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German Pages 281 [282] Year 2019
Bärbel Frischmann, Christian Holtorf (Hrsg.) Über den Horizont
SpatioTemporality / RaumZeitlichkeit
Practices – Concepts – Media / Praktiken – Konzepte – Medien Edited by / Herausgegeben von Sebastian Dorsch, Bärbel Frischmann, Holt Meyer, Susanne Rau, Sabine Schmolinsky, Katharina Waldner Editorial Board Jean-Marc Besse (Centre national de la recherche scientifique de Paris), Petr Bílek (Univerzita Karlova, Praha), Fraya Frehse (Universidade de São Paulo), Harry Maier (Vancouver School of Theology), Elisabeth Millán (De-Paul University, Chicago), Simona Slanicka (Universität Bern ), Jutta Vinzent (University of Birmingham), Guillermo Zermeño (Colegio de México)
Volume / Band 5
Über den Horizont
Standorte, Grenzen und Perspektiven Herausgegeben von Bärbel Frischmann und Christian Holtorf
ISBN 978-3-11-055123-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-055329-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-055139-6 ISSN 2365-3221 Library of Congress Control Number: 2018964954 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Science Photo Library / Jim Reed Photography Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Einleitung
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Matthias Flügge Bilder der Leere Der Horizont in Hans Christian Schinks Fotoserie „Verkehrsprojekte Deutsche Einheit“ 7 Philipp Lepenies Der Horizont der Modernisierungstheorie Michael Makropoulos Grenze, Horizont und moderne Gesellschaft
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Antje Schlottmann „So fern und doch so nah“ Von Horizonten und Horizonterweiterungen im alltäglichen 57 Sprachgebrauch Christian Reutlinger Horizonterweiterungen Sozialgeographische Annäherungen an die kindliche Raumaneignung im Kontext Offener Kinder- und Jugendarbeit 77 Martin Nugel Jenseits der Horizonte Horizontverschiebungen aus der Perspektive einer reflexiv-kritischen Bildungstheorie 103 Nora Held Multiperspektivität und Mehrdimensionalität ethischen Lernens Helga Peskoller Der Sturz Horizontumkehr, Grenzziehung, ästhetische Bildung
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Inhalt
Niko Kohls Von der Psychologie des Horizontes zu den epistemologischen Horizonten der akademischen Psychologie 149 Christian Holtorf Horizonterweiterung als wissenschaftliche Selbstreflexion Eckardt Buchholz-Schuster Rechtsphilosophische Horizonte und die Globalisierung Bärbel Frischmann Horizont und Identität
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Alex Burri Sinngrenze, Sprachgrenze, Weltgrenze Guido Löhrer Kant und Carnap über Grenzbegriffe
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Holt Meyer Ein Chronotopos „am Rande des Horizonts“ Dmitrij Karamazovs Fluchtpunkt des äußersten Westens Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Einleitung Es ist eine eigenartige Sache mit dem Horizont. Er ist immer da und doch nie zu erreichen. Er begrenzt den Blick, hat aber auch ein Dahinter. Er ist abstrakt und individuell verschieden. Der Begriff „Horizont“ findet sich in vielen lebensweltlichen Kontexten, er ist ein wichtiger Aspekt unserer Weltsicht und betrifft unser Verständnis von Bildung, Wissen und Orientierung. Doch die genaue Bestimmung dessen, was inhaltlich unter einem Horizont zu verstehen ist, erweist sich bei genauerem Hinsehen als vielschichtig und deshalb schwer zu fassen. Zumindest lässt sich sagen: Ein Horizont ist ein gedankliches Konstrukt, das unterschiedliche Funktionen erfüllt und verschiedene Einsatzbereiche hat. Horizontbegriffe haben zunächst häufig einen auf Räumlichkeit bezogenen Gehalt. Ein Horizont beschreibt eine abstrakte Grenzlinie, die abhängig von Standort und Wahrnehmung des Betrachters ist. Zu einer solchen Grenzlinie gehört, dass wir zwar wissen, dass etwas dahinter ist, es aber nicht kennen. Wir können bis zum Horizont sehen, aber nicht darüber hinaus. Ein Horizont umschließt den Menschen wie einen Kreis, der nicht überschritten werden kann. Der Mensch bleibt auch dann in seinem Mittelpunkt, wenn er sich bewegt. Dabei geht es nicht nur um die Frage, wie groß der Radius eines Horizonts ist, sondern auch, an welcher Stelle sich der eigene Standort befindet und wodurch er sich auszeichnet. Auch eine Begrenzung des Horizonts ist unvermeidlich, doch das Verhältnis zwischen diesseits und jenseits der Horizontlinie ist nicht klar. Einfache Gegenüberstellungen von weit oder eng, nah oder fern, innen oder außen, dieser oder jener Richtung beschreiben den Horizont nicht umfassend. Lässt sich der Horizont als Rand, als Zone oder als Schwelle verstehen? Horizonte sind aber nicht nur geographisch-räumlich verankert, sondern kennen auch zeitliche Aspekte, denn der Zukunftshorizont ist ein wichtiger Rahmen unseres Denkens. In der Interdependenz von räumlicher und zeitlicher Dimension konstituiert sich „Horizont“ als ein umfassender Begriff, der explizit und auch im übertragenen Sinne die Weite unseres Blickfeldes, d. h. unseres Verständnisses von der Welt meint. Ein Horizont bildet einen Wissensraum, in dem sich spezifische Sichtweisen und Orientierungen ausbilden. In diesem Zusammenhang lässt sich von einem „geistigen Horizont“ sprechen. Ein „enger Horizont“ steht für eine beschränkte Sichtweise, ein „weiter Horizont“ für mentale Offenheit und Neugierde. Seinen eigenen Horizont zu erweitern, heißt dabei auch, dazuzulernen, sich Neuem zuzuwenden, auch in kultureller Hinsicht bereit zu sein, sich mit andersartigen Lebensweisen und Lebensvorstellungen auseinanderzusetzen und an dieser Auseinandersetzung die eigene Weltsicht zu prüfen. https://doi.org/10.1515/9783110553291-001
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In diesem Sinne ist Horizonterweiterung und das damit verbundene Orientierungsvermögen ein wesentlicher Aspekt von Bildungsprozessen. In Bildungstheorien wird der Horizontbegriff häufig metaphorisch verwendet. Er beschreibt dort einerseits den Umfang der Kenntnisse und des Verstehens, ist andererseits aber auch mit der Möglichkeit verbunden, das Gelernte zu ergänzen und den Wissens- und Denkhorizont dadurch zu erweitern. Menschen brauchen einen Horizont, um eine sichere Perspektive zu gewinnen, doch auch Horizonterweiterungen sind so alt wie die Menschheit. Neue Entdeckungen und Eroberungen, neue Erkenntnisse und Erfindungen haben die Grenzen des menschlichen Wissens stetig verändert und verschoben. Insbesondere die Moderne war und ist durch permanente Grenzverschiebungen gekennzeichnet. Zu den Horizonterweiterungen der Moderne gehören dabei nicht nur politische und wirtschaftliche Expansionen, sondern auch gesellschaftliche Aufklärung und soziale Emanzipation. In der Moderne wurde die wandernde Linie des Horizonts durch wissenschaftliche, technische und gesellschaftliche Fortschritte hinausgeschoben. Der vergrößerte Wissensraum, neue Werte und Lebensweisen und der Mut, Schwellen ins Unbekannte zu übertreten, wurden zu Zeichen einer scheinbar grenzenlosen Dynamik. Mit der Forderung nach „Horizonterweiterung“ wird ein Fortschrittsdenken suggeriert, das auch expansive Züge trägt. Eine wichtige Frage hinsichtlich des Horizontbegriffs als offenem Möglichkeitsraum betrifft die naheliegende Kritik, durch Horizont-Erweiterung das Fremde beherrschen zu wollen. Gilt das Anliegen der Horizont-Erweiterung einerseits als Triebfeder technologischer Innovationen, muss andererseits die Unachtsamkeit und das Überwältigende (Imperiale) der faktischen Ausdehnung des eigenen Wirkungs- und Herrschaftsraumes gesehen werden. Diese kritische Dimension findet sich auch im Nahbereich unseres individuellen Selbstverständnisses wieder in der Art, wie wir auf anders Denkende und anders Lebende reagieren. Horizonte stiften Identitäten: Sowohl individuell als auch sozio-kulturell gesehen sind das jeweilige Selbst- und Weltbild und die daraus resultierenden Handlungen darin identitätsbildend, dass sie sich von anderen abgrenzen. Verschiedene Personen, Gruppen oder Kulturen sind nicht identisch. Diese Differenz ist konstitutiv für die Identitätsformungen mit ihren verschiedenen Horizontausstattungen. Horizontgrenzen sind insofern durchaus auch positiv zu bewerten. Sie schlagen erst dann ins Negative um, wenn sie dazu führen, andere zu diskriminieren und zu bekämpfen. Deshalb gehört die Akzeptanz der Horizonte anderer zu einem wichtigen Aspekt moderner liberaler und demokratischer Gesellschaften. Dabei geht es heute durchaus auch darum, das jeweils Ausgegrenzte zu erkennen, die jeweils aus dem eigenen Horizont Ausgegrenzten in den Blick zu nehmen und einzubeziehen, mit Offenheit und Widersprüchen umzugehen und
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den eigenen Horizont immer wieder in Frage zu stellen. Deshalb ist es erforderlich, auch das Verbindende und Verbindliche, gemeinsame Werte, Standards und Wissensgehalte als Fundamente moderner Gesellschaften und Lebensweisen zu würdigen. Offenheit, Flexibilität und Toleranz gehören zur modernen Weltsicht. Wir erleben, dass Werte und Lebensformen disparater werden, verschiedene Perspektiven gleichwertig nebeneinander bestehen und sich die klaren Grenzen von Orientierungen auflösen. Doch braucht diese Erosionen als Gegengewicht die Fähigkeit, auch Grenzen zu setzen, sich bewusst zu sein, dass jeder Horizont etwas ausschließt und jede Erweiterung zu Abgrenzungen an anderen Stellen führt. Diese bewussten Grenzziehungen müssen gelernt und die Grenzen, die andere ziehen, respektiert werden, beides ist wesentlicher Teil von Bildungs- und Erziehungsprozessen, individuelle und soziale Grenzen zu erfahren, zu ziehen und zu respektieren. Für die Auseinandersetzung mit Horizonten sind neben Fragen der individuellen und sozialen Identität auch leibliche Erfahrungen von Lust, Schrecken und Abenteuer relevant, wie sie in Krisensituationen oder bei Grunderfahrungen manifest werden können. Auseinandersetzungen mit extremen Lebenssituationen, mit Sinn-, Sprach- und Weltgrenzen berühren elementare Dimensionen des Lebens. Unsere strukturierenden und ordnenden Horizonte helfen uns auf diese Weise, die Welt zu verstehen, sie geben uns Orientierung und schützen uns mit ihren Begrenzungen vor mentalen und sozialen Überforderungen. Wie bedenkenswert das Thema Horizont und Horizonterweiterung bzw. Horizontüberschreitung in den verschiedenen Disziplinen und auch fachübergreifend ist, spiegeln die Texte dieses Bandes wider. Die Autorinnen und Autoren nutzen den Horizontbegriff, um inhaltlich zu spezifischen Fragen ihrer Fächer Stellung zu nehmen. Daraus ergibt sich methodisch eine vielfältige Annäherung an den Horizontbegriff. Der Band soll Möglichkeitsräume eröffnen, neugierig machen. Um Gelegenheit zu bieten, andere Horizonte kennenzulernen und eigene zu erweitern, ist er als offenes Tableau gestaltet. Doch stellen einerseits die unterschiedlichen Arbeitsweisen der einzelnen Fächer, andererseits ihre disparaten Terminologien auch eine besondere Herausforderung dar. Der Umgang mit dem Begriff „Horizont“ ist dabei ein lehrreiches Beispiel für die Differenzen der Fachkulturen, denn die Vielfalt der Zugänge weist ganz unterschiedliche Begriffsgehalte und Begriffsverwendungen auf. Hier besteht weiterer Forschungsbedarf, um den Begriffsdifferenzen genauer nachzugehen und inhaltliche Parallelen stärker zu bündeln. Zu Beginn setzt sich Matthias Flügge mit dem fotografischen Werk HansChristian Schinks auseinander, in dem Horizonte und Perspektiven eine besondere Rolle spielen. Er betont insbesondere das Spannungsverhältnis zwischen
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Natur und Zivilisation, Bewegung und Leere, Nähe und Distanz, das in der Fotografie sichtbar wird. Aus soziologischer und historischer Sicht reflektieren Philipp Lepenies und Michael Makropoulos den besonderen Stellenwert des Horizontbegriffs in der Moderne. Philipp Lepenies erörtert diesen Begriff mit Blick auf die Erfindung der Zentralperspektive in der Kunst und zeigt die Parallele zur Idee konvergierender Fortschrittslinien. Michael Makropoulos widmet sich der Frage nach den Bewertungsstandards der Moderne. Die Forderung offener und weiter Horizonte, die dem Optimierungs- und Fortschrittsinteresse moderner Gesellschaften entspringt, ist dabei nicht ohne Weiteres selbstverständlich, sondern selbst wieder zu problematisieren. Mit dem Bezug zwischen Horizont, Raum und Geographie beschäftigen sich Antje Schlottmann und Christian Reutlinger. Antje Schlottmann untersucht alltagssprachliche Verwendungskontexte des Horizontbegriffs und deren Implikationen. Sie beobachtet, dass ein weiter Horizont als erstrebenswert gilt, auch beispielsweise in Bildungskontexten. Christian Reutlinger fragt danach, welche Rolle die Vorstellung von Horizonterweiterung bildungstheoretisch im Kontext offener Kinder- und Jugendarbeit spielen kann und spielen sollte. Er illustriert diese Fragestellung insbesondere anhand geographischer und raumbezogener Beispiele. Den Gedanken des Zusammenhangs von Bildung und Horizont, der in vielen Beiträgen mitschwingt, greifen insbesondere Martin Nugel, Nora Held und Helga Peskoller auf. Martin Nugel stellt explizit die Frage nach den Prämissen einer reflexiv-kritischen Bildungstheorie. Er geht der Bedeutung der Horizont-Metapher in Verwendungsweisen wie Wissens-, Verstehens- oder Bildungshorizont nach und vertritt dabei die These, dass die Fähigkeit zur Horizontverschiebung als bildungstheoretische Kernidee angesehen werden sollte. Nora Held nähert sich dem Thema über die Didaktik. Sie plädiert dafür, dass sich die pluralen Wertmuster der modernen Gesellschaften auch entsprechend im Ethikunterricht in Form multiperspektivischer Lernangebote niederschlagen sollten. Helga Peskoller berichtet von einem Klettersturz, der sie zu einem Nachdenken über Grundbestimmungen des Menschseins wie Endlichkeit, Gefühle, Stimmungen, Körperlichkeit und deren Bedeutung für den Bildungsbegriff veranlasst hat. Gerade die Erfahrung von Entgrenzung und Überschreitung verändert den Horizont. Bildung ist dann nicht das äußerlich Angeeignete, sondern das zutiefst in eine Persönlichkeit Integrierte. Zwei weitere Texte untersuchen wissenschaftliche Horizonte. Niko Kohls schildert, wie die visuelle Grenz- und Ordnungslinie des Horizonts menschliche Wahrnehmungen strukturieren und disziplinieren kann. Er zeigt insbesondere am Beispiel Wilhelm Wundts, wie Horizontbildungen in der Geschichte der Psycho-
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logie dafür verwendet wurden, bestimmte Standpunkte und Forschungsthemen zu etablieren bzw. auszugrenzen. Christian Holtorf erkennt in der Kultur- und Begriffsgeschichte, dass mit einem Wissenshorizont sowohl Erfahrungen als auch Erwartungen verbunden sind, die auf dem menschlichen Körper, auf Medientechniken und zeitlichen Perspektiven beruhen. Um einen Horizont verschieben oder erweitern zu können, bedarf es daher der permanenten Selbstreflexion der Erkenntnis. In einem nächsten thematischen Block werden philosophische Konzepte von Horizont und Grenze aus sehr unterschiedlichen Perspektiven erörtert. Eckhardt Buchholz-Schuster fordert, über gängige rechtsphilosophische Horizonte zeitlich und methodisch hinauszublicken, um Antworten auf die mit der Globalisierung verbundenen Probleme geben zu können. Dazu rechnet er staatenübergreifende Rechtsnormen etwa im Falle der Klimapolitik oder grenzüberschreitendes Handeln bei humanitären Katastrophen. Bärbel Frischmann sieht die Ich-Bildung als Schaffung eines individuellen Horizonts, durch den einerseits Abgrenzung, andererseits Identifizierung erfolgt. Dabei unterscheidet sie sowohl für Gesellschaften als auch für Menschen die Möglichkeit, entweder flexible Identitätsmuster und einen möglichst offenen Horizont oder eine stabile, feste Identität mit abgeschlossenem Horizont anzustreben. Alex Burri und Guido Löhrer gehen speziell philosophischen Theorien nach, die sich mit dem Problem der „Grenze“ beschäftigt haben. Alex Burri untersucht dabei, inwiefern sprachliche Grenzen auch eine inhaltliche Sinngrenze des Weltverstehens bedeuten. Guido Löhrer analysiert die Grenzbegriffe von Kant und Carnap. Sie verhandeln dabei auch die Frage, inwiefern die Annahme pluraler Horizonte epistemologisch relevant sein kann. Den Band beschließt ein literaturwissenschaftlicher Beitrag von Holt Meyer. Er nimmt Dostoevskijs Roman Die Brüder Karamazov in den Fokus, um den dort verarbeiteten Zusammenhang von Horizont und Vorstellungen vom „Westlichen“ zu analysieren, wobei u. a. Bachtins Konzept des Chronotopos als Interpretament verwendet wird. Dieser Band geht auf eine Tagung zurück, die unter dem Titel „Über den Horizont“ als gemeinsame Veranstaltung der Universität Erfurt und der Hochschule Coburg vom 10.–12. November 2016 in Erfurt stattfand. Sie wurde großzügig gefördert von der Andrea von Braun-Stiftung, der wir hiermit noch einmal herzlich für die Unterstützung danken, die auch diese Publikation der Tagungsergebnisse ermöglicht. Wir danken allen, die am Entstehen dieses Bandes mitgewirkt haben: den Autorinnen und Autoren, den Herausgebern der Reihe „SpatioTemporality“ für die Möglichkeit zur dortigen Publikation, Franz Rebhan für die sorgfältige Korrek-
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Bärbel Frischmann, Christian Holtorf
turarbeit sowie dem de Gruyter Verlag und insbesondere Bettina Neuhoff für die Betreuung im Vorfeld der Edition, Florian Ruppenstein für die Erstellung der Druckfassung und Dörte Nielandt für die Covergestaltung. Bärbel Frischmann und Christian Holtorf
Matthias Flügge
Bilder der Leere
Der Horizont in Hans Christian Schinks Fotoserie „Verkehrsprojekte Deutsche Einheit“ Vorbemerkung der Herausgeber: Im folgenden Essay interpretiert Matthias Flügge Fotografien von Hans Christian Schink als Auseinandersetzungen mit dem Horizont. Im Zentrum des Texts steht die Fotoserie Verkehrsprojekte Deutsche Einheit, aus der auch das Foto mit dem Titel „A 14, bei Halle“ aus dem Jahr 1999 stammt. Obwohl Flügge den Begriff „Horizont“ nur einmal verwendet, erkennt er in Schinks Werk wichtige Charakteristika von Horizonten. Der Text wurde erstmals veröffentlicht in Hans-Christian Schink:Verkehrsprojekte. Traffic Projects. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2004. Wir danken für die Zustimmung des Verfassers, ihn hier wieder abzudrucken. Unser Dank gilt außerdem Hans-Christian Schink, der das Foto „A14, bei Halle“ zur Verfügung gestellt hat.
Die ersten Bilder, die ich von ihm sah, waren Bilder der Versperrung. Ganz nah an den Betrachter herangerückt, in teils großen Formaten, drängen sich metallene Wände und Gitter oder steinerne Mauern auf die Fotografien. Links und rechts verlassen sie den Bildrand, nur oben und unten bleibt ein schmaler Streifen, der Mitteilung über die räumliche Situation der Aufnahme macht: ein kleines Stück Himmel und ein wenige Hand breiter Vordergrund, wie der schmale Bühnenprospekt vor dem Eisernen Vorhang im Theater. Manchmal liegt dort ein Teppich, manchmal auch verrät ein Streifen Gras oder Unkraut die Anwesenheit von Raum und Leben, das sich der allgegenwärtigen Glätte widersetzt. Der Blick stößt gegen eine brutale Barriere aus einem dieser neuen Materialien, die die Verbrauchsarchitektur der Gegenwart so liebt. Man könnte diese Bilder als abstrakte, konkret‐ konstruktive Kompositionen lesen, wäre da nicht diese sterile Perfektion, die die Materialien in fabrikneuem Zustand ausstrahlen, bevor sie rasant und würdelos zu altern beginnen. Jedes noch so die Emotion verweigernde Gemälde ist im Material persönlicher. Hans‐Christian Schink hat in Leipzig Fotografie studiert, an einer Hochschule, deren Ausbildung von besonderer Sensibilität für sozialanalytische und dokumentarische Verfahren künstlerischer Fotografie geprägt ist. Er hat sich früh auf die Architekturfotografie konzentriert und beherrscht deren technische und handwerkliche Methoden genauestens. Seine erste Veröffentlichung ist ein schwarzweißer Band über die romanischen Feldsteinkirchen in der Prignitz, einem der ärmeren Landstriche in Brandenburg. Schon hier entgeht Schink jeglicher Versuchung, die Motive in Postkartenschönheit zu fotografieren, stattdessen erfasst er die einfachen, klarer Tektonik folgenden Bauten als skulpturale Körper https://doi.org/10.1515/9783110553291-002
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Matthias Flügge
von großartiger Proportion. Das Interesse an der körperhaften Substanz ist weitaus stärker als das am baulichen Zustand, sei er nun desolat oder bereits denkmalpflegerisch wiederhergestellt. In schneller Folge publizierte Schink dann Bücher über die Industriearchitektur in den sächsischen Zentren Chemnitz, Dresden und Leipzig und arbeitete für Architekten, die am Bauboom der neunziger Jahre ihren Anteil hatten. Alle diese Aufgaben, so unterschiedlich in den Motiven und in der Differenz von Fremd‐ und Selbstauftrag sie erscheinen mögen, haben ein gemeinsames Thema: die Umbrüche und transitorischen Verhältnisse im Osten Deutschlands der Nachwendezeit. Sie finden ihren Ausdruck in der so nicht für möglich gehaltenen Um‐ und Überformung einer räumlich, das heißt architektonisch und landschaftlich gewachsenen Situation, die sozial determiniert ist, weil sie als Ergebnis menschlichen Handelns entstand und weil sie zugleich menschliches Handeln beeinflusst. Hans‐Christian Schink reagiert darauf im rechten Winkel, mit kühler Sachlichkeit: Kein Mensch ist auf den Bildern, kein Wetter, keine emotionsgeladene Atmosphäre, kein Blick hinter die Kulisse. Alles ist, was es ist. Nur so kann es von sich erzählen. Die Wende, die insbesondere in Leipzig vom Revolutionsgefühl durchtränkt gewesen ist, war nicht zuerst der Sieg einer überlegenen Ökonomie oder gar Ideologie, sondern sie folgte aus dem Sieg einer überlegenen Technologie. Das alternativlose Festhalten an industriell geprägten Produktionsweisen und der mit ihnen verbundenen nationalstaatlichen Begrenzungen, woraus die Verweigerung individueller Rechte und der Informationsfreiheit folgte, zeitigte letztlich den ideellen und materiellen Konkurs des realsozialistischen Systems. In das hinterlassene moralische Vakuum strömten die Gründerjahre in ihrer ganzen Janusköpfigkeit. Hans‐Christian Schink hatte die Hochschule gerade verlassen, und das Thema lag auf allen Straßen. Eine dieser Straßen war die Magistrale, die Leipzig westwärts, Richtung Merseburg, verlässt und die nun Bundesstraße 181 heißt. Das, was sich heute als vorstädtische Konsumrennstrecke mit Bau‐, Billigschuh‐ und Beate‐Uhse‐Märkten zeigt, war damals gerade im Entstehen. 1993 veröffentlichte Hans‐Christian Schink in einer Publikation des Deutschen Werkbundes eine fotografische Folge über diese Straße, die alles andere als der Bericht eines Flaneurs ist.Vielmehr ist sie ein Dokument des Verfalls und der Beweis, dass man im Osten vollkommen entschlossen gewesen ist, die architektonischen, ökonomischen und sozialpolitischen Fehler des Westens gleichsam auf abgesenktem Niveau zu wiederholen. In präzise komponierten, panoramahaften Bildern – menschenleer und autofrei – zeigen die Fotografien Situationen einer schon versiegelten und mit dem ersten Wildwuchs aus Glas und Plastikplatten bestandenen Natur.
Bilder der Leere
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In diesen Bildern scheint erstmals Hans‐Christian Schinks fotografische Methode auf, die Sachlichkeit und vorgeblich ästhetische Neutralität seiner Bilder so weit zu treiben, dass wir gar nicht anders können, als unsere Urteile und Gefühle in sie einströmen zu lassen. Und so kommt es, dass die Abbildung des Aufbaus als Dokument der Vernichtung erscheint und die Sachlichkeit paradoxerweise den Schmerz des Fotografen viel eher deutlich macht als verbirgt. In der ersten Blütezeit der Sachlichkeit der zwanziger Jahre hat es diesen Interpretationsspielraum noch nicht gegeben. Bertolt Brecht kannte ihn nicht, als er die viel zitierte, zuweilen Walter Benjamin zugeschriebene Erkenntnis notierte, dass eine „Fotografie der Krupp‐Werke oder der A.E.G. beinahe nichts über diese Institutionen“ ergebe, denn: „Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht.“¹ Der Befund ist längst Gemeingut, Realität und Funktionale sind unaufhebbar in eins gefallen, sozusagen in den endlichen Terror ihrer Eigentlichkeit. Zumindest an der Ausfallstraße von Leipzig nach Merseburg ist dies geschehen. Das ist es, was Hans‐Christian Schink uns zeigt. Seit die Fotografie nicht nur als bildende Kunst anerkannt wurde, sondern sich in den vergangenen Jahren fast schon als deren Leitmedium gerierte, lesen wir die Bilder anders, als Brecht und Benjamin dies in den zwanziger Jahren taten, als sie sich mit dem embryonalen Stadium dieser Entwicklung auseinandersetzten. Seither haben die digitalen Möglichkeiten die künstlerischen Spielräume des Mediums bis zur Auflösung der klassischen fotografischen Sprache erweitert. Noch in den sechziger und siebziger Jahren hatte sich die internationale Malerei des so genannten Fotorealismus genuin fotografischer Strategien bedient und dabei die optischen Grenzen der analogen Fotografie durch malerisches Handwerk ausgedehnt. Schinks eingangs erwähnte Fotografien von gewerblichen Zweckbauten können in ihrer konkreten Formensprache auch als eine ironische Spiegelung der Medien gelesen werden, als Teil jener zeitgenössischen Galeriefotografie, die nur allzu gern die ästhetischen Methoden und kanonischen Setzungen der Malereigeschichte aufruft. Doch bleibt diese Attitüde bei Hans‐ Christian Schink nur ein Zwischenspiel, im Vordergrund steht immer die persönliche Reflexion des Wirklichen. Er versteht sich als genuiner Fotograf, der mit den überlieferten Korrekturmöglichkeiten beim Vergrößern auskommt, keine digitalen Reproduktionsverfahren verwendet und auch nur in Ausnahmen computertechnisch eingreift. Das Konzeptuelle an dieser Arbeit besteht weniger im betonten Gleichmaß der fotografischen Sprache und auch nicht im Vorzeigen der
Bertolt Brecht: „Der Dreigroschenprozeß. Ein soziologisches Experiment“. In: Bertolt Brecht: Schriften zur Literatur und Kunst I. Gesammelte Werke in 20 Bä nden. Bd. 18. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967. S. 139 – 209, hier S. 161– 162.
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Doppelbödigkeit der Motive. Vielmehr ist es die genaue Reflexion der jeweiligen Kontexte, in denen die Bilder auftauchen: Dokumentation, Publikation, Ausstellung und Buch. Schink vollzieht in seiner komplexen fotografischen Praxis eine Trennung zwischen „freier“ und „angewandter“ Arbeit. Im Verwertungszusammenhang ist es ein Unterschied, ob ein Bild für Sammler und Museen entsteht oder ob es ein Auftrag von Bauherren oder Architekten ist, die meist eine absehbare Affirmation ihrer Taten erwarten. Künstlerisches Ziel aber ist das eigene Bild in der ganz besonderen, unauflösbaren Ambiguität von Distanz und Nähe, von Melancholie über das Verlorene und der unabweisbaren Präsenz des Neuen. Mit den Bildern vom Verkehrsprojekt Deutsche Einheit hat Hans‐Christian Schink den funktionalen Konflikt der Bildsprachen selbst zum Gegenstand gemacht. Sie kritisieren in den Mitteln der Affirmation. Und umgekehrt. Sie stehen unzweifelhaft im Kunstkontext, könnten aber auch in einem Informationsband reproduziert sein. Hier muss der Fotograf die Brüche gar nicht suchen, sie sind dem Ganzen eingeschrieben. Denn das monströse Wort „Verkehrsprojekt Deutsche Einheit“ meinte nicht zuerst den Verkehr zwischen Menschen, sondern den der Waren, der materiellen und der Arbeitskraft. Es ging darum, den Anschluss des Ostens auch infrastrukturell zu vollziehen. Straßen mussten gebaut werden, Brücken wiedererrichtet oder grundsaniert, Eisenbahnlinien gezogen und Flussläufe befahrbar gemacht werden. Die „blühenden Landschaften“ allerdings, die Helmut Kohl versprochen hatte und an die eine – offenbar ihrer kritischen Instanzen müde gewordene – Bevölkerung im Osten glaubte, liegen noch immer in weiter Ferne. Erst einmal wurden die vorhandenen Landschaften gründlich umgebaggert. Schaffung von Arbeitsplätzen, Investitionen, Subventionen, Steuererleichterungen – das ganze Programm staatlicher Wirtschaftsinterventionen floss in das gigantische Vorhaben, das, als es beschlossen wurde, eine Perspektive der Angleichung der Lebensumstände in Ost und West aufzeigen sollte und dabei die eigene Kraft maßlos überschätzte. Man könnte sagen, es war die symbolische, betongewordene Form der deutschen Einheitsvisionen, das Ende der gegenseitigen Neugier auf die differenten Lebensformen. Jedoch: Mobilität als Versprechen und als Wert an sich, das leuchtete uns Ostlern, die wir ehedem so schnell an Mauern gestoßen waren, irgendwie auch ein. Und die Erfahrung, um welchen Preis allein Mobilität zu haben ist, war noch nicht sehr verbreitet. Hans‐Christian Schink hat das früh erkannt. Welch ein Thema! Dass er sich ihm zuwandte, erscheint als die logische Folge seiner schon erwähnten früheren Betrachtungen vom Umbau des Ostens. Hatte Schink zuvor vor allem Häuser fotografiert, das heißt Gehäuse von Menschen, deren Tun sich darin auf unterschiedliche Weise abbildet, sind es nun reine Zweckarchitekturen, formal meist anspruchslos, aber dafür schön breit. Der Zweck ist die Bewegung, nicht das Bleiben, für das man gemeinhin Häuser baut. Der Zweck ist Transport, vor allem
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Hans‐Christian Schink, „A 14, bei Halle“ (1999)
Transport. Und der geht meist an den Menschen, deren Landschaftsbild die Trassen durchschneiden, vorbei. Was Schink daraus macht, ist die reine, bildgewordene Metaphysik. Nicht die de Chiricos, die sich unter gleißenden Himmeln des Südens zeigt, sondern deren deutsche Variante im winterlich grauen Hochnebel. Es sind Bilder der Leere, wie sie in deutschen Städten in Schwarzweiß nur noch Ulrich Wüst findet, Bilder vermeintlich ewigkeitlicher Versprechen, Bilder mit tiefen Horizonten, Bilder von Trassen, Löchern oder fremdartigen Skulpturen aus Pfeilern und den abgebrochenen Bögen unvollendeter Brücken. Sie sind so fotografiert, dass es eigentlich keinen Unterschied macht, ob hier aufgebaut oder abgerissen wird. Menschen sind nicht anwesend, nur selten ragt eine Maschine ins Bild. Es könnte irgendwo sein auf der Welt, wo es Bäume, Grün und winterliche Wiesen gibt. Und doch ist der Standort Deutschland genauestens kenntlich. Denn die Autobahn ist noch immer ein deutsches Motiv. Das begann in den 30er Jahren, als die Nationalsozialisten ihre militärischen Ziele hinter Arbeits‐ und Mobilitätsversprechen verbargen. Es setzte sich unter anderem Vorzeichen im Pathos des sozialistischen
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Realismus oder der westdeutschen Reportagefotografie vom Wiederaufbau fort. Das wunderbare Stück von Kraftwerk vielleicht ausgenommen, war die Autobahn nie ein Gegenstand von Elegien. Wir haben offenbar dazugelernt. Hans‐Christian Schink hat die Zerstörung der Natur in den Formen ihrer mythischen Erscheinung dargestellt, wohl wissend, dass Natur und Landschaft mit der Anwesenheit der menschlichen Arbeit immer Erscheinungsformen von Kultur sind. Diese Einsicht der Romantiker am Beginn der Moderne hat Schink in seine Bilder hinübergerettet. Vor manchen meinen wir Heinrich von Kleist besser zu verstehen, der vor Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“ den Eindruck hatte, es wären ihm die „Augenlider fortgeschnitten“². Andere Fotografien erinnern an das romantische Fenstermotiv, in dem die Landschaft durch einen Ausschnitt als kulturelles Konstrukt des menschlichen Blickes sichtbar wird. In Hans‐Christian Schinks fotografischem Werk ist mit dem deutlichen Bezug auf romantische „Wahlverwandtschaften“ eine neue Qualität entstanden. Er genügt sich nie im Historisieren. Die oftmals klandestinen Bezüge sind keine Proben technischer oder intellektueller Virtuosität, sondern sie verankern die Bilder gleichsam in der Kunstgeschichte, um sie in einem umfassenderen Sinne gegenwärtig zu halten.Wie alle Bilderzyklen von Hans‐Christian Schink hat auch die Arbeit Verkehrsprojekte einen Anfang und ein Ende. Dazwischen liegen etwa 250 Fotografien, von denen die Quintessenz in diesem Band³ versammelt ist. Sämtlich zeigen sie die Bauten im Stadium der Konstruktion. Die Momente des Unerledigten, der offenen Situationen, die die bei aller skulpturalen Monumentalität prekären Bauten in sich tragen, vermitteln die innere und äußere Anspannung, unter der der Vereinigungsprozess in Deutschland noch immer steht. Das macht die Bilder aufregend und hebt sie weit hinaus über wohlfeile Kulturkritik oder gar die bestürzend in Mode gekommene Ostverkitschung, an deren Verlogenheit sich trefflich verdienen lässt. Die Verkehrsprojekte verweisen somit neben der spezifisch deutschen Situation auf den zivilisatorischen Prozess an sich. Die Euphorien der Moderne sind verflogen, in Schinks Bildern ist der so genannte „Fortschritt“ stillgestellt. Darin verbirgt sich der Hinweis auf eine Chance.
Clemens Brentano: „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft“ [umgearb. von Heinrich von Kleist]. In: Berliner Abendblätter. 12. Blatt, Den 13ten October 1810. S. 47– 48, hier S. 47. Diese Bemerkung bezieht sich auf den Band des Erstabdrucks des Textes [Anm. der Hrsg.].
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Literaturverzeichnis Brecht, Bertolt: „Der Dreigroschenprozeß. Ein soziologisches Experiment“. In: Bertolt Brecht: Schriften zur Literatur und Kunst I. Gesammelte Werke in 20 Bä nden. Bd. 18. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967. S. 139 – 209. Brentano, Clemens: „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft“ [umgearb. von Heinrich von Kleist]. In: Berliner Abendblätter. 12. Blatt, Den 13ten October 1810. S. 47 – 48. Schink, Hans-Christian: Verkehrsprojekte. Traffic Projetcs. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2004.
Philipp Lepenies
Der Horizont der Modernisierungstheorie Einleitung Für den in Oxford lehrenden Ökonomen Paul Collier orientiert sich Entwicklung am langfristigen Ideal einer „internationalen Konvergenz“¹. Weiter sagt er: „Meiner Meinung nach geht es bei Entwicklung darum, den einfachen Menschen die Hoffnung zu geben, dass ihre Kinder in einer Gesellschaft leben werden, die zum Rest der Welt aufgeholt hat.“² Der ehemalige Weltbank-Chefökonom und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz schrieb ein paar Jahre davor prägnant, Entwicklung wäre „eine Bewegung von traditionellen Beziehungen, traditionellen Kulturen und Sitten, traditionellen Arten mit Gesundheit und Bildung umzugehen, traditionellen Produktionsweisen hin zu mehr moderneren“³. Diese Aussagen sind bemerkenswert. Sie beinhalten eine Vorstellung von Entwicklung, die man weniger mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts in Verbindung bringt, sondern eher mit der Modernisierungstheorie der 1950er Jahre.⁴ Grundidee ist die eines linearen Zeit- und Weltenverlaufs, eines eindeutigen Entwicklungspfades, den alle Länder der Erde gehen beziehungsweise gehen könnten. Die Zeit ist dabei ein entscheidender Faktor. Mit der Zeit tritt idealerweise eine Verbesserung ein: Parameter wie Einkommen, Lebenserwartung und Einschulungsquoten steigen, der Zugang zu Gesundheitsversorgung, sauberem Trinkwasser und Energie wird gewährleistet usw. Entwicklung ist nicht statisch, sondern dynamisch, beinhaltet immer den Übergang von einem vermeintlich schlechteren Zustand zu einem qualitativ höheren. Das Zitat von Stiglitz macht
Collier, Paul: „African Growth: Why a ‚Big Push‘“. Journal of African Economies 15 (2) 2006. S. 188. Collier, Paul: The Bottom Billion. Why the poorest countries are failing and what can be done about it. Oxford: Oxford University Press 2007. S. 12. Stiglitz, Joseph: „Towards a New Paradigm of Development“. In: Making Globalization Good. The Moral Challenges of Global Capitalism. Hrsg. von John H. Dunning. Oxford: Oxford University Press 2003. S. 77. Siehe bspw. Lewis, Arthur: The Theory of Economic Growth. London: Allen & Unwin 1955; Lipset, Seymour Martin: „Some Social Requisites of Democracy: Economic Development and Political Legitimacy“. In: American Political Science Review 53 (1) 1959; Lerner, Daniel: The Passing of Traditional Society. Modernizing the Middle East. Glencoe, Ill.: Free Press 1958; Rostow, Walt Witman: The Stages of Economic Growth. A Non-Communist Manifesto. Cambridge: Cambridge University Press 1960. https://doi.org/10.1515/9783110553291-003
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das besonders deutlich. Es macht auch deutlich, dass Unterschiede mitunter nicht als gleichberechtigte Optionen nebeneinander bestehen, sondern eine zeitliche Sequenzierung von Heterogenität stattfindet: Andersartigkeit wird in qualitativer Hinsicht temporalisiert. Das eine ist „noch nicht“ so wie das andere. Das Ziel ist das „Aufholen“, die Angleichung, die Konvergenz. Stiglitz benutzt dabei wahrscheinlich unbewusst die Attribute „traditionell“ und „modern“ als Gegenpole. Aber auch diese sind qualifizierend. Es ist selbstredend, dass modern „besser“ ist als traditionell. Die Verbindung von traditionell und modern beinhaltet auch eine zeitliche Dimension. Jeder, der jetzt modern ist, war früher auch einmal traditionell. Das bedeutet dann aber auch, dass jeder, der noch traditionell ist, auch modern werden kann. Es ist in diesem Verständnis nicht in Stein gemeißelt, dass es solche Gesellschaften gibt, die fast natürlich bessergestellt wären als andere. Jeder Zustand ist veränderbar. Aber die Grundprämisse ist, dass es einen zeitlichen Veränderungspfad gibt, der dauerhafte positive Veränderung verheißt. Der Horizont dieser Perspektive ist der Zustand der erfolgten Konvergenz: der Moment, in dem die Entwicklungsunterschiede verschwinden. Hier kommt jedoch ein Paradox zum Vorschein. Die Bewegung auf diesen Punkt der Konvergenz zu ist lediglich eine angenommene immerwährende Approximation. Ein finales Erreichen dieses Punktes ist unwahrscheinlich und eigentlich auch nicht absehbar vorgesehen. Das hat auch damit zu tun, dass die vermeintlich weiter fortgeschrittenen Länder nicht auf der Stelle verharren. Auch das Land mit dem höchsten Entwicklungsstand kann sich immer noch weiter verbessern und tut dies auch. In diesem Sinne ist die Vorstellung von Entwicklung die Idee eines unendlichen, eines unendlich positiv fortschreitenden Verlaufs, aber eines Verlaufs, der zielgerichtet ist, auf einen bestimmten Punkt hin. Auf einen Punkt hin, der auf dem Horizont liegt. Diese Sichtweise ist charakteristisch für die moderne Entwicklungsvorstellung. Sie ist demnach immer noch und war auch immer im engeren Sinne eine „Modernisierungstheorie“. Diese zugegebenermaßen idealtypische und abstrakte Beschreibung der wesentlichen Elemente des Entwicklungsverständnisses hat, wie unschwer zu erkennen, eine große Ähnlichkeit mit der Zivilisations- und Fortschrittsphilosophie der französischen Aufklärung, insbesondere mit den Ideen des „Erfinders“ des modernen Fortschrittgedankens, dem Marquis de Condorcet. Dass die moderne Entwicklungsvorstellung auf der Grundannahme eines linearen Fortschrittsmodells beruht und diese wiederum Ähnlichkeiten mit Ideen der Aufklärung hat, ist nicht weiter verwunderlich. Der Fokus dieses Aufsatzes ist deswegen ein anderer: Wie kam es eigentlich, dass ein Aufklärer, der Franzose Condorcet, um das Jahr 1793 eine so mächtige Vision des Horizontes entwickeln konnte, die bis heute zumindest im Entwicklungsdiskurs mit seinem Modernisierungsideal weiterlebt? Dieser Frage werde ich nachgehen. Meine Antwort
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lautet: Condorcet sah als erster die Welt – und zwar die physische und die soziale – vollständig wie ein zentralperspektivisches Bild. Er steht damit nicht so sehr am Anfang einer Weltsicht, die eine stetige Annäherung an einen idealtypischen, aber dennoch unerreichbaren Horizont modellierte, sondern am Ende eines Prozesses, der mit der Erfindung und Durchsetzung der zentralperspektivischen Zeichentechnik im Italien der Renaissance beginnt und eben mit den Ideen Condorcets zum linearen Weltenverlauf endet. Die Erfindung der Zentralperspektive ist nicht monokausal für die Entstehung unserer Vorstellung von Moderne, Modernisierung, Fortschritt und Entwicklung. Aber sie beinhaltet zwei entscheidende Elemente: erstens die Definition des Horizontes als eines Zielpunktes und zweitens das Verständnis, dass die Welt, wie Max Weber es ausdrückt, durch Berechnen beherrscht und damit auch umgestaltet werden kann. Im Folgenden werde ich auf dieses Zeitintervall eingehen. Nicht nur wird der Kontext der Entstehung der Perspektive im italienischen Cinquecento beleuchtet, sondern auch die daraus resultierenden „unintended consequences“⁵ sowie der Einfluss, den die perspektivische Malerei auf die Entstehung der modernen Naturwissenschaft hatte. Dadurch wird dann auch klar werden, warum es vor Condorcet nicht möglich gewesen war, die Welt so zu sehen, wie er es tat – und wie wir es oft noch immer tun.
Perspektive Mit dem Begriff Perspektive wurde im späten Mittelalter und der Frührenaissance zunächst das Feld der Optik umschrieben und das griechische Wort Optik ins Lateinische übersetzt. Grundlage waren damals die Wiederentdeckung der euklidischen Geometrie sowie die Überlegungen arabischer Gelehrter wie Al-Hazen zur Physik des Lichts und des Sehens.⁶ Al-Hazen war ein Verfechter der Idee, dass nicht länger das Auge tastend Lichtstrahlen aussendete, wie man es lange glaubte, sondern dass stattdessen Lichtstrahlen (in Form von Geraden) von den betrachteten Objekten selbst ausgingen und den Betrachter in Form einer Pyramide im Auge trafen, sodass er oder sie diese wahrnehmen konnte. Mit dieser Vorstellung war es möglich, die Natur dieser Strahlen losgelöst von der Wahrnehmungsfähigkeit des einzelnen Individuums mathematisch, das heißt geometrisch, mit dem Instrumentarium Euklids zu analysieren und zu beschreiben. Es Vgl. Merton, Robert K.: „The Unanticipated Consequences of Purposive Social Action“. In: American Sociological Review 1, no. 6 (1936). Vgl. Belting, Hans: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks. München: Beck 2008.
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erlaubte, die Physik des Lichts ohne Metaphysik abstrakt zu erfassen. Das Auge war nicht länger ein aktives Organ, sondern ein passiver Empfänger von Lichtstrahlen. Die Philosophen der Perspektivisten (Pecham, Bacon, Vitelo), die sich auf Al-Hazen beriefen, konnten daher postulieren, dass die sinnliche Wahrnehmung des Sehens Rückschlüsse über das „reale“ beobachtbare Objekt zuließen und es nicht nur ein intuitives Verständnis der physischen Dinge geben konnte, deren Existenz in Frage gestellt wurde. In Anlehnung an die Perspektivisten konnte behauptet werden, dass man durch das Betrachten nicht nur die Dinge so sehen konnte, wie sie auch wirklich waren, sondern dass grundsätzlich Erkenntnisse über die physische Realität denkbar wurden. Für Hans Belting stellte dies einen entscheidenden anthropologischen Wandel dar,⁷ den Übergang von einer Seh- zu einer Bildtheorie, die es letztendlich ermöglichte, in Abbildern ein Faksimile realer Dinge zu erkennen, um so im Umkehrschluss dem Wesen des Realen auf den Grund zu gehen. Im späten 14. Jahrhundert zeigte sich dies in der Malerei. Waren Bilder vorher meist gekennzeichnet durch einen uniformen goldfarbenen Hintergrund (ähnlich der Ikonen der orthodoxen Kirche) und definierte sich die Größe einer Figur hauptsächlich anhand ihrer religiösen Bedeutung, gingen die Maler immer mehr dazu über, den Bildern Tiefe zu geben, Hintergründe zu malen und vor allem mit Größenverhältnissen zu experimentieren. Kleinere Figuren im Hintergrund sollten eine optische Distanz signalisieren, nicht nur ausschließlich ihre religiöse Unbedeutendheit. Diese Darstellungen waren jedoch noch nicht das Produkt einer empirisch-theoretischen Naturbeobachtung, oder einer klaren Zeichenmethode. Neben den Einflüssen der Perspektivisten waren damals auch die Lehren Franz von Assisis entscheidend, der argumentiert hatte, dass das Studium der physischen Welt den Weg zu Gottes Seele weisen würde.⁸ Das Interesse, Dinge so zu zeichnen und zu malen, wie sie schienen, hatte daher auch einen eigenen theologischen Wert. Allerdings wirken Bilder aus dieser Zeit um 1400 für den heutigen Betrachter ungelenk. Die Größenverhältnisse der Objekte zueinander stimmten oft noch nicht, ebenso wenig wurden zentrale Fluchtpunkte fixiert. Gemalte Gegenstände breiteten sich oft in unterschiedliche Richtungen aus. Dass sich aber orthogonale Linien, das heißt Linien, die von der Bildfläche im rechten Winkel abgehen, zumindest optisch treffen müssen, um Gegenstände plastisch darzustellen, das wurde Künstlern zwar klar, nicht jedoch, wie das genau funktionieren sollte. Die
Belting: Florenz. S. 146. Field, Judith Veronica: The Invention of Infinity. Mathematics and Art in the Renaissance. Oxford: Oxford University Press 1997. S. 9.
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Perspektiv-Technik zu verstehen und anzuwenden und somit in der Lage zu sein, dreidimensionale Objekte im zweidimensionalen Raum zu zeichnen, „wie sie wirklich dem Auge erscheinen“, war daher das Verdienst der Künstler der italienischen Renaissance. Die genauen Umstände der „Erfindung“ der Perspektive bleiben dunkel. Fest steht nur, dass es der Architekt, Bildhauer, Goldschmied und Maler Felippe Brunelleschi war, der zwischen 1413 und 1425 die ersten perspektivischen Zeichnungen hervorbrachte und damit ein großes Publikum begeisterte.⁹ Eine Besonderheit der Renaissance-Architektur war die Wiederentdeckung der Proportionen gewesen. Während man im Bauwesen also bereits in Anlehnung an die antike Architektur Proportionenlehre betrieb, war es erst durch die Zentralperspektive möglich, Objekte so wiederzugeben, dass die Proportionen zueinander optisch korrekt gezeichnet waren. In einer Zeit, in der den Proportionen so viel Gewicht beigemessen wurde, war diese Zeichentechnik in einen größeren praktischen, kulturellen und mathematischen Kontext eingebettet. Die Perspektivtechnik, nach der sich alle Orthogonalen an einem (oder mehreren) Fluchtpunkten treffen mussten, wurde nicht einfach von einigen Malern angewendet und kopiert, sondern früh schon in Schriften minutiös und detailliert kodifiziert. Diese Schriften wurden nicht als Beitrag zur Zeichenkunde angesehen, sondern galten den Zeitgenossen als originäre Mathematikabhandlungen. Eine dieser Kodifizierungen war das von Leon Alberti 1435 verfasste Werk „De Pictura“, das er seinem Freund Brunelleschi widmete. Alberti war ebenso wie Brunelleschi ein klassischer Humanist: Poet, Architekt, Bildhauer und Ingenieur in einer Person. In seiner Schrift gab er klar vor, wie perspektivisch zu zeichnen war und worauf es dabei ankam: Nämlich so, als handle es sich um ein Relief, und als wären die gezeichneten Objekte die Objekte selbst. Grundvoraussetzung war, dass man beim Zeichnen zuerst einen Punkt festlegen musste, zu dem alle Orthogonalen streben sollten. Dieser Punkt wurde dort fixiert, wo eine gedachte Gerade direkt vom Auge des Zeichners (und somit später auch des Betrachters) auf die Zeichenfläche traf. Der Punkt markierte aber nicht nur den Fluchtpunkt der Zentralperspektive, sondern er lag selbst auf einer ganz speziellen Linie, die parallel zu dem unteren und oberen Rahmen der Zeichenfläche lag: dem Horizont. Dies war nicht der echte, oder geographische Horizont, sondern lediglich der Horizont, der durch den Betrachter und Zeichner je nach dessen Augenhöhe festgelegt war, der „sensible Horizont“ wie es Edgerton formulierte.¹⁰ Dass man
Edgerton, Samuel: The Mirror, the Window and the Telescope. How Renaissance Linear Perspective Changed Our Vision of the Universe. Ithaca, NY: Cornell University Press 2009. Alberti, Leon Battista: On Painting. London: Penguin 2004. S. 57.
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zunächst den Horizont festlegen musste, war laut Edgerton auch die wichtigste wirkliche „Entdeckung“ Brunelleschis. Daneben waren aber auch weitere Überlegungen der formalisierten Perspektivtechnik wichtig. Malte man beispielsweise einen Würfel, dann sollte es so scheinen, als wäre die Zeichenfläche gar keine, sondern als könnte man durch diese hindurchsehen und einen echten Würfel im Raum dahinter erblicken. Wenn man sich nach den Ideen Al-Hazens nun vorstellte, dass von diesem Würfel optische Strahlen auf das Auge des Betrachters in Pyramidenform fielen (mit der Spitze der Pyramide genau an der Pupille), so war das Bild laut Alberti an sich nichts anderes als ein gedachter Querschnitt – ein Querschnitt durch die Sehpyramide, eine „intercisione della piramide visiva“¹¹. Diesen Querschnitt sollte man sich laut Alberti auch wie ein Fenster vorstellen. Die Begrenzung der Zeichen- und Malfläche war der Fensterrahmen durch den man hindurchsah – bis hin zum festgelegten Horizont. Die Tiefe des Raumes wurde dadurch künstlich geschaffen und die ursprüngliche Wortbedeutung von perspicere – hindurchsehen – bekam eine neue Plausibilität. Mit einem besonderen Kniff gelang es Alberti auch darzustellen, wie sich geometrisch und damit auch optisch die Verkürzung der äquidistanten Transversalen bewerkstelligen ließ. Diese bezeichnen Geraden, die parallel zur Horizontlinie verlaufen (und im rechten Winkel zu den Orthogonalen) und bei denen der Abstand zueinander eigentlich immer derselbe ist. Allerdings sieht es bei der Perspektivzeichnung so aus, als würden sich der Abstand dieser eigentlich immer gleich weit auseinanderliegenden Geraden zum Horizont und zum Fluchtpunkt hin immer weiter verringern, als würden die Geraden immer näher aneinander kommen, bis sie mit dem Horizont verschmelzen. Nur wenn diese in die Bildtiefe erfolgende Verkürzung geometrisch und damit in der jeweiligen Abstandsverkürzung korrekt ist, können Gegenstände maßstabsgetreu im Raum dargestellt werden. Die Technik erlaubt so etwas wie ein schachbrettmäßiges Bodenraster anzulegen, anhand dessen man sich mit mathematischer Genauigkeit bei der Fixierung der gemalten Objekte orientieren kann. In vielen Gemälden und Fresken der Hochzeit der Renaissance kann man deswegen auch fast immer einen schachbrettartigen gekachelten Boden sehen. Dieser diente den Künstlern nicht nur zur Orientierung und zur Skalierung der Objekte im optisch geschaffenen Tiefenraum, sondern er sollte den Betrachtern auch vor Augen führen, dass der Maler sein geometrisches Handwerk in Perfektion verstand.
Alberti: Painting. S. 48.
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Mathematik und symbolische Form Die Verfechter und Anwender der Perspektive waren, wie bei Alberti und Brunelleschi ersichtlich, nicht Künstler im engeren Sinne, sondern vor allem Praktiker, Ingenieure, technische Erfinder und Baumeister. Die Perspektive hatte keinen ästhetischen Hintergrund, sondern war das Ergebnis von Berechnung und Messung. Außerdem diente sie oft auch praktischen Zwecken – in Form von Architektur – oder technischen Zeichnungen. Als Albrecht Dürer nach Italien kam, um die Perspektivkunst zu lernen und später im nordalpinen Raum bekannt zu machen, nannte er sein Perspektivmanual folgerichtig „Unterweysung der Messung mit dem Zirkel und dem Richtscheyt“. Bei der Perspektive kam es also darauf an, Dinge genau zu beobachten und zu erfassen und diese Genauigkeit auch in der Bildgestaltung anzuwenden. Die Methode der Perspektive war laut Alberti vollständig mathematisch, das italienische Wort „Regula“, Regel, das im Zusammenhang mit der Perspektivanwendung benutzt wurde, wurde sonst nur für mathematische Methoden verwendet. Im Norditalien der Renaissance hatte Mathematik einen besonderen gesellschaftlichen Stellenwert. Die international agierenden Kaufleute benötigten besondere Rechenkünste zur Geschäftsabwicklung (sei es in Währungen, Maßen oder den Waren selbst). Ihre Kinder wurden weniger im Sinne humanistischer Bildung erzogen, sondern vor allem in den Abacus-Schulen, auf deren Lehrplan kommerzielle Arithmetik und Geometrie stand.¹² Dies führte auch dazu, dass die Perspektive weit über die Grenzen des künstlerischen Milieus akzeptiert und bekannt war. Ein Perspektivmaler wie Piero della Francesca war zunächst anerkannter Mathematiker, der mit seinem Buch Abaco eine der wichtigsten mathematischen Publikationen seiner Zeit vorgelegt hatte, bevor auch er eine Schrift über das Malen in Perspektive veröffentlichte, die wiederum eher den Anschein einer Abhandlung über angewandte Geometrie hatte als eines Buches über das Zeichnen. Neben den Ideen Al-Hazens, waren dabei für das mathematische Verständnis auch Überlegungen des Philosophen Biagio Pelcanis wegweisend. Dieser hatte sich, in Kenntnis der Lehren von Al-Hazen, eingehend mit der Frage der Messbarkeit von Objekten im Raum und auf Flächen befasst. Dass Maler den Tiefenraum auf Bildern selbstverständlich als mathematisch mess- und erklärbar wahrnehmen konnten, war auch sein Verdienst.¹³
Baxandall, Michael: Painting and Experience in Fifteenth-Century Italy. Oxford: Oxford University Press 1972. Lepenies, Philipp: Art, Politics and Development. How Linear Perspective shaped Policies in the Western World. Philadelphia: Temple University Press 2014. S. 25.
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Die Vorstellung, Objekte durch Messen erfassen zu können, verbunden mit der Vorstellung, Faksimiles der Realität in einem selbst berechneten und definierten Tiefenraum zeichnen und schaffen zu können, führte dazu, dass die Perspektive viel mehr war als eine reine Zeichenmethode. Erwin Panofsky bezeichnete die Perspektive in dem wohl berühmtesten Aufsatz über das Thema, in Anlehnung an Ernst Cassirer, als eine „symbolische Form“, anhand der sich das spezielle Weltbild und Denkmuster der Renaissance zeigen konnte.¹⁴ Dabei ist es unerheblich, ob Personen wie Alberti, Brunelleschi oder della Francesca diese Elemente in ihrer Gänze so wahrnahmen oder nicht. Fest steht, dass die Perspektive einen entscheidenden Anteil daran hatte, dass sich bestimmte neue und revolutionäre Denkformen mit der Zeit ausbilden konnten. Die Erfindung der Perspektive hatte unweigerlich eine Horizonterweiterung zur Folge, da sie die Grenzen des mittelalterlichen Weltbildes überschritt. Zunächst maß die Perspektive dem Individuum in Einklang mit humanistischen Vorstellungen (aber eigentlich viel früher als diese) einen besonderen Stellenwert zu. Nicht nur wurde dem einzelnen unterstellt, dass er die Welt so wahrnehmen konnte, wie sie wirklich war, sondern aktiv konnte unter Anwendung perspektivischer Methoden auch ein reales Abbild der physischen Welt durch den Einzelnen geschaffen werden. Auch bei der Anwendung der Methode der Perspektive selbst spielt das Individuum eine zentrale Rolle. Schließlich ist die Festlegung des Horizonts auf der Bildfläche ohne die Kalibrierung durch eine einzelne Person des Malers nicht möglich. Das Resultat perspektivischen Zeichnens ist das, was Hans Belting den „ikonischen Blick“ genannt hat.¹⁵ Es ist der Blickakt eines einzelnen, der auf die Bildfläche übertragen wird: mit einer besonderen Blickrichtung und genau dem Sichtfeld, das dieses Individuum hat. Damit wurde ein Übergang von einer theozentrischen hin zu einer anthropozentrischen Weltsicht symbolisiert, einer „anthropocracy“, wie es Panofsky betitelte.¹⁶ Die Fenstermetapher von Alberti unterstrich, dass dem Sehakt in dieser Vorstellung auch eine räumliche Dimension und eine Zielgerichtetheit zu eigen ist. Im Gegensatz zu anderen Kulturkreisen, in denen der weite Blick aus dem Fenster zur Betrachtung der sozialen und physischen Welt unüblich, gar tabuisiert ist, verbindet sich mit der Vorstellung des perspicere eine Erfassung und Wahrnehmung der äußeren Welt, eine Verbindung des einzelnen mit dem „Draußen“. Zwar war die Vorstellung eines Fensters auch die einer Begrenzung Panofsky, Erwin: „Die Perspektive als ‚Symbolische Form‘“. In: Vorträge der Bibliothek Warburg. 1924 – 1925. Hrsg. von Fritz Saxl. Leipzig: Teubner 1927. Belting: Florenz. S. 24. Panofsky, Erwin: Perspective as Symbolic Form. New York: Zone Books 1991. S. 72.
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der Zeichenfläche – im Gegensatz zu der Zeichenfläche in der Zeit vor der Perspektivtheorie war die Tiefe des Raumes im Bild jedoch jetzt mit dem Raum außerhalb des Bildes verbunden. Die Tiefe des Raumes und der Horizont definierten sich nicht allein im Bild, sondern durch den vor dem Bild stehenden Betrachter oder Künstler. Im Sinne der optischen Theorie verbanden die Sehstrahlen die gemalten Objekte im Tiefenraum des Bildes mit dem Betrachter und dem Maler. Die Realität und die gemalte Realität waren damit eine Einheit. Mit der Perspektive wurde versucht, die der Natur innewohnenden geometrischen Beziehungen herauszustellen.¹⁷ Damit konnte man theoretisch annehmen, dass die Natur solchen Beziehungen unterworfen war. Nicht nur die Natur, auch der Raum an sich unterlag mathematischen Gesetzmäßigkeiten. Perspektive war Ausdruck einer neuen „Raumanschauung“.¹⁸ Dieser systemische Raum war zunächst begrenzt durch den Fluchtpunkt am Horizont. Aber genau wie sich der echte Horizont immer weiter nach hinten verschiebt, war auch klar, dass der Fluchtpunkt, an dem sich optisch die Orthogonalen treffen (was in der Realität nicht passieren kann), kein realer Punkt ist, sondern ein richtungsweisender Anhaltspunkt. Stattdessen konnte anhand dieser Vorstellung von Geraden, die in den Raum hineinweisen, eine Vorstellung von etwas entstehen, was man so noch nicht theoretisch durchdacht hatte: räumliche Unendlichkeit. Diese Unendlichkeit zu konzipieren wurde auch dadurch einfacher, dass der Raum vor der Bildfläche bereits mit der Fläche auf dem Bild konzeptionell verbunden war. Judith Field beschrieb deswegen die Entdeckung der Perspektive als „the invention of infinity“¹⁹. Allerdings war die Vorstellung von räumlicher Unendlichkeit verbunden mit Vorstellungen von Chaos und Unordnung im Sinne des griechischen apeiron. Der Fluchtpunkt gab der räumlichen chaotischen Unendlichkeit jedoch einen Sinn, eine Ordnung, eine Richtung. Es war eine zielgerichtete „horizontale Unendlichkeit“.²⁰ Auf den ersten Darstellungen in Perspektive waren zwar sichtbare Architekturelemente und Sichtachsen optisch dreidimensional. Die menschlichen und meist religiösen Figuren jedoch waren weniger plastisch. Auch war es in der Logik der Perspektive nicht länger möglich, im religiösen Sinne wichtige Figuren in ihren Proportionen größer zu malen als sie waren. Dies eröffnete laut Panofsky zumindest die Möglichkeit, die Welt als etwas Säkulares zu denken, als etwas, was
Edgerton, Samuel:The Heritage of Giotto’s Geometry. Art and Science on the Eve of the Scientific Revolution. Ithaca, NY: Cornell University Press 1991. S. 20. Panofsky: Perspektive. S. 270. Field, Judith Veronica:The Invention of Infinity: Mathematics and Art in the Renaisscance. Piero della Francesca. A Mathematician’s Art. Oxford: Oxford University Press 1997. Belting: Florenz. S. 260.
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auch außerhalb der religiösen Vorstellungen existieren könnte, in denen Glauben nicht alles beherrschte. Dies wurde noch dadurch unterstützt, dass es in der perspektivischen Malerei immer weniger allein um die Darstellung religiöser Wunder ging, sondern die perspektivisch gemalten Elemente eine eigene Berechtigung bekamen, da man durch sie zeigen konnte, wie gut man die Methode beherrschte. In einigen Darstellungen drängen die Perspektivansichten das religiöse Sujet (bspw. die Ankündigung Mariens) optisch in den Hintergrund, obschon es den Vordergrund bildet. Dazu passt auch, dass die Wörter „Schöpfer“ (Creator) und „schöpfen“ zum ersten Mal außerhalb des kirchlichen Kontexts für die Anwender der Perspektive genutzt wurden.²¹ Die Maler mussten nicht nur den Horizont festlegen, sondern den gesamten Bildraum definieren und auch selbst entscheiden, welches Objekt sie an welche Stelle setzten (wenn man davon ausgeht, dass Künstler damals nicht die Realität nach detaillierter Beobachtung abbildeten, sondern diese in ihren Bildern erst schufen). Damit erhielten die Maler eine ungeheure Gestaltungsmacht, die noch dadurch unterstrichen wurde, dass man davon ausging, dass die Objekte, wenn auch nicht genau so existierten, dennoch angesehen werden sollten, als wären sie real. Mit der Vorstellung, dass der gesamte physische Raum und alle Objekte darin nach mathematischer Logik zu erfassen und abzubilden waren, blieb wenig Raum für religiöse Metaphysik. Je weiter man den Horizont in die Unendlichkeit verschob und den Raum erklären konnte, desto weiter war Gott gezwungen, immer weiter weg „zu emigrieren“.²² Es ist dabei nur ein kleiner Schritt, bei einer angenommenen räumlichen Unendlichkeit zu dem Schluss zu kommen, dass ein Vorwärtsschreiten in diesem Raum nur in einer unendlichen Zeitdimension möglich war. Je größer der angenommene Raum, desto weiter verschob sich auch die Vorstellung eines religiös determinierten Jüngsten Tages in die weite Ferne und ließ Raum zur säkularen Gestaltung von Raum und Zeit, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont lagen auseinander.²³
Panofsky, Erwin: „Artist, Scientist, Genius. Notes on the ‚Renaissance-Dämmerung‘“. In: The Renaissance. Six Essays. Hrsg. von Wallace K. Ferguson, Robert Lopez, George Sarton, Roland H. Bainton, Lester Bradner und Erwin Panofsky. New York: Harper and Row 1962. S. 172. Belting, Hans: „Himmelsschau und Teleskop. Der Blick hinter den Horizont“. In: Bild/ Geschichte. Festschrift für Horst Bredekamp. Hrsg. von Philine Helas, Maren Polte, Claudia Rückert und Bettina Uppenkamp. Berlin: Akademie-Verlag 2007. S. 206. Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989.
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Der Fortschritt der Bildwelt – zur physischen Welt Teile der Wissenschaftsgeschichte können als Prozess verstanden werden, währenddessen die von Panofsky identifizierten symbolischen Elemente der Perspektive sich als Teil einer allgemeinen, eben perspektivischen Weltsicht etablierten, ein Prozess, in dem die Sicht auf die Bildwelt zu einem Bild der physischen Welt wurde. Mit der Entdeckung Amerikas kurz nach der Durchsetzung der Perspektivtechnik wurde geographisch und politisch deutlich, dass die klassische räumliche Begrenztheit der Welt nicht länger den Tatsachen entsprach. Stattdessen gab es hinter dem Horizont, den an den unterschiedlichen Finis Terrae Europas das Meer bildete, offensichtlich noch weitere Orte. Nicht ohne Grund ließ Kaiser Karl V. sein kaiserliches Motto, das sich symbolisch um die Säulen des Herkules wand, von Nec Plus Ultra (bis hierher und nicht weiter) in Plus Ultra (immer weiter) ändern. Die bereits auf den Bildern denkbare räumliche Unendlichkeit hinter dem Horizont war Wirklichkeit geworden. Ebenso etablierten sich, wenn auch von der Kirche mit aller Härte verfolgte, Ideen bezüglich der Erklärbarkeit der physischen Welt durch die Mathematik, ohne Rückgriff auf Theologie. Hier war Galileo das Bindeglied zwischen Perspektivkunst und Proto-Naturbeobachtung. In seinem Buch Il Saggiatore von 1623 schrieb er, dass „die Philosophie in einem grandiosen Buch geschrieben sei – ich meine das Universum – das immer für unsere Blicke offen ist. Aber es kann nur verstanden werden, wenn man seine Sprache und Buchstaben versteht. Es ist geschrieben in der Sprache der Mathematik und die Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne die kein Mensch auch nur ein einziges Wort verstehen kann.“²⁴ Galileo war noch weit davon entfernt, annehmen zu können, dass die gesamte Welt mathematisch erklärt werden könnte – dies hatte auch mit den Grenzen geometrischer Analysen zu tun, die erst durch die Arbeiten von Leibniz, Descartes, Newton und anderen erweitert wurden. Allerdings ist bei Galileo seine spezielle Beziehung zur Perspektive relevant. Als Teilgebiet der Mathematik war Perspektivlehre für alle, die sich mit Mathematik beschäftigten, ein übliches Pflichtfach. Bei Galileo ging die Begeisterung für die Zeichenkunst allerdings so weit, dass er oft unterstrich, wie sehr er
Meine Hervorhebungen und Übersetzung; Machamer, Peter: „Galileo’s Machines, His Mathematics, and His Experiments“. In: The Cambridge Companion to Galileo. Hrsg. von Peter Machamer. Cambridge: Cambridge University Press 1998. S. 64– 65.
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sich eigentlich als Maler sah, weniger als Gelehrter und Forscher.²⁵ Am liebsten wäre er Hofmaler der Medici geworden. Galileo war mit Dürers „Underweysung“ vertraut und hatte sich, ohne Erfolg, in jungen Jahren für den Posten als Professor für Perspektive an der Kunstakademie in Florenz beworben, in die er später aber genau aufgrund seiner Expertise dennoch berufen wurde. Laut Edgerton²⁶ waren die naturwissenschaftlichen Beobachtungen der Himmelsgestirne und vor allem die revolutionäre Interpretation der Oberflächenbeschaffenheit des Mondes nur möglich gewesen, weil Galileo zum einen selbst ein Teleskop baute (das damals Perspective Tube genannt wurde und vorher nur in der Horizontalen bei der holländischen Seefahrt genutzt wurde) und er zum anderen durch seine Schulung in der Perspektivtheorie in der Lage war, das, was er sah, physisch richtig zu interpretieren (bspw. der Schattenwurf der Mondkrater). Mit Galileo nahm die Mathematik in der Naturbeobachtung die Stellung ein, die sie bis heute hat. Die Mathematisierung der Objekte und des Raumes bekam durch Galileo einen besonderen Fürsprecher und verließ den engen Rahmen der Bildfläche.²⁷ Entscheidend war aber das zielgerichtete Sehen: in der exakten Beobachtung oder im räumlichen Sehen durch das Teleskop. Die Welt verstehen hieß Sehen mit Berechnung verbinden. Mit den Überlegungen Descartesʼ ging diese Vorstellung entscheidend weiter. Mit seiner Méthode wurde umfassender denkbar, dass alles in der physischen Welt mathematisch erklärt werden konnte.²⁸ Sie sollte ein klares philosophisches Fundament bilden, das Descartes bei Galileo vermisst hatte. Mit Descartes und vor allem seiner Idee des Koordinatensystems konnten geometrische Figuren in Algebra übersetzt und damit die mathematische Analyse entscheidend erweitert werden. Laut Karpinski war so nicht nur die algebraische Erklärung von Naturphänomenen möglich, sondern letztendlich auch der erste Schritt zu einer „domination of the physical universe“.²⁹ Das kartesische Koordinatensystem war durch den Schachbrettboden der Perspektive vorweggenommen worden. Descartes selbst sagte später von sich, es sei ihm im Leben besonders darum gegangen, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden und dabei immer „klar zu
Bredekamp, Horst: „Gazing Hands and Blind Spots: Galileo as Draftsman“. In: Science in Context 13 (3 – 4) 2000. S. 426. Edgerton: Mirror. Baron, Hans: „Towards a More Positive Evaluation of the Fifteenth-Century Renaissance“. In: Journal of the History of Ideas 4 (1) 1943. Drake, Stillman: „Galileo’s Language: Mathematics and Poetry in a New Science“. In: Yale French Studies 49, 1973. S. 24. Karpinski, Louis C.: „Descartes and the Modern World“. In: Science 89 (2303) 1939. S. 151.
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sehen“.³⁰ Der Autor mehrerer Schriften zur Optik war fest davon überzeugt, dass seine wissenschaftliche Methode die Männer seiner Zeit zu „masters and possesors of nature“ machen würde. Mit Descartes, und natürlich vielen anderen, konnte entstehen, was Max Weber die Entzauberung der Welt genannt hat, einer Welt, die entzaubert wurde, weil man sie „durch Berechnen beherrschen“ konnte.³¹ Im 17. Jahrhundert entstand eine eigentümliche Dynamik, eine „new mental atmosphere“³². Nicht nur wurden immer mehr physische Phänomene naturwissenschaftlich erforscht und analysiert, es entwickelte sich eine optimistische Sichtweise auf die Veränderungen des Wissens im Zeitverlauf. So wie es schien, war die Menschheit in der Entwicklung des menschlichen Geistes immer weiter vorangeschritten, war das Wissen noch nie so weit gewesen. Aus der durch die Renaissance eher kultivierten, zirkulären Sicht des Weltenverlaufs (durch die Vorstellung der Rückkehr zur Antike) entstand etwas dieser Vorstellung diametral Entgegengesetztes: die Idee einer Linearität der Zeit, eines kontinuierlichen Fortschreitens, das sich dadurch auszeichnete, dass sich Schritt für Schritt das Wissen der Menschen um die Welt, und damit auch der Gebrauch der Vernunft, weiterentwickelt und verbessert hatten.³³ Diese neue Zeit war anders als alles Vorhergehende, und dieses „Andere“ war vor allem qualitativ anders. Dabei war die Frage, ob die neue Zeit wirklich fortgeschrittener war, lange Gegenstand von Auseinandersetzungen, wie die „querelle des anciens et des modernes“ im Frankreich des 17. Jahrhunderts zeigte, bei der es darum ging, ob die Zeitgenossen wirklich „besser“ dastanden als die bewunderten Antiken. Als sich sowohl in Frankreich als auch in England die Ansicht durchsetzte, dass an der qualitativen Höherwertigkeit der Moderne kein Zweifel bestehen konnte, etablierte sich für dieses lineare Verständnis der Wissensvermehrung durch Vernunftgebrauch der von Joseph Glanvill genutzte Begriff „Progress“³⁴, Fortschritt. Für Bernard de Fontenelle, dem „secrétaire perpétuelle“ der Académie Royale des Sciences war ebenso wie für Glanvill der Grund für
Descartes in Hobbes, Thomas: Leviathan. Edited by Richard Tuck. Cambridge: Cambridge University Press 1991. S. 39. Weber, Max: „Wissenschaft als Beruf“. In: Max Weber Gesamtausgabe. Hrsg. von Wolfgang J. Mommsen, Birgit Morgenbrod und Wolfgang Schluchter. Bd. 17. Tübingen: Mohr 1992. S. 86 – 87. Bury, John B.: The Idea of Progress. An Inquiry into Its Origin and Growth. New York: Macmillan 1932. S. 53. Nisbet, Robert: History of the Idea of Progress. New York: Basic Books 1980. Glanvill, Joseph: Plus Ultra, or the Progress and Advancement of Knowledge since the Days of Aristotle. London: Collins 1668.
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diesen Fortschritt der sich langsam durchsetzende „Esprit de Géometrie“ – die mathematische Sicht auf die Dinge.³⁵ Der sichtbarste Verfechter dieser neuen Vorstellung von Fortschritt war der Physiokrat Anne Robert Turgot, der in einer vielbeachteten Rede in der Sorbonne über „Des progrès successifs de l’esprit humain“ im Jahre 1750 so etwas wie eine philosophische Fortschrittstheorie vorlegte. Dabei analysierte er aus historischer Sicht die Entwicklung des Menschengeschlechts als eine Abfolge von schrittweisen Verbesserungen durch stetige Erhöhung des Vernunftgebrauchs. Neu war bei Turgot, dass er dabei explizit eine globale Sichtweise annahm. Die Unterschiedlichkeit der Entwicklungsstufen der gesamten Menschheit zeigten für ihn unterschiedlich ausgebildete Grade des Wissens. Völker und Gegenden, die nicht so entwickelt waren wie Frankreich oder England, waren damit logischerweise „noch nicht“ so weit wie die anderen. Aber durch die Universalität der Vernunft wäre es selbstverständlich möglich, dass auch diese sich weiter an die weiter Fortgeschrittenen annäherten.³⁶ Auch bei ihm spielte die Mathematik die wichtigste Rolle in dem Erkennen von Wahrheit und dem Schaffen von Wissen anhand dessen die Menschheit „besser und glücklicher“ werden würde.³⁷ Mathematik und Vernunft brachten Licht in das Dunkel. Um den Fortschritt der eigenen Zeit zu verstehen, rief Turgot seinen Zuhörern zu: „Öffnet die Augen und seht!“³⁸ und „endlich sind alle Schatten verschwunden. Was für ein helles Licht scheint überall! Was für eine Vielzahl bedeutender Männer in allen Bereichen! Was für eine Perfektion des menschlichen Geistes!“³⁹ Allerdings, und das ist entscheidend, war die Idee des Fortschritts bei Turgot genau wie bei den Denkern davor eine historische Kategorie. Sie konnte erklären, wie die Menschheit zu dem Punkt gekommen war, an dem sie gerade stand. Auch wenn man die vage Hoffnung hegte, dass es auch so weitergehen könnte, war eine Zukunftsprophetie nicht Teil dieses Fortschrittsverständnisses. Es erklärte die Linearität der Zeit bis zum Jetzt, verlängerte aber diesen Pfad nicht in die Zukunft. Erst als diese Prognose denkbar wurde und auch als Idee formuliert wurde, war nicht nur unser modernes lineares Modernisierungs- und Fortschrittsverständnis entwickelt. Dies war auch der Zeitpunkt, an dem die Welt endgültig so mathematisch klar erschien wie ein Bild
Fontenelle, Bernard de: Fontenelle. Textes choisis et commentés par Emile Faguet. Paris: Plon 1912. Turgot, Anne Robert: „Tableau philosophiques des progrès successifs de l’esprit humain“. In: Formation et distribution des richesses. Textes choisis et présentés par Joel-Thomas Ravix et PaulMarie Romani. Paris: Flammarion 1997. S. 72. Ebd., S. 94. Turgot: Tableau. S. 93. Ebd., S. 91– 92.
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in Zentralperspektive und daher von Menschenhand gestaltet und „kreiert“ werden konnte. Dass es zu dieser Weiterentwicklung kam, lag allein an einem Mann: dem Marquis de Condorcet.
Die Perspektive des modernen Fortschrittsverständnisses Condorcet war ein Protégé Turgots. Ebenso wie dieser glaubte Condorcet daran, dass Wissen zum öffentlichen Wohl eingesetzt werden sollte. Brillieren konnte Condorcet bereits in jungen Jahren als Mathematiker. Dass es der „esprit de géometrie“ war, anhand dessen die Welt nicht nur verstanden, sondern auch verändert werden konnte, davon war Condorcet früh überzeugt. Dieser esprit machte es möglich, das Wahre vom Falschen ohne jeden Zweifel zu unterscheiden. Politisch entwickelte sich Condorcet, in seinen Entscheidungen immer der Vernunft verpflichtet, schon vor der Revolution zu einem Radikalen, der es nicht ertragen konnte, wenn andere seine für ihn logischen Schlussfolgerungen nicht teilten; sei es in der Frage der Abolition, der Kirche, der Gleichberechtigung der Geschlechter, der Rechte der Kinder oder gar der Tiere. Mathematik und Vernunft, Gerechtigkeit,Wissenschaft und Politik gingen für Condorcet zusammen. Mit Hilfe der Mathematik war für Condorcet nicht nur ein Verständnis der physischen Welt möglich, sondern revolutionärer Weise auch der sozialen. Im Journal d’Instruction Publique, das die Erkenntnisse der Wissenschaften einem breiten Publikum bekannt machen sollte und dessen Mitherausgeber Condorcet war, publizierte er 1793 einen Aufsatz mit dem vielsagenden Titel: „Tableau général de la science qui a pour objet l’application du calcul aux sciences politiques et morales“. In dieser Schrift erfand er einen besonderen Namen für sein Vorgehen, soziale Prozesse anhand der Mathematik erklären und nach rationalen Prinzipien gestalten zu wollen: „Mathématique sociale“⁴⁰. Dass Condorcet der Mathematik einen solchen Stellenwert beimaß, lag auch an der damals neuen Wahrscheinlichkeitsrechnung. Menschliche Entscheidungen würden laut Condorcet immer durch probabilisitische Abwägungen determiniert sein. Wenn der Vernunftgebrauch gefördert würde und auch genügend Informationen vorlägen, gäbe es klare und richtige Entscheidungen. Der Erfolg
Baker, Keith Michael: Condorcet. From Natural Philosophy to Social Mathematics. Chicago: University of Chicago Press 1975; Badinter, Elisabeth/ Badinter, Robert: Condorcet. Un intellectuel en politique. Paris: Fayard 1988.
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des gesellschaftlichen Zusammenlebens war wie beim Kartenspiel immer dann gegeben, wenn man auf Kalkül setzte, nicht auf Glauben und Routine.⁴¹ Obwohl er ein glühender Verfechter der Revolution war, manövrierte sich Condorcet politisch ins Abseits. Nachdem er sich mit dem Konvent überwarf, tauchte er unter und wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt. In seinem Versteck in Paris schrieb er hastig an einer Schrift, mit der er nicht nur zum Entdecker der säkularen Zukunft, sondern auch zum Erfinder des modernen Fortschrittsgedankens wurde: der „Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain“⁴². Kurz nachdem er diesen beendet hatte, versuchte er aus Paris zu fliehen, wurde gefasst und starb noch in derselben Nacht in seiner Zelle unter ungeklärten Umständen. In Anlehnung an seinen Mentor Turgot behandelte Condorcet im Esquisse die historische Entwicklung der Menschheit als lineare Progression, als klaren Beweis, dass im Zeitverlauf durch stetig verbesserten Vernunftgebrauch und verbesserte Mathematik (besonders durch Galileo und Descartes) nicht nur Aberglaube und hemmende religiöse Dogmen an Bedeutung verloren hatten, sondern dafür auch ein immer klareres Verständnis der physischen Zusammenhänge der Welt und somit die Verbesserung der Lebensumstände eingesetzt hatten. In neun von zehn Kapiteln teilte Condorcet die Einstellung seiner Vordenker, dass es sich bei Fortschritt um eine historische Kategorie handelte. Neu waren jedoch die Gedanken, die er im zehnten Kapitel mit dem Titel „Des progrès futurs de l’esprit humain“ unterbrachte. Für die europäische Geistes- und Ideengeschichte ist dieser kurze Text epochemachend, da er das erste Mal markiert, an dem eine klare, nicht-theologische und damit säkulare Zukunftsprophetie gegeben wurde. Condorcet stellt in dem Kapitel die rhetorische Frage, ob die lineare Erfahrung der Vergangenheit nicht Anlass zur Hoffnung bieten und dass dieser Prozess einer stetigen Verbesserung nicht auch in Zukunft immer so weitergehen könne. Die Begründung dafür, dass dies ohne Zweifel so sein würde, fand Condorcet in dem Konzept der immerwährenden und unendlichen „perfectibilité de l’esprit humain“. Die Möglichkeiten des menschlichen Geistes, sich stetig durch Vernunft weiterzuentwickeln, waren in diesem Verständnis unbegrenzt. Fortschritt war aber nicht nur auf Erkenntnis und Forschung begrenzt, sondern die Konsequenz des Fortschritts war die Beförderung des Glücks und des
Condorcet, Jean Antoine Nicolas Caritat: „Tableau général de la science qui a pour objet l’application du calcul aux sciences politiques et morales“. In: Politique de Condorcet. Textes choisis et présentés par Charles Coutel. Paris: Payot and Rivages 1996. S. 29. Condorcet, Jean Antoine Nicolas Caritat: Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain. Paris: Flammarion 1988 (in den folgenden Zitaten aus dem Esquisse meine Übersetzungen).
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Wohlergehens der Menschheit. Daran aktiv zu arbeiten, war in Condorcets Verständnis auch ethische Richtschnur. Und diese bezog sich nicht auf sein eigenes Land, sondern auf die gesamte Menschheit. Damit bekam der Begriff des Fortschritts eine neue und viel breitere, zukunftsgerichtete Bedeutung: The term progrès and its deviations broke through all hitherto accepted bounds of meaning and became at one and the same time a capsulate description of empirical history, a chartered goal for men’s activities in the present and the future, a definition of the good at any historic moment, and an identification of the moral man.⁴³
Der Grund, warum sich Condorcet zutraute, die Zukunft prophetisch zu prognostizieren, lag auch am Einfluss der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die Unsicherheiten und Unwägbarkeiten bezüglich all dessen, was noch kommen könnte, schienen durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung zumindest abwäg- und kanalisierbar. So wie die Wahrscheinlichkeiten Entscheidungen unter Risiken ermöglichten, konnte auch das Risiko der Zukunft zumindest im Verständnis der Probabilisten in den Griff zu bekommen sein. Besaß Condorcet die Kühnheit, in die Zukunft zu blicken, tat er das, weil die Wahrscheinlichkeitsrechnung ihm die Sicherheit gab, über die Unsicherheiten hinwegzusehen, die andere von ähnlichen Zukunftsprophetien abgehalten hatten. Außerdem gab Condorcet klar zu erkennen, in welche Richtung sich die Menschheit entwickeln würde. Der stetige Vernunftgebrauch, der Fortschritt und die Zivilisation (für Condorcet waren dies Synonyme) waren nicht ziellos, sondern zielgerichtet. Am Ende der Menschheitsentwicklung stand etwas Klares: zum einen die endgültige Perfektion der Menschen, aber auch das Ende aller Unterschiede und Ungleichheiten – in den Ländern selber aber auch zwischen den Ländern. Das Ziel war eine vollständige, universelle Konvergenz.⁴⁴ Dies war der Horizont, auf den sich die Menschheit in Zukunft unweigerlich und linear zubewegen würde. Es war der Fluchtpunkt, zu dem alles hinstrebte. Aber ebenso wie der wahre Horizont sich immer weiter nach hinten verschiebt, ging auch Condorcet als guter Mathematiker davon aus, dass die Bewegung auf diesen Punkt immer nur eine fortwährende Approximation sein konnte und nie wirklich erreicht werden würde. Dafür sprach schon die Grundannahme der unendlichen perfectibilité, die eben genau das war: unendlich. Für Condorcet konnte es aber aus für ihn logischen und rationalen Gründen zu keinem anderen Szenario kommen. Mit steigendem Vernunft- und Mathematikgebrauch würde sich zwangsläufig das Glück auf der Welt steigern. Manuel, Frank E.: The Prophets of Paris. Cambridge, MA: Harvard University Press 1962. S. 62. Condorcet: Esquisse. S. 266.
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Der Blick auf die „Anderen“ Mit Condorcet hatte sich die perspektivische Ausrichtung auf einen Horizont mit einem klaren Fixpunkt als allgemeine Weltsicht durchgesetzt. Seine Fortschrittsphilosophie malte „ein lineares Bild“, wie Charles Taylor schrieb.⁴⁵ Condorcets Text war „ein Fenster, das sich zur Zukunft hin öffnete“⁴⁶, die Idee des Fortschritts „eröffnete dem 18. Jahrhundert grandiose Aussichten“⁴⁷ und wurde Teil des westlichen Selbstverständnisses.⁴⁸ Kennzeichnend war dabei das Selbstbewusstsein, die Welt „durch Berechnen beherrschen“ zu können, sie zu verstehen und aktiv so gestalten zu können, wie man es für richtig befand. Interessanterweise machte sich Condorcet in seinem Esquisse und in dem kurzen 10. Kapitel über die Zukunft auch Gedanken über die unterschiedlich vorherrschenden Entwicklungsstadien auf der Welt. Wie Turgot war auch er der Ansicht, dass es nur einen Entwicklungs- und Fortschrittspfad geben konnte und somit andere Kulturen und Länder offensichtlich „noch nicht“ so weit im Vernunftgebrauch fortgeschritten waren wie die anderen. Er ging aber einen entscheidenden Denkschritt weiter, der in dieser Form auch noch nicht formuliert worden war: „Sollten nicht die Europäer die Wilden Nationen zivilisieren oder auch ohne Eroberung verschwinden lassen?“⁴⁹ Aber auch das war eine rhetorische Frage. Denn für Condorcet stand fest: „Es wird ohne Zweifel der Tag kommen, an dem wir für [die Völker Asiens und Afrikas] […] nützliche Instrumente oder großzügige Befreier werden.“⁵⁰ Dabei war Condorcet vom Kolonialverhalten der europäischen Mächte schon lange angewidert. Seine Vorstellung des Zivilisierens war die aktive Unterstützung im Vernunftgebrauch. Je stärker die Vernunft, desto weniger hatten rassistische Gedanken und Überheblichkeiten Platz, es war ein Gegenentwurf zum Sklavenhandel und zum Vorgehen christlicher Missionare, die Condorcet auf das Tiefste verabscheute. Freiheit und Glück waren das, was man den Ländern bringen sollte. Die Vernunft würde dabei das Dunkel der Welt erleuchten. Statt Missionaren der Heiligen Schrift, wünschte sich Condorcet Männer der Wahrheit und des Lichts: „Diese Mönche werden ersetzt werden durch Männer, die diesen Nationen die Wahrheit bringen werden, die Taylor, Charles: Sources of the Self. The Making of the Modern Identity. Cambridge, MA: Harvard University Press 1989. S. 289. Koyré, Alexander: „Condorcet“. In: Journal of the History of Ideas 9 (2) 1948. S. 152. Vyverberg, Henry: Historical Pessimism in the French Enlightenment. Cambridge, MA: Harvard University Press 1958. S. 230. Manuel: Prophet. S. 61. Condorcet: Esquisse. S. 268. Ebd.
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nützlich für ihr Glück ist und sie über ihre Rechte und Wünsche aufklärt.“⁵¹ Die Völker, die noch nicht so weit entwickelt waren, waren wie Schüler, die lernen sollten, so zu sein wie die anderen: „Unzählige Völker scheinen darauf zu warten sich zu zivilisieren, sie erhoffen sich von uns die Mittel dazu, möchten in den Europäern ihre Brüder sehen und ihre Freunde und Schüler werden.“⁵² Dass die weiter Fortgeschrittenen den anderen den Weg zeigen konnten, lag für Condorcet auf der Hand. Aber das barg für die noch nicht so weit Entwickelten einen Vorteil. Sie konnten ihren Entwicklungspfad, ihre „aufholende Entwicklung“, durch diese Unterstützung beschleunigen. Die Beschleunigung der Zeit war im revolutionären Frankreich der Aufklärung ein allgemeiner Topos. Man war der Zeit nicht mehr ausgeliefert, sondern konnte Dinge schneller machen. Der Vorteil für die weniger entwickelten Länder war deshalb, dass sie vom reichen Erfahrungsschatz der weiter fortgeschrittenen Nationen lernen konnten und deren gemachte Fehler vermeiden konnten. Stattdessen konnten sie ohne Umwege das relevante Wissen erlangen und übernehmen, das zu erreichen die anderen Staaten viel länger gebraucht hatten. „Der Weg dieser Länder wird sicherer und schneller sein als unserer“⁵³, schrieb Condorcet. Und am Ende winkte eine Welt der Glückseligkeit: „Es wird der Moment kommen, in dem die Sonne auf eine Welt scheinen wird voll freier Männer, die keinen Herrn akzeptieren außer der Vernunft. Eine Welt, in der Tyrannen und Sklaven, Priester und ihre dummen oder heuchlerischen Instrumente nur noch in der Geschichte oder auf der Bühne existieren.“⁵⁴ Diese Welt würde das Ereignis eines „universellen Bildungsprogramms“ sein, das „altruistische weiße Europäer mit der Fackel der Wissenschaft in der Hand durchführen würden“.⁵⁵ Der Fortschritt war für Condorcet klar eurozentriert. Alles, was anders als die vermeintlich zivilisierten europäischen Staaten war, konnte und sollte angepasst werden. Etwas anderes als eine Sequenzierung von Andersartigkeit mit den europäischen Staaten an der Spitze war in dieser Logik nicht denkbar. Dass die Erfindung des modernen Fortschrittsgedankens mit seinem speziellen Horizont zeitgleich entstand wie die angenommene Möglichkeit und auch ethische Notwendigkeit des „Helfens“, damit die gewünschte internationale Konvergenz noch schneller realisiert werden konnte, ist ein nicht unwichtiges, aber häufig übersehenes Detail der Ideengeschichte. Auch, dass es ein und dieselbe Person war, die diese Ideen formulierte – auf nur sehr wenigen Seiten Text.
Ebd., S. 269. Ebd. Ebd., S. 270. Condorcet: Esquisse. S. 271. Manuel: Prophets. S. 75.
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Die hypothetische Erklärung dafür ist Folgende: Condorcet war der erste, der aufgrund seines festen Glaubens an die rationale Vorhersehbarkeit der Zukunft, verbunden mit dem mathematischen Glauben, die Welt sei physisch und sozial durch Berechnen zu beherrschen, die Welt vollkommen wahrnahm wie ein perspektivisches Gemälde. Es war eine Welt, in der jede Unklarheit erleuchtet werden konnte und man sich mit überbordendem Gestaltungsoptimismus daranmachen konnte, den Utopien der Vervollkommnung und Konvergenz näherzukommen. Genau an dem Zeitpunkt, in dem sich die soziale und physische Welt in dieser Form erhellt und durch den fixierten Horizont auch in einer Zeitdimension unzweifelhaft geworden ist, nimmt Condorcet „die Anderen“ wahr. Sich Gedanken zu machen, wie und mit welchen Mitteln die „Anderen“ so werden können, wie man selber ist, war erst möglich, nachdem sich alle anderen Unwägbarkeiten und Zweifel aufgelöst hatten. Mit anderen Worten, die vollkommene perspektivische Weltsicht war die Bedingung für all das, was zunächst für Zivilisationsphilosophie stand, aber in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, nur unwesentlich in der Nomenklatur verändert, als Entwicklungspolitik weiterlebte und noch immer weiterlebt.
Schlussfolgerung Die entscheidenden Elemente der Modernisierungstheorie, und damit auch der Entwicklungspolitik, sind das Resultat eines besonderen Prozesses, einer kognitiven Konditionierung. Diese beinhaltet nicht nur die Vorstellung, dass eine immerwährende Progression verbunden mit qualitativer Verbesserung über die Zeit möglich ist, sondern dass diese auch auf ein bestimmtes Ziel zusteuert. Diese lineare Teleologie gilt für alle – und Unterschiede können durch geeignete Planung ausgeglichen, Entwicklungsprozesse durch Experten der weiter Fortgeschrittenen schneller ausgeglichen werden. Dahinter steckt nicht nur ein Gestaltungsoptimismus, sondern auch die Annahme, dass auch alle denkbaren Probleme lösbar sind. Dies ist eine zugespitzte Sichtweise – allerdings eine, die die Grundzüge dieser Weltsicht deutlich macht und durch die Verbindung mit der Zentralperspektive auch unterstreicht, wie wichtig dabei die Festlegung des Horizonts war. Selbstredend wurde auch im Namen der „Zivilisation“ auf der Welt viel Schaden angerichtet. Dennoch ist es wichtig sich zu vergegenwärtigen, dass die ersten Formulierungen dieser Weltsicht mit dem Ideal der Konvergenz und der Sequenzierung der Andersartigkeit zumindest in der Person Condorcets getragen waren von einem universellen Humanismus und der ehrlichen Hoffnung, Ungleichheiten, Unfreiheiten und Miseren auf der Erde zu verringern. Dies zusam-
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men mit dem mathematischen, also nüchtern-rationalen Gestaltungsoptimismus erklärt auch, warum diese Weltsicht immer noch so wirkungsmächtig ist und viele hoffnungsvoll stimmt. Der Vorstellung, dass es im Zeitverlauf immer besser werden könnte und dass ein „gutes Leben“ auch für alle möglich wäre, Probleme durch „Berechnen beherrscht“ werden können, kann, allen negativen Effekten zum Trotz, die im Namen dieser Teleologie zum Vorschein kamen, kein Alternativszenario bislang das Wasser reichen. Problematisch an dieser Weltsicht sind jedoch genau die Annahmen, auf denen sie aufbaut. Schließlich ist schon die Annahme der Perspektive, dass die Objekte so gemalt würden, wie sie wirklich seien und wie sie wahrgenommen werden können, nicht haltbar. Der Standpunkt des Einzelnen ist entscheidend – und dieser wird eben durch den Horizont des Malers festgelegt. Mit der Modernisierungstheorie, der Fortschrittsphilosophie und eben auch der Perspektive, richten wir uns an einem Horizont aus, an dessen Existenz wir glauben möchten. Wir vergessen dabei aber, dass nicht jeder oder jede diesen Horizont teilt oder teilen möchte.
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Grenze, Horizont und moderne Gesellschaft I Grenze und Horizont sind zwei soziale Abschlussparadigmen, also zwei Modalitäten, in denen eine Gesellschaft ihre Reichweite entwirft und ihre Kontur festlegt. Aber Grenze und Horizont sind keine austauschbaren oder analogen, sondern sehr verschiedene und geradezu entgegengesetzte Abschlussparadigmen. Denn Grenzen schließen Wirklichkeitsbereiche ab, Horizonte hingegen schließen Möglichkeitsbereiche auf. Doch das ist noch nicht alles. Indem sie Wirklichkeitsbereiche abschließen – und sie dadurch zugleich bestimmen –, verweisen Grenzen nämlich auch auf ein reales Außen, auf andere Wirklichkeiten, von denen sie zwar trennen, zu denen sie aber auch überschritten werden können. Anders Horizonte. Dadurch, dass sie Möglichkeitsbereiche aufschließen, konstituieren sie ein imaginäres Innen, das zwar unendlich ausgedehnt, aber nicht verlassen werden kann, weil Horizonte nur verschiebbar, aber niemals überschreitbar sind. Das ist ihre ontologische Differenz. Diese Differenz grundiert in der Neuzeit eine Konstellation der beiden Abschlussparadigmen, die für moderne Gesellschaften entscheidend werden sollte. Was man als Auseinandertreten von Grenze und Horizont beschreiben könnte und was ihre zunehmende Inkongruenz bedeutet, eröffnet nämlich einen Möglichkeitsbereich, der potentiell unendlich ist und der jenes konstruktivistische Weltverhältnis der europäischen Moderne generiert, das sich im Technischen als Beherrschung der Natur, im Ästhetischen als Autonomisierung der Kunst und im Sozialen als Gestaltbarkeit der Gesellschaft manifestiert. Dadurch tritt die Grenzüberschreitung als tradierte Grundfigur sozialen Wandels zunehmend hinter die Horizontverschiebung zurück, die ein anderes Weltverhältnis begründet, weil sie nicht reale, konkrete und deshalb endliche Wirklichkeiten gegeneinander ausspielt, sondern einen unendlichen Raum eröffnet, der von abstrakten, einander überbietenden und miteinander konkurrierenden Möglichkeiten bestimmt ist, die jede Wirklichkeit potenziell in Frage stellen. Die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts hat diesen offenen Horizont zur Chiffre einer gesellschaftlichen Dynamik gemacht, die nicht nur die Steigerung und das Wachstum, sondern vor allem die Überbietung an die Stelle der Überschreitung gesetzt hat, indem sie diese Dynamik technologisch als Optimierung operationalisiert und geschichtsphilosophisch als Fortschritt finalisiert hat. Dessen Immanenz mündet im 20. Jahrhundert in die epochalen Versuche, https://doi.org/10.1515/9783110553291-004
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technische, ästhetische und nicht zuletzt soziale Wirklichkeiten herzustellen, die den Potentialis konstruierender Progression institutionalisieren – und deren funktionelles Ensemble am Ende eine grenzenlose Welt bildet, die kein Außen mehr kennt und wahrscheinlich auch kein Außen mehr hat.
II Als soziale Abschlussparadigmen sind „Grenze“ und „Horizont“ eher Metaphern als Begriffe. Aber nicht erst damit fangen die Probleme an. Denn die Dinge sind weder begriffs- noch metapherngeschichtlich wirklich klar: „Grenze“ mehr noch als „Horizont“ erweist sich nämlich schon in den verschiedenen lexikographischen Bestimmungen als etwas Uneindeutiges – und das von Anfang an. Im Griechischen steht neben óros mindestens auch péras und térma, im Lateinischen entsprechend neben terminus auch finis und limes. Oros und terminus sind dabei noch am eindeutigsten, nämlich juridisch konnotiert und bezeichnen sowohl staats- und eigentumsrechtliche Trennlinien im Allgemeinen als auch ihre verschiedenen materiellen Symbole im Besonderen, also Gräben, Raine, Steine oder Mauern. Péras und finis, vollends jedoch térma und limes, changieren hingegen zwischen politisch-geographischen Realien und theoretisch-metaphysischen Konzepten. Entsprechendes trifft auch für „Grenze“ im Deutschen zu: Einerseits ist die Grenze politisch-rechtliche Trennungslinie, andererseits ist sie metaphysische Schranke und theoretische Endfigur. Man könnte auf Englisch fortfahren mit frontier, end und limit, auf Französisch mit frontière, fin und limite. Das Wort wird auch hier im Feld seiner Synonyme zunehmend zur Metapher, die zwei verschiedene Abschlussformen beschreibt, ohne diese randscharf voneinander zu unterscheiden: Es bezeichnet sowohl die Trennlinie, die eine Sache von einer anderen scheidet, als auch die äußerste Ausdehnung einer Sache. In dieser zweiten Bedeutung deckt sich die Vorstellung von Grenzen lange Zeit weitgehend mit der von Horizonten. Denn der Horizont ist in allen seinen Primärbedeutungen nicht nur die ebenso sichtbare wie imaginäre Linie, an der sich Himmel und Erde in der Ebene treffen, sondern auch der Gesichtskreis, der den Blick begrenzt und der als orízon kyklos wie als orbis finiens die metaphysischen Grenzbestimmungen gleichsam territorialisiert. Deshalb ist der Horizont gerade dann, wenn die Grenze nicht nur die Trennlinie zweier Territorien oder zweier Sphären, sondern deren äußerste Beschränkung meint, mit dieser weitgehend kongruent. Aber der Horizont ist nicht nur die Begrenzung des Blicks, er ist vor allem dessen absolute Möglichkeitsbedingung, wenn der Blick eine gerichtete und damit finite Wahrnehmung ist. Denn ein Blick, der ins Unendliche ginge, wäre – wenigstens nach der antiken Vorstellung – nicht nur keine ge-
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richtete Wahrnehmung, sondern sähe buchstäblich nichts, weil er ins Unbestimmte führte, ins Unbegrenzte, eben ins apeiron, also in jenen grenzenlosen Bereich jenseits der Wirklichkeit, den péras als Grenze der bestimmten und bestimmbaren Welt, als unbestimmte, abstrakte, fiktive und deshalb vollkommen unvorstellbare Möglichkeit in einem unstrukturierten Raum ausgrenzt. Die Trennungslinie zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit markiert damit die metaphysische Stelle, an der Grenze und Horizont im antiken und weit über dieses hinaus noch im mittelalterlichen Verständnis dieser beiden Abschlusskonzepte zur Deckung kommen.¹ Nun sind aber sowohl Grenzen als auch Horizonte kontingent – sie könnten auch anders sein, weil ihnen so, wie sie empirisch sind, keine Notwendigkeit anhaftet. Das trifft natürlich gerade für politische Grenzen zu, die – mit einem Wort von Lucien Febvre – tatsächlich nichts sind, „was die Geographie der Politik aufgezwungen hätte“, sondern „Werke“ des Menschen, „der sich vor seinesgleichen schützen will“.² Aber nicht nur politische Grenzen sind Konstruktionen, sondern Grenzen überhaupt, wie Georg Simmel erklärt hat. Denn „der Natur gegenüber“ sei „jede Grenzsetzung Willkür, selbst im Fall einer insularen Lage, da doch prinzipiell auch das Meer ‚in Besitz genommen‘ werden“ könne. „Die Grenze“, erklärt Simmel, sei eben „nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt“.³ Sie ist freilich eine soziologische Tatsache, wie man hinzufügen muss, die in der Perspektive einer historischen Semantik ihrerseits ausgesprochen voraussetzungsvoll ist. Denn die Überschreitbarkeit und Verfügbarkeit der Grenze zwischen Natur und Kultur, die Simmel ebenso meint, wie die der Grenze zwischen Land und Meer, hat schließlich keineswegs transhistorische Evidenz; sie wäre dem antiken Verständnis nämlich geradezu aberwitzig und dem mittelalterlichen leichthin blasphemisch erschienen.⁴ Und selbst die Überschreitbarkeit von poli-
Vgl.Wokart, Norbert: „Differenzierungen im Begriff ‚Grenze‘“. In: Literatur der Grenze – Theorie der Grenze. Hrsg.von Richard Faber und Barbara Naumann.Würzburg: Königshausen & Neumann 1995. S. 281 f. Vgl. auch „Grenze“. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Bd. XII. Stuttgart: Anton Hiersemann Verlag 1983. Sp. 1095 – 1107, bes. 1097 ff, sowie Gatzemeier, Matthias: „Grenze“, Fulda, Hans Friedrich: „Grenze, Schranke“ und Scherner, Maximilian: „Horizont“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 3. Basel: Schwabe Verlag 1974. Sp. 873 – 875, 875 – 877 und 1187– 1206. Febvre, Lucien: „‘Frontière‘ – Wort und Bedeutung“. In: ders.: Das Gewissen des Historikers. Berlin: Wagenbach 1988. S. 34 bzw. S. 30. Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe. Bd. 11. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992. S. 697 bzw. S. 695. Vgl. Makropoulos, Michael: „Meer“. In: Wörterbuch der philosophischen Metaphern. Hrsg. von Ralf Konersmann. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007. S. 240 f.
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tisch-rechtlichen Grenzen, die auch das vorneuzeitliche Verständnis kannte, wurde durch ihren heiligen, also unantastbaren Charakter in der Antike und ihre ritualisierte Traditionsbindung im Mittelalter immerhin eingeschränkt. Ähnliches gilt für Horizonte. Der neuzeitlichen Einsicht in die prinzipielle Künstlichkeit von Grenzen entspricht die Einsicht in die konstitutive Situativität von Horizonten. Der „Horizont“, erklärt Hans-Georg Gadamer, „ist der Gesichtskreis, der all das umfasst und umschließt, was von einem Punkt aus sichtbar ist“, also jener „Standort“, der als Situation „die Möglichkeit des Sehens beschränkt“ – aber eben auch allererst eröffnet, wie man hinzufügen muss. „Zum Begriff der Situation“ gehöre schließlich geradezu „wesenhaft der Begriff des Horizontes“. Außerdem sei der Horizont niemals „wahrhaft geschlossen“, sondern „etwas, in das wir hineinwandern und das mit uns mitwandert“, so dass sich Horizonte mit jeder Bewegung verschieben.⁵ Allerdings war der Horizont gerade dort, wo der Begriff nicht die physische Grenze der sinnlichen Wahrnehmung, sondern die metaphysische Grenze zwischen bestimmter Wirklichkeit und unbestimmter Möglichkeit bezeichnet, lange Zeit fest und unverrückbar. Die Vorstellung vom Horizont als einem situativen und damit perspektivisch ebenso veränderlichen wie veränderbaren Gesichtspunkt dagegen, die die Horizontstruktur des neuzeitlichen Weltverhältnisses kennzeichnet, setzt deshalb eine Transformation der beiden Abschlussparadigmen voraus, die mehr und anderes bedeutet als bloße semantische Spezifikation. Genauer gesagt: Grenze und Horizont werden mit ihrer semantischen Spezifikation im Nachgang zur Reflexion auf ihre Kontingenz, in der Neuzeit zugleich ontologisch neu positioniert.
III Dahinter stand ein grundlegender Strukturwandel des Raumes. Noch im 16. Jahrhundert, hat Michel Foucault bemerkt, sei der Raum ein „hierarchisiertes Ensemble von Orten“ gewesen, die den vorneuzeitlichen und besonders den mittelalterlichen Raum zu einem festgefügten „Ortungsraum“ machten. Dieser geschlossene Raum, der sich in der epistemologischen Ordnung des Mittelalters fortsetzte und eine Welt bildete, die „sich in sich selbst“ drehte, habe sich im Übergang zur Neuzeit ins Unabsehbare neuer Imaginations- und Handlungsräume geöffnet. Es entstand ein „unendlicher und unendlich offener Raum“ mit dem Effekt, dass sich „die Ortschaft des Mittelalters“ und das vorneuzeitliche Ord-
Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr 1990. S. 307.
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nungsgefüge „gewissermaßen aufgelöst fand“. Der Ort einer Sache, so Foucault weiter, war von jetzt an „nur mehr ein Punkt in ihrer Bewegung, so wie die Ruhe einer Sache nur mehr ihre unendlich verlangsamte Bewegung“, also ihre bloß relative Fixierung war. Entsprechend habe „sich die Ausdehnung an die Stelle der Ortung“ gesetzt, die variable „Lagerung“ und willkürliche „Plazierung“ der Dinge und der Lebewesen in einem unendlichen Raum verdrängte ihre absolute Fixierung an einen bestimmten ontologischen Ort, und die Neuzeit wurde damit zu einer Epoche, wie Foucault formulierte, „in der sich uns der Raum in der Form von Lagerungsbeziehungen darbietet“.⁶ Mit dem Strukturwandel des Raumes ging einerseits die weitgehende Territorialisierung der Grenzvorstellung einher. Ihre begriffliche Verdichtung bezeichnete jetzt fast ausschließlich die verfügbare – und überschreitbare – Trennungslinie zwischen verschiedenen Wirklichkeiten. Und als politisch-juridische Trennlinie avancierte die Grenze im Zuge der militärischen und politischen Grenzziehungen der frühmodernen Gesellschaften seit dem 16. Jahrhundert zu einem immanenten Ordnungsinstrument ersten Ranges. Indem „diese militärisch-politischen Grenzziehungen“ dann auch „auf den Bereich des menschlichen Lebens“ übertragen wurden, erklärt Hans Medick, „wurde die Vorstellung von der Grenze“ in der Folge nicht nur „mit einer Scheide-Linie zwischen ‚begrenzten‘ Territorien“, sondern auch mit der Trennlinie zwischen konturierten „Kulturen und Vorstellungswelten verbunden“.⁷ Mit dem Strukturwandel des Raumes ging andererseits aber auch die Deterritorialisierung der Horizontvorstellung einher. Schließlich mobilisierte sich gewissermaßen jede Situation, indem sie jetzt unabweisbar variabel wurde. Und der Begriff des Horizonts erfuhr dadurch gerade in seiner anthropologischen Bedeutung eine entscheidende Veränderung. In der Ablösung von den Grenzen und Grenzüberschreitungen der antiken Kosmologie und der theologischen Weltsicht des Mittelalters wurde der Horizont nämlich zur immanent generierten und deshalb prinzipiell veränderbaren Orientierungsmarke des Denkens und Handelns. Er diente jetzt nicht mehr dazu, dem Menschen seinen ihm gemäßen und definitiven Platz in einem geordneten Kosmos oder einer unbezweifelbaren Schöp-
Foucault, Michel: „Andere Räume“. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute. Leipzig: Reclam 1990. S. 36 f; Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971. S. 46. Medick, Hans: „Zur politischen Sozialgeschichte der Grenzen in der Neuzeit Europas“. In: Sozialwissenschaftliche Forschungen 20, 1991. S. 159. Vgl. auch Medick, Hans: „Grenzziehungen und die Herstellung des politisch-sozialen Raumes“. In: Literatur der Grenze – Theorie der Grenze. Hrsg. von Richard Faber und Barbara Naumann. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995. S. 211– 224.
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fungsordnung anzuweisen, sondern dazu, ihm die Selbstbestimmung seines Erkenntnis- und Wirkungsbereichs in einem unbestimmten Raum zu ermöglichen – einem Raum, der deshalb ebenso gestaltbar wie gestaltungsbedürftig war. Entsprechend wurde der Horizont seither nicht mehr als feste, unverrückbare und unverfügbare Grenze des menschlichen Handlungsvermögens konzipiert, sondern als verschiebbarer, veränderbarer und am Ende weitgehend offener Radius menschlicher Macht – ein offener Radius, der nicht nur über jede Grenze hinauswies, die dieser Macht bisher gesetzt war, sondern auch über jede Grenze, die ihr zukünftig gesetzt werden könnte. Was mit der Öffnung des Horizonts in der Neuzeit aufbrach, war allerdings nicht nur die Kongruenz von Grenze und Horizont, sondern auch das Kontinuum ihrer impliziten Raumkonzepte. Das ist ästhetisch mit der Zentralperspektive schon früh in ein sensorisch begründetes Wirklichkeitsverhältnis gebracht worden, das die menschliche Wahrnehmung mit den wissenschaftlichen Erkenntnisbedingungen der Neuzeit synchronisierte. Denn die Zentralperspektive war nicht nur die adäquate Methode, mit der im Ästhetischen die theologische Ontologie des symbolischen Bedeutens durch die wissenschaftliche der mathematischen Empirie verdrängt werden konnte; sie war auch die adäquate Methode, mit der sich der menschliche Blick des Unendlichen bemächtigen konnte, indem die Zentralperspektive die „Unendlichkeit auf eine begrenzte Bildfläche“⁸ übertragbar machte, wie Albrecht Koschorke erklärt hat. Nicht zuletzt aber war die Zentralperspektive durch ihre Bindung an den Fluchtpunkt auch die Methode, Unendlichkeit als lineare Progression zu bündeln. Das wiederum war eine Voraussetzung für jene offene Anthropologie der Aufklärung, die in der Idee der geschichtsphilosophisch finalisierbaren und sozialtechnisch realisierbaren Perfektibilität des Menschen und des Sozialen ihren Ausdruck fand. Denn die anthropologische und mit ihr die soziologische Vervollkommnungskonzeption verdankt sich nicht einer Grenzüberschreitung von einer finiten Wirklichkeit in eine andere, sondern einer Entgrenzung, die jede finite Wirklichkeit hinter sich lässt. Deshalb ist sie auch nicht teleologisch – oder ist es nur dort, wo sie als soziale Utopie noch im Auslaufhorizont geschlossener Weltkonzeptionen steht. Mit Blick auf diese epochale Umstellung sozialer Wandlungsprozesse von Überschreitung auf Entgrenzung hat Reinhart Koselleck die historische Dynamik moderner Gesellschaften mit der Freisetzung der Erwartung aus ihren Bindungen an die Erfahrung erklärt – eine Freisetzung der Erwartung nicht nur aus ihren Bindungen an die bisherige Erfahrung, wie man betonen muss, sondern aus ihren
Koschorke, Albrecht: Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990. S. 57.
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Bindungen an die Erfahrung überhaupt. Das ist die eigentliche Pointe: Die Wirklichkeit einer spezifischen und damit begrenzten Erfahrung, so könnte man Kosellecks Konzept der Moderne in das Koordinatensystem der beiden Abschlussparadigmen übertragen, wurde jetzt nicht mehr mit einer anderen spezifischen Erfahrung konfrontiert, sondern mit einer unspezifischen und damit unbegrenzten Erwartung. „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“, wie seine beiden historischen Kategorien lauten, traten dadurch nicht nur empirisch auseinander, sondern strukturell.⁹ Und wenn unter diesen Bedingungen Wirklichkeitsgrenzen überschritten wurden, führte die Überschreitung nicht in eine andere begrenzte Wirklichkeit, sondern in einen grenzenlosen, offenen Möglichkeitshorizont. Historischer Effekt dieses Vorgangs ist jene Diskontinuität von Wirklichkeit und Möglichkeit, die für das Selbstverständnis moderner Gesellschaften fundamental ist. Denn diese Diskontinuität ist mehr als Enttraditionalisierung, und sie ist auch mehr als die zunehmende Entzweiung von Herkunft und Zukunft; sie generiert vielmehr ein gesellschaftliches Selbst- und Weltverhältnis, dessen strukturelle Disposition konstruktivistisch und dessen funktionelle Disposition produktivistisch ist. Es ist ein Selbst- und Weltverhältnis, dessen Prinzip die Innovation ist, die Realisierung neuer Möglichkeiten, die fiktional erschlossen werden und die aus diesem Grund nicht vollständig aus den alten Wirklichkeiten abgeleitet werden können. Seine politische Manifestation sind die modernen Revolutionen mit ihrer Logik der unvermittelbaren Diskontinuität, ihrem Pathos des radikalen Neuanfangs und ihrer Suggestion der totalen Verwirklichungsmöglichkeit.¹⁰ Seine soziale Manifestation ist aber das, was man eine Optimierungsgesellschaft nennen könnte, also eine Gesellschaft, deren Charakteristikum die permanente Horizontverschiebung durch Orientierung am Bestmöglichen ist. Im Zentrum ihres Selbstverständnisses steht zwar die Idee des Fortschritts, aber diese Idee bedeutet gerade soziologisch mehr und anderes, als die Ersetzung der christlichen Eschatologie durch säkulare Geschichtsphilosophien. Denn der Begriff des Fortschritts impliziert nicht nur eine anthropologische Disposition der unaufhörlichen Steigerung, die sich in der epochalen Konzeption der menschlichen und der sozialen Perfektibilität niederschlägt – der Begriff des Fortschritts impliziert darüber hinaus auch ein Konzept des selbstmächtigen Bessermachens, das sich nicht im Erreichen vorgegebener Ziele erschöpft, sondern neue, bisher unbekannte Ziele erschließt und sozial realisierbar Koselleck, Reinhart: „‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien“. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979. S. 354 ff. Vgl. Steiner, George: In Blaubarts Burg. Anmerkungen zur Neudefinition der Kultur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972. S. 22 f.
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macht, indem es die Horizontverschiebung auf Dauer stellt und die Überbietung an die Stelle der Überschreitung setzt.¹¹
IV Das hat nicht zuletzt eine eminent politische Dimension. Was im 18. Jahrhundert zunächst als Versuch anhebt, die gesellschaftlichen Kräfte durch umfassende Disziplinierungsprozesse von innen heraus zu steigern, bildet gewissermaßen die Frühgeschichte rationaler Gesellschaftsorganisation. Deren weitere Entfaltung bestimmt die Konstitution jenes offenen Feldes der sozio-ökonomischen Prosperität und der sozialpolitischen Intervention, das im 19. Jahrhundert im Zuge der vehementen Industrialisierung und Urbanisierung der europäischen Gesellschaften entsteht. Im 20. Jahrhundert kulminiert die Rationalisierung dann in den technokratischen Gesellschaftskonzepten, deren erklärtes Ziel die soziale Optimierung in der funktionalistischen Linie tayloristischer und fordistischer Gesellschaftsorganisation ist. Diese technokratischen Gesellschaftskonzepte haben sich nicht zuletzt in der architektonischen Gestaltung des sozialen Raumes nach Kriterien optimaler Funktionalität buchstäblich materialisiert. Aber die moderne Architektur ist mehr als die bloße Materialisierung rationaler Gesellschaftsorganisation; sie ist auch der Kreuzungs- und Mischungsbereich sozialer mit technischen und ästhetischen Konstruktivismen. Und sie ist der Inbegriff einer umfassenden Infrastruktur zur Entfaltung menschlicher Möglichkeiten.¹² Dahinter steht das, was man etwas irreführend ‚wissenschaftlich-technische Naturbeherrschung‘ nennt und was von Anfang an mehr als die zweckrationale Instrumentalisierung der Natur war. Denn Naturbeherrschung in diesem instrumentellen Sinne war schon die antike techné, die gewissermaßen etwas vollendet, was die Natur aus sich heraus nicht zu Ende bringt. Technik in diesem Sinne „springt für die Natur nur ein“, wie Hans Blumenberg erklärt hat. Und sie verbleibt als Vollendung des Unvollendeten selbst dann noch Nachahmung der Natur, wenn sie ihr Ziel, wie beim Heben von Lasten, mit naturwidrigen Bewegungen
Vgl. Mittelstraß, Jürgen: Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie. Berlin, New York: de Gruyter 1970. Vgl. Makropoulos, Michael: Modernität und Kontingenz. München: Fink 1997; sowie Makropoulos, Michael: „Historische Kontingenz und soziale Optimierung“. In: Die Weltgeschichte – das Weltgericht? Stuttgarter Hegel-Kongress 1999. Hrsg. von Rüdiger Bubner und Walter Mesch. Stuttgart: Klett-Cotta 2000.
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erreicht.¹³ Wissenschaftlich-technische Naturbeherrschung im neuzeitlichen Sinne dagegen impliziert etwas sehr anderes, nämlich die Reduktion der Natur zur Ressource, zum bloßen Stoff und zum bloßen Material einer selbstmächtigen menschlichen Konstruktion. Denn dort, wo der Möglichkeitshorizont aus den Wirklichkeitsgrenzen freigesetzt wird – zu denen auch die Naturgrenzen gehören, solange sie nicht überschritten werden –, geht es nicht mehr um die nachahmende Vollendung der Natur nach Maßgabe ihrer nichtverwirklichten Potentiale, sondern um ihre konstruktivistische Überbietung in einer durch und durch vernunftgenerierten und deshalb menschengemäßen Kulturwelt, die alle Naturwelt hinter sich lässt. Ähnliches gilt im Ästhetischen. Die Autonomisierung der Kunst in der Moderne setzt nicht nur ihre Freisetzung aus tradierten rituellen oder repräsentativen Bindungen voraus, sondern vor allem ihre Freisetzung aus dem Gebot der Nachahmung, dem sie seit der aristotelischen Poetik unterworfen war.¹⁴ Das war im Kern der historische Effekt jener berühmten Querelle des anciens et des modernes Ende des 17. Jahrhunderts, die nicht nur für die ästhetische Moderne entscheidend war, sondern für das gesamte Dispositiv der konstruktivistischen Perfektibilität.¹⁵ Vollkommen antimimetisch wurde die Kunst dann dort, wo sie im frühen 20. Jahrhundert mit der Abstraktion die Möglichkeit absolut gegennatürlicher Konstruktionen erschließt, indem sie die Grenzen der Sichtbarkeit überschreitet, die Zentralperspektive suspendiert und die menschliche Wahrnehmung gleichzeitig in die Sinnlichkeit einer Abstraktion einübt, die alle sensorischen Gewohnheiten suspendiert.¹⁶ Die ästhetische Souveränität, die sich überhaupt erst mit dieser Abstraktion etabliert, bedeutet allerdings nicht die Abwendung der Kunst von der Gesellschaft, sondern begründet umgekehrt jenen privilegierten Gestaltungsanspruch gerade im Sozialen, den die ästhetischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts erhoben haben. Es ist dieser privilegierte Gestaltungsanspruch, der dann in der Synthese mit den technischen und sozialtechnischen Möglichkeiten des Zeitalters jenen schrankenlosen Konstruktivismus in der Architektur etabliert hat, von dem Le Corbusier behauptete, er sei die „Beschlagnahme der Natur durch den Menschen“ und so die „Tat des Menschen wider die
Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. S. 81 f. Vgl. auch Blumenberg, Hans: „Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen“. In: ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Stuttgart: Reclam 1981. Vgl. Aristoteles: Poetik. Stuttgart: Reclam 1961, bes. Kap. 2. Vgl. Jauß, Hans Robert: „Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität“. In: ders.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970. Vgl. Gehlen, Arnold: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei. Frankfurt am Main, Bonn: Athenäum 1965, bes. S. 176 – 185.
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Natur“.¹⁷ Ziel dieser „Tat“ war die Konstruktion eines sozialen Raumes, der als Raum grenzenloser Mobilität und rückhaltloser Disponibilität zum Optimierungsraum par excellence wurde und dessen Abschluss eben keine geschlossene Grenze bildete, sondern ein offener, verschiebbarer und unendlich fiktionalisierbarer Horizont. Vielleicht ist die Fiktionalisierung des Möglichkeitshorizonts am Ende das entscheidende Moment einer Modernität, die sich von Anfang an als Kultur der Konstruktion verstanden hat. Und vielleicht ist die Fiktionalisierung des Möglichkeitshorizonts deshalb auch für ein politisch-soziales Möglichkeitsbewusstsein charakteristisch, das nach dem Ende des kosmologischen Weltbildes der Antike und nach dem Zusammenbruch des theologischen Weltbildes des Mittelalters von neuen, autonom entworfenen Handlungsperspektiven bestimmt war, in denen „der Mensch sich auf den Kopf, d. i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut“, wie Hegel dieses metaphysische Spezifikum der Moderne mit Blick auf die Französische Revolution beschrieben hat.¹⁸ Auf jeden Fall aber ist die Fiktionalisierung des Möglichkeitshorizonts ein Vorgang, der sich in zwei verschiedenen Modi realisiert hat, die ihrerseits zwei unterschiedliche Tendenzen politischer, sozialer und kultureller Modernität grundieren, denen zwei verschiedene und am Ende sogar gegensätzliche modalontologische Paradigmen entsprechen, nämlich Utopie und Optimierung. Die strikte Unterscheidung dieser beiden Paradigmen mag auf den ersten Blick zwar nebensächlich erscheinen; in Wirklichkeit ist sie aber von prinzipieller und gerade nicht von bloß gradueller Bedeutung. Denn sie korrespondiert mit der ontologischen Differenz von Grenze und Horizont. Der Begriff der „Utopie“ ist ein absoluter Begriff. Er impliziert strenggenommen zwar die aktuelle Nutzung, aber auch die ebenso zukünftige wie finale Schließung des Möglichkeitshorizonts in einem idealen und daher unüberbietbaren Zustand – in einer neuen, ebenso geschlossenen wie konkreten Totalität der Erfahrung und in einer unübersteigbaren und deshalb definitiven Gesamtkonstruktion.¹⁹ Der Begriff der „Optimierung“ hingegen ist ein relativer Begriff. Er bezeichnet die situativ extrapolierte, prinzipiell unaufhörliche und irreduzibel zieloffene Überbietung jedes Zustandes – jedes scheinbar gegebenen, vor allem aber auch jedes selbstmächtig erreichten Zustandes. Man mag darin eine exklu-
Le Corbusier: „Leitsätze des Städtebaus“. In: Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Ulrich Conrads. Braunschweig/ Wiesbaden: Vieweg 1981. S. 84 f. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: Werke. Bd. 12. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970. S. 529. Vgl. Lepenies, Wolf: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969. S. 34 f. und S. 41 f.
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sive modalontologische Differenz sehen; Optimierung signalisiert jedenfalls gerade nicht die Aufhebung, die Eliminierung oder wenigstens die Begrenzung der Möglichkeitsoffenheit, sondern ihre Erhaltung, Verstetigung, Erweiterung und Kultivierung. Das macht den ‚Unterschied ums Ganze‘, der sich erst kontingenztheoretisch vollständig auf den Punkt bringen lässt – und der gar nicht erst zu analytischer Bedeutung kommt, wenn der Utopiebegriff und das Optimierungskonzept gegeneinander verschliffen und nicht nur semantisch, sondern in der Sache fast synonym verwendet werden: Die realisierte Utopie, so ließe sich der Unterschied akzentuieren, hebt alle Kontingenz auf, während die realisierte Optimierung Kontingenz ‚kultiviert‘ und gerade dadurch auf Dauer stellt. Das ist denn auch das entscheidende Moment der neuzeitlichen und vollends der modernen, industriell organisierten Technisierung. Als grundlegendes operatives Weltverhältnis einer Kultur der Möglichkeitsoffenheit etabliert sie zwar so oder so einen prinzipiellen Produktivismus; aber dort, wo es um die Herstellung eines wie auch immer als ideal gedachten Zustandes geht, greift die abschließende Logik der Utopie, während dort, wo es um die Überbietungsoffenheit des jeweils Erreichten geht, die transitorische Logik der Optimierung greift. Optimierung schafft damit ein Dispositiv der prinzipiellen Unabschließbarkeit, während die Utopie die Wünschbarkeit der einen idealen und deshalb abschließenden Konstruktion nicht nur nicht in Frage stellt, sondern geradezu affirmiert, weil sie tatsächlich an die Möglichkeit eines absoluten Produkts glaubt.²⁰ Das ist allerdings einigermaßen voraussetzungsvoll. Das Optimierungsmoment ist darin begründet, dass jede Konstruktion, eben weil sie eine Konstruktion ist, prinzipiell verändert, verbessert und überboten werden kann. Es etabliert damit einerseits eine irreduzible konstruktivistische Freiheit; andererseits etabliert es aber auch eine neue Form der Unverfügbarkeit, die darin besteht, dass jede Konstruktion einem Legitimationsdruck ausgesetzt ist, sobald sie auf Dauer gestellt werden soll. Sie steht gewissermaßen in permanenter Konkurrenz mit anderen, nicht realisierten, aber weiterhin realisierbaren Konstruktionsmöglichkeiten. Anders gesagt: Wenn man sich auf die Logik der Überbietung einlässt, die der neuzeitlichen Technisierung inhärent ist, kommt man aus der Kompetitivität nicht mehr heraus. Die Konsequenzen, die das für das utopische Denken hat, sind klar: Utopien gibt es in dieser offenen konstruktivistischen Perspektive immer nur auf Widerruf – eben weil jede Utopie als definitive Lösung unter der Bedingung eines offenen Möglichkeitshorizonts nur eine vermeintlich definitive Lösung ist, die stets entweder durch andere Utopien überholt oder durch andere, nicht auf
Vgl. Plessner, Helmuth: „Wiedergeburt der Form im technischen Zeitalter“. In: ders.: Politik, Anthropologie, Philosophie. Aufsätze und Vorträge. München: Fink 2001. S. 77 und S. 84.
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ideale Zustände ausgerichtete Optionen in Frage gestellt werden kann. Als konkrete Erwartungsrealitäten sind Utopien außerdem stets die Utopien ihrer Zeit und artikulieren die Ideale ihrer historischen Situation.²¹ Optimierung hingegen ist als abstrakte Erwartungsmodalität prinzipiell unabhängig von historischen Realitäten, weil sie keine konkrete Gegenrealität anzielt und auch keinen idealen Zustand kennt. Und wenn es eine historische Dominanz des Optimierungsdispositivs in den modernen Gesellschaften des späten 20. Jahrhunderts gibt, erklärt dies auch das gelegentlich beklagte Ende der Utopien. Es resultiert nicht aus ihrer historischen Diskreditiertheit durch die politische Gewalt, die sie begleitet hat, und auch nicht aus einer paradigmatischen Erschöpfung des utopischen Denkens, sondern aus einer Konkurrenzsituation, in der sie nicht gewinnen können.
V Technischer, ästhetischer und sozialer Konstruktivismus bilden damit gerade diesseits der Utopien ein funktionelles Ensemble in den modernen Gesellschaften, dessen historischer Effekt die Überschreitung jeder äußeren und die Auflösung jeder inneren Grenze ist. Die Folgen sind bekannt und nicht allein in den Architekturen des sozialen Raumes evident: Es entsteht ein ebenso schrankenloser wie abstrakter und funktioneller „Raum ohne Eigenschaften“²² – glatt, auswechselbar, endlos redundant, ohne definitiv besetzbare Orte. Gleichzeitig ist dieser Raum der adäquate Raum einer Gesellschaft, die die Unendlichkeit und die Unabschließbarkeit positiviert und diese Positivierung des Transitorischen strukturell im Prinzip der sozialen Mobilität realisiert hat. Deshalb ist die Optimierung das Signum eines Vergesellschaftungstyps, der die Positivierung des Transitorischen und die Institutionalisierung der Mobilität in einem Maße zum zentralen Kriterium sozialer Integration macht, dass man hier fast von der Hegemonie, wenn nicht vom Absolutismus eines Sozialen sprechen möchte, dessen Charakteristikum die organisierte und strukturell garantierte Möglichkeitsoffenheit ist. Seine Trägerschicht bildet die idealtypisch-globalisierte Mittelschicht, sein Identitätskonzept bestimmt die habitualisierte Möglichkeitsoffenheit, sein Individualitätstyp ist das Produkt einer optimierungsoffenen Lebensführung innerhalb statusoffener Sozialstrukturen.
Vgl. Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Zweiter Band. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973. S. 727 f. So Waldenfels, Bernhard: „Heimat in der Fremde“. In: ders.: In den Netzen der Lebenswelt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985. S. 203.
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Die historische Entfaltung dieser Optimierungsgesellschaft steht allerdings nicht mehr im Kontext einer Entwicklung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in eine rationalisierungslogische Funktionsgesellschaft geführt hat, die im Wesentlichen auf Dispositiven der Disziplinierung und Regulierung gegründet war, sondern im Kontext einer ebenso post-disziplinären wie post-regulatorischen Gesellschaft, die auf autonome Disponibilität gegründet ist und die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre paradigmatische Form in der organisierten Herausbildung von gesellschaftlichen Infrastrukturen individueller Selbstentfaltung findet. Ihr soziologisches Charakteristikum ist jene „antizipatorische Sozialisation“, die die Fiktionalisierung des Möglichkeitshorizonts gerade dadurch vergesellschaftet, dass sie sie nicht in produktivistische Organisationsstrukturen sozialer Funktionalität, sondern in konsumistische Infrastrukturen sozialer Disponibilität einbettet und zur habituellen Voraussetzung sozialer Mobilität macht, wie David Riesman und Howard Roseborough gezeigt haben. „Antizipatorische Sozialisation“ (‚anticipatory socialisation‘) bezeichnet dabei kein allgemeines bildungspolitisches Konzept, sondern die strukturelle Konditionierung der Individuen auf eine zieloffene Lebensführung hin, die gleichzeitig „das Bild eines weitgehend uniformen Lebensstils der majoritären Mittelschichten“ abgibt.²³ „Antizipatorische Sozialisation“ formt damit gewissermaßen die subjektive Bedingung einer sozialen Mobilität, deren objektive Bedingung die tatsächliche Durchlässigkeit der Sozialstruktur ist, die nach dem Ende der feudalen Ständewelt des 18. Jahrhunderts und vollends nach dem Ende der bürgerlichen Klassenwelt des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in der massendemokratischen Statuswelt der Nachkriegszeit realisiert wurde, deren Vorbild die amerikanische Mittelschicht der 1950er Jahre war. Riesman und Roseborough beschreiben diese Fiktionalisierung der eigenen sozialen Position als frühzeitige Vorbereitung auf soziale Rollen, die es noch gar nicht gibt – weder als Berufs- noch als Konsumentenrollen. „Das Auffallende am amerikanischen Leben“ sei, „dass die Menschen für Rollen vorbereitet werden, die ihre Eltern nicht gespielt haben, ja die überhaupt noch niemand gespielt hat: sie werden hinsichtlich der Motivation und der sozialen Geschicklichkeit (die einen guten Teil des ‚know how‘ ausmacht) für Berufstätigkeiten vorbereitet, die noch nicht erfunden sind, und für den Konsum von Gütern, die noch nicht auf dem Markt sind“.²⁴ „Antizipatorische Sozialisation“ bedeutet damit tatsächlich die Orientierung und vor allem die emotional positive Bindung an einen offenen Erwartungshorizont und setzt voraus, dass sich
Riesman, David/ Roseborough, Howard: „Laufbahnen und Konsumverhalten“. In: David Riesman: Wohlstand wofür? Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973. S. 18 f. Riesmann u. a.: Laufbahnen. S. 22.
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die Erwartungen nicht mehr auf definitive, sondern auf transitorische, vorübergehende und diskontinuierlich steigerbare Befriedigungen richten. Entsprechend ist nicht mehr nur die Arbeit das Medium der sozialen Integration, sondern mindestens so sehr auch der Konsum. Und genau in diesem Sinne ist der statusindizierende, wenn nicht überhaupt statuskonstituierende Besitz des „Standardpakets“ an Waren und Dienstleistungen, in dem sich die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Statusgruppe manifestiert und das zum eigentlichen Symbol statusadäquater Sozialintegration wird, ambivalent, nämlich konformistisch und möglichkeitsoffen zugleich.²⁵ Hier greift zunächst eine Besonderheit des Massenkonsums, die diesen prinzipiell von allen Formen des Verbrauchs in einem traditionellen, bedürfnislogischen Sinne unterscheidet, nämlich das besondere Objektverhältnis, das den Massenkonsum zu einem Phänomen macht, das auf permanente Reproduktion gestellt ist. Natürlich geht es in diesem Objektverhältnis in erster Linie um die massenhafte individuelle Aneignung von gesellschaftlich fetischisierten und marktförmig verfügbaren Gütern. Aber gleichzeitig geht es auch um die Einübung der Individuen in den transitorischen Charakter von Objekten, die nicht nur überbietbar und ersetzbar sind, sondern tatsächlich ersetzt werden sollen, sobald ein neues Produktniveau erreicht ist, das seinerseits eine neue Stufe auf der imaginären Leiter des sozialen ‚Aufstiegs‘ markiert, indem es zu einem neuen gesellschaftlichen Standard wird. Vielleicht ist der gesellschaftstheoretisch belangvolle Aspekt des Konsums am Ende deshalb tatsächlich nicht so sehr die kommerzielle Warenförmigkeit der Objekte, also der Vorrang ihres Tauschwertes gegenüber ihrem Gebrauchswert, der die politische Ökonomie lange Zeit in kritischer Absicht an tradierte Materialitätskonzepte gefesselt hat, sondern die Tatsache, dass diesen Objekten nichts Definitives eignet und dass sie deshalb nicht nur im ökonomischen, sondern auch im metaökonomischen, also ontologischen Sinne ebenso verfügbar wie veränderbar sind. Genau darin, in dieser marktförmigen Möglichkeitsoffenheit besteht schließlich auch die spezifische gesellschaftliche Erfahrung im 20. Jahrhundert, die dann als Erfahrung der sozialen Mobilität einen neuen Gesellschaftstyp konstituiert, der nur scheinbar paradoxal im Transitorischen fundiert ist.²⁶ Diese Erfahrung ist zwar durch die konkreten Objekte vermittelt, die angeeignet werden können, aber durch diese hindurch habitualisiert sie vor allem den Modus des unaufhörlichen Aneignens. Sein Medium, also seine realitätskonstituierende Modalstruktur, sind deshalb Objekte, die von vorneherein auf Über-
Ebd., S. 19 et passim. Vgl. Makropoulos, Michael: Theorie der Massenkultur. München: Fink 2008. S. 120 f.
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bietbarkeit angelegt sind und entweder unter dem – technischen – Aspekt der Verbesserung oder unter dem – ästhetischen – Aspekt der Innovation als solche produziert und im Rahmen der distributiven Matrix des Fortschritts oder der Mode konsumiert werden. Sie begründen und modulieren ein Weltverhältnis, das Übergangshaftigkeit und Unabschließbarkeit prinzipiell positiviert und zum schlechterdings unabweisbaren Kriterium für den gesellschaftlichen Horizont des Wünschbaren macht. Gleichzeitig signalisiert dieses Weltverhältnis durch die Dinge hindurch eine möglichkeitsoffene Ontologie der sozialen Wirklichkeit, deren Modus in der Metapher des sozialen ‚Aufstiegs‘ ein sinnlich-räumlicher, also ein konkret vorstellbarer Ausdruck verliehen wird – der soziale Mobilität im Übrigen bemerkenswerterweise a priori vertikal-hierarchisch codiert. Vielleicht gehört der soziale ‚Aufstieg‘ mit allen seinen semantischen Derivaten am Ende zu den verräterischsten Metaphern einer Optimierungsgesellschaft, weil er die soziale Mobilität an vormodernen Weltbildern orientiert. Jedenfalls ist die Theorie des „Standardpakets“ gerade in ihrer Ambivalenz von Konformismus und Möglichkeitsoffenheit auf genau diese Situation gemünzt: Sie verdeutlicht die konstitutive Stabilisierungsbedürftigkeit – man könnte auch sagen: Kontingenz – sozialer Positionen, die Resultate erfolgreicher sozialer Mobilität sind. Schließlich bleibt nicht nur die soziale Position, sondern auch die psychologische Disposition des ‚Aufsteigers‘ immer prekär und deshalb unaufhörlich anerkennungsbedürftig.²⁷ Strenggenommen ist man nämlich nie endgültig angekommen – aber nicht nur, weil das Ziel unbeschadet aller Statussymbole abstrakt, imaginär und deshalb prinzipiell veränderlich ist, sondern auch deshalb, weil jede erreichte Position immer eine erreichte bleiben und nie eine gegebene, also immer eine relative und nie eine absolute sein wird. Entscheidend ist nämlich, dass sich die Stabilisierung der jeweils erreichten Position immer nur performativ vollzieht, weil sie stets in transitorischen Wirklichkeiten begründet und gleichzeitig an fiktionalen Horizonten ausgerichtet ist. Deshalb kann sie sich auch niemals in etwas Definitivem manifestieren. Prekäre Anerkennungsprozesse, so könnte man deshalb sagen, sind in transitorischen Wirklichkeiten und in überbietungsoffenen Objektverhältnissen fundiert, die jene konstitutive Struktur der überbietungsoffenen Unabschließbarkeit etablieren, die die Lebensführung der Individuen bestimmt, weil sie ein sozialer Zwang ist.
Vgl. Alheit, Peter/ Schömer, Frank: Der Aufsteiger. Autobiographische Zeugnisse zu einem Prototypen der Moderne von 1800 bis heute. Frankfurt am Main, New York: Campus 2009. S. 396 ff.
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VI Vielleicht ist es diese Optimierungsgesellschaft, die sich im Transitorischen begründet und die Möglichkeitsoffenheit zum absoluten Wert erklärt, wogegen sich die kulturellen Grenzziehungen richten, die das politische Feld zunehmend dominieren. Schließlich kann man diese Grenzziehungen als Widerstandslinien verstehen, die den Absolutismus der Möglichkeit mit seinem strukturellen Zwang zur Optimierung und seiner tendenziellen Normalisierung der Kontingenz in die Schranken weisen sollen. Wenn nämlich der Begriff der „Kultur“ ein eigenständig erschlossenes Weltverhältnis bezeichnet, impliziert dies zweierlei: Kultur gibt es, erstens, nicht im Singular und „Kultur“ signalisiert, zweitens, die relative Geschlossenheit des Möglichkeitshorizonts. Anders gesagt: Kulturen haben immer Grenzen – und sie bleiben nur so lange spezifische Kulturen, wie sie diese Grenzen hegen, indem sie sich aktiv von anderen Kulturen unterscheiden – oder aber gegen habitualisierte und institutionalisierte Grenzenlosigkeiten behaupten. Entsprechendes gilt für Identitäten. Identitäten sind der Inbegriff dessen, was durch Grenzziehungen konstituiert wird – und das gerade dann, wenn sie ihre Selbstverständlichkeit verlieren, reflexiv werden oder vollends konstruiert sind. Kulturelle Grenzziehungen sind dann im Kern Versuche der Re-Differenzierung des Sozialen. Und identitätspolitische Grenzziehungen sind dann im Kern Versuche der Re-Spezifizierung des Individuellen. Beide zielen über bloße Unterschiede hinaus auf Besonderheiten qualitativer Art, auf konkrete Besonderheiten, auf längerfristige Wirklichkeiten und am Ende auf bindende, definitive Zugehörigkeiten. Dagegen steht die moderne Gesellschaft. Ihr Signum ist der offene Möglichkeitshorizont, die Unabschließbarkeit fortschrittslogischer Optimierung, die Positivierung des Transitorischen und die organisierte Auflösung der definitiven sozialen Orte und der konkreten Bindungen an sie, kurz: ihr Signum ist die Normalisierung der Kontingenz. Sie bildet ein allgemeines strategisches Dispositiv, dessen historischer Effekt die tendenzielle Überschreitung jeder Äußeren und die Auflösung jeder inneren Grenze ist. Die soziale Folge ist bekannt: es ist die globalisierte, aufstiegsorientierte und statusbasierte liberale Mittelschichtgesellschaft, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als paradigmatische soziale Wirklichkeit etabliert hat und seit geraumer Zeit nicht nur das positive Sozialmodell einer globalisierten Moderne ist, sondern überhaupt den Begriff von Gesellschaft dominiert, weil sie zur gesellschaftlichen Norm wurde, der gegenüber jede andere soziale Lebensform als Abweichung, wenn nicht als Regression gilt. Wahrscheinlich ist es diese gesellschaftliche Norm, gegen die sich der neue Wille zur Grenzziehung und die aktuelle Geringschätzung der Horizontverschiebung richten. Wenn es aber tatsächlich wieder einmal eine soziale Welt ohne of-
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fenen Horizont und mit klaren Grenzen geben sollte, wie es noch die meisten modernitätskritischen Positionen expressis oder impressis verbis imaginiert und alle antimodernen Politiken, die religiösen wie die säkularen, propagiert und praktiziert haben, wäre diese Welt auch eine soziale Welt ohne Kontingenz. Es wäre eine Welt, in der das, was ist, nicht anders sein könnte. Es wäre tatsächlich eine sinnerfüllte Welt, die einem „gottgeordneten, also irgendwie ethisch sinnvoll orientierten Kosmos“ gleichkäme, wie man mit einem Wort von Max Weber sagen kann.²⁸ In dieser Welt wäre wirklich alles und jedes an seinem rechten Ort, man wüsste stets, was es mit den Dingen auf sich hat und es gäbe deshalb auch keinen Zweifel darüber, wo die Menschen jeweils hingehören – sozial, territorial und transzendental. Das muss man aber erst einmal ertragen wollen.
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Antje Schlottmann
„So fern und doch so nah“ Von Horizonten und Horizonterweiterungen im alltäglichen Sprachgebrauch
Prolog: Der Horizont und die Geographie Ist der Horizont ein geographisches Phänomen? In einem Sammelband, der sich in transdisziplinärer Haltung um disziplinäre Perspektiven bemüht und der sich damit auch den Selbst- und Fremdverständnissen fachlichen Tuns aussetzt, scheint das zunächst eine sehr zentrale Frage. Eine solche „ontologische Frage“ nach dem Wesen des Horizonts und seiner dementsprechenden disziplinären Einordnung lässt sich allerdings nur mit Rückgriff auf wissenschaftstheoretische und, damit verbunden, erkenntnistheoretische Voraussetzungen beantworten. Denn sie drängt gleich zur relationalen Anschlussfrage nach der angelegten Perspektive, auf die es bei der Beantwortung ankommt. Sie ist z. B. eng verbunden mit der Frage „Was ist Geographie?“, die gerade im geographischen Diskurs ein Dauerbrenner ist, spätestens seit die so genannten „turns“, vom linguistic bis zum cultural turn, das Fach und seine wissenschaftlichen Perspektiven neu zusammengepuzzelt haben. Zumindest gilt dies für einen großen Teilbereich der Geographie, die Humangeographie, die sich grob von der Physischen Geographie durch ihre Zentrierung auf das Verstehen menschlicher und gesellschaftlicher raumrelevanter Sachverhalte abgrenzt. Während die Physische Geographie also nach Erklärungen räumlicher Phänomene und Prozesse sucht, die es exakt zu quantifizieren gilt, sucht die Humangeographie eher nach qualifizierenden Erkenntnissen zu menschlichen Weltverhältnissen. Und während die Physische Geographie eine essentielle Ontologie ihrer Gegenstände voraussetzt, ja voraussetzen muss, setzt die Humangeographie die gesellschaftliche Konstruiertheit ihrer Gegenstände, zuvorderst des Raumes und räumlicher Sachverhalte wie beispielsweise Territorien, Grenzen oder Landschaften, voraus und erwartet dementsprechend geradezu Unschärfe, Ambivalenz und Kontingenz. So interessiert sich die Humangeographie nicht mehr primär für den Raum an sich, sondern für dessen Herstellung. „Ist das noch Geographie?“ Auch diese Frage wurde in der jüngeren Vergangenheit fachintern oft gestellt, aber insofern sich die Humangeographie solcherweise „geturnt“ heute in der Tat als Gesellschaftswissenschaft versteht, auch klar bejaht. https://doi.org/10.1515/9783110553291-005
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Zur Eingangsfrage zurückkehrend, ist vor diesem fachlichen Hintergrund ein weites Feld der möglichen geographischen Befassung mit dem Horizont eröffnet. Die Frage selbst ist indes aufgrund ihrer hohen Pfadabhängigkeit als wenig weiterführend entlarvt. Interessant wird vielmehr die Frage nach dem „Wie?“ und die führt dann auch geradewegs zur Ausrichtung dieses Beitrages.Wie also ist der Horizont mit geographischer Praxis verbunden? Disziplinbezogen und fachgeschichtlich ausgerichtet ließe sich nun fragen, welche Bedeutung der Horizont für das Fach Humangeographie, seine Geschichte und seine Konstitution hat. Anders als beim Begriff der Grenze der Fall, kommt dem Horizont hier aber keine besonders prominente Rolle zu. Und am Ende dieses Beitrags wird klar sein: Der Horizontbegriff ist auch nicht dem der Grenze gleichzusetzen, sondern er ist eher ein Gegenentwurf zu dieser, er erfüllt nicht die Funktion einer scharfen, statischen Trennlinie. Gleichzeitig setzt er aber die Grenze auch voraus, genauso wie eine Überschreitung das, was es zu überschreiten gilt, voraussetzt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Begriffs in der Praxis. Nicht „Was ist der Horizont?“, sondern „Wofür steht der Horizont?“ gilt es zu fragen und: Inwiefern ist sein begrifflicher Einsatz – als Figur, Metapher, Verortungsmittel – mit dem wissenschaftlichen, vor allem aber dem alltäglichen „Geographie-Machen“¹ verbunden? Diese sprachpragmatischen Fragen sind Ausgangspunkt dieses Beitrags, der sich damit auch darum bemüht zu klären, in welchem Verhältnis der Horizont zu anderen, absoluten wie relationalen Raumkonzepten der Sozialgeographie² und ihrer alltagspraktischen Verwendung steht. Im folgenden Abschnitt erfolgen zunächst einige erkenntnistheoretische Klärungen, um die angelegte Perspektive zu verdeutlichen. Daran anschließend führe ich mit dem (alltags-)metaphorischen Konzept von Nähe und Ferne nach Lakoff und Johnson ein Instrument ein, das für die genauere Betrachtung der Verwendung des Begriffs hilfreich ist.³ Anhand von alltagssprachlichen Beispielen zeige ich dann, wie der Begriff des Horizonts aktuell in Text und Bild gebraucht wird, was der Begriff ermöglicht und nicht zuletzt, wie mit ihm ein anderes, ambivalenteres Konzept von Raum entsteht als etwa die Vorstellung von Raum als einem Container mit klar begrenztem Innen und Außen. Abschließend werfe ich einen kurzen Blick auf den Begriff der individuellen Horizonterweiterung im Diskurs um Bildung und ihre Programmatik.
Werlen, Benno: Gesellschaftliche Räumlichkeit 2: Konstruktion geographischer Wirklichkeit. Stuttgart: Steiner 2010. S. 29. Weichhart, Peter: Entwicklungslinien der Sozialgeographie. Von Hans Bobek bis Benno Werlen. Stuttgart: Steiner 2008. Lakoff, George/ Johnson, Mark: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Heidelberg: Carl Auer 1998.
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1 Fokus: Der Horizont in der Alltagssprache Es sind die Verwendungszusammenhänge der Sprache und dabei besonders die Verbindung von Sprache und Raum, die das geographische Interesse dieses Beitrages markieren. Immer vorausgesetzt – hier kommt die spezifisch humangeographische Perspektive zum Tragen –, dass Sprache Raum „macht“, dass also die Bedeutung von Raum und auch seine Einbindung in gestalterische oder planerische Praktiken maßgeblich mit der Einbindung von Raumkonzepten in sprachliche Praxis zusammenhängt.⁴ Beeinflusst von der Strukturationstheorie⁵ wird dabei sprachliche Praxis als beides verstanden: als kreativ herstellend einerseits und gewissen Regeln und Konventionen unterliegend andererseits. Sie ist so betrachtet immer beides, Ermöglichung und Einschränkung. Sie unterliegt der Diskursivität, welche die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten machtvoll umrahmt. Erkenntnistheoretisch betrachtet lassen sich zum Zweck weiterer Einfassung der Perspektive zunächst zwei große Gruppen des sprachlichen Auftretens des Horizonts in der geographischen Praxis unterscheiden: 1. der Horizont als zu Erklärendes (Explanandum) und 2. der Horizont als Erklärendes (Explanans). Einmal steht also der Horizont als Gegenstand z. B. wissenschaftlicher Untersuchung zur Debatte, ein anderes Mal gilt es zu beobachten, wie versucht wird, mit Hilfe der Figur des Horizonts einen Sachverhalt oder ein Phänomen zu erklären. Im ersten Fall wird implizit zunächst davon ausgegangen, dass es Horizonte gibt. Im zweiten Fall wird der Horizont aber zu einem bildsprachlichen Hilfsmittel des Verstehens von etwas anderem, zur Metapher also. Der Horizont als zu Erklärendes erscheint also z. B. als ein so benannter wissenschaftlicher Gegenstand, der ins Zentrum genauerer Untersuchung oder Betrachtung gestellt wird. Er taucht auf in diskursiven Feldern z. B. der wissenschaftlichen Geographie, der Geophysik und der Astronomie. In – bestimmten – geographischen Diskursen wird beispielsweise der Horizont als die Linie gehandelt, welche die sichtbare Erde vom Himmel trennt. Ihn zu erfassen ist u. a. wichtig für die Bestimmung der geographischen Breite. Ein Bodenhorizont, bei der tatsächlich so genannten „Ansprache“ im Gelände oft kurz mit Horizont be-
Schlottmann, Antje: Raumsprache. Ost-West-Differenzen in der Berichterstattung zur deutschen Einheit. Eine sozialgeographische Theorie. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005. Giddens, Anthony: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. 3. Auflage. Frankfurt am Main/ New York: Campus 1997.
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zeichnet, ist hingegen ein Bereich im Boden, der anhand seiner typischen Eigenschaften, wie Farbe, Textur etc., von darüber- und darunterliegenden Bereichen unterschieden werden kann. So lassen sich dann etwa A-Horizonte von BHorizonten klassifikatorisch unterscheiden. Wissenschaftlich zu erfassen ist dann u. a., wo sich die betreffenden Horizonte genau befinden und wo ihre Grenzen liegen. Daraus lassen sich Rückschlüsse auf Bodenfruchtbarkeiten ziehen, was wiederum für landwirtschaftliche oder auch immobilienwirtschaftliche Praxis interessant werden kann. In der Astrophysik gibt es den „Ereignishorizont“, eine Grenzfläche in der Raumzeit, jenseits derer „Ereignisse“, also festgelegte Raumzeit-Punkte, nicht sichtbar sind für diesseitige Beobachter. Auch dieser Horizont gilt als wissenschaftlich zu erklärender Gegenstand. Zu erklären ist etwa die Größe und Form des so genannten Ereignishorizonts von schwarzen Löchern. Auch in philosophischen oder soziologischen Diskursen kann der Horizont Gegenstand genauerer Untersuchung sein bzw. ist der „Horizont von etwas“ der erkenntnistheoretische Gegenstand von auf ihn gerichteten Fragen. Das ist der Fall, wenn etwa dem Phänomenologen Husserl folgend spezifische Interessenshorizonte als Ausdruck von Lebenswelt, d. h. bei Husserl der vor-reflexiven als selbstverständlich gegebenen Welt, näher bestimmt werden sollen.⁶ Der Lebenswelt wird dabei ein Horizont unterstellt, und ihn genauer auszuloten verspricht Aussagen über das Erfahrbare, Erkennbare und Erreichbare, über Identität und Differenz von Subjekten. Im Gegensatz zur nachfolgenden Perspektive, welche den Horizont als Erklärendes in den Mittelpunkt rückt, ist auch in dieser Ausrichtung der Horizont ein zu erklärender Gegenstand der Wissenschaft, auf dessen genauere Klärung der analytische Blick gerichtet ist. Gewissermaßen macht übrigens auch das gesamte Buch den Horizont zum wissenschaftlichen Explanandum. Der Horizont als Erklärendes ist hingegen zunächst nicht gegenständlich, er wird als Metapher verwendet, die dazu dient, einen anderen Gegenstand genauer zu beschreiben oder zu erklären. Hier ist der Horizont also nicht irgendwie auf zu erkundende oder gar rätselhafte Weise einfach da, sondern als Vorstellungsbild zu etwas nütze. Sozialwissenschaftlich dient z. B. in der Systemtheorie der Horizontbegriff, ebenfalls angelehnt an Husserl, zum Verständnis von Welt, insofern die Welt als Horizont begriffen wird. Systemtheoretisch versteht etwa Luhmann „Weltgesellschaft“ losgelöst von territorialen Grenzen als den Gesamthorizont al-
Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Hrsg. von Walter Biemel. Nachdruck der 2. verb. Auflage (Husserliana Band 6) Leuven: Kluwer 1976.
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len sinnhaften Erlebens.⁷ Ein konkret sinnlich erfahrbares Konzept – das des weiter in die Ferne rückenden Horizonts, je näher man ihm auch kommen möchte – wird also auf einen abstrakteren Gegenstand – Welt – übertragen, um ihn begrifflich zu fassen. Ähnliches lässt sich auch für die Verwendung des Horizontbegriffs von Edmund Husserl, Alfred Schütz oder Pierre Bourdieu konstatieren, wenn sie ihren Konzepten von Lebenswelt einen Horizontcharakter zuschreiben. Nicht der Horizont selbst steht dann in Frage, sondern z. B. die Grenze der Lebenswelt von Individuen bzw. Kollektiven, die sich ebenfalls wie ein (hier wieder der Bezug zum physischen Begriff des Horizonts) visuell erfahrbarer Horizont verhält. Was aber sind nun die hier angelegten sprachpragmatischen und gleichwohl geographischen Fragen an den Horizont? Ich bewege mich – und für diese Absichtserklärung war die Unterscheidung von Explanans und Explanandum wichtig – auf einer Metaebene der Erkundung. Der Horizont als ein Teil des alltäglichen Sprachgebrauchs, der Begriff, ist mein Gegenstand, in diesem Sinne mein zu Erklärendes. Ich versuche dabei aber eigentlich, dem Horizont in seinem räumlichen Bezug als Erklärendes auf die Spur zu kommen, ich versuche aus einer Metaperspektive zu verstehen, wozu der Horizont dient, wenn er in sprachlicher Praxis erscheint, welche Rolle er also als Denkfigur oder Metapher in Sprachspielen spielt und welche Bedeutung dieser Begriff durch seine Verwendung erhält. Kurz gesagt: Ich mache den [Horizont als Explanans] zum Explanandum. Mit dieser Perspektive ergibt sich die Aufgabe, die Festgelegtheit, aber auch die Freiheitsgrade von räumlicher Bezugnahme in der Sprache zu erkunden, nicht im Sinne von „sprachlichen Naturgesetzen“, sondern gemäß eines an Wittgenstein angelehnten sprachpragmatischen Ansatzes⁸ mit Blick auf ihre Verwendung, aus der sich der Sinn und die Bedeutung des Horizonts erst ergibt. Fokus dieser Betrachtung ist nicht die Wissenschaftssprache, sondern die Alltagssprache, wobei aber davon auszugehen ist, dass sich auch alle Wissenschaftler/innen der Alltagssprache bedienen und diese Abgrenzung insofern keine analytische, sondern eine heuristische ist. Mit diesem erkenntnistheoretischen Vorlauf wird nun auch klar, dass wenn ich selbst sagen würde, dass ich mit meinem Beitrag den Lesenden eine Horizonterweiterung verschaffen möchte, meine eigene Sprachpraxis selbst zum Gegenstand meiner Betrachtung würde. Eine – wiederum heuristische – These, die mich dabei leitet, ist, dass der Horizont entgegen anderen alltagssprachlich verwendeten Raumkonzepten, wie insbesondere Ahrens, Daniela: Grenzen der Enträumlichung. Weltstädte, Cyberspace und transnationale Räume in der globalisierten Moderne. Opladen: Springer VS 2001. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Band 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984.
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dem Container-Konzept als einem, wenn nicht „dem“ anderen raummetaphorischen Konzept, eine Offenheit und Relationalität erlaubt, dass ihm also sowohl eine strukturierende und begrenzende als auch eine dynamisierende und Ambivalenz erzeugende Funktion zukommt. Auf eine nun im Folgenden noch näher zu erkundende Art und Weise hängt das damit zusammen, wie der Begriff des Horizonts mit dem metaphorischen Konzept von Nähe und Ferne verbunden ist.
2 Theoretische Rahmung: Raumbezogene Metaphern und das Konzept Nah – Fern Ich könnte nun sagen, ich möchte den Leser/innen den Horizont in der RaumSprache „näher“ bringen. Oder: Ich möchte mich dem sprachpragmatischen Horizont des Begriffes „annähern“. Oder: Eine neue Erkenntnis zum Horizont zeichnet sich fern am Horizont ab. Solche redensartlichen Sprachspiele verweisen auf einen ersten Zugang zum Verständnis des Horizontbegriffs im alltäglichen Sprachgebrauch. Dieser Zugang erschließt sich über die Auseinandersetzung mit raumbezogenen Metaphern, genauer mit Orientierungsmetaphern, mit und in denen wir alltäglich leben.⁹ Allgemein lässt sich mit Smith zur Metaphorizität der Sprache feststellen: Metaphoric representations describe the remote in terms of the immediate, the exotic in terms of the domestic, the abstract in terms of the concrete, and the complex in terms of the simple.¹⁰
Metaphern stehen dabei – zu unterschiedlichem Grad – in Verbindung mit transsubjektiven „direkten Erfahrungen“, die freilich nicht repräsentierbar sind, gleichzeitig strukturieren sie Erfahrungen von Welt. Diese Strukturierung erfolgt laut Lakoff und Johnson nach bestimmten Schemata: Was die Verankerung unseres Konzeptsystems betrifft, behaupten wir, daß wir bezeichnenderweise das Nichtphysische in Begriffen des Physischen konzeptualisieren; das heißt, dass wir das weniger scharf Konturierte in Begriffen des schärfer Konturierten konzeptualisieren.¹¹
Lakoff, George/ Johnson, Mark: Leben in Metaphern. 1998; Lakoff, George: Women, Fire, and Dangerous Things. What Categories reveal about the Mind. Chicago/ London: University of Chicago Press 1990. Smith, Jonathan M.: „Geographical Rhetoric: Modes and Tropes of Appeal“. In: Annals of the Association of American Geographers. 86, 1. 1996. S. 12. Lakoff, George/ Johnson, Mark: Leben in Metaphern. 1998. S. 73.
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Metaphorizität erzeugt also eine Vorstellung von der Welt, indem sie hilft, mehr oder weniger abstrakte Teile von ihr durch den Vergleich mit etwas Konkreterem, z. B. Körperlichem, zu identifizieren, zu orientieren und zu organisieren. Human spatial concepts […] include UP–DOWN, FRONT–BACK, IN–OUT, NEAR–FAR etc. It is these that are relevant to our continual everyday bodily functioning, and this gives them priority over other possible structurings of space−for us. […]. Concepts that emerge in this way are concepts that we live by in the most fundamental way.¹²
Metaphorizität ist dabei gleichzeitig ein Ausdruck dieser Einteilung. Weil sie auch Erwartungen und somit Erfahrungen strukturiert, greift sie konstruktiv in die Wirklichkeit ein. Durch ihren konstitutiven und regulativen Vorgriff kommt Metaphern dementsprechend nicht nur eine vorstellungsleitende, sondern auch eine handlungsorientierende und -begründende Rolle zu.¹³ Dabei ist Metaphernverwendung – sprachpragmatisch gefasst – immer abhängig von geteiltem impliziten Hintergrundwissen, sie verweist auf ein von einer Sprechergemeinschaft geteiltes Normalverständnis. Lexikalisierte Metaphern sind dabei am stärksten mit unbefragtem Hintergrundwissen „verhakt“, konventionelle Metaphern weisen bereits einen flexibleren Bezug zu „lebensweltlich tief verwurzelten Bildfeldtraditionen“ auf und innovative Metaphern ermöglichen neue Bezüge und Kontexte.¹⁴ Das Nah-Fern-Konzept ist neben dem von Innen und Außen ein höchst bedeutsames und funktionales metaphorisches Konzept der Strukturierung von Lebenswelt. Über die Einordnung von Nahem und Fernem werden Bedeutungen zugewiesen, Verbindungen und ihre Relevanz markiert und nicht zuletzt politische Handlungsentscheidungen getroffen. So sind etwa die Reisen von Politikern an den Ort eines Geschehens mit dem Normalverständnis verbunden, damit nicht nur Interesse, sondern auch Verbundenheit zu signalisieren.¹⁵ Grundsätzlich lassen sich nach Lakoff und Johnson verschiedene Verwendungsfunktionen des Konzepts unterscheiden. Zunächst gilt: Ähnlich ist nah. Physische Nähe oder das physisch – einander – Nahe ist das – einander – Ähnliche, das Ferne ist das Differente oder Andersartige. Das Nahe ist das Gleichartige, sich physisch nahe Menschen erscheinen als gleichartig, als eine enge Gemeinschaft. Viele raumbe Lakoff, George/ Johnson, Mark: Metaphors we live by. Chicago/ London: University of Chicago Press 1980. S. 56 – 57. Schlottmann, Antje: Raumsprache. S. 166 – 67. Debatin, Bernhard: Die Rationalität der Metapher. Eine sprachphilosophische und kommunikationstheoretische Untersuchung. Berlin/ New York: De Gruyter 1995. S. 307. Schlottmann, Antje: „2-Raum-Deutschland – alltägliche Grenzziehung im vereinten Deutschland. Oder: Warum der Kanzler in den Osten fuhr“. In: Berichte zur deutschen Landeskunde 79. 2005. S. 179 – 192.
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zogene Stereotypisierungen enthalten dieses Konzept („die Schwaben“; „die Afrikaner“), dabei wird der Ort zum maßgeblichen Indikator der Ähnlichkeit. Physische oder räumliche Nähe wird darüber hinaus gleichgesetzt mit Vertrautheit und/oder mit Verständnis. „Ich war ihm sehr nah“ oder „wir haben uns voneinander entfernt“, „wir haben uns auseinandergelebt“, „jemanden von sich fernhalten“, „jemanden nicht an sich heran lassen“ sind sprachliche Umsetzungen des Schemas „vertraut ist nah“. Nähe wird aber auch zum Indikator für ein tieferes Verständnis bzw. eine bessere Kenntnis. „Das müssen wir näher betrachten“, „eine nähere Untersuchung / Beschreibung“ sind geläufige Ausdrücke, die dem Konzept „Nähe ist Kenntnis“ folgen. Im weiteren Sinne geht auch der imaginative Begriff des „Vor-Ort-Seins“, des „Nah-dran-Seins“, auf diese Metaphorik zurück. Wer vor Ort war, respektive „dabei“ war, wird als Expertin oder Experte ausgewiesen, unabhängig davon, was er oder sie „vor Ort“ tatsächlich getan / gesehen / erlebt hat. Eine weitere Verbindung ergibt sich über den Begriff der „Erfahrung“: Die raumzeitliche Bewegung, „das Fahren“, wird gleichgesetzt mit der Kenntnis des „Erfahrenen“. Dem Schema „Existenz ist nah“ zufolge wird Nähe zum Indikator für Wirklichkeit und Realität. Things that exist exist in locations. To be is to be located. Moreover, we know that something exists if it is in our presence; otherwise, we cannot be sure. These common facts form the basis of a widespread metaphor: EXISTENCE IS LOCATION HERE; NONEXISTENCE IS LOCATION AWAY.¹⁶
Eine weitere metaphorische Übertragung findet sich in Begriffen wie „eine Einigung ist in weite Ferne gerückt“, das heißt, sie ist unrealistisch. In Verbindung mit dem metaphorischen Konzept „Nah – Fern“ soll nun nachfolgend die Figur des Horizonts im alltagssprachlichen Gebrauch differenzierter gefasst werden.
3 Befund I: Erweiterung ist gut Nach einer – nicht standardisierten und nicht repräsentativen – Sichtung des alltäglichen Sprachgebrauchs zum Schlagwort Horizont im Internet kann zunächst konstatiert werden: Sich einem Horizont anzunähern, ist eine gute Sache. Insofern gilt also das metaphorische Konzept „nah ist gut“ bzw. „je näher desto besser“. Da findet sich zum Beispiel ein Kinder-Theaterstück, in dem ein Lakoff, George: Women, Fire, and Dangerous Things. 1990. S. 518.
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kleiner Igel versucht, den sichtbaren Horizont zu finden und damit seinen geistigen und inneren Horizont zu erweitern. Der erklärende Text macht die Verbindung zwischen dem sinnlich erfahrbaren und dem übertragenen Horizont deutlich: Konkret bedeutet dies, dass sich das Theaterstück „Der Horizont“ über das beobachtbare Phänomen Horizont dem abstrakten und philosophischen Gebrauch des Wortes nähert. Indem der kleine Igel sich dem sichtbaren Horizont nähern möchte, erfährt er eine Erweiterung seines geistigen und inneren Horizontes.¹⁷
In einem sachlich ganz anderen Verwendungszusammenhang ist in der Zeitschrift sport auto (4/97) im Kontext der Bewertung eines neuen Porsche-Modells zu lesen: Das irrwitzige Sprintvermögen zeigt sich schließlich in einer Zeit von nur 25,9 Sekunden – wohlgemerkt: für den Spurt auf Tempo 300! Diese fantastische Horizont-Annäherung hat einen Erlebniswert, der auf dem Temperamentsniveau eines Porsche GT1-Renners liegt und das in einem geradezu luxuriösen Ambiente.¹⁸
Auch hier gilt, je näher, desto besser, bemerkenswert ist aber, dass auch die Annäherung selbst, der physische Prozess des Näherkommens, zum herausragenden positiven Wert wird. Der Logik „je näher je besser“ folgend, ist aber auch je ferner etwas am Horizont erscheint, desto schlechter. So schreibt Andreas Ernst in der NZZ zum Kulturraum Schwarzes Meer unter dem Titel „Fern am Horizont“: Gibt es die Schwarzmeerregion? Die kurze Ära, in der die EU mit den von ihr propagierten Werten und ihren Wachstumsversprechen eine Nachbarregion nach der anderen in ihren Bann schlug, ist vorbei. Dazu reicht die Strahlkraft der EU nicht mehr aus. Und ihre Konkurrenten, Russland und die Türkei, geben sich mit der Randstellung nicht mehr zufrieden. Der Schwarzmeerraum ist heute vielfach geteilt und bildet allenfalls in der Braudelschen Abstraktion einer ‚langen Dauer‘ einen historischen Raum. Auf der Zeitebene der Ereignisse muss der Westen die Erwartungen herunterschrauben. Es wäre ein grosser Erfolg, wenn es der EU noch gelänge, wenigstens den westlichen Balkan aus der Nachbarschaft in die Mitgliedschaft zu hieven. Das Schwarze Meer wird für lange Zeit nur ein Horizont bleiben.¹⁹
Der Horizont. Kinder spielen Theater. http://www.kinderspielentheater.de/horizont.htm (21.06. 2018). Von Saurma, Horst: „Top Fun. Major Tomʼs Verhältnis zum Tempo hat sich nach einem 300 km/h-Trip im Porsche Carrera Biturbo von RS-Tuning sehr gewandelt“. In: sport auto (4/97). http://www.rs-tuning.de/press/sportauto/sa0497/sa0497.htm (21.06. 2018). Ernst, Andreas: „Fern am Horizont“. In: Neue Züricher Zeitung. 12.11. 2015. http://www.nzz.ch/ feuilleton/fern-am-horizont-1.18644833 (21.06. 2018).
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Der Horizont ist hier als das in der Ferne Liegende nicht gut – „nur ein Horizont“ – bzw. nicht gut genug. Positiv wäre eine Nähe, hier nicht in räumlicher, sondern zeitlicher Übertragung, wenn also das Schwarze Meer als ein gemeinsamer Kulturraum in zeitliche Nähe rücken würde. Ein Horizont ist aber nicht nur etwas, dem man sich grundsätzlich annähern sollte, es gilt, dieses anstrebenswerte, gleichwohl immer ferne Ziel zu erweitern. Auch die im alltäglichen digitalen Sprachgebrauch dominant vertretene Horizonterweiterung ist im Verwendungskontext grundsätzlich gut, eine Horizontverengung hingegen schlecht. Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele, insbesondere aus dem Bereich der Personalentwicklung und des Managements, so etwa hinsichtlich einer Neubesetzung des Vorstands von Daimler: Seeger habe in Korea mit neuen Arbeitskonzepten für Aufmerksamkeit gesorgt, so das Goethe-Institut. So habe sie beispielsweise dafür gesorgt, dass Führungskräfte in ihnen bislang unbekannten Abteilungen eingesetzt wurden, um ihren unternehmensinternen Horizont zu erweitern.²⁰
Abb. 1: Horizonterweiterung bei Mercedes-Benz
„Zwei von Acht. Britta Seeger zieht in Daimler Vorstand ein“. In: Manager Magazin. http:// www.manager-magazin.de/koepfe/britta-seeger-zieht-in-daimler-vorstand-ein-a-1104211.html (21.06. 2018).
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Im Mercedes-Benz Lifestyle Magazin wird eine solche Horizonterweiterung zum Beispiel mit den dort vorgestellten Reisezielen verbunden bzw. den Leser/innen sowohl sprachlich als auch visuell in Aussicht gestellt. Dabei wird der Horizont des Außenraumes direkt mit dem des mentalen Innenraumes parallelisiert und wechselseitig positiv aufgeladen (Abb. 1).²¹ Horizonterweiterung ist in einem anderen Kontext der unternehmerischen Ausbildung, beispielsweise „Talents meet Bertelsmann China“ (TMB China), sogar so gut, dass sie nicht nur mehr Kenntnis, Einsicht oder Ansicht verspricht, sondern mit ihr auch ein ethisch-moralischer positiver Effekt auf den Charakter in Aussicht gestellt wird. Der Artikel ist überschrieben mit „eine Horizonterweiterung“ und lässt keinen Zweifel an dem damit verbundenen Gewinn. Zhu Hongxua, der 2012 an TMB China teilnahm und jetzt für ein chinesisches Transportunternehmen arbeitet, erinnert sich: Was TMB uns gebracht hat, sind nicht nur kaufmännische Kenntnisse und Erfahrung, sondern auch eine Horizonterweiterung. Es ist kein Programm, das nur Talente für zukünftige Unternehmen produzieren soll, sondern es kann dich zu einem besseren Menschen machen.²²
Abb. 2: Horizonterweiterung für Singles
Finkenzeller, Katrin / Kapitza Enno: „Horizonterweiterung“. Mercedes-Benz. 2016. https:// www.mercedes-benz.com/de/mercedes-benz/lifestyle/mercedes-benz-magazine/mercedesbenzmagazin/horizonterweiterung/ (21.06. 2018). „TMB China: Eine Horizonterweiterung“. Bertelsmann. http://www.bertelsmann.de/verant wortung/projekte/projekt/tmb-china-eine-horizonterweiterung.jsp (21.06. 2018).
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Die Single-Plattform „Bolde“ unterstreicht diese Verbindung von Horizonterweiterung und Persönlichkeitsoptimierung noch einmal beispielhaft, indem sie 15 Wege vorschlägt, um über „Horizonterweiterungen“ verschiedenster Art ein besserer Mensch zu werden (Abb. 2).²³ Horizonterweiterung – je weiter, desto besser – ist dabei über die Befreiung aus beschränkten und beschränkenden Routinen oder Denkweisen zu erlangen, diese wiederum ist gleichbedeutend mit einer Verbesserung des Ichs. Insofern ist der Begriff des Horizonts funktional nicht nur das Abstecken von Zielen, denen man sich nähern will, sondern auch für die eigene Identität.
4 Befund II: Das sich Nähernde als Verheißung Ein weiterer Kontext, in dem der Horizont metaphorisch verwendet wird, ist der des Umgangs mit Zukunft und Vergangenheit. Kommende Ereignisse zeichnen sich zunächst am Horizont ab, bevor sie sich dem Betrachter / der Betrachterin nähern und wirklich werden. Dabei gilt: Je deutlicher sie sich abzeichnen, desto näher und damit auch wirklicher sind sie – zeitlich und räumlich. Dies kann nun aber sowohl eine negative Konnotation haben, wie etwa die dunklen Wolken am Horizont, aber redensartlich auch eine positive, wie das Licht oder der Silberstreif am Horizont. „Existenz ist nah“ ist hier also ein tragendes metaphorisches Prinzip, am Horizont sind sowohl die dunklen Wolken als auch der Silberstreif eine noch zukünftige Wirklichkeit, verbunden mit Furcht oder Hoffnung. Übertragen auf verlorene Existenz, etwa eines geliebten Menschen, zeigt sich diese Sprachverwendung etwa in Sterbeanzeigen, z. B. mit diesem Text: Lieber Pa, Lieber Opa, ganz plötzlich und unerwartet bist du auf deiner Urlaubsreise von uns gerissen worden. Du hinterlässt viel Traurigkeit und Leere. Und wenn wir hinauf zu Dir blicken, bist Du der Silberstreif am Horizont.²⁴
Hier scheint wichtig, dass der Verstorbene nun zwar fern, aber doch in Sichtweite ist. Er ist der Silberstreif, zu dem die Hinterbliebenen aufblicken können, weil er nicht hinter dem, sondern am Horizont liegt. Dieses Zusammenschmelzen von Nah und Fern, für dessen Ausdruck der Begriff des Horizonts eine zentrale Rolle
Explizit gemeint sind vor allem kulturelle Aktivitäten, vom Museumsbesuch bis zur Spontanparty. Explizit nicht gemeint ist Nachrichten schauen (ebd.). „Traueranzeige für W. R.“ In: Idowa. http://markt.idowa.de/traueranzeigen/traueranzeige/fa milienanzeigen/todesanzeigen/698930.html (21.06. 2018).
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spielt, wird in einem vielfach genutzten Gedicht im Diskurs um Tod und Trauer noch einmal ganz explizit. So fern und doch so nah wie sich das weite Meer und der endlose Himmel sind, wenn sie am Horizont ineinander zu fließen scheinen, so eng verbunden und doch so weit entfernt, sind Diesseits und Jenseits, sichtbare und unsichtbare Welt, so fern und doch so nah sind die Menschen, die uns verlassen mussten und doch immer zu uns gehören.²⁵
Abb. 3: Licht am Börsenhorizont
Die Verbindung des am Horizont Erblickten mit Hoffnung, als Zeichen für eine zukünftige, sich nähernde Wirklichkeit, funktioniert indes auch in ökonomischen Zusammenhängen. „Licht am Horizont“ wird in diesem Falle mit der Erholung von Börsenkursen verbunden, soll Hoffnung auf sich nähernde Gewinne machen (Abb. 3).
Erath, Irmgard: „Leben ohne Dich – Für Andreas“. Leben ohne Dich. http://www.leben-ohnedich.de/andreas_4 g.htm (21.06. 2018).
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Auffällig ist in diesem Beispiel die visuelle Rückbindung an den Horizont der physischen Welt sowie an die Körperlichkeit der den Horizont betrachtenden Figur im Bild und die Leiblichkeit des bzw. der Betrachtenden außerhalb des Bildes. Der gestische Ausdruck des/der den Horizont Betrachtenden zeigt dessen befreiende Wirkung. Das Rückenbild eines menschlichen, ikonisch gedeutet männlichen Körpers, holt zudem über kinästhetische Effekte auch den Betrachter/die Betrachterin des Bildes leiblich mit ins Bild.Wenn ich jemanden betrachte, der oder die etwas betrachtet, vermag ich seine oder ihre Perspektive einzunehmen. Das dem „Was gesehen wird“ vorgeordnete „Wie“ des Sehens ist dann nicht nur ein Sehen mit den eigenen leiblichen Augen, sondern auch ein Sehen mit den Augen anderer. Bekannt ist diese Einkörperung vor allem durch die Rückenbilder von Caspar David Friedrich, z. B. „Mann und Frau den Mond betrachtend“. Im Falle des DAX-Bildes blicken Betrachter/in und Betrachtete/r somit gemeinsam der sich nähernden hoffnungsvollen Zukunft entgegen. Durch dieses visuelle „Einkörpern“ wird ein offener Horizont leiblich zudem mit „Aufatmen“, aber auch dem Gefühl von – körperlicher wie gedanklicher – Freiheit verbunden. Ikonisches Vorbild hierfür ist etwa das Lichtgebet der Lebensreformer. Fidus’ Jüngling, der sich dem Licht entgegenstreckt und die Einheit mit dem Kosmos versinnbildlicht, ist, übertragen auf das Bild, das Erlebnis, dem Himmel oder Überirdischen nah zu sein. Ein so hergestelltes Raumerlebnis ist direkt mit dem weiten Horizont verbunden, der sich betrachtendem Leib wie betrachtetem Körper eröffnet. In Werbebildern zeigt sich vielfach die Verbindung eines – wie im Beispiel verschwimmenden – Horizontes mit dem Topos gedanklicher Freiheit.²⁶ Bemerkenswert ist, dass hier, wie auch im Falle versprochener Selbstoptimierung durch Horizonterweiterung, der Horizont textlich wie bildlich auf ein Individuum bezogen wird, ein Befund, der in den Kontext von gesellschaftlichen Individualisierungstendenzen zu rücken ist.
5 Fazit: So fern und doch so nah So wenig der vermeintlich genuin geographische Begriff des Horizonts in der wissenschaftlichen Geographie ein analytisches Werkzeug zur Klärung und Erklärung von Sachverhalten ist und so wenig er in der geographischen Fachsprache ein zentrales Sprachbild darstellt: In der Alltagssprache ist dieser Raumbegriff
Schlottmann, Antje: „‚Endlich Platz!‘: Zur Konstitution von Raumerlebnissen in der Werbung“. In: Geo-Visiotype. Zur Werbegeschichte der Telekommunikation. Hrsg. von Jörg Döring. Siegen 2009 (MUK 170/171, Massenmedien und Kommunikation). S. 35 – 70.
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präsent und erfüllt wesentliche Funktionen, die sich mit Blick auf die die gesellschaftliche Wirklichkeit konstituierende raumbezogenen Sprache freilegen lassen. Metaphern wie das körperlich abgeleitete Konzept Nah-Fern helfen dabei, die Bedeutung dieser Figur als Explanans von individuellen wie kollektiven bzw. gesellschaftlichen Zielen, Situationen oder auch Gefühlen zu begreifen. Dabei zeigt sich, dass der Horizontbegriff etwas leistet, was viele raumbezogene Konzepte, über die wir Welt verstehen, nicht vermögen: Durch seine Relationalität zum/zur Betrachtenden, wie sie am physischen Horizont körperlich erfahren und dann metaphorisch übertragen wird, ermöglicht er Sprachspiele, die den Ausdruck von und den Umgang mit der Unvorhersehbarkeit von Ereignissen und der Unsicherheit der Welt und des Lebens darin überhaupt ermöglichen. Die exemplarischen Blicke haben gezeigt, dass mit dem Horizont gerade keine exklusive und scharfe Strukturierungsleistung und eindeutige Verortung verbunden ist, sondern die praktische Bedeutung des Begriffs in seiner Verbindung mit einem „Sowohl als auch“ liegt, einer Ambivalenz von Nähe und Ferne, die aber dennoch funktional ist hinsichtlich einer Orientierung von erfahrenen Lebenswirklichkeiten. Der Horizont transportiert trotz potentiell negativer wie positiver Aussicht auf das, was kommen mag, sicher eines: die Verheißung, dass man bald mehr weiß und sieht. Umso positiver konnotiert ist diese Aussicht auf nahende Sicherheit, wenn sie mit der Hoffnung auf das nahende Gute verbunden werden kann. Ob in dieser Funktionalität des Horizonts im alltäglichen Sprachgebrauch auch zeitdiagnostisch eine Strategie des Umgangs mit gesellschaftlichen Krisen zu sehen ist und ob darin ein Grund für eine alltagssprachliche Konjunktur des Begriffes gesehen werden kann, ist weitergehend zu erforschen. Nicht zuletzt Untersuchungen historischer Quellen der Alltagssprachlichkeit könnten hierfür aufschlussreich sein. Dass die Erweiterung von Horizonten heute alltagssprachlich, dies haben zumindest die kursorischen Blicke gezeigt, durchgängig positiv konnotiert ist, eröffnet ebenfalls interpretative Spielräume, die indes weitere (theoretische wie auch historische) Fundierung lohnend erscheinen lassen. Bezüglich des physisch erfahrenen Horizonts kann zumindest vermutet werden, dass auch jagende Steinzeitmenschen oder mittelalterliche Navigatoren eine größtmögliche Weite als das Gute empfanden, weil sie größere Übersicht und Sichtbarkeit versprach. Auch wenn hier kontextgebundene Differenzierung nötig ist: Eine metaphorische Übertragung dieser direkten Erfahrung auf den eigenen (geistigen oder kulturellen) Horizont scheint naheliegend und lässt sich heute umgangssprachlich zum Beispiel am Begriff vom „besseren Durchblick“ oder dem auf dem Arbeitsmarkt gefragten „Überblicker“ nachvollziehen.
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6 Ausblick: Horizonterweiterung in Bild und Bildung Die positive Konnotierung der Horizonterweiterung ist über die bisher betrachteten Zusammenhänge hinaus eng verbunden mit Bildungsdiskursen und ihrem Wandel. Der vorangegangene Blick auf die text-bildliche Verwendung des Horizonts in alltäglicher Kommunikation bringt mich daher ausblickend zur Frage nach der Verbindung des Horizonts mit Begriffen des Visuellen und wiederum deren Bedeutung im Diskurs um Bildung. In der Verwendung des Horizontbegriffes zeigt sich insgesamt die Betonung von Visualität als zentrale und dominante Sinneserfahrung der Spätmoderne. Eine Horizontannäherung oder -erweiterung oder -öffnung ist gleichbedeutend mit positiv beladenen Begriffen wie „den Blick frei machen“ oder „das Sichtfeld erweitern“. Auch als metaphorischer Hintergrund erscheint der Horizont mit Visualitätsbegriffen verbunden: „etwas im Horizont von etwas“ betrachten – hier hat der Horizont rahmende Funktion, aber es ist eher eine unbestimmte, offene Rahmung. Erneut zeigt sich die Ambivalenz dieses metaphorischen Raum-Konzepts: Der Horizont scheint zwar unendlich fern, ist aber immer in Sichtweite, seine Ränder lassen sich erahnen, wenn auch nicht erreichen. In dieser Hinsicht ist der Horizont zwar das Unerreichbare, hat aber auch das stetige Ziel vor Augen und ist damit verlässlicher Sinnstifter und eine permanente Verheißung. Der Horizont kann daher „nah“ und „fern“ zugleich sein. Er funktioniert, indem er für beides steht, „location away“ und „location here“, und dabei im metaphorischen „nahfern“ Konzept also existent und nicht-existent ist. Er changiert zwischen – sichtbarer – Nähe und – unerreichbarer, aber anstrebenswerter und damit auch zumindest schemenhaft sichtbarer – Ferne. So taugt er auch als Sinnbild von Utopie und Sehnsuchtsort, z. B. der Kindheit, wie es im Gemälde von Dalí „forgotten horizon“ bildlich zum Ausdruck kommt. Darüber ergibt sich eine Verbindung zum aktuellen Bildungsdiskurs, in dem der Horizontbegriff schon durch den viel zitierten Spruch von Hans Blumenberg „Bildung ist kein Arsenal, sondern ein Horizont“, zentral verankert ist.²⁷ Allmann und Dazert schreiben in ihrem Buch mit dem Titel Auf dem Weg zur Bildung. Individuelle Bildungsreisen als Horizonterweiterung über die Entwicklung der Bildungsreise im 19. Jahrhundert: Die Reise als persönlicher Bildungsweg im Sinne einer Horizonterweiterung im humanistisch-aufgeklärten Sinne strebt nunmehr Anschauung, eigene Erkenntnisgewinnung und
Blumenberg, Hans: Begriffe in Geschichten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. S. 25.
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Entfaltung individueller Anlagen/ Kräfte sowie Entdeckung und Entwicklung der Persönlichkeit an.²⁸
Hier zeichnet sich erneut die gesellschaftliche Individualisierungstendenz des 20. Jahrhunderts ab. Bildungsziele im humanistisch-aufgeklärten Sinne setzen auf Anschauung, eigene Erkenntnisgewinnung und die Entfaltung individueller Anlagen und Kräfte sowie die Entdeckung und Entwicklung der Persönlichkeit. Sie spiegeln sich heute auch in didaktischen Konzepten des konstruktivistischen Lernparadigmas und der Schülerzentrierung als Methodik wider. Persönliche Horizonterweiterung, alltagssprachlich, wie am Beispiel oben gezeigt, mit Selbstoptimierung verbunden, ist heute auch ein bildungsprogrammatischer Imperativ. Der Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth belegt dies im Internet wie folgt: Bildung eröffnet in pluralen Gesellschaften einen offenen Horizont an Möglichkeiten. Das Bildungssystem muss auf diesen offenen Horizont vorbereiten, fähig zur Wahl gemäß der eigenen Interessen, aber der Tatsache bewusst, dass die Anerkennung der je Anderen die Bedingung der Möglichkeit der eigenen Entfaltung darstellt.²⁹
Allmann, Silke/ Dazert, Denise (Hrsg.): Auf dem Weg zur Bildung. Individuelle Bildungsreisen als Horizonterweiterung. Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2016 (hinterer Klappentext). Tenorth, Heinz-Elmar: „Bildung zwischen Ideal und Wirklichkeit. Ein Essay“. Bundeszentrale für politische Bildung. 2013. http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/zukunft-bildung/146201/bil dungsideale (20.05. 2018).
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Literaturverzeichnis Ahrens, Daniela: Grenzen der Enträumlichung. Weltstädte, Cyberspace und transnationale Räume in der globalisierten Moderne. Opladen: Springer VS 2001. Allmann, Silke/ Dazert, Denise (Hrsg.): Auf dem Weg zur Bildung. Individuelle Bildungsreisen als Horizonterweiterung. Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2016. Blumenberg, Hans: Begriffe in Geschichten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. Debatin, Bernhard: Die Rationalität der Metapher. Eine sprachphilosophische und kommunikationstheoretische Untersuchung. Berlin/ New York: De Gruyter 1995. Giddens, Anthony: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt am Main/ New York: Campus 1997. Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Hrsg. von Walter Biemel. Nachdruck der 2. verb. Auflage (Husserliana Band 6) Leuven: Kluwer 1976. Lakoff, George/ Johnson, Mark: Metaphors we live by. Chicago/ London: University of Chicago Press 1980. Lakoff, George/ Johnson, Mark: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Heidelberg: Carl Auer 1998. Lakoff, George: Women, Fire, and Dangerous Things. What Categories reveal about the Mind. Chicago, London: University of Chicago Press 1990. Schlottmann, Antje: Raumsprache. Ost-West-Differenzen in der Berichterstattung zur deutschen Einheit. Eine sozialgeographische Theorie. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005. Schlottmann, Antje: „2-Raum-Deutschland – alltägliche Grenzziehung im vereinten Deutschland. Oder: Warum der Kanzler in den Osten fuhr“. In: Berichte zur deutschen Landeskunde 79, 2005. S. 179 – 192. Schlottmann, Antje: „‚Endlich Platz!‘: Zur Konstitution von Raumerlebnissen in der Werbung“. In: Geo-Visiotype. Zur Werbegeschichte der Telekommunikation. Hrsg. von Jörg Döring. Siegen 2009 (MUK 170/171 Massenmedien und Kommunikation). S. 35 – 70. Smith, Jonathan M.: „Geographical Rhetoric: Modes and Tropes of Appeal“. In: Annals of the Association of American Geographers. 86, 1. 1996. S. 1 – 20. Weichhart, Peter: Entwicklungslinien der Sozialgeographie. Von Hans Bobek bis Benno Werlen. Stuttgart: Steiner 2008. Werlen, Benno: Gesellschaftliche Räumlichkeit 2: Konstruktion geographischer Wirklichkeit. Stuttgart: Steiner 2010. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Band 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984.
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Der Horizont. Kinder spielen Theater. http://www.kinderspielentheater.de/horizont.htm (21. 06. 2018). Tenorth, Heinz-Elmar: „Bildung zwischen Ideal und Wirklichkeit. Ein Essay“. Bundeszentrale für politische Bildung. 2013. http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/zukunft-bildung/146201/ bildungsideale (20. 05. 2018). „TMB China: Eine Horizonterweiterung“. Bertelsmann. http://www.bertelsmann.de/ verantwortung/projekte/projekt/tmb-china-eine-horizonterweiterung.jsp (21. 06. 2018). „Traueranzeige für W. R.“ In: Idowa. http://markt.idowa.de/traueranzeigen/traueranzeige/ familienanzeigen/todesanzeigen/698930.html (21. 06. 2018). Von Saurma, Horst: „Top Fun. Major Tomʼs Verhältnis zum Tempo hat sich nach einem 300 km/h-Trip im Porsche Carrera Biturbo von RS-Tuning sehr gewandelt“. In: sport auto (4/97). http://www.rs-tuning.de/press/sportauto/sa0497/sa0497.htm (21. 06. 2018). „Zwei von Acht. Britta Seeger zieht in Daimler Vorstand ein“. In: Manager Magazin. http:// www.manager-magazin.de/koepfe/britta-seeger-zieht-in-daimler-vorstand-ein-a-1104211. html (21. 06. 2018).
Verzeichnis der Abbildungen Abb. 1. Finkenzeller, Katrin/ Kapitza Enno: „Horizonterweiterung“. Mercedes-Benz. 2016. https://www.mercedes-benz.com/de/mercedes-benz/lifestyle/mercedes-benz-magazine/ mercedes-benz-magazin/horizonterweiterung/ (21. 06. 2018). Abb. 2. Crowder, Crystal: „15 Ways To Broaden Your Horizons & Become A Better Person“. Bolde. 2015 https://www.bolde.com/15-ways-to-broaden-your-horizons/ (21. 06. 2018). Abb. 3. „Dax macht Boden gut. Wieder etwas Licht am Horizont“. ARD. https://boerse.ard.de/ marktberichte/wieder-etwas-licht-am-horizont-100.html. (21. 06. 2018).
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Horizonterweiterungen Sozialgeographische Annäherungen an die kindliche Raumaneignung im Kontext Offener Kinder- und Jugendarbeit Und es ist nachdenkenswert, was es für ein Kind bedeutet, in einem Hinterhof aufzuwachsen, wo eine Zeile von Waschräumen und eine Mauer seinen Horizont bilden.¹
1936 wurde der englische Schriftsteller George Orwell vom Left Book Club, einer britischen Buchgemeinschaft, die für Weltfrieden und gegen Faschismus kämpfte, beauftragt, „an Ort und Stelle zu beobachten“, wie Arbeiterinnen und Arbeiter „im Alltag arbeiten und wohnen und überleben“.² Die Ergebnisse seiner Sozialreportage in den nordenglischen Bergwerken, Industrien und Wohngegenden schrieb er im Buch Der Weg nach Wigan Pier nieder. Beim Lesen dieses Klassikers erhält man heute nicht nur Einblicke in den damaligen Alltag von Erwachsenen, sondern es scheinen auch ab und an Bezüge zu den Verhältnissen auf, unter denen die Kinder der Arbeiterklasse aufwuchsen: Deutlich wird, wie kurz die Lebensphase im Vergleich zu heute war, da bereits Kinder arbeiten mussten, und wie das Kind-Sein geprägt war durch beengte Bedingungen. Konkretisieren lässt sich diese Beengtheit nicht nur hinsichtlich der eingegrenzten und eingrenzenden ökonomischen Voraussetzungen der Arbeiterfamilien sowie der mangelnden sozialen Mobilität. Sondern die Spielräume und Möglichkeiten von Kindern waren auf einer ganz konkreten Ebene begrenzt. Für das kindliche Spiel blieb wenig Zeit. Orte für Kinder gab es in den sich rasant entwickelnden Städten kaum. Das konkrete Wohnumfeld konnten Kinder nur innerhalb dieser Begrenztheit für sich in Anspruch nehmen. Innerhalb überfüllter Wohnungen, die von schlechter baulicher und hygienischer Qualität und von Erwachsenen belegt waren, gab es kaum Nischen für Kinder, also wichen sie auf die Straßen und Hinterhöfe der Arbeitersiedlungen aus. Damit endete ihr Horizont ganz konkret an einer Mauer oder einer Zeile von Waschräumen, aber auch in symbolischem Sinne in den Hinterhöfen der Gesellschaft, so Orwell.³ Meinen beiden Kolleginnen Heidi Furrer und Christina Vellacott möchte ich vielmals danken für ihre hilfreichen thematischen Anregungen zu den Vorgänger-Versionen ebenso wie für die Unterstützung bei der Recherche und sprachlichen Überarbeitung des Textes. Orwell, George/ Manfred Papst: Der Weg nach Wigan Pier. Zürich: Diogenes 1982. S. 58. Orwell/ Papst: Weg. Siehe Einband. Vgl. Orwell/ Papst: Weg. S. 48 – 49. https://doi.org/10.1515/9783110553291-006
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Dieses historische Beispiel verweist auch auf eine zentrale sozialarbeiterische Herausforderung, indem sichtbar wird, dass der Horizont eines Kindes – sowohl konkret als Blickfeld wie auch symbolisch als Möglichkeitsperspektive der eigenen biographischen Entwicklung⁴ – immer auch abhängig ist von den sozialen Verhältnissen, in denen ein Kind aufwächst. Will Soziale Arbeit dazu beitragen, dass ein Kind seinen Horizont erweitern kann, muss deshalb zuerst transparent gemacht werden, in welchen sozialen Verhältnissen die jeweiligen Betroffenen leben und somit welche Möglichkeiten ihnen überhaupt offenstehen. Davon abgeleitet ist zu klären, wie die eigene Rolle bei diesem Prozess der Erweiterung von biographischen und sozialen Möglichkeiten verstanden wird. Exemplarisch soll diese Auseinandersetzung Sozialer Arbeit im vorliegenden Beitrag anhand des Handlungsfeldes der Offenen Kinder- und Jugendarbeit beschrieben werden. Ausgangspunkt ist ein Blick in das Handlungsfeld im Hier und Jetzt, indem versucht wird zu verstehen, ob (und falls ja, wie) mit dem Horizontbegriff gearbeitet wird und welche Bedeutungen er einnimmt: im Spektrum vom ganz konkreten Bereich, den ein Kind entsprechend seinem Lebensalter und seinem Entwicklungsgrad visuell überblickt, oder aber als symbolischen Möglichkeitsbereich. Mit anderen Worten soll dargestellt werden, wie Akteure und Akteurinnen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit denken, dass sich Kinder „die Welt“ aneignen und wie sie entsprechend versuchen, professionell-unterstützend zu wirken mit dem Ergebnis, das Blickfeld eines Kindes zu erweitern. Daran anschließend sollen die Erkenntnisse systematischer auf ein sozialpädagogisches Konzept der Horizonterweiterung bezogen werden.
Auf einer Alltagsebene wird dieser symbolisch geprägte Horizontbegriff beispielsweise in Redewendungen in Form eines „engen“ oder „weiten“ Horizonts sichtbar oder in der Vorstellung, (s)einen Horizont permanent erweitern/öffnen zu können/zu müssen. Synonyme wie Bildungsgrad, Blickfeld, Kenntnis, Auffassungsgabe oder Bildungsniveau vermögen die Möglichkeitsperspektive der eigenen – biographischen bzw. sozialen – Entwicklung weiter zu konturieren. Es ist – im Sinne einer Klammerbemerkung – interessant, dass ein Mensch dazu angehalten ist, im Laufe seines Lebens seinen Horizont permanent zu erweitern. Ein Festhalten am eigenen Horizont wird mit einem Entwicklungs- oder Denk-Stillstand gleichgesetzt, ein Streben nach einer Ausweitung im Sinne eines Größerwerdens, einer Ausdehnung, gesellschaftlich erwartet.
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1 Erweiterung des Horizonts bei Kindern – Mögliche sozialpädagogische Denkmuster am Beispiel der Offenen Kinder- und Jugendarbeit In der deutschsprachigen Offenen Kinder- und Jugendarbeit wird der HorizontBegriff selten explizit verwendet (bspw. im gesamten Handbuch Kinder- und Jugendarbeit, dem Standardwerk für dieses Handlungsfeld, nur fünf Mal⁵). Die wenigen Beispiele zielen auf unterschiedliche Bedeutungsgehalte, indem Jugendarbeit bei Bildungsmaßnahmen am „individuellen Bewusstseinshorizont der Kinder/Jugendlichen“ ansetzen soll, damit diese für Kinder und Jugendliche überhaupt zugänglich sind.⁶ In diesem ersten Beispiel wird die Perspektive einzelner Kinder betont, ähnlich wie beim Einstiegsbeispiel von Orwell. Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeiter sind aufgefordert zu verstehen, wie die jeweiligen biographischen und sozialen Verhältnisse, in denen ein Kind aufwächst, ein Bild von Welt und damit einen Horizont erzeugen (wobei anzunehmen ist, dass Horizont eher in symbolischer Art aufgefasst wird, denn das Bewusstsein ist auf konkreter Ebene kaum fassbar). In der Offenen Kinder- und Jugendarbeit ist die Rede jedoch auch von einem „gemeinsamen Erfahrungshorizont“⁷, den Gruppen von Kindern und Jugendlichen haben (können) und ebenfalls erschlossen werden muss. Dieser „gemeinsame[r] Horizont“⁸ muss geschaffen werden, um die „Integration unterschiedlicher Positionen“ der Teilnehmenden eines Angebots zu ermöglichen, damit die Basis entsteht, um Konflikte auszutragen.⁹ Durch gezielte Forschung sollen des Weiteren die „Wirkungshorizonte“ von Angeboten von Ju-
Vgl. Deinet, Ulrich/ Sturzenhecker, Benedikt (Hrsg.): Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit. Wiesbaden: Springer VS 2013. Lindner, Werner (Hrsg.): Kinder- und Jugendarbeit wirkt. Aktuelle und ausgewählte Evaluationsergebnisse der Kinder- und Jugendarbeit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008. S. 172. Cloos, Peter/ Stefan Köngeter: „‚uns war ma langweilig, da ham wir das JUZ entdeckt‘. Empirische Befunde zum Zugang von Jugendlichen zur Jugendarbeit“. In: Kinder- und Jugendarbeit wirkt. Aktuelle und ausgewählte Evaluationsergebnisse der Kinder- und Jugendarbeit. Hrsg. von Werner Lindner. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften/ GWV Fachverlage GmbH 2008. S. 85. Sting, Stephan/ Sturzenhecker, Benedikt: „Bildung und Offene Kinder- und Jugendarbeit“. In: Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit. Hrsg. von Ulrich Deinet und Benedikt Sturzenhecker. Wiesbaden: Springer VS 2013. S. 384. Ebd., S. 384.
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gendarbeit ermittelt werden, um die Ressourcen effizienter einzusetzen¹⁰ – oder es werden Leistungen und die Strukturdaten „im Horizont amtlicher Daten“¹¹ aufgezeigt. Schließlich soll sich das Handlungsfeld „im Horizont der aktuellen Umwälzungen des Bildungs-, Erziehungs- und Sozialwesens“¹² strategisch ausrichten und seinen gesellschaftlichen Auftrag umsetzen. Zusammenfassend bedeutet dieser Einblick in die jugendarbeiterischen Diskurse, dass die Verwendung des Begriffs in einer diffusen Art und Weise und kaum reflektiert geschieht. Es ist davon auszugehen, dass „Horizonterweiterung“ bisher noch kein sozialpädagogisches Konzept darstellt – zumindest nicht systematisch in der Offenen Kinderund Jugendarbeit. In den Blick geraten individuelle und gruppenbezogene Sichtweisen und Deutungen von Welt, die es als Kinder- und Jugendarbeit zuerst zu verstehen gilt, oder es geht um professionsstrategische Überlegungen. Im Gegensatz zu Orwell, welcher immer auch auf die ausgrenzenden und unterdrückenden gesellschaftlichen Verhältnisse aufmerksam machte, werden in der aktuellen Kinder- und Jugendarbeit als etabliertes Element sozialpolitischer Leistungen diese strukturellen Dimensionen kaum betrachtet, wenn von Horizont die Rede ist. Betrachtet man die Diskussionen innerhalb des Handlungsfelds ein wenig genauer, so werden implizit Vorstellungen erkennbar, wie in der kindlichen Entwicklung Horizonte erweitert werden, welche Rolle die Jugendarbeitenden dabei einnehmen und wie sich dadurch die Raumwahrnehmung und Aneignung des Raums verändert. Aber auch hier bleiben Vorstellungen, wie über gesellschaftsverändernde oder politische Aktionen auf die strukturellen Zusammenhänge und damit auf eine Erweiterung von Lebensperspektiven von Kindern und Jugendlichen eingewirkt werden kann, kaum beleuchtet. Diese Annahmen sollen in der Folge genauer ausgeführt werden. Entlang von drei exemplarischen Mustern wird illustriert, wie Erwachsene (Pädagoginnen und Pädagogen) sich die Horizonterweiterung bei Kindern vorstellen. Ausgangspunkt ist jeweils eine für das entsprechende Muster typische kinderrelevante oder kinderspezifische Ausgangs-
Corsa, Mike/ Freitag, Michael: Lebensträume – Lebensräume. Bericht über die Lage der jungen Generation und die evangelische Kinder- und Jugendarbeit. Vorgelegt der 7. Tagung der 10. Synode der EKD vom 2. bis 5. November 2008 in Bremen. Hannover: Ed. Aej 2008 (Aej-Studien 8). S. 98. Pothmann, Jens/ Züchner, Ivo: „Standortbestimmung NRW. Das Personal in der Kinder- und Jugendarbeit im Horizont amtlicher Daten“. In: Das Personal der Kinder- und Jugendarbeit. Jugendhilfe in NRW – Erfahrungen, Einsichten, Herausforderungen. Hrsg. von Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen. Münster 2002. S. 11– 30. Pothmann, Jens/ Schmidt, Holger: „Datenlage zur Offenen Kinder- und Jugendarbeit – Bilanzierung empirischer Erkenntnisse“. In: Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit. Hrsg. von Ulrich Deinet und Benedikt Sturzenhecker. Wiesbaden: Springer VS 2013. S. 545.
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geschichte aus der deutschsprachigen Kinderliteratur. Diese Geschichten weisen jeweils eine geographische Konnotation auf und beinhalten als solche eine Horizontvorstellung – konkreter und manchmal auch symbolischer Art. In diesen Geschichten wird darüber hinaus ein bestimmtes Beziehungsverhältnis zwischen dem Erwachsenen und dem Kind deutlich. Das jeweilige Muster der Horizonterweiterung wird schließlich anhand entsprechender Beispiele aus der Praxis der Offenen Kinder- und Jugendarbeit im Kontext von „Fremdheit“ genauer illustriert. „Fremdheit“ kann sich, wie ausgeführt wird, ganz unterschiedlich ausprägen, indem sich diese bspw. in Form von fehlender Kenntnis und Erfahrungen von Jugendarbeitenden im Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund äußert oder indem diese bei gemeinsamen Erlebnissen in fremden Ländern oder Kontexten fern vom Alltag (wie in Ferienlagern oder Schüleraustausch) entsteht.
Horizonterweiterung 1: Der Pädagoge oder die Pädagogin bringt als Allwissender oder Allwissende „die Welt“ in die Schulstube des naiven Kindes Geographie für Kinder Die Erdbeschreibung, oder wie man sie auch mit einem fremden Worte nennt, die Geographie gibt euch Nachricht, liebe Kinder von der Beschaffenheit des Erdbodens. Man erzählt euch darin etwas von Dörfern und Städten, und ihren Einwohnern; von Flüssen und Meeren, von Bergen und Wäldern, und noch von hundert andern merkwürdigen Dingen. Man lässt euch sehen und hören, was gescheidte Leute von einem Lande und von einer Stadt gesehen und gehöret haben. Man sagt euch, was für Dinge in einem Lande wachsen, oder darin gemacht werden. Man zeigt euch an, wie viel [sic!] Leute in einer Stadt, oder in einem ganzen Lande wohnen. Bald redet man mit euch von dem Fleiße der Menschen in ihren verschiedenen mühsamen und zum Theile gefährlichen Arbeiten. […] Man wird euch mit dem Reichthume und dem Segen bekannt machen, welchen Gott in den Erdboden und auf die Arbeit der Menschen gelegt hat. Oder wollet ihr lieber unwissend bleiben, wie jene Kinder, welche in ihrem achten Jahre noch glaubten, hinter den Bergen und Wäldern habe die Erde ein Ende, oder sey wenigstens daselbst mit Brettern verschlagen? Und die, so oft sie zu ihrer Stadt oder ihrem Dorfe hinaus gehen sollten, sich fürchteten, von wilden Katzen, Löwen und Bären gebissen zu werden? […] Vor allem, liebe Kinder, müsset ihr wissen, was ein Land, eine Stadt, ein Dorf ist.¹³
In der Einführung Geographie für Kinder des deutschen Pädagogen Georg Christian Raff (1748 – 1788) zeichnet sich ein erstes Muster ab, wie die Horizonterweiterung von Kindern gedacht werden kann (und heute vielfach noch immer ge Raff, Georg Christian: Geographie für Kinder zum Gebrauch auf Schulen. Tübingen: Christian Frank und Wilhelm Schramm 1818. S. 1– 2.
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dacht wird). Kinder werden – dies wird insbesondere in der direkten Ansprache des Autors deutlich – als naive, die Umwelt rezipierende Wesen gesehen, denen Wissen in Form von Faktenwissen vermittelt werden muss. Wird dies unterlassen, bleiben Kinder naiv – indem sie bspw. glauben, alles menschliche Leben beschränke sich auf die eigene Stadt, das eigene Dorf. Eine Vorstellung, die sich mit dem Bild einer Schachtel, die mit Menschen, Tieren, Pflanzen, Gebäuden, kurz allen körperlichen Dingen gefüllt ist, illustrieren lässt. Jenseits davon läge eine weitere Schachtel, die voller Gefahren ist und feindlich für die Menschen. Das Horizontverständnis ist in diesem Weltbild ein ganz konkretes, indem der Horizont einer Landschaft als begrenzter Gesichtskreis definiert wird: Anblick der Erde, Horizont. 1) Die Erde stellt sich dem Beobachter an ihrer Oberfläche bei ungehinderter Aussicht als eine große, fast ebene Fläche dar, die sich nach allen Richtungen hin gleichweit ausbreitet, also an ihren Grenzen einen Kreis bildet, in dessen Mittelpunkt sich der Beobachter befindet. 2) Jene kreisförmige Grenze, auf welcher das Himmelsgewölbe zu ruhen scheint, heißt der Gesichtskreis oder der (natürliche) Horizont. Der vom Horizont begrenzte, sichtbare Theil der Erdfläche wird Gesichts- oder Horizontalfläche genannt.¹⁴
Die Geographie, als Wissenschaft, welche „die Welt“ (verstanden als Alltagsschachtel des Kindes, im Sinne einer äußerlichen oder angrenzenden Schachtel) beschreibt und daraus hervorgehendes Wissen systematisch aufarbeitet, schafft die objektiven Grundlagen, d. h. Lehrinhalte, um aus naiven Kindern aufgeklärte Kinder zu machen. Der Lehrer erklärt hierzu durch die Vermittlung von Faktenwissen die konkreten Horizonte „der Welt“, d. h. wie die Erde bzw. „die Welt“ wirklich beschaffen ist und was sie zusammenhält. Diese Vermittlung von Wissen führt bei Kindern zu einer Erweiterung des Bewusstseins. Eine Erweiterung des Horizonts (also im symbolischen Sinne) – so lässt sich dieses erste Muster auf den Punkt bringen – geschieht dann, wenn Erwachsene qua ihrer professionellen Rolle objektivierbare Beschreibungen der Welt in Form von schulischem Wissen dahin bringen, wo das Kind lebt und lernt: vorderhand in die Schulstube. Wendet man dieses Muster auf die Offene Kinder- und Jugendarbeit an, würde es wohl darum gehen, das, was außerhalb der bekannten Alltagsschachtel liegt, also sozusagen „die Außenwelt“, „in die Lebenswelt“ von Kindern und Jugendlichen zu bringen. Hintergrund sind 250 Jahre gesellschaftliche und bildungstheoretische Entwicklungen (sowie mehrere PISA-Studien der OECD), die zu einem Bildungsverständnis geführt haben, welches das Lernen und den
Krammer, Franz u. a.: Von der alleinseligmachenden katholischen Kirche. Düsseldorf: Engels & Lensch 1857. S. 2– 3.
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Kompetenzerwerb längst nicht mehr nur auf die Schule beschränkt verortet,¹⁵ sondern sich auf andere „Bildungsorte und Lernwelten“ bezieht.¹⁶ Bildung wird […] nicht nur in formellen Bildungseinrichtungen erworben, sondern Bildung und Kompetenzerwerb finden auch in der alltagsnahen sozialen Umwelt, in der Kinder, Jugendliche und Erwachsene aufwachsen, leben und arbeiten, statt. Zu dieser Lebenswelt gehören Gemeinschaften, Veranstaltungen und Einrichtungen, die zwar nicht in erster Linie der Bildung dienen, die aber sozusagen sekundär diesen Zweck verfolgen […].¹⁷
Eine erfolgreiche Bildung und Förderung junger Menschen in der Schule gelingt dann, „wenn die Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen ganzzeitlich als Bildungsgefüge gesehen und in die pädagogischen Aktivitäten einbezogen werden“.¹⁸ Offene Kinder- und Jugendarbeit setzt nicht in der Schule, sondern im Freizeitbereich von Kindern und Jugendlichen an. Die Frage der Horizonterweiterung von Kindern beginnt deshalb auch im außerschulischen Bereich. Sucht man in Jugendarbeitsdiskussionen nach Hinweisen zum ersten Horizont-Erweiterungs-Muster, wird man in den 1970er Jahren fündig: Damals ging es im Rahmen der sogenannten Ausländerpädagogik darum, Gastarbeiterkinder zu integrieren.¹⁹ Die Ausländerpädagogik war ein Konzept, „das die Integration der Ausländerkinder assimilativ-kompensatorisch verstand“.²⁰ Das Ziel der Ausländerpädagogik war es, „Defizite der Minderheitenkinder“ (der sog. „Gastarbeiterkinder“) durch Anpassung an die kulturellen Standards („Normalitätserwartungen“) der „Mehrheitskinder“ auszugleichen.²¹ In solchen Ansätzen wurden die Einwanderer als kulturell Fremde wahrgenommen, wobei von ihnen verlangt wurde, dass sie sich an die Kulturen der Aufnahmegesellschaft anpassen. Dies war jedoch nicht ohne weiteres möglich, da gerade bei Kindern und Jugendlichen aus Einwande-
Vgl. Lindner, Werner/ Sturzenhecker, Benedikt (Hrsg.): Bildung in der Kinder- und Jugendarbeit. Vom Bildungsanspruch zur Bildungspraxis. Weinheim/München: Juventa-Verlag 2004. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: 12. Kinder- und Jugendbericht. Bundestags-Drucksache 15/6014 mit Stellungname der Bundesregierung. Berlin 2005. S. 121. Tippelt, Rudolf: „Bildung als pädagogisches Anliegen“. In: Kinder- und Jugendarbeit als Bildungsprojekt. Hrsg. von Werner Lindner, Werner Thole und Jochen Weber. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2003. S. 40. Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe: „Zusammenarbeit von Jugendarbeit und Schule. Bericht über gemeinsame Beratungen von KMK und AGJ“. In: Jugendhilfe und Bildung – Kooperation Schule und Jugendhilfe. Hrsg. von Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe. Berlin: Eigenverlag AGJ 2004. S. 55 f. Vgl. Griese, Hartmut M./ Brumlik, Micha: Der gläserne Fremde. Bilanz und Kritik der Gastarbeiterforschung und Ausländerpädagogik. Opladen: Leske und Budrich 1984. Ebd., S. 207. Ebd., S. 227.
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rerfamilien vielfältige Defizite, bspw. hinsichtlich der Bildung, der Sozialisation oder auch der Integrationsmöglichkeit, unterstellt wurden. „Die Welt“ des (Ausländer‐)Kindes wurde als eine fremde Welt gesehen und die Fremdheit durch das Gastarbeiter-Milieu noch erhöht. Als „fremd“ angesehen wurden in erster Linie die sprachlichen Bildungsvoraussetzungen oder die in der Region der Herkunft verankerten Traditionen oder Glaubensüberzeugungen. Betrachtet wurden diese Ausdrucksformen zunächst als Defizite: als Unzulänglichkeiten gegenüber der Vorstellung darüber, welche ‚normalen‘ Voraussetzungen in Verhalten, Kenntnissen und Fähigkeiten ein Kind oder Jugendlicher mitbringe, so dass an diesen fraglos beim praktischen pädagogischen Handeln angeknüpft werden kann.²²
Während es im einführenden Beispiel der Geograph ist, der selbst weit gereist ist oder sein Wissen durch das Studium von Büchern angehäuft hat und dadurch „die Welt“ außerhalb der kindlichen Lebenswelt kennt und dem Kinde vermitteln kann, war es in der Ausländerpädagogik der Pädagoge oder die Pädagogin, bspw. der Jugendarbeitende, der diese Rolle einnahm. Ähnlich wie „Kolonialherren in eine Stammesgesellschaft“²³ drangen Ausländerpädagogen und -pädagoginnen in die „von außen (fremde) Lebenswelt ein“ und erzwangen „die Assimilation“²⁴ – oder eben die Erweiterung des Horizonts – der Ausländerkinder. Die sogenannte Ausländerpädagogik wird heute weitgehend als eine unangemessene „Praxis pädagogischer Einwirkung“ verstanden.²⁵ Dennoch basieren auch heute noch viele Praxen und Diskurse unter der Leitformel „Integration“ auf der impliziten Vorstellung von Defiziten, die bei Menschen mit Migrationshintergrund vorzuliegen scheinen.²⁶ So werden durch Mentoring-Programme Migrantinnen und Migranten bei der „sozialen und beruflichen Integration“ von Freiwilligen unterstützt. Bei den Programmen sollen Kompetenzen wie Verbindlichkeit, Pünktlichkeit, Selbstmanagement und Präsentationsfähigkeit erworben werden, um in den Schweizer Arbeitsmarkt integriert werden zu können. Diese Programme beinhalten also die indirekte Implikation, dass es den geflüchteten
Gogolin, Ingrid/ Krüger-Potratz, Marianne: Einführung in die interkulturelle Pädagogik. Opladen: Barbara Budrich 2010. S. 297– 298. Griese/ Brumlik: Der gläserne Fremde. S. 198. Ebd., S. 198. Mecheril, Paul/ Rigelsky, Bernhard: „Nationaler Notstand, Ausländerdispositiv und die Ausländerpädagogik“. In: Jugend, Zugehörigkeit und Migration. Subjektpositionierung im Kontext von Jugendkultur, Ethnizitäts- und Geschlechterkonstruktionen. Hrsg. von Christine Riegel und Thomas Geisen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007. S. 76. Ebd., S. 76.
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Menschen oder den Menschen mit Migrationshintergrund an diesen Kompetenzen mangelt oder diese gänzlich fehlen.²⁷
Horizonterweiterung 2: Der Pädagoge oder die Pädagogin geht mit dem Kind in „die Welt“ hinaus. Mit klassischem Verhältnis von Kindern und Erwachsenen als Unwissende und Wissende erfahren sie gemeinsam „die Welt“ Piggeldy & Frederick²⁸ – „Der Himmel“ Piggeldy wollte wissen, wo der Himmel anfängt. „Frederick“, fragte Piggeldy seinen großen Bruder. „Frederick, zeig mir, wo der Himmel anfängt“. „Nichts leichter als das“, antwortete Frederick. „Komm mit“. Piggeldy folgte Frederick. „Wir gehen bis ans Ende dieser Straße“, erklärte Frederick. „Und wo die Straße aufhört, da fängt der Himmel an.“ „Prima“ freute sich Piggeldy, „dann sind wir ja bald da“. […] „Wann fängt der Himmel nun endlich an, Frederick?“, fragte er. „Geduld, Bruder“, sagte Frederick. Als der Himmel aber noch immer nicht anfangen wollte, fing Piggeldy wieder an. „Frederick, ich glaube, der Himmel fängt überhaupt nicht an.“ „Dummes Zeug“, brummte Frederick. „Frederick“, jammerte Piggeldy „ich bin schon ganz schlapp. Können wir nicht etwas ausruhen, bevor wir an den Himmel kommen?“ „Ach Quatsch“, sagte Frederick. „Wir sind ja bald da.“ „Fein“, freute sich Piggeldy. „Bekommt man im Himmel auch was zu fressen?“ „Ich weiß es nicht“, überlegte Frederick zweifelnd. „Ich habe noch nie etwas vom Himmlischen Fressen gehört.“ Schließlich kamen sie an ein großes Wasser. „Das ist Pech“, stellte Frederick fest. „Es ist noch ein großes Wasser zwischen dem Himmel und uns. Aber dort hinten, wo das Wasser aufhört, dort fängt ganz bestimmt der Himmel an. Vielleicht können wir ja hinüber schwimmen.“ Piggeldy tauchte seinen rechten Vorderfuß ins Wasser. „Brrrr“, schüttelte er sich. „Ist das aber kalt. Und Schwimmen kann ich sowieso nicht.“ „Dann können wir eben nicht da hin, wo der Himmel anfängt“, entschied Frederick. „Das hättest Du vorher sagen sollen“, murrte Piggeldy. Und Piggeldy ging mit Frederick nach Hause.²⁹
Vgl. Verein Lernwerk: „Mentoring“. https://www.lernwerk.ch/soziale-integration-mentoring. html (20.12. 2017). Piggeldy und Frederick war eine in den 1970er Jahren von der ARD produzierte Kindersendung mit zwei gleichnamigen Schweinen in den Hauptrollen. „Piggeldy verkörpert in den Episoden das lernbegierige kleine Schwein, das seinen großen Bruder Frederick mit Fragen löchert. Zu Beginn jeder Folge stellt Piggeldy eine ganz konkrete Frage. Die Antwort Fredericks lautet dann jedes Mal: ‚Nichts leichter als das, komm mit.‘ Daraufhin setzen sich die beiden Hausschweine in Bewegung, Frederick stellt Piggeldys Geduld zunächst durch einen langen Weg auf die Probe (‚Und sie gingen und gingen und gingen‘). Dann versucht Frederick mit mehr oder weniger großem Erfolg, Piggeldys Frage und seine Nachfragen zu beantworten. Der Erzähler beendet jede Kurzgeschichte mit dem Satz: ‚Und Piggeldy ging mit Frederick nach Hause‘.“ (Academic dictionaries and encyclopedias: Piggeldy. http://deacademic.com/dic.nsf/dewiki/1109886). Piggeldy und Frederick. „Der Himmel.“ https://www.youtube.com/watch?v=oP6QMhPP_vE (22.01. 2018).
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Frederick, der ältere Bruder von Piggeldy, holt nicht wie der erwachsene Geographie-Lehrer aus dem vorherigen Beispiel „die Welt“, d. h. Wissen über naturwissenschaftliche und objektivierbare Zusammenhänge, in die räumlichen Container des kindlichen Lebens (also der Schule oder der Lebenswelt), sondern er macht sich gemeinsam mit dem jüngeren Schwein auf „hinaus in die Welt“. Was hier mit dem symbolischen „Laufen bis an den Anfang des Himmels“ dargestellt wird, ist eine schöne Bebilderung des gemeinsamen Erfahrens des Kindes und des Erwachsenen. Wobei im konkreten Beispiel zu relativieren ist, dass Frederick sich zwar wie ein Erwachsener aufführt (indem er allwissend scheint), sich dabei jedoch als älterer Bruder maßlos überschätzt. Im gemeinsamen Tun soll eine Erweiterung des Wissens und des Bewusstseins stattfinden – lautet der pädagogische Grundsatz. Nicht aufgelöst werden in diesem Muster hingegen die klassischen Rollen in diesem pädagogischen Verhältnis: Der große Bruder weiß (vermeintlich), wie „die Welt draußen“ ist und führt den kleinen Bruder da hin. Letzterer ist nicht-wissend, naiv und kann es kaum erwarten, seinen Wissensdurst stillen zu können. Wie in den meisten Episoden von Piggeldy und Frederick wird dieses Verhältnis am Ende auf schelmische Art und Weise hinterfragt, indem die beiden Schweine unverrichteter Dinge nach Hause laufen. Der überheblich wirkende Ausspruch „Nichts leichter als das“ erhält dadurch eine bissige Pointe – und zeigt auf, wie Kinderfragen auf klassisches Wissen bauende Welt- und Horizontvorstellungen aushebeln können. Dem Erwachsenen bliebe lediglich zu sagen: „Das weiß ich nicht“, was jedoch viel Reflexionsvermögen und den Willen zu relativieren braucht – auch die Relativierung der eigenen Überlegenheit. Offene Kinder- und Jugendarbeit hat seit dem zweiten Weltkrieg die verschiedensten Formate entwickelt, die an diesem zweiten Muster ansetzen, indem es darum geht, Kinder und Jugendliche zumindest zeitweise aus ihrem Alltag herauszuholen und mit ihnen gemeinsam eine Erfahrung zu machen, die das Bewusstsein resp. Denken erweitert bzw. erweitern soll. Abenteuerreisen und erlebnispädagogische Angebote stellen solche möglichen Praxen dar. Die Idee hinter solchen Austauschprogrammen besteht darin, dass durch Erfahrung gelernt werden soll. Die Vorstellungen der Veranstalter bezüglich dessen, was gelernt werden soll, gehen jedoch weit auseinander. Selten wird auf die Interessen der Teilnehmenden eingegangen – der Glaube dominiert, dass primär die Begegnung mit Menschen aus anderen nationalen Kontexten eine horizonterweiternde Wirkung zeigt.³⁰ Oftmals wären Aufenthalte nicht gut durchdacht und
Vgl. kritisch Gaitanides, Stefan: „Interkulturelle Teamentwicklung – Beobachtungen in der Praxis“. In: Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. Hrsg. von Georg Auernheimer. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010. S. 162.
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verfolgten nicht die angestrebten Ziele. Diese würden nur erreicht, wenn die Akteure und Akteurinnen nicht nur oberflächlich ins Gespräch kommen würden, sondern das Setting eine systematische Aufarbeitung der kulturellen Differenzen sowie das Abbauen von Vorurteilen zulassen würde.³¹ Vorurteile könnten durch den nichtreflektierten Umgang sogar verfestigt werden, daher stellen die Vorbereitung und Reflexion unabdingbare Voraussetzungen für Austauschprogramme dar.³² Diese Kritik jugendarbeiterischer Formate, die das zweite Muster auch auf konkreter Ebene – mit einer Bewegung von der Raumschachtel, in welcher der (oftmals belastete) Alltag stattfindet, hinaus „in die Welt“ (d. h. die den Alltag umgrenzende oder an den Alltag angrenzende Schachtel) – aufgreifen, lässt sich auf viele an kulturübergreifenden Maßnahmen und Angeboten ansetzende Formate der Offenen Kinder- und Jugendarbeit ausweiten. Offene Kinder- und Jugendarbeit versucht sich in vielen Fällen zwar an „einer Haltung des Respekts und der Anerkennung im Verhältnis zu kulturellen, insbesondere zu religiösen und ethnischen Unterschieden zu orientieren. Sie hat aber zugleich den Auftrag, Jugendliche zu befähigen, bewusste, begründete und reflektierte Entscheidungen in Bezug auf kulturelle Vorgaben zu treffen“.³³ Deshalb ist eine Haltung der Toleranz und des Respekts zwar wichtig, aber nicht hinreichend. Vielmehr sollte sich eine zeitgemäße Jugendarbeit zur Aufgabe machen, „sich aktiv mit allen Strukturen, Praktiken, Ideologien und Vorurteilen auseinanderzusetzen, die dazu führen, dass die Möglichkeiten von Kindern und Jugendlichen, einen selbstbestimmten Lebensentwurf zu entwickeln und zu realisieren, [nicht] eingeschränkt werden“.³⁴
Horizonterweiterung 3: Auflösung des klassischen Verhältnisses von Kindern und Erwachsenen als Unwissende und Wissende, indem beide sich anders in Beziehung zur „Welt“ und damit zu sich selbst setzen Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer Sechzehntes Kapitel: in dem Jim Knopf eine wesentliche Erfahrung macht. Als sie eine Weile unterwegs waren und die Sonne sich anschickte hinter dem Horizont zu versinken, fiel Jim etwas Merkwürdiges auf. Bisher waren die Geier ihnen beständig hoch
Ebd. Ebd., S. 163. Scherr, Albert: „Interkulturelle und antirassistische Ansätze in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit“. In: Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit. Hrsg. von Ulrich Deinet und Benedikt Sturzenhecker. Wiesbaden: Springer VS 2013. S. 252. Ebd., S. 252.
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oben in der Luft gefolgt, aber nun drehten plötzlich alle zugleich um und flogen davon. Sie schienen es sogar besonders eilig zu haben. Am Horizont stand ein Riese von so ungeheurer Größe, dass selbst das himmelhohe Gebirge neben ihm wie ein Haufen Streichholzschachteln gewirkt hätte. „Oh!“, stiess Jim hervor. „Das ist keine Fata! Schnell fort, Lukas! Vielleicht hat er uns noch nicht gesehen.“ „Immer mit der Ruhe!“, erwiderte Lukas. „Ich finde“, stellte er fest, „außer seiner Grösse sieht der Riese ganz manierlich aus.“ „W…w…was?“, stotterte Jim entsetzt. „Nun ja“, meinte Lukas ruhig, „bloß weil er so groß ist, braucht er doch noch lange kein Ungeheuer zu sein.“ Jetzt ließ sich der Riese am Horizont auf die Knie nieder und rief mit flehentlich gefalteten Händen: „Ach bitte, bitte, glaubt mir doch! Ich will euch nichts tun, ich will nur mit euch reden. Ich bin so allein, so schrecklich allein!“ „Der arme Kerl kann einem ja leidtun“, sagte Lukas. „Ich werd ihm mal winken, damit er merkt, dass wir nichts Böses im Sinn haben.“ Der Riese kam Schritt für Schritt näher und bei jedem Schritt wurde er ein Stückchen kleiner. Als er etwa noch hundert Meter entfernt war, schien er nicht mehr viel größer zu sein als ein hoher Kirchturm. Nach weiteren fünfzig Metern hatte er nur noch die Höhe eines Hauses. Und als er schließlich bei Emma anlangte, war er genauso groß wie Lukas der Lokomotivführer. Er war sogar einen halben Kopf kleiner. Vor den beiden staunenden Freunden stand ein magerer alter Mann mit einem feinen und gütigen Gesicht.³⁵
Auch Jim Knopf und sein erwachsener Freund, der Lokomotivführer Lukas, sind unterwegs in fremden Ländern, mit Emma, der kleinen Dampflokomotive. Bei ihren Abenteuern begegnen ihnen seltsame Wesen und unbekannte Phänomene. Liest man die Geschichte des Scheinriesen „Tur Tur“ fällt sofort auf, dass Lukas eine ganz andere Haltung einnimmt als diejenige, die wir vom Geographen aus der ersten oder Frederick aus der zweiten Geschichte her kennen. Lukas versucht Jim nicht belehrend etwas beizubringen. Vielmehr wird angesichts des unbekannten Phänomens sein eigener Entdeckergeist geweckt.Was steckt hinter dieser Erscheinung? Anstatt wegzulaufen, will er es genau wissen. Er versucht dabei, die Angst von Jim in eine neugierige und offene Haltung gegenüber Fremdem umzuwandeln. Und das Aushalten der Unsicherheit gibt ihm recht – gegenüber steht kein Monster, sondern ein freundlicher alter Herr, der überaus einsam ist angesichts seiner abschreckenden Wirkung. Hinsichtlich des Raumbegriffs beinhaltet die Geschichte des Scheinriesen eine weitere Pointe. Indem dieser umso kleiner wird, je näher er zum Betrachtenden kommt, dreht er die naturwissenschaftlichen Regeln zur Perspektive³⁶ komplett um. Auf physisch-materielle Phänomene ge Ende, Michael: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer. Stuttgart/Wien: Thienemann 1990. S. 124– 129. Im Duden wird Perspektive folgendermaßen erklärt: „mittellateinisch perspectiva (ars), eigentlich = durchblickend(e Kunst), zu spätlateinisch perspectivus = durchblickend, zu lateinisch perspicere = mit dem Blick durchdringen, deutlich sehen 1. den Eindruck des Räumlichen hervorrufende Form der (ebenen) Abbildung, der Ansicht von räumlichen Verhältnissen, bei der Parallelen, die in die Tiefe des Raums gerichtet sind, verkürzt werden und in einem Punkt zusammenlaufen, 2. (bildungssprachlich) Betrachtungsweise oder -möglichkeit von einem be-
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münzt heißt das, dass wir dem, was wir sehen (und aus dem Geometrieunterricht wissen) nicht einfach blind vertrauen sollen – vielmehr lohnt es sich, sich überraschen zu lassen, neue Dinge zu entdecken. Vielleicht ist weit weg und groß aus der Nähe betrachtet klein und ungefährlich. Die naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten lassen sich in einer Kindergeschichte wie Jim Knopf ebenso aushebeln wie im kindlichen Spiel. Für einen sozialpädagogischen Zugang zum dritten Muster kindlicher Horizonterweiterung bedeutet dies, dass man sich als Erwachsener, um ähnlich phantasievolle Zugänge zu erleben wie Kinder und um eine Bewusstseinserweiterung zu erfahren, anders zur „Welt“ in Beziehung setzen muss. Klare Positionen stehen ebenso zur Disposition wie die Verhältnisse zwischen dem Lernenden und dem Lehrenden. Auch wird „die Welt“ anders verstanden, indem diese nicht irgendwo außerhalb der Schulstube oder der Lebenswelt beginnt, sondern sich sowohl der Lehrer wie auch der Schüler in „der Welt“ befinden und diese alltäglich mitkonstruieren. Konsequenterweise leitet sich daraus auch eine andere als die im ersten Muster beschriebene Vorstellung vom Prozess der Horizonterweiterung ab. Die klare Abfolge, dass sich über die schulische Wissenszufuhr der symbolische Horizont der (biographischen) Möglichkeiten erweitert, steht bei diesem Muster zur Disposition. Dies kann in dieser klaren Abfolge geschehen, muss aber nicht – vorstellbar ist auch ein relationales Ineinandergreifen von konkreter und symbolischer Erweiterung des Horizonts. Bezieht man diese Überlegungen auf den bisher verfolgten Diskurs zum Umgang mit Fremden in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, bedeutet dies, dass „[e]in Verständnis von Kultur als in sich geordneter und geschlossener Kontext, in dem Kinder und Jugendliche aufwachsen, […] der Realität moderner Gesellschaften nicht mehr gerecht“ wird.³⁷ Erfahrbar wird heute für jedes Kind – auch ohne pädagogisches Zutun –, dass sich die Lebensstile der Menschen unterscheiden und vielfältig ausprägen. „Kinder und Jugendliche wachsen also in der modernen Gesellschaft mit einem selbstverständlichen Wissen über kulturelle Differenzen sowie in pluralisierten, heterogenen und dynamischen Kontexten auf, deren Abgrenzungen nach außen unklar und fließend sind“.³⁸ Eine auf diesem Grundverständnis aufbauende Offene Kinder- und Jugendarbeit setzt sogenannte hybride Identitäten an den Ausgangspunkt des Denkens über Entwicklungsprozesse, „d. h. Vermischungen von Elementen aus unterschiedlichen
stimmten Standpunkt aus; Sicht, Blickwinkel, 3. (bildungssprachlich) Aussicht für die Zukunft“ (vgl. https://www.duden.de/rechtschreibung/Perspektive, 20.12. 2017). Scherr: Ansätze. S. 249. Ebd.
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Zusammenhängen im Selbst- und Weltverständnis von Individuen“.³⁹ Während im ersten Muster angenommen wurde, dass „die Welt“ in das Umfeld von Kindern gebracht werden muss, im zweiten Muster mit dem Kind zusammen in „die Welt“ hinaus gegangen werden muss, um den Horizont zu erweitern, hinterfragt das dritte Muster genau diese Schachtel-Logik von „Welt“. Egal, ob sich der Pädagoge, die Pädagogin mit dem Kind im vertrauten, alltäglichen Umfeld befindet oder irgendwo auf der Reise in einem bisher unbekannten Land – die Herausforderung besteht darin, die alltägliche Konstitution von „Welt“ zu erschließen. Dazu muss der Erwachsene versuchen, Kinder und Jugendliche anders in Beziehung zu setzen mit sich selbst, den Personen und auch mit den Dingen, die sie umgeben. Durch diese (Neu‐)Positionierung scheint eine andere Weltbetrachtung möglich und der bisherige Bewusstseinskreis wird größer. Ermöglicht werden sollen die Horizonterweiterungen in diesem dritten Sinn durch „Lern- und Experimentierräume“, die die Offene Kinder- und Jugendarbeit zur Verfügung stellen soll. Offene Kinder- und Jugendarbeit muss hierzu auf eine Vielfalt unterschiedlicher Lebensgeschichten, Lebenssituationen, Lebensstile und Lebensentwürfe […] reagieren, die darin begründeten Ausdrucksformen, Kommunikationsweisen, Bedürfnisse und Interessen auf[zu]greifen sowie einen sozialen Raum [zu] gestalten, in dem ein diskriminierungsfreier und produktiver Umgang mit Differenzen und Konflikten möglich ist.⁴⁰
Eine solche jugendarbeiterische Perspektive der Horizonterweiterung knüpft an den konzeptionellen Überlegungen einer sogenannt reflexiven interkulturellen Pädagogik an. In der Reflexiven Interkulturalität werden Differenzen und Gegensätze nicht zum Verschwinden gebracht, die Unterschiedlichkeit und Gegensätzlichkeit von menschlichen Selbstdefinitionen wird nicht aufgehoben. Indem sowohl die neuen (Misch‐)Formen wahrgenommen werden […] als auch die Selbstveränderung durch Abgrenzung vom Anderen reflektiert […] wird, stellt sich eine Kultivierung der Unterschiedlichkeit ein, und diese wiederum ist Kulturalität. […] Schliesslich meint der Begriff Reflexive Interkulturalität nicht Anti-Interkulturalität, würde er damit doch nur die dogmatische Abschliessung einer bestimmten Kultur rehabilitieren oder die Relevanz von Kultur und kulturellen Selbstdefinitionen gänzlich leugnen. […] Reflexion heisst im Zusammenhang mit Interkulturalität also Nachdenken über das Rationalitätsmodell, das die Forderung nach Interkulturalität in Gang gebracht hat.⁴¹
Ebd., S. 250. Ebd., S. 253. Hamburger, Franz: „Das pädagogische Prinzip Interkulturalität“. In: Jugendarbeit in der Migrationsgesellschaft. Praxisforschung zur Interkulturellen Öffnung in kritisch-reflexiver Perspektive. Hrsg. von Andreas Thimmel und Yasmine Chehata. Schwalbach: Wochenschau 2015. S. 34– 35.
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2 Erweiterung des geistigen Bereiches in der kindlichen Entwicklung – raum- und aneignungstheoretische Bezugspunkte zum Horizontbegriff Es ist zu klären, wie Handelnde – jeweils von verschiedenen sozialen Positionen – täglich ihre eigene Geographie immer wieder neu entwerfen.⁴²
Um zu beschreiben, wie Kinder in „der Welt“ stehen, wie sie ihren konkreten und symbolischen Horizont erweitern können und wie Offene Kinder- und Jugendarbeit sie dabei unterstützen kann, eignen sich die drei skizzierten Muster nicht in gleichem Maße: Aus einer raumtheoretischen Perspektive erweisen sich insbesondere die beiden ersten Muster als problematisch, denn das Verständnis von Lebenswelt als Schachtel⁴³, oder wie es in der aktuellen raumtheoretischen Diskussion heißt als Container, kommt einer Reduktion gleich. Der Raum wird in diesem Verständnis als Naturraum betrachtet, d. h. als geographische Einheit, welche durch bestimmbare Parameter, sogenannter Geofaktoren, wie Klima, Relief,Wasserhaushalt, Boden, geologischer Bau oder Bios, bestimmt ist. Raum wird als naturgegeben, als Ding an sich aufgefasst, als dreidimensionaler, auf die euklidische Geometrie fußender Behälter, in welchem sich Dinge und Körper befinden und Menschen agieren. Zusammen mit der Zeit bildet ein solch physisch-geographisch verstandener Raum „das Raumwerk des Käfigs innerhalb dessen sich menschliches Leben entwickelt“⁴⁴. Auf der Basis dieses Raumverständnisses wird erstmal der konkrete Horizont einer Landschaft definiert „als ein vom Menschen erkannter Raum […] [der] von einem Zentrum aus überblickt [wird], dem Standpunkt des Menschen“⁴⁵. „Der Anblick eines Landstrichs als Landschaft“ erfordert deshalb einen „Horizont, der den sichtbaren Teil der Erde an den Himmel grenzen läßt“.⁴⁶ Die Erweiterung des symbolischen Horizonts – so wurde im ersten Muster sichtbar – geschieht dann, wenn Erwachsene qua ihrer
Werlen, Benno: Sozialgeographie. Eine Einführung. Bern, Wien: Haupt 2008. S. 281– 282. Vgl. Dörfler, Thomas: „Milieu und Raum. Zur relationalen Konzeptionalisierung eines sozioräumlichen Zusammenhangs“. In: Raumbezogene qualitative Sozialforschung. Hrsg. von Eberhard Rothfuss und Thomas Dörfler. Wiesbaden: Springer VS 2012. S. 34. Haggett, Peter: Geographie. Eine moderne Synthese. New York: Harper & Row 1991. S. 41. Küster, Hansjörg: Die Entdeckung der Landschaft. Einführung in eine neue Wissenschaft. München: C. H. Beck 2012. S. 12. Bahr, Hans Dieter: Landschaft. Das Freie und seine Horizonte. Freiburg/ München: Karl Alber 2014. S. 43.
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professionellen Rolle, dem Kind „die Welt“ dahin bringen, wo dieses lebt und lernt. Im zweiten Muster geschieht diese symbolische Erweiterung, indem man zusammen in „fremde Räume“ bzw. in die die Lebenswelt angrenzende oder umgrenzende Raumschachtel – also in einen bisher unbekannten Container – geht und da neue konkrete Horizonte kennenlernt. Bei diesen ersten beiden Mustern rücken „die räumliche Ordnung oder die räumlichen Lagebeziehungen der Objekte oder Gegebenheiten, die als Objekte behandelt werden“⁴⁷, in den Blick. Die Frage des handelnden Kindes und die (Möglichkeiten der) Erweiterung des symbolischen Horizonts bleiben dadurch immer abhängig von naturräumlichen Voraussetzungen – eine Erweiterung des symbolischen Horizonts erfolgt nur durch die Ausdehnung des konkreten Horizonts. Dabei sind es insbesondere aktuelle empirische Untersuchungen zur Raumwahrnehmung und zum Raum(er) leben von Kindern und Jugendlichen,⁴⁸ die aufzuzeigen vermögen, dass „naturwissenschaftlich-zentrierte Raumbegriffe“ keine adäquate Basis bieten für die Analyse sozialräumlicher Phänomene. Mit einer gewissen Plausibilität kann ausgesagt werden, dass eine Orientierung an der euklidischen Behältervorstellung allein nicht genügt, um menschliche Raumerfahrungen und -vorstellungen angemessen zu erfassen. Denn objektive räumliche Wirklichkeit – ohne menschliches Erleben – ist weitgehend bedeutungslos.⁴⁹
An den Ausgangspunkt der Überlegungen ist deshalb nicht die „Geographie der Objekte“ (wie sie der Lehrer in Raffs Lehrbuch oder Frederick vermitteln wollen), sondern sind die „Geographien der Menschen“ resp. die „Bedeutung der räumlichen Bezüge“ menschlicher Praktiken zu stellen.⁵⁰ Die Idee der Horizonterweiterung stellt aus einer sozialgeographischen Perspektive nicht (nur) eine erdräumliche Verschiebung von Linien oder Positionen auf dem Globus und damit einhergehend eine Ausdehnung des Gesichtskreises dar, sondern vielmehr ist in einem sozialräumlichen Horizontverständnis die „Erfassung der subjektiven Be-
Werlen, Benno: Sozialgeographie. Eine Einführung. Bern, Stuttgart, Wien: Haupt 2000. S. 435 Vgl. Fritsche, Caroline u. a.: „Raumwissenschaftliche Basics – eine Einleitung“. In: Raumwissenschaftliche Basics. Eine Einführung für die Soziale Arbeit. Hrsg. von Christian Reutlinger u. a., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010. S. 9 – 24. Vgl. auch Herold, Josephine: Raumerfahrung von Kindern in Kleinstädten. Zugl.: Chemnitz, Techn. Univ., Diss. 2012. Auerbach 2013. Frohnhofen, Achim: Jugendliche im „Raum ohne Eigenschaften“. Eine Regionalanalyse des Kreises Heinsberg mit Garzweiler II. Opladen: Leske + Budrich 2003. S. 28. Werlen, Benno: „Alltägliche Regionalisierungen“. In: Lexikon der Geographie. In vier Bänden. Hrsg. von Ernst Brunotte u. a., Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag 2001.
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deutungen der Handlungen für die handelnden Subjekte selbst“⁵¹ in den Mittelpunkt zu stellen. In der handlungszentrierten Grundlegung einer Sozialgeographie wird „‚Raum‘ immer handlungsspezifisch“⁵² konstituiert, was konsequenterweise auch für die Frage des Horizonts und seiner Erweiterung gilt. Die räumlichen Anordnungen der von Menschen geschaffenen materiellen Dinge, der so genannten materiellen Artefakte, spielen potentiell für alle körpervermittelten, praktischen Tätigkeiten eine Rolle. Doch je nach Art der Tätigkeit, je nachdem, was man zu tun beabsichtigt, werden unterschiedliche Komponenten davon relevant. Deshalb ist in handlungszentrierter Perspektive davon auszugehen, dass die räumlichen Gegebenheiten ihre Bedeutungen immer erst über die Ausrichtung, die thematische Orientierung des Handelns erlangen: Demzufolge ist die spezifische Bedeutung materieller Artefakte über die Handlungsanalyse erschließbar.⁵³
Fasst man den Horizontbegriff als sozialräumlichen Begriff auf – welcher den konkreten und den symbolischen Horizont relational miteinander verschränkt –, wird damit nicht nur seine Mehrdimensionalität angesprochen, sondern es gilt, den Begriff auch handlungsspezifisch zu erschließen. „Die Bedeutungen materieller Gegebenheiten sind nicht Eigenschaften der Objekte per se, sondern werden von den Subjekten zugeschrieben.“⁵⁴ Bedeutungen räumlicher „Tatsachen“ können „nur über eine Analyse der Bedeutungszuweisungen erschlossen werden, nicht aber durch selbstgenügsame Raumanalyse“.⁵⁵ Ein solches Verständnis der sozialräumlichen Horizonterweiterung wurde insbesondere im dritten Muster hergeleitet. Gleichzeitig fehlt bei den raumtheoretischen Überlegungen aus der handlungszentrierten Geographie ein kindspezifischer Handlungsbegriff, der auch sensibel ist für die unterschiedlichen (inneren) Entwicklungsstufen des Kindes – ein Kind ist ja nicht einfach ein Kind, sondern in diesem Lebensalter finden zentrale innere Entwicklungsprozesse statt. Eine Möglichkeit bietet der Aneignungsbegriff, wie er in der sogenannten sozialräumlichen Offenen Kinderund Jugendarbeit⁵⁶ verwendet wird. In dieser Diskussion wird die (Raum‐)An-
Werlen, Benno/ Reutlinger, Christian: „Sozialgeographie“. In: Handbuch Sozialraum. Grundlagen für den Bildungs- und Sozialbereich. Hrsg. von Fabian Kessl und Christian Reutlinger. Wiesbaden: Springer VS 2018 (in Druckvorbereitung). Werlen: Regionalisierungen. S. 281. Ebd., S. 277– 278. Ebd., S. 319. Ebd., S. 319. Vgl. Böhnisch, Lothar/ Münchmeier, Richard: Wozu Jugendarbeit? Orientierungen für Ausbildung, Fortbildung und Praxis. Weinheim, München: Juventa 1987; Böhnisch, Lothar/ Münchmeier, Richard (Hrsg.): Pädagogik des Jugendraums. Zur Begründung und Praxis einer sozialräumlichen Jugendpädagogik. Weinheim, München: Juventa 1990; Deinet, Ulrich: „Sozialraumorientierung
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eignung als aktive Erweiterung des Handlungsraums betrachtet, wie dies beim dritten Muster illustriert wurde. Im Prozess der Aneignung geht es für Heranwachsende darum, „einen Gegenstand aus seiner ‚Gewordenheit‘ zu begreifen.“⁵⁷ Über die Aneignung entwickeln Kinder und Jugendliche „ihre motorischen Fähigkeiten, bilden Handlungskompetenzen und Orientierungswissen aus, entwickeln Identität und setzen sich mit gesellschaftlichen Bedingungen auseinander, die sich in der Struktur der Räume – auch im Sinne subjektiver Handlungsräume – abbilden“⁵⁸. Kindliche Raumaneignung, das Erschließen von räumlichen Zusammenhängen, wird oftmals spielerisch und phantasievoll vollzogen, wie dies im dritten Muster dargestellt wurde. Kinder erschließen sich Räume bereits in den ersten Lebensmonaten visuell durch regungsloses Schauen, in dem Raumeindrücke, Licht und Schatten sehr wohl verarbeitet sein müssen, da auch jetzt schon offensichtlich Räume wiedererkannt werden. Beim Krabbeln erfahren Kinder den Raum dann durch Sich-Nähern und Sich-Entfernen in seinen Dimensionen und erkennen Raumfolgen, Fenster und Türen sowie Hindernisse und Wände. Geht das Versteckspiel zu Beginn mit dem wiederholten Abdecken der Augen einher, verorten Kleinkinder den anderen Menschen relativ zu seiner Zeit, gleichermaßen wie Momentaufnahmen verbunden mit der Erkenntnis, dass dieser andere einen Augen-Blick später seine Position im Raum verändert haben kann. Eigene Urräume für sich selbst, die sie dauerhaft den Blicken entziehen, bauen Kinder später in Form von Höhlen oder abgedeckten Nischen, die eben diesen vitruvianischen Grundbegriffen entsprechen, aber eigenen ästhetischen Prinzipien folgen. Neben dem Sehen, Gehen oder Rennen sind auch der Geruch, die Raumtemperatur und die Akustik relevante Kategorien der kindlichen Raumerschließung, die später – häufig unbewusst – noch die sensorische und atmosphärische Raumerschließung von Erwachsenen bestimmen.⁵⁹
Der Aneignungsbegriff wird zurückgeführt auf die Arbeiten der von Klaus Holzkamp (1927– 1995) und anderen in Berlin begründeten kritischen Psychologie.
zwischen Anspruch und Wirklichkeit“. In: Empirie der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Hrsg.von Holger Schmidt. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften/ Springer Fachmedien 2011. S. 159 – 178. Holzkamp, Klaus/ Schurig, Volker: „Zur Einführung in Alexejew Nikolajew Leontjews ‚Probleme der Entwicklung des Psychischen‘“. In: Probleme der Entwicklung des Psychischen. Hrsg. von Alexejew Nikolajew Leontjew und Klaus Holzkamp. Frankfurt am Main: Athenäum Fischer Taschenbuch 1973. S. 315. Deinet, Ulrich/ Krisch, Richard: „Das sozialräumliche Muster in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit“. In: Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit. Hrsg. von Ulrich Deinet und Benedikt Sturzenhecker. Wiesbaden: Springer VS 2013. S. 321. Fehrmann, Antje: „Heterotopien: Kindliche Raumwahrnehmung als produktive Kategorie der Architektur- und Kunstgeschichte“. In: Elternschaft und Forschung. Zum generativen Potenzial einer Gratwanderung. Hrsg. von Annette C. Cremer. Gießen: Universitätsbibliothek 2017. S. 225.
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Diese basiert wiederum auf der Tradition der sogenannten sowjetischen Kulturhistorischen Schule und der „Tätigkeitstheorie“⁶⁰. Insbesondere das Konzept der „Zone der nächsten Entwicklung“ des Sowjetischen Psychologen Lew Semjonowitsch Wygotski (1896 – 1936) ist aus aneignungstheoretischer Sicht zentral, um zu verstehen, wie eine Horizonterweiterung bei Kindern durch Pädagoginnen und Pädagogen begleitet werden kann. Schon Wygotski verstand das Kind als handelndes Subjekt, welches sich in sozialen Beziehungen und in Interaktion mit seiner Umwelt zu einer erwachsenen Person bzw. zu einer Persönlichkeit entwickelt.⁶¹ Das Kind ist kein passiver Rezipient einer objektiven Umgebung, sondern entscheidet selbst, was wahrgenommen wird und interessant ist, jeweils entsprechend seiner Bedürfnisse und Interessen sowie in Beziehung zu den Anforderungen und Möglichkeiten, die vorhanden sind.⁶²
Die kindliche Entwicklung verstand Wygotski als Prozess, „der durch die Einheit der materiellen und psychischen Seite, durch die Einheit von Gesellschaftlichem und Persönlichem auf der Stufenleiter der Entwicklung, die das Kind erklettert, [gekennzeichnet ist]“⁶³. Als „Zone der nächsten Entwicklung“ beschrieb Wygotski den „Bereich der in Entwicklung befindlichen Prozesse, die notwendig für die Entstehung der physischen Neubildungen, jedoch noch nicht hinreichend ausgebildet sind, um die mit dem Übergang von der aktuellen Altersstufe zur nächstfolgenden verbundene Neubildung zu realisieren“⁶⁴. Damit spricht Wygotski die physischen Prozesse und Strukturen an, die für die psychische Neubildung, welche mit dem Übergang von der gegenwärtigen Altersstufe psychischer Entwicklung auf die nächste in Verbindung stehen, notwendig, aber noch nicht hinreichend entwickelt sind. When it was first shown that the capacity of children with equal levels of mental development to learn under a teacher’s guidance varied to a high degree, it became apparent that those children were not mentally the same age and that the subsequent course of their
Kölbl, Carlos: Die Psychologie der kulturhistorischen Schule. Vygotskij, Lurija, Leont’ev. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. Vgl. van der Veer, René/ Valsiner, Jaan: Understanding Vygotsky. A quest for synthesis. Oxford etc.: Blackwell 1991. Chaiklin, Seth: „Die Zone der nächsten Entwicklung“. In: Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Hrsg. von Iris Beck u. a., Stuttgart: Kohlhammer 2010. S. 82. Wygotski, Lew: Ausgewählte Schriften. Band 2: Arbeiten zur psychologischen Entwicklung der Persönlichkeit. Berlin: Volk und Wissen Verlag 1987. S. 59. Chaiklin: Zone. S. 84.
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learning would obviously be different. This difference between twelve and eleven, is what we call the zone of proximal development. It is the distance between the actual developmental level as determined by independent problem solving and the level of potential development as determined through problem solving under adult guidance or in collaboration with more capable peers. ⁶⁵ [Hervorh. im Original]
In den Überlegungen zur „Zone der nächsten Entwicklung“ stellt demnach sowohl der Pädagoge, die Pädagogin als zentraler Vermittler oder zentrale Vermittlerin und kindliches Gegenüber eine zentrale Figur dar als auch fähigere gleichaltrige Kinder. Beide Gruppen können dazu beitragen, eine Horizonterweiterung eines Kindes zu ermöglichen. Abschließend sollen einige Überlegungen dargestellt werden, wie die bisherigen Gedanken in eine Erweiterung der sogenannten sozialräumlichen Kinder- und Jugendarbeit münden können.
3 Ausblick: Sozialräumliche Jugendarbeit als Horizont-Managerin bei der kindlichen Raumaneignung Wenn wir also sehen, wie das Sozialräumliche in den verschiedensten Bereichen des Bewältigungshandelns von Kindern und Jugendlichen wirkt, erscheint uns plausibel, daß die Hilfen und Angebote der Sozialpädagogik auch sozialräumlich strukturiert und gestaltet sein müssen. […] Räume sind nicht mehr länger nur Voraussetzung und ’Bühne’, auf der Pädagogik abläuft, sondern sie sind selbst schon Pädagogik. Dabei sind es natürlich nicht nur die bloß umbauten Räume, auf die sich die sozialräumliche Qualität der Jugendpädagogik bezieht, sondern es sind vor allem die Möglichkeiten, die in den Räumen stecken, welche den Raum erst zum pädagogischen Ort der jugendkulturellen Aneignung und thematischen Anregung werden lassen.⁶⁶
Der geistige Horizont eines Kindes ist nicht absolut, sondern hochgradig subjektiv abhängig von der jeweiligen Entwicklungsstufe, auf welcher sich das Kind befindet, und wird ständig erweitert resp. verändert. Dieser Horizont lässt sich deshalb nicht absolut „vermessen“ wie der natürliche Horizont einer Landschaft, sondern er ist vielmehr aus dem kindlichen Raumerleben (immer wieder neu) aufzuschließen – angemessen wäre es deshalb, von (kindlichen) Horizonten und Wygotski, Lew: „Interaction between Learning and Development“. In: Readings on the Development of Children. Hrsg. von Mary Gauvain und Michael Cole. New York: Scientific American Books 1978. S. 36. Böhnisch, Lothar: Sozialpädagogik des Kindes- und Jugendalters. Eine Einführung. Weinheim: Juventa 1992. S. 257.
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nicht von einem singulären Horizont zu sprechen. Im vorliegenden Text wurden mögliche theoretische Zugänge sowohl aus einer sozialgeographischen⁶⁷ wie aneignungstheoretischen Perspektive⁶⁸ begründet. Gelangt man auf diesem Wege zur Frage, wie es der Offenen Kinder- und Jugendarbeit gelingen kann, Kinder und Jugendliche bei der Horizonterweiterung begleiten und unterstützen zu können, müssen in vielen Bereichen noch wirkmächtige Horizont-Vorstellungen ebenso hinterfragt werden wie die eigene Rolle als Pädagoginnen, Pädagogen und Erwachsene. Anschlussstellen für ein sozialpädagogisches Horizonterweiterungskonzept sind in der sozialräumlichen Kinder- und Jugendarbeit zu finden, welche darauf verweisen, dass Kindern und Jugendlichen nicht Räume – im Sinne von mit Dingen und Körpern gefüllter Gefäße – zur Verfügung gestellt werden sollen. Vielmehr gilt es, die Möglichkeiten, die in räumlichen Kontexten stecken, bewusster einzubeziehen bzw. zu gestalten, wie dies beim dritten Muster dargestellt wurde. Die Rede ist deshalb nicht von Räumen, sondern von „pädagogischen Orten“⁶⁹ oder sozialräumlichen Kontexten. „Sozialräumliche Kontexte bieten [Kindern und] Jugendlichen die Möglichkeit, neue Orientierungsmuster zu entwickeln und aufzufinden und somit ihre soziale und personale Identität im sozialräumlichen Kontext zu entwickeln“.⁷⁰ Ist die subjektive Perspektive eines Kindes einmal aufgeschlossen, bietet das aneignungstheoretische Konzept der „Zone der nächsten Entwicklung“ wichtige Hinweise, wie eine Entwicklung von einer Zone in die nächste resp. damit zusammenhängend eine Erweiterung des Horizonts sozialpädagogisch begleitet werden kann: Was das Kind heute in Zusammenarbeit und unter Anleitung vollbringt, wird es morgen selbständig ausführen können. Und das bedeutet: Indem wir die Möglichkeiten eines Kindes in der Zusammenarbeit ermitteln, bestimmen wir das Gebiet der reifenden geistigen Funktionen, die im allernächsten Entwicklungsstadium sicherlich Früchte tragen und folglich zum realen geistigen Entwicklungsniveau des Kindes werden. Wenn wir also untersuchen, wozu das Kind selbständig fähig ist, untersuchen wir den gestrigen Tag. Erkunden wir je-
Vgl. Werlen/ Reutlinger: Sozialgeographie. Vgl. Leontjew, Alexejew Nikolajew u. a. (Hrsg.): Probleme der Entwicklung des Psychischen. Frankfurt am Main: Athenäum Fischer Taschenbuch 1973. Brüschweiler, Bettina u. a.: „Institutionalisierte Offenheit – Offene Kinder- und Jugendarbeit als pädagogische Ortsgestalterin“. In: Soziale Arbeit und institutionelle Räume. Explorative Zugänge. Hrsg. von Marc Diebäcker, Christian Reutlinger. Wiesbaden: Springer VS 2018 (in Druckvorbereitung). Focali, Ergin: „Interkulturelle Öffnung in der Jugendarbeit“. In: Interkulturelle Öffnung: ein Lehrbuch. München: Oldenbourg 2012. S. 122.
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doch, was das Kind in Zusammenarbeit zu leisten vermag, dann ermitteln wir damit seine morgige Entwicklung.⁷¹
Auch hier kann dies bildhaft mit der von Lukas dem Lokomotivführer im dritten Muster verfolgten Strategie illustriert werden. Das Aufschließen des kindlichen Geographie-Machens, das Erkennen von Horizonten sowie die Überlegungen, welche Unterstützung ein Kind für den Übergang in die Zone der nächsten Entwicklung benötigt, ist eine zentrale sozialpädagogische Herausforderung, welche man konzeptionell als Horizont-Management bei der Raumaneignung von Kindern fassen könnte. Wie wichtig ein reflexiv-verstandenes Horizont-Management für die Offene Kinder- und Jugendarbeit ist, lässt sich anhand von sozialräumlichen Kontexten darstellen, in denen sowohl die Kinder und Jugendlichen, aber auch die (professionellen) erwachsenen Begleitpersonen mit Fremdem konfrontiert sind. Diese Kontexte können ganz nahe im Alltag verortet sein, wo wir merken, dass die Lebensumstände und Lebensentwürfe der Menschen immer diverser⁷² werden und wir durch den Austausch mit bisher nicht bekannten Milieus und Gepflogenheiten laufend Fremdheitsgefühle entwickeln. Sich fremd fühlen kann man sich jedoch auch in räumlich weit von der vertrauten Lebenswelt entfernten Orten, wie im erwähnten Bespiel des internationalen Jugendaustauschs. Erst eine Interkulturelle Kompetenz ermöglicht es, ethnozentristische oder eurozentristische Perspektiven abzulegen und zu einer Horizonterweiterung bei Kindern und Jugendlichen beizutragen. Für eine erfolgreiche Erweiterung des Horizonts sind jedoch Grenzen zu setzen in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Diese können die Form von (Verhaltens‐)Regeln annehmen, oder auch von Regeln im Zusammenleben. Solche Grenzen sind heute immer wichtiger, da im Alltag vielfältige Entgrenzungstendenzen festzustellen sind.⁷³ Die Grenzen dienen dazu, Stabilität und Sicherheit sowie gesellschaftliche Solidarität herzustellen oder aufrechtzuerhalten. Ein reflexives Horizont-Management setzt eine große Offenheit voraus, welche die Vielfalt von Differenzen anerkennt. Vielfalt zu berücksichtigen bedeutet, Anerkennungsverhältnisse zu ermöglichen, in denen sich Jugendliche „mit den für sie
Wygotski: Schriften. S. 83. Vgl. Plösser, Melanie: „Umgang mit Diversity in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit“. In: Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit. Hrsg. von Ulrich Deinet und Benedikt Sturzenhecker. Wiesbaden: Springer VS 2013. S. 257– 269. Vgl. Böhnisch, Lothar/ Schröer, Wolfgang: „Entgrenzung und die räumliche Transformation sozialer Probleme – zum bürgerschaftlichen Regieren der Sozialräume“. In: Grenzen des Sozialraums. Kritik eines Konzepts – Perspektiven für Soziale Arbeit. Hrsg. von Projekt „Netzwerke im Stadtteil“. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005.
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je bedeutsamen Identitätsmerkmalen darstellen und positionieren können. Eine solche an Diversity orientierte Kinder- und Jugendarbeit kann sich dann als ‚Möglichkeitsraum‘ verstehen.“⁷⁴ Wie dieser Möglichkeitsraum ausgestaltet sein kann und wie diese sozialräumlichen Kontexte zu einer Horizonterweiterung beitragen können, ist wiederum abhängig von den „emotionalen Befindlichkeit(en)“ und dem „sozialen Wollen“ von Kindern und Jugendlichen.⁷⁵ Kritisch muss sich eine sozialräumliche Kinder- und Jugendarbeit beim Management von Horizonten immer wieder die Frage neu stellen: „Erweitert, strukturiert die getroffene Maßnahme den Möglichkeitsraum“ eines Kindes, eines Jugendlichen, „oder verengt sie ihn, macht sie ihn vielleicht noch unübersichtlicher?“⁷⁶ Antworten auf diese Frage bleiben natürlich beschränkt auf das, was ein Pädagoge, eine Pädagogin in der pädagogischen Arbeit leisten kann – eine das Blickfeld der skizzierten Idee des Horizont-Managements erweiternde Perspektive müsste auch die im vorliegenden Text gänzlich vernachlässigte Spur weiter verfolgen, welche George Orwell in seiner einführenden Beobachtung legte: Erst eine Veränderung der Horizont-begrenzenden und -einschränkenden gesellschaftlichen Verhältnisse führt dazu, dass alle Kinder und Jugendlichen die Möglichkeiten haben, ihre individuellen Entwicklungspfade auch auszuschöpfen. Hierzu müsste die Offene Kinder- und Jugendarbeit jedoch ihre eigene professionelle Begrenztheit verlassen und vermehrt als sozialpolitisch gestaltende Akteurin auftreten.
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Jenseits der Horizonte Horizontverschiebungen aus der Perspektive einer reflexiv-kritischen Bildungstheorie Space, the final frontier. These are the voyages of the starship Enterprise. Its continuing mission: to explore strange new worlds, to seek out new life and new civilisations, to boldly go where no one has gone before.¹
Begriff und Metapher des Horizonts sind im Bildungsdiskurs weit verbreitet. Vom Horizont ist z. B. die Rede, wenn in der Schulpädagogik das Geschichtscurriculum für die gymnasiale Oberstufe umrissen wird,² wenn in der Didaktik der politischen Bildung Handlungskompetenzen der Demokratiebildung formuliert werden oder wenn Bildungspolitiker und -politikerinnen Rahmenprogramme für wissenschaftliche Forschung an diesem Paradigma ausrichten.³ Ganz offensichtlich bedient der Horizont-Begriff den „Fundamentaltrieb“⁴ der Pädagogik, mit dem der „utopische Überschuss“⁵ des Bildungsbegriffs genauer in den Blick genommen werden kann.⁶ Zwei Beispiele aus dem aktuellen Fachdiskurs verdeutlichen das. So verweist der Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth darauf, dass die Frage, was gute Bildung ist, ohne Rekurs auf die Horizont-Metapher nicht zu beantworten sei. In der modernen Gesellschaft erfülle Bildung nämlich einen doppelten Anspruch.⁷ Sie müsse einerseits einen „Horizont an Möglichkeiten öffnen“⁸, um damit dem Versprechen moderner Gesellschaften gerecht zu werden, Intro Star Trek – The Next Generation, in freier Übersetzung: „Der Weltraum. Die letzte Grenze. Die letzte Barriere auf der Suche nach neuen Welten, nach neuen Lebensformen und neuen Zivilisationen. Dorthin vorstoßen, wo noch niemand, gewesen ist“. Vgl. Baumgärtner, Ulrich/ Meyer, Christoph: Das Grundwissen der Jahrgangsstufen 6 bis 10 im Überblick. Gymnasium. Bayern, Braunschweig: Westermann 2008. Vgl. z. B. das EU-Rahmenprogramm für Forschung und Innovation mit dem Titel Horizont 2020. Nietzsche, Friedrich: „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“. In: Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: dtV 1988, S. 887. Scheunpflug, Annette: „Der utopische Überschuss und die Frage nach dem Wohin. Der Mensch und seine Bildung in der Erziehungswissenschaft“. In: Mensch – Religion – Bildung. Religionspädagogik in anthropologischen Spannungsfeldern. Hrsg.von Thomas Schlag und Henrik Simojoki. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2014. S. 60. Vgl. Herzog, Walter: Zeitgemäße Erziehung. Die Konstruktion pädagogischer Wirklichkeit. Studienausgabe. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2006. S. 14 f. Vgl. Tenorth, Heinz-Elmar: „Bildung – zwischen Ideal und Wirklichkeit. Ein Essay“. http:// www.bpb.de/gesellschaft/kultur/zukunft-bildung/146201/bildungsideale (10.07. 2017). Tenorth: Bildung. https://doi.org/10.1515/9783110553291-007
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dem Individuum gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Bildung müsse andererseits aber auch – Popper folgend⁹ – auf den offenen Horizont der pluralen Gesellschaft vorbereiten, da gesellschaftliche Integration in aufgeklärt-demokratische Gesellschaften nur auf diesem Wege gelingen kann. Während in geschlossenen Gesellschaften Komplexität und Offenheit desorientierend wirkten und deswegen stabile Identitäten mit fixierten Wissens- und Verstehenshorizonten etabliert werden, müssten in der offenen Gesellschaft die notwendigen Identitätsmuster als flexible Identitäten gefasst werden, die mit offenen Wissensund Verstehenshorizonten einhergehen.¹⁰ Ein zweites Beispiel findet sich bei der Bildungsforscherin Annette Scheunpflug. Angesichts der grundlegend in Frage gestellten „Überlebensfähigkeit der Menschheit in einer globalisierten Welt“¹¹ müsse im Bildungsdiskurs die Frage Adornos neu geklärt werden, wohin Bildung eigentlich führen solle.¹² Während Tenorth diese Frage dahingehend beantwortet, dass (nur) der Rekurs auf die Metaphorik vom offenen Horizont der offenen Gesellschaft darauf Antwort zu geben vermag, stellt Scheunpflug die globale Dimension des Lernens in den Fokus verschiedener Veröffentlichungen. Darin zeigt sie, dass der utopische Überschuss der Bildung nur in der Perspektive eines „globalen Horizontes“¹³ sinnhaft thematisiert werden kann.¹⁴ In beiden Beispielen wird deutlich, dass die Horizont-Metaphorik alles andere als banal ist. Weil mit der Horizont-Metapher etwas „nur vage Bestimmtes“¹⁵ beschrieben werden kann, bleibt allerdings unklar, worauf die Metapher vom offenen bzw. globalen Horizont bezogen ist. Vor diesem Hintergrund nimmt der folgende Beitrag die Metaphorik des Horizonts aus der Perspektive einer reflexiv-kritischen Bildungstheorie in den Blick. Deren Funktion besteht zum einen darin, zu einer Ordnung von Begriffen und damit zu einer Topologie der pädagogischen Grundgedankengänge beizu-
Vgl. Popper, Karl: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Stuttgart: UTB 1958. Vgl. Frischmann in diesem Band. Scheunpflug: Überschuss. S. 60. Vgl. Adorno, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971; Scheunpflug: Überschuss. Scheunpflug: Überschuss. S. 60. Scheunpflug verweist dabei in ihrem Beitrag auf den orientierenden und kritisch-korrigierenden Beitrag der religiösen Bildung. Felgenhauer, Tilo: „Horizont“. In: Lexikon der Raumphilosophie. Hrsg. von Stephan Günzel. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2012. S. 179 – 180.
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tragen.¹⁶ Zum anderen rücken damit die implizit-normativen diskursiven Vorstrukturierungen individueller und kollektiver Lern- und Bildungsprozesse in den Blick. Dies impliziert eine Kritik der Begriffe, die es zu rekonstruieren und auf ihre Implikationen hin zu befragen gilt.¹⁷ Vor diesem Hintergrund wird mit dem vorliegenden Beitrag eine doppelte Absicht verfolgt: Einerseits sollen die Prämissen einer historisch-anthropologisch ausgerichteten erziehungswissenschaftlichen Lektüre von Horizonten als das herausgearbeitet werden, was allen „Menschen gemeinsam ist“¹⁸, und andererseits danach gefragt werden, welche Herausforderungen sich daraus für Lern- und Bildungsprozesse ergeben.
1 Das Verschieben natürlicher Horizonte als Folge nicht-privilegierten Lernens Im Rückgriff auf Forschungsergebnisse der evolutionären und philosophischen Anthropologie wird im Folgenden zunächst auf die Bedeutung der Grenzen der natürlichen Horizonte für menschliches Wahrnehmen, Wissen und Verstehen eingegangen.¹⁹ Das Verschieben der Horizonte wird dabei als grundlegende Fähigkeit des Menschen interpretiert, die natürlichen Horizonte durch technologische Innovation immer weiter zu erweitern. Diese Horizontverschiebungen beruhen, der Grundannahme der pädagogischen Anthropologie folgend, auf systematischen und intentionalen Lern- und Bildungsprozessen. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Annahme, dass es verschiedene natürliche Horizonte gibt, die die menschliche Wahrnehmung begrenzen. Dies betrifft zunächst den visuellen Horizont unserer Wahrnehmung. „Wir sehen bis zum Horizont und sehen gerade Größen der Dicke unserer eigenen
Vgl. Scheunpflug, Annette: „Historisch-systematische Zugänge zu einer aufgeklärten Bildungsforschung“. In: Bildungsforschung revisited. Hrsg. von Gregor Lang-Wojtasik und Stefan König. Münster, Ulm: Klemm und Oelschläger 2016. Zur Methodologie einer kritisch-reflexiven Bildungstheorie vgl. Celikates, Robin: Kritik als soziale Praxis. Frankfurt am Main u. a.: Campus-Verlag 2009; Saar, Martin: Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault. Frankfurt am Main u. a.: Campus-Verlag 2007. Wulf, Christoph/ Zirfas, Jörg: „Paradigmen und Perspektiven pädagogischer Anthropologie“. In: Handbuch pädagogische Anthropologie. Hrsg. von Christoph Wulf und Jörg Zirfas. Wiesbaden: Springer VS 2014. S. 701. Die Kenntnis der Grenzen der individuellen und kollektiven Horizonte des Wahrnehmens, Wissens und Verstehens und die handelnde Verschiebung dieser Wissens- bzw. Verstehenshorizonte werden damit als Lösungsweg skizziert.
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Haare.“²⁰ Kleineres bzw. weiter Entferntes vermögen wir mit unseren Sinnen allein nicht zu erkennen. Visuelle Grenzen sind den Menschen auch jenseits von Landschaften gesetzt, betreffen also nicht nur den Fernbereich der Wahrnehmung, sondern auch deren Mikro- bzw. Nanobereich. Insofern ist der natürliche Horizont mit der Vorstellung einer landschaftlichen Grenze zwischen Himmel und Erde nur unzulänglich beschrieben. Dies zeigt sich deutlich, wenn man den Blick auf andere Horizonte unserer Wahrnehmung bzw. Beweglichkeit lenkt. Wir Menschen können uns noch so sehr anstrengen – unter 16 Hertz bzw. über 20.000 Hertz können wir nichts hören; wir Menschen können uns noch so sehr bemühen: über eine Geschwindigkeit von 36 km/h kommen wir nicht hinaus. Und auch mit noch so viel Übung können wir mehr als 2 Meter hohe Objekte allein durch unsere Muskelkraft nicht überwinden.²¹ Insofern sind Menschen „Nahbereichswesen“²² und es ist ihnen natürlich, sich als begrenzt zu erleben. Der natürliche Horizont beschreibt also nicht nur die evolvierte Grenze der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit, sondern erstreckt sich auch auf auditive, olfaktorische und kinästhetische Sinneserfahrungen. Dementsprechend bewegt sich die menschliche Wahrnehmung bzw. Erkenntnis immer im Radius der engen Grenzen der natürlichen Horizonte.
a) Menschen sind in den Horizonten ihrer Existenz natürlich begrenzt Diese natürliche Begrenztheit kann als das Ergebnis biologischer Evolutionsprozesse interpretiert werden.²³ In der Perspektive der evolutionären Anthropologie rücken die natürlichen Horizonte unseres Wahrnehmungs- und Bewegungsradius als evolvierte Grenzen in den Blick. Dementsprechend bestimmen sich die natürlichen Horizonte als die Grenze dessen, was für den einzelnen Menschen objekthaft und anschaulich wahrnehmbar bzw. erreichbar ist.²⁴ Im Paradigma der evolutionären Anthropologie wird also die Endlichkeit bzw. Be-
Scheunpflug, Annette: Biologische Grundlagen des Lernens. Berlin: Cornelsen Scriptor 2001. S. 92. Vgl. Scheunpflug: Grundlagen. Scheunpflug, Annette/ Schmidt, Christine: „Auf den Spuren eines evolutionstheoretischen Ansatzes in der Erziehungswissenschaft und dessen Anregungen für eine Bildung für nachhaltige Entwicklung“. In: Fit für Nachhaltigkeit? Biologisch-anthropologische Grundlagen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung. Hrsg. von Axel Beyer. Opladen: Leske und Budrich 2002. S. 124. Vgl. Treml, Alfred K.: Allgemeine Pädagogik. Stuttgart u. a.: Kohlhammer 2000. Vgl. Vollmer, Gerhard: „Die vierte bis siebte Kränkung des Menschen“. In: Schriftenreihe Technik und Gesellschaft 3 (1999). S. 76 – 85.; Scheunpflug: Grundlagen. Insbesondere S. 90 ff.
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grenztheit des sinnlich-leiblich Erfahrbaren beschrieben und als natürlicher Horizont des menschlichen Wahrnehmungs- und Bewegungsradius interpretiert. In der Perspektive einer biowissenschaftlich fundierten historischen Anthropologie werden diese begrenzten Wahrnehmungshorizonte als evolvierte Strategie der Angepasstheit des Menschen an die spezifischen Umweltbedingungen des Neolithikums verstanden. Der uns Menschen natürliche Wahrnehmungs- und Erkenntnishorizont ist genetisch vorstrukturiert und lässt sich auf natürlichem Wege weder überschreiten noch verschieben. Für die Erkenntnis-, aber auch die Lerntheorie hat diese Annahme weitreichende Konsequenzen, denn Erkenntnis und Lernen können sich demzufolge nur in genetisch vorgegebenen Bahnen abspielen. In der evolutionstheoretischen Perspektive werden die natürlichen Horizonte daher als ein „evolvierte[r] Mechanism[us] zur Bewältigung des pleistozänen Lebensvollzugs“²⁵ betrachtet.
b) Die Begrenztheit der natürlichen Horizonte ist funktional für das Überleben Aus der Perspektive der philosophischen Anthropologie wird die Begrenztheit der natürlichen Horizonte als funktional für das Überleben des Menschen beschrieben. Mit der „Endlichkeit“²⁶ der Wahrnehmungs- und Bewegungshorizonte ist eine bestimmte Positionalität und Perspektivität des sich im Raum der Welt erlebenden Menschen verbunden. Der Mensch wird dementsprechend als ein Lebewesen betrachtet, das immer gebunden ist an ein begrenztes ‚Oben‘ und ‚Unten‘, an ein begrenztes ‚Hinten‘ und ‚Vorne‘, an ein „Achsensystem“²⁷ also, das die Erfahrung von sich selbst in Zeit und Raum strukturiert. Die philosophische Anthropologie geht dabei davon aus, dass es diese ‚Horizontalität‘ und die damit verbundene Perspektivität ist, die dem Menschen sowohl seinen seelisch-leiblichen „Mittelpunkt“²⁸ als auch seine personale und soziale Identität ermöglicht. Ohne diese Grenzen wären Menschen gar nicht überlebensfähig, sondern würden sich „in der Unendlichkeit der [sie] überflutenden Fülle der Welt“²⁹ verlieren. Die
Scheunpflug, Annette: „Lernen in der Globalisierung? Anmerkungen aus anthropologischer Perspektive“. In: Raum und Zeit aus Sicht der Kulturethologie. Hrsg. von Hartmut Heller. Graz: LITVerlag 2006. S. 46. Bollnow, Otto Friedrich: „Mensch und Raum“. In: Otto Friedrich Bollnow: Schriften. Studienausgabe in 12 Bänden. Bd. 6. Hrsg. von Ursula Boelhauve, Gudrun Kühne-Bertram, Hans-Ulrich Lessing, Frithjof Rodi. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011. S. 53. Bollnow: Mensch. S. 5. Ebd., S. 4. Schüz, Gottfried: Lebensganzheit und Wesensoffenheit des Menschen. Otto Friedrich Bollnows hermeneutische Anthropologie. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001. S. 199.
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natürliche Begrenztheit der Horizonte unserer Existenz wird also als „für das Leben selbst notwendig“³⁰ betrachtet. Insofern stellen die natürlichen Horizonte gerade keine „beklagenswerte Schranke“³¹ dar, sie hindern den Menschen vielmehr, „sich zu verlieren.“³²
c) Es ist Menschen natürlich, die Grenzen der natürlichen Horizonte zu verschieben Wirft man einen auch nur groben Blick auf die historische Entwicklung der menschlichen Spezies, dann zeigt sich, dass der Mensch die lange als unüberwindlich bzw. nicht verschiebbar geltenden Grenzen seiner natürlichen Horizonte längst künstlich, d. h. durch Technologie verschoben hat. Diese Entwicklung basiert auf einem langen historischen Prozess der soziokulturellen Evolution. Dieser Prozess beginnt spätestens am Ende des Neolithikums, zieht sich dann über Generationen hinweg und führt schließlich dazu, dass mit dem Beginn der Neuzeit der „feste […] Weltenrand“³³ des aristotelischen und mittelalterlichen Weltbildes mit seinen natürlichen Horizonten ‚aufgesprengt‘ wird. Historisch betrachtet beginnt dieser Weg ins Jenseits der Horizonte dort, wo sich die Wahrnehmungs- bzw. Bewegungsgrenzen am ehesten überwinden ließen – nämlich entlang der Erweiterung der Sichtbarkeitshorizonte. Denn der Sichtbarkeitshorizont (der physikalisch-geographische natürliche Horizont im engeren Sinne) war über Jahrhunderttausende der Menschheitsgeschichte hinweg im Vergleich zu den anderen Sinnesbegrenzungen die einzige Dimension menschlicher Wahrnehmung bzw. Bewegung, die bewusst und willentlich durch den Menschen selbst verschoben werden konnte. Der Gesichtskreis des Menschen wird nun über die begrenzten Wahrnehmungs- und Bewegungsradien hinaus Schritt für Schritt in immer neuen Wellen technologischer Erfindungen³⁴ erweitert. Die historischen Beispiele hierfür sind zahllos und reichen von der Erfindung des Rades über die Erfindung des Fernrohrs bis zur Entdeckung des Atoms. Was wir seitdem erleben und in unserem kollektiven Gedächtnis speichern, ist ein immer weiter ausholendes Verschieben der natürlichen Horizonte etwa durch die Luft- und Raumfahrt oder die technologischen Revolutionen von Photographie und Cinematographie, aber auch der Nanotechnologie oder der Quantenphysik. Heute schießen wir Satelliten in eine Erdumlaufbahn, bauen künstliche Maschinen im Bereich
Bollnow: Mensch. S. 58. Ebd. Ebd. Koschorke, Albrecht: Die Geschichte des Horizonts. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990. S. 49. Toffler, Alvin: Die dritte Welle, Zukunftschance. München: Goldmann 1983.
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eines Milliardstel Meter und können den Gesang der Wale hörbar machen. Wir leben also in einer Welt, in der „die Geschlossenheit eines den Menschen bergend umfangenden endlichen Raums“ auseinander gebrochen ist und „sich in die bis dahin ungeahnte Weite der Unendlichkeit“³⁵ geöffnet hat. Die Erfahrung der begrenzten Horizonte wird also zur Triebfeder für die kulturelle Evolution, mit der die natürlichen Limitierungen in einem langen historischen, aber unaufhaltbaren Prozess mehr und mehr überwunden werden.³⁶ Insofern ist es dem modernen Homo sapiens sapiens natürlich, die Grenzen der natürlichen Horizonte seiner Existenz zu verschieben und damit seine kulturellen bzw. sozialen Wissens- und Verstehenshorizonte zu erweitern.³⁷ In der Theoriefigur des kulturellen bzw. sozialen Horizonts wird dieses Verschieben der Horizonte als Überwindung der natürlich gegebenen Begrenzungen menschlicher Wahrnehmungs- und Bewegungsradien aus der Perspektive einer Theorie der soziokulturellen Evolution beschrieben.³⁸ Aus der evolutionstheoretischen Perspektive betrachtet, sind die kulturellen Horizonte bedingt durch die Mechanismen der soziokulturellen Evolution.³⁹ Dies betrifft bereits die Bedingungen ihres Entstehens. Denn es ist gerade die Erfahrung der Endlichkeit und Begrenztheit der menschlichen Wahrnehmungs- bzw. Bewegungswelt, die zum Motor dafür wird, „sich neuen Perspektiven zu öffnen bzw. seinen begrenzten Horizont zu durchbrechen, von immer anderer Perspektive auf das Ganze zuzugehen bzw. sich für ein je neues ‚Ganzes‘ offen zu halten“⁴⁰. Anders formuliert: Es ist dem Menschen natürlich, sich von den – genetisch determinierten – Begrenzungen seiner Physiologie und Anatomie, aber auch von seiner Kultur lösen zu können. Was von
Bollnow, Otto Friedrich: „Probleme des erlebten Raums“. In: Wilhelmshavener Vorträge. Schriftenreihe der Nordwestdeutschen Universitätsgesellschaft 1962 (34). S. 9. Insofern kann das Vorhandensein eines natürlichen Horizonts als eine der elementaren Kränkungen des Menschen beschrieben werden. Vgl. Vollmer: Kränkung. Diese Verschiebungen beziehen sich aber auch auf kulturelle Horizonte, was sich z. B. an der Entdeckung der Demokratie als aufgeklärter Herrschaftsform oder der Beschreibung von unveräußerlichen Menschenrechten festmachen lässt. Kulturelle bzw. soziale Horizonte beziehen sich daher weder auf natürliche Landschaften noch auf genetisch determinierte Wahrnehmungs- bzw. Bewegungsradien, sondern sind ganz in der sozialen Lebenswelt des Menschen verankert. Kulturelle Horizonte beschreiben dementsprechend die Grenzen des jeweiligen Wissens bzw. der Erkenntnis- und Wahrnehmungsfähigkeit zu einer bestimmten historischen Epoche. Vgl. dazu Stegmüller, Wolfgang: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Band 3: Evolution des Kosmos. Stuttgart: Kröner 1987. Schüz: Lebensganzheit. S. 204.
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Nietzsche als Wegwischen⁴¹ des Horizonts beschrieben wurde, lässt sich daher kulturphilosophisch als ein Überwinden der Angepasstheit menschlicher Wahrnehmungsfähigkeit an die Bedingungen des Pleistozäns durch Technik interpretieren.
d) Erst nicht-privilegiertes Lernen ermöglicht Horizontverschiebungen Aus der Perspektive der evolutionären Anthropologie betrachtet, ist die Verschiebung der natürlichen Horizonte gebunden an die Fähigkeit des Menschen zu abstrakten Lernprozessen. In der evolutionären Lerntheorie werden Lernprozesse, die in genau dafür vorgegebenen genetischen Bahnen verlaufen, als privilegierte Lernprozesse bezeichnet.⁴² Art und Umfang dieses Lernpotenzials sind in der biowissenschaftlichen Forschung umstritten, als gesichert gilt aber die Fähigkeit, eine Muttersprache zu erlernen oder Verhalten nachzuahmen und dabei die Intention des Nachgeahmten zu erfassen. Im Kontext der vorstehenden Überlegungen sind aber auch die natürlichen Horizonte der Erkenntnis- und Lernfähigkeit darunter zu subsumieren. Von diesem privilegierten Lernen wird das nicht-privilegierte Lernen unterschieden.⁴³ Nicht-privilegiertes Lernen baut auf dem privilegierten Lernen auf, „löst sich aber durch abstrakte Symbolrepräsentanz der Schrift“,⁴⁴ durch mathematische Zeichen oder durch ethische Systeme vom Rahmen des privilegierten Lernens ab. Abstrakte Lernprozesse sind also bedingt durch das (genetisch strukturierte) Potenzial, nicht-privilegiert lernen zu können.⁴⁵ Nicht-privilegiertes Lernen ist dabei bezogen auf „das gesamte kulturelle Wissen“, das über „abstrakte Kognitionen im Neocortex gelernt wird“.⁴⁶ Dieses Wissen kann nicht mehr nachahmend erlernt werden, sondern muss gezeigt, erklärt und geübt werden. Und damit kommt die Pädagogik ins Spiel. Dieser Mechanismus des nicht-privilegierten Lernens lässt sich nun auch auf die offensichtliche Fähigkeit des Homo sapiens sapiens beziehen, die Grenzen seiner natürlichen Horizonte durch soziokulturelle bzw. technologische Evolution zu verschieben. Aus lern- und bildungstheoretischer Perspektive betrachtet, ist dabei entscheidend, dass derartige Horizontverschiebungen intentionale Pro-
Vgl. Nietzsche, Friedrich: „Die fröhliche Wissenschaft“. In: Kritische Studienausgabe. Hrsg. Von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: dtv 1988. S. 481. Scheunpflug: Lernen. S. 46. Vgl. Scheunpflug: Lernen. S. 106. Ebd., S. 109. Vgl. ebd. Ebd.
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zesse voraussetzen, da nicht-privilegiertes Lernen eben nicht einfach so geschieht, sondern angeregt und stimuliert werden muss. Mit anderen Worten: Das Verschieben der Horizonte menschlicher Wahrnehmung und Bewegung, menschlichen Erkennens und Wissens und des Verstehens setzt Lern- und Bildungsprozesse voraus und rückt damit als Feld von intentionalen Einwirkungen auf das lernende Individuum in den Blick.
2 Die Horizontverschiebung als bildungstheoretische Kernidee Kaum ein populärkulturelles Phänomen der letzten Jahrzehnte hat dieses tief in der genetischen Disposition und der Kultur des Menschen verankerte Potenzial zur Horizontverschiebung so ins Bild gesetzt wie die US-amerikanische ScienceFiction-Serie Star Trek. In dieser Fernsehserie wird die Suche nach dem Jenseits der Horizonte als eine der anthropologischen Konstanten des Menschen gedeutet. In eine fiktive Zukunft verlegt, spielt Star Trek auf eine Entwicklung an, in der menschliches Wissen und Erkennen immer weiter in Bereiche verschoben werden, die uns noch vor wenigen Generationen als unerreichbar erschienen. Star Trek deutet das Verschieben der Horizonte unserer Existenz – ein Begriff Luhmanns⁴⁷ – als Triebfeder der soziokulturellen Evolution. In seiner Geschichte des Horizonts hatte Koschorke diese Fähigkeit zur Horizontverschiebung als bedingt in einem „allgemeinen Bewußtseinswandel“⁴⁸ gesehen, den er in der „Parallele zur Heraufkunft der bürgerlichen Gesellschaftsform“⁴⁹ verortet. Das Verschieben der natürlichen Horizonte durch Technologie und Kultur wird zur Begleitmusik einer neuen Utopie der Perfektionierung des Menschen und der Kolonialisierung der Welt. Insofern ist die Horizontverschiebung längst zu einem „selbstverständlichen und unentbehrlichen Element unserer Zivilisation“⁵⁰ geworden. Aufgrund der technologischen bzw. kulturellen Evolution nehmen wir unsere natürlichen Horizonte immer seltener als unüberwindbare Grenzen wahr, sondern verbinden diese Idee vielmehr mit Bildung. Vgl. Praum, Andrea: „Niklas Luhmann. Erinnerungen an einen Soziologen“. Rezension zu: Rudolf Stichweh: Niklas Luhmann – Wirkungen eines Theoretikers. Gedenkcolloquium der Universität Bielefeld am 8. Dezember 1998. Bielefeld: Transcript Verlag 2001. In: Literaturkritik.de, Nr. 6, Juni 2001. https://literaturkritik.de/id/3780 (17.01. 2019). Koschorke: Geschichte. S. 7. Ebd., S. 218. Böhme, Gernot: Weltweisheit, Lebensform, Wissenschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. S. 62.
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Denn wer möchte sich schon einen engen oder beschränkten Horizont attestieren lassen? Wer fürchtet sich nicht vor der Diagnose, dass etwas den eigenen Horizont übersteige? Und um wie viel attraktiver ist es, seinen Horizont zu erweitern, sich für das Unbekannte zu interessieren, dazu lernen zu wollen, den eigenen Horizont also zu öffnen? Die Rede vom beschränkten Horizont verweist mit ihrer diskursiven Topik der Enge also auf einen Zustand, der möglichst überwunden werden sollte.⁵¹ Das Verschieben der Horizonte ist daher einer der bildungstheoretischen Grundgedanken der Moderne. Dieser Prozess bezieht sich nicht nur auf ein Überschreiten der Grenzen des Denkens, sondern auf die Gesamtheit der veränderten Beziehungen zu sich selbst, zu den Anderen und zur Welt. Grundsätzlich wird Bildung also als ein „Prozess der Erfahrung“ beschrieben, „aus dem ein Subjekt ‚verändert hervorgeht‘“.⁵² Die Idee von Bildung als Transformation ist dabei so prominent wie althergebracht.⁵³ Sie wird bereits bei Platon in seinem berühmten Höhlengleichnis beschrieben und als Schritt vom Unbewusstem zum Bewussten beziehungsweise vom Dunkel ins Licht gedeutet. Sie findet sich dann vor allem in der Bildungstheorie der Aufklärung, etwa als Sprachmetapher von der Höhe reiner Menschlichkeit bei Pestalozzi, zu der der Mensch durch Erziehung und Lernen emporgeführt werden solle. Auch die grundlegende Bestimmung von Bildung bei Kant, nämlich als Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung, bezieht sich auf derartige Transformationen. Bildung sei dementsprechend ein „Herausziehen (aus dem Rohen der Natur) und [ein] Emporheben (zum Geistigen der Kultur)“⁵⁴ hin. Die bildende Grenzüberschreitung ist dabei verbunden mit einer „Bewegung, die eine Richtung“⁵⁵ hat. Aus dieser Perspektive betrachtet ist Bildung als ein bewegendes bzw. selbst-bewegliches Tun zu verstehen. An dieses aktive Tun des Überschreitens und Verschiebens von Horizonten ist sowohl die individuelle Entwicklung, aber auch der gesellschaftliche Fortschritt gebunden, zumindest in der Bildungstheorie der Aufklärung. Bei Humboldt findet sich dieser Gedanke insofern ausdifferenziert, dass Bildung die tatsächliche Vielfalt der Möglichkeiten zur Überschreitung in den Blick nimmt, indem der Mensch eben alle seine Kräfte transformieren kann und soll. Bildung besteht dementsprechend in der Erweiterung und Umgestaltung der bisherigen Weltansicht eines Individuums. Bildungsprozesse werden in diesem Sinne als
Vgl. Schlottmann in diesem Band. Koller, Hans-Christoph. Bildung anders denken. Stuttgart: Kohlhammer 2012. S. 9. Vgl. Nugel, Martin: Erziehungswissenschaftliche Diskurse über Räume der Pädagogik. Wiesbaden: VS Springer 2014. Herzog: Erziehung. S. 24. Ebd.
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Transformationen beschrieben, die auf das Verschieben von Horizonten notwendig verweisen. Die zugrundeliegende Idee könnte man dementsprechend so formulieren: Wenn der Mensch nur lernt und sich bildet, dann kann er die Grenzen seiner Erkenntnis, seines Wissens und seines Verstehens verschieben. Ja, er muss dies sogar tun, ansonsten wird die Idee des individuellen und kollektiven Fortschreitens im Hinblick auf den offenen Horizont der offenen Gesellschaft bzw. den globalen Horizont der globalen Weltgesellschaft ad absurdum geführt. Insofern spiegelt sich im Horizontbegriff die große Erzählung, der wir im Westen seit der Neuzeit folgen und in der die Bildung des Einzelnen und der Fortschritt der Gesellschaft untrennbar aneinandergeknüpft sind. Das Verschieben der Horizonte wird zur unhinterfragten Norm und Voraussetzung von Bildung, da davon ausgegangen wird, dass nur das permanente Dazu-Lernen im Sinne einer Erweiterung der Erkenntnis einen offenen Horizont an Möglichkeiten erschließen könne. Dementsprechend zielt im Bildungssystem alle intentionale Anstrengung darauf, den Horizont des Einzelnen zu weiten und die Grenzen der Erkenntnis zu verschieben. Ein solches Verständnis von Bildung als Transformation gegebener individueller und sozialer, natürlicher und kultureller Grenzen ist selbst wiederum als historisch bedingt zu interpretieren, darauf hat Koschorke hingewiesen. Denn menschliche Erfahrung ist immer „horizontbezogen“, weil „sie sich selbst ihre Grenzen setzt und folglich auf eine beständige, immer weiter ausgreifende Selbstüberschreitung verpflichtet werden kann“.⁵⁶ Auf Selbstüberschreitungen bezogene Bildungsprozesse sind dabei eng mit der „bürgerlichen Fortschrittsidee“⁵⁷ verbunden, aus der heraus die bürgerliche Gesellschaft in der Periode ihres Aufstiegs Triebkraft und Legitimation bezogen hat, eine „geschichtliche Dynamik ins Werk zu setzen, die in unendlicher Näherung auf einen idealen Welt [bzw. Selbst]zustand hinführt“⁵⁸.
3 Bildungshorizonte neu denken a) Das Ende der Evolution im Bereich des Menschenmöglichen Die Fähigkeit des Menschen, durch nicht-privilegiertes Lernen die natürlichen Horizonte seines Wahrnehmens, Wissens und Verstehens zu verschieben, hat zu
Koschorke: Geschichte. S. 218. Ebd. Ebd.
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einer bis vor wenigen Generationen noch undenkbaren Ausweitung der Grenzen menschlicher Erkenntnis und menschlichen Handelns geführt. Im Kontext einer kritisch-reflexiven Bildungstheorie rücken nun aber auch die hochgradig riskanten Folgen dieser Horizontverschiebungen in den Blick. Denn im Anthropozän gerät als unmittelbare Folge und zum ersten Mal in der Weltgeschichte die durch eine Spezies ursächlich bedingte Vernichtung des Lebens und damit das abrupte Ende der Evolution zumindest in den Bereich des Menschenmöglichen.⁵⁹ Dies betrifft die potenzielle Möglichkeit, durch atomare Kriege, Klimawandel, außer Kontrolle geratene Reproduktionstechnologie oder selbst erzeugte künstliche Intelligenz die Lebensgrundlagen so nachhaltig zu zerstören, dass (menschliches) Leben auf der Erde nicht mehr möglich ist. Insofern sind ökologische, ökonomische, reproduktionsbiologische oder politisch-militärische Problemlagen moderner Gesellschaften geradezu als Folge der Horizontverschiebungen ins Jenseits der Horizonte zu interpretieren. Dementsprechend gefährdet die „ungeregelte Erweiterung des geistigen Horizonts, insbesondre durch äußerlich aufgenommenes und nicht auf die eigne Mitte bezogenes Wissen“⁶⁰ die Sicherheit des (Über‐)Lebens. Damit wird das Verschieben der natürlichen Horizonte durch Lernen und Bildung ins Unbekannte, Unerhörte, Unzugängliche und Unermessliche selbst zum Problem.
b) Vom Topos der Überwindung zur Figur der Begrenzung Im Zuge seiner wachsenden technologischen, aber auch kulturell-geistigen Fähigkeiten verschiebt das Nahbereichswesen Mensch die Horizonte seiner Erkenntnis in immer neue unbekannte Welten. Die damit verbundene ‚weltoffene Offenheit‘ der Horizonte wird zur existenziellen Grunderfahrung des modernen Menschen. Fragte Nietzsche noch, wer „uns den Schwamm [gab], um den ganzen Horizont wegzuwischen“⁶¹, wundern wir Heutige uns eher darüber, dass es diese Begrenztheit der Horizonte einmal gegeben hat. Eine kritisch-reflexive Bildungstheorie rekurriert angesichts der epochalen Folgen der Entgrenzung der natürlichen Horizonte darauf, dass die damit einhergehenden Horizontverschiebungen selbst zum Anlass für Lern- und Bildungsprozesse gemacht werden müssen. Die Schwierigkeit ist dabei weniger, dass sich erst im Nachhinein erweist, was die Folge einer Horizontverschiebung ist. Schwerer wiegt der Umstand, dass Horizontverschiebungen sowohl funktional
Vgl. Crutzen, Paul J.: Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang. Berlin: Suhrkamp 2011. Bollnow: Mensch. S. 58. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. S. 481.
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wie auch dysfunktional im Hinblick auf das potenziell gefährdete Überleben der menschlichen Spezies im Anthropozän sein können. Dysfunktional sind solche Verschiebungen, weil sie das Leben selbst zerstören können. Als Wissens- und als Handlungsform werden Horizontverschiebungen dann an sich problematisch. Die Herausforderung besteht daher in der Ambivalenz der Horizontverschiebungen zwischen Funktionalität und Dysfunktionalität, welche selbst zum Anlass für Lern- und Bildungsprozesse werden muss.⁶² Funktional für das Fortbestehen moderner Gesellschaften sind solche Verschiebungen, weil wir ohne sie weder die bislang erreichten Errungenschaften des modernen Lebens fortführen noch weiterentwickeln können.Wir sollten also nicht glauben, dass wir irgendwie noch die Möglichkeit der Wahl hätten zwischen einem Leben mit Horizontverschiebung oder einem Leben ohne sie.⁶³ Gerade die Aufklärung und Kritik inhumaner menschlicher Zustände setzt Horizontüberschreitungen voraus. Ohne dass jemand den Mut hätte, seinen eigenen Verstand zu gebrauchen und das Tor zu einer neuen Welt aufzustoßen, gibt es weder Antworten auf technologische Folgeprobleme noch gesellschaftliche Veränderungen. Durch Lernprozesse initiierte Horizontverschiebungen sind daher funktional für moderne Gesellschaften. Niemand kann mehr glauben, dass die Probleme der Weltgesellschaft sich lösen lassen können, ohne die Erweiterung unseres Horizonts. Allerdings müssen wir die unbeabsichtigten oder zumindest die möglichen Nebenwirkungen und Folgen dieser Expansion schärfer in den Blick nehmen.
c) Der beschränkte Horizont als gebildete Form der Selbstbegrenzung Im Lichte einer evolutionären Theorie der Horizontverschiebung und im Kontext einer kritischen Perspektive auf die implizite Normativität der Lern- und Bildungstheorie des offenen bzw. globalen Horizonts, bedarf es daher einer reflektierten Option der rationalen Nicht-Verschiebung menschlicher Wahrnehmungsund Wissenshorizonte. Insofern gilt es, den beschränkten Horizont als gebildete Form der Selbstbegrenzung wieder ins Blickfeld individueller und kollektiver Entwicklung zu stellen. Aus dieser Perspektive betrachtet werden sich die epochalen Herausforderungen nicht im Modus von Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung lösen lassen, sondern – allenfalls – im Modus der Selbstbegrenzung. Im Kontext einer transformatorischen Bildungspraxis sollten wir daher nicht nur auf die aufschließende Funktion der natürlichen Horizonte rekurrieren, sondern uns
Böhme: Weltweisheit. S. 62. Böhme: Weltweisheit.
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wieder an deren abschließenden Charakter erinnern.⁶⁴ Der begrenzte Horizont wäre dann nicht Ausdruck geistig-kultureller Beschränktheit sondern als Zeichen von Weitsicht und Verantwortlichkeit zu verstehen. Die damit verbundene Selbstbegrenzung ist dabei keine, die Anderes bzw. Andere ausschließt. Sie ist also kein Plädoyer für die Rückkehr in die geschlossene Gesellschaft der Intoleranz. Das wäre eine ungebildete Form der Selbstbegrenzung. Sie wäre vielmehr als eine gebildete Form der Selbstbegrenzung zu verstehen, die sich der eigenen, natürlichen Grenzen von Lernen und Erkenntnis bewusst ist und vor allem die Folgen des Überschreitens dieser Grenze genauer reflektiert.
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Nora Held
Multiperspektivität und Mehrdimensionalität ethischen Lernens Wie soll mit der Widersprüchlichkeit moralischer Alltagsurteile im Ethikunterricht umgegangen werden? Kann eine intersubjektive Verbindlichkeit zwischen einander widersprechenden moralischen Alltagsurteilen hergestellt werden und ist eine normative ethische Entscheidung gerechtfertigt vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Pluralismus moralischer Vorstellungen und individueller Interessen? Welche universalisierbaren ethischen Positionen sind noch im Klassenraum vertretbar, wenn Lernende so heterogene Lebenserfahrungen mitbringen, dass sie keinem moralischen common sense entspringen: z. B. wenn sich ein Teil der Lerngruppe als Ovo-Lakto-Vegetarier und ein anderer als Veganer definiert, manche aus religiöser Überzeugung kein Schweinefleisch verzehren und andere allein Mahlzeiten aus der Billigfleisch-Produktion und wöchentliche Familienausflüge zu McDonalds & Co kennen? Die Schwierigkeit besteht nicht nur darin, dass es unterschiedliche Wertungen gibt, wie Tristram Engelhardt diagnostiziert,¹ sondern vielmehr darin, dass unterschiedliche Gewichtungen von gemeinsam anerkannten Werten innerhalb verschiedener Moralgemeinschaften (moral communities) vorgenommen werden.² So treffen sich im Ethikunterricht moral friends und moral strangers mit unterschiedlichen moralischen Prämissen und unterschiedlichen moralischen Idealen, für die die konkurrierenden Moralvorstellungen der anderen nicht unbedingt nachvollziehbar sind. Wie soll sich das Schulfach Ethik angesichts dieser verschiedenen Wertehorizonte ausrichten? Vor allem ist hier eine Begegnung verschiedener Perspektiven der Bewertung und Gewichtung von Alltagsproblemen sinnvoll, um andere Sichtweisen als gleichwertig anzuerkennen. In diesem Sinne kann der Horizont fachdidaktischer Prinzipien um noch ein weiteres Prinzip erweitert werden: Multiperspektivität. Ein multiperspektivischer Zugang ethischen Lernens kann die Bühne für die Darstellung und Zuspitzung konfligierender Moralvorstellungen zu lebensweltlichen Problemen bieten. Das Ziel hierbei wäre nicht, dass aus moral strangers moral friends werden, sondern vielmehr, dass die Akteure unkonforme moralische
Engelhardt, Tristram H.: The Foundations of Bioethics. Oxford: Oxford University Press 1996. S. 7. Steigleder, Klaus: „Bioethik als Singular und als Plural – die Theorie von H. Tristram Engelhardt, Jr.“. In: Bioethik: eine Einführung. Hrsg. von Marcus Düwell und Klaus Steigleder. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. S. 74. https://doi.org/10.1515/9783110553291-008
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Ideale nicht automatisch unversöhnlich und unreflektiert als dogmatisch und unverhandelbar ablehnen. Für den multiperspektiven Zugang zum ethischen Lernen kann eine Art deskriptive Ethik, die moralische Phänomene erfasst, fruchtbar gemacht werden. Mit ihrer Hilfe werden zunächst diverse moralische Intuitionen argumentativ geschärft und präzisiert. Dieter Birnbacher bezeichnet eine solche ethische Theorie, die sich überwiegend auf eine Phänomenologie der Moral konzentriert, als rekonstruktive Ethik.³ Anhand systematischer Beschreibung relevanter moralischer Phänomene, die nicht durch deduktive Verfahren und pädagogisch angeordnete Grundsätze ihre Legitimität beanspruchen, kann die rekonstruktive Ethik für Multiperspektivität im Fachunterricht sorgen. Zugleich stößt die Reichweite einer rekonstruktiven Ethik an die normativen Vorgaben des Schulfaches,Werte und Normen zu vermitteln und zum reflektierten Urteilen über die moralische Richtigkeit der Bewertung von lebensweltlichen Erfahrungen anzuleiten. Anders gesagt, die deskriptive Tendenz der rekonstruktiven Ethik, moralische Phänomene zu erfassen, kann dem normativen Anspruch des Ethikunterrichts nur schwer gerecht werden. Es wird deswegen nach einer Möglichkeit gesucht, die Ebene moralischer Intuitionen einer prinzipienorientierten Überprüfung zu unterziehen. Dafür soll im Folgenden der Ansatz von Beauchamp und Childress⁴ über die Prinzipien mittlerer Reichweite für den Ethikunterricht herangezogen werden, denn mit seiner Hilfe erweitert sich das ethische Verfahren um eine universalisierbare mehrdimensionale Perspektive.
1 Eine rekonstruktive Ethik als Phänomenologie der Moral: Multiperspektivität ethischen Lernens Tagtäglich werden Heranwachsende mit moralischen Aussagen von Bezugspersonen in deren Erziehungs- und Bildungssituationen, von Peergroups, von selbstgewählten Vorbildern konfrontiert, die in starker Diskrepanz zueinander stehen und Unsicherheit über die Richtigkeit eigener moralischer Überzeugungen stiften. An dieser Stelle ist eine Aufforderung zu einer materialen Werterziehung⁵ Birnbacher, Dieter: Analytische Einführung in die Ethik. Berlin/ New York: de Gruyter 2007. Beauchamp, Tom L./ Childress, James F.: Principles of Biomedical Ethics. Oxford: Oxford University Press 2008. Rolf Roew definiert materiale Werteerziehung folgendermaßen: „Durch eine materiale Werteerziehung sollen die Schüler nicht nur mit den grundlegenden Werten unserer Gesellschaft ver-
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in der ethischen Bildung nur schwer vermittelbar, es kann in diesem Sinne lediglich um Orientierungswissen gehen. Dennoch gehört neben der Anforderung zur Entwicklung der ethischen Reflexionsfähigkeit der Lernenden die Vorgabe zur Vermittlung von Werten und Normen zu den zentralen Aufgaben des Faches.⁶ Jedoch sind in modernen Gesellschaften mit sehr ausdifferenzierten Moralvorstellungen geltende Werte in vielen Bereichen nicht unumstritten und deren anerkannter Wertepluralismus ist nicht für alle moralischen Akteure unbedingt reflexiv nachvollziehbar. Wie soll sich das Schulfach Ethik gegenüber konkurrierenden moralischen Intuitionen, moralischen Idealen und dem Pluralismus gesellschaftlicher Wertvorstellungen ausrichten? In diesen Fragen verfügt die Moralphilosophie als zentrale Bezugsdisziplin der Fachdidaktik Ethik über verschiedene prozedurale Strategien. Als eine solche Strategie kann der Ansatz der rekonstruktiven Ethik gelten, er kann für Multiperspektivität im Prozess der ethischen Bildung sorgen. Nach Dieter Birnbacher sind ethische Theorien, die „die Beschreibung der Funktionsprinzipien der geltenden Moral in den Mittelpunkt stellen oder sich weitgehend auf eine Phänomenologie der geltenden Moral beschränken“⁷, dem Modell einer rekonstruktiven Ethik zuzuordnen. Sie verschafft einen Überblick über ethische Orientierungen anhand einer umfassenden Systematik der geltenden moralischen Prinzipien, statt auf ein normatives Projekt abzuzielen. Zugleich fragt sie nicht nach der richtigen Moraltheorie, sondern begnügt sich vielmehr damit, Gültigkeit besitzende Moralprinzipien inhaltlich aufzufassen und diese gegeneinander abzuwägen. „Sie gibt sich damit zufrieden, die faktisch geltenden Normen in eine ‚übersichtliche Darstellung‘ (Wittgenstein) zu bringen und in ei-
traut gemacht werden, sie sollen vielmehr dazu erzogen werden, auch gemäß dieser Grundsätze zu urteilen und zu handeln.“ In: Roew, Rolf/ Kriesel, Peter: Einführung in die Fachdidaktik des Ethikunterrichts. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2017. S. 29. Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur: Lehrplan für die Grundschule und für die Förderschule mit dem Bildungsgang der Grundschule, Ethik (2010): „Der Unterricht ist ausgerichtet auf die Vermittlung von Werten und Normen und knüpft dabei an vorhandene Kenntnisse der Vorschulzeit an. Die Neugier für ein Weltverständnis und die Entwicklung der Urteilsfähigkeit erfordern ein Sensibilisieren für die Umwelt sowie das Weltverständnis, wobei kognitive Kenntnisse erweitert und vertieft werden“ (S. 5); Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie: Rahmenlehrplan Teil C Ethik (2015): „Diese Notwendigkeit zu wählen besteht auch im Bereich der Werte und Normen: In einer durch Pluralismus gekennzeichneten Gesellschaft gelten als von allen geteilte moralische Verbindlichkeiten allein die Prinzipien, wie sie in den universellen Menschenrechten dargelegt und im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland festgeschrieben sind. Ethische Fragen müssen daher in einem an der Vernunft orientierten Verständigungsprozess gemeinsam geklärt und entschieden werden“ (S. 3). Birnbacher, Dieter: Analytische Einführung in die Ethik. Berlin, New York: de Gruyter 2007. S. 64.
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ner systematisch geordneten Form zu präsentieren.“⁸ „Sie begnügt sich in der Regel damit, die Vielfalt wechselseitig unabhängiger Prinzipien, Regeln und Gesichtspunkte zu erhellen“.⁹ In diesem Sinne kann sie als „Grammatik der Moral“¹⁰ interpretiert werden. Wenn die rekonstruktive Ethik als Verfahren im Prozess der ethischen Bildung umgesetzt wird, dann kann eine Bestandaufnahme moralischer Phänomene im Klassenraum in der Regel eine multiperspektivische Sicht auf den Unterrichtsgegenstand gewährleisten. Für die phänomenologische Erfassung der Moral spricht zunächst aus fachwissenschaftlicher Sicht der ethische Realismus (Moore, Hartmann): Es gibt objektive Werttatsachen, die wir empirisch erkennen können, wenn wir z. B. etwas über die Werturteile anderer in Erfahrung bringen wollen, da wir moralische Werte nicht als etwas, das wir konstruieren, sondern als etwas, das wir entdecken, erfahren: „Werturteile beruhen auf Werterfahrungen. Dass es Werterfahrungen gibt, ist ebenso unbestreitbar wie die Tatsache, dass es überhaupt Erfahrungen gibt.“¹¹ Auch McDowell knüpft in seiner Abgrenzung von den anti-realistischen Positionen an den Grundsatz an, dass das kognitive Schicksal des Menschen darin bestehe, der Welt mittels sinnlicher Anschauung zu begegnen.¹² Diese Aussage enthält ein starkes didaktisches Gestaltungspotential, das vor allem Argumente dafür liefert, im schulischen Fachunterricht moralische Phänomene zu erfassen und zu analysieren. Übertragen auf die ethische Bildung bedeutet dies, dass Unterrichtsgegenstände anfänglich insbesondere anhand verschiedener phänomenologischer Zugänge erschlossen werden. Es wird in diesem Sinn zunächst eine Rekonstruktion verschiedener Wertvorstellungen und die Klärung ihrer alltagsmoralischen Bedeutung angestrebt und es wird versucht, in einem Abwägungsprozess konfligierende Moralvorstellungen zu konkreten exemplarischen Situationen zu präzisieren. In den Abwägungsprozess selbst gehen stets subjektive Bewertungen ein, die zwar ethisch begründet werden, aber per se keine normative Geltungskraft gegenüber Dritten beanspruchen können. Die rekonstruktive Ethik erhebt keinen Anspruch auf eine normative Letztbegründung moralischer Urteile und deswegen ist sie für eine moralische Abwägung im Schulunterricht gut geeignet. Eine Beschreibung existierender moralischer Phänomene im Klassenraum kann deswegen zunächst gelebte Alltagsmoral ins Bild setzen, um ihre multiperspektivische Wahrnehmung zu si Ebd., S. 65. Ebd., S. 64. Birnbacher: Ethik. S. 73. Kutschera, Franz von: Grundlagen der Ethik. Berlin, New York: de Gruyter 1982. S. 229. McDowell. John: Geist und Welt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. S. 12.
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chern und deren Legitimität transparent zu machen. Zum anderen kann eine deskriptive Erfassung moralischer Phänomene Ausgangspunkt für ethische Reflexion sein und somit ethisches Orientierungswissen initiieren. Aus didaktischer Sicht heißt das, ethisches Nachdenken im Klassenraum beginnt mit dem Vergegenwärtigen und Infragestellen der eigenen moralischen Wertungen in ambivalenten Alltagssituationen, wenn Jugendliche mit konfligierenden Aspekten ihrer Lebenswelt konfrontiert werden und die innere Unruhe über die Not, eine moralisch richtige Entscheidung zu treffen, unmittelbar verspüren. Dies stellt vor die didaktische Herausforderung, Erfahrungswissen mit kritischem Denken im Lehr-Lernprozess abwechslungsreich zu kombinieren und erfordert, neben einem reflexiven Zugang zum Unterrichtsgegenstand, auch die Phänomenologie des Moralischen stets im Auge zu behalten. Der erste Schritt der ethischen Reflexion beginnt damit, moralische Intuitionen zu einem konkreten Thema zu rekonstruieren und sie in ihrer Vielfalt und legitimen Existenz in einer multiperspektivischen Gemeinschaft zum Ausdruck zu bringen. Die Vielfalt moralischer Gesichtspunkte rückt in ein neues Licht und stellt nicht nur einen Erkenntnisgewinn für die Beteiligten dar, sondern auch eine unmittelbare Erfahrung der eigenen Horizonterweiterung durch spontane Einsicht in andere Sichtweisen. Die rekonstruktive Ethik ermöglicht hierbei ein Nachdenken über die Berechtigung konkreter Handlungsweisen in konkreten Situationen z. B. auf der Basis tugendhafter moralischer Dispositionen, „ethics of caring“, so wie es Aristoteles vorschlägt, oder auf der intuitiven Ebene des moralischen Denkens, so wie sie Richard Hare¹³ thematisiert. Allerdings stößt die rekonstruktive Ethik als „Grammatik der Moral“ (Birnbacher) an ihre Grenzen, wenn sich die Tendenz abzeichnet, „die rekonstruierten Prinzipien bedingungslos zu affirmieren und das Geltende […] einer Kritik nach externen kognitiven oder moralischen Maßstäben zu entziehen; […] als wäre das faktische Funktionieren dieser verschiedenen moralischen Kulturen bereits ein hinreichender Beweis ihrer Legitimität“¹⁴. Das Letztere kann als Verweis auf die didaktische Problematik inhaltsleerer Methodenlehre interpretiert werden: Das Stattfinden einer Diskussionsgemeinschaft (philosophy of inquiry) legitimiert nicht per se den Anspruch subjektiver Aussagen auf ihre moralische Richtigkeit, sie bedürfen vielmehr einer kritischen Überprüfung. Einen weiteren Kritikpunkt bringt Richard Hare in seiner Auseinandersetzung mit der als Intuitionismus bezeichneten Ein-Stufen-Theorie des moralischen Denkens vor. Denn die intuitive
Hare, Richard: Moralisches Denken. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992. Birnbacher: Ethik. S. 73.
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Ebene des moralischen Denkens sei Produkt der Erziehung und früher Erfahrungen in Entscheidungssituationen.
2 Eine minimalistische rekonstruktive Ethik: Mehrdimensionalität ethischen Lernens Die rekonstruktive Ethik impliziert kein deduktives Verständnis von universellen moralischen Prinzipien und kann deswegen an Grenzen stoßen, wenn sie einseitig als didaktisches Verfahren für die ethische Bildung umgesetzt wird. Im Ethikunterricht soll die Möglichkeit geschaffen werden, Wertvorstellungen einer rationalen Abwägung zu unterziehen. Eine Möglichkeit rationaler Überprüfung moralischer Intuitionen stellt das Kohärenzmodell ethischer Theorie und moralischer Praxis dar, das Nida-Rümelin entwickelt hat.¹⁵ Dabei werden moralische Überzeugungen, die konkrete Einzelfälle betreffen, und moralische Theorien miteinander verglichen. Ergeben sich Diskrepanzen, sind entweder die moralischen Überzeugungen oder die Theorien anzupassen, ethische Prinzipien sind keinesfalls selbstevident, sie können sich einer Kritik nicht entziehen.¹⁶ Für die Ziele des ethischen Lernens bedarf es also einer rationalen Überprüfung der Verallgemeinerbarkeit moralischer Überzeugungen. Dabei können Prinzipien auf die Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit unterstützend wirken, wenn sie nicht als top-down-gewonnene spezifische Vorschriften des Handelns, sondern als Orientierungskriterien mittlerer Reichweite aufgefasst werden. Im zweiten Sinn wird dann nicht nach der richtigen Moraltheorie gefragt, sondern überschaubare Moralprinzipien werden inhaltlich aufgefasst und gegeneinander abgewogen. Es wird in dieser Hinsicht überprüft, ob moralische Intuitionen auf der kritischen Ebene der Moral der Rationalitätsbedingung der Verallgemeinerbarkeit Stand halten können. Die rekonstruktive Ethik verzichtet auf Prinzipien als allgemeine normative Vorschriften, lehnt diese jedoch nicht generell ab. Das macht sie alltagstauglich, sie ist an der Erfahrungswelt der Jugendlichen praxisnah orientiert und deswegen als didaktisch vereinfachtes Modell für die ethische Bildung bestens geeignet.Vor allem hilft die rekonstruktive Ethik als didaktisches Verfahren, die Gegenwartsbedeutung des Unterrichtsgegenstandes zu erschließen: Lernende werden damit konfrontiert, Handlungsgründe für ihr Tun aufzustellen, um herauszufinden, ob
Nida-Rümelin, Julian: „Theoretische und angewandte Ethik. Paradigmen, Begründungen, Bereiche“. In: Julian Nida-Rümelin (Hrsg.): Angewandte Ethik. Stuttgart: Alfred Kröner 1996. S. 60. Ebd.
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sie aus Zwang, aus unverschuldeter Unwissenheit oder aus gut überlegten Gründen gehandelt haben oder handeln werden.¹⁷ Das Potential der rekonstruktiven Ethik in ihrem Beitrag zur Entwicklung moralischen Denkens und moralischer Argumentationsfähigkeit ist hierbei offensichtlich ein kognitives. Dass kognitives Denken, neben der affektiven und kreativen Komponente,¹⁸ nur ein Aspekt der ethischen Bildung ist, zeigt, dass es eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Moralerziehung ist, denn die Fähigkeit zum moralischen Denken impliziert nicht unbedingt die Bereitschaft, auch moralisch zu handeln.¹⁹ Eine Beschreibung von Handlungsgründen und die argumentative Überprüfung ihrer Rechtfertigungskraft hat jedoch ein starkes didaktisches Potenzial: „So gesehen, erzeugen Argumente zwar nicht von sich aus moralische Gründe, fügen aber Handlungsgründe und -beschreibungen zu einem zusammenhängenden und widerspruchsfreien Muster zusammen, das uns sehen hilft, für was zu tun wir am meisten Grund haben.“²⁰ Es ist Aufgabe des Schulfachs Ethik, in diesem Sinn den Heranwachsenden ein Instrumentarium zur ethischen Urteilsbildung bereit zu stellen, mit dessen Hilfe sie ihrer eigenen moralischen Intuitionen bewusst werden, diese mit dem common sense vergleichen und auf ihre Aussagekraft überprüfen. Fachdidaktik Ethik genießt einen besonderen Vorteil bei der Gestaltung ihrer theoretischen Modelle, weil sie in ihrem fachwissenschaftlichen Bezug zur Praktischen Philosophie den unmittelbaren Zugang zu einem paradigmatischen Wissensfundament hat. Durch Anwendung von grundlegenden modellhaften ethischen Konzepten lernen die SchülerInnen, in einer kontroversen Abwägung von Handlungsoptionen, eigenständig und qualifiziert moralisch zu urteilen. Der Grundsatz der Wertneutralität bedeutet wohl keinen Verzicht auf Wertevermittlung, sondern nur keine gesinnungsethische Indoktrination einer einzig richtigen Autoritätslinie. Vielmehr sollen sich die Lernenden vergegenwärtigen, dass die Vielzahl von normativen Aussagen in pluralistischen Gesellschaften tatsächlich gelebte moralische Intuitionen repräsentieren und dass sich der moralische common sense in ethischen Argumentationsstrukturen wiederfinden oder darstellen lässt. Auf didaktischer Ebene bedeutet dies, die Lernenden
Löhrer, Guido: „Werte, Tugenden und Argumente“. In: Ethische Reflexionen. Hrsg. von der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Berlin 2007. S. 11. Lipman, Matthew: Thinking in Education. Cambridge: Cambridge University Press 1991. Keller, Monika/ Reuss, Siegfried: „The Process of Moral Decision-Making: Normative and Empirical Conditions of Participation in Moral Discourse“. In: Moral Education: Theory and Application. Hrsg. von Marwin W. Berkowitz und Fritz Oser. London: Lawrence Erlbaum Associates 1985. Löhrer: Werte. S. 11.
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brauchen angemessene Argumentationsausrüstung, ethische Kompetenzen, um zu reflexiver Urteilsbildung gelangen zu können. Im Argumentationsprozess nehmen sie ihr eigenes moralisches Verständnis bewusst wahr, lernen dieses zu artikulieren und es durch diskursiven Austausch in einer community of inquiry mit anderen zu vergleichen und seine Berechtigung zu überprüfen. Deswegen ist die Frage nicht, ob, sondern welche Form von Prinzipien für einen an der rekonstruktiven Ethik orientierten Unterricht angebracht sind. Hierfür kann die Unterscheidung zwischen rules und principles, die Haydon vorschlägt, fruchtbar gemacht werden. Haydon differenziert in Übereinstimmung mit Kant zwischen rules als spezifischen Vorschriften, unter Klugheitsgebot zu handeln in der Art „lüge nicht“ oder „verletze niemanden“, und principles wie Achtung der Person, Fairness, Rücksicht auf die Interessen anderer, die als allgemeingültig gesehen werden und moralische Normen im eigentlichen Sinne sind. In seinem Verständnis können rules als außermoralische Handlungsnormen interpretiert werden; so sind Regeln nicht ausreichend,²¹ da sie unter dem Aspekt der praktischen Klugheit einzuhalten oder abzulehnen sind, folglich ist allein das moralische Nachdenken über die Richtigkeit von Handlungen entscheidend. Es gibt, alltagspsychologisch betrachtet, Situationen, in denen man eher lügen würde, um Schlimmeres zu verhindern, z. B. um jemandem in Not zu helfen oder eine gefährliche Situation zu entschärfen. Principles als normative Aussagen sollen jedoch allgemeine moralische Orientierung anbieten können.²² Besonders wichtig scheinen Prinzipien für die Umsetzung der normativen Vorgaben des Schulfaches Ethik zu sein: Werte und Normen zu vermitteln und zum reflektierten Urteilen anzuleiten. Es wird deswegen nach einer Möglichkeit gesucht, die Ebene der Klugheitsregeln zu verlassen und Handlungen, die sich aus persönlichen Zielen des Handelnden ableiten, einer prinzipienorientierten Überprüfung zu unterziehen. Dafür kann der Ansatz von Beauchamp und Childress über die Prinzipien mittlerer Reichweite für den Ethikunterricht herangezogen werden, mit dessen Hilfe sich das ethische Verfahren um eine universalisierbare mehrdimensionale Perspektive erweitert. Beauchamp und Childress rekonstruieren vier Prinzipien der Medizinethik, die unter anderem dadurch gekennzeichnet sind, dass sie zunächst gleichberechtigt nebeneinander stehen. Der große Vorteil dieser Auffassung ist, dass die miteinander konkurrierenden Prinzipien für die Besonderheiten des jeweiligen einzelnen Falls konkretisiert werden können. Beauchamp und Childress unter Haydon, Graham: „What Scope is there for Teaching Moral Reasoning?“ In: Education for Values: Morals, Ethics and Citizenship in Contemporary Teaching. Hrsg. von Roy Gardner, Jo Cairns und Denis Lawton. London: Kogan Page Limited 2000. S. 33. Ebd.
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scheiden vier Prinzipien ethischen Handelns, durch welche nach Anwendung auf ein ethisches Problem eine moralisch begründete Lösung ermöglicht werden soll: das Fürsorge-Prinzip, das Nichtschadens-Prinzip, das Autonomieprinzip und das Gerechtigkeitsprinzip. Das Fürsorge-Prinzip ist die Pflicht zur Hilfestellung und zur Förderung und Erhaltung der körperlichen Integrität. Das Nicht-SchadensPrinzip geht von einer Pflicht zur Schadensvermeidung oder -verringerung aus. Das Autonomieprinzip besteht auf dem Recht auf Selbstbestimmung, und das Gerechtigkeitsprinzip beinhaltet das Gebot der Fairness, in welchem es darum geht, Diskriminierung zu vermeiden und eine Chancengleichheit herzustellen. Die Prinzipien unterliegen keiner hierarchischen Gewichtung a priori, weil sie einen gleichwertigen normativen Anspruch besitzen. Die Erhebung eines Prinzips bedarf einer Rechtfertigung, die erfahrungsbasiert sein kann, da die Prinzipien substanziell als gleichrangig gelten. Die Anwendung der Orientierungsgrundsätze auf moralische Urteile könnte deswegen unter Berücksichtigung der konkreten Umstände und Überzeugungen der Betroffenen einer Handlung erfolgen. Moralische Überzeugungen und Handlungsumstände können nicht essenziell das Wesen eines moralischen Urteils ändern, sie können aber den Prozess der Priorisierung eines Prinzips vor den anderen stark beeinflussen und schließlich die Ambivalenz der konfligierenden Prinzipien aufzeigen und die normierende Bedeutung von einem unter ihnen bestimmen. Auf diese Weise kommt der deskriptiven Ebene in der Beurteilung der moralischen Richtigkeit einer Handlung ein wesentlicher Stellenwert zu. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass rekonstruktive Ethik auf Prinzipien als allgemeine normative Vorschriften verzichtet, diese generell jedoch nicht ablehnt. Das macht sie alltagstauglich, an der Erfahrungswelt der Jugendlichen praxisnah orientiert und deswegen als didaktisch vereinfachtes Modell für die ethische Bildung bestens geeignet. Mittels eines deskriptiven Verfahrens werden Erklärungen zusammengetragen, die eine Handlung moralisch rechtfertigen sollen, und es wird überprüft, ob sie als explizite moralische Gründe des Handelns gelten können. Die Angabe von Gründen für das eigene moralische Handeln schult die Argumentationsfähigkeit, fordert die kritische Selbstreflexion heraus, und weil sie einen Selbsterfahrungswert hat, ist sie auch praktisch gewinnbringend. Die Analyse zeigt, dass die rekonstruktive Ethik zusammen mit den Prinzipien mittlerer Reichweite, dem ethischen Lernen Multiperspektivität und Mehrdimensionalität verleiht; Multiperspektivität anhand systematischer Beschreibung relevanter moralischer Phänomene und Mehrdimensionalität anhand eines ethischen Minimalismus, der einen konsensfähigen harten Kern der Moral anstrebt, der nicht durch deduktives Verfahren und pädagogisch angeordnete Grundsätze seine Legitimität erweisen muss.
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Nora Held
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Helga Peskoller
Der Sturz
Horizontumkehr, Grenzziehung, ästhetische Bildung Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, hält sie nicht stand. (Franz Kafka)
Jetzt erst ist ein Ende in Sicht, die Ankunft ist zum Greifen nahe. In vier Schritten – Sturz, Stimmung und Zufall, Energieüberschuss und innere Erfahrung, die Sanftmut nähren, abseits vom Glück – wird zuerst eine Geschichte erzählt, die sich 1992 in den Bergen zugetragen hat. Die Rekonstruktion des Erlebten dient dem Abschluss einer Erfahrung, die an die Grenzen des Sagbaren rührt und um Mitteilbarkeit ringt. Denn damals zog sich die Weite des Horizonts schlagartig auf einen Punkt zusammen und sank dorthin ein und zurück, wo er immer schon verankert zu sein scheint: in der materialen Struktur des Körpers. Dieser Horizontumkehr folgt die Schlussbetrachtung mit der Frage nach der Schwerkraft und ihrer Gegenspielerin, der Einbildungskraft. Die Richtung geben dabei Markierungen im Körper vor mit dem Ziel einer Reversion des altehrwürdigen Begriffs Bildung.
Der Sturz Als etwa 5 Meter über mir, lautlos, in einer Art Embryohaltung, langsam wie in Zeitlupe, ein Körper durch die Luft fiel, streckte ich, auf einem Sims stehend und nur eine Armlänge entfernt, die Hand nach ihm aus, zog sie aber wieder zurück, um dann dem Sturz, alles in allem rund 40 Meter, mit dem Blick bis zum Ende zu folgen, wo der nach der Schwerkraft fallende Körper, ohne vorher aufzuschlagen, gegen einen tischgroßen Fleck nasser Erde prallte, der Kopf drei, viermal nachfederte und danach war es still. Nach einem ersten Moment der Starre brach ein Sturm in mir los. Vieles schoss mir gleichzeitig durch den Kopf, auch das, was ich je über Bergunfälle gehört und gelesen hatte. Der Bruder des Abgestürzten befand sich am nächsten der Unfallstelle und als er sein Ohr an dessen Gesicht hielt und lauthals nach oben schrie, dass er noch atme und lebe, trat jeder von uns beinahe wortlos und wie automatisch in Aktion. https://doi.org/10.1515/9783110553291-009
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Helga Peskoller
Der Kletterpartner des Bruders sprang ins Tal, um Hilfe zu holen. Ich kletterte zu Michael hinunter, um ihm beizustehen, sein Bruder hinauf zur Hütte, um Wolldecken und eine Plastikplane zu holen, die neben der Hütte über einem Holzstoß lag. Zurück, fassten wir den Verunfallten bei den Händen und Füßen und versuchten ihn aus der Erde heraus auf eine etwa eineinhalb Meter entfernte Steinplatte zu heben, was nur mit größter Mühe gelang, weil die 70 Kilo im bewusstlosen Zustand gefühlt fast das Doppelte wogen, wir auch nicht um die Art und den Grad der Verletzungen wussten, daher zögerten, einfach nur zuzupacken. Während es erneut zu regnen, aber noch bevor es zu blitzen und donnern begann, lag er in zwei Decken gewickelt auf festem Grund. Sein Bruder kletterte zur Hütte hinauf, um nach einem Regenschirm zu suchen, und als er tatsächlich mit einem zurückkam und ihn aufgespannt zum Schutz für die Nacht mir in die Hand drückte, schüttete es bereits wie aus Kübeln. Ein Blitz nach dem anderen zerriss die Nacht, ich zählte die Abstände bis zum Donner, die immer kürzer wurden, bis sich das Gewitter direkt über uns entlud. In diesen Lärm hinein versuchte ich weiter, Michael atmen zu hören und mit ihm unentwegt zu sprechen, damit er sich nicht unbemerkt aus dem Leben schlich. Derweil postierte sich sein Bruder wieder oben, in der Nähe der Hütte, um nach Zeichen der Hilfe aus dem Tal Ausschau zu halten. Dass bei diesen Verhältnissen ein Hubschrauber fliegen würde, daran wagte kaum jemand zu glauben, umso quälender der Gedanke, dem Boten könnte etwas zugestoßen sein, es war dunkel, das Gelände unwegsam, die zu bewältigende Strecke lang, Normalgehzeit 3 ½ Stunden, er trug eine Brille mit neun Dioptrien, der Boden war rutschig, dazu die Blitze. Ich wartete mit Michael, der außer Atmen keine Reaktionen zeigte, inmitten einer wild gewordenen Natur stundenlang auf Hilfe von außen. Seinen Oberkörper an mich gelehnt, den Kopf seitlich leicht geneigt von meinem rechten, abgewinkelten Arm gehalten, begann ich nach und nach zu begreifen, dass hier, an diesem abgelegenen Ort, auch Sterben etwas Natürliches wäre.
Stimmung und Zufall Der Unfall ereignete sich Mitte September 1992 gegen 16 Uhr 30 in unmittelbarer Nähe der Neuen Reutlinger Hütte, eine kleine, auf 2395 Meter zwischen Tirol und Vorarlberg gelegene, mit Holzschindeln gedeckte Unterkunft für Selbstversorger. Tags zuvor hatten wir sie von Langen aus erreicht. Es war schwül, das Gehen fiel schwer, aber oben auf den Almen frischte es auf, wir legten einen Gang zu und kamen kurz vor halb acht ans Ziel.Wir versuchten Feuer zu machen, was nicht auf Anhieb gelang, weil das Wetter drückte und zunächst nur Rauch sich entwickelte,
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der im Hals kratzte, aber dann stellte sich dieses wohlige Gefühl ein, das ich meistens auf Hütten habe, weil selbst auf einer aufgewachsen. Wir stellten einen Wasserkessel auf, machten Tee, ein wenig Glühwein, dazu Schwarzbrot, Käse, grünen Paprika und ein paar Tomaten aus dem Rucksack. Danach sprachen wir übers Klettern, diskutierten zur Frage der Verantwortung der Intellektuellen bei Pierre Bourdieu und über Jean-Luc Godards letzten Film. Wir legten uns hin, es gab nur einen Raum, alles spielte sich in der Küche ab, durch die der Länge nach ein Strick gespannt war, über den wir unsere verschwitzten Kleider hängten. Der Schlaf war mäßig und am nächsten Morgen brachen wir nach einem bescheidenen Frühstück Richtung Pflunspitze auf. Das ist ein Berg mit drei Gipfeln, an der höchsten Stelle 2912 Meter und mit einer Anzahl schöner Felsklettereien. Welche von denen wir damals aussuchten, weiß ich nicht mehr, vermutlich eine neuere mit wenig Wiederholungen. Weit kamen wir aber nicht, am Einstieg begann es zu regnen, Nebel zog auf und nach der zweiten Seillänge fassten wir nach längerem Hin und Her den Entschluss umzudrehen; morgen wollten wir es nochmals versuchen, seilten ab, packten unsere Ausrüstung zusammen, stiegen zur Hütte ab und auf halbem Weg im Kar las ich einen handgroßen Stein in Form einer Pyramide auf mit rauer Oberfläche und gab ihn Michael, zur Erinnerung. Unten angekommen, kochten wir Minestrone, spielten Karten, legten uns dann aufs Ohr, um dem Prasseln auf das Blechdach zu lauschen, und dabei mussten wir eingedöst sein, bis plötzlich einer rief: „Raus, ihr faulen Säcke, kein Tropfen Regen mehr, schönstes Wetter!“ Etwas ungläubig schälten wir uns aus den Decken und traten nacheinander ins Freie. Die Sonne stand halbhoch, das Licht war grell, zeichnete scharfe Konturen und während ein kühles Lüftchen aufkam, begann der Fels zu trocknen. Kurzerhand beschlossen wir noch ein wenig klettern zu gehen, unterhalb der Hütte, wo sich Steinblöcke übereinanderstapeln und von schmalen Simsen mit dürren Grasbüscheln durchbrochen sind. Es war etwa halb drei als wir wärmere Kleider und die Kletterpatschen anzogen, kurz überlegten, ob das Seil mitsoll, uns dann aber dagegen entschieden, weil das Schönwetterfenster kurz, die Hütte nah und jeder gut in Form war. Mit dem Probieren kam die Lust und mit ihr die Konzentration, so dass die Schwierigkeiten gesteigert und die Fallhöhen nicht mehr so genau beachtet wurden. Das hielt gute zwei Stunden so an, wurde mit scherzhaften Kommentaren für ins Stocken geratene, mit anerkennenden für reibungslos durchgezogene Bewegungen bedacht. Der Rhythmus, das Sprechen, das Ausschütteln der Arme auf den Simsen, all das schuf Sicherheit und wir kamen in Fahrt. Währenddessen verstrich die Zeit, die Sonne senkte sich und verschwand hinter dichter gewordenen Wolken, das Licht war fahl und die Luft spürbar kälter geworden, als unvermittelt, wie aus heiterem Himmel, ein Körper rund 5 Meter
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über mir, zusammengerollt und der Schwerkraft nach, eine Armlänge neben mir, lautlos in die Tiefe fiel. Dieses Bild steht seither in mir. Es ist abzurufen durch die Stimmung, die – so meine These – das Geschehene wachhält und in Gang setzte und dabei zweimal auf Unbestimmtes verweist: Kulturgeschichtlich auf das anthropologische Konzept des Abenteuers, das im 12. Jahrhundert ausgearbeitet auf ein „experimentales Handeln“ setzt, das die Vormoderne irreversibel in die Moderne verwandelt. Dabei geht es um exakte Planung, Vorbereitung und Organisation, um dann aufbrechen und den Zufall feiern zu können. Die Stimmung wiederum gehört zur allgemeinen Theorie sinnlicher Wahrnehmung und gibt Auskunft über die Beziehung zwischen den Qualitäten der Umgebung und der eigenen Befindlichkeiten. Das heißt im konkreten Fall, dem Zufall nicht entkommen zu können und auch nicht zu wollen, weil Bestandteil und Beweggrund eines Tuns, das, erstmals 1575 als „Bürgsteigen“¹ bezeichnet, Zufälle geradezu anlockt – wegen der Stimmung. Als Verbund von innen und außen sind Subjekt und Objekt in einem Dazwischen miteinander verschränkt, in das man wegen der Fähigkeit, wahrzunehmen und zu empfinden, immer schon eingetaucht ist. Oder anders gesagt: Auf Außen bezogen – das können Menschen, Tiere, Pflanzen, Dinge, Nebel, Wind und Wetter sein – und inwendig fühlend, erzeugt die Stimmung eine transindividuelle Erfahrung, in der man sich selbst, mit der Umgebung aufs Engste verbunden, immer schon überschritten hat.
Energieüberschuss und innere Erfahrung Die erzählte Geschichte hat Anfänge und Vorgeschichten mit einem nie enden wollenden Echo, ähnlich dem Geburtsblitz, der unsichtbar am Himmel stehen bleibt und in dessen Schein wir unbemerkt zeitlebens weitermachen.² Ein Anfang liegt auf dem kleinen Balkon einer Innsbrucker Studentenbude, wo gegen Mittag bei föhniger Stimmung, Tee und Kokoskuchen mit Palmzucker die Idee aufkam, zur Pflunspitze klettern zu gehen. Allein schon der Name sorgte für Unterhaltung, den Berg selbst kannte niemand, irgendwo lag ein Gebietsführer herum, über den wir ihn ausfindig gemacht hatten, dann ging es schnell, wir lasen Diese Begriffsbestimmung findet sich in der Reisebeschreibung des bayrischen Hofpredigers Jakob Rebus und bezieht sich auf Pratovecchio im Apennin (vgl. Peskoller, Helga: BergDenken. Eine Kulturgeschichte der Höhe. 2 Studien. Wien: Eichbauer 1999. S. 17. Vgl. Sloterdijk, Peter: Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988. S. 65.
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die Beschreibung, packten die Klettersachen zusammen, verstauten alles in einem rostigen Opel Karavan, holten Zündhölzer, Stirnlampe, Lebensmittel, Bücher für 3, 4 Tage und ein zweites Doppelseil noch aus meiner Wohnung und nach eineinhalb Stunden Fahrtzeit lag der Arlberg hinter und der lange Anstieg zur Hütte vor uns. Wenn theoretisch ansatzweise gefasst werden soll, was praktisch geschah, sprich: wie aus einem launigen Balkongespräch eine Erfahrung wurde, die unsere Leben veränderte, drängt sich das Konzept der Antiökonomie auf: Bereits der Start geriet nicht nach den Regeln der Vernunft, auch nicht nur nach der Struktur des Abenteuers, er war überstürzt, ohne gute Vorbereitung, vielmehr stolperten wir rücklings in einen, dem Augenblick geschuldeten Entschluss, ohne die Folgen zu bedenken oder den Rat meines Vaters, doch das alte Funkgerät aus Hüttenzeiten mitzunehmen. Unser Aufbruch schien also einer anderen „Logik“ zu folgen. Wenn Edgar Morins Beschreibung des Menschen als ein mit Unvernunft begabtes Tier richtig ist³ und zudem stimmt, was Georges Bataille zu behaupten wagt, dass die Ökonomie in der Antiökonomie gründet und nicht umgekehrt,⁴ dann wäre in aller Kürze gesagt, was es mit dem Sturz, dem Vor- und Nachher auf sich hat: maßlose Selbstverschwendung als Ursache, Wirkung und Folge eines Subjekts am Siedepunkt. Oder anders gesagt: Hier könnte ein Test aufs Exempel stattgefunden haben, wirklich leben oder doch eher sterben zu wollen. Denn geht es nach Michel Serres, ist allein durch die Tatsache, geboren worden zu sein, nicht schon alles getan, sondern dies will später, aus freien Stücken zumindest einmal selbst noch entschieden und bestätigt werden.⁵ Folgt man wiederum Bataille, geht damit eine innere Erfahrung des Selbstverlusts einher,⁶ die ansatzweise auch die Zeugen trifft. Die Angst wirkt dabei als Katalysator oder Sprungbrett, um diese Erfahrung der Entgrenzung zu befördern. Was im Untergrund sonst noch am Werke sein mag, ist nur zu ahnen: eine große Sehnsucht nach konkreter Freiheit,⁷
Vgl. Morin, Edgar: Das Rätsel des Humanen. Grundfragen einer neuen Anthropologie. München: Piper 1974. S. 132 ff., und Morin, Edgar: „Die Unidualität des Menschen“. In: Anthropologie nach dem Tode des Menschen. Hrsg. von Dietmar Kamper und Christoph Wulf. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. S. 15 – 24. Vgl. Bataille, Georges: „Der Begriff der Verausgabung“. In: Die Aufhebung der Ökonomie. Hrsg. von Gerd Bergfleth. Berlin: Matthes & Seitz 1985. Vgl. Serres, Michel: Die fünf Sinne. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. S. 15. Vgl. Bataille, Georges: Die innere Erfahrung nebst Methoden der Meditation und Postskriptum 1953. Atheologische Summe I. Berlin: Matthes & Seitz 1953. Vgl. Peskoller, Helga: „Der Sprung“. In: Anthropologie und Pädagogik des Spiels. Hrsg. von Johannes Bilstein, Matthias Winzen und Christoph Wulf. Weinheim/ Basel: Beltz 2005. S. 209 – 216. Dies.: „Augenblicke unmöglicher Freiheit. Eine Nachschreibung am Beispiel Eiger-B.A.S.E.“.
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die sowohl dem Bedürfnis nach Erlösung durch Trennung als auch dem Wunsch nach endgültiger Verbundenheit durch die Auflösung der eigenen Individualität entstammt und zu folgen scheint. Immer noch saßen wir unter dem Schirm, ohne ihn wären wir fast ertrunken, und irgendwann, so gegen zwei Uhr nachts glaubte ich schwach Michaels Bruder durch den dichten Nebel rufen hören: „Sie kommen, ich sehe Lichter und höre Stimmen!“ Sie kamen wirklich, sechs oder sieben Bergrettungsmänner und ein Arzt. Er war nicht vom Dorf, sondern kam aus Deutschland, war nur zufällig als Feriengast in Klöstere und später werden wir erfahren, dass er auch am Hockenheimring seinen Dienst tat, jedenfalls war er kein Bergsteiger, daher dauerte es so lange, er tat sich schwer mit Steigen und Schnaufen, war über 60 und wurde nun zu uns abgeseilt. Mit einer Taschenlampe prüfte er zuerst Michaels Pupillen, schaute mich fest an und sagte: „Er lebt noch.“ Dabei zuckte er mit den Schultern, was für mich bedeutete, dass Hoffnung bestand, aber es knapp werden könnte. Die Retter legten den Verunfallten in eine Trage und zogen diese mittels Flaschenzug nach oben, langsam und umständlich. Oben angelangt, wurde er aus den Decken gewickelt, der Kleider entledigt, blank auf den Küchentisch gelegt und genau untersucht. Auch das dauerte. Ich hatte Sorge, dass in der Hütte passieren könnte, was stundenlang im Freien vermieden wurde – eine Unterkühlung. Das wusste ich von Franz Oppurg, der 1981 beim Abstieg vom Hechenberg abgestürzt und in der Klink auf dem Operationstisch erfroren war, allerdings hatte das einen anderen Grund, sein Temperaturregelungszentrum war im Zuge dieses Absturzes irreparabel beschädigt worden. Der Arzt war gefordert, er musste entscheiden, ob der Verletzte transportfähig ist und wenn ja, mit Akia oder Helikopter. Da keine Wetterbesserung anzunehmen war und der Zustand des Verletzten sich zusehends verschlechterte, fiel sein Entscheid für den Abstieg, jetzt und so rasch wie möglich. Wir machten uns also auf den Weg. Die Steine waren glitschig und nass die langen Gräser, durch die Bäche über das steile Gelände schossen. Der mit einem Rad ausgestattete wannenförmige Aluschlitten, in den man den Verletzten gegurtet hatte, wurde gestoßen, gezogen und getragen. Ab und zu kippte der Schlitten um, dann schlug der Kopf gegen die Steine. Ziemlich genau um halb sieben in der Früh erreichten wir endlich den Rettungswagen, dessen Blaulicht man durch den Nebel schon länger hatte blinken sehen. Auf den letzten 100 Metern glaubte ich ein kurzes Drücken an meinem linken Arm gespürt zu haben, durch Michael, dem ich nie von
In: Texturen von Freiheit. Hrsg. von Helga Peskoller, Michaela Ralser und Maria A.Wolf. Innsbruck: Innsbruck University Press 2007. S. 53 – 76.
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der Seite wich, das erfüllte mich mit Freude und großer Zuversicht, auch wenn er nicht zu Bewusstsein kam. Obwohl die Geschichte hier noch lange nicht zu Ende erzählt ist, breche ich ab für ein erstes Resümee.
Die Sanftmut nähren, abseits vom Glück⁸ Die Aufarbeitung erfolgte auf unterschiedliche Weisen, zu einem Ende kam keine. So wurde dieses Trauma zu einem Wegbereiter, auch wenn unsere Wege auseinanderliefen, was nicht zwingend gewesen wäre. Denn der Verlauf dieser Geschichte nahm einen anderen Verlauf als bei Franz 1981 am Hechenberg mit 25 oder mit 18 bei Peter Neswadba in der Martinswand 1975. Michael hat überlebt und das trug sich anders als damals ein, in meine Seele, in mein Denken, in meinen Körper und hält ein stilles Wissen über das Leben als eine Gratwanderung auf hohem Energieniveau wach,⁹ das im Überschuss gründet, sich verschwenden will und dabei unendlich stark, widerstandsfähig und zugleich äußerst zart und zerbrechlich ist. Auf welche Seite es jeweils gerät, hängt vom Zufall ab, mehr als vom Wollen, Wissen und Geschick, daher gibt es auch keine Helden – zum Glück. Was es gibt, ist ein Zögern aus Demut, Sanftmut und Ehrfurcht, trotz allem weiterleben zu dürfen, obwohl Leben keinen Sinn hat, aber auch nicht sinnlos ist, sondern außerhalb des Sinns steht. Zur Demut bin ich über den Übermut gelangt, aber das habe ich hart gelernt; den Mut habe ich dabei nie verloren, er ist für mich etwas Selbstverständliches. Der Mut hat sich jedoch nach innen gekehrt, er hat sich dem Leben unterstellt, ist nun ins Leben eingebunden.
So fasst Michael heute zusammen, was damals im Frühherbst 1992 geschah und in dessen Nachklang er bis heute steht. Das scheint die pädagogische Warnung „Übermut tut selten gut“ zu vergessen – die Wirkungen des Nachklangs mit seinem nie enden wollenden Echo. Darin drückt sich möglicherweise die strengste Form von Bildung aus, trotz und wegen der Folgen entschieden Ja zu einem Leben zu sagen, das man – ohne Wenn und Aber – hat, hier und jetzt hat. Das heißt aber auch, fortan nicht mehr nach dem
In Abwandlung des Buchtitels von François Jullien 2006. Vgl. Cramer, Friedrich: „Leben“. In: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hrsg. von Christoph Wulf. Weinheim/ Basel: Beltz 1997. S. 52.
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Glück zu suchen, sondern sein Leben in Gleichmut zu nähren, damit ohne die Angst weiterzumachen ist, milder, realitätsfest und irreversibel wandlungsfähig.
Schlussbetrachtung Das wäre ein schöner Schluss gewesen, bestünde nicht Vermutung, dass diese Geschichte mehr enthält. Dem gilt es, im Rücklauf, nochmals nachzudenken: Michael, der damals abgestürzt war, resümiert heute, dass sich der Mut seither nach innen gekehrt habe und jetzt eingebunden ist in sein Leben. Über die Demut hat sich Übermut zu Mut verwandelt, der nun alltäglich zur Verfügung steht, keine Glückssuche veranstaltet, sondern hilft, sein Leben zu nähren. Hält man sich mit François Jullien an die chinesische Antike, wäre darunter Folgendes zu verstehen: das Lebenspotential, mit dem man ausgestattet ist, zu unterhalten und zu entfalten; die Fokussierung des Denkens auf das Vitale, d. h. auf die organischen Lebenskräfte, mit denen es in Verbindung steht; das Loslassen von allem Äußeren zugunsten einer Hinwendung zur inneren Fähigkeit, mit dem Prozesshaften und Subtilen zu kommunizieren, mit seinen unterschiedlichen Graden der Resonanz; durch Verfeinerung und die Aufhebung von Blockierungen sich wandlungsfähig zu erhalten, ohne auf ein Ziel hinzuarbeiten oder auf eine moralische Instanz zu setzen, weil Leben keine Kategorie der Beabsichtigung ist, sondern der Beobachtung und Ausnutzung von Wirksamkeiten des Vitalen, das genährt werden muss und wofür jeder selbst Verantwortung trägt.¹⁰ Vieles von dem scheint im Nachhall des Sturzgeschehens stattgefunden zu haben, nicht als reines Wissen oder abstrakte Erkenntnis, sondern im Sinne einer Aktualisierung und Belebung, was nicht allein das eine, sondern auch die Leben der Zeugen erfasst, verdichtet und auf die Perspektive eines irreversibel endlichen Prozesses ausgerichtet hat, der im Energieüberschuss gründet und in einer maßlosen Selbstverschwendung das Subjekt zum Siedepunkt treibt, wo es am stärksten gefährdet und am meisten gesichert scheint. Diesen Widerspruch zu verstehen, hilft der ehemalige Schiffskapitän, später Mathematiker und Philosoph Michel Serres, wenn er davon spricht, dass die erste durch eine zweite (Selbst‐)Geburt bestätigt werden möchte und dieser mitunter heikle Vorgang ein gewisses Verhältnis zu den Sinnen lehrt.¹¹ Das könnte in der
Das ist einer der Kerngedanken bei Jullien 2006 dank des West-Ost-Vergleichs der Denksysteme. Vgl. Serres: Sinne. S. 11.
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Nähe der Nördlinger-Hütte der Fall gewesen sein, verbunden mit einem vorgängigen Ja im Sinne einer bedingungslosen Bejahung des Lebens. Untergründig musste sie zur Wirkung gekommen und zum Rettenden geworden sein, das bereits Hölderlin mit der Gefahr wachsen sah. Hinzu kommt die Angst, ein starkes Gefühl, das niemand haben will, weil es die innere Erfahrung des Selbstverlusts und die äußere Erfahrung der Entgrenzung befördert. Ob diese Angst einer unstillbaren Sehnsucht nach konkreter Freiheit entspringt und zugleich nichts mehr als sie fürchtet, wird jetzt nicht erörtert,¹² es darf aber angenommen werden, dass das schwer zu kontrollierende Gefühl der Angst auf die konstitutive Ambivalenz der Individualität verweist. Umso wichtiger ist die Stimmung. Sie erzeugt transindividuelle Erfahrungen, bei denen man mit der Umgebung aufs Engste verbunden sich immer schon selbst überschritten hat. Diese Überschreitung wirkt befreiend und führt kulturgeschichtlich zurück ins 12./13. Jahrhundert. Denn folgt man dem deutschen Romanisten Michael Nerlich, begann sich der damals handelnde Mensch erstmals vom Wagnis, vom Lebensexperiment her zu denken, das auf Plan und Zufall gründet. Aus dieser zwiefachen Grundstruktur – perfekte Planung, Organisation und Vorbereitung, um dann den puren Zufall feiern zu können – leitet Nerlich die These ab, dass dieses Abenteuer-Denken am entscheidendsten von allen Denkformen die Welt irreversibel in die Moderne verwandelt habe.¹³ Diese Annahme fand bislang zu Unrecht wenig Beachtung, lässt sich aber in Verbindung mit dem bringen, was unter Stimmung zu verstehen ist. Sie war es auch, die 1992 mindestens dreimal bestimmend war und den Zufall angelockt hatte: einmal vor Aufbruch, dann beim Absturz und im Zuge der Rettungsaktion. Das Zusammenspiel zwischen Umgebung und eigener Befindlichkeit brachte unterschiedliche Qualitäten hervor, welche – gelingt eine Analyse – die Basis abgeben könnte für eine anthropologisch begründete allgemeine Theorie sinnlicher Wahrnehmung. Die Natur darf dabei nicht fehlen,¹⁴ spätestens seit dem Absturz, das erzählt dieses Beispiel auch, übernahm sie die Regie. Die verzögerte Einsicht, dass an Vgl. Peskoller, Helga: „Außer Gewohnheit. Subjektive Ent- und Absicherung in extremen Lebenslagen“. In: Konglomerationen – Produktion von Sicherheit im Alltag. Theorien und Forschungsskizzen. Hrsg. von Maria Wolf, Bernhard Rathmayr und Helga Peskoller. Bielefeld: transcript Verlag 2009. S. 109 – 218. Dies.: „Berge, Menschen, Meere. Ent- und Absicherung im Durchzug der Elemente“. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. Band 24 (2015). Heft 1. S. 39 – 50. Vgl. Nerlich, Michael: Abenteuer oder das verlorene Selbstverständnis der Moderne. Von der Unaufhebbarkeit experimentalen Handelns. München: Gerling Akademie Verlag 1997. S. 18 f. Vgl. Peskoller, Helga: „Wider die Vernunft“. In: Natur. Pädagogisch-anthropologische Perspektiven. Hrsg. von Eckart Liebau, Helga Peskoller und Christoph Wulf.Weinheim/ Basel/ Berlin: Beltz Wissenschaft 2003. S. 51– 56. Dies.: „Natur, Raum, Körper. Zur Transformation von Wissen“.
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diesem abgelegenen Ort auch Sterben etwas Natürliches wäre, kommt nicht von ungefähr.Warum die Verzögerung, weshalb wurde das nicht schon von Anfang an gewusst? Darauf gibt es eine komplizierte wie simple Antwort, sie lautet: wegen der Geschichte. Die Vorstellung, dass das Seiende ein Ganzes war, reicht bis ins 8. vorchristliche Jahrhundert zurück. Zu diesem Ganzen gehörte auch der Mensch, weil selbst Natur und an ihr ausgerichtet; überhaupt war alles Menschliche „nichts als Natur“. Allmählich begann diese Vorstellung jedoch brüchig zu werden und damit ging dann auch das Ende der frühen Naturphilosophie, die nach dem Ursprung aller Dinge (arché) fragte, einher. Begibt man sich auf die Suche nach dem Urheber für dieses Ende, trifft man auf Antiphon,¹⁵ der eine folgenreiche Trennung in Natur und Nicht-Natur vornahm und der Natur noch den Vorrang einräumte. Er sprach von der „Natur als das Seiende“, dem das Prinzip der Bewegung innewohnt und damit Entstehung, Regeneration und Reproduktion. Daher sind die Gebote der Natur gewachsen, während die Gebote der NichtNatur vereinbart, also lediglich auf die Menschen angewiesen sind. Zu dieser Nicht-Natur gehörten einerseits Technik, Kunst und Handwerk und andererseits Satzung, Sprache und Politik. All das befand sich außerhalb der Natur, weil vom Menschen für die Menschen erfunden und geschaffen. Das bedeutet, dass dem Menschen historisch ein doppeltes Wesen zugeschrieben wird: Er ist nicht nur eins, sondern zwei – teils Natur, teils Nicht-Natur. Das wiederum macht ihn zu einem Grenzbewohner. Später taucht dieser Gedanke u. a. in Pico della Mirandolas posthum erschienenen Rede Über die Würde des Menschen aus dem Jahr 1486/1487 wieder auf, wenn er darüber spricht, dass am sechsten Tag der Welterschaffung Gott für den Menschen nichts mehr übrighatte, da alle Talente, Vermögen und besonderen Fähigkeiten bereits verteilt und vergeben wurden. Aber er wäre nicht Gott, wenn ihm nicht doch noch etwas einfiele,
In: räumen – Raumwissen in Natur, Kunst, Architektur und Bildung. Hrsg. von Birgit Engel, Helga Peskoller, Kristin Westphal, Katja Böhme und Simone Kosica. Weinheim/ Basel: Beltz Juventa 2018. S. 19 – 38. Vom Leben des Antiphon (ca. 480 – 411) ist wenig bekannt und unbewiesen, ob der Redner und Sophist ein und dieselbe Person war. Als gesichert gilt, dass der für das griechische Denken des 5. Jahrhunderts revolutionäre Satz „Von Natur aus sind wir alle in jeder Hinsicht gleich geschaffen, sowohl Barbaren als auch Griechen“ aus seiner auf Papyros lückenhaft erhaltenen Schrift Über die Wahrheit stammt, in der er auch diesen paradigmatischen Gegensatz von Gesetz (nómos) und Natur (phýsis) entwickelt hat. Als vermeintlicher Drahtzieher des Putsches der Vierhundert wurde er trotz exzellenter Verteidigungsrede mit antithetischem Aufbau und sprachlich präzise dargestelltem Tathergang zum Tode verurteilt. Über Antiphons Rolle in der Liste historischer Konstellationen, in denen sich der Mensch selbst nur im Verhältnis zur Natur verstand, vgl. Böhme, Gernot: „Natur“. In: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hrsg. Von Christoph Wulf. Weinheim/ Basel: Beltz 1997. S. 92 ff.
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und so schenkt er den Menschen die Teilhabe. Sie macht ihn zwar zu nichts Besonderem, aber gerade deshalb ist er imstande, an allem teilzuhaben – ein tröstlicher Gedanke für einen, der die Grenze bewohnt und an beidem – der Natur und der Nicht-Natur oder Kultur – teilhat und darin gründet, vollkommen natürlich und vollkommen kulturell zugleich.¹⁶ Beides ist fest ineinander zu einem gordischen Knoten verschlungen, den man ohne Gewalt nicht lösen kann und deshalb bleibt es bei Annäherungen an dieses Rätsel des Humanen. Was seit der Renaissance vertieft und ausgefaltet wurde und bis heute das Denken der Anthropologie bestimmt, nahm vor gut 2500 Jahren seinen Ausgang. Das ist eine lange Zeitspanne, durch die ich damals, oben am Berg, ähnlich unbemerkt hindurchgefallen war, wie man durch ein Futterloch in den Tennen fallen kann, um nach und nach erst zu begreifen, dass die Endlichkeit zur Natur des Menschen gehört und somit auch Sterben als etwas „Natürliches“ eine Möglichkeit ist, mit der zurechtzukommen sein muss. Aber genau das war für mich vorher nicht selbstverständlich, denn nur weil sich der Absturzort fernab der Zivilisation befindet, geht das Kulturelle nicht automatisch schon verloren, im Gegenteil. Es bestimmt mehr denn je die Art des Fühlens, Denkens, Hoffens und Ringens um das Leben des anderen mit, trotz und wegen der ausweglosen Lage, in die wir geraten sind. Warum werden solche Orte dann überhaupt aufgesucht? Selbst diese Frage lässt sich recht einfach beantworten: wegen des Religiösen. Dem Philosophen Giorgio Agamben zufolge lässt sich als Religion definieren, was die Dinge, Orte, Tiere und Menschen dem allgemeinen Gebrauch entzieht und in eine abgesonderte Sphäre versetzt.¹⁷ Demnach gibt es keine Religion ohne Absonderung und jede Absonderung enthält und bewahrt einen religiösen Kern. Sucht man nach Beispielen,¹⁸ trifft man z. B. auf die Wüstenväter, jene frühchristlichen Mönche in den Wüsten Ägyptens und Syriens, die als Eremit oder in Gruppen seit dem späten 3. Jahrhundert ein zurückgezogenes Leben führten, das von Askese, Gebet und Arbeit bestimmt war. Allerdings muss man kein Mönch sein oder in der Wüste leben, um religiöse Erfahrungen zu machen, ihre Vielfalt ist groß. Fallweise genügt es, Wände hochzuklettern, auf abseitige Berge zu steigen oder dort abzustürzen. Die damals ausgelösten inneren Erfahrungen waren solche der Übertretung und Grenzüberschreitung, sie kamen unvorbereitet und plötzlich, man
Vgl. Morin. Edgar: Unidualität. Vgl. Agamben, Giorgio: Profanierungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. S. 71. Vgl. Peskoller, Helga: „Abstieg und Rückkehr. Das Animalische religiöser Erfahrung als Blickgeschehen“. In: Formen des Religiösen. Pädagogisch-anthropologische Annäherungen. Hrsg. von Christoph Wulf, Hildegard Macha und Eckart Liebau. Weinheim/ Basel: Beltz 2004. S. 370 – 381.
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wurde in einen Zwischenzustand von rational und irrational katapultiert: Einerseits galt es nüchtern und rasch die richtigen Handlungen zu setzen, andererseits fand man sich in einer unwirklichen Sphäre vor, die verbunden war mit Angst und einer tiefen Selbstfremdheit. Die religiöse Erfahrung, die dabei gemacht wurde, nahm – ohne die Prädikate des Religiösen hier näher auszuführen – die Form der Vermittlung an. Nachzugeben war dem Selbstverlust, standzuhalten der Spannung und zu vermitteln war zwischen einem Leben, das sich gerade noch zu erhalten wusste, und einem Sterben, das in dieses Leben hineinzudrängen und ein Chaos zu verursachen begann, welches alles einzunehmen drohte. Es war nämlich nicht so, dass diese Vermittlung aus freien Stücken geschah, vielmehr wurde sie von den Umständen erzwungen. Bei Nacht, Blitzen, Donner und Regen bestand eine schlechthinnige Abhängigkeit von einer doppelten Natur: der Natur, die rundum gewütet, und Michaels Natur, die geschwiegen und sich mit letzter Kraft gegen ihr Vergehen zur Wehr gesetzt hat, was mitzufühlen schier unerträglich, unmenschlich menschlich war. Oder anders gesagt: Es hat sich um eine Erfahrung höchster Ungewissheit gehandelt, wodurch jedes Wissen von und über Menschen ins Unerforschliche hinübergleitet. Einen 40-Meter-Sturz zu überleben ist ein Wunder, das Bild vom Aufprall steht weiter in mir. An Schärfe hat es wegen des Abstands und Ausgangs verloren, während die Wunden im Körper des Verunfallten bis heute als Grenzziehungen gegen solche Abenteuer fungieren und die Alltagsbewältigung selbst zur Gipfeltour geworden ist. Über die Frage, warum dieses Bild in mir stehen geblieben ist, habe ich oft nachgedacht. Heute weiß ich, dass es mit dem, was es gezeigt, mit dem, was es nicht gezeigt hat, sowie mit dem Zeigen selbst zu tun haben muss. Gezeigt wurde ein nach der Schwerkraft fallender Körper, der gegen einen tischgroßen Fleck nasser Erde prallte, drei, viermal nachfederte und danach war es still. Die Stille schlug wie ein Schrei in die Zuschauer, legte sich als zweites „Bild“ über das erste und verschloss es. Im Abstand glaube ich zu erkennen, dass sich hier das Bild als Bild gezeigt ¹⁹ hat. Etymologisch führt das Bild auf das altsächsische „bilidi“ zurück, was so viel wie Wunder, Wunderzeichen und Rätsel bedeutet. Aus der Perspektive des
Vgl. Böhm, Gottfried: „Die Wiederkehr der Bilder“. In: Was ist ein Bild? Hrsg. von Gottfried Böhm. München: Fink 1994. S. 11 ff. zu Komplexität des Bildbegriffs, Diskurstraditionen, kontroverse Debatten und elementare Fragen wie z. B. was Bilder sprechend macht, wie sich Bedeutungen in Materie und menschliches Gemüt einprägen, wie sich das Bild zur alles dominierenden Sprache verhält u. a. m.
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realen Geschehens war das Überleben nichts anderes,²⁰ auch das Übersetzen in die Schrift führte zu einer Wiederkehr der Bilder und geht man diesen auf den Grund, bleiben nichts als Rätsel übrig. Nüchtern betrachtet, erzählt die Stille nach dem Aufprall von einem Schock, der die Zuschauer erfasst hat. Es kam zu seinem Bruch mit den bisherigen Erfahrungen. Der Faden ist gerissen und zugleich auch nicht, denn nach kurzer Zeit, als klar war, dass der Atem nicht ausgesetzt hatte, lief die Rettungsaktion an, so, als hätte jeder von uns nie anderes getan. Aus der Medizin kennt man dieses Phänomen und kann es gut erklären, auf der Ebene des Erlebens fällt das schwerer, was hilft, sind die Bilder – trotz und wegen des Verschlusses. Er hinterließ beim Verunfallten körperliche, bei den Zeugen seelische Male und Kerben als Gedächtnisspuren und Einschnitte einer anderen Schrift. Bei Dietmar Kamper ist das zu finden, er dachte über den Zusammenhang von Wunde und Wunder als schlagenden Beweis einer zeremoniellen Ordnung nach und kam zu dem Schluss, dass hier einerseits Intensität gegen Intention, Schrift gegen Botschaft, Buchstabe gegen Geist und Magie gegen Mythos steht, weil die geschlagenen Wunden Beweise anderer Art als jene sind, die man aus Argumentationsgängen kennt, weshalb sie nicht vollständig in eine verständliche Sprache zu übersetzen sind, obwohl man weiß, dass es sie gegeben hat und gibt und sie aufgrund ihrer Fremdheit die geschlossene Immanenz des Imaginären verhindern; und dass andererseits solche Erfahrungen wahrscheinlich eine Schleife durchlaufen müssen, um lebendig zu bleiben. Kamper führt aus, wie er sich diese Schleife von „Inkorporation und Mimesis, von Einbildung und Ausdruck“ vorstellt, er sieht die „Zeichen machende Phantasie“, passiv und aktiv, als eine Art „Schaltpult“ arbeiten und drängt auf das volle Durchlaufen der Bahn ohne Fixierung, damit erlittene Verletzungen nicht nach Vergeltung trachten, sondern sensibel machen für die Grundrisse dieser Welt.²¹ Es ist anzunehmen, dass eine solche Logik bislang nur ästhetisch ausgebildet wurde, weshalb Dietmar Kamper in die gegenwärtige „Kunst der Zeichen-Setzung“ vertraut hat. Denn sie referiere praktisch, was theoretisch zum Verschwinden gebracht wurde: der Zusammenhang von Wunde und Wunder. Ihn zu erinnern, ermögliche eine andere Version von Welt im Sinne einer „entrüsteten Ordnung“.²² Und den Gedanken, dass die Kunst, wo die Wirklichkeit selber zum
Vgl. Peskoller, Helga: „überlebt“. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. Band 17 (2008). Heft 2. S. 195 – 209 mit ersten Bausteinen für eine erfahrungsbasierte Theorie des Überlebens. Vgl. Kamper, Dietmar: Zur Soziologie der Imagination. München/ Wien: Hanser 1986. S. 159 f. Vgl. ebd., S. 163.
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Ensemble des Fiktiven sich wandelt, ihrerseits zur Antifikation wird, glaube ich bei Odo Marquard gefunden zu haben. Die Frage, ob Klettern eine Kulturtechnik, Sport oder gar Kunst ist, kann hier nicht entschieden werden.²³ Stattdessen sollen drei Kurzfilme des niederländischen Video- und Konzeptkünstlers Jan Bas Ader²⁴ vorgestellt werden: Einmal ist Ader am Dach eines Hauses zu sehen, wie er auf einem Stuhl sitzt und auf der Dachschräge kippelt, bis er hinabstürzt;²⁵ ein andermal sieht man ihn auf dem Fahrrad über den Straßenrand lenken und schnurstracks in eine Gracht stürzen;²⁶ ein Jahr später hängt er an einem Baum und hangelt sich an einem Ast entlang, bis er die Kraft verliert und schließlich in den darunter liegenden Wassergraben fällt.²⁷ Der Zusammenhang zur Eingangserzählung liegt auf der Hand: Es geht um die Schwerkraft, die den Körper zum Boden zurückholt und es geht um die Einbildungskraft,²⁸ die dagegen zu halten versucht, sonst gäbe es weder diese Performances, noch die Erzählung über den Sturz. Im Unterschied dazu hatte der Künstler seine Stürze vorbereitet und willentlich herbeigeführt, es bedurfte keiner Rettungsaktion und über Verletzungen ist nichts bekannt. Wenige Jahre später unternahm er mit einem umgebauten, sehr kleinen Segelboot von 13 Fuß (3,96 m) eine performative Atlantiküberquerung mit dem Titel In search of the miraculous (songs for the north Atlantic); neun Monate später sah man das leere Boot vor der
Vgl. Peskoller, Helga: extrem.Wien/ Köln/ Weimar: Böhlau 2001. Dies.: „Wand – Bild“. In: Das Unsichtbare sichtbar machen. Bildungsprozesse und Subjektgenese durch Bilder und Geschichten. Hrsg. von Volker Fröhlich und Ursula Stenger. Weinheim/ München: Juventa 2003. S. 231– 247. Dies.: „Die Grenze verwischen – ein aisthetisches Experiment“. In: Grenzverhältnisse. Perspektiven auf Bildung in Schule und Theater. Hrsg. von Wiebke Lohfeld und Susanne Schittler.Weinheim/ Basel: Beltz Juventa 2014, und dies.: „Der Körper des Bergsteigers“. In: Der Körper des Künstlers. Ereignisse und Prozesse der Ästhetischen Bildung. Hrsg. von Diana Lohwasser und Jörg Zirfas. Kulturelle Bildung 43. 2014. S. 235 – 251. Jan Bas Ader, geboren 1942, wuchs in der niederländischen Provinz Groningen auf, begann ein Studium an der Angewandten, heute Gerrit Rietveld Academie, kam per Anhalter nach Marokko, heuerte auf einem Schiff in die USA an und erlitt Schiffbruch. In den 1960er Jahren nahm er seine Studien am Otis Art Institut auf. Nach seinem Wechsel an die Claremont Graduate School entstanden seine produktivsten künstlerischen Arbeiten, eine Reihe von Kurzfilmen über das Fallen. In Westkapelle, Provinz Zeeland, drehte er 1971 den Film über die Schwerkraft. Die Rezeption seines wenig umfangreichen Gesamtwerks weist ihn als einen Künstler für Künstler aus.Vgl. auch die konzeptionelle Film-Dokumentation von Yeomans, Erika: „In Search of Bas Jan’s Miraculous“ (40 min., mixed media). In: This American Life. 27. Dezember 1996 gesendet. Adler, Jan Bas: „Fall 1“. Los Angeles 1970 (16 mm, 24 sec., SW). Adler, Jan Bas: „Fall II“. Amsterdam 1970 (16 mm, 19 sec., SW). Alder, Jan Bas: „Broken Fall (Organic)“. Amsterdam Bos/ Holland 1971 (16 mm, 1,49 min., SW). Vgl. dazu auch Kamper, Dietmar: Zur Geschichte der Einbildungskraft. München: Hanser 1981.
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Küste Irlands antreiben, der Körper des Künstlers wurde nie gefunden und ging, allein, in der Weite des Horizonts verloren. Will man nun die Brücke zur Einleitung schlagen, in der die Reversion des Bildungsbegriffs in Aussicht gestellt wurde, ist spätestens jetzt zu verraten, was dieses Versprechen angeregt und insgeheim motiviert hat. Es war die Zauberformel „Bildung ist, was übrigbleibt“²⁹. Für Hans Blumenberg sind Definitionen Kunstwerke und als Beispiel nennt er die für Glas als „eine unterkühlte Flüssigkeit extrem hoher Zähigkeit bei praktisch unendlich kleiner Fließgeschwindigkeit“³⁰. Ihre Auszeichnung besteht darin, sich so weit wie irgend möglich von der Tautologie entfernt zu halten und Vorstellungen heranzuziehen, durch deren Grenzwert sie bestimmt, was die Erscheinung nicht beschreibt.³¹ Weil Definitionen dieses Kriterium selten erfüllen, darf man sie vergessen, so der Philosoph weiter, um, obwohl in ihr das Vergessen essentiell ist, für eine einzige noch die Fahne hoch zu halten und wiederzugeben, was ein französischer Ministerpräsident einst hinterließ, nämlich dass „Bildung sei, was übrigbleibt, wenn man alles vergessen hat“.³² Dies wird kommentiert und positiv hervorgehoben, dass diese Begriffsbestimmung sich dem allgegenwärtigen Wahn, überall Bezüge, Bezüglichkeiten und Beziehungen herzustellen, entschlägt, um sodann augenzwinkernd hinzuzufügen: „Sollte man diesem schlichten Sachverhalt noch etwas Hochgestochenes aufsetzen, so läge bereit: Bildung ist kein Arsenal, Bildung ist ein Horizont.“³³ Jetzt erst ist das Ende in Sicht, die Ankunft beim Singulären ist zum Greifen nahe. Seine exemplarische, punktuelle Form suchte die ausführlicher geratene Schlussbetrachtung – rückwärtsläufig – mit einer Anzahl von Bezügen und Anschlüssen einzuholen. Damit war die Hoffnung verbunden, das eingangs erklärte Ziel, eine Erfahrung, welche an die Grenzen des Sagbaren rührt und um Mitteilbarkeit ringt, zu ihrem Abschluss zu bringen. Die Rekonstruktion eines Erlebnisses war der Anfang, das Ende ist die Definition von Bildung als Horizont. Ist die Rechnung damit aufgegangen? Auch diese Antwort scheint weniger schwierig als gedacht und lautet: Ja, unter umgekehrten Vorzeichen. Das bedeutet, dass der Horizont, von dem im Ergebnis jetzt zu sprechen ist, nicht von einer oszillierenden Linie in weiter Ferne handelt, die mit- und auswandert, wenn man sich darauf zubewegt, dass es auch nicht um Entgrenzung geht oder um eine maximale Offenheit, nicht einmal um eine Erweiterung im übertragenen, mentalen Sinn. Denn
Blumenberg, Hans: Begriffe in Geschichten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2016. S. 24. Die Definition stammt vom deutsch-baltischen Chemiker Gustav Tammann, 1903. Vgl. Blumenberg: Begriffe. S. 24. Edouard Herriot zitiert nach Blumenberg: Begriffe. S. 24. Ebd., S. 25 (kursiv auch im Original).
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der Gesichtskreis hat sich verengt, die Grenzlinie zwischen sichtbarer Erde und Himmel zusammengezogen auf einen Punkt, in den die Weite eingesunken und das Offene sich darin eingeschlossen und zu maximaler Begrenztheit verdichtet hat – und das war nicht einmal bedrohlich, sondern beim Absturz damals lebensrettend für alle Beteiligten auf eine je andere Weise. Diesem Zustand haftet etwas Unwirkliches an, er ist nicht willentlich herbeizuführen oder abzuwenden und nicht erstrebenswert, denn auf Dauer hielte das niemand aus, und dennoch kann und konnte er so vieles zeigen. Wegen der durchlaufenen Schleifen wird im Nachgang der Horizontwechsel als Umkehr bewusst. Und auch wenn Wunden bleiben, einen solchen wie durch ein Wunder überlebten Sturz des anderen miterlebt haben zu müssen, wiegt maßlos mehr und enthält das Versprechen eines anderen Selbstbezugs und Weltverhältnisses, aus dem die Frage nach der Natur, die wir selbst und nicht selbst sind, nie mehr auszuklammern ist, das der erste Ertrag, ohne zum Bildungsbegriff hier länger referieren zu können.³⁴ Der zweite bezieht sich auf den Körper als Träger und Akteur des Geschehens, ohne den selbst Denken nicht geht. Die weiteren Erträge in nicht hierarchischer Reihung waren das Abenteuer in seiner Doppelstruktur, das Ästhetische in der Kunst des Zeichen-Setzens, das Antiökonomische mit dem Prinzip der Selbstverschwendung, das Bild im Grundmodus des Erinnerns und Zeigens, das Religiöse durch Entzug und Absonderung sowie das Gegenläufige von Schwer- und Einbildungskraft. Letzteres hält den Beitrag zusammen und ist die Grundlage für Bildung. Mit dem Sturz fiel auch sie rücklings aus der Verankerung und schlug hart am Boden auf, seither war klar, Bildung kann, will sie Leben nähren und erhalten, kein Arsenal im Sinne einer intellektuellen Waffenkammer sein. Ihr Ausgang hat einen anderen Ort, sitzt im Körper und kehrt zu ihm zurück.³⁵ Der Körper ist kein unbeschriebenes Blatt, seine Geschichte ist lang³⁶ und das gilt
Vgl. insbes. Bilstein, Johannes: „Erziehung, Bildung, Spiel“. In: Die Bildung des Subjekts. Beiträge zur Pädagogik der Teilhabe. Hrsg. von Eckart Liebau. Weinheim/ Basel: Juventa 2001. S. 15 – 71. Ders.: „Über einen altehrwürdigen Grundbegriff und seinen anhaltenden Charme“. In: Bildung und Erziehung. Heft 4. 2004. S. 415 – 431. Wenn hier von „Körper“ gesprochen wird, ist auch der „Leib“ mitgemeint im Sinne von Helmuth Plessners Formel der Exzentrizität (Leib-Sein und Körper-Haben), von Bernhard Waldenfelsʼ Sicht auf den Leib als zweideutige Seinsweise und von Käte Meyer-Drawe, für die die leibliche Dimension unserer Existenz – im Unterschied zum Körper als eine von außen sichtbare raumzeitliche Einheit – nicht zum Repertoire des Beobachtbaren gehört und daher weniger in erkenntnistheoretischer als in ethischer und sozialer Hinsicht bedeutsam ist (vgl. dazu auch Peskoller, Helga: „Körperlicher Raum“. In: Handbuch Pädagogischer Anthropologie. Hrsg. von Christoph Wulf und Jörg Zirfas. Wiesbaden: VS 2014. S. 397 ff.). Vgl. Kamper, Dietmar: Zur Geschichte des Körpers. München: Hanser 1976, und ders.: Die Wiederkehr des Körpers. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, sowie Kamper, Dietmar/ Wulf,
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auch für das Wissen, das er selbst ist und hat. Es fällt nicht vom Himmel und muss praktisch eingeübt werden, so wie man Lesen, Schreiben und Rechnen lernt. Kulturtechniken sind Teil des Körperwissens,³⁷ das in- und auswendig gekonnt sein will, wenn es um etwas geht, ein stilles Wissen, implizit vorhanden, ein Knowing How, das automatisch arbeitet, nicht nur fehlerfrei, es kann irren, ist kein Mysterium, sondern der „Punkt“ von oben – nicht als Abstraktum,³⁸ sondern das Konkrete schlechthin. Punkte zur Markierung von Wechsel, Umkehr und den Wandel zum Schluss.
Literaturverzeichnis Agamben, Giorgio: Profanierungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. Bataille, Georges: Die innere Erfahrung nebst Methoden der Meditation und Postskriptum 1953. Atheologische Summe I. Berlin: Matthes & Seitz 1953. Bataille, Georges: „Der Begriff der Verausgabung“. In: Die Aufhebung der Ökonomie. Hrsg. von Gerd Bergfleth. Berlin: Matthes & Seitz 1985. S. 6 – 31. Bilstein, Johannes: „Erziehung, Bildung, Spiel“. In: Die Bildung des Subjekts. Beiträge zur Pädagogik der Teilhabe. Hrsg. von Eckart Liebau. Weinheim/ Basel: Juventa 2001. S. 15 – 71. Bilstein, Johannes: „Über einen altehrwürdigen Grundbegriff und seinen anhaltenden Charme“. In: Bildung und Erziehung. Heft 4 (2004). S. 415 – 431. Blumenberg, Hans: Begriffe in Geschichten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2016. Böhm, Gottfried (Hrsg.): Was ist ein Bild? München: Fink 1994. Böhme, Gernot: „Natur“. In: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hrsg. von Christoph Wulf. Weinheim/ Basel: Beltz 1997. S. 92 – 116. Cramer, Friedrich: „Leben“. In: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hrsg. von Christoph Wulf. Weinheim/ Basel: Beltz 1997. S. 46 – 54. Hirschauer, Stefan: „Diskurse, Kompetenzen, Darstellungen. Für eine Somatisierung des Wissensbegriffs“. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. Band 25 (2016). Heft 1. S. 23 – 32. Jullien, François: Sein Leben nähren. Abseits vom Glück. Berlin: Merve 2006. Kamper, Dietmar: Zur Geschichte des Körpers. München: Hanser 1976. Kamper, Dietmar: Zur Geschichte der Einbildungskraft. München: Hanser 1981. Kamper, Dietmar: Die Wiederkehr des Körpers. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982. Kamper, Dietmar: Zur Soziologie der Imagination. München/ Wien: Hanser 1986.
Christoph (Hrsg.): Transfigurationen des Körpers. Spuren der Gewalt in der Geschichte. Berlin: Dietrich Reimer Verlag 1989. Vgl. zuletzt Hirschauer, Stefan: „Diskurse, Kompetenzen, Darstellungen. Für eine Somatisierung des Wissensbegriffs“. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. Band 25 (2016). Heft 1. S. 23 – 32. Vgl. Kamper, Dietmar: Horizontwechsel. Die Sonne neu jeden Tag. München: Fink 2001. Insbes. S. 24– 37.
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Kamper, Dietmar: Horizontwechsel. Die Sonne neu jeden Tag. München: Fink 2001. Kamper, Dietmar und Wulf, Christoph (Hrsg.): Transfigurationen des Körpers. Spuren der Gewalt in der Geschichte. Berlin: Dietrich Reimer Verlag 1989. Meyer-Drawe. Käte: „Leib, Körper“. In: Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Christian Bermes und Ulrich Dierse. Hamburg: Meiner 2010. S. 207 – 219. Mirandola, Pico della: De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen. Lateinisch/ Deutsch. Stuttgart: Reclam 1997. Morin, Edgar: Das Rätsel des Humanen. Grundfragen einer neuen Anthropologie. München: Piper 1974. Morin, Edgar: „Die Unidualität des Menschen“. In: Anthropologie nach dem Tode des Menschen. Hrsg. von Dietmar Kamper und Christoph Wulf. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. S. 15 – 24. Nerlich, Michael: Abenteuer oder das verlorene Selbstverständnis der Moderne: von der Unaufhebbarkeit experimentalen Handelns. München. Gerling Akademie Verlag 1997. Peskoller, Helga: BergDenken. Eine Kulturgeschichte der Höhe. 2 Studien. Wien: Eichbauer 1999. Peskoller, Helga: extrem. Wien/ Köln/ Weimar: Böhlau 2001. Peskoller, Helga: „Wider die Vernunft“. In: Natur. Pädagogisch-anthropologische Perspektiven. Hrsg. von Eckart Liebau, Helga Peskoller und Christoph Wulf. Weinheim/ Basel/ Berlin: Beltz Wissenschaft 2003. S. 51 – 56. Peskoller, Helga: „Wand – Bild“. In: Das Unsichtbare sichtbar machen. Bildungsprozesse und Subjektgenese durch Bilder und Geschichten. Hrsg. von Volker Fröhlich und Ursula Stenger. Weinheim/ München: Juventa 2003. S. 141 – 155. Peskoller, Helga: „Abstieg und Rückkehr. Das Animalische religiöser Erfahrung als Blickgeschehen“. In: Formen des Religiösen. Pädagogisch-anthropologische Annäherungen. Hrsg. von Christoph Wulf, Hildegard Macha und Eckart Liebau. Weinheim/ Basel: Beltz 2004. S. 370 – 381. Peskoller, Helga: „Der Sprung“. In: Anthropologie und Pädagogik des Spiels. Hrsg. von Johannes Bilstein, Matthias Winzen und Christoph Wulf. Weinheim/ Basel: Beltz 2005. S. 209 – 216. Peskoller, Helga: „Augenblicke unmöglicher Freiheit. Eine Nachschreibung am Beispiel Eiger-B.A.S.E.“. In: Texturen von Freiheit. Hrsg. von Helga Peskoller, Michaela Ralser und Maria A. Wolf. Innsbruck: Innsbruck University Press 2007. S. 53 – 76. Peskoller, Helga: „überlebt“. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. Band 17 (2008). Heft 2. S. 195 – 209. Peskoller, Helga: „Außer Gewohnheit. Subjektive Ent- und Absicherung in extremen Lebenslagen“. In: Konglomerationen – Produktion von Sicherheit im Alltag. Theorien und Forschungsskizzen. Hrsg. von Maria Wolf, Bernhard Rathmayr und Helga Peskoller. Bielefeld: transcript Verlag 2009. S. 199 – 218. Peskoller, Helga: „Körperlicher Raum“. In: Handbuch Pädagogischer Anthropologie. Hrsg. von Christoph Wulf und Jörg Zirfas. Wiesbaden: VS 2014. S. 395 – 401. Peskoller, Helga: „Die Grenze verwischen – ein aisthetisches Experiment“. In: Grenzverhältnisse. Perspektiven auf Bildung in Schule und Theater. Hrsg. von Wiebke Lohfeld und Susanne Schittler. Weinheim/ Basel: Beltz Juventa 2014. S. 231 – 247.
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Peskoller, Helga: „Der Körper des Bergsteigers“. In: Der Körper des Künstlers. Ereignisse und Prozesse der Ästhetischen Bildung. Hrsg. von Diana Lohwasser und Jörg Zirfas. Kulturelle Bildung 43 (2014). S. 235 – 251. Peskoller, Helga: „Berge, Meere, Menschen. Ent- und Absicherung im Durchzug der Elemente. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. Band 24 (2015). Heft 1. S. 39 – 50. Peskoller, Helga: „Natur, Raum, Körper. Zur Transformation von Wissen“. In: räumen – Raumwissen in Natur, Kunst, Architektur und Bildung. Hrsg. von Birgit Engel, Helga Peskoller, Kristin Westphal, Katja Böhme und Simone Kosica. Weinheim/ Basel: Beltz Juventa 2018. S. 19 – 38. Plessner, Helmuth: „Die Frage nach der Conditio humana“. In: Conditio humana. Gesammelte Schriften. Band VIII. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. Serres, Michel: Die fünf Sinne. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. Sloterdijk, Peter: Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988. Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999.
Filme Ader, Jan Bas: „Fall 1“. Los Angeles 1970 (16 mm, 24 sec., SW). Ader, Jan Bas: „Fall II“. Amsterdam 1970 (16 mm, 19 sec., SW). Ader, Jan Bas: „Broken Fall (Organic)“. Amsterdam Bos/Holland 1971 (16 mm, 1,49 min., SW). Yeomans, Erika. „In Search of Bas Jan’s Miraculous“ (40 min., mixed media). In: This American Life. 27. Dezember 1996 gesendet.
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Von der Psychologie des Horizontes zu den epistemologischen Horizonten der akademischen Psychologie 1 Einleitung Der Begriff Horizont beschreibt ursprünglich die im Auge des Betrachters liegende visuelle Grenzlinie zwischen der gerade noch sichtbaren Erdbegrenzung und dem Himmelsfirmament. Im eigentlichen Sinne seiner etymologischen Bedeutung bezeichnet das griechische Wort horízōn [eigentlich sogar horízōn kýklos] den ‚begrenzenden Kreis‘. und somit die perzeptive Begrenzung eines spezifischen Blick- bzw. Gesichtsfelds, in dessen Mittelpunkt der jeweilige Beobachter steht. Das Konzept des Horizonts hat vermutlich aufgrund seiner großen topografischen Orientierungsfunktion seit jeher eine erhebliche Faszination auf die Menschen als hauptsächlich über die visuellen Sinnesorgane wahrnehmendes Lebewesen ausgeübt. Denn der Horizont stellt doch augenscheinlich eine visuelle Grenz- und Ordnungslinie dar, die nicht nur unsere Wahrnehmung strukturiert bzw. präkonfiguriert, sondern unser Blickfeld auch gleichzeitig auf perfekte Weise begrenzend umschließt, wie es eben aus geometrischer Sicht nur ein vollumfänglicher Kreis zu beschreiben vermag. Die somit zwar naheliegende, aber vielschichtige Metaphorik des Begriffs Horizont wird deswegen sowohl im Alltagssprachgebrauch als auch in den akademischen Fachdisziplinen häufig, aber auch sehr unterschiedlich benutzt. Durch diese Demarkationsfunktion des Horizonts wird aber nicht nur Sichtbares von Unsichtbarem oder, allgemeiner formuliert, Beobachtbares von Unbeobachtbarem unterschieden, sondern naturgemäß auch gleichzeitig eine relativierende topographische Kategorisierung von Phänomenen vorgenommen, die die Ausbildung eines eigenständigen Standpunktes bzw. einer spezifischen Perspektive erst ermöglicht. So wurde im mittelalterliche Weltbild die Welt beispielsweise anhand der Mondbahn vertikal in zwei Seinssphären eingeteilt: während die sublunare Welt die sich ständig im Wandel befindliche, irdische Welt bezeichnete, charakterisierte die translunare Welt eine konstante himmlische Welt. Da der Begriff Horizont vor allem eng mit dem visuellen Wahrnehmungsapparat assoziiert ist und somit unweigerlich zwischen den Polen Objektivität und Subjektivität, Fassbarem und Unfassbarem, Irdischem und Himmlischem sowie Realem und Irrealem oszilliert, ist es erhellend, die Ausbildung von fachlich lehttps://doi.org/10.1515/9783110553291-010
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gitimierbaren Sichtkreisen im Kontext der Entwicklung der akademischen Psychologie als eigenständige akademische Fachdisziplin zu betrachten. Denn am Beispiel der epistemologischen Horizonte in der Psychologie kann die inhärent zugrunde liegende ambivalente Doppelfunktion des Horizontes als Demarkationslinie in meinen Augen exemplifiziert werden. Da die mit dem Horizont angezeigte Grenzlinie niemals erreicht und folglich niemals überschritten werden kann, kommt der damit einhergehenden Begrenzung unseres Wahrnehmungsfeldes naturgemäß auch eine konstituierende Schutz- und Abgrenzungsfunktion zu. Denn durch diese spezifische Horizontsetzung wird nicht nur der legitime Geltungsbereich des Standpunktes definiert, sondern werden gleichzeitig auch illegitime und unbillige Aspekte definiert und exkludiert. Die Konzeption und Etablierung der modernen akademischen Psychologie als säkularisierte Bewusstseinswissenschaft im Verlauf des 19. Jahrhunderts, als Gegenentwurf zu einer metaphysisch verorteten Seelenlehre, kann folglich auch als eine bedeutsame, für die aufgeklärte Moderne identitätsstiftende, weltanschauliche Horizontfestlegung bzw. -konstruktion begriffen werden. Dies war jedoch nur durch die Neuverortung epistemologischer (und methodologischer) Grenzen innerhalb dieser Fachdisziplin möglich, durch die naturgemäß auch Ausgrenzungen von bestimmten Forschungsthematiken wie beispielsweise veränderten Bewusstseinszuständen oder bestimmten Klassen menschlichen Erlebens vorgenommen wurden. Im vorliegenden Beitrag möchte ich exemplarisch drei Horizontverschiebungen bzw. -bildungen skizzieren, die von einem der Gründungsväter der akademischen Psychologie, Wilhelm Wundt (1832 – 1920), vollzogen wurden, um ein umfassendes Forschungsprogramm einer modernen, naturwissenschaftlich orientierten Psychologie konstituieren und realisieren zu können. In einem zweiten Schritt werde ich skizzieren, welche Konsequenzen dies in Bezug auf die Einordnung und Interpretation von einer bestimmten Klasse menschlichen Erlebens hatte, die man als außergewöhnlichen Erfahrungen bezeichnet.¹ Kohls, Niko: Außergewöhnliche Erfahrungen – Blinder Fleck der Psychologie? Eine Auseinandersetzung mit außergewöhnlichen Erfahrungen und ihrem Zusammenhang mit geistiger Gesundheit. Münster: Lit-Verlag 2004. Kohls, Niko/ Benedikter, Roland: „The origins of the modern concept of ‚neuroscience‘ – Wilhelm Wundt between empiricism and idealism: implications for contemporary neuroethics“. In: Scientific and Philosophical Perspectives in Neuroethics. Hrsg. von James Giordano und Bert Gordijn. Cambridge: Cambridge University Press 2010. S. 37– 65. Kohls, Niko/ Sommer, Andreas: „Die akademische Psychologie am Scheideweg: Positivistische Experimentalpsychologie und die Nemesis der Transzendenz“. In: Spiritualität, Krankheit und Heilung – Bedeutung und Ausdrucksformen der Spiritualität in der Medizin – Perspektiven, Schriften zur Pluralität in der Medizin und Komplementärmedizin. Hrsg. von Arndt Büssing u. a. Frankfurt am Main: Verlag für akademische Schriften 2006. S. 184– 218.
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1.1 Soziokulturelle Veränderungen im 19. Jahrhundert Die Faktoren, die zur Etablierung einer eigenständigen akademischen, naturwissenschaftlich orientierten Fachdisziplin Psychologie geführt haben, können nicht losgelöst gesehen werden von den großen soziokulturellen Transformationsprozessen, die das gesamte 19. Jahrhundert als direkte Folge der Aufklärung durchziehen und die die Lebensbedingungen, Ansichten, Wertvorstellungen und das Selbstverständnis der damals lebenden Menschen dramatisch verändern sollten. In diesem Umgestaltungsvorgang spiegelt sich die Auseinandersetzung zwischen Gegenmoderne und Moderne in der Form des alten weltanschaulichen Zweikampfes zwischen Idealismus und Materialismus wider, der sich offenkundig durch dieses Jahrhundert zieht. In das Zentrum dieser Kontroverse geriet naturgemäß auch die wissenschaftliche Psychologie, als sie um 1880 akademisch institutionalisiert wurde. Auf eine kurze Formel gebracht, kann man diesen globalen soziokulturellen Veränderungsprozess mit den drei Begriffen Säkularisierung, Individualisierung und Szientisierung skizzieren. Als Folge des Aufbrechens der ständischen Herrschafts-, Feudal- und Sozialstrukturen im 18. Jahrhundert sowie der Loslösung der Moral von ihrem religiös-metaphysischen Legitimationsrahmen im Zuge der Säkularisation und Aufklärung wurde die Bedeutung des Individuums und seiner sozialen Rolle mit seinen bürgerlichen Rechten und Pflichten zunehmend thematisiert. Dadurch wurde der Mensch als Individuum gegenüber größeren gesellschaftlichen Strukturen in den Vordergrund gerückt. Somit wurde ein wissenschaftliches Expertentum notwendig gemacht, das sich mit der Erforschung des Individuums sowie seinen Bedürfnissen befasst. Da der spezifische Gehalt der Individualität damals weder im Rahmen der Theologie, Philosophie noch Medizin im Vordergrund stand, wurde dafür eine eigenständige Fachdisziplin notwendig, die sich explizit mit menschlichem Erleben und Verhalten beschäftigten sollte. Die Ausdifferenzierung des modernen wissenschaftlich-akademischen Systems nach dem Prinzip der Aufgabenteilung und Spezialisierung begann ebenfalls erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts, womit auch die strukturellen und organisatorischen Voraussetzungen für eine eigenständige, naturwissenschaftlich ausgerichtete Bewusstseinswissenschaft geschaffen wurden.
1.2 Die Entwicklung der akademischen Psychologie Die sich um 1880 konstituierende akademische Psychologie als institutionalisierte, wissenschaftliche Disziplin zur Erforschung des Bewusstseins wirkte dabei wie ein Kristallisationspunkt für den schon erwähnten Dreiklang des 19. Jahr-
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hunderts, Säkularisierung, Szientisierung und Individualisierung. Psychologie ist die Ende des 19. Jahrhunderts notwendig gewordene und akademisch-universitär institutionalisierte Fachdisziplin, die sich nun auch auf der Basis einer empirischexperimentell orientierten Methodologie mit dem Bewusstsein des Individuums beschäftigt, ohne dabei auf religiöse oder metaphysische Vorstellungen zurückgreifen zu können.² Durch den rasanten naturwissenschaftlichen Fortschritt wurde es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts innerhalb der Medizin und Biologie möglich, einen Paradigmenwechsel von einer anatomischen zu einer physiologischen Betrachtungsweise zu vollziehen, durch den sich das Forschungsinteresse von der Einteilung statischer organischer Strukturen hin zu der Untersuchung von dynamisch-funktionalen Vitalprozessen verlagerte. Dabei war es nur eine Frage der Zeit, bis die Erforschung dieser Vitalprozesse auf den Bereich der Sinnesorgane ausgedehnt und damit zwangsläufig die Frage aufgeworfen wurde, welche psycho-physikalischen und physiologischen Mechanismen dem Phänomen der Wahrnehmung zugrunde liegen, womit der Grundstein zu einer physiologisch orientierten Psychologie gelegt war. Die damit einhergehenden großen Erfolge und Entwicklungen, die auch im Bereich der Physik, Biologie und Medizin vollbracht wurden, zeigten die Fruchtbarkeit eines naturwissenschaftlich getriebenen empirisch-experimentellen Forschungsansatzes deutlich auf. Im Jahr 1842 kam eine Gruppe junger Männer zusammen, die später alle zu einflussreichen Gelehrten werden sollten. Sie bestand aus dem Physiker und Physiologen Hermann von Helmholtz (1821– 1894), dem Mediziner Carl Ludwig (1816 – 1895), Freuds späterem Lehrer Ernst Brücke (1819 – 1892) und dem Philosophen und Physiologen Emil du Bois-Reymond (1818 – 1896). Diese Wissenschaftler kamen überein, systematisch zu beweisen, dass in dem lebenden Organismus nur physikalisch-chemische und keine metaphysischen Kräfte am Werk seien.³ Somit wurden nunmehr auch der psychologische Wahrnehmungsprozess und seine experimentell fassbaren physiologischen Korrelate und nicht mehr das introspektiv zugängliche Denken zentraler Bestandteil des Forschungsinteresses. Mit anderen Worten, die von Descartes postulierte Zweiteilung in eine „res cogitans“ und eine „res extensa“ wurde durch den psychophysiologischen Ansatz
Kohls: Außergewöhnliche Erfahrungen. Walach, Harald, u. a.: „Transpersonale Psychologie – Psychologie des Bewusstseins: Chancen und Probleme“. In: Psychother Psych Med 55. 2005. S. 405 – 415. Sonntag, Michael: „Vermessung der Seele – Zur Entstehung der Psychologie als Wissenschaft“. In: Entdeckung des Ich – Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Richard van Dülmen. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2001. S. 361– 384.
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aufgebrochen, weil Bewusstseinsprozesse auf der Basis von zugrunde liegenden physiologischen Mechanismen gedeutet wurden. Die wissenschaftliche Erforschung des Bewusstseins wurde folglich vor allem in Form der Experimentalpsychologie auf die Grundlage von organischen Vorstellungen und biologischen, vor allem aber physiologischen Konzepten gestellt, die mit der naturwissenschaftlichen Methode des Experiments unter möglichst kontrollierten Bedingungen systematisch untersucht und analysiert wurden. Dadurch versuchten sich die Vertreter der akademischen Psychologie auch von dem Primat der Philosophie zu emanzipieren, die bisher die Betrachtungen des Seelenlebens bestimmt hatten. Der Preis, den die sich konstituierende Psychologie dabei für die Legitimierung ihrer Souveränität als naturwissenschaftlich orientierte Disziplin außerhalb philosophischer Gefilde zu entrichten hatte, war erwartungsgemäß die Einbuße der Seele als ordnungsgemäßer wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand. Den Platz der metaphysischen Kategorie Seele nahm nunmehr das Bewusstsein ein, als dessen physikalisches Substrat seit dieser Zeit das Gehirn mit seinen physiologischen und biochemischen Prozessen angesehen wird.
2 Die konzeptionellen und epistemologischen Horizonte in der akademischen Psychologie 2.1 Wilhelm Wundt – der Gründungsvater der akademischen Psychologie Wilhelm Wundt, ursprünglich aus einer pfälzischen Pastorenfamilie stammend, hatte in Heidelberg und Tübingen Medizin, Naturwissenschaften und Philosophie studiert und dann unter anderem auch einige Jahre an dem Heidelberger Institut des Physikers Hermann von Helmholtz (1821– 1894) über Fragestellungen der physikalischen Physiologie gearbeitet. Nach einigen Jahren an der Universität Zürich wurde Wundt 1874 an der Universität Leipzig auf einen Lehrstuhl für Philosophie berufen. Die Wissenschaftsgeschichte datiert die Etablierung der modernen Experimentalpsychologie formal auf das Jahr 1879, weil Wilhelm Wundt in diesem Jahr dann in Leipzig das erste experimentalpsychologische Laboratorium eröffnete. In seinem Forschungsprogramm erarbeitete Wundt, der in 68 Jahren über 53.000 Druckseiten veröffentlicht hat, eine umfängliche Wissenschaftskonzeption der Psychologie, die von basalen psychophysikalischen und neuropsychologischen Fragestellungen bis hin zur Erforschung kulturanthropologischer Phäno-
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mene reichte, die er in einer zwanzigbändigen Völkerpsychologie umfassend darstellte. Die von Wundt gewählten Ansätze und methodologischen Zugänge sind nicht nur eng mit Fragen der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie verknüpft, sondern verbinden sich mit den in späteren Jahren erarbeiten ethischen Theorien zu einer umfassenden programmatischen Systematik der Psychologie.
a) Ein- und abgrenzende Horizontkonzeptionen in Wundts Systematik der Psychologie Wundts nichtdualistische, aber zugleich nichtreduktionistische Bewusstseinskonzeption beruht zu einem großen Teil auf Spinozas Grundgedanken von einem nichtreduzierbaren psychophysikalischen Parallelismus. Nach Wundts Überzeugung ist das Seelische (Geistige) nicht strukturell oder substanziell zu bestimmen, sondern nur in der Aktualität zu erfassen, d. h. als „unmittelbare Wirklichkeit des Geschehens in der psychologischen Erfahrung“⁴. Im folgenden Abschnitt werden beispielhaft drei Demarkationslinien skizziert, anhand deren Beschreibung deutlich wird, welche konzeptionellen und methodologischen Horizontkonstruktionen Wundt vornahm, um seine Systematik der Psychologie konzeptionell und methodologisch realisierbar zu machen, und wie diese konzeptionell ineinandergreifen.
b) Die Erforschung des Alltagsbewusstseins und Ausgrenzung außergewöhnlicher Bewusstseinszustände Viele Aspekte der modernen Psychotherapie lassen sich auf veränderte Bewusstseinszustände und Heilrituale zurückführen, von denen Zeugnisse, Berichte und Schilderungen seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte vorliegen.⁵ Diese rätselbehafteten Bewusstseinszustände wie Hysterie, Dissoziation bis hin zur Ausbildung von Doppelpersönlichkeiten waren auf den ersten Blick nur schwer in Einklang mit einer modernen, säkularisierten Bewusstseinstheorie zu bringen. Dennoch war die Arbeit mit veränderten Bewusstseinszuständen als Verfahren, die man aus heutiger Sicht als Vorläufer der hypnotherapeutischen Ansätze be Fahrenberg, Jochen: Wilhelm Wundt – Pionier der Psychologie und Außenseiter? Leitgedanken der Wissenschaftskonzeption und deren Rezeptionsgeschichte. Online im Internet unter http:// www.jochen-fahrenberg.de. 2011. S. 84. Ellenberger, Henri. F: Die Entdeckung des Unbewussten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung. Bern: Huber 1973.
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zeichnen könnte, zur Behandlung kranker und leidender Menschen weit verbreitet, freilich ohne den zugrundeliegenden Mechanismus der Suggestion bzw. das damit korrespondierende Persönlichkeitsmerkmal der Suggestibilität einschließlich der daraus resultierenden Implikationen verstanden zu haben. Die Hypnose wurde allerdings im Jahr 1882 innerhalb der Medizin als therapeutisches Werkzeug zur Behandlung und Untersuchung eines anderen ungeklärten medizinischen Phänomens, der Hysterie, salonfähig. Es ist dabei vor allem das Verdienst des französischen Psychiaters Jean Martin Charcot (1825 – 1893), dass die therapeutische Wirkung der Hypnose wissenschaftlich anerkannt wurde und somit die Möglichkeit bestand, diese systematisch medizinisch-therapeutisch nutzbar zu machen.⁶ Charcot ging dabei jedoch von der Annahme aus, dass nur Hysteriker hypnotisierbar seien, weil diese an einer wie auch immer gearteten organisch bedingten Nervenschwäche leiden würden. Damit sprach er die Hysteriker zwar implizit von dem Vorwurf des Simulantentums frei, fasste aber die Hysterie als idiopathisches Nervenleiden und nicht als psychogene Erkrankung auf. Im Gegensatz dazu ging die Charcot rivalisierende Hypnose-Schule von Nancy um den Landarzt Ambroise A. Liébeault (1823 – 1904) und dem Medizinprofessor Hippolyte Bernheim (1837– 1919) davon aus, dass die unter Hypnose auftretenden Phänomene von der Wirkung der Suggestion herrührten. Somit wurde von der Nancy-Schule richtigerweise angenommen, dass Hypnotisierbarkeit und Suggestibilität prinzipiell normale und nicht pathologische Persönlichkeitsmerkmale darstellten, womit sie gleichzeitig auch als legitimer Forschungsgegenstand der Psychologie ausgewiesen wären. Wundt, auch wenn er sich aus epistemologischen, methodologischen und moralischen Überlegungen vehement gegen das Weltbild des Spiritismus aussprach, hat die Existenz von hypnotischen Phänomenen und auch anderer veränderter Bewusstseinszustände nicht in Frage gestellt.⁷ Vielmehr wurden hypnotische Prozesse als eine mächtige therapeutische Technik interpretiert, die nicht als Forschungsgegenstand in das psychologische Laboratorium, sondern in die qualifizierte Hand der Ärzteschaft gehörte. In seiner 1892 erstmals erschienen Schrift Hypnotismus und Suggestion führt Wundt dazu folgendes aus:
Crabtree, Adam: Animal Magnetism, Early Hypnotism, and Psychical Research 1766 – 1925. An Annotated Biography. White Plains, New York: Kraus International Publishers 1988; Crabtree, Adam: From Mesmer to Freud: Magnetic Sleep and the Roots of Psychological Healing. New Haven, CT: Yale University Press 1993; Gauld, Alan: A History of Hypnotism. Cambridge: Cambridge University Press 1992. Kohls: Außergewöhnliche Erfahrungen.
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Bei ihm [gemeint ist der Hypnotismus, Anm. d. Verf.] handelt es sich um ein Gebiet von Erscheinungen, deren Deutung zwar noch unsicher ist, deren Tatsächlichkeit aber, von gewissen Einzelheiten abgesehen, ebenso wenig mehr bestritten werden kann, wie die Existenz des Traumes oder des Nachtwandelns. Wenn ich trotzdem den Hypnotismus aus dem Kreise meiner Untersuchungen und der Arbeiten meines Laboratoriums ausgeschlossen habe, so hat dies zwei Gründe. Erstens gehört, wie ich im Gegensatz zum Verfasser des im Eingang erwähnten Aufrufs glaube, der Hypnotismus nicht in den Arbeitsraum des Psychologen, sondern in das Krankenzimmer, und die Herbeiführung des hypnotischen Schlafes, insbesondere aber seine zur Hervorrufung der intensiveren Erscheinungen meist erforderliche wiederholte Herbeiführung ist nur gerechtfertigt, wo ärztliche Indikationen dies verlangen. Zweitens kann ich dem Hypnotismus die fundamentale Bedeutung für die experimentelle Psychologie nicht zuerkennen, welche die hypnotischen Schulen, und welche namentlich die hier tonangebende „Société de Psychologie physiologique“ in Paris ihm einräumen. Der hypnotische Schlaf ist ein abnormer Zustand wie andere. So wenig es angeht, auf den Traum oder auf die Manie oder auf den paralytischen Blödsinn die ganze Psychologie zu gründen, gerade so wenig kann der Hypnotismus diesem Zwecke dienen. Insbesondere aber beruht es auf einer Verkennung des Wesens der experimentellen Methoden und ihrer Bedeutung in der Psychologie, wenn in Frankreich Suggestion und Hypnose immer noch den Hauptinhalt dessen ausmachen, was man dort „experimentelle Psychologie“ nennt. Die meisten der hypnotischen Einwirkungen verdienen, an dem Maßstab der exakten Wissenschaft gemessen, überhaupt nicht den Namen von Experimenten; und insofern sie einem experimentellen Verfahren nahe kommen, entbehren sie der wesentlichsten Eigentümlichkeiten und Vorzüge der am normalen Bewußtsein ausgeführten psychologischen Versuche.⁸
An diesem Zitat wird ersichtlich, wie die Erforschung des Normalbewusstseins von der Untersuchung von veränderten Bewusstseinszuständen abgetrennt wurde. Erstere wurde zur Forschungsagenda der akademischen Psychologie, während letztere in die medizinische Forschungs- und klinische Anwendungswissenschaft verschoben wurde. Diese Demarkationslinie hatte sich 20 Jahre später aus Wundts Sicht wohl in stabiler Arte und Weise manifestiert, wie er in der zweiten Auflage von Hypnotismus und Suggestion feststellt: Der zu Anfang und besonders zu der Zeit, als es noch keine psychologischen Laboratorien gab, oft gehörte Ruf, Suggestion und Hypnotismus seien vor allen anderen experimentellen Hilfsmitteln in diese Laboratorien einzuführen, ist heute verstummt. Der Hypnotismus hat sich dahin zurückgezogen, wohin er von Rechts wegen gehört, in das psychiatrische Laboratorium. Hier, unter den der Praxis zugewandten psychologischen Methoden, und unter den Vorsichtsmaßregeln, die dem erfahrenen Kliniker zu Gebote stehen, finden auch die Suggestionsexperimente ihre geeignete Stelle.⁹
Wundt, Wilhelm: Hypnotismus und Suggestion. Leipzig: Verlag von Wilhelm Engelmann 1911. S. 9 – 10. Wundt, Wilhelm: Hypnotismus und Suggestion. S. 67.
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Die irrationalen Strömungen, die das gesamte Projekt der Experimentalpsychologie noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in toto bedroht hatten, waren weitgehend verebbt und die Hypnose war aus dem Sichtfeld legitimer psychologischer Forschungsgegenstände verbannt worden und hatte ihren Platz innerhalb der psychiatrischen Fachdisziplin gefunden. Dieser Vorgang kann als die Etablierung einer wichtigen Demarkationslinie für die moderne experimentell ausgerichtete Psychologie angesehen werden, durch den die Fokussierung der Forschung auf das Normalbewusstsein sowie die damit einhergehende Ausgrenzung von außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen vollzogen wurde.
c) Die Fokussierung auf stabile kognitive Zustände und Ausgrenzung instabiler Prozesse Für einen gangbaren empirisch-experimentellen Zugang zur Erforschung des Bewusstseins waren jedoch weitere Modellannahmen über die Beschaffenheit des Bewusstseinsraums selbst eine Grundvoraussetzung. Die Psychometrik ist das Gebiet der Psychologie, das sich mit theoretischen, konzeptionellen und methodologischen Fragestellungen psychologischen Messens beschäftigt und dafür Instrumente entwickelt. Wundt ging bei seinen psychometrischen Ansätzen auf der Basis von strukturalistischen und elementaristischen Überlegungen davon aus, dass psychische Elemente immer in einer bestimmten Relation zueinander stehen und dass es folglich kein anschauungsloses reines Denken gibt, wie es beispielsweise in bestimmten meditativen Zuständen angestrebt wird. Es sollte jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass es fast zeitgleich noch andere Ansätze gab, Vorstellungen einer Psychometrik zu konzipieren: So unterschied der amerikanische Psychologe William James (1842– 1910) stabile („substantive states“) von instabilen („transitive states“) mentalen Zuständen.¹⁰ James ging dabei von der Beobachtung aus, dass Menschen bezeichnenderweise nur in der Lage sind, den finalen Endpunkt von mentalen Vorgängen introspektiv zu beschreiben, während dies für unbewusste Denkprozesse nicht möglich ist.Verkürzt gesagt scheint es so, dass nur die Ergebnisse des mentalen Prozesses im Bewusstsein festgehalten werden, während die prozessuale Komponente selbst schon verblasst ist. Dieses interessante Phänomen kann man mithilfe des unten abgebildeten Necker-Würfels verdeutlichen, bei dem es der betrachtenden Person nicht mög-
James, William: The Works of William James. The Principles of Psychology. Cambridge, MA: Harvard University Press 1981.
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lich ist, in der Figur A beide Würfel auf einmal im Prozess des Kippens zu sehen, sondern immer nur eine stabile perspektivische Interpretation des Würfels wahrgenommen wird, wie in den kleineren Bildern B und C angedeutet.
A
B
C
Abb. 1: Der Necker-Würfel, eigene Darstellung nach Louis A. Necker.
Interessanterweise kann auch kein menschlicher Betrachter den Würfel stabil in einer der beiden Positionen „B“ oder „C“ halten, sondern die ambivalente Wahrnehmungsfigur kippt bei längerer Betrachtung unweigerlich um; man sieht dann die andere perspektivische Interpretation des Würfels, scheinbar ohne dass dies intendiert wurde.¹¹
Atmanspacher, Harald/ Fach, Wolfgang: „Akategorialität als mentale Instabilität“. In: Bewusstseinstransformation als individuelles und gesellschaftliches Ziel. Hrsg. von Wilfried Belschner u. a. Münster: Lit-Verlag 2005. S. 74– 115.
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An diesem Beispiel wird ersichtlich, dass das menschliche Bewusstsein – im Gegensatz zu bildgebenden Verfahren, aber die gab es damals noch nicht, – nur in der Lage ist, feste und stabile kategoriale Zustände perzeptiv zu fassen. Folglich werden Denkvorgänge von Wundt als ein willkürlicher, bewusster und zweckvoller kognitiver Prozess interpretiert, bei dem die einzelnen Denkschritte strukturell über indirekt sprachlich fassbare Assoziationsverbindungen in Beziehung zueinander stehen. Daher war Wundts psychometrische Konzeption des Bewusstseinsraums im Rahmen des experimentalpsychologischen Ansatzes kategorial-strukturalistisch nach logischen Gesetzen ausgerichtet, wenngleich der Prozesscharakter des Bewusstseins von ihm natürlich erkannt wurde.¹² Da das Normalbewusstsein im Gegensatz zu veränderten Bewusstseinszuständen – für die sich William James sehr interessierte – jedoch klar auf kategorial-stabile Zustände fokussiert, muss sich die Wundtsche Experimentalpsychologie streng genommen auf die Untersuchung derjenigen Zustände des Normalbewusstseins beschränken, die auch empirisch und somit auch introspektiv fassbar sind. Dies entspricht einer weiteren Etablierung einer Demarkationslinie, mit der durch die Ausgrenzung un- bzw. vorbewusster Prozesse der experimentalpsychologische Zugang methodologisch erst realisierbar wird.
2.2 Die Unterscheidung von experimentalpsychologischer und kulturanthropologischer Perspektive Naturgemäß konnten durch den experimentalpsychologischen Ansatz einfachere psychische Prozesse und mentale Vorgänge, wie basale kognitive Prozesse oder Reiz-Reaktionsvorgänge, gemessen und erfasst werden, während dieser Ansatz für die Erklärung höherer und komplexerer kognitiver Vorgänge, die sich auch auf kultureller Ebene manifestieren, nicht geeignet war. Aus diesem Grund setzte Wundt, in der Tradition Windelbands, seinem naturwissenschaftlichen Zugang auch einen kulturanthropologischen Ansatz entgegen. Die letzten 20 Jahre seines Lebens hat er vornehmlich dazu genutzt, seine zehnbändige Völkerpsychologie zu verfassen, in der er die kulturanthropologischen Fragestellungen eingrenzt und eine psychologische Ordnungsstruktur vorgibt. Wundt beschreibt darin etwa basale Motive der kulturellen Entwicklung des Homo Sapiens, wie Arbeitsteilung, Jungenpflege und Gemeinschaft, aber auch Beseelung und das magisch-religiöse Motiv. Dennoch ist er derjenige, dem die Rezeptionsgeschichte das als Sieges-
Kohls: Außergewöhnliche Erfahrungen; Kohls/ Sommer: Die akademische Psychologie am Scheideweg.
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trophäe zugeschrieben hat, was Wundt ironischerweise überhaupt nicht erreichen wollte, was jedoch als die Geburtsstunde der modernen Psychologie gefeiert wird: Die Trennung der Psychologie von der Philosophie sowie die Beschränkung der empirisch-experimentellen Forschung auf stabil fassbare, mentale Vorgänge des Normalbewusstseins. Veränderte Bewusstseinszustände wie die Hypnose werden nicht in das primäre Forschungsfeld der experimentellen Psychologie aufgenommen, sondern in den Kompetenzbereich der Psychiatrie und später auch in den der klinischen Psychologie verwiesen.
3 Außergewöhnlichen Erfahrungen und veränderte Bewusstseinszustände Die Etablierung des Weltbildes der Aufklärung und die in diesem Kontext verortete Institutionalisierung der akademischen Psychologie als säkularisiertes und vermeintlich metaphysikfreies Unterfangen der Bewusstseinsforschung, im Gegensatz zu einer philosophisch und metaphysisch eingebetteten Seelenlehre, hatte naturgemäß erhebliche Auswirkungen auf die implizite und explizite Beurteilung und psychopathologische Demarkation von menschlichen Erfahrungen. Dies betrifft vor allem eine Klasse von Erlebnissen, die man – um weltanschaulich neutral zu bleiben – als „außergewöhnliche Erfahrungen“ beschreiben kann.¹³ Die Bezeichnung ist weltanschaulich neutral und nicht wertend, weswegen sie terminologisch wie phänomenologisch einen weiten Bereich abdeckt; das Spektrum reicht von psychopathologischen Grenzzuständen bis hin zu mystischen oder spirituellen Erfahrungen. Beispielsweise schlägt White eine Einteilung dieser Erlebnisse in die folgenden fünf Kategorien vor: Mystische Erfahrungen („mystical experiences“), paranormale Erfahrungen („psychic experiences“), Begegnungserfahrungen („encounter-type experiences“), mit Tod verbundene Erfahrungen („death-related experiences“) und normale außergewöhnliche Erfahrungen („exceptional normal experiences“).¹⁴ Unter mystischen oder spirituellen Erfahrungen werden solche Erlebnisse verstanden, in denen Menschen das Gefühl haben, einer absoluten, transzendenten und allumfassenden Wirklichkeit begegnet zu sein; diese Erfahrungen müssen aber nicht unbedingt im Rahmen
Cardeña, Etzel, u. a. (Hrsg.): Varieties of Anomalous Experience: Examining the scientific Evidence. Washington, D.C: American Psychological Association 2001; James, William: The Varieties of Religious Experiences – A Study in Human Nature. London: Longmans, Green & Co 1904. White, Rhea A.: „Working classification of EHEs. Exceptional Human Experience“. In: Background Papers 11(I) 1993. S. 149 – 150.
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eines traditionell religiösen Systems auftreten oder im Zusammenhang mit religiösen oder spirituellen Praktiken stehen.¹⁵ Über alle Zeiten und Kulturräume hinweg haben Menschen über außergewöhnliche, besondere oder eigentümliche – mitunter auch als spirituell-religiös oder numinos konnotierte – Erfahrungen berichtet, die häufig mit veränderten Bewusstseinszuständen einhergehen. Eine repräsentative Studie fand, dass Déjà-vu-Erlebnisse (Prävalenz: 50 %), Wahrträume (37 %), verblüffende Koinzidenzen (37 %), außersinnliche Wahrnehmungsphänomene bei Tod und Krisen (19 %), Erscheinungen (16 %), außersinnliche Wahrnehmung mit/von Tieren (15 %), Spuk (12 %) sowie Begegnungen mit UFOs (2,4 %) die am häufigsten gemachten außergewöhnlichen Erlebnisse in Deutschland um die Jahrtausendwende waren.¹⁶ Palmer berichtet von einer 1979 durchgeführten Untersuchung, die er unter 300 zufällig ausgewählten Studenten der Universität von Virginia und 700 anderen in der Umgebung lebenden Erwachsenen durchgeführt hat. In dieser Umfrage gaben 35 Prozent der Studenten und 28 Prozent der erwachsenen Einwohner an, schon mindestens einmal eine Erfahrung gemacht zu haben, die sie als „profunde und tief bewegende spirituelle, mystische oder transzendentale Erfahrung“ bezeichneten.¹⁷ In einer anderen Untersuchung von Blackmore, in der 593 zufällig ausgewählte Einwohner von Bristol im Jahr 1984 nach außergewöhnlichen Erfahrungen befragt wurden, gaben 19 Prozent an, schon mindestens einmal ein Erlebnis gehabt zu haben, das sie als tiefes oder bewegendes religiöses oder mystisches Erlebnis klassifizierten.¹⁸ Untersuchungen wie die gerade aufgeführten Studien legen nahe, dass außergewöhnliche Erfahrungen ihrer Häufigkeit nach keinesfalls als außergewöhnlich zu klassifizieren sind, sondern vielmehr ihre Kommunikation außerhalb eines geschützten Kommunikationsraumes als außergewöhnlich zu bezeichnen ist. Auch hier scheint sich wieder eine Demarkationslinie entwickelt zu haben, die zu einer kulturellen Horizontziehung geführt hat. Durch diese wird der Sachverhalt verdeckt, dass diese Erfahrungen scheinbar zur lebensweltlichen Realität einer breiten Bevölkerungsschicht gehören. Dennoch werden sie – aufgrund der Horizontkonstruktion – nur vergleichsweise selten und wenn, dann nur innerhalb
Kohls: Außergewöhnliche Erfahrungen; Walach u. a.: Transpersonale Psychologie. Schetsche, Michael/ Schmied-Knittel, Ina: „Wie gewöhnlich ist das ‚Außergewöhnliche‘? Eine wissenssoziologische Schlussbetrachtung“. In: Alltägliche Wunder – Erfahrungen mit dem Übersinnliche – wissenschaftliche Befunde. Hrsg. von Eberhard Bauer und Michael Schetsche. Würzburg: Ergon 2003. S. 171– 188. Palmer, John: „A community Mail survey of Psychic Experiences“. In: The Journal of The American Society for Psychical Research 73(3) 1979. S. 221– 251. Blackmore, Susan: „A postale survey of OBEs and other experiences“. In: The Journal of The Society for Psychical Research 52. 1984. S. 225 – 244.
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eines geschützten Rahmens kommuniziert, da sie als existentielle und intime Erlebnisse angesehen werden. Als Ursache für diese „geschützte Kommunikation“ kann man aufgrund der skizzierten Vorgänge vermuten, dass den außergewöhnlichen Erfahrungen Ende des 19. Jahrhunderts ihr objektiver Realitätsgehalt aberkannt wurde und sie seitdem in Anlehnung an Michel Foucault (1926 – 1984) im Sinne einer doppelten Rekonstruktion erst als außergewöhnlich konstruiert und dann in einem zweiten Schritt als psychopathologisch dekonstruiert wurden.¹⁹ Erst in den letzten Jahrzehnten sind die früheren Deutungshorizonte beispielsweise auch durch die transpersonale, humanistische und positive Psychologie hinterfragt worden. Dabei hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass außergewöhnliche Erfahrungen und damit korrespondierende veränderte Bewusstseinszustände nicht unweigerlich Kennzeichen psychopathologischer Prozesse sein müssen, sondern vermutlich eine kulturanthropologische Konstante menschlichen Erlebens darstellen, die potentiell gesundheitsförderliche Aspekte aufweisen können.²⁰ Wenn dieser Beitrag ein wenig dazu beigetragen hat, die Bedeutsamkeit von Horizontziehungen mit ihrer eigentümlichen Doppelfunktion als Phänomene einund ausschließende Demarkationslinien zu verdeutlichen, die für weltanschauliche und wissenschaftliche Diskurse nicht nur wichtig, sondern faktisch unerlässlich sind, weil sie ordnende Partitionierungsschablonen schaffen, hat er seinen Zweck erfüllt. Der britische Mathematiker und Psychologe George SpencerBrown fasste dies mit seinem Satz „We take as given the idea of distinction and the idea of indication, and that we cannot make an indication without drawing a distinction“²¹ prägnant zusammen. Der Unterschied zwischen dem natürlichen und den weltanschaulichen Horizont besteht allerdings darin, dass ersterer unter Berücksichtigung der spezifischen Morphologie des Umkreises sich für den Be-
Bauer, Eberhard/ Schetsche, Michael: Alltägliche Wunder: Erfahrungen mit dem Übersinnlichen – wissenschaftliche Befunde. Würzburg: Ergon 2003. S. 180. Carmona-Torres, u. a.: „The association between different spiritual practices and the occurrence of Exceptional Human Experiences in a non-clinical sample“. In: Journal for the Study of Spirituality 8(1) 2018. S. 49 – 64. Kohls, Niko/ Walach, Harald: „Psychological Distress, Experiences of Ego Loss and Spirituality: Exploring the Effects of Spiritual Practice“. In: Social Behavior and Personality. 35(10) 2007. S. 1301– 1316. Kohls, Niko, u. a.: „The impact of positive and negative spiritual experiences on distress and the moderating role of mindfulness“. In: The Archive for the Psychology of Religion 31. 2009. S. 1– 18. Kohls, Niko, u a: „The relationship between spiritual experiences, transpersonal trust, social support, sense of coherence and mental distress – a comparison of spiritually practising and non-practising samples“. In: Mental Health, Religion & Culture 12(1) 2009. S. 1– 23. Spencer-Brown, George: Laws of Form. London: Allen & Unwin 1969.
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trachter quasi von selbst als relatives Phänomen ergibt, während letzterer zumeist willkürlich gesetzt wird.
Literaturverzeichnis Atmanspacher, Harald/ Fach, Wolfgang: „Akategorialität als mentale Instabilität“. In: Bewusstseinstransformation als individuelles und gesellschaftliches Ziel. Hrsg. von Wilfried Belschner, Harald Piron und Harald Walach. Münster: Lit-Verlag 2005. S. 74 – 115. Bauer, Eberhard/ Schetsche, Michael: Alltägliche Wunder: Erfahrungen mit dem Übersinnlichen – wissenschaftliche Befunde. Würzburg: Ergon 2003. Blackmore, Susan: „A postale survey of OBEs and other experiences“. In: The Journal of The Society for Psychical Research 52. 1984. S. 225 – 244. Cardeña, Etzel/ Lynn, Steven J./ Krippner, Stanley (Hrsg.): Varieties of Anomalous Experience: Examining the scientific Evidence. Washington, D.C.: American Psychological Association 2001. Carmona-Torres, José A./ Kohls, Niko/ Hood, Ralph W./ Silver, Christopher F./ Walach, Harald: „The association between different spiritual practices and the occurrence of Exceptional Human Experiences in a non-clinical sample“. In: Journal for the Study of Spirituality 8(1) 2018. S. 49 – 64. Crabtree, Adam: Animal Magnetism, Early Hypnotism, and Psychical Research 1766 – 1925. An Annotated Biography. White Plains, New York: Kraus International Publishers 1988. Crabtree, Adam: From Mesmer to Freud: Magnetic Sleep and the Roots of Psychological Healing. New Haven, CT: Yale University Press 1993. Ellenberger, Henri. F: Die Entdeckung des Unbewussten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung. Bern: Huber 1973. Fahrenberg, Jochen: Wilhelm Wundt – Pionier der Psychologie und Außenseiter? Leitgedanken der Wissenschaftskonzeption und deren Rezeptionsgeschichte. Online im Internet unter http://www.jochen-fahrenberg.de. 2011. Gauld, Alan: A History of Hypnotism. Cambridge: Cambridge University Press 1992. James, William: The Varieties of Religious Experiences – A Study in Human Nature. London: Longmans, Green & Co 1904. James, William: The Works of William James. The Principles of Psychology. Cambridge, MA: Harvard University Press 1981. Kohls, Niko: Außergewöhnliche Erfahrungen – Blinder Fleck der Psychologie? Eine Auseinandersetzung mit außergewöhnlichen Erfahrungen und ihrem Zusammenhang mit geistiger Gesundheit. Münster: Lit-Verlag 2004. Kohls, Niko/ Benedikter, Roland: „The origins of the modern concept of ‚neuroscience‘ – Wilhelm Wundt between empiricism and idealism: implications for contemporary neuroethics“. In: Scientific and Philosophical Perspectives in Neuroethics. Hrsg. von James Giordano und Bert Gordijn. Cambridge: Cambridge University Press 2010. S. 37 – 65. Kohls, Niko/ Sommer, Andreas: „Die akademische Psychologie am Scheideweg: Positivistische Experimentalpsychologie und die Nemesis der Transzendenz“. In: Spiritualität, Krankheit und Heilung – Bedeutung und Ausdrucksformen der Spiritualität in der Medizin –
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Perspektiven, Schriften zur Pluralität in der Medizin und Komplementärmedizin. Hrsg. von Arndt Büssing, Thomas Ostermann, Michaela Glöckler und Peter F. Matthiessen. Frankfurt am Main: Verlag für akademische Schriften 2006. S. 184 – 218. Kohls, Niko/ Walach, Harald: „Psychological Distress, Experiences of Ego Loss and Spirituality: Exploring the Effects of Spiritual Practice“. In: Social Behavior and Personality. 35(10) 2007. S. 1301 – 1316. Kohls, Niko/ Walach, Harald/ Lewith, George: „The impact of positive and negative spiritual experiences on distress and the moderating role of mindfulness“. In: The Archive for the Psychology of Religion 31. 2009. S. 1 – 18. Kohls, Niko/ Walach, Harald/ Wirtz, Markus: „The relationship between spiritual experiences, transpersonal trust, social support, sense of coherence and mental distress – a comparison of spiritually practising and non-practising samples“. In: Mental Health, Religion & Culture 12(1) 2009. S. 1 – 23. Palmer, John: „A community Mail survey of Psychic Experiences“. In: The Journal of The American Society for Psychical Research 73(3) 1979. S. 221 – 251. Schetsche, Michael/ Schmied-Knittel, Ina: „Wie gewöhnlich ist das ‚Außergewöhnliche‘? Eine wissenssoziologische Schlussbetrachtung“. In: Alltägliche Wunder – Erfahrungen mit dem Übersinnliche Befunde: Wissenschaftliche Befunde. Hrsg. von Eberhard Bauer und Michael Schetsche. Würzburg: Ergon 2003. S. 171 – 188. Sonntag, Michael: „Vermessung der Seele – Zur Entstehung der Psychologie als Wissenschaft“. In: Entdeckung des Ich – Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Richard van Dülmen. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2001. S. 361 – 384. Spencer-Brown, George: Laws of Form. London: Allen & Unwin 1969. Walach, Harald/ Kohls, Niko/ Belschner, Wilfried: „Transpersonale Psychologie – Psychologie des Bewusstseins: Chancen und Probleme“. In: Psychother Psych Med 55. 2005. S. 405 – 415. White, Rhea A.: „Working classification of EHEs. Exceptional Human Experience“. In: Background Papers 11(I) 1993. S. 149 – 150. Wundt, Wilhelm: Hypnotismus und Suggestion. Leipzig: Verlag von Wilhelm Engelmann 1911.
Abbildungen Eigene Darstellung nach Louis A. Necker, Necker-Würfel.
Christian Holtorf
Horizonterweiterung als wissenschaftliche Selbstreflexion Der Philosoph Georg Friedrich Meier schrieb im Jahr 1752: Wenn ich mich aufs freie Feld hinstelle, so stehe ich allemal in einem gewissen Mittelpuncte. Um denselben ziehet sich rings um mich herum eine Circullinie, und die ist die Grenze meines Gesichts, über dieselbe kan ich nicht hinaussehen. Diese Linie schneidet ein Stück der Oberfläche des Erdbodens und des Gewölbes des Himmels ab. Alles, was innerhalb dieser Linie ist, und sonst von mir gesehen werden kan, das können meine Augen erreichen, und das nennen wir eigentlich den Gesichtskreys.¹
Mit dem von einer Linie umschlossenen „Gesichtskreys“ meinte Georg Friedrich Meier den idealen Horizont eines Menschen, dem nichts im Wege steht, was den Blick einschränkt. Der Philosophie-Professor aus Halle war eine der prägenden Figuren der frühen Aufklärung, auch Immanuel Kant bezog sich auf ihn. In Schriften wie der Vernunftlehre, aus der die zitierten Sätze stammen, wollte er die Philosophie praktisch wirksam werden lassen.Wenn er den „Gesichtskreys“ darin als Begrenzung des sichtbaren Raums beschrieb, schloss er an die ursprüngliche Bedeutung des Worts an, öffnete den Begriff aber auch darüber hinaus. Die folgenden Auseinandersetzungen im Anschluss an Meiers Überlegungen diskutieren Begriffsgeschichte und kulturelle Erscheinungsformen des menschlichen Horizonts, um genauer zu verstehen, worin er besteht und wo er verläuft. Eine Erweiterung des Blicks soll nicht dadurch erreicht werden, dass die Horizontlinie in einer bestimmten Richtung verschoben oder überwunden wird, sondern indem der Begriff selbst hinterfragt und historisch eingeordnet wird. Im christlichen Mittelalter war die Vorstellung verbreitet, dass der Horizont zwei Sphären der Erkenntnis voneinander trennt: hier das Wahrnehmbare innerhalb des menschlichen Gesichtskreises, dort das Unsichtbare außerhalb. Die Grenze des Horizonts war theologisch begründet: Weil die Menschen wussten, dass jenseits ihres Blickfeldes eine göttliche Sphäre lag, schien es ihnen aussichtslos, darüber hinauszugelangen. Der Gesichtskreis des Betrachters ließ sich zwar – wie von Georg Friedrich Meier – bestimmen und erforschen, aber er musste akzeptiert werden und ließ sich nicht erweitern oder überwinden. Ein Mensch konnte sich auf ein freies Feld stellen, aber seine eingeschränkte Position konnte er nicht verlassen. Die Weiterentwicklung dieser Ideen zum modernen Horizont, Meier, Georg Friedrich: Vernunftlehre. Halle: Johann Justinus Gebauer 1752. S. 69. https://doi.org/10.1515/9783110553291-011
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der individuell gestaltet ist, verfolgt der erste Abschnitt der folgenden Annäherungen. Der Aufklärer Meier hatte den Horizont jedoch nicht als anthropologische Einschränkung im Sinne der Theologie verstanden, sondern als erkenntnistheoretischen Rahmen im übertragenen Sinne. Der „Horizont der gelehrten Erkenntnis“, schrieb er, umgrenzt „das ganze Gebiet des menschlichen Verstandes und der menschlichen Vernunft“ und soll den Menschen „den Inbegriff aller Dinge verstehen“ lassen.² Eine vernünftige Erkenntnis bestand für ihn nicht nur im Verstehen der Sache selbst, sondern auch darin, „auf eine deutliche und begreifliche Weise zu zeigen, warum die Sache um eben dieses Grundes willen so und nicht anders beschaffen ist“.³ Dieser Versuch der philosophischen Aufklärung, die religiösen Grenzen zu hinterfragen und dadurch zu überwinden, steht im Mittelpunkt des zweiten Abschnitts. Wissenschaftler und Ingenieure nutzten nach Meier die Chance, neues Wissen am Horizont erscheinen zu lassen. Himmel und Erde waren nicht mehr gemeinsamer Teil der göttlichen Schöpfung, sondern wurden nun beide zum Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis. Je nachdem, wie hoch und frei jemand (im wörtlichen wie im übertragenen Sinne) stand, desto weiter oder enger war sein Horizont. Der Radius konnte individuell variieren, sich ausdehnen oder schrumpfen, sichtbar oder verborgen sein. Mit zwei Formen der aufklärerischen Produktion von Horizonterfahrungen und -erwartungen beschäftigen sich die Abschnitte drei und vier: Sie stellen das Panorama als illusionistisches Horizontbild des 19. Jahrhunderts der Medientechnik der Weltraumfotografie am Ende des 20. Jahrhunderts gegenüber. Der Horizont entsteht durch die menschliche Wahrnehmung. Die beiden Beispiele aus der Geschichte der Wissenschaften verdeutlichen dafür drei Vorbedingungen: Er bedarf erstens der aufrechten Haltung, dem Wahrnehmen und Bewegen des menschlichen Körpers. Meier erwähnte zum Beispiel, dass „ein Kind von Jahr zu Jahr einen grösseren Gesichtscreis seiner Augen bekomt, je länger sein Körper wird“.⁴ Sein Horizont wächst mit, da wir, so auch Kant, „alles, was außer uns ist, durch die Sinnen nur insoferne kennen, als es in Beziehung auf uns selbst stehet“.⁵ Die Horizontwahrnehmung nutzt zweitens bildliche Vorstellungen, die nicht nur auf dem menschlichen Sehvermögen und den vorhandenen Medien-
Meier: Vernunftlehre. § 65. S. 69. Ebd., § 31. S. 32. Ebd., § 621. S. 814. Kant, Immanuel: „Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume“. In: Werkausgabe. Band II: Vorkritische Schriften bis 1768. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. S. 992– 1000, hier S. 995.
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techniken, sondern auch auf Imaginationen, Symbolen und der Bestimmung von Ausschnitten und Fokussierungen beruhen. Erst Bilder, schreibt Kant, könnten Begriffe, „die sonst nicht von der Erfahrung abgeleitet sind, zum Erfahrungsgebrauche tauglich“ machen.⁶ Der moderne Horizont besitzt drittens in Form von Hoffnungen und Zukunftsversprechen sowie aufgrund der Historizität des Begriffs selbst eine zeitliche Dimension. Wie sich diese Voraussetzungen auf den heutigen Horizontbegriff auswirken und auf welche Weise sich dadurch Bildung und Orientierung gewinnen und vermitteln lassen, diskutieren die abschließenden Abschnitte fünf und sechs. Der Horizont „gliedert sich dem Feld der Wahrnehmung nicht ein, sondern organisiert es.“⁷ Wichtige wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Horizonten finden sich deshalb nicht nur in einer kleinen Anzahl von Veröffentlichungen, die sich ausdrücklich mit Philosophie, Geschichte und Kultur des Begriffs beschäftigen,⁸ sondern auch in Diskussionen des Raums als Erkenntniskategorie.⁹ In Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik wird die Horizontmetapher heute häufig verwendet, um den Umfang des an Schulen und Hochschulen vermittelten Lehrstoffs zu beschreiben und Möglichkeiten zu schaffen, ihn zu erweitern. Dennoch wird der Begriff auch dort nur wenig problematisiert.¹⁰ Die folgenden Überlegungen versuchen, aus der Philosophie- und Kulturgeschichte des Horizonts Rückschlüsse für die Selbstreflexion der Wissenschaften zu ziehen.
Kant, Immanuel: „Was heißt: sich im Denken orientieren?“ In: Werkausgabe. Bd. V: Schriften zur Metaphysik und Logik Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. S. 267– 283, hier S. 267. Koschorke, Albrecht: Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990. S. 7. Vgl. vor allem Koselleck, Reinhart: „‘Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien“. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979. S. 349 – 375. Koschorke: Geschichte des Horizonts. Österreichische Gesellschaft zur Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts (Hrsg.): Zur Ausweitung des Horizonts. Das achtzehnte Jahrhundert und Österreich. Jahrbuch Bd. 13.Wien: Wiener Universitätsverlag 1999. Elm, Ralf (Hg.): Horizonte des Horizontbegriffs. Hermeneutische, phänomenologische und interkulturelle Studien. Sankt Augustin: Academia 2004. Belting, Hans: „Himmelsschau und Teleskop. Der Blick hinter den Horizont“. In: Helas, Philine u. a. (Hrsg.): Bild/ Geschichte. Festschrift für Horst Bredekamp. Berlin: Akademie 2007. S. 205 – 218. Vgl. Sommer, Manfred: Suchen und Finden. Lebensweltliche Formen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. S. 80 – 103. Vgl. zur Diskussion der Begriffe Raum und Landschaft in der Bildungstheorie: Reutlinger, Christian: „Bildungslandschaften: Eine raumtheoretische Betrachtung“. In: Böhme, Jeanette (Hrsg.): Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs. Territorialisierungskrise und Gestaltungsperspektiven des schulischen Bildungsraums.Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009. S. 119 – 139.
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1 Die Grenzen des Wissens Meiers Bestimmung, dass der Horizont Erdboden und Himmelsgewölbe jeweils in sichtbare und unsichtbare Bereiche teilt, steht in einer langen Tradition. Der Begriff „Horizont“ leitet sich vom altgriechischen Begriff „horizein“ (abgrenzen) ab. Seit dem 13. Jahrhundert war er in der Bedeutung eines Kreises gebräuchlich, der zwei Hemisphären trennt.¹¹ Der Mensch galt als Grenzwesen. Er befinde sich, so war die Vorstellung von Wilhelm von Auvergne, an der Grenze zwischen zwei ewig bestehenden Welten: einerseits der Welt der Empfindungen und Schatten, der Sinne und Emotionen und anderseits der Welt des Verstandes und des Lichts, der Erkenntnis und Moral. Beide Sphären waren am Horizont voneinander geschieden, so dass immer ein Teil dem menschlichen Blick entzogen war. Der Mensch konnte und musste sich zwischen ihnen entscheiden und dadurch „zwischen Entfremdung und Vergöttlichung“ wählen.¹² Dagegen behauptete Thomas von Aquin, dass beide Seiten des Horizonts zur menschlichen Natur gehörten. Im Unterschied zum Tier auf der einen Seite und zur reinen Vernunft auf der anderen Seite bilde der Mensch die gesamte Schöpfung ab. Er stehe – wie ein Horizont – genau an der Grenze zwischen dem Vergänglichen und dem Unvergänglichen.¹³ In der Neuzeit verlor der Begriff des Horizonts seine metaphysische Bedeutung und wurde auf die Erkenntnistheorie übertragen. Unmittelbare Vorläufer Meiers waren Gottfried Wilhelm Leibniz und Alexander Gottlieb Baumgarten. Während Leibniz den Begriff zur Bestimmung des möglichen Gesamtumfangs des menschlichen Wissens gebrauchte, unterschied Baumgarten verschiedene Erkenntnisvermögen und verglich individuelle Horizonte miteinander.¹⁴ Der Mensch war nun nicht mehr der Horizont, sondern er hatte einen Horizont.¹⁵ Denn, so Meier, „(d)iese Dinge kan man entweder in Absicht auf das ganze menschliche Geschlecht betrachten, oder in Absicht auf diesen oder jenen Menschen insbe-
Hinske, Norbert: Artikel „Horizont I“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 3. Hrsg. von Joachim Ritter. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974. Sp. 1187– 1194, hier Sp. 1191. Ebd. Vgl. ebd., Sp. 1192. Engfer, Hans-Jürgen: Artikel „Horizont II“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 3. Hrsg. von Joachim Ritter. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974. Sp. 1194– 1200, hier Sp. 1195 ff. Ebd., Sp. 1195.
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sondere“.¹⁶ Dadurch war es nicht mehr Sache des Glaubens, den Wahrnehmungshorizont zu verstehen, sondern es wurde zur Aufgabe der individuellen Erkenntnisfähigkeit, ihn zu erweitern, die Welt aus eigener Perspektive kennenzulernen und sich mit anderen Lebensweisen und Vorstellungen auseinanderzusetzen. Der Begriff bezog sich nicht mehr auf eine ewige Ordnung, sondern hatte eine historisch-zeitliche Dimension gewonnen.¹⁷ Nun bestimmten raumzeitliche Bewegungen die Topologie des Menschen, doch räumliche Abtrennungen und ihre normative Bewertung blieben erhalten: Ein „enger Horizont“ stand für Beschränktheit und geringes Wissen, ein „weiter Horizont“ für Bildung und Offenheit. Gleichwohl war ein weiter Horizont für Meier kein absolutes Bildungsideal, sondern ein praktisches Ziel, für das jeder „seine Kräfte aufs genaueste prüfen und beurtheilen“ muß.¹⁸ Jeder sollte seinen Horizont selbst bestimmen, indem er sich an „der Legitimität und der Fruchtbarkeit der in Frage kommenden Erkenntnisse“ für ihn selbst orientiert.¹⁹ Bildung wurde dadurch immer weniger als Vermittlung von weltanschaulichen Vorstellungen und immer mehr als kritische Reflexion der Erfahrung verstanden. Die Schranke der menschlichen Vernunft lag darin, dass kein Mensch alles wissen konnte – und auch nicht musste.²⁰ Für Meier war klar, dass der Horizont zwar erweitert, aber nicht überschritten werden kann.²¹ Für jeden Gelehrten, schrieb er, gäbe es über, unter und außerhalb seiner Kenntnisse noch weiteres Wissen: Über seinen Horizont gingen Dinge, die zwar wichtig und groß seien, aber die Kräfte des Verstandes überstiegen, beispielsweise Fragen der Religion. Unter dem Horizont des Gelehrten lägen Dinge, die es nicht verdienten, erkannt zu werden, weil sie nicht groß und wichtig genug seien. Außerhalb seines Horizonts befänden sich schließlich Sachverhalte, deren Erkenntnis ihn an seinen Aufgaben hindern würde.²² Meiers Lehre der begrenzten Horizonterweiterung begründete also keine Interdisziplinarität, sondern lässt sich, so Riccardo Pozzo, als eine Theorie der sinnvollen Abgrenzung der gelehrten Fächer voneinander verstehen. So dient die Ausgrenzung aller Gegenstände, die über dem gelehrten Horizont stehen, zur Si-
Meier: Vernunftlehre. § 69. S. 74. Vgl. auch Kant, Immanuel: Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen. Königsberg: Friedrich Nicolovius 1800. S. 54. Vgl. Hinske: „Horizont“. Sp. 1190, Engfer: „Horizont“. Sp. 1196. Meier: Vernunftlehre. § 622. S. 814. Pozzo, Riccardo: Georg Friedrich Meiers „Vernunftlehre“. Eine historisch-systematische Untersuchung. Stuttgart-Bad Cannstadt: frommann-holzboog 2000. S. 206. Meier: Vernunftlehre. § 64. S. 68. Ebd., § 74. S. 80. Ebd., § 66 – 68. S. 70 – 74.
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cherung der angestammten Vorrangsrechte der Theologischen Fakultät. Die Ausgrenzung gegen die unteren Erkenntnisbereiche wiederholt die Superiorität des wissenschaftlichen über das technische Wissen, wobei nur dem ersteren die Bezeichnung eines ‚gelehrten‘ Wissens zusteht. Die Bezeichnung ‚außerhalb des Horizonts‘ dient der Abgrenzung der Philosophie als unterer Fakultät von der Medizin und Jurisprudenz als den beiden noch übrigen oberen Fakultäten sowie im allgemeinen – d. h. außerhalb des akademischen Lebens – der Abgrenzung verschiedener Menschen, die in ihrem bürgerlichen Leben verschiedenen Pflichten nachgehen müssen.²³
Später unternahm auch Kant einen Versuch, den Umfang und die Grenzen des menschlichen Erkennens neu zu bestimmen. Nur auf den ersten Blick schien ihm das empirisch fassbare Wissen „eine ebene Fläche zu seyn“.²⁴ Doch tatsächlich war das „Feld der Erfahrung“ für Kant nicht mehr die Welt, sondern die menschliche Vernunft, und diese wäre „nicht etwa eine unbestimmbar weit ausgebreitete Ebene“, sondern müsse „mit einer Sphäre verglichen werden“.²⁵ Nicht mehr zum Himmel brauchte also aufgeschaut, sondern die eigene Vorstellungskraft sollte reflektiert werden. Die Menschen könnten nicht alles wissen, so Kant, aber eine Erkenntnis könnte niemals grundsätzlich außerhalb oder unterhalb des Horizonts eines Wissenschaftlers liegen.²⁶ Beides gälte nur relativ, wodurch Kant das fachübergreifende Zusammenarbeiten zur Ergänzung des jeweils eigenen Horizonts nahe legte. Weil allerdings kein Mensch mehrere Standpunkte gleichzeitig einnehmen kann, ist jedes Weltverstehen perspektivisch und subjektiv.²⁷ Mit jedem neuen Erleben von etwas, was zuvor unbekannt oder fremd war, erweitert sich der eigene Horizont. Horizonte beruhen daher phänomenologisch nicht auf einer vorgegebenen Ordnung, sondern sind „vorgezeichnete Potentialitäten der Erfahrung“.²⁸ Bei Meier hieß es: „Die Erfahrung ist der allererste Weg, durch welchen wir zu Begriffen von Dingen gelangen.“²⁹ Daraus ergab sich auch ein Bewusstsein der kulturellen Begrenztheit des eigenen Horizonts, denn, wie Hegel schrieb, als
Pozzo: Vernunftlehre. S. 205. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. In: Werkausgabe. Bd. IV. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. S. 645. Kant: Kritik der reinen Vernunft. S. 647. Kant: Logik. S. 55 f. Vgl. Kant: Denken. S. 269 f.; Tengelyi, Laszlo: Erfahrung und Ausdruck. Phänomenologie im Umbruch bei Husserl und seinen Nachfolgern. Dordrecht: Springer 2007. S. 42. Husserl, Edmund: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Werke. Bd. I. Den Haag: Nijhoff 1950. S. 82. Meier: Vernunftlehre. § 288. S. 416.
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„Schranke, Mangel wird etwas nur gewußt, ja empfunden, indem man zugleich darüber hinaus ist“.³⁰
2 Den Horizont erweitern Seit dem 18. Jahrhundert stellten sich die Europäer den Horizont nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich-historisch vor: Der beschleunigte Zuwachs an Erkenntnissen führte einerseits zu einem „Erfahrungsdruck“, der den wachsenden Umfang des neuen Wissens entwicklungsgeschichtlich aneinander fügte.³¹ Andererseits entwickelten sich konkrete Erwartungen und Aufgaben für die Zukunft. Reinhart Koselleck beobachtete eine Verzeitlichung der Utopien und schloss daraus, „dass sich in der Neuzeit die Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung zunehmend vergrößert, genauer, dass sich die Neuzeit erst als eine neue Zeit begreifen lässt, seitdem sich die Erwartungen immer mehr von allen bis dahin gemachten Erfahrungen entfernt haben.“³² Der Horizont war von nun an „jene Linie, hinter der sich künftig ein neuer Erfahrungsraum eröffnet, der aber noch nicht eingesehen werden kann“.³³ Da die Erfahrungen ständig nachströmten und nie endgültig waren, musste der phänomenologische Horizont der Wirklichkeit unerschöpflich sein.³⁴ Der Horizont der Moderne implizierte eine „Anweisung zum Sichtbarmachen“, einen Zukunftsauftrag, eine Erwartung, die Edmund Husserl als „Horizontintentionalität“ bezeichnete: Geh hin! Schau nach! Entdecke es!³⁵ Auch Georg Friedrich Meier hatte gefordert: Jeder muss „seinen gelehrten Gesichtscreis beständig erweitern“.³⁶ Durch Horizontintentionalität sollte neuer Sinn entstehen – so wie jeder Horizont mit Weltorientierung verbunden war: Nur was innerhalb eines Horizonts lag, galt als vertraut und ungefährlich. Nietzsche hat deshalb richtig beobachtet, dass der Horizont „mit Mythen“ umgeben sei,³⁷ denn „jedes
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Hamburg: Felix Meiner 1991. S. 84. Lepenies, Wolf: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. München/ Wien: Hanser 1976. S. 16 ff. Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. S. 269 ff. Koselleck: Erfahrungsraum. S. 369. Ebd., S. 356. Vgl. Tengelyi: Erfahrung. S. 104. Vgl. Husserl: Meditationen. S. 81– 86; Sommer: Suchen. S. 101– 103. Meier: Vernunftlehre. § 621. S. 814. Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik. In: Kritische Studienausgabe. Bd. I. München u. a.: dtv 1988. S. 145.
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Lebendige kann nur innerhalb eines Horizontes gesund, stark und fruchtbar werden“.³⁸ Lag im Mittelalter der wichtigste Anreiz für die Auseinandersetzung mit dem Horizont in einer Vertiefung des religiösen Glaubens, machte sich die aufklärerische Bildung die Erweiterung des Horizonts ins Unbekannte zur Aufgabe. Der Horizont wurde aus seinen religiösen Zusammenhängen gelöst, aber zu einem neuen Sehnsuchtsort der wissenschaftlichen und technischen Forschung. Die Metapher ist in der gegenwärtigen Wissenschaftspolitik längst zum rhetorischen Werkzeug und Werbemittel geworden, das im Wettbewerb um „Zukunftskompetenz“ und „Exzellenz“ häufigen Gebrauch findet. Beispielsweise wurde ein prominentes europäisches Forschungsprogramm „Horizont 2020“ genannt. Und eine Raumfahrtmission der NASA, die 2006 auf den Weg zum Zwergplaneten Pluto gebracht wurde, im Juli 2015 an ihm vorbei raste und dabei große Mengen an Bildern und Daten zur Erde schickte, trägt den Namen „New Horizons“. Durch ihre affirmativen Bezeichnungen betonen diese Projekte wohl, dass mit ihnen mehr Zukunftserwartungen als empirische Ergebnisse verbunden werden. Horizonterweiterungen als Loslösungen von bisherigen Erfahrungen können Erwartungen jedoch nicht nur bestätigen, sondern auch enttäuschen.³⁹ Jeder steht zudem in der Gefahr, Dinge falsch oder misszuverstehen. Meier hat daher empfohlen, sich mit seinem vermeintlichen Wissen nicht zu brüsten. Wissen diene dem praktischen Handeln und sei kein Selbstzweck. Wer dies vernachlässige, könne „ein alles verschlingender Abgrund der gelehrten Erkentnis“ und „ein Ungeheuer in der Gelehrsamkeit“⁴⁰ werden. Meier warnte vor „altkluger Miene“, „schulfüchsischem Hochmuth“ und „Vielwisserey“,⁴¹ denn: „Wir sind Menschen, und also ist es uns unmöglich, den gelehrten Horizont gar zu genau auszumessen. Wir müssen fünfe gerade seyn lassen.“⁴² Der Fehler der „Vielwisser“ liege darin, dass sie das Leben und ihre Alltagspflichten verabsäumten.⁴³ Es bliebe aber – gemäß dem Vorbild des Sokrates, der „die Eitelkeit dieser windigen Sophisten“ erkannte – stets genug Unwissen übrig:⁴⁴
Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: Kritische Studienausgabe. Bd. I. München u. a.: dtv 1988. S. 251. Vgl. Tengelyi: Erfahrung. S. 11 ff.; Hegel spricht sogar von einer möglichen Entfremdung: ebd. S. 36. Meier: Vernunftlehre. § 74. S. 80. Ebd., § 66. S. 71. Ebd., § 70. S. 75. Ebd., § 74. S. 80; § 68. S. 73. Ebd., § 73. S. 77 f.
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Es ist also unleugbar ein lächerlicher Stolz mancher Gelehrten, wenn sie ihre Unwissenheit nicht bekennen wollen, sondern allerhand blauen Dunst machen, um andern weiß zu machen, daß sie gar nicht unwissend sind.⁴⁵
Dementsprechend erinnert auch die heutige akademische Suche nach Horizonterweiterung gelegentlich an „Vielwisserey“ und „blauen Dunst“. Die NASA-Sonde „New Horizons“ hat zum Beispiel nicht nur wissenschaftliche Aufgaben, sondern transportiert auch andere Botschaften. Außer Forschungsinstrumenten soll sich ein Gefäß an Bord befinden, das dreißig Gramm Asche aus der Urne des PlutoEntdeckers Clyde Tombaugh enthält. Ebenso eine Compact-Disc mit 434.738 Namen von Internet-Nutzern, die sich für eine „Send-Your-Name-to-Pluto“-Aktion interessiert haben, sowie eine US-Briefmarke von 1991 mit der Aufschrift „Pluto Not Yet Explored“.⁴⁶ Solche Verknüpfungen von kritischem Denken mit spirituellen Motiven waren bereits der Gegenstand einer aufschlussreichen Debatte zwischen Ernst Jünger und Martin Heidegger, die sich gut auf den Horizontbegriff anwenden lässt, obwohl er darin selbst nicht genannt wird. Ernst Jünger hatte 1950 in seiner Schrift „Über die Linie“ behauptet, dass „mit dem Überqueren des Nullmeridians die alten Ziffern nicht mehr stimmen und eine neue Rechnung anzufangen“ sei, denn wenn „das Ganze auf dem Spiel steht“, dringe man „zur Ordnung vor, indem man den Schutt der Zeiten abräumt“.⁴⁷ Mit einer Begrifflichkeit, die alt und neu, Ziffern und Rechnung, Schutt und Ordnung gegenüberstellte, brachte er „die Linie“ in einen endzeitlichen Zusammenhang: Jenseits von ihr fange etwas vollkommen Neues und Besseres an. Wer heute von einer Erweiterung des Horizonts spricht, verbindet weite Perspektive und breites Wissen meist ebenso mit der Erwartung von ganzheitlichem Verständnis und neuartigem Denken. Doch Heidegger widersprach: während Jünger „trans lineam“ schrieb, antwortete er „de linea“. Er warf Jünger Irrationalismus, Nihilismus und Metaphysik,
Ebd., § 71. S. 77. Crockett, Christopher: „Pluto: Explored. New Horizons is very close to its long‐awaited rendezvous with the dwarf planet“. In: Science News 187/13 (15. Juni 2015). S. 16 – 20; Dunn, Marcia (Associated Press): „Astronomerʼs ashes nearing icy world he discovered: Pluto“. In: USA Today, 13. Juli 2015; Benningfield, Damond: „‘Hi! I’m from Earth!‘ When sending spacecraft, it’s customary to include a note“. In: Air & Space Magazine. Smithsonian Institution, October/ November 2015. S. 77– 81, hier S. 80 f. Jünger, Ernst: „Über die Linie“. In: Sämtliche Werke. Bd. 7, Stuttgart: Klett-Cotta 2002. S. 237– 280, hier S. 264, 262, 265.Vgl. zur Geschichte der Linie: Ingold, Tim: Lines. A Brief History. London: Routledge 2007; Dorsch, Sebastian/ Vinzent, Jutta (Hrsg.): Spatiotemporalities on the Line. Representations-Practices-Dynamics. Berlin/ Boston: de Gruyter 2018.
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kurz „Seinsvergessenheit“ vor, denn der Mensch selbst bilde „die Linie“.⁴⁸ Der Philosoph hielt dem Schriftsteller entgegen, dass diese Linie nicht überschreitbar sei, stellte jedoch auch fest, dass beide Interpretationen nicht voneinander zu trennen seien.⁴⁹ Der Horizont des Menschen konnte demnach weder überwunden noch überhaupt klar gezogen werden, denn: „Je mehr wir über ‚die Linie‘ nachdenken, umso mehr verschwindet dieses unmittelbar eingängige Bild.“⁵⁰ Eine Erweiterung des Horizonts konnte auch für Heidegger nur im übertragenen Sinne durch eine Reflexion des Begriffs geschehen. Eine Überschreitung des Horizonts war ausgeschlossen.
3 Im Erwartungshorizont der Moderne Horizontlinien sind Medien der Abgrenzung und eröffnen daher Grenz- und Übergangszonen, die eine „Zirkulation zwischen dem Drinnen und dem Draußen“ ermöglichen.⁵¹ Die Metaphysik, glaubte Jacques Derrida, könne weder mit einer Linie abgeschlossen werden noch mit einem „Kreis, der ein homogenes Feld umgibt“; vielmehr sei die Grenze „durch immer unterschiedliche Risse, durch Spaltungen geprägt, deren Zeichen oder Narben alle philosophischen Texte tragen“.⁵² Derrida bestritt daher eine „ursprüngliche und ungeteilte Einheit“ und verwies auf Bewegungen.⁵³ Michel Foucault forderte in ähnlicher Weise, dass Wissenschaftler „die Alternative des Außen und Innen umgehen; wir müssen an den Grenzen sein. Kritik besteht gerade in der Analyse der Grenzen und ihrer Reflexion“.⁵⁴ Der Horizont ist eine wandernde Linie, die nie erreicht werden kann und daher selbst beständig neu ist. Wenn das Draußen schon auf diese Weise ein Teil des Drinnen ist, dann lassen sich Horizonterweiterungen auch als Vorgänge des Erwartens, Erreichens und Einreihens verstehen. Nach Wilhelm Schapp steht je-
Heidegger, Martin: „Zur Seinsfrage“. In: ders.: Wegmarken. Gesamtausgabe. Bd. 9. Frankfurt am Main 1976. S. 385 – 426, hier S. 412. Vgl. die Interpretation von Kamper, Dietmar: Von wegen. München: Wilhelm Fink 1998. S. 17. Heidegger: Seinsfrage. S. 386, 424. Ebd., S. 412. Derrida, Jacques: „Implikationen. Gespräch mit Henri Ronse“. In: ders.: Positionen. Graz/ Wien: Edition Passagen 1986. S. 33 – 51, hier S. 38 f. Derrida, Jacques: „Positionen. Gespräch mit Jean-Louis Houdebine und Guy Scarpetta“. In: ders.: Positionen. Graz/ Wien: Edition Passagen 1986. S. 83 – 184, hier S. 114. Derrida: Implikationen. S. 41. Foucault, Michel: „Was ist Aufklärung?“ In: Eva Erdmann u. a. (Hrsg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Frankfurt am Main u. a.: Campus 1990. S. 35 – 54, hier S. 48.
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der Horizont „selbst in einer Reihe von Horizonten“, die neu auftauchen oder schon vergangen sind.⁵⁵ Das Neue mag dann „darin bestehen, daß man Reihen sieht, wo sie vorher nicht gesehen worden sind“.⁵⁶ Der „Erwartungshorizont“ der Moderne besteht in diesem Sinne aus permanenten Horizonterweiterungen. Um Entfernungen zu verringern, werden Straßen, Schienen- und Kommunikationsnetze, Schifffahrtswege und Luftkorridore eingerichtet. Der Horizont lässt sich aber nicht nur durch Fortbewegungsmittel, sondern auch durch Positionserhöhungen und optische und akustische Hilfsmittel erweitern.⁵⁷ Eine lange Tradition hat die „Aufklärung“ aus räumlicher Distanz, die Fernrohre und Radioantennen, Richtmikrofone und Infrarot-Satelliten verwendet. Fotografie und Film ermöglichen enge Bildausschnitte, starke Vergrößerungen und extreme Perspektivsichten. Auch der Blick von oben dient dem strategischen Vorteil durch Kontrolle: Luftbilder und Karten stehen häufig im Dienst der Mächtigen. Der Turm war lange denen vorbehalten, die einen Überblick für sich beanspruchten oder ihre eigene Erhöhung sichtbar machen wollten – bis am Beginn des 19. Jahrhunderts das Turmbesteigen und in seinem letzten Drittel der Bau von Aussichtsplattformen populär wurden: „Die Erfahrung des Horizonts“, schreibt Stephan Oettermann, „wurde geradezu gesucht“.⁵⁸ Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts bot das Panorama ein eindrucksvolles Medium, das Draußen ins Drinnen zu holen und, wie sein Erfinder Robert Barker sagte, „to perfect an entire view of any country or situation“.⁵⁹ In einem Panorama befanden sich die Besucher in einem kreisrunden Gebäude, in dem eine Plattform in der Mitte einen Rundumblick auf ein Gemälde an der Außenwand bot. Dort war ein illusionistischer Bildraum ohne Anfang und Ende aufgetragen: Schlachtfelder, Stadtansichten, Naturszenerien. Der Raum zwischen Besuchern und Bild war ursprünglich mit schwarzem Tuch ausgeschlagen, um wie in einem Theater die Grenzen aufzuheben und die Illusion von Unendlichkeit zu vervollkommnen:⁶⁰
Schapp, Wilhelm: Philosophie der Geschichten. Frankfurt am Main: Klostermann 2015. S. 100. Schapp, Philosophie. S. 102. Vgl. Sommer: Suchen. S. 80, 93 – 101. Oettermann, Stephan: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums. Frankfurt am Main: Syndikat 1980. S. 10 f. Vgl. die Kritik Kants am Turmbau: Kant: Kritik der reinen Vernunft. S. 609. „Specification of the patent granted to Mr. Robert Barker, of the city of Edinburgh, Portraitpainter; for his invention of an entire new contrivance or apparatus, called by him La Nature à Coup d’Œil*, for the purpose of displaying Views of Nature at large, by Oil-painting, Fresco, Watercolours, Crayons, or any other Mode of painting or drawing“. Dated June 19th, 1787. In: The Repertory of Arts and Manufacturers. Bd. 4. London 1769. S. 165 – 167, hier S. 165. Schivelbusch, Wolfgang: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Fischer 2004. S. 206.
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Das Panorama ist ein entrahmtes Bild. Der obere und untere Rand bleibt illusionistisch verdeckt oder unbeleuchtet, der Vordergrund wird mit Staffage angefüllt, der seitliche Rahmen entfällt durch die Rundung.⁶¹
Panorama heißt wörtlich „Allsicht“. Es rief hohe Erwartungen hervor, weil es die Unendlichkeit des Horizonts wie von einem Berggipfel oder Aussichtsturm illusionierte. Ein Panorama war ein „optischer Simulator“ und folgte einem „Hunger nach Bildern“ und „Bedürfnis nach Orientierung“.⁶² Zugunsten des absoluten Bildraums verzichtete es auf das räumliche Erfahren von Weite und rief allenfalls Schwindelgefühle hervor, denn nur „indem der Betrachter sich um sich selbst dreht“, so Albrecht Koschorke, „kann er den gesamten, ihn einschließenden Bildraum überblicken. […] Die Perspektive liefert den Betrachter dem Bildraum aus, statt ihm Abstand zu gewähren.“⁶³ Dieser Schwindeleffekt wurde häufig beschrieben und dokumentierte die körperlichen Grenzen des panoramatischen Sehens.⁶⁴ An den Kassen wurden sogar eigens Orientierungsblätter ausgegeben.⁶⁵ Nach der allmählichen Beseitigung dieser Wahrnehmungsschwierigkeiten stand das Panorama am Anfang der Erfolgsgeschichte moderner Bildmedien. Wer schon einmal ein Panorama besucht hat, kennt den starken optischen Effekt, den ein runder Bildraum erzeugen kann. Lichtvariationen und musikalische Einspielungen steigern das Erlebnis weiter. Wie erregend der Anblick des bloßen Horizonts sein kann, hat Friedrich Schiller im Jahr 1793 geschildert: Entfernt man aber aus dem Horizont alle Gegenstände, welche den Blick insbesondere auf sich ziehen, denkt man sich auf eine weite und ununterbrochene Ebene oder auf die offenbare See, so wird der Horizont selbst zu einem Objekt, und zwar zu dem erhabensten, was dem Aug je erscheinen kann. Die Kreisfigur des Horizonts trägt zu diesem Eindruck besonders viel bey, weil sie an sich selbst so leicht zu fassen ist, und die Einbildungskraft sich um so weniger erwehren kann, die Vollendung derselben zu versuchen.⁶⁶
Koschorke: Geschichte. S. 164. Oettermann: Panorama. S. 12, vgl. S. 19.Von Plessen, Marie-Louise: „Der gebannte Augenblick. Die Abbildung von Realität im Panorama des 19. Jahrhunderts“. In: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main/ Basel: Stroemfeld/ Roter Stern. S. 12– 19, hier S. 12. Koschorke: Geschichte. S. 164 f. Oettermann: Panorama. S. 13. Vgl. Giersch, Ulrich: „Im fensterlosen Raum – das Medium als Weltbildapparat“. In: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Sehsucht. S. 94– 104. Oettermann: Panorama. S. 51. Schiller, Friedrich: „Zerstreute Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände“. In: Sämtliche Werke. Bd. 4. Stuttgart: J.G. Cottaʼsche Buchhandlung 1879. S. 543 – 557, hier S. 556.
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Ein Panorama machte sichtbar, was der Alltagserfahrung widersprach: Es gab scheinbar einen weiten Blick frei, obwohl die Betrachter, statt zum Himmel aufzuschauen, nur auf eine Wand blickten. Es ermöglichte ihnen, sich die Landschaft vertraut zu machen, obwohl die Allsicht eine Täuschung und die Erfahrungsmöglichkeit eng begrenzt war. Weil weder Rahmen noch Begrenzung zu erkennen waren, entstand ein Eindruck von Weite, der die Distanzlosigkeit zum bildlichen Eindruck vergessen ließ. Ein Panorama eröffnete einen Erwartungshorizont, aber war in Wirklichkeit „ein vollkommener Kerker des Blicks“.⁶⁷ Es zeigt die Abhängigkeit des Horizonts von seiner medialen Inszenierung, der Bewegungsfreiheit und der Imaginationskraft des Betrachters, der sich darin um sich selbst dreht.
4 Der Erwartungsraum der Wissenschaft Es ist ein Kennzeichen moderner Wissenschaft, dass sie Abstand zu ihren Forschungsobjekten und methodische Distanz zur Erfahrung herstellt. Doch Relationen wie drinnen und draußen, hier und dort, nah und fern oder eng und weit verweisen nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich aufeinander. Das Nichtsichtbare ist keineswegs immer das Gegenteil des Sichtbaren, sondern kann auch Bestandteil, Hintergrund, Ursprung oder Zukunft eines Bildes sein.⁶⁸ Die vermeintliche Evidenz des Visuellen führt also schnell in die Irre, wenn die Umstände ihres Entstehens nicht bekannt sind. In diesem Sinne hat der Fotograf Thomas Ruff in seiner Serie „Sterne“ die Frage neu gestellt, wo sich der Horizont befindet. Seine Arbeit beruht auf Aufnahmen eines astronomischen Atlas der südlichen Himmelshemisphäre. Aus den Vorlagen des Observatoriums wählte Ruff 144 Negative aus, bestimmte neue Bildausschnitte und vergrößerte sie. Die Abzüge im Großformat von 1,88 × 2,60 Meter ließ er rahmen. Die Bilder sind zwischen 1989 und 1992 entstanden und nach den Himmelskoordinaten des jeweiligen Bildzentrums benannt. Ins Zentrum stellte Ruff nie ein besonders großes oder helles Objekt wie in den Originalfotografien – und wenn doch eines zu erkennen ist, ist es deutlich aus dem Zentrum versetzt und in seiner Bedeutung abgeschwächt. Er verwandelte die astronomischen Motive dadurch in abstrakte Schwarz-Weiß-Strukturen und entdeckte ihre ästhetische Dimension neu. Auch das Format der fensterartigen,
Oettermann: Panorama. S. 18. Vgl. Husserl, Edmund: Ding und Raum. Vorlesungen 1907. In: Werke. Bd. XVI. Den Haag: Nijhoff 1973. S. 11, 245.
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monumentalen Hochrechtecke spielt auf traditionelle Formate der Malerei an und überführt die Bilder aus ihrem wissenschaftlichen Kontext in die Kunst.⁶⁹ Ruff spielt in seiner Arbeit mit der Spannung zwischen Nähe und Ferne, Sichtbarem und Unsichtbarem, Gegenwart und Vergangenheit. Tatsächlich bedeutet in den Weltraum zu schauen, die Vergangenheit zu sehen, denn das Licht, mit dem die Sterne strahlen, ist Abertausende von Jahren zur Erde unterwegs und oftmals schon erloschen. Manche Sterne existieren gar nicht mehr, so dass sie den sichtbaren Sternenhimmel zur Illusion machen. Auf Grundlage der Allgemeinen Relativitätstheorie haben Astrophysiker inzwischen einen „Ereignishorizont“ definiert: Er beschreibt die Grenze, hinter der kosmische Ereignisse für Menschen nicht mehr erfahrbar sind, weil sie jenseits der physikalischen Gesetze und außerhalb der menschlichen Raumzeitstruktur liegen. Was bleibt, wenn sich der Erfahrungshorizont auf diese Weisen entzieht, sind Kontingenzerfahrungen und Erwartungsräume, wie sie Ruff abzubilden versucht hat. Er schaut wie auf einem freien Feld zum Himmel, aber verweist dabei auf die Voraussetzungen, von denen er ausgeht, und auf die Hilfsmittel, die er verwendet. Denn den astronomischen Aufnahmen liegen riesige Datenmengen zugrunde. Ohne leistungsstarke Kameras und hochentwickelte Digitaltechniken lassen sich die Aufnahmen weder erzeugen noch gebrauchen: Sie repräsentieren mehr die technische Datenverarbeitung als den dargestellten Sternenhimmel. Thomas Ruff macht darauf aufmerksam, dass der moderne Horizont und seine permanente Erweiterung auf den Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik beruhen und selbst erst durch sie erzeugt werden. Er führt den Betrachtern vor Augen, dass die Wissenschaften Realitätserfahrungen zweifelhaft gemacht haben: Auch wenn der Himmel die Erde wie eine Kugel umschließt und obwohl Menschen, die in einer wolkenlosen Nacht aus dem Haus treten, im Zentrum aller Sterne zu stehen scheinen, wissen sie doch, dass beides Täuschungen sind. Der „Erkenntnisgewinn ist hier eng mit Bildproduktion verknüpft“, folgert Henning Engelke, „und die Parallele zu den Bildfindungen und ‚Entdeckungen‘ der bildenden Kunst drängt sich auf“.⁷⁰ Die Erde hat sich in der Himmelsforschung vom Gegenstand der Forschung zum Ort der Beobachtung gewandelt, an dem der Blick der Astronomen auf sich selbst gerichtet ist.⁷¹ Wenn das Panorama Bildung durch illusionistische Erfahrungen vermittelt und die Wissenschaften ihre Gegenstände mehr herstellen als vorfinden, scheinen sich die Erwartungen weniger auf eine „andere Zukunft“ zu richten als auf die Vgl. Engelke, Henning: „Thomas Ruffs ›Sterne‹ Konstellationen zwischen Kunst und Wissenschaft“. In: Kunsthistorische Arbeitsblätter 4 (2005). S. 45 – 58, hier S. 46. Engelke: Konstellationen. S. 45. Belting: Himmelsschau. S. 208.
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Gegenwart selbst. Oft befinden sich vermeintliche Zukunftsräume – wie Forschungslaboratorien, Kulturzentren oder Technikmuseen – in keiner Weise in der Ferne, sondern ganz in der Nähe. Ihr Ziel ist es nicht, Zukunft zu gestalten, sondern sich selbst als Zukunftsstandort zu präsentieren. Sie bewirtschaften einen Erwartungsraum und versprechen nicht einmal Neuentwürfe, sondern nur die Kontinuität der herrschenden Annahmen. Es handelt sich also nicht um neue Erfahrungen, sondern um historische Erwartungen. Dementsprechend hat der Historiker Christian Geulen behauptet, dass sich „Hoffnungen wie Ängste heute eher mit der erwarteten Fortdauer des Gegenwärtigen“ verbinden,⁷² denn gegenüber dem Erwartungsraum der Prognosen, Berechnungen und Zielutopien[,] bildet die Erfahrung eher eine Art Horizont historisch möglicher Handlungsfolgen, die als Fehler, Abweichungen oder Störungen schon im nächsten Anlauf (in der nächsten Reform, Intervention, Zielvereinbarung) als vermeidbar gelten. Wir scheinen in einer Epoche weniger der multiplizierten Erfahrung, als der entgrenzten Erwartung zu leben.⁷³
Geulen führt seinen Befund wesentlich auf den Einfluss der Massenmedien zurück, die „die Erfahrungen, die sie vermitteln, laufend mit Erwartungen“ anreichern.⁷⁴ In Zeiten von Bildungs-, Finanz- oder Klimakrise sollen sie die Zukunft plan- und gestaltbar erscheinen lassen: Gegenwärtige Prinzipien, Werte und Normen sollen erhalten, mögliche Risiken vermieden werden. Nach Geulen kann daher von einem zunehmenden Abstand zwischen der gegenwärtigen Erfahrung und der Erwartung einer anderen Zukunft, wie Koselleck für das 19. Jahrhundert behauptet hat, inzwischen keine Rede mehr sein.⁷⁵ Zwar seien es weiterhin hohe Erwartungen, die das Handeln antreiben, aber sie beziehen sich nicht auf die ferne Zukunft, sondern sind Anspruch der Gegenwart: In Umkehrung der Koselleck’schen Metaphorik ließe sich daher heute eher von einem Erwartungsraum und einem Erfahrungshorizont sprechen: Wir leben inmitten vielfältigster Erwartungen – und warten auf Erfahrungen.⁷⁶
Geulen, Christian: „Plädoyer für eine Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts“. In: Zeithistorische Forschungen/ Studies in Contemporary History. 7 (2010). S. 79 – 97, hier S. 84. Ebd., S. 83. Ebd. Ebd., S. 85. Ebd.
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5 Standpunkt und Orientierung An den Hochschulen verbreitet sich heute mehr und mehr das Ziel, durch das Trainieren von Schlüsselqualifikationen, Zeit- und Selbstmanagement die spätere Beschä ftigungsfä higkeit der Studierenden zu steigern: „Der ehemals offene Horizont wissenschaftlicher Erkenntnis und Erfahrungssammlung wird zunehmend auf die Erwartungsräume gesellschaftlicher Funktionssysteme aufgeteilt und von diesen bestimmt.“⁷⁷ Statt einem „irreducible and always embedded interplay of processes, practices, experiences, and ways of knowing and valuing that makes up our common world“ herrsche in den Wissenschaften eine spekulative „promise economy“, wie Isabell Stengers jüngst diagnostiziert hat.⁷⁸ Statt erfahrbarem Wissen steht die Vermittlung von funktionalen Kompetenzen für den Umgang mit möglichen Störungen im Zentrum: „Das Unbekannte ist zum Noch-Nicht-Bekannten geworden, das, wenn es sichtbar wird, sich dem bisher Bekannten gleichgeartet zeigt“.⁷⁹ Der Modus des Lernstoffs hat sich dabei verändert: Erfahrungsräume scheinen durch Erwartungshorizonte ersetzt zu sein. Manche Studierende fühlen sich von den hohen Erwartungen und intentionalen Horizonterweiterungen überfordert, weil sie befürchten, ihnen nicht standhalten zu können. In einem Ausstellungskonzept von Studierenden des 3. Semesters hieß es an meiner Hochschule: „Es baut sich dadurch ein gesellschaftlicher Druck auf, indem immer nach dem Besten und Neuesten gestrebt wird. So stellt sich fortwährend die Frage: Wie frei sind wir wirklich in unserem Denken und Handeln?“⁸⁰ Die hohen Zukunftserwartungen und die Vielzahl der Möglichkeiten bilden schon in der Gegenwart einen Horizont, der Anlass zur Sorge ist und Angst vor Burn-Out hervorruft.⁸¹ Stattdessen wird auch in den Wissenschaften ein Rahmen gesucht, der das Gleichgewicht wiederherstellt und Orientierung vermittelt. Es scheint ein wachsendes Bedürfnis nach Sicherheit, Prävention und Schutz vor den Risiken der Zukunft zu geben,⁸² das sich in einer Selbstverständigung über den eigenen Horizont und den mit seiner Erweiterung verbundenen Hoffnungen widerspiegelt.
Ebd., S. 83 f. Stengers, Isabell: Another Science is Possible. A Manifesto for Slow Science. Cambridge: Polity Press 2018. S. 120, 118. Koschorke: Geschichte. S. 80. Hochschule Coburg: Studentisches Konzept für einen Ausstellungsraum „Freiheit im 21. Jahrhundert“. Unveröffentlichtes Manuskript. 19. Oktober 2016. S. 5. Vgl. Hochschule Coburg: Ausstellungsraum. S. 6, 23 – 27. Vgl. Leanza, Matthias: Die Zeit der Prävention. Eine Genealogie. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2017. S. 14.
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Orientierung wird gesucht, wenn die Übersicht verloren gegangen ist. Sie ist eine zeitliche Kunst: Nicht die Fülle an Möglichkeiten ist problematisch, sondern der Zwang zur schnellen Entscheidung.⁸³ Jede Orientierung ist, wie Werner Stegmaier im Anschluss an Kant betont hat, „an Zeit und Situation geknüpft“ und stammt aus der Erfahrung, ist aber nicht sehr genau und hat „keinen Bestand in der Zeit“.⁸⁴ Neue Paradigmen der Didaktik greifen dieses starke Orientierungsbedürfnis auf, indem sie prozess- und handlungsorientiert vorgehen und die Eigenpositionierung in den Mittelpunkt stellen: Erst wer weiß, wer er ist und wo er steht, kann entscheiden, welchen Weg er einschlägt. Allerdings haben Kathrin Passig und Alexs Scholz jüngst daran erinnert, dass die perfekte Orientierung eine Illusion ist und gerade derjenige, der sich verirrt, die Welt entdeckt.⁸⁵ So wie das Unbekannte jenseits des Horizonts nicht das Gegenteil von Erkenntnis ist, so ist die Erfahrung des Verirrens nicht das Gegenteil von Orientierung, sondern ihre Begleiterscheinung.⁸⁶ Horizonte werden durch Bewegung erfahrbar: „Nur indem ich meinen Standort verlagere und leiblichkinästhetisch wahrnehme, werde ich mir über die erfahrene Differenz allererst des Standpunktes und Horizontes bewusst.“⁸⁷ Bewegungen schließen das Verschieben von Standorten, die Erfahrung des Verirrens und Wiederfindens, von Grenzen und Distanzen, Drinnen und Draußen ein. Auch der Rat für Kulturelle Bildung hat dafür kürzlich ein Vorbild gefunden: Die Figur des suchend Umherirrenden – von Odysseus über Parzival bis Forrest Gump – wird seit eh und je als Metapher für das Zurechtfinden in der Welt verwandt. Halb betroffen, halb begeistert folgt man den interessant umwegigen Suchbewegungen dieser Protagonisten.⁸⁸
Sie sind auch Vorbilder der Selbstreflexion diesseits der Rede von Horizonterweiterung, Ganzheitlichkeit und gesteigerter Chancenverwertung. Es geht ihnen um die Erfahrung von Grenzen statt um ihre Überwindung. Deshalb sind Bildungsreisen zu „Traumzielen“ wohl auch nur dann als Horizonterweiterungen zu
Vgl. Stegmaier, Werner: „‘Was heißt: Sich im Denken orientieren?‘ Zur Möglichkeit philosophischer Weltorientierung nach Kant“. In: Zeitschrift für Philosophie 17/1 (1992). S. 1– 16, hier S. 11 ff. Stegmaier, Werner: „Einleitung“. In: ders. (Hrsg.): Orientierung. Philosophische Perspektiven. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. S. 14– 50, hier S. 47, 16. Passig, Kathrin/ Scholz, Aleks: Verirren. Eine Anleitung für Anfänger und Fortgeschrittene. Berlin: Rowohlt 2010. S. 11, 14. Ebd., S. 13. Elm, Ralf: „Orientierung in Horizonten. Analyse und hermeneutische Folgerungen“. In: Stegmaier: Orientierung. S. 79 – 114, hier S. 86. Rat für Kulturelle Bildung: Zur Sache. Essen 2015. S. 58.
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verstehen, wenn individuelle Routen gewählt und der Umgang mit Grenzen gesucht wird, wenn der eigene Blick auf die Welt also ins Schwanken gerät und der Weg nach außen auch einen Weg nach innen öffnet.⁸⁹ Michel Serres sprach in einem ähnlichen Zusammenhang davon, dass er von Universitäten träumt, „deren Raum inhomogen sein sollte, fleckig, gescheckt, bunt, getigert, von Konstellationen durchzogen – real wie eine Landschaft!“⁹⁰ Das Problem ist allerdings: Auch Landschaften werden von Menschen erzeugt und sind nichts anderes als Zuschreibungen an Naturräume.⁹¹ „Bildungslandschaften“ malen ein harmonisches Idealbild „von einer überblickbaren, zusammenhängenden und geordneten Einheit“, das „im Gegensatz zur eher problembeladenen und fragmentierten Stadt bzw. Kommune“ steht.⁹² Die Metapher versucht, das Nebeneinander von verschiedenen Bildungsangeboten durch Steuerung, Vernetzung, Plan- und Kontrollierbarkeit innerhalb „eines größeren und rahmengebundenen Ganzen“ zu überwinden und dadurch Harmonie, Ganzheit und Schönheit herzustellen.⁹³ Doch „Bildungshorizonte“ und „Bildungslandschaften“ erscheinen nur aus der Stadt oder von erhöhten Ausblicken so idyllisch, dass die Ambivalenz ihrer ökonomischen Nutzung leicht übersehen wird.⁹⁴ Tatsächlich sind sie aber auch durch Äcker und andere Nutzflächen, durch eingezäunte Gärten und Brachflächen, durch erodierte Wüsten, Sümpfe oder Felsen gekennzeichnet. Im metaphorischen Begriff der „Bildungslandschaft“ bleiben diese Spannungen und Diversitäten oft unbeachtet und ungenutzt. Christian Reutlinger kritisierte deshalb den unkritisch-romantischen Landschaftsbegriff in der Bildungsdebatte und plädierte für „mehrere Optiken und Perspektiven auf Orte, Räume und Landschaften“, die Standortwechsel und Standpunktveränderungen ermöglichen.⁹⁵
Allmann, Silke/ Dazert, Denise: „Auf dem Weg zur Bildung. Individuelle Bildungsreisen als Horizonterweiterung. Zur Einleitung“. In: dies: Auf dem Weg zur Bildung. Individuelle Bildungsreisen als Horizonterweiterung. Weinheim/ Basel: Beltz Juventa 2016. S. 9 – 13, hier S. 9. Serres, Michel: Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation. Berlin: Suhrkamp 2013. S. 43. Vgl. Ritter, Joachim: „Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft“. In: ders.: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1974. S. 141– 190. Reutlinger, Christian/ Schöne, Mandy: „Bildungslandschaften gestalten – bilden Landschaften Bildung?“ In: Forum Wohnen und Stadtentwicklung 4/3 (2012). S. 119 – 124, hier S. 119 f. Ebd., S. 120. Vgl. Anders, Kenneth: „Das Schuldbewusstsein im Raum. Über Ländlichkeit und Landschaft“. In: Kulturstiftung des Bundes: Das Magazin. 26 (Mai 2016). S. 43/44, hier S. 44; Ritter: „Landschaft“. S. 158 – 163. Reutlinger/ Schöne: Bildungslandschaften gestalten. S. 124.
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Wird in der Erziehungswissenschaft heute vom Raum als „drittem Erzieher“ gesprochen, so sind auch die bewusste Anlage von Heterogenität, Aktivität und Emotionen gemeint, denn nicht in jedem Fall dienen Standortwechsel der besseren Orientierung.⁹⁶ Der Mailänder Schriftsteller Carlo Levi hat seine Verbannung nach Süditalien im Jahr 1935 als einen deprimierenden Aufenthalt jenseits des Horizonts und aller Kultur empfunden. Levi wurde dorthin verbannt, wo die Straße aufhört: hier, schrieb Levi in einem berühmten Roman, sprachen die Bauern eine andere Sprache als der Staat, als einzige Verteidigung hätten sie die Resignation.⁹⁷ Sie sagten: „ [W]ir gelten nicht als Menschen, sondern als Tiere […] wir müssen uns der Welt der Christen jenseits unseres Horizonts unterwerfen“.⁹⁸ Levi empfand den Ort seinerseits als horizontlos: „ [Ü]ber dem dunklen Ort lagerten das Schweigen und die leere Finsternis des Himmels“.⁹⁹ Er schilderte die Gegend als karge Wüste und öde Landschaft voller Abgründe und Schluchten in einem „formlosen Meer von Langeweile“.¹⁰⁰
6 Wissenschaftliche Selbstreflexion Die Geschichte des Horizontverlaufs dokumentiert wechselnde Verknüpfungen und Abgrenzungen zwischen vielen unterschiedlichen Räumen. Der Horizont bildet sich jedoch nicht nur räumlich, sondern auch körperlich, bildlich und zeitlich. Seine historische Form beruht auf Wahrnehmungen und Körperhaltungen, auf visuellen und imaginären Vorstellungen und damit verbundenen Hoffnungen und Zukunftserwartungen. Hatte die Horizontlinie zuerst verschiedene Teile der Welt und der menschlichen Natur unterschieden, grenzte sie später Menschen mit unterschiedlichem Wissen und wissenschaftliche Fachkulturen voneinander ab. Mit der Aufklärung wurde der Horizont zur Sache der Individualität. Im Panorama des 18. und 19. Jahrhunderts umschloss der Horizont einen eng konstruierten Erfahrungsraum, dessen Bildtechnik so ungewohnt war, dass er körperliche Schwindelgefühle auslösen konnte. Die Einbildungskraft der Besucher bewirkte, dass der sichtbare Horizont plötzlich so weit erschien wie von einem Turm, aber zugleich offensichtlich illusionistisch war. Dadurch ließ sich
Zum Beispiel Knauf, Tassilo: „Bildungsräume für Kinder von 0 bis 6: der Raum als ‚dritter Erzieher‘“. 2010. https://www.kindergartenpaedagogik.de/2076.html (24. Mai 2018). Levi, Carlo: Christus kam nur bis Eboli. München: dtv 1982. S. 69. Ebd., S. 5. Ebd., S. 107. Ebd, S. 166.
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nicht nur erahnen, dass sich die menschlichen Horizontlinien technisch immer weiter hinausschieben lassen würden, sondern auch, dass sie sich – wie von Kant behauptet – in das Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen, in empfohlene Körperhaltungen und Bewegungen der Betrachter verlagerten. Die eigenen Erfahrungen wurden trügerisch. Während die Bilder und ihre Versprechen im 19. und 20. Jahrhundert technisch und kulturell perfektioniert wurden, behielten sie auf der anderen Seite aber auch Bezüge zu Spiritualität und Transzendenz bei. Wie jede Grenze verweist der Horizont auf die Ferne und Unendlichkeit dahinter, was nicht nur die astronomischen Aufnahmen des Sternenhimmels zeigen, sondern auch die magischen Beigaben, mit denen die Pluto-Sonde ausgestattet wurde. Im Glauben, den Horizont einer Kultur oder eines einzelnen Menschen fortwährend erweitern oder verschieben zu müssen, können sich wissenschaftliche und gesellschaftliche Erwartungen mit mythologischen und eschatologischen Visionen verbinden. Doch warum wird der Horizont heute von vielen als so eng empfunden, obwohl er vielleicht noch nie so weit war wie im Europa des 21. Jahrhunderts? Steht seiner fortgesetzten Erweiterung nicht eine verringerte Orientierung gegenüber? Wollen wir wirklich, dass sich der „Silberstreif am Horizont“ permanent von uns entfernt? Oder könnten wir tatsächlich versuchen, den Horizont eines Tages zu erreichen? Mit dem Horizont sind Erwartungen verbunden, die raumzeitlich jenseits seiner liegen und sich auf Dinge beziehen, die erst in Zukunft erkennbar werden. Weil in der globalisierten Mediengesellschaft der Eindruck entstanden ist, dass sich Zahl und Tempo des Eintretens von Ereignissen beschleunigt und vervielfacht haben, ist Zukunftsorientierung schon jetzt zum Maßstab für Bildung und Ausbildung geworden. Doch Orientierung bedarf Haltepunkte. Die Aufforderung, möglichst weit über den eigenen Horizont hinauszublicken, wirkt wie „eine Flucht auf den Horizont zu“.¹⁰¹ Horizonterweiterung um jeden Preis wird selbst zu einer Einschränkung, wenn sie nicht die Reflexion des eigenen Standorts einbezieht. Dementsprechend stellt die Auseinandersetzung mit der Begriffsgeschichte die Horizontintentionalität in ihren historischen Kontext. Sie untersucht die mit dem Blick von oben und aus der Ferne verbundenen Bedürfnisse und Interessen, überprüft dogmatische Festlegungen und mythische Denkmodelle und analysiert die Medien, die zur Darstellung und Erweiterung von Horizonten eingesetzt werden. Mit Blick auf die Macht von Zukunftserwartungen lässt sich heute besser von „Erwartungsräumen“ und „Erfahrungshorizonten“ sprechen als umgekehrt von „Erfahrungsräumen“ und „Erwartungshorizonten“, wie Koselleck es für das
Koschorke: Geschichte. S. 8.
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19. und 20. Jahrhundert nahegelegt hatte. Eine nichttranszendentale Horizonterweiterung müsste in den Worten Foucaults also darin bestehen, „in der Kontingenz, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind, die Möglichkeit auf[zu]finden, nicht länger das zu sein, zu tun oder zu denken, was wir sind, tun oder denken“.¹⁰² Für das Gewinnen von Erfahrungen und die Auseinandersetzung mit Bildungshorizonten ist es deshalb entscheidend, Auswahl und Wechsel zwischen verschiedenen Raum- und Landschaftsmodellen sicherzustellen.Was passiert sonst in einer Bildungslandschaft, fragen Christian Reutlinger und Mandy Schöne, wenn jemandem die vorgegebene Landschaft nicht gefällt, er oder sie eine andere Route wählen will? Gibt es Wahlmöglichkeiten zwischen Landschaften? Oder bleibt nur das Verharren an einem Ort, bis die Schulzeit endlich fertig ist? Droht nun für die Kinder und Jugendlichen das Gefangensein in der Bildungslandschaft?¹⁰³
Möglichkeiten, Grenzen zu erfahren, Entscheidungen mit offenem Ausgang zu treffen oder auch irgendwo herumzuirren, schützen vor einer Instrumentalisierung des Horizonterweiterns. Räume der Bildung sind Sozialräume, die „nicht statisch fix vorgegeben“ sind und von den beteiligten Personen wie ein Horizont immer wieder „von neuem hergestellt werden“ müssen.¹⁰⁴ Ohne ihre Reflexion „droht sich jedoch die Bildungslandschaft als statisch-starre Fläche langsam über die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen, aber auch den Akteuren von Bildung und Erziehung zu legen […] – ein Entrinnen ist unmöglich.“¹⁰⁵ Der Horizont war auch für Georg Friedrich Meier kein quantitativer Umfang, sondern ein qualitatives Maßverhältnis. Nicht der weitestmögliche Horizont war für ihn das Ziel, sondern das wissenschaftliche Verstehen und Erklären durch lebenslange Reflexion. Zurecht warnte Meier vor „Vielwisserey“. Zweifel und Unsicherheit, Neugier und Fragen bilden den Rahmen, in dem Wissenschaft stattfindet. In der heutigen Praxis, sagt Isabell Stengers, sei es jedoch oft anders: Wissenschaft „does not wander and wonder“, denn „the landscape it moves through will be of no interest, only the obstacles it has to move around“.¹⁰⁶ Wenn Stengers in diesem Sinne „a deep break with the ideal of academic science shaped during the nineteenth century, a model of research that promoted as a general idea the fast, cumulative advance of disciplinary knowledge“ vorschlägt, meint sie nicht die heute weit verbreitete Erwartung von Kompetenzorientierung, In-
Foucault: Aufklärung. S. 49. Reutlinger/ Schöne: Bildungslandschaften gestalten. S. 123. Ebd., S. 121. Ebd., S. 123. Stengers: Science. S. 115.
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novationsfähigkeit und kreativer Grenzüberschreitung, sondern eine wissenschaftstheoretische Selbstreflexion: „developing a collective awareness of the particularity and selective character of their own thought-style“.¹⁰⁷ Sie fordert eine Reflexion des wissenschaftlichen Horizonts und seiner Grenzen. Auch Meier setzte sich dafür ein, „daß man den Horizont der gelehrten Erkenntnis von Jahr zu Jahr erweitere, nach Maaßgebung des Wachsthums unserer Kräfte und Geschicklichkeiten“.¹⁰⁸ Martin Heidegger hat es so ausgedrückt: Der Topografie muss eine Topologie vorausgehen.¹⁰⁹
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Rechtsphilosophische Horizonte und die Globalisierung Einführung Die Überschreitung von Horizonten war immer schon ein zentraler Wesenszug der Rechtsphilosophie: Wer darüber nachdenkt und diskutiert, was richtiges Recht ist und wie es erkannt bzw. verwirklicht werden kann, kommt früher oder später nicht umhin, über gängige Horizonte der Rechtsverwirklichung hinaus zu blicken. Dies gilt nicht nur abstrakt, sondern auch ganz konkret und fallbezogen: Wenn beispielsweise Herr A unter dem politischen System B im Land C zum Zeitpunkt D eine Tat begeht, die zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort und in einem anderen politischen System als Unrecht erkannt wird, dann erfordern die in diesem Zusammenhang zu erbringenden rechtsphilosophischen Legitimationsleistungen Horizontüberschreitungen in mehrfacher Hinsicht: In jedem Falle zeitlich, in der Regel aber auch rechtsmethodisch und normativ.¹ Gerade in den unmittelbaren Jahren nach 1945 und 1990 hat rechtsphilosophisches Denken in Deutschland sehr konkrete Auswirkungen gehabt – nicht nur auf rechtshistorische und rechtspolitische Auffassungen, sondern auch auf strafrechtliche Entscheidungen: Es ist also auch in der Rechtspraxis unmittelbar wirksam geworden, nachdem es in Bezug auf drängende Fragen der Zeit, etwa den Umgang mit gesetzlichem Unrecht, unmittelbar reagiert hatte. Auch hat es rechtspolitische Debatten beeinflusst und sich umgekehrt von ihnen beeinflussen lassen.² Bald drei Jahrzehnte nach dem Untergang der ehemaligen DDR und einschlägigen juristischen Aufarbeitungen ihrer Vergangenheit fällt es jedoch zumindest in Deutschland mitunter schwer, rechtsphilosophische Spuren innerhalb von Rechtspraxis und Rechtspolitik zu entdecken – es scheint, als habe die Rechtsphilosophie in den auf das Naturrecht bezogenen Worten Kanazawas den „Spiel-
Vgl. z. B. die diesbezüglichen Darlegungen von Alexy, Robert: „Zur Verteidigung eines nichtpositivistischen Rechtsbegriffs“. In: Öffentliche oder private Moral? Vom Geltungsgrunde und der Legitimität des Rechts. Festschrift für Ernesto Garzon Waldes. Hrsg.von Werner Krawietz und Georg Henrik von Wright. Berlin: Duncker & Humblot 1992. S. 85 ff.; Alexy, Robert: Mauerschützen. Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993. Siehe hierzu Buchholz-Schuster, Eckardt: Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln. Eine Untersuchung zur Funktion von „Juristenphilosophie“. Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag 1998. S. 139 ff., S. 322 f. https://doi.org/10.1515/9783110553291-012
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Eckardt Buchholz-Schuster
und Schauplatz des Justiziablen durchweg verlassen“³. Auffällig ist zudem laut Hilgendorf „das Fehlen eines vorherrschenden Forschungsparadigmas, wie es etwa in den 1950er Jahren in Gestalt der Renaissance des Naturrechts und zwischen 1965 und 1985 in Form der Rechtstheorie existierte“⁴; gepaart ist dieses Vakuum mit einem gelockerten Bezug juristischer Grundlagenforschung zu bedeutenden Zeitfragen.⁵ Scheitert die deutschsprachige Rechtsphilosophie gleich dem „Hans Guck-in-die-Luft“ nach dem jahrhundertealten Überschreiten zahlreicher Horizonte im 21. Jahrhundert nicht nur in ihrer Breite, sondern auch in einzelnen thematischen Ausrichtungen zuletzt an etwas vergleichsweise Banalem: der Kluft zur politischen und rechtlichen Praxis? In Zeiten sich in zunehmendem Maße realisierender Globalisierungsrisiken wäre dies fatal, wenngleich erklärbar, da Globalisierung eben nicht nur für die Politik, sondern auch die Philosophie und ihre Sparten besondere Herausforderungen, wenn nicht gar Überforderungen bereithält. Hierauf wird zurückzukommen sein. Werfen wir zunächst einen näheren Blick auf die traditionellen Horizonte der Rechtsphilosophie.
1 Horizonte dies- und jenseits von Naturrecht und Rechtspositivismus Wenn zu Beginn dieses Beitrags die Fragen nach dem richtigen Recht und seiner Erkenntnis anklangen, so sind mit diesen beiden Fragen die zentralen und traditionsreichen Fragen der Rechtsphilosophie benannt, für die nicht nur die Naturrechts-Rechtspositivismus-Kontroverse stellvertretend steht, sondern auf die sich nach Ansicht des Verfassers zahlreiche weitere rechtsphilosophische Horizontüberschreitungen zurückführen lassen, rechtstheoretische Analysen mit z. B. hermeneutischen oder argumentationstheoretischen Fragestellungen miteingeschlossen. Die sog. „Naturrechts-Rechtspositivismus-Kontroverse“ der unmittelbaren Nachkriegszeit, die in abgeschwächter Form nochmals in den Jahren 1990 – 1995 auflebte, war mit ihrer Thematisierung des Verhältnisses von gesetzlichem Un Kanazawa, Shuji: „Das Elend der Rechtsphilosophie. Entweder Naturrechtler oder Rechtspositivisten und kaum etwas Vernünftiges dazwischen“. In: Chuo-Gakuin University Review of Faculty of Law 26 (1/2). S. 193 – 225, 2013 – 02. m. w. N. Hilgendorf, Eric: „Zur Lage der juristischen Grundlagenforschung in Deutschland heute“. In: Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert. Hrsg. von Winfried Brugger, Ulfrid Neumann und Stephan Kirste. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. S. 111 ff. u. S. 119. Ebd., S. 120.
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recht und übergesetzlichem Recht jenseits der Rechtstheorie die wohl letzte größere Horizontüberschreitung der Rechtsphilosophie im deutschsprachigen Raum. Quasi in zwei Wellen griff sie im Abstand mehrerer Jahrzehnte nicht nur drängende Zeitfragen auf, sondern wurde zugleich auch in der Rechtspraxis unmittelbar wirksam. Inwiefern stellte sich dies jeweils als Horizontüberschreitung dar? Zunächst musste von den Nationalsozialisten als „Recht“ bezeichnetes Unrecht⁶ bereits unmittelbar nach 1945 insbesondere auch strafrechtlich und daher rechtsmethodisch und normativ aufgearbeitet werden. Einschlägige Gerichtsverfahren – einhergehend mit qualitativen Grenzziehungen zwischen Recht und Unrecht – waren in diesem Zusammenhang legitimationsbedürftig. Diese methodische und normative Herausforderung wiederholte sich dann nach dem Untergang der DDR in den frühen 1990er Jahren⁷, weil Todesschüsse auf „Republikflüchtlinge“ an der innerdeutschen Grenze eine gesetzliche oder verordnungsrechtliche Grundlage⁸ gehabt hatten, die nun von bundesdeutschen Gerichten im Rahmen strafrechtlicher Aufarbeitungen jener Taten normativ zu überprüfen waren. Sowohl nach 1945 als auch nach 1990 erforderte die in hohem Maße praxisrelevante Thematisierung und ggf. „rückwirkende“ Begründung der (Un‐)Rechtsqualität von Rechtsnormen schon zur Tatzeit notwendiger Weise den Blick über den – in diesem Falle: rechtsdogmatischen – Horizont der Rechtsan-
Vgl. etwa § 5 Abs. 1 Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) vom 17.08.1938 (Reichsgesetzblatt 1939 I, 1456); die Bestimmung war noch unmittelbar vor und nach der deutschen Kapitulation als Grundlage für sofort vollstreckte Todesurteile herangezogen worden: „Wegen Zersetzung der Wehrkraft wird mit dem Tode bestraft: 1. wer öffentlich dazu auffordert oder anreizt, die Erfüllung der Dienstpflicht in der deutschen oder einer verbündeten Wehrmacht zu verweigern, oder sonst öffentlich den Willen des deutschen oder verbündeten Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen oder zu zersetzen sucht […]“ (Auszug). Siehe zur strafrechtlichen Aufarbeitung der ersten Nachkriegsjahrzehnten etwa die Quellensammlung von Rüter, Christian Frederik (Hrsg.): Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945 – 1966. Bd. I–VII. Amsterdam: University Press 1968 – 1971. Vgl. hierzu etwa Mauz, Gerhard: Die Justiz vor Gericht. Macht und Ohnmacht der Richter. München: Bertelsmann 1990. S. 19. Als gesetzliche Grundlage für die Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze hatte § 27 Abs. 2 GrenzG der DDR fungiert: „Die Anwendung der Schußwaffe ist gerechtfertigt, um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder die Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt. Sie ist auch gerechtfertigt zur Ergreifung von Personen, die eines Verbrechens dringend verdächtig sind […]“ Als Verbrechen wiederum wurde dabei grundsätzlich ein sog. „ungesetzlicher Grenzübertritt“ (§ 213 StGB-DDR) eingestuft. Der Hinweis auf argumentative bzw. rechtsmethodische Parallelen im Bereich der Ahndung des DDR-Unrechts einerseits und der strafrechtlichen Aufarbeitung von NS-Verbrechen andererseits sollte selbstverständlich nicht mit der Quantifizierung verübter Verbrechen oder der Gleichsetzung der Ideologien verwechselt werden.
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wender, weil die alten Normen im Rahmen rechtsstaatlich ausgerichteter strafrechtlicher Würdigungen nicht in ihrer ehemaligen Anwendungs- bzw. Auslegungspraxis zugrunde gelegt werden konnten.⁹ Gerade dies aber war – auch gegenüber mitunter aufkommender rechtspolitischer Kritik gegenüber einer vermeintlich rückwirkenden Bestrafung bzw. „Siegerjustiz“¹⁰ – rechtsphilosophisch zu begründen. Im Kern geschah dies in Form philosophisch mehr oder weniger fundierter moralischer Urteile über extremes Unrecht, die sich auf schlüssige Weise mit dem Einwand vermeintlich ausnahmslos höherrangiger Rechtssicherheit auseinandersetzen mussten und damit den üblichen Horizont strafrechtsdogmatischer Rechtsanwendung sprengten. In diesem Kontext stützten sich Gerichte und wissenschaftlich argumentierende Akteure jeweils auf unterschiedliche rechtsphilosophische Konzepte: auf ein wie auch immer geartetes Naturrecht, auf den Rechtspositivismus, aber auch eigenständige Ansätze wie etwa die berühmt gewordene Radbruchsche Formel ¹¹. „Naturrechts-Rechtspositivismus-Kontroverse“ ist daher bei Licht betrachtet eigentlich eine zu enge Bezeichnung für die an den Legitimationsanforderungen der Rechtspraxis orientierten Diskussionen nach 1945 und 1990.¹² Aus funktionaler Perspektive tritt
Kontrovers diskutiert wird daneben immer wieder auch die Frage, inwieweit das auf individuelle Schuld zugeschnittene Strafrecht überhaupt als Mittel der Vergangenheitsbewältigung gegenüber Systemunrecht taugt. Vgl. zur diesbezüglichen deutschen Diskussion der frühen neunziger Jahre im 20. Jahrhundert. Buchholz-Schuster: Legitimation. S. 139 ff. m. w. N. Vgl. hierzu statt vieler einerseits Heinecke, Gabriele/ Hirsch, Martin: „Quo vadis, Justitia? Der Fall Stoph“. In: Demokratie und Recht. 2. Quartal 1992. S. 133 – 138; andererseits Alexy: Mauerschützen. Zu finden bei Radbruch, Gustav: „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“. In: Süddeutsche Juristenzeitung (1946). S. 105 – 108.: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges‘ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.“ Vgl. aus zeitübergreifender Perspektive statt vieler z. B. Kaufmann, Arthur: „Problemgeschichte der Rechtsphilosophie“. In: Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart. Hrsg. von Arthur Kaufmann und Winfried Hassemer. Heidelberg: C.F. Müller 1989. S. 77 ff. (zum sog. „rechtswissenschaftlichen Rechtspositivismus“), S. 92 ff. (zum Rechtsbegriff und zur Formel Gustav Radbruchs), S. 118 ff. (zum sog. „logischen Rechtspositivismus“, insbesondere der
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hinzu, dass die Rechtsphilosophie gegenüber Systemrecht ab der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht nur entsprechenden Legitimationsanforderungen der Rechtspraxis Rechnung trug, sondern darüber hinaus mit ihren diesbezüglichen Argumentationsmustern mehr oder weniger unbewusst auch in rechts- bzw. verfassungspolitische Gemengelagen eingriff. So deutet etwa jüngst die Rechtshistorikerin Lena Foljanty ¹³ das Naturrecht samt seiner Debatten als unmittelbare Reaktion auf den Nationalsozialismus nach 1945; ihr zufolge erfolgte eine entsprechende „Positionierung in der Umbruchsituation“ allerdings offensichtlich nicht nur gegenüber Schuld, sondern auch im Verhältnis zu Politik, Rechtspositivismus sowie gegenüber Liberalismus und Demokratie.¹⁴ Welche Vorschläge und Möglichkeiten aber existieren nun in Bezug auf eine Rechtsphilosophie, die Rechtspraxis und Rechtspolitik auch im 21. Jahrhundert noch mit ihren horizontüberschreitenden Analysen und Legitimationsansätzen erreicht? Alles hat seine Zeit und die Frage des Verhältnisses zwischen gesetzlichem Unrecht und übergesetzlichem Recht war und ist nicht nur eine Frage im Kontext historischer Zäsuren, angesichts derer rechtsphilosophische Kritik an als extrem unmoralisch empfundenen Handlungen zwingend erscheint, sondern auch einer bestimmten strukturellen Unrechtskategorie – eben jener des Unrechts in Form (national)staatlicher Gesetzgebung. Die rechtsphilosophisch überzeugende Auflösung dieser Kategorie ist bereits komplex genug, vor allem aber werden sowohl andere Formen staatlichen oder ggf. auch überstaatlichen Unrechts bzw. moralisch bedenklichen Handelns und Unterlassens als auch Fragen nach der gerechten Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse von den Strukturelementen der Naturrechts-Rechtspositivismus-Kontroverse oder auch der Radbruchschen Formel entweder gar nicht oder nur unzureichend erfasst: In jedem Falle erscheinen moralische Urteile über extremes Unrecht wie etwa die physische und materielle Vernichtung einer Bevölkerungsminderheit¹⁵ rational um ein Vielfaches evidenter begründbar, als das Urteil über den Gerechtigkeitsgehalt einer gesetzlich zu regelnden Gestaltung von Lebensverhältnissen bzw. Sozialleistungen. Was der Rechtsphilosophie des 21. Jahrhunderts gut zu Gesicht stün-
„Reinen Rechtslehre“ Hans Kelsens); siehe zudem Ellscheid, Günther: „Das Naturrechtsproblem. Eine systematische Orientierung“. In: Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart. Hrsg. von Arthur Kaufmann und Winfried Hassemer. Heidelberg: C.F. Müller 1989. S. 143 ff. jeweils m. w. N. Foljanty, Lena: Recht oder Gesetz. Juristische Identität und Autorität in den Naturrechtsdebatten der Nachkriegszeit. Tübingen: Mohr Siebeck Verlag 2013. m. w. N. Weder Rechtspositivismus, noch Naturrecht sind daher bei Licht betrachtet immun gegenüber Einflüssen politischer Ideologien auf das Recht. Alexy: Verteidigung. S. 102 f.
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de, wären aber vor allem auch Beiträge zur Lösung von moralischen Herausforderungen oder Katastrophen der Gegenwart, welche jedoch – gerade auf transnationaler Ebene – oft eher in einem Regelungs- oder Vollzugsdefizit ihre Ursache haben und insoweit von vergangenheitsbezogenen Analysen zur Rechtsqualität staatlicher Normen nicht oder nur rudimentär erfasst werden: Wenn beispielsweise die Radbruchsche Formel für einen „Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit“ sensibilisieren möchte, der ein „unerträgliches (!) Maß erreicht“, dann liefert sie damit nicht jenen inhaltlichen oder prozessualen Imperativ, der es vielleicht ermöglichen würde, den Einzelnen, die Gesellschaft, die Politik, den Gesetzgeber oder auch die Staatengemeinschaft gegenüber den gleichfalls unerträglichen Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer zu jeweils maximal wirksamen Hilfeleistungen zu veranlassen. Anders ausgedrückt: Die Legitimation oder auch Forderung von Widerstand gegenüber in der Regel nationalem gesetzlichem Unrecht, erst recht alle Arten von rechtstheoretischen Analysen, haben ihre Epochen und ihre Berechtigung, beinhalten jedoch keine Forderung nach nationalem und transnationalem Handeln im Angesicht humanitärer Katastrophen und ihrer faktischen und moralischen Herausforderungen. Diese Feststellung mag banal erscheinen, ist aber im Blick zu behalten, wenn die gefühlt unzureichende Wirkungsgeschichte der deutschsprachigen Rechtsphilosophie innerhalb von Rechtspraxis und Rechtspolitik während der letzten zwei Jahrzehnte künftig wiederbelebt werden soll. Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts war oft gut beraten, den Horizont des Gesetzes und der alltäglichen Gesetzesanwendung zu überschreiten. Es deutet sich an, dass diese Form von Horizontüberschreitung für die Rechtsphilosophie des 21. Jahrhunderts längst nicht mehr ausreichend erscheint. Globalisierung, Migrationsbewegungen, technischer Fortschritt, wahrnehmbare Veränderungen in öffentlichen Diskursen und politischer Kultur, die zum Teil einhergehen mit einer Ignorierung oder Duldung von schwereren Menschenrechtsverletzungen jenseits des noch im 20. Jahrhundert vielbeschworenen gesetzlichen Unrechts, erfordern nach Ansicht des Verfassers eine Neuausrichtung der Rechtsphilosophie: Nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in adressatenbezogener, nationaler und strategischer Hinsicht gilt es künftig, Horizonte zu überschreiten. Gibt es in diesem Zusammenhang die Chance auf die Wiederkehr eines Forschungsparadigmas, dessen Fehlen von Eric Hilgendorf beklagt wird?¹⁶ Konstatiert wird von ihm noch im Jahre 2008 zusätzlich ein Fehlen von Themen im
Hilgendorf: Lage. S. 119.
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Bereich der juristischen Grundlagenforschung,¹⁷ das seinerzeit bereits in seltsamem Kontrast mit einer schon damals möglichen Benennung diskussionswürdiger Fragestellungen steht, aus heutiger Perspektive aber vor dem Hintergrund der vorgenannten, aktuellen Entwicklungen und Verwerfungen von globaler Dimension überholt anmutet. Hilgendorf diktiert der juristischen Grundlagenforschung bereits vor einer Dekade eine beachtliche Zahl von Themen ins Stammbuch,¹⁸ von denen nicht wenige einen engen Bezug zu empirischen bzw. lebenswissenschaftlichen Forschungsfeldern – Biotechnologie, Soziobiologie, Medizin, Neurowissenschaften – aber auch zur Ökonomie aufweisen. Speziell in Anbindung an die Soziobiologie erblickt Hilgendorf sogar die Chance auf eine neuerliche Naturrechtsrenaissance, weil durch die soziobiologische Erklärung menschlicher Wertungen und daraus abgeleiteter Werte zugleich auch die alte rechtsphilosophische Frage nach dem „Sollen“ von Werten neue Aktualität gewinnt.¹⁹ Weitere, potentielle Betätigungsfelder werden noch 2008 mit den Herausforderungen kultureller und religiöser Pluralisierung benannt,²⁰ wo es u. a. gilt, interkulturelle Kompetenz, aber auch die Fähigkeit zu fundierter Religionskritik sowie die rechtlichen Wirkungen von Glaubenssätzen verstärkt in den Blick zu nehmen und für Rechtswissenschaft und -politik fruchtbar zu machen. Das hiermit in engem Zusammenhang stehende Phänomen der Globalisierung wird von Hilgendorf in seiner Bedeutung für die juristische Grundlagenforschung seiner Zeit allerdings noch vergleichsweise undramatisch gedeutet; pointiert benannte Anknüpfungspunkte sind seiner Zeit die inhaltliche Legitimation eines Weltrechts²¹, etwa in Form des Völkerstrafrechts, sowie die Frage weltweiter Vereinheitlichung des Internetstrafrechts.²² In der Gesamtschau deutete sich hier bereits an, dass die Charakteristik rechtsphilosophischer Horizontüberschreitungen des 21. Jahrhunderts trotz oder gerade wegen ihrer Themenvielfalt deutlicher als in den vergangenen Jahrzehnten durch Interdisziplinarität und Internationalisierung geprägt ist, zumindest geprägt sein sollte. Die vorstehend aufgezeigte Anbindung an Forschungsfelder anderer Wissenschaftsdisziplinen legt gerade Ersteres nahe. Dies wiederum erfordert die Fähigkeit rechtsphilosophischer Akteure zum wissenschaftlichen
Ebd., S. 122. Ebd., S. 123 ff. jeweils m. w. N. Ebd., S. 131. Ebd., S. 126 ff. Vgl. hierzu auch Senghaas, Dieter: Weltordnungspolitik und Weltrecht in einer zerklüfteten Welt; in: Vereinte Nationen 2009, S. 11 ff.; http://www.dgvn.de/fileadmin/publications/PDFs/Zeit schrift_VN/VN_2009/Heft_1_2009/04_senghaas_beitrag_1- 09_4-2- 09.pdf (15.01. 2018). Hilgendorf: Lage S. 125.
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Perspektivenwechsel; interdisziplinäre Pflichtmodule könnten daher auch einen bedenkenswerten Ansatz in der künftigen fachphilosophischen und juristischen Ausbildung darstellen.²³ Weiterhin gefordert ist zudem eine Aufgeschlossenheit der Rechtsphilosophie für die bedeutenden gesellschaftlichen Zeitfragen, die allerdings in immer stärkerem Umfang globale Dimension und Relevanz aufweisen. Natürlich muss die Rechtsphilosophie auch im 21. Jahrhundert in der Lage sein, auch und gerade auf die drängenden aktuellen Fragen unserer Zeit neue Antworten zu geben. Was aber bedeutet dies speziell in einer historischen Phase, in der das Phänomen der Globalisierung in seinen verschiedenen Ausprägungen mit Krisen von globalen Ausmaßen bei gleichzeitig zunehmenden nationalen Abschottungstendenzen gekennzeichnet ist? Wie sollte sich insoweit inhaltlich und methodisch die deutschsprachige Rechtsphilosophie, wie sollte sich aber auch die Fachphilosophie zu der in neuester Zeit unter dem Schlagwort „Die große Regression“ angestoßenen internationalen Debatte verhalten? Genügt es insoweit, je nach Gusto ein Fehlen oder auch eine Vielfalt von Themen juristischer Grundlagenforschung zu beschreiben und auf diversen Feldern zu bedienen? Oder bedarf es einer kollektiven Kraftanstrengung, um die Rechtsphilosophie – nicht im Sinne der künstlichen Schaffung eines neuen rechtsphilosophischen Forschungsparadigmas, wohl aber im Sinne gesellschafts- und praxisrelevanter Ergebnisse – in adäquater Weise auszurichten?
2 Die Globalisierung – nur ein weiterer Horizont rechtsphilosophischer Reflexion? Die Globalisierung wäre nicht mehr als nur ein weiterer Horizont im Rahmen rechtsphilosophischer Reflexion, wenn sie sich als entsprechender Forschungsgegenstand hierarchisch, aber auch in methodischer Hinsicht bis auf Weiteres unauffällig in das rechtsphilosophische Themenspektrum der Gegenwart einordnen würde. Hierfür spricht aktuell bereits die gliederungstechnische Wertigkeit von Globalisierungsfragen innerhalb des 2017 veröffentlichten Werkes Handbuch Rechtsphilosophie, herausgegeben von Eric Hilgendorf und Jan C. Jo-
Die operative Umsetzung eines interdisziplinären Bildungsansatzes im Hochschulbereich ist allerdings alles andere als trivial und erfordert neben erhöhten Kapazitäten in Studienorganisation und Lehre auch zahlreiche konzeptionelle Vorarbeiten bis hin zu transparenten Lernbegründungen; vgl. hierzu z. B. Bender, Walter/ Breitschwerdt, Lisa/ Scheffel, Markus: Grenzgänge. Interdisziplinäre Kompetenzen fördern und evaluieren. Wissenschaftliche Begleitstudie zum Projekt „Der Coburger Weg“ (2011 – 2016) der Hochschule Coburg. Göttingen: Cuvillier Verlag 2016.
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erden. Im Rahmen des imposanten, das weite Themenspektrum der Rechtsphilosophie erfassenden Werkes entfallen auf den unter dem Titel „Globalisierung“ von Brian Valerius beigesteuerten Abschnitt vier von insgesamt rund 500 Seiten.²⁴ Der Beitrag ist im aktuellen Herausforderungen gewidmeten Abschnitt IX. des Werkes positioniert, dort immerhin formal auf Augenhöhe mit zusammen zehn weiteren Themenbereichen, darunter Folter, Gender und Recht sowie ziviler Ungehorsam. Inhaltlich liefert Valerius‘ Beitrag einen sehr guten Überblick über die aktuellen rechtsphilosophischen Strömungen und Diskussionsschwerpunkte im Globalisierungskontext. Auch auf diesem neueren Themenfeld erscheint eine systematische Verknüpfung entsprechender rechtsphilosophischer Ansätze mit den oben eingangs erwähnten, tradierten Grundfragen der Rechtsphilosophie – was ist richtiges Recht und wie kann es erkannt bzw. verwirklicht werden – unschwer möglich. Vereinfachend dargestellt wird die Frage nach dem Was im Globalisierungskontext in einer ersten Variante mit der Beibehaltung und Beachtung des vorhandenen Rechtspluralismus, in einer zweiten Variante mit dem Streben nach einer (subsidiären) Weltrechtsordnung, in einer dritten Variante schließlich mit einer vermittelnden Mischung aus den beiden vorgenannten Varianten beantwortet.²⁵ Der hieran anknüpfende Blick auf das Wie einer Optimierung bzw. Verwirklichung des jeweiligen Rechts führt dann naturgemäß in Anhängigkeit vom eingeschlagenen Weg zu unterschiedlichsten Folgefragen, beispielsweise zum Problem der Abstimmung und Konfliktlösung innerhalb verschiedener Normsysteme mit Blick auf den vorhandenen Rechtspluralismus oder auch zur Frage nach der Zuständigkeit für die Setzung und Durchsetzung einer Weltrechtsordnung. Eher offen bleibt bei derartigen abstrakt-konzeptionellen Perspektiven jedoch, wie derartige Entwürfe künftig praktische politische Beachtung erfahren könnten, was im Übrigen durch die in den letzten Jahren in nicht wenigen Staaten zunehmend zu verzeichnenden politische Orientierung am Primat nationaler Eigeninteressen zusätzlich erschwert werden könnte. Nähere inhaltliche Betrachtungen bestätigen den Eindruck einer bislang eher abstrakten rechtsphilosophischen Annäherung an das Globalisierungsphänomen, in Bezug auf die eine spürbare Wirkungsgeschichte außerhalb der Fachcommunity zumindest fraglich erscheint. Diesbezüglich seien nachstehend exemplarisch einige aktuellere Beiträge näher skizziert.
Valerius, Brian: „Globalisierung“. In: Handbuch Rechtsphilosophie. Hrsg. von Eric Hilgendorf und Jan C. Joerden. Stuttgart: Metzler 2017. S. 437 ff. Valerius: Globalisierung. S. 438 ff. Valerius selbst bleibt mit eigenen Ausgestaltungsvorschlägen eher zurückhaltend, regt im Globalisierungskontext jedoch u. a. eine „Legitimation auch jenseits staatlicher Setzung und Durchsetzung“ sowie ein intradisziplinäres gemeinsames Vorgehen einzelner rechtswissenschaftlicher Teilbereiche an.
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Jürgen Habermas befasst sich in dem 2008 von Winfried Brugger, Ulfrid Neumann und Stephan Kirste herausgegebenen Sammelband zur Rechtsphilosophie des 21. Jahrhunderts mit der Konstitutionalisierung des Völkerrechts und den Legitimationsproblemen einer verfassten Weltgesellschaft.²⁶ Habermas diagnostizierte eine „Schere zwischen dem neuen Legitimationsbedarf, der mit dem Regieren jenseits des Nationalstaats entsteht, und den bekannten Institutionen der Legitimationsbeschaffung, die bislang nur innerhalb der nationalstaatlichen Öffentlichkeit halbwegs funktionieren“²⁷. Sein diesbezüglicher Lösungsvorschlag besteht im Wesentlichen in der politischen Verfassung einer Weltgesellschaft aus Bürgern und Staaten und einem konsequenter Weise zweigleisigen, von Welt- und Staatsbürgern ausgehenden demokratischen Legitimationsfluss.²⁸ Bei alldem behält Habermas zunächst die unterschiedlichen Funktionen von Friedenssicherung und globaler Durchsetzung der Menschenrechte einerseits sowie den zu verhandelnden weltinnenpolitischen Herausforderungen wie etwa ökologischen Weltungleichgewichten andererseits im Auge.²⁹ Habermas weist jedoch jenseits der Theorieebene auch auf die faktische Notwendigkeit von Lernprozessen hin, die auf Seiten von Regierungen das Selbstverständnis als Mitwirkende internationaler Gemeinschaft und internationaler Organisationen, auf Seiten von Bevölkerungen die Überwindung tradierter nationalstaatlich geprägter Bewusstseinslagen (z. B. Einführung einer europäischen Staatsbürgeridentität) betreffen.³⁰ Was aber ist die Begründung des 21. Jahrhunderts dafür, dass Völkerrecht,Weltgesellschaft und internationales Regieren überhaupt als elementare rechtspolitische und -philosophische Themenstellungen fungieren? Hier verweist Habermas einleitend eher knapp auf historische Entwicklungen wie auf einen zunehmenden Steuerungs- und Regelungsbedarf auf globaler Ebene, einhergehend mit nationalstaatlichem Regel- und Kontrollverlust.³¹ Auch Otfried Höffe beginnt seine rechtsphilosophische Tour d‘Horizon in Sachen Globalisierung 2008 mit einer Diagnose: Er warnt beim Stichwort Globalisierung vor „ökonomistischer Verkürzung“ und verweist auf die Globalisierung der Wissenschaften, des Schul- und Hochschulwesens sowie kultureller
Habermas, Jürgen: „Konstitutionalisierung des Völkerrechts und die Legitimationsprobleme einer verfassten Weltgesellschaft“. In: Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert. Hrsg. von Winfried Brugger, Ulfrid Neumann und Stephan Kirste. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. S. 360 – 379. Ebd., S. 362. Ebd., S. 368. Ebd., S. 365 f. m. w. N. Ebd., S. 378 f. Ebd., S. 360 f.
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Bereiche.³² Weltweites Zusammenwirken besteht gemäß seiner Bestandsaufnahme allerdings nicht nur in globaler Kooperation auf den verschiedensten Feldern, sondern – auch und gerade in Zeiten des Internets – in Gemeinschaften von Gewalt, Not und Leid. Höffes Therapievorschlag besteht in der Vision einer Weltrepublik bzw. demokratischen Weltrechtsordnung als Antwort auf den erkennbaren globalen Handlungsbedarf.³³ So rational begründbar diese Vision insbesondere mit Blick auf Klimawandel oder reale Lebensverhältnisse in Diktaturen bzw. gescheiterten Staaten sein mag, so zweifelhaft ist die von Höffe angebotene Letztbegründung, wonach Recht, Menschenrechte und Staat, Demokratie und Zivil- bzw. Bürgergesellschaft mit jeweils rechtsmoralischem Rang auch in Bezug auf globale Beziehungen quasi automatisch unbedingt und universal verbindlich seien.³⁴ Dieser Ansatz erinnert dann doch allzu sehr an apodiktische naturrechtliche Begründungsmuster der frühen Nachkriegsjahre, wenngleich Höffe zutreffend darauf verweisen kann, dass ein „Weltrechtsbewusstein“ zumindest teilweise in einzelnen Aspekten und Institutionen wie z. B. gemeinsamen Verfahrensregeln, UN-Menschenrechtsverträgen oder auch Weltgerichten aufscheint.³⁵ Der Sozialwissenschaftler und Friedensforscher Dieter Senghaas wiederum hatte bereits 2010 in einem sehr dichten, unter dem Titel „Vom Völkerrecht zum Weltrecht?“ veröffentlichten Beitrag³⁶ den üblichen Horizont rechtsphilosophischer Konzeptfindung zum Thema Globalisierung u. a. insofern überschritten, als er neben dem Globalisierungsphänomen auch die faktischen „Zerklüftungen der Welt“ und den wachsenden globalen Problemdruck sehr differenziert beschrieben und von vergleichsweise abstrakten philosophischen Diskursen abschattiert hat. Weltflächig ausgelegten Weltordnungskonzeptionen wie der „Programmatik einer kosmopolitischen Demokratie, einer Weltcivitas, einer Republik der Republiken auf Weltebene u. a.“ prophezeit Senghaas auch für die kommenden Jahrzehnte, dass sie „weithin leider nur von abstrakter Relevanz bleiben werden“, was allerdings keinen prinzipiellen Einwand gegen einen diesbezüglichen philosophischen Diskurs begründe, sondern „angesichts der auf absehbare Zeit real existierenden Weltlage nur eine nüchterne Skepsis“ anmahne.³⁷ Angesichts
Höffe, Otfried: „Vision Weltrepublik. Eine philosophische Antwort auf die Globalisierung“. In: Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert. Hrsg. von Winfried Brugger, Ulfrid Neumann und Stephan Kirste. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. S. 380 – 396, hier S. 381. Ebd., S. 382 ff. Ebd., S. 382. Ebd., S. 392 f. Senghaas: Weltordnungspolitik. S. 16. Ebd., S. 16.
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vielfältiger Problemlagen – Senghaas verweist u. a. auf globale Umweltproblematik, Rohstoff- und Energieverknappung, Massenvernichtungsmittel, Regelungsdefizite im Bereich internationaler Finanzmärkte, globale Epidemien, chronische Entwicklungskrisen sowie Migrationsschübe – erkennt er eine potentielle „Überlastung der Erkenntnis-, Willensbildungs- und Entscheidungssysteme“ mit daraus resultierenden, die Problemlagen weiter verschärfenden Abwehrmechanismen. Umso wichtiger sei, „dass die Wissenschaft durch Beiträge zu innovativem Lernen einem solchen Trend entgegenwirkt […] durch nüchterne Lagebeurteilungen […], besonders auch durch konstruktive Denk- und Handlungsperspektiven mittel- und langfristiger Reichweite, wie in den wissenschaftlichen und politischen Diskursen über Weltordnungsmodelle und eine entsprechende Weltordnungspolitik, auch über Weltinnenrecht beziehungsweise Weltrecht dokumentiert“.³⁸ Alles gut also in der globalisierungsbezogenen deutschsprachigen Rechtsphilosophie der Gegenwart? Gewisse Zweifel erscheinen angebracht: Nach vorliegend vertretener Auffassung ist die Globalisierung des 21. Jahrhunderts nebst ihrer Risiken viel mehr als „nur“ ein weiterer rechtsphilosophischer Horizont, den es methodisch und inhaltlich, aber gleichwohl intradisziplinär wieder einmal zu überschreiten gilt: Sie legt es vielmehr nahe, für unterschiedliche, teilweise aber auch miteinander verwobene globale Problemlagen konkrete rechtliche Argumente und Gestaltungsangebote zu entwickeln, die nach Form und Inhalt nicht nur innerhalb „geschlossener“ rechtsphilosophischer Diskurse in der eigenen Fachcommunity, sondern vor allem auch innerhalb außenpolitischer und interdisziplinärer Debatten gewisse Chancen auf spürbare internationale Akzeptanz und künftige Realisierung beinhalten. Dies könnte u. a. voraussetzen, dass äußerst vielschichtige Interdependenzen, z. B. soziologische, volkswirtschaftliche und politische Zusammenhänge und Trends schon in der rechtsphilosophischen Konzeptfindung berücksichtigt werden. Vor allem aber könnte es sich in diesem Zusammenhang als hilfreich erweisen, wenn die Rechtsphilosophie der Gegenwart im ersten Schritt noch einen eigenen inneren Horizont überwinden würde.
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3 Rechtsphilosophie und Globalisierung in Zeiten der großen Regression – viele äußere und ein innerer Horizont Die von Senghaas 2009 skizzierten globalen Problemlagen haben sich seither eher noch verschärft und gehen sukzessive einher mit den von ihm beschriebenen, kontraproduktiv wirkenden Abwehrmechanismen, wie sie in den vergangenen Jahren vielerorts in an das 19. Jahrhundert erinnernden nationalen Alleingängen zum Ausdruck kamen.³⁹ Es sei vor diesem ernüchternden Hintergrund vorliegend die etwas provokante Frage aufgeworfen, ob und wenn ja wen aus dem Bereich verantwortlicher politischer Entscheidungsträger deutschsprachige rechtsphilosophische Diskurse in der vergangenen Dekade zu was inspiriert haben. Oder würde es künftig genügen, sich insoweit auf inspirierende interne, ggf. auch intradisziplinäre Diskurse zu beschränken? Diskussionswürdig erscheint demgegenüber zunächst ein Schritt im Sinne rechtsphilosophischer Selbstreflexion – ein wesentlicher neuer Horizont verläuft also im Rahmen dieser These zunächst einmal nach innen: Wen sollen rechtsphilosophische Diskurse im Globalisierungskontext eigentlich künftig inspirieren – und wie? Das Hauptgebäude der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, ist bekanntlich im Bereich seines denkmalgeschützten Entrées seit 1953 in goldenen Lettern mit einem Zitat von Karl Marx versehen: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Wenn es zutrifft, dass diese „These als Denkmal geschützte Provokation wahrgenommen wird und gleichzeitig als Zeichen historischer Toleranz und innerer Befriedung eines ehemals gespaltenen Landes gilt“⁴⁰, dann erscheint es ggf.
Dies gilt bekanntlich auch im innereuropäischen Bereich. Vgl. hierzu statt vieler mit Lösungsvorschlag Müller, Henrik: EU in der Krise. Gesucht: Ein Staat namens Europa. http://www. spiegel.de/wirtschaft/soziales/eu-in-der-krise-gesucht-wird-ein-staat-namens-europa-a-1152661. html (15.01. 2018): „Die Bundesregierung – und mit ihr das Gros der deutschen Ökonomen – sollten sich eingestehen, dass ihr Ansatz zur europäischen Integration in einer Sackgasse steckt. Eine EU, die letztlich auf Deals zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten […] fußt, muss auf Dauer scheitern. Wirtschaftlich und politisch. Die Lösung besteht darin, auf europäischer Ebene eigene Staatlichkeit zu etablieren. Die EU-Ebene braucht eigene Machtmittel – Geld und Gewalt –, die sie in die Lage versetzen, Europa zu befrieden. Um dies zu ermöglichen, braucht die EU eigene Legitimität durch mehr Mitspracherechte der Bürger: die Europäisierung der Demokratie – die Demokratisierung Europas. Es geht nicht um die Abschaffung der Nationalstaaten, sondern um die Schaffung einer zusätzlichen föderalen Ebene“. Vgl. https://www.hu-berlin.de/de/foerdern/was/erfolge/kunst_foyer (15.01. 2018).
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angemessen, sie im vorliegenden Globalisierungskontext behutsam zu modifizieren: „Die Philosophen haben die globalisierte Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zum Besseren zu verändern.“ Hier stellt sich dann im nächsten Schritt die Frage, welche Rolle der Rechtsphilosophie zukommt, damit der Brückenschlag oder vielleicht eher: die vorliegend ganz besonders bedeutsame Horizontüberschreitung zwischen Interpretation und Veränderung der globalisierten Welt samt ihrer rechtlichen Implikationen gelingen kann. Wenn und soweit Rechtsphilosophie ihren Schwerpunkt auch weiterhin bei der „Interpretation“ sieht, dann gilt es insoweit zu überlegen, wie die Chance erhöht werden kann, dass ihre globalen Interpretations- und Lösungsvorschläge von den außen- und rechtspolitischen Akteuren zumindest zur Kenntnis genommen werden: Wie also könnte sich deutschsprachige Rechtsphilosophie im verbleibenden 21. Jahrhundert kommunikativ, methodisch und inhaltlich aufstellen, damit ihre Signale vor einem dunklen globalen Horizont faktisch wahrgenommen werden? Einige Vorschläge müssen im Rahmen des vorliegenden Beitrages genügen: Ein erster Schritt könnte darin bestehen, dass die Globalisierung und ihre Herausforderungen rein quantitativ eine noch stärkere Berücksichtigung in den rechtsphilosophischen Diskursen der Gegenwart finden. Dies wiederum setzt einen Bewusstseinswandel ihrer Akteure voraus. Er kann letzten Endes nur aus der Grundüberzeugung heraus entstehen, dass unsere Welt im 21. Jahrhundert vor Globalisierungsrisiken steht, die sich zum einen in wachsendem Umfang realisieren, zum anderen staatenübergreifendes Handeln erfordern, während jedoch zeitgleich in immer mehr Staaten eine äußerst starke politische Rückbesinnung auf nationale Eigeninteressen zu verzeichnen ist. Wäre gerade an diesem Punkt nicht wieder einmal die Zeit für ein neues rechtsphilosophisches Forschungsparadigma gekommen? Wenn ja, dann sollte es allerdings über intradisziplinäre Erwägungen hinaus auch interdisziplinären Anschluss suchen, etwa gegenüber politik- und sozialwissenschaftlichen Diskursen oder auf dem Feld außenpolitischer Beratung. In dem 2017 erschienenen, auf eine internationale Debatte abzielenden Band Die große Regression ⁴¹ etwa beschreibt der Herausgeber Heinrich Geiselberger treffend eine globale Gegenwart, die durch zahllose Regressionssymptome wie Terrorismus, Migration, Gebiete fehlender Staatlichkeit sowie postdemokratische, an nationale Zugehörigkeit anknüpfender Symbolpolitik gekennzeichnet ist. Er
Geiselberger. Heinrich (Hrsg.): Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation unserer Zeit. Berlin: Suhrkamp 2017. Siehe hierzu auch: http://www.diegrossere gression.de/ (10.10. 2017).
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weist in diesem Kontext einleitend darauf hin, dass trotz des bereits seit langem vorgeschlagenen Aufbaus transnationaler Institutionen zur Schaffung globaler Lösungen für globale Probleme keine politische Vorbereitung auf die real gewordenen Globalisierungsrisiken des internationalen Terrorismus, des Klimawandels, der Finanz- und Währungskrise sowie großer Migrationsbewegungen zu verzeichnen sei – und es in den vergangenen Dekaden „offenbar nicht zur Etablierung eines robusten kosmopolitischen Wir-Gefühls gekommen“ ist.⁴² Geiselbergers These zufolge treffen „Probleme, die sich aufgrund mangelnder politischer Steuerung der globalen Interpendenz ergeben, […] Gesellschaften, die darauf institutionell und kulturell nicht vorbereitet sind“.⁴³ Notwendig erscheint ihm vor diesem Hintergrund der Versuch, gegenüber einer „Internationale der Nationalisten“ eine Art transnationaler Öffentlichkeit herzustellen.⁴⁴ Die vom Medien-, Kultur- und Kommunikationswissenschaftler Arjun Appadurai im Rahmen der Regressionsdebatte konstatierte „Demokratiemüdigkeit“⁴⁵ ist nach Auffassung dieses Autors im Zusammenhang mit einem allgemeinen Verlust ökonomischer Souveränität moderner Staaten zu sehen, der politisch zu einer Aufwertung kultureller Souveränität führe. Derartige autoritäre Populismen gehen nach Appadurai einher mit Abwanderungstendenzen gegenüber der Demokratie, die in entsprechenden Wahlausgängen ihren Ausdruck finden.⁴⁶ Gefordert sei demgegenüber – bezogen auf Europa – eine „liberale Multitude“ entsprechend eingestellter Bevölkerungsgruppen.⁴⁷ Bezugnehmend auf den ungarischen Philosophen Gáspár Miklós Tamás zeichnet der bulgarische Politologe Ivan Krastev ein deprimierendes Bild von den alternativen Realisierungsbedingungen des Weltbürgers, die theoretisch entweder in der Verwandlung gescheiterter Staaten in lebensattraktivere Orte oder in für alle Menschen geöffneten europäischen Grenzen bestehen könnten: „Keins von beidem wird jedoch in absehbarer Zeit geschehen – wenn denn überhaupt jemals. Heute gibt es in der Welt zahlreiche gescheiterte Staaten, in denen niemand leben
Ebd., S. 11. Ebd., S. 13. Ebd. Appadurai, Arjun: „Demokratiemüdigkeit“. In: Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation unserer Zeit. Hrsg. von Heinrich Geiselberger. Berlin: Suhrkamp 2017. S. 18 ff. Ebd., S. 20 ff., S. 27 f. Ebd., S. 35.
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will, und Europa hat weder die Fähigkeit, die Grenzen zu öffnen, noch würden die Bürger/ Wähler dort dem jemals zustimmen“.⁴⁸ Stellt man nur diese kurzen Stichpunkte einer aktuellen, vor allem auch kultur-, politik- und sozialwissenschaftlich geprägten Debatte jener von Valerius beschriebenen Rechtsphilosophie der Gegenwart gegenüber, die im Globalisierungskontext von alldem unbeeindruckt und eher intradisziplinär kontrastierende Fragen nach Rechtspluralismus, Weltrecht sowie Rechtssetzungszuständigkeit stellt und zu beantworten sucht – dies mit demselben „Gleichmut“, mit dem sie andernorts etwa systemtheoretischen oder rechtsrhetorischen Fragestellungen auf den Grund geht – dann beginnt man ein Gespür dafür zu entwickeln, warum die gesellschaftliche, aber auch die außen- und rechtspolitische Wahrnehmung rechtsphilosophischer Überlegungen zum Thema Globalisierung bislang offensichtlich überschaubar bleibt. Globale Regressionstendenzen und -diskurse auf der einen Seite, unaufgeregtes rechtsphilosophisches Fragen nach globaler Rechtssetzung auf der anderen – wie passt das zusammen? Die Gründe für diesen Kontrast können zum einen in einer innerhalb der deutschsprachigen Rechtsphilosophie eher intradisziplinären Orientierung, zum anderen in einer dort offensichtlich bislang eher gemäßigten Wahrnehmung des von Senghaas beschriebenen, mit nationalen Verdrängungsmechanismen einhergehenden wachsenden globalen Problemdrucks liegen, die – anders etwa als die deutschen Stunden Null in den Jahren 1945 oder 1989 – noch keine vergleichbaren Impulse zu rechtsphilosophisch legitimierter Kritik und zur Befassung mit notwendigen rechtlichen Konsequenzen aussendet. Ein erster, mir gegenwärtig bedeutsam erscheinender rechtsphilosophischer Schritt im Globalisierungskontext bestünde also nach alldem in einer rechtsphilosophischen Eigendiagnose, die gleichwohl in interdisziplinär aufgeschlossener Weise das eigene methodische und inhaltliche Verhältnis zu faktisch vorliegenden, sich sukzessive weiter verschärfenden Globalisierungsrisiken vor dem Hintergrund eines möglichen neuen Forschungsparadigmas grundlegend hinterfragt und klärt. Hierzu dürfte dann nicht nur eine differenzierte Beschreibung der vorhandenen Risiken gehören, sondern auch eine Berücksichtigung der gerade in den letzten Jahren immer spürbarer werdenden nationalen Verdrängungsmechanismen in zahlreichen Staaten samt der diesbezüglichen sozial-, kultur- und politikwissenschaftlichen Debatten – nicht zuletzt aber auch ein Blick auf die gerade in dieser Situation wichtigen Adressaten eigener rechtsphiloso-
Krastev, Ivan: „Auf dem Weg in die Mehrheitsdiktatur?“. In: Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation unserer Zeit. Hrsg. von Heinrich Geiselberger. Berlin: Suhrkamp 2017. S. 117 ff., S. 128.
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phischer Konzepte und ihre Erreichbarkeit. In Bezug auf den letztgenannten Aspekt wäre ggf. der Sprung von einer juristischen hin zu einer künftigen rechtsphilosophischen Argumentationstheorie denkbar.⁴⁹ Warum eigentlich nicht? Ausgehend von den Ergebnissen der vorstehend beschriebenen „Eigendiagnose“ dürften sich weitere Horizonte und Fragestellungen jenseits bisheriger rechtsphilosophischer Diskurse im Globalisierungskontext fast von selbst ergeben, auch und gerade in normativer Hinsicht. Denkbar erscheinen etwa folgende Ansätze und Themenfelder, die im Idealfall bisherige rechtsphilosophische Hauptströmungen im Globalisierungskontext – Rechtspluralismus vs. Weltrechtsordnung⁵⁰ – mit konkreten Handlungsmaßstäben und Legitimationsangeboten für Gesellschaft und Politik ergänzen könnten: – Wie kann unter den Umständen der schon fast eingeläuteten dritten Dekade unseres Jahrhunderts die geradezu dramatische Notwendigkeit einer auf (weitgehend) gemeinsamen Rechtsüberzeugungen basierenden kooperativen und multilateralen Beeinflussung der Globalisierung – zunächst einmal unabhängig von der konkreten Ausprägung – auch aus rechtsphilosophischer Perspektive rational und überzeugend gegenüber zögernden Nationalstaaten oder zaudernden politischen Eliten begründet werden? Welche normativen oder prozeduralen rechtsphilosophischen Konzepte – z. B. wertebezogen unter Rückgriff auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) oder auf Basis eines entsprechend fokussierten, gerechtigkeitstheoretischen Gedankenexperiments – könnten insoweit auf internationalem bzw. außenpolitischem Parkett flankierend wirken? – Gäbe es dies- und jenseits der kriselnden EU eine rechtsphilosophisch begründbare Möglichkeit, neben politischen Führungspersonen vor allem auch die z. B. von Habermas abstrakt in rechtlichen Legitimationsfragen fixierte Figur des „Weltbürgers“⁵¹ aus ihrem konstruktiven Korsett zu lösen – und sie ganz pragmatisch und konkret mit überstaatlichen Gestaltungsaufgaben zu betrauen? Welche Rolle könnte in diesem Zusammenhang ggf. der von Valerius beschriebene Gedanke einer rechtsrelevanten Legitimation auch jenseits staatlicher Setzung und Durchsetzung spielen?⁵² Und: Wie könnte es insofern gelingen, neben der Außenpolitik auch Teile der Gesellschaft in staatsbürgerlich geprägten Nationalstaaten verstärkt für eine konstruktive
Vgl. zur juristischen Argumentationstheorie z. B. Neumann, Ulfrid: „Juristische Argumentationstheorie“. In: Handbuch Rechtsphilosophie. Hrsg. von Eric Hilgendorf und Jan C. Joerden. Stuttgart: Metzler 2017. S. 234– 240. m. w. N. Vgl. Habermas: Konstitutionalisierung. Ebd., S. 368. Valerius: Globalisierung. S. 440. m. w. N.
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multilaterale Beeinflussung der Globalisierung zu gewinnen? Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang etwa auf einen Beitrag des Historikers David Van Reybrouck im Rahmen der oben angesprochenen Regressionsdebatte, der der EU nach athenischem bzw. irischem Vorbild bürgerliche Partizipation statt probater politischer Repräsentation empfiehlt.⁵³ Ein erster Schritt könnte auch in einer zusätzlichen föderalen Ebene zumindest innerhalb Europas bestehen.⁵⁴ Radbruch Reloaded: Wie kann verfahren werden, wenn im Rahmen politischer Steuerung zwingende globale Interessen nicht nur nicht berücksichtigt, sondern gezielt oder auch unter billigender Inkaufnahme schwerwiegender Konsequenzen verletzt werden, wie dies z. B. beim Austritt aus einem internationalen Klimaschutzabkommen der Fall sein könnte. Gibt es auch hier eine erkenntnistheoretisch negativ feststellbare „Unerträglichkeitsschwelle“⁵⁵? Und wenn ja: Wie sähe ggf. ein diesbezügliches Widerstandsrecht aus und wer könnte sich darauf berufen? Gibt es einen vergleichbaren normativen Maßstab und Handlungsauftrag in Bezug auf die Beschreibung von und im Zusammenhang mit Unrecht durch staatliches und überstaatliches Unterlassen bei grenzüberschreitenden humanitären Katastrophen (Abschottung, Scheitern von Sicherheitsrats-Resolutionen usf.)? Wenn ja: (Warum) trifft ein solcher Handlungsauftrag auch nichtstaatliche Organisationen oder Berufsgruppen, z. B. aus dem Bereich der Anwaltschaft, der Medizin oder der Sozialen Arbeit? Wie ist jenseits der tradierten Thematik „Politik und Recht“⁵⁶ ggf. auch mit sozialwissenschaftlichen Anleihen⁵⁷ das zeitgenössische Verhältnis von Außenpolitik und Recht zu beschreiben, wenn und soweit es um die Einhaltung
Van Reybrouk, David: „Lieber Präsident Juncker“. In: Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation unserer Zeit. Hrsg. von Heinrich Geiselberger. Berlin: Suhrkamp 2017. S. 275 – 292. Vgl. hierzu Müller: Krise. Siehe andererseits Eckner, Constantin: „Entwicklung supranationaler, demokratischer Strukturen im Rahmen der europäischen Integration“ In: Demokratie in Europa. Liberale Perspektiven. Hrsg. von Detmar Doering, Constantin Eckner, Steffen Hentrich, Susanne Liermann und Dirk Schuster. Marburg: Tectum Wissenschaftsverlag 2013. S. 23 ff. m. w. N., der auf die Problematik einer möglichen Untergrabung des Subsidiaritätsprinzips bei stärkerer Parlamentarisierung der Rechtssetzung innerhalb der EU hinweist. Siehe hierzu Alexy: Verteidigung. S. 102 f. Vgl. hierzu Kaufmann, Matthias: „Politik und Recht“. In: Handbuch Rechtsphilosophie. Hrsg. von Eric Hilgendorf, Jan C. Joerden. Stuttgart: Metzler 2017. S. 335 – 346. Vgl. hierzu Rottleuthner, Hubert: „Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft“. In: Handbuch Rechtsphilosophie. Hrsg. von Eric Hilgendorf und Jan C. Joerden. Stuttgart: metzler 2017. S. 251– 254.
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zwischen- und überstaatlicher Regelungen geht? Sind diese Regelungen Korrektiv oder Produkt der Außenpolitik von Staaten, sind sie es sowohl als auch – und was sollten sie sein? Gibt es Ausnahmefälle, bei deren Vorliegen sich außenpolitisches Entscheiden und Handeln von entsprechenden rechtlichen Regelungen abkoppeln kann – und wie wären sie zu beschreiben und ggf. zu legitimieren? Und welche faktischen und normativen Auswirkungen stehen jeweils im Raum? Wie könnte eine Rechtsphilosophie mit derart ergänzten und geschärften Globalisierungspositionen ihre öffentliche und politische Wahrnehmung fördern? Denkbar erschiene beispielsweise, nach dem Vorbild oder auch in Kooperation mit außenpolitischen Think Tanks⁵⁸ eine stärke beratende und impulsgebende Funktion gegenüber der (nationalen) operativen Außenpolitik zu suchen und insoweit fundierte Argumentationshilfen zur Verfügung zu stellen.
Welche Horizonte könnte die Rechtsphilosophie also nach alldem im Angesicht der Globalisierung des 21. Jahrhunderts überschreiten? Es sind nicht nur äußere oder nationale Horizonte, nicht nur Grenzgänge in Richtung internationaler kultur-, politik- und sozialwissenschaftlicher Analysen. Es ist vor allem und im ersten Schritt auch ein eigener, innerer Horizont, der sich zwischen dem aktuellen Istzustand rechtsphilosophischer Ausrichtung gegenüber Globalisierungsproblemen und einer notwendigen rechtsphilosophischen Selbstreflexion auftut: Wenn es zutrifft, dass Globalisierung eine nur schwer zähmbare politische Urgewalt darstellt, die es zu kanalisieren gilt, gerade weil Krisen als SicherheitsratsResolutionen hinter dem Horizont nur scheinbar aus der Welt gestimmt werden,⁵⁹ dann sollten alle, auch und gerade Gesellschaft und Wissenschaft, auch die Rechtsphilosophie, im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten an diesem Zähmungsvorgang mitwirken und ihre diesbezügliche Rolle prüfen. Denn gerade im Bereich der Globalisierung stellen sich, ganz unabhängig von stets ideologieverdächtigem Zeitgeist, die drängenden, aktuellen Fragen unserer Zeit, sind Menschenrechte akut in fürchterlichem Ausmaß und in – unerträglicher – Bandbreite und Intensität bedroht.
Siehe etwa die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. (DGAP). https://dgap.org/de/ think-tank/start (10.10. 2017). Vgl. Kornelius, Stefan: „Welt ohne Zentrum“. In: Süddeutsche Zeitung (13./14.04. 2017). S. 11.
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Literaturverzeichnis Alexy, Robert: „Zur Verteidigung eines nichtpositivistischen Rechtsbegriffs“. In: Öffentliche oder private Moral? Vom Geltungsgrunde und der Legitimität des Rechts. Festschrift für Ernesto Garzon Waldes. Hrsg. von Werner Krawietz und Georg Henrik von Wright. Berlin: Duncker & Humblot 1992. S. 85 ff. Alexy, Robert: Mauerschützen. Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993. Appadurai, Arjun: „Demokratiemüdigkeit“. In: Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation unserer Zeit. Hrsg. von Heinrich Geiselberger. Berlin: Suhrkamp 2017. S. 18 ff. Bender, Walter/ Breitschwerdt, Lisa/ Scheffel, Markus: Grenzgänge. Interdisziplinäre Kompetenzen fördern und evaluieren. Wissenschaftliche Begleitstudie zum Projekt „Der Coburger Weg“ (2011 – 2016) der Hochschule Coburg. Göttingen: Cuvillier Verlag 2016. Brugger, Winfried/ Neumann, Ulfrid/ Kirste, Stephan (Hrsg.): Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. Buchholz-Schuster, Eckardt: Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln. Eine Untersuchung zur Funktion von „Juristenphilosophie“. Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag 1998. Eckner, Constantin: „Entwicklung supranationaler, demokratischer Strukturen im Rahmen der europäischen Integration“ In: Demokratie in Europa. Liberale Perspektiven. Hrsg. von Detmar Doering, Constantin Eckner, Steffen Hentrich, Susanne Liermann und Dirk Schuster. Marburg: Tectum Wissenschaftsverlag 2013. S. 23 ff. Ellscheid, Günther: „Das Naturrechtsproblem. Eine systematische Orientierung“. In: Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart. Hrsg. von Arthur Kaufmann und Winfried Hassemer. Heidelberg: C.F. Müller 1989. S. 143 – 211. Foljanty, Lena: Recht oder Gesetz. Juristische Identität und Autorität in den Naturrechtsdebatten der Nachkriegszeit. Tübingen: Mohr Siebeck Verlag 2013. Geiselberger, Heinrich (Hrsg.): Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation unserer Zeit. Berlin: Suhrkamp 2017. Habermas, Jürgen: „Konstitutionalisierung des Völkerrechts und die Legitimationsprobleme einer verfassten Weltgesellschaft“. In: Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert. Hrsg. von Winfried Brugger, Ulfrid Neumann und Stephan Kirste. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. S. 360 – 379. Heinecke, Gabriele/ Hirsch, Martin: „Quo vadis, Justitia? Der Fall Stoph“. In: Demokratie und Recht. 2. Quartal 1992. S. 133 – 138. Hilgendorf, Eric: „Zur Lage der juristischen Grundlagenforschung in Deutschland heute“. In: Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert. Hrsg. von Winfried Brugger, Ulfrid Neumann und Stephan Kirste. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. S. 111 – 133. Hilgendorf, Eric/ Joerden, Jan C. (Hrsg.): Handbuch Rechtsphilosophie. Stuttgart: Metzler 2017. Höffe, Otfried: „Vision Weltrepublik. Eine philosophische Antwort auf die Globalisierung“. In: Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert. Hrsg. von Winfried Brugger, Ulfrid Neumann und Stephan Kirste. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. S. 380 – 396. Kanazawa, Shuji: „Das Elend der Rechtsphilosophie. Entweder Naturrechtler oder Rechtspositivisten und kaum etwas Vernünftiges dazwischen“. In: Chuo-Gakuin University Review of Faculty of Law 26 (1/2). S. 193 – 225. 2013 – 02.
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Bärbel Frischmann
Horizont und Identität In meinem Beitrag möchte ich versuchen, die Frage danach, was die Identität einer Person ausmacht, mit dem Horizontbegriff in Zusammenhang zu bringen, der vor allem in der philosophischen Phänomenologie und Hermeneutik entwickelt wurde. Darauf aufbauend soll es dann auch um einige Überlegungen zur Bedeutung des Identitätsbegriffs für soziale Gemeinschaften und einige Probleme im Konflikt zwischen verschiedenen kulturellen Horizonten gehen.
1 Zum Begriff der Identität einer Person Wenn wir etwas über die „Identität“ einer Person feststellen wollen, sind drei Aspekte zu unterscheiden: – die biologische Identität (genetischer Kode, körperliche Verfasstheit, Alter etc.), – die sozio-kulturelle Identität (Staatsbürgerschaft, soziale Rolle, Beruf, familiäre Konstellationen, Erwartungen an uns von Seiten der Gemeinschaft), – die narrative Identität (Lebensgeschichte, Lebensentwurf, Selbstkonzept, die Geschichte, die wir uns über uns selbst erzählen). Dabei gibt es Aspekte, die feststehen: unser Geburtsdatum, die genealogische Zugehörigkeit, Staatsbürgerschaft oder Bildungsabschlüsse, die wir geschafft haben. Doch viele Aspekte sind nicht stabil, auch die biologische Identität nicht, da sich auch unser Körper verändert. Es gibt Krankheit, Schmerz, hormonelle Schwankungen, Schlafdefizit, Psychopharmaka; dies alles wirkt sich auf unser Denken und Verhalten aus. Welche Personalitätskonzepte geschätzt werden, wie man sich so etwas wie eine personale Identität vorstellt, welche Arten von Persönlichkeit als normal oder abnorm bzw. gar pathologisch angesehen werden, hängt nicht nur von individuellen Präferenzen, sondern auch von gesellschaftlich-kulturellen Kontexten ab. Dabei kann als eine Besonderheit der Moderne angesehen werden, dass vor allem die narrative Identität an Bedeutung gewinnt. Dies könnte damit zusammenhängen, dass mit der Herausbildung pluraler und liberaler Gesellschaften die Anforderungen an die individuellen Orientierungsleistungen größer geworden sind. Die narrative Identität ist die Deutung, die sich Personen über sich selbst schaffen. Wegen der interpretativen Prägung des Selbstbildes könnte man hier https://doi.org/10.1515/9783110553291-013
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auch von hermeneutischer Identität sprechen. Obzwar wir dabei auf das zurückgreifen, was unsere Kultur an Material für unsere Selbstnarration bereitstellt, ist das jeweilige Welt- und Selbstverständnis individuell, das heißt immer nur möglich durch die geistige Aktivität jeder und jedes Einzelnen. Individuen sind wir nicht nur dadurch, dass wir jeweils einen eigenen Körper haben, sondern vor allem auch deshalb, weil wir als Personen mit je eigenen Lebensvorstellungen und Handlungsmotiven mit diesem Körper und seinen Möglichkeiten Unterschiedliches tun. Nehmen wir ein Beispiel: Geschwister, die in derselben Familie, an demselben Ort, in derselben Kultur aufwachsen, können doch jeweils ganz eigene Lebenswege einschlagen, unterschiedliche politische Auffassungen ausprägen und sich hinsichtlich ihrer konfessionellen Zugehörigkeit voneinander entfernen. Im Vorhinein kann niemand sagen, wohin sich ein Mensch entwickelt, was ihm später wichtig wird. Menschen verfügen prinzipiell über die Möglichkeit, ihrem freien Wollen verschiedene Inhalte zu geben. Wie nun diese Freiheit, die Möglichkeit eigenen Wollens und Entscheidens, durch die Akteure selbst bewertet wird, hängt nicht nur von ihrer individuellen Disposition, sondern auch davon ab, welche Handlungsspielräume soziale Gemeinschaften zulassen. Traditionell wurde die Identität einer Person hergeleitet aus dem göttlichen Willen, der vorgestellt wurde als Macht, die das eigene Schicksal bestimmte, oder aus einer festgefügten sozialen Ordnung, in der durch Geburt in einen bestimmten Stand von vornherein die Spielräume in der Gemeinschaft festgelegt waren. Die Frage nach der eigenen Identität wird in solchen Gesellschaften, so könnte man sagen, beantwortet durch Verweis auf eine externalisierte Instanz (Gott, Schicksal). Der Übergang von traditionellen, meist religiös fundierten Gemeinschaften zu liberalen, offenen, pluralen Gesellschaften scheint mir vor allem dadurch gekennzeichnet zu sein, dass sich Menschen nicht mehr die normativen Grundlagen einer Gemeinschaft oder Religion als Fundament ihrer Identität ansehen. Mit der Ausprägung des modernen Weltbildes, der Auflösung von feststehenden Standesstrukturen, der stärkeren Ausdifferenzierung der Gesellschaften, der Aufklärung, den Ideen von Entwicklung und Historizität tritt auch die Auffassung zurück, dass es so etwas wie eine substanzhafte, unveränderliche Seele als Kern einer Person gibt. Die selbstbestimmte Gestaltung der eigenen Lebensbedingungen, der Wert der Individualität und die tätige Selbstformung (Bildung) bestimmen das neue Selbstbild. Parallel dazu erhält auch die Bildungstheorie neue Impulse. Entscheidend ist nun, dass die personale Identität nicht mehr an eine substanzhafte Entität gebunden wird, sondern verstanden wird als ein vielschichtiger und in seinen Resultaten offener Prozess, in dem Eigenaktivität und soziokulturelle Bedingungen gleichermaßen bedeutsam sind. Diese Umorientierung erreicht in Europa einen Höhepunkt in der theoretisch und literarisch äu-
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ßerst produktiven Zeitenwende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Ich möchte dies am Beispiel einiger philosophischer Annahmen Johann Gottlieb Fichtes illustrieren. Fichte schreibt: Jedes Thier ist, was es ist: der Mensch allein ist ursprünglich gar nichts. Was er seyn soll, muss er werden: und da er doch ein Wesen für sich seyn soll, durch sich selbst werden. Die Natur hat alle ihre Werke vollendet, nur von dem Menschen zog sie die Hand ab, und übergab ihn gerade dadurch an sich selbst.¹
Das, was eine Person ist, lässt sich dann nur noch bestimmen aus dem, was diese Person aktuell jeweils an eigener Aktivität entfaltet, wie sie denkt und handelt. Noch einmal Fichte: „Das Ich ist […], was es handelt, und wenn es nicht handelt, so ist es nichts“.² Fichte stützt seine gesamte Philosophie auf die Idee der freien Selbstgestaltung des Menschen. Jede Person ist in der Lage, frei Handlungsziele zu setzen, gestützt auf ein Wissen von der Welt als dem Realisierungsort dieser Handlungen. Zugleich gehört zur Person die Fähigkeit, ihre Handlungsziele vermittels ihrer eigenen Verfügung über einen Leib als Organ des Handelns auszuführen. Der Leib ist dabei für Fichte nicht nur der materielle Körper, sondern bestimmt als der „Umfang aller möglichen freien Handlungen der Person“³. Bezogen auf die Thematik des Horizonts kann man auch sagen: Der Leib markiert den Horizont aller möglichen Handlungen dieser Person. Er umfasst das, was eine Person sich vorstellt, woraufhin sie sich selbst versteht und sich in die Welt einordnet. Die personale Identitätsbildung ist ein permanenter Prozess, in dem sich die Inhalte und damit der Horizont ständig verschieben. Mit Blick auf diesen Zusammenhang von Identität und Horizont kann die Frage: Wer bin Ich? beantwortet werden mit: „Ich bin mein Horizont.“ Ich bin das, als das ich mich selbst interpretiere. Zugleich zeigt Fichte auf, dass die Konstitution eines reflexiven Selbstbewusstseins, eines Selbstbildes als Person, zwar auf eigener Aktivität beruht, aber kein isolierter Prozess sein kann, sondern ohne soziale Einbindung, ohne Auseinandersetzung mit anderen personalen Subjekten nicht möglich ist. Die Beziehung auf den anderen ist immer auch eine auf sich selbst und umgekehrt, und dies auch im anderen Ich. Wegweisend wurde Fichtes Topos der „wechselseitigen
Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Sämmtliche Werke. Bd. III. Hrsg. von Immanuel Hermann Fichte (Nachdruck der Ausgabe 1845/ 1846) Berlin: de Gryuter 1971. S. 80. Ebd., S. 22. Ebd., S. 59.
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Anerkennung“ von Personen, die er nicht nur der Subjekttheorie, sondern auch der Ethik und der Rechtsidee zugrunde legt. Georg Wilhelm Friedrich Hegel nimmt diesen konzeptionellen Gedanken Fichtes auf und stellt die wechselseitige Relation zwischen Personen so dar: „Das Tun ist also nicht nur insofern doppelsinnig, als es ein Tun ebensowohl gegen sich als gegen das Andere, sondern auch insofern, als es ungetrennt ebensowohl das Tun des Einen als des Anderen ist.“⁴ Es sind damit, formal gesehen, auf beiden Seiten jeweils doppelte Reflexionen miteinander verwoben. Subjekt 1 schaut a) sich selbst an in Bezug auf ein Subjekt 2, und b) schaut Subjekt 2 an in Bezug auf sich selbst. Sein Selbstbild ist abhängig a) von seiner Selbstreflexion und zugleich b) der Reflexion der bei Subjekt 2 vermuteten Reflexion von sich (Subjekt 1). Gleiches gilt auf der anderen Seite für Subjekt 2. Was Hegel hier wie Fichte hinsichtlich der Entfaltung des Selbstbewusstseins im Blick hat, ist letztlich die entscheidende Struktur von Selbstbewusstsein, nämlich ein Ich-Verständnis, d. h. eine Vorstellung von sich selbst als Person, nur dadurch entwickeln zu können, dass das Selbstbild reflektiert wird an anderen Personen. An ihnen habe ich den Spiegel, in dem ich mich selbst anschaue. Die Anderen reagieren auf mein Tun, wie ich auf ihr Tun reagiere. Was ich für mich selbst bin, ist nicht zu trennen von dem, wie ich mich als Objekt der Anderen erfahre, und umgekehrt. Damit wird deutlich, dass das eigene Selbstverständnis ohne das soziale Umfeld nicht konstituiert werden könnte. Die Ich-Bildung, die Ausprägung einer personalen Identität, ist so als Schaffung eines Horizontes zu verstehen, der seine Kontur darin erhält, dass er sich gegen andere Subjekte (mit ihren Ich-Bildern und Horizonten) abgrenzt und sich zugleich auf diese bezieht. Die Anderen sind immer der Horizont für mich selbst. Sie bilden für mein eigenes Tun Bestätigung und zugleich auch Begrenzung, so dass dies so formuliert werden könnte: „Ich bin mein Horizont in Relation zu euch mit eurem Horizont.“ Unter „Horizont“ verstehe ich dabei, bezogen auf die Identität einer Person, die Fähigkeit dieser Person, ihre Bewusstseinsinhalte aufeinander zu beziehen, in einen Gesamtdeutungsraum einzuordnen, sozial zu reflektieren und aus diesem Gesamtzusammenhang die jeweilige Lebensorientierung und Handlungsausrichtung entwickeln zu können. Wenn dabei „Horizont“ im Singular verwendet wird, ist dies der theoriebildenden Abstraktion geschuldet, denn der faktische Horizont einer Person setzt sich immer aus den vielen Einzelhorizonten zusam-
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Werke in 20 Bänden. Bd. 3. Hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michael. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. S. 147.
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men, die die unterschiedlichen Lebensbereiche, Kulturgebiete und Handlungsfelder bestimmen. Mit diesem Horizontbegriff habe ich allerdings vorgegriffen auf eine Begriffsverwendung, die sich erst im 20. Jahrhundert entwickelt.
2 Der Horizontbegriff in Phänomenologie und Hermeneutik Der Horizont-Begriff im direkten oder metaphorischen Sinn der Reichweite des Blickes ist unauflöslich mit der Voraussetzung eines Subjekts, das einen Horizont hat, verbunden. Allgemein kann man hinsichtlich der Zuordnung des Horizontbegriffs zu einem sich auf die Welt beziehenden Subjekt, einer Person, drei Aspekte unterscheiden: Erstens: Von Horizont sprechen wir zunächst im physikalischen Sinn bezogen auf unser optisches Sichtfeld: Der Horizont markiert hier die räumliche Grenze unseres Sehens. Er ist auf das sehende Subjekt bezogen und an dieses gebunden. Zweitens: Wie weit wir blicken können, der optische Weitblick, erhält eine metaphorische Erweiterung in der Anwendung auf den Umfang unseres Wissens. Menschen, die viel wissen, dieses Wissen beurteilen und sinnvoll anwenden können und auch Handlungsfolgen bedenken, attestieren wir einen großen „Weitblick“. Der Horizontbegriff ist dabei gebraucht als Wissenshorizont und markiert die jeweilige epistemische Grenze dieses Wissens. Ein Mensch mit dem Wissenshorizont, der als mathematische Operationen nur Addition und Subtraktion kennt, kann keine Quadratwurzel ziehen. Mit dem Wissenshorizont der klassischen Physik kann die Relativitätstheorie nicht gedacht werden. Drittens: Mit der Hermeneutik und Phänomenologie wurde der Horizontbegriff noch einmal erweitert: Horizont meint in diesem Zusammenhang die Gesamtheit der Verstehensleistungen, zu denen ein Mensch in der Lage ist. Den Horizont zu überschreiten würde hier bedeuten, dass das Verstehen bestimmter Phänomene und Vorkommnisse nicht mehr gelingt und die Deutung neu ansetzen muss. Gegenüber dem auf Wissen orientierten Horizontbegriff wäre der Verstehenshorizont umfassender. Jemand kann ein enormes Wissen haben, aber als Fachidiot nur ein sehr enges Weltverständnis. Dieser umfassende Verstehensbegriff, gedacht im „Verstehenshorizont“, umfasst die Gesamtheit der einer Person verfügbaren sinnhaften Weltbezüge. Der Horizontbegriff in diesem sehr weiten Verständnis markiert die Reichweite des Blicks, der eingenommenen Perspektiven und der intentionalen Gehalte des Bewusstseins. Verändern sich die Perspektiven, die Sinnfragen, das Wissen,
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die Einstellungen zur Welt, verschiebt sich damit auch der jeweilige Horizont. Dies bedeutet für die drei hier unterschiedenen Horizont-Begriffe: Typ 1: Der optische Blick in die Welt verändert sich mit der Standortveränderung des jeweilig Schauenden. So kann man sagen, der Horizont „wandert“ mit, z. B. wenn man geht oder fährt. Typ 2: Der Wissens-Horizont verschiebt sich mit jedem neuen Wissenszuwachs. Wenn Kinder lernen, was Fotosynthese ist, verändert dies ihr Wissen von Zusammenhängen in der organischen Natur und vom ökologischen Gleichgewicht. Typ 3: Jede Interpretation, jeder Verstehensakt von etwas, ist eine Horizontbildung. Der Verstehens-Horizont ändert sich mit jeder neuen Interpretation von Geschehnissen. Die Erfahrung einer neuen emotionalen Grundstimmung, die ich bisher noch nie gehabt habe, färbt meine gesamte Sicht auf die Welt neu. Wer beispielsweise beginnt, sich tiefergehend mit Musik oder Malerei zu beschäftigen, sieht seinen eigenen Weltzugang damit vielleicht durch neue Facetten bereichert. Wer eine schwere Krankheit oder den Tod eines nahestehenden Menschen verkraften muss, verändert damit seine Selbstdeutung und seinen ganzen Sinnhorizont. Wichtig für diesen umfassenden Begriffsgebrauch von Horizont als Verstehenshorizont oder Sinnhorizont ist die Phänomenologie im Ausgang von Edmund Husserl geworden. Husserls philosophisches Anliegen besteht in der Rekonstruktion der wesentlichen Bewusstseinsfunktionen, die für die Konstitution eines Objekts im Weltbezug angenommen werden müssen. Mit seinem zentralen Begriff der „Intentionalität“ soll ausgedrückt werden, dass alle Bewusstseinsakte immer schon einen Gegenstandsbezug beinhalten, dass die Dinge also nicht als fertige Gegebenheiten dem erkennenden Subjekt gegenüberstehen und von diesem dann erkannt werden. Vielmehr ist dieses Subjekt als Gesamtheit der Bewusstseinsakte immer schon intentional auf etwas gerichtet, es ist nicht ohne diese Bezugnahme auf den Inhalt „Welt“. Alle Gegenstände sind schon intentional erfasst, damit im Sprachgebrauch Husserls nicht „Dinge“, sondern „Phänomene“, sie sind immer schon solche im Fokus des Subjekts. Mit jedem Bewusstseinsakt, sei es Erkennen, Wollen, Träumen, Glauben, Fühlen, Leiden, wird der Gegenstand als Phänomen in seinen jeweiligen innerweltlichen Kontexten auf eine bestimmte Weise gegeben. Jede Intention spannt somit ihren Bezugshorizont auf. Deshalb spricht Husserl von „Horizont-Intentionalität“ und geht damit von der „Horizontstruktur aller Intentionalität“⁵ aus. Er betont damit, dass alle Be-
Husserl, Edmund: Cartesianische Meditationen. In: Gesammelte Schriften. Bd. 8. Hrsg. von Elisabeth Ströker. Hamburg: Felix Meiner Verlag 1992. S. 51.
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wusstseinsgehalte Horizontcharakter besitzen. Jede neue Erfahrung, jedes neue Erleben, verschiebt den bisherigen Horizont. Der Horizont wird also nicht mit jedem Bewusstseinsakt vollkommen neu generiert, sondern er beruht auf dem schon Gewussten und Bestimmten als dem Spektrum offener Deutungsmöglichkeiten, die dann jeweils gewählt werden können. In den Ideen zu einer reinen Phänomenologie bezeichnet Husserl den Horizont als „das Korrelat der an den Dingerfahrungen selbst wesensmäßig hängenden Unbestimmtheitskomponenten“⁶. Die Unbestimmtheit wird durch die Sinngebung des Subjekts mit Inhalten belegt und so in die eigene Weltsicht eingebettet. Dabei schiebt sich der Horizont zwischen Bekanntem und Unbekanntem immer weiter: „Alles Unbekannte ist dabei Horizont eines Bekannten.“⁷ In Anknüpfung an Husserl macht Martin Heidegger deutlich, dass die Horizontkonstitution immer zu denken ist als eine Selbstbestimmung des Subjekts (oder in Heideggers Terminologie, des Daseins). So spricht er in Sein und Zeit vom „ekstatischen Horizont“⁸. Der Mensch (Dasein), der sich aus seiner sozialen, alltäglichen Gebundenheit (Geworfenheit) heraus auf etwas hin entwirft, was er sein will, wie er leben will, schafft durch diesen Entwurf seinen eigenen Horizont. Aber er ist zugleich aufgrund seiner Einbettung in lebensweltliche Kontexte immer schon in Horizonte integriert. Die Dinge, mit denen jeder von uns alltäglich umgeht, sind in ihren Bedeutungen für uns untereinander verbunden (Bewandtnisganzheit): Der Brief im Briefkasten verweist auf einen Absender, den Postboten, die Institution Post, einen bestimmten Anlass, usw. Einzelne Dinge oder Geschehnisse werden von uns insofern verstanden, als sie „im Horizont der erschlossenen Welt“ gedeutet werden können.⁹ Dabei erschließt der Mensch nicht einfach die Welt, sondern vor allem sich selbst als Möglichkeit, d. h. als offene Identität, die immer neu zu gestalten ist und die sich aus ihren Weltbezügen versteht. Der phänomenologisch-hermeneutische Begriff „Horizont“ kennzeichnet also den Umfang der Verstehensleistungen, die eine Person vollbringt, um die Gegebenheiten der Welt in ihrer Bedeutung für sich selbst und dabei sich selbst in dieser Welt zu verstehen. Dies ist der Sinn von Heideggers Formulierung, dass für den Menschen Da-sein immer In-der-Welt-sein¹⁰ ist. Der Verstehenshorizont steckt
Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Gesammelte Schriften. Bd. 5.Hrsg. von Elisabeth Ströker. Hamburg: Felix Meiner Verlag 1992. S. 102. Ebd., S. 136. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1986. S. 365. Ebd., S. 368. Ebd., S. 53.
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den Rahmen ab für die Integration neuer Erfahrungen in das eigene Weltverstehen und zwar durch Sinnzuweisung entsprechend der eigenen Lebensvorstellungen. Der Horizontbegriff umfasst und begrenzt die für mich verständliche und damit sinnhafte Welt. Horizonte muss man selbst schaffen, sie erfordern eigene Verstehens- und Interpretationsaktivität. Das Material und die Formungsanleitungen sind dabei größtenteils vorhanden als der kulturelle Unterbau unseres Denkens und Handelns, so die Sprache, normative Vorstellungen, Ordnungs- und Interpretationsmuster, Gewohnheiten. Sie werden überwiegend aus der Gemeinschaft bezogen, in der wir aufwachsen und leben. Sie sind, wie Alfred Schütz es nennt, die tradierten Wissensbestände, die alle vorhergehenden Generationen erworben, geprüft und weitergegeben haben. Sie werden jedoch immer individuell angeeignet und dabei für die eigenen Zwecke und Vorstellungen angepasst. Gerade diese Verarbeitungsleistung ist unser individuelles Tun, macht uns zu besonderen Personen und formt unsere Identität. Diese permanente geistige Aneignung kultureller Gehalte ist unermesslich vielfältig und offen. Noch einmal Schütz: „Grundsätzlich sind die offenen Elemente unbeschränkt auslegbar. Jede Situation hat einen unendlichen inneren und äußeren Horizont“.¹¹ Identitätsbildung, Horizontbildung, kulturelle Sinnstiftung und Aneignung von kulturellen Bedeutungsgehalten sind unauflöslich miteinander verwoben. Der Sinn- und Verstehenshorizont einer Person ist somit zugleich kulturell geprägt und individuell gestiftet.
3 Horizont, personale Identität und das Leben in einer Gemeinschaft In der bisherigen Darstellung habe ich Wert auf eine Sichtweise gelegt, die personale Identität und damit den gesamte Verstehenshorizont einer Person als vielschichtig und veränderbar ansieht und davon ausgeht, dass diese durch eigene Interpretationsleistung immer wieder neu hergestellt werden müssen. Damit ist aber auch ein individueller Spielraum im Verhältnis zur Aufgabe der eigenen Identitäts- und Horizontbildung gegeben. Dieser Spielraum kann dabei unterschiedlich groß sein und weit ausgedehnt oder eng begrenzt werden. Im Folgenden möchte ich dementsprechend zwei Typen von Identitätsvorstellungen mit
Schütz, Alfred/ Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2003. S. 167.
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ihren jeweilig korrespondierenden Horizontspektren gegenüberstellen, die in ihrer abstrahierenden Zuspitzung als Verdeutlichung dienen sollen. Auf der einen Seite gibt es Menschen mit flexiblem Identitätsmuster, sie sind offen und dynamisch und möchten ihren Horizont ständig erweitern, sie schätzen die Differenziertheit ihrer eigenen Personalität. Auf der anderen Seite gibt es Lebenseinstellungen, die eine möglichst stabile, feste Identität als Ideal ansehen. Eine solche Persönlichkeitsstruktur wäre eher statisch, aller Veränderung gegenüber ängstlich und ablehnend. Der Horizont eines solchen Menschen ist fixiert, Neues wird nur insoweit zugelassen, wie es den bewährten Horizont nicht gefährdet. Die Komplexität wird als Desorientierung erlebt. Der Wunsch nach einer homogenen und damit überschaubaren sozialen Welt lässt alles, was diese Homogenität stört, als Bedrohung und als feindlich erleben. Der Horizont wird bewusst so fokussiert, dass nur das Vertraute vorkommt und das Unvertraute nicht angeeignet, sondern so weit wie möglich ignoriert oder ausgeschlossen wird. Analog zu diesen beiden Grundtypen von Persönlichkeit lassen sich auch Gesellschaften charakterisieren als einerseits offen, dynamisch, differenziert, komplex und liberal bzw. andererseits möglichst geschlossen, eher homogen, stark traditionsorientiert und damit nicht an Veränderung interessiert. Ich denke, beide habituelle Typen von personaler Identität finden sich in allen Gesellschaften und Kulturen. In einer offenen, dynamischen, sich schnell wandelnden, vielschichtigen Gesellschaft wird dabei eher die Weltsicht des offenen Habitus gefördert. Solche Menschen genießen die vielen Möglichkeiten und Freiheiten der Lebensführung und Weltsichten. Menschen mit einem hohen Bedürfnis nach Verbindlichkeit und stabilen Werten, nach einfachen Antworten und klaren Zielvorgaben hingegen fühlen sich hier verunsichert und bodenlos, ihr Horizont verschwimmt, ihnen fehlt der Halt. Demgegenüber finden die statisch ausgerichteten Persönlichkeiten in eher homogenen, traditionsorientierten Gesellschaften mit festen sozialen Regeln und weniger Aktivitätsspielräumen feste Orientierung. Offene, vielschichtige Menschen hingegen stoßen in solchen starren Gemeinschaften schnell an solziale Grenzen, ihr Interesse an Neuem, an Vielfalt und Abwechslung wird als Störung oder gar Gefährdung empfunden und vielleicht sogar diskriminiert. Ihr offener Horizont übersteigt die Spielräume der sozial vorgegebenen Horizontsetzung. Sich abschottende, homogene Gesellschaften normieren und homogenisieren die Lebensformen der Menschen, sie sind nicht bereit und von ihrem Selbstverständnis her nicht in der Lage, Alterität in größerem Umfang in ihren Horizont zu integrieren.
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4 Einige sich ergebende Fragen Ich möchte abschließend einige Fragen formulieren, die sich aus meiner Herangehensweise an das Thema des Zusammenhangs von Identitäts- und Horizontbildung ergeben: – Individuelle Identitätsbildungsprozesse sind meines Erachtens nur bedingt von außen steuerbar. Zwar lassen wir uns durch die Umstände durchaus beeinflussen, bei großem Druck auch sicher in größerem Umfang, aber wann Menschen aus vorgegebenen Strukturen ausscheren, inwieweit sie ihrem eigenen Willen folgen, radikale Wege gehen oder sich zurückziehen, lässt sich nicht vorhersehen und kaum lenken. Wie gehen moderne Gesellschaften in ihren Steuerungsinstrumenten wie Rechtsinstitutionen, Verwaltungen, Bildungs- und Erziehungseinrichtungen mit dieser latenten Unberechenbarkeit um? Können sie der Vielfalt und Veränderlichkeit der Persönlichkeiten ausreichend Rechnung tragen? – Als Mitglieder moderner Gesellschaften sind wir gefordert, sehr unterschiedliche Aufgaben zu bewältigen und soziale Rollen zu übernehmen: Familienbeziehungen, Berufstätigkeit, kulturelle Interessen, politische Ausrichtung, Ehrenamt, Freundschaften, Hobbys, sportliche Aktivität usw. Ist es überhaupt noch möglich, in den sehr komplexen Lebenszusammenhängen in sich schnell verändernden sozialen Umfeldern und angesichts vielfältiger sozialer Anforderungen eine konsistente Ich-Identität herauszubilden? Wie müssten dementsprechend Erziehungs- und Bildungstheorien aussehen, die den pädagogischen Umgang mit jungen Menschen darin unterstützen sollten, sie zu Vielschichtigkeit, Reflexivität und Offenheit zu ermutigen? – Woran orientieren wir z. B. ganz individuell unsere Wertsetzungen, wenn wir in heterogene, nebeneinander gleichwertig existierende normative Bereiche zugleich eingebunden sind? Welche Ethik ist einer solchen Situation adäquat? – Nach welchen Leitbildern von Persönlichkeit und personaler Identität orientieren sich heute diejenigen, die psychiatrisch und psychotherapeutisch Menschen betreuen? Wie muss die signifikante Zunahme der Diagnosen von psychischen Erkrankungen bewertet werden? Welchen Anteil an den diagnostizierten psychischen Erkrankungen hat das Selbstbild der Betroffenen, ihre narrative Identität? – Politisch besteht die Gefahr, dass die Pluralisierung von Horizontmöglichkeiten dazu führt, dass die vielen verschiedenen Interessenlagen nicht mehr unter einen Hut zu bekommen sind, dass Gesellschaften auseinanderdriften. Wenn keine politische Partei mehr überhaupt noch Mehrheitschancen hat,
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wie soll dann ein Land regiert werden? Welche politischen Theorien sind erforderlich, um diesen Konstellationen Rechnung zu tragen? Welche Angebote können offene, demokratische Gesellschaften denjenigen machen, die sich mehr Orientierung und normative Verbindlichkeit wünschen, die nach Sicherheit suchen und sich gerne von der Verantwortung für die eigene Horizontsetzungsarbeit entlasten möchten? Zur eigenen Identität gehört die Abgrenzung von anderen. Ohne diese Grenzziehungen würde ich keine Strukturen ausbilden, gäbe es keinen Horizont. Diese Anderen sind Aspekte in meinem Horizont, aber sie sind zugleich selbst mit Horizonten ausgestattet. Einen Anderen verstehen, bedeutet damit, sich auf seinen Horizont einzulassen. Wie kann man aber jemand Anderen verstehen, wenn beide Weltsichten sehr weit auseinanderliegen? Wie viel gemeinsamer Schnittmenge an Handlungsweisen, Normen und Wissensinhalten braucht gegenseitiges Verstehen? Je weniger sich Horizonte mit ihren Sinngehalten berühren, umso weniger ist Verstehen möglich. Der Andere oder die Anderen sind dann die Fremden, die man nicht verstehen kann, weil ihre Handlungen, ihr Sprechen, ihre Werte nicht in das eigene Weltbild einpassbar sind. Wie kann dann aber so etwas wie Integration und Zusammenleben gelingen? Was ist theoretisch und praktisch erforderlich, um angesichts von Globalisierung und Migrationsbewegungen die Menschen mit sehr heterogenen Horizontbildungen und bei unterschiedlichsten lebensweltlich-kulturellen Hintergründen zusammenführen, ein friedliches und respektvolles Zusammenleben zu ermöglichen?
Diese Fragen sollten mit Bezug auf das Thema „Horizont und Identität“ einige Problemlagen skizzieren, mit denen wir konfrontiert sind und um deren Lösung wir zu ringen haben, ohne dass die Strategien dafür klar umrissen wären.
Literaturverzeichnis Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Sämmtliche Werke. Bd. III. Hrsg. von Immanuel Hermann Fichte (Nachdruck der Ausgabe 1845/1846). Berlin: de Gryuter 1971. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Werke in 20 Bänden. Bd. 3. Hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michael. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1986. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Gesammelte Schriften. Bd. 5. Hrsg. von Elisabeth Ströker. Hamburg: Felix Meiner Verlag 1992.
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Husserl, Edmund: Cartesianische Meditationen. In: Gesammelte Schriften. Bd. 8. Hrsg. von Elisabeth Ströker. Hamburg: Felix Meiner Verlag 1992. Schütz, Alfred/ Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2003.
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Sinngrenze, Sprachgrenze, Weltgrenze Am Horizont fallen zwei Grenzen zusammen: zum einen diejenige zwischen Himmel und Erde, zum anderen diejenige zwischen dem sichtbaren und dem dahinter verborgenen Teil der Landschaft. Erstere verläuft innerhalb eines anschaulich gegebenen Ganzen, geht also mit der Zweiteilung einer bereits zuvor erfassten Gesamtheit einher. Demgegenüber kann die Grenze zwischen dem Terrain, das sich vor unseren Augen bis zum Horizont erstreckt, und dem Gebiet, das sich jenseits des Horizontes daran anschließt, selbst nicht wahrgenommen werden. Diese zweite Art der Beschränkung, die man nicht auf Anhieb bemerkt und die sich, falls überhaupt, nur von innen her bzw. nur im Diesseits manifestiert, weil uns das Jenseits nie ins Auge fällt, weckt das Interesse der Philosophie. Denn im Unterschied zu den empirischen Wissenschaften, die sich unter anderem mit dem Klassifizieren ihrer Gegenstände, also mit Grenzziehungen des ersten Typs beschäftigen, geht es namentlich der Metaphysik seit jeher um Totalitäten als Totalitäten, d. h. als abgeschlossene und folglich auch in irgendeiner Form begrenzte Ansammlungen, wie etwa die Gesamtheit des Seienden oder die Gesamtheit des Möglichen. Und dabei stellen sich die im Folgenden zu behandelnden Fragen, wie sich die Grenzen dieser Totalitäten bemerkbar machen und wie sie sich zueinander verhalten.
I Parmenides sagt: „Denn (nur) ein und dasselbe kann gedacht werden und sein“.¹ Was gedacht oder ausgesprochen werden kann, ist. Und was existiert, vermag umgekehrt auch gedacht oder ausgesprochen zu werden. Er hat Recht, aber nicht aus dem von ihm genannten Grund. Wittgenstein sagt: „Dass die Welt meine Welt ist, zeigt sich darin, dass die Grenzen der Sprache (der Sprache, die allein ich verstehe) die Grenzen meiner Welt bedeuten“.² Er hat Recht, aber nicht aus dem von ihm genannten Grund. Parmenides: „Fragment 5“. In: Die Vorsokratiker. Hrsg. und übers. von Wilhelm Capelle. Stuttgart: Kröner 2008. S. 128. Wittgenstein, Ludwig: Logisch-philosophische Abhandlung. Kritische Edition. Hrsg. von Brian McGuinness und Joachim Schulte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989. § 5.62 (seine Hervorhebungen). https://doi.org/10.1515/9783110553291-014
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II Es scheint, als ob die Welt, die Wirklichkeit, die Grenzen dessen sprenge, worauf wir uns sprachlich beziehen können. Die Sprache, die allein wir Unterrichteten verstehen, ist über ihren Erwerb nämlich in unserer Umgebung verankert: Einen Grundstock an Massentermini wie „Salz“ oder „Wasser“, an allgemeinen Termini wie „Baum“, „grün“, „schläft“, „betrachtet“ oder „kleiner als“ und an Eigennamen wie „Mama“ oder „Fido“ erlernen wir in Anwesenheit von Stoffen und Gegenständen, derer wir dabei ebenso gewahr sein müssen wie der von unseren Eltern geäußerten Wörter selbst. Wie könnte also die Semantik eines Mediums, dessen Aneignung vor Ort beginnt, jemals bis zum Rand des Universums ausgreifen? Schließlich sind wir „winzige Geschöpfe in einem unübersehbaren Weltgeschehen“³ und keine Idealisten, welche die Inhalte ihres Bewusstseins mit der Wirklichkeit verwechseln. Das Wort „Wasser“, das einem Kind am Planschbecken beigebracht wird, bezeichnet nicht bloß das Wasser, das sich darin findet, sondern alles Wasser, den ganzen verstreuten Stoff, der von derselben Art ist wie die Flüssigkeitsportion im Planschbecken,⁴ ganz gleichgültig, wie weit die restlichen Portionen davon entfernt sein mögen. Und im Gegensatz zur Wahrnehmung von etwas ist die sprachliche Bezugnahme auf etwas nicht durch die Lichtgeschwindigkeit limitiert: Sobald eine Referenzbeziehung wie diejenige zwischen „Wasser“ und Wasser im Idiolekt des Kindes lokal verankert worden ist, erfasst sie ohne jede zeitliche Verzögerung selbst die entlegensten Referenzobjekte, also zum Beispiel auch das H2O, das sich, falls dort welches vorhanden sein sollte, jenseits unseres 46 Milliarden Lichtjahre entfernten Beobachtungshorizontes befindet. Allerdings bleibt diese referenzielle Entgrenzung auf die wahrnehmbaren Arten von Gegenständen und Stoffen beschränkt, also auf diejenigen Arten, von denen einige makroskopische Exemplare oder Portionen in unserer Umgebung angetroffen werden können oder von denen einige Exemplare trotz ihrer astronomischen Distanz mit bloßem Auge zu erkennen sind: die Sonne und etliche weitere Sterne, der Mond, Venus und Mars (Planeten), Halley und Hale-Bopp (Kometen), die Milchstraße und der Andromedanebel (Galaxien). Weder die prädikative – „Mama schläft“, „Fido ist ein Dackel“ – noch die attributive Ver-
Nagel, Thomas: Der Blick von nirgendwo. Übers. von Michael Gebauer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992. S. 14. Der Originaltext klingt in einer lyrischen Weise prosaischer: „we are small creatures in a big world“. Siehe Putnam, Hilary: „The Meaning of ‚Meaning‘“. In: ders.: Mind, Language and Reality. Cambridge: Cambridge University Press 1975. S. 231.
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knüpfung – „warmes Wasser“, „braune Hunde“ – der grundlegenden Termini vermag die sprachliche Bezugnahme auf darüber Hinausgehendes auszudehnen. Denn die Prädikation subsumiert bloß das eine referenziell bereits Erfasste unter das andere, während die Attribution aus zwei referenziell bereits erfassten Entitäten lediglich deren Schnittmenge herausgreift.
III Die Sprache hält freilich weitere syntaktische und semantische Instrumente bereit. Das eine davon ist die sogenannte Applikation eines relativen (d. h. zweistelligen) Terminus auf einen singulären oder einen allgemeinen (d. h. einstelligen) Terminus. Auch die elementaren relativen Termini wie „betrachtet“ oder „kleiner als“ erlernt ein Kind angesichts makroskopischer Gegenstände: Mama betrachtet einen Baum, Fido ist kleiner als Mama. Angenommen, Staubkörner seien die kleinsten, Galaxien hingegen die größten Objekte, derer wir ohne technische Hilfsmittel gewahr sein können. Dann führt uns die Applikation von „kleiner als“ auf den singulären Terminus „dieses Staubkorn“ mit rein sprachlichen Mitteln ins Feld des Mikroskopischen, letztlich (und zunächst unwissentlich) bis hinunter zu den Atomen, Protonen und Quarks. Denn sie alle sind kleiner als dieses Staubkorn. „Der relative allgemeine Terminus ‚kleiner als‘ ermöglicht es uns, den alten Bereich zu überschreiten, ohne dass man den Eindruck hat, in Kauderwelsch zu verfallen. Der Mechanismus, durch den das geschieht, ist natürlich Analogie.“⁵ Entsprechend referiert der durch Applikation gewonnene Ausdruck „größer als eine Galaxie“ auf Galaxienhaufen und Galaxiensuperhaufen, und zwar unabhängig davon, ob wir diese Gegenstandsarten schon so benannt haben oder durch Riesenteleskope bereits zu beobachten vermochten. Die sprachliche Bezugnahme stößt also nicht nur in der „horizontalen“ Dimension vom Nächsten zum Fernsten, sondern dank der Applikation auch in der „vertikalen“ Dimension vom Makroskopischen zum Kleinsten oder Größen an kein Ende; sie ist kontra Wittgenstein einstweilen grenzenlos. Während sie beim endlosen referenziellen Ausgreifen im „horizontalen“ Fall auf lokal verankerte Termini angewiesen ist und damit lückenhaft bleibt, fehlen ihr im „vertikalen“ Fall zunächst die Termini, um das referenziell Erfasste auch (angemessen) zu benennen. Kleiner als ein Staubkorn zu sein, sagt über die Bausteine der Materie, über die Elektronen und Quarks, wie wir heute in etwa glauben, schließlich so gut
Quine,Willard Van Orman: Wort und Gegenstand. Übers. von Joachim Schulte. Stuttgart: Reclam 1980. S. 197.
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wie nichts aus. Und das scheint nicht dem zu entsprechen, was Parmenides uns sagen will.
IV Das potenteste Mittel der sprachlichen Bezugnahme ist die Quantifikation, wie sie in Sätzen des Typs „Jemand schläft“ oder „Alle Hunde bellen“ zum Ausdruck respektive zur Anwendung kommt. Das Indefinitpronomen „jemand“ bezieht sich auf eine nicht weiter spezifizierte Person. Logisch gesprochen handelt es sich bei diesem Pronomen um den Existenzquantor („Es gibt etwas, das …“), dessen referenzielle Reichweite auf die Klasse der Personen eingeschränkt worden ist („Es gibt etwas, das eine Person ist und das [schläft]“). Im Satz „Alle Hunde bellen“ ist es hingegen der allgemeine Terminus „Hunde“, der die Reichweite des zunächst isoliert bzw. nackt auftretenden Allquantors („Alles …“) einschränkt („Alles, das ein Hund ist, [bellt]“). Was (nachträglich) eingeschränkt wird, war (zuvor) uneingeschränkt. Für sich genommen haben der Existenz- und der Allquantor also einen unlimitierten Aktionsradius. Sie beziehen sich jeweils auf buchstäblich alles, auf den, wie die Logiker zu sagen pflegen, ganzen Wertebereich der Variablen. Denn nicht nur Allaussagen, sondern auch Existenzbehauptungen handeln bei Lichte besehen vom Redeuniversum insgesamt; dieses ist ihr eigentliches Thema oder, traditionell ausgedrückt, ihr eigentliches Subjekt: Wer behauptet, es gebe eierlegende Säugetiere, spricht von der Totalität der Gegenstände und sagt über sie aus, sie enthalte (unter anderem) Dinge, die sowohl Eier legen als auch Säugetiere sind.⁶ Das Redeuniversum, die Totalität der Gegenstände, haben wir nicht gemacht, konstituiert oder gesetzt. Es ist. Es hat keinen Ursprung und kommt nirgendwo her, denn ansonsten wäre es keine Totalität.⁷ Wir finden es vor, ja: wir finden uns selbst, à la Descartes, in ihm vor. Obwohl wir dieses Redeuniversum nicht überblicken, mehr noch: als integrale Bestandteile desselben nicht überblicken können, decken die Quantoren „es gibt“ und „alles“, denen wir die Bedeutung gegeben haben, die sie haben, es lückenlos ab. Nichts bleibt von ihnen referenziell unberücksichtigt. Im Unterschied zu den zuvor erwähnten Weisen der räumlich grenzenlosen sprachlichen Für diese mit Gottlob Freges Ausführungen zur Semantik von Quantorensätzen unverträgliche These argumentiere ich in Zur Vergegenständlichung von Eigenschaften (unpubliziertes Manuskript). Burri, Alex: Notwendige Existenz.Vortrag vom 10. November 2010 an der Universität Siegen. Die Tischvorlage zum Vortrag ist bei mir erhältlich.
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Bezugnahme kommt die Quantifikation zudem ohne inhaltliche Termini aus, also ohne Ausdrücke, deren Semantik die Anwesenheit entsprechender Gegenstände oder Stoffe in unserer Umgebung voraussetzt. So fehlt der Behauptung „Alles ist mit sich selbst identisch“ („"x.x=x“) ein inhaltliches Prädikat – was die Lückenlosigkeit des referentiellen Bezugs von „alles“ hier deutlicher hervortreten lässt als im Satz „Alle Hunde bellen“. Und wenngleich jene Behauptung keinen einzigen Gegenstand und keinen einzigen Stoff außen vor lässt, einerlei, ob wir von ihm wissen oder nicht, ist sie wahr, sogar a priori wahr.
V „Bemerkenswert am ontologischen Problem“, gibt Quine zu bedenken, „ist seine Einfachheit. Es kann in drei einsilbige deutsche Wörter gefasst werden: ‚Was gibt es?‘ Es kann zudem mit einem Wort beantwortet werden – ‚Alles‘.“⁸ Effektiv stellt „Alles existiert“ („"x$y.y=x“) eine weitere logische Wahrheit dar, welche vom gesamten Redeuniversum handelt. Freilich darf man sie nicht in einem parmenideischen Sinne auffassen. Parmenides glaubte, jede negative Existenzbehauptung wie „Pegasus gibt es nicht“ oder „Dinosaurier gibt es nicht (mehr)“ sei falsch, weil man sich in einen performativen Widerspruch verwickle, wenn man einer Sache oder Gattung, auf die man sich gedanklich oder sprachlich bezieht (Pegasus, die Dinosaurier), die Existenz abzusprechen versuche. Gäbe es Pegasus nicht, könnten wir über ihn, der sich sowohl von Xanthippe als auch von Skylla unterscheidet, überhaupt nichts aussagen, nicht einmal, es gebe ihn (im Gegensatz zu Xanthippe, aber im Einklang mit Skylla) nicht.⁹ Das Wort „Dinosaurier“ ist über rückwärts gelesene Kausalketten, die zu den für uns greifbaren Dinosaurierfossilien geführt haben, referenziell mit den Dinosauriern der Vorzeit verknüpft. Diese existieren tatsächlich. Nur sind sie nicht gegenwärtig, sprich: nicht dort, wo wir uns innerhalb der vierdimensionalen Raumzeit befinden. Der Eigenname „Pegasus“ hingegen wurde nie über einen
Quine, Willard Van Orman: „Über was es gibt“. In: ders.: From a Logical Point of View / Von einem logischen Standpunkt aus. Übers. von Roland Bluhm. Stuttgart: Reclam 2011. S. 7. „[W]enn man denkt, denkt man an etwas; wenn man einen Namen gebraucht, muss es die Bezeichnung für etwas sein. Demnach setzen Denken und Sprechen Objekte außerhalb von sich selbst voraus. Und da man zu jeder beliebigen Zeit an ein Ding denken oder davon sprechen kann, muss alles, woran man zu denken oder wovon man zu sprechen vermag, immer existieren. Infolgedessen kann es keine Veränderung geben, denn die Veränderung zeigt sich darin, dass Dinge werden oder aufhören zu sein“ (Russell, Bertrand: Philosophie des Abendlandes. Übers. von Elisabeth Fischer-Wernecke und Ruth Gillischewski. Köln: Parkland 2003. S. 71).
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ostensiven Akt, über eine Taufe des Typs „Dieses Lebewesen wollen wir künftig ‚Pegasus‘ nennen!“ ins Sprachspiel eingeführt. Mithin gibt es keine Kausalkette, die ihn mit einem Gegenstand aus dem Redeuniversum verknüpfen könnte. Sofern er vom Gegenstandsbereich nicht gänzlich abgekoppelt sein soll, muss er also über eine gleichsetzende Beschreibung des Typs „das geflügelte Pferd“ ins Sprachspiel eingeführt worden sein. Die darin enthaltenen allgemeinen Termini „geflügelt“ und „Pferd“ nehmen zwar je auf Gegenstände aus dem Redeuniversum Bezug, doch findet sich unter diesen keiner, auf den beide Ausdrücke zutreffen. Folglich hat der Eigenname „Pegasus“ respektive die Kennzeichnung „das geflügelte Pferd“ kein Referenzobjekt. Und genau das sollten wir, kontra Parmenides, mit der zugegebenermaßen missverständlich formulierten Aussage „Pegasus gibt es nicht“ meinen. Da wir uns auf nichts beziehen, wenn wir den Eigennamen verwenden, hat Parmenides’ These, woran gedacht oder wovon gesprochen werden könne, existiere auch, indessen weiterhin Bestand. Umgekehrt gilt, dass alles Existierende von uns angesprochen zu werden vermag. Sätze wie „Alles ist mit sich selbst identisch“ und „Alles existiert“ leisten nämlich genau dies. Wem solche Behauptungen zu gehaltlos sind, nehme, gegen Platon, Descartes und Kripke, aber mit Hobbes, La Mettrie und Davidson, stattdessen die plausible Aussage „Alles ist materiell“ zur Hand. Denn man beachte: Selbst wenn sie falsch sein sollte, so nur deswegen, weil der Quantor „alles“ einmal mehr ganze Arbeit leistet, in diesem hypothetischen Fall also neben den materiellen Dingen auch die immateriellen Seelen abdeckt, deren (semantisch erfasste) Präsenz in der Totalität des Wirklichen die Allaussage falsifiziert.
VI Der durch attributive Verknüpfung gebildete allgemeine Terminus „geflügeltes Pferd“ ist vermittels seiner Bestandteile referenziell in der Realität verankert. Im Unterschied zu seinen Komponenten trifft er allerdings auf nichts zu. Das gilt freilich nur kontingenterweise. Denn die beiden allgemeinen Termini „geflügelt“ und „Pferd“ bilden, anders als etwa „rund“ und „quadratisch“, kein logisch inkompatibles Paar. Es hätte mithin geflügelte Pferde geben können. Dass de facto keine geflügelten Pferde existieren, zeigt folglich, dass die Welt, die Totalität der Gegenstände, eine Grenze hat: Geflügeltes findet sich in ihr ebenso wie Pferdeartiges, geflügelte Pferde hingegen enthält sie keine. Letzteres kann ich sagen, ohne mich in einen performativen Widerspruch zu verstricken. Der Satz „Es ist nicht der Fall, dass geflügelte Pferde existieren“ hat nichts Paradoxales an sich, sondern ist schlicht und einfach wahr. Seine Wahrheit ergibt sich kompositional aus der Falschheit von „Geflügelte Pferde existieren“.
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Letzteres verdeutlicht zudem, wie die extensionale, d. h. auf den Begriffen der Bezugnahme und der Wahrheit beruhende Semantik der Sprache eine ontologische Grenze markiert, nämlich durch die Verteilung verschiedener Wahrheitswerte auf unterschiedliche Existenzsätze: „Es gibt etwas, das geflügelt ist“ und „Es gibt etwas, das ein Pferd ist“ sind beide wahr, „Es gibt etwas, das geflügelt und ein Pferd ist“ hingegen falsch. Metaphorisch gesprochen liegt die Grenze der Welt also zwischen zwei Marksteinen: einem näheren, auf dem „wahr“ steht, und einem entfernteren, in den „falsch“ eingemeißelt worden ist. Wittgenstein schreibt im Vorwort, sein Buch wolle dem Denken eine Grenze ziehen, oder vielmehr – nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken: Denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müssten wir beide Seiten dieser Grenze denken können (wir müssten also denken können, was sich nicht denken lässt). / Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein.¹⁰
Wie verhalten sich seine Ausführungen zur vorhin benutzten Marksteinmetaphorik? Während ich den Satz „Es gibt etwas, das geflügelt und ein Pferd ist“ einer Beurteilung zuführe, indem ich zunächst feststelle, dass die Klasse der geflügelten Gegenstände und die Klasse der Pferde sich nicht überlappen, also eine leere Schnittmenge bilden, betrachte ich nur die Klassen selbst. Damit bewege ich mich innerhalb der Welt. Indem ich den Satz als Ganzen danach dem Wahrheitswert „falsch“, dem äußeren Markstein, zuordne, gehe ich, gleichsam mit dem Satz im Gepäck, jedoch ein Stück über die Grenze der Welt respektive dessen, was der Fall ist, hinaus. Denn die Weltgrenze liegt zwischen dem inneren und dem äußeren Markstein. Einen derartigen Grenzübertritt kann ich aber wiederum in Worte fassen, indem ich mich beim äußeren Markstein umdrehe und in einem weiteren, jetzt rückwärtsgewandten Schritt zur Negation des ursprünglichen Satzes übergehe: „Es ist nicht der Fall, dass geflügelte Pferde existieren“ oder, äquivalent dazu, „Es ist falsch, dass geflügelte Pferde existieren“. Die Negation ist dann ihrerseits dem inneren Markstein, dem Wahrheitswert „wahr“, zugeordnet. Da solche Pendelbewegungen zwischen den Wahrheitswerten innerhalb des Versprachlichbaren vonstattengehen können, liegt die Sprachgrenze offensichtlich jenseits der Weltgrenze. Wo, steht damit freilich nicht fest.
Wittgenstein: Abhandlung. S. 2.
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VII Wittgenstein meint, die Sprachgrenze liege dort, wo der Unsinn beginne, wo unseren Sätzen der Sinn abhandenkomme. Die Sprachgrenze fiele demnach mit der Sinngrenze zusammen. Die Bedeutung des Ausdrucks „Sinn eines Satzes“ kommt im folgenden Diktum zum Vorschein: Den Sinn eines Satzes erfassen heißt erfassen, was der Fall ist bzw. was der Fall sein müsste, wenn der Satz wahr ist bzw. wahr wäre. In diesem Sinn von „Sinn“ ergibt eine widersprüchliche Behauptung des Typs „Es regnet und es regnet nicht“ keinen Sinn. Denn niemand vermöchte zu spezifizieren, unter welchen Bedingungen „Es regnet und es regnet nicht“ wahr wäre. Dennoch hat der widersprüchliche Satz einen Wahrheitswert. Er ist falsch. Und wir können ohne weiteres feststellen, dass er es ist. Auch ihn können wir anstandslos neben dem äußeren Markstein deponieren. Dementsprechend fällt die Sinngrenze nicht mit der Grenze der Sprache zusammen, sondern vielmehr mit derjenigen der Welt. Jenseits des äußeren Marksteins kommt nichts mehr. „Unsinnig“ ist keine Steigerungsform von „falsch“. Die von Wittgenstein im Jenseits verortete Antwort auf die Frage, „ob das Gute mehr oder weniger identisch sei als das Schöne“,¹¹ kann ebenso wenig eine Antwort sein, wie die Frage eine Frage ist. Denn weder das eine noch das andere ist etwas Sprachliches, auch wenn die betreffenden Wortaneinanderreihungen („Das Gute ist identischer als das Schöne“) zunächst danach aussehen mögen.Weil nur das von Natur aus Sinnhafte, also das Sprachliche im Besonderen und das Repräsentationale im Allgemeinen, unsinnig sein kann, ist das Falsche das Äußerste, das Entfernteste überhaupt. Das Falsche liegt freilich bloß einen Schritt, einen leicht zu machenden Schritt vom Wahren entfernt. Die Distanz zwischen den beiden Marksteinen ist minimal. Und das bestätigt Wittgensteins Aussage, dass die Grenzen der Sprache die Grenzen der Welt (und damit des Sinns) bedeuten, also, wie der Fingerzeig „Jetzt bist du zu weit gegangen!“, auf letztere hinweisen.
Ebd., § 4.003.
Sinngrenze, Sprachgrenze, Weltgrenze
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Literaturverzeichnis Capelle, Wilhelm: Die Vorsokratiker. Stuttgart: Kröner 2008. Nagel, Thomas: Der Blick von nirgendwo. Übers. von Michael Gebauer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992. Putnam, Hilary: „The Meaning of ‚Meaning‘“. In: ders.: Mind, Language and Reality. Cambridge: Cambridge University Press 1975. S. 215 – 271. Quine, Willard Van Orman: Wort und Gegenstand. Übers. von Joachim Schulte. Stuttgart: Reclam 1980. Quine, Willard Van Orman: „Über was es gibt“. In: ders.: From a Logical Point of View / Von einem logischen Standpunkt aus. Übers. von Roland Bluhm. Stuttgart: Reclam 2011. S. 7 – 55. Russell, Bertrand: Philosophie des Abendlandes. Übers. von Elisabeth Fischer-Wernecke und Ruth Gillischewski. Köln: Parkland 2003. Wittgenstein, Ludwig: Logisch-philosophische Abhandlung. Kritische Edition. Hrsg. von Brian McGuinness und Joachim Schulte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989.
Guido Löhrer
Kant und Carnap über Grenzbegriffe 1 Einleitung Einen natürlichen Horizont gibt es für Betrachter, die sich auf der Oberfläche eines dreidimensionalen Himmelskörpers aufhalten oder nicht zu weit darüber. Für sie bildet der Horizont die Grenzlinie zwischen Himmel und Himmelskörper. Auf der konvexen Außenseite einer Kugel beschreibt der Horizont einen Kreis, jenseits dessen die Kugeloberfläche vom Blickpunkt des Betrachters aus nicht mehr gesehen werden kann. Wenn der Betrachter seine Position verändert, verschiebt er den ihm sichtbaren Teil der Oberfläche und des Himmels und damit den Horizont. Einen solchen Horizont gibt es nur für Betrachter, die einen Standort und eine bestimmte Perspektive einnehmen und niemals die gesamte Oberfläche ihres Himmelskörpers auf einmal betrachten können. Sub specie aeternitatis, d. h. ohne eine Erste-Person-Perspektive unter den zuvor genannten Bedingungen, existiert der Horizont nicht. Diese Eigenschaften laden dazu ein, den Ausdruck „Horizont“ und die mit ihm gebildeten Komposita als philosophische Metaphern zu verwenden. Manchen dieser metaphorisch gebrauchten Ausdrücke kann mit etwas Phantasie eine wörtliche Bedeutung zurückgegeben werden.¹ Andere Verwendungen bleiben dagegen unauflöslich metaphorisch;² dann nämlich, wenn die metaphorische Verwendung den Standpunkt des Horizonts einnimmt und man sich gedanklich auf der Grenze zwischen diesseits und jenseits des Horizonts befindet. Physisch wäre dies ein Ding der Unmöglichkeit. Prominent ist die Metapher „Horizont“ insbesondere als Wort für die Grenze menschlichen Erkennens, sinnvoller Rede, zulässiger Methoden und der berechtigten Annahme bestimmter Klassen von Entitäten. Das Bild fixiert dazu den Standort des Betrachters, um zu zeigen, worauf er nicht bloß kontingenterweise,
Das kann zugegebenermaßen eigenwillig oder sogar bizarr ausfallen. Für eine Horizontüberschreitung im wortwörtlichen Sinn empfehle ich gesunden Menschen folgende Übung. Man schlage, in Rückenlage den Blick einer niedrigen Barriere zugewandt, die Beine über den von ihr gebildeten Horizont. Blumenberg nennt sie „absolute Metaphern“. Sie gehören zu den „Grundbeständen der philosophischen Sprache“ und können zwar durch andere Metaphern ersetzt, nicht aber in nichtmetaphorische Rede aufgelöst werden. Blumenberg, Hans: „Paradigmen zu einer Metaphorologie“. In: Archiv für Begriffsgeschichte. Bausteine zu einem historischen Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Erich Rothacker. Bonn: Bouvier 1960. S. 7– 142 und S. 301– 305, hier: S. 9, vgl. S. 11. https://doi.org/10.1515/9783110553291-015
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sondern prinzipiell Zugriff hat und welche seiner weiter reichenden Ambitionen gar nicht anders als fehlgehen können. So verstanden ist der Horizont normativ. Er stellt eine Demarkationslinie dar, die gerechtfertigte von ungerechtfertigten Ansprüchen abgrenzt. Die Grenze hat dabei zwei Funktionen. Zum einen umreißt sie den Bereich des Wirklichen, des Erkennbaren und der sinnvollen Rede. Zum anderen wehrt sie den menschlichen Hang ab, über diesen Bereich hinauszugehen. Es ist ein Fencing-in und ein Fencing-out. Aber anders als bei den Kain-undAbel-Geschichten des klassischen Westerns, in denen der sesshafte Ackerbauer einen Zaun errichtet, um den Claim abzustecken und die nomadisierenden Herden der Viehhändler daran zu hindern, in sein Gelände einzudringen, soll die Grenze in besagtem philosophischen Bild das geistig Verfügbare, Erkennbare und Sinnvolle im Ganzen einfrieden und den Erkennenden vom Versuch des Grenzübertritts von innen nach außen ins geistige Niemandsland abhalten. Innerhalb der Grenze liegt das prinzipiell Zugängliche, über das sinnvoll geredet werden kann, außerhalb das prinzipiell Unzugängliche, an dem allenfalls der Schein sinnvoller Rede klebt. Wenn aber Innen und Außen durch eine Grenze scharf unterschieden sind und das Wirkliche, Erkennbare und Sinnvolle etwas ist, das innerhalb der Grenze liegt, kommt die Frage auf, wie es sich mit ebendieser Grenze verhält, die, wie es scheint, keinem von beiden, nämlich weder dem eingegrenzt Sinnvollen noch dem ausgegrenzt Sinnlosen zugehört. Wie ist ein sinnvolles Reden über diese Grenze oder, wenn man so will, über den Horizont möglich? Ich werde zwei Ansätze für die Beantwortung dieser Frage vorstellen und diskutieren. Den ersten dieser beiden Ansätze entwickelt Kant mit seiner transzendentalen Dialektik. Den zweiten finden wir in Carnaps Vorschlag dafür, wie sich Empiristen vom nominalistischen Skrupel befreien können.³ Der erste verfährt diskursiv, der zweite nimmt praktische Setzungen vor und gibt sich bei deren Rechtfertigung pragmatisch. Kant hält Standpunkt und Horizont fix. Carnap setzt auf deren Flexibilität, vervielfältigt die Horizonte und plädiert für Toleranz bei ihrer Zulassung.⁴ Beide Ansätze sind mit Problemen behaftet. Doch könnte sich herausstellen, dass wir nach Abwägung der Vorschläge mit weniger Toleranz besser fahren. Darin jedenfalls münden meine Überlegungen.
Vgl. Carnap, Rudolf: „Empiricism, Semantics, and Ontology“. In: Revue internationale de Philosophie 4 (1950). S. 20 – 48, hier: S. 21. Vgl. ebd., S. 40.
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2 Kant über Grenzbegriffe Kants Transzendentalphilosophie geht es darum, die Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis zu bestimmen. Das ist die Bedeutung des Ausdrucks „transzendental“: Es geht nicht um bestimmte Erkenntnisse, sondern um die Bedingungen, unter denen Erkenntnis möglich ist. Dazu stellt Kant in Anlehnung an die Rechtswissenschaft zwei Arten von Fragen. Die Quaestio facti fragt nach Tatsachen und nach der Art und Weise, wie man zu Erkenntnissen gelangt. Die Quaestio iuris fragt nach der Rechtmäßigkeit solcher Verfahren des Erkenntnisgewinns und verlangt eine Rechtfertigung für die mit ihnen verknüpften Ansprüche. Dabei geht es Kant vor allem um die Arten von Begriffen, von denen wir Gebrauch machen. – Ich präsentiere die Theorie im Schnelldurchgang. Kant beginnt mit empirischer Erkenntnis. Unsere Sinne werden von Gegenständen, die außerhalb all unseres sinnlichen und intellektuellen Zugriffs liegen, gereizt oder, wie Kant sagt, affiziert. Dadurch gewinnen wir zunächst nur eine chaotische Mannigfaltigkeit sinnlicher Eindrücke oder Anschauungen, die unser Verstand so präpariert, dass sie allesamt in räumlicher oder zeitlicher Form gehabt werden. Raum und Zeit sind reine bzw. apriorische Formen der sinnlichen Anschauung. Sie sind selbst nichts Sinnliches, sondern Bedingung der Möglichkeit sinnlicher Anschauungen. Wendet unser Verstand auf Anschauungen empirische Begriffe an, dann ordnen diese die Anschauungen in einem Urteil so, dass aus Anschauung und Begriff zusammen für uns eine Erscheinung wird: ein Gegenstand der Erfahrung. Empirische Begriffe sind dadurch gerechtfertigt, dass es diese Erfahrung gibt. Gegenstände der Erfahrung stellen die „objektive Realität“ der an ihrer Konstitution beteiligten Begriffe unter Beweis.⁵ Sie zeigen, dass diese Begriffe weder leer noch sonst irgendwie fragwürdig sind. Neben den reinen Formen der Anschauung und den empirischen Begriffen kennt Kant reine Verstandesbegriffe bzw. Kategorien. Sie werden nicht auf Anschauungen angewandt, sondern steuern den Verstandesgebrauch. Prominent unter diesen reinen Verstandesbegriffen ist die Kategorie der Kausalität, die den Verstand alle Gegenstände der Erfahrung in der Sinnenwelt qua Ursache und Wirkung miteinander verknüpft denken lässt. Nun kommen wir den Grenzbegriffen näher. In einer Kette von Wirkungen und ihren Ursachen, die der Verstand denkt, hat nämlich jede Wirkung eine Ursache, die ihrerseits Wirkung einer Ursache ist, und so fort. Hier tritt nun ein natürlicher und ununterdrückbarer Hang der menschlichen Vernunft auf den Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe neu herausgegeben von Jens Timmermann, Hamburg: Meiner 1998. B 116 f.
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Plan, sich etwas zu denken und für wirklich zu nehmen, was in der Kausalkette mit dem soeben skizzierten Regress ein Ding der Unmöglichkeit ist, nämlich eine erste Ursache, die nicht wieder Wirkung einer vorausgehenden Ursache ist. Damit überschreitet die Vernunft die Grenze legitimen Vernunftgebrauchs, indem sie einen Begriff für konstitutiv hält, dessen rechtmäßiger Gebrauch ausschließlich regulativ sein kann. Aufgabe einer Selbstkritik der Vernunft ist es darum einerseits, diesem natürlichen Hang entgegenzutreten, ihm aber andererseits auch eine Brücke dorthin zu bauen, wo dieser Hang auf legitime Weise befriedigt werden kann.⁶ Dazu dienen reine Vernunftbegriffe bzw. transzendentale Ideen, die ausschließlich auf den Verstand angewendet werden. „[D]ie transzendentalen Ideen“, so Kant,⁷ sind niemals von konstitutivem Gebrauche, so, daß dadurch Begriffe gewisser Gegenstände gegeben würden […] Dagegen aber haben sie einen vortrefflichen und unentbehrlichnotwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten […].
Woher aber spricht eine Vernunft, die ungerechtfertigte Erkenntnisansprüche zurückweist und den Verstand mithilfe regulativer Totalitäts- und Einheitsvorstellungen anleitet, als da sind: die Einheit des Subjekts, die Einheit der Sinnenwelt als vollständiger Reihe der Bedingungen und der Inbegriff des Möglichen? Wenn wir mit dem Verbot, alle transzendenten Urteile der reinen Vernunft zu meiden, das damit dem Anschein nach streitende Gebot, bis zu Begriffen, die außerhalb dem Felde des immanenten (empirischen) Gebrauchs liegen, hinauszugehen, verknüpfen: so werden wir inne, dass beide zusammen bestehen können, aber nur gerade auf der Grenze alles erlaubten Vernunftgebrauchs; denn diese gehört ebenso wohl zum Felde der Erfahrung als dem der Gedankenwesen […].⁸
Die Ideen dienen der Grenzbestimmung menschlichen Vernunftgebrauchs. Sie mahnen, nicht über die Erfahrung hinauszugehen und von Dingen außerhalb der Erfahrung als Dingen an sich selbst urteilen zu wollen. Wir halten uns aber auf dieser Grenze, wenn wir unser Urteil bloß auf das Verhältnis einschränken, welches die Welt zu einem Wesen haben
Vgl. Kant, Immanuel: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Akademie-Ausgabe. Bd. 4. Berlin: de Gruyter 1968. S. 253 – 384, hier: § 57, S. 354. Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 672. Kant: Prolegomena. § 57. S. 356 f. Vgl. ebd., § 56. S. 350.
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mag, dessen Begriff selbst außer aller Erkenntnis liegt, deren wir innerhalb der Welt fähig sind.⁹
Hält man sich aber auf der Grenze, dann ist der Begriff von Dingen an sich selbst nur der eines Noumenon oder ein Grenzbegriff,¹⁰ etwas, was man sich denken muss, um sich die Affektion der Sinnlichkeit denken zu können, mit der ich eben begonnen habe. Auf der Grenze denkt sich die Vernunft eine Relation, deren grenzjenseitigem Relatum sie eine Funktion unterstellt, sich dagegen aller Urteile über seinen Inhalt verbietet. So verstanden sind die Begriffe der Grenze und des Horizonts Grenzbegriffe. Mit Kant gesehen, gibt es eine einzige Grenze für die Gesamtheit aller möglichen Erkenntnisse oder, wie er sagt, einen Horizont. „Der Horizont betrifft also die Beurtheilung und Bestimmung dessen, was der Mensch wissen kann, was er wissen darf, und was er wissen soll.“¹¹ Außerhalb liegt das, was für uns niemals erkennbar ist. Auf der Grenze aber sortiert die Dialektikpolizei der kritischen Philosophie mit „Zensur“ und „Kritik“ und durch „ein System der Vorsicht und Selbstprüfung“¹² auf diskursive Weise, welche Erkenntnisansprüche zulässig und welche unzulässig sind, aber auch welche Restriktionen übers Ziel hinausschießen.¹³ Geht es nicht auch etwas toleranter und regionaler?
3 Carnap über interne und externe Existenzfragen Wenn Carnap 1950 in seinem Aufsatz Empiricsm, Semantics, and Ontology darüber spricht, was existiert, vertritt er eine liberale und relativistische Position. Existenz, so lautet seine These, ist stets Existenz relativ zu einem Rahmen, System oder Begriffsschema, und die Wahl der Rahmenwerke ist unsere Sache. Wir sind darin einigermaßen frei und können mithilfe sprachlicher Festlegungen neue Existenzbereiche oder Entitätenrahmen einführen. Kritisch sollten wir bei der Prüfung
Kant: Prolegomena. § 57. S. 357. Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 310 f. Kant, Immanuel: Jäsche-Logik. Akademie-Ausgabe. Bd. 9. Berlin: de Gruyter 1968. S. 1– 150, hier: S. 41. Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 739. In den Prolegomena, § 57, S. 351, merkt Kant an, dass auch der Skeptizismus durch die „polizeilose[] Dialektik“ der Metaphysik auf den Plan gerufen wurde, dann aber „die Grenzbestimmung unseres Vernunftgebrauchs“ verfehlt habe.
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von Behauptungen sein, tolerant dagegen bei der Zulassung solcher Rahmen.¹⁴ Mit der Einführung von Entitätenrahmen und dem Gebrauch einer Sprache verpflichte man sich nämlich nicht darauf, eine metaphysische Auffassung von der Realität der in Rede stehenden Entitäten zu akzeptieren.¹⁵ Um zu zeigen, was ihm dabei vorschwebt, unterscheidet Carnap zwischen zwei Arten von Fragen: first, questions of the existence of certain entities of the new kind within the framework; we call them internal questions; and second questions concerning the existence or reality of the framework itself, called external questions.¹⁶
Wenn wir beispielsweise eine Dingsprache und einen Entitätenrahmen für gewöhnliche sichtbare Gegenstände akzeptieren – Quine sprach von „ordinary enduring middle-sized physical objects“¹⁷ –, dann können wir interne Fragen stellen wie „Lebte Homer wirklich?“, „Gibt es Einhörner?“ oder „Ist in diesem Kasten eine Kugel?“. Mithilfe empirischer Untersuchungen, die wir nach den Regeln des Rahmens durchführen, können wir Antworten auf diese Fragen finden oder dürfen zumindest darauf hoffen. Die Ausdrücke „Dingwelt“ oder „world of things“ bezeichnen keinen Teil der Wirklichkeit, sondern einen Grenzbegriff, mit dem wir uns auf die Regeln eines Rahmens festlegen oder, metaphorisch gesprochen, einen Horizont bestimmen. Dazu etablieren wir den generellen Term „Ding“, damit wir von den Entitäten in diesem Rahmen sagen können, sie seien Dinge („Eine Kugel ist ein Ding“), und führen Variablen ein, deren Werte Dinge sind.¹⁸ Anstelle dieses Rahmens könnten wir uns aber auch für einen anderen entscheiden, etwa für einen Rahmen, der nicht mit einer Dingsprache, sondern mit einer Sprache für Sinnesdaten und andere phänomenale Entitäten („a language of sense-data and other ‚phenomenal‘ entities“)¹⁹ verbunden ist. In diesem Rahmen wäre es offenkundig falsch,
Vgl. Carnap: Empiricism, S. 40. Gegen den Ausschluss bestimmter Ausdrucksweisen setzt Carnap: Logische Syntax der Sprache. Wien: Springer 1934. § 17, S. 44 f., ein „Toleranzprinzip: wir wollen nicht Verbote aufstellen, sondern Festsetzungen treffen. […] In der Logik gibt es keine Moral. Jeder mag seine Logik, d. h. seine Sprachform, aufbauen wie er will. Nur muß er, wenn er mit uns diskutieren will, deutlich angeben, wie er es machen will, syntaktische Bestimmungen angeben anstatt philosophischer Erörterungen“. Vgl. Carnap: Empiricism, S. 21 und 32. Ebd., S. 21 f. Quine, Willard Van Orman: Word and Object. Cambridge, Mass.: MIT Press 1960. S. 11. Vgl. Carnap: Empiricism, S. 30. Ebd., S. 23.
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dass Homer existiert hat. Selbst eine Kugel würde nicht existieren, es sei denn als Konstruktion verschiedener Sinnesdaten über die Zeit hinweg. Welcher Rahmen ist der richtige? Existiert die Kugel im Kasten wirklich? Mit einem emphatischen „wirklich“ gefragt, handelt es sich nach Carnaps Auffassung nicht mehr um eine rahmeninterne Frage, sondern um eine Frage nach dem Rahmen selbst bzw. nach dem Rahmen als Ganzem. Wirklichkeit ist jedoch kein Rahmen für die Existenz von etwas. Wer so redet, zeigt nur an, dass ihm kein einziger Rahmen genügen wird. Denn, so Carnap: „To be real in the scientific sense means to be an element of the framework; hence this concept cannot be meaningfully applied to the framework itself.“²⁰ Als theoretische Frage gestellt, ist die emphatische externe Existenzfrage ohne kognitiven Gehalt. Carnap identifiziert sie mit der traditionellen Existenzfrage der Philosophen. Solange Philosophen ihr jedoch keinen kognitiven Gehalt verleihen könnten, müsse diese Frage als Scheinfrage (pseudo-question) angesehen werden.²¹ Wenn das konziliant klingt, so täuscht dies. Denn fände sich irgendwann einmal eine Sprache, in der sich traditionelle Existenzfragen sinnvoll behandeln ließen, ginge es dabei zwingend wieder um interne Fragen. Das Wirkliche und die sinnvolle Rede sind nicht durch einen einzigen Rahmen begrenzt. Vielmehr geht es um eine Mehrzahl von Existenzbereichen, die jeweils durch einzelne sprachliche Rahmen begrenzt sind. Aber es gibt dem Carnap von Empiricism, Semantics, and Ontology zufolge sinnvolle Rede nur relativ zu jeweils irgendeinem Rahmen. Über rein ontologische Fragestellungen hinausgehend, kann Carnaps Position nämlich so referiert werden, dass Sätze überhaupt nur relativ zu einem Rahmen einen Gehalt besitzen. Dieser Rahmen ist durch die analytischen Sätze festgelegt, die die Sprecher in einem solchen Rahmen für wahr halten. Carnap vertritt somit einen liberalen Pluralismus der Existenzbereiche und eine relativistische Semantik und Ontologie. Nun ist Carnap zudem der Auffassung, dass externe Fragen, richtig verstanden, gar keine theoretischen Fragen sind. Vielmehr handle es sich dabei um praktische Fragen, deren Beantwortung eine Sache der praktischen Entscheidung betreffs der Struktur unserer Sprache sei. Wir müssen entscheiden, ob wir die Ausdrucksformen eines Rahmenwerks akzeptieren und verwenden oder nicht.²² Weil mit der Entscheidung für eine bestimmte Sprache keine Existenzbehauptungen gemacht würden, könne es keine Sache von Wahrheit oder Falschheit sein, einen Rahmen zu akzeptieren oder zu verwerfen. Stattdessen gehe es um
Ebd., S. 22 f. Vgl. ebd., S. 25. Vgl. ebd., S. 23.
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pragmatische Überlegungen, die sich an den Prinzipien der Leistungsfähigkeit, Fruchtbarkeit und Einfachheit des Gebrauchs einer bestimmten Sprache zu dem ihr zugedachten Zweck orientiere. Allerdings nähren sowohl der mit den externen Fragen verbundene Carnapsche liberale Pluralismus als auch sein Relativismus Zweifel daran, dass dies möglich ist. Gegen Carnaps Pluralismus hatte schon Quine eingewendet, dass es einen Standpunkt außerhalb aller Sprachsysteme, von dem aus sich Sprachsysteme und Existenzbereiche festlegen ließen, nicht gebe. Eine prinzipielle Grenzziehung zwischen internen und externen Existenzfragen ergebe darum keinen Sinn, sondern zeuge allenfalls von einer bestimmten Weltanschauung.²³ Dieses Urteil mag uns voreilig vorkommen. Denn, wie Carnap mehrfach betont, werde die Entscheidung für ein bestimmtes Sprachsystem, die selbst etwas Nicht-Kognitives ist, gleichwohl durch theoretisches Wissen beeinflusst.²⁴ Man kann demnach, auf rahmeninterne Befunde gestützt, einen leistungsfähigeren Rahmen einem minder leistungsfähigen vorziehen. Doch hat auch Carnaps semantischer Relativismus das Zeug, den Ansatz zu Fall zu bringen. Wenn es sinnvolle Sätze ebenso wie Wahrheit und Falschheit nur relativ zu einem Rahmen gibt, dann scheint auch der Disput über die Leistungsfähigkeit verschiedener Sprachen jeweils nur innerhalb einer der konkurrierenden Sprachen und relativ zu dem mit ihr gesetzten Rahmen geführt werden zu können. Auch die Beobachtungssätze und das theoretische Wissen werden in dieser Sprache und mithilfe ihrer Ausdrucksformen ausgedrückt. Dasselbe gilt für die Beurteilung der Fruchtbarkeit des Gebrauchs von Sprachformen, die Carnap als eine theoretische, nämlich empirische Frage kennzeichnet.²⁵ Um sich, beeinflusst durch theoretisches Wissen, nach reiflicher Überlegung informiert für die leistungsfähigere Sprache entscheiden zu können, muss darum so etwas wie eine Übersetzung von Sätzen der einen Sprache in Sätze der anderen Sprache möglich sein. Dann aber könnte sich zeigen, dass die Akzeptanz eines
Vgl. Quine, Willard Van Orman: „Mr. Strawson on Logical Truth“. In: The Ways of Paradox and Other Essays, revised and enlarged edition. Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1977. S. 137– 157, hier: S. 138. Vgl. Carnap, Empiricism, S. 23, 31 f. u. ö. Carnap: Logische Syntax der Sprache. § 82. S. 248: „ Der Aufbau des physikalischen Systems geschieht […] durch Festsetzungen. […] Für ihre Wahl sind erstens gewisse methodisch-praktische Gesichtspunkte maßgebend {z. B. die Tendenzen der Einfachheit, der Zweckmäßigkeit und Fruchtbarkeit für bestimmte Aufgaben). […] Die Hypothesen sind aber außerdem noch am Erfahrungsmaterial, d. h. an den jeweils vorliegenden und immer neu hinzukommenden Protokollsätzen, nachzuprüfen“. Carnap: Empiricis, S. 29 f.: „‚Are our experiences such that the use of the linguistic forms in questions will be expedient and fruitful?‘ This is a theoretical question of a factual empirical nature“.
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Rahmens nicht mehr bloß Sache einer praktischen Entscheidung ist. Denn innerhalb eines Rahmens könnten echte Meinungsverschiedenheiten zutage treten, bei denen unvermeidlich ist, dass mindestens eine Seite im Irrtum ist. Sehen wir uns ein Beispiel an, das Carnap verwendet. Geht es um die Festlegung auf ein raum-zeitliches Koordinatensystem für die Physik, haben wir neben anderen Optionen die Wahl zwischen einem System, für das jeder Raum-ZeitPunkt ein geordnetes Quadrupel mit drei Raum- und einer Zeitkoordinate ist, einerseits, und einem System oder Rahmen mit einer weiteren, vierten Raumkoordinate, andererseits.²⁶ Carnap führt dazu aus: [T]he decision to use three rather than two or four spatial coordinates is strongly suggested, but still not forced on us, by the result of common observations. If certain events allegedly observed in spiritualistic séances, e. g., a ball moving out of a sealed box, were confirmed beyond any reasonable doubt, it might seem advisable to use four spatial coordinates.²⁷
Nehmen wir an, der zwischen Dreidimensionalisten und der Vertreterin einer Theorie mit vier Raumdimensionen pragmatisch strittige Satz laute: „Eine Kugel kann einen versiegelten Kasten nur durch eine seiner Wände verlassen.“ Dieser Satz ist für die Wahl von Rahmenwerken interessant, denn er ist in einem dreidimensionalistischen Rahmen wahr, in einem vierdimensionalistischen Rahmen dagegen falsch. Nehmen wir nun zudem an, ich als Dreidimensionalist hielte ihn für wahr. Eine Vierdimensionalistin hält ihn dagegen für falsch. Sagte man mir, die Kugel sei bei einer Séance einfach verschwunden, würde ich einen Trick dahinter vermuten wie bei einer Varietéveranstaltung. Wie Kugeln sich in versiegelten Kästen normalerweise verhalten, spricht für drei Dimensionen, und wenn etwas für einen Vierdimensionalismus spricht, dann ist es vermutlich etwas anderes als die Erklärung von Vorgängen bei spiritistischen Sitzungen. Wird der Streit so ausgetragen, handelt es sich jedoch um einen Streit innerhalb des dreidimensionalistischen Rahmens. Carnap aber denkt möglicherweise an eine Meinungsverschiedenheit über Rahmenwerke hinweg; allerdings so, dass es kein externes Faktum gibt, das den Streit entscheiden könnte. Denn es gibt ja keine rahmenexterne Wirklichkeit im wissenschaftlichen Sinn, und die Wahl eines Rahmens ist keine Sache der Wahrheit, sondern eine der Zweckmäßigkeit. Wenn es sich um eine rahmenübergreifende Meinungsverschiedenheit handelte, müsste sie demnach irrtumsfrei sein. Das aber ist nicht möglich, wenn die folgende Überlegung zutrifft.
Vgl. ebd., S. 28 f. Ebd., S. 29.
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Nehmen wir den drei- und den vierdimensionalen Rahmen, die wir D und V nennen, und kennzeichnen wir die Sätze der für sie akzeptierten Sprachen mithilfe von Subskripten.²⁸ So erhalten wir: (1) „DEine Kugel kann einen versiegelten Kasten nur durch eine seiner Wände verlassenD“ ist wahr-in-D. [P] (2) „VEs ist nicht der Fall, dass eine Kugel einen versiegelten Kasten nur durch eine seiner Wände verlassen kannV“ ist wahr-in-V. [P] Damit die Rahmenwerke D und V echte Alternativen sind, müssen die in ihnen gemachten Aussagen in den relevanten Punkten inkompatibel sein. Das heißt, dass Dreidimensionalisten und Vierdimensionalisten unterschiedlicher Meinung sind. Das können sie aber nur sein, wenn sie über dasselbe reden. Also sollten die verwendeten Sätze rahmenübergreifend übersetzbar sein. (3) „DEine Kugel kann einen versiegelten Kasten nur durch eine seiner Wände verlassenD“ lässt sich korrekt mit „VEine Kugel kann einen versiegelten Kasten nur durch eine seiner Wände verlassenV“ übersetzen. [P] Wie ist das möglich? Offenbar muss zumindest folgende Bedingung erfüllt sein: Ein Satz einer Sprache kann in einen Satz einer anderen Sprache übersetzt werden, wenn unter denselben Umständen entweder beide Sätze wahr oder aber beide falsch sind. Entsprechend dürfte für die Übersetzung eines Satzes von einem Rahmen in einen anderen gelten: (4) Wenn „DSD“ korrekt mit „VTV“ übersetzbar ist, dann gilt notwendig, dass DSD dann und nur dann wahr ist, wenn VTV wahr ist. [P] Aber daraus lassen sich nun folgende logische Konsequenzen ziehen: (5) „DEine Kugel kann einen versiegelten Kasten nur durch eine seiner Wände verlassenD“ ist dann und nur dann wahr-in-D, wenn „VEine Kugel kann einen versiegelten Kasten nur durch eine seiner Wände verlassenV“ wahr-in-V ist. [3,4] (6) „DEs ist nicht der Fall, dass eine Kugel einen versiegelten Kasten nur durch eine seiner Wände verlassen kannD“ ist wahr-in-D. [2,5]
Die nachfolgenden Überlegungen stützen sich auf Löhrer, Guido / Sehon, Scott: „An Argument against Moral Relativism“. ECAP9: European Congress of Analytic Philosophy. Munich. Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, 24.08. 2017.
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Die Schritte (1) und (6) führen geradewegs zu einem Widerspruch in Rahmen D, was für alle, die die Prämissen akzeptieren, offenkundig ein Problem darstellt. (7) Eine Kugel kann einen versiegelten Kasten nur durch eine seiner Wände verlassen. [1, Zitattilgung] (8) Es ist nicht der Fall, dass eine Kugel einen versiegelten Kasten nur durch eine seiner Wände verlassen kann. [6, Zitattilgung] Diese Argumentation wird innerhalb des dreidimensionalistischen Rahmens geführt. Daran hängt jedoch nichts. Mit einem entsprechenden Argument lässt sich für den Rahmen der Vierdimensionalistin zeigen, dass auch sie in einem Selbstwiderspruch endet.Wenn das Argument korrekt ist, demonstriert es, dass es keine irrtumsfreien Meinungsverschiedenheiten gibt. Das macht es schwerer, tolerant zu sein. Doch stehen weitere Möglichkeiten im Raum. (A) Carnap könnte annehmen, der Satz „Eine Kugel kann einen versiegelten Kasten nur durch eine seiner Wände verlassen“ enthalte je nach Gebrauch unterschiedliche versteckte Indexikale wie „hier“ oder „bei uns“. Sie relativierten den Satz auf einen Rahmen. Zeigen wir ein verstecktes Indexikal in (1) und (2) mit „[Hier]“ an, erhalten wir: (1) „D[Hier] Eine Kugel kann einen versiegelten Kasten nur durch eine seiner Wände verlassenD“ ist wahr-in-D. [P] (2) „V[Hier] Es ist nicht der Fall, dass eine Kugel einen versiegelten Kasten nur durch eine seiner Wände verlassen kannV“ ist wahr-in-V. [P] Nun würde die in Prämisse (4) formulierte Regel nur dann gelten, wenn sich die versteckten Indexikale auf denselben Rahmen bezögen, und weil dies nicht der Fall ist, würde auf den ersten Blick auch nichts weiter folgen. Doch kann der Bezug auf einen Rahmen im Rückgriff auf eine Quinesche Idee mittels ewiger Sätze²⁹ folgendermaßen ausgedrückt werden: (1) „DEine Kugel kann einen versiegelten Kasten in Rahmen D nur durch eine seiner Wände verlassenD“ ist wahr-in-D. [P] (2) „VEs ist nicht der Fall, dass eine Kugel einen versiegelten Kasten in Rahmen V nur durch eine seiner Wände verlassen kannV“ ist wahr-in-V. [P] Akzeptierten wir nun ein Prinzip wie das folgende,
Quine, Word and Object. S. 193: „[A]n eternal sentence [is] a sentence whose truth value stays fixed through time and from speaker to speaker“.
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(3) „DEine Kugel kann einen versiegelten Kasten in Rahmen D nur durch eine seiner Wände verlassenD“ ist dann und nur dann wahr-in-D, wenn „VEine Kugel kann einen versiegelten Kasten in Rahmen V nur durch eine seiner Wände verlassenV“ wahr-in-V ist [P], landen wir, ganz analog zu obigem Argument, sofort wieder in einem Widerspruch. Akzeptieren wir, dass es zu jedem Satz mit einem Indexikal einen ewigen Satz à la Quine gibt, ist dieser Ausweg aus der Konsequenz des vorgelegten Arguments verbaut. Sehen wir uns einen zweiten an! (B) Rahmenwerk-Relativisten behaupten zweierlei. Erstens ist der Satz „DEine Kugel kann einen versiegelten Kasten in Rahmen D nur durch eine seiner Wände verlassenD“ wahr, der Satz „VEine Kugel kann einen versiegelten Kasten in Rahmen V nur durch eine seiner Wände verlassenV“ dagegen falsch. Zweitens übersetzen die ursprünglichen Sätze einander; so wie „It’s snowing here“ eine Übersetzung von „Hier schneit‘s“ ist, obwohl eine Äußerung von „Hier schneit‘s“ wahr und eine andere falsch sein kann, wenn die Sprecher sich an verschiedenen Orten aufhalten. Nun könnte man annehmen, der Wahrheitswert der Sätze hänge von der Wirklichkeit ab. Was aber kann das für den Rahmenwerk-Relativisten heißen, wenn es darum geht, eine Wahl anhand der Leistungsfähigkeit zu treffen, und es weder rahmenexterne noch rahmenübergreifende Tatsachen gibt, an denen oder mit deren Hilfe die Leistungsfähigkeit verschiedener Sprachen und Rahmen vergleichend getestet werden könnte?³⁰ Was bleibt? (C) Carnap könnte nun die Auffassung vertreten, Sätze verschiedener Rahmen seien nicht rahmenübergreifend übersetzbar. In diesem Fall aber redeten Dreidimensionalisten und Vierdimensionalistinnen einfach aneinander vorbei. Es liegt dann keine irrtumsfreie Meinungsverschiedenheit vor, weil es erst gar nicht zu einer Meinungsverschiedenheit kommt. Dreidimensionalisten sprechen über dreidimensionale Kästen und Kugeln. Vierdimensionalistinnen verwenden zwar die Ausdrücke „Kasten“ und „Kugel“. Doch sie reden eigentlich über etwas anderes; sagen wir, über das Verhalten von Schmästen und Schmugeln im vierdimensionalen Raum. Strenggenommen ist auch diese Bemerkung ohne den Standpunkt eines ‚kosmischen Exils‘ unzulässig.³¹ Dreidimensionalisten wissen schlicht Siehe auch Bradley, Darren: „Carnap’s epistemological critique of metaphysics“. In: Synthese (2017). § 6. URL: https://doi.org/10.1007/s11229 – 017– 1335-x (17.01. 2018). In Über Protokollsätze hatte Carnap neben dem Umgang mit Protokollsätzen in der Systemsprache die Übersetzung von Protokollsätzen unterschiedlicher Protokollsprachen in Sätze einer einzigen Systemsprache behandelt, nicht aber die Übersetzung eines einzelnen protokollsprachlichen Protokollsatzes in unterschiedliche Systemsprachen. Siehe Carnap, Rudolf: „Über Protokollsätze“. In: Erkenntnis 3 (1932/1933), S. 215 – 228. Quine: Word and Object. S. 275 f.
Kant und Carnap über Grenzbegriffe
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nicht, was Vierdimensionalistinnen tun, wenn sie Geräusche und Schriftzeichen produzieren, auf die sich Dreidimensionalisten prinzipiell keinen Reim machen können. Nach dieser Lesart ist Carnaps Ansatz keine Spielart des Relativismus mehr. Wie die externe Entscheidung für ein bestimmtes Sprachsystem in Carnaps Sinn durch rahmeninternes theoretisches Wissen beeinflusst werden kann, ist unter diesen Auspizien unklar. Für die Festlegung von Rahmenwerken bleibt allein ein dezisionistischer Akt übrig. Dieser Akt ist nicht das Resultat einer rationalen Nutzenabwägung, die durch theoretisches Wissen beeinflusst wird. Denn die externe Entscheidung ist ja die Bedingung der Möglichkeit rahmeninternen theoretischen Wissens. Damit sind wir zurück bei Quine und seinem Einwand, dass es einen Standpunkt außerhalb aller Sprachsysteme, von dem aus sich Sprachsysteme und Existenzbereiche festlegen ließen, nicht gibt. Bestenfalls redete man einem Dezisionismus das Wort. Und so könnte sich, nur nach einer Abwägung der Ansätze von Kant und Carnap geurteilt, der weniger tolerante von beiden, nämlich der Kantische, als der standfestere erweisen.
4 Schlussbemerkung Die Metapher „Horizont“ wird als Wort für die Grenze menschlichen Erkennens, sinnvoller Rede, zulässiger Methoden und der berechtigten Annahme bestimmter Klassen von Entitäten gebraucht. Dabei handelt es sich um den Ausdruck für einen Grenzbegriff. Mithilfe von Grenzbegriffen bestimmt die Vernunft, sich auf der genannten Grenze haltend, wissenschaftliche Ausdrucksformen und Entitätenrahmen und unterscheidet gültige von ungerechtfertigten Erkenntnisansprüchen. Ich habe zwei Ansätze für den Umgang mit solchen Grenzbegriffen behandelt: die transzendentale Dialektik Kants, die wir in diesem Zusammenhang monistisch nennen dürfen, weil sie eine einzige Grenze bzw. einen einzigen Horizont bestimmt, und Carnaps Unterscheidung zwischen internen und externen Fragen, die es mit der Zulassung von Rahmen und Horizonten tolerant halten will. Wenn das hier vorgelegte Argument aus der Übersetzbarkeit korrekt ist, scheitert Carnaps Pluralismus, weil der mit ihm verknüpfte Relativismus in jedem Rahmen in einen Widerspruch führt. Der Versuch, diesem Widerspruch zu entgehen, indem man eine rahmenübergreifende Übersetzbarkeit bestreitet, führt jedoch in einen kaum weniger misslichen Dezisionismus. Ceteris paribus stünde Kants Monismus besser da als Carnaps Pluralismus der Rahmen und Horizonte. Doch Vorsicht! Die Schwierigkeiten, die Toleranz bei der Zulassung von Sprachrahmen, Entitätenrahmen und Horizonten aufwirft, sprechen selbstverständlich
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Guido Löhrer
nicht bereits für das, was Kant „einen transcendentalen, besser kritischen Idealism“³² genannt wissen wollte.
Literaturverzeichnis Blumenberg, Hans: „Paradigmen zu einer Metaphorologie“. In: Archiv für Begriffsgeschichte. Bausteine zu einem historischen Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Erich Rothacker. Bonn: Bouvier 1960. S. 7 – 142 und S. 301 – 305. Bradley, Darren: „Carnap’s epistemological critique of metaphysics“. In: Synthese (2017). URL: https://doi.org/10.1007/s11229 – 017 – 1335-x (17. 01. 2018). Carnap, Rudolf: „Über Protokollsätze“. In: Erkenntnis 3 (1932/1933). S. 215 – 228. Carnap, Rudolf: „Empiricism, Semantics, and Ontology“. In: Revue internationale de Philosophie 4 (1950). S. 20 – 48. Carnap, Rudolf: Logische Syntax der Sprache. Wien: Springer 1934. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe neu herausgegeben von Jens Timmermann. Hamburg: Meiner 1998. Kant, Immanuel: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Akademie-Ausgabe. Bd. 4. Berlin: de Gruyter 1968. S. 253 – 384. Kant, Immanuel: Jäsche-Logik. Akademie-Ausgabe. Bd. 9. Berlin: de Gruyter 1968. S. 1 – 150. Löhrer, Guido/ Sehon, Scott: „An Argument against Moral Relativism“. ECAP9: European Congress of Analytic Philosophy. Munich. Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript. 24. 08. 2017. Quine, Willard Van Orman: Word and Object. Cambridge, Mass.: MIT Press 1960. Quine, Willard Van Orman: „Mr. Strawson on Logical Truth“. In: The Ways of Paradox and Other Essays, revised and enlarged edition. Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1977. S. 137 – 157.
Kant, Prolegomena, § 13, S. 294.
Holt Meyer
Ein Chronotopos „am Rande des Horizonts“ Dmitrij Karamazovs Fluchtpunkt des äußersten Westens Beyond the horizon across the divide Round about midnight, weʼll be on the same side […].¹ (Bob Dylan)
Vorwort: „über dem westlichen Horizont“ In diesem Text geht es um den Schluss des letzten Romans von Fedor Michajlovič Dostoevskij, Bratja Karamazovy / Die Brüder Karamazov. Hier wird der Horizont angesprochen, und zwar auf eine Weise, die sowohl für den Roman als auch für das Problem „Horizont“ bedeutsam ist. Das Ziel dieser Studie ist es, diese beiden Aspekte herauszuarbeiten. Die Stelle im Roman bzw. das Motiv ist in der Forschung bisher nicht mit sonderlicher Intensität bzw. mit Tiefgang behandelt worden, schon gar nicht mit Blick auf das Problem des Romans selbst.² Ich möchte hier beginnen, dieses Manko zu beheben. Ich setze in meinem ersten Abschnitt bei einem anderen literarischen Horizont an, der ein gutes halbes Jahrhundert zuvor aufgeschrieben wurde. Dies wiederum mache ich auch deshalb, weil sich die im Jahr 1880 entstandene Dostoevskij-Stelle direkt auf diesen Text bezieht. Die Dostoevskij-Stelle ist insgesamt intertextuell gesättigt, auch mit Blick auf russische Literatur aus der Epoche Dostoevskijs, wovon weiter unten die Rede sein wird. Der intertextuelle Bezug, um den es an dieser Stelle geht, ist derjenige, der explizit in der Dostoevskij-Passage angesprochen wird: J. F. Coopers The Last of the Mohicans (1823). An der betreffenden Stelle geht es um einen Ort um eine bestimmte Zeit (wie es überhaupt für Horizont charakteristisch ist), die mit den Worten „above the western horizon“ („über dem westlichen Horizont“), oder wie es in der jüngsten Übersetzung heißt: „im Westen […] über dem Horizont“³, versprachlicht wird. Im Text heißt es, dass in einem bestimmten Moment an diesem Ort der „Mond […] in
Dylan, Bob: „Beyond The Horizon“. 2006. https://www.bobdylan.com/songs/beyond-horizon/ (29.08. 2018). Joseph Frank spricht die Stelle im letzten Band seiner Dostoevskij-Biographie The Mantle of the Prophet an. Vgl. Anm. 29. http://www.rp-net.ru/book/OurAutors/saraskina/amerika.php (31.08. 2018). Cooper, James Fenimore: Der Letzte Mohikaner. München: Hanser 2013. S. 214. https://doi.org/10.1515/9783110553291-016
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einer gewaltigen Masse schwarzen Wolken versunken [war]“, die ihrerseits „drohend […] hingen“ (so die neueste Übersetzung weiter). Hier die Stelle im Original: When the banks of the little stream were gained, Hawkeye made another halt; and, taking the moccasins from his feet, he invited Heyward and Gamut to follow his example. He then entered the water, and for near an hour they traveled in the bed of the brook, leaving no trail. The moon had already sunk into an immense pile of black clouds, which lay impending above the western horizon, when they issued from the low and devious water-course to rise again to the light and level of the sandy but wooded plain. Here the scout seemed to be once more at home, for he held on this way with the certainty and diligence of a man who moved in the security of his own knowledge.⁴
Die Handlung hier ist eine Bewegung, eine Wanderung (durch einen Fluss), bei der keine Spuren hinterlassen werden sollten. Dasselbe kann sowohl über Horizont als auch über Wolken gesagt werden: Sie verschwinden spurlos, es sei denn, sie werden in sprachlicher Beschreibung festgehalten (1823 gab es ja noch keine Fotographie). Die Handlung, die auf historische Ereignisse aus dem Jahr 1757 zurückgeht, ist wie folgt: Drei Männer, nachdem sie eine knappe Stunde lang durch ein Bachbett gewatet sind, tauchen bei den soeben beschriebenen atmosphärischen Bedingungen (Mond hinter schwarzen Wolken am „westlichen Horizont“) aus dem Bach auf, um die letzte Strecke ihrer Reise zu Fort Henry anzutreten. Die drei Männer sind Hawkeye (auch Natty Bumpo genannt, ein weißer englischsprachiger frontiersman, der jahrelang zuvor mit Uncas, dem „letzten Mohikaner“, und dessen Vater Chingachgook zusammengelebt hat), Heyward, ein englischer Offizier, und Gamut, der fromme englische Calvinist. In der englischen Festung Fort Henry erwartet sie Oberst George Munro, der Kommandant der Festung, die von französischen Truppen belagert wird. Sie geleiten Munros Töchter, Alice und Cora dorthin. Der Besuch der beiden Töchter unter offizieller Begleitung von Heyward ist auch der Anlass der gesamten Handlung des Romans. Der Umgang mit den natürlichen Bedingungen bei der Überwindung des Raums, sei es, wie in diesem Fall, mit Blick auf die Vermeidung des Hinterlassens von Spuren oder aber hinsichtlich der beschwerlichen Bewegung im Raum selbst, sind ein konstantes Motiv des Romans. Die „gewaltige[n] Masse schwarzen Wolken“ am „westlichen Horizont“ ist wohl als ein natürliches Signal dessen zu werten, dass der Partie verhängnisvolle Erlebnisse bevorstehen. Der Horizont ist nicht nur Ort des Empfangs außerirdischer Zeichen. Die Denkfigur der äußerten Linie – im Westen – ist auch, umgekehrt, die Verortung Cooper, James Fenimore: The Last of the Mohicans. Oxford: Oxford University Press 1990. S. 134.
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eines utopischen Überspringens der Unwägbarkeiten von Raum und Zeit. Diese raum-zeitliche Lokalisierung wird in folgender Stelle konkretisiert: Uncas stood, fresh and blood-stained from the combat, a calm, and, apparently, an unmoved looker-on, it is true, but with eyes that had already lost their fierceness, and were beaming with a sympathy that elevated him far above the intelligence [meine Hervorhebung], and advanced him probably centuries before, the practices of his nation.⁵
Die Wiedergabe dieser Stelle in der neuesten deutschen Übersetzung macht vom Wort „Horizont“ Gebrauch: Uncas stand, vom Kampf noch mit Blut befleckt, da als ein zwar ruhiger und scheinbar unbeeindruckter Zuschauer, aber mit Augen, die bereits alle Härte verloren hatten und von einem Mitgefühl glänzten, mit dem er weit emporstieg über den Horizont [meine Hervorhebung] seines Volkes und dessen Sitten wohl Jahrhunderte voraus war.⁶
Zwar will ich nicht so viel in eine Übersetzung investieren, in welche das Wort „Horizont“ „eingeschmuggelt“ wird. Das Verb „elevated“ und das Adjektiv „advanced“ sind aber im Original beide räumliche Metaphern, welche eine Höhe und eine Weite entwerfen, die jenen Horizont anmahnen, der in der deutschen Übersetzung explizit gemacht wird. Die Verwendung des „Horizont“-Begriffs beim „letzten Mohikaner“ Uncas, der am Ende von einem Huron heimtückisch ermordet wird, ist ein Verweis auf den vom Erzähler geltend gemachten Umstand, dass Uncas „centuries before the practises of his nation“ sei. Die „practises of his nation“ werden wiederum in der neuesten deutschen Übersetzung mit „Sitten“ des „Volks“ konkretisiert (mit nation/ Volk sind die „indians“ insgesamt gemeint). Uncas sei diesen „wohl Jahrhunderte voraus“. Uncas ist „jenseits des Horizonts“ bzw. an dessen gerade noch sichtbarem „Rand“. Dorthin hat ihn seine übermenschliche „sympathy“ transportiert. Die Übersetzerin will mit dem Begriff „Horizont“ einen raum-zeitlichen Punkt festhalten, an dem die Vermenschlichung der crème de la crème der Ureinwohner ihren Höhepunkt erreicht hat, einen Punkt, der aber nur ideell erreicht wird, da der überaus edle Stamm mit der Tötung von Uncas ausstirbt. Damit ist wiederum die Entwicklung des äußersten „Westens“ als eines idealen Felds, das Europa ethisch übertrifft und überholt, ein Potential, das nicht mehr erreicht wird. Eine normative Historiographie ist in jener „advanced him probably centuries before“
Cooper: The Last of the Mohicans. S. 115. Cooper: Der Letzte Mohikaner. S. 214.
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enthalten, dessen verräumlichendes „advanced“ als „Horizont“ eingedeutscht wird. Anhand dieser beiden Passagen kann man erste Fragen nach einem fiktionalen Horizont (und auch einem Horizont der Fiktion) stellen, vermittels dessen der ideale – und deshalb dem Untergang geweihte – Ureinwohner zu einer besonderen Art von „Randgestalt“ wird: Der Horizont ist nicht Grenze, sondern eine Linie oder Parabel, hinter der sich entweder himmlische Zeichen oder gar nichts befinden. Der Horizont ist eine nec-plus-ultra-Verortung, welche raum-zeitlich ist, da der Horizont selbst durch einen beweglichen Standpunkt erst entsteht. Die Gerichtetheit dieser verzeitlichten Verortung gen Westen entspricht einem Amerika-Topos bzw. U-Topos, demgemäß die europäische koloniale Bewegung über den Atlantik einer Reinigung potentiell gleichkommt.⁷ Eine Verbindung oder ein Bündnis mit den edlen Mohikanern (oder mit diesem einen letzten Mohikaner Uncas, der „Jahrhunderte voraus“ ist,) kommt einer moralischen Entlastung oder gar einer Erlösung der kolonialen Aggressoren gleich. Man kann auch von einer Auflösung von deren unethischen Handlungen sprechen, die durch die eine Bewegung an jenen Horizont bewerkstelligt wird. An diesem Horizont werden himmlische Signale von außen hineingegeben. In die andere Richtung zum Horizont hin gedacht wird – durch die Identifikation mit Uncas und seiner „sympathy“ – ein Überspringen von Jahrhunderten „schmutziger“ Geschichte in eine edle, reine Sphäre potentiell ermöglicht. Indem man sich an den Horizont im necplus-ultra-Westen begibt und eine Gemeinschaft mit dessen einzigen und letzten Einwohner herstellt, wird man selbst zum Agenten der Veredelung, der das eigene imperial-koloniale Handeln reinwäscht. Der Course of Empire (so ein Zyklus des aus England nach Amerika ausgewanderten Malers Thomas Cole, der auch Szenen des Romans The Last of the Mohicans einige Jahren nach dem Erscheinen des Buches in Ölgemälden visualisiert hat⁸), der Lauf ausdrücklich „westlicher“ imperialer Geschicke, ist in dieser literarischen Verortung der „indians“ emphatisch präsent, aber so, dass es einen potentiellen äußersten Westen gibt, einen Horizont, der der horizontalen Bewe-
Dieser Topos findet sich häufig in der Dichtung von George Berkeley (1685 – 1753), z. B. im Gedicht „Westward the course of empire takes its way“. Vgl. Daniel Herrmanns Artikel „Westward“. In: Christopher Riopelle u. a. (Hrsg.): Ed Ruscha. The Course of Empire. London: National Gallery 2018. S. 36 – 39, in dem ein Gedicht von Berkeley mit ähnlichen Motiven einbezogen wird. Die Gemälde, die gewöhnlicherweise in den Räumen der New Yorker „Historical Society“ hängen, wurden im Jahre 2018 in einer besonderen Cole-Ausstellung im New Yorker Metropolitan Museum of Art, dann in der Londoner National Gallery gezeigt. Vgl. den Katalog dieser Ausstellung: Kornhauser, Elizabeth und Barringer, Tim: Thomas Cole’s Journey: Atlantic Crossings. New York: Metropolitan Museum of Art 2018.
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gung dorthin eine vertikale, eine erlösende Komponente verleiht. Mit dem „western horizon“, der ein Signal des Unheils enthält, lässt der Text die Natur selbst Grenzen und Grenzfälle der historischen Entwicklung anzeigen, und zwar in diesem Fall als Hinweis auf das Erlöschen des Lichts der Erlösung, welche vom letzten Mohikaner ausging. Ich möchte argumentieren, dass für Coopers Last of the Mohicans und diesen Text, der in der nun zu analysierenden Passage einen direkten Bezug zu Cooper herstellt, Dostoevskijs Brüder Karamazov, der Horizont von den hier skizzierten Visionen des trans-westlichen Westens informiert ist, wobei der „Westen“ allerdings mit geradezu entgegengesetzten ideologischen Vorzeichen versehen ist. Der Horizont ist in den beiden literarischen Fällen nicht ein Punkt, wo eine hermeneutische „Verschmelzung der Horizonte“ denkbar ist. Es ist ein einziges Bewusstsein allein, das an dieses äußerste Außen denkt, allerdings eben im Dialog mit dem jüngsten, mit dem „heiligen“ Bruder Aleksej. Diese Eigenschaft teilt Dostoevskijs Horizont mit demjenigen in Coopers Text. In beiden Fällen kann man am „westlichen Horizont“ einen Fluchtpunkt oder Nullpunkt ausmachen: Die Anordnung wird anhand einer Kontrollstelle skizziert, die insofern selbst einen Nullwert hat, als er außerhalb der symbolischen Ordnung liegt. Die symbolische Ordnung wird aber, so wie in der Zentralperspektive, von hier aus beherrscht.⁹ Dieses will ich nun anhand der Dostoevskij-Stelle belegen.
Dmitrij Karamazovs ortloser „Westen“ Auch hier hat ein anderer den Mord vollbracht, aber einer, der zu dem Ermordeten in derselben Sohnesbeziehung stand wie der Held Dmitri, bei dem das Motiv der sexuellen Rivalität offen zugestanden wird, ein anderer Bruder, dem bemerkenswerterweise Dostojewski seine eigene Krankheit, die vermeintliche Epilepsie, angehängt hat, als ob er gestehen wollte, der Epileptiker, Neurotiker in mir ist ein Vatermörder. (Sigmund Freud)¹⁰
Vgl. zur Integration des Fluchtpunkts der Zentralperspektive in eine Geschichte der Null in: Rotman, Brian: Signifying nothing: the semiotics of zero. Stanford: Stanford University Press 1990. Vgl. auch meinen Einbezug dieses Gedankengangs mit Blick auf Pavel Florenskij und seine Ablehnung der Zentralperspektive als „westlicher Irrweg“: Meyer, Holt: „Getting the (Vanishing) Point: What is Reversed in Florenskii’s ‚Reverse Perspective‘? or: What’s Albrecht Dürer Got To Do With It?“ In: Franz, Norbert: Pavel Florenskij – Tradition und Moderne: Beiträge zum internationalen Symposium an der Universität Potsdam, 5. bis 9. April 2000. Frankfurt am Main: Peter Lang 2001. S. 381– 401. Freud, Sigmund: „Dostojewski und die Vatertötung“. In: Freud, Sigmund: Studienausgabe, Band X. (Bildende Kunst und Literatur) Frankfurt am Main: Fischer 1969. S. 282.
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In einer der beiden Handlungslinien im Epilog von F. M. Dostoevskijs letztem Roman Bratja Karamazovy/ Die Brüder Karamazov malt der zu Unrecht des Vatermords überführte Dmitrij Karamazov Fluchtpläne (die Erreichung eines buchstäblichen Fluchtpunkts) aus, welche ein Auswandern nach Amerika im Mittelpunkt haben. Wohin genau geographisch in Amerika Dmitrij gelangen möchte, scheint er selbst nicht zu wissen. Die literarischen Anhaltspunkte aus dem im vorigen Abschnitt behandelten Roman Coopers klären über die genaue Geographie nicht auf, auch wenn mit Fort Henry an Lake George im jetzigen Bundesstaat New York der Coopersche Roman einen genau festgelegten Locus hat. Dieselbe geographische Unbestimmtheit kann man der Angabe, der Ort befinde sich „am Rande des Horizonts“ (na kraju gorizonta), zuschreiben, auch wenn diese Unbestimmtheit eine andere Qualität hat. Die Verortung ist insofern „para-geographisch“ bzw. „para-kartographisch“, als die nicht im objektiven universellen Raum liegende Angabe „Horizont“ den Raum auf bestimmte Weise ordnet: als Fluchtpunkt. Hier die entsprechende Stelle im Original und in den neusten deutschen und englischen Übersetzungen. – Ну так вот как я решил, Алексей, слушай! – начал он опять, подавив волнение, – с Грушей туда приедем – и там тотчас пахать, работать, с дикими медведями, в уединении, где-нибудь подальше. Ведь и там же найдется какое-нибудь место подальше! Там, говорят, есть еще краснокожие, где-то там у них на краю горизонта [meine Hervorhebung], ну так вот в тот край, к последним Могиканам. Ну и тотчас за грамматику, я и Груша. Работа и грамматика, и так чтобы года три. В эти три года аглицкому [meine Hervorhebung] языку научимся как самые что ни на есть англичане. И только что выучимся – конец Америке! Бежим сюда, в Россию, американскими гражданами.¹¹ „Also, ich habe folgendes beschlossen, Alexej“, fuhr er fort, nachdem er Herr seiner Erregung geworden war. „Sobald Gruscha und ich dort sind, werden wir sofort pflügen, arbeiten, unter wilden Bären, in der Einsamkeit, irgendwo weit weg. Es muss sich auch dort ein Ort finden, weit weg von allem. Dort soll es ja noch Rothäute geben, irgendwo am Rande des Horizonts [meine Hervorhebung], und dann wollen wir dorthin, zu den letzten Mohikanern. Und dann setzen wir uns sofort hinter die Grammatik, ich und Gruscha. Arbeit und Grammatik, und das drei Jahre lang. Und in diesen drei Jahren werden wir Englisch [meine Hervorhebung] können wie eingefleischte Engländer. Und sobald wir es gelernt haben – Schluß mit Amerika! Dann fliehen wir hierher, nach Rußland, als amerikanische Bürger.“¹² „So this is what I’ve decided, Alexei, listen!“ he began again, suppressing his excitement. „Grusha and I will arrive there – and there we’ll immediately set to work, digging the land,
Dostojewskij, Fjodor Michajlovič: Brat’ja Karamazovy. Sankt-Peterburg: Petropolis 2015. S. 776. Dostojewskij, Fjodor: Die Brüder Karamasow, übers. von Swetlana Geier. Frankfurt am Main: Fischer 2003. S. 1221– 1222.
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with the wild bears, in solitude, in some remote place. Surely there must be some remote places there. People say there are still redskins there, somewhere on the edge of the horizon [meine Hervorhebung], so we’ll go to that edge, to the last Mohicans. And we’ll immediately start on the grammar, Grusha and I.Work and grammar – about three years like that. In three years we’ll learn Engullish [meine Hervorhebung] as well as any downright Englishman. And as soon as we’ve learned it – good-bye America! We’ll flee here, to Russia, as American citizens.“¹³
Ich bezeichne den raum-zeitlichen para-kartographischen Punkt „am Rande des Horizonts“ trotz seiner geographischen Unbestimmtheit als den „äußersten Westen“, als welchen er nicht explizit bezeichnet wird, da hier offenkundig eine kulturelle Ost-West-Arbeit betrieben wird. Der Effekt dieser Arbeit ist es, „Russland“ gegenüber allem „Englischen“ zu profilieren (Dmitrij unterscheidet überhaupt nicht zwischen Amerikanern und Engländern – „wie eingefleischte Engländer“). Das Lernen des Englischen, der Erwerb der amerikanischen Staatsangehörigkeit und die physische Entstellung bis zur Unkenntlichkeit sind die erwünschten Effekte des Aufenthalts an diesem „ortlosen Ort“ „am Rande des Horizonts“. Ein wichtiger Faktor wurde von der Forschung nicht aufgegriffen, sehr wohl aber von einer neueren Übersetzung: Das Wort für „Englisch“ wird im Russischen fehlerhaft formuliert: „anglickij“ statt „anglijskij“. Die neueste englischsprachige Übersetzung nutzt dafür den Begriff „engullish“. Diese Effekte und Einschätzungen werden als Voraussetzung der anonymen Wiederaufnahme in die russische, d. h. „östliche“ Gemeinschaft angesetzt. In dieser Studie möchte ich diese narrative Linie als ein Beispiel einer russischen bzw. östlichen „Erfindung des Westens“¹⁴ anführen. Es wird ein „Westen“ erfunden, um die para-kartographischen Konturen des „eigenen Ostens“ abzustecken. Es ist ein amerikanischer Westen, eine extreme westliche Peripherie. Im folgenden Abschnitt möchte ich die Spezifika und Komplexitäten dieser (buchstäblich chirurgischen) Operation skizzieren. Dabei wird sich herausstellen, dass die von Freud herausgearbeitete „psychische Auslagerung“ des VatermordImpulses unter den Karamazov-Brüdern eine Art „geopolitisches“ Pendant erhält, auch deshalb, weil diese von Dmitrij im Gespräch mit Aleksej entworfene quasi-
Dostoevsky, Fyodor M.: The Brothers Karamazov, übers. von Richar Pevear und Larissa Volokhonsky. New York: Farrar, Strauss and Giroux 2002. S. 765. „Anglickij“ kann auch als archaische Form aufgefasst werden. Durch ihre Übersetzung schlagen sich Pevear und Volokhonsky auf die Seite derjenigen, die hier eine grammatische Fehlleistung sehen und übersetzen entsprechend. Ich würde hier zustimmen, auch weil die sehr vagen und falschen Vorstellungen über jenen „englischen“ Bereich durch diesen Fehler im Russischen unterstrichen wird. GoGwilt, Christopher: The Invention of the West. Joseph Conrad and the Double-Mapping of Europe and Empire. Stanford: Stanford University Press 1995.
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fiktionale narrative Linie ihre Entsprechung in Ivans – ebenfalls im Dialog mit Aleksej entworfene – „Legende vom Großinquisitor“ findet.¹⁵ Die „Legende“ ist – gerade in ihrem doppelten Status – auf unübersehbar massive Weise mit einer spirituellen und philosophischen „West“-Auseinandersetzung verbunden, die in dem über ein und ein viertel Jahrhundert seit deren Veröffentlichung in subtile Auseinandersetzungen und in grobe Politisierungen geflossen bzw. umgeleitet worden ist. Ich möchte eine zentrale Rolle der Entsprechung bzw. Äquivalenz – als „Echo“ oder als „Pendant“ – geltend machen. Dies ist eine von mehreren Komponenten meiner Argumentation, welche den am Ende des Romans aufscheinenden äußerst westlichen Horizont zum extrem aussagekräftigen Element macht. Der Ansatz Freuds zum Roman, obwohl literaturwissenschaftlich aufgrund der Verwendung des Textes zur psychoanalytischen Diagnose des Autors problematisch, wird aus der Sicht meines Ansatzes wieder interessant. Freud „verräumlicht“ insofern die Karamazov-Brüder, und daneben ihren Autor, indem er sie sich metonymisch aufeinander beziehen lässt, und auch synekdochische Verhältnisse (Krankheit steht für Träger der Krankheit und wandert durch benachbarte Personen, wie im Motto dieses Abschnitts ausgeführt). Wenn Dmitrij sich ausmalt, an den Rand der „Zivilisation“ zu gehen, um sich von der Schuld reinzuwaschen und sich wieder – auch ironischerweise physisch durch Unkenntlichkeit – „Russland-tauglich“ zu machen, so setzt sich diese Kette der Übertragung fort, allerdings so, dass im (ebenfalls metonymischen) Dialog mit dem Bruder eine Spur vom äußersten „Westen“ und ihren „Rothäuten“ aufgenommen wird. Auch dies ist ein Aspekt dessen, dass die absolute Peripherie, der Rand (des Horizonts), instrumentalisiert wird, um wieder zum einzig möglichen Zentrum eines russischen Menschen, dem Leben in Russland selbst (so die Haltung Dmitrijs) zu gelangen.
Ränder des „westlichen Horizonts“ Zahlreiche Ränder des „westlichen Horizonts“ sind in der Textstelle auszumachen. Ich behandele hier davon fünf. Der erste Rand stellt den unmittelbaren Anlass der Studie dar und bietet gewissermaßen deren Material auf. Die weiteren fünf Sachverhalte stellen einen Versuch dar, diese textuelle bzw. narrative Gegebenheit für einen Zugang
Dostojevskij: Brat’ja Karamazovy. S. 268 – 286.
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fruchtbar zu machen, den man unter dem Begriff „West-Studien“ zusammenfassen könnte. Es ist zwar im Text nicht gesagt, dass die Fluchtbewegung Dmitrijs westwärts erfolgt (denn er ist beim Gefangenentransport erst einmal ostwärts unterwegs und gelänge in diese Richtung ggf. auch nach „Amerika“), „ideologisch“ betrachtet ist der anvisierte vorübergehende Aufenthaltsort von Dmitrij im äußersten „Westen“, was ich im Weiteren erläutern werde. Zunächst gebe ich die weiteren vier Sachverhalte an, die den Rahmen meiner Argumentation abstecken: 1. Dmitrij Karamazovs – bereits im vorigen Abschnitt angesprochener – „ortloser Ort“ „am Rande des Horizonts“ (na kraju gorizonta). 2. Die Details der geplanten Flucht nach „Amerika“ lassen dieses Handlungselement unschwer als Parodie eines zentralen Handlungselements von Nikolaj Černyševskijs Roman Čto delat‘ (Was tun?) erkennen, der anderthalb Jahrzehnte vor der Entstehung von Bratja Karamazovy geschrieben wurde. 3. Die „Schwelle“ wird von Michail Bachtin als der charakteristische – wenn bei weitem nicht der einzige – Chronotopos des reifen¹⁶ Romanciers Dostoevskij identifiziert. Der Horizont in dieser Betrachtungsweise kann als ein Beispiel, vielleicht das letzte und zugleich das großflächigste und extremste Beispiel, dieser Schwelle ausgemacht werden.¹⁷ 4. Der Ort des anvisierten vorübergehenden Exils Dmitrij Karamazovs wird mit „Rothäuten“ (krasnokožie) in Verbindung gebracht, was sowohl (auf durchsichtige Weise rassistisch verfasste) Mythologeme eines „Randes der Zivilisation“ ins Spiel bringt als auch eine „Körpermaterialität“ in die Darlegung einbezieht. Dies wiederum kennzeichnet in der Welt des Textes das „extrem
Die Reife wird im Bachtinschen Sinne als die volle Ausbildung der Dialogizität und Polyphonie in seinen letzten fünf Romanen definiert. Ein weiterer Aspekt wird von einem Theoretiker bereitgestellt, der in einer ausführlicheren Version dieser Studien unbedingt berücksichtigt werden müsste: Jurij M. Lotman. Der Horizont weist eine Strukturähnlichkeit mit jener von Lotman vor allem im Spätwerk entwickelten Theorie der „Grenze“ als eines Ortes auf, wo sowohl absolute Ausschlussverfahren als auch Übersetzungen und Hybriditäten zustande kommen. Letztere Vorgänge werden wiederum von Cornelia Ruhe in bahnbrechenden Forschungen mit postkolonialen Ansätzen verknüpft, die letztlich auf die Aneignung von Dostoevskij in Westeuropa (Frankreich, Spanien) angewandt werden. Vgl. Ruhe, Cornelia: „Invasion aus dem Osten“. Die Aneignung russischer Literatur in Frankreich und Spanien (1880 – 1910). Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2012; und Ruhe, Cornelia: La cité des poètes. Interkulturalität und urbaner Raum. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. Mit Blick auf Jurij Lotmans Begriff der „Grenze“ und auf dessen Idee der „Semiosphäre“, muss man konstatieren, dass die Linie (bzw. die Raum-Zeit) des Horizonts weder die Grenze, an der Hybriditäten und Übertragungen entstehen, noch eine Außengrenze der Kultur selbst ist, durch die sich die Kultur selbst definiert.
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Westliche“. Sowie die intertextuelle Beziehung zu Coopers Roman The Last of the Mohicans, die demonstrativ eingebettet ist, als auch die vage geographische „amerikanische Verortung“ dieses Randes lassen diese „Körpermaterialität“ als eine solche erscheinen, in deren Rahmen die „rote Haut“ nicht wie ein Körperteil funktioniert, sondern den Leib mit einer Textur überzieht. Der Epilog des Textes ist der äußerste Rand und damit auch der Horizont des Buches und auch des fiktionalen Oeuvres von Dostoevskij (mit Bachtin ist das der Rand des Romans selbst mit seiner sich potenzierenden Dialogizität).
Dieser letzte Punkt ist für eine literarisch-philosophische Betrachtung (des „Westens“) insofern wichtig, als das Ende von Dostoevskijs Schreiben mit dem in verschiedenen Programmen des russischen Realismus abgeglichen werden kann. Dessen Vertreter wiederum veranstalten eine Selbst-Aufhebung als Fiktion bzw. „bloßer Kunst“ (Tolstoj, Pisarev, insbesondere Černyševskij wären hier in Betracht zu ziehen). Damit steht der abgesteckte raumzeitliche Punkt des „Endes“ bzw. des „Beendens der Kunst“ als Horizont zur Debatte. Damit einhergehend können die von Bachtin geltend gemachten, sich in der Romangeschichte und auch im Werk Dostoevskijs (als deren Höhepunkt und Erfüllung) stets potenzierende Dialogizität und Polyphonie nicht so sehr der Literatur als der auf seine spezifisch philosophische Art aufgefassten Repräsentation der Sprache im Abschließen des fiktionalen Werks (auch wenn wenigstens ein weiterer Karamazov-Roman ursprünglich geplant war) als Parameter der Lektüre in Anschlag gebracht werden. Die Sonne der Kunst geht hier am Horizont einer wie auch immer aufgefassten (ethisch, metaphysisch, politisch) „höheren“ Wirklichkeit unter. Von diesen fünf Punkten ausgehend stelle ich eine Reihe von Ergebnissen in Aussicht, die sowohl allgemein methodologisch als auch für die DostoevskijLektüre einen gewissen Wert darstellen (und ich stelle diejenigen, welche für den raumzeitlichen Sachverhalt „Horizont“ besonders einschlägig sind, voran). Methodologisch unterstreiche ich vor allem Punkte, welche Dostoevskijs „Arbeit am ‚Westen‘“ betreffen, denn der „Rand des Horizonts“ ist eine „äußerst westliche“ Verortung und Zeitangabe. Dies ist für diesen Autor und für diesen Text naheliegend, da ja dieser Roman die sog. „Legende vom Großinquisitor“, einen der einflussreichsten und meistdiskutieren „Ost-West“-Texte der russischen Literatur, vielleicht der Literatur insgesamt, enthält.Viele, auch Sigmund Freud, lesen diese „Legende“ wiederum als Kern des Romans. Aus meiner Sicht ist die in der Stimme des Bruder Ivans gehaltene „Legende“ im Dialog mit Aleksej in der Mitte des Romans eine Echokammer für die anvisierte Aktion des Bruders Dmitrij zum Schluss: in beiden Fällen als „Westarbeit“. Beide „West-Projekte“ entstehen, wie gesagt, im Dialog mit dem jüngsten Sohn Aleksej, der die Kernfigur des Romans
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ist und den Mittelpunkt des nächsten Karamazov-Romans werden sollte, den aber Dostoevskij nicht mehr schreiben konnte. Solche methodologischen Ergebnisse sind besonders interessant, welche für Fragen der Raum-Zeitlichkeit weiterführend sind. So ist es, erstens, erhellend (pun intended), die Horizont-ähnlichen oder explizit mit dem Horizont verbundenen Begriffe „Schwelle“ (Bachtin) und „Rand“ (Dostoevskij) als keineswegs zeitlos, sondern in einer bestimmten historischen Konjunktur brisant werdenden Verortungen – also Raum-Zeitlichkeiten – zu profilieren. Der Horizont selbst ist ja, wie bereits ausgeführt, eine Raum-Zeitlichkeit. So können russisch-imperiale geopolitische Sinngebungen (in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts, den späten 30er und frühen 90er Jahre des 20. Jahrhunderts) reflektiert und/oder ausagiert und von hier aus auch russische Positionierungen des „Westens“ nachvollzogen werden, womit der Raum von Grenze bzw. Schwelle bzw. Rand aus einer abstrakten philosophischen Vorstellung in eine konkretisierende Historisierung überführt werden. Im methodologischen Bereich stelle ich, zweitens, das (das erste auch präzisierende) Ergebnis in Aussicht, dass im Motiv des Amerika-Exils eine russischenglische Sprachgrenze bei Dostoevskij bearbeitet wird, die aber dergestalt zur Kontrafaktur zu der von Černyševskij gerät, dass die Überschreitung der Grenze nicht Teil einer revolutionären Erneuerung bzw. eines Umsturzes wird, sondern zu einer vielmehr metaphysisch belegten Aufwertung eines nebulösen „heimatlichen Russischen“ beiträgt, welches das – im Russischen grammatikalisch falsch bezeichneten – „Englische“ (eigentlich das Amerikanische der 60er und 70er Jahre des 19. Jahrhunderts) als das „extrem Westliche“ als Folie einsetzt. Man kann im methodologischen Bereich, drittens, Erkenntnisse herausarbeiten, welche mit der Formulierung „Modellierungen der räumlichen Absonderung“ umschrieben werden können. Aus dieser Sicht kann man die Position des aufgrund „der sexuellen Rivalität“ (Freud) agierenden Dmitrij insofern konzeptionell fruchtbar machen, als Dmitrij mit seinem Lebenswandel, so wie sein Vater, die westliche-bürgerliche Moral zu Gunsten eines „wilden Russentums“ verwirft. So flieht Dmitrij vor einer „westlich verseuchten“ russischen Jurisprudenz in die amerikanische „Wildheit“ und lässt sich perspektivisch physisch entstellen, um dadurch „um so russischer“ zu werden und so zurückzukommen. Genau dieses soll die nicht mehr gedankliche, sondern – allerdings nur im Fluchtplan, also als „Legende“ vorhandene – physische Bewegung an den Horizont und dessen „Rand“ bewirken. Dies greife ich in der Auseinandersetzung mit „Rand 2“, der Černyševskij-Schnittstelle, im übernächsten Abschnitt wieder auf.
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In seiner berühmten späten Arbeit zu Dostoevskij unter dem Aspekt der „Vatertötung“ macht Sigmund Freud Dmitrij Karamazov zum Element in einer komplexen psychischen Strategie, wodurch das „Vatermörderische“ räumlich ausgelagert wird. In diesem Fall ist es die Krankheit: „der Epileptiker, Neurotiker in mir ist ein Vatermörder“. Es ist strukturähnlich wie Besessenheit: Der Dostoevskij-Kenner fühlt sich nämlich an die Denkfigur der Austreibung der „Dämonen“ (besy) erinnert, die im Bibel-Motto des entsprechenden Romans (zuletzt von Swetlana Geier als „Böse Geister“ übersetzt) mit in den Fluss stürzenden Schweinen auch verräumlicht werden. Die anvisierte zeitweilige räumliche Selbst-Absonderung Dmitrijs von Russland in den mit dem Konzept „Rand des Horizonts“ umschriebenen „äußersten Westen“, um dann von dort entstellt und von „zivilisatorisch infizierten“ russischen Behörden nicht identifizierbar in die „Heimat“ zurückzukommen, ist eine hoch interessante raumzeitliche Modellierung. Aus einer nach Konstituierungen des „Westlichen“ suchenden Sicht ist Dmitrij „am Rande des Horizonts“ das (taktisch „westlich“ entstellte) „Gesicht“ jener Verfolgung anti-okzidentaler Ziele, die eine wichtige Ideologie des extrem polyphonen gesamten Texts darstellt.
Rand des Horizonts 1, reload: das nackte nec plus ultra Through countries and kingdoms and temples of stone Beyond the horizon, right down to the bone […].¹⁸ (Bob Dylan)
Ich greife nun das Motto dieses Abschnitts auf und führe es mit dem Motto des Textes insgesamt zusammen. Diese Zeilen Bob Dylans bilden eine Konfiguration, welche die Sicht auf den „Horizonterand“ auch bei Dostoevskij schärfen. Zunächst unterstreiche ich die Verbindung von „beyond the horizon“ mit „right down to the bone“, um auf jene Funktion eines „Rands“ oder eines „Jenseits“ des Horizonts hinzuweisen, welche mit einem Durchgang durch „Länder“, „Königreiche“ und „Tempel“ und darüber hinaus dann mit einer Reduktion auf die nackte Materie verbunden ist. Nimmt man das Motto meines gesamten Texts hinzu, so kann man die Raum-Zeitlichkeit von „across the divide“ mit „round about midnight“ als eine Linie, hinter der man „auf derselben Seite sein wird“, in ihrer Äquivalenz mit Dmitrijs und Grušenkas „Wiedervereinigung“ mit Russland
Dylan, Bob: „Beyond The Horizon“.
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und mit dem Osten nach dem Gang an den „äußersten westlichen Rand“ hervorheben. So gesehen kann der Gang als ein solcher betrachtet werden, der sich vornimmt – um es mit Lacans Terminologie zu beschreiben¹⁹ –, die symbolische Ordnung zu verlassen und ins Reale einzutauchen. Ich würde behaupten, dass man im Lacanschen Sinne Freuds „Dostoevskij und die Vatertötung“ mit einer Arbeit über „Dostoevskij schreibt sich ins Reale ein“ fortschreiben kann. Die hier angesprochene Stelle wäre ein Paradebeispiel. Anknüpfend an das Vorwort nehme ich die Beschaffenheit des Rands wieder auf, um jene Synthese und die Beziehungen unter den Punkten anzudeuten, die sich nach dem Abarbeiten bzw. nach der Begehung aller Horizonte-Ränder bzw. Rand-Horizonte zeigen sollen. Auf dieser Basis werden weitere Einzelheiten erläutert, die in der Positionierung des Horizonts bzw. das „Horizontieren“ der Positionierung selbst (dies führt die Raum-Zeitlichkeit ein) involviert sind. Es ist naheliegend, die Černyševskij-Parodie mit der Dialogizität, also als „Polyphonisierung“ Černyševskijs zu lesen. Daher entsteht eine symbiotische Beziehung zwischen den Rändern 2 und 3, was wiederum dem räumlichen nec plus ultra auch die Qualität jener Unabschließbarkeit, die Morson und Emerson zum Grundthema Bachtins erheben, angedeihen lässt.²⁰ Die Ent-Utopisierung des Befreiungspotentials Amerikas und überhaupt des politischen Befreiungsgedankens ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, denen Dostoevskij abschwor, ohne sie ganz aufgeben zu können, nimmt womöglich diese Form an. Die explizite Erwähnung von Coopers Romanwerk kann auch in diesem Sinne aufgefasst werden (Dialogisierung und Ent-Utopisierung), und somit die „Rothäute“, deren Kontakt Dmitrij als Faktor unterstreicht, zum Signum des nec-plus-ultra bar jeder Idealisierung werden lassen. So ist die Komponente „Haut“ – neben dem nicht zu leugnenden, in der Zeit üblichen und salonfähigen blanken Rassismus – auch auf eine Reduktion auf zeichenloses Körpermaterial zurückzuführen, die auch in der Gesichtsentstellung konkretisiert wird. Hier geht es um die Rolle des „nackten Lebens“ in der Textstelle und zwar als „nacktes nec-plus-ultra“. Genau in diesem Sinne sollen die wüsten Beschimpfungen, die expliziten Hasstiraden (Ненавижу я эту Америку уж теперь!/ Ich hasse dieses Amerika schon jetzt!²¹) gelesen werden, die Dmitrij Karamazov Amerika entgegenschleudert, und zwar im gleichen Atemzug der Erläuterung des Plans, für eine Zeit dahin Lacan, Jacques: Das Seminar, Buch.11, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Berlin: Quadriga 1987. Morson, Gary Saul/ Emerson, Caryl: Mikhail Bakhtin: creation of a prosaics. Stanford: Stanford University Press 1990. Dostojevskij: Brat’ja Karamazovy. S. 775.
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zu gehen. Es ist deutlich – und dies ist beim christlich orientierten Autor Dostoevskij nicht überraschend – dass das Opfer, ins verhasste Land zu gehen, als Buße aufgefasst werden soll (über Grušenka sagt er auch, dass sie ein Kreuz zu tragen haben wird²²). Das wird im einleitenden Dialog mit Aleksej deutlich: Aleksej sagt: „[…] ich [bin] kein Richter darüber, wie du dich verhalten wirst. Du sollst allerdings wissen, daß ich dich in keinem Fall verurteilen werde. Und wie käme ich dazu, mich in dieser Sache zu deinem Richter aufzuschwingen?“²³ Darauf Dmitrij: „Dafür aber werde ich mich selbst verurteilen!“ rief Mitja. Ich werde fliehen, das war auch ohne dich beschlossene Sache: Wie könnte ein Mitjka Karamasow nicht fliehen? Aber dafür werde ich mir selbst das Urteil sprechen und meine Sünden dort mein Leben lang büßen! So sprechen doch die Jesuiten, nicht wahr? So wie wir beide, stimmt’s?“ „Genau so.“ Aljoscha lächelte still. „Ich liebe dich dafür, daß du immer die ganze Wahrheit sagst und nichts davon verheimlichst!“ rief Mitja lachend. „Ich habe also meinen Aljoscha als Jesuiten überführt! Abküssen müßte man dich dafür, so ist das! Nun sollst du den Rest hören, nun breite ich vor dir die andere Hälfte meiner Seele aus. Ich habe mir folgendes zurechtgelegt und beschlossen: Auch wenn ich fliehe, sogar mit Geld und Paß und sogar nach Amerika, tröstet mich nur der Gedanke, daß ich nicht zu meinem Vergnügen fliehe, nicht ins Glück, sondern in ein anderes Zuchthaus, das vielleicht nicht besser ist als das hiesige!“²⁴
Die Rede von den Jesuiten legt die Rede auf die Ost-West-Achse und knüpft mehr oder weniger direkt an die „Legende vom Großinquisitor“ an, in der wenigstens sechsmal auf Jesuiten hingewiesen wird. Darüber hinaus ist Amerika am Rande oder jenseits des Horizonts im Sinne einer Linie oder einer Parabel, hinter oder außerhalb derer kein Leben möglich ist. Hier ist das Schlüsselwort „Maschinisten“, bzw. die Aussage, dass die Amerikaner wohl ohne Ausnahme „Maschinisten“ und Ärzte-Mechaniker seien.²⁵ Gerade deshalb sind die Amerikaner die besten Kandidaten dafür, jene Gesichtsentstellung, jene Maskierung im Körpermaterial selbst durchzuführen, die Dmitrij braucht, um nach drei Jahren als Bürger eines anderen Landes wieder unerkannt in jenem Russland zu leben, ohne das er nicht leben kann – in jenem Russland, zu dem er Aleksej gegenüber die Liebe direkt im Anschluss an die „Maschinisten“Zuschreibung formuliert. А я-то разве вынесу тамошних смердов [meine Hervorhebung], хоть они может быть все до одного лучше меня? И хоть будь они там все до единого машинисты необъятные
Ebd. Dostojewskij: Die Brüder Karamasow, S. 1220. Ebd., S. 1221. Ebd., S. 1222.
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[meine Hervorhebung] какие, али что – чорт с ними, не мои они люди, не моей души! Россию люблю, Алексей, русского Бога люблю, хоть я сам и подлец! Да я там издохну! – воскликнул он, вдруг засверкав глазами. Голос его задрожал от слез.²⁶ Und ich, wie werde ich das Gesindel [meine Hervorhebung] dort ertragen? Mögen sie auch einer wie der andere besser sein als ich! Ich hasse dieses Amerika schon jetzt! Und wenn sie dort alle bis auf den letzten Mann unfaßliche [meine Hervorhebung] Maschinisten sind oder sonstwas – trotzdem, hol sie der Teufel, sie sind keine Menschen meiner Art, keine meiner Seele! Rußland liebe ich, Alexej, den russischen Gott liebe ich, auch wenn ich selbst ein Schuft bin! Ich werde dort eingehen!“ rief er plötzlich aus, mit blitzenden Augen. Seine Stimme zitterte vor Tränen.²⁷ And I, will I be able to stand the local rabble [meine Hervorhebung], though every last one of them may be better than I am? I hate this America even now! And maybe every last one of them is some sort of boundless [meine Hervorhebung] machinist or whatever—but, devil take them, they’re not my people, not of my soul! I love Russia, Alexei, I love the Russian God, though I myself am a scoundrel! But there I’ll just croak!“ he exclaimed suddenly, flashing his eyes.²⁸
Unübersetzbar (in der vollen Skala seiner Bedeutungen im Text) ist das russische Wort für Gesindel/rabble: smerd. Es ist eine unübersehbare Anspielung auf den Namen des eigentlichen Vatermörders, den Halbbruder: Smerdjakov. Genauso wichtig ist das etwas kuriose und schwer übersetzbare Wort neobˮjatnyj, das sich auf die amerikanischen „Maschinisten“ bezieht. Die neueste englische Übersetzung „boundless“ und die neuste deutsche Übersetzung „unfaßliche“ sollten zusammengedacht werden, um zu verdeutlichen, dass das nec-plus-ultra-Denken am „Rande des Horizonts“ hier zum Tragen kommt. Es ist insofern ein „Horizontieren“ der Positionierung selbst vorhanden, als der „äußerste Westen“ sich nicht als ein Punkt auf der Landkarte herausstellt, sondern vielmehr als eine raum-zeitliche Randstellung, eine komplette Instrumentalisierung von Raum und Zeit, um drei Jahre Amerika-Buße und ein SichAusliefern an die „Maschinisten“ gegen eine Rückkehr auf russischen Boden und in die russische Erde zu ermöglichen. Erst durch die nun folgende Argumentation kann all das plausibel gemacht werden, aber die vielfachen Konturen des nec plus ultra im Fluchtplan Dmitrijs, auch im Sinne eines Echos der „Legende vom Großinquisitor“, sollten bereits am Anfang angedeutet werden, damit die Signifikanz und das Zusammenspiel der einzelnen Komponenten bei ihrer Darlegung andeutungsweise sichtbar werden.
Dostojevskij: Brat’ja Karamazovy. S. 775. Dostojewskij: Die Brüder Karamasow. S. 1221. Dostoevsky: The Brothers Karamazov. S. 764.
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Auch an das Herausarbeiten des „Horizontierens“ der rein räumlichen Positionierung in der Hass-Liebe zum äußersten Westen und/als Amerika, die einer Operationalisierung von Raum und Zeit gleichkommt, soll angeknüpft werden. Was nun folgt, ist eine weitere Darlegung des Zusammenspiels der Faktoren. Jeder der Faktoren verdiente einen eigenen längeren Aufsatz. Dem Schwerpunkt „Horizont“ dient aber eher eine kurze Ausführung der „Polyphonie“ aller Faktoren.
Rand des Horizonts 2: Černyševskijs Was tun? Ich hatte bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass die physische Bewegung an den „amerikanischen Horizont“ eine offensichtliche Černyševskij-Parodie ist.²⁹ Aufbauend auf den Ausführungen des vorigen Abschnitts kann man postulieren, dass das Ausspielen des geliebten Russland gegen das „maschinelle“ und seelenlose Amerika direkt eine Gegenrede gegen den Umgang mit Amerika ist, die Černyševskij in seinem bekanntesten Roman inszeniert. In der Handlung von Was tun? inszeniert Dmitrij (!!) Lopuchov seinen eigenen Selbstmord, um seiner Ehefrau den Weg zur Verbindung mit seinem Freund Aleksandr Kirsanov zu ermöglichen. Er wandert nach Amerika aus und lebt dort unter dem Namen Čarl’z B’jumont (Charles Beaumont), um die entwickelte Industriegesellschaft dort zu studieren. Lopuchov/ Beaumont kehrt dann nach einiger Zeit nach Russland zurück, heiratet eine andere Frau und freundet sich wieder mit Kirsanov an. Wenn Lopuchov nach Amerika auswandert, tut er dies im Dienste einer „objektiven“ politischen und sozialen Problematik. Im privaten Bereich befreit er seine Frau, und im öffentlichen Bereich befasst er sich mit wirtschaftlich fortschrittlichen Praktiken, die er nach Russland bringen kann.
Tschernyschewski [Černyševskij], Nikolaj G.: Was tun? Reinbek: Rowohlt 1988. Die Černyševskij-Anspielung ist in der literaturwissenschaftlichen Forschung in von Joseph Frank (Dostoevsky: The Mantle of the Prophet, S. 700 – 701, siehe Anm. 2) bemerkt worden, allerdings ohne tiefschürfende Erklärung. Der Vollständigkeit halber soll L. I. Saraskinas ganz und gar nicht wissenschaftlicher Essay Amerika kak mif i utopia v tvorčestve Dostoevskogo (Amerika als Mythos und Utopie in den Werken Dostoevskijs) in der ideologisch tendenziösen Website Russkij Putʼ (Der russische Pfad) erwähnt werden, in der die Autorin ohne jedwede analytische Distanz Dmitrij Karamazovs „pro-Russentum“ emphatisch bejaht. Die Černyševskij-Anspielung bzw. Parodie erwähnt bzw. bemerkt sie nicht. Es handelt sich um ein Paradebeispiel der noch zu Lebzeiten des Autors einsetzenden und bis heute nicht abreißen wollenden Kette der politisch motivierten „Aktualisierungen“ Dostoevskijs. Sie finden nur in dieser Anmerkung Berücksichtigung.
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Während Dmitrij Lopuchovs Gang nach Amerika dem Herbeiführen der „Morgenröte“ der progressiven Menschheit, des Lebens der „neuen Menschen“, wie es im Untertitel des Romans explizit heißt, dient, will Dmitrij Karamazov dagegen incognito (bis zur Unkenntlichkeit entstellt, von sich selbst als amtlich erfassbares Individuum vernichtet), nur von Grušenka erkannt, in Russland leben. Während Lopuchov seinen amerikanischen Namen Beaumont aufgibt, um dort wieder anzuknüpfen, wo er in Russland aufgehört hat, will Dmitrij Karamazov als Person für die Öffentlichkeit bis an sein Lebensende unsichtbar, also nicht existent bleiben. Er will sich ein zweites Mal vom „Westen“ umbringen lassen, nachdem die „verwestlichten“ russischen Gerichte ihm um die Möglichkeit gebracht haben, frei unter eigenem Namen in Russland zu leben. Grušenka, um die Dmitrij mit seinem eigenen Vater sexuell rivalisiert hat, soll einfach bei Dmitrijs Identitäts-Selbstvernichtung mitmachen und als rechtliche Person einfach untergehen, während bei Černyševskijs Lopuchov die Befreiung seiner eigenen Frau von sich selbst im Mittelpunkt steht. In beiden Fällen haben wir es mit inszenierten Selbst-Vernichtungen zu tun. Dmitrij Lopuchovs fingiertem Selbstmord, mit dem Černyševskijs Roman beginnt, steht Dmitrij Karamazovs Vision einer Ausradierung seines Namens aus den Verzeichnissen der russischen Behörden gegenüber, mit dem Dostoevskijs Roman endet. Dieses Ausradieren wird durch den Gang an den „Rand des Horizonts“ herbeigeführt. Dort, so hat Dmitrij bereits bestimmt, würden er und Grušenka Landwirtschaft betreiben und mit den „Rothäuten“ im Kontakt stehen (was wiederum durch die Intertextualität mit Coopers Roman gerahmt wird), also keine neuen Techniken erlernen, mit der sie Russland wirtschaftlich voranbringen. Entscheidend ist das Land selbst, das buchstäblich abfärbt, nicht das, was die Menschen aus den natürlichen Gegebenheiten gewinnen (das Anliegen von Lopuchov-Beaumont). Das Begehen des Rands des Horizonts, das in seiner Rede ausgemalt wird, wiederholt im „äußersten Westen“ die Bewegung nach Amerika und zurück in Černyševskijs utopischem Roman unter umkehrten Vorzeichen (und ist damit Parodie reinsten Wassers): Statt Morgenröte des „neuen Menschen“ hat man in Dmitrijs Plan Horizont (bzw. dessen Rand). Dieser „Rand des Horizonts“, wo nur noch Bären, „Rothäute“ und Gesinde (smerdy) zu finden sind, ist die Stätte der maschinellen Ausradierung der visuellen Kenntlichkeit, damit, wenn auch anonym, weiterhin wie immer, wie in alten Zeiten „russisch gelebt“ werden kann. Und dieses „Russisch-Leben“ ist nicht die Tätigkeit oder Hervorbringung eines „neuen Menschen“, sondern die Rettung (in mehrfachem Wortsinn) des „alten Menschen“, des unausrottbaren Russen in jeder russischen Person, auch wenn oder gerade weil das amtliche Russe-Sein verschwindet.
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Rand des Horizonts 3: Bachtin Es ist anzunehmen, dass für Bachtin die Kurve der Entwicklung im Romanschreiben Dostoevskijs eine solche ist, in der sich die Dialogizität immer stets steigert. Damit hat die zunehmende Dialogizität der Zeit selbst – so Bachtins Betrachtungsweise³⁰ – in Dostoevskij seinen besten Vorführapparat gefunden. In diesem Zusammenhang möchte ich meine These wiederholen, dass die Zukunftsvision des Dmitrij ein Pendant zur allegorischen Vergangenheitsvision ist, die Ivan in der „Legende vom Großinquisitor“ entwickelt, wobei beide Visionen wesentliche Ost-West-Komponenten haben. Für das Problem der Dialogizität ist dies deshalb wichtig, weil der dritte der ehelich gezeugten Brüder, Aleksej, in beiden Fällen der Gesprächspartner für die Darlegung ist. Wieder wende ich mich den einleitenden Bemerkungen zur Darlegung der Zukunftsvision zu. Ich füge nun auch das russischen Original und die englische Übersetzung hinzu. Я убегу, это и без тебя решено было: Митька Карамазов разве может не убежать? Но зато себя осужу и там буду замаливать грех во веки! Ведь этак иезуиты говорят, этак? Вот как мы теперь с тобой, а? – Этак, – тихо улыбнулся Алеша. – Люблю я тебя за то, что ты всегда всю цельную правду скажешь и ничего не утаишь! – радостно смеясь, воскликнул Митя: – Значит я Алешку моего иезуитом поймал! Расцеловать тебя всего надо за это, вот что! Ну, слушай же теперь и остальное, разверну тебе и остальную половину души моей.³¹ „But I will condemn myself!“ exclaimed Mitya. „I will run away, that’s already been decided without you: how could Mitka Karamazov not run away? But I will condemn myself in return, and sit there praying for my sin forever! This is how the Jesuits talk, right? The way you and I are talking now, eh?“ „Right,“ Alyosha smiled quietly. „I love you for always telling the whole complete truth and never hiding anything!“ Mitya exclaimed, laughing joyfully. „So I’ve caught my Alyoshka being a Jesuit! You deserve kissing for that, that’s what! So, now listen to the rest, I’ll unfold the remaining half of my soul to you.“³²
In diesem einleitenden Diskurs steckt Dmitrij einen nicht nur dialogischen Rahmen, sondern dialogistisch-polyphonen Rahmen ab. Mit letzterem meine ich, dass erstens die Stimme sich als souverän (hinsichtlich einer übergeordneten Ideologie oder Autorenansicht) erweist und zweitens, dass sie sich den Worten der anderen Figurenstimmen öffnet, womit diese Souveränität wieder aufgegeben
Bachtin, Michail M.: Probleme der Poetik Dostojevskijs. Frankfurt am Main: Hanser 1985. Dostojevskij: Brat’ja Karamazovy. S. 775. Für die deutsche Übersetzung vgl. Anm. 24. Dostoevsky: The Brothers Karamazov. S. 764.
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wird. Letzteres geschieht als das demonstrative Aufgreifen des „fremden Wortes“ im eigenen Wort. Ich führe nun die zwei wichtigsten Stellen für diese Doppelbewegung an: 1. Я убегу, это и без тебя решено было: Митька Карамазов разве может не убежать?³³ Ich werde fliehen, das war auch ohne dich beschlossene Sache: Wie könnte ein Mitjka Karamasow nicht fliehen?³⁴ I will run away, that’s already been decided without you: how could Mitka Karamazov not run away?³⁵ 2. Ведь этак иезуиты говорят, этак? Вот как мы теперь с тобой, а?³⁶ So sprechen doch die Jesuiten, nicht wahr? So wie wir beide, stimmt’s?³⁷ This is how the Jesuits talk, right? The way you and I are talking now, eh?³⁸
In beiden Fällen macht Dmitrij im zweiten Teil der Aussage, d. h. im zweiten Satz, eine dialogistische Wendung, in der er das fremde Wort aufnimmt und als solches auch kommentiert. Im ersten Fall stellt er sich und dem Bruder die Frage nach „Mitka“ und Flucht. Im Original stellt er die Frage nicht konjunktivisch (im Gegensatz zur deutschen und englischen Übersetzung), d. h. wörtlich: „wie kann Mitka Karamazov nicht fliehen?“ Im zweiten Fall greift die englische Übersetzung im zweiten Teil des Zitats etwas auf, was im Deutschen fehlt: Dmitrij spricht nicht darüber, wie die beiden sind, sondern wie die beiden sprechen. Als Rahmung des Fluchtplans in die raum-zeitliche Situierung am „Rande des Horizonts“ sind diese dialogistischen Wendungen wichtig, weil im ersten Fall das „russische Wesen“ des Dmitrij Karamazov angesprochen wird und im zweiten Fall das Prekäre an der Diskursivierung dieses „russischen Wesens“ zum Ausdruck kommt. In beiden Fällen werden unterstellte Gedanken von Aleksej aufgenommen: Somit ist der paradoxe Gang in den „äußersten Westen“, um im russischen Urzustand wieder zu landen, so versprachlicht, dass ihre Wahrheit im diskursiven Zwischenraum zwischen Aleksej und Dmitrij liegt. Mit dem Kosenamen „Mit’ka“ wird Dmitrij fast nur im Dialog mit Aleksej als Selbstbezeichnung von Dmitrij selbst angesprochen. Damit ist das „russische Wesen“ Dmitrijs und die Anste-
Dostojevskij: Brat’ja Karamazovy. S. 775. Dostojewskij: Die Brüder Karamasow. S. 1221. Dostoevsky: The Brothers Karamazov. S. 764. Dostojevskij: Brat’ja Karamazovy. S. 775. Dostojewskij: Die Brüder Karamasow. S. 1221. Dostoevsky: The Brothers Karamazov. S. 764.
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ckung des Diskurses der Brüder in der „Verwestlichung“ (Jesuitentum) im dialogischen Netzwerk verortet. Diese Verortung ist die diskursive Voraussetzung für die Versprachlichung des Fluchtplans und damit der Raum-Zeit „am Rande des Horizonts“. Die Bachtinsche Doppelbewegung der Erlangung der Souveränität (gegenüber dem Autor) und deren Verlust (gegenüber dem Gesprächspartner) wird in diesen Sätzen nicht nur exemplifiziert, sondern auch thematisiert – im zweiten Fall mit expliziter Verhandlung von Ost und West (ähnlich und zugleich ganz anders als im Falle der „Legende vom Großinquisitor“) und von der Art und Weise, wie gesprochen wird (unter fast wörtlichen Wiederholungen der Rahmendiskussionen „Legende vom Großinquisitor“, insbesondere was das Jesuitentum betrifft). Eine weitere Steigerung dessen findet durch einen Einbezug der intertextuellen Beziehungen statt, und zwar mit Blick sowohl auf Černyševskij als auch auf Cooper. Ich hatte bereits angedeutet, dass die Ränder 2 und 3 symbiotisch verknüpft seien. In diesem Zusammenhang ist es interessant, sich Bachtins Bemerkungen zu Černyševskij im Rahmen seiner Studien zu Dostoevskij und der Geschichte der Dialogizität anzusehen. Im Rahmen der Dostoevskij-Studie bezieht sich Bachtin nicht direkt auf Was tun?, sondern auf ein unvollendetes Romanprojekt Černyševskijs und vor allem auf Černyševskijs eigene Beschreibung des Projekts. Bachtin deutet an, dass Černyševskij das Problem der Dialogizität als theoretisches Problem erfasst hatte, dass also der in den Brüdern Karamazov veranstaltete intertextuelle Dialog zwischen Dostoevskij und Černyševskij auch die Dialogizität selbst betraf.
Rand des Horizonts 4: Cooper (und Bruder Ivan) An das Vorwort abermals anknüpfend nehme ich die demonstrativ genannte intertextuelle Bezugnahme des Texts (im Gegensatz zum offensichtlichen, aber nicht genannten intertextuellen Bezug zu Černyševskij) auf, nämlich auf J. F. Coopers „Mohikaner“-Romantext. In den Mittelpunkt will ich diesen Status selbst stellen: Während Dmitrij Karamazovs Gang nach Amerika, um nach Russland zurückzukommen, jedem Kenner der damaligen russischen Literatur als Anspielung auf Černyševskij auffallen musste, spricht Dmitrij selbst „den letzten Mohikaner“ direkt an und wird selbst in reduzierter Form zum Autor einer Intertextualität. Erstens soll konstatiert werden, dass dieses Verfahren eine direkte Entsprechung in den zahlreichen intertextuellen Bezügen hat, mit denen Ivan Karamazov seine „Legende“ einleitet. Während Ivan ein komplexes Netz von literarischen
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und kulturellen Subtexten in die Einleitung zu seiner „Legende“ einbaut (die Dichtung von Schiller, Tjutčev und Poležev, eine russisch orthodoxe Marienlegende u. a.) und dies in ein subtiles dialogisches Wechselspiel mit Aleksej einbettet (entsprechend auch im Nachspiel, in dem Ivan und Aleksej gemeinsam die Deutung der „Legende“ vornehmen), besteht Dmitrijs sehr komprimierte intertextuelle Rahmung in der bloßen Nennung des „letzten Mohikaners“, und zwar im Rahmen der narrativen Kette selbst. Auch dem Nicht-Amerikanisten Dostoevskij wird es bekannt gewesen sein, dass es 1880 mehr als nur ein paar zerstreute „Rothäute“ in Amerika gab. Kombiniert man diese skizzenhaften Kenntnisse Dmitrijs mit dessen Gleichsetzung des Amerikanischen mit dem Englischen und dessen (nur in einer Übersetzung, der neuesten englischen, bisher reproduzierten) Unfähigkeit, das Wort „englisch“/ „anglijskij“ grammatikalisch richtig zu formulieren, bei gleichzeitiger Absicht, mit Grušenka auf der Basis eines so beschaffenen „Enklikschen“ (so könnte man das falsche russische Wort „anglickij“ wiedergeben) amerikanischer „Staatsbürger“, citoyens einer verhassten „westlichen“ Republik zu werden, wird dieses demonstrative Nicht-Wissen zu einer „Erfindung des Westens“, deren Zweck die Etablierung des „Eigenen Russischen“ ist. Hier wird, wie bereits weiter oben gesagt wurde, ein „äußerster Westen“ herbeigeholt, in dem der „maschinelle“ Mensch nur („rote“, „weiße“, usw.) Haut und Knochen ist und als solcher „bearbeitet“ wird. So wie das „Amerika-Opfer“ von Černyševskijs Lopuchov/ Beaumont durch Dmitrijs Fluchtplan parodiert wird (auch übrigens, indem Dmitrijs Grušenka nicht, wie Vera in Was tun?, emanzipiert, sondern auf patriarchale Weise so gut wie ungefragt als Dmitrij-Anhängsel in das Opfer-Geschehen, in die Kreuz-Tragung, mit aufgenommen wird), wird die bei Cooper inszenierte Begegnung der „weißen“ imperialen Eroberer mit dem letzten der edlen, vom bösen HuronStamm in den Untergang getriebenen Mohikaner ebenfalls unter massiver Akzentverschiebung wiederholt (so die hier verwendete Definition der Parodie³⁹). Der Horizont, an dem vom himmlischen Jenseits Zeichen gegeben werden, zu dem der edelste aller „Indianer“ mit seiner übermenschlichen Empathie hinstrebt (siehe Vorwort), wird hier als äußerst westlicher äußerster Rand der „Zivilisation“ behandelt, und die einzige „Zivilisation“, die in diesem Diskurs zählt, ist die
Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993; Tynjanov, Jurij N.: „Dostojevskij und Gogol. (Zur Theorie der Parodie)“. In: Max Imdahl/ Wolfgang Iser/ Hans Robert Jauss/ Wolfgang Preisendanz/ Jurij Striedler (Hrsg.): Texte der russischen Formalisten I. München: W. Fink 1969. S. 300 – 371.
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russische.⁴⁰ Daher werden „Rothaut“ und „Maschine“ als Merkmale des „Enklikschen“ absolut operationalisiert, um dem Russischen zu dienen. Man hat es mit einer Art para-imperialer Unterwerfung des „Westens“ am Rande des Horizonts zu tun, mit einer Parodie des „westlichen“ Kolonialismus. Die Parodie inszeniert das Schlagen der „westlichen Nicht-Zivilisation“ mit ihren eigenen Waffen – auch mit der „Waffe“ der literarischen Veredelung der eigenen Ureinwohner, also mit Coopers „Indianer“-Narrativen.
Rand des Horizonts 5 (Fazit und Ausblick): Der Roman schaut über seinen eigenen Rand hinaus Ob der Name „Karamazov“ eine semantische Beziehung zum ihr phonetisch nahestehenden Wort „kraj“ (Rand) aufweist,⁴¹ lässt sich nicht endgültig feststellen (wie andere Hypothesen zur Bedeutung des Namens nicht einwandfrei zu belegen sind⁴²), aber für meine Argumentation hat diese lautliche Äquivalenz eine gewisse Aussagekraft. In dem Moment, wo Dmitrij Karamazov das kraj-Projekt entwickelt, den Plan, weit über den Rand seiner russischen Welt hinauszugehen, ins Land Coopers zu gehen, um ausgerechnet so sein (anonymes) Russisch-Sein zu retten, geht dieser Roman und das Romanwerk Dostoevskijs – vielleicht auch der Höhepunkt des polyphonen Romans und damit auch für Bachtin die Romangeschichte selbst – zu Ende. Auch wenn der ungewisse Ausgang des Fluchtplans von Dmitrij Karamazov ein cliffhanger vor dem Beginn des zweiten Karamazov-Romans, der nie geschrieben wurde, sein könnte, ist es naheliegend, den Gang an den Rand des Horizonts auf den Text selbst zu beziehen. Auch wenn Bachtin Černyševskijs „Perle“-Projekt als potentiell polyphon betrachtet hat, ist es durchaus denkbar, dass Černyševskijs Was tun? als monologische Stimme durch die parodistische Wiederholung eines entscheidenden Handlungselements im Chor der Stimmen im Höhepunkt der Dostoevskijschen Polyphonie aufgenommen wird und damit
In den letzten beiden Bänden seiner Dostoevskij-Biographie arbeitet Joseph Frank, beispielsweise im Nachvollzug der Auseinandersetzung mit Ivan Turgenev, die Evolution von Dostoevskijs Profilieren des Russischen im ideologischen Geflecht der 70er Jahre akribisch heraus. Das hier Analysierte erweist sich als logischer Endpunkt dieser Entwicklung zum russischen Osten hin. Ich danke meiner Kollegin Prof. Katja Grupp für diesen Hinweis. Čižova, Inna L.: „Rol’ antroponimov v raskrytii idejnogo zamysla romana F. M. Dostoevskogo ‚Brat’ja Karamazovy‘“. In: Filologičeskij klass 4(34). Nižnij Tagil 2013. S. 74– 77.
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an den äußersten „westlichen“ Rand der russischen, also „östlichen“ Selbst-Behauptung mitgeführt wird. Indem Dmitrij den Bruder Ivan (als Atheist ist er mit radikalen Demokraten wie Černyševskij zu assoziieren) mit seiner „Legende“ von der Flucht auch noch intratextuell parodiert und gewissermaßen „toppt“, dreht sich der Roman sich selbst zu. Er dreht sich auf sehr moderne Weise als Horizont und Rand des RomanGenres sich selbst zu. Damit ist Dmitrijs Fluchtplan im Epilog, also am Ende nach dem Ende,⁴³ ein Verfahren, vermittels dessen der (russische) Roman als Textsorte einen Fluchtpunkt „am Rand des Horizonts“ und eine Perspektivierung erhält. Gleichwohl bewegt sich der Gang an den Rand des Horizonts in Richtung eines Jenseits der symbolischen Ordnung selbst, denn er steuert auf einen Umgang mit nacktem Fleisch und Knochen zu. Dieses Jenseits kann als ein Fall, oder gar als Grenzfall des Verlassens der bereits „westlich“ kolonisierten Justiz- und Zeichenwelt gelten. Dmitrij Karamazov – ähnlich wie aber auch ganz anders als Černyševskijs Lopuchov / Beaumont⁴⁴ – betrachtet den Gang auf diesen (Grenz) Fall hin als einzigen Fluchtweg aus seiner Lage. Dies wiederum ist kein Fluchtpunkt, der die realistische Illusion der Dreidimensionalität ermöglicht, sondern projiziert die hypothetisch von Flucht ausgehende narrative Linie am Ende des Romans an einen Punkt, wo der „Osten“ einen „Westen“ als absolutes Jenseits erfindet, um sich selbst als „Osten“ wieder zu konstituieren. Auch in dieser Hinsicht führt der Text – auch durch eine Einbeziehung des Realen avant la lettre lacanienne – den Realismus an jenen Rand (des Horizonts), hinter dem die Moderne sichtbar wird.
Die andere Handlungslinie im Epilog, Aleksejs „Rede vom Stein“, müsste in einer umfassenden Behandlung des Problems in einem nächsten Schritt behandelt werden. Dies hätte den Rahmen dieser Arbeit gesprengt. Uffelmann: Der erniedrigte Christus. 2010.
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Holt Meyer
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Eckardt Buchholz-Schuster: Professor für das Lehr- und Forschungsgebiet „Rechtliche Grundlagen und Rahmenbedingungen der Sozialen Arbeit“ an der Hochschule Coburg Alex Burri: Professor für Theoretische Philosophie am Seminar für Philosophie der Universität Erfurt Matthias Flügge: Rektor der Hochschule für Bildende Künste in Dresden Bärbel Frischmann: Professorin für Geschichte der Philosophie am Seminar für Philosophie der Universität Erfurt Nora Held: Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Philosophie der Universität Erfurt Christian Holtorf: Professor für Wissenschaftsforschung und Wissenschaftskommunikation an der Hochschule Coburg Niko Kohls: Professor für Gesundheitswissenschaften an der Hochschule Coburg Philipp H. Lepenies: Gastprofessor für vergleichende Politikwissenschaft, Direktor des Forschungszentrums für Umweltpolitik (interim) an der Freien Universität Berlin Guido Löhrer: Professor für Praktische Philosophie am Seminar für Philosophie der Universität Erfurt Michael Makropoulos: Privatdozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin Holt Meyer: Professor für Slawistische Literaturwissenschaft am Seminar für Literaturwissenschaft der Universität Erfurt Martin Nugel: wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik der Universität Bamberg Helga Peskoller: Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Historische Anthropologie und Ästhetische Bildung an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Innsbruck. Christian Reutlinger: Professor für Sozialraumforschung und Sozialraumarbeit und Leiter des Instituts für Soziale Arbeit an der Fachhochschule St. Gallen Antje Schlottmann: Professorin für Geographie und ihre Didaktik am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt am Main