Transzendentale Dialektik: Teil 2 Vierfache Vernunftantinomie; Natur und Freiheit; intelligibler und empirischer Charakter 9783110868234, 9783110051650


223 115 8MB

German Pages 212 [220] Year 1967

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Die Antinomie der reinen
Erster Abschnitt: System der kosmologischen
Zweiter Abschnitt: Antithetik der reinen
Erste Antinomie
Zweite Antinomie
Dritte Antinomie
Vierte Antinomie
Dritter Abschnitt: Von dem Interesse der Vernunft bei diesem ihrem Widerstreite
Vierter Abschnitt: Von den transzendentalen Aufgaben der reinen Vernunft, insofern sie schlechterdings müssen aufgelöset werden können
Fünfter Abschnitt: Skeptische Vorstellung der kosmologischen Fragen durch alle vier transzendentalen Ideen
Sechster Abschnitt: Der transzendentale Idealismus als der Schlüssel zur Auflösung der kosmologischen Dialektik
Siebenter Abschnitt: Kritische Entscheidung des kosmologischen Streits der Vernunft mit sich selbst
Achter Abschnitt: Regulatives Prinzip der reinen Vernunft in Ansehung der kosmologischen Ideen
Neunter Abschnitt: Von dem empirischen Gebrauche des regulativen Prinzips der Vernunft in Ansehung der kosmologischen
I. Auflösung der kosmologischen Idee von der Totalität der Zusammensetzung der Erscheinungen zu einem Weltganzen
II. Auflösung der kosmologischen Idee von der Totalität der Teilung eines gegebenen Ganzen in der Anschauung
Schlußanmerkung zur Auflösung der mathematisch transzendentalen und Vorerinnerung zur Auflösung der dynamisch transzendentalen Ideen
III. Auflösung der kosmologischen Idee(n) von der Totalität der Ableitung der Weltbegebenheiten aus ihren Ursachen
Möglichkeit der Kausalität durch Freiheit in Vereinigung mit dem allgemeinen Gesetze der Naturnotwendigkeit
Erläuterung der kosmologischen Idee einer Freiheit in Verbindung mit der allgemeinen Naturnotwendigkeit
IV. Auflösung der kosmologischen Idee von der Totalität der Abhängigkeit der Erscheinungen ihrem Dasein nach überhaupt
Schlußanmerkung zur ganzen Antinomie der reinen Vernunft
Anhang: Ergänzendes zu den beiden Abschnitten über menschliche Freiheit und Charakter
Literaturangaben
Corrigenda
Recommend Papers

Transzendentale Dialektik: Teil 2 Vierfache Vernunftantinomie; Natur und Freiheit; intelligibler und empirischer Charakter
 9783110868234, 9783110051650

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Heinz Heimsoeth · Transzendentale Dialektik

Heinz Heimsoeth

Transzendentale Dialektik Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft

Zweiter Teil : Vierfache Vernunftantinomie; Natur und Freiheit; intelligibler und empirischer Charakter

1967

Walter de Gruyter & Co. · Berlin vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit Sc Comp.

Archiv-Nr. 36 57 671

© 1967 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer - Karl J. Trübner — Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Str. 13 (Printed in Germany) Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. O h n e ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf phütomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Paul Funk, Berlin 30

ν

INHALT

Die Antinomie der reinen Vernunft (Einleitung. S. 281—283 Β 432—436)

199

Erster Abschnitt: System der kosmologischen Ideen (S. 283—289/90 Β 436—448) Zweiter Abschnitt: Antithetik der reinen Vernunft (S. 290—321 Β 448—489) Erste Antinomie (S. 294—300 Β 454—461) Zweite Antinomie (S. 300—307 Β 462—471) Dritte Antinomie (S. 308—313 Β 472—479) Vierte Antinomie (S. 314—321 Β 480—489)

203

215 220 227 237 247

Dritter Abschnitt: Von dem Interesse der Vernunft bei diesem ihrem Widerstreite (S. 322—330 Β 490—504)

259

Vierter Abschnitt: Von den transzendentalen Aufgaben der reinen Vernunft, insofern sie schlechterdings müssen aufgelöset werden können (S. 330—335 Β 504—512)

276

Fünfter Abschnitt: Skeptische Vorstellung der kosmologischen Fragen durch alle vier transzendentalen Ideen (S. 335—338 Β 513—518)

284

Sechster Abschnitt: Der transzendentale Idealismus als der Schlüssel zur Auflösung der kosmologischen Dialektik (S. 338—342 Β 518/9—525)

287

Siebenter Abschnitt: Kritische Entscheidung des kosmologischen Streits der Vernunft mit sich selbst (S. 342—348 Β 525/6—535) .. 296

VT Achter Abschnitt: Regulatives Prinzip der reinen V e r n u n f t in Ansehung der kosmologischen Ideen (S. 3 4 8 — 3 5 2 Β 5 3 6 — 5 4 3 / 4 ) 310 N e u n t e r Abschnitt: V o n dem empirischen Gebrauche des regulativen Prinzips der V e r n u n f t in Ansehung der kosmologischen Ideen (S. 3 5 3 — 3 8 2 Β 544—595)

318

I. Auflösung der kosmologischen Idee von der Totalität der Zusammensetzung der Erscheinungen zu einem Weltganzen (S. 354—357 Β 545/6—551/2)

319

II. Auflösung der kosmologischen Idee von der Totalität der Teilung eines gegebenen Ganzen in der Anschauung (S. 357/8—360 Β 551/2—555)

323

Schlußanmerkung zur Auflösung der mathematisch transzendentalen und Vorerinnerung zur Auflösung der dynamisch transzendentalen Ideen (S. 360—362 Β 556—560/1)

329

III. Auflösung der kosmologischen Idee(n) von der Totalität der Ableitung der Weltbegebenheiten aus ihren Ursachen (S. 362/3—377 Β 560—586)

334

Möglidikeit der Kausalität durch Freiheit in Vereinigung mit dem allgemeinen Gesetze der Naturnotwendigkeit (S. 366—368 Β 566—569)

345

Erläuterung der kosmologischen Idee einer Freiheit in Verbindung mit der allgemeinen Naturnotwendigkeit (S. 368—377 Β 570—586)

352

IV. Auflösung der kosmologisdien Idee von der Totalität der Abhängigkeit der Erscheinungen ihrem Dasein nach überhaupt (S. 378—381 Β 587—592)

387

Schlußanmerkung zur ganzen Antinomie der reinen Vernunft (S. 381—382 Β 593/4)

394

Anhang: Ergänzendes zu den beiden Abschnitten über menschliche Freiheit und Charakter (S. 366—377 Β 566—586; Kommentar S. 345—386/7 • · · · 397 Literaturangaben Corrigenda

407 408

Der Transzendentalen Dialektik zweites Buch Zweites Hauptstück Das zweite Hauptstück von Kants Dialektik trägt den Titel: Die Antinomie der reinen Vernunft. Der Terminus, erstmalig eingesetzt am Ende der Einleitung zum Zweiten Buch (S. 262 Β 398) als eigene Neubenennung Kants — dort dann auch vordeutend von uns kommentiert —, wird gleich im 4. Absatz der jetzigen Vorskizzierung sprachlich-sachlich erläutert als: Widerstreit der Gesetze der reinen Vernunft. Anders als beim Widerstreit von Rechtsgesetzen in konkreten Fällen juristischer Entscheidung (was eine der Weisen im vorkantischen Gebrauch des Wortes war, — es hatte übrigens audi Eingang gefunden in die natürliche Theologie) geht es hier um sinnnotwendige Gesetzlichkeit der menschlichen Vernunft in ihrem, noch nicht durch Kritik disziplinierten, Anspruch auf beweiskräftige Einsichten im „Welt"-Thema der Metaphysik. Eine ganz neue Form „transzendentalen Scheins" und damit der „Dialektik" in Vernunftschlüssen tritt hier auf: „Widerstreit" entgegengesetzter, doch beiderseits sich als notwendig („Gesetze"!) gebender Behauptungen, Thesen — benannt von Kant als „Antithetik der Vernunft". „Antinomie" tritt in der Kritik durchweg als Singular auf 1 . Es handelt sich um einen „Zustand" (s. die Ersteinführung) unserer Vernunft in ihren auf Welt abzielenden Schlüssen (Plural); man könnte sagen: um eine Grundsituation. Der 4. Absatz spricht audi von einem neuen „Phänomen" der menschlidien Vernunft; das ist ein Ausdruck, welchen Kant in diesem Zusammenhang öfters heraushebend gebraucht 1

1

So auch nodi in der letzten aufsdilußreidien Äußerung des hohen Alters: „Nicht die Untersuchung vom Daseyn Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punkt gewesen, von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r.V. . . . ; diese war es, welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Critik der Vernunft selbst hintrieb, um das Scandal des sdieinbaren Widerspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben." Brief an Garve vom 2 1 . 9 . 1 7 9 8 . X I I 257/8. — Der später, insbesondere seit Hegel, so überwiegend gewordene Plural „Antinomien" tritt, obzwar selten, auch bei Kant auf, noch im Thema der ersten Kritik (ζ. B. Prolegomena, Anfang des § 52 c). Im übrigen spricht unser Text, zu Anfang des 2. Absatzes, rückblickend auf die vier Fehlschlüsse der rationalen Seelenmetaphysik, auch von dem Paralogismus. Heimsoeth, Transzendentale Dialektik II

200

(S. 281 Β 432/3)

hat 2 . Kant hat den Aufweis der Vernunftantinomie stets als seine eigenste „Entdeckung" angesehen. — Der 1. Absatz wiederholt die Gliederung der Dialektik-Darstellung in drei Hauptstücke, sofern diese nicht bei der Aufreihung der großen Inhaltsthemen ansetzte (Seele, Welt, Gott), sondern bei dem „logischen Schema" dreier Schlußarten3. Das Wort „Schema" geht hier nur auf den rein gedanklichen „Analogie"-Bezug zwischen formallogischen Schlußarten und den Grundweisen transzendental-dialektischer Argumentation. Kant deutet dabei zurück auf den für die Aufstellung seiner Kategorientafel so wichtig gewordenen Ausgang von den formallogischen Arten der Urteile (Analytik §§ 9 und 10); das Vorgehen in der Frage nach Grundformen des „Verstandes" hat zum Modell gedient für den Versuch, die Schlüsse der „Vernunft" (in der Metaphysik) durch Rückbezug auf formallogische Ordnungen in ein System zu bringen. — In unserem Hauptstück geht es um die Zweite Art des auf dialektischen Schlüssen beruhenden Scheins von Erkenntnissen aus reiner Vernunft: hier sind das Schlüsse, welche in Analogie stehen zu der „hypothetischen" Schlußart der formalen Logik4. Das völlig Neue der sich hier zeigenden Sonderart transzendentalen Scheins ist: die grundsätzliche Zweiseitigkeit, die „Antithetik". Der Terminus wird zu Beginn des Zweiten Abschnitts erläutert: Widerstreit entgegengesetzter kosmologischer Lehren, die beiderseits sich für gesicherte Erkenntnisse aus reiner Vernunft halten, — bzw. dann auch die transzendentale Durchleuchtung eben dieses Widerstreits, eine rein theoretische zunächst, ohne noch das „Interesse" der Vernunft („Anspruch auf Beifall") mit in Erwägung zu ziehen. — Zwar treten auch in der Frage nach dem Sein der Seele oder des 2

3

4

Prolegomena § 50: „ . . . das merkwürdigste Phänomen . . § 52 „ . . . das seltsamste Phänomen der menschlichen Vernunft, wovon sonst kein Beispiel in irgend einem andern Gebrauch derselben gezeigt werden kann." — Daß der Ausdruck „Phänomen" hier nichts zu tun hat mit dem Unterschied von Phänomena und Noumena, von „Erscheinung" und »Ding an sich" — braucht nicht betont zu werden. Es geht um eine Sinnstruktur, welche in der Transzendentalphilosophie an dem Vernunftvermögen selbst sich zeigt: „der einzig möglidie Fall, da die Vernunft ihre geheime Dialektik . . . wider ihren Willen offenbart", wie es im § 52 b der Prolegomena nodi heißt. Zu verweisen ist dafür ganz allgemein auf die Abschnitte Β und C der Einleitung II (S. 240—244 Β 359—366) samt zugehöriger Kommentierung, besonders dann nodi auf S. 251 Β 379 und S. 261-2 Β 397 f. In Kants Logik behandelt unter § 75 f. I X 129.

(S. 281 Β 43213

201

denkenden Subjekts als solchen extrem entgegengesetzte und miteinander im Streit liegende metaphysische Positionen auf: „Pneumatismus" und „Materialismus"6. Aber nur die eine dieser „dogmatischen Behauptungen", nämlich die erstgenannte, beruht auf Scheinschlüssen der reinen Vernunft und ist also die typische Lehrart des „Rationalisten"6. Die andere dagegen, der „seelenlose Materialismus" (als Erklärungsart meines Daseins faktisch schon allein durch das Prinzip der ursprünglichen Apperzeption zu widerlegen7), ist bloßes Produkt eines unbedenklich über Erfahrungsgrenzen hinaus sich erweiternden „empirischen Vernunftgebrauchs" — bestimmt von der „Naturlehre" und deren „Interesse" her, wie etwa bei Priestley8. Hier liegt also der transzendentale Schein nur auf der einen Seite. Nur im Pneumatismus sind unvermeidliche Fehlgriffe der Vernunft als soldier aufzudecken. Eben das ist jetzt, in der „Antithetik" betitelten Lage der r. V., anders: bei ihrem Vorgehen „in kosmologischer Absicht" treten zweiseitig unvermeidbare Scheinschlüsse auf — und damit Widersprüche, welche nicht, wie bei den Trugschlüssen der Sophisten, künstlich erdacht, sondern in der Natur der Vernunft selbst, in ihren eigenen „Gesetzen" angelegt sind. Der „dogmatische Schlummer" trägt hier die Beunruhigung und also einen gewissen Ansporn zum Erwachen kritischer Überlegung insofern schon immer in sich: entgegengesetzte Positionen, die beiderseits mit dem Anspruch auf reine Vernunftbeweise auftreten, haben „Zwiespalt und Zerrüttungen" innerhalb der „Rationalisten" bzw. der Dogmatiker zur Folge, während die Selbstgewißheit der „reinen Seelenlehre" leicht zum endgültigen Absterben problembewußten Lebens führen kann9. 0

Vgl. I V 238 A 3 7 9 : Aus dem Substanzen-Dualismus (Cartesianischer Abkunft) erwächst der „Pneumatismus einerseits. . . . der Materialismus andererseits": s. auch S. 273 a Β 416 a. Diese beiden Extreme in der „Erklärungsart meines Daseins" heißen auch: „Spiritualismus" und Materialismus; so S. 274 Β 420.

6

S. 272 a Β 415 a.

7

S. 274 Β 4 1 9 / 2 0 . S. 488 Β 773.

8 9

l*

Daß Kant in der Bildsprache vom Tode einer gesunden, d. h. lebendig fortarbeitenden, immer zu neuer Prüfung bereiten Philosophie das Wort „Euthanasie" in Fettdruck setzen ließ, ist wohl nur sprachlich zu erklären und hat keine weitere Sachbedeutung. — Der Bildausdruck vom dogmatischen „Schlummer", den man gewohnt ist, mit der bekannten Hume-Stelle im Vorwort der Prolegomena zu assoziieren, tritt gerade hier, in der „Antithetik", wiederholt auf, wozu auch der § 50 der Prolegomena zu nennen wäre — ebenso wie jener Rückblick Kants in dem oben als Anmerkung zitierten späten Brief.

202

(S. 281 Β 432/3)

Der 5. Absatz will die Auffächerung des Antinomieprinzips in eine Mehrheit von Themen mit je zweiseitigen Argumentationen im Vernunftbegriff von „Welt", also in eine Vielheit von „Weltbegriffen", vorbereiten. (Hier und am Ende des folgenden Ersten Abschnitts betont Kant ausdrücklich, daß er diesen pluralen Terminus neu einführt10.) Diese Begriffe von der Welt treten als Vernunftbegriffe mit dem Anspruch des „Begreifens" auf (nicht, „wie Verstandesbegriffe zum Verstehen" 11 ); da soll jeweils begriff lidi bestimmt werden eine unbedingte Totalität in Hinsicht auf das Eine „Weltganze", welches faktisch doch, für unser diskursives und auf Ansdiauung angewiesenes Denkvermögen, „nur" Idee sein kann, in keine Weise verstehenden Erfassens von Gegebenem einzufangen! Kant charakterisiert nun diese Idee und die Ideen „kosmologischer" Art von vornherein mit Begriffen seiner philosophischen Position: es geht um unbedingte Einheit der objektiven Bedingungen in der „Erscheinung", um absolute Totalität in der „Synthesis" der Erscheinungen, — und „lediglich" darum. Die Einschränkung dient an dieser Textstelle unmittelbar der Abgrenzung gegen das dritte Dialektikthema, welches auf etwas von „Welt" gänzlich Unterschiedenes geht: auf die Idee einer Totalität aller Möglich&e¿ís-Bedingungen von „Gegenständen überhaupt" (von Kant hier schon, weit vorgreifend, „Ideal" genannt — worüber später an seinem Orte). Zugleich aber liegt in jenem: „lediglich" Kants Einschränkung des Themas auf die Welt, so wie sie uns, in Raum und Zeit, gegeben ist — im Gegensatz zu einem allgemein-„transzendentalen" Weltbegriff, welcher auf die „absolute Totalität des Inbegriffs existierender Dinge" überhaupt gehen würde12. — Der letzte Satz nimmt das Er-

10

Im § 50 der Prolegomena, dessen Überschrift, im Sinne des hier Vorzubereitenden, „kosmologisdien Ideen" lautet, wird auch wieder dieser Titel als eine Neubenennung (vom Singular aus) hervorgehoben: „Ich nenne diese Idee deswegen kosmologisch . . ."

11

Vgl. im Ersten Buch der Dialektik die Abschnitte: Von den Begriffen der reinen Vernunft, und: Von den Ideen überhaupt.

12

S. 289 Β 4 4 7 : „Das Wort Welt im transzendentalen Verstände . . . " ; s. S. 299 Β 461 : „Es ist hier aber nur von dem mundus phaenomenon die Rede . . . Der mundus intelligibilis ist nichts als der allgemeine Begriff einer Welt überhaupt . . . in Ansehung dessen . . . gar kein synthetischer Satz . . . möglich ist." — Man wird bemerken, daß das „teils" im zweiten Satz des 5. Absatzes, welches auf „Erscheinung" und „empirisch" geht, seine Ergänzung durdi ein anderes „teils" vermissen läßt.

(S. 283 Β 43516)

203

gebnis der Kosmologie-Kritik vorweg: der Weltbegriff läßt, als Vernunftbegriff oder Idee, anders als alle Verstandesbegriffe, „sich mit Erscheinungen nicht vereinbaren" 13 .

7. Abschnitt: System der kosmologischen Ideen Der Erste Abschnitt handelt nun also von dieser Mehrheit kosmologischer Ideen mit der Absicht, sie, so wie in der Analytik die Kategorien oder Grundsätze oder im Ersten Hauptstück der Dialektik die Paralogismen, in ein „System" zu bringen. Der Abschnitt stellt dann auch, in seiner Mitte, eine entsprechende „Tafel" auf. — Die ersten drei Absätze bereiten das Ganze vor, in Wiederanknüpfung an die grundsätzlichen Bestimmungen der Einleitung in die Dialektik. Die dort begründete Unterscheidung der „Vernunft" (i. e. Sinne) vom \ T erstande wird jetzt dahin zugespitzt, daß den Vernunftbegriffen eigene Ursprünglichkeit (und entsprechende Erschließungskraft) abgesprochen wird; die einzelnen „Ideen" der Kosmologie sind Erweiterungstendenzen von im Erfahrungsgebraudi sich bewährenden Kategorien. So ist etwa die Welt-Größe, werde sie nun als „unendliche" oder als „endlich"-abgeschlossene behauptet, kein eigenständig-positiver Verstehensbegriff, sondern nur ein Versuch, auch das in keine mögliche Erfahrung eingehende Ganze auf das hin zu begreifen, was innerhalb der Erfahrung Quantitätsbestimmungen sind. Oder: wenn nach 13

Prolegomena § 50: „Ich nenne diese Idee deswegen kosmologisdi, weil sie ihr Object jederzeit nur in der Sinnenwelt nimmt, auch keine andere (sc. Dinge, entia) als die, deren Gegenstand ein Object der Sinne ist, braucht, mithin sofern einheimisch und nicht transzendent, folglich bis dahin noch keine Idee ist . . . " . (Eine Welt dagegen, welche ζ. B. auch auf „vernünftige Wesen überhaupt" hinzielte, wäre — jedenfalls für die theoretische Vernunft — von vornherein als transzendent anzusehen!) Bei den anderen beiden großen Themen der Vernunftmetaphysik war und ist das ja anders: „Seele" (im Sinne der Pneumatologie) und „Gott" sind schon der Sache nach als übersinnlich charakterisiert. — Es darf zur Erläuterung von Kants „Benennung" noch darauf verwiesen werden, daß „Kosmologie" in der Schultradition wesentlich auf das Gesamt des Kaumzehlidi-Physischen ging, abgesetzt gegen Psychologie und Theologie, welche dann auch wohl gemeinsam unter den Namen „Pneumatologie" gestellt wurden. — Auch Kants Zeitgenosse und Korrespondent Lambert definiert Kosmologie als: scientia entium compositorum et connexorum ratione temporis et spatii — „zusamengesetzte" Dinge oder Substanzen sind, auch bei Kant, primär die Körper.

204

(S. 283 Β 43316)

dem Weltursprung die Frage geht, so tritt damit nicht eine eigene Begriffsmacht auf, die man in Eine Reihe mit anderen ontologischen Begriffen oder mit den Kategorien des Verstandes stellen könnte. Der Gedanke eines Ersten Ursprungs bedeutet vielmehr nur eine solche „Ursache" (Kategorie der „Kausalität und Dependenz"), die ihrerseits nicht dependent von anderer Ursache ist: es wird ein Noumenon gedacht, welches von der in aller Naturerkenntnis vorkommenden Bindung an vorhergehende Ursachen „frei" gemacht worden ist. Entsprechend steht es um den (in der Ontologie der Schulphilosophie unbedenklich den kategorialen Begriffen, etwa Ursache und Substanz, koordinierten) Begriff des Einfachen, welcher ja schon in den Paralogismen seine wichtige Rolle spielte. In Wahrheit ist das kein reiner „und transzendentaler Begriff", kein solcher der uns Gegebenes verstehen läßt, sondern der bloße Gedanke einer Realität, welche nicht, wie doch jedes in Erfahrungen Vorkommende, als unterteilbar anzusehen ist — freigemacht also von den Bedingungen, die alles Zusammengesetzt-Teilbare charakterisieren. Andererseits sind alle diese „Ideen"-Begriffe eben nichts willkürlich Ausgedachtes, sondern etwas mit der Vernunfttendenz auf jene Erweiterung unserer erfahrenden Erkenntnis in der Welt, welche das Unbedingte sucht, notwendig sich Ergebendes. Die Forderung, Aufgabenstellung der Vernunft selber macht „die Kategorie zur transzendentalen Idee". — Der eine allgemeine Grundsatz d. r. V., Quelle ebenso der Paralogismen, wie der spezifischen „transzendentalen Grundsätze" metaphysischer Kosmologie, welcher zuerst im Abschnitt C der Einleitung zur ganzen Dialektik als „oberstes Prinzipium" auftrat14, wird hier erneut formuliert. Man weiß jetzt schon, daß, was Vernunft hier „fordert", zwar eine unausweichliche Aufgabe in sich schließt, aber darum doch keinesfalls als „transzendentaler Grundsatz" mißverstanden und zur Basis für welt„begreifende" Schlüsse gemacht werden darf. „Gegeben" nämlich im eigentlichen Sinne ist das schlechthin Unbedingte (sei es der Weltganzheit im großen oder derselben in der Dimension der Aufteilung oder des Erwirkens) nie; gegeben sind unserem Anschauen und Denken immer nur Teilbereiche der Weltrealität, nie deren „ganze Summe". Und dennoch ist die alles „Verstehen" in Synthesen von Empirischem übersteigende Denkforderung unausweichlich. 11

S. 243 Β 364 f.

(S. 283 Β 435/6)

205

Nicht alle Kategorien, so heißt es „Zweitens", werden von der Vernunft zur transzendentalen Idee gemacht; sondern nur je eine aus den vier „Titeln" der Kategorientafel. Im Kosmologiethema spielt der Begriff der „Reihe"15, von Kant immer schon in der Einleitung („Von den transzendentalen Ideen" überhaupt) viel erörtert und in Zusammenhang mit den logischen Schlußreihen gebracht, eine zentrale Rolle: es handelt sich ja bei dieser Zweiten „Klasse" der Vernunftideen immer um „die absolute Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung" (S. 258 Β 391). Das Grundmodell für diesen Begriff ist die Kausalreihe (oder auch, eng damit zusammenhängend, die Reihe der „kontingenten" Existenzen) und audi schon die sie als Form fundierende Zeitreihe16. Abgewiesen werden damit alle Kategorien, welche auf ein „Aggregat coordinierter Bedingungen" gehen, also ζ. B. die Substanzkategorie (Relation der Inhärenz und Subsistenz), die der Gemeinschaft (Wechselwirkung) und alle Kategorien der Modalität — außer der „Zufälligkeit" 17 . Daß ferner die Notwendigkeit des Vernunftausgriffs auf das „schlechthin Unbedingte" jeweils nur für die aufsteigende Reihe der Bedingungen (welche Kant dann im 3. Absatz als „regressive" terminologisch fixiert) gilt, war immer schon in den Vorerwähnungen des transzendentalen Scheins in den Vernunftschlüssen mitbesprochen und am Beispiel der Reihe der Weltveränderungen erläutert worden 18 ; jetzt wird der Unterschied ganz allgemein an der Zeitreihe selber aufgezeigt. Rein logisch kann natürlich auch danach gefragt werden, wie es um die Totalität der Reihe ins Künftige hinein stehe. Aber darin waltet dann kein transzendentales Bedürfnis der Vernunft, keine notwendige Forderung vollständiger Begreiflichkeit; — Verstehen und Begreifen geht immer auf die „Gründe" des jeweils Gegebenen, auf das Vorauszusetzende. Mit dem 4. Absatz beginnt die Auffächerung der Antinomie bzw. der Welt-Idee in vier differente Vernunftprobleme, mit dem Leitfaden der vier Obertitel in der Kategorientafel. Dem Quantitätstitel entspricht die Frage nach der Größe der Welt in ihrer Extension; und 15

16

17 18

Ganz alter Terminus: series mundi, in der Sdiulphilosophie immer wieder auftretend. Siehe z . B . in der Analytik S. 173 Β 244, S. 194/5 Β 281; in engem Zusammenhang damit steht die Reihe des „zufälligen" oder des „abhängigen Daseins". S. 378 Β 587. S. 286 Β 441; S. 286 Β 442. S. 256 Β 388; S. 259 Β 394.

206

(S. 28415 Β 438/9)

zwar, da es für die Vernunft und ihr metaphysisches Anliegen um das Unbedingte geht, nach ihrer absoluten Größe. „Welt" aber, so wie sie hier in Blick genommen wird, ist Einheit der gegenständlichen Bedingungen in der Erscheinung: so wie sie sich vom Anschaulich-Gegebenen her uns darstellt. Die Grundformen alles Gegebenen und Gebbaren sind Raum und Zeit (welche nach der Lehre der transzendentalen Ästhetik Wesensformen unseres Anschauens sind, von transzendentaler „Idealität"). Sie selbst sind „quanta" (quanta continua und je das „reine Bild aller Größen" in äußerer und innerer Sinnesanschauung19. Vernunft hat zum Problem aber nicht diese Quanta selbst, in deren bloßem Anschauungscharakter ein Unendlichkeitsbezug für die Vorstellung liegt, sondern die Welt als die „ganze Summe" raumzeitlicher Bedingungen. Kant beginnt hier mit der Zeit (wohinter die alte Metaphysikfrage nach dem Weltanfang steht), während in der transzendentalen Ästhetik der Raum vorangeht; sie ist ja auch, als Dimension des Nacheinander, der Grundtypus der Reihe! Für jede „Gegenwart" ist das Vorangegangensein von Anderem Bedingung; Vernunft will nun das Ganze der Antezedentien in der Zeit, die ganze schon vorher verlaufene Weltzeitlichkeit in ihren auf vollständige Synthesis ausgreifenden Blick nehmen. Für das sich vom Formalen der „Quantität" her zugleich meldende Thema von der Weltgröße der räumlichen Ausbreitung nach (auch das ein altes sozusagen klassisches Thema der Metaphysik, welches zudem für die Neuzeit und gerade auch für Kant, von den astronomischen Entwürfen seiner Frühzeit her, besonders aufdringlich geworden war!) scheint Schwierigkeit der Einordnung in Kants vorskizzierte Dispositionen zu bestehen. Insofern nämlich, als es sich hier nun eben doch um „koordinierte Bedingungen" handelt. Kein räumliches Weltstück ist, der bloßen Räumlichkeit nach, vorgehende Möglichkeitsbedingung für andere gleichzeitig bestehende Weltteile! Hier setzt nun Kant den für seine grundsätzliche Fassung des Weltthemas von vornherein bestimmenden Begriff der „objektiven Synthesis der Erscheinungen" (nach der Analogie mit hypothetischen Vernunftschlüssen) ein. Raum und Räumliches haben freilich nicht selber Reihencharakter; wohl aber unser (diskursives) Auffassen davon, unsere Apprehension — was sich 19

S. 154 Β 211; S. 137 Β 182.

(S. 284h Β 438/9)

207

besonders drastisch zeigt, wenn wir das nähere Bestimmen von Räumlich-Gegebenem durch Messen (sukzessives Anlegen eines Maßstabs) ins Auge fassen20. Wo ich auch ansetze mit der räumlichen Weltbetrachtung: der Tedlausschnitt, von welchem ich ausgehe, kann nicht bestehen in seiner Anschauungsgegebenheit ohne das zunächst angrenzende oder Umschließende; und dies setzt sich so fort. Für das synthetische Bestimmen, so etwa für das Schätzen oder Messen, ergibt sich also auch hier ein Rückschreiten oder „Aufsteigen" vom jeweils zunächst Gegebenen und Vorgestellten zu den entfernter liegenden Bedingungen, also zu weiteren und weiteren „Räumen". ( I I I 256 Β 441) 21 . Dem Qualitätstitel bzw. der ersten darunter stehenden Kategorie: „Realität" ordnet Kant das kosmologische Problemthema vom Zusammengesetzt-Teilbaren und seinen Bedingungen nach „innen" zu; — innen steht hier natürlich nur in räumlicher Bedeutung, als Kontrast zur Ausbreitung nach außen, wo man von Teilbeständen auf immer größeres und auf ein Ganzes der Größe zielt. Auch hier geht die Betrachtung, wenigstens zunächst und in der Hauptsache, vom Räumlich-Vorgegebenen aus; und insofern steht diese zweite Problematik in engster Verwandtschaft mit dem zuletzt besprochenen zweiten Sonderthema der Weltgröße. (Das ist auch bei Kant selbst, in einer anderen Darstellung, mehr in den Vordergrund getreten.) — Diese Reihe der Bedingungen nun führt, bis aufs Unbedingte fortgetrieben, zu dem Vernunft- (nicht-Verstandes-) Begriff des „Einfachen", als schlechthin nicht weiter teilbaren Teilstücks, welches seinerseits also nicht mehr von „innen" her bedingt ist. Auch in dem ganz anderen Problemzusammenhang der Paralogismen hatte Kant den dort auftretenden Begriff des Einfachen unter den Titel der Qualität gestellt so

Zur Apprehension als „jederzeit sukzessiv" vgl. S. 168 Β 234/5 — Beispiel der „Apprehension des Mannigfaltigen in der Erscheinung eines Hauses." Die H e r anziehung des Messens legt sich hier besonders nahe von dem im Streit über räumliche Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt immer wieder, auch bei Kant, verwandten Begriff „Unermeßlichkeit" her.

21

Wenn Kant abschließend sagt, auch hier „kann" man nach der absoluten Totalität eines solchen Regressus fragen, so darf man diese Wendung nicht, so wie etwa beim Fragen nach der Ganzheit künftiger Zeitlichkeit der Welt, als Hinweis auf ein zwar logisch mögliches, aber transzendental willkürliches Problem der Vernunft ansehen. Vielmehr zeigt sich gerade von der Sichtweise auf die Bedingungsreihen unserer Apprehension her die Frage nach der räumlichen Weltgröße als unausweichlich.

208

(S. 284/5 Β 43819)

und auf die Realitätskategorie bezogen22. Im kosmologischen Zusammenhang kommt das Einfache vom Thema der Materie, und zwar zunächst allein von ihm aus, in Erwägung. Dabei deutet sich auch sogleich schon die Alternative dazu an, vorgreifend auf noch zu entfaltende Antithetik: vollendete Teilung räumlich-materieller Realität könnte auch, bei konsequentem Ausdenken des Vernunftanspruchs, zur unbedingten Negation, „in Nichts" führen, — was denn als Position einer Metaphysik bedeuten würde: so etwas wie das Einfache gibt es überhaupt nicht23. Im jetzigen Text tritt diese Konsequenz, im Fortschreiten zum Unbedingten bei der Teilung, sogar zuerst auf. Dem Kategorientitel „Relation" entspricht eine Dimension des Totalitätsanspruchs unserer Vernunft, die bei der zweiten Kategorie dieser Gruppe mit der Reihenbildung ansetzt. Die beiden anderen Kategorien des „realen Verhältnisses"24 führen in keinen zum Unbedingten treibenden Regreß hinein und also nicht zu einer hier spezifischen „Idee", wie schon von uns vorgreifend bei Erläuterung des „Zweitens" im 1. Absatz angeführt. Das Unbedingte im Substanzsein kann zwar sehr wohl als eine Vernunftidee akut werden: das hat sich ja eben in der Paralogismen-Diskussion gezeigt, wo auch der jetzt wieder auftretende Terminus des „Substantiale" erörtert wurde. Dort aber ging es von „Erscheinung" (Wahrnehmung meiner selbst als existierend) zu einem nicht durch „Prädikate" äußeren oder inneren Sinnes sich ausweisenden Sub-jectum (das insofern über-sinnlich, und in 22

IV 252 und 252 a; A 404 und 404 a.

23

Negation ist die zweite Kategorie der Qualität, folgend auf „Realität". — Vgl. am Ende der Analytik die „Einteilung des Begriffs des Nichtswo es unter dem zweiten Titel dieser Tafel heißt: „Leerer Gegenstand eines Begriffs, nihil privativum", und in der vorangehenden Beschreibung: „Realität ist Etwas, Negation ist Nichts, nämlich ein Begriff von dem Mangel eines Gegenstandes, wie der Schatten, die Kälte." S. 232 f. Β 347 f. — Es darf auch an den in ganz anderem Sinnzusammenhang erwogenen Obergang einer „Realität" (nämlich des Bewußtseins) in Nichts erinnert werden, von welchem Kant in der „Widerlegung des Mendelssohn'schen Beweises der Beharrlichkeit der Seele" spricht („unendlich viele Grade des Bewußtseins bis zum Verschwinden"). S. 271 a Β 414/5 a.

24

Dem Ausdruck „real" in unserem Textstück entspricht bei der Aufstellung der Kategorientafel in der Analytik der Begriff: „dynamische" Kategorien — gegenüber den „mathematischen", die unter den Titeln Quantität und Qualität stehen; die letzteren gehen bloß auf Gegenstände der Anschauung als solche mit einer „unmittelbaren Evidenz"; jene aber „auf die Existenz dieser Gegenstände" S. 95/6 Β 110; S. 147 Β 199/200.

(S. 287 Β 443)

209

keinem Sinne „Glied" von Erscheinungsreihen ist). Die „Prädikate" oder „Akzidenzen", die anzeigen, wie Substanz realiter existiert, sind eben unter sich koordiniert, ein Aggregat; — was auch wieder von der realen Existenz in Gemeinschaft oder Wechselwirkung stehender Dinge gilt 25 . — Ursache und Wirkung aber ist eine Realrelation, nach welcher Existierendes von anderem Existierenden als dependent, in der Erscheinung selbst, befunden und bestimmt wird; jedes Erklären eines Gegebenen führt in den Regreß bedingender Ursachen. Unter dem Modalitätstitel endlich ist es das Gegenglied zum dritten Modus (Notwendigkeit): das „Zufällige" (oder: Kontingente — nach der Begriffssprache der Tradition), welches sinngemäß in Bedingungsreihen hineinführt. Will ich etwa mein eigenes Dasein in der Welt verstehen, so zeigt dasselbe sich sofort als „abhängig" (und keineswegs „notwendig") vorhanden: ohne die Existenz meiner Eltern wäre ich nicht „da". Unter bestimmten Bedingungen bin ich ins Dasein getreten; sofern ich aber hier Notwendigkeitsbezüge feststelle (das Kontingente darf nicht als „zufällig" im Sinne von casus verstanden werden!), handelt es sich grundsätzlich immer nur um relationale oder „hypothetische" Notwendigkeit; um sie allein dreht es sich auch beim dritten „Postulat des empirischen Denkens überhaupt" in der Analytik 26 . Es folgt eine entsprechende Vierertafel. Jedesmal geht es um „absolute Vollständigkeit" eines in einer Reihe zu verfolgenden Erscheinungszusammenhangs: wo ein Bedingtes gegeben ist, sagt die Vernunft (in jeder dieser Hinsichten), muß doch wohl auch „die ganze Summe" der Bedingungen gegeben sein: nach Extension oder (synthetischer) Zusammensetzung, nach Teilung (was ja auch wieder synthetische Handlung und deren Fortgang erfordert), nach Entstehung (generatio, ins Dasein treten), und endlich nach Daseinsabhängigkeit, wie sie grundsätzlich jedem „Veränderlichen" in raumzeitlicher Erscheinung anhaftet —, die zwei letzteren zufolge der „dynamischen" Grundsätze in der Analytik. 25 28

Zum Ausdruck „Exponent" einer Reihe vgl. S. 256 Β 3 8 7 ; s. 184 Β 263. S. 194 Β 280 f. „Die Notwendigkeit betrifft also nur die Verhältnisse der E r scheinungen . . . und die darauf sich gründende Möglichkeit, aus irgendeinem gegebenen Dasein . . . auf ein anderes Dasein . . . zu schließen. Alles, was geschieht, ist hypothetisdi notwendig". Notwendigkeit in der Natur, in der E r scheinungswelt ist jederzeit „bedingte, mithin verständliche Notwendigkeit".

210

(S. 287 Β 443)

Noch einmal betont Kant (9. Absatz), daß sich alle diese „kosmologischen Ideen" oder vernunfthaften „Weltbegriffe", diese Welthinsichten samt ihren Konsequenzen nur da ergeben, wo es sich um anschauliche Ausführung, um deutliche „Darstellung" dessen handelt, was zum Weltbegriff gehört. Im bloß-abstrakten „Denken" seitens eines von aller Anschauungserfüllung, allem wirklichen Gegebensein sich isolierenden „Vérstandes" — im Denken von Welt als einem Ganzen der (etwa als „Geschöpfe" Gottes) existierenden Dinge „überhaupt" kommt es gar nicht zu dieser ganzen Reihen-Problematik; das überaus merkwürdige Vernunftphänomen der Antinomie stellt sich dann gar nicht ein. Aber solch bloßes Denken eines Welt-„Begriffs" hat dann auch mit Erkennen und Beweisansprüchen gar nichts mehr zu tun27. Der 10. Absatz unterstreicht noch einmal den Gedanken, daß die „Vernunft" in uns zur Endabsicht nicht etwa die Sicht auf ein ganz neues Feld für die Erkenntnis hat, sondern „nur" auf Erweiterung, in Richtung auf das Unbedingte, ausgeht. Ihre Weltbegriffe sind ja auch nur erweiterte Kategorien; und die Schlüsse, welche hier gezogen werden, lassen, nach der formal-„logischen" Analogie betrachtet, an eine von uns erstrebte oder geforderte „Vollständigkeit in der Reihe der Prämissen . . . " denken. Das kosmologisch Unbedingte ist der Struktur nach anders, als etwa die unbedingte Substanz (Substantiale) in den Paralogismen: jetzt, bei den Reihen, wird es vorgestellt als gegeben in der aller Relativität der Abschnitte überhobenen „absoluten Totalität" der betreffenden Reihe selber. „In der Einbildung" kann man meinen, diese Totalität, „die ganze Summe der Bedingungen", vor sich zu 27

Z u „Exposition" vgl. in der A n a l y t i k S. 207 Β 303: D i e Grundsätze des Verstandes „sind bloß Prinzipien der Exposition der Erscheinungen, und der stolze N a m e einer Ontologie, welche sich anmaße, v o n D i n g e n überhaupt (sc. ζ. B. v o n „Welt überhaupt" !) synthetische Erkenntnisse a priori in einer systematischen D o k trin (sc. ζ. B. in einer rationalen Kosmologie!) zu geben . . . , muß d e m bescheidenen ( N a m e n ) einer bloßen A n a l y t i k des reinen Verstandes Platz machen". D a z u I V 163 A 250: w e n n „unsere reinen Verstandeserkenntnisse" mehr wären, „als Prinzipien der Exposition der Erscheinungen" und a priori weiter gingen, dann freilich „stünde ein ganz anderes Feld vor uns offen, gleichsam eine Welt im Geiste gedacht . . . , die nicht minder, ja noch weit edler unseren reinen Verstand beschäftigen könnte". D i e W e n d u n g greift offenbar, zugleich mit der N e g a t i o n solchen theoretischen Verstandes- b z w . Vernunftgebrauchs, voraus auf die Weltidee der reinen praktischen Vernunft, welche in ihrem Rahmen auch vernünftige Wesen „überhaupt" umgreift. — „Exposition" im Späteren: S. 349 Β 536.

(S. 287 Β 443)

211

haben. Aber ein wirkliches Gegebensein setzt immer „sukzessive Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung" voraus; und so stellt sich eben die Frage, ob solche Reihen, alle auf der Zeitreihe beruhend, je vollständig sein können. Was die Vernunft notwendig „fordert" oder „sucht": ist es für unser auf Anschauung angewiesenes Erkennen auch erreichbar? Wenn bloß mit „reinen Verstandesbegriffen" (so etwa mit der Kategorie der Allheit : Welt als Inbegriff „aller " existierenden Dinge überhaupt) Weltwirklichkeit erfaßt werden könnte, dann könnte das wohl sein. Aber: kann es „vollendete Synthesis" überhaupt geben, kann eine „ganze Summe" solcher Reihenbedingungen wirklich „gegeben" werden? Die Idee der Totalität bleibt, wie bei der „Seele", so auch hier, bei den nach Anleitung bestimmter Kategorien sich ergebenden Reihen. Aber die Frage ist, ob sie Entscheidungen über die Weltgröße und die anderen drei Grundanliegen hergeben kann, und welche (d. h. „wie" diese Totalität zustande zu bringen sei). Schon hier deutet sich an, daß da zwei grundsätzlich verschiedene Weisen sich auftun: soll die ganze Reihe (die Summe der Bedingungen selbst) als das Unbedingte gelten, oder ist ein Teilmoment der Reihe, ein erstes Glied derselben, als das Unbedingte anzunehmen? Der 11. Absatz führt das noch weiter aus. Die Anmerkung wiederholt, daß mit dem Anspruch auf Vollständigkeit in Dimensionen des „Sinnlichen" ein „Problem" gegeben ist (so im vorigen Absatz). Die „eigentliche" Idee, transzendental-notwendig in der Vernunft gelegen, ist das Unbedingte rein als solches; und darin allein ist nichts Fragwürdiges. Aber hinbezogen auf Erscheinungsreihen, in der Absicht, über Welt etwas auszumachen, Weltcharaktere zu begreifen, wird diese reine Idee sogleich zu einem „problematischen Begriff" in zwiefachem Sinne: ob der Begriff des Ganzen hier überhaupt zustande zu bringen sei („Möglichkeit" solchen Weltbegriffs), und: wie dabei die Entscheidung fallen müßte (die Art, wie „Unbedingtes" in Erscheinungsdimensionen zu begreifen wäre). Der Text führt für die eine Seite der Alternative den Begriff „unendlich" ein: das Unbedingte jeder Reihe wäre als Unendlichkeit der Reihe selbst zu fassen. Wobei aber auch gleich die Grundschwierigkeit angedeutet wird: Unendlichkeit im regressus heißt doch eben: grenzenloses also nie voll-endetes Rückgreifen. Nur „potentialiter", für unsere Möglichkeit des Weitergehens, können wir hier von „unendlich" sprechen — nidht in bezug auf den Bestand der

212

(5. 288/9 Β

446/7)

Sache selber. Das wird hier nur am Quantitätsbeispiel vermerkt, soll aber auch für die drei anderen Weltbegriffe gelten. — Die andere Seite der Alternative setzt das Unbedingte als ein Einzeln-Ausgezeichnetes in den Reihen an: ein Erstes Glied, ζ. B. einen „Weltanfang" in der Zeitreihe — als welchem kein anderer Weltzustand in der (ihrerseits immer nur als unendlich-anfanglos vorzustellenden Zeit) vorangeht. Dieser Entscheidung würde, noch unter der Quantitätsfrage, eine begrenzte Welttotalität im (nur als unendlich-unbegrenzt vorstellbaren) Raum entsprechen, ferner in der Teilbarkeits- und Teilungsreihe das selber unteilbare Einfache, bezüglich der Ursachen-Reihe ein Erstes, nicht wieder ursächlich bedingtes Wirken: „Selbsttätigkeit" — von Kant schon hier sogleich auch „Freiheit" genannt, worüber später. Und endlich in der Reihe der Daseinsabhängigkeiten, wie sie sich bei den „veränderlichen Dingen" zeigt, ein Erstes Nicht-Abhängiges, das aber doch zur Weltreihe gehört; Kant nennt es hier „die absolute Naturnotwendigkeit". (Eine ganz andere, nicht mehr zur Kosmologie gehörige Frage oder Behauptung wäre die einer außerweltlichen, von den Erscheinungsreihen unbetroffenen Ursache oder Seinsnotwendigkeit.) Der 12. Absatz führt, anknüpfend an eben diesen Terminus, eine durch Fettdruck hervorgehobene terminologische Unterscheidung im Weltthema ein. Durch sie wird, was später für die Frage der „Auflösung" der Antinomie-Dialektik sehr bedeutsam werden wird, die Vierergruppe in zwei Sparten unterteilt: die zwei ersten Weltbegriffe gehen je auf das „mathematische Ganze . . . " : der dritte und vierte aber auf ein „dynamisches Ganzes". Darin setzt sich die Unterscheidung der Kategorien und der Grundsätze in zwei Klassen, unter eben diesen Titeln, hier fort 28 . „Welt" im engeren Sinne geht nur auf die „Aggregation" in der Anschauung: der Ausbreitung oder Zusammensetzung und der Teilung nach; da ist die Frage noch nicht auf das Dasein der Dinge (der Erscheinungen) in ihrem Wirkenszusammenhang und ihrer Abhängigkeit voneinander gestellt29. Der transzendental28

Für die Kategorien s. S. 9 5 / 6 Β 110; für die Grundsätze besonders S. 147 f. Β 199, 2 0 1 / 2 ; S. 194/5 Β 281. Der Zusammenhang dieser Klasseneinteilung mit der der Weltbegriffe (Ideen) ausdrücklich S. 360/1 Β 556 f.

29

„Mathematische" Betrachtungen haben ja allgemein das eigentümliche, daß in ihnen „von der Existenz gar nicht die Frage" geht. S. 4 7 2 Β 747. Die mathematische Synthesis geht bloß auf die Anschauung von Erscheinungen. S. 147 Β 199.

(S. 288Í9 Β 446/7)

213

philosophische (nicht physikalische!) Begriff des Dynamischen geht dagegen immer auf „Verhältnisse der Erscheinungen . . . in Absicht auf ihr Dasein" 30 . Welt als dynamisches Ganzes betrachtet wird „Natur genannt" 31 ; und die Weltbegriffe, welche auf das dynamisch Unbedingte gehen, heißen „Naturbegriffe" (Ende des Abschnitts). „Natur" kommt in der Begriffssprache Kants (wie denn auch sonst in der Philosophie) in einer Vielzahl von Bedeutungen vor. Eine spezifische Grundunterscheidung der Kritik ist: Natur in „formeller" Bedeutung gegenüber natura materialiter spectata; in beiden Begriffen geht es um den Inbegriff von Erscheinungen in Raum und Zeit. Die Anmerkung in unserem Text geht nur darauf, den Weltbegriff „Natur", als bestehenden (und geschehenden) Ganzen mit seinen „dynamischen" Gesetzlichkeiten (wofür hier nur das naturimmanente — „innere" — Prinzip der Kausalität als Beispiel steht), abzusetzen gegen das Adjektivische, welches auf die spezifische Bestands- und Wirkungsart geht („inneres Prinzip der Kausalität", in der betreffenden Substanz oder Seinsart gründend). In diesem hier nicht aktuellen Sinne handelt Kant ζ. B. auch von der „Natur" (und „Naturanlage") der menschlichen Vernunft, in welcher die Ideen gegründet seien. Wieder wird, in dem Vorgriff auf die Problematik der „absoluten Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung", das Erste der Reihe, also das selber un-bedingte Wirken und Erwirken (so muß man in solchen Zusammenhängen den Terminus „Kausalität", entgegen unseren Denkgewohnheiten, übersetzen!) einfach „Freiheit" genannt; der Gegenbegriff, das selbst wieder ursächlich bedingte Wirken heißt „Naturursache": Kausalität, wie wir sie, nach der zweiten Analogie der Erfahrung32, überall in der Natur, Welt der Erscheinungen, antreffen. 30

31

32

Prolegomena § 25. Der allgemeine Grundsatz für die Analogien der Erfahrung beginnt ( I V 1 2 1 A 176/7) mit den Worten: „Alle Erscheinungen stehen ihrem Dasein nach . . . " ; und in der Mitte der Modalitätsgrundsätze steht ja der des wirklichen Daseins (Kategorie: „Dasein", im Gegensatz zu „Nichtsein"). Dem entspricht, daß die dynamischen Grundsätze audi „die eigentlichen Naturgesetze" genannt werden (Prolegomena § 25), obgleich natürlich auch die mathematischen Grundsätze Weisen sind, wie unser Verstand, in Verbindung mit den Formen Raum und Zeit, „Quell der Gesetze der N a t u r " wird. Von den Konsequenzen des Kausalitäts- und des Notwendigkeitsgrundsatzes heißt es, es seien „solche Gesetze, durch welche das Spiel der Veränderungen einer Natur der Dinge (als Erscheinungen) unterworfen wird . . . " . S. 194 Β 281. „Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der U r sache und Wirkung." S. 166/7 ff. Β 2 3 2 / 3 ff.

214

(S. 28819 Β

446/7)

Im Vorgriff auf das vierte Antinomiethema: Abhängigkeit des Daseins des Veränderlichen spricht Kant von „Naturnotwendigkeit" in einem ganz anderen Sinne, als dann, wenn es sich um Naturgesetze handelt. Denn diese begründen immer bloß „hypothetische" (relative) Notwendigkeit; hier aber geht es ja um unbedingte Notwendigkeit, und zwar nicht etwa im Sinne eines transzendenten, weltüberlegenen Ens necessarium (was erst ein Thema des Dritten Hauptstücks sein wird), sondern — kosmologisch! — um ein schlechthin notwendiges „Wesen" (so später), welches zur Welt als „Natur", im jetzt bestimmten Sinne der „dynamischen" Aussagen über Existenz, gehören soll. Im letzten Absatz werden diese vier Ideen eines Unbedingten „insgesamt transzendent" und die der zweiten Gruppe angehörigen Begriffe „transzendente" Naturbegriffe genannt. Der Terminus ist vorgeprägt in jener Erwägung der „Grundsätze", die im Abschnitt I. der Einleitung zur Dialektik, in Richtung auf das Phänomen des transzendentalen Scheins, vorgenommen wurde. Transzendent sind, wie es später dann heißt, „die Anmaßungen" des reinen (von der spezifischen Aufgabe der „Vernunft" i. e. Sinne nichts wissenden) Verstandes: „Ausdehnung der Prinzipien möglicher Erfahrung auf Möglichkeit der Dinge überhaupt", sowie, was damit ja zusammengeht, „Behauptung der objektiven Realität solcher Begriffe"33, so — im jetzigen Falle — der vier Weisen unbedingter Totalität raumzeitlichen Welt- oder Naturseins. Bei den Metaphysik-Begriffen „Gott" oder „Seele" (diese als leib-unabhängige Entität gedacht) haben wir es mit Ideen von Transzendentem der Seinsart nach zu tun; jetzt aber stehen wir vor einer Überschreitung aller möglichen Erfahrung in einem anderen Sinne. Ich kann, dem „Grad" nach, mehr und mehr Weltstücke und -zusammenhänge in der Welt (durch immer weitere Synthesen von Gegebenem) erfahren, — niemals aber das Maximum: die „Sinnenwelt" in ihrer absoluten Ganzheit! — Es bleibt aber wie dort so audi hier dabei, daß die „Ideen" rein als solche „transzendental", nicht transzendent sind; sie gehören sinnnotwendig der Vernunft selbst an, daher denn auch die daraus entspringenden Seinsfragen. Die Vorausdeutung des letzten Absatzes geht besonders auf die Zusammenfassung des „Fortgangs", wie sie in der späteren „Schlußanmerkung" (S. 360 ff. Β 556 ff.) gegeben wird. — 33

S. 509 Β 809.

(S. 290 Β

215

448)

II. Abschnitt: Antithetik

der reinen

Vernunft

Der Zweite Abschnitt schickt der Darstellung der Antinomie in ihrer vierfachen „Widerstreit"-Gestalt eine grundsätzliche Erörterung des Antithetik-„Phänomens a voraus. Es treten im kosmologischen Bereiche miteinander widerstreitende Lehrsätze auf, dogmatische Behauptungen („Thesen"), welche — paarweise — einander widerstreiten, obgleich sie jede für sich Vernunftnotwendigkeit beanspruchen. Die hier auftretende besondere Form transzendentalen Scheins bzw. einer „Dialektik" der Vernunft, ergibt sich wieder daraus, daß die in der Empirie bewährten und transzendental gesicherten „Grundsätze" über Erfahrungsgrenzen hinaus beansprucht und damit faktisch zu bloß „vernünftelnden" 34 Argumentationen, jetzt aber eben zu zweiseitig-gegensätzlichen, führen. Es gilt also nun, die „Ursachen" (Gründe) solchen Widerstreits, sowie die Möglichkeit des Auswegs („Auflösung") zu untersuchen. Der 3. Absatz betont auch hier, wie in der Einleitung zur Dialektik und wie dann bei den Seele-Paralogismen, den Abstand von „sophistischen" Trugschlüssen. Es handelt sich auch jetzt, in dieser „Zweiten Klasse der vernünftelnden Schlüsse", um — wie es früher hieß — „Sophistikationen" nicht der Menschen, sondern der reinen Vernunft selbst, von denen selbst der Weiseste . . . sich nicht losmachen", und deren Schein, welcher „ihn unaufhörlich zwackt und äfft, (er) niemals völlig los werden kann" 35 . Die „Ursache" der antinomischen Verstrikkung liegt, wie der 4. Absatz vorskizziert, darin, daß der Einheitsanspruch in der bloßen Idee (Weltgröße ζ. B.) auf Unbedingtheit ausgeht, zugleich aber audi wieder Synthesis, Zusammendenken sein soll. Der Hinblick auf Totalität ist für den in Bedingungsreihen sich bewegenden „Verstand" zu groß — und andererseits bleibt alles Summieren von Verstandessynthesen notwendig zurück hinter dem, was Vernunft eben doch „fordert". (So ist etwa, was die räumliche Ausdehnung der Welt anlangt, die Fassung als „unendliche", für unser diskursives, Anschauungsdaten synthetisch einigendes Vermögen des Ver34

Vgl. die Einführung dieser Benennung für aus der N a t u r der Vernunft entspringende Scheinsdilüsse im Zweiten Buch der Dialektik S. 261 Β 397 und audi den Terminus: conceptus ratiocinantes im Ersten Buch. S. 245 Β 368.

35

S. 261 Β 397; Paralogismen-Hauptstüdc I V 222 A 351. Vorgriff darauf schon in der Einleitung zur Analytik: S. 81 Β 86 und am Ende des darauf folgenden Abschnitts IV.

2 Heimsoeth, Transzendentale Dialektik II

216

(5. 290 Β 448)

stehens zu groß, während die Statuierung derselben als „endlich" für die Vernunft, welche alle, also audi die begrenzenden, Bedingungen umgreifen will, zu klein.) Kant stellt nun diesen inneren Widerstreit in der auf kosmologische Entscheidungen hinarbeitenden Vernunft unter das Bild eines Ritter-Turniers: wobei die Rolle des „unparteiischen Kampfrichters" der transzendentalen Überlegung, Selbstreflexion der menschlichen Vernunft auf diesen ihren Widerstreit, zufällt. Daß in dieser Art Zweikampf der jeweils Angreifende die Oberhand behält, ist Vorgriff auf die spätere Art der Beweisführung ebenso der Thesen wie der Antithesen: Widerlegung der jeweils gegensätzlichen These, indirekter und sog. apagogischer Beweis — für dieses Feld der Metaphysik nach Kant charakteristisch. Die in unserem Textstück überraschend aufklingende Unterscheidung einer „guten" und einer „schlimmen" Sache verrät etwas von Kants eigener Hinneigung (noch innerhalb der gegnerischen Positionen, welche beide durch Kritik als unhaltbar, und insofern ihr Streithandel als „nichtig", erwiesen werden soll) zu der einen der zwei Seiten3®. Daß dieser Turnierplatz, auf welchem sich die Verfechter gegensätzlicher Systeme der Weltmetaphysik tummeln, „von je her oft genug" beschritten worden ist, deutet auf die bisherige Geschichte der Metaphysik; im folgenden werden audi Ursprungsdenker beider gegnerischen Positionen genannt werden. Kant weiß darum, daß die in seiner Vierergruppe auftretenden „Welt"-Probleme und -Aussagen alle ihre Rolle in der Metaphysik, seit alten Zeiten immer wieder, gespielt haben; er will aber erweisen, daß dies kein zufälliges Aufkommen und Sichwiederholen ist, sondern wesenhaft angelegt in der Struktur der menschlichen Vernunft und ihrer Daseinssituation im Weltsein und dem Weltsein gegenüber. Der nächste Absatz führt den für Kant wichtigen Begriff der skeptischen Methode (Fettdruck) ein. Kant hat in der Vorrede zur Zweiten Auflage die Kritik als „einen Traktat von der Methode" bezeichnet — einen Versuch, „das bisherige Verfahren der Metaphysik 36

Im späteren Abschnitt vom „Interesse" der Vernunft bei diesem ihren Widerstreit werden, für den Gegensatz in allen vier „Weltbegriffen", zwei Positionen ausgezeichnet: der „Dogmatismus der reinen Vernunft" selbst und der (seinerseits zur „objektiven Behauptung", also transzendent-übersteigerte) „Empirismus". In die Richtung der ersten Position weist vor allem das „praktische Interesse, woran jeder Wohlgesinnte . . . herzlich teilnimmt". S. 324 Β 494.

(S. 290 Β 448)

217

umzuändern" 37 . Die neue transzendentale Reflexion spezialisiert sich nun im Vernunftthema „Welt", zu dem Verfahren, dem hier auftretenden Streite der Behauptungen „unparteiisch zuzusehen" — zwecks Aufdeckung des beiderseitig waltenden transzendentalen Scheins. Das Zusehen (skeptein) soll unparteiisch sein insofern, als zunächst das „Interesse" der Vernunft, insbesondere ein etwa außertheoretisches, sich nicht einmengen soll — was nicht mit Neutralität im Sinne („skeptischer") Indifferenz den großen Weltproblemen gegenüber verwechselt werden darf 38 . Mit „Skeptizismus" im herkömmlichen Sinne, von Kant audi wohl als „Zweifellehre" und „skeptische Denkart" bezeichnet und immer abwehrend beurteilt, hat dieses „Verfahren" der transzendentalen Reflexion insofern nichts zu tun, als jener nur auf Negation ausgeht: — auf Bestreitung der Möglichkeiten wirklicher Erkenntnis überhaupt. Eher schon (möchten wir hinzufügen) besteht einige Verwandtschaft mit dem „methodischen Zweifel" des Cartesianischen Ansatzes, dessen Ziel etwas entschieden Positives war: Aufdeckung einer tragfähigen Grundgewißheit (der Existenz). In Kants Transzendentalphilosophie geht es aber nicht um eine erste Evidenz, sondern um den verborgenen „Punkt des MißVerständnisses" in der Vernunft selbst, von welchem die Scheinschlüsse der rationalen Kosmologie alle gleichermaßen herrühren — und damit um den „Schlüssel zur Auflösung der kosmologischen Dialektik", wie der Titel eines späteren Abschnittes lautet 39 . 37

S. 15 Β X X I I .

38

Ein Passus der Methodenlehre verwahrt sich dagegen, den „skeptischen Gebrauch der reinen Vernunft" in der Transzendentalphilosophie als „Neutralität" bei ihren Streitigkeiten zu verstehen, im Sinne eines „Indifferentismus" (die Vorrede des Werkes hat diesen „die Mutter des Chaos und der Nacht" genannt!), — ebenso aber dagegen, das Zureichen von Waffen (Argumenten) an beide Seiten als bloße Tendenz zur Streitverschärfung aufzufassen, ohne der Aufgabe zu gedenken, der Ursache des Widerstreits in uns auf den Grund zu gehen. S. 4 9 4 Β 7 8 4 / 5 .

39

In einem vielzitierten Rückblick auf das Werden der Kritik hat Kant notiert: „Idi versuchte es ganz ernstlich, Sätze zu beweisen und ihr Gegenteil, nicht um eine Zweifellehre zu errichten, sondern, weil ich eine Illusion des Verstandes vermutete, zu entdecken, worin sie stecke." X V I I I 69 (Nr. 5037). — Der fünfte Abschnitt unseres Hauptstücks wird weiter von der „Skeptischen Vorstellung der kosmologischen Fragen . . . " handeln. Heranzuziehen wäre auch die Charakterisierung des „skeptischen Einwurfs" im Textzusammenhang der Paralogismen : „ . . . stellt den Satz und Gegensatz wechselseitig gegeneinander, als Einwürfe von gleicher Erheblichkeit . . . , ist also auf zwei entgegengesetzten Seiten dem Scheine nach dogmatisch." IV 243 A 3 8 8 / 9 .

2*

218

(S. 290 Β 448)

Indem Kant hier nodi (wohl in Erinnerung an bisheriges Vorkommen des Begriffswortes Antinomie) die „gültigen und notwendigen Gründe" der Vernunft auf beiden Seiten als Anwendung der „Gesetze" der Vernunft bezeichnet, läßt er das Bild vom Ritterturnier mit Schiedsrichter übergehen in das andere: von „Rechtshändeln" zweier Parteien, zwischen denen der Gerichts-Richter zu entscheiden hat, oft in Verlegenheit, bei im gegebenen Falle widerstreitenden Gesetzen, welches derselben anzuwenden sei. „Weise Gesetzgeber" können aus solchen Rechtslagen Nutzen ziehen für bessere Fassung der Gesetze selber. Philosophie, als Transzendentalphilosophie verstanden, soll nach Kant, „Gesetzgebung der menschlichen Vernunft" sein, und der Philosoph ihr „Gesetzgeber"40 — dies natürlich im Sinne einer Aufdeckung der wahren in der menschlichen Vernunft selbst gelegenen Gesetzlichkeiten. In der „Antithetik"-Reflexion speziell soll der Philosoph nun eben aus dem Widerstreit vernunftgesetzlich sich begründender Positionen und aus der eigentümlichen „Verlegenheit" um redite Anwendung — tiefere Einsicht in die wahren, bisher verborgenen Gesetzlichkeiten der erkennenden Vernunft schöpfen. Der letzte Absatz will das Einzigartige des Antinomie-Phänomens und damit die spezifische Notwendigkeit der neuen „skeptischen Methode" im Feld von Wissenschaft überhaupt dartun. Die Fehlansprüche der reinen Vernunft in Sachen der Metaphysik bleiben darum unter dem Wahrheits-,, Schein" der Aussagen verborgen, weil sich das Denken hier in „abstrakter Spekulation" bewegt; den auf Erweiterung unserer Weltkenntnis gerichteten Behauptungen liegt eine nur„abstrakte Synthesis" zugrunde. Das ist anders in der für sichere Erkenntnis vorbildlichen Mathematik, obgleich diese Wissenschaft rein a priori ihre Urteile vollzieht, „vor" aller Anwendung in concreto, und insofern also auch als „abstrakte Spekulation" verstanden werden könnte. In Wahrheit aber gibt es hier (nach Kants transzendentalphilosophischer Deutung41) eine Prüfungsinstanz für die BegrifFsverbindungen: die reine Anschauung, daher denn auch unmittelbare „Evidenz" in diesem bedeutenden und großen Felde der Erkenntnis. Die 40

Siehe z. B. S. 542 f. Β 867 f. Rechts- und Gerichtsverhältnisse spielen in der bildhaften Verdeutlichung der transzendentalphilosophischen Aufgabe bei Kant eine bedeutsame Rolle, durch die ganze Kritik hindurch. Es darf daran erinnert werden, daß das zentrale Thema der Analytik (§ 13), die transzendentale Deduktion, an den „Deduktions"-Begriff der „Rechtslehrer" anknüpft.

(S, 290 Β 448)

219

in ihrer wissenschaftlichen Bewährung und Fortbildungskraft gleichfalls vorbildliche Erfahrungswissenschaft von der Natur (hier „Experimentalphilosophie" genannt, — im Gegensatz zu der in den „Grundsätzen" sich darstellenden „reinen Naturwissenschaft", welcher die zweite der vier Eingangsfragen in den Prolegomena gilt) entbehrt zwar der unmittelbaren Evidenz. Aber ihre Thesen, auch die abstraktesten (etwa in „Hypothesen" auftretend, unter denen sehr wohl auch zunächst widerstreitende vorkommen können) haben ihrerseits die Entscheidungs- und Kontrollinstanz in Erfahrungsbestätigungen (einen „Probierstein" ζ. B. im eigentlichen „Experiment"). Wiederum: die „Grundsätze" (Imperative) der reinen praktischen Vernunft sind zwar in sich abstrakt und ohne Kontrollinstanz in Anschauung oder Erfahrung von Vorhandenem. Aber sie sind ihrerseits unmittelbar konstitutiv, durch Willensbestimmung, für Entscheidungen und Beurteilungen im Konkreten der Lebensgestaltung. — Wenn also in der rein spekulativen Vernunft, in ihrer abstrakten, auf unbedingte Totalität jeweils ausgreifenden Synthesis, welcher alle solche Sicherungen und Bestimmungsgarantien völlig fehlen, Unstimmigkeiten auftreten bei den metaphysischen Behauptungen über die Welt, und zwar offenbar unvermeidliche — so bleibt allein der Weg immanenter Selbstprüfung, wie ihn die neue „skeptische Methode" einschlägt. Sie stellt einen „Versuch" dar, Einstimmigkeit der Vernunft mittels konsequenter Durchverfolgung des Zwiespaltes herbeizuführen. An einer anderen Stelle der Kritik spricht Kant von einem „Experiment der reinen Vernunft", welches diese mit sich selbst anstellt, und von einer insofern „dem Naturforscher nachgeahmten Methode"42. 41

Davon handelt vor allem die „transzendentale Ästhetik", deren Überlegungen in den Prolegomena unter die Titelfrage gestellt werden: „Wie ist reine Mathematik möglich?" Zum Unterschiede der mathematischen Erkenntnis von aller philosophischen vgl. noch in der Methodenlehre S. 4 7 5 / 6 ff. Β 752 fi.

42

In zwei Anmerkungen der Vorrede zur zweiten Auflage (S. 13 a und 14/15 a Β X V I I I a und X X / X X I a) hat Kant das „Experiment" der Vernunft mit ihren eigenen Begriffen und Grundsätzen als entscheidende Bestätigung für die Richtigkeit seiner Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich angeführt. Im zugehörigen Textstück heißt es: „Findet sich nun, wenn man annimmt, unsere Erfahrungserkenntnis richte sich nach den Gegenständen als Dingen an sich selbst, daß das Unbedingte ohne Widerspruch gar nicht gedacht werden könne", daß dagegen, bei Annahme jenes Unterschieds im Sinne der Kantischen „Revolution der Denkungsart", „der Widerspruch wegfalle", — so zeige sich, „daß, was wir anfangs nur zum Versuche annahmen, gegründet sei."

(S. 294 Β 454)

220

Erste Antinomie Der Erste Widerstreit der kosmologischen Vernunftsbegriffe steht also im Zeichen des Quantitätstitels der Kategorientafel. Die Antithetik betrifft hier (anders als in den drei anderen Widerstreiten) zwei Weltthemen zugleich, entsprechend der Zweiheit der allen Erscheinungen ursprünglich vorgegebenen Anschauungsformen Raum und Zeit. In beiden Themen geht es, vom Unbedingtheitsanspruch aus, um Endlichkeit (Begrenztheit) oder aber Unendlichkeit der Welt. Die Thesis behauptet, in Richtung des zeitlichen Regressus, die Begrenztheit der Welt durch einen „Anfang", und in Hinsicht auf ihr Dasein im Räume das Eingeschlossensein „in ihren Grenzen" (Ende des „Beweises"). Der „Beweis" geht indirekt vor, ebenso wie dann der der Antithesis43. Es soll Unmöglichkeit des Gegenteils erwiesen werden: Unmöglichkeit also einer unendlichen, bis zu diesem oder jedem anderen Augenblick abgelaufenen Welt-„Reihe" im Wechsel der „Zustände" des in der Welt Befindlichen. Wenn Kant hier von abgelaufener 43

Über Vorteile und Bedenklichkeit der „apagogischen" (zum Unterschiede von der direkt-„ostensiven") Beweisart bei „transzendentalen" Überlegungen handelt später die Methodenlehre: S. 513/4 Β 817/8. In seinen späten Logik-Vorlesungen hat K a n t , bei Gelegenheit des Themas Willensfreiheit — Fatalismus gesagt: „Priestley und Price haben darüber einen langen Streit gehabt. Jeder brachte den anderen ad absurdum und dodi k a m nichts zu Ende. Keiner beweist directe seinen Satz, sondern immer nur die Falschheit des Gegenteils. Das kann in der Philosophie leicht täuschen, denn man kann dabei ebensowohl selbst irren, wenn man beweiset, daß der andere irret — sehr leicht können alle beide unrecht haben." Als Beispiel folgt dann die Problematik des Zweiten Widerstreits (Teilungsantinomie) mit der Antithetik: endlich oder unendlich für „die gegebene Menge aller Teile". Abschließend heißt es: „Das Resultat von allem diesem ist, daß man sich in der Philosophie der apagogischen Beweise nicht bedienen kann, weil man sie nämlich hier nicht in der Anschauung dartun k a n n " (sc. so wie das in der Mathematik möglich ist). Kowalewski-V. S. 4 6 1 / 2 .

44

Die hiervon abzusetzende „Ewigkeit" des Urwesens, für welches ja nach Kants Unterscheidung von Ansichsein und Erscheinung die Zeitdimension gar nicht in Betracht kommt, klingt in einer Stelle des „kosmologischen" Beweises vom Dasein Gottes a n : S. 409 Β 641. Von „Ewigkeit" als zeitlicher Unendlichkeit heißt es da: Sie „mißt nur die Dauer der Dinge, aber trägt sie nicht".

(S. 294 Β 4$4)

221

„Ewigkeit" spricht, so ist das Wort (dem Traditionsthema: De aeternitate mundi entnommen) natürlich im Sinne von sempiternitas zu verstehen: „Ewigkeit wirklicher aufeinanderfolgender Zustände" heißt es in dear Anmerkung zur Thesis44. Der Kern des Beweises liegt in dem Satze, daß die Unendlichkeit einer Reihe (sc.: für uns und unser „diskursives", auf sukzessiv fortschreitende Synthesen angewiesenes Erkennen) durch ihre Unvollendbarkeit charakterisiert ist. Die dem „Anfang" entgegengestellte Unendlidikeitsbehauptung kann also — im Rahmen menschlicher Erkenntnisbedingungen — nicht aufrechterhalten werden. Es folgt also „notwendig" das Gegenteil: ein zeitlich unbedingtes Erstes, absoluter Weltanfang. Für die These der räumlich umgrenzten Welt soll der Beweis wiederum apagogisch, durch Widerlegung des Gegenteils, geführt werden: also der Welt, gedacht als ein unendliches gegebenes Ganzes „von zugleich existierenden Dingen". Die letzteren Worte setzen den Begriff räumlicher We/iunendlichkeit ab gegen den Begriff vom Räume: welcher ja, nach dem vierten „Erörterungs"-Stück im § 2 der transzendentalen Aesthetik, „als eine unendliche gegebene Größe vorgestellt" wird — der Sache nach aber eben kein existierendes „Ding" (ens) ist, sondern bloße Form unserer Anschauung, als solcher aber wesenhaft ohne Grenzen. Es wäre das eine Welt, wo „alle Räume" (Plural) mit Existierendem erfüllt sind, „ein unendliches Aggregat wirklicher Dinge". (Raum ist dagegen keineswegs ein Aggregat von Räumen, sondern ein einheitlich-„ursprüngliches" quantum continuum, dessen Teile nur „Einschränkungen" des Einen Raumes sind.) Wiederum liegt der Argumentationskern in der Herausstellung des „Reihen"-Charakters unseres Begreifens, welcher eben auch für das Bestimmen von „Zugleich"-Existierendem gilt. Ein endlich-überschaubares Ganze kann mir sehr wohl einfach „gegeben" sein (siehe die Anmerkung); hier bestimmen Anschauungsgrenzen die „Vollständigkeit", während die Aufgabe sukzessiv fortschreitender Synthese erst dann aktuell wird, wenn ich das nur anschaulich als „unbestimmtes Quantum" Gegebene näher auf seine Quantität hin (wie groß, wie viel) bestimmen, also etwa ausmessen oder auszählen will. Ganz anders ist das aber nun beim Thema der unbedingten Totalität aller koexistierenden Dinge („Welt") im Einen Raun: hier kann die „Vollständigkeit" nie gegeben sein. Die Aufgabe, Welt als ein Ganzes „zu denken" und dies nicht nur in einem abstrakt-leeren Begriff, sondern so, daß wir ihn, wenig-

222

(S. 294 Β

454)

stens in der Idee, „fassen" können (Ende der kleinen Anmerkung) und so, daß wir „von unserem Begriff Rechenschaft geben" (wie es gegen Ende des Textstücks: „Anmerkung zur ersten Antinomie" heißt), — diese Aufgabe bringt notwendig die Erkenntnisweise sukzessiver Synthesis von Teilbereichen, etwa als „Durchzählung" überschaubarer Weltteile, ins Spiel. Diese aber kann, ebenso wie beim Regressus auf frühere Weltzustände in der Zeit, niemals „vollendet" sein; sie ist ja eben selber zeitlich-sukzessiv. Wie es auch um Welt als Inbegriff aller „Dinge überhaupt" (Welt als Noumenon) stehen möge — die raumzeitliche Welt, in der wir uns vorfinden, und welche der Vernunftanspruch in ihrer Totalität begreifen möchte, kann grundsätzlich nicht als „unendlich" behauptet werden. Woraus denn die Wahrheit der Gegenposition, der Thesis, für diese Eine Ganzheit, die wir Welt nennen, folgen muß. Die nachgeordnete „Anmerkung . . . zur Thesis" betont zunächst noch einmal allgemein den nichtsophistischen Charakter der Antithetik-Argumente überhaupt — dies transponiert in die Bildsprache der Rechtshändel („Advokatenbeweis"). Den apagogischen Beweisen unserer Antithetik gegenüber wird grundsätzlich darauf verzichtet, etwaige Fehler in den Schlüssen „der Dogmatiker", d. h. der Vertreter und Verfechter der jeweiligen Lehrmeinungen, herauszusuchen. Alle Beweise der verschiedenen Behauptungen sollen vielmehr, gemäß dem Sinn der „skeptischen Methode", in „freiem und ungehindertem Wettstreit" entfaltet werden: jeweils aus der Natur der Sache selbst, oder, wie es früher hieß, durch beiderseits „gültige notwendige Gründe". Der 2. Absatz gibt ein Beispiel von Beweisführung der Thesis durch einen Fehlbegriff von „Unendlichkeit", welchem dann der wahre entgegengestellt wird 45 . Der Fehlgriff ergibt sich, wenn komparative Größenschätzung (Antwort auf die Frage: „wie groß", wobei das größer oder kleiner der angenommenen Maßeinheiten natürlich mitentscheidend ist) zu einem „Maximum" erhoben wird: größte Menge der Teileinheiten (größer als diese größte Menge kann nichts sein). So verstanden ist aber eben der Unendlichkeitsbegriff in sich selbst widersprüchlich: keine Menge kann die größte sein. Dann aber ist auch Welt, gedacht als „unendliche gegebene Größe", schon insofern unmöglich 45

Für den fehlerhaften Begriff von „unendlich" in der „Gewohnheit" der ThesisDogmatiker kann auf Christian Wolffs Ontologia § 796 sowie § 838 f. und auf Baumgartens Metaphysica §§ 372, 256 hingewiesen werden.

(S. 294 Β 454)

223

zu behaupten, als der Gedanke, den man dodi „wenigstens in der Idee" muß „fassen" können, bereits im TeilbegrifF: „unendlich" einen Widerspruch enthält. — Aber so leicht soll man sich eben, in der „skeptischen" Methodik der Vollentfaltung dieser ganzen Antithetik, den Beweis nicht machen: das wäre bloß ein „Scheinbeweis" im Sinne einer sophistisch-advokatorischen Überredung. (Das so viel tiefer gelegene Phänomen des „transzendentalen Scheins" spielt hier noch nicht hinein.) In Wahrheit, sagt Kant dagegen, bedeutet Unendlichkeit im Weltthema ein keineswegs nach Wahl der Maßeinheiten sich Änderndes, sondern „nur" das Unterschiedsverhältnis „absoluter" Größe eines Ganzen zu allen relativen Größenschätzungen nach irgendwelchen Maßeinheiten. In jedem Falle ist die „Menge" aller Teileinheiten „größer als alle Zahl" (jeder Zahl ihrerseits, wie groß sie auch sei, kann nodi etwas hinzugezählt werden). So jedenfalls muß die Unendlichkeit gedacht werden; ob solche absolute Größe (Menge) überhaupt erkannt werden könnte, steht jetzt nicht zur Frage. „Transzendental" — d. h. hier: nach Einsichten von Kants Reflexion auf menschliche Vernunft und ihre Weise des Erkennens — ausgedrückt, heißt das: wesenhafte Unvollendbarkeit der Totalitätssynthesis, weil diese angewiesen ist, ebenso bei Räumlichem wie Zeitlichem, auf sukzessiv sich aneinanderreihende Synthesen. Eine „vollendete Synthesis" der Reihenglieder wird zwar immer im Weltthema, ganz unbestimmt, „vorgestellt"; aber im Durchdenken („dartun", Begriffs-„Rechenschaft") erweist sich der Begriff als in sich unvollziehbar; und daher kann „in diesem Falle", wo es sich um Erscheinungswelt handelt, nicht deren Größe als unendlich gegebene statuiert werden. Die Antithesis im Ersten Widerstreit behauptet die Anfangslosigkeit und also zeitliche Unendlichkeit der Welt a parte ante — und, was die räumliche Ausdehnung, im Zugleichsein, anlangt, die Grenzenlosigkeit dieses totalen Aggregats wirklicher Dinge. Wieder sind die Beweise der beiden Teilbehauptungen von apagogischem Charakter. Der Beweiskern ist in beiden Fällen, daß ein begrenztes Ganzes nicht als angrenzend an das von allen existierenden Dingen oder Vorgängen Leere des (seinerseits natürlich als unendliche gegebene Größe vorgestellten) Raumes bzw. unendlicher Zeit begriffen werden kann. — Eine Zeit, in der die Welt „noch" nicht war, wäre

224

(S. 294 Β 454)

reines quantum continuum, ohne jede Unterscheidbarkeit seiner Momente. Wenn in der Welt etwas entsteht, also „Dasein" erhält gegenüber seinem „Nichtsein" vorher, so sind die Momente der Zeitreihe ja durch ihre Inhalte, durch Vorgänge und Zustände, unterschieden; hier kann „manche" Reihe anfangen (ζ. B. in einem relativen Anfang: wo das Erwirkende selbst wieder seine zeitlich vorhergehende Ursache hat, vielleicht aber auch in einem ursprünglichem Einsetzen aus Spontaneität — dergleichen wird im Dritten Widerstreit zur Sprache kommen). Aber für einen Anfang der „Welt" selber kann grundsätzlich kein Zeitpunkt in der leeren Zeit bestimmt werden: da gibt es eben keine „unterscheidende Bedingung" des „jetzt" von dem „noch nicht", also auch keine mögliche zeitliche Auszeichnung des Daseinseintritts gegenüber („vor") dem Nichtsein. Die Parenthese deutet, in Richtung auf die verschiedenen Weltentstehungslehren, an, daß es für die jetzt zu erörternde „Quantitäts"-Frage zeitlichen Anfangs indifferent ist, ob Welt „von sich selbst" entsteht — sozusagen automatisch, womöglich gar durch Zufall wie bei Epikur —, oder durch eine sei es demiurgische oder schöpferische Ursache außer ihr. Dies Thema gehört in eine andere Antithetik: welche im Zeichen der ins Unbedingte ausgeweiteten Kausalkategorie („dynamischer" Anfang) steht. Ein zeitliches Anfangen der Weltreihe läßt sich also nicht wirklich denken; demnach muß die Antithesis wahr sein. Ebenso läuft der Gedanke einer räumlich umgrenzten Welt in einem sonst leeren Raum (welcher ja als Raum eo ipso „nicht begrenzt" ist) auf eine Unmöglichkeit hinaus. Alle räumliche Begrenzung in der Welt bedeutet ein Korrelatsverhältnis zwischen verschiedenen koexistierenden Dingen, die durch die jeweilige Grenze voneinander sich abheben. Zur Welt im Ganzen aber gibt es kein solches dingliches Korrelat. Der Raum, für sich genommen, ist kein „wirklicher Gegenstand", der außerhalb der Welt mit ihr koexistieren könnte. (Nur dies aber, ein existierender „Gegenstand der Anschauung", kommt hier, im kosmologischen Thema, in Betracht. Ob „Welt" überhaupt notwendig ein übersinnliches, intelligibles „Korrelatum", und „außerhalb" ihrer, habe bzw. voraussetze, das steht jetzt gar nicht zur Diskussion.) — Also muß das Gegenteil wahr sein: die Behauptung der Antithesis. Die unter den Text gestellte Anmerkung zieht näher die Ergebnisse der transzendentalen Ästhetik (und Analytik) heran. Wenn

(S. 296 Β 458)

225

man (sc. wie etwa die Newtonianer) „unter dem Namen des absoluten Raumes" eine für sich seiende Entität versteht, so denkt man faktisch ein „Unding": ein unendliches ens, das nicht Substanz, auch nicht etwas den Substanzen Inhärierendes, dennoch aber etwas Existierendes, ja die notwendige Bedingung der Existenz aller Dinge sein müßte, etwas das übrig bleibt, wenn alle existierenden Dinge (also die „Welt"!) aufgehoben werden46. In Wahrheit ist der Raum „bloß" Form der Anschauung, welche zwar ihrerseits in „reiner Anschauung" vorgestellt werden kann (was Kant „formale Anschauung" nennt47), so etwa bei Synthesen a priori der Geometrie, aber dies doch durchaus nicht so wie ein wirklicher Gegenstand; „äußerlich angeschaut werden" können nur Gegenstände der Wahrnehmung und Erfahrung, solche empirischer Anschauung. Als bloße Anschauungs-„Form" ist der Raum bloße Möglichkeit; alle Wirklichkeitsbestimmung aber verlangt „Materie" der Anschauung in der Wahrnehmung. Das gilt auch vom Hinausblicken auf weitere und weitere Räume, von jeweils gegebenen Erscheinungen aus: es werden da eben weitere „mögliche Wahrnehmungen" antizipiert. Die uralte Frage, ob die Welt im Räume sich bewege oder ruhe48, gehört zu den falsch gestellten Fragen der Kosmologie, die man „vernünftigerweise" gar nicht stellen sollte4". Das „Verhältnis" der Welt zum leeren Räume „ist Nichts" ; eine nähere Bestimmung desselben — entweder: das Universum ist „in seinem Orte beharrlich gegenwärtig", oder: „es verändert seinen Ort" — ist folglich nur Urteilsprädikat eines bloßen ens rationis. Welt „im" 46

S. 71 Β 70/1. — In der Tafel der Einteilung des Begriffs v o n Nichts steht, was in unserem Text „kein Gegenstand" genannt wird (so daß dazu auch kein Korrelatverhältnis der Begrenzung statthaben kann), unter dem dritten Titel: „Leere Anschauung ohne Gegenstand, ens imaginarium". S. 233 Β 348. D e r Raum ist „Nichts . . . , sobald wir die Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung weglassen und ihn als etwas, was den Dingen an sich selbst zum Grunde liegt, annehmen." S. 56 Β 44.

47

Vgl. z . B . S. 125 a Β 160/1 a: „formale Anschauung" ist zum Unterschiede v o n der „Form der Anschauung" durch synthetische Einheit bestimmt.

48

Vgl. den Riickbezug auf (angebliche) Behauptung des „Dialektikers" Zeno, Gott bzw. die Welt „sei weder in Bewegung nodi in Ruhe", mit der Anfügung Kants, so habe der alte Denker allerdings sagen müssen, „ . . . weil alle ö r t e r nur im Universum, dieses selbst also in keinem Orte ist". S. 345 Β 530.

49

Vgl. die programmatische Vordeutung im ersten Abschnitt über den Unterschied von Analytik und Dialektik: ungereimte Fragen, die unnötige Antworten verlangen. S. 79 Β 82.

226

(S. 297 Β 459)

Raum ist „das Nichts eines Leeren Begriffs ohne Gegenstand", „bloß Erdichtung"50. Die Anmerkung zur Antithesis antwortet auf einen von der Leibniz- und Wolfftradition her zu erwartenden Einwand, mit deren Ablehnung eines „absoluten", an sich bestehenden Raumes sich Kant einig weiß. Dabei wird (durch die kleine Anmerkung) noch beigefügt, daß mit solcher Ablehnung nicht auch schon die — zur Grundlegung der Physik gehörige — Frage entschieden ist, ob es leeren Raum, genauer: leere Räume, unterschieden von soldien, die durch Materie erfüllt sind, innerhalb der Welt geben kann; die rein transzendentalphilosophische Betrachtungsweise der Kritik kann dafür nur die Nicht-Unmöglichkeit feststellen51. Indem nun Kant zu der anderen, in die Richtung der „Leibnitzischen Schule" weisenden, Auffassung vom Räume als Beziehungsgefüge von Dingen übergeht („ . . . nur Bestimmungen oder audi Verhältnisse der Dinge" heißt es im § 2 der transzendentalen Ästhetik), — faßt er die Lehre von räumlichen Größen- und Bewegungsverhältnissen in der Welt sogleich im Sinne seiner Erscheinungslehre. Nicht Dinge als Sachen an sich selbst („nicht alle Dinge an sich selbst, sie mögen nun angeschaut werden oder n i c h t . . . " hieß es im Abschluß der „transzendentalen Erörterung"), stehen in diesem Verhältnis aufeinander, sondern Dinge als (äußere) Erscheinungen, welche ihrerseits schon die Anschauungsformen a priori voraussetzen, „bestimmen" die räumlichen Größen- und Orts- und Begrenzungsverhältnisse in der Welt. Weil jene Schuldenker das nicht recht unterschieden, konnten sie auf die „Ausflüchte" oder „den Ausweg" kommen, statt der Begrenzungsfr&ge oder -position, welche in Anschauungsdimensionen (unter dem Quantitätstitel) sich bewegt, rein intellektuell „Schranken" des Weltganzen (Qualitätskategorie der Limitation!) zu „denken", — was denn also auf eine bloß abstrakt gemeinte intelligible Welt (sc. dieselbe abhebend von einem ens illimi50 51

Tafel des Nichts unter Nr. 1. Die „Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft" von 1786 behandeln das so gefaßte Thema vom leeren Raum (vacuum mundanum) im Zusammenhang der Attraktionskraft (Dynamik, Lehrsatz 7 und Allgemeine Anmerkung) sowie am Ende der „Phänomenologie", als zugehörig zu den verschiedenen Begriffen der Bewegung und der bewegenden Kräfte. IV 512, 523 f., 563 f. Da wird gesagt, die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des „Leeren" in der „metaphysischen Körperlehre" sei nicht dogmatisch zu entscheiden, sondern sei Sache jeweils naheliegender Hypothesen. Erfahrung gibt uns immer nur „komparativ-leere" Räume zu erkennen.

(S. 300 Β 462)

227

tatum oder realissimum) hinzielt52. Bei dem Problemthema der zeitlichen Begrenztheit a parte ante heißt das dann audi nur ganz abstrakt (anstatt Welt-,.Anfang", nach einer vorher von solchem Dasein leeren Zeit): ein Dasein, welches keine andere Bedingung in der Welt voraussetzt. (Eine andere Bedingung, außer der Welt, steht bei diesem kosmologischen Größenthema gar nicht zur Frage.) Das dialektische Phänomen der Antithetik tritt ja aber nur auf, wo man von der Welt des Gegebenen ausgeht: von Sinnen weit in Raum und Zeit. Hier allein wird der Gegensatz von endlich und unendlich im Quantitätssinn aktuell. Wenn ich „Welt" bloß allgemein-begrifflich definiere als Inbegriff aller „endlichen" Dinge (Kreaturen), in Abhebung von einem schon vorausgesetzten „unendlichen" Dasein Gottes — dann ist freilich, durch bloß „analytisches Urteil", klar, daß das Weltganze Schranken hat! Es geht aber hier nicht um solche abstrakten Begriffe von Welt überhaupt („wer weiß welche"), sondern um die reale Welt, in welcher wir uns vorfinden, und um (bejahende oder verneinende) Behauptungen über deren Größe, Behauptungen welche Anspruch auf Erweiterung unserer Erkenntnis durch reine Vernunfterwägungen machen — in synthetischen Urteilen a priori.

Zweite Antinomie Der Zweite Widerstreit, unter den Qualitätstitel von Kant gestellt, entspringt aus dem Vernunftbegriff: absolute Vollständigkeit der Teilung eines gegebenen Ganzen in der Erscheinung (so in der Vierertafel). Wir möchten denselben von nun an kurz als Antinomie der Teilung bezeichnen. In der Thesis wird das einzelne in der Welt „gegebene Ganze" als „zusammengesetzte Substanz" bezeichnet. Das entspricht Gewohnheiten der Tradition, besonders in der Schulphilosophie (Kontrastbegriff: einfache Substanzen!). Der „Substanz"-Begriff hat aber hier und vor52

Vgl. Prolegomena § 5 7 : „Grenzen (bei ausgedehnten Wesen) setzen immereinen Raum voraus . . . ; Schranken bedürfen dergleichen nicht, sondern sind bloße Verneinungen, die eine Größe affizieren, sofern sie nicht absolute Vollständigkeit hat." — Zu der sich da andeutenden umfassenderen Unterscheidung zwischen „Grenze" und „Schranke" vgl. in der Methodenlehre: durch Kritik der Vernunft werden nicht bloß „Schranken", sondern „bestimmte Grenzen" derselben aus Prinzipien erwiesen. S. 497 Β 7 8 9 / 9 0 .

228

(S. 300 Β 462)

ab nicht die zentrale Bedeutung wie beim Thema des (ersten und zweiten) Paralogismus. In der Antithesis-Formulierung heißt es denn auch unbestimmter: zusammengesetzte „Dinge". (Es wird sich zeigen, daß Relationen und Akzidenzen des Zustandes hier nicht in Betracht zu ziehen sind, sondern eben nur: „selbständige" Dinge.) — Die Behauptung ist nun, daß jedes zusammengesetzte Ding in unserer Welt nicht nur (was selbstverständlich ist) aus Teilen bestehe, sondern — auf Vollständigkeit der Teilung hin angesehen — zuletzt aus „einfachen" Dingen. Die zweite Hälfte der Aussage statuiert dann noch, daß überhaupt („überall") nur Einfaches und aus Einfachen (Teildingen) Zusammengesetztes in der Welt existiert. Daß sich darin eine Ausweitung der Perspektive andeutet, ergibt sich bei den Erörterungen im Beweis der Antithesis. Der Beweis geht, seinem apagogisdien Charakter gemäß, von der vorläufigen Annahme der Gegenposition aus. Wäre alle Zusammensetzung aufgehoben „in Gedanken" (die Wendung wiederholt sich dann; es geht ja hier nicht um die Möglichkeit realer, etwa physischphysikalischer Zerteilung und wieweit dieselbe führen könnte!), so würde bei solcher Annahme eben „nichts" mehr bleiben53. Das aber würde bedeuten, daß das gegebene Ganze eben gar kein „substanzielles" Ganzes sein, nicht „aus Substanzen bestehen" kann. Wirkliche Zusammensetzung ist ja wesenhaft nur „Relation" zwischen den einzelnen selbständigen, je „für sich beharrlichen" Dingen, akzidentell für deren Eigenbestand. — Bleibt also nur die andere Möglichkeit, der „zweite Fall": eben die Thesis. — Deren zweiter Satzhälfte entspricht jetzt im Beweis die Formulierung, daß die Dinge der Welt „insgesamt" einfache Wesen sind — also nicht nur diejenigen, die bei vollständiger Zerteilung eines anschaulich gegebenen Ganzen nach der bisherigen Erwägung sich ergeben müßten. Die Wortwahl „Wesen" läßt hier einen Vorbezug auf andere als körperhafte „Dinge" anklingen. — In allen Fällen müssen die „Elementarsubstanzen" der Welt, auf ihre eigene Seinsweise betrachtet und, abgesehen von ihren „äußeren Zuständen", von der Vernunft, rein rational, als „erste Subjekte" jeder Zusammensetzung und Verbindung (etwa: Zusammengehörigkeit durch Wechselwirkung) gedacht werden64. 53

Diese Art Nichts heißt in der zu Ende der Analytik angefügten Tafel: „Leerer Gegenstand eines Begriffs, nihil privativum".

(S. 304 Β 466)

229

Die Anmerkung hebt den Totalitätsbegriff „Welt" ab von der Totalitäts- oder Ganzheitsvorstellung des Raumes als solchen. Der Unterscheidung soll die terminologische Differenzierung: Kompositum und Totum dienen55. Dort wie hier gibt es wesenhaft Teilung und Teile — aber in ganz verschiedenem Bezug zum Ganzen. Der Raum ist, in seinem Anschauungscharakter, ursprünglich und wesenhaft nur Einer; das „Mannigfaltige" in ihm, Vielheit von „Räumen", beruht, wie schon in der transzendentalen Ästhetik aufgezeigt, „lediglich auf Einschränkungen" der einen Ganzheit 58 . Die Teile des Raumes, so heißt es dementsprechend jetzt, sind nur „im" Ganzen möglich (welches, wie dort erwiesen, den Charakter „transzendentaler Idealität" hat). Der Raum ist also keinesfalls ein „substanzielles Ganze", überhaupt kein Kompositum. — Ganz anders steht das bei einem realen Ganzen, wie es die Welt ist: dasselbe ist seinerseits nur „durch die Teile" möglich: als Zusammenbestehen oder Aggregat von Teilbeständen. Beim Raum entsteht kein Widerspruch, wenn man im Versuch, Vollständigkeit der Teilung zu durchdenken, auf „nichts" (nichts Selbständiges) stößt: der als unteilbar zu denkende „Punkt" ist in Wahrheit nur ein Grenzmoment an Räumlichem. Die bloße Form der Anschauung (bzw. die „formale Anschauung") birgt nichts Antinomisches in sich; Raum ist, für sich genommen, reines quantum continuum, M

55

06

„Subjekt" darf hier aber natürlich nicht in dem spezifischen Sinne der Paralogismen-Problematik („Idee v o n einem Subjekte unseres Denkens") verstanden werden, obgleich das in der Linie einer Kant unmittelbar vor Augen stehenden Thesis-Tradition läge (Monadologie!). D a s Wort ist vielmehr im abstrakt-begrifflichen Sinne und nach der überkommenen Nominaldefinition v o n „Substanz" zu verstehen: Subjekt, das nicht als Prädikat von etwas anderem zu denken ist, also „erstes Subjekt". Vgl. S. 139 Β 186/7. — In den Metaphysischen Anfangsgründen v o n 1786 hat Kant die erste MonadologieForm, in welcher die Position der Thesis neu zu Worte kam, einen „von Leibnizen ausgeführten, an sich richtigen platonischen Begriff von der Welt" genannt: der Welt „so fern sie gar nicht als Gegenstand der Sinne, sondern als Ding an sich selbst betrachtet, bloß ein Gegenstand des Verstandes" ist (oder der „reinen Vernunft" im Sinne der dogmatisch-rationalen Kosmologie). I V 507/8. D i e Schwierigkeit ergibt sich, wenn man sich klar macht, daß ein bloßer Begriff keine Erkenntnis geben kann. D i e Wendung: „dieses ist nur Subtilität" bezieht sich natürlich nur auf die „allenfalls"-Benennung des Raumes als compositum ideale. D i e hier unter die Termini Compositum und Totum gestellte Sachunterscheidung aber hat für Kant selber große Bedeutung. S. 53 Β 39.

230

(S. 304 Β 466)

ebenso wie die Zeit57. Die ganze Antithetik tritt nur auf bei wirklichen Dingen im raumzeitlichen Weltzusammenhang — und zwar nur bei „für sich selbst bestehenden" Dingen, nicht bei „Akzidentellem", wie es die (realen) Relationen zu anderen Dingen sind. Audi bloße Zuständlichkeit an einem Dinge, ζ. B. der Bewegungszustand Geschwindigkeit („ein gewisser Grad der Veränderung" — Zeitdimension!), hat zwar — intensive — „Größe", aber auch da herrscht nicht das Kompositionsverhältnis und also keine Problematik in Richtung auf das Einfache. Kants Anspielung auf öfters schon vorgekommene fehlerhafte Ausweitung des Begriffsgegensatzes compositum-simplex (herkömmlich in der Ontologie der Schule) auf Anderes als wirkliche Komposita von für sich selbst bestehenden „Dingen" — geht auf die faktisch immer wieder, auch in seiner Zeit und Umwelt, aufgetretenen Versuche, Raum, Zeit, Bewegung als aus Punkten, Momenten, Lagen zusammengesetzt zu denken. (Faktisch geht dergleichen ja zurück bis auf den von Kant im Rahmen seiner Kritischen Entscheidung der Antinomik kurz erwähnten Zeno von Elea57.) Der 2. Absatz dieser Anmerkung wendet sich direkt gegen die, in Kants Jahrhundert sehr verbreitete, monadologische Form der ThesisPosition: wonach in der Welt überhaupt nichts existiert als einfache Substanzen (selbständige reale Einsheiten), die in Verhältnissen der Zusammenordnung und Verbindung stehen. Kant verlangt aber hier eine grundsätzliche Unterscheidung innerhalb der sich so nennenden Doktrin. Leibniz selbst (nach Kants Vorstellung von ihm, die er audi sonst gern gegen spätere Anhänger in der Schulphilosophie abhebt!) gebrauchte den Terminus ursprünglich und „wohl nur" in Richtung auf das Seelen-Thema: wo Einfach-Seiendes unmittelbar sich uns darbietet (oder auch: darzubieten scheint), „z. B." Jedem von uns im Vollzug des eigenen Selbstbewußtseins. Das aber steht jetzt, im kosmologischen Bereich der Metaphysik aus reiner Vernunft, nicht eigent67

58

Die Zeit wird hier, vielleicht audi im Hindenken an die Bewegungsparadoxien des Eleaten Zeno (dieses „subtilen Dialektikers"), miterwähnt. In den P a r a logismen war einmal auf die „Achilles"-Schildkröte-Argumentation Zenos (rein der Bezeichnung nach) angespielt worden. IV 2 2 2 A 351. D a ß das Thema der Seele oder der einfachen Denk-Subjekte faktisch dodi in das Weltthema hineinspielt, werden wir bei Erörterung des Abschnitts „Vom Interesse der Vernunft an diesem Widerstreit" feststellen können. Vgl. S. 322/3 Β 4 9 1 ; S. 324 Β 494.

(S. 301 Β 463)

231

lieh zur Debatte 58 . Charakteristisch für die jetzige Problematik ist, daß man nur mittelbar auf den Begriff des Einfachen kommt (und allein kommen kann): gegeben sind „zusammengesetzte Dinge" und deren mögliche Zerteilung, wo denn also die Unbedingtheitsfrage bis zum Gedanken der „Elemente" (Elementareinheiten) vorstößt. In alten Zeiten und auch wieder bei Erneuerungen stand und steht diese Art Erwägung unter dem Begriffswort „Atom" (Un-teilbares); darum sagt Kant hier, daß man das Teilungsletzte (oder das Erste der Zusammensetzung) „besser den Atomus nennen könnte". Und doch will Kant in dieser Thesis der zweiten kosmologischen Antinomie nicht von „Atomistik" reden, weil dieser Ausdruck längst in der Hypotkesenbildung der empirischen Physik heimisch geworden ist. Jetzt aber geht es ja nicht um „Erklärungsart" im Besonderen der Erscheinungen, sondern um eine Grundentscheidung meta-physischen Charakters, Entscheidung, welche aus reiner Vernunft getroffen werden soll. Man müßte also schon von „transzendentaler Atomistik" sprechen. Kant zieht demgegenüber die unmitelbar an die Tradition im eigenen Zeitalter anknüpfende (aber auch nicht unzweideutige) Benennung der jetzigen Thesis als „dialektischen Grundsatz der Monadologie" vor. Die Antithesis verneint genau das, was in der Thesis positiv statuiert war, bei anologer Aufteilung in zwei Halbsätze. Und wieder wird der Beweis indirekt geführt. Die entscheidende Schwierigkeit, Einfaches in der Welt zu denken, besteht darin, daß die Welt, in welcher wir uns vorfinden (die „Sinnenwelt"), fundamental durch Räumlichkeit charakterisiert ist. (Der Raum tritt hier, im Thema der Zusammensetzung und Teilung, ganz in den Vordergrund.) Zusammensetzung, dieses „äußere" 59 Verhältnis für sich bestehender Dinge, ist in der durch den äußeren Sinn angeschauten und erfahrenen Erscheinungswelt wesenhaft räumliche Zusammensetzung. Aber dann muß eben 59

Dem bloßen (anschauungsfreien) Begriff nadi braudien „äußere" Zusammenordnungen nicht von räumlicher Art zu sein. Nicht nur die Weltordnung der Monadologie bei Leibniz selbst war in ihrer (wie Kant sagen würde: intelligiblen) Grundverfassung unräumlich, sondern audi die Zusammenordnung von Vernunftwesen überhaupt in der „Idee" der reinen praktischen Vernunft bei Kant hat nichts mit Räumlichkeit zu tun. — Es darf an die „nicht zu vermeidende Zweideutigkeit" in dem Begriffe „außer" uns erinnert werden (IV 234 A 373), welche wir terminologisch durch Abhebung des spezifisch räumlichen „extra" gegenüber einem allgemeiner zu denkenden „praeter" zu erläutern suchten.

3 Heimsoelh, Transzendentale Dialektik II

232

(S. 301 Β 46J)

auch das Reale, was da Raum „einnimmt", seinerseits unter dem Strukturgesetz des Raumes stehen: so daß der kleinst-denkbare Teil selbst wieder einen Raumteil einnimmt! Das aber heißt dann auch, dieses als unteilbar-einfach gedachte „Element" (im Quantitätssinne!) enthält wiederum Mannigfaltiges in sich; und zwar nicht nur, wie jedes Ding, Mannigfaltigkeit von Eigenschaften, Akzidenzen, Zuständen, sondern eben ein „außerhalb einander befindliches" Mannigfaltiges seines Bestandes. In räumlich Zusammengesetztem kann es also kein einfaches Element der Zusammensetzung geben"0. Der zweite Halbsatz der Antithesis sagt aus, daß überhaupt („überall", alte Sprachform, soll nicht auf Räumlichkeit hinweisen) nichts Einfaches in der Welt existiere. Im 3. Absatz des „Beweises" wird ausdrücklich gesagt, daß diese Behauptung viel weiter gehe, als der erste Halbsatz. Dabei stellt sich der Ausdruck „ganze Natur" ein. Derselbe darf aber nicht im Sinne der hier in der Antinomielehre neu eingeführten Unterscheidung von „Welt" und „Natur" verstanden werden (S. 288/9 Β 446); es soll jetzt nur darauf hingewiesen werden, daß zur Natur als Inbegriff der Gegenstände der Erfahrung auch alles das gehört, was uns im „inneren Sinn" gegeben ist und in uns wahrgenommen wird. Naturlehre ist beides miteinander: „Seelenlehre, als die Physiologie des inneren Sinnes" und „Körperlehre, als . . . Physiologie der Gegenstände äußerer Sinne" (IV 238/9 A 381). Davon wird ausdrücklich im 2. Absatz gesprochen. Die Teilungsproblematik wird sich demnach audi auf die Gegebenheiten und Gegenstände der inneren Erfahrung (deren Anschauungsform das andere quantum continuum — die Zeit — ist) erstrecken; es läßt sich zeigen, daß auch hier kein schlechthin Einfaches uns, als empirisch-real, vorkommen kann. Positiv gewendet heißt das, in Kants neuer Terminologie, daß das absolut Einfache kein Verstandesbegriff ist, den man in Synthesen der Exposition von Erscheinungen gebrauchen könnte, sondern — ein Vernunftbegúñ: „nur" eine Idee (freilich eine „transzendentale", 60

Diese grundsätzliche Schwierigkeit im Atombegriff war bekanntlich von den Atomisten der Antike (Kant vor allem durch Lukrez vertraut; die lateinische Wortfassung Atomus in unserem Text kann daran erinnern) nicht bemerkt worden. Kant seinerseits hat nodi im Opus postumum auf die Unhaltbarkeit solcher selbst wieder räumlichen Elemente des Zusammengesetzten mehrfach hingewiesen.

(S. 305 Β 467)

233

keine willkürliche Erdichtung), — welcher eben nichts Erfahrbares in der Erscheinungswelt („Natur") je adäquat sein kann. Daß dem so ist, wird wieder indirekt bewiesen. Wenn man annimmt, es ließe sich etwas Reales von „absoluter Simplizität"61 in der Sinnenwelt „finden", so kann es für Bestätigung solcher Annahme nicht genügen, wenn man darauf verweist, man könne in diesem oder jenem Gegebenen nichts Mannigfaltiges im Sinne extensiver Größen („außerhalb einander" darf hier nicht bloß räumlich verstanden werden) mehr feststellen — so etwa sei in der empirischen Selbstanschauung des bloßen Ich nichts mehr davon zu entdecken. Vielmehr müßte verlangt werden, daß das als einfach Empfundene und Angesprochene auch wirklich als. Einfaches „erkannt" werden könne: daß also positiv erwiesen werde, hier eben könne es keinerlei Mannigfaltiges außerhalb einander mehr geben, also auch mit keinem weiteren Eindringen in das Erfahrene gefunden werden. Eben das aber kann in keinem Falle, also auch nicht wo es sich um „innere" Wahrnehmung handelt, daraus geschlossen werden, daß der Wahrnehmende sich keines Mannigfaltigen von dieser Art „bewußt" ist! (Es darf an Kants Beispiel des Tonkünstlers, wenn er viel Noten im Phantasieren zugleich greift, erinnert werden: ein Mannigfaltiges außerhalb einander bei „dunklen Vorstellungen". S. 271aB414/5a). Zwar gehört ein „schlechthin" einfaches Apperzeptionsbewußtsein als wesenhafte Möglichkeit zu all unserem Erfahren. Aber ein schlechthin einfaches Objekt kann uns weder in äußerer noch innerer Anschauung je gegeben und also auch nicht, über bloße Begrifisintention hinaus, wirklich erkannt werden. Die Anmerkung im Text bespricht im 1. Absatz wieder nur den ersten Halbsatz der Antithesis, welcher, wie es zuletzt nodi hieß, „das Einfache nur von der (sc. räumlichen) Anschauung des Zusammengesetzten verbannt" ; der 2. Absatz wird dann, im Sinne der Ausweitung auf Natur im Ganzen, auf Gegenstände auch des inneren Sinnes konzentriert. — Zunächst also geht es um die Vernunftbehauptung wesenhaft unendlicher Teilung der Materie, also der zusammengesetz61



Der hier gewählte Ausdruck muß sogleich an den „Paralogismus der Simplizität" ( I V 221/2 A 351) erinnern, also an das Thema „Seele" und an die „Physiologie des inneren Sinnes". — Daß der „zweite Satz" der Antithesis hier, nämlich in einer kosmologischen Beweisführung, welche grundsätzlich auf „Sinnenwelt" geht, „nur soviel bedeuten" soll, deutet an, daß damit über Bestand von einfachen Substanzen im Übersinnlichen keineswegs auch negativ entschieden sein kann und soll.

234

(S. 30S B 467)

ten „Substanz, die im Raum erscheint"62. Daß der Beweisgrund „bloß" mathematisch ist (aus geometrischer Einsicht in die Beschaffenheit des Raumes), darf hier nicht als Gegenbegriff zu „dynamisch", gemäß Kants Einteilung der Antinomiegruppen der Grundsätze, verstanden werden, sondern ist schon im Sinne von Einwürfen aus dem Lager der „Monadisten" gesagt, welche abstrakt-geometrische Überlegungen von den naturphilosophisch-metaphysischen abtrennen wollen — in der Voraussetzung etwa, jene seien doch nur fiktiv63. In Wahrheit aber ist, nach der „transzendentalen Erörterung des Begriffs vom Räume" in der Ästhetik, der reine Raum, dessen Beschaffenheit die Geometrie uns evident macht, „ursprüngliche Anschauung" in uns und damit Formbedingung alles dessen was Raum „erfüllt". Materie, nach ihrem empirischen Begriff das „erste Substratum aller äußeren Wahrnehmung", ist das, was den Raum mit Undurchdringlichkeit erfüllt; Ausdehnung und Undurchdringlichkeit „machen zusammen den Begriff von Materie aus" 64 . Daß bloße „Aggregation" von Punkten einen Raum „erfüllen" könnte, ist bloß erdacht, ohne ErkenntnismögYidnkeit — ebenso wie der Begriff von physischen Punkten selber. Was durch Erfahrung in der äußeren Natur wirklich erkennbar wird, das sind Verhältnisse von Kräften, welche im Räume wirksam sind65. Das gilt 62

c3

Vgl. in der Analytik z . B . S. 217/8 Β 321 ff.; als substantia phaenomenon hier abgehoben von Substanzen, die als Noumena in einer intelligiblen Welt gedacht werden, ζ. B. von Leibniz — wo denn „alles, was äußere Relation bedeuten mag, mithin audi die Zusammensetzung" in Gedanken weggenommen wurde. Kants Frühschrift von 1756 mit dem Untertitel „Monadologia physica" — welche auf ihre Weise auch einen „Monadisten"-Standpunkt einnimmt, war schon getragen von dem Bestreben, welches der Haupttitel formuliert: Metaphysicae cum geometria junctae usus in philosophia naturali.

64

Vgl. z. B. S. 193 Β 278; S. 228 Β 339; S. 412 Β 646. Es darf darauf hingewiesen werden, daß im Beweis der Antithesis das Im-Raum-Sein immer als Raum „einnehmen" bezeichnet wird; sobald aber, wie in der „Anmerkung", von Materie die Rede ist, heißt der entsprechende Ausdruck: Raum „erfüllen". Der Unterschied war für Kant aktuell geworden bei Fragen der Pneumatologie. Vgl. in den „Träumen eines Geistersehers . . . " I I 323/4.

65

S. 217/8 Β 321: „Die Substanz im Räume kennen wir nur durch Kräfte, die in demselben wirksam sind . . . , Zurückstoßung und Undurchdringlichkeit; andere Eigenschaften kennen wir nicht, die den Begriff von der Substanz, die im Räume erscheint, und die wir Materie nennen, ausmachen." — Gegen die „Monadisten" geht auch noch ein verwandter Passus der Methodenlehre: „So ist es nicht erlaubt, sich irgend neue ursprüngliche Kräfte zu erdenken . . . ζ. B. eine Ausdehnungskraft ohne alle Berührung, oder eine neue Art Substanzen, ζ. B. die ohne Undurchdringlichkeit im Räume gegenwärtig wäre . . .". S. 502 Β 798.

(S. 305 Β 467)

235

jedenfalls für unsere Art Anschauung, deren Wesensformen die quanta continua Raum und Zeit sind. Ob es auch nichtsinnliche Anschauung geben kann, welche etwa Welt als Aggregat einfacher Substanzen fassen könnte („intelligible" Welt, gedacht als compositum substantiale noumenon, etwa in der Weise der Monadologie), darüber läßt sich gar nichts aussagen. Aus „bloß diskursiven Begriffen", wie es ja alle Kategorien und im besonderen jetzt „die reinen Verstandesbegriffe des Zusammengesetzten" sind, kann nichts erkannt, also audi nichts beweiskräftig behauptet werden. Nimmt man aber die Anschauung, welche für uns „ursprünglich" ist, hinzu, so ist mit dem Totum formale des Raumes (und seiner transzendentalen Idealität) eo ipso audi die reale räumliche Substanz, „Materie", nach ihrem Ganzheitscharakter bestimmt: nicht einfache Teile „vor" aller Zusammensetzung, sondern grundsätzlich unendliche Teilbarkeit jedes gegebenen Ganzen. Die „Evidenz" der Mathematik bestimmt (wie das im ersten Stüde der „systematischen Vorstellung aller Grundsätze", unter dem Titel „Axiome der Anschauung" erwiesen wurde) alle Gegenstände der Erfahrung66. Für uns gibt es Materie und Körper nur als Erscheinung; jede „zusammengesetzte Substanz" in der Sinnenwelt ist ein totum substantiale und alle „dynamischen Verhältnisse" zwischen solchen und in solchen setzen Raumkontinuität voraus; nicht aber kann, wie bei den Monadisten, das dynamische Verhältnis von Substanzen „überhaupt" (gedacht in bloßen Begriffen: als „Dinge an sich und überhaupt"!) der Existenz von Räumlichem voraus gesetzt werden67. — Der Verweis auf die transzendentale Ästhetik zielt auf deren Gesamtposition, welche alle empirische Realität auf die transzendental-idealen Anschauungsformen festlegt, speziell aber auf das dritte Argument, wonach Raumteile immer nur im Einen Raum gedacht werden können. 66

S. 148/9 f. Β 202/3 ff. Dieser „transzendentale Grundsatz der Mathematik der Erscheinungen" ist es allein, welcher die reine Mathematik „in ihrer ganzen Präzision" anwendbar macht. Was Geometrie sagt, „gilt auch ohne Widerrede" v o n den Erscheinungen; und die Ausflüchte (derselbe Ausdruck wie in unserem Dialektik-Text; ebenso wird dort w i e hier v o n „Schikanen einer falschbelehrten Vernunft" gesprochen!), „als wenn Gegenstände der Sinne nicht den Regeln der Konstruktion (ζ. B. der unendlichen Teilbarkeit . . . ) gemäß sein dürfen, müssen wegfallen".

87

D e r junge Kant seinerseits hatte in jener „physischen" Monadologie Substanzen erdacht, welche, und zwar durch die seit N e w t o n bekannten Kräfte, Räumlichkeit (als ihr „phaenomenon") erzeugen. In Wahrheit war das eine Position, wie sie Kant hier im Texte, alles dergleichen abwehrend, schildert.

236

(S. 307 Β 471)

Der letzte Absatz dieser Text- „ Anmerkung" greift nun ganz direkt das Thema von nicht-körperhaften einfachen Substanzen „in der Welt" auf. Die zwei Hinweise auf „oben" Ausgeführtes gehen natürlich auf das im Thema der „Seele" stehende Erste Hauptstück der Dialektik. Dem zweiten Satze der Antithesis mit seinem „überall nichts Einfaches" steht, wenn man auch von allem, was Materie und Körper (res extensae) betrifft, absieht, immer doch die These von der jedem einzelnen Ichbewußtsein zu entnehmenden bzw. daraus zu erschließenden Existenz einfacher Denksubstanzen (res cogitantes), als doch auch zur Welt gehörend, entgegen; und hier wird ja unmittelbar an Ich-Wahrnehmung angeknüpft, nicht nur begrifflich über „Zusammengesetztes" argumentiert. In Richtung aber auf den Gegensatz von Einfach und Zusammengesetzt, was jetzt eben zum Thema steht, muß jenen Aufdeckungen des bloß „Vernünftelnden" in den aufs Ubersinnliche unbedingt einfacher Seelensubstanzen zielenden Beweisgängen hinzugefügt werden, daß das Ich der reinen Apperzeption, notwendig zu denken als „Vehikel" in allem gegenständlichen Bewußtsein, als „bloße" Vorstellung aller Bekleidung gleichsam von Anschaulichem entbehrt, und nur insofern „einfach", allem Mannigfaltigen und Zusammengesetzten vorausliegend, heißen kann"7®. Allerdings kann man auch vom Ich der inneren Erfahrung, mit seinen anschaulich gegebenen „Prädikaten" des Vorstellens, Fühlens, Begehrens, Denkens etc. nicht sagen, daß darin „reale Zusammensetzung" sei, Mannigfaltigkeit im Sinne eines räumlichen „Außerhalb einander". In diesem Sinne kann das Selbstbewußtsein sich auch nicht als Objekt teilen (wohl aber natürlich jene Prädikate an sich als einzelne jeweilige Bestimmungen unterscheiden). — Darüber hinaus gilt nodi, daß jeder Gegenstand, rein auf sich selbst bezogen (nicht auf andere, z. B. in Relationen möglicher Zusammensetzung oder Teilung), etwas Einfaches („absolute Einheit" von inhärierenden Bestimmungen) ist. Im Selbstbewußtsein aber haben wir den einzigartigen Fall, daß das Selbst zugleich sein Objekt ist: da fällt das dann besonders auf und kann zu Fehlschlüssen verleiten. Der Schlußsatz fügt noch positiv hinzu, daß der Gegenstand wirk67 a

„Die Einfachheit aber der Vorstellung von einem Subjekt ist darum nicht eine Erkenntnis von der Einfachheit des Subjekts selbst . . . " ; — im „gänzlich leeren Ausdruck: Ich . . k a n n keinerlei Bestimmung dieser Art gefunden werden. IV 224 A 355.

(S. 308 Β

lyj

472)

licher Selbsterfahrang des Subjekts, wenn überhaupt unter den Begriffsgegensatz „Zusammengesetzt" (als Vielheit außerhalb einander verstanden) und „Einfach" gestellt, auch räumliche Anschauung voraussetzt. Gedacht ist hier wohl an Anschauung des eigenen Selbst in seiner Leiblichkeit. — Es mag in dieser Schlußwendung der Gedanke mit anklingen, daß empirische „Apperzeption", die selbstverständlich primär als Innenwahrnehmung charakterisiert ist, doch nie abgetrennt und isoliert von allem Äußeren vorkommen kann. Dritte Antinomie Der Dritte Widerstreit, unter dem „Relations"-Titel der Kategorientafel stehend, kommt auf bei der Vernunftbesinnung auf die Reihe der Kausalbedingungen, wenn man sie im Regreß durchdenken will. Von jeder gegebenen „Wirkung" als Bedingtem steigt das um Erklärung des so Existierenden bemühte Uberlegen auf zu seinen Ursachen und weiter zu den Ursachen der Ursachen. Die Thesis statuiert, um dem Vernunftanliegen gerecht werden zu können, zweierlei Arten von „Kausalität" 68 . Die eine derselben ist die uns bei allem gegenständlichen Erkennen und Erklären geläufige, und besonders in aller naturwissenschaftlichen Forschung (auf welche Kants Wissenschaftsbegriff immer vor allem orientiert ist) immer schon vorausgesetzte: die „nach Gesetzen der Natur". Transzendental begründet ist dieselbe im System der Grundsätze als Zweite der Analogien der Erfahrung. — Die andere, heißt es dann, muß zu der ersten noch hinzu angenommen werden69, wenn man die Erscheinungen der Welt „insgesamt" (darin liegt auch hier wieder der spezifische Vernunftanspruch: Totalität der regressiven Reihe) ursächlich ableiten will. Diese 68

69

„Kausalität und Dependenz" heißt in der grundlegenden Tafel die zweite Relationskategorie. Sie ist, rein für sich genommen, als „reiner Verstandesbegriff", noch völlig frei von jeder ansdiaulich-sinnlidien Vorstellung zeitlichen Erfolgens. D a der heutige Sprachgebrauch von „Kausalität" immer sogleidi an das Kausalgesetz denken läßt, empfiehlt es sich, das Wort bei Kant ganz allgemein als „Wirksamkeit" oder „Erwirken" (eines davon Dependenten) sich zu verdeutlichen. Es wird dann audi eine für uns fremdklingende Wendung wie „Kausalität der Ursache" (3. Absatz des Beweises) eher eingängig; ebenso fällt die scheinbare Paradoxie in der Benennung des Zentralbegriffs der Thesis fort, welcher „Kausalität" und „Freiheit" so eng zusammenspannt. Zu diesem Begriff des „Annehmens", worin sich eine „transzendentale H y p o these" andeutet, vgl. die rückblickende Formulierung in der Methodenlehre S. 503 f.. Β 800/1.

238

(S. 308 Β 472)

zweite Erwirkensart von Erscheinungen (Geschehnissen) nennt die kosmologische Thesis: „Kausalität durch Freiheit". Dazu wird Weiteres erläuternd folgen. Der Beweis setzt wieder ein bei der entgegengesetzten Annahme (Bestreitung dieser zweiten Art), mit dem Ziel, auf ein „unmöglich" in der Konsequenz herauszukommen. Was also allein bleiben würde, wäre Erklärung nach Naturgesetzen. Es wird vom (in der Zeit) „Geschehenden" zurückgegriffen auf einen zeitlich vorhergehenden „Zustand" der Dinge, und zwar so, daß das zu erklärende Geschehen mit Notwendigkeit aus jenem folgt — nach einer „Regel" der Analogie7". Natürlich ist dann auch die gefundene oder gedanklich vorausgesetzte Ursache ihrerseits wieder ein zeitlicher Zustand, etwas Gewordenes. Anders wäre es, wenn — wie etwa in kosmo-theologischen Erwägungen — auf eine Ursache zurückgedacht würde, die ihrerseits jederzeit gewesen, also „ewig", sein soll: dann darf aber auch Welt als Dependenz-„Folge" solchen Urwesens und etwa seines schöpferischen Willens nicht als zeitlich „entstanden" gedacht werden! Mit solchem „Denken" eines mundus intelligibilis (so oder so entworfen) und seiner zureichenden Ursache (ratio sufficiens) haben wir es aber hier gar nicht zu tun. In der Erscheinungswelt handelt es sich, bei jener Weise der Kausalerklärung, immer und jedesmal um ein zeitliches Erfolgen. Und das wiederholt sich unabsehbar: im Regreß stößt man immer wieder nur auf „subalterne Anfänge" 71 Wir können auf diesem Wege 70

Der Ausdruck „Regel" steht bei Kant, im Thema der Naturgesetzlichkeit, vor allem da, wo es sich um das Vermögen und Bemühen des Verstandes handelt, Gesetze im Naturgeschehen aufzudecken. Vgl. IV 92, A 126: Der Verstand „ist jederzeit geschäftig, die Erscheinungen in der Absicht durdizuspähen, um an ihnen irgendeine Regel aufzufinden. Regeln, sofern sie objektiv sind (mithin der Erkenntnis des Gegenstandes notwendig anhängen) heißen Gesetze." — Daß Kants Argumentation und seine ganze Fassung dieser Antinomie von der Basis der neuzeitlichen Konzeption naturwissenschaftlicher Kausalerkenntnis und des entsprechenden Naturbegriffs ausgeht (Natur als Geschehens-System „nach Gesetzen"), muß man sich immer gegenwärtig halten.

71

Die zweite Analogie der Erfahrung, der „Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetz der Kausalität", welche allen besonderen Ursachgesetzen der Natur konstitutiv vorausliegt, heißt in der Fassung der Ersten Auflage: Alles, was geschieht, „anhebt" zu sein, setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel, d. h. notwendig, folgt. IV 128 A 189. — Der Ausdruck „subaltern" kommt aus der Logik: subalternatio, wo immer ein subalternans mitvorausgesetzt ist. — Der Ausdruck „der voneinander abstammenden Ursachen" läßt nodi den in der Schul tradition geläufigen Bezug der bisherigen Weltreihe auf die Reihe menschlicher Geschlechter seit Adam anklingen.

(S. 308 Β 472)

239

also grundsätzlich nie auf einen ersten „Anfang" (im „dynamischen" Sinne, wohl zu unterscheiden von zeitlichem Anfang, der im Ersten Widerstreit zum Thema stand) kommen. Die Reihe kann also nie als vollständig begriffen werden, — was doch Vernunft verlangt (immer in der Voraussetzung, daß, wenn Bedingtes gegeben ist, auch die ganze Summe der Bedingungen mithin das schlechthin Unbedingte gegeben sei). — Zugleich liegt es in dem Begriff von „Natur", wie er vom Grundsatz der Kausalität her sich konstituiert, daß nichts in der Realität geschehe ohne „hinreichend", also doch eben vollständig determinierte Ursächlichkeit72. Damit ergibt sich also innerhalb des so verstandenen Naturbegriffes selber ein Widerspruch. — Man sieht sich also doch verwiesen auf noch eine andere Art Kausalität: un-bedingte Wirksamkeit, d. h. Ursache oder Ursachen des Geschehens, die ihrerseits nicht wieder „dependent" im Sinne gesetzmäßig-notwendiger zeitlicher Abfolge wären. Diese „Annahme" geht also auf ein „von selbst" (sua sponte) Anfangen („absoluter Anfang" heißt es später) oder Erwirken einer Reihe von Wirkungen, die dann ihrerseits nach Naturgesetzen verläuft. Kant nennt das jetzt: „absolute Spontaneität" 73 , und dann im Sinne seiner neuen „Vernunft"-Begrifflichkeit: „transzendentale Freiheit" (was in der Text-Anmerkung sogleich durch Abstechung näher bestimmt wird). Er fügt auch noch, im Sinne der kosmologischen Thesis, hinzu, daß ohne die Annahme einer Kausalität von dieser zweiten Art „selbst im Laufe der Natur" die Reihe nicht vollständig sei (der Naturbegriff also nicht widerspruchsfrei gedacht werden) könne71. 12

„Hinreichend" klingt natürlich an das große Streit-Thema des Kantischen Jahrhunderts an: den Satz vom „zureichenden" Grunde, welcher ja audi, von Leibniz her, zentrale Bedeutung für die Kosmologie hatte. — In der Wortverbindung: „hinreichend a priori bestimmte Ursache" muß a priori in dem vor Kant gebräuchlichen Sinne genommen werden: a parte ante in der Herleitung. Die Apriorität des Kausalgesetzes steht für Kant natürlich grundsätzlich dahinter.

13

Den Terminus „Spontaneität" verwendet Kant in der Analytik stets zur Charakterisierung des Verstandes nach seiner Eigenfunktion in „Akten" oder „Handlungen" synthetischer Verknüpfung von „rezeptiv" Gegebenem.

14

Wir möchten die Wendung hier noch nicht im Sinne eines „selbst innerhalb" der Natur verstehen, was denn schon auf das Thema menschlicher Freiheitshandlungen hinweisen würde, ebenso auch nicht den vorher auftretenden Plural: Spontaneität der Ursachen darauf schon beziehen. Vielmehr dürfte der Hinweis als Abhebung unseres rein kosmologischen Themas gegen eine eo ipso über Erscheinungen hinausgehende kosmo-theologische Fragestellung gemeint sein.

240

(S. 310 Β 476)

Die Text-„Anmerkung" geht nun näher auf den Begriff „transzendentale Freiheit" ein. Er ist „Idee", — im Sinne des Abschnitts „Von den transzendentalen Ideen" (S. 250 ff. Β 377/8 ff.) und näher des Ersten Abschnitts des Antinomie-Hauptstücks (S. 283 ff. Β 435/6 ff.) über die kosmologischen Ideen; die zweite Relationskategorie wird im Vernunftdenken zur „unbedingten" Kausalität erhoben. Die Bezeichnung als Kausalität „durch Freiheit" oder als absolute Spontaneität der „Handlung" verleitet dazu, sogleich an menschliches Tun zu denken und damit an das „psychologische" Problem unserer Willensund Handlungsfreiheit. Dergleichen liegt aber zunächst gar nicht in dem Begriff der reinen Vernunft. „Handlung" (actio, Aktus ist bei Kant ein reiner Verstandesbegriff, der vor allen spezifischen Erfahrungen von Physischem oder Psychischem liegt; er gehört zu den Prädikabilien als „Folgebegriffen" aus der Kausalitätskategorie, zugleich mit den Begriffen „Kraft" und „Leiden"75. Handlung im transzendentalen Sinne ist ein vor aller Zeitanschauung gelegener Begriff — also keineswegs auf das was „geschieht", auf „etwas „Geschehenes" (im Beweisabschnitt gesperrt; „Reihe von sukzessiven Dingen" heißt es im folgenden) eingeschränkt. Auch den Terminus „Imputabilität", wie ihn Kant hier gebraucht, darf man nicht gleich auf rechtlich-moralische Verhältnisse des Menschenlebens fixiert denken; er bezeichnet nur die Zuschreibung und Zurechnung einer actio auf ihren wirkenden „Grund". (Historisch freilich steht vor allem die Theodizee-Frage von der Zurechnung des Bösen dahinter, auch bei Kant selbst: vgl. die Frühschrift Nova dilucitatio; besonders imputatio II 399/400.) — Freiheit im „psychologischen" Sinne bedeutet immer auch Empirisches (ζ. B. Freiheit von Affekten76) und gehört insofern zu einer „Physiologie des inneren Sinnes" und deren Weisen von Ableitung, Erklärung. Doch steckt darin (wie das „großenteils" andeutet) immer auch ein Kerngedanke von rein transzendentaler Bedeutung. Und eben darin liegt die eigentliche Schwierigkeit auch für das alte Problemthema der (menschlichen) Willensfreiheit. Die Schwierigkeit ist die, ob überhaupt (rein dem Begriffe nach betrachtet) ein absolut spontanes Erwirken von Wirkungen, die dann einander folgen, als dynamische Realmöglichkeit („Vermögen" im 75

S. 94 Β 1 0 8 ; Prolegomena, Vorwort I V 257.

78

Es gibt auch, wie Erfahrung zeigt, Freiheitsneigung als Leidenschaft. Anthropologie § 82. V I I 268 f.

(S. 310 Β

476)

241

allgemein-transzendentalen, nicht im speziell psychologischen Sinne) zu denken, „anzunehmen" sei. N u r um das Daß solchen Vermögens handelt es sich da; die Einsicht in das Wie seines Funktionierens muß nicht verlangt werden — die haben wir in Wahrheit ja auch nicht bei der uns so vertrauten „Kausalität nach Naturgesetzen". Denn die hier einsichtige Notwendigkeit ist immer nur die des aufeinander Folgens nach einer Regel der Analogie; der Verstand „versteht" die Synthesis der Abfolge, ohne „Begreifen" des „Aus-" oder „ D u r c h e i n a n d e r von realen Existenzen". — Kausalität durch Freiheit tritt in der Thesis primär und eigentlich als notwendige Annahme im Vernunft-Begreifen der Weltreihe auf: Problem der Ersten Ursache, des „Ursprungs" oder (dynamischen) „Anfangs" einer von da an unabsehbaren Abfolge, wie wir sie in Ausschnitten ständig erfahren. Der „Beweis" hat zur Notwendigkeit dieser „Annahme" geführt (ohne Anspruch auf Einsicht in das Wie solchen Spontanvermögens). Ist dieses aber, in der Kosmologie, als Realmöglichkeit gesichert, — dann ist es auch „erlaubt" (nicht etwa vom Vernunft- und WeltDenken her geboten!), den so erwiesenen Begriff f ü r die Entscheidung jener alten, auch ins „Psychologische" hinüberführenden Frage nach der menschlichen Willensfreiheit einzusetzen! In ihr geht es nicht um Anfangen „der" Weltreihe, sondern (sozusagen innerweltlich) darum, ob gewissen „Substanzen" zum Unterschied von anderen (Menschen gegenüber bloßen Körperdingen und allen Lebewesen sonst) ein Vermögen zugesprochen werden könne, „aus" oder „durch' r Freiheit zu handeln. Hier erhält „Handeln" ganz spezifischen Sinn: das jeweilige Subjekt beginnt aus sich eine Reihe von Wirkungen, welche von da auseinander-aufeinander folgen. Die Paradoxie, daß es „absolut erste" Anfänge mitten im sukzessiven Weltlauf (und dies im Plural) geben soll, verschwindet, wenn man sich klar macht, daß es hier ja um dynamisches Einsetzen geht, nicht um zeitlichen Anfang — welcher freilich, bei der Eindimensionalität der Zeit, doch nur einer sein könnte. Faktisch liegt dergleichen im Gedanken der Willensfreiheit, auch wenn sie nur vom Alltäglichen eines Entschlusses und Tuns her anvisiert 77

Vgl. S. 178 Β 252: „Wie nun überhaupt etwas verändert werden könne, wie es möglich sei, daß auf einen Zustand in einem Zeitpunkt ein entgegengesetzter im anderen folgen könne: davon haben wir a priori nicht den mindesten Begriff. Hierzu wird die Kenntnis (!) wirklicher Kräfte erfordert, weldie nur empirisdi gegeben werden kann . .

242

(S. 310 Β 476)

wird78. Die Handlung selbst, etwa das Aufstehen vom Stuhle, wird „Begebenheit" mit weiteren sukzessiven Folgen, geschehend in der Zeit, also vorhergehendes Geschehen fortsetzend. Sofern aber dieses Geschehen oder „Ereignis" erwirkt ist eben durch den Aktus einer Entschließung, erfolgt es (dynamisch) nicht aus anderen vorangehenden Geschehnissen. Das was im Regreß der einander in der Abfolge bestimmenden Naturursachen „oberhalb" des Jetzt-Entschlusses liegt, kommt für diesen als solchen nicht, als etwa notwendig bestimmend, in Betracht. Der letzte Absatz lenkt auf das kosmologische Hauptthema zurück — in einer historischen Verweisung auf den antiken Begriff des „Ersten Bewegers". Daß Kant denselben nicht in der originären Fassung bei Aristoteles kannte, sondern immer (von der christlich-theistischen Tradition her) im Sinne einer ersten causa efficiens verstand, muß vorausgesetzt werden. Unter den „Philosophen des Altertums" denkt Kant in solchem Zusammenhang vor allem an Anaxagoras und Plato, wobei er diese Denker immer auch schon auf dem Wege zu einem Schöpfungs-Monotheismus (handelnde Ursache als „von selbst" anfangender Wille verstanden!) vermutete — was freilich dann über den rein kosmologischen Rahmen (etwa des Anaxagoras) hinausführen rnüßte79. Einzige Ausnahme in der Antike nach Kants Vorstellung: „die epikurische Schule" (Bewegungsdynamik der Atome, ebenso wie deren Existenz, von Ewigkeit her80). — Die „Annahme" der zweiten 78

Man darf aus dem hier von Kant gewählten simplen „Beispiel" nicht entnehmen wollen, daß solche Art „Freiheits"-Bewußtsein schon Willensfreiheit bezeuge; daß „spekulative Vernunft von jeher" im Streit um Willensfreiheit auch mit dergleichen Alltagsphänomenen umgegangen ist, verstand sich allerdings für Kant von selbst.

79

Vgl. X X I I I 4 4 0 : „ . . . Begriff eines höchsten Wesens als Weltschöpfers", zunächst noch unbestimmt, wie sein Wille (!) „beschaffen sein würde . . . " . „Diesen Weg sind Anaxagoras, Plato und die philosophierenden Römer zum moralischbestimmten Monotheismus gekommen . . . " . Die antike Atomistik, wie sie vor allem im Lehrgedicht des Lucretius Carus dargelegt war, stand Kant als Naturphilosophen im Duktus des neuzeitlichen „Mechanismus" von Anfang an nahe — wobei aber, vom neuen Begriff der Natur als System nach Gesetzen aus, das dort gelehrte Hineinspielen von Zufall scharf verurteilt wird. In Kants erstem Hauptwerk (1755) heißt es: „Die angeführten Lehrer der mechanischen Erzeugung des Weltbaus leiteten alle Ordnung, die sich an demselben wahrnehmen läßt, aus dem ungefähren Zufall her, der die Atomen . . . zusammentreffen ließ . . . Epikur war gar so unverschämt, daß er verlangte, die Atome wichen von ihrer geraden Bewegung ohne alle Ursache ab, um einander begegnen zu können." 1 2 2 7 ; vgl. II 123, 3 5 8 : Clinamen der Atome, nachdem sie „von Ewigkeit her . . . gefallen".

80

(S. 309 Β 473)

243

Art von Wirksamkeit wird in diesem Rückblick als Vernunft„Bedürfnis" vorgestellt, was hier bloß heißen soll, daß Vernunft aus ihrem Vollständigkeitsanspruch im Erklären derselben notwendig bedarf. Die Antithesis behauptet Alleingeltung der Kausalität „nach Gesetzen der Natur" — was denn ebenso die Negation eines dynamisch Ersten im ursprünglich-kosmologischen Sinne wie Verneinung analoger „Freiheits"-Anfänge „mitten" im Weltlauf bedeutet. Der Beweis, ausgehend wieder von der Gegenposition, zielt auf Unhaltbarkeit jenes Vernunftbegrifïs einer un-bedingten Wirksamkeit. Ein Spontaneitäts-„Vermögen", das von sich aus eine Reihe von Geschehnissen in Gang setzt, müßte in seiner Eigenwirksamkeit sich zeitlich abheben vom Zustand des Agierenden vor der Aktion, vor Handlungsbeginn — dabei aber ohne dynamische Verbindung damit sein, ein Folgen ohne das „daraus Erfolgen". Das aber widerspricht nun dem Kausalgesetz, welches die Analytik als allgemein-notwendigen Grundsatz aller möglichen Erfahrung und damit aller Gegenstände der Erfahrung ausgewiesen hat! Es kann also so etwas wie „transzendentale Freiheit" in keiner Art Erfahrung (audi nicht etwa in der „inneren", psychologischen) „angetroffen werden". Der angeblich notwendige Vernunftbegriff erweist sich damit als gegenstandsloser Gedanke, als das Nichts eines bloßen ens rationis. Die raumzeitliche Welt, in welcher wir uns vorfinden, ist nichts anderes als „Natur" im Analytik-Sinne: universaler Zusammenhang nach Gesetzen, speziell nach jenem Ordnungsgesetz zeitlichen Entstehens. Der 2. Absatz führt die Gefahr vor Augen, welche in der Einführung eines Spontaneitätsgedankens von der gesamten Art gelegen ist: Aufhebung der naturgesetzlichen Verknüpfung. Wo der synthetische Grund „der Zeitfolge, nach dem Gesetz der Kausalität", welcher für alles, „was geschieht (anhebt zu sein)" gilt, außer Kraft gesetzt werden soll, da gibt es keine „Erklärung", keine wirkliche Bestimmung des Geschehens mehr: man hat den „Leitfaden" verloren81. Transzenden81

Vgl. S. 326 Β 497/8: Annahme solchen Vermögens in der Natur selbst würde „dem Verstand sein Geschäft schmälern, an dem Leitfaden notwendiger Regeln dem Entstehen der Erscheinungen nachzuspüren". — In der Zusammenfassung der Paralogismen hieß es zum psychologischen Thema: » . . . es bleibt uns nichts übrig, als unsere Seele an dem Leitfaden der Erfahrung zu studieren und uns in den Schranken der Fragen zu halten, die nicht weiter gehen, als mögliche innere Erfahrung ihren Inhalt darlegen kann." IV 239 A 382.

244

(S. 311Β 477)

tale Freiheit, als im Naturzusammenhang vorkommend (sei es als Ursprung oder mitten im Verlauf), würde „Gesetzlosigkeit" — Mangel an Ordnung überhaupt — bedeuten82. Dem wäre auch nicht zu entgehen, wenn man spezifische (Verlaufs-)„Gesetze der Freiheit" neben den sonstigen Naturgesetzen als realgeltend voraussetzen würde. Denn jeder „Weltlauf", welcher nach Gesetzen bestimmt ist, steht unter dem universalen Grundsatz der Kausalität, macht also sogenannte Freiheit auch wieder zu einer Sparte der „Natur" 83 . Transzendentale Freiheit „annehmen" heißt also, jeden Leitfaden von Regeln überhaupt fahren lassen; und damit läuft der Gedanke auf eine Wirksamkeit heraus, welche, als regel- und gesetzlose, „blind" ist: d. h. gar nichts Einsichtiges und Nachvollziehbares mehr an sich hat84. Die Anmerkung behandelt im 1. Absatz noch einmal das übergreifend-kosmologische Thema der kausalen Weltreihe. Wenn, im Sinne der Antithesis, das „Vermögen", eine Reihe von sich aus anzufangen, als „Blendwerk" (ens rationis), beruhend auf dem dialektischen Fehlschluß einer „vernünftelnden" Argumentation, abgewiesen wird, so heißt das, Kausalität nach Naturgesetzen als all-„vermögen82

83

84

Gewiß hat Kant für diese Gefahr der „Gesetzlosigkeit" gerade Epikurs Abweichung der Atome als geschichtliches Urbeispiel vor Augen — umso mehr, als Epikur ja das Thema menschlicher Freiheit mit dieser Vorstellung von Indétermination in einen Begründungszusammenhang brachte. Kant konnte davon Kenntnis haben (aus Lukrez — „epikurische Schule" — und aus Cicero); und vielleicht klingt Abwehr dagegen audi mit an in jener affektiven Wendung der Frühzeit: „gar so unverschämt". Anders wäre es, wenn „Gesetze der Freiheit" in einem anderen, der zeitlichen Dimension nicht eingefügten Sinne verstanden würden. Davon wird, schon im Rahmen unserer Kritik, der Abschnitt handeln: „Möglichkeit der Kausalität durch Freiheit in Vereinigung mit dem allgemeinen Gesetze der Naturnotwendigkeit". S. 366 ff. Β 566 ff. — In einer Frühsdirift (1755) hatte Kant selbst noch Freiheit innerhalb der Welt unter das universale principium rationis determinantis vulgo sufficientis gestellt, ohne die eindeutige Absetzung zeitunabhängiger moralischer Gesetzes-Gründe gegen alle Weltgesetzlichkeit im „Natur"Sinne, wie sie dann sich auf der Basis der kritischen Position ergab. Das war damals nodi Folge des die Schulphilosophie weithin beherrschenden Leibnizianismus. In der Kritik der praktischen Vernunft (V 97) hat Kant gesagt, psychologische Freiheit, im Sinne einer bloß inneren, nicht von außen her determinierten Verlaufsreihe der Vorstellungen oder Seelenzustände, müßte man unter den „Mechanismus" der Natur rechnen; und die Freiheit unseres Willens, als eines solchen Automaton spirituale nach Leibniz gedacht, würde „im Grunde nichts besser, als die Freiheit eines Bratenwenders sein . . . " . Nur die Vernunftidee der transzendentalen Freiheit kann nach Kant darüber hinausführen. Der Zufall (casus) wäre „blindes Ohngefähr"; das Fatum „blinde Notwendigkeit". Der Gegenpol dazu ist: „verständliche" Notwendigkeit. S. 194 Β 280/1.

(S. 311Β 477)

245

des" Weltprinzip zu statuieren85. Dieser Standpunkt will sich bestätigt sehen durch Rückbesinnung auf das Anfangsthema des Ersten Widerstreits und die entsprechende Antithesis-Entscheidung: „kein mathematisch Erstes" der Weltreihe — d. h. also, die Welt ist, „in Ansehung der Zeit, unendlich". Dadurch wird aufmerksam gemacht auf Analogiezusammenhänge zwischen den thematisch streng voneinander zu unterscheidenden Antinomie-Arten und -Gruppen. So gut man WeltEwigkeit" behaupten und begründen kann, so gut kann man (wie etwa die „epikurische Schule"!) behaupten, daß nicht nur die „Substanzen" in der Welt als sempitern gedacht werden müssen, um den Weltbestand, vom empirisch Gegebenen her, einheitlich zu fassen, — sondern auch der Wechsel ihrer „Zustände", ζ. B. eben die „Veränderungen" des Ortes. Für solche Erklärungsart, welche alles Weltgeschehen einheitlich-homogen zu fassen erlaubt, muß der Gedanke einer anderen Art Kausalität als bloße Ausflucht eines Vernunftüberlegens gelten, welches sich für den zunächst unabsehlichen Regreß in der Reihen-Anschauung (Einbildungskraft unter der Leitung des, mathematische wie dynamische Zusammenhänge herstellenden, Verstandes) einen Abschlußpunkt zur eigenen Beruhigung er-denken möchte. Wenn aber auch der Behauptung einer „Allvermögenheit" und „Unumschränktheit" der Natur in ihrer ewigen Verlaufsdynamik (vom Gegenlager der Thesis her) vorgeworfen wird, solch „unendliche" Herkunft lasse sich wohl abstrakt denken, aber nicht nach ihrer Möglichkeit „begreiflich machen", — so muß erwidert werden, daß auch im gewohnten Erklären von empirischen Vorgängen „Naturrätsel" stekken. Das zeigt sich, sozusagen ganz konkret schon, bei den „Grundkräften", d. h. den immer nur durch Erfahrungs-„Kenntnis" uns zugänglichen, aber nicht ihrerseits wieder erklärbaren „synthetischen Beschaffenheiten", wie sie etwa die Physik der bewegenden Kräfte als Attraktions- und Repulsionskraft herausgearbeitet hat88. Aber auch ein höchst Allgemeines unserer Welterfahrung von „Dynamischem" 85

Das von Kant hier gewählte und nodi gesperrte W o r t : Physiokratie ist aus der damaligen Volkswirtschaftslehre genommen; es soll nur in prägnanter Kürze den kosmologisdien Standpunkt eines Naturalismus bezeichnen, welcher, wie es in den Prolegomena § 60 heißt, „die Natur für sich selbst genugsam ausgeben will". I V 363.

86

Vgl. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Zweites Hauptstück: Dynamik. I V 498 ff. — Erfahrung stößt natürlich immer nur auf „komparative" Grundkräfte. Vgl. S. 430/1 Β 677. Darüber später.

246

(S. 311Β 477)

ist nicht weiter zu erklären: nämlich wie „Veränderung" als solche überhaupt möglich ist! Dasein und Nichtsein sind reine Verstandesbegriffe (zu den Modalitätskategorien gehörig); aber das Umschlagen vom einen in das andere kann nur wahrgenommen, in empirischer Anschauung zur Kenntnis gebracht werden. Wie beim „Entstehen" irgend eines Dinges oder Zustandes das Dasein dieses Etwas an die Stelle seines vorher Nichtbestehens tritt, das kann nicht gedanklich durchschaut, nicht a priori ersonnen werden, obgleich wir die Notwendigkeit der zugehörigen „Regel" (Grundsatz der Kausalität) sehr wohl einsehen87. „Rätsel"-haftes von dieser Art bleibt also in allem Erklären von Geschehnissen (als den „Wirkungen" irgendwelcher Art von Ursachen!) bestehen; das unterscheidet nicht eine „unendliche" Abstammung (Antithesis) von irgendwelcher genau abgegrenzten. Der 2. Absatz geht nun wieder vom Universal-Kosmologischen auf das Thema von etwa möglichen Spontanerwirkungen innerhalb des Weltlaufs über. Die hierzu kontrastierende Bezeichnung des kosmologischen Ursprungs als „außerhalb der Welt" darf, im Bereich der kosmologischen Vernunftbegriiïe, nicht etwa im Sinne eines „übersinnlich"-transzendenten Prinzips verstanden werden; die „kühne Anmaßung" liegt ja gerade darin, im Inbegriff aller raumzeitlichen Erscheinungen selber eine Spontanwirksamkeit anzunehmen (wie es ζ. B. der Erste Beweger der Alten sein sollte), sie gleichsam noch nachzuliefern („nachgegeben"), obgleich so etwas doch „in keiner möglichen Wahrnehmung" vorkommen kann. — Wie es also auch darum stehe, jedenfalls kann man „Kausalität durch Freiheit" nicht den (bzw. gewissen) Substanzen in der Welt zusprechen. Wenn Welt, wie es hier Grundvoraussetzung ist, streng als Erscheinungswelt gefaßt wird, dann sind solche Substanzen samt ihren „Handlungen" von der Art: „substantia phaenomenon" und der entsprechenden Kausalitätsart. Ihre Wirklichkeit ist, wie auch die Wirklichkeit ihrer Handlungen, von Traum und Fiktion unterschieden durch die transzendentalen 87

Entsprechend heißt es in der Analytik, beim Kausalgesetz als der zweiten „Analogie der Erfahrung": „Wie nun überhaupt etwas verändert werden könne, wie es möglich sei, daß auf einen Zustand in einem Zeitpunkte ein entgegengesetzter im anderen folgen könne: davon haben wir a priori nicht den mindesten Begriff. Hierzu wird die Kenntnis (!) wirklicher Kräfte erfordert, welche nur empirisch gegeben werden kann." S. 178 Β 252. Die Kausalität einer Veränderung „überhaupt" liegt außerhalb der Grenzen einer Transzendentalphilosophie, sie setzt empirische Prinzipien voraus. S. 155 Β 213.

(S. 314 Β

247

480)

Ordnungsprinzipien in ihrer empirischen Anwendung; nur so haben wir „Wahrheit" der Erkenntnis, als Ubereinstimmung der Vorstellung mit dem Objekt88. - Auch hier, wie im 2. Absatz des Antithesisbeweises, betont Kant, daß für „Natur" im präzisen Sinne die Annahme eines Freiheitsvermögens den Einbruch von Gesetzlosigkeit bedeuten würde. Zwar soll dasselbe nur gewissen Substanzen zugesprochen werden; aber deren „Einflüsse" (Auswirkungen ihrer Wirksamkeit in ganzen Reihen der Erscheinung) verändern den Charakter der Gesetzlichkeit, welche für unsere Erkenntnis einzig und allein Objektivität verbürgt gegenüber einem bloßen „Spiel" subjektiver Vorstellungen89. Auf der einen Ebene raumzeitlicher Erscheinungswirklichkeit läßt sich „neben" einmal angenommenem Bestehen und Wirken von Freiheitssubstanzen „kaum" mehr Natur, als Gesetzeszusammenhang der einheitlich-einen Erfahrung, denken. (Es sei denn, was Kant hier mit im Sinne hat, aber jetzt noch nicht ausspricht, daß etwa eine ganz andere „Vereinigung" der so heterogenen Arten von Kausalität denkmöglich wäre: wenn nämlich die Vernunfterwägung über den jetzigen „Welt"- bzw. „Natur"-Begriff hinausgreift.) —

Vierte Antinomie Der Vierte Widerstreit im Weltdenken springt auf, wenn die Fundamentalbegriffe von „Notwendigkeit und Zufälligkeit" (dies das dritte und abschließende Gegensatzpaar; es tritt in der Kategorientafel unter dem „Modalitäts"-Titel auf) durch den Vernunftanspruch des Unbedingten zu „Ideen" werden. Auch hier geht es, wie bei der Kausalität, um ein „dynamisches" Verhältnis, welches auf „Existenz" 88

88

Vgl. S. 339 Β 520: Das Dasein eines „eigentlichen Selbst" (wir fügen hinzu: und einer Selbst-Tätigkeit, wie es Kausalität durch Freiheit sein würde!) „dieser inneren Erscheinung als eines so an sich existierenden Dinges kann nicht eingeräumt werden . . . In dem Räume aber und der Zeit ist die empirische Wahrheit der Erscheinungen genugsam gesichert und von der Verwandtschaft mit dem Traume hinreichend unterschieden, wenn beide nach empirischen Gesetzen in einer Erfahrung richtig und durchgängig zusammenhängen." Vgl. in der Analytik S. 171 Β 239: Ohne den „Regel'-Bezug notwendigen Folgens der gegebenen Begebenheit aus einem Vorhergehenden würden wir „nur ein Spiel der Vorstellungen haben, das sich auf gar kein Objekt bezöge, d. i. es würde durch unsere Wahrnehmung eine Erscheinung von jeder anderen dem Zeitverhältnisse nach gar nicht unterschieden werden . . .".

4 Heimsoeth, Transzendentale Dialektik II

248

(S. 314 Β 480)

geht90. Jetzt aber ist eben nicht mehr von Weisen der Verursachung die Rede, sondern von Weisen der Existenz. Trotz aller Bezüge, welche von den Argumentationen dieses Widerstreits auf Kausalität zurückgehen, ist doch die Grundthematik eine neue und ganz andere91. Die Thesis statuiert, analog darin zu derjenigen des Dritten Widerstreits, etwas zur „Welt" Gehöriges außer dem, was da ständig in ihr angetroffen wird; hier ist das ein absolutnotwendig Seiendes: ein „schlechthin notwendiges Wesen" 92 . Sogleich tritt dabei, was bedeutsam ist, eine Untergliederung alternativ auf; schlechthin notwendig existierend als „Teil" des Weltseins selber, oder aber: als zu der Welt gehörige „Ursache" der Welt. Der Beweis setzt diesmal nicht, wie sonst immer in der AntinomieEntfaltung, mit der Annahme des Gegenteils ein. (Erst in der Durch90

Vgl. den Schluß des Ersten Abschnitts vor Auffächerung der Antinomie: Es geht um Welt „als ein dynamisches Ganzes" und insofern um „ N a t u r " . S. 2 8 8 / 9 Β 4 4 6 / 7 . — „Zufälligkeit" muß in unserem ganzen Zusammenhang im Sinne der alten ontologischen Tradition verstanden werden: als „Kontingenz". „Zufällig, im reinen Sinne der Kategorie, ist das, dessen kontradiktorisches Gegenteil möglich ist", heißt es im letzten Absatz der Anmerkung zur Thesis. Das Zufällige in diesem allgemein-ontologischen Sinne darf keineswegs sogleich als „blindes Ohngefähr" (casus) verstanden werden, welches, nach K a n t , in der N a t u r überhaupt nicht vorkommt. D i e Ersterwähnung der kosmologischen T h e matik in der Analytik freilich treibt gleich zu dem E x t r e m vor: „ z . B . die Welt ist entweder durch einen blinden Zufall da, oder durch innere Notwendigkeit, oder durch eine äußere Ursache". S. 89 Β 99. Diese noch rein formal getroffene Einteilung, angeführt nur zum Behuf des Bezugs der disjunktiven U r teile auf die dritte Relationskategorie, hält sich noch diesseits der spezifischtranszendentalen und antinomischen Gegenüberstellung.

81

Vgl. ζ. B . aus Späterem: „Es ist hier nicht um die unbedingte Kausalität, sondern die unbedingte Existenz der Substanz selbst zu tun." S. 378 Β 5 8 7 ; und wenig später: es geht hier nicht „um die Ableitung eines Zustandes von seiner Ursache", sondern um die Ableitung „des zufälligen Daseins der Substanz selbst von der notwendigen . . . " .

82

Das W o r t „Wesen", welches K a n t vorwiegend dann gebraucht, wenn er von tätigen Substanzen wie dem Menschen oder, analog, „vernünftigen Wesen überhaupt" zu handeln hat, darf keinesfalls als auf Derartiges beschränkt verstanden werden — was in unserem Zusammenhang sogleich zu einem hier ungemäßen Obersprung auf einen welttranszendenten, schöpferisch-handelnden „ U r heber" aller Dinge verleiten könnte! Körper ζ. B. sind „ausgedehnte Wesen", Noumena, in welchem Bezug auch immer gedacht, „intelligible Wesen", rein Erdachtes ohne Realität ist ein „bloßes Gedankenwesen". D e r lateinische Ausdruck für das notwendige Wesen ist: Ens necessarium. — So ist etwa auch die in der Weltbildungslehre des Platonischen Timaios vorgesetzte Materie, welche der Demiurg formt, in Kants Begriffssprache ein „notwendiges Wesen" oder — wie es im folgenden öfters auch heißt — ein „Urwesen" (ens originarium).

(S. 314 Β

480)

249

führung tritt dann audi wieder indirekte, apagogische Argumentation auf: „Denn setzet...".) Kant selbst erwähnt diese Besonderheit unseres Beweises nicht eigens; man muß aber damit zusammennehmen den 2. Absatz der Text-Anmerkung zur Antithesis, wonach in dieser vierten Antinomie „ein seltsamer Kontrast" sich auftut: aus demselben Beweisgrunde schließt die Thesis auf das Dasein eines Urwesens, die Antithesis auf das „Nichtsein desselben, und zwar mit derselben Schärfe". — Im ersten Satze des Beweises heißt das Subjekt: „Die Sinnenwelt als das Ganze der Erscheinungen". Kant hat besonderen Grund, diesen (ja doch für die gesamte Thematik dieses Hauptstücks maßgebenden) Begriff von Welt hier eigens in Erinnerung zu bringen. Der Vernunftschluß von „Welt überhaupt" auf ein ens necessarium war der Metaphysik geläufig aus sehr alter Tradition. Das Kernanliegen aber dieses argumentum e contingentia mundi war durchweg ein theologisches; es wird insoweit denn auch Kant beschäftigen — aber anderwärts. Unsere Antinomie dagegen steht, nicht anders als die vorher aufgetretenen, in rein kosmologischem Zusammenhang, und zwar in einem solchen, wo es sich eben nicht um einen bloßen abstrakten Welt-Gedanken (mundus intelligibilis, wie auch immer des näheren verstanden) handelt, sondern um die Erfahrungswelt, in welcher wir uns vorfinden und nach deren Formgesetzen wir uns in unseren Uberlegungen richten müssen! Das Begriffspaar Notwendigkeit — Zufälligkeit gewinnt hier seine Aktualität von der Fundamentaltatsache aus, daß dieses Ganze nicht nur ein solches von Beständen (Dingen, Substanzen) ist, sondern, „zugleich" damit, eine Gesamtreihe von Veränderungen („Weltveränderungen"). Empirische Realität ist unablässiger Ubergang von Seiendem aus einem „Zustande" in den anderen, Wechsel des Seins und Nichtseins in den Zuständen. Daß uns die Welt als zeitliche vor dem Sinn steht, und daß wir Zeit ihrerseits als Reihe des Sukzessiven in der Anschauung uns vorstellen können und auch notwendig so denken müssen, das setzt ständige Wahrnehmung und Erfahrung von Veränderungen (im inneren wie im äußeren Sinn) voraus. Vom Zeitlichkeits-Charakter unserer Welt her kam es ja schon zum ersten Stück im Ersten Widerstreit: Weltanfang in der (ihrem Wesen nach uneingeschränkten, d. h. als unendlich vorzustellenden) Zeit — oder dann aber: Welt-„Ewigkeit". Jetzt geht es nun nicht mehr um dieses „Mathematische" zeitlicher Weltgröße, nicht mehr um bloße „Anschauung" des Weltganzen in der Dimension des Fließens, sondern **

250

(S. 314 Β 480)

um das Dynamische des „Daseins" der Erscheinungen in ihrem Realitätscharakter als Abfolge von Veränderungen. Und zwar, anders als beim Dritten Widerstreit, um „Abhängigkeit" des Daseins von Veränderlichem, nicht um die Weise „der Entstehung"93. Zeitreihe und Reihe der Veränderungen sind so einander zugeordnet, daß der Sache nach jene der letzteren zugrunde liegt — und eben auch a priori unabhängig von ihr, vorzustellen und anschaulich zu verstehen ist. Die,.Metaphysische Erörterung" der transzendentalen Ästhetik hat die Formalstruktur der Zeit als solcher in isolierender Betrachtung fixieren können, ζ. B. als Feststellung, daß Zeit nur Eine Dimension hat. Und in der Analytik war noch die grundsätzliche Feststellung maßgebend geworden, daß Beharrlichkeit, Folge und Zugleichsein die drei „modi" der Zeit als solcher sind (S. 159 Β 219). Aber für uns, „subjektiv und in der Wirklichkeit des Bewußtseins" von Zeit, müssen (wie es in der Anmerkung jetzt heißt) Wahrnehmungen zeitlicher Veränderungen immer schon gegeben sein: alle Erkenntnis, auch die formaler Möglichkeitsbedingungen a priori, fängt ja mit der Erfahrung an (erster Satz der Kritik, S. 27 Β 1); nur in der Abhebung der reinen Anschauung von den wahrgenommenen Folgen wirklicher Veränderungen kann es zur Vorstellung des (rein für sich nicht wahrnehmbaren) Zeit-,,Flusses" als solchen kommen. Um die Veränderungen also geht es nun. Der Kausalitätsgrundsatz der Analytik statuierte: „Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung" — und das heißt: sie geschehen notwendig („Regel der notwendigen Folge"). Aber diese Naturnotwendigkeit ist immer nur bedingte Notwendigkeit, „hypothetische", nach altüberliefertem, auch von Kant gelegentlich gebrauchtem Ausdruck94. In der Natur erfolgt also alles „zufällig" (im Sinne von kontingent) Existierende mit Gesetzesnotwendigkeit aus anderem, das seinerseits „zufällig" existiert. Der Verstandesgebrauch im Rahmen möglicher Erfahrung „geht nach dem Prinzip der durchgängigen Zufälligkeit von empirischen Bedingungen zu höheren, die immer ebenso93

Vgl. N r . 3 und 4 der vorausgeschickten Übersicht, S. 287 Β 443.

91

S. 194 Β 2 8 0 : „Alles was geschieht, ist hypothetisch notwendig" — das ist eine „Regel des notwendigen Daseins, ohne welche gar nicht einmal Natur stattfinden würde".

85

S. 381 Β 592.

(S. 314 Β 480)

251

wohl empirisch sind"95. Vernunft verlangt nun aber mehr und anderes, als nur beliebig viele Glieder dieser Reihe von bedingt-notwendig existierenden Dingen oder Weltzuständen im Regreß zu denken und so Abhängigkeiten von Daseiendem auf weite Strecken hin zu verfolgen! Vernunft transponiert auch hier wieder die Verstandeskategorie ins Unbedingte; sie dringt auf „absolute Vollständigkeit der Abhängigkeit gigkeiten von Daseiendem auf weite Strecken hin zu verfolgen! Vernunft transponiert auch hier wieder die Verstandeskategorie ins Unbedingte; sie dringt auf „absolute Vollständigkeit der Abhängigkeit des Daseins des Veränderlichen". Eben damit aber wird die Setzung (Thesis) eines schlechthin-notwendig Existierenden, als zur zeitlichen Weltreihe der Veränderungen zugehörig, unausweichlich. Es muß „etwas Absolutnotwendiges existieren, wenn eine Veränderung als seine Folge existiert"; alle Weltveränderungen müssen davon „abgeleitet" werden. Insofern gehört es auch dann zur Sinnenwelt, wenn es nicht als „Teil" in ihr, sondern etwa als „ihre Ursache" und insofern „außer" ihr gedacht wird. Dieses „außer" muß eben doch mit der Welt in Verbindung stehen, eben als ihre Bedingung: „Oberstes Glied" der gesamten Weltreihe. Es geht hier um einen „Anfang" der Veränderungen, nicht um bloßen Anfang in der Zeit, auch nicht mehr um das Wie ersten Erwirkens, — sondern um die Existenzweise dessen, woraus alles im Dasein Abhängige, alles nur Bedingt-Notwendige erfolgt. Solch dynamischer Anfang aber, wenn er nicht bloß, ganz unbestimmt, gedacht, sondern wirklich „bestimmt" werden soll, kann eben nur bestimmt werden (zufolge des „Grundsatzes der Zeitfolge nach dem Gesetze der Kausalität") durch etwas, „was der Zeit nach vorhergeht und in der Zeit seine Bedingung ist"! Die „oberste Bedingung des Anfangs" müßte also existieren in einer Zeit, „da diese (nämlich die Reihe der Weltveränderungen) noch nicht war". Es gehört dann also nicht nur die Wirksamkeit (die Auswirkung) der notwendigen Ursache, sondern auch diese Ursache selbst, sie als Erwirkendes, zur Zeitreihe als Reihe der Veränderungen. Für die rein kosmologische Betrachtung, welche im Thema des Veränderlichen steht, kann auch eine Welt-„Ursache" nicht abgesondert vom Inbegriff aller Erscheinungen gedacht werden. — Der Abschlußsatz des Beweises bestätigt die Thesis; dabei fällt aber eine Modifikation auf: das schlechthinnotwendige Wesen „in der Welt selbst", zu ihr „gehörig", wird für das eine Stück der Alternative

252

(S. 316 Β 484)

jetzt nicht als „Ursache" bezeichnet, sondern als: „die ganze Weltreihe selbst" (darin eben das „oberste Glied" miteinbezogen ist)96. Die Anmerkung im Text setzt nun ausdrücklich diese kosmologische Argumentation ab gegen die später erst, in anderem Zusammenhang, zu behandelnde theologische Schlußart der reinen Vernunft. Das „kosmologische Argument" im jetzigen, auf Totalität von Erscheinungen abzielenden Sinne — Thema der empirischen Weltveränderungen und ihrer jeweiligen Abhängigkeit, und Aufstieg von da zum Vernunftbegriff eines Unbedingt-Bedingenden — darf nicht verwechselt und vermischt werden mit einem Beweisgang aus der bloßen Idee eines obersten aller Wesen „überhaupt" (die Anmerkung zur Antithesis spricht von „bloßen Begriffen vom notwendigen Dasein eines Dinges überhaupt", als welche „ontologisch" sein würde!)87. Während die Beweise im Felde der rationalen Theologie alle auf ein einziges und der Idee nach durchgängig bestimmtes Ursein und dessen Existenznotwendigkeit zielen (Kant wird dieser Idee den Titel eines bzw. des „Ideals" d.r.V. geben, eben wegen dieser Einzigkeit und durchgängigen Bestimmtheit!), gehört es zum Wesen der kosmologischen Argumentation, in welcher wir jetzt stehen, daß es „unausgemacht" bleiben muß, von welcher Art das hier geforderte Ens necessarium sein mag! Die Alternative muß, soweit man rein im rationalen Schluß vom „Zufälligen" (nur ,,hypothetisch"-Notwendigen) der Veränderungen auf ein schlechthin notwendig Seiendes — als noch zur Welt gehörig — steht, offenbleiben. (Die so verschiedenen Welterklärungen der Metaphysiker treffen innerhalb derselben, je von bestimm96

97

Ein notwendiges Wesen, als „Teil" der Welt gedacht, wäre — wenn man an vergangene Gestalten metaphysischer Kosmologie, wie sie Kant vor Augen standen, denkt — etwa die „Weltseele" der Stoa oder der Nus des Anaxagoras. Man könnte auch noch an die oben schon erwähnte Urmaterie der platonischen Weltbildungslehre denken; — der Demiurg als „Weltursache", welcher also den „Anfang" der Veränderungen setzt, müßte, nach Kants Überlegung, nodi mit zu der „Weltreihe" gerechnet werden: weil er als Handelnder auch selber zeitlich mit seiner Wirksamkeit „anhebt". Im letzten Absatz der einleitenden Betrachtung zur Antinomie überhaupt hieß es, daß die Weltbegriffe „lediglich auf die Synthesis der Erscheinungen, mithin die empirischen gehen, da hingegen die absolute Totalität in der Synthesis der Bedingungen aller möglichen Dinge überhaupt ein Ideal der reinen Vernunft veranlassen wird, welches von dem Weltbegriffe gänzlich unterschieden ist, ob es gleich darauf in Beziehung steht" (von uns kursiv). S. 282 Β 434/5. Das Ens absolute necessarium, als Summum ens oder Ens entium („Wesen aller Wesen") gedacht, ist ein grundsätzlich transkosmologisches Prinzip — gänzlich unbetroffen von Raum und Zeit, den Formen der „Sinnenwelt".

(S. 316 Β 484)

253

ten Welterfahrungen ausgehend, ihre Entscheidungen.) Es geht hier um einen — sozusagen theologisch neutralen — Begriff vom Unbedingten in der (oder auch: der) regressiv verfolgten Reihe von Bedingtheiten. Dem kosmologischen Anspruch der Vernunft wird Genüge getan, im Sinne der Thesis, wenn man etwa „die Welt selbst" zu einem ens absolute necessarium erklärt98, und ebenso wenn einem „Teil derselben", also einem in ihr Existierenden (sie sozusagen mit-konstituierenden) Urseienden jener Notwendigkeitscharakter zugesprochen wird. Wenn rein durch Vernunfterwägungen die Entscheidung getroffen werden soll, das (wahrhafte) ens necessarium sei ein (und nur ein) von aller „Welt" unterschiedenes Ding, — dann kann man nicht mehr von den Reihen des Zufälligen als des Veränderlichen ausgehen", sondern muß mit dem bloß kategorialen Begriffsgegerisavz., unabhängig von Zeitbedingungen, einsetzen. Dann aber geht es eben nicht mehr um den Kontingenzcharakter des Veränderlichen, sondern um den Gedanken kontingenter Wesen „überhaupt": erwogen bloß „als Gegenstände des Verstandes" (Verstand im alten Sinn genommen: auf Noumena gerichtet). Dergleichen aber gehört eben nicht mehr hierher, wo es um Welt der Phänomena, auf ihre Totalität hin angesehen, geht — es gehört vielmehr, wie Kant jetzt sagt, in eine „transzendente" Philosophie, wie sie hier nodi nicht zur (kritischen) Erörterung steht. Gemeint ist natürlich die rationale Theologie, deren Kritik das Dritte Hauptstüdk der Dialektik zu leisten hat100. 98

99

100

Von theologischer Sicht her käme das auf einen Pantheismus irgendwelcher Art heraus. Kant nennt das Zufällige in diesem Sinne später audi das „Empirischzufällige". S. 422 Β 663. In der Analytik hieß es: „ . . . wenn wir Beispiele vom zufälligen Dasein geben sollen, so berufen wir uns immer auf Veränderungen und nicht bloß auf die Möglichkeit des Gedankens vom Gegenteil" (was Kontingenz nach bloßen Begriffen wäre). „Veränderung aber ist Begebenheit, die als solche nur durch eine Ursache möglidi, deren Nichtsein also für sich möglich ist, und so erkennt (!) man die Zufälligkeit daraus . . . " . S. 199/200 Β 290/1. Daß audi die kosmologischen Ideen, welche Welt als „absolute Totalität in der Synthesis der Ersdieinungen" betreffen, in den Behauptungen der rationalen Kosmologie dem Verstände einen „transzendenten Gebrauch ablocken" (Prolegomena § 45), ist das Ergebnis der Antinomie-Betrachtung und betrifft nicht den genannten Unterschied der Bereiche. Für alle Ideen gilt gleichermaßen, daß der „objektive Gebrauch" derselben „jederzeit transzendent" ist. S. 253 Β 383. Der Begriff des absolut notwendig Existierenden in unserer Antinomie gehört zu den „transzendenten Naturbegriffen". S. 289/90 Β 448. — Aber die theologische Idee ist ja noch in einem anderen Sinne Sache einer „transzendenten" Philosophie: hier liegt die Transzendenz bereits im Thema.

254

(S. 316 Β 484)

Ein notwendiges Wesen, herausgelöst aus dem Zusammenhang der zeitlich und kausal bestimmten Weltreihe zu denken, so, daß es als Anfangsursache gedacht wird, die ihrerseits in ihrer Wirksamkeit nicht unter Bedingungen des Anfangens steht — das bedeutet faktisch ein „Abspringen" aus allem kosmologisch etwa Erweisbaren. Indem Kant für solchen Absprang den griechischen Terminus Metabasis eis alio genos einsetzt, unterstreicht er die — erst durch die eigene Unterscheidung von Phänomena und Noumena, raumzeitlicher Erscheinung und dem von Sinnlichkeitsbedingungen unabhängigen Seinswesen klar herausstellbare — fehlerhafte Dialektik in den alten KontingenzNotwendigkeits-Spekulationen. Was dort immer als einfacher Uberschritt in konsequent-kontinuierlichem Fortdenken erschien (transzendentaler Schein), ist faktisch ein „plötzliches" Verlassen des gesamten Seinsbereichs, in welchem man sich bewegte und Bestimmtheiten vorfand! Aus der Problemdimension des Empirischzufälligen (Kategorie der Zufälligkeit schematisiert durch Zeitanschauung, und damit eindeutig alles in Veränderungen Stehende bestimmend) und der darin mit innerer Vernunftnotwendigkeit sich auftuenden Idee einer nicht bloß hypothetisch, sondern absolut notwendigen Existenz — springt die Spekulation heraus und hält sich allein an die bloße („reine" in diesem Sinne!), d. h. die zeitfreie Kategorie des Zufälligen: definiert als „das, dessen kontradiktorisches Gegenteil" zu denken möglich ist. Die Welt-„Reihe" ist dann eben keine Reihe zeitlich-kausal bestimmbarer Veränderungen mehr, sondern „eine bloß intelligible Reihe" bloß gedachter Abhängigkeiten. Der letzte Absatz dieser Text-Anmerkung kontrastiert nodi genauer den Zufälligkeitsbegriff im Rahmen möglicher Erfahrung und Erkenntnis gegen den eines bloßen „Denkens" durch zeitfreie Kategorie. Was im Sinne unserer Feststellungen zufällig ist (im Weltkontexte der Veränderungen), das brauchte darum nicht kontingent an sich zu sein; Veränderung betrifft ja nur „Zustände" (nicht die Dinge selbst, etwa „Substanzen"). Hier allein aber haben wir Kriterien dafür, was „möglich" — nämlich jeweils möglich ist101. Gerade aber die 101

S. 185 Β 265/6 ff.: „Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich". — Für unser Thema steht die Formbedingung der Zeit im Vordergrund. Nur so gelangt die bloße Kategorie der Möglichkeit „zur objektiven Realität des Begriffs und damit zur „transzendentalen Wahrheit". a.a.O.

(S. 31} Β 481)

255

Veränderungen machen das Auch-Bestehen kontradiktorischen Gegenteils anschaulich möglich: nämlich zu anderem Zeitpunkt, als anderer Zustand (Kants Beispiel von Bewegungszuständen). — Die Antithesis tritt als einfache Negation auf, umgreifend beide Glieder jener Alternative, welche in der Thesis zuerst eingeführt wurde102 — sofern man nämlich „in" der Welt als synonym mit „als ihr Teil" verstehen darf. — Der Beweis geht hier wieder indirekt vor, wie in den anderen Arten des Widerstreits. Der 1. Absatz desselben behandelt das „weder", der 2. das „noch", welche dem „entweder"-„oder" der Thesis gegenüberstehen. Sogleich im ersten Satze wird dabei das „in der Welt" mit dem Gedanken der „Welt selber" verknüpft durch ein „oder" — wie schon einmal vorher in der Parenthese am Schluß des Thesisbeweises. Beides wird gleichermaßen jenem anderen Glied der Alternative („als ihre Ursache") gegenübergestellt103. Die Argumentation setzt wieder bei dem für alle Antinomien maßgebenden Begriff „Reihe" an: hier als der Reihe zeitlicher Veränderungen, wechselnder Weltzustände. Sie sagt dann aus, daß es hier einen (dynamischen) „Anfang", ein selbst nicht mehr von vorhergehender Ursache abhängiges Dasein überhaupt nicht geben kann: dies auch wieder nach der Zweiten Analogie der Erfahrung. Dieses „dynamische Gesetz" ist Grundvoraussetzung ebenso aller möglichen Erfahrung, wie aller Möglichkeit der WeltGegenstände — also alles dessen, was „Welt" (als Sinnenwelt verstanden) ausmacht. (Doppelbedeutung im hier gebrauchten Terminus „Bestimmung".) Jedwede Veränderung kann objektiv und gegenständ102

Positiv gefaßt, würde die Antithesis aussagen, daß „alles seinem Dasein nach bedingt und mithin äußerlich abhängend und an sich zufällig" ist, wie Kant sidi später ausdrückt. S. 333 Β 509. — Natürlich darf dieses „an sich" nicht im Sinne v o n „Ding an sich" verstanden werden. Gemeint ist, daß ein jedes D i n g bzw. jeder Zustand der Erscheinungswelt, zufolge seiner äußeren Abhängigkeit, für sich genommen Zufälligkeitscharakter hat. Wird das „an sich" in jenem anderen Sinne verstanden, dann springt man fehlerhaft über in das ganz andere Genos „ontologisdier" Erwägungen.

103

Gegenüber dem Gedanken eines „von der Welt unterschiedenen" und in diesem Sinne „außer ihr" anzusetzenden Urwesens, welchen das „Ursadi"-Denken mit sich bringt, kann die Intention, „in" der Welt das notwendige Wesen zu suchen, zweierlei umgreifen: Welt selbst und: etwas innerhalb ihrer. — D a ß sich also in Wahrheit drei mögliche Begriffe für kosmologische Urwesen auftun, geht später klar hervor aus Kants Zusammenfassung: „ . . . es sei die Welt selbst, oder etwas in der Welt, oder die Weltursache." S. 337 Β 516.

256

(S. 317 Β

485)

lidi immer nur als daseins-abhängige, also als „zufällig", verstanden werden. — Wiederum aber: die Weltreihe selbst, ohne dynamischen Anfang gedacht (d. h. also als regressiv unendlich vorgestellt, in unendlicher Zeit), kann unmöglich als ein absolutnotwendig Daseiendes gedacht werden, weil das bloße Gesamt von lauter „zufälligen Existenzen" nicht einen anderen Modalitätsrang haben kann, als seine „Teile" oder Reihen-„Glieder" 104 . Der 2. Absatz des Beweises geht auf die Unmöglichkeit einer notwendig existierenden Ursache „außer" der Welt, — sofern doch eben, in genuin kosmologischer Betrachtung, diese Ursache ihrerseits „oberstes Glied" der Reihe sein müßte. Der Widerspruch ergibt sich deutlich im Begriff des „Anfangens": Anfangen würde nicht nur heißen, daß eine oberste Ursache diese „Reihe von Zuständen" (Weltveränderungen) hervorruft, was Kant den „aktiven" Sinn des Wortes nennt, sondern: daß das in jener Aktion sich auswirkende Ursach-Wesen auch seinerseits mit seiner Wirksamkeit „selbst anhebt"! Ein solches Anheben müßte als zeitlich Geschehendes (fit, fieri), und insofern „passiv", verstanden werden. Damit aber würde die angebliche Welt„Ursache" eben doch wieder zur Welt als „Allheit" der Erscheinungen gehören. Sobald wir eine „Kausalverbindung" in Anspruch nehmen, wie das ja hier der Fall ist, wird eben wieder Zeitlichkeit vorausgesetzt — und damit das „außer" so relativiert, daß es zu keinem wirklich unbedingt notwendig Existierenden kommen kann. Auch die Anmerkung zur Antithesis beginnt, wie die zur Thesis, mit der Absetzung des im Rahmen der Kosmologie auftretenden Gedankens von absolutnotwendig Existierendem (so oder so des näheren gedacht) gegen denjenigen Begriff eines Ens necessarium, welcher, alle Erfahrungs- und Erscheinungsüberlegungen hinter sich lassend, auf das Dasein eines Wesens aller Wesen überhaupt abzielt. Der letztere Gedankenweg der reinen Vernunft wird hier „ontologisch" genannt, was auf den alten Begriff von Ontologie zielt, welchen Kants Kritik 104

Der Terminus „Menge" tritt hier wegen der vorausgesetzten Reihe von Existierendem auf. Von „Zahl" (als auszählbar) kann hier nicht gesprochen werden, wohl aber von den zur „Allheit" notwendig gehörenden Begriffen „der Menge und der Einheit". Vgl. 96 Β 111. Audi Menge muß aber transzendentalphilosophisch verstanden werden als durdi „sukzessive Hinzutuung von Einem zu Einem" erzeugt. IV 79 A 103.

(S. 317 Β 485)

257

schon durch die Analytik hinter sich ließ105. Für uns klingt dabei der Begriff des im Dritten Hauptstück der Dialektik noch erst zu behandelnden „ontologischen" Gottesbeweises an (von Kant immer der „Cartesianische" genannt), — als welcher, wie dort sich herausstellen wird, auch im sogenannten „kosmologischen Beweise vom Dasein Gottes" immer schon mitvorausgesetzt ist106. Der Regreß auf dynamische Bedingungen der Weltveränderungen kann, wie die Antithesis aussagt, niemals zur Annahme eines Urwesens, etwa im Sinne der die Weltreihe „zuerst anfangenden Ursache", führen. In der Zeit kann es kein selbst un-bedingtes Erwirken geben. Im Rückblick von hier zugleich auf den Beweisgang der Thesis zeigt sich, verschieden von allen anderen Arten des Widerstreits und deren Argumentationen, daß in Satz und Gegensatz aus „eben demselben Beweisgrunde" geschlossen wird: nämlich aus dem Gedanken der Totalität aller Veränderungsbedingungen in der ganzen bis dato verflossenen Zeit. Die Thesis meint mit eben der Totalität das Unbedingte, hier also das Absolutnotwendige (etwa als „die Welt selbst"), zu haben. Die Antithesis ihrerseits hält sich an den Zufälligkeitscharakter, welcher allem in der Zeit Vorkommenden, also allen Gliedern in der Weltreihe, auch einem als Erstes gedachten, anhaftet — und wiederum allen Gliedern zusammen. Der Schluß auf das Sein von Urwesen und der Schluß auf das Nichtsein von so etwas erfolgt „mit derselben Schärfe" aus dem Vernunftgedanken unbedingter Allheit von Abhängigkeitsbedingungen. Kant schließt die Aufdeckung dieses merkwürdigen „ K o n t r a s t Phänomens im Rahmen der Argumentation reiner Vernunft-Kosmologie — dieser besonderen Art transzendentalen Scheins im „Wider105

Vgl. S. 2 0 7 Β 303 : Ontologie, ihrem traditionellen Begriff nach, ist Wissenschaft der D i n g e (entia) rein aus Begriffen. D i e transzendentale A n a l y t i k aber hat „dieses wichtige Resultat, daß der Verstand a priori niemals mehr leisten könne, als die Form einer möglichen Erfahrung überhaupt zu a n t i z i p i e r e n . . . " , also „Prinzipien der Exposition der Erscheinungen" zu begründen. Daher muß jener „stolze N a m e einer Ontologie, welche sich anmaßt, v o n D i n g e n überhaupt synthetische Erkenntnisse a priori in einer systematischen D o k t r i n zu geben . . . dem bescheidenen einer bloßen Analytik des reinen Verstandes Platz machen." — Später, in der Methodenlehre, setzt K a n t d e n N a m e n Ontologie, in Parenthese, bei der Einteilung der eigenen Transzendentalphilosophie ein. S. 546 Β 873 (so auch wieder in Darlegungen aus späterer Zeit: X X 281, 286).

106

S. 397 ff. Β 620 ff. D e r Beweisgang wird da auch „der transzendentale" nannt, als welcher eben absieht v o n allem Empirischen.

ge-

258

(S. 317 Β 485)

streit" — ab mit einem an natürliche Erfahrungsüberlegungen im Anschaulichen appellierenden Hinweis auf Entgegensetzung beiderseits einleuchtender Meinungen über dieselbe Sache, je nach „Standpunkt" der Betrachtung. Das Beispiel wählt Kant aus dem Bereich der Astronomie, wo die „Standpunkt"-Verschiedenheit räumlichen Charakter hat. Was hier, auch für „gemeine Menschenvernunft" verständlich und einleuchtend, aus der Verschiedenheit jeweiligen Bezogenwerdens des Bewegungszustandes eines Weltkörpers auf andere Weltkörper zwangsläufig und sinngemäß sich ergibt, das erfolgt im Vierten Widerstreit mit logisch nachvollziehbarer Konsequenz aus der Verschiedenheit von Vernunftbezügen im Hinblick auf die Weltreihe der Veränderungen in ihrer Existenzabhängigkeit107. 107

Schriften des „Herrn von M a i r a n " (Jean-Jacques Dortous de), Geometer, P h y siker und Astronom, hatten K a n t in seiner Frühzeit, vom Thema seiner Erstlingsschrift her („Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen K r ä f t e " ) , offenbar lebhaft beschäftigt. (Zahlreiche Erwähnungen, ζ. Β. 1 , 4 5 , 55, 67, 92 f., 1 3 0 — 1 3 3 ; auch noch einmal im „Beweisgrund" von 1763, für einen empirischkosmologischen Bezug. I I 144.) Neben zahlreichen anderen Abhandungen erschienen die „Memoires sur la cause du froid et du chaud, sur la réflexion des corps, sur la rotation de la lune, sur les forces motrices ( ! ) " im J a h r e 1741, im gleichen J a h r wie die von K a n t in seinem Frühversuch ausdrücklich angeführten Schriften. Zum Mondthema gehört audi noch der Aufsatz de Mairans „Sur l'équilibre de la Lune dans son orbite". — Zur Sachlage, welche also hier zwei gegensätzliche Ausdeutungen eines und desselben Phänomens ermöglicht (der Bewegungszustand eines Weltkörpers wird verschieden beurteilt je nach dem Koordinatensystem, worauf man ihn bezieht), sei nodi erwähnt, daß K a n t in einer Frühschrift: „Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe und der damit verknüpften Folgerungen in den ersten Gründen der Naturwissenschaft" (1758) grundsätzlich formuliert hat, man dürfe den Ausdruck der Bewegung und Ruhe „niemals in absolutem Verstände brauchen, sondern immer (nur) respektive." Einleitend heißt es dazu: Ich kann „einen Körper in Beziehung auf gewisse äußere Gegenstände, die ihn zunächst umgeben, betrachten, und dann werde ich, wenn er diese Beziehung nicht ändert, sagen, daß er ruhe. So bald ich ihn aber in Verhältnis auf eine Sphäre von weiterem Umfange ansehe, so ist es möglich, daß eben der Körper zusammt seinen nahen Gegenständen seine Stellung in Ansehung jener ändert, und ich werde ihm aus diesem Gesichtspunkte eine Bewegung mittheilen." So begreife ich denn, „daß mein Urtheil von der Bewegung und der Ruhe dieses Körpers niemals beständig sei, sondern sich bei neuen Aussichten immer verändern könne." I I 16 f. — D i e für den neuzeitlichen „Mechanismus" grundlegende Einsicht von der Relativität aller Bewegungs- (ebenso wie aller Orts- und Z e i t b e s t i m m u n g e n hat fundamentale Bedeutung in Kants Erscheinungslehre. In der Kritik heißt es, gleich in der Ästhetik, daß alles, „was in unserem Erkenntnis zur Anschauung gehört . . . nichts als bloße Verhältnisse enthalte, der ö r t e r . . . , Veränderung der ö r t e r (Bewegung) und Gesetze, nach denen diese Veränderung bestimmt wird (bewegende K r ä f t e ) . " S. 6 9 Β 66/7. Entsprechend dann im Amphibolie-Abschnitt:

(S. 322 Β 490)

259

Die „Antithetik d.r.V.", wie sie der I I . Abschnitt unseres Zweiten Hauptstücks als vierfachen Widerstreit, in insgesamt acht Lehrbehauptungen samt zugehörigen Beweisen, entwickelt hat, stellt eine völlig andere Art transzendentalen Scheins dar, als die in den „Seele"-Paralogismen aufgewiesene. Dementsprechend verlangt die mit dem „Welt"-Thema auftretende Gegensatzdialektik eine andere Art „Auflösung" des Scheins und eigene „Kritische Entscheidung". Vor deren Ausführung (in den Abschnitten V I und V I I ) hat Kant drei Betrachtungen eingeschoben, welche — immer rückgreifend auf die vier Widerstreit-Darlegungen, diese aber ergänzend auch durch Neubeleuchtung ihres Gehalts — die allgemein-weltanschauliche Bedeutung all dieser Setzungen oder Verneinungen, auch ihre Ursprünglichkeit und Kontinuität im historischen Gang kosmologischen Philosophierens hervorheben soll. Von da ergibt sich noch besonders die Notwendigkeit einer den Sachverhalt aufklärenden transzendental-philosophischen Entscheidung, sowie der Weg, der dazu führen kann. 3. Abschnitt: Von dem Interesse der Vernunft bei diesem ihrem

Widerstreite

Der I I I . Abschnitt trägt das „Interesse der Vernunft" im Titel. Im Abschlußteil des ganzen Werkes, welcher zugleich auf den weiteren Ausbau der Philosophie Kants vorausdeutet, wird alles Interesse menschlicher Vernunft überhaupt konspektiv auf drei Grundfragen gebracht, von welchen die erste „bloß spekulativ", die zweite „bloß praktisch" und die dritte „praktisch und theoretisch zugleich" ist 108 . Die so verschiedenen Weisen des Vernunftinteresses treten zuerst in unserem Abschnitt auf, wie denn überhaupt der Terminus vom „Interesse der Vernunft" hier zuerst eingeführt wird — hinbezogen auf das Dialektik-Phänomen des vierfachen Widerstreits. In den genann-

108

„Was wir audi nur an der Materie kennen (sc, die bewegenden Kräfte), sind lauter Verhältnisse . . „ F r e i l i c h macht es stutzig, zu hören, daß ein Ding ganz und gar aus Verhältnissen bestehen soll, aber ein solches Ding ist auch bloße Erscheinung . . . " ; „es besteht selbst in dem bloßen Verhältnisse von Etwas überhaupt zu den Sinnen", s. 229 Β 341. — In unserem Antinomiethema ist diese Feststellung nun eben wieder besonders aktuell geworden. S. 5 2 2 / 3 Β 832/3. Vgl. dazu etwa aus der Kritik der praktischen Vernunft die Aussage, daß „alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der spekulativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist. V 121.

260

(S. 322 Β

490)

ten Unterscheidungen von „Interesse"-Weisen deutet sich der Vorentwurf des gesamten Systems einer Philosophie der menschlichen Vernunft an (wie Kant es immer vor sich sieht, aber erst in der Gesamtabfolge der Kritiken im Grundriß fixiert hat). In einer jene drei Fragen wiederholenden Charakterisierung der Philosophie als „Wissenschaft der Beziehung alles Erkenntnisses und Vernunftgebrauchs auf den Endzweck der menschlichen Vernunft", darin alle ihre Zwecke „sich zur Einheit vereinigen müssen", werden sie alle hinbezogen auf eine vierte und letzte: „Was ist der Mensch?"109. Man muß also unseren Abschnitt, schon vom Titel her, verstehen als Vorhinweis auf weitgespannte Sinnzusammenhänge der Einen menschlichen Vernunft in den verschiedenen Weisen ihres „Gebrauchs" — und ihrer differenten Zuständigkeit für unsere Daseinsfragen. Wenn es, wie sich gezeigt hat, in der Vernunft selbst einen unvermeidlichen Widerspruch gibt, dann muß ebendies auch im Hinbezug auf Zwecke und Endzweck menschlichen Daseins hin erörtert werden. Der 1. Absatz faßt noch einmal das Eigentümliche der KosmologieDialektik zusammen. Daß hier „Ideen" zu angeblichen Einsichten einer unsere Erkenntnis über alle Erfahrungsgrenzen hinaus erweiternden Vernunft übersteigert werden, das hat die Weltmetaphysik mit der Seelenspekulation gemein. Dem Weltbegriff kann, nach den verschiedenen Hinsichten, ebensowenig ein „kongruierender", den Totalitäts- und Unbedingtheitsanspruch deckender Gegenstand gegeben werden wie dem Begriff von „Seele". Das Neue und Andere ist, daß hier jetzt von dem sinnhaft-notwendigen Verstehen der Realitätsverhältnisse in den Welt-Reihen aus sich für die auf Unbedingtes hindrängende Vernunft zwangsläufig Probleme auftun, deren versuchte Auflösung in Thesen und Beweisen sie mit sich selber in Zwiespalt bringen. Jene Entscheidungen (Kant denkt vor allem an die „Thesis"-Positionen) lassen sich, wie dargetan, nicht in Ubereinstimmung bringen mit den Grundsätzen aller möglichen Erfahrung — im dritten und vierten Widerstreit ζ. B. mit dem Kausalprinzip und dem „Postulate"Kriterium für Zufälligkeit und Notwendigkeit im „empirischen Denken überhaupt" 110 . Daß die Behauptungen Schein-Einsichten („ver109

Logik, Einleitung III.

110

Die Wendung „ . . . die gleichwohl" in der Mitte des ersten Satzes bezieht sich natürlich auf die kosmologischen Ideen, nicht auf die allgemeinen Erfahrungsgesetze.

I X 24/5.

(S. 322 Β 490)

261

niinftelnde") sind, ändert nichts daran, daß diese Weltprobleme als solche in der „Natur" der Vernunft angelegt und für ein philosophisches Nachdenken unvermeidlich sind. Noch einmal betont Kant (wie schon in dem vorbereitenden Abschnitt über das „System" der kosmologischen Ideen), daß die Vielzahl dieser Probleme und ihrer Auflösungsversuche im Wesen der Sache gelegen ist, daß also Vollzähligkeit beansprucht wird. Das Ganze könnte als bloßes „Spiel" der einander befehdenden Meinungen erscheinen, entsprechend dem Turnier als einem bloßen „Spielgefechte". Da es aber nicht um zufällig aufgekommene (ζ. B. nur historisch bedingte) Behauptungen geht, sondern um offenbar unvermeidliche Probleme und um eine antinomische Verfassung der Vernunft selber, so muß der Blick im Vorgriff auf den Ernst der Aufgabe einer Sinnbestimmung der menschlichen Vernunft im Ganzen gelenkt werden. Der 2. Absatz weist demgemäß auf die Bedeutung jener Probleme und Aussagen für die Daseinserhellung menschlichen In-der-WeltSeins hin. Wie sie bisher auftraten, in bloßer strenger Schulform und und nur darauf bedacht, den rechten Beweisgrund mit sich zu führen („rechtliche Ansprüche" vor dem Tribunal der Wahrheit; vom „strittigen Recht beider Teile" spricht der 4. Absatz), mußte alles mit jenen Anliegen doch eng verbundene Empirische der Welt- und Lebenskenntnis weggelassen werden. So etwa beim Thema der transzendentalen „Freiheit" der „psychologische Begriff dieses Namens, welcher großenteils empirisch ist".110® Dadurch konnten die Behauptungen (Kant denkt auch hier wieder vor allem an diejenigen der „Thesis"Seite) nichts von dem Glanz und der „Pracht" entfalten, die sie in einer Metaphysik ausstrahlen, welche die Welt und den Menschen darin auf letzte Zwecke des Daseins hin zu durchleuchten sich zutraut. Kant schildert das mehr ironisch; doch gehört es auch zu seiner Intention, daß er von den kosmologischen Ideen als „erhabenen" spricht — und von der „Würde" der Philosophie, welche um deren Tragweite und Sinn sich zu bemühen hat 111 . 110

» s.o.S. 310 Β 476.

111 Vgl. di e Darlegung des Sinnes von Philosophie nach ihrem „Schulbegriff" und ihrem „Weltbegriff" in der Methodenlehre. S. 542 f. Β 866 f. Der Ausdruck „Würde" geht bei Kant primär auf den sittlichen Sinn menschlichen Daseins und wird von da auf Philosophie übertragen, sofern dieselbe eben diese Idee in die Mitte des alles umgreifenden Weltgedankens („Reich der Zwecke") stellt. Vgl. auch die Philosophie-Definition in den Vorlesungen zur Logik: „ . . . nach dem

262

(S. 322 Β 490)

Es folgt ein Rückblick auf die großen Fragen. Die Erwähnung des Ersten Widerstreits stellt hier noch keinen ausdrücklichen Bezug auf Daseinsfragen des Menschen her (in Wahrheit ist ζ. B. die Frage des Welt-,.Anfangs" für Kant eng verbunden mit dem Thema des „Weltschöpfers"112). Dagegen wird das Problemthema des Zweiten Widerstreits jetzt, im Zusammenhang des Vernunft-„Interesses", sogleich auf das Einfache, d. h. die absolute (also „unteilbare und unzerstörliche") Einheit „in meinem denkenden Selbst" zentriert. Das Thema wiederum des Dritten Widerstreits tritt jetzt allein als Frage nach der menschlichen Freiheit auf, mit dem Gegensatz von „Natur und Schicksal" (Fatalismus!), die jedenfalls für die Aktionen der „anderen Wesen" unserer Welterfahrung (der untermenschlichen) schlechthin bestimmend sind. Der Vierte Widerstreit endlich wird jetzt allein auf den Gedanken eines Urwesens als „oberste Weltursache" konzentriert, also auf dasjenige Teilglied der zu dieser Antinomie gehörigen Disjunktion, welches später dann weiter drängt auf Absprung vom bloßen Welt- und Erscheinungsthema: auf ein auch dem Inhaltswesen nach übersinnliches Prinzip hin112a. — So angesehen, kommt dieser ganze Kosmologie-Streit auf höchste Fragen der Metaphysik heraus, um deren Auflösung „der Mathematiker" gern seine Wissenschaft dahingäbe"113. Mathematik, in diesem umgreifenden Sinn verstanden Weltbegriff ist sie die Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft. Dieser hohe Begriff gibt der Philosophie Würde, das ist einen absoluten Wert. Und wirklich ist sie es auch, die allein nur inneren Wert hat, und allen anderen Erkenntnissen erst einen Wert gibt." I X 23/4. 112 Im 10. Absatz heißt es: „ . . . wenn die Welt ohne Anfang und also audi ohne Urheber . . . ist". U2 a Auch auf den folgenden Seiten ist immer nur von einem ens necessarium als „von der Welt unterschiedenem Urwesen", „Ursache außerhalb der Natur" die Rede. 113

Gemeint ist der Naturphilosoph-Mathematiker und Kosmologe im Newtonischen Sinne. Newtons Werktitel: Philosophiae „naturalis" principia mathematica bedeutet nach der Sprache der Zeit primär, daß es hier allein um NatürlichErfahrbares geht, nicht um Übersinnlich-Übernatürliches. Diese Bedeutung spielt gerade hier in Kants Kontrastierung des „Mathematikers" zum Philosophen, welcher auf die „letzten Zwecke" aller Vernunftbemühungen hinausblickt, wesentlich hinein. Die ganze Gegenüberstellung mathematisch begründeter und anschaulich verstehender Erschließung der „Natur" als kosmischen „Systems nach Gesetzen" war Kant aus eigener Doppeltätigkeit und zwiefacher Interessiertheit wohl vertraut — wie denn auch aus dem Aufeinandertreffen gegensätzlicher Anschauungen bei mathematischen Physikern (wie Euler) einerseits und den Schulmetaphysikern andererseits. (Der frühere Terminus dafür:

(S. 322 Β

490)

263

(von Kant immer auch auf Plato und Pythagoras rückbezogen), und insbesondere nun in der Form neuzeitlicher, alles Naturhafte im Ansatz auf exakte Gesetze hin entwerfender Wissenschaft mit ihrem stetigen Aufbau und Voranschreiten, ist, wie Kant aus eigenem Erfahren sagt, ein „Stolz" der menschlichen Vernunft (das Wort im allgemeinen Sinne unseres Erkenntnisvermögens überhaupt verstanden). Aber über dieses berechtigte Selbstbewußtsein hinaus sieht Kant nun noch „eigentliche Würde" auch schon in dieser Wissenschaft, in der allein auf das Gesamt sinnlich-empirischer Gegenständlichkeit ausgerichteten philosophia naturalis. Denn diesem forschenden Eindringen, auf der Basis apriorischer Grundsätze des Verstandes, gelingt es, weit über das Weltbild der „gemeinen Erfahrung" und Naturanschauung hinaus, wirkliche und ständig sich erweiternd-vertiefende Einsicht zu gewinnen in Ordnung und Regelmäßigkeiten der Natur — „im großen sowohl wie im kleinen"114. Der Ausdruck von „bewunderungswürdiger" Einheit der bewegenden Kräfte 115 weist, wie der ganze Passus, faktisch voraus auf das große Kantische Systemthema, welches er explizite erst in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft (als „reflektierender") begrifflich fixiert hat: das mit der fortschreitenden Erfahrungsdurchsicht immer wieder, überraschend und beglückend, zu erfassende Sichineinanderfügen der „besonderen Gesetze", unter ihnen derjenigen der organischen Lebensgefüge. — Es erhält also, von der Arbeit des die Naturerscheinungen durchdringenden synthetischen Verstandes aus, auch die „Vernunft" im engeren Sinne, welche auch über alle Erfahrung hinaus Erweiterung unserer Welt- und Daseinserkenntnis in Richtung auf das Ubersinnliche sucht, „Anlaß und Aufmunterung". „Geometrie" einerseits und „Metaphysik" andererseits; ζ. B. in der Kontinuitätsauffassung von Raum, Zeit und Materie gegenüber „transzendentaler" Atomistik oder Monadologie; — Kants Monadologia physica von 1756 zielte auf eine junctio metaphysicae cum geometria in philosophia naturali. In der Kritik ist daraus die Dialektik des Zweiten Widerstreits geworden.) 114

„Im Großen": das geht auf Kants Hauptinteressen- und Erfahrungsfeld innerhalb der philosophia naturalis: neuzeitliche Astronomie mit ihrer stetig anwachsenden, vom jungen Kant weiter auf künftige Forschung hin entworfenen Aufdeckung von „systematischer Verfassung" im Weltgebäude. — „Im Kleinen": das darf besonders auf organische Bildungen und Gefüge bei Kant bezogen werden.

115

Ordnung und Systematik der „bewegenden Kräfte" war von Kants Erstlingsschrift an bis in das Opus postumum hinein Kernthema seiner Bemühungen, ebenso v o m Astronomischen wie vom Physikalischen her.

5

Heimsoeth, Transzendentale Dialektik II

264

(S. 323 Β 492)

Die mit der Natur und ihren Ordnungen beschäftigte „Weltweisheit" (Naturphilosophie, „Metaphysik der Natur") kann und muß dazu dienen, den (in unserem Vernunft-„Gebrauch" begründeten) Ausgriff auf das Ubersinnliche zu bereichern. — Es ist das Thema der Physiko(Teleologie)-Theologie, welches hier anklingt: vordeutend nicht so sehr auf die im Dritten Hauptstück unseres Werkes auftretende kritische Abwehr des theoretischen Beweisanspruches, als vielmehr auf den Einbau in die kritische Systematik selber, wie er dann gegen Ende der Kritik der Urteilskraft programmatisch gelehrt wird116. Der 3. Absatz fordert nun, vom „Interesse" der Vernunft an den großen Weltfragen aus, nicht bei der bloßen Betrachtung der aufgewiesenen Gegensätzlichkeiten stehen zu bleiben und vor allem nicht etwa solchem Streit der Meinungen, als doch wohl unentscheidbar, gleichgültig zuzusehen. „Indifferentismus" in metaphysischen Wissenschaften ist, so hat es in der Vorrede zur Kritik geheißen, „die Mutter des Chaos und der Nacht"; audi „fallen jene vorgeblichen Indifferentisten . . . wofern sie nur überall etwas denken, in metaphysische Behauptungen unvermeidlich zurück . . . " m . Es gilt vielmehr, den so merkwürdigen Tatbestand als solchen gründlich zu erörtern und eine mögliche Auflösung dieser Art Dialektik zu suchen. Dazu muß vorgreifend gesagt werden, daß unser Vernunftinteresse ja nicht in theoretischer Spekulation, in den Ansprüchen und Erwartungen auf Erweiterung unseres Wissens aufgeht, sondern immer auch ein „praktisches" ist oder sein kann: wurzelnd im Vermögen und in der Bestimmung des Menschen als tätig-handelnden, auf Welt einwirkenden Wesens. Und es wird auch sogleich angedeutet, was an sich über den Rahmen unseres Werkes hinausführt: daß diese praktische „Bestimmung" („Endzweck" des Daseins) die eigentliche ist, für den Daseinssinn letztentscheidend, — und daß, von ihr aus gesehen, die Schwierig118

117

V 476/7 f. — Zum ganzen Passus über die „eigentliche Würde" der „Mathematik" vgl. etwa aus dem I. Abschnitt der Einleitung in die Dialektik die Stelle: „ . . . sondern auch in Ansehung der Natur selbst, sieht Plato mit Recht (!) deutliche Beweise ihres Ursprungs aus Ideen. Ein Gewächs, ein Tier, die regelmäßige Anordnung des Weltbaus (vermutlich also audi die ganze Naturordnung) zeigen deutlich (!), daß sie nur nach Ideen möglich sind . . — Der Philosoph soll „von der copeilichen Betrachtung des Physischen der Weltordnung zu der architektonisdien Verknüpfung derselben nach Zwecken" aufsteigen, S. 248/9 Β 374/5. IV 8 A X.

(S. 323 Β 492)

265

keiten der reinen theoretischen Vernunft und ihre Beschränkung sich als etwas Sinnhaft-Notwendiges herausstellen könnten. Den Leitsatz hierzu hat die Vorrede Β in dem bekannten Satze formuliert: „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen und der Dogmatismus der Metaphysik . . . ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist"118. Es gilt jetzt also, aus der spezifischen Unsicherheitssituation des ungelösten vielleicht unlösbaren Widerstreits in so wichtigen Fragen der Weltauffassung heraus, die „Sicherheit" der reinen Vernunft in ihrem Eigenwesen aufzusuchen durch tiefergreifendes, den „Mißverstand der Vernunft mit ihr selbst" hinter sich lassendes Selbstverständnis; — Sicherheit auch für ihre Führungsüberlegenheit gegenüber allem, was „Verstand und Sinne", sei es für die Welterkenntnis, sei es für Weltwirksamkeit des Menschen, hergeben können 1 " 3 . Mit dem 4. Absatz wird die Frage nach Momenten außertheoretischer Parteinahme und Interessiertheit gestellt, — nach Momenten, weldie etwa mit in die Entscheidungen für Thesis oder Antithesis oder in die Energie ihrer Verfechtung erfahrungsgemäß, vielleicht auch sinngemäß, hineinspielen. Diese Frage führt zunächst zur Feststellung einer Zusammengehörigkeit aller vier Thesispositionen miteinander, — und ebenso wieder der (inhaltlich doch so verschiedenen) Antithesis-Behauptungen. Kant beginnt mit dem letzteren. Ihnen allen liegt eine einheitliche „Maxime" zugrunde. Maximen der Vernunft sind, wie es in der Methodenlehre heißt, „subjektive Grundsätze, die nicht von der Beschaffenheit des Objekts (sc. hier also der Welt!), sondern vom Interesse der Vernunft in Ansehung einer gewissen möglichen Vollkommenheit der Erkenntnis dieses Objekts hergenommen sind"119. — Kant nennt diese einheitliche „Denkungsart" in allen Antithesen: „reinen Empirismus". Dieser Terminus ist in der heutigen Begriffssprache der Philosophie so sehr fixiert auf rein erkenntnistheoretische Positionen — man denkt sogleich an Locke, Hume oder 118

118 119

3*

S. 19 Β X X X . In der Methodenlehre mischen Gebrauchs der Vernunft: „ . . . der schärfsten Vernunft gerechtfertigte chen, w e n n ihr gleich die des Wissens

heißt es, im Zusammenhang des polees bleibt euch genug übrig, um die vor Sprache eines festen Glaubens zu sprehabt aufgeben müssen." S. 487 Β 772/3.

a Vgl. die Schilderung der Vorrede I V 9/10 A X I I / X I I I . S. 4 4 0 Β 694.

266

(S. 323 Β

492)

J. St. Mill —, daß man nachdrücklich sich darauf besinnen muß, was Kant im kosmologischen Zusammenhang, das Weltthema innerhalb der Metaphysik betreffend, unter Empirismus versteht120. Es geht um das „Weltall selbst"; und alle vier Antinomien sind dadurch charakterisiert, daß sie die Grundsätze, welche die Analytik als wahr und notwendig für alle Erklärung von „Erscheinungen", von Gegebenheiten „in" der Welt nachgewiesen hat, auch als maßgebend für das Vernunftthema der Welt-Totalität statuieren wollen. (Die dritte der Antithesen etwa sagt ja aus, daß „alles" nur nach Gesetzen der Natur geschehe, die vierte wiederum, daß alles kausalabhängig, also zufällig sei121.) Das Urmodell für solchen „Empirismus" war für Kant immer die Kosmologie des Epikur (und des Lukrez)122. — Analoge „Gleichförmigkeit der Denkungsart" findet Kant aber auch in den Thesispositionen, deren Maxime weniger „einfach" ist insofern, als zur Erklärung der Welterscheinungen auch noch „Anfänge" der verschiedenen Reihen gefordert und als weltzugehörig behauptet werden, Anfänge, die ihrerseits nicht der innerweltlichen Erfahrung von Bedingtem zugehören, sondern von unerfahrbar-noumenaler Art sind („intellektuelle" „Begriffe des absolut Ersten", heißt es im 9. Absatz) — wie ein erster Anfang in der Zeit, oder das einfache Element, endlich „Kausalität durch Freiheit" und „Urwesen". Die Maxime aller Thesis-Behauptungen benennt Kant mit dem Terminus „Dogmatismus der reinen Vernunft" 123 . 120

Der uns geläufigere Sinn des Wortes spielt anderswo auch bei Kant seine Rolle: als „Empiristen" im Bereich der Frage nach dem „Ursprung" der Erkenntnis nennt er für die Antike Aristoteles, für die Neuzeit John Locke. S. 551 Β 882. — „Reiner" Empirismus will sagen: streng und allein auf Prinzipien der Erfahrung basiert.

121

D i e so auftretende Vernunftposition angeblichen Wissens und Beweisens gehört zu denen, von welchen Kant in der zitierten Stelle über das Aufheben des Wissens zugunsten des Glaubens sagt, daß der Dogmatismus der Metaphysik die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden „Unglaubens" sei. Man braucht nur an die „Fatalismus"-Konsequenz der dritten Antithesis zu denken.

122

D i e Komplikation, welche in der nidit-atomistisdien Antithesis des Zweiten Widerstreits gegeben ist, soll hier nicht erörtert werden. Beim Thema der einfachen Weltelemente hat Kant immer die Monaden (für die Materie: „physische Monaden") im Blick.

123

Der Ausdruck grenzt sich einmal ab gegen allen „Dogmen"-Sprachgebrauch in theologischen Zusammenhängen der Natürlichen Theologie; es geht um Lehren (Dogmata), deren Wahrheit und Beweisbarkeit die ratio allein garantieren zu

(S. 323 Β 492)

267

Das Vernunftinteresse in den Thesen ist, so sagt der 7. Absatz, primär ein „praktisches": und zwar dieses in einem bestimmten, auf „Moral und Religion" ausgerichteten Sinne. Der „Wohlgesinnte" ist in diesem Aspekt der sein Leben als unter Moralgesetzen stehend Fühlende; und der „wahre Vorteil" ist: Gewinnung eines sittlichen Standorts und Verhaltens, demgegenüber alle anderen Güter als abhängig in ihrem Wert zu denken sind. In Kants Aufzählung der von hier anzuleuchtenden Positionen fällt die räumliche Endlichkeit der Welt (sinngemäß) aus (während der „Anfang" in der Zeit faktisch schon auf Weltursprung in einem übersinnlichen Wesen hinbezogen scheint). Die Thesis des Zweiten Widerstreits wird auch jetzt wieder allein auf „das denkende Selbst" bezogen, welches als „unverweslich" zu denken wäre, im Gegensatz zu allem Zusammengesetzten, das zerfallen kann. Die des Dritten Widerstreits geht hier allein auf „willkürliche" Handlungen von Menschen. Die Rekapitulation der vierten Thesis betont am Weltbegriff die „Ordnung" der Dinge in ihrer „Einheit und zweckmäßigen Verknüpfung" (entsprechend dem Passus über die „eigentliche Würde" der Naturerkenntnis im 2. Absatz); — das „notwendige Wesen" oder „Urwesen" wird da, vom praktischen Interesse her, als Ursprung einer Weltteleologie gedacht, darin die „höchsten Zwecke der Menschheit" einbegriffen sind. — Daß die Antithesis-Maxime uns alle diese „Grundsteine" oder „Stützen" der Moral und Religion vielleicht doch nur zu rauben „scheint", will sagen, daß sie es nicht tut, solange sie bloß als Maxime der Naturerforschung und als „Idee" wirkt,

können glaubt. Dogmatismi« aber bezeichnet eine Weise der Verfestigung von ins Noumenale übergreifenden Ideen (ζ. B. Idee des Einfachen oder der K a u salität durch Freiheit), welche aus ihnen synthetische Sätze, wie bei einem erfahrbaren Gegenstand, herausentwickeln will. Solcher „Dogmatismus" ist scharf zu unterscheiden von dem berechtigten, ja notwendigen Verfahren der Vernunft „in ihrem reinen Erkenntnisse als Wissenschaft", wie doch gerade in der Transzendentalphilosophie: „denn diese muß jederzeit dogmatisch, das ist aus sicheren Prinzipien a priori strenge beweisend sein" (S. 21 Β X X X V ) . — Kant hat im kosmologischen Zusammenhang den Ausdruck Dogmatismus speziell auf die Thesis-Positionen, als ihr „wesentliches Unterscheidungsmerkmal" gegen alle „Empirismus"-Behauptungen, fixiert, — obgleich doch auch die Weltansprüche der Antithesen „gar sehr dogmatisch" sind in ihrem Unglauben an „intellektuelle Anfänge", genauer in ihrer ausdrücklichen Verneinung solcher. Aber die Thesis-Behauptungen sind eben alle Ausdruck eines spezifischen Dogmatismus: desjenigen der „reinen Vernunft" selbst, welche da „intellektuelle" Begriffe ohne weiteres zu Lehrsätzen gebraucht.

268

(S. 325 Β 496)

nicht aber auftritt als Doktrin, als kosmologischer Lehrsatz (Dogma) aus reiner Vernunft. Es folgt das „spekulative" Interesse — welches zunächst, eben im Zusammenhang mit aller Gesetzeserforschung der Erscheinungen und den Grundsätzen möglicher Erfahrung, doch mehr auf der anderen Seite bestimmend scheint, aber doch eben „auch" hier hineinspielt, sofern ohne den Ausgriff auf die „Anfänge" der Reihen und das Unbedingte keine Erkenntnis vollständig sein, kein Bedingtes vollständig aus Bedingungen „abgeleitet" werden kann. In der Endüberlegung geht der Absatz auf ein „selbständiges Ding" als Urwesen (Uranfang aller Dinge) hinaus, was ebenso das Thema der Freiheit im kosmologischen Verstände (Kausalität durch Freiheit als oberste Ursache aller Dinge) wie das des Ens necessarium umgreift. Den Vorzug der „Popularität" sieht Kant in der Tendenz des „gemeinen Verstandes", sich diesseits allen Verlangens nach dem, zwangsläufig dann auch „rastlosen", Regreß zu den Bedingungen zu halten und vom festen Punkte eines ohne weiteres als absolut Erstes Genommenen auszugehen. Die Schilderung Kants läßt deutlich anklingen, wie unzureichend solch populäre Denkweise gegenüber den Ansprüchen einer sorgfältig die „Möglichkeit" jeder gedachten und als wahrhaft seiend behaupteten Sache erwägenden Vernunft ist. — Die Absätze 10 bis 14 gehen auf das Interesse der Vernunft an den vier Antithesen, also am „Empirismus" der Kosmologie. Das praktische Interesse im schon genannten Sinne fällt hier, wo nur „Verstand und Sinne" maßgebend sein sollen, weg (in der Sprache von Kants Moralphilosophie heißt das: nur „technisch-praktische Vernunft", die alle „Vorteile" innerhalb des Sinnlichen sucht — so Epikur, der „Philosoph der Sinnlichkeit"). Daß die moralischen Ideen (ζ. B. Freiheit — zum Guten) und Grundsätze (Imperative der reinen praktischen Vernunft) hinfällig werden, wenn man die „transzendentalen" Ideen nach ihrer Sinnotwendigkeit bestreitet und zu bloßen „Gedankendingen" erklärt, das wird am einfachsten, aber auch der Sache nach am besten exemplifiziert am Thema des Dritten Widerstreits in seinem Bezug auf Freiheit des Menschen, auf „absolute Spontaneität der Handlung, als den eigentlichen Grund der Imputabilität derselben" (wie es in der Anmerkung zur Thesis hieß). Solche Freiheit „im praktischen Verstände" gründet sich ihrerseits auf die „transzendentale

(S. 325 Β 496)

269

Idee der Freiheit"124 — „überaus merkwürdig", wie Kant später nodi sagen wird. Vom Erkenntnis-Interesse der Vernunft aus spricht dagegen Wichtiges f ü r den „Empirismus" der Kosmologie (wie nun der 10. und 11. Absatz ausführt). Man spürt die besondere Beteiligung Kants als eines Mitarbeiters und programmatischen Verfechters neuzeitlicher Naturerforschung — ζ. B. der astronomisch-physikalischen Kosmologie mit ihrer unabsehbaren räumlichen wie zeitlichen Erstreckung. Die These des Empirismus weist dem „Verstände", seinen Grundbegriffen (Kategorien) und Grundsätzen, einen „Boden" zu (d. h. dasjenige „Feld", auf dem allenthalben für uns Erkenntnisbearbeitung möglich und fruchtbar ist), welcher in sich nicht eingegrenzt ist, sondern hinausblicken läßt auf unbegrenzte Forschung. Entgegen aller ungewissen Spekulation in Richtung auf das „Ubersinnliche" hat es Vernunft beim Verstehen immer mit anschauungserfüllten Begriffen zu tun; — wenn nicht stets gleich mit anschaulich Gegegebenem, so doch mit grundsätzlich auf Konkretion hin „Bild"-haft Entworfenem125. In das „Gebiet"126 der „idealisierenden" Vernunft („idealische Erklärungen" heißt es im 16. Absatz, und der Gegenbegriff ist: „Physische Nachforschung" — vgl. S. 248/9 Β 374/5) wird hier grundsätzlidi nicht übergesprungen („transzendente Begriffe"); allein auf Tatsachen, auf Beobachten und Erforschen von Erfahrbarem in der unabsehbaren „Kette der Naturordnung" ist das Erkennen hier verwiesen. Der 11. Absatz gibt Beispiele im Rückgriff auf die Antithetik. Für den Naturforscher darf es keine Grenze im Regreß zeitlicher Erforschung der Weltveränderungen geben (also ζ. B. keine Behauptung eines „Anfangs" vor so und so viel tausend Jahren); ebenso keine „äußerste" Grenze im räumlichen Ausblick ζ. B. der Astronomie. Dem Naturforscher ist es, wenn man vom Empirismus her die Welt betrach124

S. 363 Β 561. — Audi in der Frage der transzendentalen (kosmologischen) Freiheit wurde im Antithesis-Text die „epikurische Schule" als Grundbeispiel für die negierende, auf einer „Allvermögenheit der N a t u r " bestehende Position angeführt (letzter Absatz der Anmerkung zur Thesis).

125

Die prägende Stelle für Kants „ B i W - B e g r i f f enthält der AbsAnitt der Analytik (S. 1 3 5 — 1 3 7 Β 179—182).

126

Ü b e r seine Begriffe „Feld", „Boden", „Gebiet" der menschlichen Erkenntnis hat K a n t in der Einleitung der Kritik der Urteilskraft präzise Auskunft gegeben. V 1 7 4 .

„Schematismus"-

270

(S. 325 Β 496)

tet, nicht „erlaubt", „einfache" Elemente der Materie (hier tritt wieder dieses Ausgangsthema innerhalb des Zweiten Widerstreits in den Vordergrund) anzusetzen — „physische Monaden" etwa—, gedachte (und vielleicht „erdichtete", fiktive) Dinge, die darum niemals in concreto auch nur vorstellbar sind, weil unsere Anschauung von Äußerem auf Räumlichkeit angewiesen, alles räumlich Ausgedehnte als solches aber unendlich teilbar ist. Ferner: im „Interesse" wirklicher Erkenntnis der Natur (Welt als „Natur" — dynamisches Reihengefüge) liegt es, nicht nodi ein Wirkvermögen („Kausalität") von anderer Art als dasjenige „nach Gesetzen der Natur" (im Sinne der Analogien der Erfahrung) zuzulassen — was erlauben könnte, für bestimmte Vorgänge und Wirkungsketten der empirischen Realität die Kausalerklärung einfach abzuschneiden. — Und schließlich noch: im Interesse unbeschränkter Erforschung der wirklichen Abhängigkeiten liegt es auch, den Gedanken eines unabhängigen, notwendig existierenden Urwesens (dasselbe auch hier wieder nur als „Ursache außerhalb der Natur" in Anspruch genommen) abzuwehren. Das alles hat höchst positiven Sinn für die Erkenntnis, sofern es nur nicht wieder als „dogmatische" Totalitätsbehauptung auftritt (und damit das Interesse des Naturforschers mit dem des Metaphysikers vermengt). Der „empirische Philosoph" ist vollkommen im Recht, solange er seine Einstellung allein auf Natur (im Sinne von „System nach Gesetzen") als subjektiven Grundsatz, als die Maxime seiner Forschung aufrecht hält, und wenn er sich von daher polemisch wendet gegen angeblich höhere „Einsicht" und ein „Wissen" (gesperrt!) in reinen Vernunftbegriffen, transzendentalen Ideen von Anfängen (oder Elementen), — welche doch, sofern man sich an Erscheinungen und Erscheinungsgesetze hält, offensichtlich Dinge betreffen, inbezug auf welche man nachweisen kann, „daß man nichts wisse". Solche „Maxime" der Mäßigung, des Sichbescheidens in den Wwseras-Ansprüchen brauchte unserem „praktischen Interesse" — mit welchem der „Dogmatismus der reinen Vernunft" seine spekulativen Thesen ohne weiteres verbindet und vermischt — nicht abträglich zu werden. Denn jene Noumenal-Begriffe (Ideen) als solche können, absehend vom eigentlichen Erkenntnisinteresse der Erfahrungsforschung, eine Art Geltung behalten, die sie zu „intellektuellen Voraussetzungen", bloße Möglichkeit ihres Gegenstandes betreffend (etwa: „Kausalität durch Freiheit"), macht. Dann aber stehen sie dem „Glauben" im Sinne praktischen In-

(S. 327 Β 4991SOO)

271

teresses nicht entgegen. Vielmehr wird solcher Glaube nun vom Spekulativen her gerade ermöglicht, — „transzendentale" Ideen werden zur „Stütze" der moralischen127. De facto aber ist jener „Empirismus", aus welchem alle Antithesen und die entsprechenden Beweisgänge stammen, eine „Welt"-Sicht, welche alles nicht in Naturgesetzen Aufgehende radikal verneint — wie das ja auch in den jeweiligen Formeln klar zum Ausdruck kam. Damit aber setzt er sich, noch abgesehen von der „Unbescheidenheit" in Sachen der theoretischen Vernunft und ihrer Beweisansprüche, in unaufhebbaren Konflikt mit dem Grund-„ Interesse" der reinen praktischen Vernunft. Mit einem einzigen Satz des 15. Absatzes werden für die beiden Einheitspositionen, den „Dogmatismus der reinen Vernunft", welcher Ideen zu Lehrsätzen und deren Beweisen führen will, und dem seinerseits „gar sehr dogmatisch" auftretenden, alle Seinsgeltung von nichtsinnlichen „Anfängen" dreist leugnenden „Empirismus" — neue Termini eingeführt; sie verbinden nun mit dem systematischen Bezug einen philosophiehistorischen. Jener Vernunftdogmatismus wird von Kant als „Piatonismus" charakterisiert. Plato stand ihm immer „als der vornehmste Philosoph des Intellektuellen" (Noumenalen), als das „Haupt der Noologisten" vor dem Sinn; da waltete ursprunghaft ein Aufschwung metaphysischen Denkens über Sinnen weit hinaus zu „Ideen" und „Idealen" als sinn- und ordnungsbestimmenden Archetypen für Sein, Dasein und Handeln 128 . Der „Epikurismus" ist dagegen reine Philosophie „der Sinnlichkeit"; was eben im kosmologischen Be127

Zum Begriff des „Glaubens" vgl. den Abschnitt der Methodenlehre „Vom Meinen, Wissen und Glauben", speziell die Absätze über den „Vernunftglauben", dessen Oberzeugung auf moralischer Gesinnung beruht. S. 536 f. Β 856 f. Die eigentliche Begründung und Entfaltung dieses Glaubensbegriffs im Rahmen von Kants Position geschieht in der Kritik der praktischen Vernunft; vgl. besonders die Abschnitte „Vom Fürwahrhalten aus einem Bedürfnisse der reinen Vernunft" und: „Von der der praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessenen Proportion seiner Erkenntnisvermögen". V 142—148.

128

S. 550 f. Β 881 f.; vgl. S. 384 Β 597 und die Plato-Stelle in dem Einleitungsabschnitt der Dialektik: „Von den Ideen überhaupt". Der die Analytik abschließende, zur Dialektik überleitende Abschnitt „Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phänomena und Noumena" ist schon durch die Termini auf Plato zurückbezogen. — Kant hat ζ. B. die Metaphysik von Leibniz immer als eine (neuzeitliche) Art von Piatonismus aufgefaßt („ . . . ein intellektuelles System der Welt", „Intellektualphilosoph", S. 220, 219 Β 326, 323).

272

(S. 327 Β 499/500)

reich Bestreitung aller nicht nach Naturgesetzen faßbaren Weltkomponenten heißt. Auch bei diesem Riickbezug auf Epikur und dessen Nachfolger nimmt Kant wieder, wie in den letzten Absätzen, Gelegenheit, in ausführlicher Anmerkung die von ihm selbst bejahte und verlangte „Maxime" aller Realitätserkenntnis abzusetzen gegen den „dogmatischen'"' Naturalismus 129 , welcher alles Ubersinnliche leugnet: durch solche „objektive Behauptungen", wie sie jene vier Antithesen eben darstellen. Im Sinne der „Maxime" aufgefaßt, würde dem (von so vielen bekämpften) Epikur ein einzigartig hohes Verdienst, schon innerhalb der antiken Kosmologie, zukommen: vorweisend in Kants Sinne auf „physische Nachforschung" nach der Art neuzeitlicher Naturphilosophie und -Wissenschaft, sofern diese in ihrer streng mathematisch-empirischen Erschließung der Weltgegebenheiten, Erforschung von causae efficientes, sich nicht durch idealische Voraussetzungen und „Erklärungen" beirren läßt (ohne dodi darum den Vernunftgedanken eines architektonisch-teleologischen Weltgefüges abzulehnen). Kants Ausdruck „als ob" charakterisiert hier das grundsätzlich-methodische Absehen von Entitäten, wie sie in den Thesis-Positionen auftreten, ein Ignorieren bei der Erklärungssuche allen Erscheinungen gegenüber; so „als ob" es dergleichen gar nicht gäbe — ohne daß damit wirkliche Negation ihrer kosmologischen Bedeutung verbunden ist. — Wieder folgt kurze Rekapitulation der jetzt eben in den methodischen („als ob"-)Zusammenhang gestellten vier Antithesen. (Bei Erwähnung der zweiten Antinomie wird von dem „Stoff der Welt" gesprochen. Hier darf man nicht gleich und etwa nur an „Materie" im physikalischen Sinne denken; vielmehr sind Weltgehalte überhaupt, so die Substanzen, gemeint — „Stoff" gegenüber den kosmologischen „Form-" und Ordnungs-Prinzipien. Dieser transzendental-kosmologische Stoff-Begriff Kants umgreift ebenso die „denkenden Wesen" in der Welt wie die materiellen 130 ). Epikurs Grundsätze, nach allen vier Richtungen der Antithesen, beginnend mit dem Grundsatz zeitlicher Anfangslosigkeit und räum129

In den Prolegomena (§ 60) wird die Position audi als „Naturalismus" bezeichnet, welcher die Natur als „für sich selbst gnugsam ausgeben -will". IV 363. 130 V g l - (j;e v o r d e r Kritik liegende Inaugural-Dissertation über „Form und Prinzipien" der Welt § 2: „Materia (in sensu transcendentali) h. e. partes, quae hic sumuntur esse substantiae."

(S. 327 Β 499/500)

273

licher Unendlichkeit der Welt, sind also, als Forschungsmaximen verstanden, „noch jetzt" gültige und nur zu wenig befolgte Prinzipien echter Erweiterung der Naturerkenntnis („spekulative" Philosophie im Sinne einer „Metaphysik der Natur"). — Kant fügt, wiederum vorgreifend auf Späteres, noch an, daß auch die Prinzipien der Moral zunächst rein auf dem Felde der praktischen Vernunft aufgedeckt werden müssen, „unabhängig von fremden Hilfsquellen", wie sie etwa die Thesen der dritten und vierten Antinomie (Freiheit und Weltursache) hergeben könnten. Jene vier „dogmatischen Sätze" müssen also sowohl bei der „bloßen Spekulation" wissenschaftlicher Naturphilosophie" wie auch, als theoretische Behauptungen, bei der Grundlegung der Moral außer Acht gelassen werden, — so „als ob" sie gar nichts zu bedeuten hätten. Darin liegt dann aber eben nicht mehr jener „gar sehr dogmatische" Negationsanspruch, welchen die Antithesen, verstanden als Leitsätze eines kosmologisdien Naturalismus oder Empirismus, erheben. Epikureismus wie Piatonismus sind beide „dogmatisch" im Sinne eines Behauptens, das sich nicht halten läßt und eben zwangsläufig in die Antithetik führt. Jener befördert (als Maxime gebraucht) das Wissen im Sinne empirischer Naturerforschung; für das Interesse der praktischen Vernunft aber, etwa im Thema menschlicher Freiheit, wirkt seine Perspektive sich nachteilig aus (der „Fatalismus" ist die Folge dogmatischer Einschränkung aller Wirksamkeit auf „Kausalität nach Naturgesetzen"). Der Piatonismus dagegen setzt Prinzipien („Ideen", „Ideale"), die vortrefflich sind für die Auszeichnung des Sittlichen in der menschlichen Vernunft (etwa: Freiheit und „Idee der Menschheit", welche der Mensch „als das Urbild seiner Handlungen in sich trägt", nach dem Plato-Passus in der Einleitung zur Dialektik), — aber gefährlich für die „physische", die mathematisch-dynamische Nachforschung im Sinne neuzeitlicher Naturwissenschaft (auf welchem Gebiet allein uns wirkliches Wissen und Wissenserweiterung „vergönnt ist"). Denn eben im Hinausblicken über Erfahrungsgegebenes und dessen Geschehensstrukturen hinaus auf Ordnungen, die nur nach Ideen möglich sind, liegt die Versuchung, von da her, also von Nichterfahrenem und Unerfahrenem aus, Naturerscheinungen zu „erklären"1*1. 181

Nodi einmal verweisen wir auf den Plato-Passus S. 248/9 Β 374/5. — Es geht an

274

(S. 327 Β 4991500)

Der 17. Absatz betont noch einmal das Positive und Fruchtbare in der Position des „Empirismus". Der „Vorzug der Popularität", welchen der 9. Absatz dem Thesen-„Dogmatismus" (hier jetzt: "Transzendentale Dogmatik") zusprechen mußte, scheint für die Gegenseite wegzufallen — was Kant von seiner Position aus „überaus befremdlich" findet. Der „gemeine Verstand" sollte eigentlich einen Welt„Entwurf" (und eine entsprechende Maxime) begrüßen, welcher ihn nicht zum Uberstieg auf Unerfahrbares, zur Bildung von Begriffen nötigt, deren Sachhaltigkeit für objektiv Seiendes (von nichtsinnlicher Art) nicht erwiesen werden kann 132 . In Wirklichkeit aber pflegt eben der gemeine Verstand, anders als der wirklich philosophische, um Rechenschaft-Geben und wirkliches Begreifen solcher Begriffe, wie jener „Anfänge", sich nicht zu kümmern — zumal sich da ein praktisches Interesse hineinmengt („Besorgnisse oder Hoffnungen" im Sinne jener dritten Kernfrage der Philosophie nach ihrem Weltbegriff: Was dürfen wir hoffen? wobei es um Unsterblichkeit geht). — Den Anfang des Abschlußsatzes in diesem 17. Absatz möchten wir so lesen: so ist der Empirismus aller Popularität gänzlich beraubt, wie sie einer „transzendental-idealisierenden Vernunft" im Sinne des Piatonismus und der „idealistischen" Erklärung der Erscheinungen doch eben zufließt. Kant fügt hinzu, daß gerade auch die in Absatz 10 festgestellte Gefahr des Empirismus für die moralischen Grunndsätze (hier jetzt: die „obersten praktischen", nämlich die kategorischen Imperative) für die „Welt"Wirksamkeit der Philosophie nicht so groß sei; der Lehrsatz von der Alleingeltung der „ N a t u r " (im Sinne kausalmechanischer Naturwissenschaft) würde die Grenzen „der Schule" kaum jemals überschreiten. Der erste Satz des 18. Absatzes formuliert nun explizite eine Uberzeugung Kants, welche das Wesen der menschlichen Vernunft übersoldien Stellen, welche jeweils auf erst später (in der Kritik der — teleologischen — Urteilskraft) systematisch entfaltete Problemkomplexe hinweisen, um das Verhältnis kausal-„mechanisdier" N a t u r e r k l ä r u n g zu teleologischen Ausblicken. — Der Zusammenhang mit denjenigen „Ideen der V e r n u n f t " , welche in den Antinomiethesen zum (dogmatischen) Austrag kommen, wird hier nicht weiter erörtert. 132

Der Terminus „objektive R e a l i t ä t " umgreift ebenso die Seins-Möglichkeit wie etwaige Wirklichkeit des im Begriff Gemeinten. So geht es beim Begriff einer K a u s a l i t ä t durch Freiheit (dieser allem „Realen in der Erscheinung" gegeniiberoder entgegenstehenden realitas noumenon) darum, ob es dergleichen überhaupt geben kann ebenso wie darum, in welchem Falle etwa Freiheit wirklich ist.

(S. 327 Β 4991500)

275

haupt betrifft. Es ist das eine Uberzeugung, welche als Grundvoraussetzung in seinem ganzen Denken wirksam ist und schon das Programm seiner Transzendentalphilosophie mitbestimmt hat: unsere Vernunft ist ihrerseits von „architektonischem" Charakter. Ausführlich wird davon später in der Methodenlehre gehandelt; deren III. Hauptstück trägt eben diesen Titel: „Ardiitektonik der reinen Vernunft" 133 . Der Begriff (oder die Metapher) des Architektonischen ist dabei immer unmittelbar bezogen auf „System" und Systematik: Zusammenstand, Gefüge und „Gebäude" von Erkenntnissen in gegliederter Ordnung, und dies in abgeschlossener oder abschließbarer Vollständigkeit134. Auch das also gehört zum „Interesse" der Vernunft, auch schon im rein Spekulativen: alles, was erkannt wird und worauf Erkenntnis ausgeht, zu beziehen auf eine (irgendeine) mögliche Systemordnung. Eben dieses Moment also wirft nun wieder negativen Akzent auf den dogmatischen Empirismus, bei all seiner methodischen Bedeutung für wissenschaftliche Empirie. Ohne ein „Erstes", ohne absolute „Anfänge", worauf — in allen vier Hinsichten — die Weltreihen zurückführen und von wo alles abzuleiten ist, bleibt jeder Weltentwurf ein Gebäude ohne „Grund", ohne tragende Basis. Das notwendige Bedürfnis der Vernunft und deren Forderung, durchgängige Einheit in allen ihren Erkenntnissen a priori herzustellen, spricht also wiederum für die Gegenseite: die des sogenannten Dogmatismus. Oder, was hier besonders nahe liegt, des „Piatonismus" mit seinem Anspruch auf „idealische" Prinzipien der Welterklärung (teleologische Gefüge und Harmonie des Ganzen). Der letzte Absatz schildert die Denkverfassung von jemand, welcher, unter Ausschaltung aller Gesichtspunkte des „Interesses" ebenso spekulativer wie praktischer Art, sich dem bloßen Gegeneinander der Behauptungen und Beweise gegenübergestellt sieht. Am Beispiel 133

S. 538—549 Β 860—880.

134

Zugleich spielt immer die Metapher oder das Analogiemodell des Organischen als durchgängig gegliederten und in allen Gliedfunktionen zusammenstimmenden Ganzen hinein. Vgl. z.B. S. 15 Β X X I I I : Kritik d.r.V. verzeichnet: „den ganzen inneren Gliederbau derselben", die ihrerseits „Organ" (S. 22 Β X X X V I I ) ist. — Vgl. etwa auch S. 456 Β 722/3: „Die größte systematische, folglich auch die zweckmäßige Einheit ist die Schule und selbst die Grundlage der Möglichkeit des größten Gebrauchs der Menschenvernunft. Die Idee derselben ist also mit dem Wesen unserer Vernunft unzertrennlich verbunden. Eben dieselbe Idee ist also für uns gesetzgebend . . . " .

276

(S. 330 Β 504)

der Idee einer Wirksamkeit durch Freiheit, bezogen nun unmittelbar auf das eigene Dasein, wird geschildert, wie der Betrachter sich hin und her gerissen sieht in seiner Meinung oder Uberzeugung, je nachdem er sich auf Welterkenntnis oder auf sein eigenes Handeln einstellt. Solcher Bewußtseinsspaltung gegenüber verlangt das zum Mcnschenwesen gehörige philosophisch-wissenschaftliche Ethos eine Neuwendung: Riickbezug der jene Kosmologiethesen entwerfenden und ausbauenden Vernunft auf sich selber — zwecks „Prüfung" der ihr eigenen Anliegen und Möglichkeiten. Was Kant hier, in der Schilderung bewegter Nachdenklichkeit, für „gewisse Zeiten" der Besinnung anempfiehlt, ist eben das, was grundsätzlich nun die „Kritik" auf sich genommen hat, — in einer bestimmten Zeitlage der Metaphysik und angesichts ihrer antithetisch einander gegenüberstehenden Systeme und Weltdeutungslager. Das einzusetzende Prüfungsverfahren wird audi hier wieder unter dem Bildschema einer Gerichtsveranstaltung (quid juris) vorgestellt, wobei an Unparteilichkeit und offene Aussprache appelliert wird. Die Anspielung auf die Geschworenen (Laienrichter) will auf eine solche Prüfung weisen, welche, der Endlichkeit unseres Vermögens den großen Daseinsfragen gegenüber wohl bewußt, das uns allen Gemeinsame in der Menschenvernunft zur Sprache kommen läßt, — entgegen hochmütig verstiegenem Anspruch der Schul-Lager und -Systeme, wie er in den Thesen wie in den Antithesen zum Ausdruck kommt.

4. Abschnitt: Von den transzendentalen Aufgaben der reinen Vernunft, insofern sie schlechterdings müssen aufgelöst werden können Mit dem Vierten Abschnitt setzt dann wieder die „gründliche Erörterung" ein, welche bisher, zugunsten der Überlegungen über Weisen und Motivationen des Vernunftinteresses bei diesen großen Fragen, „noch etwas ausgesetzt" wurden. Aber noch geht es nicht um den Vollzug von „Auflösung" derselben und um die neue „kritische", durch Selbstprüfung der Vernunft ermöglichte, Entscheidung. Sondern es soll jetzt nur — vorbereitend — grundsätzlich festgestellt werden, daß eben diese Fragen der Kosmologie, einmal als „transzendentale" Aufgaben erkannt, nicht wie Aporien stehen bleiben und als zuletzt

(S. 330 Β 504)

277

durch bloße Vernunft unlösbar erklärt werden dürfen (wie das, in bedeutenden Lehrformen der Metaphysik, vielfach geschehen w a r — so etwa bezüglich der alten, immer wieder sich erneuernden Frage nach „Anfang" oder „Ewigkeit" der Welt). Der Titel des Abschnitts besagt, daß die ganzen Kosmologiefragen der Antithetik nunmehr auf unausweichbare Notwendigkeit ihrer Auflösung hin betrachtet werden sollen. D a ß es, nach allen Richtungen, unlösbare Probleme in Wissenschaften gibt, w a r Kant sehr wohl vertraut. Dies gerade auch von der Entfaltung neuzeitlicher Naturforschung aus, welche ja zugleich mit ihren großen Fortschritten ein Ethos der Bescheidung (etwa in N e w tons Werk und Lehren) auf neue Weise eindringlich gemacht hatte. Kant selbst hatte in der Analytik der Verstandeserkenntnis in den Wissenschaften vom Grundsätzlichen her Beiträge dazu gegeben (ζ. B. im Thema der „Grundkräfte", als welche nur aus Erfahrung hinzunehmen und nicht weiter erklärbar seien). Aber nicht alle Wissenschaften sind, so wird jetzt in Erinnerung gebracht, von der A r t und A u f gabe: „Erklärung der Erscheinungen der N a t u r " — mit der hier geltenden Unabschließbarkeit und einem immer wieder Angewiesensein auf durch Erfahrung korrigierbare Hypothesen. Die Transzendentalphilosophie, in deren Rahmen wir uns jetzt, in Besinnung auf Fragen rationaler Kosmologie, bewegen, ist — wie Kant lehrt und nachdrücklich betonen will — von gänzlich anderer Art. Und sie steht darin nicht allein. Der 4. Absatz fügt sie ein in eine Dreiergruppe von Wissenschaften: von solchen nämlich, in denen es allein um Grundsätze und Lehrgefüge a priori geht. Zur Flinführung darauf spricht Kant zunächst, ausspringend aus den Zusammenhängen theoretisch-spekulativen Wissens oder Forschens, von der Erkenntnis rechtlich-sittlicher „Verbindlichkeit" (BasisbegrifF der Recht und Moral umgreifenden „Metaphysik der Sitten"). Das, was wir sollen, kann uns (im Grundsätzlichen, nach der allgemeinen „Regel" mit ihrem Unbedingtheitsanspruch: Sittengesetz!) niemals Erfahrung lehren; und darum muß es hier ein eigenes Wissen a priori geben: Einsicht der „reinen" praktischen Vernunft. „Reine Moral" (4. Absatz), vorausgehend aller Anwendung und Verknüpfung mit menschlich-gesellschaftlichen Daseinsbedingungen und -zuständen kann nur — so lehrt Kant, was hier nicht weiter zu erörtern ist — „reine Vernunftwissenschaft" sein, so daß da keine Prinzipienaufgabe ungelöst und ungewiß bleiben darf.

(5. J JO Β 504)

278

Bei „Recht und Unrecht" muß „derselbe Begriff, der uns instand setzt zu fragen" (eben der Verbindlichkeitsbegrifî; die Frage heißt: „Was sollen wir tun?"), uns auch „tüchtig machen, auf diese Frage zu antworten, indem der Gegenstand außer dem Begriff gar nicht angetroffen wird" (Ende des 2. Absatzes). Kants These ist nun („ich behaupte" . . . ) , daß die von ihm inaugurierte neue Wissenschaft „Transzendentalphilosophie", Aufklärung der Vernunft über sich selber nach ihrer inneren Verfassung, von analoger Art ist; daß also „alle Fragen, welche die reine Vernunft aufwirft, schlechterdings beantwortlich sein müssen, und daß die Entschuldigung, die in vielen Naturfragen ebenso unvermeidlich als billig ist, hier nicht gestattet werden könne". In späterem Rückgriff (welchem wir diese Formulierung entnehmen) nennt er selber dies eine „kühne Behauptung" — kühn aber doch nur „dem ersten Anschein nach"135. Der Begriff, welcher uns jetzt, im „spekulativen Bereich" der Kosmologie, tüchtig machen muß, auf die von ihm her gestellte Frage auch zu antworten, ist natürlich der Vernunftbegriff („Idee") von Welt, im Sinne der absoluten Totalität aller Erscheinungen in Raum und Zeit. Es muß also hier „der Schlüssel" zu den notwendigen Antworten rein „in uns und unserem reinen Denken" liegen, — anders als bei aller Art „Naturkunde", als welche auf Erscheinungen in der Welt, in der empirischen Realität geht und insofern auf Sachen „außer uns" (4. Absatz). Doch haben innerhalb „der transzendentalen Aufgaben der reinen Vernunft" die kosmologischen insofern eine Sonderstellung, als hier nicht nur Antwort überhaupt erwartet und gefordert werden muß, sondern eine solche, welche „die Beschaffenheit des Gegenstandes" (Welt) betrifft. Bei „Seele", als der absoluten Einheit des denkenden Subjekts, ging die Intention auf einen an sich selber imbekannten (und in diesem Sinne „transzendental" zu nennenden, bloß als Noumenon „denkbaren") Gegenstand. Alle Aussagen über dessen „Beschaffenheit" konnten nur „transzendent" sein und mußten darum verwehrt werden. Hier ist denn auch, wie die Anmerkung hinzufügt, schon die Frage, das Verlangen nach „Was"-Aussagen, nichtig, „leer" an Sinn. Hier ist kein Gegenstand „gegeben" — er wird nur, unbestimmt, gedacht. Anders ist es freilich, wenn „transzendentale Seelenlehre", ab1S5

S. 457 Β 723.

(S. 330 Β 504)

279

gelöst von den Ansprüchen der überkommenen rationalen Psychologie, sich, anstatt von jenem Objekt und seinen (angeblichen) Beschaffenheiten Einfachheit und Substanzialität zu handeln, auf das „transzendentale Subjekt" einstellt, als welches grundsätzlich nicht Gegenstand, weil nicht Erscheinung werden kann. Die Fragen nach der Einheit des denkenden Subjekts im Sinne des „Vehikels" aller Vorstellungen und Erkenntnisse, der nicht erscheinenden Voraussetzung aller Erscheinungen, „sind" beantwortlich und wirklich auch beantwortet (nämlich in Kants Lehre von der transzendentalen Einheit derApperzeption138). — Analoges gilt auch von der Idee (dem „Ideal") des Dritten Hauptstücks: „Ursache aller Dinge insgesamt . . . , die schlechthin notwendig ist"137: sie zielt auf Etwas, was uns wesenhaft unbekannt ΐ3β v g l . etwa, aus dem Paralogismen-Hauptstück, die zusammenfassende Formulierung I V 249/50 A 400 f.: „Nun ist die bloße Apperzeption (Ich) Substanz im Begriff, einfatli im Begriff usw., und so (sc.: betrachtet) haben alle jene psychologischen Lehrsätze ihre unstreitige Richtigkeit" — die aber eben doch nicht gegenständliche Wahrheit ist. D a ß „keine der Kategorien" auf das so verstandene „Subjekt des Denkens" angewandt werden kann — wie es in unserer jetzigen Anmerkung noch heißt —, wird dort, zum Abschluß der ersten P a r a logismen-Darstellung, so formuliert, daß das Subjekt „nicht sowohl sieb selbst durò die Kategorien", als vielmehr „die Kategorien und durch sie alle Gegenstände . . . durch sid) selbst erkennt." — Aus der Darstellung der Zweiten A u f lage vgl. etwa S. 279 Β 429: „Wenn ich mich hier als Subjekt der Gedanken, oder auch als Grund des Denkens vorstelle, so bedeuten diese Vorstellungsarten nicht die Kategorien der Substanz oder der Ursache . . . " . — In dem Terminus „transzendentales Subjekt aller inneren Erscheinungen" liegen zwei wohl zu unterscheidende Bedeutungen: das denkende Ich als Gegenstand genommen ist „transzendental" im Sinne eines gegenständlich nicht mehr Faßbaren, eines Noumenon im negativen Verstände (entsprechend dem „transzendentalen Gegenstand", von dessen Beschaffenheit wir nichts wissen können) — und: „transzendental" im Sinne des grundlegenden Formcharakters aller Spontaneität des Denkens, Kernthema von Kants Transzendentalphilosophie vom Anliegen der Analytik aus, und insofern auch einer „transzendentalen Seelenlehre". Vgl. im folgenden noch die Stelle S. 339 Β 520. Hier wird vom „transzendentalen Subjekt" nur im ersteren Sinn gesprochen. 137 Der Anklang an das Thema der vierten Antinomie, insbesondere an dessen Zuspitzung auf (Welt-)Ursache, darf nicht übersehen lassen, daß jetzt von der Ursache „aller Dinge insgesamt" die Rede ist, wo also der Vernunftschluß „auf die absolute synthetische Einheit . . . der Möglichkeit (!) der Dinge überhaupt (!)" geht, „das ist von Dingen, die ich nach ihrem bloßen transzendentalen Begriff nicht kenne, auf ein Wesen aller Wesen, welches ich . . . noch weniger kenne". S. 262 Β 398. — Auch der „transzendentale Gegenstand" Seele als „an sich einfaches" Wesen scheint sich· ja mit einem Teilthema der Antinomie (im Zweiten Widerstreit) zu decken. Aber auch hier darf dieser Sachzusammenhang nicht den Unterschied des Ausgangs und der Argumentationsweise verdecken! 6

Heimsoeth, Transzendentale Dialektik II

280

(S. 332 Β

508)

ist, auf einen „transzendentalen Gegenstand", von dessen „Beschaffenheit" (Attributen) wir nichts wissen können (ohne daß darum der Gedanke davon widersprüchlich sein müßte, was ja Unmöglichkeit der Sache selbst bedeuten würde). Anders die kosmologischen Ideen! Zwar ist auch hier die Frage (samt allen Entscheidungen der Thesen und Antithesen) „transzendent". Sie geht ja, wie jene anderen, auf Unbedingtes und Totalität, also auf etwas, das nie gegeben und nie bestimmt erkannt werden kann. Aber hier wird ja, unter dem Titel „Welt", nicht ein Seiendes in seinem Ansichsein („Sache an sich selbst") angegangen; sondern es geht um das Ganze raumzeitlicher Erscheinungen, um „Reihen", an denen unsere empirische Synthesis im Regreß entlang geht, — wie alle Argumentationen zeigen. Eben darin liegt „das Eigentümliche" dieses Bereichs und Themas der Dialektik, das eben, woraus auch die Besonderheit erfolgt, daß hier und nur hier „Antithetik aufspringt", Antinomisches im Vernunftdenken selber138. Es wird kein „Gegenstand an sich selbst" durch die Idee gesetzt; daher muß denn, so wie bei Prinzipienfragen der Metaphysik der Sitten, die Frage auch „aus der Idee allein aufgelöst werden können". Der 4. Absatz nimmt zu den bisher betrachteten und, betreffs notwendiger Beantwortbarkeit der Fragen, in Analogie zu einander gestellten „reinen Vernunftwissenschaften" (Transzendentalphilosophie im kosmologischen Thema und: apriorische Prinzipienlehre für Recht und Moral) noch eine dritte „reine" Wissenschaft hinzu (als aus lauter Sätzen a priori aufgebaut, gehört auch sie zur „reinen Vernunft" im weiteren Sinne!): die reine Mathematik. Mathematik rechnet mit zum „spekulativen" Bereich; sie ist aber von der Transzendentalphilosophie fundamental unterschieden dadurch, daß ihre Begriffe der Konstruktion in der Anschauung fähig und auch bedürftig sind — was ja ermöglicht, daß sie die Grundlage der Naturwissenschaft darstellten139. Man darf annehmen, daß es gerade das Wissenschaftsmodell iss Weit vorgreifend kann hinzugefügt werden, daß Welt in diesem Sinne (als Natur) nach Kants Lehre „das einzige gegebene Objekt" der Vernunft ist, „in Ansehung dessen die Vernunft regulative Prinzipien bedarf". S. 451 Β 712. Darüber später. 139

„Reine" Mathematik muß ebenso im Sinne von rein apriorischer Wissenschaft verstanden werden, wie audi als Absetzung vom nodi bei Kant vielfach gebrauchten Begriff „Mathematik" und „Mathematiker" („Geometer"), welcher auch Astronomie und Physik umfaßt (angewandte Mathematik).

(S. 332 Β 508)

281

der Mathematik gewesen ist, was Kant auf seine Vorstellung von notwendiger Auflösbarkeit aller im „reinen" Bereich aufgeworfener Fragen — sei es durch positive Beantwortung, sei es durch Nachweis wesensmäßiger „Unmöglichkeit solcher Auflösung" — gebracht hat. Jedenfalls beruft er sich in diesem Absatz auf den als bekannt („nicht so außerordentlich") vorausgesetzten Tatbestand; und er fügt ein zeitgenössisches Beispiel für die zweite Art des Nachweises (Lamberts Beweis) hinzu140. (Für die „Welt"-Problematik im Sinne der rationalen Kosmologie kommt, nach Kant, ein der letzteren „Gewißheit" analoger „Irrationalitäts"-Aufweis nicht in Frage: die kosmologischen Ideen sind ja eben „Geschöpfe der Vernunft"; sie stellen also Fragen, die sinnotwendig sind.) Eben damit werden aber auch wieder alle Ansprüche auf „objektive" Entscheidung jener Fragen als un-vernünftig charakterisiert. — „Sicherer Aufschluß" muß also auch hier, im Thema der antithetischen Dialektik, erwartet werden, obgleich es hier nicht um Anschauungsgegenstände a priori geht, sondern um den über alle Anschauung hinausliegenden, obzwar von der empirischen Synthesis der Erscheinungen ausgehenden Totalitätsgegenstand „Welt". — Der Abschlußsatz dieses 4. Absatzes deutet vorübergehend auf den in der Analytik ausgearbeiteten Teil der Transzendentalphilosophie zurück, welcher die Rechtmäßigkeit unserer Erkenntnis aufzuweisen hatte (reine Mathematik und apriorische Prinzipienlehre für das Verstehen aller Gegenstände möglicher Erfahrung). Für Transzen140

β*

Kants Zeitgenosse Lambert hatte in der fünften Abhandlung des zweiten Teils seiner „Beiträge zum Gebrauch der Mathematik . . . " von 1770 und in der noch im gleichen Jahr erschienenen Akademieabhandlung „Mémoire sur quelques propriétés remarquables des quantités transcendentes circulaires et logarithmiques" die Irrationalität der Zahlen e und π nachgewiesen und damit faktisch eine neue Periode in der Geschichte des Problems der Quadratur des Kreises eröffnet. Vgl. dazu Paul Kloevekorn, J. H. Lambert als Mathematiker, in: J. H. Lambert, Leistung und Leben, Mühlhausen (Elsaß) 1943, S. 92 ff. — Daß Kant mit Lambert, den er als „Genie" pries und dessen „Cosmologische Briefe über die Einrichtung des Weltbaues" von 1761 er als hochwillkommene Übereinstimmung mit Grundgedanken seiner eigenen „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" von 1755 begrüßte (II 68/69 a), von 1765 an in brieflichen Gedankenaustausch kam, und daß er anderthalb Jahrzehnte nach dem 1777 eingetretenen Tode des großen Mathematikers und Philosophen auf die Herausgabe von dessen Nachlaß durch eine „Anzeige" des Lambert'schen Briefwechsels das Zeitalter aufmerksam zu machen suchte (VIII3 f.), sei hier nur kurz noch miterwähnt.

282

(S. 332 Β 508)

dentalphilosophie in diesem Teilbereich ist die Erreichbarkeit begründender Gewißheit für Kant ohnehin Grundvoraussetzung141. Im 5. Absatz wird noch wieder auf die vier Weltfragen zurückverwiesen, für welche es also eine Auflösung geben müsse — wenn auch vielleicht keine dogmatische, sondern eine „kritische" (wie sie im Siebten Abschnitt gegeben werden wird). Es kann dabei die Formulierung der Antithesis des zweiten Stücks im Ersten Widerstreit auffallen: „Ob der Weltraum ins Unendliche mit Wesen erfüllt . . . sei." Doch liegt darin nichts Neues; es handelt sich ja um Weltrealität im Räume, der seinerseits als „unendliche Größe" vorgestellt werden muß. Und das bedeutet eben doch die Frage der Erfüllung dieses unendlichen Raumes in Totalität mit „Wesen", wobei ebensowohl an Wesen körperlicher Art (Materie) zu denken wäre, wie an seelisch-geistige. Zusammenfassend heißt es noch einmal, daß in all diesen Fragen nicht von einer „Sache" an sich selbst die Rede sei, welche uns sozusagen vorgegeben und nach ihrer Beschaffenheit verborgen wäre. Welt als Totalität von allem uns wirklich oder möglicherweise Gegebenen, diese „Idee" hat ihren Grund („die Ursache") in der aufs Unbedingte drängenden Vernunft selbst. Die Wendung: daß wir „hartnäckig annehmen", es entspreche dieser Idee ein „wirklicher Gegenstand" — deutet wieder auf den hier waltenden transzendentalen Sdiein, auf die innere Dialektik in diesem „unserem" Begriff von Welt. 6. und 7. Absatz unterstreichen noch einmal den Wesensunterschied zwischen Erscheinungen nebst (komparativen) Ganzheiten von Erscheinungen — Kategorie der „Allheit", angewandt auf immer größere Zusammenhänge der empirischen Realität —, welche nach Regeln (wie ζ. B. den Analogien der Erfahrung) zu „exponieren" sind, dies immer „in concreto" — und jedem absoluten Totalitätsbegriff von Welt und Weltreihen, als welchem kein gegebener Gegenstand korrespondieren kann. Das absolute Ganze kann selbst nie erfahren werden {„keine" Wahrnehmung — ist der in vielen Ausgaben verderbte Text zu lesen!); es kann also auch nicht „erklärt", nicht „exponiert" werden. 141

Daß aber auch in der Grundlegung der Transzendentalphilosophie ungelöste und etwa unlösbare Fragen sich auftun könnten, scheint sich anzudeuten in der berühmten Stelle zu Ende der großen Einleitung in die Kritik, wo von den dort unterschiedenen „zwei Stämmen" unserer Erkenntnis (Sinnlichkeit und Verstand) gesagt wird, daß sie „vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen". S. 46 Β 29.

(S. 332 Β 508)

283

Am Beispiel des Zweiten Widerstreits wird darauf hingewiesen, daß mögliche Erfahrung uns auf kein Einfaches in der Welt führen kann — Realität von Räumlichem oder Raumerfüllendes ist eo ipso unbegrenzt teilbar —, und ebensowenig auf so etwas wie „unendliche Zusammensetzung" (unendlich zusammengesetzte Gegenstände oder „Substanzen") — was insbesondere als Voraussetzung der „Monadisten" in ihrer Erklärung organisierter Wesen (Organismen) aufgetreten war142. Der letzte Absatz zieht noch einmal die Konsequenz: da der Totalitätsbegriff „Welt" uns nie als Gegenstand vorkommen kann, sondern bloße „Idee" in uns ist (Kant bedient sich hier, um äußerster Akzentuierung seines Gedankens willen, des Ausdrucks: „bloß in unserem Gehirne"), so kann die „Auflösung" der Schwierigkeit auch nicht in Aussagen über „die Sache", über Gegenständliches („dogmatische" Aussagen) gesucht werden. Es gilt vielmehr, den transzendentalen Schein zu durchschauen: den Fehler in der „hartnäckig" immer wieder sich aufdrängenden Annahme, Welt sei für uns vorhanden („gegeben") als wirklicher Gegenstand. Daß im Weltbegriff selber eine „Amphibolie" (Zweideutigkeit)143 steckt, das muß aufgedeckt werden. Dies eben ist die Aufgabe der „kritischen" Auflösung, als dem einzigen Ausweg aus dem „Antithetik"-Dilemma. Von ihr wird aber auch erwartet, daß sie „völlig gewiß" sein werde — entsprechend der Grundthese von notwendiger Gewißheit in der Vernunftwissenschaft „Transzendental-Philosophie" (2. bis 4. Absatz). 142

143

Vgl. die später zu kommentierende Stelle S. 359 Β 544 f. über den falschen Schluß „von der unendlichen Teilbarkeit" der Körper auf die „Menge" der in einem gegebenen Ganzen „schon abgesonderten Teile". „Annehmen, daß in jedem gegliederten (organisierten) Ganzen ein jeder Teil wiederum gegliedert sei . . . und daß das Ganze ins Unendliche gegliedert sei" — ist ein Ungedanke, sofern die „Reihe" unendlicher Teilung als niemals vollendbar „und gleichwohl doch in einer Zusammennehmung als vollendet angesehen wird". Schon die Analytik hatte sich, anhangweise, mit der Amphibolie gewisser Begriffe der dogmatischen Metaphysik (Kant nennt sie „Reflexionsbegriffe") kritisch auseinandergesetzt; dort war eine „Verwechselung des empirischen Verstandesgebrauchs mit dem transzendentalen" aufzudecken. S. 214/5 Β 316 ff.

(S. JJÍ Β S i J)

284

5. Abschnitt: Skeptische Vorstellung der kosmologischen Fragen alle vier transzendentalen Ideen

durò

Audi der Fünfte Abschnitt dient nodi der Vorbereitung. Noch einmal werden alle die kosmologischen Fragen vorgeführt: nunmehr in einer „Skeptischen Vorstellung". Was Kant, in Absetzung und Abwehr gegen jeden „Skeptizismus" (als welcher „die Grundlagen aller Erkenntnis untergräbt"), unter dieser Vorstellungsart verstehen will, deutete sich schon im Ersten Hauptstück an, da wo ganz allgemein drei Arten von „Einwürfen" in der Diskussion metaphysischer Fragen unterschieden wurden: die skeptischen, folgend auf die dogmatischen, sollten die kritischen vorbereiten 144 . Dann wurde im Zweiten Abschnitt unseres Kosmologie-Hauptstückes, unmittelbar vor Aufrollung der vier Weisen des Widerstreits, der neue Begriff „Skeptische Methode" eingeführt, als „nur der Transzendentalphilosophie allein wesentlich eigen"140. Jetzt gilt es, dieses Verfahren auf die Fragen anzuwenden, „welche reine Vernunft an reine Vernunft tut" (1. Absatz). Ziel ist dabei, „zum voraus" — vor der eigentlichen Aufklärung, welche die Kritik als das „Kathartikon" 146 der Vernunft leisten soll — aus den (dogmatischen) Anwendungen und Folgen des Weltbegriffs diesen selber zweifelhaft zu machen, d. h. den „Verdacht" zu erwecken, daß er, so wie ihn jene Thesen auffassen und exponieren wollen, ein „vernünftelnder" Begriff, ein bloßes ens rationis sei. Zu zeigen wäre, in jedem der vier Ausblicke auf Weltbeschaffenheit, daß „in beiden Fäl144

„Der skeptische (Einwurf) stellt Satz und Gegensatz wechselseitig gegeneinander, als Einwürfe von gleicher Erheblichkeit, einen jeden derselben wechselweise als Dogma und den anderen als dessen Einwurf." IV 243 A 388.

145

S. 292 Β 451/2. Vgl. audi in Kants Logik die Bemerkung über den Nutzen der „skeptischen Methode" und ihrer „bloßen Suspension des Urteilens" für ein kritisches Verfahren, durch welches die Quellen der Behauptungen oder Einwürfe untersucht werden. I X 84.

146

Diesen der ärztlichen Sprache entnommenen, von da in Logik und Vernunftlehre als eine Art Medicina mentis übertragenen Terminus gebraucht Kant audi sonst, ζ. B. schon bei der Charakteristik der formalen oder „allgemeinen" Logik: „lediglich ein Kathartikon des gemeinen Verstandes", nidit audi schon Organon besonderer Wissenschaften. S. 76 Β 77/8. Vor allem aber hat nun eben die Dialektik, verstanden als Kritik des Scheins, diesen Nutzen, auch schon im Formalen („Heilungsmittel von logischen Fehlern und Irrtümern"). I X 17 f.

(S. JJÍ Β 513)

285

len" (Thesen wie Antithesen, Dogmatismus wie Empirismus, Platonismus wie Epikureismus) Nonsens herauskommt147. Der 2. Absatz (vordeutend) und der vorletzte (als Zusammenfassung) stellen die Betrachtung unter das Begriffspaar: „zu groß", „zu klein". Man kann sich der allgemeinen Charakterisierung der „Idee" erinnern: wonach sie dem Objekt nach (als von einem Gegenstande des reinen Verstandes) „sehr viel", „dem Subjekte nach aber (d. i. in Ansehung seiner Wirklichkeit unter empirischen Bedingungen)" sehr wenig sagt, weil doch eben ein Maximum niemals in concreto gegeben werden kann148. Das gilt so von Ideen überhaupt, ζ. B. von der „Seele" ; die Weltidee aber hat ja nun das Besondere, daß es bei ihr nicht um den wirklichen (einen transzendenten) Gegenstand geht, sondern um das Unbedingte von Erscheinungsreihen. Insofern hat es diese Idee (wie Kant sich hier ausdrückt) „nur mit einem Gegenstande der Erfahrung zu tun" und müßte mit einem „möglichen Verstandesbegriff" sich dedien können. Hier tritt dann eben, was in der Sache liegt, jenes Gegeneinander der Behauptungen auf — und damit dieses spezifische „zu groß", „zu klein" 149 . Was denn besagt, daß alle diese Weltbegriffe beiderseits ihrem Gegenstande (der Erscheinungswelt) unangemessen sind und zu keinem wirklichen Verstehen führen, so wie es uns allein möglich ist („Gesetz des empirischen Gebrauchs des Verstandes"; nur in ihm haben wir das „Richtmaß" für Wahrheit). Es folgt Erörterung aller vier Thesen und Antithesen unter diesem Gesichtspunkt der Ungemäßheit. Die Argumentationen wiederholen durchweg Leitgedanken der Beweisgänge in der ersten Auffächerung der Antithetik150. Das Neue liegt hier in der Zusammenordnung: jedes117

Die Sprache Kants in diesem Absatz wird deutlich aggressiv gegen die Anmaßungen der auf ihn überkommenen metaphysischen Systeme; da waltet ein „skeptisches Polemisieren", das „wider den Dogmatiker gekehrt" ist, „bloß um ihm das Konzept zu verrücken und ihn zur Selbsterkenntnis zu bringen". Der Weg geht über Zweifel und „Zensur" zur Kritik. Vgl. in der Methodenlehre S. 498 Β 791/2, S. 497 Β 789, S. 5 0 1 / 2 Β 797.

148

S. 254 Β 384.

149

Vorausdeutend schon S. 291 Β 4 5 0 : Die (Welt)-Ideen werden, wenn der Vernunfteinheit adäquat, „für den Verstand zu groß" und, „wenn sie dem Verstände angemessen, für die Vernunft zu klein sein . . . " .

150

Immerhin ist in den Einzelformulierungen einiges soweit anders gefaßt, daß beide Darstellungen einander wechselseitig erhellen. Vom Inhaltlichen mag angemerkt sein, daß in der Kurzfassung des Zweiten Gegeneinander nur von „Materie" im eigentlichen (physischen) Sinne die Rede ist, mit der Zufügung,

286

(S. 335 Β 513)

mal ist die Behauptung der Antithesis für den uns allein möglichen Begriff (für „euren" Begriff, heißt es jetzt meistens, in „skeptischem Polemisieren"!) „zu groß", die der Thesis „zu klein". Jedesmal übersteigt der Unendlichkeits-Anspruch die Möglichkeiten diskursiv-zeitlichen Feststellens und Verstehens; — und jedesmal bleibt die „Anfangs-" und Endlichkeitssetzung zurück hinter der Notwendigkeit diskursiv-synthetischen Verstehens, jede wirkliche Bestimmung innerhalb von Raum und Zeit durch Hinbeziehung auf ein weiteres bzw. vorangehendes Reihenglied zu treffen. Abschließend wird die Situation der menschlichen Vernunft mit der in ihr gelegenen Unterschiedenheit und Spannung zwischen Verstand einerseits und Vernunft (i. e. Sinne) andererseits noch einmal dahingehend charakterisiert, daß der eigentliche „Zweck" der spekulativen Bestrebungen wirkliche Erkenntnis ist und sein muß; diese aber kann es eben nur am Leitfaden der Grundsätze möglicher Erfahrung geben; nur so haben unsere Begriffe Sachhaltigkeit („Realität"). Von da gesehen sind dann die so viel weiter ausschauenden, so viel höher greifenden „Vernunft"-Begriffe nur Ideen. Der (vernunft-notwendige) „Welt"-Gedanke hat keine Beziehung auf einen vorhandenen Gegenstand und keine Sachwahrheit in diesem Sinne. Wenn im Nachdenken über Weltbeschaffenheiten zwangsläufig Widerstreite auftreten, so liegt die „Schuld" (Streit im Gerichtsverfahren) nicht im Unzureichen unseres Verstehens, nicht beim „zu wenig"-Ausgreifen dem empirischen RegreßVerfahrens, als welches das einzig Legitime für Erweiterung des Wissens ist, sondern bei der falschen Selbsteinschätzung der „dogmatisch" aus Ideen gegenständliche Behauptungen entwickelnden Vernunft — dies ebenso in den Thesen wie in den Antithesen. Das „zu groß" oder „zu klein" muß (wie das Kleid für einen Menschen) bezogen werden auf das Vermögen unserer wirklichen Erkenntniskräfte. daß sie nach der Antithesis „aus unendlich vielen Teilen" (unendliche Menge!) bestehen müßte, und zwar in jedem Teilstück schon. Ferner, daß in der Kurzfassung des dritten Widerstreits nur von Kausalität („Erzeugung") aus Freiheit innerhalb des Weltlaufs die Rede ist („hin und wieder": vereinzelte Freiheitstaten von Menschen in einem weit überwiegenden Strom naturgesetzlich bedingter Begebenheiten). — Daß bei der jetzigen Fassung der vierten Antinomie die Disjunktion im VernunftbegrifT des absolutnotwendigen oder „Ur"-Wesens (von keinem „älteren" Dasein abhängend) explizite dreigliedrig ist, wurde schon bei der Kommentierung der Thesis und der ihr beigefügten Ausführungen erwähnt

(S. 338/9 Β

287

518/9)

6. Abschnitt: Der transzendentale Idealismus als der Schlüssel zur der kosmologischen Dialektik

Auflösung

Der Sechste und Siebente Abschnitt bringen nun Kants Entscheidung: Auflösung des transzendentalen Scheins, welcher in all diesen Fragestellungen waltet. Als Erstes wird die Position bezeichnet, von welcher aus die Lösung der merkwürdigen Schwierigkeit erfolgen soll. Der Terminus dafür, und damit auch die Sache, wird gleich im 1. Absatz als Neuprägung eingeführt. Die Bedeutung dieses „transzendentalen Idealismus" liegt keineswegs allein in seiner aufschließenden Leistung in Richtung auf das Antithetik-Phänomen; faktisch war ja dieser „Lehrbegriff" in unserem Werk auch schon früher aufgetreten: im Ersten Hauptstück — und audi da als Neufassung betont („Ich verstehe aber unter . . .")151. Der jetzt einführende Rückgriff auf Erweise und Ergebnis der transzendentalen Ästhetik läßt auch verstehen, in welchem Sinne die Anmerkung nodi die Benennung als „formaler" Idealismus hinzuzieht152. Denn dort war ja das Resultat, daß die Formen unserer Anschauung den Charakter bloßer „Idealität" (entgegen der gewöhnlichen Voraussetzung einer ontisch-„absoluten" Realität von Raum und Zeit) haben, — woraus dann auch die „Idealität des äußeren wie des inneren Sinns" (und damit der „Erscheinungs"-Charakter alles uns Gegebenen und von uns Erfahrbaren) folgte. Den jetzt, in der Anmerkung, zugleich — als Kontrastposition dazu — mitgenannten „materialen" Idealismus (welcher eben nicht nur die 151

I V 232 f. A 369 f. In der Zweiten Auflage der Kritik ist diese Erläuterung aus der Paralogismendarstellung herausgelassen worden, so daß die zentrale Erörterung der Sache und des Titels ganz in den Rahmen der Antinomie-Dialektik fällt, was denn auch im Sinne der Berufung auf das „Experiment der reinen Vernunft" mit sich selbst, diesem „Experiment einer Gegenprobe der Wahrheit . . . " liegt, davon die Vorrede vordeutend sprach (S. 13 Β X I X f. samt Anmerkung). Vgl. damit den gegen Ende unseres Siebenten Abschnitts auftretenden Gedanken des indirekten Beweises für die Doktrin der transzendentalen Ästhetik.

152

Diese Benennung war in den zwischen den beiden Auflagen der Kritik ausgearbeiteten „Prolegomena" (übrigens audi hier im Paralogismen-Zusammenhang) aufgetreten: „der formale Idealism (sonst von mir transzendentale genannt)" — Gegensatz ist: der „materielle". § 49 (IV 337). Im Anhang der Schrift heißt es dann noch: „Es sei mir erlaubt, ihn (diesen Lehrbegriff) künftig . . . den formalen, besser noch den kritischen Idealism zu nennen . . . " ; letzteres zur A b setzung gegen den „dogmatischen" wie den „skeptischen" Idealismus. IV 375.

288

(Χ 338/9 Β 51819)

Formen, sondern die Materie, den Inhalt unseres Erkennens zur bloßen Vorstellung in uns, ohne Eigenrealität, erklären will) sieht Kant immer in doppelter Form vor sich: als Bezweiflung der „Existenz äußerer Dinge", wie sie Descartes einführend vorgenommen hatte, und: als radikale Leugnung solcher Außenwelt-Realität, wie sie unter dem Namen Berkeleys auftrat. Die erste Position nennt Kant den „problematischen", auch wohl den „skeptischen", die zweite den „dogmatischen" Idealismus153. (Faktisch geht es in beiden Fällen stets um Welt als „Außenwelt"). Der neue Lehrbegriff sagt also aus: alles was je uns in Erfahrungen vorkommen kann, ist, nach der Art und Weise, wie es von uns erfaßt und vorgestellt wird, keine „an sich gegründete Existenz", kein „Ding", keine „Sache", welche für sich „subsistierte" (Substanz an sich). Das gilt, wie Kant lehrt, nicht nur vom Körperlichen („Außenwelt"), sondern — zufolge der „Idealität" der Zeit und unseres „inneren Sinnes" — auch für alle gegenständlichen Gehalte innerer Erfahrung. Alles was uns als gegeben und erfahrbar vorkommt, ist eo ipso „modifiziert" durch Formcharaktere unserer Sinnlichkeit und damit nur („nichts als") Erscheinung für uns, „bloße Vorstellung", so nur vorkommend in unseren „Gedanken" (Gedanken im universalen Sinne der cogitationes bei Descartes: Bewußtseinsgegebenheiten und -gegenständlichkeiten). Den Gegenstandpunkt nennt Kant: Realismus „in transzendentaler Bedeutung", entsprechend der Kontraposition in der transzendentalen Ästhetik: transzendentale Idealität und — transzendentale Realität von Raum und Zeit. Der Realismus in dieser Bedeutung muß scharf unterschieden werden vom „empirischen Realismus", welcher ja — auch wieder nach den Grundlehren der Ästhetik — jener transzendentalen Idealität positiv zuzuordnen ist. Denn alles, was in Raum und Zeit uns erscheint, hat eben als so Angeschautes und Erfahrenes seine gediegene, mit Schein und Traum unverwechselbare Realität für uns154. (In solchen Zusammenhängen hat das Wort „tran153

Vgl. dazu S. 190 Β 274, den Abschnitt: „Widerlegung des (nämlich dieses!) Idealismus". U m „alle Mißdeutung" der neuen eigenen Doktrin in Richtung auf jene früheren Arten v o n „Idealismus" (siehe audi I V 2 3 6 / 7 A 377) zu verhüten, greift unsere Anmerkung zurück auf die Bezeichnung: „formalen".

154

Ersteinführung des Begriffs „empirische Realität": S. 56 Β 44, S. 61 Β 52; für „empirischen Realism" vgl. I V 235 A 375: „Alle äußere Wahrnehmung also be-

(S. 33819 Β

51819)

289

szendental" natürlich nicht die neue Kantische Bedeutung der Vernunftreflexion auf die eigenen Begriffe, Grundsätze oder Ideen.) Der Realismus in „transzendentaler Bedeutung" wird abgewehrt, so wie jede Erkenntnis eines oder des „transzendentalen Gegenstandes" verneint wird 155 . Der zweite Absatz verwahrt sich gegen die Verwechslung der neuen Position mit dem (audi in den Lehrbüchern der Wolffschule immer schon bekämpften) Idealismus von der Art Berkeleys; Kant nennt denselben jetzt, zum Unterschied vom eigenen „transzendentalen", den „empirischen" Idealismus 156 , — welche Bezeichnung darauf geht, daß hier nicht bloß die transzendentalen Formen und damit die Art, wie wir von der Welt und von uns selber Kenntnis nehmen und Erkenntnisse gewinnen, für bloß „ideal" (nur „für uns" wirklich) erklärt wird, sondern audi die ganzen wechselnden Gehalte, welche, als „Materie" der Welterfahrung, uns begegnen. Der „materiale" Idealismus (s. o.) ist danach gleichbedeutend mit dem „empirischen". Kant wollte diese extreme Position als eine zwangsläufige Folge aus der ungeprüften (insofern „dogmatischen") natürlichen Vorausetzung von realer Außenwirklichkeit (im Sinne des Ansich-Bestehens von Raum und Räumlichem) verstehen 157 , — als Folge also des transzendentalen weiset unmittelbar etwas Wirkliches im Räume, oder ist vielmehr das Wirkliche selbst . . . , d. i. es korrespondiert unseren äußeren Anschauungen etwas Wirkliches im Raum". — IV 233 A 371: „Also ist der transzendentale Idealist ein empirischer Realist . . . " ; der Materie (ζ. B.) kommt „als Erscheinung eine Wirklichkeit" zu, welche nicht erst erschlossen werden muß (wie beim „problematischen" Idealismus des Descartes) „sondern unmittelbar wahrgenommen wird". 155

In diesem Sinne wurde schon in der transzendentalen Ästhetik die neue Lehre von der „Idealität" des Raumes und der Zeit abgesetzt gegen die gewöhnliche Annahme ihrer „transzendentalen" Realität — im Sinne einer „absoluten", von uns unabhängigen. Die neue „Theorie", welche die empirische Realität jener Formen zugesteht und betont, bestreitet zugleich „die absolute und transzendentale". S. 61 Β 53. — Vgl. audi IV 232 A 369: „Der transzendentale Realist stellt sich . . . äußere Erscheinungen . . . als Dinge an sich selbst vor, die unabhängig von uns und unserer Sinnlichkeit existieren, also auch nach reinen Verstandesbegriffen außer uns (!) wären."

156

So schon in den Paralogismen: „Alle dem empirischen Idealismus anhängenden Psychologen" (Metaphysiker der Seele) verfechten die Idealität bzw. Ungewißheit äußerer Gegebenheiten. IV 233 A 372. Vgl. IV 232 A 369: Der „transzendentale Realist", welcher Zeit und Raum als etwas „an sich" Gegebenes (Vorhandenes) ansieht, und damit dann auch die „äußeren Erscheinungen" als Dinge an sich selbst vorstellt, „ist es eigentlich, welcher nachher (!) den empirischen Idealisten spielt . . . " . Die Formulierung

157

290

(S. 338/9 Β

il8/9)

Scheins, welchem Philosophen von der Art Berkeleys (wie so viele oder alle anderen) in ihrer realistischen Vor-Annahme erlegen waren. Insofern will der transzendentale Idealismus, welcher hier nun als „Schlüssel" für die Auflösung des Antinomierätsels fungieren soll, zugleich die Fehlposition des am („Außen"-)Welt-Thema aufgekommenen „gemeinen" (d. h. bisher allgemein so verstandenen) Idealismus entwurzeln: zugunsten eben der „empirischen Realität". — Nur innerhalb der letzteren ist nach Kant wirkliche Existenz von bloß scheinbarer (ζ. B. Traum) sicher unterscheidbar: nach den Kriterien, welche eben die Grundsätze der Analytik uns an die Hand geben. — Zum Unterschied vom „empirischen Idealismus" aber erfaßt der transzendentale zugleich mit der Problematik des Raumes und somit der „äußeren" Erfahrung auch die der Zeit — bezüglich insbesondere des inneren Sinnes (dessen Form sie ja primär nach Kant ist): auch hier muß unterschieden werden zwischen den „Erscheinungen" unserer Innenerfahrung und dem Ansich-Wirklichen — jenem „Objekt", das wir unsere Seele nennen (was ja auch mit in die Antinomie, als Zweiten Widerstreit, hineinspielt). Im 3. Absatz wird dieses Thema noch besonders aufgenommen158.

158

in unserem 2. Absatz kann so klingen, als ob jener Idealismus nur die Existenz der Dinge im Raum in Frage stellte, die Eigenwirklichkeit des Raumes selbst aber bestehen lasse. In Wahrheit muß die Stelle wohl im Sinne des obigen „nachher" verstanden werden! So heißt es denn audi bezüglich des dogmatischen von Berkeley, daß er „den Raum", mit allen ausgedehnten Dingen, für etwas erkläre, „was an sich selbst unmöglich sei und darum auch die Dinge im Raum für bloße Einbildungen . . . " . Auch hier heißt es dann noch, solcher Idealismus sei „unvermeidlich", wenn man Räumlichkeit als etwas an sich Seiendes ansehe. S. 190/1 Β 274. Faktisch lief der „dogmatische" Idealismus, indem er die Gegebenheiten und den Gegenstand der inneren Erfahrung unbeden'klich-ungeprüft (in diesem Sinne „dogmatisch") für das wirkliche Dasein der Sache selbst nahm (der Sache: „Seele", auch „Geist" genannt) und sogar „behauptete" (dogmatisch als Doktrin), daß hier, hier „einzig und allein", das Objekt selbst, mit Zeitbestimmungen an sich, erfaßt werde — ganz anders als bei Außenwelt im Raum! —, auf einen metaphysischen Spiritualismus heraus. Daher kann Kant diese Art Idealismus auch den „psychologischen" nennen: eben in dem (ontologischen) Sinne, daß nach demselben nur Seelen („denkende Wesen", spirits) Realität im absoluten Sinne zukomme. S. 23 Β X X X I X a. (Vgl. auch die Darlegungen beim Seele-Thema: Paralogismus der Idealität. IV 230/1 A 367.) Im Hinblick auf die metaphysische Absicht oder Konsequenz spricht auch Kant selbst von „Spiritualismus" — als extremer Gegenposition zum Materialismus der Seelenlehre (S. 274 Β 420) und nennt Berkeleys Philosophie einen „mystischen und schwärmerischen Idealismus".

(S. 338/9 Β i 18/9)

291

Die nächsten Absätze (3 bis 7) präzisieren die Position und damit das Verhältnis von Erscheinungswirklichkeit zum Ansich-Seienden, hinführend damit auf Konsequenzen f ü r den Weltbegriff und seine Widerstreitsproblematik. — Im Gegensatz zum empirischen Idealismus, welcher das Dasein der ausgedehnten Dinge im Räume leugnet (oder bezweifelt, so daß kein sicherer Unterschied zu machen wäre zwischen erträumten Dingen und den wirklichen), spricht der „transzendentale" Idealismus ihnen genau dieselbe Realität zu, wie den Gegebenheiten innerer Wahrnehmung. D a ß jene (wie diese) nur „Erscheinung" sind, will keineswegs besagen, alles sei eine Art von „Schein"15", — wohl aber, daß ihnen, so wie sie beschaffen sind, nicht auch außer unserem „Gemüte" 160 Eigenexistenz zukomme. Aber auch darin setzt sich die neue Position gegen jenen „Idealismus" ab, daß eben auch der Gegenstand des (allein unter der transzendental-idealen Form der Zeit stehenden) inneren Sinnes uns nicht als an sich selbst Bestehendes und Wirkendes gegeben und erkennbar ist101. Das Innenleben unseres Selbst erfahren wir als Sukzession von „Zuständen" — Zuständen eines Etwas, welches wir als „Ich", als Denksubjekt bezeichnen, nicht aber erkennen, „so wie es an sich existiert", als das beständige „Subjekt" aller dieser verschiedenen und wechselnden „Prädikate", welches die Vorstellungen sind. Vielmehr ist dies f ü r uns (was ja auch Kernaufweis im Paralogismen-Hauptstiick war) ein seinen Wesensbeschaffenheiten nach Unerkennbares. Kant nennt es audi wohl (so wie das unerkennbare Ansich des äußeren Sinnes jetzt „das transzendentale Objekt"): „das transzendentale Subjekt" 162 . Erfahrbar und, nach Ver159

Vgl. S. 71 f. Β 69/70 f. Es heißt da audi, gerade wenn man Raum und Zeit „objektive Realität" (gemeint ist „transzendentale"!) beilege, könne man „nicht vermeiden, d a ß nicht alles (raumzeitlich Vorkommende) dadurch in bloßen Schein verwandelt werde". Von daher „kann man es dem guten Berkeley wohl nicht verdenken, wenn er die Körper zu bloßem Schein herabsetzte".

160

Dieser in der transzendentalen Ästhetik öfters (gelegentlich audi sonst in unserem Werk) verwandte Ausdruck darf nicht mit einem besonderen Beiklang des „Emotionalen" aufgefaßt werden, sondern will nur das Gesamt aller Bewußtseins- und Erkenntnisfunktionen nach ihrem Wesenszusammenhang („Natur unseres Gemüts") bezeichnen. A n der jetzigen Stelle kann für die Wahl des Wortes eine Vordeutung auf das sogleich folgende Thema des „Selbst" mitgesprochen haben.

161

Ersteinführung dieses Gedankens, samt Verteidigung gegen den Einwurf „von einsehenden Männern", im § 7 der Ästhetik. Auch da wird, im 2. Absatz, die Lehre v o n der Position des überlieferten „Idealismus" abgehoben.

162

In diesem Ausdruck (s. audi oben S. 331 a Β 507 a) kompliziert sich noch die

292

(S. 338/9 Β 518/9)

standesgrundsätzen, erkennbar ist nur das Psychische, das Innenleben im Kontext empirischer Realität. Hier aber ist auch das jeweils Wirkliche („Wahrheit") hinreichend unterschieden und durch Kriterien unterscheidbar von Scheinschaftem. Mit dem 4. Absatz geht die Betrachtung wieder auf das „Welt"Problem zu. An drei verschiedenen Beispielen, Fragen, die ins Kosmologische gehen, aber von der Empirie her sich uns stellen, erläutert Kant den Unterschied des Wirklichen im Sinne empirischer Realität vom Ansich-,,Wirklichen". Das erste, jetzige betrifft die für uns Erdbewohner naheliegende Frage nach etwaigen Mondbewohnern. (Es darf erwähnt werden, daß die allgemeine Frage nach Bewohnern anderer Weltkörper Kant in der astronomischen Kosmologie seiner Frühzeit ernstlich beschäftigt und audi später nie ganz losgelassen hat). Wir sind geneigt, unser Fragen, ob es dergleichen Wesen geben könne und etwa gebe, aufzufassen als zielend auf etwas an sich Bestehendes, welches eben da wäre, bevor wir Menschen es wahrnehmen könnten. Nach Kants Lehre aber liegt eben schon im räumlichen Bezug („dort" oben, auf dem fernen Monde) das Eingeschränktsein auf Erscheinungen und „mögliche Erfahrung". Daß jene Wesen „möglicherweise" existieren, kann danach für uns nur bedeuten, es könne nach Erfahrungsgesetzen und -Verhältnissen mit solchem Tatbestand gerechnet werden. Und das Kriterium der Wirklichkeit ist einzig der Zusammenhang mit „materialen" Zeugnissen — mit Wahrnehmungen irgendwelcher Art. (Zusammenhang „mit meinem wirklichen Bewußtsein" kann ebenso wohl bedeuten: mit sonstigem Bewußtsein von Wahrnehmbar-Wirklichem, als auch: mit meinem eigenen zeitlich bestimmten und in Erfahrungen sich weitenden Weltbewußtsein.) — Falsch wäre es dagegen, jenes „bevor" (als ein„vor" aller Wahrnehmung) so besprochene Mehrdeutigkeit im Gebrauch des Terminus: „transzendental". D e n n im Selbst der Verstandes- und Vernunft-Selbsttätigkeit (Spontaneität) ist die „transzendentale" Apperzeption oberste Vollzugsbedingung a priori in allem Denken v o n Etwas; eben dieses Selbst aber ist, nach seinem Eigensein, für uns unerkennbar — und in diesem Sinne „transzendentales" Subjekt. Vgl. etwa aus dem Ersten Hauptstück I V 221 A 350 und I V 224 A 355: Alle unsere Wahrnehmungen müssen im Bewußtsein „als dem transzendentalen Subjekte . . . angetroffen werden" („logische Bedeutung des Ich"), und wiederum: im Satz des Descartes wird das Subjekt (Subjekt „der Inhärenz") „nur transzendental bezeichnet (!)", ohne „ . . . überhaupt etwas v o n ihm zu kennen oder zu wissen. Es bedeutet ein Etwas überhaupt (transzendentales Subjekt) . . . " .

(S. 33819 Β i 1819)

293

zu verstehen, als ob in der Frage nach den Mondbewohnern abgesehen werden könnte von aller menschlichen Wahrnehmung und Erfahrung. Um ein „Ansich"-Bestehen (im Sinne von „Dingen an sich und überhaupt") kann es sich hier nicht handeln; auf sie hin kann man keine Fragen stellen, für welche es Beantwortungskriterien gibt, auch nicht für bloße „Möglichkeit". Sinnvoll gefragt wird hier nur im Zusammenhang mit (ausdrücklich nicht erwähnten) Wahrnehmungsbezügen, etwa astronomisch-physikalischen, die sich bei weiterem Fortschreiten unserer Welterfahrung ergeben könnten. Der 6. Absatz bezieht den „Erscheinungs"-Begriff der neuen Position, ganz im Sinne seiner Ersteinführung im Rahmen der Ästhetik, auf die Begriffe „Rezeptivität", „Affiziertwerden" und: „Verhältnis" der Vorstellungen (bzw. der vorgestellten Gegenstände) „zueinander163. Daß und wie unter „Sinnlichkeits"-Bedingungen Gegenstände (Sperrdruck!) der empirischen Realität für uns sich konstituieren, war das Thema der Analytik im „System der Grundsätze"; dort wurden die Erfahrungsbedingungen als „zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung" ausgewiesen. — Daß im uns unbekannten Ansich der Dinge (hier wieder, vom Blick auf den Erfahrungsgegenstand her kontrastierend, „transzendentaler Gegenstand" genannt — welcher neutrale Ausdruck ebenso auf das transzendentale „Objekt" wie auf das „Subjekt" des Selbst gehen kann) die selber nichtsinnliche „Ursache" unserer sinnlich-anschaulichen Realitätsvorstellungen vorauszusetzen ist (derselbe Ausdruck im 7. Absatz), das ist eine in unserem Werke selten so direkt vorkommende Aussage. Doch ist solche Bezeichnung der Sache nach nahelie163

Ersteinführung der für die Kritik fundamentalen Begriffe Rezeptivität und Affiziertwerden in § 1 der transzendentalen Ästhetik (S. 49 Β 33) und wieder zu Beginn der Analytik (S. 74/5 Β 74/5). Über „Verhältnis" der Vorstellungen zueinander, im Sinne raumzeitlicher Zuordnung und Bestimmbarkeit, vgl. den für die ganze Position Kants wichtigen Passus II vor Beschluß der transzendentalen Ästhetik, w o es heißt, „daß alles, was in unserem Erkenntnis zur A n schauung gehört . . . nichts als bloße Verhältnisse enthält" (phoronomisdie und dynamische Relativität). S. 69/70 Β 66. D a heißt es noch, was auch für unseren Text bedeutsam ist: „ N u n wird durch bloße Verhältnisse noch nicht eine Sache an sich erkannt: also ist wohl zu urteilen, daß, da uns durch den äußeren Sinn nichts als bloße Verhältnisvorstellungen gegeben werden, dieser auch nur das Verhältnis eines Gegenstandes auf das Subjekt in seiner Vorstellung enthalten könne, und nicht das Innere, was dem Objekte an sich zukommt. Mit der inneren Anschauung ist es ebenso bewandt". (Hervorhebungen v o n uns).

294

(S. 33819 Β 51819)

gend schon von jenen Begriffen der „Rezeptivität" und des „Affiziertwerdens" her: jedes Empfangen und Empfinden weist als passiv auf eine gebende actio, jedes Erregtwerden (sinnliche „Eindrücke") auf Bewirkendes164. Wenn wir von diesem Unerkennbaren und bloß durch den Gedanken unbestimmt zu intendierenden (in diesem Sinne „bloß" intelligiblen) Seienden an sich aussagen, es sei „vor" allem Wahrnehmen-Erfahren „gegeben" (keineswegs uns gegeben, sondern nur als vorhanden anzunehmen!), so bedeutet das etwas völlig anderes als das etwaige Bestehen von Mondbewohnern, bevor sie wahrgenommen oder auch indirekt erschlossen werden können! Dieses mit jenem zu verwechseln, was uns allen so „natürlich" ist, heißt eben, Erscheinendes im Raum für ein „ Ansich" -Bestehen nehmen. Von eigener Bedeutung für den Gesamtsinn von Kants „Erscheinungs"- und Weltlehre ist noch die hier auftretende Wendung, daß die Erscheinungen dem Ansich „gemäß" zu denken seien — nachdem es schon vorher hieß: der „Ursache" unserer Wirklichkeitsvorstellungen könnten wir „allen Umfang und Zusammenhang unserer möglichen Wahrnehmungen zuschreiben". Man muß sich fragen, ob dies nur gleichsam global gemeint ist (worauf sicherlich jetzt das Gewicht liegt!) oder auch sozusagen differenziell: so, daß raumzeitliche Erfahrungen, etwa solche der astronomischen Realitätserschließung, Anzeige geben würden auf Ordnungen, Mächtigkeiten im Ansich-Seienden. Der (schon nach der „Ursache"-Bezeichnung gar nicht zu bezweifelnde) Realismus-Einschlag in Kants Phänomenalismus würde mit 164

Vermieden wird der „Ursadie"-Begriff, wenn es etwa heißt: „Das Intelligible, welches der äußeren Erscheinung, die wir Materie nennen, zum Grunde liegt". IV 227 A 360. — Gegenüber dem naheliegenden (faktisch ja auch immer wiederholten!) Einwand, Kant gebrauche hier eine Kategorie über Erfahrung hinaus (sozusagen ihr voran), hat der Denker beim Thema desjenigen Intelligiblen, welches dem Ich des inneren Sinnes „zugrunde liegt" (also dem „transzendentalen Subjekt" im engeren Sinn des Wortes „Subjekt"), gesagt: „Wenn idi mich als Subjekt der Gedanken oder auch als Grund (!) des Denkens vorstelle, so bedeuten diese Vorstellungsarten nicht die Kategorien der Substanz oder der Ursache." Wir deuten: nicht die Kategorien im vollen Sinne ihres, mit Anschauung verbundenen, Erkenntnis- „Gebrauchs" ! S. 279 Β 429. — Die Wendung wiederum: „bloß damit wir etwas haben, was der . . . Rezeptivität korrespondiert", findet sich auch in einem anderen Rückbezug auf das Resultat der transzendentalen Ästhetik: „ . . . es folgt audi natürlicherweise aus dem Begriffe einer Erscheinung überhaupt: daß ihr etwas entsprechen müsse, was an sich nicht Erscheinung ist". I V 164 A 251/2, vgl. auch S. 57 Β 4 5 : Ersdieinung, „deren wahres Korrelatum . . . , das Ding an sich selbst", nicht erkannt werden kann.

(S. 338/9 Β 518/9)

295

der Entscheidung für das Letztere noch besondere Bedeutung gewinnen, die auch über die Interpretation der Ersten Kritik hinausreicht165. Der Absatz schließt mit dem zweiten Beispiel. Diesmal geht es um verflossene Zeit (wie beim Regreß in Richtung Welt-„Anfang" — doch hier noch in begrenzter Form!). Ob ein Ereignis in Vorzeiten des Altertums („Leitfaden der Geschichte") oder eine einstige Veränderung der Erdkruste („Fußtapfen der Ursachen und Wirkungen") wirklich gewesen sind, das ist keine Frage, welche auf ein von aller Menschenperspektive unabhängiges Ansich geht. Nur nach Erfahrungsanzeichen und -gesetzen kann hier Antwort gesucht und etwa Entscheidung getroffen werden. Der 7. und letzte Absatz bringt, im Zurücklenken auf den Totalitätsbegriff von Welt, noch ein drittes Beispiel für Zweideutigkeit unseres Denkens über Bestehen vor oder außer unserer Kenntnis165

7

Daß diese Interpretationsüberlegung anläßlidi der uns hier vorliegenden Äußerung über das Verhältnis der Erscheinungswelt zum An-sich-Seienden nicht leere „Spekulation" ist, sondern auf weitgreifende Fragen zu Kants Weltverständnis überhaupt hinausschaut, auch auf solche, die noch im System der Kritiken anklingen (etwa in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft: Problem der besonderen Formen und Gesetze der Natur), kann hier nicht ausgeführt werden. Unmittelbar aktuell aber wird, noch in unserem Dialektik-Text, die Fragestellung an einem wichtigen Sonderthema, den Menschen in der Welt angehend, nämlich die personale Freiheit und Verantwortung. In dem späteren „Erläuterungs"-Abschnitt zur Frage: „Möglichkeit der Kausalität durch Freiheit . . s a g t Kant ausdrücklich, daß der „empirische Charakter" des Handelnden jeweils das „Zeichen" für den intelligiblen Charakter desselben sei — dessen „Wirkung" in der Erscheinungswelt ja die „empirische Handlung" darstelle. Zwar könne jener „niemals unmittelbar (!) erkannt werden"; er müsse aber „doch als dem empirischen Charakter gemäß" — derselbe Ausdruck wie an unserer Stelle! — gedacht werden", eben als die „Erscheinung" von jenem. — Darüber später (vgl. S. 367 Β 568; S. 370 Β 574, S. 374/5 Β 581). — Von unserem astronomischen Beispiel her könnte es naheliegen, auf die berühmte, aber selten zureichend zitierte Stelle zum „Besdiluß" der Kritik der praktischen Vernunft vorauszuweisen, wo die Erhabenheit der unabsehbaren Weiten astrokosmologischer Gegebenheiten und Ausblicke in (unmittelbaren) Sinnzusammenhang gebracht wird mit der intelligiblen Welt unseres sittlichen Selbst: jene Sphäre der Sinnlichkeit mit ihren „Welten über Welten und Systemen (Ordungsgefügen!) von Systemen, überdem nodi in grenzenlose Zeiten ihrer periodischen Bewegung . . zu dieser, welcher „wahre" Unendlichkeit zugesprochen wird. V 162. — Es darf auch rückerinnert werden an die (an Plato anknüpfende) Forderung Kants, „von der copeilidien Betrachtung des Physischen der Weltordnung zu der architektonischen" aufzusteigen. Aber das greift audi wieder dem nun bald folgenden Abschnitt über „Regulative Ideen" vor. Heimsoeth, Transzendentale Dialektik II

296

(S. 342 Β

525/6)

nähme — entnommen wieder dem, Kant von früh an so weit und nachhaltig beschäftigenden, Felde der Astronomie. Ob es Sterne in Raumweiten jenseits der Milchstraße und Nebelsterne, niemals vielleicht durch ein Teleskop wahrnehmbar, gibt — auch das ist keine Frage an das Ansichseiende „vor" und „außer" aller menschlichen Wahrnehmung und Erfahrung: keine Frage an das Prius bloß-intelligibler Ursachen unserer Weltgehalte und -begebenheiten. Schon das „vielleicht" darin, mit seinem Bezug auf Raumweiten und sonstige Erfahrbarkeiten, trägt eo ipso den Bezug auf bisher erreichte und weiter ausgreifende Verfolgung der Gegebenheits-„Reihen" in sich — wie immer es um die näheren „empirischen" (materialen, nicht transzendental-formalen!) Bedingungen fortschreitender Feststellungen stehen möge. Wird das von direkter Menschenwahrnehmung (etwa „Empfindung" des Lichtpunktes durch das Teleskop) unabhängig doch noch Reale für „wirkliches" Ansich genommen, so begibt man sich auch aller Möglichkeits- und Wirklichkeitskriterien. Man spricht dann von Dingen, welche eben „keine Gegenstände" für uns sein können, also für unser Fragen und Antworten „nichts" sind. — Solche grundsätzliche Unterscheidung (durch Aufhellung der Zweideutigkeit in unserem Wirklichkeitsbegriff), wie sie an den drei Beispielen nahegebracht wurde, wird nun entscheidend wichtig da, wo wir im absoluten Sinne vom „All", vom „Insgesamt" raumzeitlicher Gegebenheiten oder Möglichkeiten reden: von Welt selbst und als solcher, mit Fragen nach deren „Beschaffenheit", etwa der Quantität nach. Hier erst wird die Notwendigkeit ganz aktuell, sich des „trüglichen Wahns" (transzendentaler Schein) bewußt zu werden, welcher uns alle und audi die Philosophen verleitet, Erfahrungsbegriffe für Erkenntnisse von Dingen an sich selbst zu nehmen. —

Kritische Entscheidung des kosmologischen Streits der Vernunft mit sich selbst Der Siebente Abschnitt erbringt nun, abschließend hinsichtlich der Vernunftantinomik überhaupt, die wirkliche „Auflösung" des rätselhaften Phänomens in unserem Weltbezug, — und damit audi die positive „Entscheidung" über das Strittige, bzw. über Sinn und Bedeutung jenes Streites selber. Der „skeptischen" Vor-stellung jener

(S. 342 Β

i2516)

297

entgegengesetzten Behauptungen „dogmatischer" Metaphysik folgt nun „Kritik" unseres Vermögens in seinem Wissensbezug auf das Gesamt raumzeitlicher Realität. — Der Abschnitt baut sich in zwei Stücken auf, welche durch ein Drei-Sterne-Zeichen unterschieden sind; der erste Teil (Absatz 1 bis 5) soll nachweisen, daß beide Philosophenlager einen grundsätzlichen „Fehltritt" in ihrer Argumentation begehen (und ohne transzendentale Aufklärung begehen müssen), — also mit ihren ganzen Beweisansprüchen abzuweisen sind. Der zweite Teilabschnitt (Absatz 6 bis 12) erbringt das Resultat: daß auch die Sache selbst, um welche der Streit geht, die Welt, eben nicht das ist, was jeder vor sich zu haben meint: ein an sich existierendes Ganzes. Woraufhin die Thesen wie die Antithesen in sich unhaltbar und, sofern rein kosmologische, beiderseits als irrig erkannt werden. Alle Metaphysik aus reiner Vernunft beruht, auf ihre Logik angesehen, auf Syllogismen. Auch im Ersten Hauptstück hatte Kant (in der ersten Darstellung) Wert darauf gelegt, die auf das Sein der „Seele" ausgreifenden, unsere Kenntnis vom eigenen Inneren über alle mögliche (Lebens-)Erfahrung hinaus „erweiternden" Beschaffenheits-Thesen explizite in ihrer Form des Schließens vorzustellen. In unserem Zusammenhang wird jetzt nur überhaupt auf den Formaldiarakter wieder aufmerksam gemacht — mit der Absicht, die „Dialektik", den Scheincharakter dieses Begreifens auch von der Logik her zu beleuchten — was darauf herauskommt, die kosmologische Schlußweise als ein Sophisma figurae dictionis (4.Absatz) zu fixieren. — Der Obersatz ist nichts als eine Besonderung des Grundsatzes (bzw. der „Annahme") der reinen Vernunft, wie er schon in der Einleitung zur ganzen Dialektik formuliert wurde (S. 243 Β 364): Besonderung auf „hypothetische" Schlußform, gemäß dem kosmologischen Inhaltsthema. Nach Sonderart der letzteren, wie sie sich uns als Weisen der Synthesis der Erscheinungen im Regreß darstellen, kommt es zum vierfachen Widerstreit: mit dem Bedingten, das wir jeweils vor uns haben, als Untersatz des Schlusses soll es dann zum Resultat (der Thesen wie der Antithesen) kommen. — Die Frage ist: in welchem Sinne ist uns hier Totalität „gegeben"? „Anschauung" können wir immer nur von Teilstücken solcher Reihen haben, seien diese auch so groß wie in der Astronomie oder beim Rückgreifen auf älteste Vergangenheit des Menschengeschlechts. Das unbedingte Ganze wird von uns „postuliert", — nicht willkürlich freilich, aber vielleicht doch 7*

298

(S. 342 Β ¡25/6)

„übereilterweise"; vielleicht ist unser darauf Hinausgreifen „mehr Petition als Postulat" 166 . Der 2. Absatz gibt die erste, die entscheidende Antwort. „Gegeben" ist die Reihe aller Bedingungen, bei jedem als bedingt Erfahrenen, immer schon als: Aufgabe167. Aufgegeben (Fettdruck; zentraler Begriff in Kants Philosophie der endlichen Vernunft nach ihrer Verfassung und „Naturanlage"!) ist mit jeder raumzeitlichen Tatsachenund Zusammenhangsfeststellung die Fortführung in Richtung auf weitere Bedingungsrelationen. Das gegenständliche Auffassen und Erfassen des „empirische Anschauung synthetisch bestimmenden Verstandes" kann auf ein Einzelnes, ein Reihenglied fixiert sein. „Vernunft" aber blickt immer auf die Reihen hinaus, in denen jedes bestimmte Einzelne darin steht — wie sollte es anders sein in Realitätsformen, wie es Raum und Zeit sind. Und darum fordert Vernunft vom Verstände weitere Synthesen und Bestimmungen. Was sie fordert, ist: „Erweiterung" der Erkenntnis; daß sie es fordert, liegt „analytisch" in ihrem Hinblick auf Bedingtes als Bedingtes und auf die Reihendimensionen. Insofern ist das Postulat ein „logisches" — kein metaphysisches. Es geht nicht direkt auf die Sache selbst, nicht auf das Sein der Welt, im Anspruch, unser Wissen davon in abschließend-endgültigen Globalthesen zu erweitern. Das Postulat wendet sich „nur" an den Verstand; es fordert von ihm weitere Synthesen nach Erfahrungsrelationen, und dies eben „so weit als möglich". Der 3. Absatz beleuchtet dann den für das Verständnis der 166

Vgl. Einleitung C gegen Ende. S. 243 Β 365/6. — Postulieren und Postulat der Vernunft muß natürlich streng unterschieden werden von den „Postulaten" des empirischen Denkens im System der Grundsätze. Dort konnte der, gewöhnlich von der Mathematik her entlehnte oder vorverstandene, Terminus nodi in einem verwandten Sinne gebraucht werden (S. 198 Β 297). Andererseits muß der uns jetzt beschäftigende Begriff des Postulierens, im „spekulativ"-kosmologischen Gebrauch, streng unterschieden werden von „Postulaten" der reinen praktischen Vernunft: wo es — wie schon in unserem Werk vordeutend gesagt wird — um das Dasein eines alle Erscheinungswelt Transzendierenden geht (S. 421 Β 662).

167

Vgl. aus dem II. Abschnitt der Dialektik: „Daher sind die reinen Vernunftbegriffe . . . wenigstens als Aufgaben . . . notwendig." S. 2 5 1 / 2 Β 380. Dieser Aufgabecharakter greift im übrigen weit über den kosmologischen Bereich hinaus. Audi das Noumenon im Endabschnitt der Analytik wird auf Vernunftaufgaben bezogen; Gott, Freiheit und Unsterblichkeit werden als „Aufgaben der reinen Vernunft" bezeichnet; — die „Ideen" überhaupt sind, als solche, nicht „dialektisch", sondern „uns durch die Natur unserer Vernunft aufgegeben". S. 442 Β 697.

(S. 342 Β

}2il6)

299

menschlichen Erkenntnissituation so bedeutsamen Begriff des durch Vernunft uns „Aufgegebenen" wiederum durch Absetzen gegen eine (wie auch immer auszudenkende) Erkenntnisweise, wo ein nicht an „sinnliche" Gegebenheiten und Anschauungsdimensionen gebundenes Verstehensvermögen („Verstand" im alten Sinne) unmittelbar das Seiende selbst — hier das Weltgefüge — in seiner „Synthesis" (System!) umgreifen würde. Da könnte man dann wirklich sagen, daß mit jedem Bedingten auch die ganze Reihe „zugleich" (sukzessionsenthoben) gegeben, bzw. als darin „vorausgesetzt" enthalten sei168. — Unsere Erkenntnisart und -möglichkeit ist aber nicht von dieser Art. Was wir als „Welt" direkt vor uns haben, sind raumzeitliche Erscheinungen, nicht aber ein schon durch bloßen Begriff Gegebenes. Erkenntnis setzt immer schon „Kenntnis" („antreffen" von Etwas in empirischer Anschauung), „wirkliches Bewußtsein" von hier und jetzt Gegebenem voraus. Sie vollzieht sich „in der Apprehension" 169 , welche wesenhaft sukzessiv ist; nur in Erfahrungssynthesen von so Aufgenommenem wird etwas als Gegenstand wirklich erfaßt. Die Synthesis muß, gleichsam Schritt f ü r Schritt, im Rückgang auf Bedingungen und weitere Bedingungen von uns vollzogen werden; sie ist durchaus nicht „mitgegeben". Aber gerade die raumzeitlichen Bedingungsrelationen sind ja von der Art, daß sie an weitere Reihenglieder je angrenzen; und so fordert denn unser Erkenntnisvermögen „Vernunft" stets Fortsetzung — zugleich mit der Gewißheit, daß es hier nie absolute Grenzen geben kann. 168

Man kann sich, zur Veranschaulichung solchen Gegenbildes, ohne noch auf die Idee eines göttlichen Verstandes zu rekurrieren, den Weltbegriff v o n Leibniz, den der prästabilierten Harmonie, v o r Augen stellen — welchen ja auch Kant immer, neben anderen, als eine Position des (platonistischen) Dogmatismus vor sich hatte. Von jedem Teilglied dieser Welt, und selbst v o n jeder Entfaltungsphase jedes Teilglieds aus, wäre danach grundsätzlich das absolute Ganze zu erschließen. U n d zwar durch rein analytisches Verstehen; jeder „komplete" Begriff des Einzel-Bedingten enthält ja implizite das All. Mit Worten unseres Textstücks hieße das: die Welttotalität ist im jeweils Gegebenen „wirklich schon mit gegeben".

169

Von dem in der Analytik vielfältig behandelten und zu weiteren Momenten synthetischen Verstehens in Beziehung gesetzten Begriff der (empirischen) A p prehension ist für unseren Passus allein schon der Hinweis zureichend, daß alles Aufnehmen und Erfassen „jederzeit sukzessiv ist" — auch w o es sich um der Sache nach Gleichzeitiges handelt, etwa um räumliche Größe eines Ganzen; die Vorstellungen der Teile folgen auch da aufeinander. Vgl. etwa S. 168 Β 234/5; S. 148/9 Β 202/3.

(S. 342 Β 525/6)

300

Damit ist der Fehlgriff im (vierfach waltenden) kosmologischen Vernunftschluß aufgedeckt. Bedingtes „in transzendentaler Bedeutung" denken, heißt von der Sache so reden, als ob rein durch den Verstand, bloß durch die jeweilige Kategorie (etwa: Kausalität und Dependenz, Notwendigkeit und Zufälligkeit) das Seiende be- und ergriffen werden könnte. So genommen scheint der Obersatz des Schlusses „natürlich und einleuchtend" — so lange man sich nicht klar macht, daß wir auf diese Art gar nichts von Welt (auch von Sonstigem) wissen. Der Untersatz dagegen, welcher von wirklich Gegebenem ausgeht, von Teilmomenten in Erscheinungsreihen, spricht von „Gegenständen" der Erfahrung, wie sie sich uns in sukzessiv erfolgenden Auffassungen und Synthesen herausarbeiten — geleitet von „angewandten", d. h. zeithaft schematisierten, Kategorien. (In unserem Beispiel: Kausalität nach Naturgesetzen, wo das Kriterium die regelmäßige Abfolge der Sachen in der Zeit ist, und: Notwendigkeit als „hypothetische", Zufälligkeit als „empirische", wie sie dem Veränderungscharakter alles Erfahrbaren zu entnehmen ist). — Formallogisch gesehen, liegt hier ein Sophisma figurae dictionis vor — wie schon beim „Seele"-Paralogismus 170 . Doch spricht j a „allgemeine" Logik nur von „Trugschlüssen", die, bei einiger Aufmerksamkeit, sich vermeiden lassen, oder audi von Sophismen im Sinne einer BetrugsArtistik advokatorischer Spiegelfechterei. V o n solcher Art ist unsere kosmologische Antithetik nicht; hier handelt es sich um transzendentalen Schein in den Schlüssen: ein Scheinmoment, welches, in unserer Erkenntnissituation angelegt und daher unvermeidlich, immer wieder auftritt, audi nachdem wir es durchschaut, die Vernunft-„Dialektik" erkannt haben. Das Weltganze scheint uns schon im Begriff „gegeben"; in Wahrheit aber ist für uns gegeben und von uns begriffen (verstanden) immer nur ein Ausschnitt. Eben darin aber liegt audi schon, wesenhaft für unser Weltbewußtsein und für die ganze Art unseres Erkennens, das „Aufgegeben"-sein: ein immer mögliches und vom Vernunftausblick gefordertes Fortgehen zu weiteren Gliedern der Weltreihen, und damit zu weiteren Gegebenheiten, welche nach Grundsätzen möglicher Erfahrung bestimmbar sind. Der 5. Absatz zieht die Konsequenz: Abweisung der

Beweis-An-

sprüche beider Lager. Hier wie dort sind die Argumentationen auf 170

Vgl. S. 2 6 9 / 7 0 u. Anm.; Β 4 1 1 / 1 2 u . A n m . ; I V 251 A 4 0 2 / 3 .

(S. 345 Β 530)

301

falsche Voraussetzungen gebaut; so einleuchtend und „klar" die Ableitung, „so schön" (wie Kant ironisch sagt) die Gegenposition widerlegt schien — so hat sich der Beweis-„Titel" eben doch als unbegründet erwiesen: Obersatz und Untersatz des jeweiligen Schlusses lagen nicht in der gleichen Sach- oder Gegenstandsregion. Vor dem „Gerichtshof" der Vernunft sind insofern die beiderseitigen Ansprüche als zu Unrecht bestehend erkannt. — Nun ist damit aber noch nichts ausgesagt über „die Sache selbst", worum es geht: über Wahrheit oder Falschheit der jeweiligen Schlußsätze in jenen Deduktionen, d. h. der Thesen und der Antithesen selber. Solange das in der Schwebe bleibt, der Streit nur, als nicht „abzuurteilen", zurückgewiesen wird, sind die transzendentalen Aufgaben immer nodi ungelöst; die eigentliche („kritische") Entscheidung steht noch aus. — Der Schluß des Absatzes nimmt das Resultat der kommenden 7 Absätze vorweg: alle die großen anspruchsvollen Aussagen über „die Welt" sehen einen Gegenstand vor sich, eine fixierte „Wirklichkeit" (unbedingte Ganzheit raumzeitlicher Geschehensreihen), welche gar nicht besteht. Der Streit geht, was früher einmal schon als „gegründeter Verdacht" ausgesprochen war, um ein „Nichts" — im Sinne eines bloßen ens rationis, eines Begriffs ohne Gegenstand171. Unvermittelt greift Kant jetzt, zu Beginn der neuen Darlegung, zurück auf einen sonst nur ganz selten von ihm genannten Philosophen der (vorsokratischen) Antike. Was er von ihm, in der Absicht, an die eigene kritische Entscheidung in Sachen der Kosmologie heranzuführen, aus ihm überkommenen Berichten hier anführt, ist nicht die „Dialektik" der uns heute primär vor dem Sinn stehenden Bewegungsparadoxien, von denen Kant aber gewiß auch Kenntnis hatte172. Sondern es geht hier um eine, nach den Berichten, schon einst 171

Vgl. Ende des Fünften Abschnitts. Dazu die Einteilung des Begriffs von Nichts zu Ende der Analytik.

172

Vgl. die auf das besonders berühmt gewordene Argument Zenos anspielende Bezeichnung des zweiten Paralogismus als den „Achilles" aller dialektischen Schlüsse der Seelenlehre, welche aber in Wahrheit eben doch mehr sei als ein „sophistisches Spiel". I V 222 A 351. — Zur Sache mag hier miterwähnt werden, daß im Zeno-Artikel des Dictionnaire historique et critique P. Bayles der „Achilles" und die anderen Bewegungs-Bestreitungen von diesem (unter den Einflüssen Descartes' und Malebranches stehenden) Philosophen in Anspruch genommen wurde für den Zweifel an der Existenz von Außenwelt — also für das, was dann Kant als „skeptischen" Idealismus vor sich sah und bekämpfte.

302

(S. 34 ί Β i30)

einmal in metaphysischen Disputationen aufgetretene kosmologische Entscheidung im Sinne eines „Weder-Noch" — hinsichtlich gewisser uns selbstverständlicher, sich zueinander in der Wirklichkeit ausschließend-gegensätzlich verhaltenden Bestimmungen (so wie sie Kant sich jetzt verständlich machen will). Es ist hier nicht der Ort, dem geschichtlichen Tatbestand selber und den Quellen, an welche Kant sich gehalten hat, nachzugehen1'3. Für uns kommt es allein auf den Gedanken an, welchen der Denker nachvollziehen und, als Modell gleichsam, für seinen Zweck auswerten wollte. Kant will die Weder-Noch-Aussagen des Zeno von Elea nicht, wie es die ihm zugekommenen, auf Plato selbst nodi sich berufenden Berichte wollen, als sophistische Streit- und Scheinthesen auffassen — deren Konsequenz ein Skeptizismus sein müßte, welchem nicht einmal der Satz vom Widerspruch in voller Geltung bliebe. E r möchte sie vielmehr als positive Hinweise verstehen: Hinweise auf ein Seiendes oder eine Seinsart, welche den genannten Alternativen überhaupt enthoben ist. Von den drei Gegensatzpaaren ist das beim letzten ohne weiteres einleuchtend: das Eine All des Existierenden kann nicht unter Vergleichsrelationen wie „Ähnlichkeit" gestellt werden. Aber auch das an der zweiten Stelle Stehende muß einleuchten: wo es um Beharrung und Veränderung in dem speziellen (der „sinnlichen" Weltvorstellung zugehörigen) Sinne von Ruhe und Bewegung geht. In Sachen einer empirischen Kosmologie kann wohl von „Welten über Welten" samt deren „periodischer Bewegung" im Raum die Rede sein; Kant selbst drückt sich so aus, wenn er die philosophische Besinnung auf die Erhabenheit des „bestirnten Himmels über mir" 173

Erwähnt sei nur, was den Bezug auf Plato angeht, daß im gleichen Artikel Zeno die Phaidros-Stelle (p. 2 6 1 / 2 ) vom Eleatischen Palamedes zitiert wird, und ferner, daß in der Historia critica philosophiae von Brucker (welchen Kant bei seinem Rüdegreifen auf Plato ausdrücklich nennt) berichtet war, nach Zeno sei das Eine weder endlich noch unendlich. Es heißt da, im Kontext der Platodarstellung, noch: Cum tale unum sit Deus, ñeque moveri potest ñeque immobile est. Und es wird auch noch aus R. Cudworth's Hauptwerk (Intellectual system of the Universe 1678) dies angeführt: Zeno habe auch die Welt als etwas Nichtkörperliches, sondern Göttliches statuiert. (Cudworth, Gegenspieler von Hobbes' Empirismus, war ein Hauptvorkämpfer des Piatonismus im 17. Jahrhundert.) — Daß von Zeno selber bei Plato im Parmenides gesprochen wird (p. 1 2 7 — 1 3 0 ) und daß dabei unter den entgegengesetzten Beschaffenheiten außer Einheit und Vielheit, Bewegung und Ruhe, auch Ähnlichkeit und Unähnlichkeit im Thema stehen, mag noch mitangemerkt werden.

(S. 34!

Β}30)

303

richtet (Beschluß der Zweiten Kritik). Aber jetzt, in Fragestellungen rationaler Kosmologie, geht es um Welt als absolute Totalität: um das „Uni-versum" in Raum und Zeit. Nun ist aber der Raum (nach Kants Grundlehre) nichts als die Form, unter welcher uns Gegenstände im äußeren Sinn begegnen können, als darin lokalisiert. Das Ganze aber aller dieser ausgedehnten und ihre ö r t e r wechselnden Wesen kann nicht seinerseits an einem Ort „im" Raum sein. Denn dieser ist eben gar kein Seiendes, sondern, wenn für sich genommen, ein „Unding" 174 : Nonens oder „Nichts" (im Sinne von „leerer Anschauung ohne Gegenstand", ens imaginarium — dritte Art in jener Einteilung des Begriffs vom Nichts). Unter den gleichen Aspekt soll also nun auch „der erste dieser Sätze" des alten Zeno gestellt werden — vorausgesetzt, daß derselbe auf Welt abzielte. Daß Kant eben dies annehmen möchte, hat kaum in historischen Erwägungen seinen Grund, auch gewiß nicht nur dar174

Als absolute Realitäten genommen wären Raum und Zeit „zwei ewige und unendliche für sich bestehende Undinge . . . , welche da sind (ohne daß doch etwas Wirkliches da ist) . . S . 63 Β 56. Im Beweis der ersten Antithesis hieß es: „So würde das Verhältnis der Welt zum leeren Raum ein Verhältnis derselben zu keinem Gegenstand sein." S. 297 Β 457. Was da auf angebliche „Weltgrenze" bezogen ist, muß hier für Vorstellungen von Ort und Ortsveränderung der Welt in einem leeren Räume gelten. — Für die Verfechter des absoluten Raumes („welches gemeiniglich die Partei der mathematischen Naturforscher ist", heißt es in der transzendentalen Ästhetik S. 63 Β 56 — was vor allem auf Newton geht) konnte sehr wohl ζ. B. die Frage akut und bedrängend werden: warum Gott das (als endlich vorausgesetzte) Universum gerade in diesem oder jenem Orte des infiniten Raumes erschaffen habe, und: ob dasselbe sich in diesem, von Newton ausdrücklich auch als unum immobile charakterisierten Räume bewege! — Für die „zweite Partei (von der einige metaphysische Naturlehrer sind)" war das schon anders — wie man besonders der Briefpolemik von Leibniz gegen Clarke entnehmen kann. Aber für sie wurden dann alle Ortsveränderungen in der Welt zu „verworren vorgestellten Verhältnissen" — sie, die für K a n t gerade die eigentlich klaren und einsichtigen sind! — Noch ganz am Rande mag zu unserem Textstück erwähnt werden, daß für Kant „beharrlich", ebenso wie „gegenwärtig" und sogar „Veränderung" nicht Sachibestimmungen sind, die allein auf Erscheinungen zu beziehen wären — so wie das für Ortsbeharrung („Ruhe") und Bewegung gelten muß. Sie sind vielmehr reine Verstandesprädikate, unmittelbar nur den Kategorien anhängend. (Vgl. außer S. 94 Β 108 besonders noch X X 272.) Gewisse Sachbedeutung wächst eben diesen Formalbestimmungen, „Prädikabilien", zu in der Daseins- und Weltperspektive (nicht „Sinnenwelt"!) der praktischen Vernunft: im Unsterblichkeitspostulat der zweiten Kritik wird mit der Fort-„dauer" der Persönlichkeit zugleich ein „ins unendliche gehender Prozessus" angenommen — welcher natürlich, wie das „beharrliche" Bestehen selber, als außerzeitlicher zu denken ist!

304

(S. 346 Β 531)

in, daß eben sonst kein direkter Bezug auf das eigene KosmologieThema gegeben wäre, sondern doch wohl im Hindenken auf die Sache selbst. Bezogen auf „Gott" (in der eigentlichen Bedeutung des „Worts", sagt Kant; für einen Pantheisten könnte es anders aussehen) würde dieses Weder-Noch insofern fehlgreifen, als hier ja dem Gedanken des Unendlichen höchst positive Bedeutung zukommt — wenn auch nicht in demselben „Quantitäts"-Sinne wie beim Weltproblem175. Wohl aber kann die Konzeption des Eleaten für Kosmologie fruchtbar gemacht werden in Richtung auf das große Ziel, den alten Streit „gründlich und zur Zufriedenheit beider Teile", beider Lager zu beendigen — zunächst einmal, was jene zwei ersten Weisen des Widerstreits angeht. Schon am Ende des Zeno-Absatzes wird die eigentümliche Denksituation vom Logisdien her anvisiert. Ein grundsätzlicher Unterschied ist zu beachten zwischen „Widerspruch" im eigentlichen und gewohnten Sinne (wo sich zwei Sätze von ganz gleichem Inhalt gegenüberstehen, deren einer bejaht, was der andere verneint) und einer Art des „Widerstreits", wie er hier in der Antithetik auftritt. Der 8. Absatz wird diese, nun näher anzuleuchtende, Besonderheit auch terminologisch fixieren. Während beim „Widerspruch" mit der Falschheit der einen Aussage ohne weiteres die Wahrheit der anderen gegeben ist (tertium non datur ), fallen beim Widerstreit, wie er jetzt zur Frage steht, beide Urteile als ungültig dahin (Weder-Noch); denn sie standen, wie sich zeigen läßt, beiderseits unter einer „unstatthaften Bedingung". Der 7. Absatz führt, zwecks Verdeutlichung der Situation, ein Beispiel aus innerweltlicher alltäglicher Erfahrung ein. Die „unstatthafte Bedingung" ist hier, wie wir vorausschicken möchten, die stillschweigende und ungeprüfte Meinung, welche einer haben könnte: alle Körper hätten, so wie Ausdehnung und Schwere, auch Geruchseigenschaften (mit der Polarität gut-ungut bzw. angenehm-unangenehm). Wenn man dann sagt: „Ein jeder Körper riecht entweder gut 175

Unendlichkeit gehört nach Kant, ebenso wie Ewigkeit, „ohne Bedingung der Zeit" verstanden (aeternitas, nicht sempiternitas, würden wir sagen), und ebenso wie Einheit, Dasein und „Allgegenwart, ohne Bedingungen des Raumes" — zu den „transzendentalen Prädikaten", deren „gereinigten Begriff . . . eine jede Theologie" nötig hat. S. 426 Β 669/70. Die vom „moralischen Gesetz in mir" ausgehende Erhabenheitsperspektive spricht der Welt, auf die „mein unsichtbares Selbst" allgemein-notwendig bezogen ist, „wahre Unendlichkeit" zu. V 162.

(S. 346 Β

531)

305

oder er riecht nicht gut" — so glaubt man, für jeden Einzelfall eine logische Opposition vor sich zu haben. Wird also konstatiert, daß ein Ding n i c h t gut riecht, so soll damit allein schon sicher sein, daß es gut riecht. In Wahrheit aber ist es eine gleichsam naive Fehlannahme, daß alle Körper eine Art von Duft, so oder so, haben. Tatsächlich ist diese Beschaffenheit für den Begriff vom Körper nur eine „zufällige" Bedingung. Wenn man das weiß, so versteht man den Entweder-OderSatz anders: nämlich als Entgegenstellung von wohlriechend und — nicht wohlriechend, wobei in diesem „nicht" mitbefaßt ist, „daß er gar nicht rieche". Also hat der Gegensatz nicht kontradiktorischen Charakter (im nächsten Absatz „analytische Opposition" genannt), sondern den eines Widerstreits „per disparata" — was Kant später auch als „contrarie oppositum" bezeichnet hat170. Die Übertragung auf das Weltthema mit seinem Gegenüber und Entgegen (unendlich und — „nicht unendlich", entsprechend dem „nicht wohlriechend" im Beispiel) ist nun leicht nachzuvollziehen. Sie läßt zugleich eine gewisse Analogie anklingen, welche sicherlich Kants Wahl des Beispiels mitbestimmt hat. Es ist ja die Geruchsqualität (mit ihrem Polaritätscharakter) gar keine eigentlich objektive Eigenschaft der Körper in der Natur selbst; sondern sie tritt (als zu den „sekundären" Qualitäten, nach Lockes Benennung, gehörend) nur relativ zu unserer Sinnesorganisation, zu dem Geruchssinn auf. Nun ist beim Weltthema die „unstatthafte Bedingung" der widerstreitenden Urteile die unkritische, doch aber allem menschlichen Weltvorstellen so „natürliche" Meinung, Raum und Zeit seien reale Seinsformen, und raumzeitliche Weltwirklichkeit sei etwas an sich Seiendes, „Ding" an sich. Für solchen, noch vor aller transzendentalen Reflexion liegenden (insofern auch „naiven"), Standpunkt freilich muß jene Alternative eindeutig und vollständig sein: Welt ist dann entweder ein unendlich Großes und unendlich Dauerndes — oder sie ist das nicht, und also ist sie — endlich! In Wahrheit aber ist die Totalität des Raumzeitlichen „Erscheinungs"-Welt; als unsere „empirische" Realität ist sie 176

X X 291 : Der Widerstreit der Antinomiesätze „ist nicht bloß logisch, der analytischen Entgegensetzung (contradictorie oppositorum), . . . sondern ein transzendentaler der synthetischen Opposition (contrarie oppositorum . . . " ) . — „Disparate" Begriffe sind solche, welche bei Verschiedenheit der Gattungen, ohne gemeinsames Merkmal, miteinander unvereinbar sind. In unserem Beispiel ist der Begriff gut oder ungut riechender Körper gattungsverschieden von allen gar nicht durch Geruch wahrnehmbaren.

306

(S. 346 Β 531)

relativ auf sinnliche Anschauungs- und Erfahrungsweisen. Dann aber gibt es eben, außer „unendlich" oder „endlich", noch ein Drittes: ganz im Sinne jenes Weder-Noch 177 . Der 8. Absatz, welcher die Übertragung auf das Weltthema noch ausführt, setzt das negative Urteil: „ . . ist nicht unendlich" (unterstrichen durch eine lateinische Wiederholung) entgegen dem Urteil: „ . . . ist nichtunendlich". — Nach Kants Urteilslehre soll dieses zweitgenannte Urteil ein „unendliches Urteil" heißen. Kant hat dort, letztlich zugunsten der Ubereinstimmung der Urteilstafel mit der Tafel der Kategorien (bzw. umgekehrt), eben diese Urteilsart neu eingeführt: mit der ausdrücklichen Bemerkung, es müßten diese unendlichen Urteile von den bejahenden noch unterschieden werden, „wenn sie gleich in der allgemeinen Logik jenen mit Recht beigezählt sind und kein besonderes Glied der Einteilung ausmachen". Und am Schluß jenes Absatzes (Nr. 2) heißt es dann noch, diese unendlichen Urteile dürften nicht übergangen werden, „weil die hier ausgeübte Funktion des Verstandes vielleicht in dem Felde seiner reinen Erkenntnis a priori wichtig sein kann" 1 7 8 . Diese Vordeutung der Analytik kann man direkt auf unser Thema jetzt beziehen: wo eben der „Verstand" der Metaphysiker (in Verkennung des Wesensunterschiedes von „Vernunft" im engeren Sinne und, was damit zusammenhängt, raumzeitliche Welt als ein durch den Verstandesbegriff Umgreifbares ansehend) der Illusion erliegt, nur kontradiktorisch entgegengesetzte Urteile vor sich zu haben: je ein bejahendes und ein verneinendes. In Wahrheit ist die Opposition eine transzendental-synthetische; Kant benennt in unserem Absatz „dergleichen Entgegensetzung" als „die dialektische", — weil eben aus dem Verfehlen des wichtigen 1,7

178

Natürlich ist die Analogie nur eine „gewisse": jene Sinnesqualitäten sind „relat i v " auf unser Auffassen in einem bloß empirischen Sinne; die ihnen zugrundeliegenden Körpereigenschaften können wir (physikalisch oder chemisch) ermitteln: als „das Reale, was ein Gegenstand der Empfindung ist", wie es im Grundsatz „Antizipationen der Wahrnehmung" (in B ) heißt. Dagegen sind Beschaffenheiten der Welt, wie Unendlichkeit oder Endlichkeit im Quantitätssinne, relativ auf die Wesensformen unserer Anschauung; und das den Welterscheinungen zugrundeliegende Ansich ist und bleibt unbekannt. — M a n könnte, die Analogie weiterführend, noch in K a n t s Sinne sagen: raumzeitliche Größenbestimmtheit ist für den reinen Begriff von Welt überhaupt nur eine „zufällige Bedingung": dieselbe könnte für andere Vernunftwesen und deren Weltbegreifen wegfallen. S. 88 Β 9 7 / 9 8 .

(S. 346 Β 531)

307

Unterschiedes zweier Arten von Opposition die Dialektik (Scheinlogik) vom Typus der zwei ersten Antinomien hervorgeht 179 . Daß hier „etwas mehr" gesagt wird, „als zum Widerspruch erforderlich ist", bedeutet natürlich, daß hier „ein Drittes statt"-findet: Welt als Totalität der Erscheinungen ist, der Quantität nach, weder als unendlich noch als endlich „gegeben" (oder in sich „bestimmt") anzusehen180. Die Welt, darin wir uns vorfinden, ist keine (von uns) „abgesonderte" Existenz, ist nicht etwas, was „bleibt", wenn wir die Bewegung unseres Rückschreitens in der Reihe der Erscheinungen „aufheben" (9. Absatz). Sinnenwelt ist ein für uns Existierendes, auf unser Auffassen und Erfahren Relatives. In den Prolegomena ( § 5 2 ) heißt es kurz: „Der Begriff einer für sich existierenden Sinnen weit ist in sich widersprechend" 181 . Welt ist „niemals ganz gegeben" und gegeben als „bestimmt" (so oder so) in solcher Ganzheit. Sondern sie ist „nur im empirischen Regressus . . . anzutreffen", audi nur in ihm — bestimmbar. Der 10. Absatz erklärt diese Feststellung als gültig auch für alle übrigen Antinomien. Zwar wird sich noch ergeben, daß für die beiden letzten eine andere Art „Auflösung" statthat (nämlich im Sinne eines Sowohl-Alsauch — anstelle des Weder-Noch unserer bisherigen Betrachtung). Aber der transzendentale Schein ist in allen vier von der gleichen Art: über Welt kann nicht „vor" dem Regreß entschieden werden, aus reiner Vernunft und „vor" aller Erfahrung, wie sonst in Urteilen und Schlüssen a priori; — sondern Welt kann nur „im" Regressus uns „gegeben", von uns „angetroffen" werden. Nur so existiert oder „besteht" sie (gegenständlich) für uns. — Das Weder-Noch gilt wie für den ersten so auch für den zweiten Widerstreit. Derselbe wird hier als der beim Unbedingtheits-Anspruch in der „dekomponierenden Synthesis" auftretende benannt, — in Absetzung gegen die „Zusammensetzungs"-Synthesis beim Thema der Weltgröße in Raum und Zeit. Auch die Zerlegung verlangt ja, 179

Die Wendung: „Man erlaube mir, daß idi . . . nennen darf" hat wohl ihren Grund darin, daß in den damaligen Lehrbüchern der Logik unter „Dialektik" stets die Auseinandersetzung mit sophistischen Trugschlüssen verstanden wurde.

180

Vgl. X X 291 : „ . . . welcher Satz mehr sagt, als zur logisdien Entgegensetzung erfordert wird. Denn er sagt nicht bloß, daß im Fortschreiten zu den Bedingungen das Unbedingte nicht angetroffen werde, sondern noch, daß diese Reihe der . . . Bedingungen dennoch ganz ein absolutes Ganze sey, welche zwey Sätze darum alle beyde falsch sein können . . . . , und in der Tat sind sie es auch, weil von Erscheinungen, als von Dingen an sidi selbst, geredet wird."

181

I V 342.

308

(S. 346 Β 531)

wo es sich nicht um bloße Begriffsanalyse handelt, sondern Gegenständliches erkannt werden soll, synthetische Bezüge. Die Antithesis dieses Widerstreits tritt hier als Behauptung einer unendlichen „Menge" 182 von Weltteilen auf, wie sie sich eben bei einem Realen von räumlicher Zusammengesetztheit zwangsläufig ergeben müßte — und zwar nicht nur für Welt als räumliche, sondern audi für jedes Teilstück dieser, für jede in der Welt „gegebene Erscheinung" 183 . Daß alle Teilbestände, als „Reihen"-Glieder, immer nur im Regressus vorkommen oder „gegeben werden" können, der seinerseits nie „ganz" sein kann, das gilt auch für den Dritten und den Vierten Widerstreit, deren Regreß „dynamischen" Charakters ist. Insofern gilt das „Weder-Noch" audi hier (obgleich die „Auflösung" eine andere sein wird: in Richtung auf ein „Sowohl — Als auch"). Die Reihen sind auch hier nichts „für sich" Bestehendes und ihre Glieder nicht (keines derselben!) Dinge an sich selbst. Im 11. Absatz wird der Betrachtungsweg umgekehrt. Bisher ging die Überlegung vom Antinomie-Phänomen aus und kam am Ende zum einzig möglichen Ausweg, zum Auflösungsschlüssel der „Kritischen Entscheidung". Man kann aber nun auch die Vernunfttatsache der Antinomie zum „indirekten Beweis" gebrauchen für jene Doktrin, mit welcher die Kritik begann: Idealität alles Raumzeitlichen. Damit wird aus der so beunruhigenden, leicht zum Skeptizismus führenden Antithetik ein „kritischer und doktrinaler Nutzen" gezogen. Die Versuche, Welt zu „denken", so daß daraus Einsichten über deren Grundverfassung folgen, geben durch das Hinauslaufen auf widerstreitende Thesen „einen herrlichen Probierstein" ab für die „veränderte Methode der Denkungsart", welche eben der transzendentale Idealismus darstellt 184 . Wenn Kant das Resultat dieses indirekten 182

Nicht: „Zahl"; denn der Begriff einer Zahl ist „nicht immer möglich, wo die Begriffe der Menge und der Einheit sind" : „z. B. in der Vorstellung des U n endlichen . . S. 96 Β 111.

183 v g l . S. 336 Β 5 1 5 / 6 : „ . . . besteht jede Erscheinung im Raum (Materie) aus unendlich viel Teilen, so ist . . . " . — Von Leibniz war die These ausgegangen, daß schon in jedem kleinsten Teilstück von Materie (Wassertropfen) unendlich viele „einfadie" Substanzen (Monaden) enthalten seien, worauf eben schon die unendliche Teilbarkeit des Räumlichen hinweise: phaenomena bene fundata. Für Kant muß das als Extrem einer „dogmatischen" Metaphysik gelten — als unzulässiger Schluß von der Struktur der Phänomena („Erscheinungen" für uns!) auf noumenale Substanzen, Dinge an sich.

(S. 346 Β

531)

309

Beweises dahingehend formuliert, daß „Erscheinungen überhaupt außer unseren Vorstellungen nichts sind . . . " — so darf diese (recht häufige) Wendung natürlich nicht im Sinne eines „Idealismus" von der Art Berkeleys (esse est percipi) verstanden werden. Kants („formaler") Idealismus sagt ja nur dies aus, daß Erscheinungen ihren Formcharakteren nach auf menschliche Erfassungsart relativ sind und in sich selbst „nichts als Verhältnisse" darstellen; — Verhältnisse, welche wir im Rückgang auf Bedingungen und wieder deren Bedingungen aufzusuchen und so in weitere Zusammenhänge einzureihen haben. Daß die Gegebenheiten der empirischen Realität, von der „Materie" der Vorstellungen her, auf etwas „außer unseren Vorstellungen" hinweisen (ja auch wohl nähere „Anzeige" darauf geben können, wie sich noch zeigen wird), ist ja grundsätzlich immer schon durch die Korrelatbegriffe Erscheinung-Ding an sich gegeben. Der Schlußsatz betont nodi einmal den „großen Nutzen" der hier geübten, von Kant als eigenen Weg der Vernunftreflexion herausgebildeten Skeptischen Methode: als welche sich polemisch gegen die Dogmatiker aus beiden Lagern wendet, um ihnen „das Konzept zu verrücken" und sie zur „Selbsterkenntnis zu bringen"185 — gerade dadurch, daß man die jeweiligen Beweise für gründlich nimmt und sie „in ihrer größten Freiheit", ohne Einmischung von „Interessen" (audi der Vernunft selbst) sich entfalten läßt. Der große Nutzen war und ist für Kant seine eigenste „Entdeckung": die von der „wahren Beschaffenheit" ebenso aller Dinge als Gegenstände der Sinne in der Welt wie des im Totalitätsbegriff gedachten „Dinges": Sinnenwelt. Diese Beschaffenheit steht eben, was die Gegensatzbegriffe endlich und unendlich anlangt, außerhalb solcher Alternative: sie ist in einem Tertium zu suchen, welches man nur im Regreß selber finden kann. 184

185

S. 12/13 Β X V I I I ; Anmerkung dazu: „Findet es sich nun, daß, wenn man die Dinge aus jenem doppelten Gesichtspunkt betrachtet (sc. nämlich: Welt als an sich Existierendes und — „Sinnenwelt" als Erscheinung!), Einstimmung mit dem Prinzip der reinen Vernunft (sc. das Unbedingte angehend) stattfinde, bei einerlei Gesichtspunkte aber ein unvermeidlicher Widerstreit . . . entspringe, so entscheidet das Experiment für die Richtigkeit jener Unterstheidung." — Der direkte Beweis der Idealitäts-Doktrin war in der transzendentalen Ästhetik gegeben worden und galt Kant schon für sich allein „hinreichend" (S. 338 Β 518/9); es gehört aber die ganze transzendentale Deduktion mit dazu, w o nach, wie es an der soeben zitierten Stelle aus der Vorrede Β heißt, wir „von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen." S. 498 Β 791/2.

(S. 348/9 Β i 36)

310

Regulatives Prinzip der reinen Vernunft in Ansehung der kosmologischen Ideen Der Achte Abschnitt führt den für Kants Ideenlehre, zuletzt für seine ganze Auffassung von menschlicher Vernunft in ihrer Weltstellung und Daseinssituation entscheidenden Begriff und Terminus des „Regulativen Prinzips" ein. Das Wesen und die Möglichkeit menschlicher Erkenntnis zeigen sich in einem neuen Licht, man könnte sagen in einer neuen Dimension: es ist die des Erkenntnisprogresses. Die Ausgangserfahrung Kants war der große Aufschwung und stetige Fortgang, welchen die Wissenschaften von Gesetzlichkeiten des Naturgeschehens in den Jahrhunderten der Neuzeit genommen hatten, und in dessen Duktus Kant selbst, als Astronom und Physiker, sich eingereiht wußte — diese Weise wirklicher Erweiterung unseres Wissens dann vergleichend mit dem bisherigen Schicksal der Metaphysik. Die Vorrede zur Zweiten Auflage der Kritik setzt mit dieser Kontrastschilderung ein. In jenen Wissenschaften zeigte sich ein „sicherer Gang", stetiges Fortgehen, welches mehr ist und anders als bloße Ansammlung, Anreicherung von Kenntnissen. Jede neue Einsicht und Erklärung drängt da sinnotwendig über sich hinaus und gibt weitere Aufgaben, verlangt danach, ins Große wie ins Kleine weiter auszugreifen. Von „bloß regulativen" Grundsätzen war auch in der Analytik die Rede gewesen, auch dort in einer Gegenüberstellung zu „konstitutiven". Jetzt aber, in der Dialektik, geht es um etwas völlig anderes: um einen Grundsatz der Vernunft und seine Art von Leistung für das Welterkennen186. Der hier auftretende Begriffssinn des Regula188

Wenn K a n t in der A n a l y t i k (S. 161 Β 2 2 3 ; vgl. S. 147 Β 199/200) die „ d y n a mischen" G r u n d s ä t z e , so die „ A n a l o g i e n " der E r f a h r u n g , „bloß r e g u l a t i v " nannte, in Abhebung v o n den mathematischen, „die konstitutiv sind, z w a r nicht in der Gewißheit, welche in beiden a priori feststeht, aber doch in der A r t der E v i d e n z , d. i. d e m Intuitiven derselben, mithin auch der D e m o n s t r a t i o n ) " , — so d a r f man diese terminologische Bestimmung nicht mit der hier a u f tretenden Entgegensetzung des regulativen V e r n u n f t p r i n z i p s zu allen ihren Gegenstandsbereich konstituierenden G r u n d s ä t z e n verwechseln. Vgl. S. 439 Β 6 9 2 : „Wir haben in der transzendentalen A n a l y t i k unter den G r u n d s ä t z e n des Verstandes die dynamische, als bloß regulative Prinzipien der Anschauung, v o n den mathematischen, die in Ansehung der letzteren constitutiv sind, unter-

(S. 348/9 Β 536)

311

tiven wird jetzt im Hinblick auf die „kosmologischen" Ideen eingeführt; weitere Bedeutung und Anwendungsform wird er im Dritten Hauptstück erhalten und schließlich dann, zusammenfassend für den ganzen Ideenbereich, im „Anhang" zur Dialektik behandelt werden (S. 426/7 bis 460 Β 670—730). Vorbereitet wurde der neue Gedanke schon im Einleitungsabschnitt „Von den transzendentalen Ideen". Dort war gesagt (woran jetzt gleich der erste Satz in unserem Abschnitt anklingt), die reinen Vernunftsbegriffe seien zwar „dialektisch" in dem Anspruch, Wesenszüge des darin Gemeinten zu begreifen; aber sie seien doch „wenigstens als Aufgaben . . . " notwendig und als solche „in der Natur der menschlichen Vernunft gegründet"187. Was dort zunächst in Vorschau auf die Zielbegriffe der Metaphysik (Seele, Welt, Gott) allgemein angedeutet wurde, soll jetzt im Hinblick auf die Viererordnung der Weltideen ausführlich dargelegt werden. — Eine zweite Vorbereitung wurde im Zusammenhang der „kritischen Entscheidung" gegeben durch Einführung des (durch Fettdruck hervorgehobenen) Gegensatzes von „gegeben" und — „aufgegeben" (S. 343 Β 526). Der „kosmologische Grundsatz", auf welchen sich der erste Satz des 1. Absatzes rückbezieht, ist der im Ersten Abschnitt unseres Hauptstücks (in Sperrdruck) aufgeführte. Weiter zurück ist auf das allgemeine „Prinzipium der reinen Vernunft" in der Einleitung zur Dialektik überhaupt zu verweisen (S. 283 Β 436; S. 243 Β 364). Die überlieferte Metaphysik glaubte durch ihn ein Seinsprinzip zu haben: etwas wie ein „Axiom", aus welchem die Doktrinen der Cosmologia rationalis ähnlich a priori zu erweisen wären, wie die Lehrsätze der

187

8

sdiieden. Diesem ungeachtet sind gedachte dynamische Gesetze allerdings constitutiv in Ansehung der Erfahrung ..Prinzipien der reinen Vernunft können dagegen „nicht einmal in Ansehung der empirischen Begriffe constitutiv sein . . . " . D i e Ideen der Vernunft sind „nicht als constitutive Principien der Erweiterung unserer Erkenntnis über mehr Gegenstände, als Erfahrung geben kann", zu rechtfertigen („transzendentale Deduktion"), sondern nur „als regulative Principien . . . " . S. 443 Β 699. — Für die Bedeutung des Regulativen auch im Bereich der praktischen Vernunft vgl., noch innerhalb unseres Werkes, S. 520 Β 828: „Wenn die Bedingungen der Ausübung unserer freien Willkür aber empirisch sind, so kann die Vernunft dabei keinen anderen als regulativen Gebrauch haben und nur die Einheit empirischer Gesetze zu bewirken dienen . . . " . Anders die reinen praktischen Gesetze der Vernunft: diese „erlauben einen Kanon". S. 251/2 Β 380. Heimsoeth, Transzendentale Dialektik II

312

(S. 34819 Β 536)

euklidischen Geometrie aus deren Axiomen188. Nach dem Ergebnis der Kritischen Entscheidung kann es ja aber keinen Bestimmungsgrundsatz für den absoluten Inbegriff alles Raumzeitlichen geben; die Welt als solche Allheit kann nicht durch bloße Vernunft von vornherein erkannt werden nach ihren Grundbeschaffenheiten. Aber das heißt nun nicht, daß der Grundsatz selbst einfach hinfällig wird, so wenig wie der Weltbegriff hinfällig wird, wenn er als „nur" Idee erwiesen ist; „berichtigt", wird er „gute Gültigkeit" behalten. In Wahrheit nämlich spricht er nicht (wie die Verstandesgrundsätze) von einem Objekt als „gegebenem", sondern von etwas, das uns „aufgegeben" ist: er stellt dem auf Erkenntnis ausgerichteten „Subjekt" die Problemaufgabe, auf jenes Maximum, auf möglichste „Vollständigkeit" im Bereich des raumzeitlich Wirklichen und Möglichen hinzuarbeiten — durch immer fortgesetztes Aufsuchen weiterer Bedingungen zu „Gegebenem und Erkanntem". Dieses Aufsuchen und Herstellen von Bedingungsrelationen selbst ist immer, auch w o es sich um ganze Gruppen von Beständen, Reihengliedern handelt, Sache des Verstandes: ihm wird die Aufgabe gestellt, ihn treibt das Bewußtsein des iss £) e r hier und audi wieder im Neunten Abschnitt auftretende Terminus „Axiom" f ü r die (kritisch abzuweisende) Auffassung des kosmologischen Grundsatzes als eines „konstitutiven Prinzips der Vernunft", wie es im weiteren heißt, muß aus der Zeitlage verstanden werden. Kants Kritik der rationalen Metaphysik steht immer audi in Auseinandersetzung mit dem Bemühen neuzeitlicher Philosophie seit Descartes, Metaphysik als eine Art universaler Mathesis aufzubauen (extrem und ausdrücklich geschah das ja in Spinozas Hauptwerk, weldies, more geometrico, mit Definitionen, Axiomen, Postulaten anfing). Ersteinsatz dieser Auseinandersetzung war schon mit der vorkritisdien Sdirift „Über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral" von 1764 gegegeben; Wiederaufnahme und Fortführung auf dem neuen Boden der Kritik erfolgte dann im Rahmen der Methodenlehre (S. 477—483 Β 754/5 bis 766). — Axiome definiert Kant als „synthetische Grundsätze a priori, sofern sie unmittelbar gewiß sind". S. 480 Β 760. Dergleichen Evidenz kann es nur in der auf Anschauung abgestellten Geometrie (Mathematik überhaupt) geben, nicht aber in der Philosophie, welche „bloß die Vernunfterkenntnis nadi Begriffen ist". „Die Philosophie hat also keine Axiomen und darf niemals ihre Grundsätze a priori so schlechthin gebieten, sondern muß sich dazu bequemen, ihre Befugnis wegen derselben durch gründliche Deduktion zu rechtfertigen." S. 480/ Β 761/2. — Für die Grundsätze des Verstandes, als die für alle Erfahrungsgegenstände konstitutiven, war das in der Analytik geleistet worden. (Auch der von Kant unter den Titel „Axiome der Anschauung" gestellte Grundsatz war seinerseits kein Axiom!). In welchem Sinne nun eine solche Rechtfertigung (transzendentale Deduktion) für den jetzt zum Thema stehenden Vernunftgiundsatz der Kosmologie möglich sein könnte, ist das Problem des Achten und Neunten Abschnitts.

(S. 348/9

Β

536)

313

Problems, welches wir „die Welt" nennen, voran. Dogmatische Metaphysik glaubte in analytischen Urteilen durch bloße Zergliederung nach Art der Definitionen oder durch formale Schlußfolgerungen aus dem Weltbegriff bestimmte Erkenntnisse über die Welt im Ganzen gewinnen zu können. In Wahrheit aber kann unser Teilwissen von Dingen und Vorgängen in der Welt (das seinerseits in jedem Schritt „synthetisch" ist) nur „erweitert" werden durch weiteres und weiteres Aufsuchen empirischer Zusammenhänge, nach den verschiedenen Reihen-Dimensionen. „Nur eine Regel" ist danach der Grundsatz, „regulativ" — nicht aber „konstitutiv", so daß er Entscheidung darüber hergäbe, „was das Objekt sei". Auch hier wieder muß der von Kant eingesetzte und im Druck hervorgehobene Terminus scharf abgehoben werden von den Begriffsbestimmungen der Analytik des Verstandes. Deren Grundsätze, und zwar alle, waren „Regeln" im Sinne von Ordnungsnotwendigkeiten alles Objektiven der Erfahrung, „Gesetze", welche der Verstand „der Natur vorschreibt", Prinzipien der Sicherung und Erweiterung unserer Erkenntnis18®. Jetzt aber, wo es um Welt als Ganzes geht, wird nicht der Natur ihr Sosein „vorgeschrieben", nicht das Objekt nach seinen wirklichen Beschaffenheiten festgestellt; — sondern Vernunft, welche aus sich allein den Totalitätsgedanken (diesen aber notwendig) denkt, „gebietet" dem verstehenden Subjekt, den jeweiligen Rückgang zum Bedingenden fortzusetzen und dies immer wieder, — nie aber bei irgend einem Glied der Reihe stehen zu bleiben, das dann als unbedingt gedacht, beansprucht würde! Vernunft „antizipiert" nicht190, vor allem Welterfahren im besonderen, was dem Objekt der Weltidee zukommen müsse; wohl aber „postuliert" sie, was von uns, den durch Verstand real Gegebenes Erkennenden, getan werden „soll"191, sie stellt die immerwährende unerschöpfbare 189

190

191

8*

„Regeln so fern sie objektiv sind (mithin der Erkenntnis des Gegenstandes notwendig anhängen) heißen Gesetze." IV 92 A 126; vgl. IV 85 A 113. Den Terminus „antizipieren", welcher hier in der Abwehr auftritt, gebrauchte Kant wiederum primär für die Verstandesgrundsätze der Analytik, und zwar für sie alle (S. 207 Β 303; „man kann alle . . . eine Antizipation nennen . . . " S. 152 Β 208). Als spezifischer Titel tritt er dann für denjenigen „mathematischen" Grundsatz auf, der auf „Wahrnehmungen" geht: Vorwegnahme a priori, daß alles „Reale, was ein Gegenstand der Empfindung ist, intensive Größe, d. i. einen Grad" habe. S. 151 Β 207. Man kann in allen diesen Ausdrücken Anklänge vernehmen an Begriffe des praktischen Vernunftgebrauchs, der nicht mehr in den Problembereich unseres

314

(S. 348/9 Β 536)

Aufgabe des Forschungsfortgangs. Der Grundsatz ist kein ontologischer, aus sich allein das Sein der Welt bestimmender, sondern, wie es im früheren Zusammenhang schon hieß, ein „logisches Postulat". 11 " Darin liegt sein wahrer Sinn und seine im Vollzug und Werden menschlicher Erkenntnis höchst fruchtbare Funktion. Das eben wird verkannt durch den uns so natürlichen und ohne kritische Besinnung audi ganz unvermeidlichen transzendentalen Schein: Unterschiebung („Subreption"193) eines schon im Vernunftbegriff Gegebenem, objektiv Greifbaren an die Stelle des faktisch immer nur uns Aufgegebenen. Damit ist also nun jenes „Dritte" anvisiert, welches beim Antinomie-Gegensatz von endlich und unendlich verkannt worden war — in der falschen Meinung, es handele sich da um eine „analytische" Opposition. Einem als endlich „gegebenen" oder vorhandenen Weltganzen und ebenso einem als unendlich vorausgesetzten ist der endlose Fortgang unserer Welterschließung durch empirische Verknüpfungen, zusammenfügend wie dekomponierend, als der wahre Sinn der „Idee" und des „Grundsatzes" gegenübergestellt. Der Gang der neuzeitlichen Wissenschaft, etwa das immer weitere Ausgreifen astronomischer „Analogien" (so Kant selbst in seinem Frühwerk) oder das unablässig fortschreitende Eindringen ins Mikroskopische der Materie und der organischen Bildungen, samt ständigem Ausblick auf noch umfänglichere und noch diffizilere Erfahrungen, zeigt beispielhaft den Wesensduktus menschlicher Erkenntnis nach ihrer eigentümlichen Erweiterungsdynamik. Im „Welt"-Begriff der Vernunft liegt ein Vollständigkeitsanspruch, der den Verstand zu „größtmöglicher Fort-

192

193

Werkes fällt. Im letzteren geht es um Aufgaben, um Gebotenes und nicht Erlaubtes für das Subjekt des Wollens und Handelns, nicht um reine Erkenntnismöglichkeiten und -aufgaben. Der Unterschied dieses „logischen" (transzendentallogischen) Vernunftpostulats von den „Postulaten des empirischen Denkens überhaupt" wurde bereits anläßlich der Bezeichnung (S. 343 Β 526) besprochen, auch die ursprüngliche Herkunft des Begriffsworts aus mathematischer Terminologie erwähnt. „Transzendentale" Subreption heißt es in Absetzung gegen die empirische (auch diese unwillkürlich und für die Anschauung unvermeidlich), welche uns Sinnesqualitäten wie Geschmack, Geruch, Töne etc. als objective Dingbestimmungen in der Natur ansehen läßt („Subreptionen der Empfindung", S. 61 Β 53). Hier ist es der Verstand, der auf Grund genauerer Erfahrungen den Fehler in der Vorstellung aufdeckt. — Zur „transzendentalen Subreption" im Thema der ersten Vernunftidee (Seele) vgl. IV 251 A 402, und im Thema der Theologie S. 391/2 Β 610/11. Zusammenfassend noch, in der Methodenlehre, S. 515 f. Β 820 f.

(S.

34819

Β S 36)

315

setzung" seiner Expositionen drängt und ihn bei keiner gewonnenen Erklärung aus bestimmten Vorbedingungen zur Ruhe kommen läßt; — dies immer zugleich mit dem Bewußtsein, daß das absolute Ganze selber „niemals erreicht wird", daß alle wirkliche Erkenntnis von in Raum und Zeit Gegebenem unvollendbar ist. Das Weltganze ist für uns nie gleichsam fertig vorhanden, statisch greifbar — so wie das einzelne Gegenstände und Vorgänge sein können. Dies Unbedingte, im wirklichen Vollzug von Einsichten und Einsichtserweiterungen Un vollendbare ist und bleibt „reines und echtes Produkt oder Problem der reinen Vernunft", wie es schon in der Einleitung zur Dialektik vorgreifend hieß. (S. 258 Β 392). Dieses Positivum gegenüber den beiderseits negierten gegensätzlichen Positionen dogmatischer Metaphysik: der notwendig geforderte Fortgang empirisch jeweils begrenzter und überschaubarer Synthesen ohne absolute Grenze — soll nun noch näher bestimmt werden, bevor („erstlich") das neugefundene Prinzip des Regulativen auf die vier Weltideen, vorab die beiden ersten, hinbezogen wird. Kant hat dabei eine Unterscheidung im Auge, für welche er terminologisch an überlieferte Diskussionen der neueren Philosophie zum Begriff der progressiven oder potentiellen Unendlichkeit anknüpft. Die Absätze 3 und 4 geben die Anknüpfung, die Absätze 5 bis 7 Kants eigene Lehre. „Die Mathematiker" sprechen, wo sie (ζ. B. Newton) von den series infinitae der Zahlenlehre handeln, einfach und unbefangen vom progressus in infinitum, womit faktisch gemeint ist, daß das sukzessive Aneinanderreihen der Zahlen nie an ein Ende komme. Die „Philosophen" dagegen, welche es nicht mit der Konstruktion mathematischer Gebilde in der Anschauung (etwa im Auszählen und sukzessiven Aneinanderreihen) zu tun haben, sondern denen die Klärung und genaue Definition der Begriffe als solcher aufgegeben ist191, haben den 194

„Mathematische Definitionen können niemals irren" (S. 479 Β 759), sofern hier die Begriffe „an der reinen Anschauung sofort in concreto dargestellt werden" (die der Geometrie in der Anschauung des Raumes, die der Arithmetik durch Auszählen in der Zeit), „und jedes Ungegründete und Willkürliche dadurch alsbald offenbar wird". Philosophische Erkenntnis aber ist wesenhaft „Vernunfterkenntnis aus Begriffen"; und hier gelangt man auf den „unsicheren Boden reiner und selbst transzendentaler Begriffe", wo genaue Prüfung N o t tut. Vgl. Methodenlehre S. 467, 469 ff. Β 739, 741 ff.

316

("5. 351 Β Hl)

Terminus eines Fortgangs in indefinitum eingeführt195 und wollen, für solchen Progreß, nur diesen „Ausdrude . . . gelten lassen". — Für mathematische Betrachtungen will Kant beide Ausdrücke bestehen lassen, obgleich der des „unbestimmbar weiten", also ohne Endabschluß zu denkenden Fortgangs der richtigere ist (jedenfalls für Zahlenreihen). Das soll auch für den philosophischen Bereich in Geltung bleiben (wo es um Wirklichkeitsreihen geht!), sofern es sich, ähnlich wie bei der Zahlenreihe oder Linie, um den Progressus handelt, um Bedingungsreihen „in absteigender Linie". Wir können uns vom hier und jetzt Gegebenen aus die Kette davon abhängiger Glieder indefinit verlängert vorstellen und, etwa beim Beispiel der Nachkommen eines Elternpaares, es audi als objektiv möglich „denken", daß es so „ohne Ende" weitergehe in der Welt. Aber das ist ja eben nidit die Reihenrichtung der Antinomiefragen. Die „progressive Synthesis" zu weiteren und weiteren „Folgen" bringt kein notwendiges Vernunftproblem mit sich, sondern nur ein „willkürliches"196; die Philosophie kann davon absehen. Allein im Regressus tritt das unausweichliche Bedürfnis der Vernunft auf, die ein Gegebenes bestimmende Reihe von Bedingungen zu vervollständigen; nur hier ist die Totalität uns wirklich „aufgegeben". Anstelle des „ihr könnt" so weit „ihr wollt", muß es jetzt heißen: „ihr sollt" niemals aufhören. Dafür wird aber nun jener Unterschied der Termini, also der Fassung des Unendlichkeitsvollzugs, akut. Die „Regel" kann auf zweierlei Art fordern. Nicht nur das indefinitum jener „Forscher der Begriffe" hat für das regulative Prinzip im Kosmologischen seine Bedeutung, sondern auch jenes nach Philosophenmeinung nicht dem wahren Tatbestand entsprechende „in infinitum" muß hier eingesetzt werden: als eine eigene Art, wie der Vollzug vorangetrieben werden soll. Ein „Rückgang ins Unendliche" (gesperrt gedruckt) ist unserem 195

Die Diskussionen über die rechte Fassung des Unendlidikeitsbegriffs durchziehen, schon vom 17. Jahrhundert her, die ganze Metaphysik und Erkenntnistheorie des Kantischen Jahrhunderts. Der metaphysische Hauptstoß zur Unterscheidung des Indefiniten vom Infiniten ist von Descartes' Kosmologie ausgegangen; der erkenntnistheoretische von J . Locke: Unendlichkeit (des Raumes, der Dauer, der Zahl) bedeute nur, daß unser Subjekt (Seele) die positive Vorstellung eines Raumstücks usw. fortschreitend wiederholen könne ohne Ende. In A. Baumgartens Metaphysica (Kants Handbuch für die Vorlesungen) bezieht der § 248 den Terminus „infinitum" allein auf das Ens illimitatum; „indefinitum" heißt dagegen das infinitum imaginarium, mathematice tale.

196

So im Ersten Abschnitt des Antinomie-Hauptstüdes. S. 284 Β 438.

(S. 351 Β 541)

317

Erkennen da aufgegeben, wo es gilt, ein empirisch-anschaulich gegebenes Ganze auf dem Wege der Dekomposition zu exponieren, es auf seine „inneren" Bedingungen (Teilmomente) hin zu befragen. Jeder Körper ist, einfach schon als ein Stück räumlicher Materie (res extensa), unendlich teilbar; Aufgabe der Forschung ist, in allem Aufsuchen von Elementarteilchen und wieder deren Teilbedingungen von der Voraussetzung auszugehen, daß hier tatsächlich und notwendigerweise immer noch „mehr Glieder der Reihe anzutreffen" sind, als wir je schon angetroffen haben. Solches Voraussetzen (man könnte es eine Art Antizipation für die Erforschung nennen) bedeutet natürlich nicht, daß die Menge der in jedem Weltstück enthaltenen Bedingungen „an sich selbst unendlich" sei, als unendlich „im Objekt gegeben" — wie das die „Monadisten" behaupteten; das wäre ja nur wieder die Thesis-Prägung eines Dogmatismus. Nicht von bestehender Zusammengesetztheit ist ja hier (bei Dingen der Erscheinungswelt) die Rede, sondern von einer Aufgabe dekomponierenden Verstehens und Erklärens und ihrer Weise und Voraussetzung. — Der Neunte Abschnitt wird, unter Nr. II, weiteres zu diesem Thema des kosmologischen Dekompositions-Rückgangs in infinitum bringen. — Dagegen muß das Regulative Prinzip, wo es um Weltgröße in Raum und Zeit geht, im Sinne einer Rückschreitens-Aufgabe in indefinitum verstanden werden: „unbestimmbar weit" soll nach Bedingungen gesucht werden. Kant setzt das anschauliche Beispiel der Generationenfolge — hier natürlich für den Rückgang von Jetztlebenden auf ihre Voreltern — voran 197 ; an ihm läßt sich besonders deutlich machen, daß hier nicht vorausgesetzt werden kann, zu jedem der Urväter könnten weitere Vorfahren „angetroffen" — und also müßte audi danach gesucht werden. Es kann nur negativ gesagt werden, daß in der Empirie keine absolute Grenze für genetische Bedingungen vorkommen kann und es so immer möglich bleibt, „zu noch höheren (hier also: früheren) Bedingungen der Reihe fortzugehen"; den forschend-fragenden Blick immer weiter offenzuhalten, wird hier vom Subjekt gefordert. Die Nachfrage wird nur zugelassen: aber immer 197

Gegenüber aufgetretener Kritik an Kants Heranziehung dieses sozusagen anthropologischen Themas sei daran erinnert, daß die Sdiulphilosophie, schon vom hohen Mittelalter her, immer die Frage nach der zeitlichen Unendlichkeit („Ewigkeit") oder Endlichkeit der Welt (der Schöpfungstheologie gemäß) mit der der Menschengenerationen vor uns zusammengedacht hatte.

318

(S. 353 Β 54314)

doch als „notwendig" möglich (während ja die Nachfrage im Progreß, die immer auch möglich bleibt, nur willkürlich-beliebig ist). Möglich und also Forschungsaufgabe bleibt weiterer Regreß immer; ein erstes, also die Reihe der Bedingungen absolut Begrenzendes kann ja in wirklicher Wahrnehmung nicht vorkommen. Und wenn man auf dergleichen stößt, bzw. aufzutreffen meint (etwa auf völlig leeren Raum an den Grenzen des eben noch Sichtbaren im Sternenhimmel), dann muß das Weiterfragen und Forschungsbemühen auch auf dieses Begrenzende übergreifen. Es kann gewiß in fortgesetzter Erfahrung etwas begegnen, was anders ist, als die Teile der bisher zurückgelegten Reihe, aber dann muß eben dieses Andere seinerseits wieder befragt werden.

Von dem empirischen Gebrauche des regulativen Prinzips der Vernunft in Ansehung der kosmologischen Ideen Der Neunte Abschnitt erläutert nun den Gebrauch des Regulativen Prinzips im Hinbezug auf die verschiedenen Welt-Ideen; — zunächst der beiden ersten, welche auf Vollständigkeit der Zusammensetzungs- und der Teilungsreihen hinwirken. Während die Thesen und Antithesen der ersten zwei Antinomien einen Gebrauch der Vernunftbegriffe vom Unbedingten im Sinne konstitutiver Seins- oder Objektserkenntnis voraussetzten und eben damit ihrem Widerstreit verfielen, wissen wir nun, daß der wahre „transzendentale Gebrauch" nur im Regulativen, in der Forderung des unbegrenzten Regressus liegen kann198. Indem eben dadurch der „transzendentale Schein", 198

Wenn es im ersten Satze heißt, daß es einen transzendentalen Gebrauch auch nicht von reinen V m t ó » ¿ « b e g r i £ f e n gebe, so darf daran erinnert werden, daß die bloßen Kategorien keine Erkenntnis hergeben (etwa durch analytische U r teile), sondern nur in Verbindung mit Anschauung zu konstitutiven „Grundsätzen" führen. Vgl. S. 208 Β 3 0 4 / 5 : „Hieraus folgt, daß . . . die Grundsätze des reinen Verstandes nur von empirischem, niemals aber von transzendentalem Gebrauche sind, über das Feld möglicher Erfahrung hinaus aber es überall keine synthetischen Grundsätze a priori geben könne." Die reinen Kategorien, ohne Sinnlichkeitsbedingungen, haben zwar transzendentale „Bedeutung", aber bloß dies; sie sind von keinem transzendentalen „Gebrauch". Ein Grundsatz aber, der die Beschränkung auf Erfahrung wegnimmt (und auf positive Einsicht in ein Unbedingtes Anspruch macht), „heißt transzendent". (S. 2 3 5 / 6 Β 3 5 2 / 3 ) . — Die Wendung im ersten Satz des zweiten Absatzes von der U n -

(S. 354 Β 54516)

319

welcher im Weltthema die Form des Widerstreits annimmt, behoben wird, zeigt sich zugleich der positive, nicht „dialektische", sondern innerlich übereinstimmende „Sinn" des Grundsatzes — welcher in dieser neuen Bedeutung, als Fortgangsregel, fruchtbar sich „bewährende" Doktrin wird („doktrinaler Nutzen" der Kritik), und somit die einzige Art aufzeigt, wie die dem Gegenstande Welt wirklich „angemessene Beantwortung der Fragen" erfolgen kann. Die Regulativfunktion leistet durch ihren immer tätigen „Einfluß" auf unser Verstandesvermögen nun wirklich das, was das angebliche Axiom vom Mit-gege^ensein der Welt im Ganzen in jedem uns Begegnenden fälschlich für Erkenntnis der Dinge an sich selbst, und aus Vernunft allein, beanspruchte: Erweiterung und sachliche (nicht bloß analytischdefinitorische) Berichtigung und Bereicherung der jeweils bestehenden Weltkenntnis — im Rahmen der raumzeitlichen Erscheinungsdimensionen. Es folgt als Erstes (unter I.) die „Auflösung" im Thema der Weltgröße. Vorangegangen war schon die Auflösung-Aufklärung des Dialektischen im dabei entstandenen Widerstreit; jetzt geht es aber um die positive Klärung der aus jener Vernunftidee erwachsenden „Aufgabe" der Welterfahrung als allmählicher Erforschung. Nicht das Aggregat oder Kompositum aller Dinge und Vorgänge (compositum reale) ist nun nach seinem Wie (Beschaffenheit der Quantität nach) zu charakterisieren, sondern die von unabsehbaren Handlungen des Verstandes durch Vernunft geforderte Zusammensetzung der Erscheinungen zu dem Weltganzen. Die zwei ersten Absätze wiederholen noch einmal die für alle vier Kosmologie-Aufgaben geltende Feststellung, daß in den anzustellenden Erfahrungen niemals ein dem Regressus schlechthin Halt Gebietendes auftreten kann. Ein wirkliches „Nichts" von weiter zurückliegenden Bedingungen, ein „Leeres" etwa als Begrenzendes der materiell-räumlichen Ordnungen oder der zeitlichen Entstehungsvorgänge, kann niemals „angetroffen", es darf darum auch da nicht angenommen werden, wo weitere Wahrnehmungsdaten gänzlich ausbleiben. Die Regel der Vernunft bleibt immer eine solche von Relationsgliegültigkeit des W w K r c / t g r u n d s a t z e s , als eines solchen „ d e r Erscheinungen an sidi selbst" m u ß dahin v e r s t a n d e n w e r d e n , d a ß eben der D o g m a t i s m u s der M e t a p h y s i k raumzeitliche E r s d i e i n u n g e n u n d deren Inbegriff fälschlich f ü r e t w a s a n sich Seiendes nimmt.

320

(S. 354 Β 545 f6)

d e m (in terminis). Wo im Rückgang weiter nichts mehr aufgefunden werden kann, muß immer dodi das Fragen offen bleiben. Vom 3. Absatz an geht es also nun um die Weltgröße dem Räume und der Zeit nach — nun zum Problem gemacht im Sinne des Regulativen Prinzips. Da gilt es jetzt nun eben auszumachen, wie der als wesenhaft unbegrenzt zu denkende Regreß hier zu handhaben sei. Kann etwa und muß (in Analogie zu dem Begriff der Mathematiker vom Fortgang arithmetischer Reihen) Rückgang in infinitum angesetzt, gefordert werden? Oder ist hier „nur" ein Regreß in unbestimmte und „unbestimmbare" Weite geboten? Die Beispiele des 9. Absatzes zeigen, worauf es K a n t hier ankommt. Das zweite derselben entstammt dem Forsdiungsbereidi seiner eigensten naturwissenschaftlichen Interessen. Im astrokosmologischen Frühwerk entwarf Kant, durch Analogiebildung von Erfahrungseinsichten der neuzeitlichen Astronomie (unser Planetensystem betreffend) aus, den Gedanken einer „systematischen Verfassung" des gesamten Universums; die Milchstraße wurde als „von unzähligen Sonnen erleuchtete Zone" und die Fixsterne überhaupt als langsam bewegte „Wandelsterne" einer höheren Ordnung angesehen. Dieser „Versuch von der Verfassung . . . des ganzen Weltgebäudes" war gegründet auf die „Grundsätze" Newtons. Zu dessen Principia mathematica gehörte auch die These vom absoluten infiniten Räume; — und demgemäß wollte der junge Kant nun „das Systematische, welches die großen Glieder (!) der Schöpfung in dem ganzen Umfange der Unendlichkeit verbindet", aufdecken. Das Siebente Hauptstück des Werkes handelte noch insbesondere „Von der Schöpfung im ganzen Umfange ihrer Unendlichkeit sowohl dem Räume wie der Zeit nach". Hier wurde also, von astronomisch-naturphilosophischen Erfahrungen und Grundsätzen aus, ein seinem Seinscharakter nach unendliches Universum doktrinal vorausgesetzt, — in welchem dann natürlich auch aller Wissenschaftsfortgang (das Aus- und Rückgreifen in den Unendlichkeitsdimensionen des Raumes wie der Zeit zu weiteren und weiteren „Gliedern in der Kette der gesamten N a t u r " — wie es dort heißt) als ein in infinitum gehender anzunehmen wäre. Hier könnte dann grundsätzlich nie eine „äußerste Sonne" (wie es in unserem Text jetzt heißt) zugelassen werden! In jener, von der Kritik her als „dogmatisch" (als dem „transzendentalen Schein" des absoluten Raum- und Zeitrealismus erlegen) zu bezeichnenden Weltkon-

(S. 354 Β 545/6)

321

zeption wird einfach als gegeben und notwendig vorausgesetzt, daß über jede „Schranke" hinaus materielle Ordnungen immer noch vorzufinden wären! — Eben dies aber kann vom Regulativen Prinzip einer grundsätzlich auf Verstand und Empirie angewiesenen Vernunft her nicht beansprucht werden. Der kosmologische Grundsatz nach seiner wahren Ausdeutung fordert nur Fortschritt „von Erscheinung zu Erscheinung" ohne absolute Grenze, also: in indefinitum. Wo z . B . keine Fixsterne mehr wahrzunehmen sind, kann weder ein alles noch Sichtbare begrenzender absolut leerer Raum vorausgesetzt werden (Raum gibt es nur als iorwzstruktur von empirisch Realem), noch auch die Existenz von Gestirnen und Bewegungsgefiigen in unendlicher Menge, wie sie Kants Früh-Kosmologie behaupten wollte (stetige fortschreitende Natur, „um den unendlichen Raum in dem Fortgange der Ewigkeit mit Welten und Ordnungen zu erfüllen". 1312). Das Regulative Prinzip gibt der empirischen Naturforschung nur die Gewißheit an die Hand, daß alle Erscheinungen immer wieder durch Erscheinungen begrenzt werden — in der uns wirklich begegnenden, auf unsere Art des Auffassens relativen Welt. Wieweit ζ. B. die Bewegungs- und Lichterscheinungen der als „äußerste" erfahrenen oder vermuteten Sternbildungen ihrerseits bedingt sind durch Materien und Kräfte von so schwachem „Realitäts"-Grad (nada den Antizipationen der Wahrnehmung sind die intensiven Größen „fließende" — kein Grad kann der kleinste sein199), daß sie für uns de facto nicht mehr wahrgenommen werden können, — das muß offenbleiben, aber als Frage immer mitgedacht werden. Das andere (erste) Beispiel des 9. Absatzes geht in die Richtung des Ersten Themas von der Weltgröße: der zeitlichen, wo ja der Widerstreit der Thesis vom Welt-„Anfang" mit der Antithesis von 199

S. 154 Β 211 f. — Kant denkt in unserer Stelle da, wo es um für uns nicht mehr Wahrnehmbares und doch physisch Reales, also zum Inbegriff möglicher Erfahrung noch Zugehöriges geht, vor allem an die raumdurchwaltende Attraktionskraft. Vgl. z . B . aus den Notizen des Opus postumum: „Das Unbegrenzte ist vom Unendlichen als Positiven Daseyn unterschieden. Das Reale kann ins Unendliche kleiner werden ohne zu verschwinden ζ. B. attraction der Schweere." X X I 231. Es ist das große, erst im Spätwerk wieder, in immer neuen Ansätzen, angegriffene Thema des imponderablen Weltstoffs, das sich in unserem Regulativ-Beispiel noch eben andeutet.

322

(S. 354 Β 54516)

Wel t-„ Ewigkeit" zu erörtern war200. Die „gewisse Art" von Erscheinungen, auf welche Kant sich hier beschränkt, um die Idee des Rückgangs zu den (zeitlichen) Bedingungen auf das Wie der Forderung hin zu beleuchten, ist die Kette der Generationen. In der metaphysischen Tradition war die Lehre vom Anfang (Schöpfungskosmologie) immer wieder verbunden worden mit dem Gedanken des ersten Menschenpaares, während die Lehre von einem Immerschön-Bestehen der Welt die Annahme einer unendlichen Menge von Zeugungen mit sich brachte201. Das regulative Prinzip fordert in diesem Falle nur einen Fortschritt aufwärts in der Reihe der Voreltern „von Erscheinung zu Erscheinungen"; wenn die Forschung dabei (so möchten wir interpretieren) auf zeitlich erste Menschenspuren trifft, über welche hinaus wohl nicht mehr Menschenexistenz vorausgesetzt werden kann, so ist damit das weitere Problem vorangegangener biologischer Bedingungen gestellt, Aufgabe für eine fortschreitend auszuarbeitende „Archäologie der Natur"202. Solche empirischen „Problem"-Aufgaben 200

U m die Problematik anschaulich zu machen, wie sie sich K a n t vom eigenen Frühwerk her darstellen mußte, sei noch erwähnt, d a ß die „Schöpf ungs"-Lehre der „Allgemeinen Naturgeschichte . . . " die zeitliche Weltunendlichkeit nur als progressio in infinitum, als „künftige Folgen der Ewigkeit", statuierte — und zwar von einem absoluten „Anfang" ausgehend! Es sollte da sogar die Konzeption dieser schlechthin „unendlichen Reihe" einer ontischen Weltevolution ihrerseits Bestätigung geben f ü r das Begreifen aktual-unendlicher Weltausdehnung im Räume. I 309/10 a.

201

Man wird bei Kants Abwehr der dogmatischen „Antizipation" einer „Menge", welche kein empirischer Regressus, keine Dekomposition je erreichen könnte (4. Absatz), vor allem an dieses besondere Thema der Generationsreihe zu denken haben. Dies der Programmtitel Kants für künftige Aufgaben einer vergleichend-genetischen Biologie, die alle organischen Formen bis zum Menschen hin (bzw. im Regreß vom Menschen her zu den voranliegenden Bedingungen) umfaßt. Auf Grund der anwachsenden „Vermutung" wirklicher Verwandtschaft aller dieser Formen entwirft Kant den Gedanken ihrer „Erzeugung von einer gemeinschaftlichen Urmutter durch die stufenartige Annäherung einer Tiergattung zur anderen, von derjenigen an, in welcher das Prinzip der Zwecke am meisten bewährt zu sein scheint, nämlich dem Menschen, bis zum Polyp . . . " . V 418 f. — Wie tiefgreifend die Wandlung von dogmatisch-übersinnlichen Voraussetzungen zum regulativen Prinzip einer streng und ausschließlich empirischen N a t u r forschung in Kants eigenen Überlegungen zur Naturphilosophie gewesen ist, kann man ersehen, wenn man diese Passagen aus der Dritten Kritik (§§ 80 bis 82 a; V 417/8 ff., 428 a) mit den, schon kritisch gefärbten, Erwägungen zum Thema des Entstehens von Organismen im Rahmen des Einzigmöglichen Beweisgrundes von 1763 (II 114 f.) vergleicht. Die Frage nach der „ersten Erzeugung" des Menschen ist übrigens hier noch ausgespart. — Hinzugefügt sei

202

(S. 357 Β

Sil)

323

müssen also an die Stelle jener dogmatischen Alternative treten, wonach es entweder ein Erstes Paar in der als endlich behaupteten Welt gibt, — oder aber das immer schon Gewesensein von Menschen (ebenso wie aller anderen Arten von Weltwesen) in der Sempiternitas des Gesamtgefüges. Auch hier wird also der Regreß nicht als ein sozusagen gleichlaufender Rückgang „ins Unendliche" gefordert, sondern nur als ein „unbestimmbar fortgesetzter". Auf welche Erscheinungsbedingungen man treffen kann, bleibt immer offen; sicher ist nur, daß der Forschende nirgends auf eine absolute Grenze treffen kann. Die „Auflösung" der ersten kosmologischen „Aufgabe", wie sie sich also nun aus der „Auflösung der kosmologischen Dialektik" des Ersten Widerstreits als neue Position herausschält, stimmt also in Einem Punkte mit der Aussage der Infinitäts-Dogmatiker überein: die Thesis einer schon durch den Vernunftbegriff fixierten Endlichkeit der Welt muß negiert werden (6. Absatz). Aber die Begründung dafür (welche der 7. Absatz noch einmal gibt) ist, wie die Anmerkung betont, eine ganz andere als die jenes Antithesis-Beweises. Solange Welt wie ein an sich seiendes Ganzes aller Dinge angesehen wurde, muß te die Endlichkeitsthese zu solchen Rätselfragen führen, wie der nach dem Wann des zeitlichen Weltanfangs und nach dem Wo der Welt im unendlichen Räume. Mit der Bestreitung eines derartigen „Stellen"-Verhältnisses zur Zeit und zum Räume, erfolgend aus der Einsicht, daß beide rein als solche und absolut leer gedacht, „nichts" sind, mußte sich dort die Gegenposition ergeben: wirkliche (aktuale) Weltunendlichkeit. Beim neuen Standpunkt ist das anders. Die auf jene Negation folgende „bejahende" Antwort spricht nicht von einer absoluten Größe, sondern von einer Relationskette, deren Erforschung uns aufgegeben ist, in indefinitum. An die Stelle eines angeblich, so oder so, quantitativ Bestimmten ist das „Bestimmen" selbst getreten, aus dessen fortgehender Leistung immer erst erfahrene Weltgröße „wird". — Die II. „Auflösung", welche zur „Aufgabe" der Teilungs- und Unterteilungsforschung führt, hat zunächst den gleichen Grundsatznoch, daß Kant nach Notizen des Opus postumum auch mit der Möglichkeit mehrmaliger Entstehung der „Menschenspecies" unter den organischen Naturwesen bei zurückliegenden „Erdrevolutionen" gerechnet hat. X X I 212, 214. Daß unzählige organische Wesen vor der Existenz des Menschen auf der Erde gelebt haben, erschließt er aus zeitgenössischen Forschungen der jungen Wissenschaft der Paläontologie. X X I 215.

324

(S. 357 Β 551)

charakter: was im Teilbar-Gegebenen wirklich elementar ist (im Sinne von Elementarteilchen), kann immer nur empirisch und also relativ festgestellt werden; und audi hier kann es keine absolute Grenze der Unterteilung geben — keine „Atome" (im „transzendentalen" Sinne des absolut Un-Teilbaren) und keine „Monaden" als schlechthin einfache Substanzen. Aber hier ist uns nun der Rückgang zu den Aufbau-„Bedingungen" als Regreß in infinitum aufgegeben — worin größere Bestimmtheit für die Forschung liegt. Welt als Ganzes kann nie in der Anschauung gegeben sein, sondern allein in abstracto gedacht werden und der mit Anschauung verbundenen Forschung „aufgegeben" sein. Wohl aber sind uns in der Welt ständig Ganzheiten (relative) anschaulich gegeben; — jeder Körper ist dafür ein Beispiel. Falsch wäre es, von solchem Gegebensein auf die Bestandsmenge und -art der ein solches (als „zusammengesetzt" aufgefaßte) Ganzes konstituierenden Elementareinheiten zu schließen; das war eben der Fehler, welcher zum Widerstreit führen mußte. Aber die Teilung, in welcher allein Teilglieder „angetroffen" werden können (dies immer audi mit einem Hinausblicken auf noch weitere Teilungsmöglichkeiten), ist hier, bei diesem anschaulich gegebenen Ganzen, von der Art, daß man gewiß sein kann, immer wieder positiv-reale Gegebenheiten aufzufinden in der sukzessiven Erforschung — anders als bei jenen Beispielen im Hinausblicken auf etwa äußerste Weltkörper oder erste Menschen. — Bevor Kant das näher ausführt, zuerst im Vorgriff auf naturphilosophische Bestimmung von Materie überhaupt (2. bis 4. Absatz), und dann im Hinblick auf Organismen (5. Absatz), warnt er nochmals davor, den Infinitheitscharakter dieses unserem empirischen Erkennen aufgegebenen Rückgangs zu den inneren Bedingungen eines jeweils Gegebenen zu verwechseln mit jener ontisdien Infinitätsdoktrin in der Antithesis der Teilungsantinomie: dort wurde fälschlich das Vorhandensein einer „unendlichen Menge" von Elementareinheiten in jedem Ganzen statuiert — so in dem Weltbegriff der „Monadisten"203. 203

In den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" von 1786, deren Zweites, die raumfüllende Materie (unter dem Titel „Dynamik") behandelndes Hauptstück in seinem ersten Abschnitt unmittelbar auf der Kritischen Entscheidung des Zweiten Widerstreits aufbaut, heißt es im Rückblick auf die dogmatische Metaphysik und Naturphilosophie: der Grund der Verirrung in den Lehren, welche „den Raum aus Punkten und die Materie aus einfachen Theilen" zusammengesetzt denken wollten, liege „in einer übel ver-

(5. 3S7 Β SSI)

325

Schon jeder wirklich gegebene Raum unserer Umwelt (etwa ein Wohnraum) ist ein anschauliches Ganzes. (Im Gegensatz zum Raum überhaupt: als welcher zwar als eine unendliche gegebene Größe „vorgestellt" wird, wie es im vierten Argument der Metaphysischen Erörterung — S. 53 Β 39/40 — hieß, aber dodi nie als wirkliche Totalität gegeben sein kann; wir haben realiter immer nur „die Grenzenlosigkeit im Fortgange der Anschauung", diese aber als notwendige). Daß jedes solche Raumganze, rein als solches schon, ins Unendliche teilbar ist, das lehrt mit der spezifischen Deutlichkeit der reinen Anschauung, welche Evidenz genannt wird, die Geometrie. Hier sind die Teile nicht „vor" ihrem Zusammen, sondern können nur in ihm, durch Grenzziehung, angeschaut werden. Die „inneren" Bedingungen jedes in seinen Grenzen angeschauten Raumes sind wiederum Räume. Ein Raum als soldier ist nicht eigentlich ein „Zusammengesetztes" aus selbständigen Teilbeständen, sondern — ein teilbares Totum204. Das gleiche gilt nun aber auch für jedes Wirkliche im Raum, für jeden umgrenzt angeschauten Körper, jedes Stück Materie in aller möglichen Erfahrung. Alle Gegenstände der Erfahrung sind gegründet auf die Grundsätze der Analytik; und deren erster (als „mathematisch" charakterisiert, obzwar von philosophischer Gewißheit) statuierte, daß „die reine Mathematik in ihrer ganzen Präzision auf Gegenstände der Erfahrung anwendbar" ist: ζ. B. eben in der Lehre von der „unendlichen Teilbarkeit" 205 . standenen Monadologie, die (sc. in Wahrheit) gar nicht zur Erklärung der Naturerscheinungen gehört, sondern ein v o n Leibnizen ausgeführter, an sich richtiger platonischer Begriff v o n der Welt ist". Welt, als „das Zusammengesetzte der Dinge an sieb selbst" (also noumenale, „bloß intelligible" Welt, die für uns unbekannt ist!) muß freilich „aus dem Einfachen bestehen". Aber in unserer Welt, deren Wesensformen die Anschauungskontinua Raum und Zeit sind, „besteht" nicht das Zusammengesetzte aus dem Einfachen, „weil in der Erscheinung . . . die Theile nur durch Theilung und also nidit vor dem Zusammengesetzten, sondern nur in demselben gegeben werden können. I V 507/8. 204

S. 304 Β 466: „Den Raum sollte man eigentlich nicht Compositum sondern Totum nennen, weil die Teile desselben nur im Ganzen und nicht das Ganze durch die Teile möglich ist." — N u r die „Chicane einer verfehlten Metaphysik" konnte, so heißt es in den Metaphysischen Anfangsgründen, die „evidenten Behauptungen" der Mathematik bestreiten und das Raumkontinum als „verworrene Vorstellung" eines in Wahrheit aus Punkten Zusammengesetzten erklären. I V 505, 507.

205

S. 151 Β 206. „Die empirische Anschauung (sc. eines Körpers oder einer Bewegung) ist nur durch die reine (des Raumes und der Zeit) möglich; was also die Geometrie v o n dieser sagt, gilt auch ohne Widerrede von jener . . . " . „Alle Ein-

326

(S. 357 Β 551)

Die Antinomie ging von dem Begriff „zusammengesetzte Substanz" aus; und man könnte meinen (4. Absatz unter II), Substanz sei per definitionem das selbständige „Subjekt aller Zusammensetzung"; hier also sei die Sachlage anders als bei der Kontinuität und Teilbarkeit des Raums als solchen. Dergleichen mag für „Ding an sich", nach bloßen Begriffen gedacht gelten (wo aber Räumlichkeit auch nicht infrage kommt). Wir aber können von „Substanz" an sich (substantia noumenon, absolutes „Subjekt") nichts wissen. Wir haben es immer nur mit der substantia phaenomenon zu tun, die in Verhältnissen (des Beharrlichen gegenüber dem Wechselnden) besteht. In einem Anschauungsgegebenen kann „nichts Unbedingtes" — nichts Einfaches und auch keine „unendliche Menge" angetroffen werden: die Dekomposition kann „niemals alle Zusammensetzung wegschaffen". (Der hier gebrauchte Ausdruck „Bild" für das Beharrliche in der Erscheinung entspricht den früheren Bestimmungen im Rahmen der Analytik und speziell des „Schematismus^Abschnitts20®.) Materie, alles raumkörperlich Erscheinende, enthält „nichts als Verhältnisse", solche des Ortes, der Veränderung, sowie „der Gesetze, nach denen diese Veränderung bestimmt wird (bewegende Kräfte)", hieß es in der transzendentalen Ästhetik (S. 69 Β 66/7). Hebe ich diese Verhältnisse — jetzt also die des Teilungs-Regressus — auf, so bleibt „nichts" übrig, „nichts Selbständiges" in irgendwelchem Sinne207. Positiv ausgedrückt heißt das: das Problem weiterer innerer Bedingungen bleibt auch bei den kleinsten materiellen Teilchen, auf welche unsere Forschung etwa stößt (Elementarteilchen) immer bestehen. Das „Gewiirfe dawider sind nur Chicanen einer falsch belehrten Vernunft, die irriger Weise die Gegenstände der Sinne von der formalen Bedingung unserer Sinnlichkeit loszumachen gedenkt . . 206

S. 137 Β 182: „Das reine Bild aller Größen (quantorum) vor dem äußeren Sinne ist der Raum bald danach: „das Schema der Substanz ist die Beharrlichkeit des Realen in der Zeit . . D i e allgemeine Bestimmung lautet vorher: „ . . . das Bild ist ein Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft, das Schema sinnlicher Begriffe . . . ein Produkt . . . der reinen Einbildungskraft a priori, wodurdi und wornach die Bilder allererst möglich werden . . 1 3 6 Β 181. — Einbildungskraft in diesem Sinne ist nach Kants Theorie der Erfahrung „ein notwendiges Ingredienz der Wahrnehmung selbst" — Funktion der Synthesis. IV 89 A 120 a.

207

Der Passus über den Raum im 4. Absatz ist im Sinne der Dogmatiker, etwa der Monadisten, gefaßt: sie würden „allenfalls zugeben", daß der Raum als solcher ins Unendliche teilbar ist und nicht aus Elementareinheiten besteht; doch handele es sich dabei ja nur um ein ens imaginarium.

(S. 357 Β 551)

327

setz" der unendlichen Teilbarkeit ist also ebenso ein geometrisches wie ein solches der „reinen Naturwissenschaft". Hier gilt eben, daß die Teilung der Materie immer wieder auf Materie stoßen muß; daher: in infinitum208. Der 5. Absatz geht also nun noch vom allgemeinen Thema der „bloßen" Raumerfüllung, welche wir „Materie" nennen, über zu jener besonderen Art von Körpern, anschaulichen Ganzen der Naturerfahrung, wo die Teile, welche wir unterscheiden und immer weiter in der Dekomposition (Anatomie!) zu unterscheiden lernen, den Charakter von Organen haben: „Gegliederte organische Körper". Sie gerade stellen sich für uns, schon im bloßen Anschauen, als Ganzheitsgefüge von komplexer Art dar: „zusammengesetzte Substanzen" im Sinne der Antinomieformeln. Das Thema mußte, wie hier mitzubedenken ist, für Kant schon deshalb von besonderer Aktualität im Rahmen des Unterteilungsthemas sein, weil die „Monadisten" in der Leibniz-Nachfolge die Organismen (entgegen der Cartesianischen Tendenz, sie als reine Mechanismen-Aggregate zu verstehen) als „natürliche Maschinen" auffaßten; — ein Ausdruck, welchen Kant übrigens auch immer, bis ins Opus Postumum hinein, gebraucht; er klingt auch hier im Ausdruck „Kunstteile" (Mitte des Absatzes) an. Zu deren Charakter gehörte ebenso eine zentral organisierende Einheit (Monas) wie das Subdivisiert- oder Gegliedertsein von der Art, daß audi die kleinsten Teilglieder wiederum Maschinen sind; eben das unterscheide alle Organismen von künstlichen Maschinen, wie sie der Mensch herstellt. Die organischen Körper, auch die kleinsten, galten da also als Infinitätsgebilde: Substanzen, welche zugleich von spontan-teleologischer Art (also „einfach" wie Menschenseelen) waren und — Aggregate von unendlicher Zusammengesetztheit. Was Kant an solcher Metaphysik des Organischen bekämpft, ist ebenso die „dogmatische" Voraussetzung des Monadisch-Einfachen, welches ja schon für „Seelen"-Substanz in den Paralogismen, als nicht 208

Vgl. den „Lehrsatz 4" im II. Hauptstück der Metaphysischen Anfangsgründe: „Die Materie ist ins Unendliche theilbar und zwar in Theile, deren jeder wiederum Materie ist." D i e ganzen Ausführungen zu diesem Lehrsatz einer „Metaphysik der Natur" im Rahmen des transzendentalen Idealismus können zur Ergänzung und weiteren Erläuterung unseres Textstücks dienen, zumal durch die gleichzeitige Auseinandersetzung Kants mit Mathematikern und Naturphilosophen der Zeit, wobei besonders wohl an Lambert und Euler zu denken ist. I V 503—508.

9 Heimsoeth, Transzendentale Dialektik II

328

(S. 357 Β ííl)

in möglicher Erfahrung anzutreffen, abgewiesen und zum bloßen Noumenon erklärt wurde, wie die nicht minder dogmatische Voraussetzung einer bestehenden, als „gegeben" vorzustellenden „unendlichen Menge". „Der wahre (transzendentale) Begriff der Unendlichkeit" ist für unser menschliches, auf Anschauung angewiesenes Verstehen der Erscheinungen, daß die sukzessive Einheit in der Durchmessung eines Quantum niemals vollendet sein kann (vgl. die Anmerkung zur Antithesis der Teilungsantinomie); also widerspricht man sich selbst, so heißt es jetzt in unserem Absatz, wenn man das Ganze eines ins unendliche gegliederten Körpers „schon als eingetheilt" vorstellt: als „eine an sich selbst bestimmte, aber (sc. zugleich auch) unendliche Menge der Teile". Auch hier muß der Gedanke des „Ganzen" als bloße „Idee" der Vernunft verstanden werden, und diese als „Regel" der Erforschung. Wir haben in der Raumwelt nie, also auch hier nicht, ein vorgegebenes quantum discretum, ein an sich selbst bestimmtes Aggregat irgendwie selbständiger Teileinheiten, sondern immer nur ein quantum continuum, welches auf Teilbestände hin zu untersuchen ist — in sukzessiven Schritten!209 Man kann sehr wohl bei jedem Lebewesen von „einem ins unendliche gegliederten organischen Körper" sprechen, ja man soll es auch: im Sinne des Regulativen Prinzips. Dann aber ist es, entgegen jenem Dogmatismus von unendlich vielen Gliedorganismen (worin faktisch eine Tendenz zum Panorganizismus lag — Antithese gleichsam und extremer Gegensatz zum Panmechanismus der Cartesianer!), nicht möglich, a priori schon darüber zu entscheiden, wo etwa bei fortschreitender Subdivision der spezifische Charakter des Organischen aufhört und „bloße" Materie sich zeigt, als welche nach rein mechanischen Gesetzen sich verändert. Der Infinitätscharakter des Regressus gilt nur dem Körperlichen überhaupt, dem Materiellen als solchen. Auch wenn die 209

Z u der Gegenüberstellung der beiden G r u n d a r t e n eines quantum vgl. S. 1 5 4 f. Β 2 1 1 f. N a c h d e m dort abschließenden Alltagsbeispiel eines Geldquantums, einerseits nach seinem inneren W e r t (Silbergehalt, also Q u a n t u m metallischer Materie), andererseits durch bloße Zählung eines T a l e r - A g g r e g a t s bezeichnet, heißt es: J e d e Erscheinung ist „als Einheit ein Q u a n t u m und ein solches jederzeit ein K o n t i n u u m " . D e r transzendentale G r u n d d a f ü r ist, d a ß R a u m und Zeit, ursprüngliche Wesensformen unseres Weltvorstellens, quanta continua sind. Vgl. S. 2 8 4 / 5 Β 4 3 8 ; in der A n a l y t i k S. 1 5 4 Β 2 1 1 : „ R a u m und Zeit sind quanta continua, weil kein Teil derselben gegeben werden kann, ohne ihn zwischen Grenzen (Punkten und Augenblicken) einzuschließen, mithin nur so, d a ß dieser Teil selbst wiederum ein R a u m oder eine Zeit ist."

329

(S. 360 Β 556) biologischen F o r s c h u n g e n

faktisch nicht a u f B l o ß - A n o r g a n i s c h e s

in

O r g a n i s m e n auftreffen sollten, nie bis dahin „ g e l a n g t e n " , so m u ß die Möglichkeit f ü r w e i t e r e n R ü c k g a n g zu den „inneren doch i m m e r offen bleiben 2 1 0 . D i e „Schlußanmerkung"

Bedingungen"

— l ä ß t schon in der U b e r s c h r i f t erkennen,

d a ß die n u n f o l g e n d e A u f l ö s u n g der als „ d y n a m i s c h e "

bezeichneten

W e l t i d e e n (unter I I I u n d I V : entsprechend d e m D r i t t e n u n d V i e r t e n W i d e r s t r e i t ) v o n g a n z a n d e r e r A r t sein w i r d , als die der z w e i bisher betrachteten, d e r „ m a t h e m a t i s c h e n " . A u c h die A b s e t z u n g i m D r u c k (drei Sterne, w i e beim Lösungsschritt z u m W e d e r - N o c h - G e d a n k e n an H a n d des a l t e n Z e n o ) deutet a u f Ü b e r g a n g z u w i e d e r N e u e m . D a s n u n m e h r F o l g e n d e ist faktisch f ü r K a n t s P o s i t i o n entscheidend wichtig u n d greift auch v o r a u s a u f die G e s a m t a n l a g e seiner

Vernunft-

systematik. Zunächst w i r d rückblickend b e t o n t , d a ß die A n t i n o m i e als solche, gleichsam ihrer F o r m u n d W i d e r s t r e i t s v e r f a s s u n g nach, in allen v i e r Hinsichten „ v o n gleicher Art"

ist; d e r G r u n d des Streites ist jedes-

m a l gelegen in d e m t r a n s z e n d e n t a l e n Schein, welcher — „gemeinen 210

9*

Menschenverstände",

d a n n aber in allen

schon i m

Behauptungen

Der Terminus „transzendentale Teilung" ist (analog zu „transzendentaler Atomistik" am Schluß der Anmerkung zur Thesis des Zweiten Widerstreits) als Kontrastbegriff zu jeweilig erreichter oder erreichbarer — physikalischer oder biologischer — Subdivision zu verstehen. — Zum hier kurz aufspringenden Problem des Regulativen in der Problematik der Organismen sei angemerkt, daß Kant immer nur von „organisierter" Materie spricht; „organische Materie" sei ein Widerspruch in sich. Von manchen Teilen und Funktionen im organischen Körper spricht Kant, gemäß der neuzeitlichen (im Cartesianismus sogleich dogmatisierten) Forschungsperspektive in Ausdrücken des Medianismus (ζ. B. „alle Federn und Röhren, alle Nervengefäße, Hebel und mechanische Einrichtung desselben"); aber im tierischen Körper sind diese eben zu einem „Bau" von zweckmäßiger Art vereinigt, wobei die „Zusammenfügung außerdem noch dazu dient die Maschine zu erhalten" und zu regenerieren (II 152). Natii Konzeption des kritischen „Idee"-Begriffs sagt dann der spätere Kant ( § 6 6 der Kritik der Urteilskraft): „Es mag immer sein, daß z . B . in einem tierischen Körper manche Teile als Concretionen nach bloß mechanischen Gesetzen begriffen werden können (als Häute, Knochen, Haare)." Dodi müsse die Ursache, welche die dazu schickliche Materie herbeischafft, diese formt und an ihren gehörigen Stellen absetzt, teleologisch beurteilt werden, so daß (in diesem Sinne!) „alles in ihm als organisiert beetrachtet werden muß . . .". V 377. Entsprechend gilt für die biologische Forschung die Regel: „daß zwar das Prinzip einer mechanischen Ableitung zweckmäßiger Naturprodukte neben dem teleologischen bestehen, dieses letztere aber keinesweges entbehrlich machen könnte.". V409.

330

(S. 360 Β 556)

und Beweisgängen der Kosmologen — die raumzeitlichen Weltzusammenhänge, diese Bedingungsreihen, als im Seienden selbst und an sich „gegeben" (vorhanden) und durch Vernunft greifbar voraussetzt. Die Reihenglieder als solche sind, eben als raumzeitlich strukturierte, gleichartig (Homogeneität der Zeit wie des Raumes); und insofern kann der Rückgang zu immer höheren Bedingungen kein Ende haben. Die Anhänger des „Empirismus" (von der Art etwa des Epikur) machen daraus die Behauptung bestehender Unendlichkeit und damit der Alleingeltung solcher Verhältnisse, wie sie uns die Naturerfahrung an die Hand gibt. Die aus dem Gegenlager aber behaupten, in allen vier Fällen, ein Reihenglied als Erstes und für sich Herausgehobenes, obgleich faktisch (nur das bedeutet hier die Wendung: „an sich"!) doch jedes Glied in Raumzeit-Dimensionen als bedingt gedacht werden muß. Insofern also gilt das bisher herausgestellte Weder-Noch für alle Arten des Widerstreits; Thesen wie Antithesen müssen überall als falsch erklärt, die Ideen aber in Richtung auf Regulativ-Bedeutung verstanden werden. Ob es etwa um Welt-„Anfang" im Sinne des Ersten Widerstreits geht (Welt-„Größe" in der Zeit, „mathematische" Betrachtungsart, auf Anschauung bezogen) oder um „Ursache" (also „dynamischen" Anfang, Existenz betreifend) — in beiden Fällen geht es um die „Erstreckung" der Reihen, um deren „Größe". Die kritische Entscheidung ging dann dahin, daß alle Antithesen für unseren auf den discursus in Synthesen angewiesenen Verstand unausführbar sind; für ihn sind die so angesetzten Reihen „zu lang" (entsprechend dem „zu groß" im Fünften Abschnitt und im folgenden). Dagegen greift die Annahme von Erstgliedern „zu kurz" („zu klein"), weil wiederum jedes kategorial-synthetisch verstandene Glied auf weitere zurückweist. Daher konnte es denn zwischen den beiden Parteien vor dem Gerichtshof einer die Rechtsansprüche abwägenden Vernunft keinen „Vergleich" geben; beide Kosmologie-Lager mußten mit ihrem Wahrheitsanspruch „abgewiesen" werden — in allen vier Fällen. Aber schon unmittelbar nach der ersten „gleichartigen" Vorstellung der Widerstreitsweisen in der Tafel (S. 287 Β 443), auf welche eben jetzt zurückgewiesen wird, traf Kant eine (durch starken Druck hervorgehobene) Unterscheidung im Gesamtthema: die von „Welt" und — „Natur". Von den Weltbegriffen „in engerer Bedeutung" wurden abgesetzt die „Naturbegriffe"; und zwar wurden diese, was

(S. 360 Β 556)

331

auffallen muß, benannt als „transzendente"! Es hieß dann nodi, die Unterscheidung könnte „im Fortgang wichtiger werden" (S. 290 Β 448). Ebendas wird jetzt aktuell. In den Überlegungen über „Größe" oder „Erstreckung" der Reihen als solcher wurde ein wichtiger Unterschied vorläufig „übersehen", was „bis hierher" auch wohl geschehen konnte (2. Absatz). Dieser Unterschied liegt nicht in den Reihen selbst, sondern im Sinngehalt der Ideen, um welche es sich jeweils handelt. Achtet man hierauf, so ergeben sich (wie es im § 53 der Prolegomena zusammenfassend heißt) zwei „Klassen" der Antinomie: die beiden ersten Widerstreite gehören zu der „mathematischen", die beiden letzten zur „dynamischen" Klasse. Die Termini (welche natürlich nicht im Sinne der Einzelwissenschaften sondern transzendental zu verstehen sind) wurden von Kant zuerst in den Erläuterungen zur Kategorientafel ( § 1 1 der Analytik) verwendet: Zwei Klassen der Kategorien. Neue Bedeutung wudis dann der Unterscheidung in der Exposition der Grundsätze zu211. Jetzt, bei den Synthesisreihen der Antinomie, erhält sie ganz besondere, ja ihre eigentliche Aktualität. Beim Ersten und Zweiten Widerstreit, wo es um Größe in Zusammensetzung und Dekomposition geht, wird die synthetische Funktion auf anschaulich Gleichartiges bezogen (gleichartig in der Objektsintention der Kategorien, — zu unterscheiden von dem, was im 1. Absatz die Ausdrücke: „von gleicher Art" und „dadurch gleichartig" bezeichneten!)212. Und diese 211

S. 147 Β 199: „In der Anwendung . . . auf mögliche Erfahrung ist der Gebrauch ihrer Synthesis entweder mathematisch oder dynamisch: denn sie geht teils bloß auf die Anschauung, teils auf das Dasein einer Erscheinung überhaupt."

212

Vgl. S. 148 a Β 202 a: „Alle Verbindung (conjunctio) ist entweder Zusammensetzung (compositio) oder Verknüpfung (nexus)." Von der ersteren Art „ist die Synthesis des Gleichartigen in allem, was mathematisch erwogen werden kann . . . " . »Die zweite Verbindung (nexus) ist die Synthesis des Mannigfaltigen, so fern es notwendig zu einander gehört, wie ζ. B. . . . die Wirkung zu der Ursache —, mithin audi als ungleichartig . . . vorgestellt wird; welche Verbindung . . . idi darum dynamisch nenne, weil sie die Verbindung des Daseins des Mannigfaltigen betrifft . ..". — Im § 53 der Prolegomena heißt es: „Die mathematische Verknüpfung nämlich setzt notwendig Gleichartigkeit des Verknüpften (im Begriff der Größe) voraus, die dynamische erfordert dieses keinesweges." In der „Verknüpfung der Ursadie und Wirkung kann zwar auch Gleichartigkeit angetroffen werden, aber sie ist nicht notwendig; denn der Begriff der Kausalität (vermittelst dessen durch Etwas etwas ganz davon Verschiedenes gesetzt wird) erfordert sie wenigstens nicht". IV 343. — In der Allgemeinen Anmerkung der Schrift über die Negativen Größen hatte Kant den „Real-

332

(S. 360 Β

556)

„mathematische" Synthese bleibt, weil eben bloß auf Anschauung bezogen, auch in den „Welt"-Begriffen (der Zusammensetzung und Teilung) wesenhaft immanent. Anders steht das, wo es um „dynamische" Kategorien und deren Übergang zum Unbedingten geht: wo es sich denn um einen „nexus" von etwa Ungleichartigem und um „Existenz" der Dinge handelt. Hier kann ganz neue Erwägung einsetzen — in Richtung eben auf das, was Kant schon einleitend „transzendente Naturbegriffe" genannt hatte. Schon in der Anwendung etwa des Kausalbegriffs auf Erfahrungsgegebenheiten kann ja eine Ursache offenbar ganz „ungleichartig" gegenüber ihrer Wirkung sein. Vielleicht kann also als Ursache für Existenz von Welterscheinungen eine solche wenigstens gedacht werden (wenn auch nicht dogmatisch als existent behauptet und erkannt), welche nun überhaupt nicht zur Reihe „sinnlicher" Ursachen gehört, als für welche immer der „Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetze der Kausalität" gilt: nämlich eine „bloß-intelligible", ihrerseits von Raum und Zeit gar nicht betroffene Ursache? Das wäre dann eben ein „transzendenter Naturbegriff"; und Analoges könnte für ein Ens necessarium gelten, das nicht zu den Raum- und Zeitreihen gehörte und nicht aus ihnen zu erschließen wäre! Das so von der Vernunft Gedachte wäre dann eben grundsätzlich und schlechthin „ungleichartig" gegenüber allem, was uns als Realität der Erfahrungswelt vor dem Sinn steht. Es ist die kantische Position des transzendentalen Idealismus, welche diese „ganz neue Aussicht" auf mögliche Beilegung des Streits in dieser Klasse der dynamischen Antinomien eröffnet; — Aussicht auf einen „Vergleich" der Parteien, welcher die „Prätension" der Vernunft, ihren Anspruch auf Denken unbedingter Ursache und eines absolutnotwendig Existierenden in Einklang setzen könnte mit der ganz unverkürzten Aufgabe, in den Erscheinungsreihen ausnahmslos und unabsehbar fortzugehen bzw. rückzufragen. Indem dieser neue Idealismus alles raumzeitlich Existierende als Weit der Erscheinung faßt, welcher allenthalben und im Ganzen ein Ang r u n d " dem bloß „logischen" G r u n d - F o l g e - V e r h ä l t n i s durch die F r a g e entgegengestellt: „ . . . wie soll idi es verstehen, daß, weil Etwas ist, etwas anderes sei?" „ . . . der Wille Gottes enthält den R e a l g r u n d v o m Dasein der W e l t . D e r göttliche Wille ist etwas. D i e existierende W e l t ist etwas ganz anderes. Indessen durch das eine wird das andre gesetzt." I I 2 0 2 . — Die empirische Ungleichartigkeit in den meisten Kausalverhältnissen hervorzuheben, lag K a n t immer schon von Locke und H u m e her nahe.

(S. 360 Β

333

556)

sich-Seiendes „zugrunde" liegt, kann er auch den alles Empirische transzendierenden Gedanken einer „bloß intelligiblen Ursache der Erscheinungen" denken 213 . V o n dem „Erfolg der Antinomie" als solcher2U,

welcher ja, nach

der kritischen Entscheidung, die Einsicht in die Falschheit ebenso der Thesen wie der Antithesen war, ist diese neue Aussicht offenbar „gänzlich verschieden". Bei den mathematischen Antinomien mußte es beim Weder-Noch allein bleiben; denn Weltbegriffe „im engeren Sinne" können

gar nicht aus den Reihen der „Sinnenwelt" hinaus-

führen. D a ß allen Erscheinungen das Ansich-Seiende, bloß Intelligible zugrunde liegt, gilt natürlich auch hier. Aber von der bloßen Anschauung her führt dahin kein Weg. Anders ist das bei den dynamischen Reihen. Hier kann den Vernunftgrundsätzen, welche im unkritisch

gefaßten

widerstreiten,

Welt-

bzw.

„Natur"-Begriff

eine „berichtigte Bedeutung"

notwendig

einander

gegeben werden:

eine

solche, welche „den Mangel der Rechtsgründe, die man beiderseits verkannt hatte", ergänzt

(2. Absatz). — Wenn wir nämlich die Erst-

ursache als bloß intelligible denken 215 und uns zugleich immer bewußt 213

S. 340/1 Β 5 2 2 : Die „nichtsinnliche Ursache" der erfahrbaren und nach Grundsätzen erkennbaren Gegenstände in Raum und Zeit ist uns zwar „gänzlich unbekannt". „Indessen können wir die bloß intelligibele Ursache der Erscheinungen überhaupt das transzendentale O b j e k t nennen . . . " . „Diesem transzendentalen Objekt können wir allen Umfang und Zusammenhang unserer möglichen Wahrnehmungen zuschreiben . . . " . „Die Erscheinungen aber sind ihm gemäß", — bei aller Ungleichartigkeit von Sinnlichem und Intelligiblem. (Dieses „gemäß" wird zunächst im Thema der Kausalität durch Freiheit bei Handlungen der Menschen — empirischer und intelligibler Charakter — wichtig werden.) Vgl. auch etwa I V 246 A 394, wo von der „absoluten und inneren Ursache äußerer und körperlicher Erscheinungen" die Rede ist.

214

Die von Hartenstein seinerzeit eingeführte und von der Akademieausgabe übernommene Lesart: Erfolg der „mathematischen Antinomie" scheint uns nicht zwingend. Für alle Antinomien fallen, wie es noch in dem gleichen Absatz jetzt heißt, die „dialektischen Argumente" beiderseits weg. Die neue „Auflösung" im Sinne des Sowohl — Alsauch ergibt sich erst durch die „Berichtigung" der in den dynamischen Antinomien verwandten Begriffe im Sinne der idealistischen Position mit ihrem (nur hier ergiebigen) Ausblick auf Noumena und des damit gegebenen Regulativen Prinzips. Vgl. auch S. 364 Β 5 6 3 : „ . . . allen transzendentalen Ideen gemein . . . zu groß oder zu klein ausfallen müßte. Die dynamischen Vernunftbegriffe aber . . . " .

215

Vgl. ζ. B. S. 116/7 Β 146; S. 127 Β 165. Mit der reinen Kategorie Kausalität — Dependenz kann eine bloß-intelligible „Ursache" für alles uns Erscheinende gedacht werden, ohne daß dieselbe darum auch „spekulativ" erkannt werden könnte.

334

(S. 362/3 Β 560)

bleiben, daß die „Reihen" solche von bloßem Verhältnis- und Erscheinungscharakter sind, dann könnten beide Ansprüche zu ihrem Rechte kommen und die so berichtigten Aussagen „beide wahr" sein. Das was die Antithesen wollten, würde uneingeschränkt für die Sinnenwelt und ihre Existenzverknüpfungen gelten (Kausalverknüpfungen und, was die Seinsmodalität anlangt, solche von bloß hypothetischer Notwendigkeit). Keinem Verstandesgrundsatz wird also Abbruch zugemutet. Der Vernunft aber, welche nach dem Unbedingten der Ursache und der Existenznotwendigkeit verlangt, kann Genüge getan werden durch den Ausblick auf Ubersinnliches „vor" und „außer" allen Reihen, in denen unser Wirklichkeitser&eraraen (Exposition der Erscheinungen) sich vollzieht. Da uns das Intelligible als solches unbekannt und unerkennbar sein muß, so kann hier allerdings nicht behauptet werden, wie das dogmatische Metaphysik beanspruchte, sondern es kann der neue Lösungsgedanke (jedenfalls hier, im Rahmen der Dialektik-Kritik) nur „zugelassen" werden. Kants grundsätzliche Unterscheidung von „Denken" und „Erkennen" wird nun eben wieder höchst aktuell. — Nach der vorläufigen Ubersicht des Ideen-,,Systems" (Tafel S. 287 Β 443) geht es hier (bei der „III. Auflösung . . . " ) um „absolute Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung" ae . Jede Welt-„Begebenheit", als zeitliches Geschehen, bedeutet „Ubergang aus dem Nichtsein eines Zustandes in diesen Zustand" 217 ; und solcher Übergang weist notwendig zurück auf erwirkende Gründe, auf „Ursachen". Die reine Relationskategorie „Kausalität und Dependenz" sagt nichts aus über Art und Möglichkeit solchen Erwirkens; in ihr liegt also auch nur der 216

Der auch noch in der Akademieausgabe beibehaltene Plural „Ideen" (gegensätzlich zu den Titeln I, II und IV) beruht wohl auf einem Versehen: Nachwirkung des vorangegangenen Titels „Schlußanmerkung . . . Ideen", welcher auf III und IV vorausdeutet. D a ß im folgenden, wie schon in der Thesis der Antinomie, zwei Anliegen miteinander sich verbinden: Erste Ursache der Weltreihe als solcher (etwa: Erster Beweger) und Freiheitsanfänge im Laufe der Welt (in menschlichen Handlungen), könnte den Plural nicht rechtfertigen, da grade nach Kants Lehre die Vernunftidee dabei nur eine ist.

217

D a es sich in der Antinomie um „Sinnenwelt" handelt, um die „Entstehung" von Erscheinungen, geht es für unser „Ableitungs"-Problem nicht um Ursachen des Entstehens von Substanzen, die aus Nichtsein ins Sein gelangten (wie bei der Schöpfungslehre: Ursprung aus Nichts), sondern um das Eintreten von „Zuständen". Vgl. S. 177 Β 251.

(S. 362/3 Β ¡60)

335

abstrakt-allgemeine Gedanke der „Ableitung" von Dependentem aus einem bestimmten Realgrunde218. Im ersten Satz des 1. Absatzes erklärt Kant die beiden im Dritten Widerstreit herausgestellten Arten des Erwirkens (deren zweite die Antithesis bestritt) für die einzig möglichen bzw. uns denkbaren. Es könnte naheliegen, diese Fixierung (historisch angesehen eine entschiedene Verengung gegenüber der klassischen, auf Aristoteles zurückgehenden, Ontologie der vier Arten von Ursachen) als eine Fortwirkung des Cartesianischen Substanzen-Dualismus zu deuten; und wiederum könnte auch von heutigen Kausalerwägungen in differenten Seinsregionen her Kants Alternative befremden. Aber Kant hat es ja hier, in der transzendentalphilosophischen Grundlegung, nicht mit spezifischen Erfahrungen von Realem zu tun, sondern mit apriorischen Denkmöglichkeiten, wie sie in der Vernunft selbst gegründet sind. Und da kommt eben nur diese Alternative in Betracht: Ursachen, die ihrerseits bedingt sind (Glieder in einer unabschließbaren zeitlichen Regreßreihe) und — unbedingtes, spontan-bestimmendes Erwirken219. Die erstere Kausalität, die „nach der Natur" (Natur im engeren 218

Das uns geläufigere Wort „Erklärung" würde das Thema sogleich auf Ableitung nach Erfahrungsanalogien verengen (vgl. etwa: Erklärung vorkommender Erscheinungen S. 334 Β 511 f.). Wenn so etwas wie „Erzeugung und Hervorbringung aus Freiheit" (S. 333 Β 509; das Bildwort „Erzeugung" will auf den Ursprungscharakter im Erwirken neuer Zustände hinweisen) als Entstehungsgrund gewisser Weltbegebenheiten notwendig zu „denken" sein sollte, so muß das noch durchaus nicht heißen, daß dieses dynamische Bedingungsverhältnis auch anschaulich gegeben, verständlich gemacht („exponiert"), als gegenständlicher Zusammenhang erkannt werden könnte!

219

Das Thema spezifischer Arten von Kausalität im empirischen Sinne tritt bei Kant, als eigenes Anliegen, erst mit der Kritik der Urteilskraft auf: mit dem Problem der „besonderen Gesetze" und dabei speziell mit dem Thema der Organismen. Bezüglich letzterer heißt es im Opus postumum: nur ein immaterielles „Substrat" könne den Grund der Möglichkeit organischer Körper enthalten. „Deshalb aber ist man nicht berechtigt, diese wirkende Ursache als eine dem Körper einwohnende Seele oder (als) Weltseele anzunehmen, sondern es ist nur eine wirkende Ursache nach der Analogie einer (sc. freien) Intelligenz, d. i. eine Ursache, die wir uns auf keine andere Art vorstellig machen können, weil es ganz andere Arten der Kräfte und Gesetze, nach denen sie wirken, geben mag, als die unseres Denkens sind." X X I I 506/7 (kursiv von mir). — Nach der Kritik der Urteilskraft ist, was die Ableitung organischer Entstehungsvorgänge, ζ. B. solcher der „Erzeugung" im biologischen Wortsinne, anlangt, die „mechanische Erklärungsart" (nach den allgemeinen Naturgesetzen zwar ganz unbeschränkt; aber „das Vermögen damit allein auszulangen ist

336

(S. 362/3 Β 560)

Sinne!220) setzt nicht nur für das, was „geschieht", Zeitform voraus, sondern auch für die Ursache selbst und deren Wirksamkeit. Gemäß dem „Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetze der Kausalität" sind Erscheinungen überhaupt, Wirkungen wie Ursachen, „ins-gesamt Veränderungen, das ist ein sukzessives Sein und Nichtsein der Bestimmungen (Zustände) der Substanz, die da beharrt" 221 . Der „vorige" Zustand, aus welchem der jetzige mit Notwendigkeit erfolgt, ist seinerseits nicht „jederzeit gewesen" (wie in den kosmologischen Entwürfen eines „Entstehens" von Welt überhaupt aus einer demiurgischen oder schöpferischen Ursache!), sondern seinerseits auch wieder entstanden, d. h. zeitlich dependent von vorangegangenen Zuständlichkeiten. Dieses Kausalitäts-Geseiz ist für Erfahrungsgegenstände, nach der Beschaffenheit unseres Verstandes . . . nicht allein sehr beschränkt, sondern auch deutlich begrenzt". Immer m u ß die „Beurteilung" organischer N a t u r p r o d u k t e und ihrer Aktionen „zugleich" (!) einem teleologischen Prinzip untergeordnet werden (einem reflexiv-regulativen Prinzip!). Die Organismen weisen, auf ihre besondere A r t , hinaus über bloße Erscheinungen auf ein in sich nicht faßbares „intelligibles Substrat der N a t u r " ; — aber wir können daraus nicht den (erklärenden) „ G r u n d " nehmen f ü r den „Mechanismus" der organischen Gegebenheiten „nach diesen besonderen Gesetzen". V 417/8. — Auch die Erwägungen und kritisch-systematischen Feststellungen von dieser Art beruhen auf der in unserer Textstelle gegebenen Aussage, d a ß der Mensch „nur zweierlei Kausalität in Ansehung dessen, was geschieht, denken" k a n n ! Es geht bei der Auflösung des Dritten Widerstreits samt Regulativ-Konsequenzen zuletzt immer auch um die in der Platostelle des einleitenden „Ideen"-Abschnitts vorangedeuteten Aufgaben, vom Physischen der (kausalmechanischen) Weltordnung zu den teleologischen Bezügen „aufzusteigen". Auch das im Antinomiezusammenhang auftretende Thema des Ersten Bewegers (im Sinne des A n a x a goras und auch wieder Piatos) sieht K a n t stets im Zusammenhang der A u f gabe, auch alle nur in teleologischen Leitbegriffen faßbaren Realitäten und Zusammenhänge unserer Welterfahrung mit in den Naturbegriff hineinzunehmen und auf ein (bloß-intelligibles) Weltprinzip zu beziehen. — Ausgeführt freilich wird in unserem Textzusammenhang samt „Erläuterung" dazu nur das, was auf „Ideen"-Auswirkung durch menschliche Zwecksetzung sich bezieht. Audi in jener Platostelle setzt K a n t ja eben damit ein („Plato f a n d seine Ideen v o r züglich in allem, was praktisch ist, d . i. auf Freiheit beruht . . ." S. 246 Β 371). 220

Vgl. die Formulierungen der Antithesis: „lediglich" nach Gesetzen der N a t u r , „nichts als" N a t u r . „Bloße" N a t u r ist „nichts als Erscheinung": in „materieller B e d e u t u n g . . . der Inbegriff der Erscheinungen", in „formeller Bedeutung . . . der Inbegriff der Regeln, unter denen alle Erscheinungen stehen müssen", d. h. der Grundsätze des Verstandes. (Prolegomena § 36 I V 318). Darüber geht der N a t u r begriff der Dialektik (S. 288/9, 289/90; Β 446, 448) hinaus: er f ü h r t ja eben auf „transzendente Naturbegriffe" — so jetzt auf eine causa noumenon.

221

S. 167 Β 232/3.

(S. 362/3 Β 560)

337

äußere wie innere, physische wie psychische, „unnachlaßlich"; es duldet keine Ausnahmen. Die andere Art Wirksamkeit, welche wir „denken" können, ist „das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen", — im Gegensatz zu bloßem Fortsetzen einer schon vorgegebenen „Reihe". Die Wirksamkeit fängt ihrerseits die Reihe an. So war es etwa gemeint im Gedanken „der Alten" vom Ersten Beweger: einem noumenalen Ursprungsprinzip, das dort freilich „zur Erklärung" der Weltbewegungen (S. 312 Β 478) angesetzt wurde. Solches Erwirken muß aber dann, in jedem Falle, als seinerseits nicht zeitlich-bewegt und nicht „entstanden" gedacht werden — wenn eben doch jener Grundsatz der Zeitfolge ein undurchbrechliches Gesetz aller Erscheinungen ist. Der Aktus der Spontaneität seinerseits darf nicht verstanden werden als „Geschehen", so wie die Weltbegebenheiten, welche etwa daraus abzuleiten wären. „Nichts von der Erfahrung Entlehntes" darf man in diesen Vernunftgedanken sich einmengen lassen; und insofern bezeichnet er auch nur ein „Noumenon im negativen Verstände", das aber eben dodi von der Vernunft notwendig gedacht wird. Die Idee einer Wirksamkeit aus sich selber („aus Freiheit") stammt so wenig aus Erfahrungen (etwa des Menschenlebens), wie die Kategorie des Erwirkens überhaupt, aus welcher sie sich unter dem Anspruch des Unbedingten herausbildet. Und diese Art Wirksamkeit kann auch, wo sie etwa in menschlichen Willenshandlungen sich zeigen sollte, durch keine Erfahrung „bestimmt" gegeben werden222, — sehr anders als Kausalität nach Naturgesetzen! Vernunft „schafft sich", rein in sich und aus sich selber, die Idee, hinter welcher Erfahrungen immer zurückbleiben müssen; das Unbedingte ist auch im Thema der Kausa222

Auf menschliche Handlungen bezogen — so dürfen wir, weitvorgreifend, erläutern — kann nie eindeutig beurteilt (durch „bestimmende" Urteilskraft fixiert) werden, ob eine Tat aus reiner Spontaneität der Vernunft (aus sittlicher Gesinnung oder „Denkungsart") erfolgt oder erfolgte, oder doch nur durch „Neigungen" bedingt geschah. Die Idee kann nach der kritischen Lehre vom Regulativen Prinzip ihren Gegenstand nicht direkt vor den Sinn stellen; sie führt, anders als die anschaulich erfüllten Verstandesbegriffe, kein Kriterium mit sich. — Entsprechendes gilt, was in unserem Text noch ganz im Hintergrunde bleibt, für die „Beurteilung" organischer Naturprodukte (vgl. o. unsere Anm. 219): das darin wirksame Lebensfern, welches über alle mechanische Naturkausalität hinausliegt, darf nicht als „bestimmt gegeben" vorgestellt werden (etwa als Tier- oder Pflanzenseele, oder als Weltseele), und es darf durchaus nicht als erklärendes Prinzip gebraucht werden.

338

(S. 36213 Β 560)

lität nie gegeben, wie es der Grundsatz der Vernunft zunächst zu fordern schien — sondern immer nur „Aufgabe" für den empirischen Gebrauch. Als solche aber eröffnet sie, entgegen der dogmatischen Verengung „transzendentaler Physiokratie", ein weites Feld für andere Bezüge der „Ableitung" von Begebenheiten, als es die der Kausal-Erklärung sind. Das „Feld" der Erfahrung ist weit umfänglicher, als das Gebiet naturgesetzlichen Verstehens223. Der 3. Absatz beginnt mit dem für Kants Vernunftsystem überhaupt und insbesondere dann für Entwurf und Ausführung seiner späteren „Metaphysik der Sitten" entscheidend wichtigen Satz, daß der „praktische" Begriff von Freiheit (Freiheit des Handelns) sich auf diese von der Vernunft allein geschaffene Idee „gründe" — „überaus merkwürdig", wenn man bedenkt, daß der spekulativ-kosmologisdie Gedanke eines ursprünglichen und also nicht bedingten Erwirkens von Weltbegebenheiten allem Interesse an der konkret-alltäglichen Erfahrung menschlicher Willensentscheidungen und der damit verbundenen subjektiven Uberzeugung völlig fern zu liegen scheint. Freiheit des Menschen in der Welt, in seiner Wirksamkeit auf Weltverhältnisse (Kernthema in Kants Kritik der praktischen Vernunft 224 ist ein komplexer Begriff; er kann im Rahmen rein spekulativer Erwägungen nur den Grundzügen nach antizipiert werden. Kant definiert zunächst negativ: Freiheit wovon. Der Lebensrahmen, in welchem sie auftritt, ist das „Begehrungsvermögen" und, damit verbunden, die „Willkür". Auch tierische Lebewesen haben dieses Vermögen: Fähigkeiten des Bevorzugens eines Triebziels vor dem anderen. Ihre Art Willkür ist aber eben nur vernunftlos (arbitrium brutum) 225 . Sofern bloß „Antriebe der Sinnlichkeit" die Willküraktio223 Yg] J ¡ e Unterscheidung v o n „Feld", „Boden" und „Gebiet" in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft. V 174 ff. 224

Gleich in der Vorrede des Werkes heißt es: „Der Begriff der Freiheit, so fern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, macht nun den Schlußstein v o n dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen Vernunft aus . . . " V 3/4.

225

Tiere verfahren in ihren Strebungen „bloß instinktmäßig"; die „Ausstattung mit Instinkten" nennt Kant „mechanische Anordnung" des tierischen Daseins. Instinkt heißt ein „gefühltes Bedürfnis . . . , etwas zu tun oder zu genießen, v o n man doch keinen Begriff hat"; „innere Nötigung des Begehrungsvermögens zur Besitznahme" eines Gegentandes der Begierde, ehe man ihn noch kennt (Beispiele: „der Begattungsrieb, oder der Älterntrieb des Tieres, seine Junge zu schützen"). Kant stellt die Ausstattung des Organismus mit solchen Anlagen

(S. 362/3 Β ¡60)

339

nen eines Lebewesens bestimmen, vollziehen diese sich „nach Naturgesetzen", nicht anders als Naturvorgänge sonst. Die Triebe und Impulse „nötigen", so oder so, zum jeweiligen Verhalten. Maßgebend ist also hier allein der „Mechanismus" der Antriebe. „Pathologisch" nennt Kant (in der Sprache seiner Zeit!) alles das im Wirkgefiige des Begehrungsvermögens, was nicht den Charakter eines Handelns sua sponte hat, wie ihn Vernunft für sich beansprucht — alles Geschehen und Vollziehen in Lebewesen also, auch in Menschen, sofern ihr Begehrungsvermögen „affiziert" wird durch „Bewegursachen" der Sinnlichkeit, sei es von außen oder auch von innen her 226 . Von „freier" Willkür wäre also da zu sprechen, wo das arbitrium nicht abhängig (dependent) ist von solchen Antrieben und ihrer Weise des Nezessitierens. Beim Menschen kann das Willkürvermögen, obzwar erfahrungsgemäß immer a u c h sinnlich bestimmt, arbitrium sensitivum (bestimmt etwa durch den Selbsterhaltungstrieb, der allen Lebewesen, die wir kennen, zugehört), zugleich doch „frei" sein und aus Freiheit handeln, wie sich besonders deutlich und besonders unzweideutig wohl dann zeigen könnte, wenn etwa ein Mensch bei extremem Lebensüberdruß sich die Selbsttötung und den „ H a n g " dazu verwehrt



nicht aus Furcht („pathologischer Antrieb"), sondern aus Pflicht 227 . unter den allgemeinen Titel der „physischen und bloß mechanischen Selbstliebe" (Selbsterhaltungstrieb), „das ist einer solchen . . . wozu nicht Vernunft erfordert wird". I V 26; V I I 265. 226

In Kants Anthropologie und Moralphilosophie heißen alle „Neigungen" und alle „Gefühle" (mit einer einzigen Ausnahme: Gefühl der Achtung) pathologisch; der Gegensatz dazu, reine Selbstbestimmung aus sittlicher Gesinnung, heißt: „praktisch". Vgl. etwa die Gegenüberstellung von „praktischer" und „pathologischer" Liebe in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: jene liegt im (guten) Willen, diese „im Hange" der Neigung. I V 399 f. Die „pathologischen" Triebfedern, die der Natur in jeder Art von Lebewesen, haben als soldie keinerlei pejorativen Akzent (wie er in unserem Sprachgebrauch ja immer anklingt); moralisch angesehen sind sie „unschuldig" und keineswegs als solche zu bekämpfen. Vgl. ζ. Β. X X 346 f.

227

Erstes der vier Verdeutlichungsbeispiele in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten". I V 421/2, 429. — In Rahmen unseres Werkes (S. 521 Β 830) hat K a n t ein zweites Mal, ganz ähnlich wie im jetzigen Passus, den Begriff eines arbitrium liberum und damit der „praktischen Freiheit" eingeführt. Während aber der Dialektiktext unmittelbar vom arbitrium sensitivum zum praktischen Vermögen einer Selbstbestimmung aus reinen (d. h. kategorischen) Sollensprinzipien vordringt, wird an der Stelle im „Kanon der reinen Vernunft" auch das die menschliche Willkür von aller tierischen abhebende Vermögen aufgeführt, „durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder

340

(S. 362/3 Β 560)

Ein „ganz anderes" Vermögen tritt hier offenbar in Aktion: Fähigkeit, sein Verhalten „von selbst" zu bestimmen, unabhängig von aller Antriebsnötigung von der Art, wie sie in Menschen wie in Tieren waltet228. Wirkungen „praktischer Freiheit" in diesem Sinne könnten freilich in der Welt nicht vorkommen, wenn der dogmatische Empirismus zu Recht bestünde; keine der Weltbegebenheiten (etwa der Geschichte) könnte dann aus Taten und Entwürfen menschlicher Freiheit abgeleitet und auf deren Möglichkeiten hinbezogen werden; es gäbe also nur naturhaftes Folgen und Erfolgen („natürlicher Erfolg"). Dagegen steht aber (wie der 4. Absatz, weit vorgreifend in Zusammenhänge sittlichen Vernunftsbewußtseins, aussagt) offenbar dodi der Gedanke, daß der Mensch als Wesen eines arbitrium liberum sich nach Beweggründen entscheiden und durch sie auf Weltzusammenhänge wirken könne, welchen ein Sollens-Charakter zukommt. Schon im Einführungsabschnitt „Von den Ideen überhaupt" war, in Kants Rückbezug auf Plato, der Begriff von Sollensgesetzen gegenüber den Naturgesetzen als den Regeln der Erfahrung aufgetreten (S. 249 Β 375/6); in der jetzt folgenden „Erläuterung" heißt es dazu: „Das Sollen drückt eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen (Beweggründe als Bewegursachen!) aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt"; „es mögen noch so viele Naturgründe sein, die mich zum Wollen antreiben (!), noch so viele sinnliche Anreize, so können sie doch nicht das Sollen hervorbringen . . . " (S. 371 Β 575 f.). Was sein solle, wie etwa die nach Kant von Plato vorgedachte Idee einer „ Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, daß jede Freiheit mit der anderen ihrer zusammen bestehen kann" (S. 247 Β 373), vernunfthafte Leitidee einer Gesetz-gebung —

228

schädlich ist", sich bestimmen zu lassen und insofern das, „was reizt, d. i. die Sinne unmittelbar (!) affiziert", durch vernünftige Überlegungen im Hinblick auf „unseren ganzen Zustand" (des Lebensglücks) zu überwinden — was in der Zweiten Kritik dann „technisch-praktische Vernunft" heißt. Diese Art „Freiheit" und „Kausalität der Vernunft in Bestimmung des Willens" ist aber nach Kant auch nodi „als eine von den Naturursachen" anzusehen! In den Pölitz-Vorlesungen (S. 107 f.) unterscheidet Kant zwei Arten v o n causae impulsivae, welche die Willkür des Menschen bestimmen: „die sensitiven sind stimuli oder Beœegursachen, Antriebe. D i e intellektuellen sind Motive oder Bewegungsgründe". Bei Tieren „haben die stimuli vim necessitantem; aber bei Menschen haben die stimuli nicht vim necessitantem, sondern nur impellentem" D e r Mensch fühlt „ein Vermögen in sich, sich durch nichts in der Welt zu irgend Etwas zwingen zu lassen: liberum arbitrium transcendentale".

(S. 362/3 Β 560)

341

das bestimmt nicht die Erfahrung, sondern allein eine Vernunft, die ihrerseits Erfahrungswirklichkeit durch Handlungen bestimmen will. Solches Sollen richtet sich, wie jetzt an unserer Stelle bemerkt wird, auch nicht nur auf erst nodi zu Bewirkendes, sondern es behält seinen Sinn und Anspruch selbst da, wo das ideell Geforderte faktisch nicht geschah! Unsere Beurteilung vergangener Welt-„Begebenheiten", ζ. B. eigenen früheren Verhaltens, sagt aus, daß das Versäumte eben doch hätte „geschehen sollen". Sofern solches Urteilen Sinn und Wahrheit hat, deutet es offenbar auf eine Unabhängigkeit (ebenso der Forderungsgesetze wie der Vernunftwesen, welche sich darauf beziehen) von jeder „Zeitordnung nach empirischen Gesetzen". Es muß demgemäß im arbitrium des Menschen ein Erwirkensvermögen liegen, welches gänzlich ungleichartig ist gegenüber allen „Ursachen in der Erscheinung": ein Vermögen, aus Bestimmungsgründen ideeller Art selbst eine Reihe von Wirkungen zu initiieren, Sollens-„Gründe" zu Ursachen einer Wirklichkeitsgestaltung zu machen. Solches Einsetzen aber entspricht, was die Grundverfassung des Gedankens angeht, genau dem allgemein-transzendentalen, vom kosmologischen Regressus aus sich ergebenden Gedanken un-bedingter, die Reihe von Wirkungen anfangender Kausalität. Die Frage menschlicher Willensfreiheit ist demnach (Absatz 5) nicht Sache der (empirischen) Psychologie; denn diese gehört (als Physiologie des inneren Sinnes) zur Naturlehre229. Vernunft hat es, anders als der Verstand, nicht mit Erscheinungsimmanentem zu tun, sondern mit Ideen, welche über das Erfahrbar-Erkennbare sich „hinauswagen". Die Aufgabe des Freiheitsthemas ist also grundsätzlich „transzendental": sie fordert Reflexion auf apriorische Begriffe und Grundsätze und, damit zugleich, Uberschritt zu Erscheinungs-Transzendentem (so wie in dem Begriff: „transzendentaler Gegenstand" oder auch „transzendentales Subjekt"). Natürlich bleibt Erfahrungspsychologie nicht unangefochten durch solchen Freiheitsgedanken; psychologische „Begebenheiten" etwa wie Reue, Verantwortlichmachen überhaupt, können ja nur im Rückbezug darauf beschrieben werden. Wenn in der Seelenlehre von „Freiheit" die 228

Vgl. 5 4 6 / 7 Β 874: „Die immanente Physiologie betrachtet . . . Natur als den Inbegriff aller Gegenstände der Sinne . . . . Es sind aber nur zweierlei Gegenstände derselben": die körperliche Natur, Inbegriff aller Gegenstände der äußeren Sinne und „Der Gegenstand des inneren Sinnes, die Seele"; die Wissenschaft von jener heißt Physik, die, von diesem Bereich Psychologie.

342

(S. 364 Β 563)

Rede ist, wird eben etwas in den Begriff des Psychischen mitaufgenommen, was nicht allein der wirklichen Erfahrung zu entnehmen, nicht in Kausalfaktoren innerer Wahrnehmung zu finden ist. (Umgekehrt macht die transzendentale Idee der Freiheit „nicht den ganzen Gehalt des psychologischen Begriffs dieses Namens aus, welcher großenteils empirisch ist", wie es schon in der Anmerkung zur Thesis [S. 310 Β 476] hieß.) Der 6. Absatz nimmt noch einmal Bezug auf die in der Kritischen Entscheidung herausgestellte neue Position, nach ihrer Bedeutung ebenso für die Auflösung der Antinomie wie für die positive Neufassung der kosmologischen Idee, im Sinne des regulativen Prinzips für das „Verfahren" der Vernunft bei ihrer „Aufgabe". Wiederum wird betont, wieso bei den dynamischen Ideen sich eine so andere Situation ergibt als vorher. In den zwei ersten Stücken der Antinomie ergab das Gegenüber und Entgegen von „endlich" und „unendlich" im Totalitätsanspruch einen „richtig disjunktiven" Satz: hier kann in der (dogmatischen) Behauptung nur ein Entweder-Oder gelten, — und in der Auflösung nur das Weder-Noch. Jetzt aber, wo es „nur" um Daseins-Bezüge geht, solche die nicht belastet sind mit der Gleichartigkeitsvoraussetzung der Zusammensetzungs- und Teilungsdimensionen, kann, „bei berichtigter Bedeutung" der Ansprüche, das Gegeneinanderstehende als vereinbar angesehen werden. Wo es nicht mehr um „Größe" in der Sache geht, da ist auch jenes „zu groß", „zu klein" der Reihenerstreckung (S. 361 Β 558 und vorher) nicht mehr allein ausschlaggebend. Für eine Entscheidungsposition, welche nicht alles, was ist und etwa sein kann, in einer und derselben Realitätsebene gelegen sieht, der vielmehr alles und jedes raumzeitlich Vorkommende als nur empirisch real, zugleich aber in seinem Uns-Erscheinen als bestimmt gilt durch „Gründe" von anderer Art und Realität, durch Ansich-Seiendes — für sie eröffnet sich Versöhnungsmöglichkeit durch die Erwägung, daß (was nun zunächst die dritte kosmologische Idee anlangt) „eine und dieselbe Begebenheit" zugleich als bedingt durch zeitlich vorangegangene Begebenheiten angesehen werden kann (und muß), also als Wirkung von Naturursachen — und wiederum auch (so im besonderen Thema menschlicher Willenshandlungen) als etwa motiviert durch eine Sollensidee im Handelnden, von da also erwirkt; — was eben denn spontaner Willenseinsatz wäre, das „Anheben" einer eigenen Reihe von Auswirkungen,

(S. 364 Β

563)

343

welches selber nicht durch bloße „Antriebe" bewirkt ist. Die Spontaneität solchen Erwirkens müßte nur grundsätzlich von nicht zeitbedingter Art, also kein zeitliches Beginnen in sich selber sein. — Im Regulativsinne würden also die beiden Leitgedanken, welche in der gewohnten Weltauffassung und im Dogmatismus der Metaphysiker einander auszuschließen scheinen, zusammengehen können, ja einander positiv ergänzen: einerseits besteht für alle Welterfahrung die „Aufgabe", in den Erscheinungsdimensionen, unbeirrt durch alle Vorstellung von „Ausnahmen", Ursachen für ein jedes Geschehen (also auch für alle „Willkür"-Handlungen von Menschen) in den vorausgegangenen Zuständen und Begebenheiten aufzudecken, im Psychischen und Psychophysischen nicht anders als im Physischen i. e. S. — und auf der anderen Seite wiederum die Aufgabe, Handlungen der Menschen, in welcher Situation auch immer sie bevorstehen, geschehen könnten oder auch geschehen sind, auf einen zeitunbetroffenen (und in diesem Sinne „beharrenden") Sollens-Sinn und auf entsprechende (künftige, gegenwärtige oder gewesene) Möglichkeit spontaner Selbstbestimmung und Wirkabsicht zu beziehen, — also auf „Kausalität durch Freiheit". Die Abschlußseite dieses III. „Auflösungs"-Abschnitts betont nodi einmal die Notwendigkeit der neuen Denkweise für befriedigende Beantwortung jener alten, immer wieder neu sidi auftuenden Frage der Metaphysik: wie menschliche Freiheit im Weltzusammenhang möglich sei230. In unserem Thema ist besonders aktuell geworden, was Kant in der Vorrede Β vom „Experiment der reinen Vernunft", das diese mit sich selber anstellt, sagte: „Die Analyse des Metaphysikers" (geleistet durch Kants transzendentale Ästhetik und die Analytik des Verstandes, deren Abschluß das Hauptstück vom Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phänomena und Noumena bildete) „schied die reine Erkenntnis a priori in zwei sehr ungleichartige (!) Elemente, nämlich die der Dinge als Erscheinungen und dann der Dinge an sich selbst. Die Dialektik verbindet beide wiederum 230

S. 14 a Β X X I a. Vgl. den Schluß der dort vorangehenden Anmerkung: „Findet es sich nun, daß, wenn man die Dinge aus jenem doppelten Gesichtspunkte (!) betrachtet, Einstimmung . . . stattfinde, bei einerlei Gesichtspunkte aber ein unvermeidlicher Widerstreit . . . , so entscheidet das Experiment für die Richtigkeit jener Unterscheidung." Vgl. audi wieder in der Kritik der praktischen Vernunft V 5/6, 6 a.

10 Heimsoeth, Transzendentale Dialektik II

344

(S. 364 Β 563)

zur Einhelligkeit (!) mit der notwendigen Vernunftidee des Unbedingten und findet, daß diese Einhelligkeit niemals anders, als durch jene Unterscheidung herauskomme, welche also die wahre ist."230® Entsprechend heißt es jetzt in unserem Text, daß Freiheit „nicht zu retten ist", wenn man der „gemeinen Meinung" und der ungeprüften Voraussetzung aller bisherigen Metaphysiker (in beiden Lagern) folgt, welche das uns in der Welt und als Welt Begegnende („Erscheinungen") für Ansich-Seiendes, für „absolute" Realität nimmt231. Nach der im Ersten Teile der Kritik herausgearbeiteten Lehre von der transzendentalen Idealität alles uns gegenständlich Begegnenden, wonach denn also alles empirisch Reale insgesamt relativ ist auf unser Auffassen und unser synthetisches Verknüpfen von sinnenhaft Gegebenem in Bedingungsrelationen, zugleich aber, als das Erscheinende, abhängig und bestimmt zu denken ist durch Ansich-Seiendes, durch nichterfahrbare „Gründe", „Ursachen" — nach solcher Auffassung von Welt und von uns selber sind beide Ansprüche, die der „Natur" und die der „Freiheit", vereinbar. Alle „empirischen Gesetze" sind solche von Erscheinungen und auch nur für diese gültig. Darum kann oder könnte eine „intelligible" Ursache durch eine gänzlich andere Gesetzesart „bestimmt" werden, eine solche, welche ihrerseits dem Zeitlichen enthoben („außer" der Kausalreihe) ist, aber in ihrem Bestimmungscharakter doch eben im davon Dependenten (Erwirkten) in Erscheinung tritt. Es kommt bei Dingen und Begebenheiten, so denn audi bei unseren eigenen Handlungen, darauf an, in „Ansehung" 2303

231

Beim Rückbezug auf die altüberlieferte Problemspannung und Gegensätzlichkeit denkt Kant vor allem immer an die Kosmologie der Stoa samt deren Ideal der Unabhängigkeit des Weisen — und zugleich an die Freiheitsdeutung im Epikureismus. Im übrigen stand der Denker seit seiner Frühzeit in der Spannungs-Atmosphäre des großen Kampfes um Geltungssinn und etwaige Einschränkung des Satzes vom zureichenden Grunde (Crusius gegen die LeibnizWolffische Schultradition). Entsprechend heißt es später, in der Zweiten Kritik, nun noch mit besonderem Bezug auf dogmatische Metaphysik aus reiner Vernunft in der Form und Vollendung, wie sie Spinoza ausgebildet hatte: „Daher, wenn man jene Idealität der Zeit und des Raumes nicht annimmt, nur allein der Spinozism übrig bleibt" — mit seiner Konsequenz des „Fatalismus". V 101 f. — Der Ausdruck „absolute" Realität steht für dasselbe, was Kant sonst zumeist „transzendentale Realität" (von Raum, Zeit, Erscheinungen: so in den §§ 7 und 8 der Transzendentalen Ästhetik) nennt; der „Lehrbegriff" seines Idealismus tritt gegen die dogmatische Voraussetzung des „transzendentalen Realismus" auf. I V 232 A 369.

(S. 366 Β}

66)

345

welcher Ursach- und Gesetzesart man Erscheinungswirkungen beurteilt: auf Bedingungen im Zeitregreß hin, oder — im Hinblick auf einen Bestimmungs„grund" im außerzeitlichen Bezug unseres handelnden Vermögens auf ein Sollen. „Antreffen" können wir dann nur die aus solchem Bezug etwa abzuleitenden „Wirkungen" der Freiheitskausalität, nie aber diese selber. — Am Schluß des Abschnitts verweist Kant auf kommende Aufklärung dieser für seine gesamte Systemkonzeption so wichtigen Unterscheidung: durch „Anwendung". In ausführlicher Form und positiver Begründung wird die Anwendung, auf welche unser Text nun vor allem vordringt, erst die Kritik der praktischen Vernunft leisten, deren Vorrede und Einleitung (V 3—16) man hier unmittelbar anschließen könnte. Dem „problematischen Begriff" des Unbedingten in der Reihe der Kausalverbindung wächst eben da „objektive Realität" zu: durch das „apodiktische Gesetz der reinen praktischen Vernunft" — worauf in unserem Text der kurze Passus über das „Sollen" schon vorauswies. Jetzt aber, im Rahmen unserer Kritik der spekulativen Vernunft, geht es ja eben nur um „Möglichkeit" des Begriffs einer solchen aus eigenem Ursprung und nach eigener Gesetzesform wirkenden Kausalität — zugleich mit der Möglichkeit, solche noumenale Wirkensart ohne Widerstreit mit der durchgängigen Naturgesetzlichkeit zu vereinigen. — Es folgen nun zwei Abschnitte („Möglichkeit d e r . . . " ) welche ihrerseits faktisch vorausdeuten auf spätere Anwendung und einige Schritte schon in dieser Richtung gehen — mit der Beschränkung, daß, wie besonders noch einmal an deren Ende ausdrücklich betont wird, im gegenwärtigen Rahmen nicht etwa „die Wirklichkeit der Freiheit" — erwiesen werden soll. Man kann ja eben nicht von Erfahrungsbegebenheiten irgendwelcher Art auf solches Wirkvermögen als real vorhandenes (Weltgrund oder Freiheitsgründe in der Welt) spekulativ „schließen"; soldier Versuch müßte immer wieder in die Antinomik treiben. Wenn es im Text dann weiter heißt: „nicht einmal di e Möglichkeit der Freiheit" solle hier erwiesen werden, so ist damit eben „Realmöglichkeit" gemeint, während wir es jetzt nur mit der „logischen" Möglichkeit des Begriffs zu tun haben. Die transzendentale Idee, die auf ein Noumenon im „negativen Verstände" geht, darf und kann keinen „Realgrund" (Ursache) von der Art empirischer Realität meinen; und nur die „Vereinbarkeit" etwaigen noumenalen Erwirkens von Begeben10*

346

(S. 366 Β 566)

heiten mit den Naturgesetzen kann hier theoretisch erwogen werden232. Der erste dieser beiden Abschnitte (Möglichkeit der . . . " ) führt nun das für Kants Freiheitslehre höchst wichtige Begriffspaar: empirischer und intelligibler Charakter ein. Man muß sich hüten, dem übergreifenden Terminus „Charakter" (welchen Kant hier, im Druck hervorgehoben, erstmalig in unserem Werke auftreten läßt) sogleich im Sinne menschlich-personaler Haltung und Verfassung zu verstehen233. Es tritt ja auch die „Anwendung" des allgemein-transzendentalphilosophischen Gedankens auf den Menschen erst im letzten Teil des 6. und dann wieder mit dem 10. Absatz des zweiten (des „Erläuterungs"-)Abschnittes auf. Zunächst gilt es, noch ganz diesseits aller Bezüge auf das Thema der „praktischen Freiheit" sich zu halten234. Den zu Anfang gleichsam wieder neu eingeführten Terminus „intelligibel" (Gegenbegrifï: „empirisch" oder auch „sensibel") akzentuiert Kant auf den von ihm geprägten kritischen Sinn eines zwar notwendig zu denkenden, aber doch unerkennbaren Noumenon hin — als welches immer nur eine Vernunft-,,Aufgabe", ein „Problem" 232

23S

234

Die „objektive Realität" der Freiheitsidee (d. i. Möglichkeit und Wirklichkeit spontaner Selbstbestimmung) zu erweisen, ist dann Aufgabe der Kritik der praktischen Vernunft, nachdem die bloße Β egri ffsiorsdiung der Ersten Kritik ja nur die „Unentbehrlichkeit als problematischen Begriffs in vollständigem Gebrauche der spekulativen Vernunft" hatte aufweisen können, zugleich mit der „völligen Unbegreiflichkeit desselben". V 7 . Die allgemeinste Bedeutung von „Charakter" und „Charakteren" ist bei K a n t (von der Logik her): „Merkmal", „Unterscheidungsgründe, Kennzeichen im eigentlichen Verstände". Vgl. X X I V 107 ff. In diesem Sinne heißt es in der Analytik des Verstandeserkennens beim Thema des Daseins: „In dem bloßen Begriffe eines Dinges kann gar kein Charakter seines Daseins angetroffen werden" ; „ . . . die Wahrnehmung aber, die den Stoff zum Begriff hergibt, ist der einzige Charakter der Wirklichkeit". S. 189/90 Β 272/3. Zum Begriff „Charakter" im Sinne der Anthropologie, der Ethik und der Pädagogik vgl. VII 285 ff., V 152 ff. und I X 481 ff. Das in unserem Textstück auftretende Begriffspaar, welches in dieser Fassung bei K a n t selbst in den weiteren und späteren Darlegungen des großen Themas nur vorübergehend wiederkehrt, ist in der unmittelbaren Nachfolge des transzendentalen Idealismus von anderen Denkern übernommen und nach ihrem Sinne aufgefaßt und ausgeschaltet worden. Kants originäre Überlegung in ihrer kritischen Vorsicht und Absicht wird von daher nur allzu leicht verdeckt; daher muß hier ganz besonders auf jede der Formulierungen geachtet werden. Wir denken vor allem an Schopenhauers sehr bekannt gewordene These, der „Charakter" eines jeden Menschen sei wesenhaft konstant und bleibe durch das ganze Leben hindurch derselbe („der Mensch ändert sich nie"); dieser „empi-

(S. 366 Β 566)

347

bezeichnet, nicht einen irgendwie faßbaren „Gegenstand" 235 . Ein „Wesen" („tätiges Wesen" heißt es im folgenden — es geht ja hier um Wirksamkeit!), oder ein „Subjekt", welches in der Welt sich vorfindet, muß insofern, nach der kritischen Lehre, als Erscheinung „angesehen werden"; aber als Wesen selbst23*, nach seiner noumenalen Existenz gedacht, könnte ihm ein „Vermögen" zukommen, aus sich selbst darauf zu wirken, was erscheint, mit seiner selbsteigenen Wirksamkeit also (sozusagen) in Erscheinung zu treten. Erfahrbar wäre dies Vermögen dann natürlich nicht, auch nicht aus erfahrenen Wirkungen erschließbar; aber die Aufgabe, gewisse Wirkungs-Begebenheiten darauf problematisch zu beziehen, kann sich aus dem Vernunftzusammenhang ergeben. Die „Handlung" selber, das Erwirken, wäre dann frei von Naturbedingungen; ihre Wirkungen aber würden als Erscheinungsfolgen im gegenständlichen Gesamtzusammenhang der Erscheinungswelt „anzusehen", als solche aber auch zu verstehen,

235

234

risdie Charakter" aber sei die auseinandergezogene Erscheinung eines einzigen unteilbaren, unzeitlichen und unveränderlichen Willensaktes! Für jeden Mensdien in der Welt und alle seine Handlungen gelte also der Satz: operari sequitur esse. — Audi Schellings Lehre vom empirisdien und intelligiblen Charakter (enthalten in der Schrift „Ober das Wesen der menschlichen Freiheit . . ." von 1809) mit ihrer metaphysischen These einer „ewigen", „mit der Schöpfung gleichzeitigen" Handlung, welche das „Wesen" des Menschen bestimme, kann leicht die unbefangene Sicht auf Kants eigene Intention verstellen. „Intelligible Welt" galt für die gesamte Tradition des Piatonismus, bis zu Kant hin, als Region von Ansich-Seiendem, das durch reinen Verstand (intellectus purus) faßbar, durch dessen Begriffsarbeit erschließbar sei. Für Kant dagegen sind die über alle Erscheinung hinausliegenden Noumena, vom Erkenntnisanspruch her gesehen, immer nur solche „in negativer Bedeutung". Vgl. ζ. B. S. 210 f. Β 308 f.; S. 230/1 Β 344. — Nach einer Anmerkung, die audi dazu gehört, soll das Wort „intelligibel" für die (gedachten) Objekte, der Terminus „intellektuell" für die Art von „Erkennbarkeit" (nämlich bloß durch Denken, durch „Ideen") gebraucht werden. S. 212 a Β 312 a. — So jetzt in unserem Text: wir können uns einen „intellektuellen" Begriff machen von „intelligibler" Kausalität, einer Wirkensart von intelligiblem „Charakter". Es kommt aber dann auch die Zusammenstellung vor: Kausalität, sofern sie „intellektuell" ist (2. Absatz); das zielt schon ab auf Wirksamkeit einer (freien) „Intelligenz" und deren Erkenntnisart in praktischer Vernunft. Man darf von hier zurückerinnern an die Stelle im Denkzusammenhang des Ersten Hauptstüdes: » . . . wie mein eigenes Selbst in der Anschauung gegeben sei, das setze idi bei Seite . . . ; im Bewußtsein meiner selbst beim bloßen Denken (sc.: aber) bin ich das Wesen selbst, von dem mir aber freilich dadurch noch nichts zum Denken gegeben ist." S. 279 Β 429. — Zugleich darf daran erinnert werden, daß auch die Vollzüge der ursprünglichen Apperzeption „Handlungen" und „Aktus der Spontaneität" heißen. Vgl. bes. die §§ 15 und 16 der Analytik S. 107 ff. Β 129 ff.

348

(S. 366 Β 566)

und das heißt: aus den vorangegangenen Ursachen zu erklären sein. Jede Wirkung eines tätigen Wesens von der Art des Menschen hat dann eine „doppelte Seite", und ebenso sein „Vermögen" einzuwirken: in den Erscheinungsreihen ist es ein seinerseits bedingtes (wie Kräfte sonst in der Natur, ζ. B. auch Instinkte von Lebewesen), dagegen könnte dem Ansich-sein eben dieses Wesens (gedacht als nicht empirischer, sondern als „transzendentaler" Gegenstand bzw. „transzendentales Subjekt") die andere Art Wirksamkeit eigen sein237. Sobald man also den Antinomiewiderspruch unter diesen Aspekt, und den Vernunftbegriff unter den Titel eines bloß-regulativen Prinzips (Aufgabe, Handelnsvorgänge daraufhin zu befragen und zu prüfen) stellt, verschwindet der Widerspruch, die Unvereinbarkeit237®. 237

Das Verhältnis von Ansich-Seiendem („Ding an sich") und Erscheinung, allgemein-formal zunächst als Korrelation, „Entsprechung" eingeführt, so in der transzendentalen Ästhetik und auch in der Vorrede Β (S. 57 Β 45; S. 16/7 Β X X V I / X X V I I ; vgl. IV 164 A 251/2), wird von Kant des weiteren audi oft in der Gedankenform Ursache — Wirkung (reine Kategorie!) vorgestellt. Das geschieht vorwiegend da, wo es um äußere Erscheinungen geht, um „Einfluß" auf unsere Sinnlichkeit und deren „Affiziert"-Werden (z. B. S. 50 Β 34, S. 66 Β 61, S. 85 Β 93; IV 225/6 A 358, IV 245 A 393). Aber auch die Zwei-SeitenZuordnung kommt schon in der transzendentalen Ästhetik vor, und zwar hier schon im Thema der Zeit und der auf unsern inneren Sinn bezüglichen Ersdieinungsthese! S. 62/3 Β 55 heißt es, die Gegner der neuen Lehre bedächten nicht, daß beide, der innere wie der äußere Sinn, dodi nur zur Erscheinung gehören, welche „jederzeit zwei Seiten hat, die eine, da das Objekt an sich selbst betrachtet wird (unangesehen der Art, dasselbe anzuschauen, dessen Beschaffenheit aber eben darum jederzeit problematisch bleibt), die andere, da auf die Form der Anschauung dieses Gegenstandes gesehen wird . . . " . Und in der Vorrede B (S. 17 Β X X V I / X X V I I ) heißt es, daß wir „eben dieselben Gegenstände auch als Dinge an sich selbst, wenngleich nicht erkennen, doch wenigstens müssen denken können", und, unmittelbar darauf: „Von eben demselben Wesen (!) also, z.B. der menschlichen Seele" lehre die Kritik, daß man das Objekt in „zweierlei Bedeutung nehmen" müsse. Darauf folgt dann die Anwendung auf Willenshandlungen: „in der Erscheinung (den sichtbaren H a n d lungen)" ist der Wille nicht frei; andererseits kann eben derselbe Wille, „als einem Dinge an sich selbst angehörig . . . , als frei gedacht" (!) werden, „ohne daß hiebei ein Widerspruch vorgeht". — In unserem Thema also verbindet sich der „Ursach"-Gedanke im /forre/atzusammenhang von Ding an sich' und Erscheinung mit dem Gedanken der zwei Seiten, welche am gleichen Subjekt unterschieden werden müssen. — Dieser Gedanke war ja auch schon im „Seele"Thema der Dialektik (Erstes Hauptstück) maßgebend geworden; er wirkte aber auch bereits in der Unterscheidung von empirischer und transzendentaler Apperzeption des Ich, im Rahmen der Analytik. 23?a Vgl. XX, 291/2: der Satz, „Alle Kausalität der Phänomene . . . ist dem Mechanismus der Natur unterworfen, scheint mit dem Gegensatz: Einige Kausalität

(S. 366 Β 566)

349

Und nun heißt es bei Kant, jede wirkende Ursache müsse einen Charakter haben; wobei Charakter allgemein definiert wird als Gesetz der Wirksamkeit. Ausdrücklich wird gesagt, daß ohne ein Wirkensgesetz eine Ursache „garnicht Ursache sein würde", sein könnte! Alles in der Welt (nicht nur in der „Natur" i. e. S.!) geschieht, wie Kant immer gleich zu Anfang seiner Logik-Vorlesungen betont hat, nach „Regeln", nach „Gesetzen"238. Ein „Frei"-sein von Gesetzen überhaupt könnte nicht „Kausalität" (Einwirkung auf ein Dependentes) sein oder haben; wenn der Antithesis-Beweis (S. 309/10 ß 475) „Gesetze der Freiheit" so einfach abwies und „transzendentale Freiheit" als „Gesetzlosigkeit" denken wollte, — so zeigte er eben darin nicht nur die dogmatische Enge eines auf „Natur"-Empirie fixierten Standpunktes, sondern auch eine innere Unhaltbarkeit (im Beispiel Epikurs). Die Gesetzesart, den Gesetzes-„Charakter" des Subjekts als Sinnenwesen in der Sinnenwelt kennen wir: es ist der alle Glieder der Geschehenswirkungen und -Ursachen in „einer einzigen Reihe der Naturordnung" (Inbegriff der möglichen Erfahrung) relational bestimmende Grundsatz der Zeitfolge-Kausalität. Soll es nun auch Kausalität von jener anderen, ursprünglichen Art geben, so

238 238a

dieser Phänomene ist diesem Gesetz nicht unterworfen, im Widerspruch zu stehen"; aber in dem Gegensatze „kann das Subjekt in einem anderen Sinne genommen sein . . . , nämlich es kann dasselbe Subjekt als causa noumenon gedacht werden . . . , und dasselbe Subjekt kann als Ding an sich selbst frei . . . sein, was als Erscheinung, in Ansehung derselben Handlung, doch nicht frei ist.'" Vgl. auch X X 328/9. Vgl. z.B. I X 11 ff.; X X I V 3 ff., 17 f., 26/7., 311 ff. Das W o r t : Wesen weist hier, obgleich bei K a n t o f t genug audi ganz allgemein gebraucht (Körper als „ausgedehnte Wesen", Noumena, von welcher Art audi immer, als „Verstandeswesen"), besonders auf solche intelligible oder „immaterielle'' entia (vgl. S. 503 Β 800; Prolegomena § 57 I V 353, 354/5), welche als Subjekte denkender und wollender Spontaneität zu denken sind — vorgreifend dem in Kants praktischer Philosophie zentralen Terminus: „vernünftige Wesen überhaupt". Im Rahmen unserer Kritik muß hier, obgleich K a n t nicht ausdrücklich darauf zurückgreift, an Aussagen der Paralogismen-Kritik erinnert werden (etwa: N a t u r unseres „denkenden Wesens", das „transzendentale Subjekt der Gedanken" S. 265 Β 403/4), vor allem an die wichtige Stelle im Übergang zur Kosmologie: „ . . . im Bewußtsein meiner selbst beim bloßen Denken bin idi das Wesen selbst" (S. 279 Β 429). In solchem Wortgebraudi steckt aber immer auch ein möglicher Denkbezug auf das „Wesen aller Wesen" oder das „höchste Wesen": tätiges Subjekt „durch Freiheit". — Aber auch „Lebewesen" gehören (auf andere Art) mit hinein in die hier nur ganz allgemein vorentworfene und dann auf menschlidie Willenshandlungen im besonderen angewandte Problematik.

350

(S. 366 Β 566)

muß man demselben tätigen Subjekt, dem Welt-„Wesen"238a zugleich noch eine andere Art Gesetzlichkeit des Wirkens, — und das heißt „einen intelligiblen Charakter" zusprechen, Charakter einer an sich seienden Ursache von „Handlungen als Erscheinungen", welche als solche selbst nicht ein Erscheinendes sein kann. (Wiederum wird, wie zu Beginn des Abschnitts, die Neu-„Benennung" aufgrund der kritischen Entscheidung betont.) Solches Erwirken würde, als dem Subjekt im „transzendentalen" Sinne eigen, dann eben audi unabhängig sein von Zeitbedingungen: abgehoben und vorausliegend allem, was im Wechsel der Weltzustände, insbesondere auch der Zustände im „tätigen Wesen" selber, nach seiner Eigenwahrnehmung und -erfahrung „geschieht". Das Begriffspaar: „Entstehen und Vergehen" mit seinen Implikationen (Woraus entstehen und wohin vergehen?), wesenhaft zugehörig zu jeder Erfahrung von „Gegebenheiten", würde hier nicht mehr verwendbar sein. Darin liegt eben das Grundmoment von Unbegreifbarkeit solcher (doch eben notwendig zu denkenden) Spontaneität; wirklich verstehen können wir, gebunden an Anschauungsgegebenheiten, wie wir sind, nur das Erfolgen in „Veränderungen" an Beharrendem239. Daß solcher „intelligible Charakter" von Wirksamkeit bzw. des Subjekts seiner Wirksamkeit niemals „unmittelbar gekannt" werden könnte, ist damit eo ipso ausgesagt. Solches Kennen haben wir nur in der Rezeptivität des Anschauens, also eben bei Zeitlich-Gegebenem. Damit ist aber nicht ausgeschlossen ein etwa mittelbarer Kennensbezug auf eine über alles Erfahrbare hinausliegende Freiheitstätigkeit im „transzendentalen" Subjekt: sofern mämlich, wie es hier zunächst heißt, diese, unter einem ganz-anderen „Gesetz ihrer Kausalität" stehende, Ursache doch dem empirischen Charakter „gemäß" zu denken wäre, — dies aber ohne Anspruch auf Erkennen, auf WissensGewißheit, welche es ja von einem transzendentalen Gegenstand in keinem Falle geben kann. Daß Kant mit diesem: „gemäß" mehr 239

Vgl. S. 166 Β 2 3 1 : „Veränderung kann daher nur an Substanzen wahrgenommen werden, und das Entstehen oder Vergehen schlechthin, ohne daß es bloß eine Bestimmung des Beharrlichen betreffe, kann gar keine mögliche Wahrnehmung sein, weil eben dieses Beharrliches die Vorstellung von dem Ubergange aus einem Zustande in den anderen und vom Nichtsein zum Sein möglich macht . . . Nehmet an, daß etwas schlechthin anfange zu sein, so müßt ihr einen Zeitpunkt haben, in dem es nicht war. Woran wollt ihr aber diesen heften, wenn nicht an demjenigen, was schon da ist?"

(S. 366 Β 566)

351

meint, als den ganz allgemeinen Bezug von jedem Erscheinenden auf ein Ansich-Seiendes, das da erscheint, wird aus dem folgenden hervorgehen. ! Dasselbe Subjekt würde also (3. Absatz) mit allen seinen Handlungen als erscheinendes der empirisch-allgemeinen Kausalordnung „unterworfen", also durch „äußere" (das heißt hier: durch andere, dieser Handlung vorangehende) Erscheinungen bedingt sein — im gesamten zeitlichen Abfließen und Aufeinandereinwirken („Einfließen") der Weltzustände. Insofern müßten sich alle seine Handlungen, als notwendig geschehende, „erklären" lassen, und zwar vollständig, ohne Lücke für irgendeinen Ausnahme-Faktor. (Den Ausdruck müß„ten", welcher schon aus der jetzigen Situation bloßer Möglichkeitserwägungen sich nahelegt, kann man zugleich als Folge des Regulativ-Gedankens deuten: faktisch kann solche Totalerklärung ja natürlich nie beansprucht werden; Erfahrung gibt uns immer nur „Verhältnisse", welche wir nur endlos weiter verfolgen können und, von Vernunft regulativ geleitet, unabsehbar zu verfolgen haben. — Der „empirische Charakter" aller Handlungen ist also, wie bei Begebenheiten sonst, das undurchbrechliche Naturgesetz. Sofern das Subjekt aber als „Noumenon" gedacht wird, für welches eben „Veränderung" im Erscheinungssinne, also Entstehen und Vergehen zeitlicher Zustände, nicht infrage kommt, ist es als „frei von" Sinnlichkeitseinflüssen (Noumenon in negativer Bedeutung) zu denken, d. h. als möglicherweise rein aus sich wirkend, ohne „dynamische Zeitbestimmung". Das heißt aber dann auch, daß sein spontanes Tun kein „Geschehen" ist, daß man also nicht von einem „Anfangen" in ihm, einem „Entstehen" in ihm selber sprechen kann, — obgleich die Wirkung solchen Tuns, erscheinend in der anschaulich gegebenen und durch Verstandesgesetze strukturierten „SinnenweltiW«wg: „Die Vernunft zieht die Sinnlichkeit allmählich im habitus, erregt Triebfedern und bildet daher einen Charakter, der aber selbst der Freiheit beizumessen ist und selbst in den Erscheinungen nidit hinreichend gegründet ist." — „Wir erklären (!) begangene freie Handlungen nach Gesetzen der Natur des Menschen, aber wir erkennen sie nicht dadurch als bestimmt (sc. prädeterminiert); sonst würden wir sie nicht als zufällig ansehen und verlangen, daß sie hätten anders geschehen sollen . . . . In den freien Handlungen fließt die Vernunft nicht bloß als ein begreifendes, sondern wirkendes und treibendes principium ein. Wie sie nicht bloß vernünftle und urteile, sondern die Stelle einer Naturursache vertrete (!), sehen wir nicht ein, viel weniger, wie sie durch Antriebe selbst zum Handeln oder Unterlassen bestimmt werde." „Die Vernunft bedient sich der Naturbeschaffenheit (sc. z. B. Naturell, Tempe-

Ha*

380

(S. 375 Β ¡82)

der bloß-zeitlichen Nezessitation durch sinnliche Antriebe, „ Natur" Ursachen) und in dem positiven Sinne des Vernunftvermögens, „sich von selbst zu bestimmen" und damit neue Reihen von Begebenheiten anzufangen (vgl. auch wieder die Ersteinführung S. 363/4 Β 562). Und dementsprechend rechnet der Mensch, in Richtung auf die „eigentliche" Moralität, sich selbst und anderen Verdienst und Schuld zu anhand der Gegebenheiten und Vorkommnisse von empirischem Charakter. Der 15. Absatz gibt ein erläuterndes Beispiel solchen „zurechnenden Urteils", welches also nicht ein Urteilen von der Art konstitutivsynthetischen Verstandesgéorzuàìs ist, sondern aus regulativem Vernunft-Prinzip erfolgt, in Richtung auf immer mögliche Eigenspontarament) nach ihren Gesetzen als Triebfedern . . . , wird aber dadurch nicht (sc. ihrerseits) bestimmt." Bei freihandelnden Wesen ist „ein beständiger Einfluß (!) intellektueller Gründe, da das Gegenteil als Erscheinung möglich ist." Dies „intellektuelle" Moment der Bestimmung kann aber „in der empirischen Erklärung nicht gebraucht werden, weil es nicht wahrgenommen wird. Denn von dem intellektuellen (sc. Beweggrund) bis zur bestimmten Handlung ist eine unendliche Zwischenreihe von Triebfedern . . . " . Beim Menschen (dessen arbitrium auch sensitivum, aber nicht brutum ist!) ist es jederzeit „möglich, daß die intellektuelle Willkür sich einmische, die von dem Gesetze der Abhängigkeit von Sinnen ausgenommen ist; diese bestimmt (sc. dann) nur einen anderen Lauf der Sinnlidikeit". Alle empirische Erklärung hat ihren Grund: „nur die erste Direktion (!1 dieser Ursachen, das Moment sie zu bestimmen, . . . wird nicht unter den Erscheinungen angetroffen . . . " . „Die obere Willkür ist das Vermögen, sich der Triebfedern oder sinnlichen Anreizungen nach ihren Gesetzen, aber doch immer der Verstandesvorstellung gemäß . . . zu bedienen." Hinterher („A posteriori") „werden wir Ursache haben, den Grund der Handlung, nämlich den Erklärungs- aber nicht Bestimmungsgrund derselben, in der Sinnlichkeit zu finden; a priori aber, wenn die Handlung als künftig vorgestellt wird, . . . werden wir uns zu derselben unbestimmt und uns vermögend fühlen, einen ersten Anfang der Reihe der Erscheinungen zu machen". „Vor der Handlung setzen wir uns bloß in den Standpunkt des Verstandes (sc. später: der reinen praktischen Vernunft). Weil der Verstand nun eigentlich nicht affiziert wird, aber (sc. seinerseits) die Sinnlichkeit affizieren kann: so ist seine Handlung nicht vorherbestimmt, sondern spontaneo bestimmend; und das Gegenteil von dem, was ohne Verstand geschieht, hätte immer geschehen können." — „Die vermischte menschliche Willkür (libertas hybrida) handelt auch (sc. wie die tierische) nach Gesetzen, aber deren Gründe nicht in der Erscheinung . . . gänzlich vorkommen; daher bei denselben Erscheinungen derselbe Mensch anders handeln kann. Hiebey muß man zuerst einen Charakter abwarten (!), und denn (dann) hat man ein Gesetz, die Erscheinungen zu erklären, aber niemals sie zu bestimmen." Alles ist „quoad sensum notwendig und kann nach Gesetzen der Erscheinungen erklärt werden. Es kann aber nicht vorherbestimmt werden, weil die Vernunft ein principium ist, welches nicht erscheint . . . " . Vgl. hierzu den „Anhang" S. 397 ff.

(S. 375 Β J82)

381

neität der Handelnden und der „Beurteilung" auf deren Einsatz hin. In der Lehre von den alle Erfahrungsurteile bestimmenden Grundsätzen (Transzendentale Doktrin der „bestimmenden" Urteilskraft!) konnten, aufgrund des „Deduktions"-Hauptstücks, transzendentale Behauptungen als wahr und notwendig erwiesen werden, mit Subsumtionskonsequenzen für alle empirische Tatsachen- und Gesetzesforschung. Dagegen können „transzendentale" Behauptungen von der jetzigen Art (wo vom Empirischen des Verhaltens und der Charaktere her die aufsteigende Erwägung oder Reflexion auf ein Noumenales zielt) durchaus nicht bewiesen, auch nicht, durch Beispiele, „bestätigt" werden. Kant wählt das Beispiel einer sittlich-verwerflichen Handlung und entsprechender „Schuld"-Zurechnung („boshafte" Lüge zum Unterschied von einer läßlichen oder audi listigen — um den Ernst des Bezuges auf die „Denkungsart" zu unterstreichen). Zweierlei Hinsichten sind gegenüber der etwa auch noch folgenschweren Handlung (der lügnerische Aktus fängt eine Reihe von Wirkungen im Laufe der Dinge an) möglich und uns aufgegeben. „In der ersten Absicht", vom „empirischen" Charakter eben dieser Handlung und des ganzen Menschen allein aus, sind die Vorbedingungen, gleichfalls empirische, zu erörtern; darunter auch das „Naturell" („bösartig" in einem vormoralischen Sinne sozial „unglücklicher" Veranlagung!); „Leichtsinn und Unbesonnenheit" würde Kant unter den Titel des „Temperaments" stellen. Diese und andere „Quellen", Gründe im Sinne der empirischen Kausalität, sind hier allein antreffbar; und die „Vernunft" gibt hier dem Empirie-Verstehen und -Erklären die Regel unabsehbarer, in die Detailvorgänge und die früheren Voraussetzungen eindringender Durchführung: — nicht anders als in Naturforschung überhaupt, wo immer zu Begebenheiten als erfahrenen „Wirkungen" Ursachen als bestimmende (determinierende) aufgesucht, aufgedeckt und weiter zurückverfolgt werden. Die zweite Hinsicht ist und bleibt von diesem allen unabhängig. Die Tat samt ihren Folgen (in der Zeitreihe) wird getadelt, unabhängig davon, was (auch in der Zeit) vorherging: sie wird gemessen am Sollensgesetz der reinen (praktischen) Vernunft — in der Voraussetzung, daß es dem Menschen immer möglich ist, in jedem Augenblick und jeder Lebenslage, sich jenem Gesetze gemäß zu verhalten!

382

(5. 375 Β 582)

Dabei wird die „Kausalität", Einwirkensmöglichkeit des Vernunfthaften in ihm, als „an sich selbst vollständig"; als „gänzlich" unbedingt von dem Vorangegangenen angesehen; Freiheitskausalität bedenkt mögliche Entscheidungskraft (für das was Pflicht gebietet) audi da, wo naturhaft-empirische Motivationen keinerlei Hilfestellung leisten oder wo gar alle „Neigungen" (nach späterem Terminus Kants) gegen das von der sittlichen Vernunft Gebotene stehen. Wenn sich Vernunft in diesem Menschen unseres Beispiels versagt („Unterlassung" des Einspruchs gegen die lügenhafte Absicht), dann wird das faktische Verhalten desselben, in welchem sein erfahrbarer Charakter „sich ausdrückt", samt üblen Folgen im Verlauf der Dinge, seinem intelligiblen Charakter „beigemessen", — so „als ob" die Zeitverhältnisse, die im Regressus aufzudecken sind, ganz ohne Belang wären und der Täter jetzt eben mit seiner pflichtwidrigen Handlung „eine Reihe von Folgen ganz von selbst anhebe"268. Im arbitrium sensitivum, für sich allein betrachtet (so denn unzweideutig im arbitrium brutum der Tiere), stehen die Antriebe miteinander in „Konkurrenz": einander in Wirkungen steigernd oder einschränkend — und damit unter der Dritten Analogie der Erfahrung („Grundsatz des Zugleichseins nach dem Gesetze der Wechselwirkung oder Gemeinschaft" S. 180/1 f. Β 256/7), nicht anders als im Zusammen-Lauf von Kräften etwa der astronomisch-physikalischen „Begebenheiten", wo eben denn die Resultante der verschiedenen dynamischen Faktoren grundsätzlich vorherzusehen, vorauszuberechnen ist. So ist es aber nicht auf dem Felde des arbitrium liberum: die vernunfthaften Beweggründe und die entsprechende „Kausalität" ist (so setzen wir wenigstens voraus) von völlig anderer Art als alle miteinander wechselnd-konkurrierenden naturhaften „Antriebe" des 268

D e r Ausdrude „als ob", schon einmal in der Dialektik aufgetreten (S. 275 Β 421) und auch da schon abzielend auf den praktischen Vernunftgebraudi, mit der Andeutung, daß unsere eigentliche Vernunftbestimmung über alle Lebensgüter und -antriebe v o n „sinnlicher" Art hinausreiche, — wird hier jetzt nur in dem Sinne gebraucht, daß man in der moralischen Zurechnung so urteilt, als ob man wüßte und beweisen könnte, daß Kausalität aus Freiheit in uns als ständiges Vermögen waltet. Im Rahmen der rein spekulativen Betrachtung aber kann ja, wie es im 18. Absatz abschließend wiederum betont wird, nur die Denkbarkeit, nicht aber die Wirklichkeit und „reale Möglichkeit" der Freiheit erwiesen werden.

(S. 375 Β 582)

383

Lebens269. Vernunft selber, die (wie der 16. Absatz hinzufügt) ihrerseits nicht „affiziert" wird, wie doch alles, was im Zeitfluß steht, und die nicht etwa in einen anderen „Zustand" durch miteinwirkende Bedingungen gerät, die nie „ b e s t i m m W , sondern immer nur „bestimmend" sein kann 270 — ist völlig frei von jenen Triebfaktoren. Sie ist („dem Vermögen nach") in ständiger Gegenwärtigkeit, „beharrliche Bedingung" aller willkürlichen Handlungen; jederzeit kann sie sich äußern und auswirken in Zeitreihen hinein. Man kann auch nicht sagen, daß unsere Vernunft sich selber so und anders „bestimmen" könnte, also für sich selbst „bestimmbar" wäre. Vernunft, mit ihren Imperativischen Gesetzen und entsprechender Bestimmensmöglichkeit, ist eben immer dieselbe und steht in keiner inhaltlichen Alternative. Das Böse (so die „boshafte" Lüge des Beispiels) ist kein Zielsinn der Vernunft („das wäre teuflisch", sagt Kant einmal), sondern bedeutet die schuldhafte „Unterlassung" ihres Eingreifens in das Kausalgetriebe, in die Kon-kurrenz der auf Grund naturgegebener Anlagen und Verhältnisse entstandenen und aufkommenden Bedürfnisse, Gewohnheiten und Impulse271. „Die Art", wie Vernunft in ihren Wirkungen sich „zeigt" (in ihrem dirigierenden Bestimmen oder 269

Vgl. X V I I I 253 (Nr. 5 6 1 2 ) : „Der Zusammenhang der Vernunft mit den phaenomenis, womit sie (gar nicht) in commercio stehen soll, kann gar nicht . . . verstanden werden (es sind heterogenea)." Wegen der „Ungleichartigkeit" der beiden Wirksamkeiten kann aber denn auch „der Übergang von der Sinnlichkeit zur Vernunft in regressu . . . nidit beobachtet (!) werden; sondern soviel beobachtet wird, geschieht alles vermittelst sinnlicher Triebfedern, wodurch die H a n d lung bestimmt ist." X V I I I 256/7 N r . 5617.

270

Vgl. den Gebrauch der Termini: bestimmend und bestimmbar in der Analytik, ζ. B. die Apperzeption als Ursprung alles bestimmenden Denkens, wobei das Bestimmbare die Gegebenheiten des inneren und der äußeren Sinne sind. S. insbesondere die Unterscheidung von bestimmendem und bestimmbarem Selbst S. 123 a Β 157/8 a; auch S. 23/4 a Β X X X I X / X L a und S. 274 Β 420.

271

Vgl. X V I I I 254 N r . 5 6 1 3 : „Eine . . . an sich böse Handlung, die man unterlassen sollte, ist darum eben böse, weil wir sie ohne einen objektiv (sc. der Vernunftgesetzlichkeit gemäßen) zureichenden Grund tun; und der Wille ist böse, weil er subjektiv (sc. in seinen „Maximen") nidit durch eben dieselbe Regel bestimmt wird." 258 (Nr. 5 6 1 9 ) : Die Schwierigkeit im Freiheitsthema betrifft „nicht den Mangel des Zureichenden Grundes (sc. wie in der Vorstellung eines liberum arbitrium indifferentiae!), sondern nur dessen unter den Erscheinungen. Wenn in den oberen K r ä f t e n , ihren Unterlassungen oder Vollkommenheiten (sc.: Laster oder Tugenden), die Handlung bestimmt ist: so ist . . . nicht (mehr) die Frage von dem Grunde dessen, was geschieht (sc. nach der causa phaenomenon), sondern . . . was jederzeit da ist, nämlich der vernünftige Wille, woraus das Gegenteil des Bösen immer möglich w a r . "

384

(S. 37} Β S82)

ihrem Unterlassen!), wie also sie selber in Erscheinungen empirischen Charakters erscheint, läßt uns auf den (uns nie durchaus erreichbaren) intelligiblen Charakter hindenken, von welchem das empirisch Wahrgenommene und Erfahrbare bei uns und anderen immer nur das „Schema" ist, „Zeichen", „Anzeige" — etwa von der Art wie solche Formeln in der algebraischen „Charakteristik", w o die sinnlichen Charaktere auf ein selbst nicht durchschaubares Irrationalgefüge weisen, das eben doch mit zum gesamten Zahlenreich gehört. Wenn Kant hier sagt: ein anderer intelligibler Charakter würde einen anderen empirischen „gegeben haben", so darf man sich durch diese Sprachwendung nicht etwa verleiten lassen, auf ein gleichsam vorzeitlich bestehendes (oder „erwähltes"!) und nun für alle Lebenszeit vorhandenes Gefüge von Eigenschaften oder Intentionen hinzudenken, aus dessen esse alles operari in der Zeit zwangsläufig folge! Die Wendung ist an dieser Stelle offenbar bestimmt durch die Wahl des Beispiels: Rückblick auf eine vergangene böse Handlung, die nun, hinterher, beurteilt und auf mögliche Zurechnung geprüft wird. Im nächsten Absatz heißt es ja denn auch: „Warum aber der intelligible Charakter gerade diese Erscheinungen . . . gebedas könne von uns niemals beantwortet werden272. Der intelligible Charakter, die „Denkungsart" (später oft auch nahezu gleichlautend mit „Gesinnung" gebraucht) ist eben ein dynamisches Vermögen in jedes Menschen „Willkür", 272

Beim Beispiel jener bösen H a n d l u n g kann man nicht fragen: „Warum hat sicfe nicht die Vernunft anders bestimmt?" S. 367 Β 584 (Vernunft ist immer sie selber), sondern n u r : warum hat dieser Mensch, aus seinem „Vermögen", Vernunft in sich walten zu lassen, nicht eingegriffen in die Antriebe und Versuchungen seiner Leidenschaften? („Unterlassung" der „oberen K r ä f t e " ; Aussetzen der „einfließenden Gewalt der V e r n u n f t " vgl. X V I I I , 253, 258.). Auf diese Frage aber, so möchten wir Kant hier verstehen, kann keine Antwort gegeben werden in irgend einem der empirischen Kausalität entsprechenden oder analogen Sinne (Milieu, Erziehung . . . ) , so wie man etwa Antwort geben könnte auf die Frage, w a r u m Planetenbahnen nicht durchaus regelmäßig nach Ellipsenf o r m verlaufen. Ein anderes Verhalten (Gesinnung) des Menschen in seinem Ansich-Sein oder vielmehr Ansich-Leben (Willensleben!), des Menschen als „Intelligenz" (in jenem übergreifenden, K a n t immer gegenwärtigen Sinne, welcher das Voluntative einschließt!) würde eine andere Äußerung und Wirksamkeit im Empirischen (in Handlungen empirischen „Charakters" d. i. nach dem Gesetz empirischer Kausalität) ergeben — so in dem als vergangen wahrgenommenen, wie im gegenwärtigen und im bevorstehenden Tun. Das gilt ebenso für die jeweiligen Entscheidungen, wie f ü r das durch sie auf der Basis vorgegebener Anlagen und Umstände sich bildende Gesamtgefüge der Person, welches wir speziell den „Charakter" eines Menschen nennen.

(S. 375 Β 582)

385

aktive Fähigkeit, aus reiner Vernunft heraus, angesichts des immer gegenwärtigen Gesetzes, Einfluβ zu nehmen auf empirische Realität, ζ. B. das eigene Trieb-, Wunsch- und Strebensieben aus selbsteigener Spontaneität zu formen — und so in Erscheinungen selber wirksam zu erscheinen. Daß diesem Tätigkeitsdiarakter, als von der Zeit und Zeitdeterminationen unbetroffenem Quell, die Merkmale der „Veränderung" (in zeitlichem Sinne!), des „Geschehens", der „Zustände" von Vorher und Nachher, des eigenen „Anfangens" von Kant abgesprochen werden, ändert nichts an der Eingreifensdynamik — so wenig, als die selber zeitunbetrofiene Ursprünglichkeit der transzendentalen Apperzeption (in jedem Menschen) sie ihrer Aktualität, ihres jederzeit gegenwärtigen „Handlungs"-Einflusses auf sinnlich Rezipiertes (ständige Synthesis in wechselnden Urteilen) beraubt2'3. Der 17. Absatz betont noch einmal den grundsätzlichen Unterschied unseres Wissensbezugs bei beiden Arten der „Kausalität". In den synthetischen Urteilen der Empirie stellt jede im Regreß erreichte Ursache uns notwendig vor die Frage, was über sie hinaus bestimmend wirkte, als Ursache der Ursache; und die Vernunft fordert, solches Fragen und Forschen nach den (immer mittelbaren) Ursachen ins Unendliche fortzusetzen. Wo es aber um „Beurteilung" menschlicher Handlungen unter Sollensgesichtspunkten geht, wird hingedacht auf immer mögliches unmittelbares Einwirken des Vernunfthaften in uns; wir kommen da auch „nur" bis an diese Ursache von intelligiblem Charakter und Gesetz; jede Frage „über dieselbe hinaus" würde verlangen, daß Freiheit selber nun wiederum noch „erklärt" werde274. Wenn es das Freiheitsvermögen im Menschen gibt, so können wir 273

Audi die reine Apperzeption, welche vor und außer allen Zeitbedingungen liegt, ursprünglicher als alle Anschauung und Rezeptivität, wurde „das stehende und bleibende Ich" genannt (IV 91 A 123) — eben als das immer in „Funktionen" des Verstehens aktuell-handelnde Vermögen — , während empirische Apperzeption „jederzeit wandelbar" ist, „nach den Bestimmungen unseres Zustandes (!) bei der inneren Wahrnehmung." I V 91,81; A 123, 107. Jene ist nicht in der Zeit und „bestimmt" doch, im Erfahrungsdenken, alle Zeitverhältnisse.

274

Soldies Erklärungs- und Ableitungsverlangen, so möchten wir in Kants Sinne hinzufügen, würde, wenn nach gewohnten Begriffen gedacht, den Tatbestand der Freiheit selbst verfehlen; wenn aber unter metaphysisch-theologischen Aspekten (Wie ist Freiheit eines von göttlicher Schöpferallmacht geschaffenen Menschenwesens möglich?), würde solches Fragen und Verlangen alle Möglichkeiten endlichen Erkennens überschreiten.

386

(S. 377 Β 585¡6)

dasselbe nur nach seinem Daß, nicht aber auch nach seinem Wie und Warum erkennen. So wenig Transzendentalphilosophie, welche gelernt hat, Dinge an sich und Erscheinungen zu unterscheiden und die letzteren auf jene als Substrat und Ursache hinzubeziehen, über dieses Grundsätzlich-Allgemeine hinaus etwa angeben könnte, welche Art Dinge bestimmten Erscheinungen (ζ. B. den räumlich-äußeren) zu Grunde liegen, — so wenig kann menschliche Erkenntnis etwas darüber aussagen, warum der intelligible Charakter (etwa gar der dieses einzelnen Menschen oder aber auch der der „Menschheit" überhaupt) gerade diese (persönlichen oder geschichtlichen) Erscheinungen unter Natur- und Gesellschaftsbedingungen ergebe und ergeben habe. Hier hört alle Theorie, auch alle „Befugnis" philosophisch-wissenschaftlichen Fragens, auf. Zudem — so lenkt der Schluß des Absatzes auf die gegenwärtige „Aufgabe" zurück, die Möglichkeit der Vereinbarkeit von „Natur'' und „Freiheit" zu durchdenken, entgegen dem Widerstreit jener Dritten Art — steht dergleichen hier ohnehin gar nicht zur Diskussion. Es muß genügen, festgestellt zu haben, daß empirische Bedingungen und ihr Determinationsgesetz (empirischen „Charakters") das Sollensgesetz sowie die Motivation und Einwirkungsart, an welche es sich fordernd richtet (beides von „intelligiblem" Charakter), nicht „affiziere". Erscheinungen einerseits, der „transzendentale Gegenstand" unseres „Wesens selbst" und seiner Möglichkeiten, sich zu äußern andererseits haben je ihre eigene Wirkensdynamik. Aber man kann das, ebenso den Unterschied wie das Zusammen-Bestehen-Können, nur richtig denken, wenn man die Ideen nicht als Gegenstandsbegriffe begreifender Vernunft, sondern als Regulativprinzipien der Erforschung faßt, als Anweisungen auf immer tiefer eingreifendes Erklären — und Beurteilen. Der 18. Absatz betont abschließend (nach drei Sternen) nur noch einmal, daß es im Rahmen unserer Kritik der reinen theoretischen Vernunft nur um ein Möglichkeit-Denken geht, nicht aber um ein „Schließen", wie in den dialektischen Schlüssen und angeblichen Erweisen der Antinomie. Die „transzendentale Betrachtung" hat es nur mit Begriffen zu tun, nicht mit „Wirklichkeit"; aus bloßen Begriffen allein kann keine Wirklichkeit, auch nicht reale Möglichkeit (keine „Realgründe" überhaupt) erkannt werden. Freiheit konnte „hier" nur als transzendentale Idee (als solche aber doch eben für unser Denken un-

(S. 378 Β 587)

387

ausweichlich) behandelt werden; vom Erkenntnisgrundsatz der Kausalität aber, welcher aller Freiheit zu widerstreiten schien, wird hier nodi nachdrücklich betont, daß (gemäß der Analytik-Lehre der Transzendentalen Deduktion) es unser eigener Verstand ist, dessen Spontaneität — aus ursprünglichem Quell, in Vereinigung mit der Anschauungs- und Auffassungsform der Zeit! — allem GegenständlichErfahrbaren der Welt dieses Gesetz „vorschreibt" und also „selbst Urheber der Erfahrung ist, worin seine Gegenstände angetroffen werden"275. — Die vierte kosmologische Idee (Thema der „IV. Auflösung . . . " ) ist der Vernunftgedanke eines „schlechthin", d. h. unbedingt notwendig Existierenden, von welchem alle Wesen und Dinge unserer Welt „ihrem Dasein nach überhaupt" abhängig sind, während es selber eben als „vollständig" unabhängig daseiend zu denken ist. In unserer Welt als „Sinnenwelt", raumzeitlichen Charakters, ist alles veränderlich, in einem Flusse ständigen Entstehens und Vergehens. Jedes Seiende von empirischer Realität ist abhängig in seiner Existenz von anderem; so jeder Mensch z.B. vom zeitlich vorangehenden Dasein und Zusammenkommen seiner Eltern, ohne welche er eben „überhaupt" nicht existieren würde; — wobei die Eltern wiederum in einer Generationskette stehen (von anderen Naturbedingungen zu schweigen). Insofern kennen und erkennen wir nur „zufälliges" Dasein276. Sofern aber diese Reihenabhängigkeit Notwendigkeits- und Gesetzescharakter hat (gemäß dem Dritten der „Postulate des empirischen Denkens überhaupt" S. 193 ff. Β 279 ff.), handelt es sich um immer nur bedingte („hypothetische") Notwendigkeit. Die Thesis des Vierten Widerstreits stellte den falschen Anspruch, von da auf ein absolutnotwendig Daseiendes schließen zu 275

Vgl. S. 105, 111; Β 127, 137; I V 92 ff. A 125 ff. Prolegomena §§ 36 und 38 (IV 3 1 8 — 3 2 2 ) .

276

Alle drei Kategorien der Modalität treten als Gegensatzkorrelate auf; der Kategorie Notwendigkeit steht die „Zufälligkeit" gegenüber S. 93 Β 106. „ . . . wenn wir Beispiele vom zufälligen Dasein geben sollen, berufen wir uns immer auf Veränderungen und nicht bloß auf die Möglichkeit des Gedankens vom Gegenteil. Veränderung aber ist Begebenheit, die als solche nur durch eine U r sache möglich, deren Nichtsein (sc. Nichtsein ist in der Kategorientafel das Gegensatzkorrelat zum „Dasein") also für sich möglich ist . . . " . S. 1 9 9 / 2 0 0 Β 290/1. Das Kriterium der „objektiven Zufälligkeit" einer „existierenden Substanz", d. i. die Möglichkeit ihres Nichtseins liegt in der zeitlich-kausalen Abhängigkeit. S. 2 0 6 Β 302.

388

(S. 378 Β 587)

können; dagegen wollte die Antithesis (dogmatischer „Empirismus") geradezu das „Nichtsein" eines solchen — von welcher Art auch immer zu denkenden — Etwas erweisen. Beide Ansprüche waren durch die Kritische Entscheidung als Produkte des transzendentalen Scheins erklärt worden; jetzt aber, in unserer „Auflösung", geht es um eben diese Idee im Sinne eines regulativen Prinzips für den empirischen Gebrauch unseres Erkenntnisvermögens. Zum Unterschied vom Thema der Kausalität durch Freiheit geht es hier nicht um etwaige „Ableitung" gewisser Weltbegebenheiten oder „Reihen von Zuständen" (insonderheit von Handlungen gewisser Wesen in der Welt samt deren Auswirkungen), sondern um Daseins-Abhängigkeit und -Ableitung der Dinge, der Weltwesen überhaupt — in „absoluter Vollständigkeit" (vgl. die Formulierung in der Tafel S. 287 Β 443). Am „dynamischen" Grundcharakter „unbedingter Existenz" steht nicht das Wie eines Erwirkens, sondern die Daseinsart selbst zur Debatte: das Subsistieren selber („Substanz"), ohne alle Beziehung auf Zustände277. Alle Substanzen der Erscheinung, sei es Materie als das Beharrliche im Raum, seien es Lebewesen überhaupt oder Menschen, „ S u b j e k t Substanzen mit der Fähigkeit zu handeln — sie alle haben bei aller ihnen jeweils zukommenden Beharrung in der Zeit Abhängigkeitscharakter. Demgegenüber also geht diese Idee auf einen „transzendenten" Naturbegriff, welcher die dynamische Reihen-Totalität „der Art nach" überschreitet (S. 289/90 Β 447/8). Eben darum kann die zeitlich-anschauliche „Reihe der Zustände" hier „nur zur Leitung" auf das hin dienen, was selber „nur" zu „denken" (in keiner Weise zu erkennen) ist, zu denken als substantia noumenon von unbedingter Existenz. Der 2. Absatz stellt noch einmal fest, daß ein solches Ens necessarium, wie audi immer anzunehmen, nicht wie ein erstes Glied raum277

Vgl. IV 220 A 349: „Von jedem Dinge überhaupt kann ich sagen, es sei Substanz, so fern idi es von bloßen Prädikaten und Bestimmungen der Dinge unterscheide." — S. 162 Β 225: „Es ist aber das Substrat alles Realen, d.i. zur Existenz der Dinge Gehörigen, die Substanz, an welcher alles, was zum Dasein gehört, nur als Bestimmung kann gedacht werden." Der Grundsatz der (Beharrlichkeit der) Substanz geht selbstverständlich immer nur auf substantia phaenomenon, welche immer nur relational („nichts als Verhältnisse") ist; mit einer „Abhängigkeit (!) der Welt von einer obersten Ursache" (die ihrerseits unabhängig-existent wäre) kann dieser £wc&i?irc««gsgrundsatz nicht in Konflikt geraten. Vgl. S. 164/5 Β 229.

(S. 378 Β i 87)

389

zeitlicher Reihen gedacht werden kann; daß also die Antithesis des Vierten Widerstreits allein Recht behalten würde, wenn Erscheinungen, Sinnenwelt überhaupt nicht bloße Erscheinungen, sondern „Dinge an sich wären". 2 ' 8 Aber es ist nun eben, wie jetzt noch einmal betont wird, jeder dynamische Regreß (anders als der „mathematische" in den zwei ersten Antinomiethemen) nicht gebunden an Gleichartigkeit anschaulicher Erscheinungen; vielmehr ermöglicht er den Überschritt zu „Ungleichartigem"2™: zu dem Ganz-Anderen des Ansich-Seienden, welches allen Erscheinungsreihen, ihren Gliedmomenten und Modalitäten grundsätzlich enthoben ist. Was für mögliche „Ableitungen" zuständlicher Begebenheiten von einer so ganz anderen Ursach-Art „aus Freiheit" (causa noumenon) denkbar wurde, mit neuer Aussicht — das müßte doch wohl auch jetzt, für absolute Unabhängigkeit eines (so oder so zu denkenden) Substanzdaseins (Ens necessarium als substantia noumenon) gelten können — transzendent gegenüber allem „zufälligen" (kontingenten) Dasein von Substanzen in der Weltveränderung, von Wesen aller Art und Wirkung, wie sie in den Erscheinungsreihen uns begegnen. Auch hier also zeigt sich ein „Ausweg" (4. Absatz) aus dem „scheinbaren" Widerstreit, und zwar eine positive Auflösung des in der Verstellung des transzendentalen Scheins Unentwirrbaren: beide Sätze sind wahr (nicht beide falsch, wie bei den „mathematischen" Weisen des Widerstreits!), sofern eben die Position der Antithesis rein auf Erfahrbares einzuschränken ist, die Thesis dagegen auf ein wesenhaft Unerfahrbares, auch nicht aus Erfahrungen rational zu Erschließendes hindenkt: auf eine Daseinsweise von „intelligibler" Art. Dieses „unbedingte Dasein" liegt, so angesehen, allen Erscheinungen „überhaupt", der ganzen Sinnenwelt „zum Grunde" — ganz nach dem allgemeinen Sinn jener neuen Position des transzendentalen Idealismus, wonach allem je Erfahrbaren Ansich-Seiendes zugrundeliegt, ohne daß wir doch dieses Noumenale erkennen

278

Die gleiche Wendung bei der „Auflösung" des Dritten Widerstreits S. 364 Β 563.

279

Einführung dieses „wesentlidien Unterschieds" in der „Schlußanmerkung" zur Auflösung der zwei ersten samt „Vorerinnerung" für die Auflösung der zwei „dynamischen" Antinomien S. 361 Β 557. Der entsprechende „Ausweg" ( „ b e i d e s in verschiedener Beziehung" wahr) in der Auflösung des Dritten Widerstreits S. 365 Β 564.

390

(S. 378 Β 587)

und die Abkünftigkeit von da näher begreiflich machen könnten. Ein Ens necessarium kann von der Vernunft nie als ein „erstes" und „oberstes" Glied der Weltreihe erreicht werden (nach dem Modell „der Notwendigkeit eines ersten Bewegers" S. 20 Β XXXII), sondern muß, als von allen raumzeitlichen Dimensionen unbetroffen, rein gedacht werden: „ganz außer der Reihe der Sinnenwelt"280. Gegenüber der Lehre vom „intelligiblen Charakter" gewisser Weltwesen besteht ein wichtiger Unterschied insofern, als es jetzt nicht mehr um eine Weise der Wirksamkeit von handelnden Subjekten geht, sondern um Daseiendes als solches, um „Substanz" selbst. Dort trat „das Ding selbst" (jedes Menschenwesen) handelnd in Erscheinung, war oder wurde also (als in der Sinnenwelt begegnendes tätiges Wesen von „empirischem Charakter") zeitlich gegenwärtig und vorhanden als substantia phaenomenon, beharrlich existierend in der Zeit, in wechselnden Zuständen und Verhältnissen, wobei allein die Weise handelnden Eingreifens aus vernunfthaften Triebfedern auf ein intelligibles Vermögen hinwies. Jetzt aber, wo es um die Daseinsart der Substanz selber geht, um ein intelligibles Sub-stratum alles in der Welt möglicher Erfahrung je Begegnenden und zeitlich-„zufällig" Bestehenden — jetzt muß das Übersinnliche von schlechthinnotwendiger Daseinsart als „ganz" außer der Sinnenwelt existent gedacht werden (als Problema!), als Ens extramundanum — nach dem alten Ausdruck281. Die Wahrheit auch dieser Idee liegt in ihrer Regulativ-Bedeutung: auch dieses Unbedingte ist uns in keiner Weise, vom gegebenen Bedingten her, „gegeben" (als vorhanden Seiendes nachweisbar), sondern eben immer — aufgegeben, Vernunftaufgabe für alle empirisch280

Schon bei der Erstaufrollung der „Idealitäts"-Lehre für Raum und Zeit wurde zum Abschluß die Bedeutung dieser Position für die „natürliche Theologie", für die Metaphysik vom „Urwesen" betont (S. 72 Β 71/2); die Idee des Ens necessarium steht, wie in der „Schlußanmerkung" zur Antinomie noch angedeutet wird, an der Schwelle der Überlegungen zur natürlichen Theologie.

281

Man darf diesen Terminus hier nicht sogleich bzw. nur im Sinne einer theistischen Terminologie verstehen; die ganze Überlegung steht jetzt nodi im Thema des notwendigen Wesens als einer kosmologiscben Idee. Nur das wird eben, hier schon festgelegt, daß ein selber nicht in seiner Existenz bedingter WeltGrund jedenfalls nicht als von Raum und Zeit betroffen gedacht werden darf, auch nicht wenn er so etwas wie ein Erster Beweger oder eine „Weltseele" oder ein „Weltbaumeister" (Demiurg) sein sollte.

(S. 378 Β 587)

391

kosmologische Erforschung. Diese darf nie „den Faden der empirischen Bedingungen verlassen" (6. Absatz); nichts, kein Bestand und keine „Eigenschaft" 282 , darf erklärt werden durch unmittelbare „Ableitung" aus einem höheren, nicht seinerseits unter Naturgesetzen stehenden Prinzip. Nichts „in der Reihe selbst" darf (etwa unter dem Namen: Weltseele!) als selbständig existierend, selber unabhängig, aber auf anderes Einfluß übend behauptet und als Erklärungsgrund eingesetzt werden; „transzendente . . . Erklärungsgründe" sind grundsätzlich von der Erfahrungsforschung auszuschließen. Solche Regulativ-Anweisung läßt aber völlig die Erwägung offen, ob nicht die ganze Sinnenwelt, mit allem was darin etwa auf „ Architektonisches" (gemäß jener Ideen-Erläuterung von Plato her), auf Bildungen „nach Zwecken, d. i. nach Ideen" weist, „gegründet sein könne" in „irgend einem" (wie auch immer anzunehmenden) „intelligiblen Wesen" von notwendigem Daseinscharakter. Der empirische Verstandesgebrauch, den die Idee zu „regulieren" hat, will nicht und kann nicht über Dinge an sich („Dinge überhaupt" hieß es in der Ontologie der Schule; Kant sagt auch manchmal: „Dinge an sich und überhaupt") und ihre Möglichkeit, Zufälligkeit, Notwendigkeit entscheiden. Wie bei dem Thema der Kausalität durch Freiheit wird hier, in der Transzendentalphilosophie, die es bloß mit den Begriffen (hier mit dem Begriff von Existierendem), nicht mit der Existenz selbst zu tun hat, die Möglichkeit erwiesen, ein absolut-notwendig Seiendes als Noumenon („Verstandeswesen") zu denken — bei gleichzeitig unverkürzter Voraussetzung durchgängiger, nirgendwo abzubrechender „Zufälligkeit" alles empirisch Realen. In ihrem Rahmen kann jenes „Denken" nur eine „willkürliche" Voraussetzung sein: ohne Entscheidung darüber, ob so etwas an sich realmöglich, oder aber „an sich unmöglich" sei; ein Notwendigkeitsnachweis für diese „Annahme" kann, wenn überhaupt, nur anderswoher, im Zusammenhang mit einer anderen Weise von Vernunftgebrauch, erwartet werden. Durchgängige Zufälligkeit aller Erscheinungen und durchgängige Abhängigkeit eben derselben von einem an sich seienden Ens necessarium: das kann „beiderseits wahr sein"; aller empirische Vernunftgebrauch ist durch die Kritische Entscheidung (anders als im 282

Kant denkt dabei vermutlich an die „Eigenschaft" des Lebens bei den Körpern, die wir Organismen nennen.

392

(S. 378 Β i 87)

„Empirismus" der Antithesis) „eingeschränkt" auf sein „Gebiet", regulativ für alles Verstehen und Erklären; der „transzendentale" Vernunftgebrauch aber, Regulativ-Idee des notwendigen Wesens, eröffnet die Sicht auf ein ganz anderes „Feld" und einen ganz anderen Zusammenhang des Realen mit dem „zum Grunde" Liegenden, dem intelligiblen Substratum. Der 7. Absatz deutet nodi einmal an, daß man von keiner Teilerscheinung, „welche es auch sei" (Absatz 5: „in Ansehung keiner Eigenschaft"), für die Erklärung aus dem Raum-Zeit-Zusammenhang herausspringen dürfe (etwa: Organismen „erklärend" als weise Anordnung einer überweltlichen Intelligenz). Alles was in der Sinnenwelt begegnet, was es auch immer sei, ist Erscheinung für uns und mit allen anderen Erscheinungen verknüpft; den Raum und die Zeit und alles, was darin sich darstellt, können und dürfen wir nicht (für theoretische Erklärung) „verlassen", um in einem Absprang zum „transzendentalen Grunde" ihrer Existenz zu kommen. Die alte Metaphysik nahm die Erscheinungen für Dinge an sich selbst und also auch für an sich selber kontingent („zufällig"); — dann mußte sie freilich glauben, auf ein notwendiges Wesen den Schluß ziehen zu dürfen (nach ungeprüft vorausgesetzter ontologischer Allgeltung des Prinzips vom zureichenden Grund). Wir haben aber in Wahrheit nicht „zufällige Dinge" (Dinge an sich, als an sich zufällig erkannt), sondern immer nur Dinge unserer (raumzeitlichen) Vorstellungsart mit ihrem wesenhaften Relationalitätscharakter, der weder ein absolut Notwendiges noch ein absolut Zufälliges (contingentia noumenon) zu erkennen gibt. Die Dinge unserer Welt sind, im raumzeitlichen Relationszusammenhang, alle miteinander zufällig; aber diese (empirische) Zufälligkeit „ist selbst nur Phänomen". Keine Bedingung des Zufälligen von dieser (uns allein gegebenen und konstatierbaren) Art kann selber unabhängig sein (dem Dasein nach; hier geht es ja nicht mehr um Unabhängigkeit eines Erwirkens!); auch sie ist immer wieder „sinnlich"-bedingt. Darin lag und liegt das Wahrheitsmoment der Antithesis, deren empiristiscber Charakter aber dann, der Einschränkung entbehrend, in Widerstreit „mit der (doch auch wieder notwendigen) Vernunftidee geriet. Die „Auflösung" liegt eben darin, daß das „Absolutnotwendige" (von welcher Art audi immer) „außer" der Reihe, außer der Sinnenwelt angesetzt wird, als Problema und Aufgabe. Diese Notwendigkeit aber erkennen wir nicht etwa, son-

(S. 378 Β 587)

393

dem „denken" sie nur „respektive auf Erscheinungen" (Noumenon im negativen Verstände!), als Gegengedanke gegen alle erscheinende „Zufälligkeit". (Ein „in Ansehung dieser" Unbedingtnotwendiges, heißt es im letzten Absatz). — Auch hier wieder betont Kant, daß der Antinomie-Schein nur auf diese Weise, nur von der Position der idealistischen Erscheinungslehre und der Anerkennung völliger Andersartigkeit alles Ansich-Seienden aus, sich beheben lasse. Der 8. Absatz, welcher noch einmal die Vereinbarkeit der „unbegrenzten" Zufälligkeit auf dem Gebiete möglicher Erfahrung und sicherer Erkenntnisse mit der „Einräumung", der theoretischen Möglichkeits-Erwägung eines notwendigen Wesens als „intelligibler Ursache"283 (die aber für uns ein „bloß" transzendentaler und an sich „unbekannter Grund" bleibt) betont, dies im Zeichen des RegulativPrinzips für alle Erscheinungen „überhaupt" (nicht etwa für gewisse nur — ζ. B. für die Organismen) — greift nun noch ausdrücklich auf das kosmologisch-naturphilosophische Teleologie-Problem („in Ansehung der Zwecke") voraus. Unter dem „reinen Gebrauch der Vernunft" wird man hierfür zunächst einmal den „praktischen" zu verstehen haben, — gemäß auch der Voranstellung im Plato-Passus der „Ideen"-Einführung. Der Ausblick, welcher (nach der Kritik der praktischen Vernunft) hier auf ein „Reich der Zwecke" überhaupt und dessen „Urheber" sich öffnet, wird dann in der Dritten Kritik 283

D a ß in die vierte kosmologisdie Idee, welche aus der Steigerung der Modalitätskategorie „Notwendigkeit — Zufälligkeit" ins Unbedingte erwächst, immer wieder auch der Ursach-Begriff (Relationskategorie) hineinspielt, darf nicht verwirren. D i e Gesichtspunkte sind grundverschieden, doch der Zusammenhang liegt in der Sache. Jedes ens originarium et necessarium, jede Arche für alles Kontingente, selber als „Urwesen" unabhängig existierend (und „Substanz") wird zugleich als Wirkensmächtigkeit für alles oder in allem Abhängigen gedacht. Das gilt ebenso für die „Weltseele"-Konzeptionen der Metaphysikgeschichte („in der W e l t " ) wie für die pantheistischen („die Welt selbst"; etwa Spinoza: die Eine unbedingtnotwendige Substanz, welcher gegenüber alle Modi als ihr „inhärent" abhängig sind, ist zugleich natura naturans), wie audi für die demiurgisch-platonischen und für alle theistischen Gedanken vom unabhängigen und notwendigen Weltgrund als schaffender Ursache. Auch im G e danken des Ersten Bewegers, welchen K a n t für das Thema der Dritten Antinomiethesis anführte, kreuzen sich die begrifflich streng zu unterscheidenden Anliegen: in der Vorrede Β spricht K a n t davon unter unserem jetzigen Gesichtspunkt: „ . . . der Zufälligkeit des Veränderlichen und der Notwendigkeit eines Ersten Bewegers" S. 20 Β X X X I I . „Dynamisch" ist ebenso das Thema der Kausalität wie das der Unabhängigkeit im Dasein und des von ihm Abhängigen und also Zufälligen.

394

(S. 381 Β 59314)

mit den großen Anliegen der Ntfiwrteleologie verbunden werden — als welche ja ihrerseits, andeutungsweise, in der Riickblendung auf Plato auch schon auftraten unter den Ausdrücken eines Natur- y> Ursprungs aus Ideen", einer „regelmäßigen Anordnung" der Organismen, audi des „Weltbaus", und „vermutlich also" auch „der ganzen Naturordnung" — allenthalben also, auf dem Grunde der erfahrbar-erschließbaren „physischen Weltordnung", eine nur in regulativem „Aufsteigen" sich etwa zeigende „architektonische Verknüpfung nach Zwecken"284. — Die Schlußanmerkung zur „ganzen" Antinomie ist zugleich Uberleitung zum Dritten Hauptstück. Das Antinomiethema des Ens necessarium (mit den verschiedenen Möglichkeiten, dessen Weltbezug zu denken) setzt sich im Thema der natürlichen Theologie fort; und in dem kommenden Zusammenhang bekommt auch wieder die Idee der „transzendentalen Freiheit", im ursprünglich-allgemeinen, nicht auf Wesen in der Welt und deren Handelns-"Charakter" bezogenen Sinne, neue Aktualität. — Die Ideen, welche in den Weisen der Antinomie auftraten, sind „zwar transzendental", d. h. von bloß begrifflicher Notwendigkeit, „aber doch kosmologisch": sie haben wesenhaften Bezug auf die gegebene bzw. aufgegebene Welt und Welterfahrung! Von ihnen setzen die beiden letzten, die „dynamischen", ihr Unbedingtes „außerhalb der Sinnenwelt" und haben also TranszendenzCharakter („transzendente Naturbegriffe" S. 289/90 Β 448), womit sie, über ihre Funktion im regulativen Gebrauch hinaus, metaphysische Valenz annehmen: Intention aus reinen Vernunftbegriffen auf schlechthin unerfahrbare („transzendentale") Gegenstände, Gegenstände von nichtempirischer „Realität", welche in keinem Sinne „gegeben werden", sondern welche Vernunft rein aus sich selber für sich „macht". Sie „zuzulassen" (nicht etwa: sie zu behaupten!) ist der reinen theoretischen Vernunft „erlaubt"; man muß nur immer sich audi gegenwärtig halten, daß wir dieses Ansich-Seiende (Ding an sich) nicht bestimmen können nach seinen Eigenschaften (so das Wie der transzendentalen Freiheit, das Was und welcher Art etwa des Notwen284

N o d i einmal verweisen wir auf dieses so wichtige Einführungsstück von Kants Ideen-Lehre (S. 246/7 ff. Β 370/1 ff.), welches in knappen Andeutungen viel von dem vorausnimmt, wofür unsere Kritik die „propädeutische" Vorbereitung, bzw. transzendental-philosophische Bodenbereinigung und Grundlegung sein sollte.

(S. 381Β 59314)

395

digen Wesens), nach seinen „inneren" Prädikaten 285 . Für solches Wissen gibt es nicht „die mindeste Rechtfertigung", welche irgendwie noch der „transzendentalen Deduktion" der auf Erfahrung anzuwendenden Kategorien zur Seite gestellt werden könnte: dies auch nicht für das Daß realer Existenz. Bloß für das Denken der Vernunft, bloß als „Gedankending" kann so etwas wie Freiheitswirksamkeit und ein notwendiges Dasein zugelassen werden. Vom letzteren Thema aus aber drängt sich ein Wagnis288 auf: das Transzendente, von allen Erscheinungen mit ihrer empirisch-feststellbaren Zufälligkeit schlechthin Unterschiedene, ihrer Totalität gegenüber Heterogene, noch weiter in Vernunftbetrachtung und -entwurf zu nehmen — als an sich, „für sich" bestehende „Wirklichkeit"! Nicht nur alle Erscheinungen in den raumzeitlichen Erscheinungsreihen, sondern Erscheinung überhaupt in ihrem raumzeitlichen Grundcharakter ist ja nur eine „zufällige" Vorstellungsart287 — Vorstellungsart für Gegenstände, die in ihrem Ansich bloß-intelligibel für uns sind (Noumena, außerhalb jenen unendlichen Reihen), und Vorstellewsart von uns, die wir in unserem „Wesen" selbst Intelligenzen sind288. Die Kontingenz, welche sich hier andeutet, ist eine andere, als die Zufälligkeit zeitlichen Bestands und Daseins: sie betrifft die menschliche Daseinsverfassung und Weltbegegnung selber, welche zuletzt auch das transzendentale Wissen um Erscheinung und Ansich-Sein in sich birgt. 285 v g l . J , n n e r e " und „absolute" Notwendigkeit, wo denn das Gegenteil „innerlich unmöglich ist". S. 252/3 Β 382. 288 Wagnis des metaphysischen Seefahrers auf den weiten und stürmischen Ozean hinaus, welcher das Insel-Land der Wahrheit (die empirische Realität) auf allen Seiten umgibt. S. 202 Β 295. 287 Vgl. S. 377 Β 585: Wir können, als Menschen, nicht einmal die Frage stellen, „woher der transzendentale Gegenstand unserer äußeren sinnlichen Anschauung gerade nur Anschauung im Räume und nicht irgend eine andere gebe". Daß wir alles Begegnende immer nur räumlich-zeitlich auffassen können, das können wir nur als ein (transzendentales) Grundfaktum unseres In-der-Welt-Seins konstatieren, nicht aber nodi aus einem „Grunde" herleiten; für uns ist das eben und bleibt „zufällig". Uns ist ja auch die „gemeinsame Wurzel" der beiden Stämme unserer Sinnlichkeit und des Verstandes schlechthin unbekannt. 288 Sofern ich mir, im Vollzug der transzendentalen Apperzeption, des eigenen Wesens in seiner Spontaneität bewußt bin, darf idi midi „Intelligenz" nennen, — ohne Anspruch, die zeitfreie Daseinsart dieses Bestimmenden irgendwie näher zu bestimmen. S. 123 a Β 1 5 7 / 8 a. — Was die moralphilosophisciien Werke Kants den Inbegriff „vernünftiger Wesen überhaupt" nennen werden, heißt im Vorblick auf „Moraltheologie" innerhalb unserer Kritik („Methodenlehre"): „Welt der Intelligenzen". S. 529 Β 843. 13 Heimsoeth, Transzendentale Dialektik II

396

(S. 381 Β

393/4)

Ein Weg eröffnet sich für die Betrachtung des Notwendigen Wesens: zwar nicht ein solcher wirklicher „Kenntnis" (etwa der „inneren Prädikate"), aber der eines „Analogie"-Bezugs auf dieses Unbekannte und Unerkennbare — und damit auch etwa ein Weg zu den „Intelligenzen" und zum Intelligiblen überhaupt, von dem aus, was „an sich notwendig" ist. Dieser Analogieweg ist natürlich wesenhaft und völlig unterschieden von aller Art „Analogien der Erfahrung"; es geht hier überhaupt nicht um mögliche Analogieschlüsse". Aber audi hier, im Wagnis der Vernunft aufs Transzendente hin, bedeutet Analogiedenken den Bezug von uns faßbaren qualitativen Verhältnisgliedern aus auf ein Unbekanntes, welches wir selbst nicht erkennen können289. Das Analogie-Prinzip metaphysischen Erwägens, das hier zum ersten Mal in der Kritik nachdrücklich auftritt 290 , wird nähere Erläuterung erst mit seiner Hauptanwendung im Dritten Hauptstück (und in der Methodenlehre) erfahren; hier wird darauf nur vorgedeutet. Abschließend tritt der für künftige Metaphysik, welcher unsere Kritik den Boden vorbereiten sollte, zentrale Programmgedanke Kants auf, daß wir die Kenntnis der intelligiblen Dinge (soweit man 289 290

291

Vgl. S. 160/1 Β 222. Immerhin geht die Analogiebetrachtung gegen Ende der Paralogismen, welche die Vernunft samt ihrem „eigentümlichen Gebiet, nämlich der Ordung der Zwecke, die dodi zugleich eine Ordnung der N a t u r ist . . n a c h der „Analogie mit der Natur lebender Wesen in dieser W e l t " ansehen will, schon in diese Richtung. S. 277 Β 425. Vgl. im übrigen die in unserer Anm. 266 zitierten Stellen aus der Methodenlehre, sowie die §§ 58 und 59 der Prolegomena. Dazu hat K a n t in einem Aufsätzchen von 1786 nähere Angaben gemacht: „Besinnet euch nur, wie ihr den Begriff von Gott, als höchster Intelligenz, zu Stande bringt. I h r denkt euch in ihm lauter wahre Realität d. i. etwas, das nicht bloß (wie man gemeiniglich dafür hält) den Negationen entgegengesetzt wird, sondern auch und vornehmlich den Realitäten in der Erscheinung (realitas Phaenomenon), dergleichen alle sind, die uns durch Sinne gegeben werden müssen . . . . Nun vermindert alle diese Realitäten (Verstand, Wille, Seligkeit, Macht etc.) dem Grade nach, so bleiben sie doch der Art (Qualität) nach immer dieselben, so habt ihr Eigenschaften der Dinge an sich selbst, die ihr auch auf andere Dinge außer G o t t anwenden könnt." „Es scheint zwar befremdlich, daß wir unsere Begriffe von Dingen an sich selbst nur dadurch gehörig bestimmen können, daß wir alle Realität zuerst auf den Begriff von G o t t reduzieren und so, wie er darin statt findet, allererst auch auf andere Dinge als Dinge an sich anwenden sollen. Allein jenes ist lediglich das Scheidungsmittel alles Sinnlichen und der Erscheinung von dem, was durch den Verstand, als zu Sachen an sich selbst gehörig, betrachtet werden kann." V I I I 154 („Einige Bemerkungen zu L. H . J a k o b ' s Prüfung der Mendelssohn'schen Morgenstunden").

397

hier von Kenntnis sprechen kann) aus dem, „was an sich notwendig ist", ableiten müssen, — in reinen (anschauungsfreien) Begriffen von „Dingen überhaupt"291. Mit dem letzten Vernunftbegriff des Antinomie-Hauptstücks, dem des Ens necessarium, wird also nun das Dritte Hauptstück der transzendentalen Dialektik, unter anderen Voraussetzungen, „anfangen".

Anhang Ergänzendes zu den beiden Abschnitten: „Möglichkeit der Kausalität durch Freiheit . . . " und: „Erläuterung der kosmologischen Idee der Freiheit . . . " S. 366-377 Β 566-577; Kommentar: S. 345/6—386/7. Kants Lehre von der menschlichen Freiheit und Verantwortung und besonders das Kernstück derselben, der Begriff des „Intelligiblen Charakters", ist in der Darstellung der Ersten Kritik, wo die Sache ja auch bloß episodisch behandelt werden konnte, so knapp nur dargelegt (aber dann auch in keinem späteren Werke noch einmal eigens behandelt) worden, daß es sich nahe legt, für dieses besonders schwierige Textstück unseres Werkes noch nach anderen Quellen, als Mittel für das Textverständnis, Ausschau zu halten. Es trifft sich glücklich, daß unter den Notizen aus Kants Handexemplar von Baumgartens Metaphysica sich eine ganze, thematisch einheitliche Gruppe befindet, welche sehr intensiv und vielseitig von Freiheit und Charakter handelt und übrigens, nach allen Indizien, auch zeitlich der Niederschrift des Hauptwerkes nahesteht. In der Anmerkung Nr. 267 dieses II. Kommentarteils haben wir einige besonders erhellende Partien daraus, noch ohne Kommentierung, zitiert. Im folgenden soll kurz noch das Ergebnis einer auf eben diese Reflexionen sich stützenden und dieselben ausführlicher zitierenden Untersuchung des Verfassers als Kommentar-Zusatz dargelegt werden. (Zitiert wird mit einfachen Seitenzahlen aus Bd. XVIII der Akademieausgabe unter Beifügung der Zeilenzahl; in Fällen, wo andere Reflexionen aus diesem oder dem vorhergehenden Nachlaßbande angeführt werden, tritt die Band-Angabe, XVIII bzw. auch XVII, hinzu.) Zur Theorie im Ganzen: Menschliche Freiheit bedeutet für Kant 13*

398

nicht, daß gewisse Aktionen unseres Lebens dem Satz des „zureichenden" oder „determinierenden" Grundes nicht mehr unterliegen, also die Bindungen desselben sozusagen überspringen würden. Das hieße, eine bloße In-determination, damit aber auch Unverantwortlichkeit des Handelnden, voraussetzen. In Wahrheit gehören aber, gerade für Kant, Freiheit als absolute Spontaneität und Zurechnung („Imputabilität" S. 310 Β 476) engstens und mit Notwendigkeit zusammen — wie das ja auch noch gegen Ende des zweiten unserer Abschnitte (Terminus: Schuld dem Charakter „beimessen" S. 376 Β 583) betont wird. Freiheit setzt ganz bestimmte Motivation und also Eigen-Determination aus personalem Grunde voraus. „Kausalität aus Freiheit" bedeutet keineswegs den einfachen „Mangel" zureichender Gründe (25 84), sondern nur eine Nicht-Antreffbarkeit reiner Vernunftinitiativen, welche spontan Anfänge von Wirkungsreihen setzen, unter den Erscheinungen. Menschliche „Willkür" (vgl. 363/4 Β 562 nebst Kommentierung) ist im Gegensatz zur tierischen eine „vermischte": „libertas hybrida", d.i. eine solche von zweierlei Abkunft (25710), Menschliche Handlungen werden „zum Teil durch Verstand" (in späterer Fassung heißt das: durch reine praktische Vernunft; „Verstand" hat in unseren Texten, wie gelegentlich auch noch in den Dialektik-Darlegungen, fast durchweg noch die ältere Bedeutung, die mit „Intelligenz" und „Intelligibel" zusammengeht!), „zum Teil durch Sinne regiert" (2562o)· Das Vernunfthafte in uns hat seine „eigene Kausalität", ist aus sich „wirkendes und treibendes principium", welches in Handlungen, schon in Gesinnungen „einfließt" (inflexus ohne Wechselwirkung!). Es gibt „Bestimmbarkeit der Kraft (!)" im Handeln aus sittlichen Motiven, aus Gründen eines „Verstandes", der „nicht von Gegenständen affiziert", von sinnlichen Anreizen (stimuli) frei und damit selber frei-bestimmend (determinans) ist (vgl. 2536, 258 n ). Vernunft als solche aber (und alle Vernunft-„Gründe" oder Motivationen) ist zeitfrei: unbetroffen vom Fluß der Veränderungen, der Geschehnisse des Weltlaufs, also auch nicht „bestimmt" (determiniert) durch „andere" oder ihr „äußere" Gründe-Ursachen, etwa der nächst- oder früher vorangegangenen! Sie ist spontaneo anfangend und insofern analog zum Handelnsursprung eines „obersten Verstandes" (25727, 25624) — wie das ja schon im Kernbegriff der Antinomie: „transzendentale Frei-

399

heit" lag. Menschliches Tun steht unter zweierlei „Gesetz", ist schon, ganz allgemein, von zweierlei „Charakter" (vgl. S. 366 Β 567: „Charakter . . . d. i. ein Gesetz ihrer Kausalität . . . " ) . Immer ist es im menschlichen Leben und Tun möglich, „daß die intellektuelle Willkür sich einmische, die vom Gesetz der Abhängigkeit von Sinnen ausgenommen ist"; Vernunft („Verstand") bestimmt dann eben, auf die Handelnskräfte einfließend, „einen anderen Lauf der Sinnlichkeit" (255 il) as)· Vernunft und „intellektuelle Gründe" fallen nicht „in die Sinne"; aber: die „Wirkungen" solcher Bestimmungsart erscheinen in den zeitlichen Geschehnissen und ziehen ihre Folgewirkungen im Weltlauf, ganze „Reihen" von Begebenheiten, nach sich. Insofern aber hängen dann auch wieder alle Handlungen der Menschen „mit Gesetzen der Sinnlichkeit gut zusammen" (25219). Vom Sollenssinn des Menschenlebens her gesehen, gibt nur das aus Vernunft Bestimmte einen „objektiv" zureichenden Grund ab; er ist das „complement der Zulänglichkeit" gegenüber allen den „subjektiven" Willkürantrieben der Sinnlichkeit, der Sinnenwelt als soldier (2542δ). „Unter den Erscheinungen muß alles (!) bestimmt sein, aber entweder nach . . . pathologischen oder moralischen Gesetzen; ist das erste, so ist das Gegenteil doch möglich nach Vernunftgesetzen, also der Mensch frei; ist das letztere, so ist das Subjekt auch (sc.: ebenfalls) frei" (256^3 Sittliche Freiheit!). Daß aber alles Gründe-und UrsachenSuchen in Erscheinungsfeldern nie und in keinem Sinne bis zu einem „zureichend" determinierenden Grunde (etwa: Ursachenkomplex, Motivkomplexe) führen könnte, ist ja wegen der raumzeitlichen Reihen-Unendlichkeit im Regreß (Antinomiethema!) eo ipso klar (s. auch 254,). — Im Folgenden wird sich noch zeigen, daß eben diese Unabsehbarkeit für Kant nodi eine ganz besondere, den inneren Sinn allein betreffende, Bedeutungsseite hat (und dies in einem sozusagen intensiven, nicht jenem zeitlich-rückwärtsführenden Extensions-Sinne) — als welche im Kritik-Text gar nicht explizit zu Worte kommt! „Es können also die bloß zum Teil durch Verstand (reine praktische Vernunft), zum Teil durch Sinne regierten Handlungen nach keiner Regel des einen oder anderen erklärt" (bzw. sozusagen ganz verstanden und gedeutet) werden; das „Gegenteil von dem, was ohne Verstand geschieht, hätte immer geschehen können" (25625).

400

Trannszendentale Freiheit (beim Menschen!) ist insofern — regulativ gesehen — „völlige Zufälligkeit der Handlungen" (XVIII 18310): immer ist, wiedas der alten Definition von „zufällig" ja auch entspricht, das Gegenteil an sich möglich! Besonders akut wird das immer für unser Bewußtsein vor dem Handeln: „antecedenter" werden wir uns und müssen wir uns „zu derselben unbestimmt (sc.: nicht determiniert durch Vorangegangenes und Schon-Bestehendes in uns) und uns vermögend fühlen, einen ersten Anfang der Reihe der Erscheinungen zu machen"; in der Eigen-„Bestimmung zum actu setzen wir uns bloß (!) in den Standpunkt des Verstandes ' (256m, 22 ). Doch hat dieselbe (regulative) Sicht auch ihre unvergängliche Bedeutung im Nachhinein, beim Rückbesinnen auf vergangene Regungen und Taten: auch sie können und müssen wir stets ansehen als damals un-bestimmt „durch alles, was zu den phaenomenis gehöret". Wenn solche Handlungen (actus der Gesinnung oder dann der tätigen Einwirkung) in der Nachbeurteilung des „objektiv" zureichenden Grundes entbehrten, dann müssen wir urteilen, daß sie anders hätten geschehen sollen! Das „Vermögen" der Kausalität aus oder durch Freiheit, diese nur dem Menschen unter den Weltwesen (die wir kennen) eignende Mächtigkeit und Könnenschaft, hängt nicht von Zeitverhältnissen ab. Es ist, damals wie jetzt und überhaupt, „immer gegenwärtig", und insofern „beständig"! Wo es nicht „in Erscheinung" tritt, auf Erscheinungen bestimmend einfließt, spricht Kant von „Unterlassungen" (vgl. o. Anm. 263), welche er den „Vollkommenheiten" (perfectiones, positive Wertqualitäten sittlicher Motivation) entgegenstellt: Unterlassungen der „oberen" Willkür (25219, 2585, 2569). Die positiven Momente der Selbstbestimmung können, eben als nichtsinnliche, nicht wahrgenommen, beobachtet, empirisch erschlossen werden; nur ihre Wirkungen treten ja als (und in den) Erscheinungen auf. Empirische Erklärungen haben, bei guten wie bei bösen Handlungen, immer „auch ihren Grund; nur die erste Direktion dieser Ursachen, das Moment (!), sie zu bestimmen (ist unbestimmt und) wird nicht unter den Erscheinungen angetroffen, kann aber darin audi nicht vermisset werden, weil wir die Erscheinungen nicht bis zu dem Moment ihres Anfangs (!) beobachten können" (255/6, 271 !). Sowohl die „wahre Tätigkeit der Vernunft" in und aus sich, wie „ihr Effekt (!) gehört zum mundo intelligibili" (Effekt deuten wir als: Gesinnungs-

401

regung, Einstellung der „Denkungsart", Absichtsbildung); während die „Äußerungen" dieser Innen-Mächtigkeit sich in Erscheinungen, im Empirischen der Sinnenwelt, vor allem im „empirischen Charakter" jedes Menschen, zeigen (2533; vgl. im übrigen audi XVII 328, 462, 465/6). — Die Wirkensmächtigkeit der (sittlichen) Vernunft hat, im Gegensatz zu aller „vernünftigen" Überlegung realer Zweck-Mittel-Verhältnisse im Handeln, den Charakter der Unmittelbarkeit der Willensbestimmung. „Freiheit ist das Vermögen, nur durch Vernunft determiniert zu werden, und nicht bloß mittelbar, sondern unmittelbar." Es ist die dirigierende, Anfänge setzende „Spontaneität des Wollens", auf die hin „wir uns Vorwürfe oder Billigung" machen (vgl. XVIII 181 f.). Nun aber: für die wirkliche Einwirkung auf den Lauf der Dinge, schon auf das eigene Sich-Einsetzen bedarf es stets auch der Vermittlungen! Hier setzt das in der Antinomie, zwedks Herausarbeitung der Idee: „transzendentale Freiheit" noch weggeschobene Thema der „psychologischen" Freiheit und der „Freiheit im praktischen Verstände" (vgl. S. 362 Β 561 ff.) ein. Die dirigierende Vernunft bedient sieb, nicht nur da, wo es um bloße Sinnlichkeitsbestrebungen geht, also als „technisch-praktische Vernunft", wie Kant das später nennen wird, — sondern auch in der Beziehung „auf die letzten und allgemeinen Zwecke" unseres Lebens (Kant schreibt hier: „der Sinnlichkeit") der natürlichen „Triebfedern oder sinnlichen Anreizungen" (2569-12). Unsere Freiheit ist das Vermögen, „independenter vom Mechanism der Natur diesen Mechanism selbst zu bestimmen", — insofern also nach dem Mechanismus der Natur zu handeln (XVIII 412 f.). Die reine praktische; Vernunft „muß selber die Sinnlichkeit excitieren, damit sie (!) die Handlung determiniere; also geschieht (! zeitlich) sie nach Gesetzen der Sinnlichkeit und doch des Verstandes" (Vernunft) (XVII 509). Nun, von solchen „determinierenden Gründen der Sinnlichkeit", welche im Dienste der sittlichen Vernunft stehen, kennen wir — wie überhaupt von unseren Antrieben und Triebfedern — immer nur „die nächsten", um aus ihnen eine Handlung zu „erklären". In unserem inneren Haushalt gibt es (sagt Kant später, in der Zweiten Kritik) Triebfedern der Sinnlichkeit, welche „der Moralität analogisch"

402

sind; sie spielen im Einsatz der praktischen Vernunft eine besonders wichtige Rolle. Insofern, auf die komplizierte innere Dynamik der Vermittlungen hin angesehen, „geschieht so -wohl das Laster als die Tugend nach Naturgesetzen und muß danach erklärt (!) werden (Ehre, Gesundheit, Belohnung). Selbst die moralisch, guten Handlungen aus obigen Triebfedern, Erziehung und Temperament. Die Erklärung hat auch ihren Grund; nur die erste Direktion" — ist eben nicht unter Erscheinungsbegebenheiten, also im Fluß des inneren Sinnes, anzutreffen (255/6). „Ehre" ist Kants Hauptbeispiel für solche „objektiven" Bestimmungs-Gründe, welche zugleich „subjektiv hinreichend sind" (wie es später dann heißt). „Was die subjektiv bewegenden Gründe oder die Triebfedern betrifft, so hat der Verstand (sc.: reine praktische Vernunft) wohl die Kraft, den Wunsch (!) eines guten Willens zuwege zu bringen; allein die . . . Gewichte, welche den sinnlichen Menschen bewegen sollen, müssen . . . aus dem Vorrat der Sinnlichkeit entlehnt sein, ob sie zwar durch den Verstand auf ihre Hebel zweckmäßig sollen verteilt werden" (XIX 153). Für die Möglichkeit kausalempirischer „Erklärung" unseres Tuns gilt also: soviel immer beobachtet und aus Erfahrungen genommen werden kann, geschieht alles „vermittelst sinnlicher Triebfedern, wodurch die Handlung bestimmt ist" (2572). Daß die Erscheinungsreihen. im Regressus, nie zu „zureichenden" Gründen, zum „vollständigen" Grunde führen können, das ist schon ganz durch die AntinomieAuflösung in der Kritik gegeben. Aber in unserem Reflexionentext kommt nun, innerhalb derselben, also innerhalb der Auflösung dieser Antinomie der Teilung oder Dekomposition, noch eine andere Dimension der Unvollständigkeit zur Sprache: wir stoßen in der Fremdwie in der Selbsterfahrung menschlichen Handelns und schon der Absichtsbildung auch im einzelnen Vollzug auf eine in sich unabsehbar-„unendliche" Zwischenreihe vermittelnder Triebfedern (samt Einmischung von Bloß-Sinnlichem), „deren Zusammenhang mit dem gegebenen Zustande nur nach allgemeinen Gesetzen der Möglichkeit (sc.: nicht aber einer Determinationsnotwendigkeit!) kann erklärt werden" (25518). „Als Erscheinung würde nicht allein eine Handlung, sondern auch ihr Gegenteil ihren zureichenden Grund im regressu . . . (zwischen zween Zuständen) ins Unendliche (durch decomposition) haben. Aber diese Reihe der Gründe kann niemals vollständig

403

sein und . . . von den kleinsten Elementen (!) des Grundes an sich zusammengesetzt werden" (254/5). Man kann sich Kants grundsätzliche Überlegungen in dieser Sache (ganz abgesehen noch vom „Existenziellen" seiner Erfahrung um die Kompliziertheit und die Verstellungsmöglichkeiten menschlichen Verhaltens und Selbst-Erfahrens, um die „Dialektik" des Herzens!) plastisch vorstellig machen, wenn man Kants Lehre vom inneren Sinn (empirische Psychologie) dem Assoziationsschema Humes und anderer gegenüber- und entgegenstellt. Letztere Auffassung vom Inneren unseres Wesens stellt eine Art psychologisch-psychologistischer Atomistik dar: simple ideas oder impressions sollten die „Elemente" aller Komplexionen, aller Vorstellungs- und Gemütsvorgänge sein! Wie es aber für Kant, nada dem Ergebnis seiner Antinomie der Dekomposition, keine „einfachen" Elemente der (raumkörperlichen) „Materie" geben kann, Materie in der Erfahrungswelt vielmehr wesenhaft ins Unendliche teilbar sein muß — dynamische Kontinuitätstheorie! —, so gilt für den inneren Sinn und seine Konstitution im homogenen Kontinuum der Zeit, daß alles empirisch in uns Erlebbare unendlicher Dekomposition unterliegt! Auch hier gibt es nichts „Einfaches", weder als gegebenen oder gebbaren Seelenkern, nodi in den „Zuständen" und Antrieben als „Elementen" des Psychischen, etwa Elementareinsheiten in Motivationskomplexen. — Und nun das große Thema des Charakters. Im Kommentar-Text (S. 346 Anm. 234) haben wir ganz kurz erwähnt, welche Aus- und Mißdeutung Kants Lehre vom Intelligiblen Charakter schon gleich bei ersten Nachkantianern großen Stils erfahren hat: im Sinne einer vorzeitlichen Fixierung; — so, daß dann alles zeitliche operari des einzelnen Menschenwesens nur daraus erfolgen soll, womöglich in völliger Determination. Solche Auffassung kann und könnte gewiß an viele kantische Textstellen, welche von „Beständigkeit" jenes Charakters reden, anknüpfen, — den Charakter absetzend gegen alle „Veränderungen" und „Geschehnisse". Auch in unseren Reflexionstexten heißt es am Ende der Stelle, die über den eigenen Charakter spricht, den oder dessen Taten man sich (nur aus phaenomenis ihn kennend) imputiere: „In der intelligiblen Welt geschieht und verändert sich nichts, und da fällt die Regel der Kausalverbindungen weg" (253/4). — Man vergißt aber immer zu leicht, daß das Nou-

404

menon, alle intelligiblen „Dinge" (entia), für Kants kritischen Idealismus immer nur Noumenon „im negativen Verstände" ist, — daß also das Heteron in der Heterogeneitätsspannung zwischen Erscheinung und Dingen an sich nicht darum etwas Statisches (so wenig wie ein „Dingliches"!) sein muß, weil es in Gegenposition zu Veränderungen und Begebenheiten steht! Gegen eine solche Kontraposition, die alles nicht der Zeit Anheimgegebene als „an sich selbst unveränderlich" auffassen möchte, hat Kant einmal, in dem bedeutungsreichen und berühmten Briefe an M. Herz vom Februar 1772, gesagt: Die Dinge selbst — wobei Kant offenbar primär gerade an die „Intelligenzen'^ denkend-handelnde Wesen denkt, seien „weder veränderlich noch unveränderlich"! Hier, beim Charakter, muß man sich dergleichen Äußerung immer besonders gegenwärtig halten (wenn sie audi zeitlich weiter zurückliegt). Was nun die Aussagen der Kritik über den „bleibenden" Charakter anlangt, so muß man sich den Sachzusammenhang von Denkspontaneität („ursprüngliche" transzendentale Apperzeption!) und „intellektuell"-intelligibler Freiheit und Freiheitswirksamkeit vor Augen stellen: also zu den Aussagen der Dialektik auch entsprechende der Analytik (die unter anderen Aufgaben steht) hinzunehmen (wie das im Kommentar-Text ja schon angedeutet wurde). Audi die transzendentale Apperzeption, in deren ur-sprünglichem (insofern immer wieder als Anfang einsetzendem) Vollzug von „Handlungen", „actus" des reinen Verstandes und auch der aufs Unbedingte hindenkenden Vernunft — wird ja „stehendes und bleibendes Idi" genannt (IV91 A123); und das bedeutet doch durchaus nicht so etwas wie eine bleibende Substanz in oder audi vor zeitlichen Veränderungen! Vielmehr „steht" das ursprüngliche Vermögen des Verstehens immerfort bereit, sinnlich Gegebenes synthetisch-aktiv zu formen; geformt werden Gegenstände der Erfahrung, die ihrerseits, wie schon das Materiale der Empfindungsgegebenheiten, im Zeitfluß sind. Audi diese („theoretische") Weise unserer geistigen Spontaneität (für welche eine „Bündeltheorie" wie die des Assoziationismus keinen Platz hat) kann nie in Wahrnehmung oder Beobachtung „angetroffen" werden; alles, was wir erfahren können, wird ja erst durch die ursprüngliche Bestimmenskraft konstituiert, zugleich mit „Selbstaffektion" des denkenden Ichwesens! Kant bringt in der Analytik bekanntlich zur Ver-

405

deutlichung des Sachverhalts das sozusagen psychologische Beispiel der Aufmerksamkeit (S. 122/3 a Β 156 a). Eben dieses Beispiel taucht auch jetzt, in unserem Reflexionentext wieder auf: im Zusammenhang von Freiheit und Charakter (psychologische Freiheit und Freiheit im praktischen Verstände!). „Eine jede Handlung als Erscheinung (!) hat ihren Bestimmungsgrund in einer anderen positiven oder negativen Handlung von mir, diese wiederum in einer anderen und so ins unendliche." „Es ist also gar kein vollständiger Grund unter den Erscheinungen, also immer nur ein unter meinem eigenen Belieben (arbitrium!), diese oder jene Aufmerksamkeit anzuwenden oder abzuwenden bedingte Notwendigkeit. Diese Bedingung aber, weil sie immer bleibt (!), und weil sie die Bedingung der eigenen Selbsttätigkeit ist, so ist sie niemals eine äußerliche bedingte Notwendigkeit" (254T - 14 ). Wie das Verständnis von Gegebenheiten des äußeren Sinnes (man denke an naturwissenschaftliche Beobachtungen und Experimente), so hängt auch das Verständnis (und Selbstverständnis) der Motive und Antriebe, bei der Beurteilung von Willensäußerungen und bei der Gewissensprüfung, ab von der Spontaneität und allen „Willkür"-Möglichkeiten der Aufmerksamkeit, der Akzentuierung und Gewichtsverlegung. Sie ist es, welche jeweils heraushebt aus der Fülle potentiell (extensiv und sozusagen intensiv) unendlicher Gegebenheiten! Der intelligible Charakter „ist" also nichts Stehendes und Bleibendes im Sinne eines statischen Ansichseins (und Gewordenseins). Sondern er ist „Selbstand" (diesen Ausdruck hat Leibniz in seinen deutschen Schriften geprägt: für das Monade-Sein, das immer ein spontanes, aus sich selbst sich Fortentwickeln ist!) im Tun: er bildet ständig am empirischen Charakter! „Bei einem tätigen principio hat der (sc.: zeitliche) Zustand gar keinen Einfluß auf das Subjekt, weder der vergangene nodi der gegenwärtige, seine Handlungen (!) zu determinieren." „Das Subjekt ist jederzeit (!) aus sich selbst her Quell (!) der Handlungen", als „unwandelbare (!) Spontaneität" (XVII 466; X V I I I 182/3). Im Laufe unseres Lebens zieht das Vernunfthafte in uns (in unserer „Persönlichkeit") „die Sinnlichkeit allmählich (!) im (sc.: in einen) habitus, erregt Triebfedern und bildet (!) daher einen Charakter, der aber selbst der Freiheit beizumessen (sc.: Imputabili tätsgrund!) und . . . in den Erscheinungen nicht hinreichend ge-

406

gründet ist" (252ll5). Die Vernunft im tätigen Wesen Mensch „bedient sich der Naturbescbaffenheit (sc.: Naturell, Temperament, bisheriges Gewordensein) nach ihren Gesetzen" (2531β, 2569). Audi bei bedenklichster „Natur"-anlage war immer und ist immer, aus Initiativen des intelligiblen (auch: „intellektuellen") Idi das Gegenteil des Bösen möglich — so wie audi umgekehrt moralisch gute Handlungen mitbedingt sein können durch „Erziehung und Temperament", also durch naturhaft-sinnliche Einflüsse und Vorgegebenheiten (25712). In dem Maße aber nun, als wirklich und realiter Vernunft in uns mit ihren „immer bleibenden" und „objektiven" Motivations- oder „Bewegungsgründen" konsequent am Charakter (am empirischen) bilden, ihn ausprägen zu einem durchhaltenden Habitus guten Willens, kommt es im Zeitfluß „sinnlichen" Lebens zu jener Festigkeit und Zuverlässigkeit, welche wir, im sozusagen emphatischen Sinne, „einen Charakter" nennen. Aus „festen Grundsätzen" der reinen praktischen Vernunft entsteht dann in den „Äußerungen", in den „Erscheinungen" des Menschenlebens eine eigene Regelmäßigkeit im Ubergang zu und in der Konsequenz von Handlungen (vgl. 257/8). In jedem Falle aber wird der empirische Charakter mit allen zeitlichen zustandsbedingten Regungen und Stellungnahmen Schema der intelligiblen Freiheitskausalität, welche eben immerfort Anfänge setzen kann (auch aber — damit aussetzen kann, in „Unterlassungen" des formenden Einfließens!): „Die Handlungen hier in der Welt (sc.:„Sinnenwelt"!) sind bloße Schemata von der (wir deuten: den!) intelligiblen" (25327; vgl. im Kommentartext S. 375 ff.). Daher „imputiert man sich" die eigenen Taten und Gesinnungsweisen vom empirischen Charakter aus, der uns ja allein bekannt wird, und dies, obgleich man um seine Determiniertheiten als Erscheinung und in Erscheinungen weiß! Kennte man den eigenen (oder anderer) Charakter „an sich selbst", „so würde alles Gute und Böse keiner äußeren Ursache, sondern nur dem Subjekt selbst beizumessen sein, zusamt den guten und nachteiligen Folgen" (253/4; vgl. auch XVII 590, 590/1). — Es wurde hier darauf verzichtet, diese „Anhangs"-Uberlegungen und -Zitate eigens nodi mit den oben kommentierten Stellen aus dem Text der beiden Abschnitte, insbesondere des zweiten („Erläuterung . . . " ) unseres Werkes näher zu konfrontieren.

Literaturangaben Verf. hat für alle vier Antinomie-Arten, vom Text der Kritik aus, rückgreifend, Untersuchungen angestellt, welche auf die historischen Hintergründe sowie auf die Genesis derselben beim „vorkritischen" Kant abzielen. Da diese vier Abhandlungen sich immer auch um das Inhaltsverständnis der Antinomie bemühen, seien sie hier noch genannt: Zum ersten Widerstreit: „Zeitliche Weltunendlichkeit und das Problem des Anfangs" in: Studien zur Philosophiegeschichte, Köln 1961, S. 269—292. Kölner Universitätsverlag. Zum zweiten Widerstreit: „Atom, Seele, Monade. Historische Ursprünge und Hintergründe von Kants Antinomie der Teilung." Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Jahrgang 1960, Nr. 3. Franz Steiner Verlag Wiesbaden. 142 S. Zum dritten Widerstreit: „Zum kosmotheologischen Ursprung der Kantischen Freiheitsantinomie." In: Kant-Studien, 57. Jahrgang, Heft 1—3,1966, S. 206—229. Zum vierten Widerstreit: „Le Continu métaphysique de la Quatrième Antinomie de Kant." In: L'histoire de la philosophie, Hommage à Martial Guèroult. Paris 1964. Ed. Fischbacher. Aus der in Anm. 267 erwähnten Reflexionen-Folge hat Verf. nach Abschluß dieses Kommentarbandes eine größere Abhandlung verfaßt, welche eben diese Reflexionen (und andere) weiter zum näheren Verständnis der Kantischen Lehre vom empirischen und intelligiblen Charakter auszuwerten sucht: „Freiheit und Charakter. Nach den Kant-Reflexionen Nr. 5611—5620." In: Tradition und Kritik. Festschrift für R. Zocher. Stuttgart 1967.

CORRIGENDA zum ersten Teil S. 42, Anm. 58, Ζ. 2: statt Gegästände: Gegenstände S. 51, 2 . 2 v. u.: statt realitas: realitatis S. 52, Anm. 76, Z . 6 f f . : lies: legung war für Kants Reflexionen zum Gottes- und Weltthema von großer Wichtigkeit geworden . . . Ebd., Z. 14 f.: lies: Erfahrung und Erfahrungsschlüsse) kennen. „Dagegen kann das Reale in der Erscheinung (realitas phaenomenon) untereinander allerdings in Widerstreit sein, S. 58, Anm. 81, Z. 4 f.: lies: Eine maßgebende Rolle spielen. Ein Problem „ohne alle Auflösung" im Sinne direkter Gegenstandsbewältigung kann sehr wohl höchst fruchtbar sein — als Ebd., Anm. 82, Z. 11 f.: lies: Scheinbehauptungen schicken sich durchaus nicht in einen Kanon . . . " . Vgl. ferner S. 82 Β 88 und, in der Methodenlehre, S. 517 ff. Β 823 ff. S. 69, Z. 17 v. o.: statt Feiheit: Freiheit S. 102, Anm. 144, vorletzte Z.: statt entsprechendem: entsprechenden S. 127, Anm. 177, Z. 2: statt den: die S. 131, Anm. 181, Z. 4 v. u.: statt ent: en S. 154, Anm. 224, Ζ. 3: tilge: Veränderungen! Ebd., Anm. 226, letzte Z.: lies: aber folglich eben „nicht mehr in der Qualität" der Welt-Körper und ihrer Ortsveränderungen! S. 161, Z. 9 v. o.: tilge: erst

Kritik und Metaphysik Studien Heinz Heimsoeth zum achtzigsten Geburtstag Herausgegeben von

FRIEDRICH KAULBACH

und

JOACHIM R I T T E R

Groß-Oktav. VIII, 395 Seiten. 1966. Ganzleinen D M 64,— Inhalt

I. Y V O N BEL AVAL, P A R I S : Sur un point de comparaison entre Kant et Leibniz — MARTIAL G U E R O U L T , P A R I S : Die Struktur der zweiten Analogie der Erfahrung — INGEBORG H E I D E M A N N , B O N N : Die Funktion des Beispieles in der kritischen Philosophie — D I E T E R H E N R I C H , HEIDELBERG: Z U Kants Begriff der Philosophie. Eine Edition und eine Fragestellung — FRIEDRICH KAULBACH, M Ü N S T E R : Weltorientierung, Weltkenntnis und pragmatische Vernunft bei Kant — GERHARD LEHMANN, BERLIN: Diaconus Wasianski. Unveröffentlichte Briefe — GOTTFRIED M A R T I N ,

BONN: Kants Auseinandersetzung mit der Bestimmung der Phänomene durch Leibniz und Wolff als verworrene Vorstellungen — TAKIYETTIN MENGÜSOGLU, ISTANBUL: Der Begriff des Menschen bei Kant — P. JOSEF SCHMUCKER, REGENSBURG: Die Originalität des ontotheologischen Argumentes Kants gegenüber verwandten Gedankengängen bei Leibniz und in der Schulphilosophie der Zeit — G I O R G I O TONELLI, R O M : Die Voraussetzungen zur Kantisdien Urteilstafel in der Logik des 1 8 . Jahrhunderts — H E R M A N J. DE VLEESCHAUWER, P R E T O R I A : Logica genuina ou le Purisme logique. Kant et Geulincx II. H A N S BLUMENBERG, B O C H U M : Die essentielle Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes — GERDA FREIIN VON BREDOW, M Ü N S T E R : Wesensgestalten der Sittlich-

keit. Erwägungen über das Sein sittlicher Werte am Beispiel der „Wahrhaftigkeit" und des Wertgegensatzes von „Demut" und „Stolz, Hochgesinntheit" — H O R S T FUHRMANS, B O N N : Das Gott-Welt-Verhältnis in Schellings positiver Philosophie — E R I C H H E I N T E L , W I E N : Sokratisches Wissen und praktischer Primat — LUDWIG LANDGREBE, K Ö L N : Das philosophische Problem des Endes der Geschichte — MICHAEL LANDMANN, BERLIN: Der Mensch als Herr und Opfer der Geschidite — ERNST LICHTENSTEIN, MÜNSTER: Von Meister Eckhart bis H e g e l . Z u r

philoso-

phischen Entwicklung des deutschen Bildungsbegriffs — FRIEDHELM N I C O L I N , B O N N : Die systematische Stellung der Geschidite der Pädagogik seit Herbart und Schleiermacher — INGETRUD P A P E , V E C H T A : Zur Metaphysik von Macht und Geist — JOACHIM R I T T E R , M Ü N S T E R : Moralität und Sittlichkeit. Zu Hegels Auseinandersetzung mit der kantischen Ethik — K A R L - H E I N Z VOLKMANN-SCHLUCK, K Ö L N : Ridiard Wagner als Repräsentant des 1 9 . Jahrhunderts — H A N S W A G N E R , B O N N : Piatos Phaedo und der Beginn der Methaphysik als Wissenschaft (Phaedo 99 D — 1 0 7 B)

FRIEDHELM N I C O L I N , B O N N :

III. Bibliographie Heinz Heimsoeth

Walter de Gruyter & C o

· Berlin 3 0

ERNST KONRAD

SPECHT

Sprache und Sein Untersuchungen zur sprachanalytischen Grundlegung der Ontologie. Groß-Oktav. VIII, 155 Seiten. 1967. Ganzleinen DM 38,—

ERNST

TUGENDHAT

Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger Groß-Oktav. XII, 415 Seiten. 1967. Ganzleinen DM 38,—

RAINER MARTEN

Der Logos der Dialektik Eine Theorie zu Piatons Sophistes Groß-Oktav. VIII, 260 Seiten. 1965. Ganzleinen DM 52,— MICHAEL

THEUNISSEN

Der Andere Studien zur Sozialontologie der Gegenwart. Groß-Oktav. XII, 538 Seiten. 1963. Ganzleinen DM 68,—

Walter de Gruyter & Co · Berlin 30