die Precarias zugleich die Kartierten miteinander und schaffen einen neuen Kommunikations- und Handlungsraum. In den „sans papiers cartographes“ wird das strategische Potential von Karten und der Anspruch der Sichtbarmachung vom spezifischen Wissen eines Netzwerks von Akteuren auf gelungene Art 7 In: Kurzführer zur Ausstellung „Productions 1-3“, KW-Institute for Contemporary Art, Berlin 2002. Bureau d’etudes: „planet of the abes“ 8 www.exargentina.org/Kongress/Kartographie. Grupo de Arte Callejero: Kartographische Überlegungen I, 21.09.2004. 9 www.sindominio.net/karakola/precarias.htm

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und Weise miteinander verbunden. Die zentrale Achse der Macht von Paris, schematisch als ein Pfeil dargestellt, auf dem sich Monumente des französischen Empire, von Notre Dame über die Pyramide du Louvre und den Arc de Triomphe bis zum Schloss Versailles aneinanderreihen, wird durchkreuzt von den Routen der Demonstrationen der Sans Papier Bewegung und umzingelt von ihren Besetzungen von Kirchen, die auf der interaktiven Karte wahlweise angezeigt werden können.10 Kartografie dient in diesen Beispielen auch dazu, disziplinübergreifend Konturen sichtbar zu machen, Interessens- und Einflusssphären zu bezeichnen, zu vernetzen und einen verlässlichen Kontext für die laufende und zukünftige Arbeit herzustellen. Viele dieser Kartierungen, die im kollaborativen Umfeld zwischen einem ethnografisch-künstlerischem Mapping entstehen (Clifford 1997) und bereits in der Produktionsphase von einer international vernetzten User-Community geprüft werden können, entwickeln und erneuern sich quasi „selbständig“. Diese Chance eines kollaborativen, kommunikativen Forschungsund Entwicklungsumfeldes, das sich innerhalb und außerhalb der Neuen Medien generieren und erweitern lässt, sollte auch im Fall von MigMap erforscht, erprobt und genutzt werden, um eine dynamische Form der Visualisierung von Inhalten und deren Verknüpfungen bis hin zur internationalen Vermittlung zu garantieren. Die Konjunktur von Karten im aktivistischen, kulturellen und kulturwissenschaftlichen Umfeld muss aber auch parallel zur Konjunktur von elektronischen Mappingsystemen und Navigationstools im Internet gesehen werden, wo die Neuorganisation des Zugangs zu Information und die Neukontextualisierung von Wissen mit Hilfe der neuen Technologien am augenfälligsten wird. Symbolisch zumindest bemerkenswert ist in unserem Zusammenhang der von Google kürzlich lancierte Dienst Google Earth.11 Der Globus, wenn auch in seiner dynamischen, elektronischen Variante steht wieder dort, wo er immer stand, am Eingang zur Bibliothek, auf dem Schreibtisch des Bildungsbürgers. An den historisch zementierten asymmetrischen Verhältnissen, welche sich in einer Vielzahl von kartografischen Normen niedergeschlagen haben, rührt auch die virtuelle Perspektive und die Möglichkeit zwischen Karten und Satellitenbildern hin und her zu switchen nicht. Im Gegenteil wird die Differenz zwischen „Zentrum“ und „Peripherie“ durch die Verfügbarkeit von hochauflösenden Satellitenbildern und detailliertem Kartenmaterial von Europa und USA und fast vollständig fehlenden Daten über Afrika nur ein weiteres mal reproduziert. Die „neue Macht“ der Karten im Internet basiert auf den vereinfachten technischen Möglichkeiten, elektronische geografische Daten (GIS, Geografic Information System) mit beliebigen statistischen Daten zu kombinieren. Während die Projektion von statistischen Daten, etwa Daten zu 10 www.namediffusion.net/indexancien.htm 11 http://earth.google.com/

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Bevölkerungsentwicklung und Einkommensverhältnissen, auf bestimmte Territorien – Staaten, Bezirke, Gemeinden oder Stadtteile – immer schon den unheimlichen Effekt zeigte, durch die räumliche Verortung aus flüchtigen und punktuellen Erhebungen faktische Verhältnisse zu produzieren, bieten die neuen, datenbank- und netzwerkgestützen Technologien nun die Möglichkeit, täglich – gleichsam live – zu verfolgen, wie sich z.B. das BIP einer bestimmten Nachbarschaft verändert. Der elektronische Stadtplan kann im Prinzip alles gleichzeitig leisten, er zeigt den Weg, gibt Einkaufstipps, informiert über „Sitten“ und „Bräuche“ der Bewohner und warnt, wenn ein Gebiet betreten wird, welches ein deutlich unterdurchschnittliches Prokopfeinkommen aufweist. Die Frage, was es bedeutet und ob es überhaupt sinnvoll ist, wenn bestimmte Informationen an Orten festgemacht oder Daten auf Gebiete umgelegt werden, tritt in den Hintergrund. Auf der Website von Chicago Crime kann jederzeit nachgesehen werden, wo in den letzten 24 Stunden ein Verbrechen stattgefunden hat. Kleine Fähnchen markieren den Ort, wo laut Polizeiprotokoll der Diebstahl, der Überfall, ein Mord oder eine Vergewaltigung passiert sind. In maximaler Zoomauflösung kann nun jeder und jede InternetnutzerIn verfolgen, wie sich die leeren Strassen Chicagos langsam aber sicher mit den bunten Fähnchen des Verbrechens füllen.12 Das kritische Potential von Strategien, Informationen allen zugänglich zu machen, liegt demnach nicht im bloßen Zugang (Access) oder in der Distribution von Wissen, vielmehr im Versuch, neue und verbindliche Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Akteuren und Wissenskulturen herzustellen und diese auch auf der Ebene der Repräsentation wirksam zur Darstellung zu bringen. Analog zu den frühen Karten aus der Zeit der Entdeckung der Kontinente produzieren auch die von der Idee der Gegeninformation motivierten Projekte ihre eigenen weißen Flecken. Das aufwändig gestaltete Netz der AntiglobalisierungsInitiativen auf der Karte von „bureau d’étude“ etwa tendiert dazu, das Netzwerk als letztlich undurchschaubares Insiderverhältnis darzustellen. Dabei dient die Karte weniger als Orientierungshilfe oder Anleitung, um sich selber zu vernetzen, sondern wird vielmehr zum Abbild und Symbol der Kompetenz ihrer Verfasser. Es stellt sich die Frage, ob hier die strategische Überlegenheit, die jene innehaben, die ihre Karten (selber) zeichnen können, nun ironisch gewendet oder doch vorwiegend ernst gemeint ist. Das Wissen, das Karten (aber auch Piktogramme, Diagramme und Infografiken) repräsentieren sollen, das sie aber auch auf spezifische Weise „zuschneiden“, ist keineswegs außerhalb von Machtbeziehungen zu platzieren. 12 www.chicagocrime.org

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MigMap: Translate it Im Zusammenhang mit dem Projekt MigMap war es von besonderem Interesse, einen kritischen Blick auf diese verschiedenen Zugänge und dabei gerade auf jene Karten zu werfen, die Migration oder Aspekte davon darzustellen versuchen. Karten, ihre Legenden und Piktogramme stellen ein in den Sozialwissenschaften verbreitetes Medium zur Darstellung und Repräsentation sozialer Verhältnisse dar. Diagramme und Karten, die von wissenschaftlichen Einrichtungen angefertigt werden, finden darüber hinaus häufig unmittelbar Verwendung, etwa in Lehrmaterial und Massenmedien; nicht zuletzt dadurch erhalten sie eine unmittelbar politische Dimension. In der täglichen Berichterstattung spielen Karten und kartenartige Infografiken im Zusammenhang mit dem Thema Migration eine zentrale Rolle. Die bunten und eingängigen Infografiken dienen dazu, Artikel in den Feuilletons und Magazinen aufzulockern und werden in den Fernsehnachrichten gerne hinter dem Sprecher eingeblendet. Oft ist auf solchen Diagrammen das gleiche zu sehen: eine politische Karte Europas mit einigen angrenzenden Regionen, hervorgehobene Herkunfts- und Zielländer sowie geschwungene, mehr oder weniger kräftig ausgezeichnete Pfeile, die den direkten Weg vom Osten und Süden ins Zentrum weisen. Numerisch differenziert wird die pauschale Repräsentation eines von Migrationsströmen „ins Visier genommenen“ Kerneuropa allenfalls durch Kuchen- oder Balkendiagramme mit Ranglisten der wichtigsten Einwanderungs- und Auswanderungsländer. Im „Atlas der Globalisierung“, der dem Thema Migration auch eine Doppelseite widmet, wird das klassische Pfeildiagramm zu einer Weltkarte erweitert, wo die Ein- und Auswanderungsströme im globalen Maßstab sichtbar werden. In dieser Repräsentation wird zumindest anschaulich, dass Europa nicht alleiniges Ziel von Zuwanderung ist, dass außer Europa mindestens zwei weitere Regionen „von Pfeilen bedrängt“ werden, Saudi-Arabien und die USA. Das Bild der in Form von dicken Pfeilen gegen Europa vorrückenden Massen taucht als stereotypes Motiv in jedem Schulbuch auf, etwa wenn die Völkerwanderung der Hunnen dargestellt wird. Auf vielen Karten werden mit Hilfe von Kuchendiagrammen die Anteile von MigrantInnen aus unterschiedlichen Herkunftsländern dargestellt. Die im Vergleich zur Fläche des Landes riesigen Tortendiagramme schweben wie eine feindliche Raumschiffflotte über dem Kontinent. Die graubraunen Kugeln, die in einer weiteren Karte des Atlas der Globalisierung die Auslandschinesen zu Beginn der 1990er Jahren repräsentieren sollen, wuchern wie Pilze überall auf dem Globus. Die Darstellungen, in denen eindimensionale Bezüge zwischen Ländern hergestellt werden und Territorien als homogene Flächen in Erscheinung treten, sind im Wesentlichen das Ergebnis einer am Nationalstaat orientierten Datenerhebung. Der Prozess der Produktion des Migrations163

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wissens ist offenbar verbunden mit der Auffassung von Nationen als scheinbar beständigen und homogenen Bevölkerungsgruppen, deren Kohärenz durch Migrationen beeinträchtigt zu werden scheint. Die Kopplung des Wissens an Machtapparate findet auch ihren Ausdruck in den epistemologischen Strukturen der Migrationsforschung, die neuerdings als „methodologischer Nationalismus“ kritisiert wird. Der Stellenwert und die Funktion von Datenerhebung hat sich mit der Krise der souveränen Staatlichkeit zwar verändert. Geblieben aber ist, dass Zählung und Erfassung bis heute zentrale Praktiken der Grenze sind und die Erfassung von Migrationen deren Steuerung dient. MigMap will im Gegensatz zu gängigen Kartierungsverfahren in der Migrationsforschung ein Bild davon vermitteln, wie und wo die „Wissensproduktion“ über und durch Migration zur Zeit stattfindet, wer daran partizipiert und wie die neuen Formen des suprastaatlichen Regierens im europäischen Migrationsregime funktionieren: wie z.B. die Implementierung europäischer Standards in Politik und Zivilgesellschaft abläuft, welche Stellen, Personen und Institutionen daran beteiligt sind, wie die verschiedenen öffentlichen oder privaten Akteure zusammenhängen und finanziert sind, welche inhaltlichen, räumlichen und personellen Überschneidungen oder Abgrenzungen bestehen, wie Zuständigkeiten verteilt und legitimiert werden und auf welchen Theorien, Begriffen oder Diskursen die momentan gültigen Paradigmen basieren. Die Karten haben also weniger den Zweck, Gegeninformation über die Migration zugänglich zu machen als vielmehr Akteure und Strukturen auf der Seite des Regimes darzustellen, auf ihre Funktion hinzuweisen und sie damit kritisier- und verhandelbar zu machen. In den letzten Jahren hat sich in Europa ein neues Grenz- und Migrationsregime herausgebildet, anhand dessen sich neue, z.T. suprastaatliche Formen des Regierens erkennen und darstellen lassen. Dazu gehören z.B. nur noch teilweise oder überhaupt nicht mehr staatlich kontrollierte Organisationen, die im Auftrag der Staatengemeinschaft das Management einzelner gesellschaftlicher Bereiche übernehmen, wie die IOM (International Organization for Migration), oder neue Formen der Wissensproduktion und des Wissensmanagements mittels Datenvernetzung, wie sie z.B. im SIS (Schengen Information System) praktiziert werden. Neben offensichtlichen Akteuren wie IOM, UNHCR oder EU, spielen viele kleinere, halböffentliche oder private NGOs, zahlreiche migrantische Initiativen aber auch einzelne Personen und Forschungsinstitute eine Rolle. Die komplexe Wirklichkeit des aktuellen Grenzregimes lässt sich nicht mehr länger einfach „abbilden“, vielmehr nur assoziativ, entlang scheinbar unverbundener Teilaspekte imaginieren. Die Migrationsrealitäten zu Beginn des 21.Jahrhundert sollen nicht verobjektiviert werden, wie es bestehende Karten meist tun, sondern das Projekt MigMap will ein dynamisches Kräftefeld zur Darstellung bringen, indem die Wechselwirkungen zwischen AkteurInnen und Diskurs, zwischen

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staatlichen Politiken und Migration, zwischen Subversion und Kontrolle vorstellbar gemacht werden. Über die vier bisher erarbeiteten Karten „Akteure“, „Diskurse“, „Europäisierung“ und „Orte und Praktiken“ sind zahlreiche Informationen zu einzelnen Akteuren, Debatten, Prozessen und Ereignissen abrufbar, die in ihrem Zusammenspiel das ergeben, was momentan die Europäische Migrationspolitik ist. Die Möglichkeit der Verknüpfung von Übersicht mit Informationen zu einzelnen Details ist auch einer der zentralen Gründe, wieso das Projekt für das Internet konzipiert wurde. Ein anderer ist die Option, die Karten bei Bedarf laufend anpassen, nachtragen und mit weiteren z.B. interaktiven Funktionen versehen zu können. Je nach Bedürfnis punktuell abrufbare und kontinuierlich veränderbare Repräsentation, die MigMap darstellt, wird dem Anspruch einer nicht verobjektivierenden Darstellung sicher besser gerecht als z.B. eine gedruckte Karte oder Publikation. MigMap repräsentiert Akteure, Strukturen und Praktiken des Migrationsregimes auf der Basis der These von der „Autonomie der Migration“. (Vgl. den Beitrag von Manuela Bojadžijev und Serhat Karakayalı in diesem Band.) Aus dieser Perspektive ist es möglich, die aktuellen Verhältnisse nicht als feste Strukturen, sondern als einen Prozess der Aushandlung, des kontinuierlichen Austestens und – auch auf der Ebene der Politik – der Improvisation zu begreifen. Auf Karte 1, der Karte der Akteure des Migrationsregimes, sind die unterschiedlichen Akteure der Grenze und der Autonomie der Migration eingetragen. Schriftgröße und Farbe geben Bedeutung und Art der jeweiligen Institutionen oder Organisationen an. Es wird dabei vor allem sichtbar, wie viele unterschiedliche Akteure neben den staatlichen Organen beteiligt sind. Angaben zur Funktion und zum Eigenverständnis der einzelnen Akteure sowie Links zu ihren Selbstdarstellungen und Mission Statements auf dem Internet vermitteln einen Einblick in die oft unscharf abgegrenzten Aufgabenbereiche, vielschichtigen Überlagerungen der Zuständigkeiten und teilweise Interessenskonflikte, welche die Summe der Akteure zu einem undurchschaubaren Filz von Aktionismus werden lässt. Karte 2, die Karte der Diskurse zeigt das Migrationsregime als Wissensregime. Hier laufen Themenfelder ineinander, verdrängen oder schließen einander gegenseitig ein. Dabei handelt es sich um die wichtigsten Diskurse, anhand deren Migrationspolitik gemacht wird bzw. mit denen zum Zweck der Durchsetzung bestimmter Politiken argumentiert wird: Menschenrechte, Sicherheit, Asylrecht, Trafficking, war on terrorism und weitere. Einzelne Punkte an den Berührungsstellen der Felder lassen erkennen, welche migrantischen „Subjekte“ hier jeweils konstruiert werden: GastarbeiterInnen, illegale Migranten, Schlepper, Opfer, Wirtschaftsflüchtlinge, politisch Verfolgte. Die Kämpfe der Migration und ihre Kampagnen produ-

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zieren im Feld der Diskurse weiße Flecken der Gegenöffentlichkeit, während die Begrifflichkeiten rund um das ökonomistische Konzept des Migrationsmanagement auf der Karte neoliberale Plattformen bilden. Die Karte zeigt, dass die Diskurse niemandem „gehören“, sondern die Praktiken und Argumentationen verschiedenster Akteure durchkreuzen, sich damit gegenseitig verstärken können, aber auch dazu führen können, dass vorübergehend ein Terrain entsteht, das von bestimmten Kräften beansprucht und verteidigt wird. Karte 3 zur Europäisierung als dezentrale Dynamik der Migrationspolitik stellt die Informierung und Implementierung transnationaler politischer Regulierungen dar. Dazu gehören formelle und informelle Beratungsgespräche, Treffen und Konferenzen und eine Vielzahl von Strategie- und Konzeptpapieren, die laufend präsentiert und wieder schubladisiert werden. Der „Schengen-Prozess“ oder die Debatte um die „Drittstaatenregelung“ sind hierfür paradigmatisch. Bestimmte Ideen tauchen auf, werden eine Zeitlang weiterverfolgt, bis die Debatte aufgrund neuer Ideen oder aus tagespolitischem Anlass eine jähe Wendung nimmt. Verschiedene parallel verlaufende Prozesse der Europäisierung haben temporär Konjunktur, überkreuzen sich und verlieren zuweilen zu Gunsten eines andern Prozesses an Bedeutung. Die laufende Entwicklung lässt sich durch eine einfache Chronologie der Ereignisse nicht mehr erfassen. Die Karte der Europäisierung hebt deshalb in einer an einen U-Bahn-Plan erinnernden Darstellung einzelne Verbindungen hervor; neue könnten jederzeit dazu kommen, falls sich in Zukunft herausstellen sollte, dass eine Abfolge von bestimmten Ereignissen und Ideen im Nachhinein gesehen zu einer relevanten Änderung oder Neuausrichtung der Migrationspolitik geführt hat. Die Karte 4 zu den Praktiken des Grenzregimes verzeichnet die Orte, an denen die Grenze gerade nicht territorial produziert wird: (Flug-)Häfen, Lager, Krankenhäuser, Beratungsstellen, der öffentliche Raum, die eigene Wohnung etc. Anhand von Skalen wird die Bedeutung verschiedener Praktiken der Kontrolle, Regulierung oder ihrer subversiven Unterwanderung ermessen. Die Vektoren von Erfassung, Kontrolle oder Repräsentation sind je nach „Ort“ unterschiedlich stark gewichtet sind ermöglichen damit verschiedene Handlungsmuster der Migration, in denen wiederum die zur Kontrolle eingesetzten Instrumente durchaus zu Ressourcen ihrer Umgehung werden können. Objektive Kriterien spielen dabei kaum eine Rolle, erfassbar oder besser spürbar kann die „Qualität“ der unterschiedlichen Orte der Grenze nur durch ein kontinuierliches Sammeln von individuellen Erlebnisberichten und Anekdoten gemacht werden. Einige dieser Geschichten sind auf der Karte stellvertretend für alle andern abrufbar. Viele weitere können dazukommen. Der Eindruck einer punktuellen Ein- oder Übersicht, der sich mit Hilfe der MigMaps vorübergehend einstellen kann, soll weniger dazu dienen, ein

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objektives Bild der neuen Regierungsformen zu vermitteln, als vielmehr darauf verweisen, wie unsicher, schwankend und unzuverlässig das Terrain der Macht geworden ist und dass diese Unschärfe selbst mit der ständigen Bewegung zu tun hat, in die die Migration die Apparate ihrer Kontrolle zu versetzen imstande ist. Die erhobenen Daten und das existierende Kartenwerk über Migration wird zwar von offizieller Seite als umfassend dargestellt, erweist sich aber selbst für die Praxis der Macht als untauglich und widersprüchlich. Etwa, wenn sich die Argumentation von Kommissions- und Regierungsberichten, die z.B. Schwachstellen der Überwachung aufzeigen sollen, genauso auf Karten stützen, wie die Selbstdarstellungen von Küstenwache und Grenzschutz, die versuchen, damit die Effizienz ihres Verteidigungsdispositivs anschaulich zu machen. Jenseits der zum Zweck der bloßen Repräsentation erstellten Karten wird zur Zeit in unzähligen Amtsstuben und Besprechungszimmern von Aufnahme- und Beratungsstellen überall in Europa verzweifelt versucht, eine einigermaßen verlässliche Karte aktueller Routen und Passagen zu zeichnen, um dem Rätsel der Ankunft (vgl. Bojadžijev et al. 2003) auf die Schliche zu kommen. Diese Karte, zusammengesetzt aus vagen Skizzen mit vielen unvollständigen und fehlerhaften Angaben zu Orten und Personen sowie einer Chronologie von Ereignissen, die keinen Sinn ergibt, können wir nur imaginieren. Wir werden sie in absehbarer Zeit kaum je zu Gesicht bekommen, weil sich darauf bloß die Konturen des Scheiterns des aktuellen Grenzregimes abzeichnen würden. Die Unschärfe dieser aktuellen Karten ist vor allem eine Unschärfe aus der Perspektive derer, die zum Regieren abgrenzbare und definierte Größen (z.B. Statistik) und transparente Verhältnisse benötigen. Umgekehrt ergibt es aus der Perspektive der Autonomie der Migration auch keinen Sinn, den MigrantInnen bzw. der Bewegung der Migration ihre eigenen Routen, Tricks und Wege aufzuschlüsseln. Der Seite der Subalternen bloß Wissen zur Verfügung zu stellen über die Apparate und Techniken der Macht, ist zwar wichtig, aber reicht unserer Ansicht nach als Verfahren der Dekonstruktion der herrschenden Verhältnisse nicht aus. Benötigt werden Kartierungen, die das ganze Ensemble der Migrationsverhältnisse, Regierungsformen, Praktiken der Migration und die Diskurse, innerhalb deren die Konflikte um Migration verhandelt werden, zur Darstellung bringen. MigMap ist deshalb mehr als eine bloße Umkehrung von traditionellen Migrationskarten und auch nicht bloß eine Kartografie der Macht in der (kritischen) Tradition der Gegenöffentlichkeit. Sie soll vielmehr genau diesen Widerspruch reflektieren, der der Migration eine adäquate Repräsentationsstruktur verbaut. Dazu müssen die Episteme, die in jeder Karte zur Wirkung, kommen, selbst sichtbar gemacht werden und die weißen Flecken, die sich bei jedem Versuch einer Kartierung notgedrungen bilden werden, haben zum Glück bis heute nichts von ihrer magischen Anziehungskraft verloren.

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EINE BEWEGUNG DER ZUKUNFT. DIE BEDEUTUNG DES BLICKREGIMES DER MIGRATION FÜR DIE PRODUKTION DER AUSSTELLUNG PROJEKT MIGRATION1 Marion von Osten

Der Film Passagen der Wiener Filmemacherin Lisl Ponger, der neben anderen künstlerischen Arbeiten in der Ausstellung Projekt Migration zu sehen war, verknüpft zwei ansonsten unverbundene Narrative: Super-8-Filmaufnahmen von touristischen Reisen und Erinnerungserzählungen von Personen, die im 20. Jahrhundert ausgewandert sind. Die Filmaufnahmen sprechen die Sprache des Exotischen, wie sie für den touristischen Blick typisch ist. Es sind Momentaufnahmen der Reise, Häfen, Schiffe, Wellen, das Meer sowie fremde Orte, Menschen und Tiere, die absichtlich oder unabsichtlich vor das Kameraobjektiv geraten sind. Bilder, die als Beweis für die unternommene Fernreise Freunden und Verwandten mit nach Hause gebracht werden. Diese Amateurbilder „füttern“ nach Christian Kravagna ebenso wie die Bilder der Tourismuswerbung und andere Formen von Reiseberichterstattung „das kollektive Imaginäre eines heimatlichen Publikums mit Anschauungsmaterial für Alterität“. Reisebilder sind nach Kravagna „eine besondere und zugleich paradigmatische Kategorie jener Bilder, die Konzepte von Identität und Differenz festigen oder untergraben“ (Kravagna 2003). Touristische Erinnerungsbilder transportieren nicht nur die Sehnsucht 1 Die Ausstellung zum Projekt Migration war vom 1.10.2005 bis zum 15.1.2006 an vier benachbarten Standorten in Köln zu sehen: im Kölnischen Kunstverein, am Hahnentor, am Rudolfplatz und am Friesenplatz, sowie im öffentlichen Raum. Die Ausstellungskonzeption wurde im Kuratorium des Projekts Migration (Aytaç Eryılmaz, Martin Rapp, Kathrin Rhomberg, Regina Römhild, Marion von Osten) und in Zusammenarbeit mit den wissenschaftlichen Teams des Projektes entwickelt. Gemeinsam mit dem Architekten Adolf Krischanitz und den KünstlerInnen Julie Ault und Martin Beck wurde die Ausstellung von Kathrin Rhomberg und Marion von Osten in Zusammenarbeit mit dem Team des Kölnischen Kunstvereins gestaltet und realisiert. Das Projekt Migration (2002-2006) war eine Initiativprojekt der Kulturstiftung des Bundes und umfasste Forschungsarbeiten, künstlerische und filmische Produktionen, zwei internationale Symposien, Film-, Musik, und Diskussionsveranstaltungen, sowie die Publikation Projekt Migration und nachfolgende wissenschaftliche Publikationen, wie die hier vorliegende. Siehe: www.projektmigration.de

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nach Ferne und nach dem nächsten Urlaub, sondern tragen auch Hierarchien und Privilegien der Reise vom Norden in den Süden in sich. Gleichzeitig eröffnen sie einen Kontingenzraum, auf den Lisl Pongers filmische Arbeit Passagen deutet. Die Sichtbarkeit und Popularität des touristischen Bildes verweist auf die Unsichtbarkeit unzähliger anderer Reisebilder, die nicht im Blickregime des Reisens bzw. der Reisenden enthalten sind. Diese impliziten Abwesenheiten thematisiert die zweite narrative Ebene, die Tonspur, die wie die Bildebene aus Momentaufnahmen montiert ist. Es sind Versatzstücke von Erzählungen einer anderen Reiseerfahrung, die der illegalen Grenzüberquerung, der Migration. Die nicht synchron angelegte Ebene von Bild und Text stellt in Passagen Verknüpfungen zwischen akustischem und visuellem Material her, die dem Zufall zu gehorchen scheinen. Städte, die in den Erzählungen erwähnt werden – Casablanca, Shanghai oder New York – geben der BetrachterIn das Gefühl, es gäbe dennoch eine Beziehung zwischen dem Filmbild und der Erinnerungsarbeit der ErzählerInnen, da die genannten Orte nicht nur begehrte Reiseziele, sondern auch Orte des Exils im 20. Jahrhundert darstellen. Der Satz eines Mannes mit Wiener Akzent: „In Nauders, müsste es möglich sein“, verweist so auch auf den geografischen Zusammenhang, der zwischen touristischen Orten und der Grenzüberquerung bestehen kann: Nauders liegt im Dreiländereck Schweiz, Italien und Österreich. Die touristische Region war im Nationalsozialismus für politisch Verfolgte, Juden, Homosexuelle und Roma eine wichtige Passage in die Schweiz und könnte auch heute eine wichtige Route klandestiner Migration sein. Die Erinnerungsgeschichten werden in Lisl Pongers Film von Personen erzählt, die vor dem Nationalsozialismus flüchteten, wie auch von Menschen aus anderen Regionen und historischen Kontexten, die etwa von der Grenzüberquerung auf Booten im Kongogebiet, der Migration aus Südamerika oder der Balkanregion berichten. Grund der Migrations-Reise und Subjektstatus der Erzählenden werden dabei nicht offen gelegt. Die Differenz zwischen diesen nur akustisch repräsentierten Erinnerungsbildern und den exotischen Sehnsuchtsbildern der Super-8-Filme lässt deutlich werden, wessen und welche Bilder das okzidentale Bildgedächtnis dominieren, und verknüpft zudem zwei zentrale Mobilitätsformen der Moderne (vgl. Holert/Terkessidis 2005). Die Montagetechnik legt aber nicht nur eine Kritik an der privilegierten Stellung der einen Mobilität gegenüber der anderen nahe, sondern die strukturelle Anlage der filmischen Arbeit stellt ein imaginäres Bezugssystem her, in dem TouristIn und MigrantIn sich hypothetisch auf ihren Routen begegnen können. Die Referenzsysteme Reise/Flucht/Migration werden so von ihrer Evidenz und scheinbaren Naturhaftigkeit befreit. So geöffnet verweisen die Erzählungen zurück auf ihren jeweiligen normativen Charakter und ihre impliziten Sicht- und Unsichtbarkeiten. TouristIn und MigrantIn werden andererseits zu einer neuen Erzählfigur post-nationaler Herkunft, deren Hei-

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matgeschichten sich im Unterwegssein im Transit, in der Passage, zu verlieren scheinen.2 In der Migration der Nachkriegszeit in Europa ist die Reise, das Unterwegssein als zentrale Erfahrung zwangsläufig eingeschrieben, aber kaum als ein ebensolches „Reisebild“ oder als Geschichte vorhanden. Die Migrationsreise existiert weder als Transformation, also eine Art Passage, als Möglichkeit „einE AndereR zu werden“, noch als ein Zustand des DazwischenSeins, oder als Cliffordsche Kontaktzone (vgl. Clifford 1997, zum Begriff des „Werdens“ vgl. Deleuze/Guattari 1997). Wir finden das Reisebild der Migration jedenfalls sicher nicht in der Form eines romantischen Fernwehs oder Abenteuers wieder, wie wir es vom touristischen Erinnerungsbild kennen, oder vermittelt durch die koloniale Südreise und ihren ethnologischen wie populären Erzählformen. Die migrantische Nordreise bleibt als „Reisebild“ vorerst selten anzutreffen. In offiziellen Film- und Fotoarchiven, Publikationen und Ausstellungen sind seit den 1950er Jahren in Deutschland aus der Zeit der Anwerbung von ArbeiterInnen aus dem Mittelmeerraum vor allem Ankunfts- und Abreisebilder zu finden. Zentral ist dabei das „Bahnhofs-Bild“ von Männern, die aus dem Fenster eines Zuges schauen, winkend, gedrängt, meist dunkelhaarig mit Schnurrbart und Koffern in der Nähe, oder als Wartende an einem Bahnhof.3 Wenn sie in den ersten deutschen Fernsehberichten der 1960er Jahre als Männer gezeigt werden, die in Zügen nach Deutschland fahren, dann stets mit der Over-Voice eines deutschen Kommentators. Sie selbst bleiben den Film über stumm. Diese Bilder der Zugreise eröffnen keine Imagination – wie etwa auf den Topos der Befreiung aus kleinbürgerlichen Verhältnissen –, vielmehr werden die reisenden Männer vor allem als verunsicherte, wandernde Arbeiter aus süditalienischen Dörfern porträtiert (später dann aus türkischen oder kurdischen), die in Richtung der grauen Schlote ziehen. Während die Touristen zur selben Zeit in Scharen an weiße Strände 2 In den Kollaborationen zwischen Forschung-, Film-, und Soundproduktionen entstand in Rahmen von TRANSIT MIGRATION der Film „Hotel Almanya“ von Ebru Karaca in Zusammenarbeit mit Sabine Hess und Serhat Karakayalı (siehe dazu deren Beitrag in diesem Band) und speziell für die Ausstellung die Soundarbeit „Grenze“, aus Interviewmaterial der Forschung bearbeitet und zusammengestellt von Regina Römhild und Michael Thies, die u.a. auf der einliegenden DVD zu hören ist. Beide Projekte verweisen genau auf diesen aktuellen Zusammenhang raum-zeitlicher Überschneidungen zwischen touristischen und migrantischen Reisen und deren geteilte infrastrukturellen Bedingungen. 3 Das Erinnerungsbild dieser allein stehenden Männer, die den öffentlichen Raum für sich in Anspruch nahmen, verweist auch auf die Angstfigur des „Südländers“ als sexuelle Bedrohung bzw. Versprechen für die „Nordländer“. Auch heute noch ist die abweichende Maskulinität des Migranten immerwährender Gegenstand von Auseinandersetzungen in den Medien.

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in den Urlaub pilgern, von denen die Migranten gerade abreisen, werden ihre Herkunftsorte im Mittelmeerraum nicht in bunten Werbebroschüren und Ansichtskarten, sondern als Dorfgemeinschaften in der Manier des NeoRealismus ins filmische oder fotografische Reportagebild gesetzt: Die Orte sind leer, verfallen, verarmt und überaltert. Eine Frauenstimme illustriert oftmals den Grundtenor dieses Klagelieds: Sie müssen gehen in eine ungewisse Ferne. Von Ferienstimmung, wie sie Reiseprospekte derselben Zeit vermitteln, ist in den mediterranen Herkunftsorten der MigrantInnen nichts zu spüren, ja und auch der Glamour bekannter südeuropäischer Metropolen schiebt sich nicht in das Bild der Abreise nach Norden, obwohl die deutschen Anwerbebüros der Nachkriegszeit in Großstädten lagen und die wandernde Arbeiterschaft sich durchaus auch aus diesen Städten rekrutierte. Einerseits sprechen die Bilder dieser frühen Phase der Arbeitsmigration die neoklassische Sprache eines Arbeitsmarkts von Angebot und Nachfrage. Eben so, wie es sich auch die Anwerbebürokraten erdacht hatten: Die, die keine Arbeit haben, gehen dorthin, wo es Arbeit gibt. Wir holen immer genau so viele, wie wir brauchen. Und schicken sie weg, wenn wir sie nicht mehr brauchen. Man glaubte in Deutschland – in BRD wie DDR – zwanghaft daran, dass man mit der Einführung des Rotationsprinzips die Bewegungen der Migration präzise kontrollieren und steuern könne, damit die mediterrane, afrikanische und asiatische Arbeiterschaft nicht sesshaft würde. Man glaubte daran, dass sie angesichts temporärer Arbeitserlaubnis, der Unterbringung in Arbeitsbaracken und eingeschränkten politischen Rechten nicht auf die Idee kämen, in Almanya bleiben zu wollen.4 Ein Vorhaben, das der westdeutschen Bundesregierung jedenfalls gänzlich misslang5, denn die Migration bahnte sich ihre eigenen Wege. Menschen kamen nach Deutsch4 Die Bautypen Baracke, Wohnheim und Lager werden bis heute zur Regulation und Kontrolle von Migration eingesetzt. Auffang- und Abschiebelager sind das Symbol der aktuellen Abschottungspolitik der „Festung Europa“ – und zugleich Orte des fortwährenden Widerstands der Migration und ihrer grenzüberschreitenden Bewegungen. 5 Während das Rotationsprinzip in der BRD aus wirtschaftspolitischen Gründen nach wenigen Jahren aufgegeben wurde, blieb es die Maxime der Ausländerpolitik der DDR. Der Aufenthalt war auf höchstens fünf Jahre begrenzt. Der Familiennachzug war ausgeschlossen. Das Leben der Vertragsarbeiter war streng geregelt und die Staatssicherheit für ihre Überwachung zuständig. Das Ausländergesetz von 1979 stellte Migrantinnen und Migranten zwar im Prinzip den DDR-Bürgern gleich, ihr Aufenthalt konnte allerdings jederzeit ohne Begründung zeitlich und örtlich beschränkt, versagt, entzogen oder für nichtig erklärt werden. Nach dem Fall der Mauer verloren die meisten VertragsarbeiterInnen ihren Arbeitsplatz. Viele wurden unverzüglich von ihren Regierungen zurückgeholt oder aus der DDR abgeschoben. Die übrigen mussten jahrelang um einen gesicherten Aufenthalt in Deutschland kämpfen.

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land und blieben länger als vorgesehen, teils weil die Industriebetriebe daran interessiert waren, teils weil sie ein besseres Leben mit neuen Freunden begonnen hatten. Manche kehrten sofort nach der Ankunft zurück, weil ihnen die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen in Almanya nicht passten. Andere kamen ein zweites oder drittes Mal wieder, holten ihre Familien nach, bekamen Kinder und schulten sie ein, blieben und kämpften um Bürger- und Bleiberechte. Einige gingen von Deutschland aus weiter in ein anderes europäisches Land oder wanderten aus, oder aber sie wurden aus Deutschland nach Jahren des Aufenthalts mit lächerlichen Rückkehr-Prämien zurückgeschickt oder ganz und gar ohne Prämie abgeschoben. Das Bild des verarmten Bauern/Arbeiters, der für zwei, drei Jahre nach Deutschland kommt, um als Ungelernter am Fließband zu arbeiten, als „Gast-Arbeiter“, prägte den Bildfundus der Migration in Europa trotz der Vielfältigkeit dieser Aufenthaltsarten und Bewegungsmuster nachhaltig.6 So existiert heute kein „Bild“ davon, dass viele in „ihrem Land“ bereits migriert waren, von ländlichen Regionen in die Stadt, von Süditalien nach Norditalien, oder aber selbst aus Städten und industrialisierten Regionen kamen, teilweise besser beruflich und politisch gebildet als erwartet wurde, sodass die Arbeit im Bergwerk oder am Fließband eine Degradierung ihres sozialen Status und nicht zwangsläufig eine Aufwertung darstellte.7 Deutschen Bürokraten kam nicht in den Sinn, 6 Der Filmemacher Harun Farocki macht diesen utilitaristischen Zugang in seinem für das Projekt produzierten Film „Aufstellung“ deutlich. Schaubilder – illustrierte Statistiken, Pfeildiagramme, Kuchen- und Säulenstatistiken, die von Behörden, aus Schul-, Sprachlehr- und Geschichtsbüchern oder Tageszeitungen stammen, montierte er zu einem neuen Bildtext. Der Gastarbeiter erscheint redundant als Piktogramm mit Schnurrbart und Koffer, der Flüchtling mit einem Bündel. Frauen sind, wenn überhaupt, durch ein Kopftuch kenntlich gemacht. Den Schaubildern seit den 1960er Jahren lässt Farocki kartografische Darstellungen von Migrationsbewegungen aus allen Perioden des 20. Jahrhunderts folgen: Völkerwanderungen und Karten aus der Zeit des Nationalsozialismus, die Orte der Konzentrations- und Vernichtungslager kartieren. Diese Parallelen verdeutlichen den Einsatz der Karte im 20. Jahrhundert als bevölkerungspolitisches Instrument und zeigen, wie sehr die statistische Illustration in der Moderne an der Formierung von Meinung und Wissen beteiligt ist. 7 Die Erkenntnis, dass MigrantInnen politisch handlungsfähig sind, erkannten Politiker und Unternehmer erst spät, nämlich vor allem, als im Sommer 1973 ArbeitsmigrantInnen an unterschiedlichen Orten in der BRD maßgeblich an einer Streikwelle beteiligt waren. Diese Serie beginnt im Osnabrücker Karosseriewerk Karmann, gefolgt von den Hella-Werken in Lippstadt, den Pierburg Werken in Neuss, um im Bekanntesten, dem Kölner Fordstreik, zu kulminieren. Ein Vertreter des Ford-Managements meinte damals resigniert: „Wir haben in den zahlreichen Jahren festgestellt, dass die Ausländer oft mit einem zu hoch entwickelten Selbstbewusstsein zu uns kamen.“ Zudem brachten die MigrantInnen aus Italien die

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dass Deutschland für viele ArbeitsmigrantInnen nicht die erste Wahl war, sondern sie vor den südeuropäischen Militärdiktaturen der 1960er bis 1980er Jahre aus ihren Ländern flohen und die Strukturen der Arbeitskräfterekrutierung in Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Österreich und Deutschland nutzten, um auswandern zu können.8 Das Bild der Arbeitsmigration war so einerseits überformt von den narrativen Traditionen der national-zentrierten Industriegesellschaft der Moderne und der männlich konnotierten Fabrikarbeit. Im kollektiven (Bild-)gedächtnis des Gastarbeitsregimes blieb damit auch unterbelichtet, dass eine große Zahl allein stehender Frauen nach Deutschland kam und die weibliche Migration ganz eigenständige, auch emanzipative Motive hatte.9 Andererseits findet sich der Topos vom Herkunftsland der MigrantInnen als „vormodernes Hinterland“ nicht nur in deutschen Berichten über Arbeitsmigranten wieder, sondern bereits in den allerersten Filmen über Migration, wie etwa in Alice Guys „The Making of an American Citizen“ von 1913. Vorkapitalistische Produktionsweisen und die Verelendung und Verknechtung von Bauern korrespondieren in diesem Topos mit dem Bild von traditionellen Familienstrukturen und der sexuellen Unterdrückung von Frauen.10 Dieser moderne Kanon vom ungelernten Arbeiter/Bauern-Mann und der unterdrückten Frau blieb hartnäckig präsent und diente der Mehrheitsgesellschaft je nach Konjunktur der Migrationsdebatte zur Funktionalisierung für die Aufrechterhaltung rassistischer Ressentiments und für den Ausbau staatlicher Kontrolldispositive.11

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Erkenntnisse der Lotta Continua, der Streik- und Häuserkampfbewegungen aus Italien mit. Zeitungen, Fotos und Dokumente in der Ausstellung Projekt Migration konnten zeigen, dass MigrantInnen am Frankfurter Häuserkampf und anderen Mieterkämpfen maßgeblich beteiligt waren. Serhat Karakayalı und Vassilis Tsianos etablieren vor diesem Hintergrund den Begriff der „Figuren der Migration“. Ein Begriff der den historischen und gegenwärtigen Raum der Migration nicht in soziale Gruppen repräsentiert, sondern begriffspolitisch reflektiert. Siehe Karakayalı/Tsianos 2005. Zu Frauen in der Arbeitsmigration vgl. Mattes 1999 Die Sichtweise des europäischen und amerikanischen Feminismus, der die westlichen Familienkonzepte, Geschlechterrollen und die damit verbundenen Rollen-Zuschreibungen in der Arbeitsteilung von Hausfrau/Ernährerhaushalt, auf Frauen aus dem Süden und MigrantInnen überträgt, wurde von TheoretikerInnen wie bell hooks, Yuval Davis und Gayatri Spivak kritisiert. Die Norm der weißen heterosexuellen Matrix wird durch die Vorstellung überall würden Geschlechter- und Familienverhältnisse gleich ausagiert, verdoppelt und normalisiert, statt diese zu dekonstruieren und zu verwerfen. Die Figur der Migrantin erfuhr in Europa eine Reduzierung durch eben diesen spezifischen Blick einer idealen weißen Weiblichkeit. Zu dieser Fragestellung habe ich mit Madeleine Bernstorff das Filmfestival

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Die Redundanz und Hartnäckigkeit des Motivs einer traditionellen Vormoderne, einer vorkapitalistischen Armutsregion, aus der die MigrantInnen kommen würden, verweist auf einen weiteren Bildfundus, der sich im Kolonialismus konstituierte. Repräsentationen, die nicht nur die Funktion hatten, den Rest der Welt als unterentwickelt zu deklassieren, sondern auch die Vorstellung eines universellen, aufgeklärten und superioren bürgerlichen Subjekts des Nordens etablieren halfen. Dessen Dominanz, ökonomische Progressivität und Rationalität wurde gegen das Bild derer gestellt, die diesem Territorium nicht angehören. Ein Bild das sie, in den Worten von Dipresh Chakrabarty, „für alle Zeit in den Wartesaal der Geschichte verbannte“ (vgl. Chakrabarty 2000). Die in der Zeit des Kolonialismus in Europa und in den USA in unterschiedlichen Repräsentationstechniken wie dem ethnologischen Bericht, dem Abenteuer-Roman, dem Museum oder der populären Ausstellung historisch gebildete Narration strukturierte so ein dichotomes, eurozentrisches System. Mit ihm entstand eine große Anzahl paradigmatischer Oppositionen, in denen sich die „zivilisierte Welt“ und die Idee von Nationalstaaten als ethnische Einheiten konstituierten: traditionelle versus moderne Gesellschaften; agrarische Gemeinschaften gegenüber urbanen und industrialisierten, Subsistenzökonomien gegenüber akkumulativen Ökonomien; rituelle Gegenstände und ornamentale Bildwelt versus Kunstwerk, mündliche Kommunikation versus geschriebene und gedruckte Sprache. (Vgl. Mudimbe 1988, Bourdieu 2000) Diese Kategorien, die dem kolonialen Repräsentationsapparat zu Grunde liegen, haben auch noch das offizielle Bild der migrantischen Nordreise geprägt. Denn der Bildfundus des Kolonialismus stellte das Repertoire bereit, mit dem die, die aus dem Mittelmeerraum kamen, „angeschaut“ und repräsentiert werden konnten, und mythisierte ein weiteres Mal den Norden gegenüber dem Süden, den Westen gegenüber dem Osten als progressiv und dominant. Die Kolonialisierung hat diesen Bildfundus in die Vorstellungswelt der Menschen beiderseits der kolonialen Grenzen eingeschrieben hat und einen wechselwirksamen Wahrnehmungsraum eröffnet, der binär strukturiert ist, auf Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremden und einer ganzen Reihe weiterer Differenzen aufbaut. Der imaginäre Raum, der durch die koloniale und post-koloniale Reise entstanden ist, prägte so auch das Bild von Nordeuropa in nicht- oder südeuropäischen Ländern. Der Norden stellte sich „Familien Bande“ zusammengestellt. Migration erscheint in aktuellen filmischen Erzählungen wie in Ayşe Polats „Auslandstournee“ vor dem Hintergrund juridischer und alltäglicher Ausschlüsse als Störung im kleinfamiliären, nationalen Sesshaftigkeitskonzept. Das Roadmovie ist ein Genre des neueren Migrationskinos, in dem versucht wird den transnationalen Raum zu beschreiben, den die Migration in der Lage ist zu eröffnen.

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in diesem Setting als „Versprechen“ auf ein besseres Leben dar, insofern regte der okzidentale Bildfundus auch die Imaginationen der Migration an. (Vgl. Appadurai 1996) Dennoch sind nach Christian Kravagna diese Bilder der Differenz wandelbar „und nehmen, je nach ihren historisch-politischen Rahmenbedingungen, unterschiedliche Formen an. Je fester ein Wahrheitsregime gefügt ist, um so geringer ist die Varianz der (in einer gewissen Breite rezipierten) Bilder; je brüchiger es wird, um so variantenreicher und widersprüchlicher werden die Bilder, denen sich dann auch meist schon ein Teil der ideologischen Bruchstellen verdankt“ (Kravagna 2004, 8). Der Bildkanon des „Gastarbeiters“ im Nachkriegsdeutschland war lange Zeit ein fest gefügtes Wahrheitsregime, das eine sehr geringe Varianz aufwies. Es erklärte langfristig mobile Bevölkerungsgruppen zu Angehörigen eines Territoriums von Unterentwickelten. Auch im postfordistischen Migrationsregime hat diese Vorstellung wenig von ihrer Kraft eingebüßt und in gewisser Weise wandert der zeitgenössische Migrant an den Rändern dieser Einbahnstraßen der Repräsentationsgeschichte des Kolonialismus und der Migration weiter, weiter und weiter. Das offizielle Bild der „Gastarbeit“ hatte auch die Funktion, den beginnenden Wohlstand in einem durch den Krieg zerstörten Deutschland mit dem Bild einer noch größeren Verelendung zu kontrastieren. Auf der anderen Seite kondensierte das Gastarbeiterregime die ambivalenten Bewegungen der Migration in den eindimensionalen Rahmen fordistischer Logik: In der Migration zum Fabrikarbeiter werden zu müssen, ohne aber in diesem Prozess zum Subjekt der Geschichte werden zu können.12 12 Dieser Platz wird von der nationalen weißen, männlichen Arbeiterschaft eingenommen und verteidigt. Auch aus diesem Grund wählten wir als zentrale Abbildung für die Einladungskarte und den Umschlag der Publikation ein Filmstill der streikenden Frauen bei Pierburg aus dem Film „Pierburg: Ihr Kampf ist unser Kampf“ von Edith Schmidt und David Wittenberg (1974/75). Die Firma Alfred Pierburg AG stellte Mitte der 1970er Jahre Vergaser und Kraftstoffpumpen für die westdeutsche Automobilindustrie her. Von insgesamt 3800 Beschäftigten waren ungefähr siebzig Prozent Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, wobei Frauen weit in der Mehrzahl waren. Sie setzten sich gegen die unterschiedliche Bezahlung für Männer und Frauen zur Wehr und forderten „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, „Eine Mark mehr“ pro Stunde für alle und traten insgesamt für bessere Arbeitsbedingungen ein. Im Film berichten sie von miserablen Wohnbedingungen in den werkseigenen Zimmern, von der Diskriminierung am Arbeitsplatz und wie nach und nach auch ihre deutschen (und auch) männlichen Kollegen den Streik zu unterstützten begannen. Der Streik von Pierburg gilt als legendär, da er in erster Linie von und mit Migrantinnen geführt wurde und erfolgreich war. Bei Pierburg wurde erstmals die Leichtlohngruppe II abgeschafft und auch nicht wieder eingeführt, auch wurde keine der Streikenden entlassen. Zugleich stellte die Aktion einen massiven Angriff auf die Tarifpolitik der Gewerkschaften dar.

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Transnational Europe Im Vorwort zur Publikation „Projekt Migration“13 haben wir den nationalen Apparat als zentral für die Wahrnehmung und Konstitution der Anderen und damit den/die MigrantIn benannt. Erst die nationale Einheit und deren Grenze, die durch Menschen aus dem Süden physisch überschritten wird, macht aus diesen im Norden MigrantInnen und Nicht-Staatsangehörige. Auf der anderen Seite betonen wir – in Publikation wie Ausstellung – die transnationalen Beziehungen, die die Migration etabliert. Denn die Grenzüberschreitungen der Migration sind nicht nur konstitutiv für die Nation und ihre Grenzen, sondern bringen gleichzeitig auch neue soziale Räume, Beziehungen und Familienkonzepte hervor, die die nationalstaatlichen Grenzen und ihre eindimensionalen Zugehörigkeitskonzepte ignorieren. Diese Praxis der transnationalen Lebensweise ist zudem eine der Bedingungen der Migration, denn nur weil sie über Staatsgrenzen überschreitende Netzwerke verfügt, kann sie als Praxis überhaupt existieren. Dies zu betonen, bedeutet anzuerkennen, dass Migration über die gängige Vorstellung von Mobilität und das Zusammenleben in kleinfamiliärer Sesshaftigkeit hinausweist und neue Formen des Sozialen etabliert hat. Auch das „mediterranisierte, europäisierte, transnationalisierte Deutschland ist ein Ergebnis dieser Praxis der Migration“ (Eryılmaz et al. 2005). Migration ist in diesem Sinne aber nicht nur in Deutschland und Europa der Normalfall, sondern auf der ganzen Welt. Die Transnationalisierung, die diese horizontale, Raum umspannende Bewegung der Migration produziert, stellt daher die Vorstellung einer an die Nation gebundenen Bürgerschaft radikal in Frage. Insofern verweist Migration, mit all ihren unterschiedlichen Bewegungs- und Aufenthaltsmustern von der Pendelmigration osteuropäischer KofferhändlerInnen, den globalen MigrantInnen im Transit durch die EU, den SaisonarbeiterInnen im Bau- und Gastgewerbe, den Haus- und Pflegediensten, den diasporischen Gemeinschaften in den Metropolen, den Arbeitsmigranten der ersten Stunde usw., auf eine post-nationale Zukunft, in der weder der Ort der Geburt noch die sogenannte Abstammung maßgeblich sein kann für die Konstitution von Bürgerrechten. Die Potenzialität ernst zu nehmen, die der Migration selbst innewohnt, unsere politischen Konzeptionen herauszufordern, bedeutet, zivile Rechte von der Nationform losgelöst zu denken und 13 Die Publikation Projekt Migration umfasst theoretische und literarische Texte, Essays, Fotos, Dokumente und künstlerische Arbeiten. Mit Texten von Arjun Appadurai, Etienne Balibar, Ulrich Beck, Rosi Braidotti, Samy Chachira, Sun-Ju Choi, Diedrich Diedrichsen, Helmut Dietrich, Do Thi Hoang Lan, Frank Düvell, Deniz Göktürk, Murat Güngör, Stuart Hall, Sara Hamoussi, Tom Holert, Sandro Mezzadra, Paulino Jose Miguele, Aurora Rodono, Saskia Saassen, Ahmet Sezer, Mark Terkessidis, Alexandra Ventura, William Walters, You-Jae Lee u.a.

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nicht allein nur die Reisefreiheit für wenige in Frage zu stellen, die im aktuellen Globalisierungsprozess nur Waren, Daten, Geldströmen und Staatsbürgern aus dem Westen offen steht. Statt also den nationalstaatlichen Rahmen als alleinigen Bezugsrahmen für das Projekt Migration zu begreifen wurde für die Entwicklung des Ausstellungskonzepts der Blick auf die Tatsache gerichtet, dass Migration den Nationalstaat und seine Kontroll- und Regulierungswünsche herausfordert. Gleichzeitig musste der Staat seine Funktionen und Technologien den transnationalen Bewegungen der Migration immer wieder aufs Neue anpassen. Heute sind darüber hinaus die europäischen Nationalstaaten eingebunden in ein System unterschiedlicher suprastaatlicher Akteure, die ebenfalls die Funktion haben, Migration zu „managen“, und die die Souveränität des Nationalstaates in Frage stellen. Gleichzeitig setzt sich die Migration mit ihrer transnationalen Dynamik, einem Leben mit mehreren Heimaten und ihrer diasporischen Verortung mit alltäglichen Taktiken und Strategien über die immer mehr ausdifferenzierenden Techniken der Kontrolle der Grenzen Europas hinweg, selbst wenn dies zu einem lebensbedrohenden Unterfangen, zu einer Frage von Leben und Tod werden kann. (Vgl. Sassen 2005) Reaktionen von Besuchern der Ausstellung haben gezeigt, dass gerade die privaten Bilder eines transnationalen (Reise-)Alltags aus dem DOMiT Archiv für wenig relevant gehalten werden, da sie zu harmlos erschienen, um zu beschreiben, „unter welchen Bedingungen Migration stattfindet“. Es scheint schwer zu fallen, die Produktivität der Migration in den Blick zu nehmen und zu erkennen, was Migration gesellschaftlich herstellt. Das Harmlosigkeitsargument situiert sich vor dem Hintergrund der Stereotype von der MigrantIn als „Opfer“ deutscher oder europäischer Migrationspolitik, dessen Negativ der „Täter“ darstellt. Die Ablehnung des alltäglichen Bildes transnationaler Realitäten kann sich als besonders „kritisch“ ausweisen, da im Alltagsbild „die Härte“ der Migrationserfahrung nicht eingeschrieben scheint. Ein Subjektstatus als Alltagsakteur, AmateurfilmerIn, oder TouristIn scheint immer noch zu wenig signifikant und genügend „anders“ zu sein, um legitim über Migration zu erzählen. Gerade aber das anwesende oder abwesende private oder öffentliche Reisebild ist auf unterschiedlichen Ebenen besonders signifikant und paradigmatisch für die Frage, wie sich das Blickregime der Migration vom Fordismus zum Postfordismus gewandelt hat, und was in ihm geisterhaft eingeschrieben bleibt. Das Motiv des Exils, wie es Ponger in ihrem Film anspricht, fehlte beispielsweise im kollektiven Bildgedächtnis der Arbeitsmigration, obwohl es für diese Zeit durchaus kennzeichnend und die Demokratisierungsbewegungen der MigrantInnen in der Diaspora ein Ort geteilter politischer Kämpfe der Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft waren. An das aus-

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bleibende Bild des Exils in Europa zur Zeit der Arbeitsmigration schließt sich das der illegalen Migration an, denn nicht alle MigrantInnen kamen in den 1960er Jahren auf „legale“ Weise nach Frankreich, Belgien, Österreich oder Deutschland. Sie mussten teilweise ebenfalls illegal auswandern und konnten unter dem staatlichen Paradigma der Arbeitskräfteanwerbung quasi „verdeckt“ wieder auftauchen. In den von DOMiT geführten Interviews zu Arbeitsmigration wurde die illegale Einwanderung immer wieder als Regelfall benannt: Auch in der Zeit regulierter Anwerbeverfahren existierten Taktiken und Strategien, die Anwerbe,- Pass-, und Grenzkontrollen zu unterlaufen. Nicht anders als in späteren Zeiten haben sich Menschen auch während der Gastarbeiteranwerbung in Bewegung gesetzt noch bevor Staaten begannen, die individuell organisierte Migration zu regeln. Die staatlichen Bezeichnungspraktiken von MigrantInnen als Gastarbeiter, Flüchtling, Asylant, Illegaler entpuppen sich als Regierungspraktiken, die die diskrepanten Bewegungen der Migration jeweils kenntlich und regulierbar zu machen versuchen, denn in jeder Phase der Nachkriegsgeschichte hat es alle Formen der Migration gegeben. In der Ausstellung haben wir vor diesem Hintergrund unterschiedliche historische und aktuelle Dokumente der klandestinen Migration nebeneinander gestellt und somit eine Geschichte der Illegalität des Grenzübertritts in der Nachkriegszeit begonnen. (Vgl. auch Karakayalı in der Publikation Projekt Migration 2005, sowie Bojadžijev/Karakayalı 2005) Mit den neuen Wanderungsbewegungen seit 1989 konnte sich darüber hinaus ein neues Blickregime konstituieren, in dem gerade das Reisebild der Migration in den offiziellen Medien angekommen und zu einem eigenen Genre wurde. Dieses Reisebild der Migration ist allerdings durchweg negativ besetzt, wie es die unzähligen skandalisierenden Bilder des Border Crossings an den EU- Außengrenzen deutlich machen, in denen nun wieder meistens Männer, allein stehend, ungebunden, meistens dunkelhäutig in den Fokus geraten, als Opfer oder Täter der Grenze. Diese aktuellen Darstellungen von Migration bestimmen den zeitgenössischen Diskurs darüber, als was und wie wir Migration überhaupt wahrnehmen. Sie beinhalten weiterhin das koloniale Narrativ der MigrantInnen als Angehörige eines Territoriums von Unterentwickelten und die neuen männlichen Figuren der Migration unterschlagen nun die klandestine, weibliche Migration, die zu einer zentralen Ökonomie in den post-kommunistischen und asiatischen Ländern geworden ist.14 Gleichzeitig artikuliert sich etwas Neues. 14 Die Istanbuler Künstlerin Gülsün Kramustafa hat im Rahmen von TRANSIT MIGRATION den Film „Unawarded Performance“ produziert, der Akademikerinnen aus Moldawien folgt, die in bürgerlichen türkischen Haushalten als Pflege- und Putzhilfen arbeiten und mit dieser Tätigkeit ihren arbeitslosen Mann und die Kinder und ihre Ausbildung finanzieren.

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Die Figur eines illegalen migrantischen Subjekts, das an den Grenzen der EU strandet, produziert auch ein neues Bild von einem Europa, das nun nicht mehr so sehr im Inneren durch Migration geprägt zu sein scheint, sondern an den Rändern von ihr „bedroht“ wird. Die EU-Aussengrenze ist, so die Filmemacherin und Autorin Brigitta Kuster, im postfordistischen Migrationsregime zu einem Hotspot für das „Bild der Migration“ geworden, der „den dokumentierenden (und kontrollierenden) Blick von Kameras magisch anzuziehen scheint“. In diesem sich neu formierenden Blickregime der Grenzüberquerung, das in den zahllosen Arte- und Festivalfilmen zu aktuellen Migrationsbewegungen etabliert wird, wird nach Kuster ausgeblendet, „dass Migrant/innen als Akteure eigene Strategien entwickeln, mit denen sie aktiv auf die Bedingungen an den Grenzen reagieren“ (siehe dazu ihren Beitrag in diesem Buch). Unsichtbar bleibt auch, wie die Praktiken der Grenzregime, der Kontrolle und die neuen Sicherheitsdispositive auf ambivalente Weise mit den Praktiken und Strategien der Migration verflochten sind, wie es die Forschung von TRANSIT MIGRATION zeigt. Gleichzeitig bleibt aus dem aktuellen Bild der Migration ausgeblendet, dass auch diese Reise nicht ohne Beziehungen stattfinden kann, ohne Netzwerke, Freunde und Verwandte, die den Raum, den Weg vorstrukturiert haben und ihn bereits besiedeln. So bleibt die neue Figur des Grenzverletzers orts- und beziehungslos, weder scheint es ihn/sie unter uns zu geben, in den europäischen Städten und Regionen, noch erscheint er/sie als ein Subjekt, das den diasporischen Raum unserer Städte verändern würde. Das Wissen der Migration über Drittstaatenregelungen, über die Löcher im Zaun der Kontrolle, das Unsichtbarwerden oder „einE AndereR“ werden zu müssen gegen oder für die Kategorisierungen bei der Kontrolle, im Computer, im Alltag, die Notwendigkeit also, je nach Kontext immer wieder jemand anderen darstellen zu müssen, trägt diese neue Figur des Illegalen zwar zwangsläufig mit sich, ohne dass dies aber artikuliert werden könnte.15 Unsichtbar bleibt auch, dass die Grenze nicht mehr eine Linie ist, die ein Territorium von dem anderen trennt, sondern ihre Gestalt verändert hat. Die europäische Grenzpolizei ist nach 1989 zunehmend auch im Inneren der EU befugt, auf der Straße, auf Bahn15 Der Filmemmacher Želimir Žilnik stellte mit dem Ausstellungsbeitrag „Kennedi nach zwei Jahren“ diesen Zusammenhang mit dem Protagonisten des Filmes „Kennedi comes back home“ vor, der mit dem Wissen der Migration ausgestattet nicht nur das Unsichtbar- und strategischen Sichtbarwerden als Transitmigrant beherrscht, sondern auch die Information über mögliche und unmögliche Reiseformen. So lässt er sich beispielsweise nicht aus Österreich in den Kosovo ein weiteres mal abschieben, sondern mit einem Rückkehr-Programm der IOM „freiwillig zurück bringen“. So kann er neben Abschiedsgeld auch seine Habseligkeiten zu Teilen mit nach Hause bringen, um von dort, wie er sagt, in einem Jahr wieder loszureisen.

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höfen und in Zügen Passanten verdachtsunabhängig zu kontrollieren.16 Die Zusammenarbeit mit den verschiedenen supranationalen Datenagenturen wie dem SIS und der EURODAC, die die Bewegungen der neuen Mobilen erfassen und zu regulieren suchen, verbleiben genauso außerhalb des gegenwärtigen Bildes der Migration wie das Lagersystem innerhalb und außerhalb der EU. Im Unterschied zum Bild des Arbeitsmigranten der 1960er Jahre blendet das aktuelle Bild der an den Grenzen der EU Gestrandeten in radikaler Weise aus, dass die Grenze selbst ein Filter ist, der nicht alle, die kommen, abschreckt und abschiebt, sondern dass Migration stattfindet, da es einen Bedarf nach den neuen MigrantInnen als BilliglohnarbeiterInnen in den unterschiedlichsten partikularisierten Produktionsbereichen des Postfordismus gibt.

Politiken der Positionierung Das Archiv von Bildern und Vorstellungen, wie es durch die koloniale Südreise und die migrantische Nordreise angelegt ist, gleicht, wie es Kaja Silverman im Bezug auf einen ähnlichen Bildfundus – die Repräsentation des Weiblichen – formuliert, einem „Bildschirm“ oder „screen“, den wir nicht einfach hinter uns lassen können, sondern in den Widersprüche und Detournements eingefügt werden müssen, um ihn seiner Evidenzen zu berauben. Der Bildschirm ist ganz ähnlich wie die Sprache, jedem von uns eigen. Denn unsere Wahrnehmung eines Menschen oder eines Objekts folgt nach Silverman bestimmten Darstellungsparametern, deren Anzahl relativ hoch, aber letztlich begrenzt ist. Diese Darstellungsparameter legen fest, was und wie wir sehen – wie Sichtbares bearbeitet wird und welche Bedeutungen ihm gegeben werden. Mit dem Begriff „Bildschirm“ bezeichnet Silverman die ganze Bandbreite der zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügbaren Darstellungsparameter: „Diejenigen unter ihnen, die sich fast zwangsläufig aufdrängen, nenne ich das (Vor-Gesehene).“ (Silverman 1997, 58) Michel Foucaults Hypothese zur Frage des Vor-Gesehenen lautet, dass eine Art positives Unbewusstes des Sehens existieren muss, welches nicht 16 Mit ihrer audiovisuellen Installation „Zertifikat Deutsch“ analysierten die Künstlerin Farida Heuck und die Soziologin Birgit zur Nieden im Rahmen von TRANSIT MIGRATION das „Zuwanderungsgesetz“ (kurz für „Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern“), dass seit Januar 2005 in Kraft ist. Es erhebt u.a. die Integration zum neuen Paradigma der Einwanderungspolitik und verlangt, dass Sprach- und Integrationskurse mit standardisierten Abschlussprüfungen besucht werden, in denen die Verlängerung des legalen Aufenthalts von Einwanderern an „prüfbare Integrationsleistungen“ gekoppelt wird.

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bestimmt, was gesehen wird, sondern was gesehen werden kann. Demzufolge sind nicht alle Wege des Visualisierens oder Sichtbarmachens gleichzeitig gangbar. Innerhalb einer Periode sind bestimmte Dinge zu sehen und andere nicht. Sie „beleuchtet“ manches und verbannt anderes in den Schatten. Sehen ist für Foucault immer Denken, da das was sichtbar ist, ein Teil dessen ist, was „Strukturen vorausgedacht haben“. Sehen ist wie das Darstellen in diesem Sinne Teil des Tuns. Wir sind aber in der Selbstverständlichkeit einer Weise des Sehens, was zu tun ist, gefangen. Daher ist, nach Rajchman, Foucaults Idiom der Evidénce mit der Akzeptanz einer Alltagspraktik verknüpft: „Es ist Teil dessen, was eine ‚Machtstrategie‘ erträglich macht. Wir beteiligen uns, wir leisten unseren Anteil an den Praktiken, die jene Sehweise für uns selbstverständlich machen – eine Beteiligung oder Akzeptanz, die wir verweigern können.“ (Rajchman 2000, 45) Der Ausstellung zum Projekt Migration war es ein Anliegen, die Akzeptanz der evidenten Bilder der Migration zu verweigern und den Bildfundus der Migration zu befragen, zu erweitern, und mit der Beauftragung oder Einladung von bildenden KünstlerInnen, FilmemacherInnen und Soundartisten diesen zu stören, zu irritieren oder offen zu legen.17 Der Bildschirm der Migration lässt sich, wie hoffentlich deutlich wurde, nicht einfach in einem, „Bildersturm“ zerstören und somit durch Bildlosigkeit beantworten. Denn die „Bilder“ zirkulieren auch ohne ihre Materialisierung als Vorstellungen, schlagen sich in Texten nieder oder in Statistiken und dem Ausländergesetz, oder 17 An der Ausstellung waren beteiligt: Vito Acconci, Advanced Chemistry, Agency (Int./*1992), An Architektur, Aysun Bademsoy, Joseph Beuys, David Blandy, Madeleine Bernstorff/Elke aus dem Moore, Pavel Braïla, Brothers Keepers, Vlassis Caniaris, Gustav Deutsch, DOMiT, Lukas Duwenhögger, Ayşe Erkmen, Harun Farocki, Jeanne Faust/Jörn Zehe, Hans-Peter Feldmann, FFM Berlin, Doris Frohnapfel, Morgan O'Hara, Farida Heuck/Birgit zur Nieden, Candida Höfer, Cerin Hong, Kanak Attak, Gülsun Karamustafa, Selahattin Kaya, kein mensch ist illegal, Ernst Kirschner, Alfred Koch, Brigitte Kraemer, Kemal Kurt, Brigitta Kuster, Labor k3000, Thomas Locher, Mabouna II Moise Merlin, Angela Melitopoulos, Jean Mohr, Christian Philipp Müller, Tazro Niscino, Non Stop No Stops, Marcel Odenbach, Anny & Sibel Öztürk, Henrik Olesen, Boris Ondreička, Erik-Jan Ouwerkerk, Adrian Paci, Krsto Papić, Dan Perjovschi, Susan Philipsz, Lisl Ponger, Dont Rhine/Ultra-red, Jeroen de Rijke/Willem de Rooij, Julika Rudelius, Saisonstadt, Anri Sala, Bülent Şangar, Christoph Schäfer, Alfred Schmidt, Edith Schmidt/David Wittenberg, Anne-Marie Schneider, Ene-Liis Semper, Ann-Sofi Sidén, Nika Špan, Stadt und Migration (Kniess, Frings, Hauser, Lagos Karlhoff), Wolfgang Staiger, Mladen Stilinović, Andrijana Stojković, Marily Stroux, Heinrich Stuckert, Erika Sulze-Kleimeier, Wolfgang Tillmans, TRANSIT MIGRATION, Rosemarie Trockel, Guenay Ulutuncok, Manfred Vollmer, Hans-Joachim Weber, Clemens von Wedemeyer, Jun Yang, Tobias Zielony, Želimir Žilnik.

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sind von diesen geprägt. Die Antwort auf diesen komplexen Zusammenhang des Bildschirms, des Vorgesehenen, des Evidenten bedeutet eher eine Herausforderung, einen Schritt hin zum Bild und zum Text zu unternehmen und sich der Implikationen der unterschiedlichen Darstellungstechniken bewusst zu werden, diese für abweichende Texte und mögliche neue anwesende und abwesende Bilder, Poesien und Vorstellungen zu nutzen, umzukehren, anzueignen und zu missbrauchen. Die Technik der Montage unterschiedlicher Repräsentationskontexte, wie in Lisl Pongers „Passagen“, deutet auf die Produktivität einer solchen Praxis auch für die Arbeit an einer Ausstellung und die Zusammenarbeit zwischen Forschung, Kunst und Sozialgeschichte. Denn weder die dokumentarische Beweislage oder private Erinnerungsgegenstände, noch die künstlerische Arbeit allein können eine neue Erzählfigur etablieren, in der einerseits der „Bildschirm der Migration“ erkennbar würde, noch Migration, als eine nie vollständig beherrsch- und regulierbare Bewegung. Die Dramaturgie einer Ausstellung, in der die verschiedenen Verfahrensweisen und Repräsentationsweisen korrespondieren und sich gegenseitig kommentieren, kann dagegen ähnlich wie Pongers Montagetechnik unterschiedliche Perspektiven und scheinbar Unverknüpfbares in Beziehung setzen, und so im Sinne unserer Repräsentationsgewohnheiten etwas unerlaubtes tun, nämlich unterschiedliche Narrative und Bildstrategien jenseits ihrer Disziplinenzugehörigkeit zu verknüpfen oder gegeneinander antreten zu lassen. Jenen, die eine Ausstellung machen, kommt dabei eine ähnliche Rolle zu, wie FotografInnen, KünstlerInnen oder FilmemacherInnen, da sie die diskrepanten Darstellungsweisen der dokumentarischen, künstlerischen oder privaten Bildproduktion in ein neues kommunikatives Verhältnis setzen und in einem spezifischen Kontext ein bestimmtes Verständnis und Verhältnis zu und von Kultur produzieren. In der mit der Ausstellungsproduktion einhergehenden Imaginationsarbeit ging es uns nun genau nicht darum, sich der „Kultur“ zu verpflichten, ein möglichst authentisches Bild des Lebens der MigrantInnen oder der „Communities“ in Deutschland zu vermitteln, sondern, im doppelten Sinne des Wortes Re-Präsentation, Geschichte und Gegenwart der Migration zu repräsentieren und dabei neu darzustellen, d.h. das bereits Erzählte und bislang noch Unerzählte als das noch zu Denkende, Zukünftige zu präsentieren. Die ausgewählten oder für den Ausstellungskontext speziell produzierten Bilder und Installationen sollten also nicht einfach nur eine Geschichte abbilden, sondern aus dem bestehendem Fundus wurde eine noch nicht erzählte neu zu konstituieren versucht. Diese kuratorische Position unterscheidet sich von der Haltung musealer Geschichtsrepräsentation, die mit Artefakten und Dokumenten das Vergangene in Erinnerung rufen will und gleichzeitig eine objektive Sicht auf Geschichte behauptet, obwohl sie im höchsten Maß interpretativ und kontextuell ist. Im Gegensatz dazu behauptete sich die Ausstellung zum Projekt Migration als Interpretation unterschiedlicher Geschichten, Zugänge und Blickwinkel.

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Den offiziellen musealen Darstellungspraktiken stehen darüber hinaus seit der Arbeiterbewegung und den sozialen Bewegungen der 1960er Jahren all jene Versuche gegenüber, die aus diesem Kanon historischer Beweisführung die ausgeschlossenen Subjekte und Narrative ins Spiel zu bringen versuchen, durch populäre Gegenerzählungen, wie auch Dokumentationszentren und Archive der Sozialen Bewegungen, People und Neighbourhood Museen und anderen temporäre oder langfristig angelegte Formen der Selbstorganisation und Selbstrepräsentation. Im Projekt Migration wurde aber auch diese Identifikationsarbeit mit den Marginalisierten oder der Marginalisierung und die damit verbundene Forderung nach deren Integration in den hegemonialen Kanon kritisch reflektiert. Für die Ausstellungsproduktion entwickelten wir eine Erzählfigur, in der alle Figuren der Migration enthalten sind, die aber in jedem Moment wieder verschwinden, da neue Figuren in Erscheinung treten können und so in ihrer Evidenz zerfallen. Denn vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass alle Kategorisierungen und Adressierungen im Migrationsregime immer eine gouvernementale Funktion haben, auch wenn sie von Nicht-Regierungsorganisationen oder humanistischen Gruppen ins Feld geführt werden, suchten wir eher nach einen Ort, der neue Sozialitäten vorstellbar machen könnte, jenseits der simplen Regierbarkeit.18 Diese Entscheidung führte neben einer Dramaturgie, die eher auf Brüchen basierte, zu einer interessanten Rezeption der Ausstellung, nämlich als einem Ort, an dem immer wieder verhandelt wurde, ob und inwiefern entweder Bildungsbürger, Migranten, Lehrer, Künstler, Aktivisten gar nicht oder überrepräsentiert seien. Da die üblichen Adressierungen auf der Ebene einer Politik der Identifikation zu vermeiden versucht wurden, fanden die BesucherInnen ihre Desbzw. Identifikationsfiguren nicht einfach wieder. Die Ausstellung wurde zudem auch für die Forschung zur Methode, in der die Frage des Bildschirms der Migration, die Visualität nicht mehr länger von anderen Repräsentationen und den Eigen- und Fremdpositionierungen im sozialen Feld (als WissenschaftlerIn, als Repräsentant der MigrantInnen) getrennt gedacht werden konnte. Aus diesem Grund entschieden wir uns für die Ausstellung, die methodische Verfahrensweise von Kunst, Sozialgeschichtliche und Forschung mitzuthematisieren, und im Dialog mit KünstlerInnen Fragen und Formen der Ausstellbarkeit zu entwickeln.19 Diese Entscheidung regte nicht nur die Imaginationsarbeit der Forschung an, 18 Vgl. dazu den Begriff der nomadischen Subjektivität, wie er von Rosi Braidotti verwendet wird, um eine vieldeutige politische Figur zu entwickeln, z.B. in Projekt Migration, 2005. 19 Die Archive wurden für den Kölnischen Kunstverein von Non Stops / No Gos (PIT), für das Dokumentationszentrum und Museum der Migration in Deutschland e.V. (DOMiT) von Christian Phillip Müller und der Forschungsraum TRANSIT MIGRATION von Labor k3000 Zürich jeweils im Dialog mit den Projektpartnern konzipiert und realisiert.

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sondern eröffnete neue Selbstverhältnisse und kollaborative Beziehungen zwischen WissenschaftlerInnen, Aktivisten und KulturproduzentInnen. Einerseits stellte sich damit die Frage, was etwa eine ethnografisch-soziologische Forschung wie die von TRANSIT MIGRATION über eine reine Textarbeit darzustellen in der Lage wäre. Gleichzeitig wurde damit aber auch anerkannt, dass Kunst selbst ein Forschungsmodus ist und die gemeinsame transdisziplinäre Arbeit an einer Ausstellung im besten Fall neue Subjektpositionen und Zusammenhänge ermöglicht, statt diese abzubilden und somit wieder festzuschreiben. Mit der empirischen Datenlage der Forschungspartner war es darüber hinaus möglich, für die Ausstellungskonzeption thematische Narrative über die Zeithorizonte hinweg zu entwickeln und einen Perspektivwechsel zu vollziehen, in dem Migration nicht zum folkloristischen Anschauungsobjekt wird, sondern zum Subjekt der Nachkriegsgeschichte, das einerseits durch eine Anzahl staats- und kontrollpolitischer Massnahmen hervorgebracht wurde und andererseits sich seine Rechte erkämpft und die deutschen und europäische Gesellschaften politisch und alltagskulturell maßgeblich geprägt und verändert hat. In den verschiedenen, im Stadtzentrum Kölns angesiedelten Ausstellungsorten in Gebäuden aus den 1950er und 1960er Jahren, die noch die Aufbrauchstimmung der Nachkriegsmoderne verkörperten, wurden jeweils thematische Zusammenhänge produziert. Die simultan und nicht chronologisch angelegten Erzählungen ließen sich aber auch entwickeln, da im Projekt Migration ganz generell ein zentraler Perspektivwechsel vorgenommen wurde, nämlich jener aus der Perspektive der Migration und nicht aus der Perspektive der Nation auf ein durch Migration verändertes Deutschland und Europa zu schauen. Aus einer rein nationalen Perspektive hätten wir die multiplen Beziehungen und transnationalen Räume, die die Migration herstellt, nicht erkennen und darstellen können. Dies bedeutet auch die Perspektive all derer, die an Migration beteiligt sind, einzunehmen, aus der Mehrheits- und der Minderheitsgesellschaft. Die Nachkriegsgeschichte und die Gegenwart der Migration konnte so als gemeinsame Geschichte geteilter Erinnerungen und Gegenwart, als Geschichte der Kämpfe für die Bewegungsfreiheit und das Bleiberecht für alle kenntlich gemacht werden.

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DIE GRENZE FILMEN Brigitta Kuster „Es muss die Grenze gefilmt werden, jedoch unter der Bedingung, dass sie überwunden wird: vom Regisseur in der einen, von der realen Person in der anderen Richtung. [...] Die Grenze kann lediglich als zurückweichende wahrgenommen werden, wenn man nicht mehr weiß, wo sie verläuft [...].“ (Deleuze 1997, 202f.)

Inwiefern sind die zirkulierenden Bilder und Erzählungen‚ „über Migration“ unerlässliche Ressourcen, um „Migration“ zu verstehen? Anhand einer Reihe dokumentarischer Fernseh- und Filmproduktionen, die sich mit dem gegenwärtigen europäischen Migrationsregime beschäftigen, ließen sich einige Aspekte dessen re-konstruktieren, was in diesem Raum „Migration“ formatiert. Dabei sind die dokumentierenden Erzeugnisse von JournalistInnen und KulturproduzentInnen nicht als Repräsentationen einer ihnen selbst äußerlichen Realität zu verstehen, sondern ihre je spezifischen Reartikulationen von „Migration“ sind im Sinne einer gesellschaftlichen Konstruktionsleistung als konstitutive Teile des europäischen Migrationsregimes zu begreifen. Dieser Versuch bewegt sich an der Schnittstelle der oft gesondert diskutierten Bereiche der materiellen und kulturellen Prozesse, durch die eine bestimmte gesellschaftliche Wirklichkeit hervorgebracht und gestützt wird. Die relativen Stabilitäten und Entwicklungsdynamiken des europäischen Migrationsregimes sind eng mit gesellschaftlichen Evidenz- und Intelligibilitätsproduktionen verknüpft, innerhalb deren Politiken des Wissens, der Sichtbarkeit und Sichtbarmachung sowie des Verschwindens eine entscheidende Rolle spielen. Die Visualisierungstechniken an der Grenze funktionieren nicht bloß als polizeiliche Kontrollund Regulationsinstanzen eines vorgängigen sozialen Körpers der Migration, sondern sie spielen eine entscheidende Rolle dabei, „Migration“ als Attraktion von Andersheit zu verorten, zu fixieren und als zu verhandelnde Größe auf ein gesellschaftliches Display zu bringen. Die Topografie der Grenzen und ihrer Öffnungen scheint die Kameras heute magisch anzuziehen und über den Blick auf „Migration“ Regie zu führen: Unzählige Fernsehreportagen oder -features zeichnen das dortige Geschehen mit, das sich als ein Blickverhältnis zwischen Subjekten, die in die Migration eintretend eine Grenze überschreiten, und Subjekten, die jene in irgendeiner Weise erfassend, verhindernd, kanalisierend oder humanisierend

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BRIGITTA KUSTER

behandeln, aufspannt. Ihre Titel, die Begriffe wie „Tod“ enthalten oder „Festung Europa“ heißen, verweisen auf ein Verständnis von „Migration“ als einem illegitimen Überschreiten einer bestimmten Linie, das gleichwohl unbegreiflich ist, da damit so viele Gefahren und Prekaritäten verbunden sind. Die dazugehörige Ikonographie hat sich mit der Einrichtung des Schengenraums verändert: Von „Koffer“, „Fließband“, „Pkw“ und „Fernseher“ in „Laster“, „Boote“, „Zäune“, „Mauern“, „Dunkelheit“, „Meereswogen“, „Wind“. Mit solchen und anderen Naturalisierungsmetaphern wird ein Subjekt der Migration aufgerufen, in dessen Verkörperung sich Regulationsphantasien einschreiben: das Bild massenhafter Körper bzw. eines Körpers als Masse oder Körper als „nature morte“ inszeniert.1 Der „TV-Migrant“ tritt an der geografischen Grenze zur „Festung Europa“ als ein männlicher2 über-sichtbargemachter, vom Repressionsapparat erfasster, als passives Objekt caritativer Behandlung vorgezeigter Körper auf, der seiner eigenen ungesteuerten, fatalen Unternehmung ausgeliefert ist. Indem er einen Auftritt in der Inszenierung seiner Hilflosigkeit erhält, suggeriert sein Bild, dass er dem Zugriff einer rationalen Regulierung seines Körpers gegenüber „offen“ sei. Migrantische Sichtbarkeit, die an den Hot Spots des Schengen-Raums aufgegriffen wird, läuft Gefahr, sich in großer Nähe zur visuellen Ökonomie ihrer Kriminalisierung, Regulation und Kontrolle aufzuhalten und Darstellungen aus dem Blickwinkel der Polizei, eines geltenden Rechts, einer Wahrheitsinstanz und der Despotie der Identifizierung zu reproduzieren. In den Geografien dieses Bilderarchivs und seinem Bedeutungskanon muss sich auch jeglicher Versuch einer davon abweichenden Artikulation oder kritischen Sichtbarkeitspolitik zurecht finden, denn sie kursieren als eine Art alltagskulturelle Grenzüberwachungskamera, die weniger Körper in Bewegung festhält und noch weniger diese irgendjemandem zeigt, sondern diese Körper vielmehr live und materiell bewegt.

Cap Anamur live Eine forcierte Interaktion zwischen Bildern, die die Körper bewegen und Körpern, die die Bilder bewegen, hat etwa die Aktion von Cap Anamur im Sommer 2004 ausgelöst. Welches Versprechen, aber auch welche Fallhöhe damit verbunden war, lässt sich an der Kadenz des Ereignisses beobachten. 1 Vgl. dazu etwa den Film Tarifa Traffic. Tod in Gibraltar von Joachim Demmer (75 min., Deutschland/Schweiz 2002). 2 Das Bild der „weiblichen“ Migration verbindet sich eher mit Kriegsflüchtlingen – Immobilisierung in der so genannten Herkunftsregion (~ Frauen mit Kindern, alte und kranke Leute); mit Sexarbeit – Zwangsmobilisierung (~ Trafficking) oder mit Abwesenheit (in der gesellschaftlichen Dethematisierung und Unsichtbarkeit etwa von Hausarbeit oder Pflegearbeit verschwunden).

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Gestartet mit der Rettung von zwischen Malta und Lampedusa havarierten Bootsflüchtlingen, schuf das Rettungsschiff Cap Anamur in der Folge als medial aufbereitetes radikalhumanistisches Exempel einen Präzendenzfall, der in die Krise der europäischen Migrationspolitik intervenieren sollte. Das daraufhin stattfindende und von der Kölner NGO strategisch ausgelöste politische Seilziehen sowohl innerhalb einzelner Staatsapparate als auch zwischen ihnen und multilateralen Akteuren, das beinahe live-stream als Fernsehpektakel der dreiwöchigen Irrfahrt des Schiffs durch die Mittelmeergewässer zu verfolgen war3, beließ aber die Rolle eines Akteurs seltsam unbedacht, unbesetzt, unausgearbeitet und passiv: jene der 37 afrikanischen MigrantInnen. Sie, die immerhin Auslöser und Schlüsselfiguren des geschaffenen Ereignisses waren, gerieten in dessen Orchestrierung unmittelbar zu Statisten einer Inszenierung, zu deren Drehbuch und Bühne ihnen der Zugang offensichtlich verwehrt blieb, um dann schließlich – und das war die „Lösung des Falls“ – in Cap-Anamur-Shirts gekleidet in Porto Empedocle von Bord zu gehen und in die Lager der Flüchtlingsverwaltung und -abwicklung einzutreten.4 Anders als das videophilosophische Versprechen einer Ereigniszeit als eines Bewegungraums, der Einmischung und eine gesellschaftliche Konstruktion von Zeit erlaube5, haben sich die Direktübertragungen von der „Cap Anamur“ in der Konfrontation mit dem geballten Machtapparat des Fernsehdispositivs als bloße Bilder der Migration erwiesen: Statt dass sie eine Position in der zugespitzten Dynamik zu besetzen vermochten, gerieten die aus Seenot Geretteten im Fokus der permanent auf sie gerichteten Kameras in das Bild jener dokumentarischen Realisierungen, das sie 3 Nach der Rettung von 37 Afrikanern zwischen Malta und Lampedusa am 20. Juni sollte die „Cap Anamur“ am 1. Juli im italienischen Hafen Porto Empedocle einlaufen. Die bereits erteilte Einlaufgenehmigung wurde aber vom italienischen Innenministerium widerrufen und Malta als zuständig für die Aufnahme der Flüchtlinge erklärt. 11 Tage lang, bis zum 12. Juli, schoben sich Deutschland, Italien und Malta gegenseitig die Verantwortung für die MigrantInnen zu. 4 Cap Anamur-Chef Bierdel bei der Ankunft im Hafen von Porto Empedocle: Es sei gelungen, Europa auf das tägliche Elend vor seiner Haustür aufmerksam zu machen. Es sei gelungen, Leben zu retten. Und es sei gelungen, die rigide Abwehrhaltung der Behörden zu durchbrechen. Alles in allem, so Bierdel, eine rundum geglückte Aktion. (Frankfurter Rundschau, 14.7.2004) 5 In Ableitung von digitalen Bildmaschinen, die die Möglichkeit bieten, Bilder in der tatsächlichen Zeit ihrer Erzeugung zu sehen und zu verbreiten, entwickelt Maurizio Lazzarato. Zeitwahrnehmung im Postfordismus die implizite Möglichkeit einer ästhetischen und sozialen Praxis, die „unauflöslich mit den Strömen, der Zeit und der Vielheit verbunden“ sei: „Das technologische Dispositiv des Videobildes lässt uns nicht nur die Zeit des Ereignisses sehen, sondern es lässt uns in dem Ereignis sein.“ (Lazzarato 2002, 80).

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Abend für Abend in Fernsehwohnzimmern als potenziert hilflose, als immobilisierte und schlecht soufflierte Spielbälle der Macht porträtierte. Nachdem die Presse in den ersten Tagen die repetitiv und unbeholfen performten O-Ton-Aussagen über ihre Herkunft aus dem sudanesischen Bürgerkriegsgebiet kolportierte, hatten sich als Hauptdarsteller auf der mediatisierten Bühne der Aufmerksamkeit bald EU-politische Akteure in der Vordergrund geschoben: Mitte Juli waren die MigrantInnen beinahe alle bereits nach Nigeria und Ghana abgeschoben; berichtet wurde nun über die Verabschiedung eines Rückübernahmeabkommens zwischen Italien und Libyen für Bootsflüchtlinge.6 In antirassistischen Kreisen wurde die Aktion von Cap Anamur vor allem wegen der „Instrumentalisierung“ der Migranten kritisiert. Eine kritische Betrachtung dieses Falls muss aber über eine solche Kritik hinausgehen. Die Aktion legt vielmehr nahe, die offensive Verknüpfung von Politik und Medialisierung als einen politischen Handlungsspielraum genauer auszuloten, der vielleicht nur deswegen so selten in Erwägung gezogen wird, weil die meisten interventionistischen Politikansätze im Migrationsbereich stark in der Konstruktion eines migrantischen widerständigen Subjekts der Erfahrung wurzeln, was sich ebensoleicht als „Instrumentalisierung“ demaskieren ließe. Das wirkliche Lehrstück „Cap Anamur“ ist medienpolitischer Art und verweist auf die Kraft des Rückstoßes eines im Videodispositiv angelegten „Ereignisses Migration“ in ein rezentriertes „Bild der Migration“: Es hat auf drastische Weise vorgeführt, welche fatal passivierenden Effekte damit einhergehen können, die unterschiedlichen Geschwindigkeiten und sozialen Mobilitäten der involvierten Akteure nicht genug in Rechnung zu stellen. Anders als Lazzarato, der in seiner „Videophilosophie“ vorschlägt, „die ontologischen Beschaffenheiten dieser neuen Technologien“ zu erfassen und auszuarbeiten, was schnell Gefahr läuft, einem Technodeterminismus aufzusitzen, geht es hier darum zunächst die Frage zu stellen, auf welche Weise das Videodispositiv, das die Topographie der Grenze mitorganisiert, dort Akteure subjektiviert und über die Kraft des Fernsehdispositivs und seines Bildregimes hierarchisch anordnet. – Die machtvollen Akteure im Fall der Cap Anamur verfügten über Echtzeitinformationen und wussten in den nicht-chronologischen Raum des Ereignisses zu intervenieren mit einer „gesellschaftlichen Kon6 Auch der damalige deutsche Innenminister Schily nutzte die Gunst der Stunde und setzte den bereits etwas in Vergessenheit geratenen englischen Vorschlag von ‚Aufnahmelagern in Nordafrika‘ wieder auf die diskursive Agenda: Es müsse eine Lösung gefunden werden, Flüchtlinge aus Seenot zu retten, ohne dabei anderen Anreize für die Überfahrt zu geben. Die Lösung könnten – wie von Großbritannien vorgeschlagen – Aufnahmelager in Nordafrika sein, in denen Asylbewerber mit Ziel Europa bis zur Entscheidung über ihre Anträge warten müssten. (FAZ.NET, 20. 7. 2004)

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struktion von Zeit“. Wer nur schwach eingreifen konnte, wurde durch die diskontinuierlichen Ströme der unbeeinflussbaren Ereignisse überfordert, aus der Zeit des Entstehens weggespült und von den Brechungen und Heimsuchungen eines plötzlich auftauchenden unheimlichen anachronistischen Raums7 ergriffen, zur Ikone katatonisiert und reterritorialisierbar gemacht. Das Scheitern des mit der Realzeittechnologie evozierten Versprechens auf Teilhabe an der Herstellung gesellschaftlicher Zeit kommt einer ausgeträumten neuen Version des alten Traums nahe, den bereits die ersten Zuschauer im Kino als ein Versprechen, den Tod, das Verstreichen der Zeit zu bannen, geträumt haben. Die Aura von Kontakt mit einem möglichen Ereignis, mit der Sprache der sozialen Bewegung Migration, das sich im Fernsehsessel träumen ließ, hat sich im Fall der Cap Anamur als Realitätseffekt eines raum-zeitlich kanalisierten Fernsehbildes erwiesen. Neben einem weiteren Schritt in Richtung der Expansion des europäischen Grenzraums ist die Cap Anamur als eine der zahlreichen Boot-Bilder ins Archiv eingegangen, mit denen Nachrichten über Schiffshavarien mit MigrantInnen üblicherweise illustriert werden.

Die Passage begleiten Verlassen wir den Raum der Grenze, der sich schnell über den Potenzialitäten der Migration verschließt, um sie erstarren zu lassen und in ein repräsentatives Bild einzugießen und suchen wir nach Rekonfigurationen im Bilderarchiv der Potenzialitäten der Gegenwart und ihrer räumlich-zeitlichen Montagen und Narrationen. Im Raum der Passage stoßen wir auf ein regelrechtes Genre des dokumentarischen Migrationsfilms: MigrantInnen sind hier ProtagonistInnen, deren Routen und Grenzpassagen ein Film „auf Augenhöhe“ verfolgt.8 Leitlinie solcher Erzählungen ist die narrative Figur des Begleitens während der Passage oder im Transit – eine „Embeddedness“, die nicht nach einem Standpunkt sucht, von dem aus die Topographie der Grenze zu überblicken wäre, sondern sich in den Strom der Bewegungen begibt, um dessen Rhythmen und subjektive Logiken aufzunehmen. 7 Zur viktorianischen Trope des anachronistischen Raums als einer Konstruktion des Anderen der historischen Zeit der Moderne mit den dazugehörigen Handlungsfähigkeiten, vgl. McClintock 1995: 40ff. 8 Beispiele dafür sind etwa In this World von Michael Winterbottom (86 min., Großbritannien 2002), Festung Europa von Andreas Rocksén (58 min., Schweden/Frankreich 2000), Voyageur clandestin von Oleg Assadulin (26 min., Frankreich 2000), La citadelle Europe – Lost in Transit von Gilles de Maistre (60 min., Frankreich 2004), Mother’s Crossing/Passagères clandestines von Lode Desmet (60 min., Frankreich 2003) oder Exodus von Sorious Samura und Dollan Cannell (38 min., Großbritannien 2001).

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So werden etwa Gilles de Maistre und Stéphanie Lamorré mit einer Gruppe MigrantInnen mitten in einer nordafrikanischen Wüste von Schleppern abgesetzt. Dies ist in ihrem Film La citadelle Europe spannungs- und gefahrvoller Höhepunkt. Insofern der Film aber nicht als Reisefilm mit den dazugehörigen Subjektivitätsherausforderungen angelegt ist, sondern sich an die Ferse der Bewegungen anderer heftet, ist er gezwungen, an dieser dramatischen Stelle die Distanz, die sich in diesem Moment ebenso zugespitzt zwischen die filmische und die dem Film vorgängige Realität, zwischen Darstellung (Film) und Gegenstand (Existentialität der Situation) schiebt, zu managen. – Die ZuschauerIn hat dies teilweise gesehen und denkt sich etwa, dass das Filmteam doch bestimmt mit eigenem Auto und Wassertank fährt, Funkgeräte dabei hat. Der Authentizitätseffekt der begleitenden Narration, verstanden als Form und Resultat medialer Übersetzung, droht in dem Moment verloren zu gehen, da sich die zuvor distanzlose Aktualität, die eine Identifikation mit der Bewegung und den Praktiken der Migration erlaubt, plötzlich in die Zeit der erfolgreich abgeschlossenen Fertigstellung des Films durch die Filmemacher, die die Situation offensichtlich überlebt haben, transformiert. Mit diesem Einbruch der zukünfigen Abgeschlossenheit der Passage ließe sich die Aufmerksamkeit des Films auch auf seine Bedingtheiten, auf die Konstruktionseffekte seiner eigenen involvierten Praktiken umlenken. Für solche Varianten von „Embeddedness“ interessiert sich La citadelle Europe aber nicht. „Dabeisein“ scheint ein in dem Maße unvollständig eingelöstes Versprechen, als die hervorgebrachten Bilder nicht gleichzeitig von den Situationen produziert werden, die sie produzieren und damit eine Potenzialität der gegenseitigen Veränderung von Bild und Situation zu eröffnen vermöchten. Eine Kamera, die sich dem Geschehen anheim gibt, in den Fluss der Ereignisse einsteigt, mitschwimmt, (relativ) nicht-eingreifend ist und improvisiert, ohne dieses „Dabei-Sein“ als favorisierten Ort der Herstellung von Bildern zu kennzeichnen, schlägt, statt einen Raum der gegenseitigen Produktion mit seinem Versprechen auf plötzliche Übergänge vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Realitätseffekt zur „Wahrheit“ zu realisieren, in ein System der Reproduktion der bifurkatorischen Grenze um. Nachdem die Protagonisten – ganz im Gegensatz zu den Filmemachern – in Algerien festgenommen werden, dethematisiert sich der Film ein weiteres Mal selbst, indem er diesen Bruch mit einem befriedenden Off-Kommentar kittet und mit einem Opferdiskurs abdankt: Bleibt schließlich der mutige Beitrag der Protagonisten, die „Zeugnis abgelegt“ haben über etwas, was dem Publikum bislang verborgen und skandalöserweise verschwiegen blieb. Ein solcher Duktus verwaltet das Risiko der Aktualität eines Reise- oder Abenteuerfilms, das der Attraktion der begleitenden Narration letztlich zugrunde liegt, mit rituellen Skandalisierungs- und Humanisierungsappellen, die sich an einen außerhalb des Films liegenden Raum richten, der seine eigenen distanzlosen Praktiken gegenüber den realen Bedrohungsszenarien, in denen

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sich die Protagonisten befinden, legitimieren soll. Auf diese Weise entsteht ein Erzählfluss, der „von der Front dort draußen“ kontrolliert in die Richtung einer aufgeklärten Zuschauerschaft – „wir hier drinnen“ – verläuft. Nicht zuletzt wird der ZuschauerIn das Dabei-Sein als eine Technoimagination angeboten, etwa als Bilder der hartnäckig oft eingesetzten Infrarot- und versteckten Kameras, ohne dass deren Zusammenhang mit den Technologien der Kontrolle, Überwachung und Normalisierung der Körper in Erscheinung träte. Lässt also das bewegliche Auge der Kamera – ein Ich-Apparat des Sehens –, das die Narration von Passage-Erzählungen motiviert, gerade dort Subjektivitäten der Migration aufscheinen, deren Bild nicht bereits ihre Reterritorialisierung antizipiert, wo sie sie dem Sichtbaren entzieht oder sie aus dem Realität evozierenden Kamerazugriff fliehen lässt? Tatsächlich schienen es mir gerade die Szenen des Abschieds von den begleiteten Protagonisten zu sein, die etwa in Exodus oder Voyageur clandestin eine Art Subjektivität der Passage am dichtesten einzufangen vermögen. – Vielleicht gerade weil sie nicht Folge einer erzählten Ankunft der Protagonisten sind, sondern aktiver Eingriff oder Einbruch der filmischen Erzählung und Realität, auf der sich so eine Art Abdruck von Transit oder Passage einträgt. Yuli: „Gehen hier unsere Wege auseinander?“ – Oleg Assadulin: „Ja.“ – Yuli: „Dann mach’s gut. Europa sei mir gegrüsst! Adios.“ – Im Abspann werden noch zwei weitere Stationen von Yuli aufgeführt: Heathrow, wo er bei einem Einreiseversuch festgenommen und abgeschoben worden sei; heute lebe er in Berlin. „Die Realität des Films selbst zu leugnen, indem man behauptet, eine Realität einzufangen“, so Trinh T. Minh-Ha, bedeute, „‚in der Ideologie‘ zu verbleiben – d.h. einer (bewussten oder unbewussten) Verwechslung des Filmischen mit der Welt der Phänomene Vorschub zu leisten.“ (Minh-Ha 1998, 317) Das heißt aber nicht, dass sich die gute Story einer Passage nicht in einem Dokumentarfilm erzählen ließe. Vielmehr schlägt Minh-Ha eine Verschiebung der Optik vor: Nicht ein Sprechen-Über, das biunivoke und territorialisierte (draußen/drinnen, selbst/anderes) Wissenssysteme (re)produziere, sondern ein Sprechen, das zum Sprechakt selbst spricht und so das dualistische Verhältnis von Subjekt und Objekt breche; dafür schlägt sie den Begriff des „speaking nearby“ vor, eine Figur des Dabeiseins oder Begleitens, die als indirektes Sprechen ausdrücklich mit ihrem Eigenleben rechnet, um Momente des Übergangs zu eröffnen, die dann verloren gingen, sobald man ein Wort, ein Bild einsetze. (Minh-Ha 1995, 67-68)

Das Lager sprengen Gegenüber der Passage erscheint das Lager als ein Ort in den Geographien der Migration, an dem diese einem erfassenden, überwachenden Blick in

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weit stärkerem Maße bereits unterworfen ist. Filme, die sich mit solchen Orten der Einschließung und Entschleunigung beschäftigen, sind meistens darauf angewiesen, Zugang und Drehgenehmigung „von oben“, also etwa von der Lagerleitung zu erhalten. So auch Welcome to Holland von Sarah Vos, 100 min., Niederlande 2003, der während zwei Monaten in Campus Vught, einer geschlossenen Anlage für minderjährige abgewiesene AsylantragstellerInnen, abgedreht wurde. Das Operationsgebiet der Kamera dringt hier in einer Weise in die Lager-Anlage ein, die hilft, die dortige Ordung in der Folge zu Fall zu bringen. Ohne fixen Standpunkt bewegt sich das sehende Auge der Kamera durch das Lagergelände; ohne klare Positionierung ist seine Blende in dieser gefängnisähnlichen Institution mit über Uniformen sichtbar markierten streng zugewiesenen Rollen insofern gefährlich ‚offen‘, als nun alle Personen dort versuchen, sich selbst und gleichzeitig die anderen im Bild zu reflektieren und zu kontrollieren. Das vorgängige Blickregime der LagerAnlage, das sich zwischen einem machtvollen, rationalen Zentrum mit privilegiertem Durchblick, von dem aus man sieht ohne gesehen zu werden und Strömen, die sich ihm unterordnen, sich darauf ausrichten oder davor fliehen, aufspannt, und in dem Coaches und Wächter über jugendliche Insassen vor allem die Macht der Verschließung gegenüber der Gesellschaft verhängen, gerät ins Wanken. Die Anwesenheit des Filmteams führt an diesem Ort Blicke ein, die eher einer flexibilisierten Selbstherrschaft folgen, bei der eine bewegliche und kontingente Norm in und durch die Subjektivierung aller als zugleich Überwachende/Beobachtende wie Überwachte/Beobachtete hervorgebracht, verhandelt und reguliert wird – und bei der sich immer – wenn auch nicht voraussetzungslos – die mobilisierende Möglichkeit einer Neuanordnung von Identitäten, Handlungsfähigkeit und Macht stellt. Die Lagerinsassen, so erzählt es der Film, werden sich sehr rasch darüber bewusst, dass die Kameras ihnen nicht nur die Möglichkeit bieten, Bilder (über deren Kontrolle sie nicht verfügen) aus dem Lagerinneren nach außen, in die Öffentlichkeit zu tragen, sondern dass sie unmittelbar eine Öffentlichkeit vor Ort schaffen, einen Raum der Artikulation über das eröffnen, worüber es hier qua panoptischen Machtdifferentials bislang keinen Verhandlungsspielraum gab: ihr Recht, sich über das eingezäunte und bewachte Gelände hinaus zu bewegen. Sie treten in Streik9 und nut9 Streik bedeutet in diesem Falle die verweigerte Kooperation bei all dem, was von der Einsperrung ablenken soll, wie etwa der rigide Rund-um-die-Uhr-Stundenplan mit Unterricht, Sport, Haushalt etc. und jene Sozialtechnologien, die gutes Verhalten mit Keksen, Taschengeld und einem erhöhten Grad an Privatheit belohnen, organisiert über ein auf Mitgliederkarten und Spezialpässen erhobenes Punktesystem, für alle sichtbar gemacht über die Farbe der Uniformen. Rot ist dabei die höchste Stufe, Senior C; abgestuft folgen Senior B, die ‚Rookie-Phase‘ in grün und die Eintrittsphase in der eigenen, zivilen Kleidung.

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zen dabei die Kameras als Instrument im Kampf gegen die Lagerbedingungen: Als eine Art Subjektivierungsmaschinen treiben sie die (Re)Produktion des hierarchisierten Gesellschaftsraumes Lager an, indem sie neue Selbstinszenierungen der alten SprecherInnenpositionen abfordern, aber auch erlauben. Sehr früh im Film kommentieren etwa ein paar Jungs das Verhalten ihres Coaches in dessen Anwesenheit mit Blick in die Kamera: „It’s hopeless“, „No life here“, „This is a prison“, „Cookies are not our problem“, und dann: „We only get cookies because they are filming“. Théophile, der Streik-Sprecher, geht dabei noch weiter, indem er sich gegenüber der Kamera explizit als Interviewer der Lagerleitung inszeniert und sich so die Autorität verschafft, Fragen zu stellen. Der Verlauf des Films folgt den Ereignissen, bei denen Insassen, Lagerleitung und Coaches immer wieder Distanzierungen und Anpassungen an die im Lager und draussen von ihnen kursierenden Bilder als taktische Einsätze im Streik spielen, was schließlich in den Zusammenbruch des Lagersystems mündet und mit dem Auszug der Insassen durch das Lagertor, das seine Macht nun verloren hat, beschlossen wird. Der Filmanfang ist dafür paradigmatisch: Auf eine Einstellung des Lagertors folgt eine dialogische Szene in einem Büroraum der Lagerleitung. „Has Leny escaped?“ – „No, she is just gone to the toilet.“ Der Witz um Flucht und Inhaftierung macht gleich zu Anfang klar, dass die Logik des Tors sich nur insofern brechen lässt, als es gelingt, die Macht der Einsperrung als ein Verhältnis aufzuwerfen, das hier alle betrifft, sowohl die Eingesperrten als auch die sie Einsperrenden, und das Tor von beiden Seiten her gleichzeitig anzugreifen: sowohl als Schranke der Einschließung wie der Aussperrung. „Welcome to Holland“ erweist sich nicht als ein Film über das Lager „Campus Vught“, sondern als ein Film, der in Anerkennung der Regieleistung der Lagerinsassen als eine Chronologie der Auseinandersetzung um das Tor geschnitten ist. Die „Rückführeignung“ der Jugendlichen, eine bestimmte Subjektivität also, die hier an und mit ihnen produziert werden soll, wird durch den Streik nicht nur aufgekündigt, sondern in eine andere Produktivität überführt: Die während des Drehs produzierte Entfaltung und Selbstreflexion der im Lager lebenden und arbeitenden Subjekte wird aber noch ein zweites Mal gewendet, insofern die Streikenden die kommunikativen Mittel des Films nicht als Mitarbeit am Film verstehen. Sie setzen diese ein, nicht um eine bestimmte Repräsentation des Lagers zu produzieren, sondern um politisch handeln zu können. Ihre filmische Produktivität ist ihr Widerstand. Oder: Ihre „subjektive“ Kooperation ist möglicherweise zur wichtigsten produktiven Kraft des Films geworden, geht darin aber nicht auf. Das Bildermachen wird von ihnen auf generische Weise konstitutiv eingesetzt, als etwas, das neue soziale Beziehungen zu produzieren vermag. – Was die Streikenden mit dem Film produzieren, sind Subjektivierungsweisen, Wissen und Handlungsräume, immer in Richtung Flucht, aus dem Lager und aus dem Bild, in dem sie gefangen wären.

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In einem Beiblatt lobt die Produktionsfirma Welcome to Holland dafür, dass das Filmteam nicht interveniere, sondern die Ereignisse im Lager bloß beobachte.10 Anders als mein bisheriger Versuch, den Film aus der Perspektive jener aktiven Momente zu beschreiben, die die Eskalation der Auseinandersetzung um das Lagertor antreiben, betont eine solche Interpretation den dokumentarischen Modus, der „ungeplante“ Aktionen „wirklicher“ Leute, die an einem bestimmten Ort in sich selbst und für sich selbst geschähen, einfängt. – Ironischerweise betreibt gerade dieser Modus einer sich selbst erklärenden filmischen Erzählung eine Abschottung gegenüber sozialer Realität, da er auf nichts mehr zu verweisen vermag, was außer seiner filmischen Realität läge und außerhalb seiner Erzählung existierte, da er den „erkenntnistheoretischen Abstand zwischen der Welt und ihrem Bild“ gegen null schrumpfen lässt. (Vgl. Nichols 1991) In einer solchen Sichtweise verschwinden Differenzen, Widersprüche und Vielfältigkeiten vollständig in der Anschaulichkeit und Transparenz eines einzigen filmischen Sinns von „Realität“. In diesem Sinne verdeckt ein so verkürzter vérité-Blick auf Welcome to Holland nicht nur den Blick auf die machtvolle Tatsache und Positionalität des teilhabenden Sehens des Lagers durch Filmteam und ZuschauerInnen11, sondern auch auf die aktive Position der Gegenstände und Personen, die in der „Realität“ des sehenden Auges aufgehoben werden und die in Welcome to Holland als „indirekt adressierte“ Stimmen und Bilder des Lagers zur „direkten Adressierung“ nicht des Films, sondern mit dem Film übergehen. Dadurch verunreinigen sie gerade den vérité-Modus, mit dem der Film antritt, und schieben seinen „perfor10 „With no intervention of the film crew, who observes the event in the tradition of the great Frederick Wiseman, ‚Welcome to Holland‘ is present at all staff meetings, arguments, riots and moments of desperation of both asylumseekers and staff.“ 11 Der Zugang zu ‚Lagern‘ ist gemeinhin auch für Journalisten stark eingeschränkt bis verunmöglicht. So ist etwa der Film Sangatte, station balnéaire von Naïma Bouferkas, Benjamin Durand, Nicolas Poten, Wassila Zahzouma (50 min., Frankreich 2002) einer der wenigen Filme, die innerhalb des Lagers in Sangatte gedreht werden konnten. Einer anderen Strategie gegenüber der Aussperrung der bürgerlichen Öffentlichkeit aus Lagern, bediente sich der italienische Journalist Fabrizio Gatti, als er sich für eine Reportage im Corriere della sera unter falscher Identität – als Roman Ladu aus Bukarest – Zugang zu dem Abschiebelager Via Corelli (Milano) verschaffte. (Corriere della sera, 19. Januar 2000) Sein journalistischer Appell für die Freiheit der Information wurde 2004 mit einem Strafverfahren quittiert und erinnert an Frederick Wisemans jahrzehntelange filmische Auseinandersetzung mit öffentlichen Institutionen: Institutionen, die öffentliche Gelder erhielten, unterlägen dem Recht der Bürger, so Wiseman, die Operationen dieser Institutionen zu verfolgen und zu beobachten; Zugangsrecht um zu informieren sei ein konstitutionelles Recht.

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mativen Modus“ (vgl. Nichols 1991) an, der eher als ergründet, was in diesem Lager vor sich geht, auslotet, was dort sein könnte. Die Insassen des Lagers externalisieren sich nämlich niemals als vérité; sie kodieren die Potenzialitäten des Films mit ihren „realen Interessen“. Sie spielen ihren Einsatz zwar auf dem Terrain des Produktionsmittels Kamera aus, kämpfen aber nicht um die Realisierung des Produktes Film, sondern um den Auszug aus der Situation, die Voraussetzung dieses Produktionsverhältnisses war. Ein neues Gesicht zeichnet sich am Horizont der Migration ab: die Flucht aus dem Dokumentarfilm, in dem gälte, unbezahlterweise die eigene Rolle zu spielen.

Verträge abschließen und träumen Welche filmischen Kooperationsweisen, verstanden als Konstituionen einer Öffentlichkeit, einer Autonomie, mit der filmisch gearbeitet wird, eröffnen in einer migrationspolitischen Perspektive betrachtet neue Spielräume? Wie moduliert – im Sinne eines „modulierenden“ Machttypus, der sich der Gestreutheit, Mobilität und Veränderlichkeit der zu formenden Kräfte und Subjekte anschmiegt – ein Film den Raum zwischen der Erfindung und Behauptung von Lebensweisen und den Wünschen der Migration in der Politik kulturellen Experimentierens oder in der Kultur politischen Experimentierens? Auch wenn er das Verhältnis zwischen der Macherin des Filmes und der ihn bevölkernden Personen nicht explizit artikuliert und diesbezüglich einer recht klassischen Repräsentation filmischer Arbeitsteilung verpflichet bleibt, liegt dem Film Tanger, le rêve des brûleurs von Leïla Kilani (54 min., Frankreich 2002) ein geheimnisvoller Vertrag mit seinen vier ProtagonistInnen zugrunde. Sie stehen zwar mit der Anwesenheit ihrer Körper und Artikulation in seinem Zentrum, und doch nähert sich der Film eher als ihren Personen ihrem jeweiligen Blick an, den sie von der Stadt Tanger aus auf den provozierend sichtbaren und greifbar nahen Horizont jenseits der Meerenge richten. Der Film erzählt diesen Blick in seiner singulären Potenzialität, in der Einzigartigkeit von Tricks und Phantasien, die es am jeweiligen Ich vorgenommen für die Brûleurs12 zu entwickeln gilt. In die12 „Le mot ‚brûler‘ été invené par les marocains dans les années 90. On disait que quelqu’un ‚brûle’ quand il ne payait pas son ticket de bus par exemple. Jusque là, peu de Marocains avaient un passeport. Mais lorsque le Européens ont fermé leur espace en instituant Schengen, les Marocains ont facilité à tous l’obtention du passeport. ‚Brûler‘ est devenu ‚prendre une barque et traverser‘: quand on est de l’autre côté, on a brûlé son identité. L’idée de combustion est nette: ce sont des inflammés! C’est irréversible: quand on brûle, on ne revient pas en arrière. Cela résume l’entreprise, la cristallisation dans un acte et l’irréversibilité.“ (Leïla Kilani in einem Interview mit Olivier Barlet, August 2003 – http://www.penelopes.org/xarticle.php2?id_article=4682)

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sem Sinne treten die vier Personen auch nicht eigentlich als ProtagonistInnen auf. Der Film behandelt sie weder als unterschiedliche Vertretungsstimmen einer Kategorie, noch portraitiert er sie, sondern er folgt den wenngleich hochindividualisierten, so doch entsubjektivierenden Richtungen ihrer Hoffnungen und ihres Begehrens in der Mikroarchitektur ihrer Geschichten, Gesichter und Gesten, die sich mit den Zeichen der Stadt verbinden. Obsession, Warten, Versinken und Fantasmen von Pfützen und Füßen verdichten sich in Tanger, le rêve des brûleurs zu einer verkörperten filmographischen Präsenz, zu einer Art Materie des Durchbrennens, die sich von Erzähl-, Körper- und Architekturfragmenten ausgehend rhythmisch ausgreifend ausbreitet. Diese Dimension – und das scheint mir das Geheimnisvolle seiner Verhandlung mit den Subjekten des Brûlers zu sein – gerät nicht zu einer im Filmischen aufgehobenen romantisch entgrenzten Narration, denn sie enthebt sich niemals des sie motivierenden vermachteten Spannungsfeldes, auf dem um die unvereinbare Gleichzeitigkeit zwischen Repräsentation und Verkörperung, zwischen Warten und abstraktem Traum, gerungen wird. Border von Laura Waddington (30 min., Großbritannien/Frankreich 2005) bewegt sich inhaltlich in einem recht ähnlichen Feld. Die Filmemacherin nahm in Sangatte Fragmente von Geschichten und Stimmungen von MigrantInnen auf, die dort auf eine gute Gelegenheit warten, um nach England durchzukommen. Meist nachts mit Shutter gedreht, in den Feldern zwischen Autobahnböschung und Eurotunnel unterwegs, fand sie dort über die Indienstnahme von Techniken, die im Dunkeln sehen, indem die Aufnahmezeit manipuliert und das Entfernte herangezoomt wird, halluzinatorisch verlangsamte Bewegungen grobkörnig aufgelöster und kaum erkennbarer Personenumrisse und montierte das Material mit einer eindringlich monotonen Musik und einem selbst eingesprochenen Offtext unterlegt, zu einem subjektiven Statement, das über seine Rezeption von „they“ – über die sich versteckenden MigrantInnen, seltener auch über Polizei, Behörden und AnwohnerInnen – berichtet. Man könnte sagen, Border betreibt mit seiner Darstellungsweise, die stark mit dem ästhetischen Mittel der Abwesenheit arbeitet, eine Reproduktion jener Herrschaftsmechanismen, die gesellschaftlich erst eine Positon „des Anderen“ einer regulären Sichtbarkeit zuweisen. Tatsächlich scheint der Film von einer Art Trugschluss durchzogen, nach dem sich mit der Inszenierung einer Abwesenheit von Identifikation und Personifikation bereits der Signifikation und der Figuration, vor der sich Border zu scheuen scheint, entgehen ließe. Ist es also einfach eine Aporie zu denken, man könnte Unsichtbarkeit „zeigen“? Der Begriff der Gesichtsmaschine von Deleuze und Guattari gibt ein Instrument an die Hand, um die Beziehung, die Border zwischen der Bedeutung von Anwesenheit/Präsenz/Sichtbarkeit und der eingesetzten Ästhetik der Flüchtigkeit/Unwahrnehmbarkeit herstellt, zu befragen. Deleuze und

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Guattari sprechen von einem „weiße Wand/schwarzes Loch“-System, in dem sich das seltsame Sprechen aus einer „internen Externalität“ bei Border durchspielen lässt: Aus den dunklen Landschaften des Bildschirms, in die die Filmemacherin probehalber eintaucht, löst sie den wahrzunehmenden Gegenstand – einen transmigrantischen Körper – heraus, um ihn dorthin auch wieder verschwinden zu lassen. Die Landschaftlichkeit, der dunkle, animalische Grund ist der Signifikant der Situation „Sangatte“, aus dem sich die bewegte Stelle der Körpers als Signifikation herausschält, um sich zu einem „Gesicht Sangatte“ zusammenzusetzen. Dieses „Gesicht“ ist kein Referenzzeichen einer individuellen Identität, sondern ein System von Zeichen, die eine Zone des Wahrnehmbaren und Verstehbaren organisieren: Traurigkeit und Einsamkeit als „Mitgefühl“ der Filmemacherin („It was so sad, so lonely...“ lautet der erste Satz in Border) sind es, die den Film und seine Figurationen antreiben und auf die er dramaturgisch zuläuft: ein potentielles „you“ – ein vollständiges Gesicht, das dem sprechenden „ich“ wieder ähnlich geworden wäre.13 Dieses Begehren, das eine plastische Rekonstruktion aus einem Gesicht, das Differenz als Differenz inkarniert, wünscht, es vom Auswischen und Verschwinden im despotischen Signifikanten „Sangatte“ erretten will, vermag dies bloß im Hinblick auf ein im Verhältnis zum „ich“ reterritorialisierten „you“ zu tun: Der Schluss des Filmes erzählt von einem Brief an die Filmemacherin, in dem ein Migrant nach seiner Ankunft in England schreibt, warum er niemandem erzählen könne, dass er einmal in Sangatte gewesen sei. – Wer Border gesehen hat, hat offenbar „gesehen“ und das heißt hier auch „verstanden“, warum „man“ darüber nicht sprechen kann, warum Subjektivitäten im Transit verborgen bleiben; mehr „gibt es“ scheinbar nicht. Beide Filme, Tanger, le rêve des brûleurs und Border befassen sich mit dem Problem der Sichtbarkeit des Transitraums. Und beide Filme versuchen die dortige Unsichtbarkeit als Beschränkung und als gesellschaftliche Kondition mit den Mitteln des Films zu überschreiten, zu unterwandern, diesen Ort genauer, anders oder intensiver sichtbar zu machen als er gemeinhin wahrgenommen wird. Indem Border dort mit optischen Mitteln der Sichtbarmachung operiert und sich für all das interessiert, was sich versteckt hält, flüchtig ist oder sich im Geheimen abspielt, ist der Film implizit einem Ideal von Sichtbarkeit verpflichtet, das erhellt, was dunkel ist und ins rechte Licht zu 13 In ihrem Kapitel über die Gesichtsmaschine argumentieren Deleuze und Guattari, der Rassismus entdecke nie die Partikel des Anderen, sondern verbreite Wellen des Gleichen, bis zur Ausrottung dessen, was sich nicht identifizieren oder nur mit einem bestimmten Abweichungsgrad identifizieren lasse. Der Rassismus lasse sich als eine duale Maschine der Moderne identifizieren, die sich der Konstitution und Stabilsierung von Grenzen widme, damit alles an seinem Platz bleibe – innen/außen, Subjekt/Objekt, menschlich/nicht-menschlich etc. (Vgl. Deleuze/Guattari 1997: 230ff.)

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rücken bestrebt. Dabei wird die Sozialität dieser Zone als eine Konfiguration der sichtbaren Unsichtbarkeit geortet, was – wie wir gesehen haben – jegliche Produktivität, Potenzialität oder hartnäckige, vielleicht sogar redundant wirkende Determiniertheit einer migrantischen Differenz ausstreicht oder in einem humanisierenden Schrecken neutralisiert, um stattdessen einsichtige Bilder von bürgerlicher Identität als Simulakren der Gleichheit dorthin zu projizieren.14 Tanger, le rêve des brûleurs versucht dagegen jenes Gebiet in einer Konfiguration der Sichtbarkeit zu beleuchten, das für sich selbst unsichtbar bleibt, nämlich den Blick, das Auge, das Sehen im sozialen Ort des Transits. Dadurch schränkt sich die Problematik der Sichtbarkeit auf eine Bedingtheit der Blicke ein, und der Film untersucht von dort aus jene Bedingungen, die nun vielmehr als Konditionen auftreten, unter denen Sichtbares übersehen wird. Auf diese Weise erscheint Migration weniger als etwas im dualistischen Sichtbarkeitsregime Gefangenes, sie muss nicht zwischen der verfehlenden und changierenden Zuschreibung als Anderes oder Gleiches gefasst werden. Sondern sie tritt als Größenordnung auf, die etwas anderes sehen und verstehen will, ein Begehren nach dem Anderen ist. – Der letzte von einer Protagonistin in Tanger, le rêve des brûleurs gesprochene Satz drückt es so aus: „I want to see that other world.“

Zwischen der Sichtbarkeit und der Unsichtbarkeit hindurchgehen Nicht so anders als Border vielleicht versucht auch Tanger, le rêve des brûleurs das Verhältnis zwischen Repräsentation und verkörpertem Sehen in einen Filmschluss aufzulösen und die Frage zu beantworten, mit welchem Effekt einer möglichen Neuanordnung von Sichtbarem und Unsichtbarem das Filmprodukt aus seiner Untersuchung der Transitzone hervorgeht. Einerseits kündigt das Ende den zuvor als Kontinuität angelegten Fluss des Sehens auf, denn auch dieser Film ist dem epistemologischen Paradigma unterworfen, wonach ein Auge nur insofern etwas zu sehen vermag, als es sich selbst nicht sieht. Ab dem Moment, wo die filmische Narration auf die Zone jener Entscheidungen auftrifft, die sich auf den physischen Brûleurs austragen und dort Markierungen absetzen, bricht sie die Rückbindungen an das verkörperte Bild ab. – Wer die Grenze physisch übertritt, tritt in eine Konstellation ein, bei der das sorgsame Abwägen von 14 Was auch immer etwa der „Preis“ war, den die Leute dafür bezahlten – Border interessiert sich nicht für die recht grosse Zahl von etwa 85% der 50.000 von 1998 bis 2002 in Sangatte untergebrachten Flüchtlingen, die es geschafft haben, nach Großbritannien zu gelangen, wo sie zu dieser Zeit noch einen legalen Status bekommen konnten (vgl. AnArchitektur 2002). Border interessiert sich auch nicht für die lokalen, innenpolitischen oder mulitlateralen Auseinandersetzungen um Sangatte und die aktive Rolle der TransmigrantInnen dabei.

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DIE GRENZE FILMEN

Auftauchen, Sichtbarwerden und Verschwinden zur Bewegungsbedingung, zum Einsatz des Durchgehens (in ein mögliches Wiederauftauchen) wird. Durchbrennen als soziale Praxis unterliegt letztlich anderen Konditionen als das Durchbrennen der filmischen Erzählung, so scheint der Film zu entscheiden, auch wenn beider Attraktion in der Hoffnung zu liegen scheint, eine Destination zu erreichen, in der ein illegitimer, ein markierter Körper legitim, diskret wird, in der ein sozial und kulturell bezeichneter Körper zu einem abstrakten, freien Körper würde. Der Film schließt mit einer Schnittfolge in die Abstraktion ausgesetzer, entsubjektivierter Interaktionen von Füßen, Händen, Geräuschen von Aufprall, Gitterstäben und orientierungslosen Schranken, die den Durchbruch Richtung Traum als abstrakte Konfiguration erzählt. Einerseits verlässt diese Politik der Sichtbarkeit ein illustratives Sprechen über Migration. Andererseits ließe sich in gewisser Weise die These wagen, dass Leïla Kilani mit diesem Schluss die Figur der Autonomie der Migration in eine filmische Wirklichkeit übersetzt, indem sie an jener Stelle, wo üblicherweise die Grenze als Problem identifiziert wird, die Kondition der Narration modifizierend, eine Metapher einsetzt, zu der die Erzählung schließt. Indem der Film sich aber um das Sehen selbst dreht, um einen Traum, der in Tanger geträumt wird, läuft er auch auf einen unhintergehbaren Scheidungsgrund von Sichtbarem und Unsichtbarem zu und stellt mit seinem Schluss, der den Wert der Träume der ProtagonistInnen nicht an (deren) Realitäten bemisst, sondern an seinem eigenen affirmativen Ausdruck, dessen verborgener Reichtum und Überfluss an Möglichkeiten in die filmische Darstellung zurück verweisen und dort die Frage aufwerfen, ob Durchbrennen immer bedeuten müsse, in so etwas wie einer reterritorialisierten Sichtbarkeit wieder aufzutauchen und anzukommen. Wenn Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit im Sehen jeweils ineinander enthalten sind und dort in einem beweglichen Verhältnis zueinander stehen, könnte es dann nicht auch sein, dass sich die Konzentration auf die Bedingungen des wahrnehmenden Blicks, wie sie für das Brûler unabdingbar ist, einem unhintergehbaren Scheidungsgrund von Sichtbarem und Unsichtbarem anzunähern vermag? In der Geschwindigkeit seines Sprungs durch die Konfiguration der Sichtbarkeit entzöge sich ein Körper der Identifizierung und der erzählerischen Orientierung und würde beliebig. – Diese Zeit als sozialen Raum mit Bildern zu füllen, lässt sich in einer migrationspolitischen Perspektive offenbar noch schwer ausagieren.

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AUTONOMIE DER MIGRATION. 10 THESEN ZU EINER METHODE Manuela Bojadžijev/Serhat Karakayalı

Das Wort Transit bedeutet hindurchgehen, aber auch darüber hinausgehen. Tatsächlich haben wir mit dem Projekt TRANSIT MIGRATION uns einer Perspektive zu nähern versucht, die diesen Grad zwischen hindurchgehen und darüber hinausweisen in den Blick nimmt. Und zwar in doppelter Hinsicht. Erstens interessierte uns quasi forschungspragmatisch, mit den Migrationsbewegungen jene Linien und Routen zu verfolgen und aufzuspüren, die den bisher kaum beforschten südosteuropäischen Teil Europas durchziehen und die gleichzeitig in Richtung der EU weisen. Anhand der Migrationsbewegungen und der sich ihnen entgegenstemmenden Migrationspolitiken wollten wir an den Rändern der EU die Umrisse eines neuen europäischen migrationspolitischen Regimes, eines Migrationsregimes im Werden entziffern. Zweitens interessierte uns gesellschaftstheoretisch zu untersuchen, was für und an Migrationsbewegungen symptomatisch ist, nämlich das Überschreiten von Grenzen, das Durchqueren von Territorien, das Verstricken von Kulturen, das Erschüttern von Institutionen (wie Nationalstaaten aber auch Bürgerrechte), das Verbinden von Sprachen und die Flucht aus Ausbeutung und Unterdrückung – mit anderen Worten: zu untersuchen, was durch diese Bedingungen aktueller Formen der Vergesellschaftung hindurchgeht, um darüber hinauszuweisen. Wir haben das Konzept der Autonomie der Migration als methodische Grundlage für das Forschungsprojekt gewählt. Es soll nicht verschwiegen werden, dass diese Methode sich – auch im Rahmen unseres Projekts – in einer Entwicklungsphase befindet. Sie nimmt neuere Erkenntnisse der Migrationsforschung auf und verwirft andere, sie kommuniziert diese mit dem in den Migrationsbewegungen und -organisationen akkumulierten Wissen und entwickelt daraus neue Perspektiven für die Forschung und die Praxis der Migration gleichermaßen. Wir möchten hier ein paar Thesen vorstellen, die den Anfang für weitere Überlegungen bilden können.

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1. „Festung Europa“ In den letzten Jahren diente das Konzept der Autonomie der Migration, die Metapher der „Festung Europa“ zu überwinden. Eine Metapher, die suggeriert, dass die migrationspolitische Strategie der EU allein auf die Abschottung gegenüber Migrationsbewegungen und die Militarisierung der Außengrenzen zielt. Zweifellos gibt es diesen Aspekt der Migrationspolitik. Wenn wir aber allein von den Institutionen und Strukturen her denken, können wir das wechselseitige Verhältnis der Determinierung nicht fassen, in dem diese Politiken den Migrationsbewegungen begegnen. Nehmen wir dieses Verhältnis in den Blick, können wir verstehen, wie das migrationspolitische Regime eine Entgegnung auf die Praktiken der Migration darstellt. Die Grenzen werden nicht einfach gesperrt, Europa schottet sich nicht ab, es entsteht vielmehr ein komplexes System der Limitierung, Differenzierung, Hierarchisierung und partiellen Inklusion von Migrantengruppen.

2. Kein Wasserhahn Bis in die neueren Migrationstheorien drang bereits durch, dass das einfache Addieren von Push- und Pullfaktoren nicht genügt, um Migration zu verstehen. Die Vorstellung, nach der Menschen sich auf den Weg in die Migration machen, weil sie arbeitslos sind und woanders in Arbeit kommen wollen, greift ebenso zu kurz, wie die, die Länder der „Ankunft“ könnten Ströme von Arbeitskräften nach ihren ökonomischen Bedürfnissen lenken. Sicher, die Migration beruht auf einem Kalkül, aber nicht einem individuellen: Längst ist unumstritten, dass Migrationen nicht Projekte Einzelner sind, sondern innerhalb und auf der Basis von Netzwerken stattfinden. Die transnationalen Räume, die dabei entstehen, machen deutlich, dass Migrationen keiner Einbahnstraße folgen, viele Orte der Ankunft markieren Kreuzwege, bilden Ausgangspunkte. Sicher, Länder wie die Bundesrepublik Deutschland oder die USA haben Anwerbeabkommen abgeschlossen und Rekrutierungsbüros unterhalten: Aber sie waren nicht die „ersten Beweger“ der Migrationen, vielmehr waren diese Maßnahmen oftmals Reaktionen auf bereits stattfindende Migrationen, die dadurch gebändigt und regulierbar gemacht werden sollten. Migration ist eine gesellschaftliche Bewegung, in der es um Überlebensstrategien geht und die eigene Organisationsformen und -praxen hervorbringt. Der humanistisch gesinnte Ausspruch Max Frischs, „Wir riefen Arbeitskräfte, es kamen Menschen“, bezogen auf die Migration der so genannten Gastarbeiter in die Bundesrepublik seit den 1950er Jahren, ist noch heute ein wichtiger Bezugspunkt multikulturalistischer oder linksliberaler Kritik an der „kalten“ Rationalität der ökonomischen Regierung der Migration. Die

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herrschende Lesart mobilisiert Empathie mit den MigrantInnen. Aus unserer Perspektive aber ist es ein deutlicher Verweis auf die Grenzen einer Regierung der Migration. Ein Verweis darauf, dass die Subjektivität der MigrantInnen nicht auf ihre Rolle als Arbeitskraft reduzierbar ist, wie uns die Wirtschaftslehre vom „homo oeconomicus“ weismachen will. Migration ist nicht an- und abstellbar wie ein Wasserhahn.

3. Integration vs. Bürgerschaft Die politischen ebenso wie auch die territorialen Grenzen einer solchen Regierung der Migration werden freilich beständig überschritten. Dort, wo die MigrantInnen sich nicht auf ihre Rolle als Arbeitskräfte reduzieren lassen, kommen andere Machttechniken zum Einsatz. Die transnationalen Lebensweisen, der Aufbau und die Unterhaltung transnationaler Haushaltsstrukturen ebenso wie die Kämpfe der MigrantInnen finden allenthalben Entgegnung durch staatliche Forderungen nach Integration, die letztlich von MigrantInnen individuell zu leistende Anpassungsleistungen definieren. Das aktuelle Integrationsdispositiv – das wie ein Echo durch Europa hallt – kassiert migrantische Praktiken des Alltags und in sozialen Auseinandersetzungen kollektiv erhobene Forderungen ein und wechselt sie in eine andere, eine staatliche Währung um. Wo die MigrantInnen soziale und politische Rechte fordern, die den Nationalstaat und die in ihm zur Kohärenz gebrachten sozialen Widersprüche durcheinanderbringen, dient der Imperativ der Integration sowohl der symbolischen wie auch der materiellen Wiederherstellung der herrschenden Ordnung, in der nicht nur die MigrantInnen subaltern zu sein haben, sondern die die emanzipatorischen Momente der Ermächtigung ausstreichen möchten. Daher vermag es diese Ordnung der Integration nicht, von den Rechten der MigrantInnen zu sprechen. Ein Verständnis von Bürgerschaft darf sich jedoch nicht in der Institution der Bürgerrechte erschöpfen. Es sind die unzähligen Praktiken der Bürgerschaft, die das Konzept in seinen engen Grenzen herausfordern und dort überschreiten, wo sie durch kollektive Aneignung ihre Reformulierung erzwingen. Viele soziale Auseinandersetzungen, die von MigrantInnen initiiert worden sind, handeln nicht davon, Bürger zu werden – sie insistieren darauf, bereits Bürger zu sein.

4. Subjekt der Geschichte? Migrantinnen und Migranten sind keinesfalls die neuen oder alten Protagonisten gesellschaftlicher Veränderung. Kämpfe der Migration können allerdings ein neues Verständnis des Politischen konstituieren. Nicht, oder nicht

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nur, weil die darin erprobten transnationalen Vergesellschaftungsformen die nationalstaatliche Einfassung des Sozialen beständig zu überfluten drohen. Vielmehr ist der Bewegung der Migration tendenziell etwas Exzessives zu eigen, sei es, im Moment der „Flucht“ aus den schlechten Verhältnissen oder aufgrund der Tatsache, dass Migrationsbewegungen und ihre beständige Neuzusammensetzung, niemals integrierbar sind.

5. Keine Schurken, keine Opfer Der Migration ihr „subjektives Gesicht“ zurück zu geben, heißt weder von individuellen Schicksalen zu sprechen, noch – in einer emphatischen Überhöhung – subjektive Praxis von MigrantInnen zu einem beständigen Garanten für Subversion zu erklären. Es heißt zunächst, dem nachzuspüren, was unter den herrschenden Bedingungen die Vorstellung einer Subjektivität der Migration verzerrt. Gegenwärtig oszilliert diese Subjektivität in öffentlichen Diskursen zwischen zwei – oftmals geschlechtlich kodierten – Figuren: dem Migranten, dessen tendenziell kriminelle Mobilitätsenergie gesellschaftsbedrohliche Züge annimmt, einerseits und dem Opfer von Schleppern, Migrationsnetzwerken, aber auch der schlechten Verhältnisse, die es zur Migration zwingen andererseits. Diese Aufspaltung in Villains und Victims der Migration kommt der repressiven Kontrolltechnokratie gelegen, kann sie doch so die Bekämpfung der Migration als humanitäre Maßnahme zum Schutz der unschuldigen Opfer organisierter Kriminalität arrangieren.

6. Taumel der Hybridität Ebenso wie es sich bei den MigrantInnen nicht um ein neues Subjekt der Geschichte handelt, geht es auch nicht um einen Hype migrantischer Identität, wie er in manchen Ansätzen zu Hybridität in den Cultural Studies vertreten wird. Autonomie meint nicht das freie Verfügen über Identitätspositionen. Das Paradigma der Hybridität verlässt das Terrain der Repräsentationspolitik, die fest mit Vorstellungen von Identität verbunden sind, letztlich nicht. Identität aber ist selbst keine unproblematische Kategorie, sondern vielmehr Effekt von etwas: Insbesondere rassifizierte Identitäten, sind nicht essentiell, sondern Verarbeitungsformen gesellschaftlicher Widersprüche. Sie geben und machen Sinn! In der Nationform des Staates bedeutet das Volk-als-Nation eine bestimmte Adressierung der Menschen auf einem staatlichen Territorium, das kapitalistisch kodiert werden muss. Das Gleichheitsparadigma der bürgerlichen Gesellschaft macht aber erforderlich, die Grenzen der Gleichheit immer wieder neu zu ziehen. Die Rede von der Hybridität taucht überall dort auf, wo die Menschen diese Kodierung

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überschreiten und damit die Funktionsweise der Anrufungen durcheinanderbringen. Einen hybriden Raum kann es aber nicht geben, da – eine Erkenntnis der Cultural Studies – letztlich alle subjektiven Positionierungen hybrid sind, aus dem einfachen Grund, weil es keine vorgängigen nicht-hybriden Ausgangszugehörigkeiten oder -kulturen geben kann. Demnach geht es nicht um eine selbst ins Essentialistische zurückfallende identitäre Definition davon, welche Zuschreibungen und Zugehörigkeiten hybrid sind, sondern nur, welchen politischen Einsatz man mit dem temporären Herausfallen aus der Anrufung zu verbinden imstande wäre.

7. Subjektivierung und Identität Subjektivität ist keine gegebene Kategorie, sondern entsteht und verändert sich mit den gesellschaftlichen Formen, in die Handeln eingebettet ist. Diese sind aber selbst nicht stabil, sondern eher Verkehrsformen für gesellschaftliche Widersprüche, die in und mit ihnen ausgetragen werden. Die „Ressourcen“ der Subjektivität liegen demnach oftmals in den Formen von Kollektivität, die sich aus Konflikten ergeben. Sie sind etwa für das Kollektiv der als „national“ gefassten Arbeiterklasse zunächst auf der Ebene des ökonomischen Kampfes um den Anteil am Mehrprodukt angesiedelt, der historisch in Europa durch Gewerkschaften und Sozialdemokratie repräsentiert wurde. Für den Zusammenhang der Migration aber ist diese Ressource offensichtlich problematisch: Die beständige Infragestellung und Bewegung der Gruppe der als nationales Kollektiv gefassten sozialen Staatsbürger durch die Migration, das permanente Oszillieren der MigrantInnen zwischen Ein- und Ausschluss aus der sozialen Staatsbürgerschaft, prekarisiert deren Zugang zu klassischen staatsbürgerlichen Ressourcen der politischen Subjektivität. Aufgrund dieser Situierung an der Grenze der sozialen Staatsbürgerschaft formiert sich Migration als Bewegung im mehrfachen Sinn gegenläufig zur klassischen Arbeiterbewegung. Die so genannte Unterschichtung der migrantischen Arbeit etwa verwandelt sich unter den Bedingungen der Einschränkung der Einreisemöglichkeiten für die MigrantInnen zum „Brückenkopf“ der Migration. Die Organisierung der Mobilität und der Widerstand gegen den Rassismus bilden weitere Ressourcen der Formierung einer migrantischen Subjektivität.

8. Geschichte Die Methode erfordert ein anderes Verständnis von Geschichte. Die Kämpfe der Migration sind selbst konstitutiv für die Veränderung von Geschichte. Die Migration ist in verschiedene Kämpfe verstrickt. Sie zwingt Institutio-

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nen, Kulturen, Sprachen, ideologische Muster etc. sich zu reorganisieren, ihre Gestalt zu verändern, ihre Ziele zu modifizieren, ihre Argumente zu variieren, ihre Objekte zu tauschen. Migration existiert in ihrer jeweiligen Zusammensetzung nur in diesen Konflikten, aus denen neue historische Konjunkturen hervorgehen, sich neue Migrationsregime, neue ideologische Rassekonstruktionen, neue Bürgerrechte herausbilden usw. Diese historischen Konjunkturen verdichten sich in nationalen Situationen, mit unterschiedlichen Ursprüngen und Umgängen, die im heutigen Europa aufeinandertreffen und neue Konfigurationen entwickeln. Von der Bewegung der Migration und ihrer Autonomie zu sprechen, bedeutet demnach nicht, sie als von den gesellschaftlichen Verhältnissen getrennt oder gar enthoben zu denken. Migrationen existieren vielmehr als konkrete, in Macht- und Herrschaftsverhältnissen verwickelte Praktiken. Dies bedeutet nicht, dass die MigrantInnen dazu verdammt sind, diese Verhältnisse auf die immer gleiche Weise zu reproduzieren. Materialistisch zu denken heißt in diesem Kontext, die Idee aufzugeben, man könne Migration als abhängige Variable – zum Beispiel von Armut, Produktionsweisen oder Schleppern – definieren und die konkreten, sozialen und politischen Projekte, die die Menschen in und mit ihren Migrationen verfolgen, ausblenden.

9. Kein Kapitalismus ohne Kontrolle der Mobilität Viele sehen (besonders illegale) Migration als Vorhut eines neuen, ultraflexiblen Dienstleistungsproletariats, das aufgrund der rechtlichen und sozialen Situation, in der MigrantInnen leben und arbeiten, besonders ausbeutbar und daher besonders prekär sei. Diese Sicht nimmt eine Perspektive ein, die die Geschichte der Territorialisierung der lebendigen Arbeit ausblendet. Denn der Gegensatz zwischen einer sesshaften und einer mobilen Arbeitsbevölkerung ist selbst das Produkt von sozialen Kompromissen auf nationalstaatlicher Ebene. Die ersten Proletarier in Europa waren aber mobile Arbeiter. Menschen, die aus den Bedingungen der feudalen Produktionsweise geflohen waren, um in den Städten zu arbeiten und die überall in Europa als Vagabunden, Arme und Gauner verfolgt wurden. Gegen diese Massenbewegung stellten sich neben den Fürsten, die sie politisch, auch die Zünfte, die sie ökonomisch fürchteten. Historisch gesehen standen die „gefährlichen Klassen“, der „Mob“ (ein Ausdruck der sich bezeichnenderweise aus dem lateinischen Wort für Bewegung herleitet), all das, was man heute die „Arbeiterklasse“ nennt, außerhalb des Staates. Mit der Integration dieser Gruppen, ihrer „Nationalisierung“ wurden alle Eigenschaften, die ihnen zugeschrieben worden waren, an die Grenzen des nationalen Staates verlagert. Strukturell wurde dies dadurch stabilisiert, dass Lohnform und Warenförmigkeit der Arbeitskraft den

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Arbeitsmarkt zu einem Kampfterrain machen: Verdrängt wurden Frauen und Kinder als „Schmutzkonkurrenz“ vom Arbeitsmarkt. Zur Schmutzkonkurrenz zählten auch die „Ausländer“ – weshalb es kein Zufall ist, dass es historisch immer wieder Gewerkschaften waren, die sich gegen Migration gestellt haben. Die Gewerkschaften sind die Zünfte unserer Zeit.

10. Autonomie Autonomie entsteht in sozialen Auseinandersetzungen, in denen neue Formen von Kooperation und Kommunikation, neue Formen des Lebens konstituiert werden. An der Beharrlichkeit der Migrationsbewegungen, dem Drang zur Mobilität auf der Basis von sozialen Netzwerken knüpft das Konzept der Autonomie der Migration an. Im Prozess der Migration entziehen sich Migrantinnen und Migranten bestehenden Formen der Vergesellschaftung. Allerdings liegt eine Dialektik in jedem Aspekt der Autonomie der Migration. So ist etwa die Mobilität die Quelle der Ausbeutung, insofern Kapitalismus auf der Mobilität von Arbeitskräften beruht, zugleich ist Mobilität die Quelle der Flucht aus Verhältnissen von Ausbeutung und Unterdrückung. Migration ist weder frei von bestehenden Formen der Vergesellschaft, noch lässt sie sich vollkommen kanalisiert denken. Die Prozesse der Migration installieren neue Formen der Vergesellschaftung. Sie können zu bestimmten Haushaltsstrukturen, politischen Organisationen und ökonomischen Produktionsweisen führen, die von prekarisierten Arbeitsverhältnissen bis zum kapitalistischen Betrieb reichen. Die sozialen Netzwerke können verregelte Communitys mit festen Identitätsmustern ausbilden. Autonomie und Heteronomie stehen deshalb niemals isoliert da. Und nicht selten wird Autonomie in Situationen behauptet, die letztlich zu ihrer Zerstörung beitragen. Was von den Spuren und Linien der Autonomie bestehen bleibt und was sich als Weg herausstellt, der sich bloß vorübergehend auftut, aber dann abbricht, ist immer neu zu überlegen.

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ALTE TRÄUME, NEUE PRAKTIKEN: MIGRATION UND KOSMOPOLITISMUS AN DEN GRENZEN EUROPAS Regina Römhild „The time has now come to get rid of these old cumbersome burdens and to be ready for whatever turns up, usually so different from what was expected, to get rid of the inept among the old and create new energies among the young. Today, in an effort to begin shaping the outlines of the future, those who have understood the reasons for the current crisis in European civilization, and who have therefore inherited the ideals of movements dedicated to raising the dignity humanity, which were shipwrecked either on their inability to understand the goal to be pursued or on the means by which to achieve it have begun to meet and seek each other.“ (Spinelli/Rossi: For a Free and United Europe. A Draft Manifesto. 1941)

„Europa lässt uns nicht träumen“, sagt die Philosophin und Feministin Rosi Braidotti (2005, 833). Was fehlt, sei ein „soziales Imaginäres“, das sich nicht wieder nur aus dem Ideenreservoir der Nation speist, sondern eine andere Vorstellung postnationaler, „nomadischer“ Identitäten und Staatsbürgerschaften entwirft. Tatsächlich würde sich die Chance dazu ja gerade jetzt bieten, wo Europa dabei ist, sich selbst und seinen politischen Raum neu zu erfinden. Und eigentlich standen eben solche postnationalen Ideen am Anfang des europäischen Neubeginns nach dem Zweiten Weltkrieg. Rosi Braidotti erinnert an Vordenker wie Altiero Spinelli und Ernesto Rossi, die, von Mussolini auf der Insel Ventotene inhaftiert, 1941 das Manifest für ein freies und vereintes Europa schrieben, das zu einer grundlegenden Inspiration für die frühe Gründungsära der Europäischen Union wurde. Es war die Erfahrung des europäischen Faschismus, seines Nationalismus und Rassismus, der das soziale Imaginäre eines anderen Europas beflügelte. Und es waren vor allem Kosmopoliten der jüdischen, der anti-faschistischen Diaspora, die diesen „dritten Ort“ eines post-totalitären, postnationalen Europas als realpolitische Perspektive entwickelten und vertraten. Heute scheinen diese Ursprünge des modernen Europas vergessen. Obwohl Spinelli als Präsident der institutionellen Kommission des europäischen Parlaments noch 1984 selbst einen Verfassungsentwurf entwickelt hat, erscheint er in den aktuellen Selbstdarstellungen der EU allenfalls als historische Randfigur, die in der Liste der Gründungsväter neben Robert Schumann oder Jean Monnet keinen offiziellen Platz mehr hat. Europa, so Brai-

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dotti, „hat sich für die Amnesie und das Vergessen“, „für die Verneinung der eigenen Geschichte“ entschieden (2005, 833). Der kosmopolitische Traum von einem offenen Europa, das seine historischen Grenzen des Nationalismus, Rassismus und Kolonialismus überwindet, ist indes nicht tot. Nur ist er heute weniger denn je eine Perspektive der politischen Eliten. Als Idee und als Forderung hat dieses Europa aber nach wie vor seinen Platz in der Diaspora: bei den Kritikern und Dissidenten der neuen Euro-Staatlichkeit und bei den Migranten, die das neo-koloniale Grenzregime der EU in ihrer Praxis bekämpfen. Allerdings zeichnet sich hier eine neue, entzauberte Figur des Kosmopolitismus ab, die weniger von einer Ethik denn von einem Pragmatismus der Grenzüberschreitung geprägt ist. Der „diskrepante“ Kosmopolitismus (Clifford 1998) der Migranten, die sich heute mit dem neuen Europa auseinandersetzen, eignet sich weder für die romantisierende Rückgewinnung eines revolutionären Subjekts, noch für eine humanitaristische Polarisierung von „Opfern“ und „Tätern“ an Europas Grenzen. Der „dritte Ort“, den die Migrationen heute entwerfen und praktizieren, ist eine Heterotopie der Diaspora, die sich mit den realen Bedingungen einer prekären, „nomadischen“ Existenz arrangiert und so zu einem „Widerlager“ der europäischen Grenzordnung wird. „Wenn du nach Ungarn willst, dann passiere die grüne Grenze nach Österreich und lass dich festnehmen; wenn die Grenzpolizei fragt, durch welche Länder du nach Österreich kamst, sag ‚über Ungarn‘ – und du wirst postwendend dorthin gebracht, dank der Regelung des ‚sicheren Drittstaates‘ und der ‚first-country-regulation‘“ (TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe 2005, 690). Die Migranten im Motel „1000 Rosen“, einem improvisierten „Auffanglager“ nahe Belgrad, sind mit dieser Reiseempfehlung auf dem neuesten Stand ihrer eigenen Grenzforschung. Sie wissen, dass Ungarn derzeit vergleichsweise gute Bedingungen bietet, Asyl zu beantragen. In den anderen Regionen Südosteuropas, die als „Einfallstore“ in die EU gelten, kommt man dagegen als Flüchtling aus den ökonomischen und politischen Krisenregionen der Welt fast nur noch mit „illegalen“ Praktiken des Grenzübertritts weiter. Der Reiseweg von Serbien nach Ungarn ist einer der vielen Pfade, auf dem sich die globalen Migrationen ihre Wege entlang und über die Grenzen der Europäischen Union bahnen. Er zeugt von dem spezifischen Wissen, das Migranten an diesen Grenzen erwerben – und von der Ironie, sie mit ihren eigenen Mitteln zu unterlaufen und sich auf diese Weise selbst an der praktischen Ausgestaltung des Arrangements „Grenzregime“ zu beteiligen. Diese kenntnisreiche, kollaborative Praxis der Migration ist, das zeigen die TRANSIT MIGRATION Forschungen, Bedingung und Herausforderung zugleich für das „Grenzland Europa“ (Balibar 2005), wie es sich gegenwärtig von Süden und Osten, von der „Peripherie“ her, formiert. Im Prozess dieser Formierung erweist sich Migration als ein Motor der Transnationalisie-

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rung: mit ihren grenzüberschreitenden Bewegungen und Verbindungen führt sie dem Nationalstaat die Grenzen seiner Kontrollmacht vor und fordert so die Erfindung neuer, ihrerseits transnational operierender Regierungspraktiken heraus. Dass Europa heute vor allem in der Grenz- und Migrationspolitik als Prototyp einer New Governance jenseits des nationalstaatlichen Hoheitsmodells gelten kann, ist auch eine Konsequenz dieser Kräfte der Migrationen, eine Folge ihrer „Autonomie“ (Mezzadra 2005). Die Szenarien einer politischen Transnationalisierung haben den alten kosmopolitischen Traum von der Überwindung nationaler Barrieren zugunsten einer weiter gefassten, potenziell „weltbürgerschaftlichen“ Orientierung in Politik, Gesellschaft und Kultur auch in den Sozialwissenschaften wiederbelebt und eine neue Debatte zum Konzept des Kosmopolitismus angeregt (vgl. u.a. Cheah/Robbins 1998; Vertovec/Cohen 2002). Denn die Beobachtung, dass die alte Macht des Nationalstaats zusehends von einem neuen Geflecht (mit-)regierender Akteure und Institutionen mit potenziell globaler Reichweite überholt wird, wirft die Frage auf, wohin diese Reise führt. Der Begriff des Transnationalismus eignet sich nur zur formalen Beschreibung der Organisation, der Strukturierung, der sozialen Praxis dieser Prozesse. Gegenüber einer qualitativen Bestimmung der Inhalte solcher Politiken und Praktiken bleibt er dagegen indifferent. So können transnationale Netzwerke ebenso eine Verlängerung oder Erweiterung national(istisch)er Politiken und Kulturen über das nationalstaatliche Territorium hinaus bewirken (vgl. Basch u.a. 1994) wie das genaue Gegenteil: die Entfaltung eines dritten diasporischen Raums, in dem identitäre und politische Positionen gerade aus der dauerhaften Distanzierung zu nationalen Herkünften und Zuordnungen entwickelt werden (vgl. Clifford 1994). Mit ihren Versuchen, das alte Konzept des Kosmopolitismus für einen aktualisierten Gebrauch zu reformieren, tritt die Debatte zur Transnationalisierung und Globalisierung in eine neue Phase ein, in der es auch um normative analytische Kategorien zur Beurteilung der beobachteten Prozesse geht – und um eine wissenschaftliche Imagination zukünftiger politischer und kultureller Entwicklungen. Jenseits der elitär konstruierten, universalistischen Figur des Kosmopoliten westlich-bürgerlicher Herkunft geht es in dieser Diskussion verstärkt darum, ein im globalen Hier und Jetzt bereits praktiziertes kosmopolitisches Potenzial aufzuspüren. Wer sind die Akteure einer solchen, die Grenzen der Welt in Frage stellenden Praxis? Und welche Prozesse, welche Handlungsräume befördern diese Praxis? Welche erweiterten sozialen Definitionsmerkmale politischer und kultureller Gemeinschaften lassen sich dabei entdecken, entwickeln? Solche Fragen wären ein geeigneter Diskussionsstoff für die politische und kulturelle Baustelle Europa. Denn es ist noch längst nicht endgültig ausgemacht, welcher politische Raum hier entsteht und wer seine Bürger sein werden (vgl. Balibar 2003). Bislang haben allerdings nur Ulrich Beck und Edgar Grande einen konkreten Versuch unternommen, die Kosmopolitismus-

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Debatte mit den anstehenden Fragen der Europäisierung programmatisch zu verknüpfen (Beck 2004; Beck/Grande 2004). Die globalen Bewegungen der Migration werden hier im Verbund mit den ökonomischen, politischen und ökologischen Risiken der Globalisierung als Kräfte verstanden, die ein kosmopolitisches Denken und Handeln auf transnationaler Ebene nicht nur sinnvoll machen, sondern geradezu erzwingen und so den Weg zu einem „kosmopolitischen Europa“ und – ultimativ – einer kosmopolitischen „Weltgesellschaft“ vorbereiten. Die alltägliche Präsenz von Migranten liefert dabei gewissermaßen das Anregungspotenzial für ein neues soziales Selbstverständnis, das den überholten Glauben an die nationale Geschlossenheit von Kulturen und Gesellschaften überwindet und neue Formen politischer Gemeinschaft und Solidarität entwickelt (vgl. auch Held 2002). Allerdings gehen Beck und Grande explizit nicht von einer Aufhebung nationaler und kultureller Grenzen in Europa, sondern im Gegenteil von der Anerkennung solcher Differenzen im Sinne von „Vielfalt“ aus. Daher brauche es einen „gemeinsamen Mindestbestand an substanziellen und prozeduralen Normen“, um so „den Erhalt gesellschaftlicher Integration“ bei gleichzeitigem „wirkungsvollen Schutz von Andersheit“ zu garantieren (Beck/ Grande 2004, 342). Das erinnert unmittelbar an geläufige Konzepte des Multikulturalismus, die Beck allerdings an anderer Stelle als „eine Vervielfältigung des Nationalismus nach innen“ vehement kritisiert (2004, 104f.). Mit Blick auf Europa korrespondiert diese Auffassung mit der inzwischen zur offiziellen Maxime der EU-Verfassung erhobenen „Einheit in Vielfalt“, die ebenso vom Multikulturalismus der Nationalstaaten inspiriert scheint und die Wahrung nationaler „Andersheit“ zum Prinzip der transnationalen Kooperation der Staaten erhebt. Die Grenzen Europas werden nicht in Frage gestellt, sondern erlangen als Markierungen kultureller Identitäten neue Wirkmächtigkeit: nationale Unterscheidungen im Inneren garantieren die Vielfalt, die transnationale – europäische – Abgrenzung nach außen die Einheit Europas. Der heute im Rahmen der EU-Politik anvisierte europäische Kosmopolitismus lässt sich im Kern als eine gemeinschaftlich geteilte Anerkennung von „Differenz“ verstehen. Aber dieser Kosmopolitismus erweist sich zugleich als Grundlage für eine im weiteren Sinn anti-kosmopolitische, neo-nationale und neo-koloniale Bestimmung des Europäischen über die Differenz zu einem Nicht-Europäischen, das gleichwohl historisch wie gegenwärtig an der Gestaltung Europas, an seiner auf den Kolonialismus zurückgehenden „Erfolgsgeschichte“, zentral beteiligt war und ist. Statt der historischen Chance, einen „dritten Ort“ zu entwerfen, erlebt die koloniale Figur des weißen, christlichen Europas, das sein „anderes Selbst“ (Hall 1991) erneut ausgrenzt, eine politische Renaissance. Das Prinzip der „Anerkennung von Differenz“ gehört zur Grundausstattung des Kosmopoliten traditioneller Prägung, der mit dieser spezifischen Fähigkeit und dem Wissen, das sie voraussetzt, seine „Weltoffenheit“ und

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„Weltläufigkeit“ demonstriert. Als eine prinzipielle, freiwillige Geisteshaltung der Offenheit gegenüber Fremdheit (vgl. Hannerz 1990) bleibt dieser Kosmopolitismus dem Typus des westlichen Bildungsbürgers, des Intellektuellen oder Künstlers verpflichtet, der über die entsprechenden Ressourcen verfügt, die Welt aus innerem Antrieb, ohne äußeren Zwang erfahren zu wollen und zu können. Kosmopolitismus wird hier zum kulturellen Kapital, zum Distinktionsgewinn gegenüber den „Locals“ der Welt, die auf ihren jeweils unmittelbaren kulturellen Horizont begrenzt bleiben. Dieser Kosmopolitismus lebt von der Differenz und dem Machtgefälle zwischen „Eigenem“ und „Fremdem“, ohne die er sich erst gar nicht profilieren kann. Und so trägt er eher zur Erhaltung und Errichtung von Grenzen als zu ihrer Überwindung bei. Als Denkfigur und als distinktive Selbst-Legitimation ist er dem nationalen und auch dem neuen europäischen Multikulturalismus zueigen, der von der Existenz essenziell differenter Kulturen ausgeht und diese gegen Ausgrenzung und Assimilation verteidigt, indem er sie positiv diskriminiert – und sie so als Adressaten der eigenen paternalistischen Zuwendung allerdings auch (re-)produziert. Mit den Beiträgen von Arjun Appadurai (1996), James Clifford (1997; 1998), Pnina Werbner (1999), Aihwa Ong (1998; 1999) oder Paul Rabinow (1996) wurde dieser elitäre Kosmopolitismus bürgerlich-westlicher Provenienz im Rahmen einer vor allem von Sozial- und Kulturanthropologen geführten Debatte einer kritischen Revision unterzogen. Die scheinbare Universalität dieses Konzepts wurde in einen Plural der Kosmopolitismen aufgelöst, die von den unterschiedlichen Erfahrungen und Auseinandersetzungen mit den globalen Machtverhältnissen und den daraus resultierenden unterschiedlichen Visionen von Welt und Weltbürgertum zeugen. Dabei spielt Migration und generell Mobilität eine zentrale Rolle, denn sie bringt Bewegung in diese Verhältnisse, in die Beziehungen der Menschen zu Räumen, Gesellschaften und Kulturen. Migration, Mobilität wird zur – jedenfalls imaginierbaren – Option gerade für die Unterprivilegierten, die Randständigen der globalen Hegemonie, sich einen besseren Platz auf der Welt zu suchen. Die Globalisierung, so Appadurai (1998), liefert die Bilder und Narrative für eine soziale Imagination anderer möglicher Leben; und sie setzt die Menschen auf der Suche nach diesen anderen möglichen Leben in Bewegung. Migranten werden so zu Protagonisten der Enträumlichung von Kulturen und sozialen Beziehungen, der Entbindung aus der Exklusivität des Lokalen. Diese Figur des Migranten, der Migrantin setzt den Maßstab für einen neuen Begriff des Kosmopolitischen: Statt der scheinbar ungebundenen Freizügigkeit des Weltreisenden auf der Suche nach Fremderfahrung repräsentiert es nun den gegebenen Zwang, aber auch die Fähigkeit zu mehrfachen Bindungen an unterschiedliche geographische, kulturelle und soziale Orte; eine Figur, die in sich selbst die Spannung zwischen der Peripherie und dem Zentrum der Macht aushält und gleichzeitig bearbeitet.

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Analog zu der anthropologischen Perspektive einer durch Migration vorangetriebenen Transnationalisierung „von unten“ (Smith/Guarnizo 1998) hat sich so auch die Vorstellung eines Kosmopolitismus „von unten“ entwickelt. Dies impliziert zweierlei: einen subalternen Kosmopolitismus, der nicht von den Privilegien einer ökonomischen und intellektuellen Freisetzung aus materiellen Zwängen profitieren kann; und einen Kosmopolitismus, der sich unmittelbar aus dem Pragmatismus des Alltags und der hier anknüpfenden sozialen Imagination speist. Dieser neue Typus eines subalternen Alltagskosmopoliten entwickelt seine Kompetenzen, mit „Fremdheit“ umzugehen, durch Erfahrungen, die er nicht im Rahmen eines scheinbar naiven, unmittelbaren Kulturkontakts gewinnt, sondern in einer prinzipiell von Grenzen, die gerade auch als Grenzen der kulturellen Differenz auftreten, durchzogenen und hierarchisierten Welt. In den Einwanderungsgesellschaften werden Migranten aufgrund dieses Erfahrungswissens geradezu zwangsläufig Experten für das kulturelle Unterscheidungssystem, das sie zu ethnisch Fremden macht, vor allem auch für seine banalen Erscheinungsweisen im Alltag (vgl. Terkessidis 2004). Auf der Grundlage dieses Wissens entsteht ein pragmatischer Kulturrelativismus, der sich die Wirkmächtigkeit kultureller Zuschreibungen im eigenen Interesse aneignet. Das Spektrum etikettierter „Herkunftskulturen“ wird zum Reservoir einer eigenen Gebrauchskultur: für eine temporäre und strategische Selbst-Ethnisierung, für die vielen Formen des Ethno-Mimikry, die sich dem Multikulturalismus andienen, um ihn zu überlisten (vgl. Römhild 2006). Auf dem Markt der Kulturen in den Einwanderungsgesellschaften formiert sich ein Tanz der Identitäten, der den Spielregeln dieses Marktes folgt und sie gleichzeitig gegen ihn wendet. In seiner Kurzgeschichte „Geschäftstarnungen“ schildert Wladimir Kaminer ein alltagserprobtes Beispiel. Hier lässt er die bulgarischen Betreiber eines Imbissstandes erklären, warum sie sich als Türken ausgeben: „Berlin ist zu vielfältig. Man muss die Lage nicht unnötig verkomplizieren. Der Konsument ist daran gewöhnt, dass er in einem türkischen Imbiss von Türken bedient wird, auch wenn sie in Wirklichkeit Bulgaren sind“ (Kaminer 2000, 97f.). Im Dienste ihrer ethnischen Ökonomie unterlaufen die Akteure das Authentizitätsversprechen des „kulinarischen Multikulturalismus“ (Bojadžijev 1998), der eine übereinstimmende Herkunftsidentität von Koch und Küche verlangt, und nutzen es gleichzeitig zur Maskierung einer prekären Herkunft – hier: aus einem Osteuropa jenseits der EU-Grenze –, die auf dem Tableau etablierter Fremdidentitäten keinen angestammten oder jedenfalls nur einen untergeordneten Platz inne hat. Ethnomimetische Identitätsspiele dieser Art gehören zum Alltag der Selbstbehauptung in der Einwanderungsgesellschaft: als Folge und als Herausforderung einer Politik, die das Recht auf Ressourcen, Partizipation und Zugehörigkeit von einer kulturellen Ökonomie der Herkunftsidentitäten abhängig macht. Besonders in der „Illegalität“ undokumentierter Migration können Formen

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des „Passing“, der eigenen Unsichtbarmachung durch das Abtauchen in eine andere kulturelle Sichtbarkeit, überlebensnotwendig werden. Diese Praktiken zählen zu einem breiten Repertoire von kulturellem Code-Switching, das Migranten im Umgang mit den verschiedenen sozialen und kulturellen Milieus (vgl. Pecoud 2000), vor allem aber mit den diese Milieus beherrschenden ethnischen Repräsentationen, entwickeln. Sie lassen sich als Ausdruck eines pragmatischen Alltags-Kosmopolitismus verstehen, der auf der Grundlage sozialer Erfahrungen das Wissen und die Kompetenzen erwirbt, Grenzen – in ihrer geopolitischen wie in ihrer kulturell konstruierten Gestalt – taktisch und kreativ gegen sich selbst auszuspielen. Diesem Kosmopolitismus haftet weder die Lust, noch die Last der Differenz an. Kultur und Identität sind hier keine autonomen Horizonte, die es im Sinne einer weltbürgerlichen Fortbildung zu erweitern gilt. Sie sind vielmehr untrennbar verbunden mit einer langen Geschichte hegemonialer Kultur- und Identitätspolitik, die zwangsläufig auch ein Teil der jeweils eigenen, subjektiven Geschichte ist. Und so entwirft dieser Kosmopolitismus auch keine Utopien gleichsam paradiesischer, postnationaler Zustände, sondern allenfalls prekäre Heterotopien, die den Traum vom besseren Leben jenseits der Grenzen ganz praktisch und politisch, im Rahmen des Machbaren, anvisieren. Diese soziale Imagination der Migrationen ist so schlicht wie umfassend und gleichzeitig abgeklärt. Appadurai (1998, 33 ff.) verdeutlicht dies an dem ernüchternden Beispiel der Nachtclubtänzerinnen in Bombay, denen sich der Film „India Cabaret“ von Mira Neir (1984) widmet. Die Frauen, die aus den beschränkten Lebensperspektiven ihrer Dörfer in die Stadt aufgebrochen waren, finden sich in einem Spiel wieder, das sie und ihre Körper im Verhältnis zu den männlichen Kunden nach dem Vorbild populärer Hindu-Filme inszeniert; Filme, die zugleich den Stoff ihrer eigenen sozialen Imagination enthalten. „Jede der gezeigten Frauen“, schreibt Appadurai, „ist sowohl stolz wie beschämt, würdevoll und herausfordernd, ist de facto eine Prostituierte, die sich die Identität einer Künstlerin zugelegt hat. […] Wir bekommen den Eindruck, dass diese Frauen, indem sie ihre eigenen Charaktere herstellen, ihre Biographien zusammenbasteln und dabei das ihnen zur Verfügung stehende Material aus ihrer sozialen Umgebung und dem Kino verwenden. […] ihre Motive speisen sich aus komplexen Realismusvarianten: einem kruden Realismus in bezug auf Männer und deren Absichten; einer Art kapitalistischem Realismus, der den Gesprächen der Frauen über Wohlstand und Geld zugrunde liegt; einem seltsamen sozialistischen Realismus, der ihr Selbstverständnis als ehrenvolle Arbeiterinnen im Handel mit Körpern bestimmt. […] Diese Frauen sind ein bemerkenswertes ethnographisches Beispiel […], weil ihr Ausbruch von zu Hause ihre Schwierigkeiten ausgelöst hat (wobei nicht vergessen werden darf, dass er in der Regel als Reaktion auf noch schlimmere Bedingungen am Heimatort erfolgt),

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zugleich aber der Motor ihrer Träume von Reichtum, Ansehen und Autonomie ist.“ (Appadurai 1998, 34ff.) In ganz ähnlicher Weise finden sich die Frauen und Männer, die heute auf inoffiziellen Wegen die Grenzen Europas passieren, in einem Spannungsfeld von Ausbeutung und Selbstermächtigung wieder, das sowohl von ihren Träumen, als auch von ihren vielfältigen Arrangements mit der Prekarität der „Illegalität“ zeugt. Alle Taktiken und Praktiken, die Grenzen zu überschreiten, tragen diese Ambivalenz in sich: die Netzwerke, mit denen Migranten ihre Reise organisieren, sind ein Ausdruck pragmatischer Solidarität, zugleich aber auch ein „Geschäft“, wie die Interviews im Rahmen von TRANSIT MIGRATION zeigen (vgl. Kölnischer Kunstverein u.a. 2005, 692f.), an dem die Organisatoren der Reise mitverdienen. Aber eine solche Reise ist nicht nur deshalb teuer: Die Kosten steigen proportional zur Sicherheit der gewählten Reisewege und Transportmittel, und es fallen Bestechungsgelder für die Grenzpolizisten und die Bezahlung der vielen Helfer unterwegs an. Viele Migranten nutzen ihr Erfahrungspotential und finanzieren ihre eigene Weiterreise dadurch, dass sie sich selbst als „Schlepper“, wie es im offiziellen Jargon des Grenzregimes heißt, verdingen. Die Grauzone zwischen Helfern und findigen Geschäftsleuten, die hier ihren Profit wittern, ist groß. Das betrifft vor allem auch Frauen und Kinder, die in den Händen einschlägiger Schlepper zur „Ware“ eines neuen transnationalen Grenzgeschäfts werden. Dennoch greift es zu kurz, Migrantinnen, die sich als Sexarbeiterinnen verdingen, und Kinder, die von ihren Eltern allein auf die Reise geschickt werden, grundsätzlich und pauschal nur als Opfer solcher Geschäfte zu betrachten. Denn der genauere Blick auf die Vielfalt der subjektiven Praxis zeigt gerade auch hier ein höchst unterschiedliches und oft sehr bewusst einkalkuliertes Mischungsverhältnis von Freiwilligkeit und Zwang, von Fremdausbeutung und Selbstermächtigung (vgl. Lenz 2004; 2006). Dabei erweist sich Prostitution oft als das informelle Nadelöhr, durch das Migrantinnen besonders leicht und offiziell geduldet die Grenzen der EU passieren können. So erlaubt die Berufsbezeichnung der „Künstlerin“ in Zypern Migrantinnen eine legale Einreise, wobei allseits bekannt ist, dass die Künstlerinnen anschließend als Prostituierte arbeiten werden. In einem weniger skandalumwitterten Gewerbe, aber ebenso hart an der Grenze zur Ausbeutung bewegen sich die Migrantinnen, die sich heute als Au-pairs einen Weg aus Osteuropa in den Westen bahnen (vgl. Hess 2005): meist längst erwachsene Frauen mit qualifizierten Berufen schlüpfen dabei in die Rolle spätmoderner Kinder- und Dienstmädchen, die gegen Kost, Logis und Taschengeld die Reproduktionsarbeit für ihre berufstätigen Arbeitgeberinnen übernehmen. Aber auch diese Migrantinnen sehen darin häufig nur den legalen Ausgangspunkt ihrer Migrationsstrategie, ein Sprungbrett zu anderen, möglichst selbstbestimmteren Existenzweisen. Die Verflechtungen mit dem Grenzregime, das solche Praktiken nahe legt und unterstützt, werden gerade in den neuartigen transnationalen Berufs-

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zweigen und Ökonomien deutlich, wie sie die „Peripherie“ der Grenze hervorbringt: „It is a ‚periphery‘ producing cheap, clandestine workers, prostitutes for the unsatisfied libido of rich countries, drug dealers, domestic helpers, children for adoption when fertility rates collapse, hard-working people, and care-takers of the elderly; a periphery that offers its best products to the international market at low prices […]“ (Ribas-Mateos 2005, 4). Diese Verflechtungen zu durchschauen, zu analysieren und darauf kritisch zu reagieren, wäre eine Aufgabe transnationaler Kosmo-Politik. Tatsächlich aber verhält es sich anders: Gerade die als Wegbereiter einer kosmopolitischen New Governance adressierten transnationalen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Bewegungen (Beck/Grande 2004, 242 ff.; Appadurai 2000) stellen sich dem neuen europäischen Grenz- und Migrationsregime oft eher als Hilfspolizisten zur Verfügung denn als Kritiker in den Weg. Von den vielen migrantischen Taktiken und Praktiken, die Grenzen Europas zu überwinden, bestimmen fast ausschließlich die Mobilitätsformen, die mit Ausbeutung und Gewalt einhergehen, die politische Arbeit an den erweiterten Verhandlungstischen der Europäischen Union. Und der so ausgerichtete Fokus setzt sich über die in den Medien kolportierten Diskursfiguren und Bilder bis in die öffentliche Wahrnehmung in „Kerneuropa“ fort, wo er sich mit dem Rollback der Ethnisierung verbindet, den die alten Einwanderungsgesellschaften dort gerade mit Blick auf sich selbst erleben. Parallel zu Zwangsheirat und Ehrenmord als den innenpolitischen Topoi eines neuen Ethno-Mobbings dominieren Zwangsprostitution, Frauen-, Kinder- und Menschenhandel den außenpolitischen Diskurs über die „illegale“ Einwanderung nach Europa. Für das neue Regieren in Europa ist es, wie die Forschungsergebnisse von TRANSIT MIGRATION zeigen, paradigmatisch, dass sich die Kritik von Seiten der humanitären und Menschrechtsorganisationen auf jene Akteure richtet, die diese Situation als Schlepper und Zuhälter im Dienste des eigenen Profits ausnutzen. So kommt es zu einem überraschenden Bündnis zwischen den Konstrukteuren des Grenzregimes und seinen Kritikern: den migrationspolitisch engagierten Menschen- und Frauenrechtsgruppen. Denn alle scheinen sich trotz unterschiedlicher Ausgangspositionen darin einig, dass an den Grenzen nun zwischen „guten“ und „bösen“ Migranten, zwischen „Opfern“ und „Tätern“ unterschieden werden und dass dafür die Praxis der Kontrolle weiter ausgedehnt und verschärft werden muss. Und es regt sich auch kaum Widerstand dagegen, dass Männer, die als „Schwarzarbeiter“ und Frauen, die als „illegale“ Sexarbeiterinnen in Europa entdeckt werden oder die ihre Zuhälter selbst anzeigen, ebenso wie ihre undokumentierten Kolleginnen in anderen Dienstleistungsbranchen fast immer sofort in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden. So werden im Schulterschluss mit einem sich neokolonial rekonstruierenden Europa nicht die politischen Ursachen „illegaler“ Migration, sondern ihre Effekte auf Kosten der Menschen und ihres Rechts auf Mobilitätsfreiheit bekämpft.

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Dass es zu solchen Bündnissen zwischen sich scheinbar als Kontrahenten verstehenden Akteuren kommt, entwickelt sich zu einem Markenzeichen dieses neuen Regimes der Grenze, dem es so gelingt, Vertreter höchst unterschiedlicher Interessen in seltener Einigkeit für sich zu gewinnen. Dabei kommen aber durchaus auch alte Muster der Kulturalisierung, Ethnisierung und des Rassismus zu neuen Ehren. Im Dunstkreis eines global geschürten „Kampfs der Kulturen“ und einer damit verbundenen Renaissance des Eurozentrismus scheinen die Zuschreibungen und die damit verbundenen Rollen klar verteilt: hier Migranten und Migrantinnen, als Täter und Opfer gefangen in ihren eigenen Traditionen und Trugbildern, ihren eigenen Vätern, Brüdern, Ehemännern, Landsleuten ausgeliefert – dort aufgeklärte Helfer und Helferinnen mit modernem Sendungsbewusstsein. Dieses Modell hat schon im Multikulturalismus so gut funktioniert, dass ganze Berufsstände darauf rekurrieren konnten. Und auch jetzt ist es nicht die Hilfe in den konkreten Fällen selbst, die hier zum Problem wird, sondern die Tendenz zur ethnisierenden Festschreibung dieser Verteilung zwischen Tätern, Opfern und Helfern, die Migranten als Akteure, als sowohl kollaborative wie widerständige „Artisten der Grenze“ (Beck 2004, 157ff.), unkenntlich macht. Die größte Herausforderung einer kosmopolitischen Kritik an diesen Verhältnissen ist die Erkenntnis der eigenen Verflechtung mit dem Grenzregime – die oft weit weniger offensive Formen annimmt, aber dennoch unausweichlich uns alle jeden Tag betrifft: in unseren diversen sozialen Rollen als Wähler und Staatsbürger, als politische Aktivisten und Künstler, als Wissenschaftler und Migranten. Einer Solidarisierung mit den Kämpfen und den Kämpfenden an der Grenze steht vor allem entgegen, dass die Akteure eben auch selbst auf vielfältige Weise mit dem Grenzregime paktieren, sich damit arrangieren und sogar – wie im Fall der diversen Facetten neuer Grenzökonomien – selbst Vorteile daraus ziehen. Die Bilder der Verzweifelten, die Europa in Melilla und Ceuta auf direktem Weg über den Grenzzaun erreichen wollen, wären eher geeignet, Solidarität zu erzeugen, denn hier scheinen die Fronten klar: die Grenze als Instrument gewaltsamer Abschottung, an dem die Migranten mit ihren Träumen scheitern. Im weniger spektakulären Alltag der Grenzüberschreitung lassen sich dagegen „gut“ und „böse“ kaum im Sinne einer gefälligen politischen Ethik voneinander trennen; hehre Absichten gehen mit korrumpierten Praktiken einher, wie umgekehrt auch eigennützige Ziele dem kollektiven Überleben dienen können. Aber gerade aufgrund dieser weniger revolutionären denn kollaborativen Haltung gegenüber den realen Bedingungen des Grenzregimes sind diese Taktiken weit erfolgreicher hinsichtlich ihres weitgesteckten Ziels: das mögliche andere Leben jenseits der Grenze auch tatsächlich zu erreichen. Diese Mischung aus Pragmatismus und Imagination, wie sie die vielen unterschiedlichen Mobilitätsprojekte der einzelnen Migranten vorantreibt, macht Migration über diese Subjektivität

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hinaus insgesamt zu einer „sozialen Bewegung“, die allerdings selbst weder einem politischen Programm, noch einer normativen Ethik verpflichtet ist (vgl. Mezzadra 2005). Darin lässt sich eine Form und ein Ausdruck heutiger, kosmopolitischer Welterfahrung, eine Art von „magischem Realismus“ (Appadurai 1998, 28 f.), erkennen. Aber dieser Kosmopolitismus löst die Hoffnungen nicht ein, die sich auf das diasporische Subjekt als den neuen Akteur einer progressiven Politik richten (vgl. Ong 1999, 14f.). Paul Rabinow fordert statt dieser intellektuellen Projektionen das Konzept eines „kritischen Kosmopolitismus“, der einem Ethos der Unabhängigkeit verpflichtet ist und sich gleichzeitig der politischen Situiertheit der Subjekte, der unentrinnbaren Partikularität von Orten, Positionen und Positionierungen sowie Geschichtsverläufen bewusst bleibt (vgl. Rabinow 1996, 56). Am Beispiel der chinesischen Diaspora-Elite hat Aihwa Ong (1999) eine solchermaßen situierte kosmopolitische Praxis untersucht. In der Auseinandersetzung mit den Bedingungen, die der Nationalstaat und der globale Kapitalismus den „asiatischen“ Einwanderern setzt, werden die Migranten nicht zu Kritikern, sondern zu Experten im Umgehen, aber auch im Nutzen dieser Verhältnisse. Die Praxis der „flexiblen Bürgerschaft“, die Ong hier ausgemacht hat, zeugt von einer pragmatischen Kompetenz, die eigene Arbeits- und Lebenspraxis auf mehrere Gesellschaften zu verteilen und so von den unterschiedlichen Spielräumen zu profitieren, die sich dabei für Investitionen und Arbeitsverhältnisse, für die Bildung der Kinder, das Familienleben und die Verwandtschaftsbeziehungen bieten. Diese transnationale, flexible Form der migrantischen Selbstorganisation, die zugleich auf einem streng hierarchischen Regime familiärer und sozialer Selbst-Disziplinierung fußt, erweist sich als hochgradig kompatibel mit den Erfordernissen des neoliberalen Kapitalismus und als entsprechend erfolgreich. Als eine Praxis, die sich einerseits mit eigenen Mitteln über die rassistischen Grenzen des „Westens“ gegenüber dem „Osten“ hinwegsetzt, verweigert sie sich andererseits jeglicher Idealisierung hinsichtlich einer sozialen, politischen Solidarität gegenüber den nationalistischen und ökonomischen Machtstrukturen, in denen sie sich behauptet (vgl. Ong 1999, 112ff.). Ähnlich ambivalent zeigen sich auch die Projekte der Migration im Umgang mit den sich formierenden Grenzen der EU. Denn einerseits entwickeln Migranten in dieser Auseinandersetzung eine Vielzahl jener Existenzweisen, die der alte Traum vom offenen Europa anvisierte. Migranten praktizieren bereits eine postnationale Selbstbestimmung, indem sie sich die Rechte nehmen, die ihnen offiziell vorenthalten bleiben; ohne den Umweg, eine nationale Zugehörigkeit zu einem der EU-Staaten für sich beanspruchen zu können, machen sie sich selbst zu klandestinen Bürgern Europas und nehmen so eine post-koloniale, weltoffene europäische Identität vorweg, die als politische Vision in der Vergangenheit des anti-faschistischen und anti-rassistischen Widerstands in Europa begraben liegt. In den Taktiken der

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Grenzüberschreitung artikuliert sich bereits ein „nomadisches Subjekt“, wie es Rosi Braidotti (2005) imaginiert, das eine praktizierte Bürgerschaft von Fragen der Identität trennt, sich generell in der Auseinandersetzung mit identitäts- und biopolitischen Regierungspraktiken einer eindeutigen Selbst-Verortung entzieht und damit post-identitäre Existenzweisen entwirft. Andererseits entspricht aber all dies keinem intentionalen politischen Kampf, der diese Perspektiven um ihrer selbst willen entwickelt und durchzusetzen sucht. Diese kosmopolitische Praxis ist paradoxerweise auch ein Produkt der Grenzen, die sie überwindet. Das soziale, kulturelle und identitäre Nomadisieren der Diaspora an Europas Grenzen zählt eher zum pragmatischen Anteil innerhalb der Praxis der migrantischen Imagination. Und auch die ökonomischen Taktiken, sich den Kapitalismus und seine spezifischen Anforderungen an die Flexibilität der neuen Dienstleister zunutze zu machen, verweisen einerseits auf die subversiven Kompetenzen der klandestinen Migrationen, sind aber andererseits auch eine Konsequenz der herrschenden Praxis des Grenzregimes, die Migranten zugleich abzustoßen und anzuziehen (vgl. Balibar 2005, 805). Aber gerade in der Ambivalenz, sich mit der Prekarität dieser ökonomischen und politischen Verhältnisse zu arrangieren, sie also trotz ihrer Zumutungen in einem heterotopischen Sinn als Möglichkeit der Selbstermächtigung zu begreifen, erweist sich dieser neue migrantische Kosmopolitismus als ein generalisierbares Zukunftsmodell: sowohl was die realistische Perspektive einer zunehmenden Prekarität aller Bürger Europas betrifft, als auch hinsichtlich einer gemeinsamen sozialen Imagination, wie diese Prekarität zu einer politischen Mobilisierung der alten Träume von einem anderen Europa beitragen kann.

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AUTORINNEN Rutvica Andrijašević (Dr.) ist EC Marie Curie Research Fellow am Centre on Migration, Policy and Society (COMPAS) an der Universität von Oxford. Manuela Bojadžijev (Dr.) ist Politikwissenschaftlerin. Sie lebt in Berlin und ist Mitglied der Sound Art-Gruppe Ultra-red. Sabine Hess (Dr.) ist Hochschulassistentin am Institut für Volkskunde und Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Serhat Karakayalı ist Promotionskandidat am Institut für Soziologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, Mitherausgeber von „Empire, Die biopolitische Wende“ und Mitglied der Forschungsgruppe PRECLAB. Brigitta Kuster lebt in Berlin und ist als Kulturproduzentin und Videomacherin tätig. Ramona Lenz ist ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Frankfurt/Main. Marion von Osten (Prof.) ist Künstlerin, Kuratorin und Hochschullehrerin an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Efthimia Panagiotidis ist Soziologin und promoviert zu Prekarisierung und Mobilität im Postfordismus an der Universität Hamburg. Regina Römhild (Dr.) ist Habilitandin am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Frankfurt/Main. Peter Spillmann ist Künstler und Ausstellungsmacher, forscht und unterrichtet an den Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich und Luzern und lebt in Zürich. Ultra-red ist eine Sound Art-Gruppe aus Los Angeles. Die kollektive Arbeit der Mitglieder aus den USA, Kanada und Europa bewegt sich zwischen Kunstpraktiken, militanten Untersuchungen und politischer Organisierung. Dont Rhine (MFA) machte seinen Abschluss an der UCLA im Interdisciplinary Studio Program. Er ist Mitbegründer von Ultra-red und lebt in Los Angeles. Vassilis Tsianos ist Soziologen und Doktoranden an den Universitäten Hamburg und Mitherausgeber von „Empire. Die biopolitische Wende“.

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DANK Mogniss Abdallah / Rami Adout / Al Abdani / Samy Alexandridis / Zübeyde Alver / An Architektur / Bridget Anderson / Ilher Ataç / Thomas Atzert / Jutta Lauth Bacas / Christian Baer / Ellen Bareis / Berke Baş / bbooks Berlin / Nicolas Bell / Bahija Benhouka / Barbara Beznec / Zeljko Blace / Yann Moulier Boutang / Sun-Ju Choi / Olivier Clochard / Necile Deliceoḡlu / Özgür Demir / Alex Demirović / Helmut Dietrich / Dana Diminescu / Demet Dinler / VladimirDjukanovic / DOMiT / Dokumentationszentrum und Museum für Migration e.V., Köln / Nataşa Dubljević / Nicola Duric / Antje Ehmann / Tinatin Eppmann / Aytac Eryilmaz / Estrecho Group / Harun Farocki / Meike Fechner / FFM Berlin / Frassanito-Netzwerk / Charalambos Ganotis / Matthew Gaskins / Martin Glasenapp / Sophie Goltz / Andrej Grubacic / Minu Haschemi / Iréne Hediger / Nanna Heidenreich / Gesa Heinbach / Farida Heuck / Tom Holert / Jörg Huber / Ahmet İçduygu / Institut für die Theorie der Gestaltung und Kunst, ith/HGK Zürich / Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie, Universität Frankfurt / Frank John / Sylvia Kafhesy / Kanak Attak/Gesellschaft für Legalisierung / Boris Kanzleiter / Ebru Karaca / Gülsün Karamustafa / KEMO – Research Centre for Minority Groups, Greece / Kölnischer Kunstverein e.V. / Hagen Kopp / Orhan Kural / Andrej Kurnik / Astrid Kusser / Labor k3000 / Olga Lafazani / Irene Ledermann / Ramona Lenz / Isabell Lorey / George E. Marcus / Athanasios Marvakis / Angela Melitopoulos / Sandro Mezzadra / Marcin Michalski / Aldo Milohnić / Mirjana Morokvasić-Müller / Maureen Müller / Jost Müller / Nilüfer Narlı / Christopher Nsoh / Ersan Ocak / Miltos Oulios / Ayşe Öncü / Kostas Papantoniou / Nikos Papastergiadis / Dimitris Parsanoglou / Miltos Pavlou / Susanna Perin / Elliot Perkins / Marina Petronoti / Ludger Pries / Martin Rapp / Kathrin Rhomberg / Enrica Rigo / Klaus Ronneberger / Isabelle Saint Saens / Ranabir Samaddar / Saskia Sassen / Werner Schiffauer / Juliane Schmidt / Britta Schneider / Erika Schneider / Thomas Seibert / Sakine Sevim / Ulaş Şener / Kostas Sfyris / Nico Sguilia / Alexandra Sheikh / Sebastian Sierra Barra / Goran Simonoski / Jasmina Smiljanic / Steki – Migrants’ Centre, Rethymnon Kreta / Frederike Tappe-Hornborstel / Mark Terkessidis / Aleksander Todorovic / Giorgos Tsakalos / Dont Rhine / Ultra Red / Universal Embassy / Asha Varadharajan / Holger Kube Ventura / Michael Vögeli / Hortensia Völckers / Stevan Vukovic / William Walters / Gisela Welz / Zafer Yılmaz / Gesa Ziemer / Želimir Žilnik / Birgit zur Nieden

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Kultur und soziale Praxis Katharina Zoll Stabile Gemeinschaften Transnationale Familien in der Weltgesellschaft

Daniel Münster Postkoloniale Traditionen Eine Ethnografie über Dorf, Kaste und Ritual in Südindien

Juni 2007, ca. 240 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-670-0

Mai 2007, ca. 264 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-538-3

Dieter Haller Lone Star Texas Ethnographische Notizen aus einem unbekannten Land

Reinhard Johler, Ansgar Thiel, Josef Schmid, Rainer Treptow (Hg.) Europa und seine Fremden Die Gestaltung kultureller Vielfalt als Herausforderung

Mai 2007, ca. 192 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN: 978-3-89942-696-0

Magdalena Nowicka (Hg.) Von Polen nach Deutschland und zurück Die Arbeitsmigration und ihre Herausforderungen für Europa Mai 2007, 314 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-605-2

Klaus Müller-Richter, Ramona Uritescu-Lombard (Hg.) Imaginäre Topografien Migration und Verortung Mai 2007, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-594-9

Mai 2007, ca. 300 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-368-6

Pascal Goeke Transnationale Migrationen Post-jugoslawische Biografien in der Weltgesellschaft März 2007, 394 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-665-6

Halit Öztürk Wege zur Integration Lebenswelten muslimischer Jugendlicher in Deutschland März 2007, 282 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-669-4

Martin Baumann, Jörg Stolz (Hg.) Eine Schweiz – viele Religionen Risiken und Chancen des Zusammenlebens

Elias Jammal, Ulrike Schwegler Interkulturelle Kompetenz im Umgang mit arabischen Geschäftspartnern Ein Trainingsprogramm

Mai 2007, ca. 325 Seiten, kart., ca. 15,80 €, ISBN: 978-3-89942-524-6

Februar 2007, 210 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN: 978-3-89942-644-1

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Kultur und soziale Praxis Corinne Neudorfer Meet the Akha – help the Akha? Minderheiten, Tourismus und Entwicklung in Laos

Sabine Mannitz Die verkannte Integration Eine Langzeitstudie unter Heranwachsenden aus Immigrantenfamilien

Februar 2007, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-639-7

2006, 346 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-507-9

Holger Michael Kulturelles Erbe als identitätsstiftende Instanz? Eine ethnographischvergleichende Studie dörflicher Gemeinschaften an der Atlantik- und Pazifikküste Nicaraguas

Manfred Glagow Die Mkandawires auf Livingstonia Eine afrikanische Familie in Zeiten der Mission, des Kolonialismus und der Diktatur, Malawi 1875-1994

Februar 2007, 230 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-602-1

María do Mar Castro Varela Unzeitgemäße Utopien Migrantinnen zwischen Selbsterfindung und Gelehrter Hoffnung Januar 2007, 304 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-496-6

TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe (Hg.) Turbulente Ränder Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas Januar 2007, 252 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-480-5

2006, 210 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-573-4

Kulturwissenschaftliches Institut (Hg.) Jahrbuch 2005 2006, 318 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-509-3

Annette Hornbacher (Hg.) Ethik, Ethos, Ethnos Aspekte und Probleme interkultureller Ethik 2006, 432 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN: 978-3-89942-490-4

Maria Wurm Musik in der Migration Beobachtungen zur kulturellen Artikulation türkischer Jugendlicher in Deutschland 2006, 248 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-511-6

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Kultur und soziale Praxis Michael Craanen, Antje Gunsenheimer (Hg.) Das ›Fremde‹ und das ›Eigene‹ Forschungsberichte (1992 – 2006) 2006, 364 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-598-7

Thomas Hüsken Der Stamm der Experten Rhetorik und Praxis des Interkulturellen Managements in der deutschen staatlichen Entwicklungszusammenarbeit 2006, 306 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-444-7

Heidrun Schulze Migrieren – Arbeiten – Krankwerden Eine biographietheoretische Untersuchung 2006, 282 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-495-9

Kerstin Hein Hybride Identitäten Bastelbiografien im Spannungsverhältnis zwischen Lateinamerika und Europa 2006, 472 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN: 978-3-89942-447-8

Karin Scherschel Rassismus als flexible symbolische Ressource Eine Studie über rassistische Argumentationsfiguren 2006, 254 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-290-0

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de