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German Pages 309 [312] Year 2007
Transformationen des Religiösen
w DE
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Trends in Medieval Philology Edited by Ingrid Kasten · Nikiaus Largier Mireille Schnyder
Editorial Board Ingrid Bennewitz • John Greenfield · Christian Kiening Theo Kobusch • Peter von Moos · Uta Störmer-Caysa
Volume 11
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Transformationen des Religiösen Performativität und Textualität im geistlichen Spiel Herausgegeben von Ingrid Kasten und Erika Fischer-Lichte Redaktionelle Mitarbeit Elke Koch
Walter de Gruyter · Berlin · New York
® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISSN 1612-443X ISBN 978-3-11-019340-4 Bibliografische Information Der Deutschen
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Inhaltsverzeichnis INGRID KASTEN
Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel
I. Das geistliche Spiel als cultural
VII
performance
ERIKA FISCHER-LICHTE
Theater und Fest - Anmerkungen zum Verhältnis von Theatralität und Ritualität in den geistlichen Spielen des Mittelalters
3
ECKEHARD SIMON
Geistliche Fastnachtspiele. Zum Grenzbereich zwischen geistlichem und weltlichem Spiel
18
JUTTA EMING
Simultaneität und Verdoppelung. Motivationsstrukturen im geistlichen Spiel
46
GLENN EHRSTINE
Präsenzverwaltimg: Die Regulierimg des Spielrahmens durch den Proklamator und andere expositores liidi
63
WERNER RÖCKE
Maria Magdalena und Judas Ischarioth. Das Alsfelder Passionsspiel und die Erlauer Spiele als Experimentierfelder des Bösen und soziokultureller Standards im Spätmittelalter
80
II. Performativität und Textualität M . A . KATRITZKY
Text and Performance: Medieval Religious Stage Quacks and the Commedia dell'Arte
99
JODY ENDERS
The Devil in the Flesh of Theater
127
CHRISTIAN KIENING
Präsenz - Memoria - Performativität. Überlegungen im Blick auf das Innsbrucker Fronleichnamsspiel
139
VI
Inhaltsverzeichnis
CORNELIA HERBERICHS
Lektüren des Performativen. Zur Medialität geistlicher Spiele des Mittelalters
169
III. Transformationen des Religiösen Inszenierungen des Heiligen ANDREAS KOTTE
Vom Verstummen der Texte angesichts des Wunders. Wirkungsstrategien im geistlichen Spiel
189
ELKE KOCH
Inszenierungen des Heiligen. Spielspezifische Strategien am Beispiel hessischer Passionsspiele
201
KLAUS KRÜGER
Bild und Bühne. Dispositive des imaginären Blicks
218
CLEMENS RISI
Erfahrimg des Heiligen in der Oper? Zur religiösen Dimension der Affektdarstellung und -Übertragung im Musiktheater des frühen 17. Jahrhunderts
249
JENS ROSELT
Transformationen des Religiösen im zeitgenössischen Theater
264
Register
280
Namen, Orte, Werke
280
Sachen
284
INGRID KASTEN
Transformationen des Religiösen Performativität und Textualität im geistlichen Spiel
Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes sind aus einer internationalen und interdisziplinären Tagung hervorgegangen, die im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Kulturen des Performativen" vom 23.-25. September 2005 an der Freien Universität Berlin veranstaltet wurde. Mit dem Performativen als zentralem Paradigma hat sich der Sonderforschungsbereich das Ziel gesetzt, Kultur nicht mehr nach dem ,Text-Modell' zu definieren, sondern als Inszenierimg und Auffuhrung zu begreifen. Dabei wird zwischen dem ,TextModell' und dem .Performance-Modell' jedoch kein Ausschlussverhältnis postuliert, sondern es wird davon ausgegangen, dass beide Modelle aufeinander zu beziehen und in ihren historisch je variablen Relationen zu untersuchen sind. Die Schwerpunktsetzung der Tagung auf die geistlichen Spiele des Mittelalters ergab sich aus der Zusammenarbeit des theaterwissenschaftlichen und des mediävistischen Teilprojekts des Sonderforschungsbereichs. Die Relationen von Text und Kultur, von Oralität und Skripturalität, unterscheiden sich in der Kultur des Mittelalters beträchtlich von den Verhältnissen in der Moderne. Mit dem Konzept des Performativen können auf systematischer Ebene verschiedene Dimensionen erschlossen werden - eine sprachwissenschaftliche bzw. sprachphilosophische Dimension, eine Dimension der cultural performance und eine ästhetische Dimension - , die geeignet sind, den Blick nicht nur für systematische Aspekte, sondern auch für historische Differenzen und Transformationsprozesse zu schärfen. Die geistlichen Spiele, die in vielen europäischen Kulturen des Mittelalters bis in die Moderne nachweisbar sind, stehen in engem Zusammenhang mit Frömmigkeitspraktiken der Zeit und beziehen ihre Sujets aus dem Kult, aus der Bibel und aus Legenden. Die Stoffe bleiben auch später in der religiösen Praxis, in der bildenden Kunst, im Theater, in der Literatur und schließlich im Film produktiv. Von Anfang an war deshalb geplant, trotz der Schwerpunktsetzung auf das geistliche Spiel die Perspektive exemplarisch auf die Gegenwart hin offen zu halten.' Die Tagung konnte an die seit einiger Zeit deutlich belebte Diskussion über die Spezifik theatraler Formen in Mittelalter und früher Neuzeit anknüpfen. Ι
D a s K o n z e p t w u r d e i n Z u s a m m e n a r b e i t v o n INGRID KASTEN, ERIKA FISCHER-LICHTE, JUTTA EMING u n d ELKE KOCH e n t w i c k e l t .
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Ingrid Kasten
Zur Debatte stehen dabei nach wie vor Fragen nach den Funktionen des geistlichen Spiels in der sozialen und symbolischen Kommunikation, 2 nach der Ästhetik und den Praktiken der Aufführung, nach der Relation von Performativität und Textualität sowie nach dem Status des religiösen Dramas zwischen Kult und Theater. 3 In der anhaltenden Diskussion über diese Fragen sind die Grenzen herkömmlicher Gattungszuschreibungen deutlich geworden. Zwar ist sich die Forschung darüber einig, dass mit den Spielen neue Aufführungsformen gegenüber der Liturgie entstehen, es ist bislang jedoch kein Konsens darüber erzielt worden, aufgrund welcher Kriterien die Spiele als ,Theater' zu klassifizieren oder aber davon abzugrenzen sind. Die Unsicherheit gegenüber ihrem ,theatralen' Status spiegelt sich auch in wechselnden Bezeichnungen (Spiel, Drama, Theater; mystere; sacramental theater, biblical drama etc.) wieder, die überdies von unterschiedlichen, die einzelnen europäischen Kulturen prägenden nationalen Epochenkonzepten (Mittelalter, Renaissance, Frühe Neuzeit) überlagert werden. Es gilt daher, nach neuen Wegen zu suchen, um ein adäquates Verständnis vonnoderner Formen des Theatralen zu erzielen. Die Tagung diente als Forum, auf dem neuere Ansätze der internationalen Forschung aus den Mittelalterphilologien, der Theaterwissenschaft und der Kunstgeschichte exemplarisch zur Diskussion gestellt werden konnten. Das Tagungskonzept sah drei Schwerpunkte vor, die den aktuellen Forschungsstand auf zentrale Aspekte fokussierten und die dementsprechend auch die Struktur des vorliegenden Bandes bestimmen, wobei partielle Überschneidungen unvermeidlich sind. Die Beiträge nehmen ziun einen die Spiele als cultural performances und als Teil einer multimedialen Frömmigkeitspraxis in den Blick, sie fragen nach der Relation von Weltlichem und Geistlichem, von Alltags- und Festkultur in mittelalterlichen Städten sowie nach den Wechselwirkungen von Emotionskultur und Frömmigkeitsformen. Zum anderen werden, von dem in der Theaterwissenschaft entwickelten Paradigma des Performativen ausgehend, das flu· die Untersuchung von Aufführungen und Texten neue Perspektiven eröffnet, die Erkenntnismöglichkeiten ausgelotet und zugleich kritisch reflektiert, die ein performativitätstheoretischer Ansatz für die Analyse geistlicher Spiele bietet. Damit werden methodische Fragen in den Blick gerückt, die über die Vormodeme hinaus relevant sind, wie etwa die nach der Diskursivierung von Aufführungen und die nach der Medialität der Spiele zwischen Text 2
Vgl. den S a m m e l b a n d : D a s Theater des Mittelalters und der frühen N e u z e i t als Ort und M e d i u m sozialer u n d symbolischer K o m m u n i k a t i o n . Hrsg. v o n CHRISTEL MEYER/HEINZ MEYER/ CLAUDIA SPANILY, M ü n s t e r 2 0 0 4 (Symbolische K o m m u n i k a t i o n und gesellschaftliche Wertesysteme; Schriften des Sonderforschungsbereichs 4 9 6 4).
3
Dieses P r o b l e m ist in einer Reihe rezenter Publikationen verhandelt worden. Verwiesen sei an dieser Stelle n u r auf den S a m m e l b a n d : Ritual u n d Inszenierung. Geistliches u n d weltliches D r a m a des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von HANS-JOACHIM ZIEGELER, Tübingen 2004. Ich bin d e m H e r a u s g e b e r zu g r o ß e m D a n k verpflichtet, dass er so freundlich war, mir vor d e m Erscheinen eine Kopie des B a n d e s z u k o m m e n zu lassen.
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Transformationen des Religiösen
und Aufführung. Ein dritter Schwerpunkt gilt der Frage, wie religiöse Inhalte im geistlichen Spiel transformiert werden und wie das Heilige inszeniert wird. Die Perspektive wird dabei über das geistliche Spiel hinaus erweitert, indem zum einen neuzeitliche theatrale Formen und zum anderen bildliche Darstellungen einbezogen werden.
I. Das geistliche Spiel als cultural
performance
Als Teil der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Festkultur weisen die Spiele in den einzelnen europäischen Ländern viele Gemeinsamkeiten, aber auch unterschiedliche Traditionsbildungen auf, die vergleichend bislang nur ansatzweise erforscht sind. In dem Konzept der cultural performance4 ist die neuzeitliche Trennimg zwischen einem ästhetischen und einem anthropologischen Theaterbegriff aufgehoben. Mit ihm verbindet sich die Vorstellung, dass eine Kultur sich in ihren öffentlichen Ritualen und theatralen Praktiken selbst .aufführt'. 5 Von diesem Konzept ausgehend, wird das geistliche Spiel, wie bereits in einigen Studien geschehen, 6 als Medium der kollektiven Aushandlung von zentralen Aspekten symbolischer und sozialer Ordnimg in den Städten der Vormoderne betrachtet. Grundsätzlich stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie Beschreibungsmodelle der Ritualforschung und Konzepte von performance aufeinander zu beziehen sind und produktiv gemacht werden können, um Übergänge von der Alltags- zur Festkultur, die Herstellung und Organisation von Spielräumen, Relationen von Spielern und Zuschauem sowie Prozesse der Gemeinschaftsbildung zu analysieren. Fragen nach dem Zusammenhang geistlicher Spiele mit der allgemeinen Frömmigkeitspraxis und der Emotionskultur der Zeit sowie danach, wie geistliche Spiele von anderen cultural performances (von kultischen Vollzügen wie etwa Prozessionen) zu unterscheiden sind, schließen sich in dieser Perspektive an. Die Debatte um den Status der geistlichen Spiele zwischen Kult und Theater, die in jüngster Zeit großes Interesse auf sich gezogen hat, bildet den Hintergrund mehrerer Beiträge, die mit unterschiedlichen Zugängen die besonderen Charakteristika des geistlichen Spiels als performative Gattung näher zu beschreiben suchen.
4
Den Begriff prägte MILTON SINGER in der Einleitung zu seiner Aufsatzsammlung: Traditional India. Structure and Change, Philadelphia 1959, hier S. xii f.
5
Grundlegend für diese Auffassung waren die Thesen von CLIFFORD GEERTZ [dt.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Problem kultureller Systeme, Frankfurt a.M. 1983].
6
Der Ansatz ist insbesondere in der anglo-amerikanischen Forschung zu den englischen Corpus-Christi-Spie\en entwickelt worden, vgl. MIRI RUBIN: Corpus Christi. The Eucharist in late medieval culture, Cambridge 1991; SARAH BECKWITH: Christ's body. Identity, culture and society in late medieval writings, London, New York 1993; CLAIRE SPONSLER: Drama and resistance. Bodies, goods, and theatricality in late medieval England Minneapolis, London 1997.
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Ingrid Kasten
In einer zweiten Perspektive, die sich an die Konzeptualisierung geistlicher Spiele als cultural performance anschließt, rückt die Frage nach der Auffuhrung und Bearbeitung von kulturellen Ordnungsmodellen in den Mittelpunkt. Hier gilt es zu klären, wie geistliche Spiele als Medien sozialer Kommunikation fungieren, indem sie das Verhältnis von Norm, Transgression, Identität und sozialen Grenzziehungen in Szene setzen. So ist beispielsweise zwar bekannt, dass die geistlichen Spiele die Juden häufig als ,die Anderen' schlechthin markieren, sie diffamieren und ihren Ausschluss förmlich in Szene setzen. 7 Aber welche Strategien der Inklusion und Exklusion dabei verwendet werden, ist bislang noch nicht hinreichend erforscht. 8 Verfahren der partiellen Bündnis- und Ausschlussbildung innerhalb der Spiele können auch entlang anderer Grenzziehungen verlaufen und zum Beispiel Aspekte von Gender, Stand, sozialer Rolle, Beruf und anderes betreffen. Der Frage, ob die Spiele eher als Ritual oder als Theater angemessen zu qualifizieren sind, hält ERIKA FLSCHER-LLCHTE in ihrem Beitrag programmatisch entgegen, dass ein Theaterbegriff, der von einer klaren Grenzziehung zwischen Zuschauer- und Spielebene ausgeht, ebenso zu kurz greife wie ein Ritualbegriff, der generell die Partizipation der Zuschauer voraussetze. Die zu Beginn der Spiele häufig geäußerten Silete-Rufe, Appelle an den rechten Glauben und die Aufforderung, eine bestimmte geistige Haltung einzunehmen, seien vielmehr ein Indiz dafür, dass die Reaktion der Zuschauer, die integraler Teil des Geschehens gewesen seien, einer rituellen Kanalisierung unterworfen war. Im Rückgriff auf die moderne Ritualforschimg werden Ritual und Theater als „transformative Performanzen" 9 aufgefasst, die nur auf historischer, nicht aber auf systematischer Ebene zu unterscheiden seien. Bezugspunkt der geistlichen Spiele sind demnach zwar liturgische Vollzüge, zwischen der Realpräsenz in der Eucharistie und der performativen Vergegenwärtigimg der Passion Christi besteht aber eine Differenz. Die Wirkung des Spiels liegt, so FLSCHERLTCHTE, wie die des Sakraments in der Transformation, in der Erlösung. Sie postuliert einen Zusammenhang der Spiele mit zeitgenössischen Ritualen (etwa Strafritualen), verweist aber darauf, dass den Spielen eine Ambivalenz eigen sei, die es nicht erlaube, sie vollständig mit Ritualen zu verrechnen. Als
7
Als repräsentativ für die Forschung zu diesem Komplex sei verwiesen auf die Untersuchung von EDITH WENZEL: ,,DO worden die Judden alle geschaut". Rolle und Funktion der Juden in spätmittelalterlichen Spielen, München 1992 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 14).
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Vgl. INGRID KASTEN: Ritual und Emotionalität. Zum Geistlichen Spiel des Mittelalters. In: Literarische Leben. FS Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hg. von MATTHIAS MEYER/ HANS-JOCHEN SCHIEWER, Tübingen 2002, S. 335-360.
9
FISCHER-LICHTE greift damit auf ein im Bereich der Ethnologie entwickeltes Konzept zurück, v g l . URSULA R A O u n d KLAUS-PETER KÖPPING: D i e , p e r f o r m a t i v e W e n d e ' : L e b e n - R i t u a l
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Theater. In: Im Rausch des Rituals. Hrsg. von URSULA RAO/KLAUS-PETER KÖPPING, Münster, Hamburg, London 2001, S. 1-31.
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cultural performances sind die Spiele durch eine „doppelte Dialektik von Liminalität und Periodizität" gekennzeichnet, der FLSCHER-LLCHTE vier Wirkdimensionen zuschreibt: 1. eine liminale Dimension, die durch eine dem Fest eigene, vom Alltag abgehobene Zeit bestimmt werde, 2. eine transformative Dimension, die den Erlösungsaspekt beinhalte, 3. eine konventionelle, auf Regelhaftigkeit gerichtete Dimension, 4. eine kathartische, aus der Transgression alltäglicher Vorgänge resultierende Dimension. Theatralität und Ritualität erscheinen in dieser Sicht nicht als fixe Größen, sondern stehen in einem wechselnden Verhältnis zueinander. Ein Vergleich mit hinduistischen religiösen Spielen, so lautet das Fazit, könne produktiver sein als die geistlichen Spiele des Mittelalters auf einen Theaterbegriff zu beziehen, der aus dem 18. bzw. 19. Jahrhundert stamme. ECKEHARD SIMON knüpft in seinem Beitrag an neuere Ansätze der Forschimg an, zu deren Entwicklung er selbst maßgeblich beigetragen hat. 10 Er zeigt, dass die Kategorien .weltlich' und .geistlich', sofern sie als oppositionelle Relation gefasst werden, für die Beschreibung mittelalterlicher Spiele nicht angemessen sind. 11 An umfänglichem Material zu geistlichen Fastnachtspielen vermittelt er Einblicke in konkrete Details der Spielpraxis und veranschaulicht, wie unterschiedlich die Spielautoren geistliche Stoffe und Schreibarten vermischten. Nach den von ihm untersuchten Aufführungsbelegen wurden in vielen Städten zur Fastnacht geistliche Spiele aufgeführt. Dabei handelt es sich nicht nur um vergleichsweise kurze Einkehrspiele, sondern meist wurden die Spiele am Fastnachtssonntag als Freilichtaufführungen auf dem Marktplatz gespielt. Die Antichristspiele boten mit dem strukturell in ihnen verankerten Muster .verkehrte Welt' besondere Anschlussmöglichkeiten für die Fastnacht. Auch Dreikönigspiele waren beliebt. Daneben wurden verschiedene alttestamentliche (die Geschichte von David und Susanna, von David und Goliath, von Esther und Ahasverus) und Legendenstoffe (das Theophilusmirakel, die Alexiuslegende und die Legende vom Drachentöter Georg) dramatisiert. Die Funktionsbestimmung der geistlichen Fastnachtspiele als .Gegengewicht' zu derb-komischer Ausgelassenheit greift nach SIMON zu kurz. Im Unterschied zu anderen Interpreten betont er, dass sie Festspielcharakter haben und karnevaleske wie brauchtümliche Elemente (etwa den Moriskentanz) aufnehmen konnten. Der Beitrag von JUTTA EMING knüpft an die Debatte über das Verhältnis von Ritual und Theater an. Ihr Interesse gilt charakteristischen Motivationsstruktu-
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Die Ergebnisse langjährigen Forschens werden zusammengefasst in ECKEHARD SIMON: Die Anfänge des weltlichen Schauspiels 1350-1530. Untersuchung und Dokumentation, Tübingen 2003 (MTU 124). Betont hat dies auch HANSJÜRGEN LINKE: Unstimmige Opposition. .Geistlich' und .weltlich' als Ordnungskategorien der mittelalterlichen Dramatik. In: Leuvense Bijdragen 90 (2001), S. 75-126.
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ren im geistlichen Spiel, die sie mit den Begriffen Simultaneität und Verdoppelimg fasst. Während moderne Interpreten und Kommentatoren diese Verfahren als redundant oder widersprüchlich bezeichnet haben, vertritt EMING die These, dass diese Motivationsstrukturen weder der Liturgie noch der mimetischen Repräsentation zuzurechnen sind, sondern eine dem geistlichen Spiel genuine Theatralität konstituieren und somit einen eigenen Zugang zu seiner Historizität eröffnen. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist die Beobachtung, dass im geistlichen Spiel bestimmte Handlungen, im Unterschied zu den biblischen Berichten, doppelt oder mehrfach motiviert und gleichsam auf einer simultanen Ebene zusammengezogen werden. Die Verfasser der Texte verfahren mit Blick auf die zum Teil stark von einander abweichenden Darstellungen in den Evangelien nicht selektiv, sondern integrativ. An Beispielen aus dem Mittelrheinischen, dem Frankfurter, dem Donaueschinger und dem Alsfelder Passionsspiel erläutert sie ihre These, indem sie zeigt, wie in den Spielen durch das Verfahren der Synthetisierung von Personen und Ereignissen aus verschiedenen Zusammenhängen eine eigene Zeit- und Handlungsebene hergestellt wird, in der die Zeitebenen aufgehoben bzw. vermittelt sind. Im Unterschied zu anderen Interpreten sieht EMING in der vergleichsweisen ,Einfachheit' der Darstellungsverfahren keinen Tribut an ein naives Publikum, dem die christliche Heilsbotschaft nicht anders nahegebracht werden konnte, sondern ein Spezifikum, das sich das geistliche Spiel erarbeitet hat. Eine vergleichbare Tendenz zur Synthetisierimg zeigt sich nach EMING auch an dem Phänomen der szenischen Simultaneität, bei der, wie am Beispiel von Judas' Verrat erläutert wird, aus den Szenen eine sukzessive Polyperspektivik auf das Geschehen herausgeschält wird, zugleich aber auch das Problem der Nichtdarstellbarkeit des Heiligen virulent wird. Ebenfalls von der Stellung des geistlichen Spiels zwischen religiösem Kult imd selbständigen Formen des Theaters ausgehend, fragt GLENN EHRSTINE nach der Rolle und den Funktionen des Proklamators sowie anderer Figuren in den Passionsspielen, die zwischen dem Spiel und der biblischen Lehre vermitteln, indem sie das aufgeführte Geschehen kommentieren und deuten. Anhand eines Vergleichs des Luzemer und des Frankfurter Spiels kann er seine zentrale These untermauern, nach der sich der Theatralitätsgrad der Spiele an der Häufigkeit und der Art der Kommentare dieser expositores ludi messen lasse. Als Verwalter der imaginierten Präsenz Christi steuern die , Spielausleger' die Rezeption, kanalisieren die mit der Aufführung der Passion erzeugten Affekte, wirken als Heilsvermittler und sorgen gegebenenfalls für die Rückbindung an den kirchlichen Kult. Das zunehmende Zurücktreten der ,Spielausleger' korrespondiert dementsprechend mit der allmählichen Loslösung des theatralen Rollenspiels aus dem Kult; dieser Prozess vollzog sich allerdings nach EHRSTINE zeitlich und geographisch je unterschiedlich. So lässt das gegenüber dem Luzemer Passionsspiel deutlich ältere Frankfurter Passionsspiel einen merklich höheren Theatralitätsgrad erkennen.
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WERNER RÖCKE stellt soziale und didaktische Wirkungsaspekte des geistlichen Spiels ins Zentrum seiner Überlegungen. In seinen einleitenden Bemerkungen hebt er zunächst den performativen Aspekt des Bösen hervor: Das Böse müsse, um als solches verstanden werden zu können, erst getan werden. Auf das Böse gleichsam als Sekundäreffekt eines Handelns liegt entsprechend der Fokus seiner Analyse zu den Figuren der Maria Magdalena und des Judas Ischarioth im Alsfelder Passionsspiel und in den Erlauer Spielen. Anknüpfend an die soziologische Erkenntnis, dass Sozialsysteme ohne Verstöße nicht denkbar seien - eine Erkenntnis, die in dem Diktum „Die Transgression folgt der Norm wie ein Schatten" (ALOIS HAHN12) pointiert zum Ausdruck kommt vertritt RÖCKE die These, dass die Überschreitung der Grenze zum Bösen hier theologisch, moralisch und sozial definierte Verhaltensstandards im späten Mittelalter - dieses Böse überhaupt erst kenntlich mache. Er zeigt, wie die Figuren in dieser Perspektive als Spielfiguren fungieren, die Normen und Regeln überschreiten, und wie sich in der Empörung über die verletzte Norm diese neu konstituiert. So wird deutlich, dass der Akt der Transgression dazu beiträgt, Normen und Regeln zu stabilisieren. Maria Magdalena und Judas erfüllen diese Funktion als komplementär angelegte Sünderfiguren in unterschiedlicher Weise. Maria Magdalena überschreitet mit ihrer Hingabe an die Weltlust die Grenzen eines christlich-asketischen Weiblichkeitsmusters, in ihrer Transformation zur Büßerin wird dieses Muster jedoch bestätigt und durch ihre heiligende Hingabe an Christus durch eine neue Facette erweitert und gleichzeitig gesteigert. An Judas, dem Erzverräter, wird nach RÖCKE dagegen zum einen der Umgang mit Geld, Lohn und Preis kritisch ausgestellt, und zum anderen werden mit dem verzweifelten Selbstmord Judas' die Konsequenzen für mangelndes Vertrauen in die Gnade Gottes plastisch vor Augen geführt.
II. Performativität und Textualität Ein zweiter Schwerpunkt des Bandes liegt auf der methodischen Reflexion des Verhältnisses von Textualität und Performativität. Diese Relation wird in wechselnden kulturellen Kontexten von einer Dynamik bestimmt, in der verschiedene Faktoren - bedingt vor allem durch die sich wandelnden gesellschaftlichen, technologischen und medialen Praktiken - in je neuer, epochenspezifischer Weise zusammenwirken. Für die Analyse von Spielen in der Vormoderne gilt es einerseits, Konzepte und Instrumente zu entwickeln, welche die Medialität der Aufführung erfassen können. Andererseits ist zu klären, wie die Relation von Aufführung und Spieltext methodisch erfasst werden kann, wenn die Aufführung nur textuell oder durch bildliches Material doku12
ALOIS HAHN: Transgression und Innovation. In: Poetologische Umbrüche. Romanistische Studien zu Ehren von Ulrich Schulz-Buschhaus. Hrsg. von WERNER HELMICH u.a., München 2002, S. 452-465, dort S. 452.
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mentiert ist oder es sogar ungewiss ist, ob Spieltexte tatsächlich aufgeführt wurden oder überhaupt zur Aufführung bestimmt waren. Auch die Möglichkeiten, welche die Spieltexte selbst bieten, iun potentielle Wechselwirkungen performativer und textueller Prozesse zu untersuchen, kommen in den Blick. Hinsichtlich der Relation von Performativität und Textualität wird gefragt, wie Aufführungen diskursiviert bzw. kommentiert wurden und welchen Erkenntniswert einschlägige Zeugnisse für die Rekonstruktion der Aufführungspraxis haben. In ihrem Beitrag, der das religiöse Drama im gesamten Europa berücksichtigt, befasst sich M. A. KATRITZKY mit der Genese, den Gestaltungsmustern und den sozialen wie dramatischen Funktionen der scheinbar hybriden und dysfunktionalen komisch-burlesken Elemente, die seit dem 12. Jahrhundert in das religiöse Drama eindringen. Dies geschieht meist in der sogenannten Salbenkrämerszene, die in die Visitatio sepulchri-Episode mit dem Besuch der drei Marien am Grabe eingefügt ist. KATRITZKY bezeichnet die hier auftretenden Medicus-Figuren als .Bühnenquacksalber', bei denen es sich um die frühesten nicht-biblischen und um zugleich prominente Figuren im religiösen Drama handelt, deren Bedeutung zunehmend gewachsen ist. Im Kontext der Ökonomie des Marktplatzes boten die Bühnenquacksalber, wie sie ausführt, ein weltliches Korrelat zu dem heilenden Christus der Wunder. An dem von KATRITZKY untersuchten Material wird exemplarisch deutlich, welche Schwierigkeiten dem Versuch entgegenstehen, die Aufführungspraxis zu rekonstruieren, weil non-textuelle Elemente oft nicht erfasst werden können und die Skripte möglicherweise zensiert wurden. Auch wurden die gesprochenen Texte meist nicht vollständig aufgeschrieben; manchmal finden sich nur Hinweise, was es auszufüllen gilt oder was als „optional extra" eingefügt werden kann („Hier kannst du den Doktor und seinen Diener einführen, wenn du willst"). Besonders aufschlussreich sind die Belege, nach denen in Spieltexten zwar keine Quacksalber vorkommen, diese in Besetzungslisten aber aufgeführt werden oder Bühnenanweisungen einen Platz für den Medicus markieren. Die textuelle Absenz schließt ihre Präsenz bei der Aufführung demnach keineswegs aus. Gewichtige Belege sprechen nach KATRITZKY auch gegen die Annahme, Aufführungen von Salbenkrämerszenen seien in Kirchen nicht erlaubt gewesen, sowie gegen die Auffassung, dass die Quacksalber-Episode ihren Ursprung in den dramatischen Osterzeremonien habe. KATRITZKYS Interesse richtet sich darüber hinaus auf die Wechselwirkimg von Theatralisierung und realen sozialen Gegebenheiten, auf den Zusammenhang zwischen den Bühnenquacksalbern und wirklichen ,Quacksalbern', die sozial auf einer breiten Skala zwischen ehrbaren städtischen Kaufleuten oder Medizinpraktikern einerseits und den verachteten Scharlatanen und Marktschreiern andererseits angesiedelt waren. Nirgends seien die fließenden Grenzen zwischen religiösen und weltlichen Aufführungspraktiken so offensichtlich wie in den Quacksalber-Episoden, deren Erfolg nicht nur durch die Nähe zu
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den theatralen Werbepraktiken realer , Quacksalber' zu erklären sei, sondern auch dadurch, dass ihr Wirkungspotential mehrere Ebenen umfasst habe. KATRITZKY widerspricht der Auffassimg, dass Auftritte der Bühnenquacksalber in religiösen Kontexten auf die Salbenkrämerszene beschränkt gewesen seien, und vertritt die These, dass die Quacksalber-Episoden mit ihrem deutlichen Potential an Improvisationen sowie mit der Standardisierung von Figurenensembles und Witzen in gewisser Weise als Vorläufer der Commedia delFArte mit ihren lazzi angesehen werden können. Die Überlegungen der Romanistin JODY ENDERS setzen bei der Frage an, wie Aufführungen von Spielen im Mittelalter diskursiviert bzw. kommentiert wurden. 13 Dabei richtet sich der Fokus zwar auch, wie im Beitrag von FlSCHERLlCHTE, auf das transformative Potential von Aufführungen, aber nicht auf die erlösende Wirkung des Spiels, sondern auf den Übergang von der Realität zum Spiel und vom Spiel zur Realität. Zugleich wird der Wirkungszusammenhang zwischen dem Imaginären und körperlicher Präsenz, zwischen Repräsentation und realem Akt in den Blick genommen. Ausgangspunkt ist der Bericht eines französischen Chronisten, nach dem im Jahr 1485 in Bar-le-Duc ein Darsteller, der einen Teufel spielte, nach der Auffuhrung nach Hause gegangen sei und dort, noch im Teufelskostüm, seine Frau trotz deren Widerstand vergewaltigt habe. Die Frau sei daraufhin schwanger geworden und habe ein Kind geboren, dessen untere Leibeshälfte die Gestalt eines Menschen und die obere die Gestalt eines Teufels gehabt habe. Für ENDERS ist diese fabulöse Geschichte als Produkt des Imaginären für den Status des mittelalterlichen Dramas aus mehreren Gründen aufschlussreich. Sie untersucht die Anekdote nicht als Beleg für eine historische Aufführung, sondern nimmt sie als Textzeugnis in den Blick, das eine historische Einstellung zu Formen des Theatralen reflektiert. In ihr drücke sich zum einen die kirchliche Angst vor dem Theater aus, zum anderen die anhaltende Furcht, dass Theaterrollen nicht wie Kostüme ausgezogen werden könnten. Von der These ausgehend, dass die Bühne eine Welt virtueller Ethik sei und das Theater besser als jedes andere literarische Medium wie ein Katalysator Handlungen stimulieren könne, weil in ihm Intentionen ,verkörpert' würden, die eine unbestimmte Furcht vor etwas immittelbar bevorstehendem Bedrohlichen („fear of imminence") auslösten, stellt ENDERS eine Analogie zwischen der Sphäre des Theaters und der Sphäre des Rechts, zwischen Skript und Intention, her. Was in der Anekdote von Bar-le-Duc überlebe, so formuliert sie pointiert, sei ein missgestalteter teuflischer' Körper als Metapher für das angeblich monströse Vermächtnis des Theaters selbst, für seine Fähigkeit, Virtualität in nie ganz kontrollierbare Realität umschlagen zu lassen.
13
Mit dem Quellenwert von Berichten, nach denen sich etwas Ungeplantes, Unvorhergesehenes im Verlauf des Spielgeschehens ereignet hat, befasst sich JODY ENDERS auch in ihrem Buch: Death by Drama and Other Medieval Urban Legends, Chicago 2002.
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CHRISTIAN KIENING grenzt seinen Performativitätsbegriff von den sprachlichsemiotischen Dimensionen der Sprechakttheorie ebenso ab wie von dem theaterwissenschaftlichen Paradigma der Performativität, und bestimmt textuelle Performativität als prinzipielle Ereignishaftigkeit eines den Texten eingeschriebenen Vollzugs, die er „als innere Dynamik heilsgeschichtlicher Entfaltung" beschreibt. In seinen einleitenden Überlegungen stellt er außerdem klar, dass er ,Präsenz' nicht so sehr als Gegenbegriff zu Repräsentation' versteht, sondern den Begriff im Spannimgsfeld von Transzendenz und Immanenz verortet, wobei er die Kategorie der Memoria ins Zentrum rückt. In den geistlichen Spielen, die in medialer Konkurrenz zu anderen Formen der Heilsvergewisserung gestanden hätten, geht es demnach um Praktiken von „verinnerlichenden Verkörperungen und verkörperlichenden Verinnerungen". Mit dem Fronleichnamspiel, das in dem 1391 geschriebenen Innsbrucker Codex 960 neben zwei weiteren Spielen überliefert ist, wählt KIENING für seine Analyse einen Typus des geistlichen Spiels, der nicht an die Liturgie oder biblische Texte gebunden ist, sondern vermutlich im Zusammenhang mit der Dogmatisierung der Transsubstantiationslehre (1204) und der Institutionalisierung des Fronleichnamfests entstanden ist, durch welche der Geltung des Dogmas Nachdruck verliehen werden sollte. Er beschreibt das Eucharistiegeschehen im Innsbrucker Spiel als ein Ineinander von ,Erinnerung' und .Wiederaufführung', das sich weder in einem materiell-realistischen noch in einem spirituell-symbolistischen Verständnis erschöpfe. Allerdings werde die Evidenz der religiösen Wahrheit an historische Zeugen geknüpft, mit denen die Evidenz selbst historisch wird, so dass die Herstellimg von Evidenz durchschaut werden könne. Über das .Dispositiv' der Eucharistie werden, so KIENING, eine historische, eine heilsgeschichtliche und eine liturgische Zeitdimension miteinander verflochten, wobei eine überindividuelle und überhistorische Glaubensgemeinschaft sowie eine übertemporelle und liturgische Gestimmtheit erzeugt werden. Die Formen der Inszenierimg von Präsenz beruhten nicht auf mimetischer, sondern auf symbolischer Verkörperung, operierten aber mit dem Mimetischen als Möglichkeit, um dem Symbolischen Evidenz zu verleihen. Indem das Spiel darauf ziele. Sinnliches von bloßer Materialität zu befreien und gleichzeitig das Übersinnliche in materiellen Kategorien zugänglich zu machen, transzendiere sich das Spiel selbst als Spiel. Insgesamt ist das Spiel in dieser Lesart weniger als Handlungs- denn als Devotionsfolge zu beschreiben, wobei das Heilsgeschehen in einem metonymischen Verfahren auf Objekte übertragen werde, die sie bezeugen. Dadurch konstituiere sich eine „innere Performativität", ein Moment des „ewigen Nu", eine Leerstelle, die sich als Ort der Fülle erweisen soll. Die abschließenden Überlegungen gelten dem Programm der Innsbrucker Handschrift, in der bei den Inszenierungen der Präsenz Christi nach KIENING auf unterschiedliche Formen der Memoria (christologisch, ekklesial, liturgisch) zurückgegriffen wird.
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CORNELIA HERBERICHS geht es in ihrem Beitrag um eine historisch adäquate Bestimmung der Medialität des geistlichen Spiels zwischen Aufführung und Schrift. Von der Situierimg des geistlichen Spiels zwischen überlieferungsgeschichtlich und kulturwissenschaftlich orientierten Ansätzen ausgehend, fragt sie nach formalen Merkmalen bzw. überlieferungsgeschichtlichen Befunden, die Texte, ob sie nun für die Aufführung oder auch nur für die (stille) Lektüre bestimmt waren, als ,Spieltexte' markieren. Dementsprechend richtet sich ihr Interesse nicht auf die Rekonstruktion von Aufführungsmodalitäten, sondern auf die Frage, wie ein ,Spieltext' als ,Script' bei einer multimedialen theatralen Aufführung einerseits und als ,Script' bei einer privaten Lektüre andererseits die Wahrnehmungsmodalitäten steuert. Ähnlich wie KLENLNG nimmt sie an, dass ,Spieltexte' in Konkurrenz zu anderen religiösen Praktiken gestanden haben und ihr Status in diesem Kontext deshalb näher bestimmt werden müsse. Die Konstitution einer spirituellen Gemeinschaft konnte, so führt HERBERICHS aus, auch ohne eine theatrale Aufführung mit leiblicher Kopräsenz erreicht werden. Der Spieltext habe vielmehr eine dekontextualisierende und situationsübergreifende Dimension; Publikumsadressen dürften deshalb nicht auf die Ansprache physisch Anwesender beschränkt werden. Über bereits vorliegende Forschungsergebnisse hinaus bedürfe es Kategorien für die Beschreibung von Gemeinschaftsstiftungen in Spieltexttypen, welche die Rezipienten „in eine mythische Gemeinschaft zu integrieren vermögen, die unabhängig von der körperlichen Präsenz einer Gruppe funktioniert". Um Aufschluss über die Medialität der dramenstrukturellen Vergegenwärtigimg und die medialen Differenzen von epischer und Dramengestalt zu gewinnen, könnten neben Texten der Andachts- und Gebetsliteratur auch, wie HERBERICHS am Beispiel des Leben Jesu der Frau Ava erläutert, narrative Gestaltungen des Osterereignisses zum Vergleich herangezogen werden.
III. Transformationen des Religiösen Inszenierungen des Heiligen Ein erheblicher Klärungsbedarf besteht nach wie vor hinsichtlich der Frage, wie religiöse Inhalte und rituelle Elemente des Kults in den Spielen transformiert werden. Der letzte Schwerpunkt dieses Bandes gilt daher Formen der Inszenierung des Heiligen. Gefragt wird zum einen nach sprachlichen Strategien, und zum anderen, wie der Körper als Agens und Bedeutungsträger in einem Spannungsfeld fungiert, das durch Immanenz und Transzendenz des Körpers Christi sowie die Materialität des Körpers in der Aufführung konstituiert wird. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf Emotionsdarstellungen und ihrem Wirkungs- und Transformationspotential. Bisherige Zuschreibungen, nach denen die Spiele primär ,Mitleid' und .Affekt' erregen sollten, sind, wie die Beiträge zeigen, zu differenzieren. Analysiert werden Strategien, die
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Ingrid Kasten
darauf zielen, die Zuschauer in das Geschehen zu involvieren oder aber Distanzen zu markieren, welche die Differenz zwischen Spielwelt und Alltagswelt, zwischen Spielern und Zuschauem, zwischen Spieler und der gespielten Figur, im Spielgeschehen betonen. Gefragt wird auch, wie an die Imagination der Zuschauer appelliert wird und in welcher Weise dabei Grenzen des Darstellbaren reflektiert oder neu gesetzt werden. Von der Feststellung ausgehend, dass die überlieferten Spieltexte den Bedeutungsaspekt entschieden favorisieren und nur punktuell Hinweise auf die Aufführungspraxis geben, schlägt ANDREAS KOTTE vor, in ihnen auch nach dem zu suchen, was nicht aufgeschrieben wurde, Textlücken also als Anzeichen für einen tatsächlichen Vollzug aufzufassen. Leitend in seinem Beitrag sind drei Thesen: 1. Religiöses werde in den Spielen auf die Ebene sinnlicher Erfahrung transformiert, weil es so eine nachhaltigere emotionale Wirkung entfalte. Dramaturgisch könne dieses Verfahren, nach dem die entscheidende Wirkung im Spielverlauf sich in dem Augenblick vollzieht, in dem der Text verstummt, als „System der Lücke" bezeichnet werden. 2. Das Verstummen erfolge häufig an Dreh- und Wendepunkten der Handlung. 3. Die Wirkung des Religiösen sei dreifach zu beschreiben, als Geheimnis, als Wunder und als Autorität. Die Inkarnation etwa als ein geheimnisvolles, rational nicht fassbares Geschehen erscheine im szenischen Vorgang als Zeichen für die Existenz Gottes, dem durch Verfahren der Beglaubigung Autorität zugesprochen werde. Nach diesem Prinzip funktionieren, wie KOTTE in exemplarischen Analysen der Wirkungskomponenten von Spieltexten aus der Schweiz zeigt, das Oster- wie das Weihnachtswunder, auch wenn die (nonverbalen) Strategien der Autorisierung stark zwischen einer Dominanz der Bewegungsdramaturgie (Auftritt der drei Könige) und einer der Zeigedramaturgie (Grabtuch als Beweis, Bühnenwunder der Auferstehung) variieren. Mit der Auffassung, dass Feiern als eine spezifische Art von Spielen zu klassifizieren seien, öffnet KOTTE seine Überlegungen einer Perspektive, die den Zusammenhang mit brauchtümlichen ,Verkehrungsfesten' (Narrenfesten, Schülerfesten) betont. 14 Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass die verbreitete Auffassung, nach der die Spiele eine lehrhafte Funktion gehabt hätten, differenziert werden müsse. Der Beitrag von ELKE KOCH befasst sich mit der Frage nach spezifischen Strategien der Repräsentation des Heiligen in hessischen Passionsspielen. Dabei knüpft sie an kulturanthropologisch orientierte Bestimmungen an, setzt aber, von der Überlegimg ausgehend, dass die Repräsentation des Heiligen ein strukturelles Problem aufwirft, den Begriff des Heiligen auf einer allgemeineren Ebene an. Im Zentrum ihrer Überlegungen steht die Frage, inwiefern in den Spielen die Inszenierimg des Heiligen als Problem der Repräsentation zum Ausdruck kommt. Überlegungen zum „Darstellungsparadox" des Heili-
14
Hier trifft er sich mit der A u f f a s s u n g , die SIMON in seinem Beitrag zu diesem Band vertritt.
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gen 15 wiesen darauf hin, dass Repräsentationen des Heiligen Wege finden müssten, das Heilige dadurch als Heiliges und als das ganz ,Andere' zu zeigen, indem es als differentiellen Zeichenordnungen entzogen ausgewiesen wird. Die Darstellung habe demnach die Undarstellbarkeit des Heiligen kenntlich zu machen. Dieses Paradox werde zwar - etwa durch narrative Strategien .gelöst', dabei aber zugleich immer reproduziert. Hieran knüpft K O C H an, indem sie die These vertritt, dass Darstellungsprobleme dieser Art auch im geistlichen Spiel nachweisbar sind und dort zum Ausdruck kommen, wo das Spiel selbstreferentiell wird. In ihren Überlegungen zentral sind die Begriffe des ,Rollenspiels' und der ,Rollenidentität'. Beide werden nicht auf theaterwissenschaftliche Konzepte bezogen, sondern verweisen vielmehr auf den Kontrakt, nach dem jemand im Spiel als jemand anderes betrachtet wird. In den Fokus rücken so unter anderem Strategien der ostentativen Identifikation und der Wahrnehmungslenkung (beispielsweise durch die Konstitution von Rezeptionspositionen), die performative Dissoziation der Einheit von Sprecher, Rede und Identität, die Simultaneität von Verkörperungen heiliger Personen in den Eröffnungsphasen des Alsfelder und des Frankfurter Passionsspiel sowie der Frankfurter Dirigierrolle. Dabei gelingt es K O C H , verschiedene Verfahren zu ermitteln, die sich auf das Darstellungsparadox des Heiligen beziehen lassen und in denen das Rollenspiel mit dem Heiligen selbstreferentiell wird. Überzeugend wird somit demonstriert, dass die Funktion von Vorrede und Vorspiel mit dem Hinweis auf Heilsdidaxe nicht erschöpfend erfasst ist. KLAUS KRÜGER befasst sich in seinem Beitrag mit Darstellungen der Kreuzigung in der italienischen Malerei des 14. und 15. Jahrhunderts. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist indessen ein textuelles Selbstzeugnis, die Erinnerungen eines Florentiner Kaufmanns aus der Zeit um 1400. Dieses Zeugnis erhellt exemplarisch den Umgang mit dem gemalten Bild als Medium der Kommunikation in der Frömmigkeitspraxis der damaligen Zeit. In einem sich sukzessiv vollziehenden Prozess der intensiven Wechselwirkimg von Innenschau und Bildbetrachtung, im Beten und Singen von Psalmen, in imaginären Gesprächen mit den Bildpersonen wird, wie aus dem Selbstzeugnis des Kaufmanns hervorgeht, die innere Imagination stimuliert und das Bild verlebendigt'. Hervorgebracht wird dieser Prozess durch die dem gemalten Bild eigentümliche Verschränkung verschiedener Vorstellungsordnungen. Das Bild, als im Zwischenbereich von sinnlich-konkreter Erfahrung durch die Verkörperung' des Dargestellten und transmaterieller Einbildungskraft angesiedeltes Medium, vermittelt zwischen den Polen von Präsenz und Repräsentation und
IS
V e r w i e s e n sei h i e r e x e m p l a r i s c h a u f d e n A u f s a t z v o n PETER STROHSCHNEIDER: I n z e s t - H e i l i g keit. K r i s e u n d A u f h e b u n g d e r U n t e r s c h i e d e in H a r t m a n n s Gregoriiis.
In: G e i s t l i c h e s in w e l t -
licher, W e l t l i c h e s in g e i s t l i c h e r L i t e r a t u r d e s M i t t e l a l t e r s . H r s g . v o n CHRISTOPH HUBER u . a . , T ü b i n g e n 2 0 0 0 , S. 105-133.
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Ingrid Kasten
oszilliert in komplexer Weise zwischen der Anschauung von Ähnlichkeit und der gleichzeitigen Wahrnehmung von Differenz. Die weiteren Überlegungen KRÜGERS gelten dem Problem, ob und wie die Verschränkungsbezüge sich in einem visuellen Diskurs der Bilder selbst niederschlagen und wie sich bestimmte Dispositive des imaginativen Blicks einerseits in den gemalten Bildern einlagern und andererseits von ihnen her konstituiert werden. Mit Blick auf das gesellschaftlich und religiös wirksame Verhältnis von Macht und Emanzipation sowie die normsetzende Kraft bildlich erzeugter Authentizität geht es um die Frage, ob und wie das Potential bildlicher Anschauung den Betrachter festlegt und den Spielraum seiner Einbildungskraft durch Erzeugung einer kohärenten Illusion reduziert oder aber ob es der Aktivierimg und Freisetzimg der Imagination zuarbeitet. Mit einem differenzierten Instrumentarium analysiert KRÜGER an Bildern und kompositen Bildensembles die Sichtbarkeitsordnungen und spezifischen Logiken der Repräsentation, den Figurenbestand und die Szenerien, die Raum- und Situationslogik, und die auf den Betrachter zielende Einrichtung des Bildes. Dabei wird deutlich, wie die Bilder ihre Reflexivität im offen vorgeführten Kontrast der Materialien oder einer offen exponierten Fiktionsmarkierimg ausstellen, wie sich bildintern distinkte Realitätsebenen verschränken und in Spannimg zueinander treten können. Das kontradiktorische Ineins von Authentisierung und Fiktionalisierung im Auge des Betrachters lässt dabei ein die Imagination forderndes Wechselspiel von Darbietung und Entzug, von Präsenz und Absenz, entstehen. Die Paradoxie des Bildes kann so auch zu einer Kategorie der Erfahrung der Paradoxie des Glaubensmysteriums werden. Nicht nur die Mediävistik, auch die Theaterwissenschaft steht vor schwierigen Problemen, so stellt CLEMENS RlSl in seinem Beitrag einleitend fest, wenn es darum geht, vergangene Auffuhrungen zu rekonstruieren. Dennoch sieht er eine reizvolle Aufgabe darin, das Verhältnis von Textualität und Performativität an zwei Beispielen aus der frühen Operngeschichte zu Beginn des 17. Jahrhunderts zu erörtern und Möglichkeiten wie Grenzen der Rekonstruktion von Aufführungsdimensionen performativer Konstellationen auszuloten. Mit der in dieser Zeit neu entstehenden Gattimg der Oper manifestiert sich, so RlSl, mit Blick auf die Affekte ein entscheidender Wandel in der musikästhetischen Theorie und Praxis. Anstatt sich auf den bloßen , Ausdruck' von Gefühlen zu beschränken, soll die Musik nun Affekte im Zuhörer erregen und ihn ,außer sich' bringen. Zeugnisse über ungewöhnlich starke Affektausbrüche von Zuhörern bei Aufführungen in Rom belegen, dass die neuen Ansätze erfolgreich praktiziert wurden. RlSl verweist darauf, dass Athanasius Kircher um 1650 zudem als erster den Versuch unternommen hat, einen konkreten Zusammenhang zwischen den Mitteln der Musik zur Darstellung von Affekten und der aus der Antike stammenden Humoralpathologie bzw. der Temperamentenlehre herzustellen. Signifikant erscheint es, dass die Kirche, so RlSl, sich neuester Techniken der musikalischen wie szenischen Gestaltung bedient, iun die Zuschauer
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und Zuhörer im Rahmen der Gegenreformation über die Erregung von Affekten zur Andacht zu bewegen und im rechten Glauben zu bestärken. So behandelt eine der ersten Opem, die Rappresentatione di Anima et di Corpo von Emilio de' Cavalieri, nicht nur einen religiösen Stoff, sie ist auch in einer Kirche, in der Kirche Santa Maria in Vallicella in Rom, im Jahre 1600 uraufgeführt worden. Als bemerkenswert wird in dem Beitrag verbucht, dass Cavalieri das affektive Wirkungspotential der Verzierungen nicht der Improvisation durch die Sänger überlässt, sondern es zu kontrollieren versucht, indem er sie detailliert notiert. Somit versuchen die Komponisten auch, wie die Kirche, durch verschiedene Strategien die performativen Wechselwirkungen von Sängern und Zuhörern auktorial zu steuern. Die erwünschte Erregung von Affekten bei den Zuschauern durch die Musik wurde durch spektakuläre Bühnen- und Schaueffekte, wie an der 1631 ebenfalls in Rom uraufgeführten Oper II Sant'Alessio von Stefano Landi gezeigt wird, verstärkt. Doch Präsenzeffekte können, wie RLSL abschließend an einigen Beispielen veranschaulicht, zwar mit Vorschriften und Regeln erzeugt werden, im entscheidenden Moment aber ist es die Aufführung, welche die - nicht einholbare - Präsenz sich ereignen lässt. JENS ROSELTS Überlegungen zu Transformationen des Religiösen führen in die jüngste Theatergeschichte. Von der Feststellung ausgehend, dass der traditionelle Gegensatz von Religion und Theater seit einiger Zeit zunehmend in Frage gestellt worden sei, fokussiert er Gemeinsamkeiten zwischen religiösen und ästhetisch-theatralen Praktiken. Leitend in seinem Beitrag ist die These, dass im experimentellen Theater ein Schnittpunkt zwischen Religion und Theater in einer spezifischen Erfahrungsweise bestehe. Entsprechend setzt er nicht bei der Vermittlung oder Thematisierung religiöser Inhalte an, sondern bei der Kategorie der Erfahrimg, die er eng an die Kategorie des Heiligen koppelt. Mit der Zurückweisung des Repräsentationsanspruchs des bürgerlichen Theaters seit den sechziger Jahren, so ROSELT, hat die Erfahrung als ästhetische Kategorie ebenso wie die religiöse Sphäre im Theater der Avantgarde an Bedeutung gewonnen. Im gleichen Zuge haben sich die Konventionen der mimetischen Repräsentation verändert. Die Schauspieler sollen nicht mehr literarisch fixierte Rollenvorgaben erfüllen, sondern selbst Erfahrungen auslösen, zu deren Teilhabe die Zuschauer aufgerufen sind. In diesem „Theater der Erfahrung" wird, wie ROSELT im Rückgriff auf Äußerungen des Regisseurs Peter Brook ausführt, eine Erfahrung von Transzendenz vermittelt, die auf sinnliche Repräsentation angewiesen ist und eine größere Realität als das alltägliche Leben vermittelt. Nicht nur das Bestreben, Unsichtbares sichtbar werden zu lassen, verweist auf Analogien zwischen Theater und Religion, sie zeigen sich auch in der spezifischen Weise, wie Repräsentation und Präsenz verschränkt werden. Allerdings betont ROSELT, dass es sich bei dieser Form religiöser Erfahrung nicht um eine institutionell gerahmte, sondern (wie auch in anderen Sphären der zeitgenössischen Kultur) um eine
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Ingrid Kasten
individuelle - zugleich aber transsubjektive - Erfahrung handelt. Denn das Theater sei auf der Suche nach neuen Formen der Sozialität und der Publikumsintegration, bei der die Möglichkeiten der Auflösung von Ich-Grenzen, die Kategorie der Verschmelzimg und die Emergenz von etwas Neuem im Prozess der Transformation eine wichtige Rolle spielten. Durch die Ereignishaftigkeit der Aufführung und aktuelles Erleben könne sich das Theater als Ort des Heiligen ausweisen. An einigen Beispielen erläutert ROSELT exemplarisch, wie der Schauspieler als Initiator einer Erfahrimg wirkt und etwas zur Anschauung bringt, das nicht jenseits der Bühne im Alltag sein Original hat und das somit einer .Offenbarung' gleichkommt. Die Diskussionen während der Berliner Tagung haben deutlich werden lassen, dass der Fokus auf die Relationen von Performativität und Textualität das interdisziplinäre Gespräch von philologischer, theaterhistorischer, aufführungstheoretischer und kunstwissenschaftlicher Seite nicht nur anregt, sondern auch erkenntnisfördernd wirkt. Der Band reflektiert dies und trägt insofern dazu bei, die Relevanz des historischen Gegenstands und seiner Analyse im Rahmen aktueller Theoriebildung und Methodenreflexion zu verdeutlichen.
I. Das geistliche Spiel als cultural performance
ERIKA FISCHER-LICHTE
Theater und Fest Anmerkungen zum Verhältnis von Theatralität und Ritualität in den geistlichen Spielen des Mittelalters
For a long time research on medieval religious plays has focused on the question whether they are to be regarded as theater or as ritual. Repeatedly, it has been stated that they are ambivalent, oscillating between both. Nonetheless, it is insisted on that a clear demarcation line has to be drawn. This paper suggests instead that we accept that in the religious plays ritual and theatrical elements were closely intertwined. In order to explain their entanglement, it takes a closer look at the context in which they were performed, i. e. religious festivals that themselves contained paradoxical characteristics.
Mit seiner wegweisenden Studie „Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen
Spiels", die
1974 e r s c h i e n , h a t RAINER WARNING d e r
For-
schung einen grundlegend neuen Impuls gegeben, der sich in der Diskussion um den Status der geistlichen Spiele des Mittelalters bis heute auswirkt. 1 Zwar wurde seinen Thesen, sofern sie in den siebziger Jahren überhaupt rezipiert wurden, zunächst vehement widersprochen. Dies allerdings wohl auch deshalb, weil es, wie JAN-DIRK MÜLLER ZU Recht anmerkt, 2 als anstößig empfunden wurde, dass sie auf ein Problem antworteten, welches in den dreißiger Jahren ROBERT STUMPFL in seiner Arbeit „Kultspiele der Germanen als Ursprung des mittelalterlichen Dramas" (die 1936 - rechtzeitig zur Olympiade in Berlin erschien) im Sinne der nazistischen Ideologie behandelt hatte. Um jede mögliche ,Ansteckung' zu vermeiden, wurden WARNINGS Thesen daher zurückgewiesen. WARNINGS ,Entdeckung' bestand darin, dass er in den Oster- und Passionsspielen jeweils bestimmte mythische - pagane - Muster nachweisen konnte, die seiner Ansicht nach die geistlichen Spiele aus dem theologischen Kerygma in den Mythos zurückspielten. In den Osterspielen förderte er als zugrundeliegendes Modell das alte östarün zutage, d.h. das Frülijahrsfest, in dessen Ver1
RAINER WARNING: Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels, München
2
.TAN-DIRK MÜLLER: Mimesis und Ritual. Zum geistlichen Spiel des Mittelalters. In: Mimesis
1974.
und
Simulation.
Hrsg.
von
ANDREAS KABLITZ/GERHARD
S. 5 4 1 - 5 7 1 , h i e r S . 5 4 1 , A n m . 1.
NEUMANN, F r e i b u r g
i.Br.
1998,
4
Erika Fischer-Lichte
lauf der alte Jahresgott verjagt und der neue inauguriert bzw. der Tod/die Zerreißimg und Wiedergeburt des Jahresgottes vollzogen und begangen wurde. Auf dies mythische Muster hatte sich bereits JAMES G. FRAZER in „The Golden Bough" (1890) bezogen. Unter Rekurs auf reichhaltiges, von anderen gesammeltes ethnologisches Material versuchte er die These zu belegen, dass ein solches Todes- und Wiedergeburtsritual bei allen Kulturen verbreitet war, dass es sich hier um einen universellen Ritus handle. Unter Bezug auf diese These suchte die Altphilologin JANE ELLEN HARRISON, der Kopf der sogenannten Cambridge Ritualists, den Nachweis zu führen, dass sich das griechische Theater aus einem derartigen Jahresgott-Ritual entwickelt habe. 3 In den Passionsspielen wies WARNING in den Folter- und Kreuzigungsszenen das Modell des Sündenbock-Rituals nach. Wie RENE GIRARD in seiner zwei Jahre zuvor erschienenen Untersuchung „Das Heilige und die Gewalt" - die WARNING offensichtlich noch nicht vorlag - zeigt, handelt es sich auch hier um einen Ritus, der in vielen Kulturen vor der Einrichtung selbständiger Institutionen der Rechtsprechung - wie die Enmeniden, der dritte Teil von Aischylos' Orestie, sie eindrucksvoll vorführen - als Mittel zur Kanalisierung der Gewalt aller gegen alle regelmäßig vollzogen wurde. WARNING löste also die geistlichen Spiele partiell aus ihrer Verankerung in der Verkündigung der christlichen Heilsbotschaft und stellte sie in einen Zusammenhang mit nicht-kirchlichen Ritualen, wie sie nachweislich in vielen Kulturen zu finden sind. Er erklärte ihre Ambivalenzen entsprechend aus einem permanenten Oszillieren zwischen dem Anspruch religiöser Verkündigimg und Erbauung durch die Darstellung der Lebensgeschichte Jesu und dem .Rückfall' in pagane Rituale. Er führte sie also darauf zurück, dass die geistlichen Spiele letztlich an zwei Kulturen teilhatten: an der kirchlichen Kultur, in der sie entstanden waren, und an der Volkskultur, von der sie übernommen und weiterentwickelt wurden. 4 Damit gab WARNING den - zunächst weitgehend ignorierten - Anstoß dafür, die Auseinandersetzung um den Status der geistlichen Spiele unter Einbeziehung der Ritualforschung zu führen. Diese Anregung hat die Forschung zunächst zögernd seit den achtziger Jahren und verstärkt dann in den neunziger Jahren aufgenommen. Dabei haben sich Schwerpunkt und Stoßrichtimg der Fragestellung allerdings verschoben. Im Mittelpunkt des Interesses steht seit einigen Jahren die Frage, ob es sich bei den geistlichen Spielen um Kult oder Theater bzw. um Ritual oder Theater handle. 5 3 4
5
Vgl. hierzu JANE Ε. HARRISON: Themis. Α Study of the Social Origin of Greek Religion, Cambridge 1912, 2. Aufl. 1927. Diesen Ansatz habe ich meiner Untersuchung der geistlichen Spiele in: Geschichte des Dramas, Tübingen 1990, 2. Aufl. 1999 sowie in: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen 1993, 2. Aufl. 1999 zugrunde gelegt. Vgl. dazu u.a. SARAH BECKWITH: Ritual, Church and Theatre. Medieval Dramas of the Sacramental Body. In: Culture and History 1350-1600. Essays in English Communities, Identities
5
Theater und Fest
Um diese Frage zu klären, wurde vor allem auf die Beziehung zwischen Zuschauern und Darstellern rekurriert, wie sie sich zum einen aus den Spieltexten, zum anderen aus anderen Dokumenten erschließen lässt. Als Indiz für einen eher theatralen Charakter der Spiele wurde dabei häufig angeführt, dass die meisten Spiele mit Silete-Rufen des Precursors und entsprechenden deutschen Paraphrasen beginnen, die im Laufe des Spiels häufig wiederholt werden. Diese Rufe werden als der Versuch gewertet, eine klare Abgrenzung zwischen der Zuschauer- und der Spielebene zu ziehen: die Zuschauer sollten dazu gebracht werden, eigene Aktionen einzustellen, sich ruhig zu verhalten und ganz und gar auf das Spiel zu konzentrieren. Zwar wird durchaus eingeräumt, dass die ständige Wiederholung der Silete-Rufe eher darauf verweist, dass diese Abgrenzung nicht eingehalten wurde, die Zuschauer sich nicht ruhig verhielten, sondern ihrerseits die verschiedensten Aktionen durchführten. 6 Generell werden sie jedoch als ein Versuch gedeutet, die Zuschauer ruhigzustellen, ja, sie geradezu in Passivität zu drängen, so dass jegliches Mithandeln der Zuschauer ausdrücklich ausgeschlossen war und Partizipation nur noch emotional und intellektuell möglich. 7 Während im kirchlichen Ritual alle - Priester und Gemeinde - wenn auch in unterschiedlichen Funktionen und daher in unterschiedlicher Art und Ausmaß - zu Handelnden würden, seien hier die Akteurs- und die Zuschauerrolle strikt voneinander getrennt. Daraus lasse sich der Schluss ziehen, dass den Zuschauern der geistlichen Spiele ein Verhalten wie bei einer Theateraufführung abverlangt wurde womit offensichtlich modernes Theater und speziell realistisch-psychologisches Theater auf einer Guckkastenbühne gemeint ist. Eine solche Argumentation setzt eine Reihe von Prämissen voraus, die sie jedoch nur zum Teil explizit macht. Sie betreffen vor allem den zugrundeliegenden Theater- und Ritualbegriff. Es wird offensichtlich davon ausgegangen, dass Theater durch eine strikte Trennimg der Darsteller- von der Zuschauerrolle charakterisiert sei, dass eine klare Grenze zwischen Akteuren und Zuschauern gezogen sei, so dass die Zuschauer das Spiel nicht zu beeinflussen vermögen. Nun ist, wie ein einziger Blick sowohl auf das Theater der Gegenand Writing. Hrsg. von David Aers, New York, London 1992, S. 65-89; EAMON DUFFY: The Stripping of the Altars. Traditional Religion in England c. 1400-c. 1500, N e w Haven, London 1 9 9 2 : JAN-DIRK MÜLLER, M i m e s i s ( A n m . 2 ) : DERS.: K u l t u r w i s s e n s c h a f t h i s t o r i s c h . Z u m Ver-
hältnis von Ritual und Theater im späten Mittelalter. In: Lesbarheit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. Hrsg. von GERHARD NEUMANN/SIGRID W E I G E L , M ü n c h e n 2 0 0 0 , S. 5 3 - 7 7 : URSULA SCHULZE: F o r m e n d e r Repmesentatio
im
Geist-
lichen Spiel. In: Mittelalter und Frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. v o n WALTER HAUG, T ü b i n g e n
1 9 9 9 , S . 3 1 2 - 3 5 6 : GERHARD WOLF, I n s z e n i e r t e
Wirklichkeit
und literarische Aufführung. Bedingungen und Funktionen der .performance' in Spiel- u n d Chroniktexten des Spätmittelalters. In: . A u f f u h r u n g ' und .Schrift' im Mittelalter und Früher N e u z e i t . H r s g . v o n JAN-DIRK MÜLLER, S t u t t g a r t , W e i m a r 1 9 9 6 , S . 3 8 1 - 4 0 5 .
6
Vgl. hierzu SCHULZE (Anm. 5) S. 231 f.
7
Vgl. hierzu vor allem MÜLLER, Kulturwissenschaft (Anm. 5), insbes. S. 67 f.
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wart als auch in die Theatergeschichte erweist, eine solche Voraussetzung keineswegs generell, ja, noch nicht einmal in der Mehrzahl der bekannten Fälle gegeben. Bei den meisten Formen des komischen Theaters zum Beispiel ist jedenfalls nicht von ihr auszugehen. Seit den Tagen der Commedia dell'Arte werden die Reaktionen des Publikums von den Akteuren aufgegriffen und für den weiteren Verlauf des Spiels produktiv gemacht. Noch Nestroys Improvisationen sind aus der Situation heraus als Reaktion auf bestimmte Verhaltensweisen der Zuschauer entstanden. In allen diesen Fällen vermochten die Zuschauer durchaus den Ablauf des Spiels zu beeinflussen. Es ist gerade die durch die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern im Theater prinzipiell immer gegebene Möglichkeit, die Grenzen zwischen Akteuren und Zuschauern durchlässig zu halten und immer wieder zu überschreiten, welche die historischen Theateravantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts ebenso wie Theater und Performance Kunst seit den sechziger Jahren immer wieder genutzt haben. Theater wird durch die leibliche Ko-Präsenz und die mit ihr gesetzten Möglichkeiten - die jeweils anders realisiert werden können - konstituiert. Es durch eine klare Grenzziehung zwischen Zuschauer- und Spielebene definieren zu wollen, greift in jedem Fall zu kurz. Ebensowenig leuchtet es ein, dem Ritual generell eine Partizipation der Zuschauer zuzuschreiben. Von dieser Voraussetzung gingen in den sechziger und siebziger Jahren offensichtlich auch die Vertreter eines sogenannten rituellen Theaters aus. Sie suchten gerade durch Zuschauerpartizipation das .bürgerliche Theater', das ihrer Ansicht nach die strenge Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum gezogen hatte, ,wieder' in ein Ritual zu verwandeln, das auch den Zuschauer zu transformieren vermag, wie dies besonders prominent RICHARD SCHECHNER proklamierte. Gegen eine solche Vorstellimg wandte sich mit Vehemenz WOLE SOYINKA. Er berief sich dabei auf das traditionelle Maskendrama des Egungun Festes seiner eigenen Kultur, der Yoruba-Kultur. Der „kathartische Prozess" der „Transfonnation", den es im Zuschauer freisetzen soll, kann nach Soyinka nur unter der Bedingung ausgelöst werden, dass der Zuschauer das Handeln des Protagonisten als stellvertretend begreift und daher für ihn fürchtet: Will this protagonist survive confrontation with forces ous area of transformation? Entering that microcosmos tion, a self-submergence in universal essence. It is an the community and the welfare of that protagonist is total community. 8
that exist within the dangerinvolves a loss of individuaact undertaken on behalf of inseparable from that of the
Daher wurde die spontane Partizipation einzelner Zuschauer, wie sie SCHECHNER propagierte, in diesem Kontext als eine „aberration" angesehen werden, „which may imperil the eudaemonic goals of that representation". s
Wole Soyinka: Drama and the African World-View. In: Exile and Tradition. Hrsg. von Rowland Smith, London 1976, S. 173-190, hier S. 176 f.
Theater und Fest
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The so-called audience is itself an integral part of that arena of conflict, it contributes spiritual strength to the protagonist through its choric reality which must first be conjured up and established, defining and investing the arena through the protagonist's incantations. [...] Overt participation when it comes is channelled through a formalistic repertoire of gestures and liturgical responses. 9
Eine vergleichbare liturgische Kanalisierung der Zuschauerreaktionen findet sich auch in den geistlichen Spielen. Im Egerer Fronleichnamsspiel zum Beispiel singt der Chor, nachdem die Kreuzigung vollzogen ist: Ecce lignum cruris, in quod salus mundi pependit: venire, adoremus (vor V 6204; „Seht das Holz des Kreuzes, an welchem das Heil der Welt hängt: Kommt und betet es an."). 10 Aus der von SOYINKA entworfenen Perspektive könnten die Silete-Rufe auch in dem Sinne verstanden werden, dass sie den Zuschauer dazu auffordern sollten, sich soweit auf das Spiel einzulassen, dass sie fähig würden, jene „geistige Kraft" aufzubringen, die den Protagonisten in seinem Leidensprozess zu unterstützen vermöchte. Sie würden insofern eher auf den Ritualcharakter der Spiele verweisen. Die Crux der Argumentation liegt offenbar in dem Verhältnis zwischen dem jeweils zugrunde gelegten Theater- und Ritualbegriff. Während der Theaterbegriff merkwürdigerweise nie explizit gemacht wird - wobei stillschweigend die Norm eines mehr oder weniger realistischen Theaters auf einer Guckkastenbühne mit verdunkeltem Zuschauerraum vorausgesetzt zu werden scheint - , wird der jeweilige Ritualbegriff durchaus erläutert. Dabei wird weitgehend v o n e i n e m R i t u a l b e g r i f f a u s g e g a n g e n , w i e HANS-GEORG SOEFFNER ihn, d e n
Stand der Ritualforschung zusammenfassend, bestimmt hat. Entsprechend werden Rituale als gruppenbezogene, gemeinschaftsstiftende bzw. -erhaltende konventionalisierte Handlungen verstanden, die sich von bloßen Routinehandlungen wie dem täglichen Zähneputzen durch Symbolgebrauch, einen hohen Grad an Inszeniertheit und durch den Anspruch, einen über die jeweilige Aufführung hinausgehenden Sinn zu vermitteln, unterscheiden. 1 ' Nur wer einem normativen, auf das bürgerliche' Theater bezogenen Theaterbegriff anhängt, kann übersehen, dass die hier für das Ritual gegebene Charakterisierung ebenso für das Theater zutrifft. Die Ethnologen KLAUS-PETER KÖPPING und URSUEA RAO haben daraus die Konsequenz gezogen. Sie bestimmen sowohl Ritual als auch Theater als transformative Performanzen, die sich auf der systematischen Ebene kaum sinnvoll voneinander unterscheiden lassen:
9 Hier S. 174. 10 Egerer Fronleichnamsspiel. Hrsg. von GUSTAV MILCHSACK, Tübingen 1881. Vgl. hierzu auch MÜLLER, Mimesis (Anm. 2), S. 560. 11 Vgl. hierzu HANS-GEORG SOEFFNER: Die Ordnung der Rituale. Die Auslegung des Alltags. Bd. 2, Frankfurt a.M. 1992, S. 105-108.
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Bereits auf der formalen Ebene teilen Ritual und Theater eine große Zahl von Komponenten, die die Behauptung einer mehr als nur analogen Ähnlichkeit dieser zwei Handlungsdomänen des Performativen nahezulegen scheinen. Die meisten Versuche, spezifische formale Kriterien als Eigenschaften unterschiedlicher performativer Rahmensetzungen aufzulisten, sind sowohl durch ethnographische Beobachtungen als auch durch Schauspieler-Erlebnisberichte aufgelöst worden. Beide Genres kennen Inszenierung, Skriptvorlagen (wenn man Mythen als solche bezeichnen möchte), Improvisation, Proben, Einstudierung, in beiden können Teilnehmer wie Zuschauer ihre Rollen verändern, und beide können sowohl dem Ziel der Unterhaltung dienen wie auch dazu, andere Wirklichkeiten aufzuzeigen. 12
Eine systematische Unterscheidung zwischen Theater und Ritual, die sich auf Theater und Ritual aller Kulturen und Zeiten anwenden ließe, erscheint daher weder möglich noch sinnvoll. Wenn zwischen beiden differenziert werden soll, muss folglich auf die historische Ebene zurückgegangen und gefragt werden, welche spezifischen Funktionen eine bestimmte Kultur zu einer bestimmten Zeit Ritual und Theater zugesprochen und welche Differenzen sie entsprechend zwischen beiden gesehen hat. Das heißt im Fall der geistlichen Spiele, dass man auf einen ihnen zeitgenössischen Ritual- und Theaterbegriff rekurrieren muss. Den Ritualbegriff betreffend ergeben sich hier keine unüberwindlichen Schwierigkeiten. Wenn man als Rituale, auf die sich die geistlichen Spiele beziehen lassen, liturgische und an liturgische Vollzüge anschließende Handlungen bestimmt und als besonderen Referenzpunkt die Eucharistie-Feier wählt 13 , dann wird zum einen der Unterschied zwischen den Spielen und dem Ritual deutlich. Denn die performative Vergegenwärtigung des Lebens Jesu in den geistlichen Spielen ist von seiner Realpräsenz in der Eucharistie grundlegend verschieden. Zum anderen lassen sich unter diesen Ritualbegriff Phänomene subsumieren, die in der von der Forschung überwiegend angenommenen Perspektive eines normativen, auf das realistisch-psychologische Guckkastentheater bezogenen Theaterbegriffs sich kaum dem Theater zuschlagen lassen. Zu diesen Phänomenen gehören beispielsweise die unterschiedlichen Publikumsadressen. So fordert der Precursor häufig die Zuschauer auf, dem Spiel nicht mit einer distanziert wertenden Haltung gegenüber zu treten. Im Sterzinger Passionsspiel ermahnt er die Zuschauer:
12
URSULA RAO/KLAUS-PETER KÖPPING: Die ,performative Wende'. Leben - Ritual - Theater. In: Im Rausch des Rituals. Hrsg. von DENS., Münster, Hamburg, London 2000, S. 1-31, hier
13
Vgl. hierzu MÜLLER, Kulturwissenschaft (Anm. 5) und DERS., Mimesis (Anm. 2).
S. 1 1 .
Theater und Fest Darumh seydt petrüebt hewt in got Und treybt daraus nit schimph noch spot Als man manigen groben menschen [vindt: Alspald er enphindt, Das ainer in ainem reim misredt, So treybt er dar aus sein gespött Und lacht der figur gar. Des man nich tuen solt fürwar; Wan es doch zw eren Jhesu Crist Gäntzlich an gefangen ist Und nit aus gespötterey, Noch in sölicher pueberey. Als ims offt ainer fümympt. Dem es nit wol tzimpt. Und doch durch got an gefangen ist Und tzw bedencken das leiden Jhesu [Crist, Das durch sölichs spill, Der es sunst petrachten wil, Vil mer zw andacht wirt bebegt; Wan so man es mit wortten redt.
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Darum seid heute Gottes wegen betrübt und treibt damit weder Späße noch Spott wie so mancher ungesittete Mensch der, sobald er hört, dass einer in einem Reim einen Fehler [macht, darüber spottet und die Darstellung auslacht. Das soll m a n unterlassen, da es doch allein Jesus Christus zu Ehren durchgeführt wird und nicht als Posse, oder Unfug, wie mancher es sich denkt, dem das nicht ansteht. Es wird Gott zu Ehren durchgeführt um an das Leiden Jesu Christi zu [erinnern, damit durch ein solches Spiel der, der es betrachten will, stärker zur Andacht bewegt wird, als wenn m a n davon nur mit Worten [spricht.
(V 1223-1242) 1 4 Die eingeforderte Haltung entspricht derjenigen der Gemeindemitglieder, den e n es n i c h t d a r a u f a n k o m m e n soll, b e s o n d e r s s c h ö n z u s i n g e n o d e r in b e s o n ders ausdrucksvoller Pose zu beten, sondern im rechten Glauben
gemeinsam
z u s i n g e n u n d z u b e t e n . So h e i ß t es e n t s p r e c h e n d i m L u z e r n e r O s t e r s p i e l ausd r ü c k l i c h , d a s s b e i m S p i e l Z u s c h a u e r u n d S p i e l e r als G e m e i n d e im dienst tes bsamlett
Got-
( V 106) s i n d . 1 5 A n d i e s e G e m e i n d e r i c h t e t s i c h i m F r a n k f u r t e r
Passionsspiel Jesus ganz unmittelbar: Mircket, frauwen, m a n und kinde, alle die hie geinwurtig sint, ir reichen und ir armen lat uch myn hertzleit erbarmen und hilffet klagen myn not! (V 3994-98) 1 6
Höret, Frauen, Männer und Kinder alle, die hier zugegen sind, ihr Reichen und ihr Armen lasst Euch von meinem Herzleid [erbarmen und helft mir mein Leid klagen.
D e r a r t i g e P u b l i k u m s a d r e s s e n , d i e in n a h e z u a l l e n S p i e l e n z u f i n d e n sind, w e i s e n in d i e s e l b e R i c h t u n g w i e d i e E i g e n a r t , d i e A u f f u h r u n g m i t g e m e i n s a m e n
14 Sterzinger Passionsspiel. In: Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol. Hrsg. von JOSEPH EDUARD 15 16
WACKERNELL, Graz 1897, S. 1-176. Das Luzerner Osterspiel. Hrsg. von HEINZ WYSS, Bd. 1, Bern 1967. Das Frankfurter Passionsspiel. In: Das Drama des Mittelalters. Hrsg. von RICHARD FRONING,
II. Teil: Passionsspiele, Stuttgart o.J., S. 375-532. Im Folgenden abgekürzt FP.
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Erika Fischer-Lichte
Gebeten und Gesängen zu beginnen und mit gemeinsamem Gesang auch zu beenden - die Aufführung von Osterspielen in der Regel mit dem Lied „Christ ist erstanden". Entsprechend wird auch die Wirkimg der Aufführung auf Spieler und Zuschauer in vielen Spielen und anderen Dokumenten als dieselbe beschrieben. Der zweite Engel des Redentiner Osterspiels charakterisiert sie mit den Worten: Settet j u neder unde vrowet ju, De hyr sint ghesammelt nu! Vrowet j u an desser tid: Gy moghen werden van sunden quyt. Got de wil in desser tyt losen De dar laten van dem bösen. De dar hüten myt gade upstan, De Scholen vrig van sunden gan. Up dat j u dat allent sehe, En jewelk höre unde se. (V 9-18) 1 7
Setzt euch nieder und freut euch, die ihr hier versammelt seid. Freut euch in dieser Zeit: ihr könnt von Sünden frei werden. Gott will in dieser Zeit die erlösen, die von dem Bösen ablassen. Die heute mit Gott aufstehen, die werden frei von Sünden weggehen. Damit euch das alles geschehe, möge ein jeder hören und sehen!
Die Auffuhrung soll als eine Art Sakrament wirken, das einen magischen Effekt auf alle Teilnehmer auszuüben vermag. Die Handlimgen, die von den Zuschauern gefordert werden, damit die Wirkung sich einstellen kann, bestehen in „sehen" und „hören". Dies scheint der angemessene Weg zu sein, auf dem die geistige Stärke, die SOYINKA erwähnt, heraufbeschworen werden kann. Was aus solchen Handlungen und den besonderen Erfahrungen, die sie ermöglichen, folgt, ist eine wundersame Transformation: Die Zuschauer werden den Ort „frei von Sünden" verlassen, sie werden „erlöst" werden. Eine solche Transformation erinnert nun in der Tat an das, was in einem und durch ein Ritual geschieht. Außerdem erscheint die Teilnahme an der Aufführung „als ein ,gutes Werk', mit dem gleichsam automatisch eine innere Gnadenwirksamkeit verbimden ist". 18 Auch die Kirche hat die Teilnahme an den Spielen ausdrücklich als ein gutes Werk anerkannt und Spielern wie Zuschauem häufig Ablass gewährt; für gewöhnlich im Ausmaß einer Quadragene (einer vierzigtägigen Kirchenstrafe bei Wasser und Brot), manchmal allerdings auch bedeutend höher: In Luzern wurden 1556 sieben Jahre und sieben Quadragenen gewährt und in Calw im Jahre 1502 sogar 240 Jahre! 19 In dieser Hinsicht lassen sich die geistlichen Spiele durchaus als Rituale im Sinne liturgischer und an liturgische Vollzüge anschließende Handlungen verstehen.
17
Das Redentiner Osterspiel. Mittelniederdeutsch und Neuhochdeutsch, übersetzt und komment i e r t v o n BRIGITTA SCHOTTMANN, S t u t t g a r t
IS
In:
19
1975.
.TOHAN NOWE: Kult oder Drama? Zur Struktur einiger Osterspiele des deutschen Mittelalters. The
Theatre
in the
Middle
Ages.
Hrsg.
von
HERMAN BRAET/JOHAN
NOWE/GILBERT
TOURNAY, Leuven 1985, S. 269-313, hier S. 307 f. Vgl. hierzu in BERND NEUMANN: Geistliches Spiel im Zeugnis der Zeit, 2 Bde., München, Zürich 1987 die Belege Nr. 32-34, 1055, 1944, 1946, 1969, 2106 und 2258.
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Theater u n d Fest
Auch wenn man die geistlichen Spiele auf andere ihnen zeitgenössische Rituale bezieht, ergeben sich auffallende Affinitäten. Dies gilt vor allem für die Folter- und Kreuzigungsszenen der Passionsspiele, die auf Strafrituale verweisen. In ihnen ist der rituelle Charakter unübersehbar. Jesus wird beschimpft (FP V 2426 ff.; Alsfelder Passionsspiel, V 3434 ff. 20 ), angespuckt (FP V 2714 ff., V 914 ff., 3557 ff.; AP V 5415 ff.) und geschlagen (FP V 2463, 2544, 2596, 2629, 2915; AP V 3557, 5415). Mit ihm wird wiederholt ein ,Spiel' gespielt: Ihm wird das Haupt verhüllt, und er soll raten, wer ihn geschlagen (FP V 2544-2631; AP V 3602-3, V 4098-4149) oder ihm Haar und Bart gerauft hat (FP V 3560-64). Diese Spiele werden deutlich in Ritualform vollzogen. Sie werden mit lateinischen Formeln eingeleitet (Prophetiza nobis, Criste: quis est, qui te percussit? AP vor V 3602; „Weissage uns, Christus: Wer ist es, der dich geschlagen hat?"), jede Handlung (Schlag, Haarausreißen) wird dreimal ausgeführt, wobei das Opfer beharrlich schweigt. Immer wieder heißt es: Salvator tacet (z.B. FP V 2756, 2760, 2856, 2864, 2868, 2884, 3553). Der nächste Höhepunkt wird mit der Geißelung erreicht, welche Pilatus' Ritter Schintekrae, Rackenbein, Ribenbart und Springendantz durchführen. Zum Abschluss pressen die vier ihrem Opfer mit aller Kraft die Domenkrone aufs Haupt. Weil Jesus jetzt kaum mehr „einem Menschen gleich" sieht, unterbricht Pilatus die Folterung: Ecce homo! / Ir hidden, sehet: ist er eynem menschen glich? / nu last yn geen, das bitten ich. (FP V 3521 f.) Die Figur der Synagoge aber besteht darauf: Crucißge, crucifige eum, (FP V 3526; „Kreuzige, kreuzige ihn"). Den End- und Höhepunkt an Grausamkeit stellt endlich die Kreuzigimg dar. Die ,Ritter' haben die Löcher für die Nägel, die durch Hände und Füße geschlagen werden sollen, zu weit auseinanderstehend eingeschlagen. Mit Stricken reißen sie nun Jesu Glieder auseinander, um die Nägel einpassen zu könDer Bezug auf zeitgenössische Strafrituale 21 lässt einerseits Folterung und Kreuzigung in der Tat als ein Sündenbockritual erscheinen. Zum anderen markiert er jedoch eine unübersehbare Differenz, da Jesus im Unterschied zu den dort gefolterten und hingerichteten Malefikanten unschuldig ist, was zu einer - zwar von der Forschung übereinstimmend konstatierten, jedoch jeweils unterschiedlich erklärten und gedeuteten - Verschiebung des Sündenbock-RitualMechanismus führt. 22
20
D a s A l s f e l d e r Passionsspiel. In: D a s D r a m a des Mittelalters. Hrsg. v o n R i c h a r d Froning, II. u.
21
Z u diesen vgl. RICHARD VAN DÜLMEN: Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafritual
22
Vgl. hierzu ERIKA FISCHER-LICHTE: D e r gebrechliche u n d gefolterte Körper. In: DIES.: G e -
III. Teil: Passionsspiele, Stuttgart o.J., S. 547-859. Im Folgenden abgekürzt AP. in der f r ü h e n Neuzeit, M ü n c h e n 1985. schichte des D r a m a s ( A n m . 4), S. 76-87, MÜLLER, M i m e s i s ( A n m . 2), insbes. S. 563-568, SCHULZE ( A n m .
5), insbes. S. 2 3 2 - 2 3 6 u n d WARNING ( A n m .
1), i n s b e s . S .
184-243.
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Erika Fischer-Lichte
Während dem Bezug auf zeitgenössische Rituale also ein hoher Erklärungswert im Hinblick auf den Ritualcharakter der Spiele zukommt, sehen wir uns mit schier unüberwindbaren Schwierigkeiten konfrontiert, wenn wir sie auf einen zeitgenössischen oder wenigstens der Zeit angemessenen Theaterbegriff beziehen wollen. Denn welcher Theaterbegriff soll hier zugrunde gelegt werden? Derjenige der Kirchenväter? Oder einer, der sich am Spiel der Gaukler, Joculatoren, Spielleute orientiert? Weder für die eine noch für die andere Variante lassen sich plausible Gründe geltend machen. Wir sehen uns vielmehr in der prekären Lage, dass - ganz anders als beim Ritual - auf keinen allgemein anerkannten und konsensfähigen Theaterbegriff der Zeit zurückgegriffen werden kann. Dabei gilt es zu bedenken, dass die geistlichen Spiele niemals als Theater bezeichnet wurden. Vor dem 17. Jahrhundert gab es diesen Begriff nicht in der deutschen Sprache. Der Ausdruck, der überwiegend Anwendimg fand, war in der Tat der Begriff des Spiels, spil, lateinisch Indus. Er konnte in sehr unterschiedlichen Kontexten und mit einer Vielzahl von Bedeutungen Verwendung finden, darunter ,Tanz', ,Zeitvertreib', ,Scherz', Unterhaltung', ,Vergnügen'; ,SaitenspieP, ,Musik', ,Schauspiel'; ,Waffen- und KampfspieP, ,Turnier'; , Brettspiele', bei denen es um Gewinn und Verlust geht, Würfelspiele' u. ä., ,Wettkampf', aber auch ,Beischlaf'. Derartige Bedeutungen verweisen nun weit eher in eine profane denn eine sakrale Sphäre. Wie eben gezeigt, wurde der Ausdruck ,spil' in den Passionsspielen darüber hinaus auf eine Weise gebraucht, die ihn mit Strafritualen in Verbindung bringt. Aus derartigen Verwendungen des Begriffs ,spil' lassen sich kaum Kriterien ableiten, nach denen sich die geistlichen Spiele von Ritualen unterscheiden lassen. Wenn die geistlichen Spiele aber nicht vollständig mit zeitgenössischen Ritualen zu verrechnen sind, wenn Elemente übrigbleiben, die nicht unter zeitgenössische Rituale subsummiert werden können, wie lassen sich dann dieses merkwürdige Oszillieren und Changieren, ihre Ambivalenzen erklären? Ich schlage vor, zur Lösimg dieses Problems auf den Kontext zurückzugehen, in dem die Spiele aufgeführt wurden, auf die Feste. So wurden in der Regel die Osterspiele am Osterfest, die Fronleichnamsspiele an Fronleichnam, die Weihnachtsspiele am Weihnachtsfest aufgeführt. Auch wenn die Aufführungszeiten der Spiele nicht in jedem Fall mit den Daten der Feste identisch waren, denen sie zuzuordnen sind - so wurden die Passionsspiele, vor allem die mehrtägigen, häufig schon aus klimatischen Gründen nicht in der Karwoche zur Aufführung gebracht - , so fielen sie doch in jedem Fall mit einer Festzeit zusammen: Die Aufführungen der Spiele konstituierten ein städtisches Fest. Die Trägerschaft der Feste und der Aufführungen lag in der Tat bei der Stadt. Die Spieler mussten allerdings für ihre Kostüme und Requisiten selbst aufkommen und dafür zum Teil erhebliche Summen aufbringen. Es nimmt daher nicht wunder, dass sie dieser Verpflichtung nicht einzeln nachkamen, sondern oft im Verbund von Zünften, Gesellenbruderschaften oder Spielgemeinschaften. Dennoch handelte es sich bei diesen Ausgaben nur um die kleineren Un-
Theater und Fest
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kosten, die größeren trag die Stadt. Sie bestritt die Material- und Arbeitskosten für den Aufbau der Bühne und übernahm die Verpflegung der Spieler sowie die Bewirtimg der Ehrengäste. Außerdem entstanden ihr gewaltige Unkosten d Lire Ii die Verpflichtimg, für einen friedlichen, geordneten und möglichst unfallfreien Festverlauf zu sorgen. Es galt nicht nur, den Marktplatz und die auf ihm aufgeschlagene Bühne zu bewachen. Es mussten auch - vor allem vor Bäckereien und Schmiedewerkstätten - feuerpolizeiliche Maßnahmen getroffen werden. Die Stadtwache war zu verstärken imd ein Teil der Stadttore aus Sicherheitsgründen ganz geschlossen zu halten. Bei der Aufführung von Passionsspielen mussten weiterhin die Eingänge zum Ghetto geschlossen und bewacht werden, um Pogromen vorzubeugen. Bettler, Landstreicher, Kranke oder gar Seuchenverdächtige waren an den Stadttoren abzuweisen. Emst und Feierlichkeit des Festes versuchte man durch Androhung von Geld- und Haftstrafen für Fluchen, Schwören und Trunkenheit sicherzustellen. Und nicht zuletzt hatte der Rat der Stadt geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Gäste, die zum Fest von außerhalb der Stadt angereist waren, vor dem Nepp geldgieriger Wirte wirkungsvoll zu schützen, ohne ihre ausreichende Verköstigung zu gefährden. Für die Erledigung dieser und ähnlicher Aufgaben entstanden der Stadt erhebliche Personalkosten. Auch die Spieler wurden aus der Stadt rekrutiert, die Spielleitung bei geistlichen Spielen allerdings häufig von Geistlichen (z.B. in Frankfurt, Bozen, Zurzack) oder von den Stadtschreibern übernommen, die eine geistliche Bildung erhalten hatten (z. B. von Hans Salat, Zacharias Bletz und Renwart Cysat in Luzern und von Vigil Raber in Sterzing). Die 100 bis 300 - bis auf ganz wenige Ausnahmen - männlichen Darsteller entstammten sämtlichen in der Stadt vertretenen gesellschaftlichen Schichten: Es beteiligten sich Handwerksgesellen, bürgerliche und adlige Patrizier ebenso wie Kleriker verschiedenen Ranges. Besonders hoch war der Anteil der akademisch Gebildeten und der Stadt-, Landes- und Reichsbeamten: Deutsch- und Lateinschulmeister, Schultheißen und Schöffen, Richter und Bürgermeister, Stadt- und Gerichtsschreiber. Dennoch lässt sich die Behauptung vertreten, dass die Spieler im Wesentlichen einen repräsentativen Querschnitt aus der Gesamtbevölkerung der Stadt darstellten. Das Publikum dagegen entstammte nicht nur der Stadtbevölkerimg; es repräsentierte vielmehr alle Schichten und Ränge der Gesellschaft: den Klerus vom Leutpriester über Abt und Erzbischof bis zum Konzilsvater und zum päpstlichen Kardinallegaten, die Bauern, die Bürger, und zwar vom plebejischen bis zum patrizischen Bürger, den Kleinadel, ausländische Diplomaten und sogar regierende Fürsten wie den Markgrafen von Brandenburg, den Herzog von Sachsen, den Fürsten von Anhalt und Ferdinand von Österreich, den Bruder Karls V und späteren deutschen Kaiser. Im Fest und speziell in den Aufführungen der geistlichen Spiele stellte also die Stadt sich selbst, ihr eigenes Selbstbild und Selbstverständnis vor ihren eigenen Bürgern sowie vor den
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Fremden dar und aus. In diesem Sinne brachte sie sich hier selbst als eine spezifische Gemeinschaft zur Aufführung. Das Fest bildete den Kontext, in dem die geistlichen Spiele zu verorten sind und in dem allein die Frage nach möglichen rituellen Zügen zu klären ist. Aus dem gegenwärtigen Stand der Festforschung lässt sich folgende Definition des Festbegriffs ableiten: Feste stellen besondere, aus dem Alltag herausragende Ereignisse dar; als ein die alltäglichen Routinen gliederndes, repetitives Geschehen müssen sie jedoch zugleich auch als Teil des Alltags angesehen werden. Ihnen liegt ein Anlass zugrunde, der religiöser, sozialer, politischer, jahreszeitlicher und lebensgeschichtlicher Natur sein kann. Feste lassen sich als cultural performances begreifen, die sich durch die doppelte Dialektik von Liminalität und Periodizität einerseits sowie von Regelhaftigkeit und Transgression andererseits auszeichnen. Der erste Gegensatz betrifft die Zeitverhältnisse: Einerseits sind Feste in die Routinen des Alltags eingebettet, indem sie sich regelmäßig wiederholen; andererseits ermöglichen sie auch in zeitlicher Hinsicht eine Transgression, weil sie eine eigene Zeit konstituieren, die die jeweils gültige Zeitgestaltung unterbricht. Der zweite Gegensatz betrifft das Handeln im Fest: einerseits unterliegt es einem genauen Reglement; andererseits besteht die Quintessenz festlichen Handelns gerade darin, bestimmte Regeln, nämlich die Beschränkungen des Alltags, zu durchbrechen. 23 Aus dieser Definition lassen sich bestimmte Wirkdimensionen ableiten, die Festen inhärent sind. Der erste Gegensatz betont zunächst eine liminale Dimension; die eigene Zeitlichkeit, welche das Fest konstituiert, ist eine Zwischenzeit, eine Zeit des Übergangs, in die Alltagszeit und in die historische Zeit eingelagert. Sie setzt voraus, dass sich die Festteilnehmer aus ihrem Alltag herauslösen, in den sie nach dem Ende des Festes verwandelt, nämlich in einer spezifischen Identität bestärkt oder mit einer neuen Identität, zurückkehren. Die liminale Dimension stellt insofern die Voraussetzimg für eine weitere Dimension dar: die transformative. Wieweit mögliche im Laufe des Festes übernommene und probeweise ausagierte Identitäten tatsächlich die Zeit des Festes überdauern, ist - anders als bei klassischen Übergangsritualen - nicht festgelegt und auch nicht immer zu überprüfen. Eine Stärkung des Gefühls der commiinitas ist allerdings anzunehmen. Aus dem zweiten Gegensatz lässt sich zunächst eine konventionelle Dimension ableiten. Es ist die Regelhaftigkeit, welche bestimmte Interaktionsrituale, wie ERVING GOFFMAN sie nennt, zwingend vorschreibt. Mit der Transgression, die sich in unterschiedlichen Exzessen äußerte wie im Ausagieren von Gewalt oder im Anschauen von Gewaltdarstellungen, ist eine spezifische kathartische Dimension aufgerufen.
23
Vgl. KLAUS-PETER KÖPPING: ,Fest'. In: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hrsg. von CHRISTOPH WULF, Weinheim, Basel 1997, S. 1048-1065, hier S. 1049.
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Diese vier Dimensionen lassen sich nun auch für die Auffuhrungen der geistlichen Spiele des Mittelalters aufzeigen. Wenn Festzeit als liminale Zeit zu begreifen ist, dann bedeutet die Zeit der in sie eingelagerten Aufführungen eine weitere Potenzierung von Liminalität. Denn die Aufführungen beziehen sich auf illud tempus, auf jenen mythischen Ursprungsakt, auf den die Gemeinschaft sich zurückbezieht: auf die Auferstehung Christi in den Osterspielen, auf die Geburt des Erlösers in den Weihnachtsspielen, auf das Leiden und Sterben Jesu, das die Voraussetzimg für die Erlösimg darstellt, in den Passionsspielen oder auch auf den Akt der Schöpfimg selbst, den Sündenfall und die Erlösung wie in den Fronleichnamsspielen. Mit der performativen Vergegenwärtigung der Lebensgeschichte Jesu oder einzelner ihrer Stationen im Spiel wird die Gründungszeit wieder erinnert und der Gegenwart eingeschrieben. Dabei ist es nun in der Tat nicht besonders relevant, ob jedes einzelne Element der Darstellung ästhetischen Ansprüchen zu genügen vermag oder einer der Darsteller sich imgeschickt verhält oder gar einen Reim vergisst. Derartige ,Defekte' tun dem Akt mnemonischen Gedenkens, der mit der Darstellung vollzogen wird, keinen Abbruch. Wichtig ist vielmehr, dass der versammelten Gemeinschaft in jeder Aufführung noch einmal sinnfällig vor Augen geführt wird, welches die Ereignisse, Handlungen und Taten sind auf die sie ihren Ursprung zurückführt - die sie befähigen, sich als eine christliche Gemeinschaft zu begreifen. Die im Laufe der Zeit immer weiter ausufernde Darstellung des Lebens Jesu, der immer neue Episoden hinzugefügt wurden, erfüllte vor allem diese Funktion des mnemonischen Gedenkens. Dabei geht es nicht um eine didaktische oder erbauende memoria. Vielmehr steht die Wiederholung jenes Geschehens, das sich in illo tempore zugetragen hat und den Ursprung und die Identität der Gemeinschaft verbürgt, im Mittelpunkt des Interesses. Hier zeigt sich, dass mit der liminalen Dimension der Aufführungen ihre transformative Hand in Hand ging. Indem jene Werte verhandelt wurden, die für die Gemeinschaft Gültigkeit besaßen, indem sie reflektiert und bestärkt wurden, wandelte sich der Raum in einen liminalen Raum, in dem für alle Teilnehmer Transformationen - wie die Freisprechung von Sünden, die Erlösung - möglich und zugleich commimitas in besonderer Intensität erfahren imd erlebt wurde. Bei dieser Gemeinschaft handelt es sich nicht nur um die Stadt, auch wenn diese durch besonders gelungene Aufführungen und einen möglichst gewaltfreien Festverlauf sich selbst zur Darstellung brachte. Sie besteht vielmehr, jenseits aller sozialen Unterschiede, die im Alltagsleben eine große Rolle spielen, aus der gesamten christlichen Gemeinde - zunächst der, die sich aus Anlass des Festes versammelt hat, darüber hinaus jedoch letztlich der gesamten Christenheit. Diese findet ihre Identität vor allem darin, dass sie in performativen Akten der Wiederholung der Lebensgeschichte ihres Gründers oder durch die Schöpfungsgeschichte der Welt ihres gemeinsamen Ursprungs einge-
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denk ist. Dabei zeigt es sich, wie eng die transformative Dimension mit der kathartischen verbunden war. Die kathartische realisiert sich generell vor allem, wenn Gewaltexzesse dargestellt werden, die von den Zuschauem als Transgression erfahren werden, wie dies bei den Folterszenen in den Passionsspielen der Fall war. Da diese Gewalt sich aber gerade gegen den .Falschen' richtete, nämlich den unschuldigen Jesus, den Begründer der eigenen Gemeinschaft, schürte sie zugleich die Aggression gegen die anderen, die ihm Gewalt antaten, gegen die Juden, so dass ein Ausbruch von Gewalt der versammelten Christen gegen die Juden jederzeit zu gewärtigen war. Um ihn zu verhindern, wurden zu Beginn des Festes die Tore zum Ghetto verschlossen. Die aufgestachelten Aggressionen reichten allerdings auch allein schon aus, um sich von den anderen abzugrenzen, sich als eine von jenen deutlich unterschiedene Gemeinschaft zu fühlen. 24 Das von der Festforschimg immer wieder konstatierte Paradox von Festen, Andacht und Erhabenheit mit Gewalt oder anderen Formen des Exzesses zu verbinden, war insofern auch für die Aufführungen der geistlichen Spiele charakteristisch. 25 Die konventionelle Dimension betraf bei den Aufführungen vor allem das Verhalten der Zuschauer, das einem klaren Reglement unterworfen war und konventionalisierte Formen der Reaktion verlangte, nicht aber ein immittelbares Eingreifen. Die Sz/efe-Rufe der Engel sind in diesem Sinne als Versuch zu verstehen, die Zuschauer an die gewünschten Verhaltensformen zu gemahnen imd auf ihre Einhaltung hinzuwirken. Die vier Wirkdimensionen, die für Feste charakteristisch sind, waren also auch in den Aufführungen geistlicher Spiele effektiv. Sowohl im Fest als auch in den in seinem Rahmen abgehaltenen Aufführungen traten Theatralität und Ritualität in ein ständig wechselndes Verhältnis zueinander. Wenn man nicht von einer starren Gegenüberstellung von Ritual und Theater ausgeht, wie sie eine nachaufklärerische Perspektive nahelegt, sondern von den vier Wirkdimensionen, die in Festen ebenso wie in den Aufführungen der geistlichen Spiele realisiert wurden, erscheint die Frage, ob es sich bei den geistlichen Spielen um Theater oder Ritual handelt, geradezu obsolet. Ins Zentrum tritt vielmehr die Frage nach dem Verhältnis von Theatralität und Ritualität, das nicht nur die christlichen Feste, sondern auch die Aufführungen charakterisierte, die in ihrem Rahmen verstanstaltet wurden. Viele Ambivalenzen der geistlichen Spiele, vor allem aber ihr aus heutiger Perspektive ständiges Oszillieren zwischen theatralen und rituellen Elementen, finden in den Paradoxien des Festes ihre Begründung und Erklärung. Im Rahmen des Festes war - anders als im kirchlichen Ritual, das allerdings von theatralen Elementen auch nicht frei war - das Changieren zwischen Ritualität und Theatralität, die ganz spezifische Verbindung von Ritualität und Theatrali24
Vgl. hierzu auch MÜLLER, Mimesis (Anm. 2), S. 563-568.
25
Zum Paradox vgl. u.a.
KÖPPING
(Anm. 23).
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tat, wie sie in den geistlichen Spielen gegeben war, eher typisch und charakteristisch. Es stellt sich daher die Frage, ob es überhaupt ein sinnvolles Unternehmen sein kann, die Frage klären zu wollen, ob es sich bei den geistlichen Spielen um Ritual oder Theater handelt. Da die Spiele einen konstitutiven Bestandteil von Festen bildeten, sollten sie auch im Kontext dieser Feste untersucht werden. Insofern Festzeit liminale Zeit ist - und Festraum liminaler Raum - , trägt das Fest unverkennbar rituelle Züge. Wie in vielen Ritualen bilden auch in Festen häufig theatrale Darstellungen einen integralen und integrierten Bestandteil, der im Rahmen des Festes eine rituelle Funktion - häufig eben die des mnemonischen Gedenkens - erfüllt. Dies gilt meines Erachtens auch für die religiösen Feste, in deren Kontext die geistlichen Spiele zur Aufführung kamen, aber ebenso für die Aufführungen, die zeitversetzt zu dem entsprechenden religiösen Fest stattfanden und ihrerseits ein Fest konstituierten. Die Aufführungen erfüllten im Rahmen eines religiösen Festes selbstverständlich andere Funktionen als die Gottesdienste, die ebenfalls an ihnen abgehalten wurden. Dass es sich aber auch bei ihnen um rituelle Funktionen handelte, scheint mir aus der Einbettung in das Fest hervorzugehen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Aufführungen aus Anlass christlicher Feste kaum von denen, die im Rahmen von Festen anderer religiöser Gemeinschaften durchgeführt werden, so z.B. von den hinduistischen Ramlila-Spielen, die das Leben und Wirken des Gottes Rama vergegenwärtigen. Ein solcher Vergleich mag unter Umständen für die Erforschung der geistlichen Spiele fruchtbarer sein, als sie auf einen Theaterbegriff zu beziehen, der dem ausgehenden 18., vor allem jedoch dem 19. Jahrhundert entstammt und ihnen in keiner Weise kompatibel ist.
ECKEHARD SIMON
Geistliche Fastnachtspiele Zum Grenzbereich zwischen geistlichem und weltlichem Spiel
Medieval playwrights did not distinguish between religious and secular plays as scholars do today. They intermingled the sacred and the profane. The comedy of evil is part of German Easter and Passion plays from the beginning. The first Carnival play (ca. 1375) parodies a verse from Isaiah about seven Jerusalem women wanting to marry the same man. The Carnival days provided an occasion for festive theater. As part of Carnival playmaking, as about twenty performance records show (ca. 1400-1550), towns put on religious dramas, plays enacting popular stories from the Old Testament (Daniel and Susanna, David and Goliath, Esther) and Christian legend (the coming of Antichrist, the priest Theophilus pacting with the devil, noble Alexius dying as a beggar in his own home, Knight George slaying the dragon). Most of these plays were not short sketches, bawdy Fastnachtspiele, that young men presented 'invading' houses, but lengthier pageants which townspeople staged on scaffolds in marketplaces, mostly on Carnival Sunday. With Niklaus Manuel's 1523 satires attacking the papacy, religious Carnival theater became a public medium promoting the Reformation.
Der Antichrist auf dem Dortmunder Marktplatz Im Jahre 1513 führten „treffliche und ehrbare" Bürger der Stadt Dortmund, wie der Gerichtsschreiber Dietrich Westhoff in seiner Chronik berichtet, ein glanzvolles Antichristspiel auf dem Marktplatz auf: Dis jaers in dem Vastavent wort binnen Dortmunde van drefliehen und eerlichen personen der burger Antichristi spil am dage Dorotheae, was der sundag to Vastavent, uf dem markt gespillet; daer waren 6 bürgen to bereit, der was de ijrste gelacht vur Herman Kremers hues an dem vrigen stolle neegst der Kronen, daruf sich enthelden got, Maria, Johannes Baptista, sanet Peter und Paul sampt den engein seer kostlich uet gebutzet und verzeirt mit kleinodien. Die ander bürg was tegen Arnolts hues torn Busche an den vlesbenken, daruf lieft sich der pauwest mit seinen cardinalen und bischopen enthalden. Die derde bürg was vur Johannes tom Busche gelegen an der westside des Raethues, und was des keisers bürg mit seinen koningen, vursten und hern. Die veerde bürg lag tegen Tonis Roterdes hues tegen dem Raethues over in norden, darselvest verhelt sich Entchrist mit seiner geselschaft. Die vijfte was darbij, und was der juden bürg mit irem anhank; die seste
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was die holle mit vil gruwelichen und heischen duveln; und koste groet gelt und arbeit. 1 („In diesem Jahr wurde in Dortmund zu Fastnacht von trefflichen und ehrbaren Bürgern das Antichristspiel auf dem Marktplatz aufgeführt, am Dorotheentag, der auf den Sonntag vor Fastnacht fiel. Da wurden sechs Spielerstände errichtet. Das erste Gerüst stand beim Freistuhl vor Herman Kremers Haus neben der ,Krone'. Dort hielten sich Gott, Maria, Johannes der Täufer und Sankt Peter und Paul auf nebst den Engeln, alle kostbar kostümiert und mit Schmuckstücken verziert. Das zweite Gerüst stand bei den Fleischbänken beim Haus Arnolts tom Busche. Dort versammelten sich der Papst mit seinen Kardinälen und Bischöfen. Der dritte Spielerstand lag an der Westseite des Rathauses, vor Johannes tom Busches' [Haus] und war die ,Burg' des Kaisers samt seiner Könige, Fürsten und Herren. Das vierte Gerüst stand an der Nordseite, dem Rathaus gegenüber bei Tonis Roterdes Haus. Dort hielt sich der Antichrist mit seiner Gefolgschaft auf. Nicht weit entfernt stand die fünfte Tribüne mit den Juden und ihren Anhängern. Die Hölle mit greulichen und höllischen Teufeln bildete den sechsten Spielerstand. Und [die Aufführung] kostete viel Geld und Aufwand.")
Sechs an den vier Seiten errichtete bürgen oder Spielerstände verwandelten den Dortmunder Marktplatz in die Welt am Ende der Zeiten (Abb. 1). Das Himmelsgerüst stand an der Südostecke vor dem Gasthaus Krone und neben dem „Freistuhl" (an dem vrigen stolle) genannten Femgerichtshaus (Abb. 2). Der Freistuhl verlieh den dort versammelten Himmelsfiguren - Gott, Engel, Maria, Johannes der Täufer, Sankt Peter und Paul - gerichtliche Autorität. 2 An der Ostseite bei den Fleischbänken stand die Mansio des Papstes, seiner Kardinäle und Bischöfe. Die Arkadenfassade des an der Südflanke gelegenen Rathauses bildete die imposante Folie der ,Burg', auf welcher der Endzeitkaiser, seine Könige und Fürsten agierten. Den weltlichen Machthabern gegenüber, auf dem die Nordseite flankierenden vierten Stand, parodierte der von einer Gefolgschaft umgebende Entchrist Werke und Wunder des Heilands. In seiner Nähe erhob sich das Gerüst, auf dem die Juden versammelt waren. Vermutlich an der Westseite, wo sich der Pranger befand, hatten die Dortmunder die mit „greulichen" Teufeln besetzte Hölle errichtet. Wie bei den meisten dokumentarisch belegbaren Aufführungen sind die Skripte des unter Aufwand von groet gelt und arbeit produzierten Antichristspiels nicht überliefert. Die Dortmunder brachten es nach Westhoff am 6. Februar 1513, am Sonntag vor Fastnacht, zur Auffuhrung. Der spektakuläre Antichrist war ein geistliches Fastnachtspiel. Der Antichrist gehört zu den Dramen geistlicher Thematik, welche spätmittelalterliche Kommunen in der Fastnachtszeit aufführten. Mit der Fastnacht ist offenbar bereits das älteste deutschsprachige Antichristspiel zu verbinden, in dem ein Zürcher Verfasser Kaiser Karl IV und seine ι
Chronik des Dietrich Westhoff von 750-1550. In: Die Chroniken der westfälischen und niederrheinischen Städte. Erster Band, Leipzig 1887 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 20), S. 398 ff.
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GERHARD BUCHDA: ,Freistuhl'. In: Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte, Hrsg. von ADALBERT ERLER/EKEHARD KAUFMANN, Bd. I, Berlin 2 1971, Sp. 1248 f.
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korrupten Minister angreift. Zeitgeschichtliche Anspielungen verweisen das Spiel in das Jahr 1354, als Karl IV mit den Reichstruppen nach Zürich kam, um an der von seinem Schwager, Herzog Albrecht II. von Österreich, begonnenen Belagerung der Stadt teilzunehmen. 3 Nach den Regieanweisungen und der Rollenzahl zu urteilen war das Zürcher Antichristspiel wie das Dortmunder für eine aufwendige Aufführung konzipiert. Der Entkrist reitet hoch zu Pferd vor das volk. Er besticht die kaiserlichen Kleriker (Bischof Gugelwevt, Abt Gödlein Waltschlawch) mit Angeboten aus dem Fastnachtsbereich der Schlemmerei. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum das alte Antichristspiel erhalten blieb. Ein Jahrhundert später, um 1450, hat Hans Rosenplüt den Text in ein Nürnberger Fastnachtspiel - Des Entkrist Vasnacht - umgearbeitet, auf 468 Sprechverse reduziert und den fastnächtlichen Rahmen erweitert. 4 Dadurch verwandelte Rosenplüt ein geistliches Spiel in ein Fastnachtspiel. Nicht alle Antichristspiele wurden zu Fastnacht aufgeführt. Zu welchem Termin Xantener Bürger 1473 und 1481 das alte grosse spil vom u f f - und untergang des Anticrisis produzierten, hat die Xantener Archivforschung (Domstift) noch zu ermitteln. 5 Zwischen Ostern und Pfingsten brachten Frankfurter Bürger 1468 und 1469 auf dem Römerberg die comedia de Antichristo et extremo judicio („[...] und des Jüngsten Gerichts") zur Aufführung (NEUMANN 14981501). Das Antichristspiel ist demnach zu den Spielen geistlicher Thematik zu rechnen, welche die Städte zu Fastnacht - gewöhnlich am marktfreien Fastnachtssonntag - zur Aufführung bringen konnten. Ein Hauptkonzept der fastnächtlichen Mentalität ist das der ,verkehrten Welt'. Das Antichristspiel verkehrt die christliche Welt in ihr Gegenteil. Das wird ein Grand gewesen sein, warum es, wie Rosenplüts Des Enthist Vasnacht zeigt, für die Fastnachtsbühne geeignet war. Im Folgenden untersuche ich religiöse Dramen wie das Antichristspiel, welche Kommunen zur Fastnachtszeit aufführten und erweitere damit den geläufigen Begriff Fastnachtspiel. Ich meine damit nicht nur das von einer von Haus zu Haus ziehenden Truppe aufgeführte Einkehrspiel (Nürnberg), sondern weltliche und geistliche Spiele, welche Ensembles in der Fastnachtszeit präsentier3
4
Des Entkrist Vasnacht. In: Frühe Schweizerspiele. Hrsg. von FRIEDERIKE CHRIST-KUTTER, Bern 1963 (Altdeutsche Übungstexte 19), S. 30-61. Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund und zur Autorschaft vgl. hier S. 32-34. ECKEHARD SIMON: Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels 1370-1530. Untersuchung und Dokumentation, Tübingen 2003 (MTU 124), S. 36-38. Im Folgenden abgekürzt SIMON.
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JOHANNES JANSSEN: Die allgemeinen Zustände des deutschen Volkes beim Ausgang des Mittelalters, Freiburg i.Br. 6 1880 (Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters Bd. 1), S. 233, Anm. 1. JANSSEN zitiert Aufzeichnungen des Xantener Kanonikers Friedrich Jakob Pelz (1701-1784). Vgl. auch BERND NEUMANN: Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet, 2 Bde., München, Zürich 1987 (MTU 84, 85), Bd. I, Nr. 3391, 3392. Im Folgenden abgekürzt NEUMANN.
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ten - in Häusern, Rathäusern und auf Marktplätzen. Mein Ausgangspunkt bilden die von BERND NEUMANN veröffentlichten Aufführungszeugnisse geistlicher Spiele, insgesamt 38, die in die Fastnachtswochen - von Pauli Bekehrimg (25. Januar) bis zur ,Bauernfastnacht' (Sonntag Invocavit) - zu datieren sind. 6 Nicht ein einziges dieser zumeist in Rechnungsbüchern attestierten Spiele hat sich, soweit ich sehe, als Text erhalten. Angesichts der hohen Verbrauchs- und Verlustrate mittelalterlicher Spielskripte ist das nicht ungewöhnlich. Um zu ermitteln, welche geistlichen Stoffe die Städte zu Fastnacht dramatisierten, warum gerade diese und wie die Verfasser zu Werke gingen, untersuche ich jeweils den ältesten überlieferten Spieltext des dokumentarisch nachweisbaren Typs.
Die problematischen „Ordnungskategorien" geistlich/weltlich Wir betreten hier ein umstrittenes Grenzgebiet. Die neuere Forschung hat die traditionellen Begriffe geistlich und weltlich problematisiert. In einem Aufsatz von 2001 verweist HANSJÜRGEN LINKE auf die Vernetzungen zwischen geistlichen und weltlichen Spielen. 7 Er bezeichnet diese in der Forschimg geltenden „Ordnungskategorien" als „unstimmige Opposition". Überschneidungen zwischen geistlicher und weltlicher Dramatik sind, wie LINKE zeigt, besonders für viele der in Tirol verfassten Spiele charakteristisch. Tiroler Osterspiele transformieren den auferstandenen Christus, dem Maria Magdalena begegnet, in einen grobianischen Gärtner. Dw tritzt mir nider mein guetz kraut. / Heb dich paid, dw waimmde haut (Bozner Osterspiel II, Debs-Kodex 5, V 114 f.; „Du zertrampelst mir meine edlen Gartenpflanzen. / Mach dich davon, du plärrende Haut"), fährt der spatenschwingende Ortulanus Maria Magdalena an. 8 Die Tiroler Salbenkrämerspiele haben sich, wie die fastnächtlichen Nürnberger Arztspiele, aus der Mercatorepisode der Osterspiele verselbstständigt oder sind ihr karnevalistisch nachgebildet. Der Verfasser des Großen Neidhartspiels (Südtirol, um 1490) macht die Hölle für die Feindschaft zwischen Rittern und Bauern verantwortlich. Wie beim Seelenfang der Osterspiele sendet Lucifer seine Teufel aus, um die Bauern ziun Veilchentausch zu verführen und ihre Seelen zu fangen. 9 Lucifer und seine Teufel ziehen die Marionettenfäden in zwei zur gleichen Tiroler Tradition gehörenden Fastnachtspielen. In Ge-
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NEUMANN ( A n m .
7
5).
s
Unstimmige Opposition. .Geistlich' und .weltlich' als Ordnungskategorien der mittelalterlichen Dramatik. In: Leuvense Bijdragen 90 (2001), S. 75-126. Die geistlichen Spiele des Sterzinger Spielarchivs. Nach den Handschriften hrsg. von WALTHER LIPPHARDT/HANS-GERT ROLOFF, Bd. 1, Bern 2 1986 (Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken 14).
Ο
LINKE ( A n m . 7), S. 9 6 .
HANSJÜRGEN LINKE:
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scheiterte Teufelskuppelei (Κ 57)'° beauftragt Lucifer seine Teufel, mit Hilfe einer als Zauberin dämonisierten Kupplerin Zwietracht unter Eheleuten zu stiften. 11 Das Fastnachtspiel Die drei bösen Weiber (K 56) persifliert die Tiroler Oster- und Emmausspiele. Wenn der Weinwirt Pinckepanck die drei zur Höllentaveme tanzenden Weiber mit Seyt wilkomen ir drey frawen begrüßt, parodiert der Verfasser die Begegnung der drei zum Grabe schreitenden Marien mit dem Krämer. 12 Die drei ,bösen Weiber', die in Gumprechts Wirtshaus trinken, werden Tiroler Zuschauer an die ,Fastenpilger' Lucas und Cleophas der Tiroler Emmausspiele erinnert haben, die im Wirtshaus zu Emmaus mit dem Auferstandenen, den sie nicht erkennen, zechen und schlemmen. 13 Transgressiver Austausch geistlich-weltlich manifestiert sich auch außerhalb der Tiroler Spieltradition. Der Verfasser des ältesten Fastnachtspiels (um 1375), Septem midieres. Sieben Frauen und ein Mann (K 122), inszeniert einen Vers aus dem Alten Testament, aus Jesaja: „Und sieben Frauen werden zu der Zeit einen Mann ergreifen [...]" (Is. 4, 1). Von fastnächtlichen Männerfantasien inspiriert, dramatisiert der offenbar aus der Osnabrücker Gegend stammende Stückeschreiber, wie es zugeht, wenn sieben liebestolle Frauen denselben Mann „ergreifen". 14 Das von Nicolaus Mercatoris im vorreformatorischen Lübeck verfasste Vastelaiiendes Spil von dem Dode vnde van dem Leuende ist als Einkehrspiel konzipiert (293 Verse), das ein Kammerensemble von drei .Reimern' vor einer fastnächtlich tafelnden Herrengesellschaft aufzuführen hatte. In dieser ernsthaften Moralität konfrontiert der Tod gresslick vncl swart (V 95), die als Ritter auftretende Jedermannfigur des Lebens. 15 Zwischen 1474 und 1493 verleiht Hans Folz dem Nürnberger Fastnachtspiel mit den Disputationsspielen Die alt und die neu Ee (K 1) und Kaiser Const antinus (K 106) sowie dem Antichristspiel Die Juden und der Antichrist (K 20) - das zweite fastnächtliche Antichristspiel Nürnbergs - eine geistliche Tendenz. 16 Mit antijüdischer Apologetik diente Folz den politischen Interessen 10
Fastnachtspiele aus dem 15. Jahrhundert. Hrsg. von ADELBERT VON KELLER, 3 Bde., Stuttgart 1853 (Bibliothek des literarischen Vereins 28, 29, 30), Nachlese 1858 (Bibliothek 46), ND 1965. Hier und im Folgenden abgekürzt K.
11
LINKE ( A n m . 7 ) , S. 9 7 .
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SIMON ( A n m . 4 ) , S. 1 4 8 f.
13
Dazu UTE VON BLOH: Vor der Hölle. Fastnachtspiel (Keller 56) / Osterspiel / Emmausspiel. In: Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von HANS-JOACHIM ZIEGELER, Tübingen 2004, S. 233-246, hier S. 238 f.; MONIKA SCHULZ: Die Oster- und Emmausspiele und das Himmelfahrtsspiel im Debs-Codex. Zur Ambivalenz christlicher und paganer Tradition, Göppingen 1993 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 578), S. 227-239 („Der Zusammenhang mit den Tiroler Fastnachtspielen").
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SIMON (Anm. 4), S. 57-69.
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SIMON ( A n m . 4 ) , S. 2 7 9 f.
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Κ 20 neu ediert in: Frühe Nürnberger Fastnachtspiele. Hrsg. von KLAUS RIDDER/HANS-HUGO STEINHOFF, Paderborn u. a. 1998 (Schöninghs Mediävistische Editionen 4), Nr. 7 (hrsg. von MARTIN PRZYBILSKI), S . 8 5 - 1 0 8 u n d
156-167.
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des Rats, der in diesen Jahren Kaiser Maximilian um die Genehmigung bat, die Juden, „des Kaisers Kammerknechte", aus Nürnberg zu vertreiben. 17 Wie das Nürnberger Publikum „sonst in den Fastnachtspielen über die tölpelhaften Bauern lacht", resümiert LINKE, „SO soll es hier zum Lachen über die verhöhnten Juden gebracht werden". 18 Am Ende von Kaiser Consta»tinus lässt Folz den Precursor verkünden, dass dieses Stück von der dominanten Spielform abweiche: Und haben euch [...] ein geistlichs gemacht; / Des piibischen wirf siinst vil verpracht (K 106, S. 819, Z. 15 f.). Vorläufer ,schreien' die Folzschen Spiele ein und aus, am Schluß tanzen die agierenden Gesellen mit den in der Stube zuschauenden Frauen. Indem er sie mit Fastnachtsgeselligkeit einrahmt, passt Folz die geistlichen Tendenzstücke dem Nürnberger Fastnachtspiel an. Spielautoren verschiedener Regionen, so ist als Fazit festzuhalten, haben die „Ordnungskategorien" geistlich-weltlich, die Spieltypen und ihre Schreibarten, experimentell und kreativ vermischt. Die glaubensfestere Mentalität des Mittelalters verstand geistlich und weltlich nicht als polare Begriffe und zog zwischen ihnen keine festen Grenzen.
Geistliche Fastnachtspiele im Zeugnis der Zeit Wir untersuchen nunmehr von NEUMANN veröffentlichte Zeugnisse, die geistliche Spielaufführungen in die Fastnachtszeit datieren. Einem Beleg aus dem Lausitzstädtchen Guben ist mit Skepsis zu begegnen. Laut Johann Loockes Stadtgeschichte von 1803 sollen „junge Bürgers Söhne [...] in der Fastnacht 1516" auf dem Gubener Marktplatz „die Passions-Geschichte von dem Leiden und Sterben Jesu Christi" aufgeführt haben (NEUMANN 1856). Zum Jahr 1519 zitiert NEUMANN einen Bericht von 1720, wonach Gubener Bürger „die Passion mit einfältigen Reimen" hingegen in der „Pfingst-Woche [...] gespielet" hätten (NEUMANN 3724). Beide Berichte stammen von protestantischen Chronisten des 18. Jahrhunderts, die Passionsspielaufführungen als „papistische Blindheit" verwerfen, ein Urteil, das auf Luther selbst zurückgeht (NEUMANN 3738-3744). Um den „papistischen Gebrauch" zu verurteilen, assoziiert der erste von Loocke nicht identifizierte Informant das Gubener Passionsspiel mit der von Protestanten als heidnische Unsitte verdammten Fastnacht. Die von Zuschauern höchste Mitleidensbereitschaft erfordernden Passionsspiele waren, soweit ich sehe, nicht zu Fastnacht aufführbar. Das gilt auch für geistliche Spiele wie Osterspiele, deren Aufführung fest an Kirchenjahrtermine gebunden war. 17
EDITH WENZEL: DO worden die Judden alle geschaut. Rolle und Funktion der Juden in spätmittelalterlichen Spielen, München 1992 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 14), S. 189-265.
is
LINKE ( A n m . 7), S. 93.
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Unverdächtiger sind dagegen zwei Rechnungsposten, wonach die Rheinstadt Wesel 1406 und das westfälische Bocholt 1526 in der Fastnachtszeit Dreikönigsspiele, dat spyl der hilligen koninge, zur Aufführung brachten (NEUMANN 2773, 71). Wesel zahlt das den spielenden ghesellen - also jungen Männern gespendete Trinkgeld, ein Faß Rheinwein, zwei Wochen vor Fastnacht. Bocholter präsentierten das auf dem Marktplatz offenbar als aufwendige Vorstellung inszenierte Dreikönigsspiel am Aschermittwoch. 19 In vielen Städten - Basel wäre ein gutes Beispiel - begann die Faschingszeit zu Weihnachten mit Schau- und Heischeläufen vermummter Jugendlicher. Ein Dreikönigsspiel zu Fastnacht könnte somit das Ende der Festlichkeiten zwischen Weihnachten und dem Weißen Sonntag (Invocavit) markieren. Die Weseler und Bocholter Spiele über das Kommen der „Three Kings of Cologne", wie Engländer die Magier nannten, sind jedoch als regionaler Sonderfall zu betrachten. Nach Aussage der NEUMANNschen Belege hat keine andere Stadt Weihnachtsspiele zu Fastnacht aufgeführt. Die Mehrzahl der hier ausgewerteten Meldungen über geistlich thematisierte Fastnachtspiele kommen aus niederrheinischen und westfälischen Städten. Zu Dortmund, Wesel und Bocholt gesellen sich Geldern und Essen sowie die heute niederländischen Städte Venlo, Deventer und Zwolle. Die meisten Zeugnisse entstammen Rechnungsbüchern der Ijsselstadt Deventer. Diese ostniederländischen Städte gehörten im Mittelalter zum Wirtschafts- und Kulturbereich des deutschen Niederrheins und Westfalens. Die Hansestadt Deventer war wirtschaftlich besonders gut mit Westfalen verbunden. Gestützt auf die Fors c h u n g e n d e s U t r e c h t e r H i s t o r i k e r s WYBE JAPPE ALBERTS e r w i e s NEUMANN
das in seinem Aufsatz „Mittelalterliches Schauspiel am Niederrhein", worin er die Aufführungsbelege erstmals veröffentlichte. 20 Andererseits haben auch Kolmar im Eisass, Volkmarsen in Niederhessen und die fränkische Reichsstadt Windsheim, wie sich ergeben wird, geistliche Spiele zu Fastnacht aufgeführt. Die Texte, mit Hilfe derer ich Handlungsduktus und Schreibart der dokumentierten Spiele rekonstruiere, kommen aus dem Salzburgischen, aus Bozen in Südtirol, Nürnberg, Augsburg und Thüringen. Die Praxis, geistliche Spiele gelegentlich auch zu Fastnacht aufzuführen, war offenbar weit verbreitet. Die Rechnungsbücher niederrheinischer, ostniederländischer und westfälischer Städte sind zu einem ungewöhnlich hohen Prozentsatz erhalten. Das erklärt wohl ihren hohen Anteil an den dokumentarisch attestierbaren Fastnachtsaufführungen geistlicher Spiele. Neben der Antichristlegende dramatisierten diese geistlichen Fastnachtspiele - wie im Folgenden zu zeigen ist - drei Historien aus dem Alten Testament und drei Heiligenlegenden.
19
BERND NEUMANN: Mittelalterliches Schauspiel am Niederrhein. In: Z f d P h 9 4 ( 1 9 7 5 ) , Sonder-
20
Hier S. 1 5 6 - 1 6 1 .
heft Mittelalterliches deutsches D r a m a , S. 147-194, S. 163.
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Drei alttestamentliche Fastnachtspiele Den Zeugnissen zufolge inszenierten die Kommunen zu Fastnacht drei dramatische Geschichten aus dem Alten Testament, die damals ebenso gut bekannt und beliebt waren, wie sie es heute sind: wie Daniel die keusche Ehefrau Susanna rettet, wie der Hirtenknabe David den Philisterriesen Goliath erschlägt und wie die schöne Jüdin Esther als Perserkönigin ihr Volk vor der Vernichtung rettet. Ich skizziere zuerst kurz die im Buch Daniel, im heute zu den Apokrypha gerechneten 13. Kapitel, überlieferte Geschichte der Susanna. In Babylon stellen zwei alte Richter der schönen Susanna nach, der Ehefrau Joachims, die in einem entlegenen Garten ein Bad nimmt. Als sich Susanna auf ihr Drängen nach Sex nicht einlässt, geben die Alten vor, sie beim Ehebruch mit einem - angeblich entlaufenen - Jüngling ertappt zu haben. Bei dem nachfolgenden Eheprozess wird Susanna zunächst zum Tode durch Steinigung verurteilt, dann aber vom Propheten Daniel gerettet, der die Ankläger einzeln verhört und so in Widersprüche verwickelt. Zur Strafe steinigen die Juden die beiden Verleumder.
1439, 1443 und 1446 führten junge gesellen in Geldern (Abb. 3) - 1443 nennt die Rechnimg sie onser burger kinder - das Zusannen spoel (1439) auf (NEUMANN 1832, 1833, 1835). Z u d e n V o r s t e l l u n g e n v o n 1443 u n d 1446 l u d
der Bürgermeister den Geldrischen Adel ein. Am Abend bewirtete er die noblen Gäste und die Schauspieler mit einem Festessen im Weinhaus. Den Spielzeugnissen zufolge luden Städte den Landadel nicht selten zur Fastnachtsfeier ein, um sich vor den Herrschaften mit Theaterspiel und aufwendiger Gastlichkeit zu repräsentieren. Gelderns junge Männer werden das Susannaspiel - das Rechnungsbuch datiert die Ausgaben nicht - zur fastnächtlichen Unterhaltimg aufgeführt haben. Die gezellen des Maasstädtchens Venlo inszenieren das Susannen spoel 1463 in einer Freilichtproduktion auf dem Marktplatz. (SIMON 514). In Deventer (Abb. 4) kommt das Susannenspiel 1484 (op vastelavond) und 1517 zur Aufführung (SIMON 81, 86). 1484 spielt die Schiffergesellschaft der Bergenfahrer, der Schiffsleute also, die mit Handelskoggen zur norwegischen Hansestadt Bergen segelten. 1517 tanzen die Darsteller des Susannaspiels, die der Schatzmeister nicht identifiziert, einen Schwerttanz. In Gruppentänzen wird die fastnächtliche Festfreude zur Schau gestellt, die vermutlich den Ton des Susannaspiels mitbestimmt hat. Den ältesten Text eines Susannaspiels - Hie hebt sich an daz leben der hevligen frawen Susanna - zeichnete der Mönch und Leutpriester Johann Hauser 1494 im Benediktinerkloster Mondsee bei Salzburg auf. 21 Hauser schrieb das Susannaspiel in eine Sammelhandschrift, die - wie die Mehrzahl seiner Codices - für die Mondseer Bibliothek und die Klosterschule bestimmt war. 22 Die 21 KELLER (Anm. 10), Bd. IV, Nachlese, S. 231-245. Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 3027, fol. 161v-173v. Weniger fehlerhaft ediert von K[ARL] SCHRÖDER: Susanna. In: Germania. Vierteljahrsschrift für deutsche Altertumskunde 22 (1877), S. 342-351. 22
SIMON ( A n m . 4 ) , S. 2 0 5 f.
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deutschsprachigen Regieanweisungen sind erzählartig ins Präteritum transponiert. 23 Eine zweite Hand trug in den Susannatext am Seitenrand, worauf LINKE verweist, 24 die Namen von vier Figuren nach (Israhie, Achias, Ysaac, Moises) und fügte drei lateinische, im Präsens stehende Sprechanweisungen hinzu. Hier hat ein Benutzer der Handschrift, folgert LINKE, Hausers Lesetext für eine Aufführung neu bearbeitet oder, vorsichtiger gesagt, er hat damit begonnen. Weil eine Spieltruppe sie von Haus zu Haus ziehend aufführte, mussten fastnächtliche Einkehrspiele, wie das Nürnberger Repertorium zeigt, relativ kurz sein. Mit 403 Sprechversen liegt die Mondseer Susanna an der Obergrenze des Einkehrspiele kennzeichnenden Umfangs. Den Spielschluss hat der hier „Beschließer" (peschleusser) genannte Precursor fastnächtlich gestaltet. Dem Aktualitätsprinzip der Fastnachtspiele gemäß bezieht er den Ehebruch - der nicht stattfand - auf die desolaten Eheverhältnisse seiner Zeit: Ja wolt man yeczimd den eepruch also straffen, / Es wurden der stain zebenig in allen gassen (Κ 129 S. 245, Ζ. 12 f.; „Wahrlich, wenn man Ehebrecherei heutzutage auf diese Art bestrafen wollte, gäbe es zu wenig Steine auf den Gassen"). 25 Zuletzt fordert der peschleusser - wie am Ende eines Fastnachtspiels - die Darsteller und Zuschauer auf, gemeinsam zu singen und zu tanzen: Nun macht auff vnd last vns singen / Vnd darnach ain tancz oder zwey her vmb springen! (K 129 S. 245, Z. 20 f.). Das Susannaspiel wurde wohl nicht, wie LINKE annimmt, „durch einen äußerlich angehängten Schluß [...] zum Fastnachtspiel umfunktioniert". 26 Der Umfang lässt darauf schließen, dass der Verfasser es als fastnächtliches Stubenspiel konzipierte: Hausers Susanna ist ein geistliches Fastnachtspiel. Nach den sechs Aufführungsbelegen zu urteilen, die sich über nahezu ein Jahrhundert erstrecken (1439-1517), war das Spiel von Daniel und Susanna das beliebteste Fastnachtspiel geistlicher Thematik. Auch in der Reformationszeit wurde, wie PAUL CASEY zeigt, die Geschichte von der Gotfurchtigen vnd keuschen Frawen Susannen (Paul Rebhun, 1536) häufig dramatisiert. 27 Dage23
DIETER TRAUDEN: Auch ander ler exempet gut - Der Mondseer Benediktiner Johann Hauser als Sammler volkssprachiger Dramen? In: Amsterdamer Beiträge zur Älteren Germanistik 43/ 44 (1995) [= So wolt ich in froiden singen. Festgabe für Antonius H. Touber zum 65. Geburtst a g . H r s g . v o n C A R L A DAUVEN-VAN K N I P P E N B E R G / H E L M U T BIRKHAHN], S. 4 8 5 - 5 1 9 .
24
HANSJÜRGEN LINKE: Versuch über deutsche Handschriften mittelalterlicher Spiele. Oxforder Kolloquium
1 9 8 5 . H r s g . v o n VOLKER H O N E M A N N / N I G E L F. PALMER, T ü b i n g e n
1 9 8 8 , S. 5 2 7 -
589, hier S. 550. Abbildung von fol. 169R, hier S. 589. 25
SCHRÖDER ( A n m . 2 1 ) , V 3 9 2 f. K E L L E R v e r l i e s t zebenig
26
LINKE ( A n m . 2 4 ) , S. 5 5 0 . Z u d i e s e r F r a g e v g l . DOROTHEA K L E I N : , W i e n e r S u s a n n a s p i e l ' . I n : V L , B d . 10, B e r l i n
27
2
a l s ze
berg.
1 9 9 9 , Sp. 1042-1044, hier Sp. 1043.
PAUL F. CASEY: The Susanna Theme in German Literature. Variations of a Biblical Drama, Bonn 1976 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 214); vgl. Paul Rebhun: Das Gesamtwerk. Hrsg. von PAUL F. CASEY, Bd. I: Dramen, Bern u.a. 2002 (Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken 27), S. 1-207, 425-455, hier S. 2.
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gen liegen für das alttestamentliche Fastnachtspiel von David und Goliath nur zwei Auffulirungsbelege vor. Beide stammen aus Deventer (Abb. 4). Zu Fastnacht 1500 spielten dort Kinder (een deels kynderen) und 1501 junge Gesellen die historie van David en Golias (NEUMANN 1207, 1208). Die Kindergruppe trat 1500 am Fastnachtsdienstag (3. März) auf. Vielleicht führten sie David und Goliath - wie gesellen am Tage zuvor ein ungenanntes Spiel - im gegenüber der Lebuinuskirche gelegenen Rathaus auf (Abb. 6). 28 In Rathaussälen, wo sie die Fasching feiernden Ratsherren und ihre Ehefrauen zu unterhalten hatten, präsentierten Gesellen gewöhnlich Stücke, die umfänglicher als Einkehrspiele waren. Die im 1. Buch Samuel, Kapitel 17, erzählte Geschichte, wie der harfenspielende Hirtenjunge David den gepanzerten Philisterriesen Goliath im Zweikampf konfrontiert und mit einem geschleuderten Stein tötet, ist so gut bekannt, dass ich sie nicht zu referieren brauche. Ein Fastnachtspiel Von Kinig daiiid vnd goliam existierte im Repertorium der Südtiroler Stadt Bozen. Dort hat es Vigil Raber 1515 in ein Spielheft eingetragen, das mit dem Kleinformat seiner in Bozen geschriebenen Fastnachtspielhefte identisch ist (Abb. 5). Die Kürze (320 Sprechverse) und der Schlusstanz (pheiff auf den fimien, Dauid schaut, wie er her tancz mit seiner praut, V 319 f.) kennzeichnen das Stück als Einkehrspiel. 29 Auf das Kurzformat und die für ein Fastnachtspiel ungewöhnliche Thematik verweist der Precursor in seiner Begrüßungsrede: ain kurcze figur wolt wir euch sagn, / Die gemimen ist ans der alltn ee (V 4 f.; „Wir präsentieren euch ein kurzes Stück, das dem Alten Testament entnommen ist"). Ein Vergleich mit der biblischen Vorlage zeigt, wie der Bozener Verfasser - oder der sich oft als Redaktor betätigende Raber - die Handlung modifiziert, um sie der Dramaturgie eines Fastnachtspiels dienstbar zu machen. Als Siegeslohn verlangt David König Sauls Tocher Mihol, von der er sofort Besitz nimmt {wann pillich solt sv mein aign sein, V 295 f.), und mit der er das Spiel austanzt. In Samuel 1 gibt ihm der argwöhnige Saul seine Tocher Michal erst viel später. Gemäß der Märchenkonvention „der Held heiratet die Prinzessin" gestaltet der Stückeschreiber den Spielschluss als Happy End. Darauf verweist STEPHEN WRIGHT im Kommentar zu seiner jüngst vorgelegten Übersetzung von Rabers David und Goliath. 30 Der Verfasser setzt vier Rollen - Precursor, David, Goliath, Saul - als Hauptrollen an und weist ihnen die Mehrzahl der Sprechverse zu. Er erweitert und kompliziert die 28
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2. März 1500: Item den gesellen die opt ruithuys een spvl spoelden [...]. („Ein Gleiches den Jungen Männern, die im Rathaus ein Spiel aufführten [...]"). Vgl. NEUMANN (Anm. 19), S. 1 7 1 , Anm. 1 1 8 . Sterzing/Vipiteno, Archiv der Gemeinde, Hs. XX. S. Tiroler David-und-GoIiath-Spiel. In: Die geistlichen Spiele des Sterzinger Spielarchivs. Hrsg. von HANS-GERT ROLOFF, Bd. 5, Bern u.a. 1980 (Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken 18), S. 269-280. STEPHEN K. WRIGHT: The Tyrolean Play of David and Goliath (Bozen 1515 ). Tradition, Text, and Translation. In: European Medieval Drama 8 (2004), S. 51-89, hier S. 64.
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Handlung andererseits durch sieben nicht-biblische Figuren, die - wie W R I G H T vermerkt - wenig zu tun und zu sprechen haben. 31 Diese Rollenverteilung ist fur die Raberschen Fastnachtspiele charakteristisch, weil sie für unerfahrene Laientruppen bestimmt waren. 32 Mit Kleinrollen befriedigten Regisseure wie Raber - der oft den Precursor spielte - weniger begabte Aspiranten, während erprobte Darsteller in den Hauptrollen zu glänzen vermochten. Der Daviddarsteller musste besonders agil und akrobatisch sein. Er kämpft in Sauls viel zu großem Plattenpanzer, den er eilends zurückbringt. Nachdem er Goliath das Schwert entrissen hat, muss er rasch zurückspringen, damit ihn dessen massiver Speer nicht trifft. Auf diese Weise passt der Verfasser W R I G H T zufolge die biblische Handlung den praktischen Bedürfnissen einer Fastnachtspielaufführung an. An Rabers David und Goliath ist besonders deutlich zu erkennen, dass mittelalterliche Spiele prinzipiell für die Aufführung bestimmte Skripte waren. Das dritte alttestamentliche Fastnachtspiel dramatisiert die im Buch Esther erzählte höfische Intrige, wie die schöne Jüdin Esther - im persischen Exil - ihr Volk vor der Vernichtung rettet. Ich fasse die Handlung kurz zusammen. Der Perserkönig Ahasveros (Xerxes) verstößt die Königin Vasthi, weil diese sich weigert, zu seinem Festmahl zu kommen. Auf Anraten ihres Pflegevaters Mardochai begibt sich die verwaiste Esther, ihre Abstammung verschweigend, unter die auf dem Königsschloss versammelten heiratsfähigen Jungfrauen. Ahasveros erwählt sie zur neuen Königin. Von Mardochai informiert, warnt Esther den König vor zwei seiner Kämmerer, die ihn ermorden wollen. Weil Mardochai sich weigert, sich vor Haman zu verbeugen, den der König zum Reichsminister erhoben hat, holt Haman aus Rache von Ahasveros die Erlaubnis ein, alle Juden im Perserreich zu vernichten. In der Nacht erfährt der König, dass Mardochai ihn vor den Verschwörern gerettet hat und beschließt - auf Hamans Rat, der die Ehrung für sich erhofft - ihn mit Kleid, Schmuck und Leibpferd zu ehren. Bei einem Gastmahl für Ahasveros und Haman bittet Königin Esther um Gnade für ihr Volk und entlarvt Haman als heimtückischen Anstifter. Der König läßt Haman an den Galgen hängen, den dieser für Mardochai errichtet hatte, und ernennt ihn zu Hamans Nachfolger. Weil Haman das Los (Pur) warf, um ihre Vernichtungstage zu bestimmen, feiern die Juden an den beiden Tagen das Purimfest.
Am Fastnachtsdienstag 1474 führten Jugendliche (die jongen) der Stadt Deventer das Spiel van koning Aszwems im Rathaus (Abb. 6) auf (SIMON 80) Eine zweite Gruppe setzte das Programm mit einem zweiten Spiel fort - dessen Thematik der Rechnungsschreiber nicht notiert - und präsentierte zum Abschluss einen Moriskentanz (matirys dans). Im Moriskentanz springen als Mohren oder Narren vermummte Tänzer um eine Frau, die demjenigen Tän31
WRIGHT ( A n m . 3 0 ) , S. 6 0 .
32 ECKEHARD SIMON: Die Fastnachtspielhefte: Vigil Raber als Schreiber, Textbearbeiter und Spielleiter. In: Vigil Raber. Zur 450. Wiederkehr seines Todesjahres. Akten des 4. Symposiums der Sterzinger Osterspiele. Hrsg. von MICHAEL GEBHARDT/MAX SILLER, Innsbruck 2004 (Schlern-Schriften 326), S. 213-233.
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zer einen Apfel als Preis schenkt, der sich bei der grotesken Verrenkung von Armen und Beinen am meisten hervortut. 33 Der festliche Rahmen wird das Spiel von Esther und Ahasveros - dessen Handlung ohnehin nicht ,geistlich' ist - freudig gestimmt haben. Drei weitere Meldungen über fastnächtliche Estherspiele stammen, wie die ersten Spieltexte, aus nachreformatorischer Zeit. Nach einem Chronikbericht des Reimar Kock, Hauptprediger der Petrikirche, führten „einige Lübecker" (ethlicke tho Lübeck) im fastelavende 1537 die historie von Amnion und Mardocheus auf (SIMON 300). Sie spielten laut Kock auf einer borch - einem als ,Schauburg' zugerüsteten Wagen den sie vermutlich auf dem Markt aufstellten. Seit 1430 hatten die Zirkelgesellschaft und die Kaufleutekompanie ihre häufig ernst und moralisch gestalteten Fastnachtspiele auf Wagenbühnen gespielt. 34 Mit dem Estherspiel von 1537, das den Prediger Kock mehr „betrübte als erfreute" (SIMON 300), führten die Kompanien vermutlich ihr letztes Fastnachtspiel auf. Die Hofintrige, in der Haman die klassische Schurkenrolle spielt, erzielte ihre größten Bühnenerfolge - wie RUDOLF SCHWARTZ zeigt - im deutschen und neulateinischen Drama der frühen Neuzeit. 35 1557 führte das niederhessische Städtchen Volkmarsen ein gotlich Spiell, als nämlich usz der Bibell Hester genant zu Fastnacht auf. In der Fastnachtswoche 1561 präsentierte man die Comoedia von König Aliasvero und der Esther in der fränkischen Reichsstadt Windsheim. Wie 1474 in Deventer, fand die Aufführung im Rathaus statt. Weil der erbare Rath samt Eheweibern und Kindern die erste Vorstellimg mit sattsamem Contento genoss, erlaubte er den Darstellern, ihre Esther am Samstag vor Invocavit auf dem Tanzhaus vor einer ganzen Gemeinde zu wiederholen. 36 Im selben Jahr (1536) verfassten der Magdeburger Schulmeister Valien Voith und Hans Sachs in Nürnberg die ältesten textlich überlieferten Estherspiele. Voiths Ein seer schön, lieblich, nützlich und tröstlich Spiel, aus der heiligen Schrift und dem buch Esther inn kurtze reim gesetzt [...], das Michael Lotther 1537 in Magdeburg druckte, ist ein umfängliches (1566 Verse), in Akte und Szenen eingeteiltes Schuldrama, das nicht mit der Fastnacht zu verbinden ist. Im Epilog zwingt Voith der Bibelerzählung eine symbolische Deutung auf, wobei er Ahasveros, der den Völkern ein köstliches Mahl zubereitet, mit dem himmlischen Vater vergleicht. 37 Die von Sachs auf den 8. Oktober 1536 da33
SIMON ( A n m . 4 ) , S. 3 2 6 - 3 2 9 .
34 35
Hier S. 225-290, bes. S. 286 f. RUDOLF SCHWARTZ: Esther im deutschen und neulateinischen Drama des Reformationszeitalters. Eine litterarhistorische Untersuchung, Oldenburg, Leipzig 1894, S. 262-265. SCHWARTZ verzeichnet Aufführungen zwischen 1530 und 1672. Hier S. 263; vgl. HEINZ KINDERMANN: Theaterpublikum der Renaissance, Bd. 2, Salzburg 1 9 8 6 , S. 2 8 . Dramen von Ackermann und Voith. Hrsg. von HUGO HOLSTEIN, Tübingen 1884 (Bibliothek des litterarischen Vereins Stuttgart 170), S. 155-205; vgl. SCHWARTZ (Anm. 35), S. 19.
36 37
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tierte Comedia. Die gantze hystori der Hester zu recedirn, hat xiij person wind drey actus übersteigt mit 632 Sprechversen den Normalumfang seiner Fastnachtspiele. 38 Sachs fuhrt jedoch einen allwissenden Narren ein, der die Handlung derb und witzig kommentiert und Kimig Ahaschveros und dem Schurken Haman die bittere Wahrheit verkündet. Die fastnächtliche Narrengestalt kommt in den Sachsschen Spielen selten vor. 39 Wie ein Nürnberger Fastnachtspiel beendet Sachs die Comedia ferner mit einem Tanz: Mach a u f f , spilman, ein züchting reyen, ruft Mardocheus, Auff das wir uns alle erfreven! (S. 131, Z. 25 f.). Nach dem dantzen, so die letzte Regieanweisung, geen sie all in Ordnung ab (S. 131, Z. 27). Auf eine zusätzliche Verbindung zur Fastnacht verweist Sachs, wenn er Mardocheus das Purimfest als Die faßnacht allen Juden gmein (S. 131, Z. 23) bezeichnen lässt. Weil das Buch Esther erklärt, wie das zu dieser Zeit als jüdische Fastnacht bekannte Purimfest entstanden ist, war die Estherhistorie zu fastnächtlicher Aufführung geeignet. Mit Hinweisen auf Luthers Bemerkungen über „Komödienspiele [...] der Knaben in der Schule" und dessen Vorreden zu seinen Übersetzungen der Bücher Judith, Tobias, Esther und Daniel (1534) - die er zur Dramatisierung empfahl - erklärt H U G O HOLSTEIN den Reformator zum ,,geistige[n] Urheber des biblischen Dramas". 4 0 Den seit 1439 belegten fastnächtlichen Spielen über Susanna, David und Esther zufolge, begann das biblische Drama - als geistliches Fastnachtspiel - geraume Zeit vor der Reformation.
Drei fastnächtliche Heiligenspiele Das Spiel vom Priester Theophilus, der Rache suchend mit dem Teufel paktiert, ist nur im Hinblick auf die Jungfrau Maria - die dem Teufel den Pakt entreißt - als Heiligenspiel zu bezeichnen. Die Forschimg klassifiziert es zusammen mit Dietrich Schernbergs Spiel von Frau Jutten (Mühlhausen um 1485) als Teufelsbündlerspiel. Am Fastnachtsdienstag 1436 führten gesellen der Stadt Deventer das Teofilus spull auf (NEUMANN 1191). In Bocholt präsentierten „Spielleute" (spelhide[n]) eyn spil van Theophilo 1459 auf dem Marktplatz (vp den marckte, NEUMANNN 69). Der in der Stadtrechung verzeichnete Termin, die Paulini, der 31. August, ist problematisch, weil Städte vor der Reformation keine Spiele in der zweiten Jahreshälfte produzierten. Vermutlich meinte der Schreiber, wie NEUMANN plausibel macht, 4 1 Conversio Pauli. Mit dem 25. Januar begann in vielen Städten die Fastnacht. Zufallsgunst hat uns 3H In: Hans Sachs. Hrsg. von ADELBERT VON KELLER, Bd. 1, Tübingen 1870, ND 1964 (Bibliothek des litterarischen Vereins Stuttgart 102), S. 111-133. 39 SCHWARTZ (Anm. 35), S. 6 f. 40 HUGO HOLSTEIN: Die Reformation im Spiegelbilde der dramatischen Litteratur des sechszehnten Jahrhunderts, Halle 1886, ND 1967 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 14, 15), S. 18-25, hier S. 21. 41 NEUMANN (Anm. 19), S. 188, Anm. 188.
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aus dem Zeit- und Sprachraum dieser Aufführungszeugnisse ein niederdeutsches Theophilusspiel in drei Fassungen erhalten. Nach dem Aufbewahrungsort der Handschriften bezeichnet die Forschimg sie als Helmstedt-Wolfenbütteler (H), Stockholmer (S) und Trierer (T) Theophilus. Die drei als kleines (H), mittleres (S) und großes (T) Theophilusspiel zu betrachtenden Fassungen weisen einen Gemeinbestand von 265 bis 300 Versen auf. 42 Η steht als aus einer Spielvorlage hergestellter Lesetext von 745 Versen, eine Minibesetzung erfordernd (fünf Sprechrollen plus Lucifer als Statist), in einer zwischen 1400 und 1450 in Ostfalen kompilierten Sammelhandschrift. Im selben Zeitraum trugen zwei nach einer mittelfränkischen Vorlage arbeitende ostelbische Schreiber die ebenfalls als Lesetext verschriftlichte Fassung S - 999 Verse, 21 Sprechrollen - in eine niederdeutsche Sammelhandschrift ein. 43 Der ursprünglich etwa 1800 Verse umfassende Trierer Theophilus aus der Schlossbibliothek Blankenheim, zählt zu den großen Bühnendramen des Mittelalters. Von der Auffuhrungshandschrift, einem Spielbuch in Schmalquarto, ist weniger als die Hälfte (842 Verse) erhalten. Allein das Fragment erforderte mehr als dreißig redende (und zweistimmig singende: Precursor-Boten, Silete-Engel) Darsteller und mehrere Statisten 4 4 Inszenierbar war ein Spiel dieses Umfangs, wie es Bocholt für 1459 bezeugt, nur auf dem Marktplatz. Das Spielbuch wurde nach K R O B I S C H 1420/30 in dem westfälisch-südniederfränkischen Städtedreieck Solingen, Mühlheim an der Ruhr und Uerdingen geschrieben. 45 Um die dramatischen Reize des als Faust des Mittelalters bekannten Marienmirakelspiels zu veranschaulichen, rekonstruiere ich die den drei Fassungen gemeinsame Handlung, die von der älteren Legendenfassung abweicht. Der Bischof eines norddeutschen Domstifts tritt zurück oder stirbt. Das Kapitel nominiert den Domherren Theophilus zum Nachfolger, der die Bischofswürde jedoch hochmütig ablehnt. Als Theophilus den Anweisungen des an seiner Stelle erwählten Bischofs Gehorsam verweigert, verstößt dieser ihn aus dem Domkapitel. Um sich zu rächen, begibt sich Theophilus auf die Suche nach irdischen Gütern und weltlicher Macht, die ihn von einem Schwarzkünstler und den Juden (T) zum Teufel führt. Der misstrauische Lucifer besteht auf einem schriftlichen Pakt, worin Theophilus seinem Priesteramt abzuschwören und Gott und Maria zu verleugnen hat. Von Satan/Lucifer mit weltlichen Reichtümern ausgestattet, zieht Theophilus auf die Burg Övelgünne (T), wo er - was die verlorene zweite Hälfte der Trierer Fassung ausführlicher darstellte - Frauen liebt und einen Krieg gegen den neuen Bi-
42
KONRAD KUNZE/HANSJÜRGEN LINKE:
Sp. 43
. T h e o p h i l u s ' . In: V L , B d . 9,
2
1995, Sp. 775-782,
hier
778.
LOEK GEERAEDTS: Die Stockholmer Handschrift Cod. Holm. Vu 73 [...] Edition und Untersuchung einer mittelniederdeutschen Sammelhandschrift, Köln und Wien 1984 (Niederdeutsche Studien 32), S. 102.
44
K U N Z E / L I N K E ( A n m . 4 2 ) , S p . 7 7 9 f.
45
VOLKER KROBISCH: Das Trierer Theophilusspiel. In: Franco-Saxonica. Münstersche Studien zur niederländischen und niederdeutschen Philologie. Jan Goossens zum 60. Geburtstag. Hrsg. von ROBERT DAMME u.a., Neumünster 1990, S. 309-318, hier S. 312, 316, 318.
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schof vorbereitet. Da öffnet ihm eine Bußpredigt die Augen. Er fleht Maria um Gnade an, die als Vermittlerin seine Bitte an ihren Sohn richtet. Christus vergibt Theophilus erst, nachdem es Maria gelingt, Lucifer den Paktbrief zu entreißen (S). Theophilus stirbt als reumütiger Christ.
Die Verfasser des Theophilusspiels, vor allem derjenige der Trierer Fassimg, legen die korrupte Sozialstruktur und den verweltlichten Zustand eines norddeutschen Domkapitels bloß. 46 Der Domherr Theophilus schwankt zwischen Frömmigkeit und Stolz, hochmütiger Wut und Verzweiflung. Der Stiftsprobst bringt das Bischofsamt durch geschickte Manipulation an sich. Die Eigeninteressen frönenden Stiftsherren stecken die Köpfe zur Neuwahl zusammen. Kaum inthronisiert, produziert der neue Bischof sich als herrschsüchtiger Potentat. 47 Den Verfassern waren die verweltlichten Zustände eines norddeutschen Domstifts gut bekannt. In dieser Hinsicht ähneln die Theophilusspiele Nürnberger Fastnachtspielen, in welchen Hans Rosenplüt korrupte Kleriker entlarvt. Zwischen Lichtmeß (2. Februar) imd Aschermittwoch (1. März) 1457 führten gesellen in Essen sancte Allexius spell - ein Spiel über das Leben des heiligen Alexius - auf (NEUMANN 1488). 1489 inszenierten vastaenentz konvnge genannte Darsteller ein in den Stadtrechnungen thematisch unbezeichnetes Spiel auf dem Essener Marktplatz. 48 Wenn der Essener Alexius von 1457 so umfangreich war, wie aus dem erhaltenen Spielfragment zu erschließen ist, werden die Essener Gesellen das fastnächtliche Heiligenspiel gleichfalls auf dem Markt produziert haben. Der verbreiteten Legende nach war Alexius ein vornehmer christlicher Jüngling in Rom, der seine Braut nach der Hochzeit verlässt. Er führt ein entbehrungsreiches Leben in der Fremde, kehrt als Bettler ins Elternhaus zurück, wo er unerkannt imter der Treppe stirbt. 49 Kurz nach 1460 trug ein Schreiber namens Helfrich den Anfang eines Alexiusspiels, ein Fragment von 268 Versen, in eine Schmalfoliohandschrift ein, in welcher er zuvor ein rheinhessisches, vielleicht in Mainz aufgeführtes Osterspiel aufgezeichnet hatte. 50 Nach dem rollenreichen Vorspiel zu urteilen, muss das Mainzer Alexiusspiel - das einzige erhaltene - ein Heiligenspiel von breitestem Handlungsduktus gewesen sein. Der ersten Regieanweisung zufolge (Stacione facta incipit MODEKACK) gruppierten sich die Spieler auf Bühnenstände, die offenbar - wie beim Dortmunder Antichrist - auf einem Marktplatz zu errichten waren. Nach H A N S RUEFF, der das Fragment maßgeblich
46 47
KUNZE/LINKE ( A n m . 4 2 ) , Sp. 7 8 1 . ELKE UKENA: D i e d e u t s c h e n M i r a k e l s p i e l e d e s Spätniittelalters. S t u d i e n u n d Texte. 2 B d e . , B e r n 1975 ( A r b e i t e n z u r M i t t l e r e n D e u t s c h e n L i t e r a t u r u n d S p r a c h e 1), B d . 1, S. 174-176.
48
NEUMANN ( A n m . 19), S. 174, A n m . 131.
49
HANS-FRIEDRICH ROSENFELD: . A l e x i u s s p i e l ' . In: V L , B d . 1, 2 1 9 7 8 , Sp. 2 3 2 - 2 3 5 .
SO
HANSJÜRGEN LINKE: . B e r l i n e r ( r h e i n i s c h e s ) O s t e r s p i e l ' . In: V L , B d . 1, 2 1 9 7 8 , Sp. 7 2 8 - 7 3 1 , h i e r Sp. 7 2 8 .
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edierte, stammt der Verfasser aus Nordthüringen. 51 Zu verbinden ist das Spiel wohl mit der in rheinischen Städten aktiven Kongregation der Alexianer, denen Papst Pius II. 1459 die Erlaubnis erteilte, feierliche Gelübde abzulegen. Die Bruderschaft pflegte Geisteskranke und Pestopfer. Neben dem alten Alexiuskloster in Paderborn war ein Mainzer Kapellenspital das einzige Alexius geweihte Heiligtum in Deutschland. 52 Ein in Mainz aufgeführtes Alexiusspiel wird den Schreiber Helfrich zur Niederschrift veranlasst haben. Wie beim Osterspiel schickt Helfrich dem Alexiustext zwei lateinische Rollenverzeichnisse voraus. Er ordnet die Spieler nach Gruppen und bestimmt, in welcher Reihenfolge sie zum Marktplatz zu prozessieren haben. Dann verzeichnet er die zahlreichen persone, „die man zum Spiel braucht", in der Reihenfolge, in welcher sie auftreten. 53 Aus diesen Verzeichnissen lässt sich die Handlung umrisshaft rekonstruieren. In dem von Helfrich verschriftlichten Vorspiel deutet nur der Königsname Eufemian - so heißt der Vater des Heiligen - an, dass es ein Alexiusspiel einführt. Im ersten Auftritt zieht der Teufel Modekack mit Sündensäcken auf den Markt, um Seelen zu fangen. Der thüringische Verfasser schaltet ausgiebige Teufelszenen ein. In der Eingangsprozession ziehen die Teufel, insgesamt zwölf, als Spitzengruppe zum Spielplatz (primo demones procedant). Nach ROSENFELD hatten sie neben den Sünden der Welt vielleicht auch die von Alexius zu bestehenden Versuchungen zu personifizieren. 54 In einer Bußpredigt verweist der Prophet Jesaja auf den von Gott eingesetzten Papst, welcher seinerseits eine feierliche Versammlung ermahnt, am rechten Glauben festzuhalten. Mit der Ermahnung zur rechten Ee schickt der Papst Kardinal de Columpnia (Colonna) zum Kaiser und König von Spanien, Kardinal Ursinus (Orsini) zu König Eufemian und zum König von Falfondie - der Name stammt aus Wolframs Willehalm der hier als Vater der Prinzessin auftritt, die Alexius heiratet. Er ist als christlicher König im Heidenland figuriert. Mit Rex Falfimdie dicit bricht Helfrich seine Abschrift ab. Seiner Darstellerliste zufolge treiben zunächst die Teufel ihr Unwesen, deren Namen meistenteils mit den Teufeln in Schernbergs Spiel von Frau Jutten identisch sind und die hier in der gleichen Reihenfolge auftreten. Alexius heiratet die Prinzessin von Falfondie, verlässt die Ärmste und zieht Askese übend nach Spanien. Aus den Namen Pauper und Servus coquine ist zu erschließen, dass das Küchengesinde den als Bettler heimgekehrten Alexius misshandelt. Der von den Erzengeln Michael und Gabriel begleitete Christus 51 Das Rheinische Osterspiel der Berliner Handschrift Ms. germ. fol. 1219. Mit Untersuchungen zur Textgeschichte des deutschen Osterspiels. Hrsg. von HANS RUEFF, Berlin 1925 (Abhandlungen der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-historische Klasse, Neue Folge Bd. 18, 1), S. 62-71, 207-216, hier S. 62. 52 Hier S. 69. 53 Hier S. 208. 54
ROSENFELD ( A n m . 4 9 ) , Sp. 2 3 3 .
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(Dominica persona) verkündet dem sterbenden Alexius den ewigen Lohn. Wie im Juttenspiel schickt Christus die allegorische Figur Mors, um dessen Tod zu vollziehen. Der an der Bahre des Alexius sehend werdende Cecus repräsentiert die eintretenden Heilungswunder. Ein Rector ludi spricht den Epilog. Der Prozessionsordnung zufolge hatten Musikanten (fistulatores) die Vorstellung mit musikalischen Einlagen zu bereichern. Der Rector ludi inszenierte das Heiligenspiel offenbar als städtisches Festspiel. Als kommunale Fastnachtschau dieser Art werden Essener Gesellen 1457 ihr Alexiusspiel aufgeführt haben. Im Gegensatz zu dem seltener verehrten Alexius bildete der Ritter Georg, der eine heidnische Prinzessin vom Drachen rettet und ihr Volk bekehrt, eine Zentralfigur des mittelalterlichen Heiligenkults. Obwohl sein Festtag auf den 23. April fällt, sind in vorreformatorischer Zeit drei zu Fastnacht aufgeführte Georgsspiele nachzuweisen. Fastnacht 1403 inszenierten Armbrustschützen der nördlich von Deventer gelegenen Stadt Zwolle die Georgslegende. 55 Zu Fastnacht 1443 zog eine Laientruppe des Elsassstädtchens Ruffach mit irem schimpffe sant Jergen spile nach Kolmar, um das „lustige Spiel" dort aufzuführen. Weil der Schatzmeister die von der Stadt bestrittenen Logis- und Verpflegungskosten am Fastnachtssonntag (3. März) verrechnet, haben die Ruffacher vermutlich an diesem Sonntag auf dem Kolmarer Marktplatz gespielt (NEUMANN 1137). 56 Sechzehn Jahre vor ihrem Antichristspiel, im Vastavent 1497, produzierten „treffliche Bürger" von Dortmund - wie der Chronist Dietrich Westhoff berichtet - sanct Jürgens spil (NEUMANN 1216). 57 Weil Westhoff die Aufführung als seer herlich bezeichnet, werden die Dortmunder den Drachentöter Georg, wie 1513 ihren Antichrist, auf dem Markt und vermutlich am Fastnachtssonntag (3. Februar) präsentiert haben. In Dortmund alternierten geistliche mit weltlichen Fastnachtsvorstellungen. 1502 inszenierten die Dortmunder, laut Westhoff, ein moralisches Exemplum über gerettete Unschuld: wie der gute Knecht gerettet und der böse im Kalkofen verbrannt wurde (SIMON 9 0 ) . 5 8
Kurz nach 1486 trug ein offenbar Augsburger Schreiber Ain liiipsch spil von sant Jörigen vnd des küngs von Libia tochter vnd wie sy erlöst ward in eine wohl zur Lektüre bestimmte Spielsammlung ein. Der Augsburger Kaufmann und Märendichter Klaus Spaun band die Faszikel in ein zwischen 1500 und 1520 kompiliertes Hausbuch, wobei er das ostschwäbische St. Georgspiel (1508 Verse) mit einem Schlussreimpaar versah: Hie hat sant Jorgen Spil ain 55
MARJOKE DE ROOS: Battles and Bottles: Shrovetide Performances in the Low Countries (c. 1350-c. 1550). In: Festive Drama. Papers from the Sixth Triennial Colloquium of the International Society for the Study of Medieval Theatre, Lancaster 1989. Hrsg. von MEG TWYCROSS, Cambridge 1996, S. 167-179, hier S. 173.
56
V g l . SIMON ( A n m . 4 ) , S. 1 0 6 , 1 2 0 .
57
Chronik des Dietrich Westhoff von 750-1550 (Anm. 1), S. 364.
58
V g l . SIMON ( A n m . 4 ) , S. 9 1 f.
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endt / Daß vnß gott allen kumer wendt.59 Die Mundart des vom Schreiber kopierten Spielskripts war nach UKENA gleichfalls ostschwäbisch. 60 Der Verfasser war offenbar ein Augsburger. Er stellt sich das nordafrikanische Heidenkönigtum Libia - wo der Drache haust - als eine mit Toren und Mauern beringte Stadt vor. Zur Auffuhrung benötigte man ein Ensemble von 32 Spielern sowie die Statistengruppe „Volk" und einen Drachen. Bei Ritter Georgs Drachenstich im Bozener Fronleichnamsspiel trugen drei Gesellen den wurm, der aus einer bemalten, über ein Holzgerüst gespannten Leinwand bestand (NEUMANN 643). Aus den Regieanweisungen ist auf eine vermutlich auf dem Markt zu errichtende Simultanbühne mit neun Spielgerüsten zu schließen. 61 Ein Stand simulierte Tor und Mauer der Stadt, von wo aus zwei Wäpner, des Königs Ratgeber, verschiedene Bürger und die entsetzte Königin das Werk des Drachen beobachten. Ritter Georg reitet zum Drachenkampfplatz und kämpft reitend. Ich skizziere kurz die Handlung: Um einen die heidnische Königsstadt Libia bedrohenden, menschenfressenden Drachen zu befrieden, liefern ihm die Bürger- und Rittersfamilien ihre Kinder aus, bis das Los an den König kommt, der seine schöne Tochter Elya dem Drachen opfern soll. Als man Elya auff ainen stain stellt, wo sie des trocken warten soll (Sp.a. nach V 707), greift der Himmel ein. Ein Engel beauftragt den christlichen Ritter Jörg im Lande Capadocia nach Libia zu reiten, den Drachen zu töten, die Jimckfrawen zu retten und die Heiden durch dieses Wunder zu bekehren. Am stain angekommen, disputiert Sant Jörg mit Elya - die er mit minnecliches pild begrüßt - so lange über ihre Götter, bis die Königstochter zu konvertieren verspricht, wenn der Ritter den wurm erschlage. Jörg sticht auf den Drachen ein, den er gezähmt zu Elya bringt, damit sie ihn wie ain schauff an irem giirttelein (V 1396) führen kann. Sant Jörg spricht den Heiden das Symbolum vor, erklärt die Sakramente der Beichte und Taufe, tauft sie und hält eine Predigt.
Der Verfasser ist einerseits, worauf B L E R M A N N verweist, 62 dem geistlichen Schauspiel verpflichtet. Den compassio-Appell der Mütter entlehnte er beispielsweise den Marienklagen. Andererseits prägen gewisse Züge des Fastnachtspiels seine Schreibart. Der Name außrieffer für den Prologisten und Der herolt des spils für den Epilogsprecher, der gleichfalls riefft vnd schrevt, sind nach U K E N A vom Fastnachtspiel übernommen. 63 Anstelle seiner Tochter will der libische König dem Drachen zunächst ein krankes allies kamerweib namens Gera opfern. Die plötzlich gesundete Gera weigert sich jedoch, Des tracken speis zu werden. Da tritt unvermittelt ein Teufel (Ain tieffei) auf, verdammt Gera als alte Zauberin und Kupplerin und schleppt sie in die Hölle. 59
Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 4° Cod. Η 27, fol. 90 r -135 r ; UKENA (Anm. 47), Bd. II, S. 376, Textausgabe S. 385-439; vgl. Abbildung der Schlussseite (fol. 135 r ) bei LINKE (Anm. 24), S. 581.
60
UKENA ( A n m . 4 7 ) , B d . I I , S . 3 8 2 .
61
HEINRICH BIERMANN: , A u g s b u r g e r G e o r g s p i e l ' . I n : V L , B d . 1 , 2 1 9 7 8 , S p . 5 1 9 - 5 2 1 , h i e r S p . 5 2 0 .
62
Hier Sp. 520.
63
UKENA ( A n m . 4 7 ) , B d . II, S. 4 4 4 .
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Diese karnevaleske Einlage (V 420-464) - die der Spiellogik zuwiderläuft (der Drache soll Gera verspeisen) - erinnert an die oben erwähnte „böse Frau" der Tiroler Fastnachtspiele. Der Augsburger Schreiber vermischte in seiner Lesehandschrift offenbar geistliche und weltliche Stücke. Neben dem Georgspiel kopierte er auch Hans Rosenplüts Des Turcken vasnachtspil (K 39). 64
Zusammenfassung und Schlussbetrachtung Das Mittelalter unterschied weniger kategorisch zwischen den heute gegensätzlich verwendeten Begriffen geistlich und weltlich, wie die neuere Forschung zunehmend erkennt. Spielautoren vermischten geistliche und weltliche Stoffe und Schreibarten - was Tiroler Spiele am besten exemplifizieren - und gewannen daraus erwünschte Unterhaltungs- und Lehreffekte. Den in diesem Beitrag untersuchten Aufführungsbelegen zufolge - insgesamt 21 erwiesen sich als einschlägig - präsentierten Städte zur weltlichen Fastnacht geistliche Spiele: neben Antichrist- und Dreikönigspielen drei alttestamentliche Dramen und drei Heiligenspiele. Wie sind die fastnächtlichen Aufführungen religiöser Spiele zu erklären? NEUMANN, der 1975 erstmals auf diese Spielpraxis verwies, erklärte ihre Funktion als die „eines Gegengewichts": Die „dramatische Behandlung von Stoffen ernster und besinnlicher Grundtendenz in einer Zeit weltlicher Freude findet eine entsprechende Parallele in der Paränese der Kanzelredner, die sich in der Fastnachtszeit immer wieder gegen das ausgelassene, unchristliche Treiben der Bevölkerimg wenden." 65 Diese Erklärung setzt das karnevaleske Körperfunktionen zelebrierende Nürnberger Einkehrspiel als Grundmodell des Fastnachtspiels voraus. Das in der Textüberlieferung dominierende Nürnberger Stubenspiel konstituiert jedoch nur eine Variante des weltlichen Spiels. Den Spielzeugnissen zufolge haben die Städte zu Fastnacht auch erbauliche und ernste weltliche Spiele - im Rathaus und auf dem Markt - aufgeführt. Das beste Beispiel bilden die in Lübeck dokumentierten Fastnachtspiele. Die vastelavendes dichter der Lübecker Zirkelgesellschaft haben etwa 80 weltliche Spiele auf ihrer offenbar vor dem Rathaus aufgestellten Wagenbühne produziert. Sie dramatisierten unterhaltende und moralisierende Erzählungen - Treue ist ein Leitthema - aus einer breiten Skala erbaulichen Schrifttums. Ihre weltlichen Moralitäten vermittelten Richtlinien privater und öffentlicher Lebensführung und veranschaulichten Bürgertugenden. 66 Um Handlungsduktus und Schreibart der zu Fastnacht belegten geistlichen Spiele zu ermitteln, habe ich die jeweils ältesten Spieltexte untersucht. Antichristspiele waren zu fastnächtlicher Inszenierung geeignet, weil sie die christliche Welt in ihr Gegenteil verkehren. Wie das fastnächtliche Dreikönigsspiel 64 Hier S. 441. 65
NEUMANN ( A n m . 19), S. 168.
66
SIMON (Anm. 4), S. 225-290.
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sind sie - was Dortmund und Bocholt bezeugen - primär als spektakuläres Marktplatztheater zu verstehen. Nach sechs Aufführungsbelegen zu urteilen, war das Spiel von Daniel und Susanna das beliebteste Fastnachtspiel geistlicher Thematik. Die biblische Detektivgeschichte - mehr weltlich als geistlich ist eine dramatische Meisternovelle. Ebenso theatralisch ist der Zweikampf zwischen dem Hirtenjungen David und dem gepanzerten Philisterriesen Goliath. Die Handlung ließ sich - wie Rabers Bozener Spiel von Von Kinig david und goliam zeigt - den Aufführungsbedingungen eines fastnächtlichen Einkehrspiels anpassen. Die höfische Intrige um Ahasverus, Esther, Mardochai und Haman, in die Jehova nicht eingreift, erklärt, wie das als jüdische Fastnacht bekannte Purimfest entstand. Deshalb war die dramatische Geschichte zu fastnächtlicher Inszenierung besonders geeignet. Das in drei Fassungen überlieferte niederdeutsche Spiel vom Domherrn Theophilus, der mit dem Teufel paktiert, um sich an seinem Vorgesetzten zu rächen, ist mittelalterliches Fausttheater mit kirchenkritischer Tendenz. Das Spiel vom heiligen Alexius, der seine Braut nach der Hochzeit verlässt und als Bettler unerkannt ins Elternhaus zurückkehrt, war - nach dem Textfragment zu urteilen - als städtisches Festspiel mit welthistorischem Rahmen und Teufelseinlagen aufzuführen. Die fastnächtlichen Züge des in einer Augsburger Fastnachtspielhandschrift überlieferten Spiels von Ritter Georg, dem Drachentöter, exemplifizieren, warum der Kolmarer Kaufhausschreiber das 1443 von Ruffaehern präsentierte Georgspiel als schimpff („Lustspiel") bezeichnet. In Deventer unterstrichen mit geistlichen Spielen kombinierte Tänze (Moriskentanz 1474; Schwertttanz 1517) den Festspielcharakter der fastnächtlichen Vorstellimg. Die zu Fastnacht aufgeführten Spiele geistlicher Thematik waren nicht notwendigerweise „ernst und besinnlich", sie fungierten nicht als „Gegengewicht", wie NEUMANN meint, zu karnevalesker Ausgelassenheit. Nach ihrem geringen Umfang und fastnachtspielartigen Einlagen zu urteilen, waren Rabers Goliathspiel, Hausers Susanna und vielleicht auch das Estherspiel des Hans Sachs als fastnächtliche Stuben- oder Rathausspiele konzipiert. Die Mehrheit der geistlichen Fastnachtspiele präsentierten die Städte jedoch am marktfreien Fastnachtssonntag als Freilichtaufführungen auf dem Marktplatz. Fastnacht war die große kommunale Festzeit der Jahres, die Spieler und Zuschauer verschiedener Schichten vereinigte. Zu dieser Festzeit vermochte das geistliche Theater als festliches Medium einen Beitrag zu leisten. Das gilt auch für das lateinische Humanisten- und Schuldrama. Zu Fastnacht 1501 führt Konrad Celtis in Linz vor Kaiser Maximilian I. sein Huldigungsspiel Ludiis Dianae auf. 67 Am Fastnachtssonntag 1518 präsentier-
67
C O R A D I E T L : Repräsentation Gottes - Repräsentation des Kaisers. Die Huldigungsspiele des Konrad Celtis vor dem Hintergrund der geistlichen Spieltradition. In: Das Theater des Mittelalters und der frühen Neuzeit als Ort und Medium sozialer und symbolischer Kommunikation. Hrsg. von C H R I S T E L M E I E R / H E I N Z M E Y E R / C L A U D I A S P A N I L Y , Münster 2004 (Symbolische
38
Eckehard Simon
ten Zwickauer Schüler in Gegenwart Herzog Johanns von Sachsen die Comedv Eunuchi aus dem Therencio (SIMON 520). Die seit etwa 1400 (Georgspiel in Zwolle) attestierte Praxis, Spiele geistlicher Thematik zu Fastnacht aufzufuhren, erklärt, warum die Reformation das religiöse Fastnachtspiel gezielt als publizistisches Medium einzusetzen vermochte. Ich verweise abschließend kurz auf das bedeutendste politische Theaterereignis der Reformationszeit. In dem zu diesem Zeitpunkt noch katholischen Bern inszeniert der Maler und Ratsherr Nikiaus Manuel zur Herrenfastnacht 1523 - am Sonntag, den 15. Februar - sein faßnacht spy! Vom Papst und seiner Priesterschaft. Vermutlich unter Manuels Regie präsentieren burgerßsöne - die Söhne rats- und regimentsfähiger Bemer Familien - in schimpffs wyß [...] die warheit [...] vom papst vnd siner priesterschaffi öffentlich auf der Kreuzgasse, Berns juristischem Zentrum, wo der Richterstuhl stand. Eine Woche später, am Sonntag Invocavit 1523 (22. Februar) inszeniert Manuel auf der Kreuzgasse als fasti acht schimpff ein Umgangsspiel anzeigend [den] grossen vnderscheid zwischen dem Papst vnd Christum Jesum.6S Von 1524 bis iun 1540 vermarkten der Zürcher Verleger Froschauer, Apiarius in Bern und andere Drucker insgesamt vierzehn Ausgaben der beiden Manuelschen, als geistliche Fastnachtspiele produzierten Agitationsdramen. 69 Durch dis wunderliche und vor nie [...] gedachte anschowungen, schreibt der Berner Chronist Valerius Anshelm, ward ein gross volk bewegt, histliche friheit und bäbstliche knechtschafl zuo bedenken und ze underseheiden (SIMON 46). Ziun einen machte Manuel von dem Aktualitätsprinzip der Fastnachtspiele Gebrauch: Sie spielen in der Gegenwart, in der Welt, in der die Truppe sie aufführt. Zum anderen mobilisierte er, wie bei Antichristspielen, die fastnächtliche Mentalität der verkehrten Welt.70 Der Papst und seine Priester erweisen sich als unwissende und unchristliche Narren, Bauern wie Rüde Fogelnest und Clevwe Pfluog - obzwar grob - sind belesen und bibelfest. Mit Manuels in einer spannungsgeladenen Umbruchszeit verfassten Agitationsdramen tritt das geistliche Fastnachtspiel in den Dienst der Reformation. Von der in Riga zu Fastnacht 1527 aufgeführten parabell vamm verloren szone des konvertierten Franziskaners Burkard
Kommunikation und gesellschaftliche Wertungssysteme, Schriften des Sonderforschungsbereichs 496 4), S. 237-248, hier S. 240. 68
Texte in: Nikiaus Manuel: Werke und Briefe. Vollständige Neuedition. Hrsg. von PAUL ZINSLI/ THOMAS HENGARTNER, B e r n 1 9 9 9 , S . 1 0 1 - 2 5 3 . D i e r e f o r m a t o r i s c h e T h e a t e r k u l t u r B e r n s u n -
tersucht GLENN EHRSTINE: Theater, Culture, and Community in Reformation Bern, 15231555. Leiden, Boston, Köln 2002 (Studies in Medieval and Reformation Thought 85). 69
Z I N S L I / H E N G A R T N E R ( A n m . 5 8 ) , S. 1 1 6 - 1 2 4 .
70
Dazu PETER PFRUNDER: Pfaffen, Ketzer, Totenfresser. Fastnachtskultur der Reformationszeit Die Berner Spiele von Nikiaus Manuel. Zürich 1989.
Geistliche Fastnachtspiele
39
Waldis 71 bis zum Tiroler Zweiständespiel, das Vigil Raber am Fastnachtsdienstag 1535 im Sterzinger Rathaus inszeniert, 72 verwandelt die Reformation das geistliche Fastnachtspiel in ein publizistisches Medium von historischer Bedeutimg.
71
72
In: Die Schaubühne im Dienste der Reformation. Hrsg. von ARNOLD E. BERGER. Leipzig 1935, ND 1967 (Deutsche Literatur [...] in Entwicklungsreihen, Reihe Reformation Bd. 5), S. 114-220. HANSJÜRGEN LINKE: Die beiden Fassungen des Tiroler Fastnachtspiels Die zwen Stenndt. In: Daphnis 14 (1985), S. 179-218.
40
Eckehard Simon
41
Geistliche Fastnachtspiele
η,"« ™ ö .2 ο
i 2 ·£
• 3 «
> ^ 2 1) ' Pi ] DE COUSSEMAKER: Drames liturgiques du moyen age (texte et musique), Paris 1861, p. 1-10; CHAMBERS (note 9), p. 166; YOUNG (note 14), vol. II, p. 361-9.
45 46
Text and Performance
111
lier. The Limoges merchants, and the brief vernacular speech in which they unsuccessfully try to sell their oils to the foolish virgins, are without biblical precedent, and this dramatization of the parable of the ten virgins is unique in featuring oil-sellers.47 The Vich and Limoges merchants are given the earliest of all known quack-related speeches, religious or secular. YOUNG notes the parallels between the Limoges oil-sellers and Easter merchant scene, but dismisses the possibility of the latter's influence for chronological reasons, and concludes that the oil-sellers are an independent creation, inspired directly and solely by the biblical source. Neither does YOUNG raise the possibility of influence in the opposite direction. Instead, he summarizes and broadly supports M E Y E R ' S convoluted hypothesis for supposing that the merchant scene was independently created by a French cleric specifically for the Easter performance.48 M E Y E R ' S argument is demolished, but his conclusion accepted, by DE BOOR, whose informed analysis of merchant scenes however makes little or no reference to quack episodes outside the Visitatio sepulchri. This too, represents a significant weak point in W A R N I N G ' S case for refocusing the search for the religious as opposed to dramatic motivation of the merchant scene from the liturgically-based Visitatio sepulchri, in order to consider its quacks in the light of the 'mythical-archetypal' Harrowing of Hell, and its comic religious stage devils.49 N l C O L L , unusual in considering pan-European religious quacks in general, rather than primarily those in the German Visitatio sepulchri, gives no reason for assuming the precedence of the merchant scene, or for suggesting that it developed not gradually, but as one unique piece of creative writing, by an unidentified twelfth-century poet. 50
The dramatic function of religious stage quacks Specialists, who have mainly concentrated on the merchant scene in this as in other aspects of the study of religious stage quacks, long widely favoured the view that their foremost dramatic function was as a vehicle either for realism of a veiy literal, naive type, 51 or for bawdy comedy. Earlier generations of historians, shocked that merchant scenes could be so heavily larded with a broad humour based squarely on profanities, scatology and sexual misconduct. 47 48
Matthew 25, v. 1-13. YOUNG (note 14), vol. I, p. 677-82; vol. II, p. 366; Fragmenta Burana. Festschrift zur Feier des Hundertfünfzigjährigen Bestehens der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Abhandlungen der philologisch-historischen Klasse. Ed. by WILHELM MEYER, Ber-
49
D E B O O R ( n o t e 7 ) , p . 3 4 6 ; WARNING ( n o t e 3 ), p . 8 0 - 8 4 .
lin 1901, p.
106-15.
50
NICOLL ( n o t e 3 9 ) , p . 1 8 6 .
51
HARDIN CRAIG: English religious drama of the middle ages, Oxford 1967, p. 34. CRAIG incorrectly suggests that the role of the religious quack became a speaking part only in the fourteenth century.
112
Μ. Α. Katritzky
discounted the possibility that they could be a coherent part of any sophisticated dramatic or didactic strategy. Typically, they denounced them as indecent, "loathsome smut", whose "vile filth" was of possible appeal only to the lowest social strata. 52 Similar views were far from unknown at the time of the performances themselves. In her twelfth centuiy tract, Hortus Deliciarum, the Abbess of Hohenburg, Herrad of Landsberg, concludes that, despite their didactic value, the disorder and fooling around they precipitated justified the prohibition of religious plays. 53 In his Tractatus de precatione Dei, John Hus bitterly regrets his youthful involvement in the "outrage and infamy" of the late fourteenth century religious plays staged inside Prague cathedral. 54 The belligerent peasant actors of Eulenspiegel's thirteenth tale, and the subversive, unruly devils of Francois Rabelais' fictionalized account of Francois Villon's passion play rehearsal, offer extreme literary examples of the religious stage's potential for ungodly folly. 55 Comparable folly was denounced in Martin Luther's detailed critique of the comic elements of Passion and Easter plays: Und sonderlich ist das unchristlich, wo man solche narrenteyding treybt ynn der gemeyne, da man zu samen kompt Gotts wort zu hören und die schrifft zu lernen, wie sichs denn alle zeyt begibt, wo viel zu samen komen, ob sie gleich zu erst anfahen von ernsten sachen, doch bald fallen auff leichtfertige, lose, lecherliche teydinge, damit man die zeyt verleuret und bessers verseumet. Wie denn bisher geschehen ist, das man auffs Osterfest eyn nerrisch lecherlich geschwetz unter die predigt gemengt hat, die schlefferigen damit wacker zu machen [...] und mit reymen affenspiel getrieben hat, gleich wie auch mit [...] der passio Christi [.. ,]. 56
Medieval precedents notwithstanding, the disgusted reaction of modern scholars to the obscenity of religious stage quacks is now viewed as imhistorical, and they have long since achieved recognition as one of the more complex products of medieval performance culture. 57 The merchant scene has been rehabilitated within a flourishing literary tradition, and increasingly, non-textual approaches are providing further perspectives, by reclaiming the visual record,
52
CREIZENACH ( n o t e 1 3 ) , p . 2 4 4 , 3 5 7 .
53
YOUNG (note 14), vol. II, p. 412-14.
54
ROMAN JAKOBSON: Medieval m o c k mystery (the old Czech Unguentarius). In: Selected writings, VI.2, Berlin 1985, p. 666-90, here p. 667.
55
Ein kurtzweilig
Lesen von Dil Ulenspiegel.
Nach dem Druck von 1515 mit 87 Holzschnitten.
Ed. by WOLFGANG LINDOW, Stuttgart 1966, p. 39-41; Franpois Rabelais: Gargantua tagrueh
and
Pan-
E d . b y TERENCE CAVE, t r a n s l a t e d b y SIR THOMAS U R Q U H A R T / P I E R R E L E M O T T E U X ,
London 1994, p. 557-9 (Book 4, chapter 13); BAKHTIN (note 10), p. 263-9, 445. 56
Luther (Fastenpostille,
1525), quoted by ELLEN HASTABA: Das Passionsspiel zur Zeit der Ge-
genreformation. Das Passionsspiel als gegenreformatorisches Spiel? - Spiele der Gegenreformation. In: Hört, sehet, weint und liebt. Passionsspiele im alpenländischen Raum. Ed. by M I C H A E L H E N K E R / E B E R H A R D DÜNNINGER/EVAMARIA BROCKHOFF, M ü n c h e n
here p. 69. 57
JAKOBSON ( n o t e 5 4 ) , p . 6 8 1 .
1990, p. 67-74,
Text and Performance
113
and performative aspects of religious plays such as dance, acrobatics and above all music. While there is no consensus concerning the dramatic function of religious stage quacks, and those outside the Easter context continue to attract little critical attention, a dazzling spectrum of theories attempts to account for the merchant scene's inclusion in mystery plays. The former frontrunner, that it reflects elements of pre-Christian Germanic pagan folk ritual, although heavily tainted by ideological concerns, still informs suggestions that the merchant scene integrates pagan and Christian aspects of the Easter resurrection festival. In an article first published in 1974, JAKOBSON identifies one episode, of one merchant scene, as the key to their interpretation as burlesque analogues of Christ's resurrection, namely the mastickcir's restoration to life of the boy Isaac, in the fourteenth century Bohemian 'Museum fragment'. 5 8 For him, the quack is the quasi-shaman star of a scene, combining liturgical and folklore elements grounded in the common substratum of 'pre-Christian rites'. He suggests that they are intended to burlesque and ridicule the liturgy, to promote in spectators the death-defying risus paschcdis or ritual laughter traditionally associated with religious celebrations of the triumph of life over death. Deftly avoiding the central (and insurmountable) dilemma of having to prove a direct, unbroken performative continuity between shamanistic ritual and religious stage quacks, he interprets the merchant scene as saluting Easter "not as a compromise with paganism, but as a Christian tradition in its own right". 59 This viewpoint has proved extremely influential. 60 Others variously promote the merchant scene as a diverting counterbalance to the religious tension of the plays' biblical content, as social satire, or as a device for drawing spectators into the dramatic action on a personal level. 61 Yet another perspective identifies the religious quack episode as a quasi-autonomous secular farce, with origins inspired by lit era toe or popular drama. Some scholars view it as a stepping stone towards artistic freedom, a 'ready made' play within a play, even as a "comic carcinoma". 62 They suggest that it was written and perhaps performed not by the amateurs responsible for mystery plays as a whole, but by mountebanks drawing on their own professional stage repertoires, or by
58 59 60
Published with an English translation by VELTRUSKY, A sacred farce (note 5), p. 333-57. Here p. 330. JAKOBSON (note 54), p. 685; FRANTISEK SVEJKOVSKY: Vetula-Episode im Melker Salbenkrämerspiel. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 87 (1968), p. 1-16; WARNING (note 3), p. 7880. See also p. 113-119, where he too discusses the merchant scene in relation to the risus paschalis.
61
CRAIG ( n o t e 5 1 ) , p . 3 4 ; H O L L ( n o t e 2 2 ) , p .
62
BACH: Die deutschen Oster- und Passionsspiele des Mittelalters, Köln 1970, p. 34-5. MARTIN W. WALSH: Rubin and Mercator. Grotesque comedy in the German Easter Play. In: Comparative drama 36 (2002), p. 187-202, here p. 197; DE BOOR (note 7), p. 346.
1 0 - 1 5 ; NICOLL ( n o t e 3 9 ) , p .
1 8 0 ; ROLF STEIN-
114
Μ. Α. Katritzky
itinerant theology students (clerici vagantes) ,b3 The Latin content of many merchant scenes weighs against the authorship of professional quacks, if not students. The castlists of the 1514 Bozen Passion confirm that quack roles, no less than any others, could be assigned to respected members of the local church community Although variants of this theory still receive sporadic support from some quarters, it is clear that merchant scenes were not acted by genuine performing quacks. LINKE lucidly explains the theological reasoning behind the comic elements of the Easter quack episode. He plausibly identifies the dramatic function of the merchant scene as the provision of a secular setting, within the biblical story, that serves to heighten the intensity of religious plays' theologically motivated contrast between profane and spiritual concerns, not by glorifying worldly pleasures, but by ridiculing them. 64 Viewed in this perspective, the merchant scene occupies a significant place in the tradition of Narrenliteratur (Folly Literature), in which court or stage fools stand as powerful metaphors for the frailities and temptations of the human condition. Its quacks exemplify human folly by demonstrating concrete examples simultaneously intended as secular entertainment, didactic and religious instruction, and in the medical sense of therapeutic laughter, intended to actively promote healing in its audience. This tradition's multiple intentions are demonstrated with unusual clarity by a medical treatise of 1610, in which the deeply religious South Tyrolean physician Hippolytus Guarinonius frames, within a moralising context, over thirty descriptions of professional stage business performed by marketplace commedia delFarte-performing quacks. 65 Several concern scatological comic stage business, or lazzi, considerably more explicit than anything offered by the Easter play texts, that evoke the sheer exuberant physicality of quack stage business in a way that no play text can. Thus they provide dramatic exempla offering his readers a literal cure for folly, by warning them against the sins and the vices. Despite concerning the textual use of secular dramatic descriptions in a seventeenth century medical treatise, the passage of 1612 in which Guarinonius explicates this intention affords valuable insights into the reasoning behind the use of bawdy quack humour on the late medieval religious stage. In it, Guarinonius robustly admonishes a reader who challenges the comic epi-
63
HEINZ KINDERMANN: Das Theater der Antike und des Mittelalters, Salzburg 1957 (Theatergeschichte Europas I), p. 386; STEINBACH (note 61), p. 29; MATHIEU (note 12), p. 46; MIRIAM HALEVY: The evolution of medieval drama, London 1974, p. 68, 71-4; WALSH (note 62),
64 65
LINKE, Zwischen Jammertal und Schlaraffenland (note 8), p. 352, 361-2, 370. Μ. Α. KATRITZKY: Comic stage routines in Guarinonius' medical treatise of 1610. In: Theatre Research International 25 (2000), p. 217-232; M. A. KATRITZKY: Hippolytus Guarinonius' descriptions of commedia dell'arte lazzi in Padua, 1594-97. In: Quaderni Veneti 30 (1999), p. 61-126.
p.
196-8.
Text and Performance
115
sodes and lazzi of his treatise of 1610.66 Drawing parallels with obscene and scatological behaviour described in didactic passages of the Holy Scriptures, he concludes that every time he, Guarinonius, laughs in his book, any reader misguided enough to criticize this literary strategy should weep at his own folly: Der Doctor schreibt das Buch unser lieben frawen zu / unnd beynebens seyn allerley lächerliche unnd kurtzweilige Bossen / wie auch theils abschewliche Sachen darinn / etc. Anwort. Kaum ist etwas lächerlichers unnd abschewlichers / als dein grosser Unverstandt und Narrheit. Lieber ist nicht Pontius Pilatus ein abschewlicher / falscher Heyd / unnd verdampter Richter gewesen? Was macht er aber inn mitten deß heiligen Christliche[n] Glaubens? Unnd hat die heilige Sara im Alten Testament nit auch den Engel verlacht? Und hat inn der heiligen Bibel / nicht der König Saul / die Hosen abgezogen / und sein Notturfft verricht? Unnd hat Loth nicht seine Töchter: un[d] der Hfeilige] David deß Urice weib beschlaffen? / etc. Unnd mit dem allem / ist es die heilige Schrifft. Du sagst / daselbsten nennt man die Laster / nit daß mans thun/ sonder fliehen soll. Wollan / wo hab ich ein Laster gelobt? Zeig mirs alßdann hast du es gewonnen / wo nicht / so bleibst du die alte Unvernunfft. Hast du noch nit gnug daran / so thu eins / so offt ich inn meinem Buch lache / als offt beweine du dein Narrheit. 6 7
The religiously-motivated didactic agenda of the robustly 'sex 'n shopping' orientated comic routines of the mixed-gender quack troupes of the religious stage was broadly comparable to that of Guarinonius. In effect, these comic stage quacks were deployed to lure mystery play spectators in as quasi-extras with their sales-pitch. Through them, the churchmen who sponsored and supported these plays aimed to inspire their congregations to recognize and laugh at their own human folly, and to reject it in favour of spiritual redemption. But ultimately, religious quack episodes were so successful and persistent because they worked on many levels. They contrasted the oral rhetoric and physicality of street performers with the literary approach of religious drama, and drew on community, congregational and guild loyalties, and camivalesque, folkloric, commercial and medical as well as didactic resonances. As pure entertainment, the episode can be enjoyed as a hugely popular quasi-secular attraction that widens the base of spectators for religious plays. It does this by evoking the atmosphere of the earliest, most longstanding and most successful form of commercial promotion, namely the harangues and theatrical shows offered by marketplace quacks. To a certain extent these are parodied in literary forms such as Rutebeuf s mid thirteenth century quack monologues. But self-parody was in any case a traditional component of all but the least sophisticated quack harangues. 68 Marketplace quacks understood that laughter promotes
Mi Hippolytus Guarinonius: Die Grewel der Verwüstung Menschliehen Geschlechts [...]. Ingolstatt 1610. 67 Hippolytus Guarinonius: Pestilent: Guarclien, Ingolstatt 1612, p. 182-3. (IS
BAKHTIN (note 10), p. 160.
116
Μ. Α. Katritzky
economic success, by engaging audience attention and encouraging relaxed spending, and they pitched their performances accordingly. As parody, religious quacks worked not by inverting genuine quack rhetoric, but by heightening it. Nor did they rely on wholesale borrowings from 'secular' literary quack parodies, transplanted into religious plays with minimal regard for liturgical issues. Genuine medieval quacks created their wide spectrum of performative comic business and monologues within a thriving interdependent literary tradition, that produced texts geared to the didactic and economic agendas of the religious and secular stage, as well as to the robust orality of marketplace rhetoric.
Conclusions The confinement of religious stage quacks to the merchant scene, and the standardization of its familiar cast and comic business within the Visitatio sepidchri, was never complete. Rather than as one unique response to the specific liturgical situation of the three Marys at the tomb of Christ, the religious quack episode has a self-contained, improvisational nature reminiscent of the professional stage. It shares this and other characteristics of the transferable popular secular comic stage business or lazzi that are the stock in trade of the commedia delFarte. However disparate their liturgical contexts, the possibility that the earliest religious quack episodes, and notably those from Vich and Limoges, were independent literary creations, seems remote enough to be completely beyond coincidence. Questions concerning the precise dating or linguistic analysis of the surviving manuscripts are obscured by the fact that many are based, to whatever extent, on significantly earlier texts or performance practice. Although issues of precedence surrounding early stage quacks remain unresolved, it is clear that their development on the medieval religious stage is crucial to an understanding of their impact on literature and drama. Religious stage quacks mark a significant early milestone in the development of the quack harangue and the quack quarrel as literary conventions, and cast long shadows over the figure of the quack in early modern literature. Additionally, they may be viewed as foreshadowing several significant strategies of the professional comic stage. Their three central stock characters, the quack, his wife and their servant, may be compared to the commedia delTarte stage master-servant-inamorata trio. Their popular comic set-pieces share the characteristic potential of lazzi for improvisation, transferal from one play or dramatic situation to another, and extension or curtailment according to the requirements of individual audiences or sponsors. The comic stage business and stock roles of religious quack episodes deserve recognition as a significant potential source for certain of the most characteristic and popular dramatic strategies and roles of the early professional stage.
Text and Performance
117
Appendix: Chronological overview of some medieval religious stage quacks DATE
N A M E / TYPE
DOCUMENT
QUACKS
/LANGUAGE /REFERENCE 1 5 9
11th- 12th c. 1100
Le Sponsus (Mystere des Vierges sages et des Vierges folles) Limoges, Monastery of St Martial
Text (30 of 105 verses) 5x foolish virgins [Latin & Romance: 2 M or couple or more than 2 YOUNG (note 14), II, [Mercatores-merchaans] p. 362-4]
c. 1100
Ludus paschali [Ripoll-] Vieh, nr Barcelona
Text 3x Marys [Latin: L O O (note 14) 1M [mercator iuvenis] no. 823]
c. 1200
Incipit Ordo paschalis Klosterneuburger OS, nr Wien
Text [Latin: L O O 829]
Jx Man's 1M [Specionarius]
c. 1230
Benediktbeurer PS (Carmina Burana) Seckau, nr Knittelfeld, Austria
Text [Latin & German: HARTL, 70 p. 12-23]
M. Magd in house of Simon the Pharisee buys cosmetics / repents / returns to buy unguents Couple [mercator-venditor-chramermercator iuvenis / uxor sua]
c. 1230
['Großes'] Benediktbeurer OS (Carmina Burana) Seckau, nr Knittelfeld
Text [Latin & German: L O O 830]
3x Marys Couple [Apothecarius-mercator iuvenis / Uxor apothecarii]
13 ,h cent
Mid Ludus paschali 13th cent [Tours] N o r m a n d y c. 1250
Kloster Muri OS-Fragmente Swiss (Kanton Aargau or Zurich)
13 th cent Berthold of Regensburg (d.1272)
Text (54 of 315 verses) Jx Man's [Latin: L O O 824] 2 M [mercator-mercator iuvenis / alius mercator-Domine] Text, 8 fragments: Fragments 111 & V [Alemanic: MEIER, 71 p. 128-135, 140-4]
2 quack scenes: 1. Pilatus issues quack licence 1M & clients [Institor-vil lieber paltenere / shonen vrouwen, Johannes Chrumbe, Rülin Stacin] 2. 3x Marys & Antonius I M [lieber paltenere-lnstitutor]
Sermon
Jx Man's identifies servants of merchant scene as devils [Pusterbalk / Lasterbalk]
69
M y thanks to Matthew Peacock for advising on the Latin.
70
EDUARD HARTL: Das Benediktbeurer Passionsspiel, das St. Galler Passionsspiel, nach den
71
RUDOLF MEIER: Das Innsbrucker Osterspiel, Das Osterspiel von Muri, Mittelhochdeutsch und
Handschriften herausgegeben, Halle/Saale 1952. Neuhochdeutsch, Stuttgart 1962.
118
DATE
Μ. Α. Katritzky
NAME / TYPE
DOCUMENT /LANGUAGE /REFERENCE
QUACKS
Text [Latin: LOO 822]
3x Man's 1M [Mercator]
Prague, St George Convent
Text [Latin: LOO 799]
3x Marys rubrics imply singing part
Early Prague, St George 14th cent Convent
Text [Latin: LOO 801] (vlO)
3x Man's 1M [Unguentarius]
Early Prague, St George 14th cent Convent
Text [Latin: LOO 802] (vlO)
3x Man's 1M [Unguentarius]
Early Prague, St George 14th cent Convent
Text, silent part, vl4 [Latin: LOO 803]
3x Marys 1M [Unguentarius]
Early Prague, St George 14th cent Convent
Text [Latin: LOO 804]
3x Man's 1M [Unguentarius]
Early Prague, St George 14th cent Convent
Text [Latin: LOO 804a]
3x Marys 1M [Unguentarius]
Early Prague, St George 14th cent Convent
Text, v7 [Latin: LOO 805]
3x Man's 1M [Unguentarius]
Early Wiener PS-Fragment 14th cent
Text, 532w: v. 279-94 M. Magd [Latin & German: 1Μ [medicus-venditor-institor-höF R O N I N G , 7 2 I, p . 3 1 5 ] bescher cramer stolz unt lobbere]
Late Gerona 13th or nr Barcelona th 14 cent 14th cent c. 1300
Early La Passion du Palatinus Text, 1996vv: 14th cent France vl864-1942
3x Man's IM [li espiciers-sire espicier]
[ F r e n c h : FRANK/
RIBARD,73 p. 231-5] 1315-17 Ludus paschalis Origny, St Benoite Convent, nr St Quentin
1. Text (79 of 261 3x Marys verses) IM [Marchant-gentius marchans-saiges [Latin & French: marchans-jovenes marchans] LOO 825] 2. An account of c. 1312-14 summarizing the convent's Easter ceremonies for the nun Heluis de Conflans does not note the merchant scene, perhaps introduced by her to this convent [ F r e n c h ; WRIGHT
(note 42), p. 184-6]
72 RICHARD FRONING: Das Drama des Mittelalters. Die lateinischen Osterfeiern und ihre Entwickelung in Deutschland. Die Osterspiele, die Passionsspiele, Weinachts- und Dreikönigsspiele, Fastnachtspiele, Darmstadt 1966. 73
GRACE F R A N K / J A C Q U E S RIBARD: L a P a s s i o n d u P a l a t i n u s , m y s t e r e d u X I V s i e c l e , P a r i s 1 9 9 2 .
Text and Performance
DATE
N A M E / TYPE
DOCUMENT
119
QUACKS
/LANGUAGE /REFERENCE rd
First 3 of 14 T H cent
Pfaferser PS-Fragment Text, 350vv, f.2. Kloster Pfafers, Kanton W 8 7 - 9 5 , 1 3 2 - 1 9 0 St Gallen, Switzerland [Latin & Alemanic:
2 quack scenes: Nicodemus I M [vil lieber cramer-medicus vngentorum] Jx Man's Couple [apothecarius-mercator iuvenisiunger cramer-iungelinc-medicus-vil lieber cramer-vil lieber maister / vxor medici]
AMANN (note 41)]
1ST half Frankfurter OS-Fragof ment 14TH cent c. 1 3 4 0
Quarante Miracles de la Vierge (Cange M S ) Confrerie Saint Eloi (Goldsmiths' Guild), Paris
Text [Latin & German: ,ΤΑΝΟΤΑ, 7 4 I, p . 4 2 2 - 4 ]
1 Miracle de 1'enfant ressuscite, text [French:
MUIR
75
,
p. 1 3 2 ] 2 Mystere de la Nativite, text [French: D u
MERIL,76
Jx Man's 1M [kaufhian-mercator-mercator primus] 1 Miracle of the Virgin: midwife in birth scene [sage femme] 2 Birth of Christ: midwife in birth scene [Salome-femme sage]
p. 354-68]
3 Text [French:
3 Miracle of the Virgin: non-medical merchant [merchant]
SEPET,77
p. 242-54] c. 1345- Le Mystere Provengal 50 de la Passion (Passion 'Didot') Provence
Text
c. 1 3 5 0
P r o m p t e r ' s text, v. 260-95 [Latin & German:
Baldemar von Peterweil Frankfurter Dirigierrolle
[Provenpal: NEAU,78 p.
3x Marys 2 M [Marcader-bel senher-senher payre / lo filh del marcader-bels filhs car]
CHABA146-9]
Jx Mans 2 couples [mercator-Iunger man-mercator iuuenis-iunger koufman-meysterJANOTA ( N O T E 7 2 ) , I , m e d i c u s - H e r kaufman/ Vxor mercap. 27, II, p. 849-57] toris-bahe [=o!d woman] uxor / uxor alterius medici
14TH cent Passione e resurrezione Text del Colosseo [Italian: DELBONO,7') Rome p. 61-2, 74-7]
74
Jx Marys 2 M or Couple & 2 n d Μ [Maestro-spiziale / suo famiglio / Brunetto]
JOHANNES JANOTA: Die hessische Passionsspielgruppe, Edition im Paralleldruck (I: Frankfurter Dirigierrolle, Frankfurter Passionsspiel; II: Alsfelder Passionsspiel), Tübingen 1996-2002.
75
LYNETTE R. MUIR: The saint play in medieval France. In: The saint play in medieval Europe.
76
EDELESTAND DU MERIL: Les origines latines du theatre moderne, Leipzig & Paris 1897.
77
MARIUS SEPET: Origines catholiques du theatre moderne, Paris 1899.
E d . b y CLIFFORD DAVIDSON, K a l a m a z o o 1 9 8 6 , p .
78
123-177.
CAMILLE CHABANEAU: Sainte Marie Madeleine dans la litterature provengale, recueil des textes provenpaux, Paris 1887.
79
FRANCESCO DELB0N0: ' L a u d e ' und 'Sacre Rappresentazioni', eine Überschau mit ausgewählten Textbeispielen. In: Osterspiele, Texte und Musik, Akten des 2. Symposiums der Sterzinger Osterspiele (12.-16. April 1992). Ed. by MAX SILLER, Innsbruck 1994, p. 51-89.
120
DATE
Μ. Α. Katritzky
NAME / TYPE
14* cent Berlin-thüringisches OS-Fragment
DOCUMENT /LANGUAGE /REFERENCE
QUACKS
Text, 160v [Latin & German:
Jx Man's Couple & 2 n d Μ & old female client [Mercator- here meyster min-arzt-eynie kunstigen man / Rubin-lieber knecht min-iunger iungelinc-lieber iungelincseliger knappe iung / min vrowe vor Anthonia / eyme alden wibe]
SEELMANN,
so
1926]
Mid Mastickar 14th cent Prague, National Museum
Text, 431 lines [Latin & Bohemian:
2 n d half Bohemian of Schlägl-Drkolnä 14th cent Mastickar
Text, 298 lines [Latin & Bohemian:
Jx Man's Couple & 2M & 2x clients [mercatorVELTRUSKY: A s a c r e d Ypokras-mistre Severine-mercator iuvefarce (note 5), p. 332] nis / Rubinus-Rubin ζ Benatek (i.e. of Venice) / Pustrpalk / uxor mercatoris / Abraham & son Isaac]
VELTRUSKY: A s a c r e d
[Jx Marys] 3M & 2x clients [medicus / Rubyenus / Pustrpalk / unnamed Jew & son]
farce (note 5), p. 365] Late Brandenburger 14th cent OS-Fragment
Text, 627v: w . 146-477 [ G e r m a n : SCHIPKE/ PENSEL ( n o t e 1 6 ) ,
p. 20-49]
1391
Innsbrucker (thüringisches) OS
Text, 1317v: w . 5401074 [Latin & German: MEIER (note 69),
44-88]
Jx Man's Couple & 2 M [Mercator iuvenis-Herremeister-magister Ypocras-kremer-live vrunt-gut man-olde kinbart / SurganHenneke Valenturen-knecht-liver Junghelinc-olde versleten / Pusterbalch / Bap[t]onia-olde repeltasche-uxorem] 3x Marys 4M & 2F, all speak [Mercator-Herrherre meister-meister Ypocras-arczt wit bekant-Ypocras-liber herre-mercator iuvenis-kremer-meister-den altden man / knecht-Rubin-lieber knecht-Herre-meister Stosel-schelk-herczetruter knabearcztes knecht-liber Rubin-schalk-lyber knecht myn-stolczer jungeling-du büser wicht-lyber bule / knecht- Pusterbalkknappe-helt knebelin-Pastuche [slavic shepherd]-der krum Eckart-servo-ir rechter Henekin-schelk / Lasterbalk / uxor-Aiitonia-togendHches wib-uxor Mercatoris-du alte ungehure-lybe frawe-myiier frawen-der frawen mvnmyti wib / ancilla-du alte tempeltretedit aide tempeliynne] Mercator dicit:: Rubin, ich se dort vil lute. Rubin dicit: Herre, da ist iarmarkt hüte
so
WILHELM SEELMANN: Berliner Bruchstück einer Rubinscene. In: ZfdA 63, n.s. 51, (1926), p. 2 5 7 - 2 6 7 .
Text and Performance
DATE
NAME / TYPE
DOCUMENT /LANGUAGE /REFERENCE
QUACKS
Early [?Eustache Mercade] 15,h cent Passion d'Arras Arras, France
Text: v. 21419-41
M. Magd 1M: [apoticaire]
1st half of 15th cent
Text, 9572 verses: v4805-4926, 81638283 [Latin & French:
121
15th cent
[?Jehan Floichot] Passion de Semur Burgundy, France
[French: RICHARD81]
DURBIN/MUIR (note
40), p. 135-7, 230-3] 1 st half of 15 th cent
c. 1425
Erlauer OS 'Erlau III' [Eger, Η] Gmünd im Liesertal, Kärnten, Austria
Text, 133 lv: vv. 56-942 & Anhang [Latin & German:
Wolfenbütteler OS
Text [Latin & German:
SUPPAN/JANOTA ( n o t e
18), p. 54-81, 114]
FRONING ( n o t e 7 0 ) ,
60-2] c. 1430
Melker (rheinfränkisch- Text hessisches) OS-Frag[Latin & German: ment
BÜHLER & SELMER
(note 41), p. 38-62]
c. 1440
La Passion Nostre Seigneur Abbey Sainte-Genevieve, Paris
2 quack scenes: 1. M. Magd 1M [apothicarius-maistre] 2. 3x Man's 1M & son [beaul pere-apothicariusdoux maistre-maistre Mathel / Noblet filius apothicarius-mon bei enffant] 2 quack scenes: 1. 3x Marys 3M & 2F & children [Medicus-mercator-Meister Gensdrekch-alten vetler-chramer-lieber jungeling-alter peghart / Rubinus-Rubein-PastaunEkhart-knecht / Pusterpalkch-stolzes chnäbelein-lieber chnecht / Medicauxor-sehon frau-der pest en zaubriirm / enr diem Gredlein / eure claine chind] 2. Rubinus with John & Peter at Sepulchre 1M [Rubinus] 3x Man's 2M [mercator-mercator iuvenisgude man-cramer-Meister / Robin-leve jungelin] 3x Marys 3M & IF & client [Primus MercatorMagister Ypocras-herre-Medicus-Meister Ypocras-kauffman / knecht-knebelin-Rubinus-Pastauche-Eckkart-Rubeynservus-iunger man-mercator iuveniscramer / Pusterbalk-knecht-libis knebelin-servum / meyn frauwe-iLxor-liebes frauwelin-mercatrix / Antiqua vetulafrauwe]
Text, 4476v: w . 4112- 3x Man's 4263 1M [l'espicier-Sire] [ F r e n c h : GALLAGHER, S 2
p. 303-10]
si 82
JULES-MARIE RICHARD: Le mystere de la Passion, Paris 1891. EDWARD JOSEPH GALLAGHER: A critical edition of La Passion Nostre Seigneur from manuscript 1131, from the Bibliotheque Sainte-Genevieve, Paris. Brown University doctoral thesis 1972.
122
Μ. Α. Katritzky
DATE
N A M E / TYPE
DOCUMENT
QUACKS
/LANGUAGE /REFERENCE c. 1440
Resurrection Abbey Sainte-Genevieve, Paris
Text [French: MATHIEU (note 12), p. 68-9]
Jx Man's 1M [l'espicier-Maistre-Sire]
1452
Arnoul Greban Le Mystere de la Passion Anger
Text [French: GREBAN,83 p. 380-2, 390-2]
2 ' q u a c k ' scenes: 1. A female cloth-merchant and Nicodemus Jesus's I F [marchande] 2. Jx Matys 1M [espicier]
sells Joseph grave-cloth
15 th cent San Tommaso Italy
Text Physicians at a court deathbed [Italian: D'ANCONA, S4 3 M [Primo medico-Maestro Anton di balordia / altro medico-Maestro Guido I, p. 582-4] di cuccagna / Arrighetto-servo]
2 n d half La rappresentazione of della Conversione di 15 ,h cent Santa Maria Maddalena Italy
Text [Italian: BANFI,85 p. 187-268: 249-53]
M. Magd & Lazarus 3 M [Primo medico-maestro Antonio / messer Matteo-secondo medico / maestro Dino]
2 n d half La rappresentazione of dell'ortolano elemosi15 th cent niere Italy
Text [Latin & Italian: BANFI (note 83), p. 511-36: 527-33]
L 'ortolano 3 M [primo medico-maestro / secondo medico / terzo medico-reverende magister]
2 lld half La rappresentazione of del re superbo 15,H cent Italy
Text [Italian: BANFI (note 83), p. 471-509: 484-
LI re superbo 2 M [primo medico-maestro / secondo medico-maestro]
2 n d half Vno miracolo del la of nostra Donna: cioe lara 15TH cent presentatione di Stella Italy
Text [Italian: BANFI (note 83), p. 583-651: 607-11]
Miracle of the Virgin Maty 2 M [primo medico-degni mastri / secondo medico-maestro]
2 l l d half Wiener Rubinrolle of 15,H cent
Single role text, 212v [Latin & German:
Unspecified [5.v Man's] 3 M & I F [Herr-mayster YpochrazMedicus / Rubinus-Rubein-PaschaunEckhart / Greten / Marcil-knecht]
7]
2 n d half Lübener of OS-Fragment 15TH cent
S3
SCHRÖDER/ MENCIK 8 6 ]
Text [German: see SEELMANN (note 78), p. 259-61]
3x Man's 3 M & IF [medicus / Rubin / Pusterbalg / mercatrix]
Arnoul Greban: Le Mystere de la Passion de notre sauveur Jesus-Christ.
Traduction et presen-
t a t i o n d e MICHELINE DE COMBARIEU D U GRES et JEAN SUBRENAT, P a r i s 1987.
84
ALESSANDRO D'AANCONA Origini del teatro Italiano. Libri tre con due appendici, R o m a
85
Teatro del Quattrocento. Sacre rappresentazione. Ed. by LUIGI BANFI, Torino 1997.
86
EDWARD SCHRÖDER/FERDINAND MENCIK: Eine Wiener Rubinusrolle. In: Z f d A 51, n.s. 39
1966.
(1909), p. 263-273.
Text and Performance
123
DATE
NAME / TYPE
DOCUMENT /LANGUAGE /REFERENCE
QUACKS
1460
Gabriel Biel Berliner (rheinisches) OS, Mainz
Text, 2285vv: v. 531-690, 937-1006, 1990-2047 [Latin & German: RUEFF," 164-6, 197-9]
3 quack scenes: 1. Comic prelude to 3xMarys 2M [medicus / Smackfol] 2. 3x Marys (resumed after interpolated scene) 2M [Medicus-Meister / servus medici-Smackfol-lieber knecht] 3. Wedding intermedi in concluding doubting Thomas episode 2M & IF [Medicus-Meister Gomprecht-Meister / Smackfol-lieber knecht / dachter]
1461
The Blyssed Sacrament Text, w . 525-652 Croxton, England [English: DAVIS]SS
Miracle of the consecrated wafer 3M & lx client [mercator-Sir Aristorius / Master Brundyche of Brabantfamous phesycyan-the leche / Colle-hys man / Jonathas]
1472
Wiener (schlesisches) OS Breslau (Wroclaw)
Text [Latin & German: BLOSEN,S9 66-89]
3x Man's Couple & 2 n d Μ [institutor-venditorcramer- Kauffman-meister-medicusartczt-mercator-krome / Rubin-knechtservus-kint-jumgeling / my schönes weip anthonie-mercatrix-ertcztin]
1486
Lienhard Pfarrkirchers Ρ (Sterzinger P) Sterzing, Tyrol
Optional improvisation, directly after ν. 3100 [Latin & German:
3x Marys 2M [single sentence: 'Hie potes introducere medicum cum servo suo, si placet']
ROLOFF/TRAUB/ LIPPHARDT ( n o t e 2 9 ) ,
II (1988), p. 155] 1486
c. 1491
87
.Tehan Michel (based on Arnoul Greban, 1452) Le Mystere de la Passion Anger
Text, 29924w: vv. 29175-29302 428-30]
Nicodemus buys spices offstage while onstage the widowed cloth-merchant Julye (who also appears in several other scenes) sells Joseph Jesus's grave-cloth IF [Julye, veufve, mere de l'adolescent-marchande des suaires]
Egmond nr Utrecht, St Adalbert
Text [Latin: LOO 827]
3x Man's 1M [mercator iuvenis-specionarius]
[French: MICHAEL90
HANS RUEFF: Das rheinische Osterspiel der Berliner Handschrift MS. Germ. Fol. 1219, mit Untersuchungen zur Textgeschichte des deutschen Osterspiels, Berlin 1925. ss Croxton Play of the Sacrament. In: Non-Cycle plays and fragments. Ed. by NORMAN DAVIS, London 1970. 89 HANS BLOSEN: Das Wiener Osterspiel. Abdruck der Handschrift und Leseausgabe, Berlin 1979. 90 Jean Michel: Le Mystere de la Passion (Angers 1486). Ed. by OMER JODOGNE, Gembloux 1959.
124
Μ. Α. Katritzky
DATE
NAME / TYPE
DOCUMENT /LANGUAGE /REFERENCE
QUACKS
c. 1495
Jehan Michel: Mvstere de la Resurrection de Notre Seigneur Jesus-Christ
Text
Jx Man's & Johanna (Herod's wife) 1M [apoticaire-espicier]
[ F r e n c h : ABRAHAMS
(note 10): p. 116; MATHIEU ( n o t e 12),
p. 66-7] c. 1495
Antonia Pulci (14521501) La rappresentazione di Santa Guglielma Florence, Italy
Text [Italian: BANFI (note 83), p. 537-81: 569-75]
Santa Guglielma cures a leper 2M [uno medico / uno altro medico]
1496
Harlem Fragment Delft, Netherlands
Single role text [Latin: LOO 828]
Jx Man's 1M [Phisicus]
Egerer Fronleichnamsspiel (Eger, Hungary, formerly Erlau)
Text, w . 7864-7901 [Latin & German:
Jx Man's 2M [mercator / Rubin]
16th cent c. 1500
Alsfelder PS 1501 with additions to 1517
MILCHSACK91]
A. Text, v. 7483-7631; incl. additions for 1517 production by 'Schreiber C'; Hültscher's 5 extra speeches for medicus, see below, 1517 [Latin & German: JANOTA ( n o t e 7 2 ) , II,
3x Marys Couple & 2 n d Μ [medicinam magistrimagister Ypocras-meister Ypocrasmedicus- magister Ypocras -lunger man-kouffman-mercatore-mercator iuuenis-junger kouffmann-mercator Ypocras-meister-Herre kouffman / seruus medici Rubinus-seruus-knecht / Vxor mercatoris-iixor]
p. 96, 98, 100, 201, 841-7, 905] B. Castlist (damaged): NO quacks C. Plan: NO quacks 1503 (copy)
Le Mystere de Saint Antoine de Viennois Brianpon, France
Text; 3966 vv / w . 1890-2290] [ P r o v e n p a l ; GUIL-
LAUME,92 p. 67-83]
1504
St Meriasek Cornwall, England
Text, w . 1378-1485 [ C o r n i s h : CHAMBERS
(note 9), p. 169, 186] ed. Whitley Stokes, II
SI 92
A courtier sells St Anthony's belongings to comic (but non-medical) merchants 3M [Primus mercator / secundus mercator / tercius mercator-Johan dal Molis] Emperor Constantine, a leper, buys a remedy from a doctor and his clerk 2M
GUSTAV MILCHSACK: Egerer Fronleichnamsspiel, Tübingen 1881. PAUL GUILLAUME: Le mystere de Sant Anthoni de Viennes, publie d'apres une copie de Fan 1503, Gap, Paris 1884.
Text and Performance
DATE
NAME / TYPE
DOCUMENT
125
QUACKS
/LANGUAGE /REFERENCE 1511
Haller PS Hall, Tyrol
Text: vv. 1254-1435 [Latin & German: ROLOFF/TRAUB/
LIPPHARDT (note 29), III ( 1 9 9 6 ) , p. 2 1 1 - 1 8 ]
3x Man's 2M & 2F [medicus-Ipocras-lieber gmachl zart-Herr maister-lieber her mein-lieber maister / seruus-Rubeinlieber jungling mein-lieber knecht / Medica-mein fraw / Virgo mediae]
1514
Vigil Raber-Passion Bozen, Tyrol
1. Text 1. no quacks 2. plan (Palm Sunday) 2. no apothecary - wrong day 3. cast-lists (Day 4) Unspecified [3x Marys] [Latin & German: 3. 2M & 2F [Medicus / servus medicy / NEUMANN (note 29), uxor medici / puella mediei] p. 2 0 1 ]
1516-26
Ludus pasce Codex Clementinum Bohemia
1 Text [Czech & Latin; VELTRUSKY: A sacred farce (note 5), p. 116, 126]
3x Mans 1M [unus Barbatus fulcitus ad morem medici]
71517
Henrich Hiiltscher, d.1547 Alsfelder Kaufmannsrolle
Single role text, 44v [Latin & German: JANOTA (note 72), II, p. 193, 197-8, 209]
3x Marys Couple [Primus mercator / v.vor]
1520
Ludus Pascalis Vigil Räber Sterzing, Tyrol
Text: vv. 315-394 [Latin & German:
3x Mans 2M [Medicus-lieber Maister Adam / Seruus-Rubein-lieber knecht
ROLOFF/TRAUB/
LIPPHARDT (note 29), III (1996), p. 313-316] 1538
Hans Salat Luzerner PS Lucerne, Switzerland
1. Text [German: WYSS,93 269-71] 2. Director's notes [German: EVANS,94 p. 160]
3x Mans 1M [Apentegger]
1539
Gerona nr Barcelona
Ecclesiastical decree [Latin: LOO V, p. 1661-2]
3x Marys permitted Apothecarius couple & son and Mercator couple, prohibited moorish couple or maid or musicians
1560
Zacharius Bletz Luzerner PS
Director's notes (Day 1) 3x Man's [German: EVANS Unspecified [Appotegg] (note 92), p. 156]
1566
Lewis Wager Printed text A new enterlude, neuer [London 1566, ] before this tyme printed, entreating of the life and repentaunce of Marie Magdalene.
93 94
M. Magd: is tempted to buy 'swete oyntments' 1M [Infidelitie, the Vice]
HEINZ WYSS: Das Luzerner Osterspiel. Gestützt auf die Textabschrift von M[ARSHALL] BLAKEMORE EVANS, vol. 11: Text des zweiten Tages, Bern 1967. M[ARSHALL] BLAKEMORE EVANS: The Passion play of Lucerne. An historical and critical introduction, New York 1943.
126
Μ. Α. Katritzky
DATE
NAME / TYPE
DOCUMENT /LANGUAGE /REFERENCE
QUACKS
c. 1580
Mikolaj de Wilkowiecko L'histoire de la glorieuse resurrection du seigneur Krakow, Poland
Text
Jx Man's 1M [Ruben]
1583
[UDALSKA,'
p. 177]
[German: EVANS (note 3x Marys Renward Cysat (apothecary and 'Stadt- 92), p. 144, 166, 219] 1M [Appentegger] schreiber') Director's notes Apothegker Luzerner PS Plan (Day 1) Appothegker / knaben Notes (Day 1) Seruus / Appothegker Cast (Day 1) Die Apothegk Plan (Day 2)
c. 1580s Lo Jutgamen General or Provence 1590s
Text, w . 859-87, 2449-82 [ P r o v e n g a l : LAZAR,' ) 6
p. 110-11, 202-7] c. 1599
[Donaueschingen] Villinger PS
A Text, vl93-238, 4046-72 [Latin & German: HARTL,97 p. 2 5 5 - 6 ]
Β Plan C Verz. der Biihnenorte (3 lists, for intro. Days 1 & 2)
95
Last Judgment: inclusion in list of sinners Various [lo poticari-potiquaris / lo medici / surgies / fysiciens] A 2 Day M. 1M Day IM
quack scenes: 1: Die appenteck Magdalene [Appentecker] 2: 3.τ Marys [Appentecker-Krämer]
Β No quacks / apothecary (wrong day or place?) C 3. Die appenteck-6. die appenteck15. der appentecker
ELEONORA UDALSKA: Le drame liturgique et le mystere medieval en Pologne. In: Between f o l k a n d l i t u r g y . E d . b y ALAN .Τ. F L E T C H E R / W I M HUSKEN, A m s t e r d a m , A t l a n t a
96 97
1997, p.
173-
183. MOSHE LAZAR: Le Jugement Dernier (Lo Jutgamen General). Drame proven^al du XVIE siecle, Paris 1971. EDUARD HARTL: Das Drama des Mittelalters. Passionsspiele 11 (Das Donaueschinger Passionsspiel), Darmstadt 1966.
JODY ENDERS
The Devil in the Flesh of Theater Der merkwürdige, apokryphe Fall von Bar-le-Duc (1485), in dem ein Schauspieler noch im Teufelskostüm seine Ehefrau vergewaltigt, vereint, was nie hätte getrennt werden dürfen: Ethik als Corpus des Wissens und das Körperwissen des Theaters. Der Fall erinnert uns daran, dass Theater besser (wenn auch manchmal moralisch schlechter) als jedes andere literarische Medium dazu geeignet ist, Akteure dazu zu bringen, Gedanken in die Tat umzusetzen. Da die Geschichte außerdem mit einer moralistischen Pointe aufwartet, mit der kaum eine moderne lehrhafte Erzählung konkurrieren kann - einem missgebildeten und monströsen Kind als Erzeugnis dieser Vergewaltigung - inkarniert sie im Wortsinne ihre zentrale Aussage, dass im Theater Intentionen verkörpert werden. Indem die Anekdote von Bar-le-Duc den Prozess der Realisierung von Theater mit der Genese des Verbrechens zusammenführt, erzählt sie von einem theatralen Herz der Finsternis, das wir die Angst vor dem unmittelbar Drohenden, dem Imminenten nennen könnten. Diese ist für die Virtualität des Theaters ebenso relevant wie für jene der Ethik. H o w d a n g e r o u s w a s religious theater? N o t j u s t as w o r d s but as action? N o t j u s t as d r a m a o n the p a g e b u t as acts o n the stage? If w e believe several chroniclers of M e t z , s o m e t h i n g h a p p e n e d in 1485 that offered, quite literally, living p r o o f that m e d i e v a l theatrical life w a s v e r y d a n g e r o u s i n d e e d albeit not necessarily in the w a y s that one m i g h t expect. A c c o r d i n g to the exceptionally l o q u a c i o u s Philippe de Vigneulles, it all happ e n e d one f i n e day w h e n a certain actor, w h o s e n a m e is u n k n o w n , returned h o m e after his p e r f o r m a n c e in the city o f B a r - l e - D u c (about 2 5 0 k i l o m e t e r s east of Paris). We h a p p e n to k n o w that a play w a s p e r f o r m e d at all f o r one r e a s o n only: the terrible t h i n g that h a p p e n e d afterward. O n e o f the actors, still w e a r i n g his devil-suit, apparently p r o c e e d e d to force h i m s e l f o n his w i f e : Or avint que, en ce meisme tamps, füt juez ung jeux ä Bar le Due, auquelle estoient aulcuns hommes pourtant le parsonnaige de dyablez. Et, entre eulx, en y olt ung que en son habit voult avoir la compaignie de sa femme. Et eile le differoit, et demandoit qu'il volloit faire; et il luy respondit: 'Je veult', dit il, 'faire le dyable'. Et, quoy que sa femme se sceüt deffandre, force luy fut de obeyr. 1
ι
La Chronique de Philippe de Vigneulles. Ed. by CHARLES BRUNEAU, 4 vols., Metz 1927-33 (vol. 3), pp. 114-115. Hereafter CPV Compare with the version that appears in Les Chroniques de la Ville de Metz, recueillies, mises en ordre et publiees pour la premiere fois. Le Doyen de St. Thiebault. — Jean Aubrion. - Philippe de Vigneulles. - Praillon. - Annales Mes-
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There was performed in Bar-le-Duc a play in which there were several m e n playing the parts of devils. Amongst them, there was one who, in that get-up, wished to enjoy consortium with his wife. And she was putting him off and asking him what he was trying to do; and he responded: Ί wish,' said he, 'to make the beast with two backs.' And, hard as she tried to resist, she was forced to obey him.
One man's life on stage has victimized another life off stage. One man's theatrical activities have propagated specific sexual misconduct. In an anecdote that posits a direct causal connection between a medieval theatrical performance and a rape, an unnamed actor has not ceased his performance once at home because it is no longer a performance. But was it ever a performance in the first place? Does the theatrical portrayal of evil implant evil there where there is no evil? Or, as popular wisdom about hypnosis still has it today, does theater only reveal, enable, hasten, or execute something that is always already there? And, if theater is a catalyst of sorts, then what did medieval theater catalyze - or risk catalyzing - in the good souls who sallied forth to produce Passion plays, ever mindful of their noble mission of edifying their Christian communities? 2 As we shall see, it is highly improbable that the events described above ever happened at all; rather, they join the ranks of hundreds of urban legends about the medieval theater. Be that as it may, once the histrionic devil of Bar-le-Duc is believed to commit a bad act, he makes a transition that is so seamless that it has been the stuff of anxiety-ridden theatrical lore for centuries. Illustrating the fear that a theatrical self cannot be slipped on and off like a costume, he moves effortlessly from make-believe to making. He stops impersonating the Devil (contrefaire le dyable) and becomes a devil in real life (faire le dvable). In other words, he stops representing altogether; he simply is. In this essay, I argue that such passages from being-to-becoming-to-being situate Bar-le-Duc within virtually any debate regarding the morality of the arts. Whatever modern vocabulary we invoke today - catalysts, triggers, stimuli the events that purportedly befell an unnamed medieval woman demonstrate the relevance of theatricality in general to ethics in general. Insofar as actors are always engaged in representational behaviors that are nonetheless real behaviors by dint of their physicality in space and time, theatrical performance is inseparable from ethics. But, with the significant exceptions of GLENDING OLSON and, m o r e recently, NOAH GUYNN, f e w m e d i e v a l i s t s h a v e
pondered
ethics as theatrical practice. 3 Bar-le-Duc brings together what should never
2
3
sines, etc., 900-1552. Ed. by JEAN FRANCOIS HUGUENIN, Metz 1838, p. 473. Hereafter CVM. I reproduce Philippe's highly idiosyncratic Middle French as is. I provide numerous examples of such legislation in my Death by Drama and Other Medieval Urban Legends. Chicago 2002, chap. 5. We return shortly to the aspects of Bar-le-Duc that do not make sense. See GLENDING OLSON: Plays as Play. A Medieval Ethical Theory of Performance and the Intellectual Context of the Tretise of Miraclis Pleyinge. In: Viator 26 (1995), pp. 195-221;
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have been separated: ethics as a body of knowledge with theater's knowledge of bodies. It reminds us that what theater does better (if sometimes morally worse) than any other literary medium is to prepare agents - or what ALICE RAYNER prefers to call actants - to move from thought to action. 4 Most of the time, theater survives and thrives very well doing just that, so long as no severe legal, ethical, or moral violations occur (at which point, one might further argue that theater ceases to be theater). The case of Bar-le-Duc merits our attention because it insists that the stage is a world of virtual ethics which aligns theater-in-the-making with crime-in-the-making. With a focus on the moral and ethical states that precede theatrical action, it invites - it demands - moral reflection on the ways in which theater itself scripts behavior (representational, criminal, or otherwise). Contemporary performance theorists would likely call such states that precede action "virtuality", while legal theorists would invoke a premeditation connected to intention. 5 For their own part, medieval theorists would have repaired to ethics and morality in order to speak of both intention and character. If, however, in the law, premeditation serves as a kind of script for criminal behavior, then the events of Bar-le-Duc suggest that any virtual theatrical action - any intent to commit representation - scripts good or evil in everyday life. For actors portraying the great conflict between the two, which was the essence of medieval religious drama, criminal action was as imminent as theatrical action. Premeditation is the essence of theatrical virtuality as well as ethical virtuality. So says the tale from Bar-leDuc as it packs a stunning moralistic punch to its conclusion, literalizing its central admonition that, in theater, intentions are embodied. Bar-le-Duc Ostends legally and theatrically as Exhibit A a monstrous corporeal reminder that concretizes - that corporealizes - the passage from theatrical thought to immoral and unchristian (if not necessarily criminal) action. 6 With an authenticating 'text' in the form of a monstrous body - the proof of which conveniently disappears, as is consistent with urban myths - it documents the ostensibly monstrous legacy of theater itself with the following threat: the
4 5 6
NOAH D. GUYNN: A Justice to Come. The Role of Ethics in La farce de Maistre Pierre Pathelin. In: Theatre Survey 47 (2006) 1, pp. 13-31; and, for an illuminating general perspective ALAN READ: Theatre and Everyday Life. An Ethics of Performance, London/New York 1993. ALICE RAYNER: To Do, to Act, to Perform. Drama and the Phenomenology of Action, Ann Arbor 1994. 1 explore the larger subject of intentionality in theater in my Murder by Accident. Theater, Medievalism, and Critical Intentions, Chicago forthcoming. Needless to say, medieval law had no category for 'marital rape' as we understand that felony today. On the erasure of rape from medieval theater history, see my Spectacle of the Scaffolding. Rape and the Violent Foundations of Medieval Drama Studies. In: Theatre Journal 56 (2004), pp. 163-81. L[ouiS] PETIT DE .TULLEVILLE completely elides the rape in his reference to Bar-le-Duc in Les mysteres, vols. 1 and 2 of Histoire du theatre en France, 1880; rpt. Geneva 1968, vol. 2, p. 48.
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actor who moves inappropriately from make-believe (contrefaire le diable) to acting diabolically and sexually (faire le diable) also moves from make-believe to making in that he can physically make a devil (faire ιιη diable), literally planting the seeds of evil. The unnamed actor of Bar-le-Duc has done more than cease his play to become a real devil. He is a devil capable of siring a child in his own image: Cy avint qu'elle fut grosse et portait son tairme. Maix il avint qu'elle enfanta et delivra de ung corps qui estoit, des le fault en aval, forme d'homme, et, des le fault en amont, forme de dyable. De laquelle chose on en fut moult esbahis. Et ne l'oisairent baptiser jusques ad ce que Ton aroit estes ä Romme pour sgavoir que Γ on en feroit. (CPY 3: 114-115) 7 It then came to pass that she was pregnant and brought the child to term. But it came to pass that she gave birth and was delivered of a body which was, from the mid-torso down, the form of a [hu]man, and, from the mid-torso up, the form of a devil. People were much astonished by this thing. And no one dared baptize the child until a trip had been made to Rome in order to determine what was to be done with it.
No official record of the alleged papal intervention has survived; but, regardless of whether or not this unfortunate infant ever existed, the freakish creature is a chip off the old block. The monstrous baby is marked not in the diabolical realm of the genitalia (the lower torso) but, rather, at its human upper torso which houses brain, heart, and intellect. The demon child of Bar-le-Duc, the issue of forced sexual intercourse, has no 'better half'. And the meditation launched by this legend is: Does theater have a better half? Minus the theatrical prologue about an actor-husband coming home in costume, its narrative is virtually identical to one of the most beloved theatrical offerings of medieval France: the fourteenth-century Miracle of the Child Given to the Devil, in which another unnamed husband forces his unnamed wife to submit to him sexually. According to Jacomin Husson, who saw a performance of that play in Metz on 10 October 1512, "the angry wife said that the devil had played his part" in that violent domestic drama (la femme courroucee dit que le diable y henst part).9 To make a long story short, she promises any offspring to the Devil, the latter of whom eventually escorts her pious son to Hell in the lad's fifteenth year, at which point the Virgin Mary retrieves the 7
The term forme d'homme is slightly ambiguous in that it could mean either 'male' or 'human'. Compare also with CVM, p. 473, where the "body" is called a child. Unlike much medical lore that located blame for deformed children within the wombs of women, Bar-leDuc is rightly focused on the seed of man. See, e.g., MARIE-CHRISTINE POUCHELLE: The Body and Surgery in the Middle Ages. Trans, by ROSEMARY MORRIS, New Bmnswick, New Jersey 1990, pp. 134-37; and Ambroise Pare's celebrated sixteenth-century treatise On Monsters and Man els. Trans, by JAMS L. PALLISTER, Chicago 1982.
s
Chronique de Metz de Jacomin Husson, 1200-1525. Publie d'apres le manuscrit autographe de Copenhague et celui de Paris. Ed. by H[ENRI] MICHELANT, Metz 1870, pp. 268-69. I reproduce this text in its entirety in ENDERS (note 2), p. 218.
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child. 9 A miracle play tenders a miracle child; an unknown drama of Bar-leDuc tenders a monstrous demon seed produced through the complicity of the stage. Whence, the true moral of the story, as friendly to religion as it is unfriendly to theater. Despite its striking resemblance to other theatrical legends, Bar-le-Duc is emphatic in its indictment of theater, an art form that had long been denounced as the Devil's special dwelling place. 10 Slippery though the tale of Bar-le-Duc proves to be (in ways to which we return shortly), it is unambiguous on its true subject, which it shares as much with folklore and 'folklaw' as it does with theology and politics. 11 In depicting the heart of darkness of stage actors, it incarnates what might be called the fear of imminence. For purposes of this essay, fear of imminence is the fear that, beyond the theologically theatrical axiom that medieval social life is but a dress rehearsal for heaven (or for hell), character itself is a virtual performance, ready for enactment at any time. Fear of imminence is the fear that theater can do to society exactly what an unnamed diabolical thespian threatened that it could do to individuals. It is the fear once described by Plato that theater corrupts a citizenry by fostering "feelings of sex and anger, and all the appetites and pains and pleasures of the soul which we say accompany all our actions [...] when what we ought to do is to dry them up." 12 And it is the fear that lies at the root of countless pieces of antitheatrical legislation, as when numerous medieval municipalities moved to increase their police forces when theater came to town, issuing all manner of preventative measures against crime, violence, and fornication. 13 Fear of imminence hints that much intriguing contemporary scholarship in theater phenomenology might be seriously mistaken, as when BRUCE WILSHIRE writes that theater's broken hearts "cease to be when the curtain falls and the mind turns from their contemplation." 14 Like Bar-le-Duc, it warns that, sometimes, realities endure long after the curtain has fallen and that ethics demands that we not turn away from their contemplation. Fear of imminence means, moreover, that even JEAN-PAUL SARTRE did not go quite far enough when he stated that, in theater, "participation is the experience of 9 ίο
For a description of the plot, see PETIT DE JULLEVILLE (note 6), p. 102. Theater as the Devil's tool is a topos of such works as Tertullian: De spectaculis. Ed. and trans, by T[ERROT] R[EAVELEY] GLOVER, 1931, rpt. Cambridge 1977 (Loeb Classical Library); and of Isidor of Seville: Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive Originum Libri XX, 2 vols., Ed. by W[ALLACE] M[ARTIN] LINDSDAY, 1911, rpt. London 1962, vol. 2, bk. 18.
11
See esp. Folk Law. Essays in the Theory and Practice of Lex Non Scripta. Ed. by ALISON DUNDES RENTELN/ALAN DUNDES, 2 vols., Madison, Wisconsin 1995. Plato: The Republic. Ed. and trans, by PAUL SHOREY, 2 vols., Cambridge, MA 1935 (Loeb Classical Library), section 606d. 1 review a number of these measures in ENDERS (note 2), chap. 8. BRUCE WILSHIRE: Role Playing and Identity. The Limits of Theatre as Metaphor, 1982; rpt. Bloomington, Indiana 1991, p. 262.
12 13 14
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an almost carnal relationship with an image, not merely a knowledge of it." 15 Bar-le-Duc indicates that theater imparts a road map for moving from artistic dream to physical action to nightmare of sexuality: not just with images but with bodies. Finally, fear of imminence is the fear that, once politicized (as it so often is), engages - and enrages - liberals and conservatives alike. Thus, WENDY STEINER notices an "unholy alliance" between the Right and the Left with regard to the rampant cultural hostility toward pornography, positing that it "cannot be explained simply through conservative fundamentalism. Leftists are exerting a similar pressure to take art as real-world speech, to see it as dangerously efficacious, and to condemn the experts who argue for its virtually." 1 6 Who better than theater scholars to attend to the virtual performances of everyday life? 17 But to do so, they must focus on where virtuality lies. As we shall see, if there really is some sort of devil in the theatrical flesh, then the real monster - the devil in the details of the fear of imminence - is intention. One need not have waited for the current legal analysis of SANDRA BERNS that "intention in the common law is a wondrous beast, at once illusory and monstrous" when, already in 1485, Bar-le-Duc proffers inflammatory evidence of a monstrosity that lies less at the heart of theater than it does in the hearts of men. 18 In casting a giant shadow over theater, Bar-le-Duc points us toward what precedes action both on stage and off, toward how we think about action before we act: it points us toward intentions. And, lest there be objections at this point, ά la TERRY EAGLETON, that a focus on intention is "unhealthily juridical", it is our duty to recall that the events of Bar-le-Duc constitute an extreme example of juridical "unhealth". 19 ft is instructive that, not coincidentally, the first historical traces of medieval French drama emerge from the shadows of criminal investigations into death and rape. 20 EAGLETON's purism is, quite simply, an inadequate means by which to account for the nature of theatrical performance, as when he claims that to think of literary discourse in terms of human subjects is not in the first place to think of it in terms of actual human subjects. [...] A literary work is not actually a
15
See Sartre on Theater. Documents assembled, edited, introduced, and annotated by MICHEL CONTAT/MICHEL R Y B A L K A , t r a n s , b y F R A N K .TELLINEK, N e w Y o r k 1 9 7 6 , p . 7 3 .
16 WENDY STEINER: The Scandal of Pleasure. Art in an Age of Fundamentalism, Chicago 1995, p. 60. 17
Here I draw, of course, on MICHEL DE CERTEAU: The Practice of Everyday Life. Trans, by STEVEN RENDALL, B e r k e l e y
1988.
is
SANDRA BERNS: Tales of Intention. Storytelling and the Rhetoricity of Judgment. In: Intention
19 20
ton, Vermont 2001, pp. 161-186, here p. 161. TERRY EAGLETON: Literary Theory. An Introduction, Minneapolis 1983, p. 119. On the cases of 1380, 1384, and 1395 see ENDERS (note 2), chap. 5; and ENDERS (note 6).
i n L a w a n d P h i l o s o p h y . E d . b y N G A I R E N A F F I N E / R O S E M A R Y OWENS/JOHN W I L L I A M S , B u r l i n g -
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'living' dialogue or monologue. It is a piece of language which has been detached from any specific 'living' relationship. 21
Such a statement represents the antithesis of theater. Whether the setting be inside or outside the law, one cannot detach from the realm of human action the very connections between intention and action upon which ethics - to say nothing of law and human behavior - is founded. What, then, of this devil in the flesh? What did the Pope say? Was the child baptized or not? Did it die soon after or not? Despite its pretense of authentication, the story of Bar-le-Duc ends right there, leaving several open questions. For one, it is placed sketchily in Philippe's memoirs between two dated incidents that are chronologically out of order. Bar-le-Duc is immediately preceded by a famous story of medieval theatrical life in which the young barber's apprentice, Lyonard, plays Saint Barbara on 23 July 1485.22 And It IS immediately succeeded by a new tale of monstrous birth "from that same year", but occurring before Lyonard's performance "in the month of June" (i.e., the events of July precede those of June): Encor avindrent en ce tamps aultrez prodige. Car, on moix de jung, devers Saint Avoulz, y olt une jument qui enfanta deux anffans, ung filz et une fille. Laquelle chose fut merveilleuse et ung prodige bien grant. (CPV, 3: 115) And also, in several other places, there came to pass other great omens and wonders; because, in that same year, in the month of June, toward Saint Avolz, it came to pass that a mare was delivered of two children, a boy and a girl [or a son and a daughter!], which was a marvel and a miraculous thing.
The tale of Saint Avolz clearly aligns theater's monstrosity with the most unnatural and diabolical bestiality, especially insofar as this new tale is itself followed by another event from "that time" in which, thanks again to the Devil (VAnnemy), six mysterious figures dressed in black attempt unsuccessfully in Vazelle to spur a Metz soldier toward suicide. But the framing of those three undated incidents - Bar-le-Duc, Saint Avolz, and Vazelle - by two dated ones - Lyonard's performance of 23 July 1485 and the burning of a witch on 1 August - hint that Philippe might well be engaging in the same kind of free association upon which the fear of imminence itself rests: theatrical performance prompts fear of the devil, which prompts fear of monstrosity, of bestiality, of the hell-bent path of suicide, and, finally, of the specter of retribution against the Devil's other notorious consorts, witches. 23 Fear of imminence need not be logical; and it is theater that suffers from the monstrous comparison. Secondly, how would anyone have known that the diabolical actor of Bar-leDuc came home and assaulted his wife in costume? Were there witnesses? As 21 22 23
EAGLETON (note 19), p. 119. 1 discuss this event and its sources at length in ENDERS (note 2), chap. 2. St. Avolz, Vazelle, and the witch-burning appear in CPV 3: 115. Sorcery and theater come together in the person of Circe, e.g., in Isidor of Seville, Etymologianim (note 10), bk. 18, chap. 28. Compare also with CVM, p. 473.
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evidence from at least one other municipality attests, did the husband boast about it in town the next day? 24 Did the wife file a complaint against her husband? Did her husband receive some sort of pardon, detailed in some lost letter of remission? 25 Unknown. Third, what the devil was the play that was performed? What did the Devil do in it? And did it stage a rape? Since Philippe does not record the name of the play in question, it is impossible to tell, even though the tale's fear of imminence would be magnified if its generalized causal connection between theater and rape appeared instead as a still more specific connection between represented rape on stage and real sexual violation off stage. Fear of imminence, however, is not in the business of such specifics. If, as seems likely, the theatrical selection of 1485 was a Passion play which boasted many opportunities to stage the Evil One and his cronies in diableries,26 there was probably no rape scene. If the piece of 1485 was not a Passion play and did represent rape, it is still most challenging to imagine, given an extreme paucity of didascalia or audience testimony, how such a rape would have been staged in the fifteenth century, if staged at all. For example, in The Rape of Dinah from the Old Testament cycle of Lille, Sichern commits the actual rape within the time frame of a single octosyllabic verse. To Dinah's pleas for mercy, he responds that "It's all for naught!" (Riens n'y vault!); but, by the end of the verse, he states: "Now sated is / my sensual affection" (Or est parfunie / ma sensuelle affection) ,21 The same situation of textual silence obtains even for the notorious Evil Woman of the Mystery of the Sacred Host, whose rape by a valet ultimately leads her to kill her own child. Unsuccessful in shaming the valet into relenting from his threat that "the two of us must have sex" (II fault que nous couplons nous deux), he alerts her malevolently that, "By this cross, you will see well enough / before a year and a half is out" (Par ceste croix, vous rendrez comte / Avant qu'il soit an et demy). In the woman's next line, she is wishing she were "dead and buried" because she is pregnant (Morte je voudroye estre en fosse. / Helas, helas, je me sens grosse).28 And, later, in the 24
For evidence of such boasting, see ENDERS (note 6).
25
A treasure trove of theatrical evidence is extant in letters of remission, especially in such work as NATALIE ZEMON DAVIS: Fiction in the Archives. Pardon Tales and Their Tellers in Sixteenth-Century France, Stanford 1987. On rape in the Middle Ages, see BARBARA HANAWALT'S superb Whose Story Was This? Rape Narratives in Medieval English Courts, in her Of Good and 111 Repute. Gender and Social Control in Medieval England, New York 1998, pp. 124-41; and KATHRYN GRAVDAL'S still useful Ravishing Maidens. Writing Rape in Medieval French Literature and Law, Philadelphia 1991.
26
See, e.g., EMILE JOLIBOIS: La diablerie de Chaumont, Chaumont, Paris 1838; and JOHN COX; The Devil and the Sacred in English Drama, 1350-1642, Cambridge 2001; both discussed in ENDERS (note 2), chap. 7.
27
The Viol de Dina appears in Les Mysteres de la procession de Lille, vol. 1 (of five projected volumes); Le Pentateuque. Ed. by ALAN E. KNIGHT, Geneva 2001, pp. 151-52. Le Mistere de la Sainte Hostie. Bibliotheque nationale, Reserve, Yf 2915, fol. 32r.
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sixteenth-century Morality Play of the Uncle who Killed his Nephew, it takes eleven verses only to move from a threat to rape - "it's no use talking, because I'm going to do what I feel like" (Par bieu, vous aves beau parier, / Car je feray ce qui m'agree) - to a raped girl's plea to the Virgin Mary for rescue, to the Virgin wondering why she has not seen her faithful servant lately, to the corrupt nephew's next line: "Thus, I have enacted my will [thought]" (Or ay-je acomply ma pencie).29 That is also the quintessence of theater: to accomplish thought. And what is frightening about Bar-le-Duc is less the imminence of theater than the imminence of character insofar as theater underscores here the malleability of character, so readily stimulated by mimesis that character itself is transformed into the thoughts - the intentions - that precede criminal action. But did an unnamed devil really need theater to fulfill his corrupt nature? Fourth and most interestingly, Philippe's language leaves open the possibility that a theatrically incited rape happened - or could have happened - any number of times. In Bar-le-Duc, it appears to have happened after one performance of one play only. But if, as seems most likely, the theatrical offering in question was a Passion play, then that genre normally required several days to perform and might last for weeks on end. What happened during Day 2? Or Day 3? What happened after any and all religious dramas that staged the Devil? Was theater's reckless endangerment of character also in evidence at every rehearsal as well? 30 And if so, how imminent does imminence need to be? What kind of time must elapse between theatrical performance and bad act for theater to be considered responsible? If the alleged rape-in-costume had occurred one day later, would the devil in the flesh of theater still have been at fault? What if it were two days later? Two months? Two years? The story of Bar-le-Duc implies that representation alone of the generalized evil of a diabolical Enemy is enough to spur bad behavior of any kind. But, if theater truly brings out the Devil in a man, then Philippe alludes explicitly to "Several men playing devils" (CPV, 3: 114; my emphasis). As far as we know, none of the other devils ever went home to rape their wives or to rape anyone at all. Nor is there any evidence extant to suggest that any Cains ever returned home in costume to kill their brothers, biological or Christian. Nor does Barle-Duc invite us to imagine, for instance, that some other devil from the same play left the theater and bought his wife a new dress, or that another decided, after his performance, to give alms to the poor, or that yet another resolved to stop beating his wife - and did. Given that historians tend to learn about a medieval performance only when something exceptional - often illegal -
29
The Momlite nouvelle d'ung empereur appears in Le Theatre frangais avant la Renaissance, 1450-1550. Mysteres, moralites et farces. Ed. by: EDOUARD FOURNIER, 1872; rpt. New York 1965, p. 361, column 2. FOURNIER'S edition does not include verse numbers.
30
Although details are frequently scant as to what a medieval 'dress rehearsal' would have looked like, see ENDERS (note 2), chap. 5, for evidence from 1384.
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Jody Enders
happens in its wake, given the indeterminacy of the fear of imminence, our questions must be twofold. We must ask not only what it means when stage events coincide (in thought or action) with real ones but what it means when they fail to coincide. Those are the very questions that Bar-le-Duc shrouds in its emphasis on the virtuality of evil rather than of good. In 1485, an imaginary actor allegedly made the move from virtual rapist to actual rapist because something supposedly happened to his character while he was acting. Indeed, from ancient Greece to Stanislavsky, it has been a tenet of theater that actors become positively (or negatively) 'possessed' by their roles. 31 That something happens at the most impenetrable levels of character and consciousness, the veiy entities that theater exists to externalize. It is something that may preempt civilized, lawful, or moral behavior. Something that alters the character that informs the intentions that give rise to action. Once again, S A R T R E noted something of the sort many years later when, intrigued by the legend of Edmund Kean (1787-1833), he noted that the actor is the reverse of the player, who becomes a person like anyone else when he has finished work, whereas the actor 'plays himself' every second of his life. It is both a marvelous gift and a curse; he is his own victim, never knowing who he really is or whether he is acting or not. 32
In Bar-le-Duc, someone else was the victim: someone to whom it ultimately did not matter whether he were acting or not because she was not acting. The real fear of imminence so eerily depicted by Bar-le-Duc says that there are no players, only actors. If there is a literal birthplace of evil in the hearts and in the seed of the Devil's prey, the site is not theater, but an unstable character. It is character, not theater, which exists in a perpetual state of flux. It is character that twists in the wind, susceptible to all manner of catalysts, of which theater is only one. 33 With its monstrous message that theater serves as both a venue and a model for the embodiment of intentions, the baby of Bar-le-Duc cautions one and all that nothing embodies, incarnates, generates, 'inseminates' like theater. 34 It paints a living - and dying - picture of virtual character poised to commit virtual action, an idea once explored exquisitely by S U S A N N E L A N G E R when she theorized the essential but not necessarily fearful imminence of theater:
31 32
See ENDERS (note 2), chap. 3. Combat (5 November 1953), cited in SARTRE (note 15), p. 240.
33
On this point, see RAYMOND TALLIS: Not Saussure. A Critique of Post-Saussurean Literary Theory, Basingstoke 1988, p. 234. This is the subject of the fascinating dissertation by VERONIQUE DOMINGUEZ: Le corps dans les mysteres de la Passion franpais du XV® siecle. Discours theologiques et esthetique theätrale, Doctoral Dissertation, Universite Paris IV Sorbonne 1999.
34
The Devil in the Flesh of Theater
137
Dramatic action is a semblance of action so constructed that a whole, indivisible piece of virtual history is implicit in it, as a yet unrealized form, long before the presentation is completed. This constant illusion of an imminent future, this vivid appearance of a growing situation before anything startling has occurred, is 'form in suspense'. It is a human destiny that unfolds before us. 35
The imagined realities of 1 4 8 5 anticipate L A N G E R ' s "form in suspense" not just as history - or even theater history - in the making but as life itself in the making, decipherable only in retrospect, once imminence becomes past. In the final analysis, if Bar-le-Duc occludes the possibility of theatrical good, it further occludes what lies beneath both the devil's costume and a tale of terror: maybe theater is not dangerous at all but something else, something still more ominous that theater hosts but which it is not: a virtuality that facilitates a transformation in theater but not necessarily by theater. A virtuality that exposes the logical fallacy that is so deeply ingrained in the fear of imminence. The apparent message of Bar-le-Duc is that, but for the theater, a case of marital rape would never have occurred. What is curious, however, is that some of the extant medieval cases of theater's numerous brushes with the law exonerate theater in ways in which contemporary American culture does not. When two men died as a result of special stage effects gone awry in 1380 and 1384, when a woman was raped on the eve of a Passion play in 1395, letters of remission located the true site of guilt at the criminal intentions that precede criminal action and which have nothing to do with theater at all. Quite to the contrary, theater is repeatedly described as the site of good and noble intentions; 36 whereas, in the legendary world of Bar-le-Duc, theater seems guilty beyond a reasonable doubt of the fictional rape of a fictional woman by its instrument, a fictional man, and which produces a fictional monster. The pseudo-logic of Bar-le-Duc is as follows: in 1485, a play provides the opportunity for a rapist-to-be; and, consequently, the opportunity for theater provides imminent rapists with imminent victims. But, to invoke the wellknown modern legal triad of motive, means, and opportunity, the problem here is that the fear of imminence rests on the incorrect association of opportunity with criminal means and motive. Certainly theater does not provide a means for criminal acts: one does not kill someone or rape someone by means of theater. Theater itself is not a weapon - unless, of course, one were to count the notorious tale of the Eumenides of 460 B.C. where children supposedly died and women miscarried for fear of the drama. 37 Nor does theater per se constitute motive. If anything, theater would normally provide the
35 36
SUSANNE Κ. LANGER: Feeling and Form. A Theory of Art developed from Philosophy in a New Key, New York 1953, p. 310. See ENDERS (note 2), chap. 5.
37
See ENDERS (note 2), pp.
75-78.
138
Jody Enders
opposite of criminal motive since, at its core, it is a project of the imitation of actions, not the actions themselves. 38 Nevertheless, theatrical means and motive are by no means the same as theatrical opportunity. Bar-le-Duc suggests that theater is a trigger, an opportunity of sorts to do something to character. And at least that part of the equation is debatable. It is debatable eveiy day on innumerable American court dockets, crowded with wrongful death suits that allege that a piece of art, videotape, music, or theater has prompted a rape, a murder, a suicide. But, except for a few apocryphal or isolated cases - (someone actually is murdered during an evening of murder mystery theater) - it is unclear why theater would be any more opportunistic than any other venue that brings people together for play, sport, dance, or other crowded activities. Indeed, that was one of the determinations made in frequent medieval debates on such matters and which bring us full circle to the question of ethics. No matter how hard the theatrical possession argument is pushed as a way to mitigate individual ethical responsibility, there is ultimately something about theater that renders it more vulnerable to the appearance of virtual impropriety because of the special feature that gives it (not monstrous babies) ethical life: that unique capacity to translate thought into action. Surprisingly, however, even medieval legal philosophy made room for a kind of artistic license for such spaces of translation. A fifteenth-century parliamentary debate in France, for instance, saw David Chambellan going so far as to quote Saint Jerome himself when arguing that the lawyer is a performer, a mediator, a channeler of sorts, whose social function is translatio. Having been indicted for defaming two of his peers, Chambellan insisted that, insofar as any lawyer representing his client was only an interpreter, then he could not be punished for verbal offenses that had not been uttered in his own voice. 39 The special problem for theatrical translation - for transformative performance - is that it calls for ethical and aesthetic judgments not just of words but of actions. 40 Even if translators, philosophers, and saints do not speak in their own voices, what sets theater apart is this: actors always act in their own bodies. Theater's legendary fear of imminence resides in the sine and certain knowledge that there will always be more bodies morally, legally, ethically, and even monstrously involved in more acts as one performance generates, or, as Bar-leDuc warns, inseminates another. 3K
As I argue in ENDERS (note 5), the project needn't be Aristotelian in nature, although I refer here, of course, to Aristotle: Poetics. Ed. and trans, by W[ILLIAM] HAMILTON FYFE. In: Aristotle, Longinus, Demetrius. 1927; rpt. Cambridge 1946 (Loeb Classical Library).
39
Archives nationales X Iil , 4831, fol. 386, 4 March 1490, piece 25. Quoted in ROLAND DELACHENAL: Histoire des avocats au Parlement de Paris (1300-1600), Paris 1885, pp. 425-26. In that status as translator, Saint Jerome held himself immune to accusations of heresy.
40
Legal discourse has a long history of theatricalization, the subject of my Rhetoric and the Origins of Medieval Drama. Ithaca 1992 (Rhetoric and Society 1), pp. 153-55.
CHRISTIAN KIENING
Präsenz - Memoria - Performativität Überlegungen im Blick auf das Innsbrucker Fronleichnamsspiel
This article focuses on the alterity of the medieval religious play by historicizing three categories prominent in contemporary cultural studies: presence, memory and performativity. It argues for an understanding of the performative dimension of religious plays that takes the manuscripts not as poor records deprived of the multisensorial dynamics of actual representations but as rich texts oscillating between the production of presence and the enfolding of signification. The first German Corpus Christi play of 1391 seems a particularly apt example by which to demonstrate the intertwining of material and hermeneutical, symbolizing and de-symbolizing practices characteristic for the religious culture of the later Middle Ages.
I Im Zuge der mediävistischen Historisierung des Textbegriffs sind traditionelle hermeneutische Kategorien wie Intentionalität, Abgeschlossenheit und Autonomie in ihrer analytischen Brauchbarkeit und Angemessenheit fragwürdig geworden. Zugleich sind neue Kategorien ins Zentrum getreten, die dem spezifischen Charakter mittelalterlicher Überlieferung näher zu kommen suchen und überdies Anschlüsse an Diskussionen der neueren Kultur- und Sozialwissenschaften herstellen. 1 Dazu zählen unter anderem Präsenz, Memoria und Performativität. Beobachtet wurden Formen der Kommunikation, bestimmt durch Materialität, Körperlichkeit und Anwesenheit, Dimensionen von Schrift, geprägt durch Sinnlichkeit, Anschaulichkeit und Erscheinungshaftigkeit, Charakteristika epischer Welten, ausgezeichnet durch Glanz, Aura und Gegenwärtigkeit. Beobachtet wurden Formierungen textueller Gemeinschaften durch Bezugnahme auf eine Vergangenheit, die in die Gegenwart hineinwirkt, und Ι
Vgl. zuletzt: CHRISTIAN KIENING: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt a.M. 2003 (Fischer Tb. 15951); Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von JOACHIM BUMKE/URSULA PETERS, Berlin 2005 (ZfdPh 124. Sonderheft); .Textus' im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld. Hrsg. von LUDOLF KUCHENBUCH/UTA KLEINE, Göttingen 2006 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 216); Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. Hrsg. von GERD DICKE/ M A N F R E D E I K E L M A N N / B U R K H A R D HASEBRINK, B e r l i n , N e w Y o r k 2 0 0 6 ( T M P
10).
140
Christian Kiening
durch Wiederholung und Wiedergebrauch von Stoffen und Texten, die sich zwischen Situationsbezug und Situationsabstraktheit bewegen. Beobachtet wurden schließlich auch Dynamiken einer Kultur, die die Fülle des Sinns zwar in einem transzendenten Horizont verankert, gleichzeitig aber die Herstellimg von Sinn an textuelle und visuelle, stimmliche und klangliche, mimische und musikalische Vollzüge und Partizipationen knüpft. Bringt man diese hier nur knapp angedeuteten Aspekte auf Begriffe wie Präsenz, Memoria und Performativität, ist es nötig, diesen ihrerseits historische Trennschärfe zu verleihen: zum Beispiel im Hinblick auf aktuelle Theorien der Präsenz, Modelle von Gedächtnis und Erinnerung oder Ästhetiken des Performativen. 2 Das könnte heißen: Präsenz nicht sosehr als Gegenbegriff zu Repräsentation zu verstehen, sondern im Spannimgsfeld von Transzendenz und Immanenz zu verorten; 3 Memoria nicht sosehr im Rahmen von prekärer Identitätsbildung und multimedialer Archivierung zu sehen, sondern als Basis historisch-überhistorischer Zeitenräume, die Vergangenes im Gegenwärtigen anwesend machen und auf dieses übertragen; 4 Performativität nicht sosehr als Ausprägimg einer mit statischen Modellen von Zeichen und Sprache, Kunst, Werk und Aufführung brechenden Ästhetik zu nehmen, sondern als Grundelement einer auf Vollzug, Prozessualität und Gemeinschaftlichkeit ruhenden kommunikativen Praxis. 5 Die drei Begriffe wären also so zu fassen, dass sie
2
Vgl. ALEIDA ASSMANN: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; MARTIN SEEL: Ästhetik des Erscheinens, München 2000; DIETER MERSCH: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.
2002
(edition
suhrkamp
2210);
E R I K A FISCHER-LICHTE:
Ästhetik des
Performativen,
F r a n k f u r t a . M . 2 0 0 4 ( e d i t i o n s u h r k a m p 2 3 7 3 ) ; H A N S ULRICH GUMBRECHT: D i e s s e i t s d e r H e r -
meneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M. 2004 (edition suhrkamp 2364). 3
Vgl. CHRISTIAN KIENING: Ästhetik des Liebestods. Am Beispiel von Tristan und Henmaere. In: din vi! siiezer seine. Ästhetik im Mittelalter. Hrsg. von MANUEL BRAUN/CHRISTOPHER YOUNG (im Druck). Zur höfischen Präsenzkultur CHRISTINA LECHTERMANN: Berührt werden. Narrative Strategien der Präsenz in der höfischen Literatur um 1200, Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen 191).
4
Vgl. CHRISTIAN KIENING: Zeitenraum und mise en ubyme. Zum ,Kern' der Melusinegeschichte. In: DVjs 79 (2005), S. 3-28. Grundlegend: Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter. Hrsg. von KARL SCHMID/JOACHIM WOLLASCH, München 1984 (Münstersche Mittelalter-Schriften 48); MARY J. CARRUTHERS: The Book of Memory. Α Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge 1990; Memoria als Kultur. Hrsg. von OTTO GERHARD OEXLE, Göttingen 1995 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 121); HORST WENZEL: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995.
5
Noch zu wenig trennscharf scheinen mir die Kategorien bei HANS RUDOLF VELTEN: Performativität. In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. H r s g . v o n CLAUDIA B E N T H I E N / H A N S RUDOLF VELTEN, R e i n b e k b e i H a m b u r g 2 0 0 2 , S. 2 1 7 -
242, und bei der Arbeitsgruppe Wahrnehmung: Wahrnehmung und Performativität. In: Parag r a n a 1 3 / 1 ( 2 0 0 4 ) , S.
15-80.
141
Präsenz - Memoria - Performativität
sowohl die räumlich-materielle wie die zeitlich-soziale wie die semiotisch-prozessuale Dimension mittelalterlicher Textualität beschreibbar machen. Das ist wichtig nicht zuletzt für ein Textcorpus, das in besonderer Weise die Historisierimg der Beschreibungskategorien herausfordert. Geistliche Spiele haben - trotz einer reichen Forschung zu Einzeltexten, Abhängigkeiten und Traditionen - in dem Maße, in dem die methodologischen Implikationen der historischen Perspektive und des Konzepts von Theatralität in den Blick traten, auch irritiert. 6 Geprägt durch stete Arbeit an autoritativen Prätexten und älteren Versionen ist ihr textueller und medialer Status schillernd. 7 In der Überlieferung stehen verschiedene Formate, Anlagen und Funktionen nebeneinander, konkret: Dirigier- und Soufflierrollen, Exzerpt- und Entwurfstexte, Einzelfiguren- und Gesamtregiebücher neben Lese-, Erinnerungs- und Meditationshandschriften. 8 In den Texten und ihren Kontexten treffen Biblisches, Theologisches und Liturgisches, Legendarisches und Erbauliches, Kirchliches und Außer-Kirchliches, Bildliches und Klangliches zusammen. 9 Selbst die Grenzen zwischen Geistlichem und Weltlichem, Kirchenfestlich-Erhabenem und Fastnächtlich-Kamevaleskem sind gelegentlich fließend. 10 Divergente, 6
V g l . H A N S ULRICH GUMBRECHT: F ü r e i n e E r f i n d u n g d e s m i t t e l a l t e r l i c h e n T h e a t e r s a u s
der
Perspektive der frühen Neuzeit. In: Festschrift für Walter Haug und Burghart Wachinger. Hrsg. von JOHANNES JANOTA. Bd. 2, Tübingen 1992, S. 827-848; einen Überblick vermittelt HANSJÜRGEN LINKE: Drama und Theater als Feld interdisziplinärer Forschung. In: Euphorion 79 (1985), S. 43-65; DERS.: Drama und Theater. In: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter, 1250-1370. Zweiter Teil: Reimpaargedichte, Drama, Prosa. Hrsg. von INGEBORG GLIER, München 1987 (Geschichte der deutschen Literatur III/2), S. 153-260. 7
s
Zu den textuellen Verbindungen am Beispiel der im Folgenden im Zentrum stehenden Spiele RUDOLF HÖPFNER: Untersuchungen zu dem Innsbrucker, Berliner und Wiener Osterspiel, Breslau 1913 (Germanistische Abhandlungen 45); BARBARA THORAN: Studien zu den österlichen Spielen des deutschen Mittelalters (Ein Beitrag zur Klärung ihrer Abhängigkeit voneinander), Göppingen 2 1976 (GAG 199). ROLF BERGMANN: Aufführungstext und Lesetext: In: The Theatre in the Middle Ages. Hrsg. v o n HERMAN BRAET u . a . , L e u v e n
1 9 8 5 , S . 3 1 4 - 3 5 1 ; DERS.: K a t a l o g d e r
deutschsprachigen
geistlichen Spiele und Marienklagen des Mittelalters, München 1986 (Veröffentlichungen der Kommission für deutsche Literatur des Mittelalters der Bayerischen Akademie der Wissenschaften); HANSJÜRGEN LINKE: Versuch über deutsche Handschriften mittelalterlicher Spiele. In: Deutsche Handschriften 1100-1400. Oxforder Kolloquium 1985. Hrsg. von VOLKER HoNEMANN/NIGEL F. PALMER, T ü b i n g e n 1 9 8 8 , S. 5 2 7 - 5 8 9 ; ROLF BERGMANN: G e i s t l i c h e
Spiele
des Mittelalters - Katalogerfassung und Neufunde. In: Osterspiele. Texte und Musik. Hrsg. v o n M A X SILLER, I n n s b r u c k 1 9 9 4 ( S c h l e m - S c h r i f t e n 2 9 3 ) , S. 1 3 - 3 2 .
9
Vgl. NIKOLAUS HENKEL: Mediale Wirkungsstrategien des mittelalterlichen „Dramas". Ein Beitrag zur Konstruktion literarischer Intermedialität. In: Medien der Kommunikation im Mittelalter. Hrsg. von KARL-HEINZ SPIESS, Stuttgart 2003, S. 237-263.
10
Vgl. HANSJÜRGEN LINKE: Unstimmige Opposition. „Geistlich" und „weltlich" als Ordnungskategorien der mittelalterlichen Dramatik. In: Leuvense Bijdragen 90 (2001), S. 75-126; UTE VON BLOH: Vor der Hölle. Fastnachtspiel (Keller 56) / Osterspiel / Emmausspiel. In: Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von HANS-JOACHIM ZIEGELER, Tübingen 2004, S. 233-246.
142
Christian Kiening
teilweise konkurrierende Sinndimensionen gehen einher mit einer Zwischenstellung der Texte zwischen Kultisch-Rituellem, in dem sie nicht (mehr) aufgehen, und Spielerisch-Theatralischem, das (noch) keine Selbstständigkeit besitzt. 11 Zwar gibt es Signale, die auf die Differenz zwischen Handliuigs- und Gegenwartswirklichkeit hinweisen, und Freiräume, in denen die Bindung an die heilsgeschichtlichen Grundlagen zurücktritt. Doch bleibt das Moment partizipatorischer Vergegenwärtigung ebenso zentral wie dasjenige einer Vermittlung theologischer Gehalte und frömmigkeitspraktischer Normen - auch wenn diese, zum Beispiel indem sie sich „mythischer' Absolutismen bedienen, kerygmatischen und dogmatischen Eindeutigkeiten entgegenlaufen können. 12 Angesichts solcher Gegebenheiten erweisen sich Vorstellungen neuzeitlicher oder moderner Theatralität als anachronistisch. Wo die Wirklichkeit des Spiels als heilsgeladene und transzendenzdurchlässige begriffen ist, wird man weniger nach den Nuancen der Inszenierung zu fragen haben als nach den Konfigurationen, die eine von Kult und Ritual genährte und doch nicht völlig von diesen bestimmte Geltung ermöglichen. Den das Heilsgeschehen vergegenwärtigenden und zugleich deutenden Institutionen Geltung zu verschaffen ist schon das Anliegen der Liturgie. Sie benutzt Zeitliches und Räumliches, Architekturelemente und Objekte, Körper und Gesten, Bewegungen und Prozessionen, Worte und Gesänge, die aufgrund ihrer strengen Codifizierung und ihres rituellen Charakters sowohl Verbindlichkeit wie Wiederholbarkeit garan-
11
.TAN-DIRK MÜLLER: Kulturwissenschaft historisch. Zum Verhältnis von Ritual und Theater im späten Mittelalter. In: Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik u n d E t h n o g r a p h i e . H r s g . v o n GERHARD NEUMANN/SIGRID WEIGEL, M ü n c h e n 2 0 0 0 , S. 5 3 - 7 7 ;
INGRID KASTEN: Ritual und Emotionalität. Zum Geistlichen Spiel des Mittelalters. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätniittelalters. Hrsg. von MATTHIAS M E Y E R / H A N S - J O C H E N SCHIEWER, T ü b i n g e n 2 0 0 2 , S. 3 3 5 - 3 5 9 ; R i h i a l u n d
Inszenie-
rung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters. Hrsg. von HANS-JOACHIM ZIEGELER, Tübingen 2004; Das Theater des Mittelalters und der frühen Neuzeit als Ort und Medium sozialer u n d
symbolischer
Kommunikation.
Hrsg.
von
CHRISTEL
MEIER/HEINZ
C L A U D I A SPANILY, M ü n s t e r 2 0 0 4 ; C H R I S T O P H P E T E R S E N : R i t u a l u n d T h e a t e r .
MEYER/
Meßallegorese,
Osterfeier und Osterspiel im Mittelalter, Tübingen 2004 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 125). 12
Vgl. RAINER WARNING: Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels, München 1974 (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste 35); Anknüpfungen bei JAN-DIRK MÜLLER: Mimesis und Ritual. Zum geistlichen Spiel des Mittelalters. In: Mimesis und Simulation. Hrsg. von ANDREAS KABLITZ/GERHARD NEUMANN, Freiburg i.Br. 1998, S. 541-571; BRUNO QUAST: Vom Kult zur Kunst. Öffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und früher Neuzeit, Tübingen 2005 (Bibliotheca germanica 48); kritischer WALTER HAUG: Rainer Warning, Friedrich Ohly und die Wiederkehr des Bösen im geistlichen Schauspiel des Mittelalters: In: DERS.: Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003, S. 650-663. Zu den mythischen Absolutismen vgl. CHRISTIAN KIENING: Arbeit am Absolutismus des Mythos. Mittelalterliche Supplemente zur biblischen Heilsgeschichte. In: Präsenz des Mythos im Mittelalter. H r s g . v o n U D O F R I E D R I C H / B R U N O QUAST, B e r l i n , N e w Y o r k 2 0 0 4 ( T M P 2 ) , S. 3 5 - 5 7 .
143
Präsenz - Memoria - Performativität
tieren. 13 Die Verknüpfung sinnstiftender, sinngestaltender, sinnvergewissernder und sinnemeuemder Aspekte der „Kommunikation des Evangeliums" 14 verknüpft zugleich anthropologische und theologische Dimensionen und schlägt dadurch den Bogen zwischen Abstraktheit und Konkretheit, Transzendenz und Immanenz, Vergangenheit und Gegenwart. Geistliche Spiele nehmen diese Dimensionen (in unterschiedlicher Weise) in sich auf, indem sie sich ebenfalls der vergegenwärtigenden Erinnerung eines historisch-überhistorischen Heilsgeschehens widmen. Sie erweitern sie aber auch in räumlicher und zeitlicher Hinsicht, indem sie über die klerikal-sakralen Räume und die liturgisch-festlichen Zeiten hinausgreifen. Das Problem der theologischen Geltung, das damit einhergeht, wird aufgefangen durch das Potenzial der sozialen Geltung, welche dargestellte Heilswirklichkeit und darstellende Gegenwartswirklichkeit verbindet. Zugleich verschiebt sich das Verhältnis nicht-mimetischer und mimetischer Elemente. Spielen die mimetischen in der Liturgie, verglichen mit der Dominanz symbolisch codierter Analogiehandlungen, nur in Szenen wie der Visitatio eine Rolle, treten sie im Spiel in den Vordergrund. Es kommt zu einer Überlagerung verschiedener Formen der Evidenz, wie sie den zum einen weiterhin symbolischen, zum andern vermehrt indexikalischen Zeichen zu eigen ist. Das verbindet die Spiele mit anderen Dialogisierungen und Dramatisierungen von Heilsgeschehen und Heilswissen, die sich in der (lauten oder leisen) Lektüre oder der (meditativen oder reflexiven) Betrachtung vollziehen. 15 Jeweils
13
Zum dramatischen Charakter liturgischen Geschehens OSBORNE Β. HARDISON, JR.: Christian Rite and Christian Drama in the Middle Ages. Essays in the Origin and Early History of Modern Drama, Baltimore 1965; JAN-DIRK MÜLLER: Realpräsenz und Repräsentation. Theatrale Frömmigkeit und Geistliches Spiel. In: Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von HANS-JOACHIM ZIEGELER, Tübingen 2004, S. 113-133.
14 15
KARL-HEINRICH BIERITZ: Liturgik, Berlin, New York 2004, S. 9. Vgl. JAMES H. MARROW: Passion Iconography in Northern European Art of the Late Middle Ages and Early Renaissance. A Study of the Transformation of Sacred Metaphor into Descriptive, Kontrijk 1979; FRITZ O. SCHUPPISSER: Schauen mit den Augen des Herzens. Zur Methodik der spätmittelalterlichen Passionsmeditation, besonders in der Devotio moderna und bei den Augustinern. In: Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters. Hrsg. v o n WALTER HAUG/BURGHART WACHINGER, T ü b i n g e n 1 9 9 3 ( F o r t u n a v i t r e a 1 2 ) , S.
169-210;
SARAH BECKWITH: Christ's Body. Identity, Culture and Society in Late Medieval Writings, London, New York 1993; HENK VAN OS u.a.: The Art of Devotion in the Middle Ages in Europe 1300-1500. Ausstellungskatalog Rijksmuseum Amsterdam, London 1994; JEFFREY F. HAMBURGER: Nuns as Artists. The Visual Culture of a Medieval Convent. Berkeley, Los Angeles, London 1997; DERS.: The Visual and the Visionary. Art and Female Spirituality in Late Medieval Germany, New York 1998; THOMAS LENTES: Andacht und Gebärde. Das religiöse Ausdrucksverhalten zwischen 1300 und 1600. In: Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch
(1400-1600).
Hrsg.
von
BERNHARD
JUSSEN/CRAIG
KOSLOFSKY,
Göttingen
1998
(Veröffentlichungen des Max-Planck-Institutes für Geschichte 145), S. 29-67; DERS.: Auf der Suche nach dem Ort des Gedächtnisses. In: Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der frühen Neuzeit. Hrsg. von KLAUS KRÜGER/ALESSANDRO
144
Christian Kiening
bedeutet Memoria hier imaginative Ausgestaltung des kanonischen Materials und prospektive Verlängerimg des Blicks in die Zukunft hinein, in der sich die individuelle wie kollektive Heilsgeschichte erfüllt. Jeweils geht es um verinnerlichende Verkörperungen und verkörperlichende Verinnerlichiuigen mittels Gestalthaftem, Szenischem, Anschaulichem, das Heil repräsentierbar und übertragbar macht. So wie figura sowohl Zeichenhaftes wie Wirkliches benennen kann, 16 so umgreift auch repraesentatio Modalitäten sowohl des Darstellens wie des Gegenwärtigmachens. 17 Zumindest grundsätzlich herrscht also auch in den Spielen, wie in religiösen Bildern und Texten, der Anspruch, im Vollzug der Lektüre oder der Wahrnehmung Heil zum Erscheinen zu bringen und in der Reflexion eine Steigerung von Nähe und Unmittelbarkeit zu ermöglichen. Andererseits unterscheiden sich die Spiele aber von den Bildern und Texten genau dadurch, dass sie Modelle eines perfonnativen Handelns bieten, in denen die figürliche Verkörperung Als-ob-Status hat, und dass sie Modelle eines Handelns bieten, an dem eine größere Gemeinschaft von Agierenden und Rezipierenden beteiligt ist. Benutzt werden die (ihrerseits noch keineswegs ausdifferenzierten) Prinzipien der anderen Medien: die Sukzessivität der textuellen narratio und die Simultanität der visuellen institution um einem in NOVA, Mainz 2000, S. 1-35; DERS.: Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau. Ein Diskussionsbeitrag zur visuellen Praxis in Frömmigkeit und Moraldidaxe des späten Mittelalters. In: Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis und körperliche A u s d r u c k s f o r m e n . H r s g . v o n KLAUS SCHREINER, M ü n c h e n 2 0 0 2 , S. 1 7 9 - 2 1 9 ; S p i e g e l d e r S e -
ligkeit. Privates Bild und Frömmigkeit im Spätmittelalter. Hrsg. von G. ULRICH GROSSMANN. A u s s t e l l u n g s k o n z e p t u n d K a t a l o g FRANK MATTHIAS KAMMEL, N ü r n b e r g 2 0 0 0 ( A u s s t e l l u n g s -
kataloge des Germanischen Nationalmuseums). 16
Vgl. GEORGES DIDI-HUBERMAN: Fra Angelico. Unähnlichkeit und Figuration, München 1995, S. 30, 44 f. u.Ö.; CHRISTIAN KIENING: Das andere Selbst. Figuren des Todes an der Schwelle z u r N e u z e i t , M ü n c h e n 2 0 0 3 ; speziell z u m g e i s t l i c h e n Spiel WOLFGANG FRIEDRICH MICHAEL:
Die Bedeutung des Wortes Figur im geistlichen Drama Deutschlands. In: Germanic Review 21 (1946), S. 3-8. 17
Zum repraesentatio-Begriff HASSO HOFFMANN: Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 1974 (Schriften zur Verfassungsgeschichte 22); Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen. Hrsg. von HEDDA RAGOTZKY/HORST WENZEL, T ü b i n g e n
1990; URSULA SCHULZE: F o r m e n d e r
Reprae-
sentatio im Geistlichen Spiel. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von WALTER HAUG, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 312-356. Im deutschsprachigen Raum begegnet gegenüber dem häufigen hidus der Begriff repraesentatio nur einmal als Bezeichnung eines geistlichen Spiels; vgl. ERWIN WOLFF: Die Terminologie des mittelalterlichen Dramas in bedeutungsgeschichtlicher Sicht. In: Anglia 78 (1960), S. 12 7 ; ROLF BERGMANN/STEFANIE STRICKER: Z u r T e r m i n o l o g i e u n d W o r t g e s c h i c h t e d e s G e i s t l i -
chen Spiels. In: Mittelalterliches Schauspiel (Festschrift Hansjürgen Linke), Amsterdam 1994 ( A m s t e r d a m e r B e i t r ä g e z u r ä l t e r e n G e r m a n i s t i k 3 8 / 3 9 ) , S. 4 9 - 7 7 ; MATTHIAS SCHULZ: D i e E i -
genbezeichnungen des mittelalterlichen deutschsprachigen geistlichen Spiels, Heidelberg 1998 (Germanistische Bibliothek 2). is
Vgl. HANNS PETER NEUHEUSER: Zugänge zur Sakralkunst. Narratio und institutio des mittelalterlichen Christgeburtsbildes, Köln, Weimar, Wien 2001.
Präsenz - Memoria - Performativität
145
Text und Bild autoritativ fixierten religiösen Gehalt kommemorative Präsenz und sinnliche Evidenz zu verschaffen. Diese Präsenz und diese Evidenz liegen nicht erst in der mimetischen Umsetzung. Sie wohnen bereits der nichtmimetischen Schrift inne, deren Möglichkeiten diejenigen, die die Spiele aufzeichnen, ausloten. Von diesen Möglichkeiten zeugen auch die zahlreichen Regiebemerkungen und Rollenkennzeichnungen, Notenaufzeichnungen und Aufführungsnotizen. Sie machen zwar nicht die Umsetzung von Spieltext in Spielhandlung rekonstruierbar, lassen aber die Bedingungen erkennen, unter denen Texte wie diese funktionieren. 19 Texte wie diese heißt: Spieltexte ebenso wie Spielbeschreibungen. Auch die letzteren sind ja nicht einfach Dokumente. Sie sind Monumente und Instrumente. Sie setzen spezifische Akzente - etwa im Sinne einer Kritik an populär-profanen Praktiken oder einer Kontrastierimg von kontingentem Spiel und providentiellem Plan. Ich nenne nur zwei Beispiele. Zum einen die vielzitierten Berichte über das 1321 in Eisenach gespielte Zehnjungfrauenspiel und die daraus erwachsene Erschütterung Friedrichs des Freidigen. 20 Sie sind Exempel nicht nur für die Wirksamkeit des geistlichen Spiels, sondern auch für den Zweifel an der göttlichen Ordnung und das unrühmliche Ende eines Geschlechts (der Staufer). Zum andern die Geschichte des im Umfeld einer Aufführung wiedererweckten Jungen, überliefert in einer zwischen 1211 und 1219 entstandenen Sammlung von post mortem geschehenen Mirakeln, bezogen auf den Heiligen des frühen 8. Jahrhunderts John von Beverley (Joannes Beverlacensis). Sie demonstriert die Macht der göttlichen Gnade und ihre Übertragung auf das mit Johannes verknüpfte Gotteshaus: 21 Bei einer im Sommer auf dem Friedhof an der Nordseite der Kirche gespielten reprcesentatio Dominica Resurrectionis seien einige Jungen an den Bögen der Kirche hochgeklettert,
19
BERND NEUMANN: Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet. 2 Bde., München 1987 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 84/85). Zu den städtischen Kontexten der großen Spiele KLAUS WOLF: Kommentar zur ,Frankfurter Dirigierrolle' und zum .Frankfurter Passionsspiel', Tübingen 2002 (Die Hessische Passionsspielgruppe. Edition im Paralleldruck. Ergänzungsbd. 1); DOROTHEA FREISE: Geistliche Spiele in der Stadt des ausgehenden Mittelalters. Frankfurt — Friedberg - Alsfeld, Göttingen 2002 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 178); Rez. durch JOHANNES JANOTA. In: ZfdA 134
20
NEUMANN ( A n m . 1 9 ) , B d .
( 2 0 0 5 ) , S. 2 4 4 - 2 6 1 . 1, S. 3 0 6 - 3 0 8 , N r . 1 4 8 1 - 8 3 : z u d e n T e x t e n : HANSJÜRGEN LINKE:
.Thüringische Zehnjungfrauenspiele'. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserl e x i k o n . Z w e i t e , v ö l l i g n e u b e a r b e i t e t e A u f l . , B d . 9 ( 1 9 9 5 ) , S p . 9 1 5 - 9 1 8 ; RENATE AMSTUTZ:
Ludus de decern virginibus. Recovery of the Sung Liturgical Core of the Thuringian Zehnjungfrauenspiel, Toronto 2002 (Studies and Texts 140). 21
Text: Acta Santorum: Mai II, Antwerpen 1680, Sp. 189 B/C; dazu SUSAN E. WILSON: The Cult of St John of Beverly, Diss. Southampton 2001; DIES.: Resurrection: Representation v. Reality In a Miracle of St John of Beverly. In: Medieval Forum (unter: http://www.sfsu.edu/ -medieval/Volume %201 /Wilson, html).
146
Christian Kiening
um durch die Turm- oder die Glasfenster einen besseren Blick auf das von einer großen Menge umgebene Spektakel zu haben. Von Wächtern verfolgt, sei einer der Jimgen bis zu einem großen Kreuz, über dem Altar des Hl. Martin angebracht, gelangt und aufgrund eines sich lösenden Quadratsteins abgestürzt. Gott habe, um keinen Schaden über die Kirche und ihren Stifter kommen zu lassen, dem scheinbar Toten Leben und Unversehrtheit wiedergeschenkt - eine Parallele zu der im Spiel vergegenwärtigten resurrectio Christi. Sie wird unterstrichen dadurch, dass der Autor Fall und Auferstehung mit dem Verhältnis von menschlicher und göttlicher Natur in Verbindimg bringt: Unde cujus Passionis secundum humanitatem Signum fuit nana, ejus etiam Resurrectionis secundum Divini tat em exstitit erectio miraculosa („so wie daher der Fall ein Zeichen seiner Passion in Bezug auf die menschliche Natur war, so war die wunderbare Erhebung eines der Auferstehimg in Bezug auf die göttliche"). Das Spiel, aufgeführt traditionsgemäß, wie es heißt, sowohl mit Worten wie mit Gesten in Kostümen oder Masken (larvatorum (ut assolet) & verbis & actu), behandelt zwar ein zentrales geistliches Thema. Es erfolgt aber ohne feste liturgische Anbindimg und mit keiner klar erbaulichen Wirkung: manche derer, die nicht genug sehen konnten, hätten sich lieber in die Kirche begeben, um zu beten, die Malereien zu betrachten oder Ruhe zu suchen (ut vel orarent, vel picturas inspicient, vel per aliquod genus recreationis & solatii pro hoc die tcedium evitarent). Das Spiel steht also in medialer Konkurrenz zu anderen Formen der Heilsvergewisserung und dient im Kontext des Mirakels vor allem dazu, die Differenz zu markieren zu dem, was das eigentliche Ereignis ausmacht: die Auferstehung, die nicht nur spielerische Nachahmimg des elementar christlichen Geschehens ist, sondern dessen mirakulöse Wiederholung. Auch hier erhält man also einen Einblick weniger in die performativen Realitäten mittelalterlicher Spiele als in die textuellen Praktiken heilsbezogener Sinnstiftimg. Im Aufgreifen verschiedener Medien des Heils (Kirchenraum, Bilder, Spiel, Text) wird ein Moment der klerikalen Kritik an der Verselbstständigung mimischer Vergegenwärtigung so eingesetzt, dass sich das Heilsdrama auf den Text des Mirakels übertragen kann. 2 2
22
Zwei Dekrete Papst Innozenz' III. hatten 1207 und 1210, kurz vor dem Entstehen der Mirakelsammlung, die Gewohnheit, ludi theatrales und spectacula in monstra lanwum aufzufuhren, untersagt; NEUMANN (Anm. 19), Bd. 2, S. 869; generell zur kirchlichen Position WERNER WEISMANN: Kirche und Schauspiele. Die Schauspiele im Urteil der lateinischen Kirchenväter unter besonderer Berücksichtigung von Augustin, Würzburg 1972 (Cassiciacum 27); CHRISTINE SCHNUSENBERG: Das Verhältnis von Kirche und Theater. Dargestellt an ausgewählten Schriften der Kirchenväter und liturgischen Texten bis auf Amalarius von Metz (a.d. 775852), Bern u.a. 1981 (EHS XXIII, 141); THEOFRIED BAUMEISTER: Das Theater in der Sicht der Alten Kirche. In: Theaterwesen und dramatische Literatur. Beiträge zur Geschichte des Theaters. Hrsg. von GÜNTER HOLTUS, Tübingen 1987 (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 1), S. 109-124.
147
Präsenz - Memoria - Performativität
Die Kategorie der Aufführung muss zum Problem werden, wenn man die Überlieferimg primär als unzureichende Aufzeichnung umfassender, aber verlorener Sinnzusammenhänge begreift, die „der heutige Interpret [...], soweit es nur irgend möglich ist, aus ihr herauszulesen versucht". 23 Sie kann zur Chance werden, wenn die historische Rekonstruktion den Blick auf die Faktizität und Materialität der Überlieferung nicht preisgibt. Dann eröffnet sich in dem, was sich theatergeschichtlich verschließt, schrift- und textgeschichtlich ein Feld, auf dem Bedingungen der Möglichkeit von textueller Performativität verfolgt werden können. Eine solche textuelle Performativität wäre nicht identisch mit der rein sprachlich-semiotischen Dimension von Performativa im Sinne der älteren Sprechakttheorie. Sie wäre aber auch nicht identisch mit der konkreten (mimischen oder korporalisierenden) Performanz der jüngeren Kultur- und Theaterwissenschaften. 24 Sie beträfe eher die prinzipielle Ereignishaftigkeit eines Vollzugs, der dem Text eingeschrieben ist: in seinen sprachlichen, dialogischen und szenischen Dynamiken, seinen präsentativen, evokativen und signifikativen Dimensionen, seinen syntagmatischen und paradigmatischen Spannungen. 25 Die Aufzeichnimg wäre eine ,Partitur' 26 nicht in dem Sinne, dass sie in der Rezeption konkretisiert wird, sondern in dem Sinne, dass sie wie die Transzendenz ihres Sinnes auch die Transzendierung ihrer Medialität herauszustellen vermag. 27 Das aber hieße, weniger von einer Dichotomie von 23
LINKE ( A n m . 8), S. 5 2 7 . U m die , A u f f ü h r u n g s w i r k l i c h k e i t ' g e h t e s a u c h KLAUS WOLF: F ü r
eine neue Form der Kommentierung geistlicher Spiele. Die Frankfurter Spiele als Beispiel der Rekonstruktion von Auffiihrungswirklichkeit. In: Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von HANS-JOACHIM ZIEGELER, T ü b i n g e n 2 0 0 4 , S.
24
273-312.
Z u m Verhältnis zwischen beiden vgl. den Band: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Hrsg. von UWE WIRTH, Frankfurt a . M . 2002 (suhrkamp taschenbuch W i s s e n s c h a f t 1575): z u r A b h ä n g i g k e i t d e r P e r f o r m a n z v o n S c h r i f t JAN-DIRK MÜLLER: R i t u a l ,
pararituelle Handlungen, Geistliches Spiel. Zum Verhältnis von Schrift und Performanz. In: Audiovisualität vor u n d nach Gutenberg. Zur Kulturgeschichte der medialen Umbrüche. Hrsg. von
HORST
WENZEL/WILFRIED
SEIPEL/GOTTHART
WUNBERG,
Wien
2001
(Schriften
des
Kunsthistorischen M u s e u m s 6), S. 63-71. Ein neues mediales Modell von Performativität wird sichtbar bei SYBILLE KRÄMER (Hg.): Performativität und Medialität. München 2004. 25
Vgl. PETER STROHSCHNEIDER: Aufführungssituation: Zur Kritik eines Zentralbegriffs k o m m u nikationsanalytischer Minnesangforschung. In: Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik. Vorträge des Augsburger Germanistentages 1991. Bd. 3: Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis. Hrsg. von JOHANNES JANOTA, Tübingen 1993, S. 56-71.
26
Der Begriff wird am Beispiel der mittelalterlichen Liedüberlieferung erprobt von HEDWIG MEIER/GERHARD LAUER: Partitur und Spiel. Die Stimme der Schrift im .Codex Buranus'. In: . A u f f ü h r u n g ' und ,Schrift' in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER, Stuttgart, Weimar 1996 (Germanistische Symposien. Berichtsbd. 17), S. 31-47, sowie von MARTIN HUBER: Fingierte Performanz. Überlegungen zur Codifizierung spätmittelalterlicher Liedkunst, im gleichen Band S. 93-106.
27
Vgl. KRÄMER, Performativität (Anm. 24), Einleitung, S. 21: „Vielmehr erfasst p e r f o r m a t i v i tät' eine Dimension aller kulturellen Praktiken im Spannungsverhältnis zwischen einem Ereignis und seiner Wahrnehmung; und zwar soweit dieses Verhältnis so beschrieben werden kann,
148
Christian Kiening
.Aufführungstexten' und ,Lesetexten' 28 auszugehen denn von der Frage, welche Praktiken der Verinnerlichung wie der Veräußerlichung generell zu beobachten seien. Jede Zuweisung von Gebrauchsformen hängt ja bereits an den Modellen, in denen die Funktion der Texte und der Auffuhrungen gedacht wird. II Das zeigt sich exemplarisch an den Schwierigkeiten, eine so zentrale und relativ frühe Handschrift wie den 1391 im Thüringischen entstandenen, dann ins Augustiner-Chorherrenstift Neustift gelangten und heute in Innsbruck aufbewahrten Cod. 960 einzustufen. 29 Der Codex vereint, von gleicher Hand geschrieben, einen liidiis de assnmptione beate Marie virginis, einen Indus de resnrrectione domini und einen liidns de corpore Christi. Doch er ist weder eindeutig auf Inszenierung noch auf Lektüre bezogen:
28
dass das, was ein Akteur hervorbringt, von Betrachtern auf eine Weise rezipiert wird, welche die Synibolizität und Ausdruckseigenschaften dieses Vollzugs gerade überschreitet." Zur Diskussion über Aufführungstext und Lesetext WERNER WILLIAMS-KRAPP: Überlieferung und Gattung. Zur Gattung ,Spiel' im Mittelalter. Mit einer Edition von .Sündenfall und Erlösung' aus der Berliner Handschrift mgq 496, Tübingen 1980 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 28); BERGMANN, Rez. Williams, in: AfdA 93 (1982), S. 164-166; DERS. (Anm.
8); LINKE ( A n m .
8); CHRISTOPH GERHARDT: Z u r
Spieltradition von
.Sündenfall
und
Erlösung'. Mit textkritischen und kommentierenden Bemerkungen zum Text. In: Sancta Treveris. Beiträge zu Kirchenbau und Bildender Kunst im alten Erzbistum Trier. Festschrift für Franz .T. Ronig zum 70. Geburtstag. Hrsg. von MICHAEL EMBACH u.a., Trier 1999, S. 173208; DERS.: Von der biblischen Kleinerzählung zum geistlichen Spiel. Zur Neubestimmung der Gattung von Von Luzifers und Adams Fall und zu seiner Stellung in der Spieltradition. In: Euphorion 93 (1999), S. 349-397. Zu Übergängen auch ELISABETH MEYER: Zur Überlieferungsfunktion des Heidelberger Passionsspiels: Von einer Spielvorlage zur erbaulichen Lektüre? In: Leuvense Bijdragen 90 (2001), S. 145-159. 29
Altteütsche Schauspiele. Hrsg. von FRANZ JOSEPH MONE, Quedlinburg und Leipzig 1841 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 21): Innsbrucker Spiel von Mariae Himmelfahrt (abgekürzt IHM), Innsbrucker Osterspiel (abgekürzt IO), Innsbrucker Fronleichnamsspiel (abgekürzt IF). MONES Lesungen wurden im Folgenden gelegentlich korrigiert an: Die Neustifter-Innsbrucker Spielhandschrift von 1391 (Cod. 960 der Universitätsbibliothek Innsbruck). In Abbildung hrsg. von EUGEN THURNHER/WALTER NEUHAUSER, Göppingen 1975 (Litterae 40). Zur Handschrift HANS MOSER: Die Innsbrucker Spielhandschrift in der geistlichen Spieltradition Tirols. In: Tiroler Volksschauspiel. Beiträge zur Theatergeschichte des Alpenraumes. Hrsg. von EGON KÜHEBACHER, Bozen 1976 (Schriftenreihe des Südtiroler-Kulturinstituts 3), S. 178-189; BARBARA THORAN: Das Osterspiel der Innsbrucker Handschrift Cod. 960 - ein Neustifter Osterspiel, im gleichen Band S. 360-379; BERGMANN, Katalog (Anm. 8), S. 160-163 (Nr. 67); BARBARA THORAN: Fragen zu Herkunft und Nachwirkung des Innsbrucker Thüringischen Osterspiels. In: Osterspiele. Texte und Musik. Hrsg. von MAX SILLER, Innsbruck
1994
(Schlern-Schriften
Zur Lokalisierung der Innsbrucker
293),
S.
187-202;
(thüringischen)
JENS HAUSTEIN/WINFRIED
Spielhandschrift.
NEUMANN:
In: Magister et amicus
( F e s t s c h r i f t K u r t G ä r t n e r ) . H r s g . v o n VACLAV BOK/FRANK SHAW, W i e n 2 0 0 3 , S. 3 8 5 - 3 9 4 .
149
Präsenz - Memoria - Performativität
Das schmale Hochformat (28 χ 11 cm), die durch Farbe und Schrift hervorgehobenen Regieanweisungen und die Wiedergabe der vollständigen Rollentexte (ohne Noten) sind zwar eindeutige Merkmale fur ein Regiebuch, aber es fehlen jegliche Hinweise für eine Auffuhrung des Spiels auf der Grundlage dieses Regiebuchs. Von einer Auffuhrungshandschrift kann man also nur insofern sprechen, als ihr das Regiebuch einer früheren Aufführung zugrunde liegt und der Text die Grundlage fur eine künftige Inszenierung des Spiels bilden konnte. Es handelt sich also um eine Spieltextarchivierung in Form eines Regiebuchs. Dafür spricht auch, daß dem Osterspiel das Innsbrucker Spiel von Mciriae Himmelfahrt vorausgeht und dem Osterspiel das Innsbrucker Fronleichnamspiel folgt. 30
So treffend JANOTA die Gegebenheiten beschreibt - man sollte den Begriff der Archivierung wohl nicht so verstehen, als sei mit ihm ein System von Diskursivität und Regularität, eine universale Ordnung und Verfügbarkeit des Wissens schon vorausgesetzt. 31 Es gibt Anzeichen dafür, dass das Wissen der vormodernen Gesellschaft ein nicht sosehr zu möglicher späterer Nutzung zu archivierendes und zu sicherndes wäre als vielmehr eines, das, eine vorgängige Weltordnung reproduzierend, immer sowohl auf den Gebrauch wie das Gegenwärtige gerichtet ist. Auch die Spiele in einer Handschrift wie der Innsbrucker böten dann nicht die Stillstellung der Aufführungen, die ihrer Niederschrift vorangehen und nachfolgen, nicht das Sediment dessen, was sich ereignet hat und wieder ereignen kann. Sie böten etwas, was der Unterscheidimg von Text und Aufführung ebenso vorausläge wie der von Nachvollziehen und Spielen. 32 Sie wären selbst in ihrer materiellen Realisierung nicht zu trennen von der imaginativen Dimension, in der sie sich ,abspielen'. Dies wiederum, so meine These, ließe sich gerade mit Hilfe der Kategorien der Präsenz, der Memoria und der Performativität erkennen, weil sie je eigene Aspekte der Alterität des geistlichen Spiels in den Blick zu nehmen erlauben: nämlich die Eigentümlichkeit einer Präsenz, die zwischen dem Unsichtbaren und dem Sichtbaren oszilliert; die Spezifik einer Memoria, die im Rückgriff auf die Vergangenheit zugleich den Ausgriff auf die Zukunft und die Verwandlung des Zeitlichen ins Überzeitliche perspektiviert; das Besondere einer Performativität, die sich als innere Dynamik heilsgeschehentlicher Entfaltung vollzieht. Und dies wiederum ließe sich vielleicht am deutlichsten an einer Form erkennen, die nicht wie im Falle des Osterspiels an die traditionellen 30
JOHANNES JANOTA: O r i e n t i e r u n g d u r c h v o l k s s p r a c h i g e S c h r i f t l i c h k e i t ( 1 2 8 0 / 9 0 - 1 3 8 0 / 9 0 ) ,
Tü-
bingen 2004 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfangen bis zum Beginn der Neuz e i t 111/1), S. 3 5 9 .
31
Zum Archiv zuletzt THOMAS DEGENER: Speicher der kulturellen Erinnerung oder Motor des kulturellen Wandels? Überlegungen zum Stellenwert des Archivs im kulturwissenschaftlichen D i s k u r s . I n : S i c h t u n g e n 3 ( 2 0 0 0 ) , S. 7 3 - 8 9 ; GISELA FEBEL: M i c h e l F o u c a u l t s B e g r i f f d e s A r -
chivs und das Modell des historischen Romans. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie Η . 1 ( 2 0 0 0 ) , S. 6 3 - 8 1 ; W O L F G A N G E R N S T : D a s R u m o r e n d e r A r c h i v e . O r d n u n g a u s
Unord-
nung, Berlin 2002; MORITZ BASSLER: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen 2005. 32
Vgl. .Aufführung' und ,Schrift' (Anm. 26).
150
Christian Kiening
Abläufe der Liturgie und nicht wie im Falle des Passionsspiels an die kanonischen Berichte der Evangelien anschließt, eine Form, die nicht den mimetischen Nachvollzug ins Zentrum stellt, sondern eigene Vollzüge und Steigerimgseffekte kreiert: so im Falle der Fronleichnamsfestes und des Fronleichnamsspiels, als dessen erster deutschsprachiger Vertreter das dritte der Innsbrucker Spiele begegnet. 33 Beide, Fest wie Spiel, stehen im Kontext einer Entwicklung, die im 11. und 12. Jahrhundert entscheidende Impulse bekommt und im 13. Institutionalisierungen zeitigt. Intensiviert sich einerseits im Gefolge des zweiten Abendmahlsstreits und der Auseinandersetzung mit Berengar von Tours die theoretische Diskussion des Messopfers und der Wandlung, so verbreitet sich andererseits die praktische Verehrung von Hostie und Eucharistie. 34 Ohne die subtilen Nuancierungen im Einzelnen aufzurollen, kann man feststellen: Vor dem Horizont der Frage nach Natur und Bedeutung, Text und Exegese, Logik und Hermeneutik 35 entwickelt sich die Vorstellung einer substanzialen Gegenwart des Leibes Christi im Abendmahl, die sich weder in einem materiell-realistischen noch einem spirituell-symbolistischen Verständnis erschöpft. Vielmehr wird der kommemorative Charakter des Eucharistiegeschehens als ein Ineinander von „recollection and re-enactment" 36 aufgefasst, bei dem das Sichtbare und das Unsichtbare, das Sinnliche und das Übersinnliche, das Konkrete und das Übertragene zwar kategorial zu trennen sind, im Mysterium aber verschmelzen. Dieses zugleich christologische und ontologische Mysterium wird als Sakrament, bezogen auf das corpus mysticum der Kirche, und als Transsubstantiation institutionalisiert. 37 Zwar blieb der Begriff der transsubstantiatio noch 33
Zum Kontrast zwischen (späteren) Fronleichnamsspielen und Passionsspielen im Hinblick auf
34
KARL ADAM: Die Eucharistielehre des hl. Augustinus, Paderborn 1908; HANS JORISSEN: Die
die Darstellung des gemarterten Körpers WARNING (Anm. 12 ), S. 220-224. Entfaltung der Transsubstantiationslehre bis zum Beginn der Hochscholastik, Münster 1965 (Münsterische Beiträge zur Theologie 28/1); KENNETH PLOTNIK: Hervaeus Natalis OP and the Controversies over the Real Presence and Transsubstantiation, München u . a . 1970 (Veröffentlichungen des Grabmann-Instituts Ν. F. 10); JEAN DE MONTCLOS; Lanfranc et Berengar. La controverse eucharistique du XI e siecle, Louvain 1971; zusammenfassend: LUDWIG HÖDL: .Abendmahl, Abendmahlsstreit'. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, München 1980, Sp. 2227; seitdem GARY MACY: The Theologies of the Eucharist in the Early Scholastic Period. A Study of the Salvific Function of the Sacrament According to the Theologians c. 1080-1220, Oxford 1984; MIRI RUBIN: Corpus Christi. The Eucharist in Late Medieval Culture, Cambridge 1991; GARY MACY: Treasures from the Storeroom. Medieval Religion and the Eucharist, Collegeville/Minnesota 1999; STEPHAN WINTER: Eucharistische Gegenwart. Liturgische Redehandlungen im Spiegel mittelalterlicher und analytischer Sprachtheorie, Regensburg 2002 (Ratio fidei 13). 35
Vgl. BRIAN STOCK: The Implications of Literacy. Written Language and Models of Interpretation in the Eleventh and Twelfth Century, Princeton, N e w Jersey 1983, S. 252-315.
36
Hier S. 315.
37
4. Laterankonzil, Canon 1 (HEINRICH DENZINGER/PETER HONERMANN: Enchiridion Symbolorum. Nr. 800): Una vera est fidelium universalis
Ecclesia,
extra quam nullus onmmo
salvatur.
Präsenz - Memoria - Performativität
151
lange unscharf und von einer Dogmatisierung, die die moderne Forschung gerne annahm, weit entfernt, doch kam es zweifellos zu einer Verfestigung, die allen fortdauernden theoretischen Kontroversen zum Trotz den Hintergrund bildet für die pragmatische Ausgestaltung von Messe und Kult sowie die ekstatische Vergegenständlichung in Mystik und Spiritualität. 38 Die eine wie die andere setzen auf den doppelten Charakter einer Präsenz, die sowohl Anwesenheit (räumlich) wie Gegenwärtigkeit (zeitlich) verheißt und in gleichem Maße, in dem sie die äußeren Sinne anspricht, auch die inneren zur Verfeinerung bringen muss. Die Wirksamkeit dieser Dialektik von Verkörperlichung und Verinnerlichung ist, blickt man auf die Entwicklung der Frömmigkeit in den folgenden Jahrhunderten, kaum zu überschätzen. In direktem Austausch stehen Formen der Meditation, die der Hinführimg auf eine eindringliche Erfahrimg des Übersinnlichen dienen, und solche der Vision, die diese in imaginativer Nähe präsent machen. Ebenso verbindet sich die Darlegung der dogmatischen, logischen und liturgischen Dimensionen des Eucharistiesakraments mit einer Materialisierung des ihm Zugrundeliegenden: des Körpers des Gottessohnes, der in Eucharistiemirakeln oder Hostienvisionen gegenständlich wird und damit zugleich die Memoria des Urbildes mit dessen Energie auflädt. 39 Auch im geistlichen Spiel finden sich Momente der Zeugenschaft (die Mittelbarkeit implizieren) Seite an Seite mit Momenten der Erscheinung (die dem Abwesen-
in qua idem ipse sacerdos est sacrifichtm lesus Christus, citiits corpus et sanguis in Sacramento altaris sub speciebus panis et villi veraciter continentur, transsubstantiatis pane in corpus, et vino in sangninem potestate divina: lit ad perficiendum mysterium unitatis accipiamus ipsi de suo, quod accepit ipse de nostra. Vgl. HENRI DE LUBAC: Corpus Mysticum. Eucharistie und Kirche im Mittelalter. Eine historische Studie, Einsiedeln 1969. 38
Vgl. MACY (Anm. 34), S. 81-120: „The ,Dogma of Transsubstantiation' in the Middle Ages"; begriffsgeschichtlich MATTHIAS LAARMANN: Transsubstantiation. Begriffsgeschichtliche Materialien und bibliographische Notizen. In: Archiv für Begriffsgeschichte 41 (1999), S. 119-150. Zur Eucharistieverehrung PETER BROWE: Die Verehrung der Eucharistie im Mittelalter, München 1932; CAROLINE WALKER BYNUM: Holy Feast and Holy Fast. The Religious Significance of Food to Medieval Women, Berkeley, Los Angeles, London 1987; G[ODEFRIDUS] J. C. SNOEK: Medieval Piety from Relics to the Eucharist. A Process of Mutual Interaction, Leiden 1995; BARDO WEISS: Ekstase und Liebe. Die Unio mystica bei den deutschen Mystikerinnen des 12. und 13. Jahrhunderts, Paderborn u.a. 2000; HEIKE SCHLIE: Bilder des Corpus Christi. Sakramentaler Realismus von Jan van Eyck bis Hieronymus Bosch, Berlin 2002; ESTHER WIPFLER: ,Corpus Christi' in Liturgie und Kunst der Zisterzienser im Mittelalter, Münster 2003; ANTJE WILLING: Literatur und Ordensreform im 15. Jahrhundert. Deutsche Abendmahlsschriften im Nürnberger Katharinenkloster, Münster 2004 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 4).
39
PETER BROWE: Die eucharistischen Wunder des Mittelalters, Breslau 1938 (Breslauer Studien zur historischen Theologie N. S. 4); die verstreuten Aufsätze zum Thema sind jetzt gesammelt in: DERS.: Die Eucharistie im Mittelalter. Liturgiehistorische Forschungen in kulturwissenschaftlicher Absicht. Mit einer Einfuhrung hrsg. von HUBERTUS LUTTERBACH/THOMAS FLAMMER, Münster 2003 (Vergessene Theologen 1).
152
Christian Kiening
den Anwesenheit verleihen): hier das Vorzeigen des Leichentuchs im leeren Grab, dort das Auftreten des Erlösers vor Maria Magdalena und den Jüngern. 40 Sosehr das zweite Moment die körperliche Evidenz schafft, die dem ersten fehlt, sosehr bleibt es prekär. Es knüpft die Evidenz an historische Zeugen, mit denen auch die Evidenz selbst eine historische wird, die in späterer Zeit zusätzlicher Modi der Geltungsstiftung bedarf. Zu solchen Modi gehört die Re-Inszenierung der Ursprungssituation im Spiel. Sie stellt die Evidenz neu her, steht aber ihrerseits in der Gefahr, als künstliche Evidenz angesehen zu werden. So verliert denn auch das Erscheinen des Auferstandenen, von einer Figur dargestellt, seinen Als-ob-Charakter nur dort, wo es transzendiert wird auf das hin, an dem die Liturgie aufgrund des im Sakrament verkörperten ,Kontrakts der Realpräsenz' eine Teilhabe vermitteln kann. Die Kehrseite des Verlangens nach Präsenz ist also die Notwendigkeit von Absenz, die dem, was geglaubt wird, erst die Basis verleiht, auf der geglaubt werden kann. Die Etablierung des Fronleichnamsfestes markiert, so gesehen, auch die Schwelle, an der die Vermehrung der Heilspräsenzen mit einer Kontrolle ihrer Grundlagen einhergeht. Die Durchdringung von Präsentischem und Dogmatischem erhält einen Ort im kirchlichen Festkalender. Das Fest feiert nicht nur die commemoratio der ursprünglichen Mahlgemeinschaft, sondern auch schon deren institutio durch die kirchliche Liturgie. 41 Es reagiert auf die Probleme einer als solche unmöglichen Präsenz, indem es die Unmöglichkeit in Paradoxien verwandelt, in denen die Präsenz des Unmöglichen aufscheint. Es schafft selbstreflexive performative Möglichkeiten der Heilsinzenierung und bindet sie zugleich neu an die (jeweilige) kirchliche Praxis. 42 Schon der Ursprungsmoment des Festes knüpft sich an die Paradoxie, dass derjenige, den es feiert, es selbst initiiert. Auf etwa 1208/09, wenige Jahre vor der Aussage zur Transsubstantiation seitens des vierten Laterankonzils, fallen in der Vita der ganz der Eucharistiefrömmigkeit ergebenen Nonne Juliana von Cornillon (Lüttich) die Visionen, in denen die Einführung eines Festes zur Feier des Altarsakraments durch Christus selbst autorisiert wird: Er deutet einen Flecken auf dem strahlenden Mond als Zeichen des Fehlens eines Kirchenfestes. 43 Die Vision 40
Zur Verschiebung von der .inszenierten Absenz' zur ,inszenierten Präsenz' PETERSEN (Anm. 11), pass.; generell zu den Ambivalenzen im Hinblick auf den abwesend-anwesenden Körper RAINER WARNING: Auf der Suche nach dem Körper. Das Imaginäre des geistlichen Spiels. In: Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der frühen N e u z e i t . H r s g . v o n HANS-.TOACHIM Z I E G E L E R , T ü b i n g e n 2 0 0 4 , S .
343-359.
41
.TOSEFA. .TUNGMANN: Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe, 2 Bde. 5., verb. Aufl., Freiburg i.Br. u.a. 1962, hier Bd. 1, S. 161.
42
Vgl. zum Folgenden die Beiträge von PETER BROWE: Die Entstehung der Sakramentsprozessionen; Die Elevation in der Messe; Die Ausbreitung des Fronleichnamsfestes. In: DERS.: Die Eucharistie im Mittelalter (Anm. 39), S. 459-536; RUBIN (Anm. 34); zusammenfassend ANGELUS HÄUSSLING: .Fronleichnam'. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, München 1989, Sp. 9 9 0 f.
43
RUBIN ( A n m . 3 4 ) , S.
170.
Präsenz - Memoria - Performativität
153
schafft die Urkunde, auf deren Basis in der Folgezeit Bedeutungen und Implikationen dessen, was sich in der Messe performativ vollzieht, ihrerseits performativ entfaltet werden. Die bekannten Stationen der Entwicklung sind: 1247 der Lütticher Bischof Robert ordnet das Fest für seine Diözese an; 1252 - der Kardinallegat Hugo von St. Cher schreibt es für seinen Legationsbereich vor; 1264 - Urban IV macht es, die erste Festeinführung durch einen Papst, für die ganze Kirche verbindlich und stellte es den höchsten Festen gleich; 1311/12 Clemens V erneuert die Vorschrift; 1317 - das Dekret wird in das Corpus Iuris Canonici aufgenommen. In der Folgezeit erlangt das Fest, verbunden mit einer Prozession, allgemeine Verbreitung, zunächst in den Diözesen des Reichs, dann auch in den romanischen und nördlichen Ländern.
III Der Innsbrucker Spieltext steht also noch recht am Anfang einer Traditionsbildung, die im 15. lahrhundert zu umfangreichen Dramatisierungen der ganzen Heilsgeschichte führen wird. 44 Er steht andererseits in verschiedenen Traditionslinien, die in den 756 Versen und 31 Reden zusammenlaufen. Beginnend mit Adam und Eva, fortfahrend mit zwölf Propheten und den zwölf Aposteln, lohannes dem Täufer und den Heiligen Drei Königen und schließend mit dem Papst eröffnet das Spiel eine Reihe bekannter Situationen. Mit den freudigen Reden Adams und Evas ist der Descensus aufgerufen. Die Wechselreden der Propheten und Apostel greifen auf Prophetenspiele zurück, die ihrerseits wie zahlreiche Darstellungen an und in Kirchen den pseudo-augustinischen Sermo Contra Judaeus, Paganos et Arianes benutzen. Auch die Aufteilung einzelner Sätze des Credo auf die Apostel ist geläufig. Die Gesänge der Propheten sind in der Liturgie verankert. Die Partien Johannes des Täufers und der Heiligen Drei Könige knüpfen an entsprechende Spieltypen an. Nur die Schlussrede des Papstes, die auf die eigentliche Anbetung der Hostie hinführt, stammt aus dem genuinen Kontext des Corpus-Christi-Festes. Mit ihr rundet sich der Bogen, der über zentrale Punkte der Heilsgeschichte, Sündenfall, Passion, Geburt Christi, in das Dogma der Transsubstantiation mündet. 44
Zum
Überblick:
WOLFGANG
FRIEDRICH
MICHAEL:
Die
Geistlichen
Prozessionsspiele
in
Deutschland, Baltimore, Göttingen 1947 (Hesperia. Studies in Germanic Philology 22); THEO STEMMLER: Liturgische Feiern und geistliche Spiele. Studien zu Erscheinungsformen des Dramatischen im Mittelalter, Tübingen 1970 (Anglia. Buchreihe 15); ELIZABETH WAINWRIGHT: Studien zum deutschen Prozessionsspiel. Die Tradition der Fronleichnamsspiele in Künzelsau und Freiburg und ihre textliche Entwicklung, München 1974 (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 16); SARAH BECKWITH: Signifying God. Social Relation and Symbolic Act in the York Corpus Christi Plays, Chicago, London 2001. Speziell zum Innsbrucker Spiel DORA FRANKE: Das Innsbrucker Fronleichnamsspiel, Diss. Marburg 1922; BERND NEUMANN: ,Innsbrucker Fronleichnamsspiel'. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Zweite, völlig neu bearbeitete Aufl., Bd. 4, Berlin, New York 1983, Sp. 398-400.
154
Christian Kiening
Im Vordergrand steht solchermaßen die Vermittlung exemplarischer Aspekte der Heilsgeschichte, nicht deren Dramatisierung in einem Handlungsablauf. Schon das formelhafte Ich binz bei der Vorstellung der Apostel und Propheten schwankt zwischen Selbstpräsentation und Autoritätskonstitution. Zwar sind die Monologe der Apostel und anderer Figuren auf die vorangehenden der Propheten bezogen, im ganzen aber gewinnen die Reden ihre Dynamik vor allem durch die Spannung zwischen den verschiedenen Stufen von Zeitlichkeit, den verschiedenen Formen von Gegenwärtigkeit und den verschiedenen Momenten des Heilsgeschehens. Miteinander verflochten werden eine historische, eine heilsgeschehentliche und eine liturgische Zeitlichkeit. Einerseits sind die mit Christus verbundenen Ereignisse in einer Chronologie ab initio mimdi fixiert: Adam spricht von 5100, Arnos von 5200 Jahren bis zum Kommen des Messias, Jesaias datiert den Moment seiner Offenbarung auf 3500 Jahre vor dessen Geburt. Andererseits ist immer wieder das Ganze der Heilsgeschichte im Blick: Mit Adam wird der Sündenfall aufgerufen, mit Johannes eine ausführliche Erzählung der Kreuzigung eingespielt, mit Philippus ein Ausblick auf die Endzeit geboten. Jeweils findet dabei auch ein Brückenschlag zur aktuellen Situation statt: In Adams Rede verschiebt sich das „Wir" der Vorväter zum „Wir" der christlichen Gemeinschaft, der Bericht des Johannes wird eingeleitet mit der Anrede Nne höret ir frawen und man (IF V 185), die Ausmalung des Jüngsten Gerichts durch Philippus schließt mit der Aufforderung: mf hebit alle uf uwir hende / und bittet unserη hern Jhesu Crist, / der da kegenwertig ist, daz er ez thon dorch alle sin gute / und uns vor sulchem leyde behüte (IF V 398-402). Auch sonst kommt es zu Überblendungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart: Johannes Baptista blickt auf die Taufe Christi als vergangene zurück und verweist gleichzeitig auf das Lamm Gottes als gegenwärtiges. Die Propheten sprechen in der Vergangenheit, doch im Wechsel mit den auf die Gegenwart Christi bezogenen Aposteln, die wiederum in dem zwischen Präsens und Präteritum wechselnden Credo die geschichtlichen Ereignisse zu gegenwärtigen macht: gegenwärtig für die Gemeinschaft in der rituellen Memorierung. 45 Das Fronleichnamsspiel gleicht damit in seiner Grundstruktur einem Weihnachtsspiel wie dem Erlauer, das ebenfalls die Heilsereignisse nicht eigentlich darstellt, sondern nur evoziert, gerade aber im Bezug auf das Vorausgesetzte eine Engführung von vergegenwärtigtem und vergegenwärtigendem Geschehen ermöglicht. 46 Mit dem Credo kommt gleich eingangs jenes Stück ins Spiel, das sich zwischen Wortgottesdienst und eucharistischer Liturgie situiert 45
Vgl. schon LUDWIG WOLFF: Die Verschmelzung des Dargestellten mit der Gegenwartswirklichkeit im geistlichen Drama des deutschen Mittelalters. In: DVjs 7 (1929), S. 267-304; wieder in: DERS.: Kleinere Schriften zur altdeutschen Philologie, Berlin 1967, S. 319-349.
46
Zu Verbindungen zwischen den Spieltypen DORETTE KRIEGER: Die mittelalterlichen deutschsprachigen Spiele und Spielszenen des Weihnachtsstoffkreises, Frankfurt a.M., Bern 1990 (Bochumer Schriften zur deutschen Literatur 15).
155
Präsenz - Memoria - Performativität
und die zunächst „nur bruchstückhaft vorgetragene Frohbotschaft um den Zusammenhang der gesamten Heilsgeschichte" erweitert - eine Heilsgeschichte, die „den Glaubenden angesichts der eucharistischen Gegenwart erinnernd vor Augen" gestellt wird. 47 Das Credo verkörpert also selbst schon jene konzentrierte Universalität, um die es im ganzen Spiel geht. Und so wie seine Einheit durch Verteilung auf die Apostel eine überindividuelle und überhistorische Glaubensgemeinschaft erzeugt, so erzeugt umgekehrt die Vielheit der Gesänge eine überindividuelle und übertemporelle liturgische Gestimmtheit. Die Gesänge gehen jeweils den Reden der Propheten voran. Sie vermitteln zwischen der Faktizität des Credo und der Prophetizität der Visio, zwischen Augenzeugenschaft und Seherschaft, zwischen christologisch bestimmter Institution und typologisch fundierter Providenz. Sie unterstreichen die Feierlichkeit des prophetischen Wissens und überführen dieses zugleich in liturgische Praxis. Die Gesänge basieren überwiegend auf jenen alttestamentlichen Stellen, die traditionell auf Christus hin gelesen wurden, begegnen aber im Rahmen des Spiels als neukontextualisierte .Zitate', die zentrale liturgische Momente des kirchlichen Festkreislaufs aufrufen. Hier eine Übersicht im Hinblick auf mögliche Verwendungszusammenhänge im Rahmen der Messe und des Kirchenjahrs, unter Absehung der Tagzeiten und der vielfältigen regionalen Unterschiede: FIGUR
GESANG (CAO-NR.)4S
INCIPIT
/
LITURGISCHES
JAHR
BIBEL
MESSE
Adam
Advenisti
aus Antiphon Cum rex gloriae
Osterfeier
Jeremias David
Dominus dixit ad me
Antiphon 2406, Introitus
Weihn./Vig. Epiph.
Ps 2,7
Jesaias
Ecce virgo
Antiphon 25557/6620, Communio
Verkündigung
Is 7,14
Daniel
Sicut ovis ad occisionem
Respons. 7661
Karfreitag
Is 53,7
Hosea
Ο mors ero mors tua
Antiphon 4045
Karsamstag
Os 13,14
Arnos
Aseeiulo ad patrein Antiphon 1493
Himmelfahrt
Io 20,17
Johel
Dies irae dies illa
Sequenz
Totenmesse
Aggaeus
Veni sancte reple
Antiphon, Alleluia
Pfingsten
concipiet
spiritus
47
NEUHEUSER (ANM.
48
RENE-JEAN HESBERT: Corpus antiphonalium officii, Rom 1963-1979 (Rerum ecclesiasticarum documenta. Series maior. Fontes 7-12).
18), S.
122.
156 FIGUR
Christian Kiening
INCIPIT
GESANG ( C A O - N R . ) / MESSE
LITURGISCHES JAHR
BIBEL
Antiphon, Graduale
Kirchweih
GN 28,17
Introitus
Aschermittwoch
Sap 11,24
Sophonias
Locus iste
Malachias
Misereiis
Zacharias
Redemptor metis vivit
Antiphon 6348
Totenmesse
lob 19,25
Abdias
Venite benedicti
Introitus
Mittw. nach Ostern
Mt 25,34
Johann. d.T.
Ecce agmis dei
Antiphon 2523 / Respons. 6575
Weihnachten
Ιο 1,29
omnium
Die Gesänge entsprechen nicht dem, was man als Liturgie des Fronleichnamsfestes kennt, die sich ihrerseits an der Karfreitagsmesse orientiert und als rememorative Feier des Abendmahls versteht. Zum Beispiel fehlt die bekannte, von Thomas von Aquin stammende Sequenz Lauda Sion, die bald schon als Quintessenz des Corpus-Christi-Gedankens aufgefasst wurde. 49 Auch orientiert sich die Folge der Antiphonen und Responsorien, mit Ausnahme der zentral plazierten Sequenz Dies irae, nicht am Aufbau der Messe; weder die Perikopen zum Gründonnerstag noch jene zu Fronleichnam scheinen auf. 50 Statt dessen konzentrieren die Gesänge das Kirchenjahr und die sich zwischen Weihnachten, Ostern und Pfingsten abspielende Bewegung des Heilsgeschehens auf das Fest zu Ehren des Corpus Christi. Und sie unterstreichen damit seinen Charakter als Überhöhung des christlichen Kults durch Ausrichtung auf das Dispositiv der Eucharistie. Vereint sich in diesem Dispositiv brennspiegelartig, was die Verknüpfimg von sacrificium und eucharistia, von Göttlichkeit und Menschlichkeit, von Heilsverlust und Heilsgewinn ausmacht, so vereint sich im Spiel, was sonst aspekthaft auseinander tritt: Verkündigung, Geburt, Passion, Auferstehimg und Himmelfahrt des Erlösers. Schon in den einzelnen Gesängen und den ihnen zugrundeliegenden Bibelstellen kommt es zu Überblendungen der Zeitstufen. Der Verweis auf eine Jungfrauengeburt bei Jesaias ist eine alttestamentliche Prophezeiung, die im Neuen Testament (Lc 1,31) so aufgegriffen wird, dass das eine präsentische ecce im anderen sein Echo findet und dieses Echo als im Ausgangswort impliziert gilt: Die G e g e n w a r t wird an die Z u k u n f t g e b u n d e n , an eine Z u k u n f t indes, die in Form einer P r o p h e z e i u n g bereits in einer f e r n e n Vergangenheit a u s g e s p r o c h e n und nieder49
DAVID BERGER: Thomas von Aquin und die Liturgie, Köln 2000; .TAN-HEINER TÜCK: Die Sequenz Lauda Sion als poetische Verdichtung der Eucharistietheologie des Thomas von Aquin. In: Theologie und Glaube 93 (2003), S. 475-497; zu deutschsprachigen Versionen JOHANNES JANOTA: Studien zu Funktion und Typus des deutschen geistlichen Liedes im Mittelalter, München 1968 (MTU 23), S. 211 -215. SO Vgl. zu diesen Perikopen YUMI Dorn: Das Abendmahl im spätmittelalterlichen Drama. Eine Untersuchung der Darstellungsprinzipien der Abendmahlslehre in den englischen Mystery Cycles und ihren Vorlagen im Vergleich mit den französischen und den deutschsprachigen biblischen Spielen, Frankfurt a.M. 2000 (EHS XVIII,95), S. 65-69.
Präsenz - Memoria - Performativität
157
geschrieben worden war. Doch damit nicht genug. Das Futurum ist zugleich ein Quasi-Performativ, das concipies wird ausgesprochen, um in der Gegenwart eine Wirkung zu zeitigen. Denn ein fast unmittelbares Echo - das ecce der Jungfrau wird genügen, damit sogleich der Leib Christi im Schoß Marias empfangen wird. 51
Im Spiel wiederum wird dadurch eine Form der Inszenierung von Präsenz möglich, die nicht auf mimetischer, sondern auf symbolischer Verkörperimg beruht und doch, um dem Symbolischen Evidenz zu verleihen, mit dem Mimetischen als Möglichkeit operiert. Das zeigt sich an der Präsenz des Gottessohnes. Christus tritt nicht auf und .steht' doch im ,Raum'. Er ist als sprechende und handelnde Figur abwesend und doch als Grund und Ziel des Vorgeführten anwesend. Adam, selbst im furburge der hellen (IF V 12) befindlich, .sieht' ihn eingangs an jenem unbestimmten .dort', das mit den Pforten der Hölle assoziiert werden kann, geht doch die Advenisti-KnXvpYion im Rahmen des Cum rex gloriae der Osterfeier dem Atollite portas voran. 52 Auch Thomas .sieht' ihn später dort an eyner stat / als er für czue der helle (IF V 280 f.). Eva dankt ihm, dass er vom Himmel herabgekommen sei und Licht in die Finsternis gebracht habe. Verschiedene der Propheten und Apostel .sehen' ihn. Johannes der Täufer verweist auf ihn als das Lamm Gottes (Ecce agnus dei). Caspar äußert seine Dankbarkeit, dass sein Wunsch, das kindelin zu sehen, nunmehr in Erfüllung gegangen sei. Christus ist also präsent in den signifikanten Bildern seiner Existenz: als König, der die Welt beherrscht, als Triumphator, der den Tod überwindet, als Lamm Gottes, das die Schuld hinwegnimmt, als Kind, das Mensch geworden ist - wobei schon die achronologische Folge der Bilder darauf verweist, dass diese Präsenz nicht im Sinne eines empirischen Jetzt zu verstehen ist. Da zu sein als imago heißt gleichzeitig nicht und doch da zu sein als corpus: nicht im Sinne einer Figur, doch im Sinne einer Realität, die sich in der Hostie manifestieren soll. Sie jedoch wird nicht einfach als abstrakte Form der Realpräsenz ins Spiel gebracht, sondern durch die Erscheinungsformen des abwesend-anwesenden Christus mit dessen Geschichte und Gegenwärtigkeit aufgeladen. 53 Deshalb ist zwar verschiedentlich auf das Sakrament verwiesen: David meint Christus in seiner Heimlichkeit zu sehen - verborgen in eynes brotes schin, / doch suit ir des sicher sin, / da ist werlich fleysch und blut (IF V 145-147); Caspar erkennt ihn in dez priesters henden (IF V 591). Doch die eigentlichen Konturen der Hostie bleiben im Ungewissen - so wie auch Thomas von Aquin in seiner Auslegung der Einsetzungsworte auf den unbestimmten Charakter des hoc in hoc est corpus meum verwiesen hatte: „ein Pronomen 51
DIDI-HUBERMAN ( A n m . 16), S. 121.
52
So auch im Innsbrucker Osterspiel; vgl. die Edition von MONE (Anm. 29), Regieanweisung nach V 204; Adam stellt dann fest: ich sehe den, der mich geschaffen hat, / an dem hymmel und erde stat; zur Rolle des Canticum triumphale in den Osterspielen THORAN (Anm. 7),
53
Zur Verschränkung von Absenz und Präsenz v.a. BECKWITH (Anm. 44), Kap. 5.
S. 1 8 6 - 1 9 5 .
158
Christian Kiening
wird gebraucht, das die Substanz in unbestimmter Weise bezeichnet und ohne festgelegte Form lässt". 54 Auch die Schlussrede des Papstes legt diese Form nicht fest. Sie betont die Differenz zwischen dem alttestamentlichen Manna und der neutestamentlichen Hostie: Diente das eine konkret der irdischen Ernährung, so dient die andere realsymbolisch der überirdischen Heilsvermittlung; war die Existenz des einen kurzfristig und trügerisch, so ist die der anderen ewig und wahrhaftig. 55 Auf diese Weise kommt die bekannte Figur einer Erfüllung des Vorläufigen zum Tragen: Was Schrift war, ist nun Vollzug, was Gleichnis war, ist nun Zeugnis, was von einigen gesehen werden konnte, kann nun von allen aufgenommen werden. Auch der typologische Bezug zwischen Adam und Christus lässt sich in der Metaphorik des Essens fassen: Was dem einen der fatale Apfelgenuss verwirkte, ist durch den freudvollen Genuss der neuen Speise, die der andere bewirkte, überwunden. Doch bleibt der Text nicht bei der kontrastiven Profilierung stehen, er betreibt auch eine performative Aufladung der eucharistischen Gegenwart. Sie soll als eine erscheinen, die nicht nur die fehlende Körperlichkeit der Hostie kompensiert, sondern auch die (vermiedene, aber mitgedachte) mimetische Körperlichkeit des Messias in eine Sinnlichkeit neuer und anderer Art transformiert. Für diese Sinnlichkeit spielt die Sprache eine wichtige Rolle. Im Wort vollzieht sich eine Beschwörung dessen, was man der Hostie per se nicht ansehen kann: daz ist an sußekeit ungemeßen und ist lustig czu c eßen, daz ist das edele eßen, daz den hymmel hat beseßen, daz ist das edele eßen, des wir an dem leczten nymmer schullen vorgeßen, ich meyne daz onschuldige lam, gotes froner lichnam. (das ist unermesslich in seiner Süße und ist angenehm zu verspeisen, es ist eine edle Speise, die den Himmel in sich schließt, es ist eine edle Speise, die wir am Ende nie vergessen dürfen, ich meine das unschuldige Lamm, Gottes hehrer Leib; IF V 717-724).
54
THOMAS VON AQUIN: Summa Theologiae (Editiones Paulinae), Alba, R o m 1962, Tertia pars, qu. 78, a. 5: Et ideo signanter
noil (licit Dominus,
secundum
inteilectum
secundae
opinionis;
secundum
inteilectum
tertiae; sed in generali,
ex parte subiecti, id est fonna 55
sed solo pronomine,
neque,
meum',
quod
esset
,Hoc corpus est corpus meum',
,Hic panis
est corpus
quod
esset
,Hoc est corpus meum',
quod significat
substantiam
nullo nomine
in communi
sine
apposito qualitate,
determinata.
Ähnlich auch am Ende der Lauda tur, / Agnus Paschae deputatur,
ffio«-Sequenz:
In figuris praesignatur,
/ Datur mannt» patribus
/ Cum Isaac
immola-
(Josef Dirnbeck: H y m n e n der Kirche.
Lateinische Texte und deutsche Nachdichtungen, Graz 1978, S. 118-123, und in vielen kirchlichen Gesangbüchern).
Präsenz - Memoria - Performativität
159
Die Emphatisierang der Sprache bedarf der dogmatischen Rückbindung. Und so bleibt im Gestus der verbalen Feier deren theologische Basis präsent. Die Aura, die der Text um die Eucharistie zu schaffen sucht, entsteht aus der Verflechtung von Metapher und Metonymie: Brot, Lamm, Körper Christi - sie sind Ausdruck eines Transsubstantiationsgeschehens, das nicht nur die mögliche Wiederholung eines historischen Wunders meint, sondern die faktische in der Liturgie, die aber zu ihrer Bestätigung selbst die fortwährende Rückerinnerimg an den Ursprung (vil lyben lute gedencket dar an; IF V 695) einschließt. Die entscheidende Pointe dieser Rückerinnerimg besteht aber darin, sie zugleich auf die Institution selbst zu beziehen, die damit als historische mit ihrem Ursprang weniger durch Analogie als durch Kontiguität verbunden ist. Die Einsetzimgsworte hoc est corpus meum wiederholen, in der Messe gesprochen, einerseits das Momentum, aus dem sie herrühren, und erweisen andererseits durch den Zusatz hoc facite in meam commemorationem (Lc 22,20) die Wiederholung als selbst dem Momentum eingeschrieben. Die Wiederholung ist deshalb immer Übertragung und Aktualisierung in einem. Wenn in der Rede des Papstes die Einsetzung von Leib und Blut im letzten Abendmahl zitiert wird, kommt nicht nur der gottmenschliche Ursprung selbst zur Sprache. Es kommt auch die Größe ins Spiel, die die Transsubstantiation dem Gläubigen nachvollziehbar werden lässt - das Herz: got sprach, myn fleysch ist werlich eyn spise, myn blut ist werlich eyn tranc, sicherlich an allen getwang vorwar ouch daz wißet, daz myn fleysch ouch yßet und trincket dar czu e myn blut, wer daz mit reynem herczen tut, der blibet ewiglich in mir und ich by c em noch sines herczen gir (Gott sagte: „mein Fleisch ist wahrlich eine Speise, mein Blut ist wahrlich ein Trank, für gewiss könnt ihr halten, dass wer auch immer mit reinem Herzen mein Fleisch zu sich nimmt und mein Blut trinkt, der wird immer in mir sein und ich in ihm - wie es sein Herz begehrt"; IF V 728-735).
In der intensivierten Gegenwärtigkeit der Hostie kulminieren sowohl die dogmatischen wie die präsentischen Tendenzen des Fronleichnamsspiels. Einerseits wird mit der Figur des Papstes jene Instanz greifbar, die am Ursprung der Institution steht, welche eine neue Dimension eucharistischer Frömmigkeit ermöglicht. Andererseits geht das innere und äußere Sehen der zuvor aufgetretenen Propheten und Zeugen in jenes Verkosten und Vereinnahmen über, dessen intensive Erfahrung das Institut des Fronleichnamfestes erlaubt. Dieses Verkosten und Vereinnahmen soll aber seinerseits nicht als krade körperliches verstanden werden. Vielmehr unternimmt der Text alles, das Sinnliche von seiner bloßen Materialität zu befreien und gleichzeitig das Übersinnliche in
160
Christian Kiening
materiellen Kategorien zugänglich zu machen. Aufgehoben werden Grenzen zwischen indexikalischen und symbolischen Zeichen ebenso wie solche zwischen Ereignis und Institution. Suggeriert wird die Möglichkeit eines realsymbolischen Zeichengebrauchs, der zwar ständig Bedeutungszuschreibungen benutzt, zugleich aber den Akt der Zuschreibung ontologisiert: Die verschiedenen Opfer, die die Heiligen Drei Könige dem kindelin darbringen, sind „symbolische Gaben" 56 und zugleich uffbare zeichen (IF V 598) - Zeichen der Evidenz und der Offenbariuig, in denen das Bezeichnete selbst anwesend sein soll. Das Spiel transzendiert sich selbst als Spiel - schon dadurch, dass es den Begriff des Spiels auf das Heilsgeschehen beschränkt: als hertes spil wird das Jüngste Gericht bezeichnet, als froliches spil die Auferstehimg, als vorspil das Alte Testament. Auf diese Weise erhält das Dogma eine Gültigkeit, die scheinbar nicht an die Kontingenz des (volkssprachigen) Textes gebunden ist, obschon historisch gesehen gerade diese erkennen lässt, unter welchen Bedingungen ein Text Geltung, die ihm nicht selbstverständlich zukommt, entwerfen kann. Diese Bedingungen nämlich unterliegen historischem Wandel, wie sich an den späteren Fronleichnamsspielen zeigt: Das Künzelsauer Spiel etwa, obwohl es kirchlich-kultische Züge beibehält, weitet den heilsgeschichtlichen Rahmen auf die Ereignisse zwischen der Erschaffung der Engel und dem Jüngsten Gericht; es bringt ausführliche Darstellungen des Lebens Johannes des Täufers und der Passion; es fügt allegorische und katechetisch-moralische Szenen ein (Streit der Töchter Gottes, Streitgespräch zwischen Ecclesia und Synagoga, Streitgespräch zwischen Körper und Seele). 57 Diese Vielfalt verwischt, was im Innsbrucker Spiel im Zentrum steht: die Faszination an der machtvollen Realsymbolik des Sakraments, die Anstrengung, den Verzicht auf mimetische Präsenz zu vergolden durch die Suggestion einer Omnipräsenz des Heils und des Erlösers in den Zeichen, Namen und Worten. So wie das in der Handschrift vorangehende Osterspiel nicht einfach mit den Erscheinungen des Auferstandenen schließt, sondern mit dem an das Publikum gerichteten Hinweis auf die Bedeutungshaftigkeit des Gesehenen und Gehörten (ΙΟ V 1163), so zielt auch das Fronleichnamsspiel auf eine gegenwärtige Gemeinschaft, die sich ihrerseits von der reinen Sicht- zur höheren Glaubensgemeinschaft bewegt. In das durch das Alte Testament begründete und durch das Neue transformierte heilsgeschichtliche Bedingungsgefüge eintretend, bildet sie den Fluchtpunkt der einzelnen Szenen: implizit oder explizit angesprochen von den einzelnen Figuren, aufgefordert von Philippus zum Gebet (IF V 398), von
56
K R I E G E R ( A n m . 4 6 ) , S. 2 3 .
57
Das Künzelsauer Fronleichnamspiel. Hrsg. von PETER K. LIEBENOW, Berlin 1969 (Ausgaben deutscher Literatur des XV bis XVIII. Jahrhunderts. Reihe Drama II). Die Differenzen zeigen sich gerade auch dort, wo die Berührungen am stärksten sind, etwa bei der Umsetzung des Credos in den Apostelreden: V 3844-4282 (Kommentar S. 282 f.).
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Johannes Baptista zum Gesang (IF V 569 f.), vom Papst am Ende zum Kniefall (IF V 747). Diese Gemeinschaft ist - wie der Interpretand der P E I R C E schen Zeichentheorie - das notwendige Dritte, in dem Signifikanten und Signifikate verbunden sind, konkret hier: in ihrer ontologischen Verbundenheit zur Erscheinung kommen.
IV Es ist deutlich: Die performative Dimension des Innsbrucker Fronleichnamsspiels liegt weniger in der Aufführung einer Handlungsfolge wie im Falle der Oster- und Passionsspiele als vielmehr in der Durchführung einer Devotionsfolge wie im Falle der (späteren) katechetischen Bildtafeln. 58 Es fehlen die Regiebemerkungen ebenso wie die Precursorpassagen, die sich in den beiden anderen Spielen der gleichen Handschrift finden. Keine Rolle spielen Bewegungen und Gesten. Und doch wird die Devotionsfolge nicht als statische, sondern als dynamische entworfen. Sie macht schon durch die Aufteilung des Credos auf die Apostel die Rememorierung des Glaubenskonzentrats ziun stufenhaften Prozess und durch die Verflechtung der Apostel- und der Prophetenreden das Verhältnis von Providenz und Geschichte zum sich wiederholenden Vollzug. In ihm werden die Formen der Präsenz Christi, die auf der tatsächlichen Absenz seines Körpers beruhen, in eine Form der Präsenz der Hostie überführt, die zwar auf Anwesenheit beruht, sich aber zugleich in einem Mehr-als-nur-Sichtbaren aufhebt: Das Brot gilt als dasjenige, das, so unscheinbar auch äußerlich, die ganze Heilsgeschichte in sich fasst, die wiederiun innerlich aus ihm entfaltet werden kann. Auch dem Osterspiel ist diese Verknüpfung von Zeigen und Sagen nicht fremd: Im direkt vorangehenden Innsbrucker Text folgt auf die Präsenz des Auferstandenen (vor Maria Magdalena und Thomas) die Evidenz seines Auferstandenseins - das Vorzeigen des Leichentuchs und der zwischen den handelnden Figuren und der christlichen Gemeinschaft vermittelnde Hinweis: Seht vil lyben daz thuch, / daz uns widerwant hat den fluch, / der uns in dem paradyse wart gegeben, / wir schallen alle mit gote leben (ΙΟ V 1158-1161). Die Übertragung des Heilsgeschehens auf Objekte, die sie bezeugen, sichert, dass es Metonymien des Heils gibt, die sowohl die Zeiten überdauern wie je neu zur re- und kommemorativen Entfaltung des Ganzen der Heilsgeschichte genutzt werden können. Diese rememoratio und commemoratio aber basiert auf einer Performativität, die nicht mit derjenigen der mimetischen Aufführung identisch ist: eine innere Performati-
58
HARTMUT BOOCKMANN: Wort und Bild in der Frömmigkeit des späten Mittelalters. In: Pirckheimer-Jahrbuch 1985, S. 9-40; DERS.: Über Schrifttafeln in spätmittelalterlichen deutschen Kirchen. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 40 (1984), S. 210-224; RUTH SLENCZKA: Lehrhafte Bildtafeln in spätmittelalterlichen Kirchen, Köln, Weimar, Wien 1998 (Pictura et poesis 10).
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vität, mit deren Hilfe ein Text wie das Innsbrucker Corpus-Christi-Spiel eine Intensität des Moments entwirft. Dieser Moment ist ein Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Präsentation, Evokation und Signifikation engfülirendes ,ewiges Nu'. 5 9 In ihm soll sich die Leerstelle, um die der Text kreist, als Ort der Fülle erweisen und die Fülle wiederum als Wort manifestieren: als Wort, in dem sich die Zeugenschaft vollzieht und jene Verkörperung Ausdruck erhält, die dem Messias nicht selbst Ausdruck verleiht. In seinem Explizit spricht der Schreiber namens Johannes nicht mehr wie im Incipit von einem ludiis, sondern von einem Ivber de corpore Christi. Das indiziert historische Abstufungen in den Graden dialogisch-dramatischer Inszenierung und nähert den Text den klassischen Schriften des ersten und zweiten Eucharistiestreites an, die unter Titeln wie Uber de corpore et sanguine dornini liefen. 60 Doch ist damit auch der Abschluss eines sich materialiter manifestierenden Buches bezeichnet, wie Johannes zunächst auch schon nach dem Explizit des Osterspiels (Explicit Indus de ressurectione domini) vermerkte: Completus est Uber iste. Dieses Buch hat es nicht nur in seinem Abschlusspart, sondern seinen drei Teilen mit dem corpus Christi zu tun. Zwar stehen diese Teile in keiner originären Verbindung. Doch zumindest dem thüringischen Leser, Schreiber und Redaktor des Spätsommers 1391 wurden sie zum zusammenhängenden Komplex. Beginnend wahrscheinlich im Umkreis jenes Festtags, auf den sich das erste Spiel bezieht, Assumptio Mariae (15. August), schrieb Johannes kontinuierlich und dokumentierte seinen Schreibfortschritt durch sukzessive Datierungen: sabato die post Bartholomei (26. August), sextaferia in die Egidij (1. September), tertia die ante natiuitatis Marie virginis (5. September). 61 Für ihn war wohl zum einen zumindest der Ausgangspunkt seines Schreibens mit dem Fest verbunden - dessen Feier wurde ihm, unabhängig davon, was der genaue Anlass gewesen sein und ob es eine Aufführung gegeben haben mag, in der Schrift zu seiner eigenen ,Aufführung'. Für ihn waren zum andern auch die Texte miteinander verbunden: Von einer Stelle im Osterspiel, da die Grabwächter das Fehlen des Leichnams bemerken (f. 37v, ΙΟ V 194), irrte er auf eine schon geschriebene Stelle des Spiels von Mariae Himmelfahrt ab, an der ebenfalls milites auftreten (f. 26v, IHM V 59
Vgl. auch zur .inneren Aufführung' CARLA DAUVEN-VAN KNIPPENBERG: Ein Schauspiel für das innere Auge? Notiz zur Benutzerfunktion des Wienhäuser Osterspielfragments. fn: Ir suit sprechen wiltekomen. Festschrift für Helmut Birkhan zum 60. Geburtstag. Hrsg. von CHRISTA TuczAYu.a., Bern u.a. 1998, S. 778-787; in musikwissenschaftlicher Hinsicht ULRIKE HASCHER-BURGER: Gesungene Innigkeit. Studien zu einer Musikhandschrift der Devotio Moderna (Utrecht, Universiteitsbibliotheek, Ms. 16 Η 34, Olim Β 113). Mit einer Edition der Gesänge, Leiden u.a. 2002.
60
Ein Justinian-Text in der Handschrift Cesena, Biblioteca Malatestiana, Nr. 167.135 (Papierhandschrift des 15. Jh.s) hat als Incipit tractatus de corpore Christi, als Explizit Uber de corpore Christi.
61
Zu der daraus errechenbaren Schreibgeschwindigkeit: Neustifter-Innsbrucker Spielhandschrift (Anm. 29), S. 13.
Präsenz - Memoria - Performativität
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2864), und brauchte eine Weile, den Fehler zu erkennen - in seiner Memoria schlossen sich die Texte der einzelnen Lagen zusammen. 62 Es schloss sich zusammen, was auch tatsächlich nicht ohne Verbindung ist: Das Osterspiel endet mit jenem Hinweis auf den Descensus Christi ad inferos, der im Fronleichnamsspiel in Adams Eröffnungsrede aufscheint. Das Spiel von Mariae Himmelfahrt beginnt wie das Fronleichnamsspiel mit den Aposteln, welche die einzelnen Sätze des Credo vortragen. Auch in ihm spielt das Moment der (predigthaften) Glaubensvermittlung eine zentrale Rolle. 63 Anders als die Erlauer Spielehandschrift, die sich auf die Christusgeschichte konzentriert, 64 bietet die Innsbrucker aspekthafte Entfaltungen der Heilsgeschichte: einmal vom biblischen Kernereignis der resurrectio her, einmal im Blick auf die Konstitutionsphase des frühen Christentum (Marientod, Mission, Zerstörimg Jerusalems), einmal hinsichtlich der das Dogma in Liturgie überführenden Institutionalisierung des Fronleichnamsfestes. Jedes dieser Szenarien impliziert andere Typen der Präsenz Christi - gedacht wieder von der Mitte des Osterspiels her: hier die postmortale Körperlichkeit des Auferstandenen, der nochmals in menschlicher Form erscheint, dort die transfigurierte Gestalthaftigkeit des Aufgefahrenen, der in die irdische Geschichte eingreift, schließlich die transsubstantiierte Realfigürlichkeit dessen, der im Sakrament anwesend ist. Damit einher gehen verschiedene Formen von Memoria: eine christologische, eine ekklesiale, eine liturgische. Und verschiedene Ausprägungen von Performativität: eine handlungsbetonte (Vollzug der festgelegten Ereignisse bei Tod und Auferstehung Christi), eine gruppenbetonte (Bewegung zwischen den durch Maria, die Apostel, die Juden und die Heiden markierten
62
Die Hartnäckigkeit im Festhalten an dem gewählten Fortsetzungstext zeigt sich an dem mehrfachen Versuch, den richtigen Anschluss zu finden: Nach neun Versen bemerkte der Schreiber das Nicht-Zusammenpassende des Textes und wechselte zu einem wenig späteren Stück im Himmelfahrtsspiel (in der schon abgeschriebenen Lage ebenfalls ein Seitenbeginn), schrieb sieben Verse ab, sprang zur nächsten Regieanweisung, dann wieder zurück, schrieb weitere zwölf Verse ab und brach den Text schließlich mitten im Vers ab. Ein Neueinsatz mit der nunmehr richtigen Stelle erfolgte auf der Verso-Seite. Den Text auf der Recto-Seite strich der Schreiber durch und fügte nun pertinet hinzu. Vgl. auch STEPHEN WRIGHT: Scribal Errors and Textual Integrity: The Case of Innsbruck Universitätsbibliothek Cod. 960. In: Studies in Bibliography 39 (1986), S. 79-92, hier 84 f.
63
Zu dem Text: STEPHEN WRIGHT: The Vengeance of our Lord. Medieval Dramatizations of the Destruction of Jerusalem, Toronto 1989 (Studies and Texts 89), S. 33-67: BERND NEUMANN: Das Innsbrucker Spiel von Mariae Himmelfahrt. Gedanken zu einer Neuedition. In: Neue Beiträge zur Germanistik 1 (2002) [Internationale Ausgabe von „Doitsu Bungaku" 109], S. 191206; gegen ein fragmentarisches Ende des Textes jetzt CORA DIETL: The Virgin, the Church and the Heathens. The Innsbruck Luchts de assumptione heatae Mariae virginis (2004), unter: http://parnaseo.uv.es/Ars/webelx/Ponencies%20pdf/Dietl.pdf.
64
Vgl. JOHANNES JANOTA: ZU Typus und Funktion der Erlauer Spielaufzeichnung. In: Die Österreichische Literatur. Ihr Profil von den Anfängen im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert (10501750). Hrsg. von HERBERT ZEMAN, Bd. 1, Graz 1986, S. 511-520.
164
Christian Kiening
Orten), eine symbolbetonte (Engführung der Zeiten und Momente des Heilsgeschehens in der Eucharistie). Die Handschrift vereint ein Spektrum von Typen, dem wiederum ein Spektrum von rezeptiven Haltungen und performativen Dimensionen entspricht. Vielleicht bald nach Abschluss der Niederschrift der Spiele trug ein zweiter Schreiber, in seinen Graphien dem ersten ähnlich, auf der Rückseite des letzten Blattes des Fronleichnamsspiels einen längeren lateinischen Zauberspruch ein. 65 In 56 Zeilen vermittelt dieser Spruch die Kenntnis, mit Hilfe des Eisenkrauts (Verbena) einen Liebeszauber auszuüben. In Dienst genommen werden dafür, wie häufig in Zaubersprüchen, Vaterunser, Credo und Beginn des Johannes-Evangeliums, außerdem die höchsten christlichen Instanzen und die ganze Schöpfimg: Ich beschwöre dich beim Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist, ich beschwöre dich Verbena, voll der Gnade, beim lebendigen Gott, beim heiligen Gott, beim wahren Gott, bei der heiligen Dreifaltigkeit und Einheit, der du der wahre dreieinige Gott bist, daß du mich erhörst und meine Befehle ausfuhrst, ich beschwöre dich Verbena bei Gott, der dich geschaffen hat, bei der Erde, die dich trägt, bei der Sonne, die dich wärmt, beim Mond, den Sternbildern und den Gestirnen, die über dir leuchten, beim Wind, der dich bewegt, bei den Flüssen, die dich benetzen, beim Himmel der dich öffnet, und dem Abgrund, der dich stützt. 66
Die Nähe zwischen profanen und religiösen magischen Praktiken ist nichts Ungewöhnliches. Sie begleitet die Überlieferung von Gebeten und Messformularen seit frühesten Zeiten. Schon in der „ältesten Handschrift des gelasianischen Sakramentars aus der Mitte des 8. Jahrhunderts gibt es Meßformulare zum Beispiel für Reisende, zur Erlangung von Liebe und Eintracht, gegen Beunruhigimg und Tumult, gegen Sterblichkeit und Viehseuchen, für Regen oder Sonnenwetter, bei Sturm und Gewitter, am Geburtstag und mehr noch für den Sterbetag, bei Unfruchtbarkeit einer Frau oder bei Ablegung des Keuschheitsgelübdes einer Witwe". Später dann begegnen „Meßfeiern nicht nur für Schwangere, sondern ebenso zur Liebesverzauberung, für eine glückliche Geburt, aber auch als Tötungszauber, gegen die Pest oder beim Gottesurteil." 67 65
WALTER NEUHAUSER: Eine unbekannte lateinische Beschwörungsformel in der sog. NeustifterInnsbrucker-Spielhandschrift (Cod. 960 der Universitätsbibliothek Innsbruck). In: Serta philologica Aenipontana 3, Innsbruck 1979 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft 20), S. 221-253.
66
Ebd., S. 230 f., Z. 12-22: Coniuro te per patrem et filium et spiritum sanctum, coniuro te verbena Dei gracia plena per Deam vivum, per Deum sanctum, per Deitm verum, per sanctum trinitatem et imitatem, qui vents Dens trinus et units, lit modo audias me et facias me precepta, te verbena per Deum qui te creavit, per terrain que te portat, per solem qui te calefacit, per hmam qui te movet, flumina que te irrigant, per celum quod te aperit et habissum qui te sustinet. Zu ähnlichen Reihen von Beschwörungen bei göttlichen und natürlichen Instanzen RICHARD KIECKHEFER: Forbidden Rites. A Necromancer's Manual of the Fifteenth Century, University Park, Pennsylvania 1998.
67
ARNOLD ANGENENDT: Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, S. 495, 497.
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Präsenz - Memoria - Performativität
Auch die volkssprachig-lateinischen Gebete und Benediktionen aus Muri (12. Jahrhundert) sind stark von sprachmagischen Zügen geprägt und enthalten unter anderem eine Formel zur Wiederherstellung ehelichen Liebesglücks. 68 Der Eintrag des Zauberspruchs am Ende der Spielhandschrift ist insofern nicht ohne innere Logik. Auch hat die Verbindung zwischen dem Wunsch, in der Eucharistie, und dem, in der Liebesmagie göttlicher Unterstützung teilhaftig zu werden, in der Praxis der Zeit nichts Absurdes: Seit dem 12. Jahrhundert und verstärkt seit dem vierten Laterankonzil sind Beispiele für Liebeszauber mit Hilfe von Hostien bezeugt. 69 In eine Handschrift des 14. Jahrhunderts wurde ein Text eingetragen, in dem sich die auf Tetragrammaton bezogene Beschwörung einer Wachspuppe mit derjenigen eines Krautes zum Liebeszauber verbindet. 70 Im frühen 15. Jahrhundert liefert das Buch der Heiligen Dreifaltigkeit sogar ein kühnes Beispiel für die Übertragimg des Transsubstantiationsmodells auf eine sich in der Sprache vollziehende Alchemie. 71 Zaubersprüche sind ebenso wie Gebete performative Texte par excellence. In ihnen ist das Sagen ein Tun, ein Vollziehen, ein Bewirken. Gleichzeitig bestimmen narrative Rahmenpartien häufig die Bedingungen und Gegebenheiten des auszuführenden Aktes. Sie schaffen damit Performativa zweiter oder (berücksichtigt man auch die Differenz zwischen Rede und Schrift) dritter Ordnung und ermöglichen eine Ausstellung des magischen Textes, die dessen Wirkung nicht aufhebt, wohl aber einklammert: „In einer paradox anmutenden Mischung von Identifikation (mit der sprechenden Gottheit) und Distanz (durch den Zitatcharakter des Gesprochenen) gelingt mit dem Erzählen der (IS
Vgl. ACHIM MASSER: ,Gebete und Benediktionen aus M u r i ' . In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Zweite, völlig neu bearbeitete Aufl., Bd. 2, Berlin, N e w York 1980, Sp. 1110-1112; PETER OCHSENBEIN: Das Gebetbuch von Muri als frühes Zeugnis privater Frömmigkeit einer Frau u m 1200. In: Gotes und der werlde hulde. Festschrift für Heinz Rupp zum 70. Geburtstag. Hrsg. von RÜDIGER SCHNELL, Bern 1989, S. 175-199.
Μ
Vgl. PETER BROWE: Die Eucharistie als Zaubermittel im Mittelalter. In: Archiv für Kulturgeschichte 20 (1930), S. 134-154; wieder in: DERS.: Die Eucharistie im Mittelalter (Anm. 39), S. 219-231, hier 219 f. Zum Liebeszauber RICHARD KIECKHEFER: Erotic magic in medieval Europe. In: Sex in the Middle Ages. A B o o k of Essays. Hrsg. von IOYCE SALISBURY, N e w York 1991, S. 30-55.
70
München, elm 7021; vgl. ANTON SCHÖNBACH: Studien zur altdeutschen Predigt. In: Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Kl. 192/VII (1900), S. 144; CHRISTA HABIGER-TUCZAY: Magie und Magier im Mittelalter, München 1992, S. 246.
71
Vgl. UWE JUNKER: Das Buch der Heiligen
Dreifaltigkeit
in seiner zweiten, alchemistischen
Fassung (Kadolzburg 1433), Köln 1986 (Kölner medizinhistorische Beiträge 40); zuletzt dazu OLGA SOLOVIEVA: Corpus Libri als Corpus Christi. Zur prekären Transsubstantiation des alchemistischen Sprachstoffs im Buch
der Heiligen
Dreifaltigkeit.
In: Poetiken der Materie.
Stoffe und ihre Qualitäten in Literatur, Kunst und Philosophie. Hrsg. von THOMAS STRÄSSLE/ CAROLINE TORRA-MATTENKLOTT, Freiburg i.Br. 2005 (Rombach Wissenschaften. Litterae 132), S. 145-164; JOACHIM TELLE: .Ulmannus'. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Zweite, völlig neu bearbeitete Aufl., Bd. 11, Berlin, N e w York 2004, Sp. 1573-1580.
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Christian Kiening
Zaubergeschichte sterblichen Menschen das Kunststück, wirkmächtige Götterrede auszusprechen, ohne sich anzumaßen, selbst eine Gottheit zu sein." 72 Analog dazu ist der Sprechakt in der Messe hoc est corpus meum ein zugleich referentiell-uneigentlicher und liturgisch-ernsthafter zwischen Magie und Spiel und verweisen die eucharistischen Deiktika des Spiels auf eine Fülle, die sich erst im Imaginären des Glaubens eröffnet. Im Falle des lateinischen Liebeszaubers partizipiert der Gestus der Beschwörung per signa Dei et per omnes virtutes Dei (Ζ. 50 f.) an der Macht des Gebets, die er umlenkt auf das Kraut und über dieses auf den begehrten Körper. Er gehorcht einer Mechanik des Heils, die, spätmittelalterlichen Frömmigkeitspraktiken nicht unähnlich, das faktisch nicht Berechenbare in ein Kalkül zwingen will. 73 Im Zentrum steht eine doppelte Analogie: zwischen dem Spruch und dem Gebet sowie zwischen dem Kraut und magisch wirksamen christlichen Objekten wie der Hostie oder den Reliquien. Wie jene ist Verbena, als herba piira geltend, 74 eine Verkörperung des Übernatürlichen, an das sich der Mensch hilfesuchend wendet, eine Repräsentation der Macht, die alles vermag: ut modo audias me et facias me precepta (Ζ. 16 f.). Doch anders als jene ist Verbena keine realsymbolische Größe, die Heil und Heilsgeschichte in nuce enthält. Sie ist nur deren Transportmittel, ist als Pflanze ein Teil der Natur und ein Medium der Übertragung, das der Kräfte bedarf, die es speisen. Anders aber auch als Maria, mit der sie verglichen wird, ist sie kein von Gott erkorenes und zu Gott erhobenes Gefäß, das den Menschen auf die Ebene des Göttlichen transportiert. Sie dient keiner Heilsübermittlung, sondern einer Einflussnahme, die wiederum ohne den Rückgriff auf das göttliche Wort nicht auskommt. Im Spiel der Analogien und Differenzen wird schlaglichtartig etwas von der Verheißung deutlich, die nicht nur der Zauberspruch, sondern auch das ihm vorangehende Fronleichnamsspiel nährt: die Verheißung, in der Verbindiuig von Ding und Wort könne die Transzendenz als solche in der Immanenz wirksam werden. Was das Spiel kontrollieren muss, indem es präsentische Strategien dogmatisch rückversichert, kann der Spruch ausphantasieren - nur, um seinerseits, in einer klerikalen Handschrift aufbewahrt, den Formen der Kontrolle schließlich wieder zu unterliegen. Als die Handschrift (vor 1445) nach Neustift kam, strich ein Leser den Zauberspruch durch und fügte vielleicht ein anderer zum Spiel von Mariae Himmelfahrt und zum Osterspiel, im Blick auf 72
MEINOLF SCHUMACHER: Geschichtenerzählzauber. Die Merseburger Zaubersprüche und die Funktion der historiola im magischen Ritual. In: Erzählte Welt - Welt des Erzählens. Festschrift für Dietrich Weber. Hrsg. von RÜDIGER ZYMNER u.a., Köln 2000, S. 201-215, hier 213 (ebd. auch zur Eucharistie).
73
ARNOLD ANGENENDT u . a . : G e z ä h l t e F r ö m m i g k e i t . In: F r ü h m i t t e l a l t e r l i c h e S t u d i e n 2 9 ( 1 9 9 5 ) ,
S. 1-71; RACHEL FULTON: Praying by Numbers (2005, online: http://home.uchicago.edu/ -rfulton/numbers.htm). 74
Vgl. ISIDOR: Etymologiae. Hrsg. von Wallace Μ. Lindsay, Oxford 1911, XVII, 9, 55.
Präsenz - Memoria - Performativität
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mögliche Aufführungen, marginale Rollenkennzeichnungen und Szenenmarkierungen hinzu. 75 Die Federproben auf dem freien Blatt am Ende (nach dem Zauberspruch) stammen wohl von Benutzern, die sich mit einzelnen Rollen oder Passagen beschäftigten bzw. diese auf andere Blätter übertrugen - sie betreffen überwiegend Szenen fröhlich-derben Charakters. 76 Doch stellte auch eben jene Person, welche die Marginalien anbrachte, dem Fronleichnamsspiel die Bemerkung voran: Incipit Indus ntilis pro denocionem simplicium intimandus/ et peragendus die corporis Christi uel infra octavas de fide katholica/ Sumentur persone litterate et apte et sie de aliis (f. 50 v ). Die Notiz bringt in aller Kürze wesentliche Aspekte des Spiels auf den Punkt. Sein Datum: am Fronleichnamstag oder in der folgenden Octav. Sein Thema: der christliche Glaube. Seine Funktion: Förderimg der Andacht der einfachen Leute. Seine Organisation: unter Mitwirkung geeigneter, gebildeter, schriftkundiger Personen - was anscheinend auch für die anderen Spiele (sie de aliis) zu gelten hat. So wie auch das Osterspiel trotz seiner ausgedehnten Krämerszenen mit seinem Schluss wieder fest in der lateinischen Liturgie verankert ist, so erfordert auch das Fronleichnamsspiel Sinn für theologische, dogmatische und liturgische Zusammenhänge. Der Benutzer überführt mit seinem Incipit vor dem Incipit den lyber de corpore Christi von neuem in einen Indus, kennzeichnet aber schon durch den Begriff peragendus dessen Charakter als Vollzug eines Musters (volkssprachige Glossare glossieren peragere mit Volbringen). Zugleich verweist er auf die Notwendigkeit, die Kontrolle über die Durchführung des Vollzugs im Auge zu behalten, man möchte ergänzen: die Kontrolle über jene Präsenzphantasmen und Performanzexzesse im Auge zu behalten, von deren auch klerikaler Verbreitung der lateinische Zaubersprach zeugt. Daraus lässt sich auch lernen: Es bringt wenig, das Mittelalter global als Zeitalter der Präsenz einzustufen. 77 Interessanter dürfte es sein, die Formen, Mechanismen und Strategien herauszuarbeiten, die der Produktion wie der Kontrolle, der Steigerimg wie der Eindämmung präsentischer Verfahrensweisen dienten und sich ihrerseits im Lauf der Zeit immer wieder veränderten. Gerade am Umgang mit der Eucharistie, mit Reliquien und Bildern lässt sich dies gut verfolgen. Im späteren Mittelalter kommt es nicht einfach zu einem exzessiven Ausspielen von Präsenzformen, sondern auch zu immer neuen Anläufen, diese zu entmaterialisieren und zu spiritualisieren, an Dogma und Liturgie rückzubinden. 78 Dieses je neue Ineinander von Symbolisierung und 75
MAX SILLER: Die Innsbrucker Spielhandschrift und das geistliche Volksschauspiel in Tirol. In: ZfdPh 101 (1982), S. 389-411.
76 77
Hier S. 404. So PETER CZERWINSKI: Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und zyklische Zeiten, Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung 11, München 1993.
78
Am Beispiel der eucharistischen Dimension des Altars HEIKE SCHLIE: Von außen nach innen, am Scharnier von Präsenz und Absenz. Die Gregorsmesse und die Medialität des Klappreta-
168
Christian Kiening
Desymbolisierang wurde zwar im reformatorischen Diskurs von verschiedenen Seiten her aufgelöst, spätestens im nach- und gegenreformatorischen aber neu in Geltung gesetzt, teilweise unter Verschiebung auf andere Schauplätze. 79 Ähnliches wäre wohl für die memorialen Dimensionen zu beobachten: Sie stehen nicht nur im Zusammenhang der Heilsvergewisserang und Traditionssicherung, sondern auch der Argumentation und Abgrenzung. Sie oszillieren zwischen einem materiellen und einem spirituellen Übertragungsmodell, wobei das zweitere zwar im späteren Mittelalter an Dominanz gewinnt, 80 das erstere aber noch bis in die frühneuzeitlichen Sehtheorien hinein eine Rolle spielt. Schließlich die performativen Dimensionen: Sie beschränken sich nicht auf das, was in konkreten Aufführungen zum Austrag gekommen sein mag. Sie betreffen die grundsätzlichen Möglichkeiten schriftlicher Aufzeichnungen, den Status der Schrift als bloßes Mediiun der Registratur zu überschreiten: indem Sachverhalte prozessual entfaltet werden, indem Texte sich einschreiben in die Memoria einer Gemeinschaft, indem es zur Partizipation an liturgischen, kultischen und rituellen Vollzügen kommt. Auch dies wird mit der Umstellung auf mechanische Vervielfältigung nicht einfach beseitigt. Wohl aber bedingt die Ausdifferenzierung literarischer, künstlerischer und theatraler Praktiken jenes Unselbstverständlichwerden, das wiederum neue Auratisierungen ermöglicht. So verstanden, könnten Präsenz, Memoria und Performativität eine Matrix eröffnen, in der sich die Medialität (volkssprachiger) mittelalterlicher bzw. vormoderner Texte differenzierter als bisher beschreiben ließe. 81
bels. In: Das „Goldene Wunder" in der Dortmunder Petrikirche. Bildgebrauch und Bildprod u k t i o n . H r s g . v o n BARBARA W E L Z E L / T H O M A S L E N T E S / H E I K E SCHLIE, B i e l e f e l d 2 0 0 3
79
(Dort-
munder Mittelalter-Forschungen 2), S. 201-222. Vgl. JOACHIM KÜPPER: Repräsentation und Real-Präsenz. Bemerkungen zum auto sacramental (Calderön: Psiquis ν Cupido). In: Theatralität und die Krisen der Repräsentation. Hrsg. von ERIKA FISCHER-LICHTE, Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbd. 22), S. 83-100. Zu den Möglichkeiten einer Bildpräsenz des Transzendenten VICTOR 1. STOICHITA: Das mystische Auge. Vision und Malerei im Spanien des Goldenen Zeitalters, München 1997.
so
LENTES, Auf der Suche (Anm. 15).
si
Das ist eines der Ziele des neuen vom Schweizerischen Nationalfonds und der Universität Zürich geförderten Nationalen Forschungsschwerpunkts Medienwandel - Medienwechsel Medienwissen. Historische Perspektiven, dessen Teilprojekt C.l. sich besonders mit dem geistlichen Spiel beschäftigt (vgl. www.mediality.ch).
CORNELIA HERBERICHS
Lektüren des Performativen Zur Medialität geistlicher Spiele des Mittelalters
The manuscripts of the vernacular religious plays prove that a dichotomy between reading text and performing text is insufficient to define the historical situation of the texts. Cultural studies approaches investigating the status of the body, ritual and theatricality in the plays tend to overlook the complex and oscillating manuscript transmission and remain oriented towards their bodily performance. In this essay our attention is drawn once again to related texts and parallel performance situations for the plays, in which the line between reading and performance seems also to be blurred, thereby bringing us closer to the alterity of the textual status of religious plays.
1. Schrift und Aufführung In der germanistischen Auseinandersetzung um das mittelalterliche geistliche Spiel zeichnen sich gegenwärtig insbesondere zwei Interessenkomplexe ab, von denen ausgehend auf jeweils verschiedene und auf jeweils grundsätzliche Weise nach den Funktionsbedingungen mittelalterlicher geistlicher Spiele gefragt wird. Aus einer vornehmlich überlieferungsgeschichtlichen Perspektive ist dies die Frage nach den historischen Rezeptionsformen der Spieltexte, aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive ist es die Frage nach der Alterität von deren theatraler Semiotik. Beide Richtungen seien hier in knappen Hinweisen auf einzelne jüngere Studien skizziert: Die überlieferungsgeschichtlichen Fragestellungen schließen an die von W E R N E R W I L L I A M S - K R A P P aufgeworfene Diskussion über den Gattungsbegriff des geistlichen Schauspiels an.' W l L L l A M S - K R A P P s provozierende These lautete, der Mehrzahl der 200 uns erhaltenen Spieltexte sei deren gängige Klassifizierimg als ,Schauspiel' abzuerkennen, da die handschriftlichen Überlieferungsträger der geistlichen Spiele zumeist mit einer Aufführung empirisch in keinen Zusammenhang zu bringen seien. Die überlieferten Spiele müssten demnach als für die Lektüre bestimmte Texte angesehen werden. Der Terminus ,Schauspiel' aber sei ausschließlich Ι
W E R N E R W I L L I A M S - K R A P P : Überlieferung und Gattung. Zur Gattung ,Spiel' im Mittelalter. Mit einer Edition von .Sündenfall und Erlösung' aus der Berliner Handschrift mgq 496, Tübingen 1 9 8 0 . Vgl. D E R S . : Zur Gattung ,Spiel' aus überlieferungsgeschichtlicher Sicht. In: Germanistik - Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Gernianistentages 1984,
2. Teil. H r s g . v o n GEORG STÖTZEL, B e r l i n / N e w York 1985, S. 1 3 6 - 1 4 3 .
170
Cornelia Herberichs
jenen Zeugnissen vorzubehalten, die nachweislich in einer theatralen Auffuhrung dargeboten wurden. Auf seine Studie reagierten mit kritischem Einspruch ROLF BERGMANN u n d HANSJÜRGEN LINKE u n d t r u g e n aus unterschiedlichen
Perspektiven wesentlich zur Differenzierung der aufgeworfenen Problematik bei, indem sie geltend machten, dass die Funktion eines Überlieferungsträgers mit der Funktionsbestimmung eines Textes nicht zwingend übereinstimmen müsse. Schauspieltexte durchaus in Lesehandschriften überliefert sein könnten, ohne dass diese dabei ihren Gattimgscharakter als ,Schauspiel' einbüßten. 2 In jüngster Zeit hat sich die Gemeinschaftsstudie von BERND NEUMANN und DIETER TRAUDEN der terminologischen und funktionalen Problematik in der Kategorisierung geistlicher Spieltexte gewidmet; sie plädiert dafür, der Gattung ,Spiel' auch solche Texte zuzurechnen, deren Überlieferungsform sie als Lektine bestimmt. 3 NEUMANN/TRAUDEN verwenden für diese Fälle programmatisch den Begriff ,Lesedrama'. Als Lesedramen könnten demnach geistliche Spiele gelten, deren Lektüre eine „imaginäre Aufführungssituation evoziert", 4 Spieltexte, die eine „Aufführungsfiktion" 5 erzeugten. Die Klassifizierung geistlicher Spieltexte als .Lesedramen' bindet diese also nunmehr an die theatrale Darbietung zurück, indem die Aufführung den Texten als visuelle Assoziation eingeschrieben sei. Die potentielle Möglichkeit bzw. das intendierte Rezeptionsangebot einer imaginierten Aufführung markiere die Differenz zwischen geistlichen Spieltexten und anderen zeitgenössischen Gattungen dialogisch strukturierter Literatur. Die Kontroverse um die Gattungsbegriffe ,Schauspiel' und ,Lesedrama' berührt sich bislang noch kaum mit der aktuellen Diskussion um den rituelltheatralen Status geistlicher Spiele. Die jüngere kulturwissenschaftliche Diskussion hat, Impulse der in den letzten Jahren intensiv diskutierten Studie von RAINER WARNING aufgreifend, das Augenmerk auf die Nähe des geistlichen Spiels zu Formen religiösen Kultes gerichtet und das „kultisch-rituelle Selbst2
ROLF BERGMANN: Auffuhrungstext und Lesetext. Zur Funktion der Überlieferung des mittelalterlichen geistlichen deutschen Dramas. In: The Theatre in the Middle Ages. Hrsg. von H E R M A N B R A E T / J O H A N N O W E / G I L B E R T TOURNOY, L e u v e n 1 9 8 5 ( M e d i a e v a l i a L o v a n i e n s i a 1/
XIII), S. 314-351; HANSJÜRGEN LINKE: Versuch über deutsche Handschriften mittelalterlicher Spiele. In: Deutsche Handschriften 1100-1400. Oxforder Kolloquium 1985. Hrsg. von VOLKER H O N E M A N N / N I G E L F. PALMER, T ü b i n g e n
1988,
S. 5 2 7 - 5 8 8 . E i n e T y p o l o g i s i e r u n g
französi-
scher Spielhandschriften entwirft GRAHAM A. RUNNALLS: Towards a Typology of Medieval French Play Manuscripts. In: The Editor and the Text. Essays in Honour of Anthony John H o l d e n . H r s g . v o n G R A H A M Α . RUNNALLS/PHILLIP Ε . BENNETT, E d i n b u r g h 1 9 9 0 , S. 9 6 - 1 1 3 . 3
B E R N D N E U M A N N / D I E T E R TRAUDEN: Ü b e r l e g u n g e n z u e i n e r N e u b e w e r t u n g
des
spätmittel-
alterlichen religiösen Schauspiels. In: Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von HANS-JOACHIM ZIEGELER, Tübingen 2004, S. 31-48. Vgl. auch DIETER TRAUDEN: Archetyp oder Auffuhrung? Überlegungen zur Edition mittelalterlicher Dramen. In: ABäG 37 (1993), S. 131-145. 4
N E U M A N N / T R A U D E N ( A n m . 3 ) , S. 3 7 .
5
Hier S. 35.
Lektüren des Performativen
171
Verständnis" der geistlichen Spiele herausgearbeitet. 6 CHRISTOPH PETERSEN zeigte in seiner grundlegenden Studie zu Osterfeiern und Osterspielen, dass diesen dramatischen Texten ein besonderer Umgang mit der Körperlichkeit des Auferstandenen eigne. 7 Die Spiele stünden in einem komplementären Verhältnis zur eucharistischen Wandlung des Brotes, indem die Osterspiele den Körper Christi in der Auffuhrung wahrnehmbar machten. Der Abstraktion der Messfeier antworte das Osterspiel mit der Anschaulichkeit der körperlichmimetischen Theatralität und mache die Präsenz des Erlösers performativ, physisch wahrnehmbar, in einem Präsenzeffekt sieht- und erfahrbar. 8 Im besonderen Zeitmodus der Osterspiele werde die dargestellte Christus-Figur ,entreferentialisiert' - der Darsteller fungiert hier nicht als Zeichen - so dass die in der Aufführung vergegenwärtigte Zeit und die Zeit der Aufführung ineins kommen. 9 Mit seinen Studien leistet PETERSEN auch eine Fortführung des medienanalytischen Ansatzes von JAN-DIRK MÜLLER, der von den Passionsszenen geistlicher Spiele ausgehend die mediale Differenz zwischen Spielaufführungen und Passionsliteratur herausgearbeitet hat. Als besonderen Effekt der Schauspiele beschreibt MÜLLER deren Leistung, dem Zuschauer den gemarterten Körper Christi vor Augen zu stellen, den Körper, den sich der Lesende von Passionstraktaten meditierend hingegen erst - in einem metaphorischen Sinne - ,vor Augen stellen' müsse. 1 0 Die Aufmerksamkeit dieser 6
7 s
9
RAINER WARNING: Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels. München 1974 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste. Texte und Abhandlungen 35). CHRISTOPH PETERSEN: Ritual und Theater. Meßallegorese, Osterfeier und Osterspiel im Mittelalter, Tübingen 2004 (Münchener Texte und Untersuchungen 125). Hier S. 180: „Das Osterspiel ist ein Dispositiv, das ein kollektives Verlangen nach der Präsenz Christi in Handlung umsetzt und die Erfahrung dieser Präsenz ermöglicht. [...] Indem das Spiel die Ostergemeinde auf die anschaubare Gegenwart Christi zurückführt, fungiert es als .mythische' Variante jener unanschaubar-sakramentalen Vergegenwärtigung Christi in der Ostermesse." Siehe hier S. 175-180; vgl. zur Aufhebung von Referentialität in den Marienklagen DERS.: Imaginierte Präsenz. Der Körper Christi und die Theatralität des geistlichen Spiels. In: Das Theater des Mittelalters und der frühen Neuzeit als Ort und Medium sozialer und symbolis c h e r K o m m u n i k a t i o n . H r s g . v. CHRISTEL MEIER/HEINZ MEYER/CLAUDIA SPANILY, M ü n s t e r
2004 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme; Schriften des Sonderforschungsbereichs 496 4), S. 45-61. 10
IAN-DIRK MÜLLER: Mimesis und Ritual. Zum geistlichen Spiel des Mittelalters. In: Mimesis und
S i m u l a t i o n . H r s g . v o n ANDREAS KABLITZ/GERHARD NEUMANN, F r e i b u r g i . B r .
1998,
S. 541-571, hier S. 556: „Was wenige in Visionen erfahren, stellen die Spiele vor aller Augen. [...] Die szenische Repräsentation nimmt dem Betrachter die Anstrengung der Imagination ab, indem sie zur Sprache [...] das anschaubare Geschehen fügen": DERS.: Das Gedächtnis des gemarterten Körpers im spätmittelalterlichen Passionsspiel. In: Körper - Gedächtnis - Schrift. Der Körper als Medium kultureller Erinnerung. Hrsg. von CLAUDIA ÖHLSCHLÄGER/CLAUDIA WIENS, Berlin 1997, S. 75-92. Von der Intensivierung der emotionalen Wirkung bei den Zuschauern durch die Kombination von „Wort und mimische[r] Ausführung" handelt URSULA SCHULZE: Schmerz und Heiligkeit: Zur Performanz von Passio und Compassio in ausgewähl-
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kulturwissenschaftlichen Analysen des geistlichen Spieles für den Körper, insbesondere den Körper des Erlösers, geht dabei dezidiert von einer Aufführungssituation aus, die aus dem Wortlaut der überlieferten Texte abgeleitet werden könne. Angesichts einer Forschungssituation, in der man sich einerseits von der Textualität der Überlieferung und andererseits vom Zeichenstatus der Auffuhrung dem historisch spezifischen Status geistlicher Spiele annähert, erscheint es derzeit notwendig, Wege zu erproben, den kulturwissenschaftlichen mit dem überlieferungsgeschichtlichen Befund der Handschriften zusammenzudenken. Die Ausgangslage erweist, dass nunmehr ein Modell zu entwickeln ist, das die jüngst gewonnenen Ergebnisse und Perspektiven zu integrieren vermag. Zentraler Ausgangspunkt einer solchen Annäherung wäre eine historisch adäquate Bestimmimg des medialen Status der Spieltexte. Denn setzt man eine zeitgenössische Lektürepraxis von Osterspielen voraus, verschiebt sich die Frage nach der Repräsentationsleistung dieser Texte, die Frage nach den von ihnen gesteuerten Präsenzeffekten. Der Körper eines Darstellers in seiner leiblichen Zeichenhaftigkeit, anschaubare Gebärden und die akustischen Qualitäten der Musik entfallen als Medien der Kommunikation im Modus privater Lektüre. Wenn dem aufgeführten Osterspiel eignet, dass es die „anschaubar-körperliche Präsenz des Auferstandenen" sichtbar mache, 1 1 wie lässt sich dann das Interesse an Osterspielen als gelesene Texte beschreiben? Findet eine Entreferentialisieriuig zweiter Ebene statt, indem die körperliche Substitution des realen Erlösers im Text in einer ,Aufführungsfiktion' imaginiert wird? Da die Beschreibung von geistlichen Spielen als Rituale die Performanz an ein anwesendes Kollektiv knüpft, 1 2 bleibt auch zu fragen, welche Funktion die gemeinschaftsstiftende Dimension im privat gelesenen Text einnimmt. Lässt sich dann von einer ,mythischen Religiosität der Ost erspiele' als gelesene Texte noch im identischen Sinne sprechen wie im Zusammenhang mit Aufführungen? Die Frage nach dem medialen Status der Spieltexte läßt sich umso schwerer beantworten, als angesichts der vielgestaltigen Überlieferung textspezifische Kategorisieriuigen vorgenommen werden müssen. 1 3 Eine fein verästelte Typo-
ten Passionsspieltexten (Mittelrheinisches, Frankfurter, Donaueschinger Spiel). In: Forschungen zur deutschen Literatur des Spätniittelalters. Festschrift für Johannes Janota. Hrsg. von HORST BRUNNER/WERNER WILLIAMS-KRAPP, Tübingen 2003, S. 211-232, hier S. 218. Siehe zum Verhältnis von Aufführung und Überlieferung auch die Überlegungen von NIKOLAUS HENKEL: Mediale Wirkungsstrategien des mittelalterlichen .Dramas'. Ein Beitrag zur Konstruktion historischer Intermedialität. In: Medien der Kommunikation. Hrsg. von KARL-HEINZ SPIESS, Wiesbaden 2 0 0 3 (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte 15), S. 237-263, hier bes. S. 2 5 6 f. 11
PETERSEN (Anm. 7), S. 180.
12
Vgl. die Ritualdefinition hier S. 12, vgl. auch MÜLLER: Mimesis und Ritual (Anm. 10), S. 562.
13
Vgl. BERGMANN (Anm. 2), S. 326 f. und LINKE (Anm. 2), S. 526 f.
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logie differenziert zwar einerseits die dichotomische Typenkategorisierung ,Aufführungstext' versus ,Lesetext', zugleich verfestigt sie jedoch das binäre Modell. 14 Der Versuch scheint lohnend, die Spiele nimmehr einerseits als Lesetexte unabhängig von Aufführungsmodalitäten zu beschreiben und sie andererseits als Spieltexte von anderen Gattungen geistlicher Literatur, die keine Dramenstruktur besitzen, in ihrer spezifischen Kommunikationsform und Semiotizität zu profilieren. 15 Die Spieltexte unterscheiden sich trotz diverser Analogien zur Dialogliteratur kategorial von dieser, 16 einerseits indem sie mit tatsächlichen Aufführungen in Verbindiuig stehen 17 und andererseits indem sie narrative, kohärente Handlungsstrukturen aufweisen. Die Bemühungen um eine adäquate Beschreibung der Funktions- und Rezeptionsweisen der deutschsprachigen Spieleüberlieferung verlangt eine multiperspektivische Annäherimg, um mit dem Hybridbegriff ,Lesedrama' nicht in jene Dichotomie von Auffuhrung und Schrift zu geraten, die spezifischen Epochen der Neuzeit eignet. 18 Es bedarf eines Versuches, von den zeitgenössischen Frömmigkeitsformen und -praktiken, von den Grenzen und Grenzüberschreitungen der heterogenen und gleichzeitigen Medien mittelalterlicher Frömmigkeit auf die historisch spezifischen medialen Eigenheiten geistlicher Spieltexte zu schließen. Um einerseits die Analogien zu und andererseits die Differenzen von anderen Gattungen geistlicher Literatur zu benennen, bedarf es der Annäherungen von verschiede-
14
Vgl. die sieben Typen und Mischformen in RUNNALS (Anm. 2), S. 100-108. Siehe zum „crossover" verschiedener Rezeptionsformen die methodischen Überlegungen von MARTA STRAZNICKY: Closet Drama. In: A Companion to Renaissance Drama. Hrsg. von ARTHUR F. KINNEY, Oxford 2004 (Blackwell Companions to Literature and Culture 14), S. 416-430, hier S. 427.
15
Zu einer diachronen, theatergeschichtlichen Perspektive siehe HANS-ULRICH GUMBRECHT: Für eine Erfindung des mittelalterlichen Theaters aus der Perspektive der frühen Neuzeit. In: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Hrsg. v. JOHANNES JANOTA u.a., 2 Bde., Tübingen 1992, Bd. 2, S. 827-848.
16
Zu den Analogien zwischen Spieltexten und Dialogliteratur siehe WILLIAMS-KRAPP: Zur Gattung .Spiel' (Anm. 1), S. 138.
17
Auch wenn keine konkreten Zuordnungen zwischen Textzeugnissen und Aufführungen möglich sind, hat eine theatrale Aufführung als historische Praxis Konsequenzen für den semiotischen Status der Spieltexte; vgl. NEUMANN/TRAUDEN (Anm. 3).
is
Den Begriff ,Lesedrama' einer historischen Definition zu unterziehen, kann im derzeitigen Stadium nur versucht werden. WILLIAMS-KRAPP: Überlieferung und Gattung (Anm. 1), S. 21, hat auf die zugrunde liegende Problematik bereits dezidiert hingewiesen, da der Begriff ,Lesedrama' „aus der modernen Literatur entliehen" wurde und mittelalterliche Texte in ihn möglichst nicht „hineingepreßt" werden sollten. WILLIAMS-KRAPP verwendet daher programmatisch den weiteren Begriff .Lesetext' und nimmt in Kauf, die dramenstrukturelle Anlage der Gattung damit auszublenden. Siehe zur Notwendigkeit der Historisierung auch PAUL STEFANEK: Lesedrama'? Überlegungen zur szenischen Transformation .bühnenfremder' Dramaturgie. In: Das Drama und seine Inszenierung. Vorträge des internationalen literatur- und theatersemiotischen Kolloquiums Frankfurt a.M. 1983. Hrsg. von ERIKA FISCHER-LICHTE (Medien in Forschung + Unterricht: Serie A, Band 16), S. 133-145, hier S. 134.
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nen Rändern. Im Folgenden werden vier mögliche Übergangszonen skizzenhaft angesprochen und Zusammenhänge thesenhaft angedeutet: Es sind dies die Praktiken figuraler Rede im liturgischen Gebet, multimediale Kombinationen von musikalischen und sprachlichen Frömmigkeitsformen und die Mechanismen religiöser Gemeinschaftskonstitution. Eine vergleichende Betrachtung zwischen Spieltexten und narrativer geistlicher Epik vermag überdies die Spezifik von narrativen und dramatischen Textformen zu erhellen.
2. Liturgie als Rollengebet Aufgrund der Genese geistlicher Spiele stellt das monastische Stundengebet ihren wichtigsten kontextuellen Bezugsrahmen dar. Die Osterfeier formierte sich als paraliturgische Praxis nach der Matutin des Ostermorgens und konstituierte in ihrem mimetisch-szenischen Darstellungsmodus eine gegenüber dem Stundengebet neuartige performative Kommunikationsform.' 9 Gleichzeitig aber bleibt die Osterfeier hinsichtlich bestimmter performativer Aspekte dem Kommunikationsrahmen des Stundengebets verhaftet. Die Aufmerksamkeit, welche die jüngere Spieleforschung auf die Messallegorese verwendet, richtet das Augenmerk vornehmlich auf die Eucharistiefeier und die liturgischen Elemente, welche diese rahmen und bedingen. 20 Eine Brücke zwischen der physischen Präsentwerdung des Erlösers in der Eucharistiefeier und den geistlichen Spielen bilde das Begehren, den Körper Christi sinnlich wahrnehmbar zu erfahren. 21 Neben der Messallegorese bilden auch das allegorische Tageszeitenverständnis des Stundengebets und der semiotische Status der ihm zugrunde liegenden Texte für das geistliche Spiel zentrale Bezugspunkte. Eine Bedingung für die Ausbildung der szenischen Visitatio sepiilchri gründete in einer allegorischen Auslegung der Horarien als rememorativer Vollzug des sich jeden Tag wiederholenden Passions- und Ostergedenkens. 22 Neben dem heilsge19 20
Zur semiologischen Differenz siehe PETERSEN (Anm. 7), S. 77-87. .TAN-DIRK MÜLLER: Realpräsenz und Repräsentation. Theatrale Frömmigkeit und Geistliches Spiel. In: ZIEGELER (Anm. 3); zur Allegorese des Hochamtes grundlegend PETERSEN (Anm. 7).
21
PETERSEN (Anm. 7), S. 183; vgl. RAINER WARNING: Auf der Suche nach dem Körper. Das Imaginäre des geistlichen Spiels. In: Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von HANS-JOACHIM ZIEGELER, Tübingen 2004, S. 343-359, hier S. 345 und 359.
22
ADOLF KOLPING: Amalar von Metz und Florus von Lyon. Zeugen eines Wandels im liturgischen Mysterienverständnis in der Karolingerzeit. In: ZKTh 73 (1951), S. 424-464, hier S. 433 f. und 457 Anm. 198. Die Liturgieallegorese Amalars von Metz weist dem Stundengebet eine mimetische Struktur zu, wobei die sieben Gebetszeiten mit dem Leben und Leiden Jesu kombiniert werden; siehe SUITBERG BÄUMER: Geschichte des Breviers. Versuch einer quellenmäßigen Darstellung der Entwicklung des altkirchlichen und des römischen Officiums bis auf unsere Tage. Freiburg i.Br. 1895, S. 279-302; ARNOLD ANGENENDT: Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 3 2005, S. 429 f. Zur Allegorese der Tagzeiten, insbeson-
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schichtlichen Verständnis der Tagesstruktur stellt auch die Gebetspraxis des Stundengebetes eine Bedingung für die Ausformung der Osterfeier dar. Im Zuge der früh- und hochmittelalterlichen Institutionalisierimg des Officiums hatte sich eine Kommunikationsform in der monastischen Gebetspraxis herausgebildet, die einen spezifischen Umgang mit den biblischen Texten förderte. Die vorbenediktinische Praxis der Psalmenlesung durch einen Vorleser vor der Gemeinschaft, wurde sukzessive abgelöst von der gegenchörigen Praxis des Psalmengebets, die sich im Hochmittelalter fest etabliert hat: Zwei im Oratorium sich gegenüberstehende Chöre singen wechselweise die einzelnen Psalmverse. Die Praxis der Psalmen-orafr'o anstelle ihrer lectio bedingt ein spezifisches Rollenverhalten der Betenden, die sich die Ich-Form der Psalmen im Vortrag anverwandeln. 23 Weitere Elemente des Stundengebetes, wie diverse Responsorien und die sich wöchentlich bzw. täglich wiederholenden cantica, stützen das Rollenverständnis liturgischen Gebets: Die nach der Benediktregel täglich gemeinschaftlich zu singenden cantica Magnificat (Lk 1,46-55) der Gottesmutter und das Benedictas (Lk 1,68-79), ebenso wie das Nunc dimittis des Simeon (Lk 2,29-32) sind weitere Beispiele für Gebete in der Ich-Form. 24 Das Reproduzieren dieser direkten Reden aus den Evangelientexten versetzt die betenden Personen in die Rolle biblischer Figuren. Im Gegensatz zur Messe, der ein stellvertretender Priester vorsteht, erlaubt das liturgische Stundengebet dergestalt allen Betenden die Identifikation mit den historischen Figuren der Bibel. Auch im privaten Gebet des Brevier vollzieht sich die allegorische Übertragung von biblisch-historischen Texten in der Ich-Form auf die Gegenwart des Gebets; in der Lektüre des Horologiums wird die semiologische Kluft zwischen Gebet und liturgischer Feier aufgelöst. Von hier aus läßt sich nun auf den textuellen Status der Osterfeiern blicken: Mit ihren körperlich-mimetischen Anweisungen in den Rubriken reproduzieren Spieltexte zwar nicht die identifikatorischen Elemente liturgischer Gebetspraxis, doch sind gewisse Analogien zu verzeichnen. Der Unterschied zwischen liturgischem Gebet und szenischer Osterfeier gründet insofern in einem Prinzip der Steigerung dere der Auslegung in den Gemma animae II des Honorius Augustodunensis hier S. 807, Anm. 48-50. - Von einer Entwicklung von Anamnese zu Mimesis in der Tagzeitenliturgie angesichts der Herausbildung der Visitutio spricht ANGELUS HÄUSSLING: .Stundengebet'. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 8, München 1999, Sp. 260-265, hier Sp. 264 f.; DERS.: J a g z e i tenliturgie'. In: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 9, Freiburg i.Br. u. a 2000, Sp. 12321241, vgl. Sp. 1234. 23
Vgl. zu diversen Konzepten des ego im Gebet des Psalters BALTHASAR FISCHER: Die Psalmenfrömmigkeit der Regula S. Benedicti (1949). Zwei Vorlesungen. In: Die Psalmen als Stimme der Kirche. Gesammelte Studien zur christlichen Psalmenfrömmigkeit. Hrsg. von ANDREAS HEINZ anläßlich des 70. Geburtstages von Prof. Dr. Balthasar Fischer am 3. Sept. 1982, Trier 1982, S. 37-71.
24
MARKUS JENNY: .Cantica'. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 7, Berlin u.a. 1981, S. 624-628. Das Nunc dimittis ist erst spät obligatorisch in die Komplet integriert worden und belegt besonders anschaulich die Subjektivierung der biblischen Rede im canticum.
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eines bereits im kollektiven Gebet angelegten Repräsentationsprinzips. Die chorische Repräsentation funktioniert nicht szenisch und ist nicht an körperhafte Darstellung geknüpft, doch konstituierte das liturgische Stundengebet wie auch seine private Ausübung einen Übergangsbereich, in dem sich die Lektüre eines Feier- bzw. Spieltextes ereignen konnte: Die in der Privatandacht anhand der Stundenbücher eingeübten ,mimetischen' Gebetsmodi können somit auch auf die private Lektüre der Spiele übertragen werden. Einige Schwierigkeiten in der Bestimmung der Medialität von Spieltexten haben eine Entsprechung in den mittelalterlichen Gebetbüchern, denn auch diese lassen sich in die Dichotomie von Text und Aufführung, in das zweipolige Beschreibungsraster ,Lektüre vs. Performanz' nicht einordnen.
3. Gelesene Musik Die Verschriftung von Musik besitzt im späten Mittelalter ebenfalls einen komplexen und oszillierenden Charakter, was sich anhand einiger privater Andachtsbücher beobachten lässt. So ist im Zeitglöcklein des Dominikaners Berthold, ein dem Horologiiun entlehntes Gebetsbuch für den privaten Gebrauch (14. oder 15. Jahrhundert) die Antiphon Veni sancte spiritas dem persönlichen Gebet anheim gestellt, das nicht eine gesangliche Aufführung beinhaltet. 25 Dass der Musik im Privatgebet ein eigener medialer Status zugeordnet ist, der nicht automatisch mit dem musikalischen Vortrag zu tun hat, erhellt bereits das Pseudo-Alkuinsche Traktat De psalmoriim usu (9. Jh.), in welchem das private Beten der Mönche mit den Begriffen cantare sub silentio bzw. in alto sub silentio belegt ist. 26 Auch Anweisungen zum Gesang sind demnach in einem doppeldeutigen Status performativer Medialität zu sehen, die einem modernen Verständnis von Lesetexten zuwiderläuft. In dem in einer Lesehandschrift überlieferten so genannten Spiel vom Sündenfall des Arnold Immessen wird am Ende das lesende ,Publikum' aufgefordert, den Gesang Sancta maria virgo anzustimmen; 27 das Münchner Osterspiel stellt ein weiteres Beispiel für einen eindeutig als Lesedrama bestimmten Spieltext mit inserierten, vollstän-
25
Zum Zeitglöcklein grundlegend SABINE GRIESE: Das Andachtsbuch als symbolische Form. Bertholds Zeitglöcklein und verwandte Texte als Laien-Gebetbücher und -Bilder. In: The Mediation of Symbol in Late Medieval and Early Modern Times. Medien der Symbolik in Spätm i t t e l a l t e r u n d F r ü h e r N e u z e i t . H r s g . v o n RUDOLF SUNTRUP/JAN R . VEENSTRA/ANNE BOLL-
MANN, Frankfurt a.M. u.a. 2005, S. 3-35. 26
PETER OCHSENBEIN: Privates Beten in mündlicher und schriftlicher Form. Notizen zur Geschichte der abendländischen Frömmigkeit. In: Viva vox und ratio scripta. Mündliche und schriftliche Kommunikationsformen im Mönchtum des Mittelalters. Hrsg. von CLEMENS M. KASPER/KLAUS SCHREINER, Münster 1997 (Vita regularis. Ordnungen und Deutungen religiösen Lebens im Mittelalter 5), S. 135-155, hier S. 138.
27
Siehe dazu NEUMANN/TRAUDEN (Anm. 3), S. 36 f.; ROLF BERGMANN: Katalog der deutschsprachigen geistlichen Spiele und Marienklagen des Mittelalters, München 1986, Nr. 171.
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III
dig ausgeführten Gesängen dar. 28 Im Lesedrama Simdenfall und Erlösung heißt es in einer narrativen Regieanweisung: do gieng Maria Magtalena vnd sang daz gesang uictime pascali laudes. Dar nach sprachend die junger zuo ir (nach V 547). 29 Für die Funktionsbestimmimg von lateinischen Initien in Lesehandschriften haben NEUMANN und TRAUDEN vorgeschlagen an Lemmata zu denken, die „durch die Erinnerung an den lateinischen Gesang beim Leser eine besondere Stimmung evozieren sollen". 30 Anweisungen über die Singtechnik, die Modulationsweise der Stimme (submissa voce, alta voce) ließen sich dann nicht nur auf eine Funktion des Spieltextes als Partitur für eine Aufführung mit spezifischem emotionalem Index deuten, 31 sondern charakterisierten den emotionalen Gehalt eines Liedes auch für den Lesenden. Musik, insbesondere unter frömmigkeitsgeschichtlicher Perspektive, besitzt damit einen polyvalenten Zeichenstatus, der nicht auf die Ermöglichung akustischer Verwirklichung zu reduzieren ist. Dass sich in den Gesängen zudem eine gemeinschaftskonstituierende Komponente ausdrückt, zeigt sich insbesondere in dem
28
Das Münchner Osterspiel (Cgm 147 der Bayerischen Staatsbibliothek München). Mit einer Einführung in Abbildung hrsg. von BARBARA THORAN, Göppingen 1977 (Litterae 43); siehe dazu auch BERGMANN (Anm. 27), Nr. 115. Die jüngste ausführliche theologische und historisch kontextualisierende Deutung des Münchner Osterspiels bei BRUNO QUAST: Endzeit des geistlichen Spiels. Das Münchner Osterspiel cgm 147. In: Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von HANS-.TOACHIM ZIEGELER, Tübingen 2004, S. 313-324, setzt explizit seine Aufführung als „geistliches SchauSpiel" (S. 317) im Kirchenraum (vgl. S. 321) voraus. Die Konzeption „mimetischer Theatralität" (S. 322 f.), die sich im Münchner Osterspiel ausdrückt, wäre in Bezug auf seine Überlieferungsform als Lesetext noch eigens zu deuten.
29 WILLIAMS-KRAPP: Überlieferung und Gattung (Anm. 1). 30
NEUMANN/TRAUDEN ( A n m . 3), S. 3 5 , A n m .
31
Siehe hierzu grundlegend NIKOLAUS HENKEL: Textüberlieferung und Performanz. Überlegungen zum Zeugniswert geistlicher Feiern und Spiele des frühen und hohen Mittelalters. In: Das Theater des Mittelalters und der frühen Neuzeit als Ort und Medium sozialer und symboli-
20.
s c h e r K o m m u n i k a t i o n . H r s g . v. CHRISTEL MEIER/HEINZ MEYER/CLAUDIA SPANILY, M ü n s t e r
2004 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme; Schriften des Sonderforschungsbereichs 496 4), S. 23-43, bes. S. 27-32. Siehe auch zur Gebetsfunktion von Musik als Form von ruminatio und im Rahmen von persönlicher Feier des Stundengebets ULRIKE HASCHER-BURGER: Gesungene Innigkeit. Studien zu einer Musikhandschrift der Devotio Moderna (Utrecht, Universiteitsbibliotheek, Ms. 16 Η 34, Olim Β 113). Mit einer Edition der Gesänge, Leiden u.a. 2002, S. 141-146; HASCHER-BURGER schließt an die Studien von ULRICH MEHLER: Dicere und cantare Zur musikalischen Terminologie und Aufführungspraxis des mittelalterlichen geistlichen Dramas in Deutschland, Regensburg 1981, an. Siehe außerdem ANDREAS TRAUB: Editionsberichte zur mittelalterlichen deutschen Literatur. Beiträge der Bamberger Tagung .Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte' 26.-29. Juni 1991. Hrsg. von ANTON SCHWÖB u.a., Göppingen 1994 (Litterae. Göppinger Beiträge zur Textgeschichte 117), S. 255-259. Zur inhaltlich strukturierenden Funktion von Liedtexten siehe DERS.: Zeitbestimmung durch Gesänge? In: Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von HANS-JOACHIM ZIEGELER, Tübingen 2004, S. 135-138.
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häufig die Osterspiele abschließenden Gesang Crist ist erstanden. Die Spielteilnehmer, Rollenträger und Nicht-Rollenträger, formieren sich hier im gemeinsam angestimmten Gesang zu einer Gemeinde, die Kleriker und Laien integriert. Doch ist zu fragen, ob diese performativ hergestellte Gemeinde wiederum notwendigerweise einer theatralen Auffuhrung bedarf. Der im kollektiven Gedächtnis verankerte Text vermag eine Gemeinschaft unabhängig von körperlicher Anwesenheit zu erzeugen.
4. Gemeinschaftskonzept der Liturgie Wenn die Gemeinschaftskonzepte der Spiele inhaltlich und überlieferungsspezifisch aufeinander zu beziehen sind, dann verweist der lose Bezug zu konkreten Aufführungen in den Handschriften auf ein anderes communitas-Prinzip als jenes von gegenwärtiger Anwesenheit. Die kulturwissenschaftliche Ritualforschung geht, Anstöße der Ethnographie aufgreifend, bevorzugt von einer sinnlich erfahrbaren Gemeinschaft als konstitutiv für Kulthandlungen aus. Neben einem engeren existiert in der christlichen Liturgie jedoch zudem ein weiter gefasstes communitas-Konzept, das nicht die leibliche Präsenz seiner Mitglieder voraussetzt. Für das Mittelalter ist vielmehr ein Doppelaspekt von Gemeinschaft konstitutiv, der die körperlich Anwesenden und die gesamte Christenheit (analog zum Körper Christi, 1. Kor 12,12-27) vereint. Die Spiele können als rituelle Texte ein entgrenzendes Potential in Situationen räumlicher Isolation auch in der gelesenen Rezeption besitzen. Individuelle und kollektive Meditation und Lektüre werden in dieser ccwwwm'tas-Konzeption miteinander verschränkt. Dieser christlich-religiöse Gemeinschaftsbegriff ist für die Definition mittelalterlicher Theatralität zu bedenken: Denn im Moment einer Osterspiellektüre konstituiert sich im rememorativen Akt eine Teilhabe an einer österlichen Gemeinschaft, die im Text - indem sie sprachlich und deiktisch adressiert ist - situationsunabhängig und situationsübergreifend jeweils imaginativ hergestellt wird. Der Appell an die anwesende Zuschauergemeinde, der während einer Aufführung in erster Linie situations- und kontextbezogen funktioniert, besitzt, wenn er an eine christlich-liturgische oder paraliturgische Auferstehungshandlung geknüpft ist, eine dekontextualisierende, situationsübergreifende Dimension. Nu myrcket alle crystenlude (Trierer Osterspiel V 165 32 oder: Vrowet ju an desser tid (Redentiner Osterspiel, V I I ) 3 3 - diese 32
Trierer Osterspiel. In: Trierer Marienklage und Osterspiel. Codex 1973/63 der Stadtbibliothek Trier. H r s g . v o n URSULA HENNIG (Text) u n d ANDREAS TRAUB ( M e l o d i e n ) , G ö p p i n g e n
1990
(Litterae 91). 33
Das Redentiner Osterspiel. Mittelniederdeutsch und Neuhochdeutsch. Übersetzt und kommentiert von BRIGITTA SCHOTTMANN, Stuttgart 1986, V 11. Die Überlieferungsform des Redentiner Osterspiels spricht gegen einen direkten Aufführungszusammenhang, siehe BERGMANN (Anm. 27), Nr. 69. BERGMANN lässt offen, ob der Niederschrift eine „Aufführung [...] vorausgegangen oder gefolgt ist" (S. 168). WILLIAMS-KRAPP: Zur Gattung .Spiel' (Anm. 1), S. 140-
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Formulierangen nur als konkrete Publikumsanreden aufzufassen, hieße ihren Bedeutungsradius einzuengen. Die Festigkeit und textliche Konstanz der Osterfeiem und Osterspieltexte innerhalb der visitatio-Szene kann als ein Indiz fur dieses Gemeinschaftskonzept verstanden werden: Strategische Versuche, die Osterfeiem über die kontinentalen Grenzen hinaus zu verbreiten, weisen auf eine zielstrebige Durchsetzung dieses communitas-Gedankens.34 Die breite geographische Distribution ist der Möglichkeit einer Gemeinschaftsstiftung im Lektüreprozess zuträglich, ohne dass sonst die Kriterien eines korporaliter gemeinschaftlich vollzogenen Rituals erfüllt wären. Der Gemeinschaftsbegriff der geistlichen Spiele bedarf dabei gattungshistorischer und kontextueller Spezifizierung. Im Spätmittelalter verändern sich in den städtischen Aufführungen die Mechanismen der Gemeinschaftsstiftimg am Ende eines Prozesses der gesellschaftlichen Institutionalisierimg der Spiele (Frankfurt). 35 Die Funktionalisierung der Spiele für politische Zwecke (Luzern 16. Jahrhundert) stellt ein Spätphänomen dar. In den Aufführungen im städtischen Kontext findet nunmehr gerade eine Verengung des christlichen communitas-Konzeptes auf eine regionale, politsche Dimension statt. Solche Prozesse der dynamischen Gemeinschaftsstiftung im Passionsspiel als Transformation der communitas bei gleichzeitiger Exklusion der Anderen, wurde jüngst von I N G R I D K A S TEN am Beispiel des Donaueschinger Passionsspiels beschrieben. 36 Analog zu den von K A S T E N gebildeten Kategorien in Bezug auf das spätmittelalterliche Passionsspiel bedarf es spezifischer Kategorien für die Beschreibung von Ge142, hier S. 140, identifiziert in der Überlieferung hingegen eine „Privatlektüre". Zur Aufführbarkeit JOHAN NOWE: Wy willen ju eyn bilde gheven. Explizite und implizite Regieanweisungen als Grundlagen für Inszenierung und Aufführung des Redentiner Osterspiels. In: Leuvense Bijdragen 90 (2001), S. 325-359. Auf einen Sonderstatus des Redentiner Spiels hinsichtlich des Ritualcharakters der Gattung Osterspiel schließt BRUNO QUAST: Vom Kult zur Kunst. Öffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und Früher Neuzeit, Tübingen/Basel 2005, (Bibliotheca Germanica 48), S. 126-133, hier S. 131: „Die ästhetische Unterscheidung zwischen Darstellung und Dargestelltem hat Einzug gehalten, dem Spiel liegt ein impliziter Akt der Referentialisierung zugrunde." Es scheint lohnend QUASTS Interpretation, dass in diesem Spiel kein originäres Ritual, sondern eine Referenz auf ein Ritual vorliege, vor dem Hintergrund des überlieferungsgeschichtlichen Befundes zu überdenken. 34
35
PETERSEN ( A n m . 7), S. 89.
CARLA DAUVEN-VAN KNIPPENBERG: Das Personalpronomen im Dienste der Agitation. Zum Frankfurter
Passionsspiel
(1493), VV. 1-332. In: Leuvense Bijdragen 90 (2001), S. 309-323;
DOROTHEA FREISE: Geistliche Spiele in der Stadt des ausgehenden Mittelalters. Frankfurt Friedberg - Alsfeld. Göttingen 2002 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 178): WINFRIED FREY: Der vergiftete Gottesdienst. Zur Funktion von Passionsspielen in der spätmittelalterlichen Stadt am Beispiel Frankfurts am Main. In: Der fremdgewordene Text. Festschrift für Helmut Brackert zum 65. Geburtstag. Hrsg. von SILVIA BOVENSCHEN u.a., Berlin/New York 1997, S. 202-2171. 36
INGRID KASTEN: Ritual und Emotionalität. Zum Geistlichen Spiel des Mittelalters. In: Literarisches Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Hrsg. von MATTHIAS MEYER/HANS-JOCHEN SCHIEWER, T ü b i n g e n 2 0 0 2 , S. 3 3 5 - 3 5 9 .
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meinschaftsstiftungen für Spieltexttypen, welche ihre Rezipienten in eine mythische Gemeinschaft zu integrieren vermögen, die unabhängig von der körperlichen Präsenz einer Gruppe funktioniert. In mehrfacher Hinsicht lässt sich die Medialität der Spieltexte demnach mit jenen zeitgenössischer Andachts- und Gebetspraktiken vergleichen. 37 Die Verfasstheit der Spiele in ihren Appellformen und Rollenstrukturen stellt sich zwar als konstitutiv für die Wirkung der Texte dar und ist gleichzeitig jedoch nicht zwingend an eine öffentliche Performanz gekoppelt. In ihrer dramatischen Form interferieren die Spieltexte mit semiotischen Systemen und performativen Praktiken, die nicht aufführungsgebunden sind. Gewissermaßen von außerhalb der Gattung betrachtet, lassen sich mögliche historische Rezeptionsweisen der Spiele, die vermeintlich einer körperlichen Performanz und öffentlichen Darstellimg bedürfen, annäherungsweise profilieren. Neben den Texttypen der Andachts- und Gebetsliteratur können auch Beispiele narrativepischer Gestaltungen des Osterereignisses dazu dienen, Aufschluss über die Medialität der dramenstrukturellen Vergegenwärtigung zu gewinnen. In der Integration von Elementen und Motiven der Spieltradition im narrativen Darstellungsmodus äußern sich nämlich gerade die medialen Differenzen von epischer Narration und Dramengestalt.
5. Die Osterereignisse in Frau Avas Leben Jesu In den Osterereignissen des Leben Jesu der Frau Ava sind von EDWARD SCHRÖDER, HELMUT DE BOOR u n d i n j ü n g e r e r Z e i t v o n BARBARA THORAN
Parallelen zu geistlichen Feiern bzw. Spielen erkannt und beschrieben worden. 38 Die Aufmerksamkeit richtete sich bislang hauptsächlich auf die Text-
37
In einem anderen Zusammenhang plädiert PETER OCHSENBEIN für eine angemessene Historisierung des Begriffs .Gebet', um den vielgestaltigen Frömmigkeitspraktiken des Mittelalters gerecht zu werden. Vgl. DERS.: Deutschsprachige Privatgebetbücher vor 1400. In: Deutsche Handschriften. 1100-1400. Oxforder Kolloquium 1985. Hrsg. von VOLKER HONEMANN/NIGEL F. PALMER, Tübingen 1988, S. 379-398, hier S. 394. Mit einer Einordnung der Spiele in die zeitgenössische „Welt der Mitkünste", also in das Spektrum der zahlreichen spätmittelalterlichen textuellen und visuellen Medien, die ebenfalls Heilsgeschichte repräsentieren (FRIEDRICH OHLY: Rez. von RAINER WARNING: Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels. München 1974. In: Romanische Forschungen 91, 1979, S. 111-141, hier S. 118), sollte natürlich nicht eine Nivellierung der besonderen Kommunikationsform des Dramentextes einhergehen, wie PETERSEN (Anm. 7), S. 8, mit Bezug auf das geistliche Spiel - allerdings nicht in seiner Textsortenspezifik, sondern im Hinblick auf die Aufführung als „Vollzugsform kollektiver Vergegenwärtigung von Heilsgeschichte mittels mimetischer Verkörperung" - argumentiert.
38
EDWARD SCHRÖDER: F r a u Ava u n d d i e O s t e r f e i e r . In: Z f d A 5 0 ( 1 9 0 8 ) , S. 3 1 3 f.; HELMUT DE
BOOR: Die Textgeschichte der lateinischen Osterfeiern, Tübingen 1967 (Hermaea N.F. 22), S. 301-328; BARBARA THORAN: Frau Avas Leben Jesu - Quellen und Einflüsse. Eine Nachlese. In: Deutsche Literatur und Sprache von 1050-1200. Festschrift für Ursula Hennig zum
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genese der Erzählung. So argumentiert T H O R A N nach umsichtigen Analysen, dass fur die Dichtimg der Frau Ava ein Osterspiel als Quelle vorgelegen habe. Es soll in den folgenden kurzen Anmerkungen zum Verhältnis von epischen und dramatischen Gestaltungen der Osterszene nicht um die Frage nach Verwandtschaftsverhältnissen gehen, auch nicht um die Rekonstruktion des Prätextes und konkreter Anleihen. Das Interesse an der spezifischen Medialität der geistlichen Spieltexte motiviert vielmehr dazu, die Entlehnungen und Umarbeitungen nicht nur als intertextuelle, sondern auch als intermediale Verknüpfungen und Überblendungen zu untersuchen. Indem Frau Ava für ihren v/sztai/o-Bericht Elemente der Spieltradition übernommen hat, weicht sie von den Evangelienberichten ab. 39 Frau Ava nimmt mit ihrer Kompilationstechnik offensichtlich das Entstehen einiger Inkohärenzen in Kauf - die übrigens auch von der zweiten der beiden Handschriftenzeugen G nur teilweise aufgehoben wurden. Heißt es zum Beispiel über das Auffinden von sudarinm et lintheamina nach Joh 20,6-7 bei Frau Ava: In dem grabe si viinden / zwai tnoch (V 1937 f.), 40 so erwähnt sie kurz darauf beim Vorzeigen des im Grab Vorgefundenen nurmehr ein Tuch: si huoben iz üz dem grabe, / den Unten si iz zäicten (V 1943 f.) - eine Inkohärenz, die vom Einfluss eines Feiertextes herrührt, wo in der Jüngerlaufszene ebenfalls nur ein Tuch vorgezeigt wird. 41 Die von der Ava-Forschung beigebrachten Beispiele von dramatischen Elementen werfen die Frage nach den Wahrnehmungsmodalitäten der Osterereignisse in der Rezeption des narrativen Textes auf. Wenn narrative Kohärenz nicht in der syntagmatischen Erzähllogik eingefordert ist, so ist nach dem Rezeptionsmodus zu fragen, in welchem diese Brüche, die von der Forschung beschrieben wurden, paradigmatisch aufgehoben sind. Unter dem Blickwinkel einflussgeschichtlicher Überlegungen sind von D E B O O R und T H O R A N die visuellen „Sinneseindrücke" Frau Avas, Erfahrungen ihrer „unmittelbaren Anschauimg" 42 einer dramatischen Aufführung für die Amalgamierimgen der visitatioSzene verantwortlich gemacht worden. Die Schlussfolgerung auf die Textgenese könnte womöglich mit den Schlussfolgerungen zeitgenössischer Rezipienten des Leben Jesu konvergieren: Indem Frau Ava in ihr Leben Jesu Elemente der Spiele integriert hat, zitiert die Narration den „unmittelbare [n] Gesichtseindruck" 43 einer szenischen Feier; die Schauspielelemente geraten
65. Geburtstag. Hrsg. von ANNEGRET FIEBIG/HANS-JOCHEN SCHIEWER, Berlin 1995, S. 321 331.
39
Siehe - mit Rekursen auf DE BOORS Hinweise zu Abhängigkeiten der Osterszene der Frau Ava von einer Osterfeier Typ III - THORAN (Anm. 38), die eine Abhängigkeit von einem Osterspiel vermutet.
40
Die Dichtungen
41
THORAN ( A n m . 3 8 ) , S. 3 2 4 .
der Frau Ava. Hrsg. von KURT SCHACKS, Graz 1986 (Wiener Neudrucke 8).
42
Hier S. 325 f.; vgl. S. 232: „Die auffalligsten Belege dafür, dass Frau Ava Osterfeiern gekannt haben muß, sind jene Textstellen, in denen sie Sinneseindrücke wiedergibt."
43
DE BOOR ( A n m . 3 8 ) , S. 3 0 3 .
182
Cornelia Herberichs
zum „Zeugnis von persönlicher Anschauung und Vertrautheit mit .dramatischen' Darstellungen". 44 In Frau Avas intertextuellem Darstellungsmodus mag sich eine Geste der Beglaubigimg ausdrücken, indem im Gattungszitat Osterspiele als eine autorisierende Instanz fur die Narration erscheinen. Die szenische Tradition wird sogar als Referenz den biblischen Berichten gleichgesetzt, die durch die szenische Vergegenwärtigung der Ostergeschehnisse ergänzt werden. Das Osterspiel erscheint als ein Medium von hoher autoritativer Zeugniskraft. Die Spielelemente zitieren Visualität in die Narration (Vorzeigen des einen Grabtuches) und spiegeln die visuelle Perspektive einer zuschauenden Gemeinschaft, die einer theatralen Aufführung beiwohnt. Die Kombinationstechnik des Leben Jesu erlaubt indirekten Aufschluss über die Medialität eines geistlichen Spiels. Indem die Narration Anleihen an Präsenzeffekte der Spiele macht, erweist sich zugleich die Präsenzmacht der Spiele als von der konkreten Aufführung unabhängig. Auch die lateinischsprachigen Elemente in der Osterszene Frau Avas verweisen überdies auf einen Spielzusammenhang. 45 Die Incipits der Antiphone zitieren die Wahrnehmbarkeit musikalischen Gesangs. Die intermedialen Zitate in der Narration zeigen an, dass das Spektrum der Gestaltungsoptionen der Spiele sich von der Aufführung und Auffülirbarkeit weit entfernen konnte. Als ihre direkte Quelle gibt Frau Ava am Ende des Leben Jesu die Berichte der vier Evangelisten an. Die Gestaltung der Osterszene, die partiell aber von den Evangelienberichten abweicht und sich stattdessen an dramatischen Vorlagen orientiert, wird auf diese Weise in den Rang der biblischen Autorität erhoben. Vom Ende des Leben Jesu her gesehen wirkt die narrative Erzählung außerdem auf den Zeugnisanspruch der Osterspiele zurück und vermag diese zu autorisieren.
44
THORAN (Anm. 38), S. 331. Zu untersuchen wäre in diesem Kontext auch das spätmittelalterliche Epos Erlösung, das in seiner Osterszene ebenfalls Elemente einer dramatischen visitatio verwendet. Vgl. ROLF BERGMANN: Studien zur Entstehung und Geschichte der deutschen Passionsspiele des 13. und 14. Jahrhunderts, München 1972 (Münstersche Mittelalter-Schriften 14), S. 124-171; URSULA HENNIG: Die Ereignisse des Ostermorgens in der Erlösung. In: Mediaevalia litteraria. Festschrift für Helmut de Boor zum 80. Geburtstag. Hrsg. von DERS./ HERBERT KOLB, München 1971, S. 507-529. Zu den Parallelen in der Prophetenszene von Erlösung und dem Münchner Osterspiel THORAN (Anm. 28), S. 5 f. Siehe zu diesem Themenkomplex auch CHRISTOPH GERHARDT: Von der biblischen Kleinerzählung zum geistlichen Spiel. Zur Neubestimmung der Gattung von Von Luzifers und Adams Fall und zu seiner Stellung in der Spieltradition. In: Euphorion 93 (1999), S. 349-397.
45
So ist Jesu Anrede an Maria Magdalena Noli flere (V 1899) in keinem Evangelienbericht enthalten, sondern entstammt der Antiphon: Alleluia, noli flere Maria, die sich in verschiedenen Positionen in Osterfeiern findet (Advenisti desiderabilis, V 1766, ebenfalls aus dem cantieitm triumphale Cum rex glorie), siehe THORAN (Anm. 38), S. 324.
Lektüren des Performativen
183
6. Ausblick Die überlieferungsgeschichtlichen Beobachtungen zu den geistlichen Spielen der letzten Jahre haben erwiesen, dass eine Einengung der Gattung auf ein Genre dargestellter Aufführungen der komplizierten und vieldeutigen Überlieferungslage nicht zu genügen vermag. Der oszillierende Status der Spielüberlieferung zwischen Lese- und Aufführungsskripten fordert vielmehr eine umsichtige Beschreibung der historischen Gattungsspezifika heraus. Die Tatsache, dass sich Spieltexte auch der Lektüre anbieten konnten, zwingt dazu, die Medialität des geistlichen Spiels spezifisch, in seinen heterogenen Gebrauchssituationen, zu bedenken. 46 Dies führt zwar in einem ersten Schritt hinsichtlich bestimmter Aspekte zu einer Entdifferenzierung der Funktionsbeschreibimg geistlicher Spiele in Bezug auf das Umfeld zeitgleicher religiöser Andachtsund Erbauungsliteratur. Gerade eine solche (vorsichtige) Entdifferenzierung aber mag eine Voraussetzimg da für abgeben, die konstitutive Differenz des geistlichen Spiels schließlich deutlicher zu benennen. Die Persistenz der Gattung neben anderen medialen Formen der Präsentation der identischen heilsgeschichtlichen Inhalte belegt den Eigenwert der Dramenstruktur, bezeugt die Tatsache, dass die Spieltexte nicht gegen thematisch verwandte Medien austauschbar waren. Mit narrativen aber auch mit bildlichen Medien konnte es derart zu symbiotischen Rezeptionsformen kommen, die jedoch nicht auf eine Ersetzung und Ablösung der Spieltexte hinausliefen. Anhand des Wienhausener Osterspiels hat C A R L A DAUVEN-VAN KNIPPENBERG einen Rezeptionsmodus wahrscheinlich machen können, in welchem sich die Lektüre des Spieltextes mit der Betrachtung bildlicher Ostergeschehnisse verschränkt und ergänzt hat. 47 Der Fall zeigt, dass Analogien noch keine Identitäten stifteten. Geistliche Spieltexte sind weder als Gebetbücher überliefert, noch haben sie in diese Eingang gefunden. Eine Ursache dafür mag darin gründen, dass die dramatische Struktur nicht nur aufgrund ihrer Auffülirbarkeit ,Präsenzeffekte' ermöglicht, sondern in der Lektüre spezifische hermeneutische Prozesse in Gang setzt, die von anderen Textgattiuigen nicht initiiert werden. 48 46
Die Tatsache, dass Passionsspiele im 16. Jahrhundert in den Buchdruck gelangen, verweist darauf, dass die Autoren dieser späten Spiele am oszillierenden medialen Charakter der handschriftlich tradierten Spiele anschließen konnten; im Medienwechsel drückt sich insofern kein medialer Wandel, keine neue Konzeption der Medialität der Spieltexte aus.
47
CARLA DAUVEN-VAN KNIPPENBERG: Ein Schauspiel für das innere Auge? Notiz zur Benutzerfunktion des Wienhäuser Osterspielfragments. In: Ir suit sprechen willekomen. Festschrift für Helmut Birkhan zum 60. Geburtstag. Hrsg. von CHRISTA TUCZAY u.a., Bern u.a. 998, S. 778787. Vgl. außerdem die texttheoretischen Überlegungen von DIES.: Texte auf der Grenze. Zum Maustrichter (ripitarischen) Passionsspiel. In: Schnittpunkte. Deutsch-Niederländische Literaturbeziehungen
i m s p ä t e n M i t t e l a l t e r . H r s g . v o n ANGELIKA LEHMANN-BENZ/ULRIKE
ZELL-
MANN/URBAN KÜSTERS, B e r l i n 2 0 0 3 , S. 9 5 - 1 0 7 .
48
Die Wahrnehmung der Spielüberlieferung in ihrer „Defizienz" gegenüber der Aufführung und die Vermutung, ihnen eigne kein „sprach- oder formkünstlerischer Selbstwert" (LINKE, Anm. 2,
184
Cornelia Herberichs
Die Besonderheiten der textuellen Dimensionen des geistlichen Spieles gilt es vor diesem Hintergrund zu analysieren, denn nicht nur der Rezeptionsstatus, sondern auch die Mechanismen der Textproduktion weisen gattungsspezifische Eigentümlichkeiten auf. Auffälligkeiten der Textualität wie inserierte Nachträge, Alternativpassagen oder widersprüchlicher Tempusgebrauch verweisen auf eine dynamische Textkonstitution. 49 Die Überlieferung dokumentiert fragmentarisch die Produktion des Textes als einen gestaffelten Prozess. 50 Worauf ein solcher Befund verweist, ist die Veränderbarkeit der Spieltexte als eine Verkettimg von Aneignungen, die als konstitutiv erscheint für deren Status: Eine Vielzahl der Handschriften überliefert nicht nur fertige Textprodukte, sondern zeugt auch von der prozessualen Produktion geistlicher Spieltexte, die Schriftlichkeit fungiert als Gestaltungsmedium in einem traditionssichemden und zugleich -gestaltenden Adaptationsprozess. Die jeweils aktualisierende Textproduktion, die zugleich Textrezeption ist, resultierte in der Dynamisierung einer Überlieferung, die fast ausschließlich Unikate produzierte. Es lässt sich argumentieren, dass die durchscheinende multigenetische und vielschichtige Textgestalt mit der formalen Dramenstruktur in einem intrikaten Zusammenhang steht. Was Spieltexte und theatrale Aufführungen demnach auf einer
S. 527), negiert allerdings die spezifischen Möglichkeiten der Sinnkonstitution durch D r a m e n texte. 49
Beispielsweise sei verwiesen auf das W i e n h ä u s e r Osterspielfragment, d e m die T h o m a s s z e n e nachträglich eingefügt w u r d e ; vgl. BERGMANN ( A n m . 27), Nr. 170; Faksimile hrsg. v o n WALTHER LIPPHARDT: Die Visitatio sepulchri in Zisterzienserinnenklöstern der L ü n e b u r g e r Heide. In: D a p h n i s 1, 1972, S. 119-128; ferner auf das Erlauer Osterspiel mit seinen A l t e r n a t i w o r schlägen f ü r verschiedene
Szenengestaltungen;
vgl. KARL FERDINAND KUMMER:
Erlauer
Spiele. Sechs altdeutsche Mysterien n a c h einer H a n d s c h r i f t des X V Jahrhunderts, W i e n 1882; zu den Alternativpassagen siehe JOHANNES JANOTA: ZU Typus und Funktion der Erlauer Spielaufzeichnung. In: Die österreichische Literatur. Ihr P r o f i l von den A n f a n g e n i m Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert, 1050-1750. Hrsg. von HERBERT ZEMAN, Teil 1, Graz 1986, S. 511-520, hier S. 518; auf den oszillierenden Status z w i s c h e n Archivierung u n d .Spielvorlage' der geistlichen Spiele im Codex B u r a n u s ; vgl. HANSJÜRGEN LINKE: B e o b a c h t u n g e n zu den geistlichen Spielen im Codex Buranus. In: Z f d A 128, 1999, S. 185-193; u n d die widersprüchlichen Einschätzungen z u m Heidelberger Passionsspiel, dazu zuletzt ELISABETH MEYER: Zur Überliefer u n g s f u n k t i o n des Heidelberger Passionsspiels. Von einer Spielvorlage z u r erbaulichen Lektüre? In: L e u v e n s e Bijdragen 90 (2001), S. 145-159. SO
Vgl. LINKE ( A n m . 2), S. 550: D a s „Fluktuieren der Texte z w i s c h e n (1) A u f f ü h r u n g u n d A u f f ü h r u n g s m a n u s k r i p t , (2) A b s c h r i f t in einer L e s e h a n d s c h r i f t und (3) B e a r b e i t u n g der Lesehandschrift z u m Z w e c k einer neuerlichen A u f f ü h r u n g des Spieltextes ist b e z e i c h n e n d f ü r die G a t t u n g . " Die Schriftabhängigkeit der geistlichen Spiele betont JAN-DIRK MÜLLER: Ritual, pararituelle H a n d l u n g e n , Geistliches Spiel. Z u m Verhältnis v o n Schrift u n d P e r f o r m a n z . In: Audiovisualität vor und nach Gutenberg. Z u r Kulturgeschichte der medialen U m b r ü c h e . Hrsg. von
HORST
WENZEL/WILTRIED
SEIPEL/GOTTHART
WUNBERG,
Wien
2001
(Schriften
des
Kunsthistorischen M u s e u m s 6), S. 63-71. MÜLLER betont die Sekundarität der Dramentexte gegenüber der religiösen Literatur u n d a u ß e r d e m die Sekundarität der Spielüberlieferung z u r A u f f u h r u n g s p r a x i s (vgl. S. 67).
Lektüren des Performativen
185
systematischen Ebene gemeinsam haben, ist die dynamische Prozessualität der Sinnbildung in der Gleichzeitigkeit von vorfindlichem Produkt und situationsangleichender Rezeption, von fixierter Vorlage und aktualisierender Aneignung. 51
51
Im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunkts .Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen. Historische Perspektiven' (Zürich) wird eine Vertiefung und Konkretisierung der hier vorgetragenen Überlegungen zu medialen Analogien und Differenzen zwischen Geistlichem Spiel und Frömmigkeitsliteraturen und -praktiken verfolgt.
III. Transformationen des Religiösen Inszenierungen des Heiligen
A n d r e a s
K o t t e
Vom Verstummen der Texte angesichts des Wunders Wirkungsstrategien im geistlichen Spiel
This paper seeks to locate an immediate performative effect of the religious in dramatic texts that were performed or are archived in Switzerland. The particular texts under examination concern the Christmas and the Easter miracles. In play, the religious is transported to the level of sensuous experience. The effect sets in at the point where the text falls silent, which we might think of as a sort of "gap" in the text. This happens in particular at plot-points, which reveal a secret within the miracle and hence reinforce the authority of faith - in, for example, the Incarnation or the Resurrection of Christ. The aim is to grasp the sensuous aspects of the clerical plays' frequently attested didactic intentions in a more sophisticated manner.
Theater entsteht auf immer die gleiche Weise als ein stets Anderes. Nämlich durch einen Handlungsimpuls, der eine Bedeutung hervorbringt, semiotisch durch Handeln, das Zeichen generiert, phänomenologisch durch Körperbewegungen, hervorgehoben und in ihrer Konsequenz vermindert, oder eben durch die Verbindiuig des Performativen mit dem Semiotischen.' Immer braucht es Zuschauende. Manchmal wird der Aspekt der Bedeutungen, manchmal der Aspekt des Vollzugs in der Forschung stärker betont. Gelingt schon in der Gegenwart keine Rekonstruktion von Theater, da sie am Transitorischen scheitert, so lassen sich mittelalterliche Spiele 2 erst recht nicht rekonstruieren, weil wir die Erlebnisweisen der Zuschauenden, ihre Interpretationshorizonte und die Kontexte nicht kennen. Höchstens Annäherungen im seltenen Ausnahmefall sind möglich. 3 Dazu braucht es - wie zum Luzerner Passionsspiel präzise Regieanweisungen und ausführliche Nachrichten und Materialien zur Aufführung. Die Verse der Spieltexte fokussieren vorrangig den Bedeutungs-
1
ERIKA FISCHER-LICHTE: Semiotik des Theaters. Das System der theatralischen Zeichen, Tübingen 1983; ANDREAS KOTTE: Theaterwissenschaft. Eine Einführung, Köln, Weimar, Wien 2005; ERIKA FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a . M . 2004.
2
Nicht Feiern fuhren z u m Spiel, sondern die Feier ist eine Spezies von Spiel. Vgl. die Argumentation in: Das St. Galler Weihnachtsspiel. Hrsg. von EMILIA BÄTSCHMANN, Bern 1977 (Altdeutsche Übungstexte 21), S. 82 f.
3
Ein Beispiel hierfür: HEIDY GRECO-KAUFMANN: Spiegel
des vberflusses
vnd missbruchs.
Ren-
ward Cysats „Convivii Process". Kommentierte Erstausgabe der Tragicocomedi von 1593, Zürich 2001 (Theatrum Helveticum 8).
190
Andreas Kotte
aspekt. Nur selten bieten sie Rückschlüsse auf den Vollzug, den performativen Akt. Deswegen erscheint es sinnvoll, in Spieltexten auch danach zu suchen, was nicht aufgeschrieben wurde. Wo offenbaren sich über Regieanweisungen hinausgehend in Textlücken Anzeichen des tatsächlichen Vollzugs? Die erste Annahme lautet, dass das Religiöse im Spiel auf eine Ebene sinnlicher Erfahrung transformiert wird, es wirkt, wenn unausgesprochen, nachhaltiger. Dramaturgisch kann man dies insofern als ein System der Lücke bezeichnen, als dass die entscheidende Wirkung in dem Moment erfolgt, da der Text verstummt. Er verstummt, zweite Annahme, häufig an Drehpunkten, Wendepunkten des Geschehens, plotpoints. Die Wirkung des Religiösen, dritte Annahme, ist als eine dreifache beschreibbar, als die des Geheimnisses, die des Wunders und die der Autorität. Als Geheimnis oder Mysteriiun fungiert dabei etwas rational nicht Erklärbares wie ziun Beispiel die Fleischwerdimg Christi. Es erscheint im szenischen Vorgang des Wunders als ein sichtbares Zeichen für die Existenz Gottes und gewinnt Autorität durch die Bestätigung Dritter. Der Komplex Geheimnis, Wunder und Autorität wirkt zu Weihnachten nach denselben Prinzipien wie zu Ostern. Der Übersicht halber stehen Texte im Mittelpunkt, die in der Schweiz aufgeführt wurden oder in der Schweiz aufbewahrt werden.
Das Osterwunder Eine besondere emotionale Wirkung in den Osterfeiern seit dem 10. Jahrhundert tritt ein, sobald nach dem Ostertropus und vor dem Te Deum das Grabtuch stumm gezeigt wird. Der Engel ruft in der Regidaris Concordia die Marien an das Grab zurück, hebt den Vorhang. Die Marien setzen die Rauchfasser ins Grab, nehmen das Tuch, in welchem das Kreuz eingewickelt war, und zeigen es demonstrativ, bevor sie die Antiphon Siirrexit Dominus de sepulchro anstimmen. 4 Die Abwesenheit Christi wird in der stummen Handlung manifest und damit bewiesen. Die Wirkung der Zeigehandlung mit dem Requisit Grabtuch liegt in der Lücke zwischen gesungenen Texten, verankert das Geschehen tief im Gedächtnis, denn das Ereignis verkehrt den Alltag, in welchem Leichname normalerweise nicht verschwinden. Spannung wird erzeugt durch einen nicht erklärten, überraschenden Beweis, der stumm offeriert wird. Er kann, nachdem er durch den Vollzug emotional gewirkt hat, noch kommentiert werden. Der Wechsel der Wirkungskomponenten - Gesang, Zeigehandlung, Gesang - kann in einer dramaturgischen Partitur veranschaulicht werden, die sich für geistliche Spiele generell empfiehlt, weil sie die Auffacherung des Einsatzes von Theatermitteln verdeutlicht. 5 4
„Der Herr ist aus dem Grabe auferstanden". Die Osterfeier aus der Regidaris Concordia des Bischofs Äthewold von Winchester. In: Geistliche Spiele. Hrsg. von KARL LANGOSCH, Berlin 1957, S. 98-105, hier S. 100 f.
5
KOTTE ( A n m . 1), S. 2 1 6 .
Vom Verstummen der Texte angesichts des Wunders
191
Das Osterwunder der Auferstehung konnte im mittelalterlichen Luzern gleich mehrfach für verschiedene Zuschauergruppen offeriert werden. Es wurde als elevatio cmcis, Erhebimg des Kreuzes oder einer Christusfigur, in der Grabkapelle der alten Hofkirche, vermutlich nur von Angehörigen des Konvents und den Hofschülern in aller Heimlichkeit vollzogen sowie kurze Zeit später für einen etwas größeren Teilnehmerkreis am gleichen Ort in der Erhebung der Hostie unter Einbezug der visitatio sepulchri wiederholt. 6 Mindestens diese zweite Variante bleibt parallel zu den Osterspielen des 15. und 16. Jahrhunderts erhalten, in denen das Wunder der Grabkapelle dann für tausende Zuschauer variiert wird. Man benutzte in den Spielen Bühnengräber ähnlich den Heiliggrab-Sarkophagen, die zu Ostern temporär in den Kirchen aufgestellt wurden. Jedoch musste das Heiliggrab auf der Weinmarktbühne, das auf der über dem Brunnen errichteten Plattform, der brunnenbrügi, als Holzgestell ausgebildet war, dure Ii eine Öffnung im Bretterboden von unten her zugänglich sein. Denn Christus erscheint völlig überraschend. Die Regieanweisung gibt vor: Dann stost der Saluator das grab vff vnnd stygt mit eim füss vs dem grab (LuP vor V 9826). 7 Dieses Bühnenwunder des aus der Versenkimg erscheinenden Jesus-Darstellers wirkt für sich wiederiun als stumme Szene. Im Osterspiel von Muri war um 1250 die Auferstehungsszene im Text nur schlicht durch einen tonitrus (MuO vor V 61), Donnerschlag, angezeigt worden, was die Zuschauenden tatsächlich sahen, ist unbekannt. 8 In Luzern müssen noch etliche Tote auferstehen, bevor schließlich der erste Engel den Salvator anspricht. Es folgen zahlreiche Szenen mit 650 Versen (vgl. LuP V 9825-10475), insbesondere die Befreiung der Altväter aus der Vorhölle, wo Christus wieder beredt agieren darf, bevor die Marien, vom Apotheker kommend, am leeren Grab eintreffen, der Engel ihnen das Grabtuch zeigt und sie das Wunder bestätigen (vgl. LuP 10504-10516). Wenn nun selbst der wahrlich ausufernde Text für den Weinmarkt angesichts der Auferstehimg schweigt, bewahrt er somit ein grandioses Geheimnis, das sich im szenischen Vorgang des Wunders offenbart und durch die Marien autorisiert wird. Geheimnis, Wunder und Autorität etablieren hier einen Drehpunkt der Menschheitsgeschichte. Für einen Vergleich mit Weihnachten ist es nun wichtig, dass das Wunder der Auferstehung, ursprünglich auf den Vorgang der elevatio beschränkt, der nachvollzieht ohne etwas zu beweisen, durch immer mehr beweiskräftige Teilhandlun6
Der Autor verdankt diese Angaben HEIDY GRECO-KAUFMANN, Horw, die an einer umfassenden Studie „Zuo Ere Gottes,
Vfferbuwimg
der mentschen
vnd der Statt Lucern
lob. Theater
und szenische Vorgänge in der Stadt Luzern v o m Spätmittelalter bis zum schweizerischen Bauernkrieg (1653)" arbeitet, welche voraussichtlich 2007 in der Reihe Theatrum
Helveticum
des Instituts für Theaterwissenschaft der Universität Bern erscheint. 7
Das Luzerner Osterspiel, gestützt auf die Textabschrift von M[ARSHALL] BLAKEMORE EVANS. Hrsg. von HEINZ WYSS, B a n d 2, Bern 1967. Im Folgenden abgekürzt LuP.
s
Das Osterspiel von Muri. Urtext, Spielfassung, Materialien. Hrsg. von der Kulturstiftung St. Martin. Baden 1994. Im Folgenden abgekürzt MuO.
192
Andreas Kotte
gen ergänzt wird, von der elevatio zur visitatio durch das Grabtuch und hin zum Großraumspiel durch immer zahlreichere Begegnungen Jesu mit anderen Personen.
Das Weihnachtswunder Hodie cantandus est - der Beginn des um 900 entstandenen Weihnachtstropus des St. Galler Mönchs Tuotilo 9 nimmt konkret Bezug auf die biblische Weihnachtsgeschichte bei Lukas: Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde [...], die hüteten des Nachts ihre Herde. Und siehe, des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen (Lk 2, 8-13),
die Gott lobten und das Gesagte autorisierten. Auf der Ebene der szenischen Vorgänge wird in den Spielen ein Kind geboren, von dem sich herausstellen wird, dass es der Heiland ist. Aber in der Ankündigung der Ankunft des Gottessohnes öffnet sich den Menschen der Himmel. Die Inkarnation Gottes in Jesus - „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns", Joh 1,14 10 - und die Erlösungsbotschaft erschließen einen eben so weiten Interpretationshorizont wie die österliche Auferstehimg. Wie dies geschieht, zeigen Schweizer Weihnachtsspieltexte, obwohl keine zusammenfassende Forschimg existiert, zumindest in Andeutungen. 1 '
Fragmente und Spiele In der Stiftsbibliothek Einsiedeln wird das Fragment einer Dreikönigsfeier aufb e w a h r t , d e r e n Text z u e r s t P. GALL MOREL p u b l i z i e r t e , s p ä t e r KARL YOUNG. 12
Er wird ins 11./12. Jahrhundert datiert und als Teil eines umfänglichen Spiels betrachtet, denn er enthält neben der Krippenszene mit den Magiern auch den 9 ίο 11
12
KARL YOUNG: The Drama of the Medieval Church, Bd. 1, Oxford 1933, S. 195. Die Bibel oder Die ganze Heilige Schrift nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers, II. Das Neue Testament, Stuttgart 1940, S. 68, 106. NORBERT KING: Mittelalterliche Dreikönigsspiele. Eine Grundlagenarbeit zu den lateinischen, deutschen und französischen Dreikönigsspielen und -spielszenen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Freiburg/Schweiz 1979; DORETTE KRIEGER: Die mittelalterlichen deutschsprachigen Spiele und Spielszenen des Weihnachtsstoffkreises. Frankfurt a.M. u.a. 1990 (Bochumer Schriften zur deutschen Literatur 15). P. GALL MOREL: Ein Weihnachtsspiel aus dem Mittelalter. In: Der Pilger. Ein Sonntagsblatt z u r B e l e b u n g r e l i g i ö s e n S i n n e s 1 8 4 9 / 5 1 , 2 3 . 1 2 . 1 8 4 9 ; YOUNG ( A n m . 9 ) , B d . 2 .
Vom Verstummen der Texte angesichts des Wunders
193
Kindermord und - am Ende, an höchst ungewöhnlicher Stelle im Ablauf einen Wechselgesang der Propheten mit dem Chor. In Sitten finden sich in zwei Abschriften des Ritualienbuches der Valeriakirche, dem so genannten Ordinaritim Sedimense, Nachrichten über eine Dreikönigsfeier. Die ältere Abschrift stammt aus dem 13. Jahrhundert, die andere ist ein- bis zweihundert Jahre jünger. 13 Während der Messe lasen in der Valeriakirche drei Priester die drei Magier - abwechselnd das Tagesevangelium. Sie standen vermutlich auf dem Lettner. Von dort aus zogen sie nach dem Offertoriumsgesang durch das Seitenschiff zum Hochaltar und sangen dabei das Nos respectii. Ihnen voraus ging ein Knabe, der einen Leuchter mit drei brennenden Kerzen trug, den Stern, der ihnen den Weg weist. Am Hochaltar überreichten sie ihre Gaben dem zelebrierenden Priester. Der Jüngste opferte Gold, der Mittlere Weihrauch und der Älteste brachte Myrrhe dar. 14 Anders als in Einsiedeln, wo durch Herodes eine Konfliktstruktur etabliert wird, bleibt es in Sitten bis ins 15. Jahrhundert bei einfachsten Zeigehandlungen. Andererseits bestimmt jedoch das Sittener Ritualienbuch für das Fest des heiligen Nikolaus von Myra, also für den Nikolaustag, dass die Wechselgesänge beim Gottesdienst nicht wie üblich durch die höheren kirchlichen Würdenträger anzustimmen seien, sondern durch die jüngeren Knaben der Domschule.' 5 - Dann sollen die älteren Schüler ihren Part übernehmen, dann die Subdiakone, Diakone, Presbyter und erst zuletzt die höheren Würdenträger. Eine solche Reihenfolge verkehrte die kirchliche Rangordnimg. Auch am Tag der Unschuldigen Kinder, am 28. Dezember, fungierten seltsamerweise die Domschüler als Vorsänger. War diese Verkehrung eine Reaktion auf die mittelalterlichen Narrenfeste? Wollte man der Wahl eines Knabenbischofs am 28. Dezember vorbeugen? Sollten deshalb die Schüler auch lieber schon einmal am 6. Dezember im Mittelpunkt stehen und feiern dürfen? Das Ordinarium Sedimense bezeugt, dass der Tag des Heiligen Nikolaus spätestens im 13. Jahrhundert in Sitten schon als Schülerfest gefeiert wurde, andererseits ist von einem Knabenbischofsspiel nicht die Rede. Die Andeutung von Verkehrungen jedoch weist darauf hin, dass das Geheimnis, offenbart im Wunder und schließlich durch Autorität bestätigt, auch seinen Gegenpart besaß, Zügellosigkeit und Festfreude. Insofern sind Weihnachtsspiele stets in Beziehimg zu brauchtümlichen Spielen zu erforschen, beispielsweise zu den zur selben Zeit nicht nur im nahen Frankreich stattfindenden Festen jugendlicher Kleriker und Laien. Mit den Kinderbischofs- und Narrenfesten treten zum Weihnachtstag weitere Daten hinzu, der 6. Dezember (Nikolaus) und der 28. Dezember sowie der 1. Januar (Tag der Beschneidung
13
In den beiden Handschriften sind weitere szenische Vorgänge bezeugt. ALBERT CARLEN: Das Ordinarium Sedimense und die Anfänge der geistlichen Spiele im Wallis. In: Blätter aus der
14
Die Differenzierung der Weisen nach ihrem Alter ist eine Besonderheit des Sittener Textes.
15
CARLEN ( A n m . 13), S. 3 6 6 - 3 6 9 .
W a l l i s e r G e s c h i c h t e 9 ( 1 9 4 3 ) , S. 3 4 9 - 3 7 3 . V g l . KING ( A n m . 11), S. 6 - 7 .
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Andreas Kotte
- festum fatnorum/ festum bacilli, Bakeltag).' 6 Die Lärmumzüge belegen die zwölf Rau[c]hnächte, das Sternsingen seit dem 16. und laikale Königreichsfeste bereits seit dem 13. Jahrhundert wieder den 6. Januar und nur die Weihnachtskrippen betreffen den Weihnachtstag selbst, verbreiten sich in der Schweiz aber erst im Barock. Die Vielfalt der Spiele 17 ist nicht zuletzt der späten und willkürlichen Festlegung des Weihnachtstermins geschuldet. Während das Osterfest spätestens seit Anfang des 2. Jahrhunderts in Rom gefeiert wurde, hat der römische Bischof Liberius Weihnachten als christliches Fest erst im Jahre 354 eingerichtet, indem er die Menschwerdung Christi vom 6. Januar auf den 25. Dezember vorverlegte, sodass man fortan Geburt und Taufe getrennt feierte. Anlass zu dieser Maßnahme boten das heidnische Sonnenfest (Natalis Solis Invicti) sowie die römischen Saturnalien. Sie wurden mittels eines besinnlichen Kirchenfestes überformt, innerhalb dessen man den Gottesdienst allmählich durch lebende Bilder ergänzte: Kleriker stellten die die Jungfrauengeburt weissagenden Propheten dar sowie vor einer Krippe die Anbetung der Hirten und der heiligen drei Könige. Eine Ausweitung der Aufführungen erfolgte im 11. Jahrhundert besonders in Frankreich, Spanien, Italien und im deutschen Sprachraum. Etwas komplexer als in Einsiedeln und Sitten erscheint das Weihnachtsgeschehen nur in einem in St. Gallen aufbewahrten Text sowie innerhalb der Luzerner Spiele, die den besten Überblick und die Möglichkeit des Vergleichs mit Ostern gestatten.
Das Weihnachtswunder in der Luzerner Passion Das Luzerner Passionsspiel nach 1470, speziell die Handschriften von 1571, 1583 und 1616, bieten die ausführlichste Darstellung des Weihnachtsgeschehens in der Schweiz überhaupt. 18 Das Weihnachtswunder - das erscheinende Geheimnis - ist aufgesplittert in Verkündigung und Geburt. Gabriels Verkün-
16
Angesichts der zahlreichen, aber meist auf tendenziösen Quellensammlungen und -Interpretationen fußenden Publikationen zur europaweiten Tradition der Kinder- und Narrenbischofsfeste ist auf eine noch in Arbeit befindliche Untersuchung von KATRIN KRÖLL ZU verweisen: „Weihnachtliche Verkehrungsfeste und Theaterspiele junger Kleriker im Bereich der Westkirche vom 10. bis 16. Jahrhundert", in deren Rahmen auch eine Edition der sehr umfangreichen Quellentexte erscheinen wird.
17
In der Regel wurden die einzelnen Szenen an den betreffenden Tagen des weihnachtlichen Zyklus aufgeführt: Propheten- und Hirtenspiele am 24./25. Dezember; Stephansspiele am 26. Dezember; Kindermord-, Rachelspiele a m 28. Dezember; Dreikönigs-, Herodesspiele am 6. Januar; Flucht nach Ägypten am 6. oder 14. Januar (Oktav von Epiphanie). In manchen Kirchen beschränkte m a n sich auf einzelne Szenen.
IS
KRIEGER
(Anm. 11) S.
307-321; ROLF BERGMANN:
Katalog der deutschsprachigen geistlichen
Spiele und Marienklagen des Mittelalters. München 1986 (Veröffentlichung der Kommission für deutsche Literatur des Mittelalters der Bayrischen Akademie der Wissenschaften), S. 184 f.
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digung an Maria behandeln die Luzerner Spiele fünf Szenen vor der Geburt in einem Sprechakt und einer stummen Heiliggeist-Szene. Gabriel: Nim war: du würdst on alle sünd Empfahen vnd gebären ein kind. Jesus wirdst heissen sin namen. Der vß dir geboren on menschen samen.
Siehe, Du wirst ohne jede Sünde ein Kind empfangen und gebären. Du wirst es mit Namen Jesus nennen, der ohne menschlichen Samen von Dir [geboren ist.
(LuP V. 2673-2676)
Maria fragt noch, wie dies ohne Mann gehen soll und erhält zur Antwort, der Heilige Geist werde sie ganz umschatten, woraufhin eine Taube an einer Schnur über den gesamten Weinmarkt hinweg schräg zu ihr herabgezogen wird, um das Geheimnis wirken zu lassen. 19 Für die Geburt ziehen Joseph und Maria zum Wiehnachtshüttlin. Da Renward Cysat es auf seinem Bühnenplan für 1583, erster Tag, eingezeichnet hat, können wir eine klare Vorstellung von diesem Leichtbau aus Pfosten gewinnen: ohne Wände, ein schlichtes Dach, darin ein Loch für die Schnur, die zum Stern führt. 2 0 In den Regieanweisungen beschreibt Cysat die Handlung, die sich im Innern abspielt: Maria sitztt nider, sv zühend den vmbhang für, rüstend dz kindlin, dann thiiond sy das kindlin fiirhar ind kripffen (LuP vor V 2777). Angekommen wird also der Vorhang geschlossen, damit die Geburt als stumme und unsichtbare Handlung erfolgt. Sobald das Kind (oder eine Puppe) in der Krippe liegt, kann der Vorhang wieder geöffnet werden. U m auf das Wunder hinzuweisen, tun die Trompeter ein herrlich vffblasen; erst danach verbalisiert der Prophet Jesaja mitten auf dem Platz vor allen Zuschauenden die Geburt Christi: vns ist geboren (LuP V 2777). Das Wunder der Geburt des Christkindes geschieht im Gegensatz zur Auferstehimg im Off. Nur das Ergebnis wird präsentiert, die Trompeter betonen das Geschehene als bedeutsam und verlängern die Handlungspause, bevor Jesaja resümiert. Nach der Beschneidung des Jesuskindes im Tempel folgen die Hirten- und Dreikönigsszenen, die dem Geheimnis und Wunder Autorität verleihen. Die nonverbalen Wirkungsanteile sind wiederum erheblich und die Vorteile der räumlichen Simultanbühne kommen zum Tragen: König Melchior hat südlich und König Caspar nördlich des Hauses zur Sonne, das den Weinmarkt im Osten abschließt, gewartet, König Balthasar hingegen bereitete seinen Auftritt am entgegengesetzten südwestlichen Ende des Platzes vor. Die Könige kommen von drei Seiten, sie nutzen den gesamten Platz für den pompösen Einzug. Sie reiten auf Rossen ein, mit repräsentativem Anhang. Jeder führt ein außergewöhnliches Tier mit sich: Melchior ein Dromedar, Caspar einen Elefanten, Balthasar ein Kamel. Auf jedem sitzt ein
19
Vgl. V 2 6 8 7 - 2 7 0 2 .
20
B ü h n e n p l a n v o n R e n w a r d Cysat, erster Tag des Passionspiels v o n 1583, Zentral- u n d H o c h schulbibliothek Luzern, S o n d e r s a m m l u n g BRd.27.1:1.
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Knabe, in der Hand das Gefäß mit der Gabe. Es handelt sich um künstlich hergestellte Tiere. Das vornehmliche Wirkungsmittel heißt hier Exotik, gekoppelt mit Prunk und Ausstattung. Denn zuvorderst reiten je ein Trompeter, dann ein Fähnrich, dann der Knabe auf dem exotischen Tier. Es folgen ein Lakai zu Fuß, der jeweilige König und zehn Trabanten zu Fuß. 21 Die Bewegung erfüllt den Raum, indem von drei Ecken aus einem Zentrum zugestrebt wird: Demnach so ryttend die dry Kimig in platz, ieder ein besondere strass har, Vnd damitt sol man den Sternen allgemach abhin lassen (LuP nach V 2934). Die beiden vom Haus zur Sonne kommenden Könige folgen dem Stern, der, vom Stern- und Heiliggeistmaschinisten im obersten Fenster des Hauses zur Sonne herabgelassen, sie zum Wiehnachtshüttlin geleiten wird. So gelangen Melchior und Caspar zunächst in die Mitte der räumlichen Simultanbühne Weinmarkt, wo sie ihrem Gefährten Balthasar begegnen. Sie begrüßen sich. Der Stern wird zurückgezogen. Man wendet sich nun gemeinsam gen Norden und die funfundvierzig Personen treffen schließlich bei Herodes ein. Nach der Unterredung bewegt sich der Zug, wieder vom Stern geleitet, auf anderem Weg zur Weihnachtshütte. Das wunderbare Schauereignis war Königseinzügen nachempfunden und bedurfte kaum eines Textes. Der Gestus der Anbetimg, eigentlich auf das Jesuskind bezogen, wurde auf die gesamte Szene übertragen, soweit sie stumm ist. Wenn das Weihnachtsgeheimnis der Fleischwerdung Christi mittels jungfräulicher Geburt, weil es nicht gespielt, sondern nur im Ergebnis enthüllt werden kann, als Wunder gegenüber Ostern eher blass bleibt, so kommt gerade deshalb der Bestätigung durch die Hirten und der Autorität der Könige eine besonders große Bedeutung zu. Das wesentliche dingliche Attribut des Handelns ist hier der Stern, ein kleines Maschinenwunder wie vorher der Heilige Geist. Die Nutzung des gesamten Bühnenraums, Ausstattung und Prunk als Wirkungsmittel im Einzug der Könige verstecken die Differenz zu Ostern. Oder anders gesagt: Sie bereiten das als Wunder noch eindrücklichere Osterereignis vor. Zu Ostern handelt es sich um das Geheimnis einer Wiedergeburt Christi, ein Faszinosum, das es nicht nur wert ist, mit unterschiedlichem Publikum mehrfach begangen zu werden, sondern das im kompakten Ostergeschehen auch noch eine mehrfache Ausprägung besitzt. Das Wunder einer Wiedergeburt auf der einen und soziale Verkehrungen auf der anderen Seite gehören zu den stärksten Kräften in der Theatergenese. Das Wiedergeburtsmotiv geht über den Dionysoskult (Dithyrambos) in die Aufführungspraxis griechischer Tragödien ein, das Verkehrungsmotiv prägt den Mimus und die alte Komödie, in der zum Beispiel aus Menschen durchaus Tiere werden können. Vögel benehmen sich bei Aristophanes so wie Menschen, sie bilden sogar einen Staat. Ein Gott, der den Tod erleidet und aufersteht ist anwesend in Speise und Trank. Er wird als Stier verspeist und lebt weiter. Das Wiedergeburtsmotiv tritt naturzyklisch 21 Hier S. 208.
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aus dem Lebensprozess ins Theater, im Osterfest christlich aus einer Liturgie der Enthaltsamkeit hinein ins Leben. Es erhält hier wie dort eine dramaturgische Funktion. Die naturzyklische unterscheidet sich von der christlichen Wiedergeburt, indem es sich einmal um eine Einheit in und mit der Natur handelt, um einen natürlichen' Monismus, pantheistisch geprägt, das andere Mal um eine Einheit in Gott, einen christlichen Monismus, der sich im Beginn des Johannesevangeliums offenbart: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott" (Joh 1,1). Die eine Variante findet sich unter anderem in Goethes Faust im Erdgeist wieder, diesem Welt- und Tatengenius, oder in der Anmutigen Gegend, welche die Wiedergeburt als Naturvorgang offeriert und den Moralismus der Gretchentragödie sprengt. Die andere Wiedergeburt erscheint als Auferstehung am dritten Tag, in der Osternacht, wenn die drei Marien zum Grabe eilen, außerdem in der Taufe als Reinigimg, Heiligung, Metanoia, und in der Kommunion als Vollzug der Eucharistie, sowie im Jüngsten Gericht als grundsätzliche Umgestaltimg. Der natürlichen Wiedergeburt verleiht das Christentum eine lineare Zeiterstreckung. Diese Kulturleistung äußerte sich in Luzern im österlichen Variantenreichtum christlicher Wiedergeburt. Außer in der Auferstehimg war sie in der Weihe des Taufwassers in der Osternacht präsent und ab 1178 im Taufen des ersten Kindes; weiterhin in einer ab 1234 am Karfreitag obligatorischen Kommunion und zusätzlich in einer Feuerweihe, weil Christus durch seine Wiedergeburt das Licht in die Welt bringt. 22 Die Fleischwerdung Christi zu Weihnachten, eine Wiedergeburt im Sinne der Erscheinimg eines Gottes in anderer Gestalt, erreichte die Bühne zwar nur als nicht spielbare Geburt, als stumme und verborgene Szene, wurde dafür aber umso grandioser autorisiert.
Das St. Galler Weihnachtsspiel Während die Luzerner Passion das Weihnachts- und Ostergeschehen verbindet, wird in der St. Galler Stiftsbibliothek im Codex 966 das älteste überlieferte deutschsprachige Weihnachtsspiel aufbewahrt, das in zeitlicher und räumlicher Nähe zum Osterspiel von Muri - aber nicht in St. Gallen - entstanden ist. 23 Die Handschrift des 15. Jahrhunderts versammelt Lesetexte. Szenische Hinweise für eine Aufführung fehlen gänzlich, wurden vermutlich - verheerend für die theaterhistorische Forschung - beim Abschreiben eines älteren, zur Aufführung gedachten Spieles aus dem 13. Jahrhundert absichtlich weggelassen. Das Spiel beginnt mit dem Auftritt der Propheten. Es folgen die Szene der Vermählung Marias und Josephs, die Verkündigung und die Heimsuchimg.
22
GRECO-KAUFMANN ( A n m . 6).
23
BÄTSCHMANN (Anm. 2); Zusammenfassung der bisherigen Forschungsergebnisse und Textanalyse bei KRIEGER (Anm. 11), S. 217-238. Knapp hierzu auch BERGMANN (Anm. 18), S. 136138.
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Ein Engel zerstreut den Argwohn Josephs; dann verkündigt er den Hirten die Geburt des Gottessohnes. Die Hirten brechen auf und finden das Kind. An diese Szene schließt sich die Huldigung der Töchter von Zion gegenüber Maria an. Als Herodes durch einen Boten die Neuigkeit erfahrt, befragt er seine Räte, die ihn zum Kindermord anstiften. Herodes spricht mit den drei Königen. Danach suchen diese das Kind. Die Hirten weisen ihnen den Weg. Die Könige bringen ihre Gaben dar, ein Engel warnt die Könige vor Herodes. Ein Bote unterrichtet Herodes über die Abreise der Könige. Es folgt der Bericht über die Darstellung im Tempel. Herodes beschließt den Mord an den Knaben. Ein Engel weist Joseph nach Ägypten. Rahel klagt über ihre Kinder. Der Text endet mit der Rückkehr Marias und Josephs nach Palästina. Das Spiel galt als Spezialfall, weil nach traditionellem Szenar einige Szenen fehlen: Rutenwunder, Geburt Christi, St LUV der Götzen in Ägypten, Kindermord und Herodes' Höllenfahrt. - Bei ihrer Neuherausgabe unternahm EMILIA BÄTSCHMANN 1977 eine philologische Analyse des Textes. Aus Fehlern stellt sie Änderungen und Weglassungen des Abschreibers fest, konstatiert eine gewollte, aber nicht gelungene Sprachmodemisierung. Wichtiger noch, sie nimmt für den ursprünglichen Text des 13. Jahrhunderts eine Aufführung auf einer Simultanbühne an. Alle Spielorte sind gleichzeitig sichtbar, alle Darsteller permanent anwesend. Ortsveränderungen erfordern dann ähnliche stumme Übergänge, wie dies an den Wegen der Könige in Luzern demonstriert wurde. Das führt zur Vermutung, dass es sich bei den fehlenden um stumme Szenen gehandelt hat, im Originaltext des 13. Jahrhunderts als solche enthalten, für den Lesetext des 15. Jahrhunderts eliminiert. Die Vermutung wurde zunächst textimmanent gestützt, indem BÄTSCHMANN nachwies, dass die Szenen zumindest stumm vorhanden sein müssen, damit andere Verse und Szenen einen Sinn ergeben. 2 4 Sogar mit Blick auf das äußerst nahe stehende Benediktbeurer Weihnachtsspiel des 13. Jahrhunderts, in welchem die Szenen - mit Ausnahme des Götzensturzes - ebenfalls stumm vorkommen, meint die Autorin noch immer, dass dies ungewöhnlich sei. Dort finden sich Hinweise auf das Rutenwunder und in den Regieanweisungen heißt es knapp, Maria solle „zu ihrem Lager gehen und den Sohn gebären. Neben ihr soll Joseph sitzen in ehrbarem Gewand und mit wallendem Bart." 2 5 Im St. Galler Spiel brauchte es zumindest eine Krippe für die Darbringung der Gaben. In Benediktbeuern geschieht der Kindermord stumm, aber die Klage ist in Verse gebannt. Zur Höllenfahrt des Herodes heißt es: „Dann soll Herodes von den Würmern gefressen werden, von seinem Thron herabsteigen und tot von den Teufeln in Empfang genommen werden, die ein Triumphgebrüll anstimmen. Und mit der Krone des Herodes soll sein Sohn Archelaos gekrönt werden" 2 6 - eine besonders bezüg-
24
BÄTSCHMANN (Anm. 2), S. 20-23.
25
Carmwa
26
Hier S. 683-685.
Burana.
GÜNTER BERNT. M ü n c h e n
1974, S. 671.
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lieh des wurmzerfressenen Herodes spannende Szene. Gerade sie legt es nahe, nach dem emotionalen Charakter, nach nonverbalen Wirkungen von Szenen zu fragen. Die Religiosität, beschlossen in Geheimnis und Wunder, wird im Spiel in Demonstrationshandlungen transformiert wie das Aufheben eines Grabtuches oder den Auftritt der drei Könige, die ihr Autorität verleihen. Allen im St. Galler Text scheinbar fehlenden Szenen liegt Konversation fern. Das Rutenwunder bedarf ihrer nicht, die Jungfräuliche Geburt und die Fleischwerdung Christi sind als das Weihnachtswunder schlechthin charakterisiert. Den Sturz der Götzen in Ägypten beim Herannahen Christi kann man sich, vergleicht man ihn mit dem ständigen Umfallen und Wiederaufrichten der Götzenbilder in Benediktbeuern, überhaupt nur als eine Art Bühnenwunder vorstellen. 27 Und warum sollte man den grausamen Kindermord und die Höllenfahrt kommentieren? Diese Szenen verschaffen dem religiösen Gesamtgeschehen Autorität. Und Autorität ist stumm. Der Schauwert überragt in allen Fällen die Wirk- und Überzeugungskraft jeglicher Rede. Ungeheuerliches gehört zur mittelalterlichen Bühne, auf der es durchaus vorkam, dass der Darsteller Jesu am Kreuz tatsächlich Schmerzen zu erleiden hatte. Mit größtem Gespür für das Bühnengemäße wurde im 13. Jahrhundert für die emotional aufrüttelndsten Szenen auf die Sprache verzichtet. Die Alltagserfahrimg des Publikums wurde in diesen stummen Szenen verkehrt. Nie hatte man ein Rutenwunder oder eine jungfräuliche Geburt erlebt, nie einen Götzensturz, und selbst im Krieg nie einen solchen Massenmord an Kindern oder eine Höllenfahrt. Der Text verstummt geheimnisumwittert angesichts der Verkehrimg des Alltags im Wunder, autorisiert auch durch unbändige Grausamkeit. Verkehrt werden konnte sogar die Personnage, selbst Christus, insbesondere im Bereich der hier ausgeklammerten brauchtümlichen Spiele: In der Westschweiz, in Bulle, protestiert 1608 die kirchliche Behörde dagegen, dass während der Vesper an Epiphanie in der Kirche der ,Wilde Mann' an eine Säule des Mittelschiffs gefesselt und gegeißelt wurde. An diese Szene schloss sich ein Tanz in der Kirche an. 28
Geheimnis, Wunder, Autorität Wie unschwer zu bemerken war, berühren sich Wirkungsstrategien im geistlichen Spiel mit Iwans Erzählung über den Großinquisitor in Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasoff?9 Christus kehrt nach langer Abwesenheit auf die Erde zurück, ins Sevilla des 16. Jahrhunderts, und erweckt ein totes Mädchen zum Leben. Der Großinquisitor lässt Christus einkerkern, besucht ihn 27 28 29
Hier S. 693-697. A[POLLINAIRE] DELLION: Dictionnaire Historique et Statistique des Paroisses Catholiques du Canton de Fribourg, Fribourg 1884 (Band 2), S. 267. F J O D O R M . D O S T O J E W S K I : Die Brüder Karamasoff, München, Zürich 1 9 8 5 , S . 4 0 1 - 4 3 2 .
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aber nachts, allein, mit einer Kerze in der Hand. Während Christus schweigt, erläutert der Großinquisitor, warum er ihn töten lassen wird. Nämlich um des Glückes willen, das die Menschen in der Aufgabe ihrer Freiheit erfahren. Drei Mächte existieren, so der Großinquisitor, um das Gewissen der Menschen „zu ihrem Glück auf ewig besiegen" zu können, das sind das Geheimnis, das Wunder und die Autorität. 30 Jesus küsst schließlich den neunzigjährigen Greis auf die Lippen; dieser erschaudert und lässt ihn von dannen ziehen. 31 Denn der Kuss entwertet das lange gehütete Geheimnis des Großinquisitors: „Wir sind nicht mit Dir verbündet, sondern mit ihm [dem Teufel], das ist unser ganzes Geheimnis!" 32 In der allgegenwärtigen Möglichkeit von Verkehrungen und Komik im Osterwie im Weihnachtsspiel, in den Fronleichnams- und Passionsspielen, liegt der Grund, warum dieses Geheimnis des Großinquisitors seine Autorität eingebüßt hat. Der Streifzug durch einige Spieltexte versteht sich bei weitem nicht als eine Untersuchung, sondern nur als eine Anregung, Texte grundsätzlich dem Verdacht zu unterwerfen, es sei darin nicht alles notiert, was zum szenischen Vorgang gehörte. Das Religiöse kann in Textlücken auf eine Ebene sinnlicher Erfahrimg transformiert worden sein, iun seine Wirkung zu erhöhen. Nach diesem System der Lücke verstummt der Text an Wendepunkten des Geschehens, um dem Geheimnis, dem Wunder und der Autorität den gesamten Handlungsspielraum zu überlassen. Die oft beschworene Lehrabsicht der geistlichen Spiele könnte unter solchen Annahmen erheblich differenziert werden.
30
Hier S. 415.
31 32
Hier S. 428. Hier S. 419.
ELKE KOCH
Inszenierungen des Heiligen Spielspezifische Strategien am Beispiel hessischer Passionsspiele
The staging of God, a common phenomenon in medieval religious drama, is a complex issue when considered as a representation of the Sacred. Within the framework of religious practice, the Sacred demands a form of representation that does not acknowledge its representational function, but presents the Sacred as essentially non-representable. Indications of this paradox are to be expected in self-reflexive elements of the plays. The analysis applies this hypothesis to the combination of text and performance that is characteristic of the genre and focuses on passages in which role-play, a constitutive element of performance, becomes thematic. The comparison between expository scenes of different plays from the same (Hessian) group shows that specific strategies are employed to 'solve' and reproduce the problem of representing the Sacred.
Das Erscheinen Gottes auf der Bühne geistlicher Spiele des späten Mittelalters ist ein zwar selbstverständliches, aber keineswegs banales Ereignis. 1 In Passionsspielen lässt sich beobachten, dass der erste Auftritt der Zentralgestalt Jesus meist einen besonders herausgehobenen und zugleich heiklen Moment darstellt. Dieser wird beispielsweise im Alsfelder Spiel sorgfältig vorbereitet. Die heilsgeschichtliche Funktion des Täufers erscheint hier dramatisch umgesetzt, indem Johannes wie ein Herold die Ankunft des Gottessohnes ankündigt und das Publikum auffordert, sich dafür bereit zu machen. Der Bühnenanweisung zufolge zeigt Johannes mit dem Finger auf Jesus, während dieser sich erhebt und auf Johannes zugeht (Et sie digito demonstrando eum, Ihesiis surgit a loco suo, vadit ad Iohannem; AP vor V 491) 2 Ein Zeigegestus kennzeichnet auch das weitere Bühnenhandeln, wenn Johannes Ecee agmis dei singt und in der Volkssprache wiederholt: Sehet, hie kommet der werde man / hie ist des edeln godes lam (AP V 491 f.).
ι
Hinweise zu Aufführungspraktiken (Kostüme, Bühneneffekte) im englischen, französischen und deutschen Sprachraum bei LYNETTE MUIR: Playing God in Medieval Europe. In: The Stage as Mirror. Civic theatre in late medieval Europe. Hrsg. von ALAN E. KNIGHT, Cam-
2
Alsfelder Passionsspiel. Hrsg. von JOHANNES JANOTA, Tübingen 2002 (Die Hessische Passionsspielgruppe. Edition im Paralleldruck 2). Im Folgenden abgekürzt AP.
b r i d g e 1 9 9 7 , S. 2 5 - 5 0 .
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Elke Koch
Diese Präsentation der Jesus-Figur ist darauf angelegt, Aufmerksamkeit zu steigern und zum Hinsehen anzuregen. Im gleichen Zuge wird die Rollenidentität der Figur exponiert: Denjenigen, den ihr hier seht, sollt ihr als Jesus, den menschgewordenen Gott, ansehen. In Anbetracht des Umstands, dass die Darsteller in Alsfeld Mitglieder der Gemeinde waren, ihre Körper und Stimmen daher Wiedererkennungswert hatten, stellt dies keinen geringen Anspruch dar.3 Daher kann die gesteigerte Form der Identifizierung auch als Strategie aufgefasst werden, die theatrale Codierung von Zeichen abzusichern, die zugleich als Zeichen für eine soziale Identifizierimg verwendet werden konnten. 4 In der Taufszene wird durch eine weitere göttliche Instanz diese Identitätszuschreibung bekräftigt und autorisiert. Dabei greift die Darstellung auf die Evangelien der Synoptiker zurück. Gottvater, in der Regieanweisung als maiestas bezeichnet, greift direkt in das Geschehen ein und weist Jesus als seinen Sohn aus: Hie est filins meus dilectus5 - und in der Volkssprache, noch einmal ostentativ mit dem deiktischen Signal: Sehet, dicz ist myn zarter sone (AP V 528). Der Auftritt des Gottvaters verweist auf das Bemühen, dem Auftreten Jesu außerordentliche Emphase zu verleihen und die Rollenidentität dieser Figur in besonderem Maß sicherzustellen. Dabei macht die Taufszene des Alsfelder Passionsspiels von der Möglichkeit Gebrauch, mehrere Grade der Verkörperung des Heiligen auf einer Ebene nebeneinander zu stellen: Johannes, den heiligen Menschen, Jesus, die Inkarnation des Göttlichen, und Gottvater, die transzendente Instanz. Alle diese Verkörperungen des Heiligen werden im Spiel gleichermaßen durch Darsteller repräsentiert. 6 Diese Strategien der Ex3
Zur Rekonstruktion der Spieleridentitäten vgl. DOROTHEA FREISE: Geistliche Spiele in der Stadt des ausgehenden Mittelalters. Frankfurt - Friedberg - Alsfeld, Göttingen 2002 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 178), S. 311-334. Die Identität des JesusDarstellers lässt sich aufgrund der Schäden des Alsfelder Spielerverzeichnisses leider nicht ermitteln, FREISE vermutet aber aufgrund der mit dieser Rolle verbundenen Anforderungen, dass es sich um einen Geistlichen gehandelt hat; vgl. hier S. 313.
4
Vgl. CHRISTOPH PETERSEN: Imaginierte Präsenz. Der Körper Christi und die Theatralität des geistlichen Spiels. In: Das Theater des Mittelalters und der frühen Neuzeit als Ort und Medium sozialer und symbolischer Kommunikation. Hrsg. von CHRISTEL MEIER/HEINZ MEYER/ CLAUDIA SPANILY, Münster 2004 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496 4), S. 45-61, hier S. 53 f. PETERSEN wertet die explizite, teils „obsessive" (Selbst-)Identifizierung der Rollenfiguren in Passionsund Osterspielen als Verfahren, um die theatrale Codierung der Zeichen zu sichern.
5
Zur autorisierenden Funktion des Responsoriums, das auch in der Frankfurter Dirigierrolle eingesetzt wird, vgl. JOHANNES JANOTA: Zur Funktion der Gesänge in der hessischen Passionsspielgruppe. In: Osterspiele - Texte und Musik. Akten des 2. Symposiums der Sterzinger Osterspiele (12.-16. April 1992). Hrsg. im Auftrag des Vigil-Raber-Kuratoriums Sterzing von MAX SILLER, Innsbruck 1994 (Schern-Schriften 293), S. 109-240, hier S. 114 f.
6
PAUL ZUMTHOR: Essai de poetique medievale, Paris 1972, S. 439 f., unterscheidet zwischen dem Verfahren, die Verkörperung Gottes an Jesus oder Engelsfiguren zu delegieren, und der Darstellung Gottes als eigenständige Rollenfigur. In Bezug auf letztere differenziert er zwi-
Inszenierungen des Heiligen
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position werfen die Frage auf, welche Möglichkeiten und Probleme mit der Inszenierimg des Heiligen verbunden sind, wenn das Heilige, wie hier, durch Rollenspiel dargestellt wird. Die Frage nach der Repräsentation des Heiligen in geistlichen Spielen ist in der Forschung auf unterschiedliche Weise untersucht worden. Während der Romanist THIERRY REVOL unter anderem auf religionspsychologische Positionen zurückgreift, denen zufolge das religiöse Imaginäre durch universale Archetypen strukturiert ist, 7 legt die Anglistin SARAH BECKWITH eine kulturanthropologisch orientierte Sichtweise des Heiligen zugrunde. 8 Demnach ist das Heilige auf die Produktion einer symbolischen Ordnung zu beziehen, deren Semantiken und soziale Funktionen kulturell und historisch je spezifisch zu bestimmen sind. BECKWITH analysiert am Beispiel englischer Fronleichnamsspiele, wie religiöses Theater des Mittelalters als Medium einer symbolischen Auseinandersetzung mit konstitutiven Elementen der Sakramente und der gesellschaftlichen Ordnung fungieren kann. Eine solche Funktion lässt sich auch für deutsche Passionsspiele nachweisen. Dabei wird im Folgenden mit dem Begriff des Heiligen bewusst auf einer allgemeineren Ebene angesetzt, und zwar bei der Überlegimg, dass die Repräsentation des Heiligen ein strukturelles Problem aufwirft. Das Interesse dieser Untersuchung gilt dem Rollenspiel mit dem Heiligen nicht in erster Linie als kulturelle Praxis unter spezifischen historischen Bedingungen, sondern zunächst als einem symbolischen Verfahren unter spezifischen medialen Bedingungen. Wenn im Folgenden der Begriff des ,Heiligen' verwendet wird, geht es also nicht darum, eine anthropologische Basiskategorie zu behaupten. Vielmehr soll gefragt werden, inwiefern in den Spielen die Inszenierung des Heiligen als Problem der Repräsentation zum Ausdruck kommt. Die Begriffe der Inszenierimg und des Heiligen stehen in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander. Inszenierung verweist auf das Erscheinen-Lassen, Erzeugen und somit die Verfügungsmacht, die dem Performativen zugeschrieben werden kann. Doch kann das Heilige durch den religiösen Menschen nicht hervorgebracht, sondern nur als Offenbarung manifest werden, so bringt es der
7
s
sehen Formen, in denen Gott zwar auf der Bühne zu sehen ist, aber nicht ins Spiel eingreift, und solchen, in denen er an der dramatischen Interaktion teilnimmt. Diese Darstellungsweisen versteht ZUMTHOR als Antworten auf das Problem der Repräsentation Gottes, die in französischen Spielen je unterschiedlich eingesetzt werden. Vgl. THIERRY REVOL: Representations du sacre dans les textes dramatiques des Xle-XIIIe siecles en France, Paris 1999 (Nouvelle Bibliotheque du Moyen Äge, 51). REVOL setzt allerdings unterschiedliche Ebenen des Heiligen an, indem er zwischen Verfahren im Umgang mit der Heiligen Schrift, dem Bezug zur Liturgie, der Sakralisierung sozialer Werte und Strukturen des Imaginären differenziert. Vgl. SARAH BECKWITH: Signifying God. Social Relation and Symbolic Act in the York Corpus Christi Plays, Chicago 2001.
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Religionshistoriker MLRCEA ELIADE auf den Punkt. 9 Der gläubige Mensch nähert sich dem Heiligen in Symbolisierungen an, doch bleibt in der Hinwendung zum Heiligen die Grenze zum ,Ganz anderen'. Unsichtbaren und Unverfügbaren fur ihn undurchlässig, während das Heilige über diese Grenze hinausgehen kann. Das Rollenspiel mit heiligem Personal in geistlichen Spielen des Mittelalters scheint eine besondere Form der Auseinandersetzung mit jener Grenze zu bilden, die das Heilige als Unfassbares einerseits, als realitätsstiftendes Prinzip andererseits konstituiert. Am Beispiel von Legendendichtungen hat PETER STROHSCHNEIDER narrative Verfahren nachgewiesen, durch welche das Darstellungsparadox des Heiligen ,gelöst' und dabei zugleich immer auch reproduziert wird. 10 Die Repräsentation des Heiligen muss demzufolge Wege finden, das Heilige als Heiliges zu zeigen, d.h. es als differentiellen Zeichenordnungen entzogen auszuweisen. Die Darstellung muss also die Undarstellbarkeit des Heiligen behaupten; sie muss sich, mit den Worten STROHSCHNEIDERS, „selbst durchstreichen". 11 Die folgenden Überlegungen nehmen von der Frage ihren Ausgang, inwiefern dieses Problem auch für geistliche Spiele des späten Mittelalters virulent ist. Unter dieser Perspektive sind die eingangs beschriebenen Verfahren der Ostentation und der Identifizierung noch einmal neu zu überdenken. Hierbei ist zunächst die Relationierung von verbalen und nonverbalen Zeichen in der Aufführung zu berücksichtigen. Ein Darsteller, der eine Rolle spielt, kann im Rahmen des Spielkontraktes als Figur gesehen werden, zugleich bleibt aber die je spezifische Phänomenalität seines Körpers in der Aufführung unhintergehbar real. 12 in Hinblick auf die Darstellung heiliger und göttlicher Figuren ist dies zuzuspitzen: Wenn ein Darsteller Gott verkörpert, ist in der Aufführung unablässig das Potential gegeben, die Differenz zwischen immanentem Signifikant und transzendentem Signifikat wahrzunehmen. Daraus lässt sich einerseits die Hypothese ableiten, dass die Ebene der Sprache dienst9
MIRCEA ELIADE: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt a.M. 1 9 8 4 , S. 1 4 f.
ΊΟ Vgl. u.a. PETER STROHSCHNEIDER: Inzest-Heiligkeit. Krise und Aufhebung der Unterschiede in Hartmanns Gregoriiis. In: Geistliches in weltlicher, Weltliches in geistlicher Literatur des M i t t e l a l t e r s . H r s g . v o n CHRISTOPH H U B E R / B U R G H A R T WACHINGER/HANS-JOACHIM
ZIEGELER,
Tübingen 2000, S. 105-133; DERS.: Georius miles - Georius martyr. Funktionen und Repräsentationen von Heiligkeit bei Reinbot von Durne. In: Literarische Leben. FS Volker Mertens. H r s g . v o n MATTHIAS M E Y E R / H A N S - J O C H E N SCHIEWER, T ü b i n g e n 2 0 0 2 , S . 7 8 1 - 8 1 1 :
DERS.:
Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel Konrads von Würzburg Alexius. In: Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen. Im Auftrag des Sonderforschungsbereichs 537 hrsg. von GERT M E L V I L L E / H A N S VORLÄNDER, K ö l n , W e i m a r , W i e n 2 0 0 2 , S. 1 0 9 - 1 4 7 .
11 12
STROHSCHNEIDER, Georius miles (Anm. 10), S. 802. Zum theatersemiotischen und aufführungsanalytischen Stellenwert dieses Aspekts vgl. ERIKA FISCHER-LICHTE: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen, B a s e l 2 0 0 1 , S . 165 f.; S. 3 0 1 - 3 0 9 .
Inszenierungen des Heiligen
205
bar gemacht wird, um diese Differenz in der Imagination der Rezipienten aufzuheben, gerade weil die Spiele als religiöse Praxis fungieren. 13 Andererseits lässt sich aber fragen, ob die Texte diese Differenz nicht auch betonen oder reflektieren. Das Darstellungsproblem des Heiligen, so die hier verfolgte These, kommt dort zum Ausdruck, wo das Rollenspiel selbstreferentiell wird. Der Aspekt der Identität ist für das Rollenspiel konstitutiv. 14 Mit Rollenidentität ist hier der Kontrakt gemeint, jemanden im Spiel als jemanden anderen zu betrachten. 15 Thematisch ist die Frage der Identifizierung Jesu als wahrer Sohn Gottes in den Evangelien das zentrale Problem, das auch in den Spielen von Christi Leben und Passion verhandelt wird. Dabei ergeben sich nahe liegende Möglichkeiten der Selbstreferentialisierung. Im Folgenden werden daher solche Textpassagen im Zentrum der Analyse stehen, welche die Frage der Identität bzw. Identifizierimg oder den Aspekt der Wahrnehmung problematisieren. Da die Bedingungen des theatralen Rollenspiels allen Spielen gleichermaßen zugrunde liegen, stellt sich zugleich die Frage, ob auch das Problem der Darstellung des Heiligen überall auf die gleiche Weise zum Ausdruck kommt. 1 6 Daher gilt es, nach je spezifischen Strategien der Inszenierimg des Heiligen zu fragen. Das eingangs zitierte Beispiel aus dem Alsfelder Passionsspiel zeigt eine Auswahl solcher Strategien, unter denen die ostentative Identifikation und die Simultaneität von Verkörperungen des Heiligen besonderes Gewicht haben.
13
14
Diesen Verfahren der ,Präsenzerzeugung' gilt in jüngster Zeit besonderes Interesse; vgl. v.a. CHRISTOPH PETERSEN: Ritual und Theater. Meßallegorese, Osterfeier und Osterspiel im Mittelalter, Tübingen 2004 (MTU 125). Den voraussetzungsreichen Begriff der Identität verwende ich hier reduziert auf die Feststellung, ,wer jemand ist'. Grundlegend zum Problemkomplex Identität und Identifikation vgl. PETER VON MOOS: Einleitung. Persönliche Identität und Identifikation vor der Moderne. Zum Wechselspiel von sozialer Zuschreibung und Selbstbeschreibung. In: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft. Hrsg. von DEMS., Köln, Weimar, Wien 2004, S. 1-42.
15
Mit dem Begriff des Rollenspiels wird kein theaterwissenschaftlich ausgearbeitetes Konzept aufgerufen, er wird hier vielmehr im Sinne von ROGER CAILLOIS' Verständnis von mimikiy verwendet; vgl. ROGER CAILLOIS: Les jeux et les hommes. Le masque et le vertige. Ed. rev. et augm., Paris 1976 (Collection idees 125). Der Terminus des Rollenspiels ist neutral gegenüber der von HANS ULRICH GUMBRECHT angesetzten Differenz zwischen mittelalterlichem und neuzeitlichem Theater, die maßgeblich durch einen Wandel der Bedeutung von .Darstellung' bestimmt sei; vgl. HANS ULRICH GUMBRECHT: Für eine Erfindung des mittelalterlichen Theaters aus der Perspektive der frühen Neuzeit. In: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Bd. II. Hrsg. von JOHANNES JANOTA u.a., Tübingen 1992, S. 827-848. Ein Symptom dieses Wandels sieht GUMBRECHT in der Ausgestaltung von Figurenrollen zu fiktiven .Personen'. Der Begriff des Rollenspiels setzt keine Individualisierung der Rollenidentitäten voraus.
i(i
Ich gehe bei meinen Überlegungen zu Effekten der Rollenspielsituation von der Aufführung geistlicher Spiele aus. Zur Differenzierung von Textstrategien vor dem Hintergrund der Überlieferung als Lesetexte vgl. den Beitrag von CORNELIA HERBERICHS in diesem Band.
206
Elke Koch
Dagegen weist das Frankfurter Passionsspiel eine andere Exposition der Jesusfigur auf. 17 Dort tritt Jesus erstmals bei der Berufimg der Jünger ins Bühnengeschehen ein. Dies ist insofern bemerkenswert, als beide Spiele auf eine gemeinsame Tradition zurückgehen. Die Frankfurter Dirigierrolle, die ein wesentlich früheres Spiel dieser Tradition repräsentiert, hat als ersten Auftritt Jesu ebenfalls die Taufszene, einschließlich des Auftritts der maiestas.'8 Das Alsfelder Spiel baut dieses Potential durch die Vorrede und Gestik des Johannes weiter aus, während im Frankfurter Spiel die Taufszene und damit auch die simultane Inszenierung Gottes und seiner Inkarnation fehlt. Offenbar werden also auch in textgeschichtlich von einander abhängigen Spielen unterschiedliche Darstellungsstrategien verwendet. Die Analyse setzt bei dieser Beobachtung an und zieht einen detaillierteren Vergleich zwischen den Frankfurter Spielen und dem Alsfelder Passionsspiel. 19 Dabei bleibt die Untersuchung auf die Eröffnungsphase konzentriert. Gemeinsam ist diesen Spielen, dass Jesus nicht gleich zu Beginn auftritt, sondern jeweils eine Art Vorspiel vorgeschaltet ist. In den Frankfurter Spielen treten Propheten auf, die auf die Passion voraus weisen, im Alsfelder Spiel planen Teufel das Verderben Christi und geben so eine Vorschau auf die Passion aus invertierter Perspektive. In der Forschimg wird die Eröffnungsphase von Passionsspielen meist unter dem Gesichtspunkt der heilsdidaktischen Perspektivierung betrachtet. 20 Den Zuschauern wird das folgende Geschehen als Erlösungswerk präsentiert, typische Elemente dieser Phase sind die Deutungsvorgaben, die vom Spielleiter oder Figuren wie Augustinus, den Propheten und Johannes gegeben werden. Mit Blick auf das Problem der Inszenierung des Heiligen interessiert hier jedoch die Frage, wie in den Vorreden und Vorspielen auf das Spielen selbst, seine Wahrnehmung und schließlich die Frage der Identität Bezug genommen wird. Die Vorreden der Spiele, denen eine Schwellenfunktion bei der Rahmung der Spielhandlung zukommt, 21 sind besonders ergiebig, um explizite Bezugnah17
Frankfurter Passionsspiel — Frankfurter Dirigierrolle. Hrsg. von JOHANNES JANOTA, Tübingen 1996 (Die Hessische Passionsspielgruppe. Edition im Paralleldruck 1). Im Folgenden abgekürzt FP.
is 19
Frankfurter Dirigierrolle (Anm. 17), S. 36-52. Im Folgenden abgekürzt FD. Das Heidelberger Passionsspiel bedarf auch aufgrund seines medialen Status einer eigenen Diskussion. Auffallig ist hier gegenüber den anderen Spielen, dass Johannes der Täufer als Figur wesentlich stärker profiliert wird, die (erste) Begegnung mit Jesus aber beinahe beiläufig erfolgt. Die Identifikation des Gottessohnes in der Taufszene wird indessen symbolisch auf besondere Weise hervorgehoben, indem - entsprechend der Evangelienberichte - eine Taube sich auf Jesu Haupt niederlässt; vgl. Heidelberger Passionsspiel. Hrsg. von JOHANNES JANOTA, Tübingen 2004 (Die Hessische Passionsspielgruppe. Edition im Paralleldruck 3), vor V 207.
20
Zur didaktischen Funktion der Vorreden vgl. JÖRG O. FICHTE: Expository Voices in Medieval Drama. Essays on the Mode and Function of Dramatic Exposition, Nürnberg 1975 (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft 53), S. 73-75, 96 u.ö.
21
Siehe dazu den Beitrag von GLENN EHRSTINE in diesem Band.
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207
m e n auf die Spielsituation u n d die W a h r n e h m u n g des D a r g e b o t e n e n im lentext zu erfassen. In einer vielzitierten Passage des Alsfelder
Rol-
Passionsspiels
appelliert der Proklamator ausdrücklich an eine bestimmte Rezeption, die auf Verinnerlichung zielt: dar v m b sollet ir n u a n s e h e n n m y t i n n i k e y t d a s s c h o n e spyell, das m a n hie begynnen well vonn dem lydenn vnsers herrenn. ( AP V 46-49)
D a r u m sollt Ihr n u n d a s s c h ö n e Spiel m i t I n n i g k e i t a n s e h e n , d a s m a n h i e r b e g i n n e n wird, von dem Leiden unseres Herrn.
D e r A u f r u f zur ,Innigkeit' des S e h e n s zielt nicht nur auf eine Haltimg der A n dacht g e g e n ü b e r d e m O p f e r Christi. Die Rezipienten sollen sich das G e s e h e n e e i n p r ä g e n , u m d i e memoria
der Passion a u f D a u e r zu stellen:
m i t a n d a c h t sollet er disz s c h a w e n n v n d in alle v w e r n t a g e n n I h e s u syn c r u c z e h e l f f e n t r a g e n mit wiezen vnd synnenn. ( A P V. 5 2 - 5 5 )
M i t A n d a c h t sollt ihr d a s a n s c h a u e n u n d in allen e u r e n T a g e n J e s u s sein K r e u z t r a g e n h e l f e n , m i t Verstand u n d S i n n e n .
D a m i t schreibt d e r P r o k l a m a t o r d e m Spiel eine W i r k u n g s w e i s e zu, m i t d e r seit G r e g o r I. d e r N u t z e n v o n B i l d e r n f ü r d i e D e v o t i o n b e g r ü n d e t w u r d e , a l s E r innerimgshilfe und zur Intensivierung der emotionalen Hingabe im
Gedenken
an das Opfer Christi.22 Die Aufforderung des Proklamators akzentuiert
damit
w e n i g e r die unmittelbare W i r k u n g der A u f f ü h r u n g als ihre nachträgliche
Aus-
strahlung.23 F ü r die Z u s c h a u e r soll sich der Z w e c k der D a r b i e t u n g nicht
im
E r e i g n i s e r s c h ö p f e n . D a s G e s e h e n e soll sich e i n p r ä g e n , so dass f ü r die spätere individuelle Imagination entsprechende M u s t e r aktiviert w e r d e n können.24 R e d e rekurriert auf die ,Bildfähigkeit'
des Heiligen in d i e s e m
Sinne: Es
Die ist
22
Einschlägig ist die Briefpassage: Sei ο quidem quod imaginem Salvatoris nostri non ideo petis, ut quasi Deum colas, sed ob recordationem filii Dei in ejus amove recalescas, cujus te imaginem videre desideras. [...] Et dum nobis ipsa pictura quasi scriptum ad memoriam Filium Dei reducit, animum nostrum aut de resurrectione hetificat, aut de passione demulcet. Patrologiae Latinae LXXVII. Hrsg. von JACQUES-PAUL MIGNE, Paris 1896, col. 991. Eine weitere wichtige Legitimierungsstrategie, die ebenfalls durch Gregor I. autorisiert wurde, beruft sich auf den heilsdidaktischen Nutzen von Bildern besonders für schriftunkundige Laien.
23
In der Forschung wurde dies teils als Hinweis auf die Rezeption der Spiele in actu verstanden. S o z i t i e r t n o c h FICHTE ( A n m . 2 0 ) , S . 7 4 , d i e V o r s t e l l u n g E R I C H HARTLS ( D a s D r a m a d e s M i t -
telalters, Leipzig 1936, Bd. I, S. 77), dass es nach einer solchen spirituellen Einstimmung kaum noch einer weiteren Aufforderung bedurft habe, u m das Publikum zum Niederknien, Beten oder Singen zu bewegen. 24
Zum Zusammenhang von Sehen und spiritueller Emotionalität vgl. NIKLAUS LARGIER: Scripture, Vision, Performance. Visionary Texts and Medieval Religious Drama. In: Visual Culture and the German Middle Ages. Hrsg. von KATHRYN STARKEY/HORST WENZEL, New York 2005, S. 207-219. LARGIER, hier S. 208, sieht dieses Fortwirken nicht auf die Memorierung eines Bildes beschränkt, sondern die Dramatisierung des biblischen Geschehens erzeuge ein starkes emotionales und spirituelles Erlebnis, das dann immer wieder neu vergegenwärtigt und
208
Elke Koch
möglich und erwünscht, sich vom Heiligen ein Bild zu machen - ein Bild auf der Bühne und ein inneres Bild. Diese Bilder sollen den Wunsch nach der Begegnung mit dem Heiligen nicht befriedigen, sondern wach halten. Der Proklamator schreibt dem Spiel indessen noch eine weitere Intention zu. Die Aufführung soll Anerkennung und Dank für das freiwillige Opfer ausdrücken: das sollen mer en genisszen Ion / vnd dancken eß ein myt grosszen flyß (AP V 36 f.), und somit das kollektiv vollziehen, was auch von jedem Einzelnen eingefordert wird (vgl. AP V 28). 25 Damit wird nicht nur das Publikum, sondern implizit auch Gott als Zuschauer adressiert. Durch diese Vorrede hat das Alsfelder Spiel die Darstellung des Heiligen als Problem bereits in gewisser Weise bearbeitet. Die Repräsentation beansprucht nicht, das Undarstellbare zu erfassen, sondern erschöpft sich darin, eine Bewegung der Annäherung zu katalysieren. Darüber hinaus werden beide Intentionen des Spiels, die Erzeugimg einer nachträglichen, individuellen Wirkung und das Gelingen als kollektiver Akt, nicht auf den Erfolg der Darbietung zurückgeführt, sondern von der Macht des Heiligen abhängig gemacht. got gebe, das mer das spiel szo triben, das mer got da midde erenn vnd alle sunder vnd sunderyn, [sich bekerenn die dissze hören vnd sehenn. daz dicz alszo gescheen, das helffe vns der meyde son, der do besiezet des hymmels thronn, vnszer herre Ihesu Crist, der vor vns gestorben ist. (AP V 76-84)
Gott gebe, dass wir das Spiel so [durchfuhren, dass wir Gott damit ehren und alle Sünder und Sünderinnen [sich bekehren, die dieses hören und sehen. Dass dies geschehe, dazu verhelfe uns der Solln der [Jungfrau, der auf dem himmlischen Thron sitzt, Unser Herr Jesus Christus, der fur uns gestorben ist.
Proklamator und Spielleiter, der als Regens auftritt, handeln im Alsfelder Passionsspiel nicht als Rollenfiguren, sondern als Funktionsträger. 26 Ihre Aussagen sind Teil des dramatischen Dialogs, operieren jedoch nicht im Modus des ,Als-Ob'. Die Bitte um göttlichen Segen beansprucht somit Wirklichkeitsdurchlebt werden könne: „In being contemplated, the play is supposed to reenact time and again the religious conversion of the viewer." 25
Die Kollektivität als Differenzmerkmal der Spiele gegenüber anderen emotionalisierten und sensualisierten Frömmigkeitspraktiken betont JAN-DIRK MÜLLER: Mimesis und Ritual. Zum geistlichen Spiel des Mittelalters. In: Mimesis und Simulation. Hrsg. von ANDREAS KABLITZ/ GERHARD NEUMANN, Freiburg i.Br. 1998 (Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae 52),
26
Funktionen solcher Figuren differenziert für das Fronleichnamsspiel RALPH J. BLASTING: Die Dramaturgie des Spielleiters in den deutschen Fronleichnamsspielen. In: Mittelalterliches Schauspiel. FS für Hansjürgen Linke zum 65. Geburtstag. Hrsg. von ULRICH MEHLER/ANTON H. TOUBER, Amsterdam, Atlanta 1994 (Amsterdamer Beiträge zur Älteren Germanistik 38-
S. 5 4 1 - 5 7 1 , h i e r S. 5 5 6 , 5 6 2 u . ö .
3 9 ) , S. 7 9 - 9 1 .
Inszenierungen des Heiligen
209
Charakter. Die Ansprache an Gott bildet eine sprachlich vermittelte Weise, das Heilige als reale Instanz außerhalb des Spiels zu konstituieren. Dieses symbolische Verfahren ist dialogisch strukturiert, insofern das Spiel sich zugleich als Akt gegenüber dem Heiligen ausweist. Diese dialogische Konstituierung - des Heiligen durch das Spiel, des Spiels als religiöser Handlung - wird weiter verstärkt, indem der Spielleiter die Antiphon venite, sancte spiritus anstimmt, sich also einer rituell institutionalisierten Form der Anrufung Gottes bedient. 27 Unter diesen Vorzeichen kann nun das Rollenspiel mit dem Heiligen beginnen. Der Proklamator kündigt dem Publikum die Geschichte von Johannes dem Täufer als Eröffnungsszene an: nu woln mer begyiineiin disszes spieles vnd hebenn an von dem teufer sancte Iohan, wye der prediget eyn buszvertigk [lebenn. ( AP V 56-59)
Nun wollen wir beginnen mit diesem Spiel und fangen an vom Heiligen Johannes, dem Täufer, wie der ein bußfertiges Leben predigte,
Darauf folgt, so der Proklamator, Johannes' Tod, Jesu Eintreffen bei Johannes, und seine Wimdertaten (vgl. AP V 60-69). Die so erzeugten Erwartungen werden dann aber auf längere Zeit nicht eingelöst. Nicht der Heilige Johannes tritt auf den Plan, sondern Luzifer mit seinen Teufeln, wovon in der Ankündigung keine Rede war. Die Tanzdarbietung des Höllenvolks und seine Bühnendialoge dürften die vom Proklamator geforderte Andachtshaltimg kaum vertieft haben, obschon diese Szene unter dem Aspekt der Emotionsdramaturgie große Wirkung entfalten kann. 28 Denn die Drohungen der Teufel kippen in der erweiterten Fassung des Textes immer stärker ins Profane und Komische, kulminierend in der Ankündigung von Luzifers Mutter, sie wolle die alten Weiber holen, die in der Kirche tratschen (vgl. AP V 433-441 ). 29 Indem die Teufelsverschwörung in der Vorrede des Proklamators unerwähnt bleibt, bildet sie einen ,blinden Fleck'. Dies gilt nicht nur für das Personal der späteren Handlung, denen der Plan der Teufel verborgen bleibt. Vielmehr fin27 28
Zur spieleröffnenden Funktion des Gesangs vgl. JANOTA (Anm. 5), S. 117. Zur Stellung im Kontext der Höllenszenen des Alsfelder Spiels vgl. GERHARD WOLF: Zur Hölle mit dem Teufel! Die Höllenfahrt Christi in den Passions- und Osterspielen des Mittelalters. In: Die Vermittlung geistlicher Inhalte im deutschen Mittelalter. Internationales Symposium, Roscrea
1 9 9 4 . H r s g . v o n TIMOTHY R . JACKSON/NIGEL F. P A L M E R / A L M U T
SUERBAUM,
Tübingen 1996, S. 271-288, hier S. 281-283. 29 Die Diskussion zur Komisierung der Teufelsfigur ist stark durch RAINER WARNINGS Thesen zur Remythisierung des geistlichen Spiels beeinflusst; vgl. RAINER WARNING: Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels, München 1974 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 35). Dies zeigt sich etwa bei KLAUS RIDDER: Erlösendes Lachen. Götterkomik - Teufelskomik - Endzeitkomik. In: Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von HANS-.TOACHIM ZIEGELER, T ü b i n g e n 2 0 0 4 , S. 1 9 5 - 2 0 6 . RIDDER b e s t r e i t e t d i e E n t l a s t u n g s f u n k t i o n
Komik, die WARNING postuliert.
der
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det die gesamte Szene gleichsam im Schatten des eigentlichen Spiels statt. Es scheint, als ob durch die Auslassimg des Proklamators die Teufelsszene vom Spiel ausgeklammert und ihre Intentionalität nicht anerkannt wird, um die Widmimg des kollektiven Aktes als Dank fur das Opfer der Passion nicht zu unterminieren. Diese implizite Selbstverleugnung des Spiels korrespondiert mit der expliziten Übertragung seiner Wirkungsmacht. Beide Verfahren lassen sich auf das Darstellungsparadox des Heiligen beziehen, das sich hier als Problem der Verfügbarkeit manifestiert. Mit der Teufelsszene zeigt das Alsfelder Spiel, dass es nicht ,weiß', was es tut: Gespielt wird die Ankunft des Erlösers, zugleich spielt sich jedoch etwas anderes ab, das zunehmend zum ,ganz anderen' wird, wenn die Pläne der Teufel nicht mehr um die Passion kreisen, sondern ins Profane zielen. Das Spiel zeigt sich einerseits als kollektiver, intentionaler Akt gegenüber dem Heiligen, enthebt sich andererseits der Kontrolle über diesen Akt. Es reklamiert eine Wirkungsweise, und weist sie zugleich von sich, wenn es sie an das Heilige delegiert. In beiden Verfahren entsteht zwischen dem, was das Spiel tun will, und dem was es tut, ein Hiatus. Dabei wird es dem Heiligen anheim gestellt, diesen Bruch zu überbrücken. Die Vorrede des Alsfelder Passionsspiels ist dezidiert darauf angelegt, einen bestimmten Modus des Sehens vorzubereiten. Für die Frankfurter Spiele stellt sich die Frage, ob diese analoge Strategien der Wahrnehmungssteuerung erkennen lassen. Der Vergleich zeigt, dass im Unterschied zum Alsfelder Spiel in der Vorrede des Frankfurter Passionsspiels der Aspekt des Sehens nicht explizit thematisiert wird. Stattdessen fordert Augustinus, der hier die Funktion des Proklamators übernimmt, das Publikum ziun Hören auf: des höret ir seligen hide hie, / was man uch saget vberlude (FP V 22 f.). Auf den ersten Blick - und in Anbetracht der multisensorischen Wahrnehmung von Aufführungen scheint dies nicht weiter signifikant. Bei näherer Hinsicht zeigt sich aber, dass Hören und Sehen im anschließenden Prophetenspiel auf spezifische Weise reflektiert werden. Bevor dies jedoch genauer erörtert wird, soll zunächst die Frankfurter Dirigierrolle in den Vergleich einbezogen werden. Zwar kann aufgrund der fehlenden Rollentexte keine Aussage darüber getroffen werden, ob und wie die Wahrnehmung im Spiel der Dirigierrolle thematisiert worden ist. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass der Aspekt der Identität im Prophetenspiel der Dirigierrolle thematisch wird. Dies ist allerdings nur begrenzt aus dem rudimentären Rollentext und der Struktur der Szene zu erschließen. 30 30
In der Dirigierrolle beginnen die Sprechtexte der Propheten mit lateinischen Bibelzitaten. ROLF BERGMANN: Die Prophetenszene der Frankfurter Dirigierrolle. In: ZfdPh 94 (1975), Sonderheft: Mittelalterliches deutsches Drama, S. 22-29, hat aufgrund der Zitate und ihrer liturgischen Stellung die Besonderheit dieses Prophetenspiels gegenüber entsprechenden Szenen in Weihnachtsspielen herausgearbeitet. Diese liegt darin, dass nicht das Faktum der Ankunft des Erlösers im Vordergrund steht, sondern Bezüge zur Passion hergestellt werden.
Inszenierungen des Heiligen
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Das Prophetenspiel ist als Wechselrede dreier Parteien aufgebaut. Augustinus ruft einen Propheten auf, nach dessen Rede eine jüdische Figur Einspruch erhebt. Indem die Prophetenworte mit den Reaktionen der jüdischen Figuren kontrastiert werden, transportiert diese Szene eine antijüdische Invektive. Sie führt vor, wie ,die Juden' Jesu wahre Identität als Sohn Gottes verkennen. Diese Demonstration gilt dem Publikum, ist aber auch an ,die Juden' selbst adressiert, die nicht als Teil des realen Publikums zu verstehen sind, sondern als Publikum im Spiel inszeniert werden. Damit wird eine Art zweiter Rahmen geschaffen, den das Spiel der Dirigierrolle am Ende auch schließt, wenn sich ein Teil der jüdischen Figuren von Augustinus taufen lässt. Die Pointe der Einsprüche, welche die Juden gegen die Propheten erheben, besteht im Gegenzug darin, die Propheten als Propheten in Frage zu stellen. Sie beschimpfen diese als Narren und tun ihre Weissagungen als dummes Geschwätz ab (swiga, dor, wetz clajfis du; FD § 9; Waz seis du, dummer odil crage; FD § 12). Zugleich versuchen die Juden immer wieder, die Propheten zum Schweigen zu bringen (vgl. FD § 3, 9, 15, 18). So unterlaufen sie performativ ihre eigenen verbalen Angriffe und bestätigen die Macht der verheißenden Worte. Die Frage der Identifizierung wird also in dieser Szene auf mehreren Ebenen verhandelt, indem es zunächst iun die Identifizierimg der Propheten geht, damit aber zugleich die Identifizierung Jesu als Sohn Gottes verbunden ist. Im Frankfurter Passionsspiel sind anhand der Rollentexte weitere Ebenen festzustellen, auf denen die Frage der Identifizierimg thematisch wird. Dabei kommen die Dimensionen der Rollenidentität und des stellvertretenden Sprechens hinzu. Zunächst ist zu konstatieren, dass die Aussagen der Propheten direkte Zitate göttlicher Worte darstellen, wie beispielsweise in der Rede des König David: disz wort künden ich uch schone in der persone gottes sone, wie er zu sinem vatter sprach, da er kunfftiglichen sache sine phin vnd sinen doit. also sprach er gein dieser noit: ,mir ist sidder worden kunt, ich bin geschlagen wunt.' (FP V. 3 5-42 ) 31
Dieses Wort verkündige ich euch recht in der Person des Gottessohns, wie er es zu seinem Vater sprach, als er voraussah, dass ihm Qual und Tod bevorstanden. Da sagte er über dieses Leid: ,Mir ist bekannt geworden, dass ich blutig geschlagen bin.'
,In der Person' Jesu sprechen auch Zacharias und Jeremias. Das Ich des Sprechers wird in dieser Form der zitierenden Rede neu situiert. Es verweist nicht mehr auf den Sprecher zurück, sondern der Sprecher wird zum Sprachrohr 31
In dieser Passage fallt auf, wie durch die Tempusverwendung Zeitebenen gleichsam ineinander geblendet werden. Die von JUTTA EMING (Beitrag in diesem Band) konstatierte Simultaneität, die in dieser Szene durch die Interaktion von Figuren unterschiedlicher ,Zeitebenen' generiert wird, wird als Gestaltungsverfahren auch auf der Ebene der Sprache fassbar.
212
Elke Koch
eines anderen Ich, das von seinen Qualen berichtet. Das Sprechen im Namen eines anderen ist für das Rollenspiel strukturell konstitutiv. 32 Durch die Verdoppelung dieser Konstellation wird deren Struktur transparent. Anhand der Verwendung von Personalpronomina lässt sich die Verschiebung des Ich in der Rede des Propheten David besonders gut erhellen. 33 Insgesamt beziehen sich nur zwei Pronomina der ersten Person auf David selbst, in siebzehn Fällen beziehen sie sich auf den Gottessohn. In der Potenzierung des stellvertretenden Sprechens löst der Rollentext die Einheit von Sprecher, Rede und Identität performativ auf. Diese Dissoziation wird besonders deutlich, wenn der ,Gottessohn' seine Ansprache an den ,Vater' unterbricht: ,sie gaben myr essig vor dranck, vnd gallen in myn essen, des ensaltu, mensch, nit vergessen.' (FP V. 60-62)
,Sie gaben mir Essig zu trinken und Galle in mein Essen, das sollst du, Mensch, nicht vergessen.'
Das Publikum darf sich angesprochen fühlen, doch von wem? Die Anrede durch den Gottessohn ist doppelt vermittelt: durch den ,Propheten' und seinen Darsteller. Im Gegenzug wird eine Stufenleiter des stellvertretenden Sprechens ,zu Gott' inszeniert: Der Spieler spricht als ,Prophet David', der als Jesus zum Vater spricht. Die Antwort des göttlichen Vaters wird in dieser Rede nicht wiedergegeben; die letzte Instanz des Heiligen bleibt stumm. Auf Davids dezentrierte Rede folgt der Einspruch des Isaac rabi. Sein Rollentext reduziert die zuvor entfaltete Komplexität theatraler Identifizierung: Swiga, Dauid, konig here. du clagest grosze hertzesere, das ist dir dach gar lutzel noit. ich horte, das dir hude enbot ein fraue recht mynigliche. (FP V. 69-73)
Schweig, David, großer König, du beklagst schweren Herzenskummer, dabei hast du doch kaum Grund dazu. Ich hörte, dass dir heute eine Dame ein Minneangebot machte.
Diese Anrede schreibt die Identität des Vorredners auf den ,König David' fest und konkretisiert ihn als historische Person durch eine biblisch tradierte biographische Anekdote. EDITH WENZEL zufolge wird an dieser Stelle auf Davids Ehebruch mit Bath-Seba (2. Sam 11,3-4) angespielt. 34 Dieser Verweis stabilisiert einerseits die Rollenidentität des ,König David'. Andererseits wird auf Kosten der jüdischen Figur vorgeführt, dass diese Identifizierimg zu kurz 32 33
34
Zum Sprechen im Namen oder an der Stelle eines anderen („Standing in") als theatrale, sakramentale und autorisierende Praxis vgl. B E C K W I T H (Anm. 8), S. 59-71. Die Pronomina in dieser Sequenz analysiert C A R L A D A U V E N - V A N K N I P P E N B E R G : Das Personalpronomen im Dienste der Agitation. Zum .Frankfurter PassionsspieP (1493), VV 1-332. In: Leuvense bijdragen 90 (2001), S. 309-323. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass diese funktionalisiert werden, um Christen und Juden zu polarisieren und letztere zu diffamieren. Vgl. E D I T H W E N Z E L : DO worden die Judden alle geschaut. Rolle und Funktion der Juden in spätmittelalterlichen Spielen, München 1992 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 14), S. 58.
Inszenierungen des Heiligen
213
greift. Die gleiche Struktur weist auch die folgende Wechselrede von Salomon und dem Juden Sandir rabi auf. Auch Salomons Rede ist durch Verfahren der Dissoziierimg gekennzeichnet, auch seine Rollenidentität wird durch den Einspruch des Juden auf den ,königlichen Frauenheld' reduziert. Im Folgenden soll jedoch nicht das Problem der Identifizierung, sondern die Frage der Wahrnehmung weiter verfolgt werden, die ebenfalls in dieser Passage thematisch wird. Salomons Rede besteht beinahe vollständig aus einem direkten Zitat, jedoch spricht er stellvertretend die Worte ,der Juden'. Sie ziehen in Zweifel, dass Jesus, wie er behauptet, der Sohn Gottes sei, und wollen die Wahrheit durch die Folter überprüfen: ,abe er gottes sone dan ist, so mage er yme in kurtzer frijst von vnsern henden machen fri. lait sehen, wie ware sin ridde sij.'
,Wenn er Gottes Sohn ist, so kann er ihn in kürzester Zeit aus unseren Händen befreien, Lasst uns sehen, wie wahr seine [Behauptung ist.'
(FP V 115-118)
Erstmals wird hier auch der Aspekt des Sehens thematisiert, und zwar direkt in Bezug auf das Heilige. Die von Salomon vorgetragene Rede der Juden, von der er sich distanziert, indem er sie er als falschen (FP V 94) bezeichnet, verweist darauf, dass der Versuch zum Scheitern verurteilt ist, das Heilige mit eigenen Mitteln, und sei es mit Gewalt, zur Offenbarung zu bringen. Der Wunsch der Juden, die Wahrheit sehen zu wollen, nimmt vorweg, dass eine Wahrnehmung, die auf den Augenschein vertraut, zwangsläufig fehlgeht. Wer die Wahrheit der Rede sehen will, so wird bereits an dieser Stelle klar, wird blind bleiben. Augustinus, an der Grenze des Spielrahmens agierend, verweist indessen darauf, dass die Wahrheit der Worte aber durchaus zu sehen ist, und zwar in der Schrift: 35 Ir Iudden, ir hait wole gehört, alleyn ir doch sit so verdort, das ir die warheit nit enhort, wie ir is doch geschriben sehot, das vnser her Ihesus Crist got vnd mensch werlich ist. (FP V 313-318)
35
Ihr Juden, ihr habt es wohl gehört, aber ihr seid so verstockt, dass ihr die Wahrheit nicht erfasst, obwohl ihr es geschrieben seht, dass unser Herr Jesus Christus wirklich Gott und Mensch ist.
Vgl. JAN-DIRK MÜLLER: Ritual, pararituelle Handlungen, Geistliches Spiel. Zum Verhältnis von Schrift und Performanz. In: Audiovisualität vor und nach Gutenberg. Zur Kulturgeschichte der medialen Umbrüche. Hrsg. von H O R S T W E N Z E L / W I L F R I E D S E I P E L / G O T T H A R T WUNBERG, Wien 2001 (Schriften des Kunsthistorischen Museums 6), S. 63-71. MÜLLER diskutiert am Beispiel des geistlichen Spiels seine These eines grundsätzlichen Vorrangs der Schrift gegenüber der Performanz. Dieser manifestiere sich insbesondere in Prophetenszenen: „Erst die Schrift begründet die Wahrheit dessen, was schriftlos repräsentiert wird"; hier S. 67.
214
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Bereits zuvor hält Augustinus den Juden entgegen, dass es die Worte ihrer eigenen Heiligen Schrift sind, mit denen der Messias hier angekündigt wird (vgl. FP V 259-269). Dadurch wird nicht nur die Frage der richtigen Rezeption dieser Worte im Spiel und außerhalb des Spiels thematisch, sondern auch die Frage ihrer Autorisierung. Augustinus, der als Figur selbst die Autorität der Schrift repräsentiert, verweist auf die Bibel als Quelle des Spieltextes. Schriftlichkeit und Performanz treten dadurch in ein spannungsvolles Verhältnis. Der Text in der Performanz verweist auf den heiligen, autoritativen Schrifttext, so dass ein textuell vermitteltes Kontinuum zum Heiligen konstituiert wird. Dabei wird dem Schrifttext der Status des eigentlichen Schwellenmediums zugeschrieben, d.h. des Mediums, das die Schwelle zum Heiligen mediatisiert. Die Frage des Hörens oder Sehens, die Augustinus hier aufwirft, reflektiert insofern die Medialität des Spiels. 36 Die Wahrheit der Worte, die durch das Medium der verkörperten Stimme übermittelt werden, bleibt zwar erhalten, wird aber nicht durch die Körper selbst, sondern durch eine Instanz außerhalb des Spiels verbürgt. Der Vorwurf, dass die Juden sich weigern zu hören, verweist auf die unmittelbar vorausgegangene Situation im Spiel zurück, zumal Augustinus und auch die Propheten das Publikum zum Hören aufrufen (vgl. FP V 79, 139 f.). Die jüdischen Figuren haben, wie die Zuhörer vor der Bühne, die Wahrheit gehört: wer Jesus wirklich ist und was sein irdisches Leiden bedeutet. Erkannt haben sie diese Wahrheit jedoch nicht, da sie sich von einer falschen Weise des Sehens haben ablenken lassen. Die doppelte Rahmung, die sich dadurch ergibt, dass die Juden ziun ,Publikum im Spiel' werden, und die sich bereits für das Spiel der Frankfurter Dirigierrolle annehmen lässt, wird hier explizit: des lan wir uch hernach gesehen das ir ewigliche sere müsset dragen vmmer mere. (FP V 330-332)
Das lassen wir euch nachher sehen, dass ihr ewiges Leid fur immer ertragen müsst.
Diese Drohung lässt sich auf unterschiedliche Weise deuten. Sie kann über den Spielrahmen hinaus weisen und auf Ausschreitungen gegen Juden in der Alltagswelt anspielen. Sie kann jedoch auch auf das Spiel selbst referieren. 37 Diesem Verständnis zufolge wird hier erstmals im Rollentext auf das Sehen des Spiels Bezug genommen. Damit wird eine Ordnimg des Sehens installiert, in welcher das christliche Publikum den Juden im Spiel dabei zusehen kann, wie diese sehen, was geschieht. Damit werden die jüdischen Figuren mehrfach 36
Vgl. CORA DIETL: Der Griff zum Optischen. Zur Entwicklung des deutschen geistlichen Spiels im 13. Jahrhundert. In: Geistesleben im 13. Jahrhundert. Hrsg. von JAN A. AERTSEN/ ANDREAS SPEER. Berlin, New York 2000 (Miscellanea Mediaevalia 27), S. 467-482, hier S. 470. DIETLS Auffassung, dass hier das Sehen gegenüber dem Hören aufgewertet werde, ist mit Blick auf den Unterschied von Schrift und materiellen Zeichen zu differenzieren.
37
V g l . DAUVEN-VAN KNIPPENBERG ( A n m . 3 3 ) , S . 3 1 2 u . 3 2 1 .
Inszenierungen des Heiligen
215
funktionalisiert: als Zeugen der christlichen Wahrheit, als Negativexempel, an deren Beispiel vorgeführt wird, wie das Beharren auf der immittelbaren Wahrnehmung flu· die Wahrheit blind macht, und als Alibi gegen die Anmaßung, welche die Darstellimg des Heiligen riskiert. Gleichsam über die Köpfe der jüdischen Figuren hinweg können die Zuschauer der Darbietung zusehen, im Wissen, dass hinter dem, was es .für die Juden' zu sehen gibt, die Wahrheit unsichtbar bleibt. 38 Zur Funktion des Prophetenspiels lässt sich somit bereits festhalten, dass es nicht nur als Vorausschau auf die Passion und als Vorgabe zu deren Deutung als Erlösungswerk fungiert, sondern eine Metaebene eröffnet, auf der das Rollenspiel selbst reflektiert und seine Autorisierung auf eine Sphäre jenseits des Spiels verlegt wird. Zugleich wird auch in dieser Szene das Sehen thematisiert, jedoch nicht, wie im Alsfelder Passionsspiel, durch einen direkten Appell an eine entprechende Rezeptionshaltimg, sondern durch das negative Beispiel der Juden. Im Prophetenspiel wird dabei für das folgende Geschehen eine komplexe Rezeptionsvorgabe konstituiert. Die Dissoziierung von Identität und Rede sowie die Denunziation der jüdischen Sicht legen es nahe, die Wahrheit des Gezeigten in seiner Uneigentlichkeit zu erkennen. Diese Ebene wird im Text des ersten Spieltages weiter ausgebaut, indem das Frankfurter Passionsspiel, im Unterschied zu den anderen Spielen der Gruppe, die biblischen Episoden der Zeichenverweigerimg Jesu gegenüber den Juden einbezieht. Aus dem Vergleich der Eröffnungsphasen der untersuchten Passionsspiele lässt sich resümieren, dass im Vorfeld des ersten Auftritts des Salvators Rezeptionspositionen konstituiert werden, die unterschiedliche Weisen des Sehens implizieren. Das Alsfelder Spiel betont die Einprägungsfunktion des Sehens. Wenn man demzufolge das Spiel .richtig' sieht, schaut man umso intensiver auf das, was sich auf der Bühne darbietet, lässt sich möglichst emotional davon beeindrucken, um diese Eindrücke später aktivieren zu können. Das Sehen wird nicht auf ein Erkennen trotz der Materialität der Zeichen gerichtet, sondern auf die Materialität kommt es gerade an, um den Eindruck zu vertiefen. 39 Nach Maßgabe der Frankfurter Exposition ist das Spiel in ganz anderer Weise ,richtig' zu sehen. Hier ist das Heilige darin zu erkennen, dass man es nicht in dem sieht, was man ,als augenscheinlich' - also auf der Bühne - wahrnehmen kann. Die Darstellung streicht sich in der Prophetenszene gleichsam vorsorg38
Indem die jüdischen Figuren hier das Sehen des Spiels im Spiel reflektieren und (negativ) modellieren, könnte man von ihnen als Funktionsfiguren sprechen. In diesem Sinne weisen sie eine strukturelle Parallele zu den Zeugenfiguren in Visionsbildern auf, wie sie KLAUS KRÜGER in seinem Beitrag in diesem Band analysiert.
39
Diese Strategie korrespondiert mit der Konzeptualisierung des Sehens, die SUZANNAH BIERNOFF: Sight and Embodiment in the Middle Ages, New York 2002, in Diskursen und bildlichen Repräsentationen des Mittelalters feststellt. BIERNOFF zufolge wird Sehen dort als physischer, den Sehenden .berührender' und transformierender Vorgang gefasst.
216
Elke Koch
lieh durch. Somit lässt sich für das Frankfurter Passionsspiel konstatieren, dass hier das Darstellungsparadox des Heiligen in Bezug auf die Sichtbarkeit reflektiert wird. Vor diesem Hintergrund lassen sich nun die Unterschiede im ersten Auftritt der Jesus-Figur in den beiden Spielen profilieren. Wenn im Alsfelder Spiel im verbalen und non-verbalen Gestus der Präsentation alles darauf angelegt ist, zum Hinsehen anzuregen, wird das, was es da zu sehen gibt, an keiner Stelle problematisch. Es ist nicht mehr, aber auch nicht weniger, als Bildmaterial, dessen Materialität einen Vorteil, keinen Nachteil für die Darstellung des Heiligen bildet. Dagegen wirkt die Präsentation Jesu im Frankfurter Spiel wie ein understatement. Die erste Szene, in der er auftritt, ist die Berufimg der Jünger. Während der Bericht dieses Ereignisses in den Evangelien den Identitätswechsel der Jünger in den Vordergrund stellt, die Beruf und Familie aufgeben, um dem Messias zu folgen, wird die Szene hier genutzt, um Jesu Identität als Sohn Gottes gleichsam indirekt zu exponieren. Dreimal ruft Jesus die Jünger dazu auf, ihm zu folgen, dreimal antworten sie ihm auf die gleiche Weise. Die erste Antwort des Petrus weist bereits die Struktur auf, die für alle drei Repliken charakteristisch ist: Wir fulgen, herre, gerne dir. was du gebudest, das dun wir. wan du wist der ware heilant, der vns zu droste ist gesant, ia der ware gottes sone, der vns mag gudes vil gethun. (FP V 341-346)
Herr, wir folgen dir gem. Was du gebietest, das tun wir, weil du der wahre Heiland bist, der uns zum Trost gesandt wurde, ja, der wahre Gottessohn, der viel Gutes für uns zu tun vermag.
Diese Adressierung Jesu bestätigt die Rollenidentität des Darstellers und vermittelt darüber hinaus ein Modell des richtigen Erkennens - der wahren Identität hinter dem Augenschein. Die Macht des Heiligen wird dabei in erster Linie durch die Performativität des Sprechaktes sinnfällig gemacht. Petrus stellt zwischen dem Versprechen seiner Gefolgschaft und der Identität des Gottessohnes eine kausale Verbindiuig her: Wir folgen Dir, weil Du der Erlöser bist. Die Performanz der Gefolgschaft wird zum Beweis der Göttlichkeit und Macht Christi. Wahrheit ist hier, wie Augustinus im Vorspiel betont, in den Worten zu erkennen, sie ist zu hören, jedoch nur bedingt zu sehen. Der Befund, dass im Frankfurter Passionsspiel die Taufszene fehlt, ist vor dem Hintergrund der spezifischen Inszenierungsstrategien neu zu werten. Wenn das Frankfurter Spiel darauf verzichtet, Gott gleichzeitig mit seiner Inkarnation Jesus auf der Bühne auftreten zu lassen, andererseits das Alsfelder Spiel auch Gottes Stimme ertönen lässt und damit der sinnlichen Wahrnehmung noch zusätzliches Material bietet, werden unterschiedliche Lösungen für das Problem der Darstellung des Heiligen gefunden.
Inszenierungen des Heiligen
217
Auf der Ebene der Spieltexte, so ist abschließend zu resümieren, lassen sich Elemente isolieren und beschreiben, in denen das Rollenspiel mit dem Heiligen selbstreferentiell wird. Diese Verfahren, etwa die Ostentation des Rollenspiels, können Analogien zu Formen modernen Theaters aufweisen. Jedoch sind sie mit Blick auf die historische Theatralität der Spiele als Ausdruck eines Darstellungsproblems zu werten, das sich deshalb stellt, weil geistliche Spiele eine Form religiöser Praxis bilden. Bereits der Vergleich der drei hessischen Spiele hat die Spezifik solcher Verfahren deutlich gemacht, die sich in der Eröffhungsphase konzentriert auffinden ließen. An weiteren Texten wären andere Formen der Selbstreferentialisierung des Rollenspiels zu ermitteln und es wäre zu prüfen, ob diese ein konstitutives Element der Exposition von geistlichen Spielen bilden. Für die hier untersuchten Passionsspiele hat sich gezeigt, dass die Funktion von Vorrede und Vorspiel mit dem Hinweis auf Heilsdidaxe jedenfalls nicht ausreichend erfasst ist. Vielmehr wird in ihnen das Rollenspiel mit dem Heiligen als Problem bearbeitet, noch bevor es richtig begonnen hat.
KLAUS KRÜGER
Bild und Bühne Dispositive des imaginären Blicks
The essay addresses the painted representations of visions in the early modern period, which arrange themselves in stage-like structures. This occurs through various techniques and "director's tricks": by means of controlling the gaze, of theatrical staging, of bi- or polyfocal pictorial composition, of light and dark effects, of ontological breaks through picture-in-picture structures, through feigned frame settings, through painted curtains, and last but not least through the rhetorical means of implying heightened affects in facial expressions and gestures. While the observer is suggestively drawn into the displayed vision in this way, at the same time the irreal and staged elements of the event - as shown in the picture - are also perceptible. The "actuality" of the happening, which the painted picture only supplies secondhand for the eyes of the viewer in place of the real vision, is thus given over to the production of one's own, inner pictures. The pictorial discourse of the imagination unfolds itself just as much on an inner-pictorial level, like the vision of the portrayed protagonist, as externally in the performative potential that inheres in the picture-observer relationship.
In der Zeit um 1400 widmet sich der Florentiner Kaufmann Giovanni di Pagolo Morelli über Jahre hinweg der Niederschrift seiner Ricordi und entwirft darin eine ausfuhrliche Chronik seiner Familie und vor allem seines eigenen sozialen und beruflichen Werdegangs.' Ausgehend vom Kontext gesellschaftlicher und zeithistorischer Bedingungen bietet er dabei in eindringlichen Schilderungen einen Eindruck von der privaten und persönlichen, ja psychologisch wirksamen Dimension jener Erlebnisse und Erfahrungen, die ihm infolge politischer Geschehnisse oder ökonomischer Veränderungen, aber auch durch unvorhergesehene Schicksalsschläge zuteil wurden. So kommt er in einer ungewöhnlich weit ausholenden Beschreibung auf den allzu frühen, von ihm als schmerzlichste Tragödie seines Lebens empfundenen Tod seines jungen Sohnes Alberto zu sprechen, der nach einer ebenso plötzlich wie unerklärlich auftretenden und über zwei Wochen heftig währenden Krankheit am 19. Mai 1406 im Alter von erst neun Jahren verstorben war.2 Nach einer eingehenden 1
Giovanni di Pagolo Morelli: Ricordi. Hrsg. von VLTTORE BRANCA, Florenz 1956 ( 2 1969). In Auszügen auch abgedruckt in: Mercanti Scrittori. Ricordi nella Firenze tra Medioevo e Rinascimento. Hrsg. von VITTORE BRANCA, Mailand 1986, S. 101-339, mit weiteren bibliographischen Hinweisen S. XXXV f.
2
M o r e l l i ( A n m . 1), S. 4 5 5 ff.; v g l . BRANCA ( A n m . 1), S. 2 9 3 ff.
Bild und Bühne
219
Schilderung des fortschreitenden Leidens lenkt er das Augenmerk pointiert auf jenen Moment, der sich ihm seither als ein unauslöschliches Erinnerungsbild eingeprägt hat: Er [d.h. der Sohn Alberto] empfahl sich vielzählige Male Gott dem Herrn und dessen Mutter, der heiligen Jungfrau Maria an, dergestalt dass er sich das Tafelbild der Muttergottes (la tavola della Donna) bringen ließ, es mit vielfachen Bußrufen und mit zahlreichen Gebeten und Gelübden inständig umarmte (quella abbracciando
con tante invenie e con tanti prieghi e boti), so dass es kein noch so hartes Herz gäbe, das nicht bei diesem Anblick zu größtem Mitleid bewegt worden wäre. 3
In Morellis Beschreibung entfaltet sich das tragische Hinscheiden des Sohnes als dessen Eintritt in eine imaginative Kommunikation mit den himmlischen Personen und zugleich als ein Szenarium des letzten Abschiedes von ihnen. Eine Schwellenerfahrung par excellence also, zwischen Leben und Tod ebenso sehr wie zwischen Diesseits und Jenseits, und eine Erfahrung, die allererst durch den konkreten und so leibhaft bestimmten Umgang mit dem gemalten Tafelbild als dem eigentlichen Medium dieser Kommunikation ermöglicht wird. Soweit die knapp gehaltene Schilderimg des Vorgangs eine Einschätzung erlaubt, darf man vermuten, dass sich eben dieser Status des Bildes hier weniger in seiner Visualisierungskraft bzw. in der Leistung seiner anschaulichen Repräsentation begründet, als vielmehr in seiner schieren Materialität und Gegenständlichkeit. Der emphatische Umgang Albertos mit dem Tafelbild geht so sehr darin auf, es mit seinen Händen zu ergreifen, mit den Armen zu umfangen, es fest an sich zu drücken und zu liebkosen, dass er die gemalte Darstellung und die darauf dargebotenen Bildfiguren kaum mehr mit aufmerksamen Augen betrachtet oder sie recht eigentlich anblickt. Nachhaltig traumatisiert von dem Erlebnis, wird der Vater fortan stets am Jahrestag des Todes eine besondere Form der verinnerlichten Büß- und Trauerarbeit pflegen, indem er im Gedenken an jene so emphatisch geübte Bildpraxis seines Sohnes sich nunmehr selbst in eine intensive Kommunikation mit einem religiösen Bild begibt. Es ist bezeichnend, dass er dabei nicht nur das ikonographische Sujet wechselt, indem er sich in Hinblick auf die Memorierung von Albertos Leiden ein Bild der Kreuzigung zum Gegenüber wählt (flgura del crocifisso Figliuolo di Dio), sondern dass er auch und gerade das rhetorische Register und die gesamte Dramaturgie des imaginativen Dialoges neu entwirft, dergestalt dass er das Zwiegespräch mit dem Gemälde nunmehr zu einem regelrechten Ritual ausweitet. 4 Diese differenziert ausgestaltete Pro3 4
Morelli (Anm. 1), S. 456. Hier S. 475 ff. Vgl. zu dieser wichtigen, von Seiten der Kunstgeschichte bislang noch kaum hinreichend zur Kenntnis genommenen Passage RICHARD C. TREXLER: Public Life in Renaissance Florence, New York 1980, S. 172 ff; CHRISTIAN BEC: Sur la spiritualite des marchands florentines (fin du Trecento - debut du Quattrocento). In: Aspetti della vita economica medievale. Atti del convegno di studi nel X anniversario della morte di Federigo Melis (Firenze - Pisa - Prato, 10-14 marzo 1984), Florenz 1984, S. 676-693; EDWARD MUIR: Ritual
220
Klaus Krüger
zedur der häuslichen Bildandacht, die sich über einen erheblichen Zeitraum erstreckt, entfaltet sich als eine systematische Abfolge unterschiedlicher Phasen und Schrittfolgen des Umgangs mit dem Gemälde, wenn man so will: als eine Abfolge distinkter Modi der Kommunikation, etwa solche der direkten Anrede oder aber des emphatisch geführten Dialoges, solche der selbstvergessenen Versenkung oder solche des physischen Berührens und regelrechten Liebkosens. Was dabei besonderes Augenmerk verdient, ist der Umstand, dass diese verschiedenen Modi der Kommunikation wiederum verschiedenen Aspekten des gemalten Tafelbildes, genauer gesagt: verschiedenen Aspekten seines medialen Status und seines performativen Potentials korrespondieren. Beginnt die Meditation zunächst gezielt und vorbedacht als eine Innenschau, d.h. recht eigentlich in Absehimg von dem Bild (incominciai prima a immaginare e ragguardare in me)5, so steht sie doch bereits in einem direktem Reflex auf das dargestellte Sujet, insofern sich Morelli dabei in seiner Seele und seinem Körper tausendfach durchbohrt und gekreuzigt fühlt (mi parea tra mille punte di spiedi l'anima mia col corpo essere crociata).6 Dieser nachgerade psychosomatisch angelegten Einstimmimg folgt eine ebenso lang andauernde wie eindringliche und in intimer Nahsicht vollzogene Betrachtimg der gemalten Figur des Gekreuzigten und seiner Wundmale, 7 eine Bildmeditation, die vom stillen Gesang von Psalmen und Lauden, 8 vom wiederholten Aufsprechen langer Gebete an den Herrn in der Form einer persönlichen, ja insistierenden Anrede in der zweiten Person 9 und schließlich auch von der ausführlichen Rezitation längerer Evangelienpassagen begleitet und durchsetzt wird. Daraufhin geht die Betrachtung in einem nächsten Schritt in einen nicht nur sehr persönlich geführten, sondern zugleich stark affektbetonten und emotionalen Dialog auf die weibliche Einzelfigur der trauernden Maria über, die zur Rechten des Gekreuzigten figuriert. Was sich dabei entfaltet, ist ein imaginäres Gespräch mit der Bildperson, das wiederholt von heftigem Tränenfluss und schmerzerfüllter Erschütterung unterbrochen wird, 10 um schließlich im Salve Regina und einem ausführlich vorgetragenen Gesuch um die Gnade ihrer Fürbitte zu enin Early M o d e r n Europe, C a m b r i d g e 1997, S. 13 f.; MICHELE BACCI: „Pro remedio a n i m a e " . I m m a g i n i sacre e pratiche devozionali in Italia centrale (secoli XIII e XIV), Pisa 2000, S. 138 ff.; GIOVANNI CIAPPELLI: L a devozione domestica nelle ricordanze fiorentine (fine X l l l - i n i z i o X V I secolo). In: Quaderni di storia religiosa. Religione domestica 8 (2001), S. 79115, hier: S. 82 f. 5
Morelli ( A n m . 1), S. 477.
6
Hier S. 476.
7
ragguardando
[...]
continuamente
occhi miei nelle sue preziose s
con divoti sahni e orazioni
9
dinanzi
10
[...];
al tiio cospetto
[...];
per tua somma giustitia
[...]
[...] e ragguardando Schauder] venni,
la immagine
piaghe,
del divoto
Crocifisso,
fermcmdo
gli
e dopo piü salmi e laude, hier S. 477 f.
io ti priego ti priego
lei ripiena
e figiira
hier S. 483. [...];
aneora
Aneora [...];
di tanto dolore,
che per gran pezzo
non poterono
ti priego
[...];
i 'te la domando
[...];
etc., hier S. 4 7 8 ff.
comineai
α piangere
e in tanta
i miei occhi raffrenare,
fisima
hier S. 485.
[Angst,
Bild und Bühne
221
den. Bemerkenswerterweise erbittet Morelli diese Fürsprache nicht nur für sich selbst imd seinen Sohn Alberto, sondern in kollektiver Perspektive auch für alle Mitbürger und Christenmenschen seiner Heimatstadt Florenz. 11 In einem nächsten Schritt erhebt er sich zunächst von den Knien, um das Bild sodann mit großer Hingabe in seine Hände zu nehmen, es hoch zu halten und es wiederholt an eben jenen Stellen zu küssen, die auch sein Sohn seinerzeit in seinem Leiden geküsst und so inbrünstig liebkost hatte. 12 Nachdem er das Bild wieder vor sich hingestellt hat, wendet sich Morelli nimmehr festen Blickes der Gestalt des Evangelisten Johannes zur Linken des Gekreuzigten zu, 13 wobei er nicht nur das Credo, sondern auch jene Passagen des Johannes-Evangeliums aufsagt (Joh. 1, 1-14), die seit dem 14. Jahrhundert obligatorisch nach der Messfeier rezitiert wurden, um späterhin sogar als fester, regulärer Bestandteil direkt in sie inkorporiert zu werden, ein Prozedere, das erneut in einen langen und ergiebigen Tränenfluss mündet. 14 Nach erneutem Laudengesang, der sich nunmehr an alle drei Bildpersonen richtet, umarmt er wieder vielmals die Tafel, liebkost die einzelnen Figuren lange mit Küssen und fühlt sich beim abschließenden Te De um innerlich gestärkt und getröstet, doch zugleich körperlich erschöpft. Als sich Morelli daraufhin in tiefer Erschöpfimg zur Rulle begibt und seinen Nachtschlaf beginnt, setzt sich schließlich, wie in einem der Logik der Bildandacht konsistent zugehörigen Folgeschritt, der kontemplative Dialog gleich einer Vision als innere, schlafträumende Schau fort. Aus dem intensiven Umgang mit dem gemalten Bild speist sich also eine innere, bildproduktive Imagination, in deren Verlauf sich Morelli mehrfach von verschiedenen Heiligen persönlich angesprochen fühlt und somit den bislang im Grunde eher einseitig geführten Dialog auf eine umfassende, reziprok orchestrierte Kommunikation hin öffnet. 15 Betrachtet man den ganzen, hier nur sehr verkürzt wiedergegebenen Vorgang in der Zusammenschau, so zeichnet sich ab, dass das gemalte Bild im genuinen, regelrechten Sinn als ein ,Medium' der religiösen Kommunikation fungiert, genauer gesagt: als ein Medium, das recht eigentlich im Zwischenfeld bzw. Schwellenbereich von sinnlich-konkreter Erfahrung und transmaterieller Imagination steht. Auf der einen Seite fungiert es als Einstimmimg und Anreiz, als prägnante Anschauungshilfe und als visuelle Bekräftigung für die das Bild letztlich übersteigende Erfahrung einer höheren, imaginären Präsenz und 11 12
noi fedeli cristiani abitanti nella cittä di Firenze [...], hier S. 486. Ε detto ch Ί ebbi 1 'orazione sopra scritta con quellet divota riverenza che mi fit da Dio conceduta, levatomi in pie, presi con divozione la tavola e ne 'propri hioghi basciandola, dove dolcemente i! mio figliuolo uvea nella sua infermit 'baciata dopo iI molto raccomandarsi della sua sanitä racquistare [...], hier S. 487.
13 14
gli occhi miei erano fermi alia sua figura, hier S. 488. Hier S. 487 ff. Zur betreffenden liturgischen Praxis siehe den editorischen Kommentar hier S. 488, Anm 1.
15
Hier S. 491 ff.
222
Klaus Krüger
Wirklichkeit der himmlischen Personen, einer Wirklichkeit, die sich in ihrer eigentlichen Dimension allein der inwendigen Einbildungskraft erschließt. Immer wieder insistiert Morelli folglich darauf, dass sein Blick mit den Augen auch und gerade ein an Gottvater und die himmlischen Personen adressierter Blick seines Herzens und seiner Seele ist: α Liii pregando coli 'occhio, col ciiore e colla mente m'addirizzai}b ein Blickverlangen, das sich am Ende in der nachtschlafenden Vision auch zu erfüllen scheint. Auf der anderen Seite aber fungiert das Bild doch nachhaltig als ein Medium, in dem sich eben jene höhere Wirklichkeit, das imaginativ zu Schauende, überaus anschaulich und lebendig konkretisiert, so dass ihm regelrecht der Anspruch einer personalen und authentischen Vergegenwärtigung zuwächst, so sehr, dass das Gemälde in seiner materiellen Greifbarkeit und physischen Objekthaftigkeit geradezu den Status einer , Verkörperung' des Dargestellten gewinnt und Morelli, wie zuvor bereits sein Sohn, sich ihm wiederholt in intimer Zartheit zuwendet, es liebkosend an sich schmiegt und vielfach mit Küssen bedeckt. Wie es scheint, vermag das Bild eben durch seine mediale Disposition, d.h. dadurch, dass es zwischen diesen beiden Polen von Präsenz und Repräsentation vermittelt und sie doch zugleich auch dissoziiert, eine Erfahrungsform zu begründen, die in komplexer Weise zwischen der Anschauung von Ähnlichkeit und der gleichzeitigen Wahrnehmung von Differenz oszilliert. 17 Es ist, so kann man aus dem Beispiel folgern, die dem gemalten Bild eigene Verschränkimg verschiedener Dispositive, also seine unlösliche Ambivalenz zwischen Materialität und Transparenz, zwischen originalem und reproduktivem Dasein, zwischen Ähnlichkeit und Differenz usw., die den imaginativen Prozess hervorbringt und wirksam befördert. Doch auch Morelli selbst, sprich: der Rezipient, der durch seine Interaktion mit dem Bild diesen Prozess vollzieht und ihn somit allererst verwirklicht, vereint dabei unterschiedliche Dispositive, also innere Vorstellungsordnungen bzw. imaginative Prädispositionen, in sich. So ist seine höchst individuelle und aus persönlichem, nachgerade subjektiv bestimmtem Anlass generierte Bildpraxis, die zunächst als ein Residuum der unhintergehbaren Innerlichkeit erscheint, doch ohne Frage und in einem hohen Maße reguliert durch ritualisierte Vorgaben, Muster und Standards, also etwa durch Gebetsformeln oder typisierte Textrezitationen, die der vielfach in Oratorien und Kirchen geübten kollektiven Praxis von Bruderschaften und religiösen Gemeinschaften oder auch der regulären Liturgie entstam16
Hier S. 478. Vgl. zur betreffenden Topik FRITZ O. SCHUPPISSER: Schauen mit den Augen des Herzens. Zur Methodik der spätmittelalterlichen Passionsmeditation, besonders in der Devotio Moderna und bei den Augustinern. In: Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmitt e l a l t e r s . H r s g . v o n WALTER HAUG/BURGHART WACHINGER, T ü b i n g e n 1 9 9 3 , S. 1 6 9 - 2 1 0 .
17
Zu dieser .medialen Disposition' des religiösen Bildes und seiner weiter reichenden Bedeutung seit spätmittelalterlicher Zeit siehe ausführlicher KLAUS KRÜGER: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien, München
2001.
223
Bild und Bühne
men. Nicht von ungefähr weist auch er selbst in seinen intimen Dialogen mit Maria explizit auf den Bezugsrahmen, den sein Psalmen- und Laudengesang in einer kollektiv bestimmten Identität besitzt: noi fedeli cristiani abitanti nella cittä di Firenze.'8 Morelli demonstriert vorderhand den Rückzug der religiösen Imagination ins Private, das gleichwohl von institutionalisierten Mustern, Techniken und Dispositiven bestimmt ist. Inwieweit sich damit für den kommunalen städtischen Raum das Beispiel einer strukturellen Vergleichbarkeit oder Analogie zu jener wechselseitigen Durchlässigkeit, ja systematischen Osmose abzeichnet, wie sie sich zwischen kommimitarer und privater Frömmigkeit auch in anderen Kontexten, etwa im Rahmen der Institutionalisierung spätmittelalterlicher Mönchszellen und ihrer obligatorischen Ausstattung mit gemalten Kreuzigungsdarstellungen herausbildet, ist an dieser Stelle nicht zu diskutieren. 19 Immerhin aber lässt sich sagen, dass der Fall exemplarisch die besondere Komplexität beleuchtet, die der zunehmenden „funktionalen Ausdifferenzierung" (LUHMANN) nicht-öffentlicher Räume und spezifischer, mit ihnen verknüpfter Frömmigkeitsbedürfnisse aus bisherigen kirchlich-religiösen Einheits- und Fundierungskonzepten innewohnt, und die etwa in der spätmittelalterlichen Pastoraltheologie eine durchaus vielstimmig geführte Debatte darüber hervorbringt, „wie die persönliche Andacht (oratio privata) während und inmitten einer gemeinsamen liturgischen Feier (officium publicum) zu bewerten sei, ob die subjektive Gebetserfahrung des opus privatum dem opus Dei, d.h. dem objektivem Gottesdienst der ganzen Kirche forderlich oder hinderlich sei". 20
is
Hier S. 486. Insbesondere in Bruderschaften wurde die persönlich bestimmte Hoffnung auf intercessio nicht anders als in kollektiver Ausrichtung und gesamtgesellschaftlicher Dimension erfahren, vgl. THOMAS FRANK: Bruderschaften im spätmittelalterlichen Kirchenstaat: Viterbo, Orvieto, Assisi, Tübingen 2002 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 100), bes. S. 368 ff.
19
Vgl. THOMAS LENTES: Vita perfecta zwischen Vita Communis und Vita Privata. Eine Skizze zur klösterlichen Einzelzelle. In: Das Öffentliche und das Private in der Vormoderne. Hrsg. von GERT MELVILLE/PETER VON Moos, Köln, Weimar, Wien 1998, S. 123-164. Zur komplexen Frage der privaten Bildandacht als einer kollektiv bestimmten „Rollenhaltung" und zum Paradigma der Zellenandacht vgl. HANS BELTING: Das Bild und sein Publikum im Mittelalter. Form und Funktion früher Bildtafeln der Passion, Berlin 1981, S. 91 ff., dort S. 96 f. sowie LENTES, S. 147 f. zur Ausstattung der Mönchszellen mit gemalten Kreuzigungen. Generell zur Diffundierung monastischer Dispositive der Bildandacht in den laikal geprägten Raum italienischer Kommunen: KLAUS KRÜGER: Bildandacht und Bergeinsamkeit. Der Eremit als Rollenspiel in der städtischen Gesellschaft. In: Malerei und Stadtkultur in der Dantezeit. Die A r g u m e n t a t i o n d e r B i l d e r . H r s g . v o n H A N S B E L T I N G / D I E T E R B L U M E , M ü n c h e n 1 9 8 9 , S. 1 8 7 200.
20
PETER VON M o o s : .Öffentlich' und ,Privat' im Mittelalter. Zu einem Problem historischer Begriffsbildung, Heidelberg
2004,
S.
28.
V g l . NIKLAS
LUHMANN:
Gesellschaftsstruktur
und
Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1989, S. 2 5 9 ff.
224
Klaus Krüger
Vor dem Hintergrand dieser Überlegungen soll im Folgenden an wenigen Beispielen der Frage nachgegangen werden, ob und wie diese Verschränkungsbezüge in der Frühen Neuzeit in Italien sich in einem eigenen, visuellen Diskurs der Bilder selbst niederschlagen, anders gesagt: wie sich bestimmte Dispositive des imaginativen Blicks in den gemalten Bildern einlagern und wiederum ihrerseits von ihnen her konstituiert werden, und welche Rolle in diesem Zuge die dem Medium eigenen Bedingungen bestimmter Sichtbarkeitsordnungen und spezifischer Logiken der Repräsentation spielen. Unter anderem stellt sich dabei die Frage, ob das Potential bildlicher Anschauung entweder zu einer Festlegung des Betrachters respektive des Gläubigen auf das konkrete Sosein der gegenständlichen Darstellung führt und den Spielraum seiner Einbildungskraft durch die Bindung an den Eindruck einer kohärenten, geschlossenen Illusion reduziert, oder ob es vielmehr der Aktivierung und Freisetzimg seiner Imagination zuarbeitet und damit den Weg zur Produktion eigener, innerer Vorstellungsbilder bereitet. Wie sich versteht, steht dahinter die weiterreichende, komplexe Frage nach dem gesellschaftlich und religiös wirksamen Verhältnis von Macht und Emanzipation, von Autorität und Pluralisierung, und nicht zuletzt nach den Kriterien, der Auslegungskompetenz und der normsetzenden Kraft von bildlich erzeugter Authentizität. Blicken wir auf ein Tafelbild Lorenzo Monacos, das in den Jahren um 1405 und damit nahezu zeitgleich zu Alberto Morellis Tod entstand (Abb. I). 21 Sowohl der Figurenbestand der Tafel, auf der drei Mönche aus unterschiedlichen Orden den gekreuzigten Christus betrauem, als auch das relativ geringe Format von 56 χ 42 cm legen die Vermutung nahe, dass das Gemälde für eine klösterliche Verwendung, vielleicht in einem Oratorium oder einer Mönchszelle, geschaffen wurde. Der tote Christus am Kreuz figuriert in einer kargen, räumlich angelegten Szenerie auf dem Golgathafelsen, mit den urn ihn herum (d.h. davor, dahinter und seitlich) gruppierten Ordensheiligen Benedikt, Romuald und Franziskus. Der Kruzifixus ist also in die Figurengruppe raumund situationslogisch integriert, und ist doch im selben Zug aus ihr herausgelöst. Denn streng in der Bildachse angeordnet und mit seinen unüberschnittenen Konturen unmerklich, doch optisch wirksam über die Szenerie der drei Heiligen hinaus gehoben, wird er zudem am oberen Bildabschluss planvoll vor den Ornamentrahmen gesetzt und damit in die vorderste Ebene des Bildes gerückt. Kurz: Er ist in seiner bildlichen Gegebenheit maßgeblich für den Anblick durch den externen Betrachter eingerichtet. Es ist ein Effekt, der noch bestärkt wird durch die behutsam ins Werk gesetzte Maßstabsdifferenz, die
21
ROBERT OERTEL: Frühe italienische Malerei in Altenburg. Beschreibender Katalog der Gemälde des 13. bis 16. Jahrhunderts im staatlichen Lindenau-Museum, Berlin 1961, S. 130 f., Kat. 23; SONIA CHIODO, in: Da Bernardo Daddi al Beato Angelico a Botticelli. Dipinti fiorentini del L i n d e n a u - M u s e u m
d i A l t e n b u r g . H r s g . v o n M I K L O S BOSKOVITS/DANIELA
Florenz 2005, S. 110 f., Kat. 22.
PARENTI,
Bild und Bühne
225
dem Gekreuzigten ohne klar markierten Fiktionsbrach gleichwohl einen eigenen Realitätsgrad zuweist. Diese Absetzimg geschieht einerseits in Hinblick auf die grundsätzliche Fiktivität des hier vor Augen gestellten, raumzeitlichen Beisammenseins der vier, gänzlich verschiedenen Jahrhunderten und historischen Kontexten entstammenden Figuren, wie auch andererseits in Hinblick auf die theologisch fundierte Vorstellungsproblematik, die der Verschränkung von Christi historischer Wirklichkeit und seiner gleichzeitig transhistorischen Präsenz im Sakrament innewohnt. Davon zeugen nicht zuletzt die zart in den Goldgrund eingepiuizten und mit feinen Strichen gezeichneten Engel (Abb. 2), die in ihrer immateriellen Erscheinung der anikonischen Objektqualität des Goldgrandes zugeordnet sind und doch dabei gemäß einer entschieden räumlichen Vorstellung wie hinter dem Rahmen hervor zum toten Christus zu schweben scheinen, um dessen in signifikanter Farbintensität rot heruntertropfendes Blut in ihren immateriellen Kelche aufzufangen. In der Art und Weise, wie hier im bildlich inszenierten Widerspiel von Illusionsraum und Planimetrie, von Goldgrund und Landschaftsrequisite, von kohärent entworfener Fiktion und durch einen ornamentierten Rahmen explizit als Gemälde ausgewiesener Objektgestalt systematisch ein Spannimgsbezug aufgebaut wird, bekundet sich die ästhetische Arbeit an einer Problemgestalt des Bildes, die dessen Medialität und eigenen theoretischen Status bewusst in der Anschauung verankert und dadurch den Betrachter, der die meditierenden Heiligen als büdinterne Funktionsfiguren seiner eigenen Andacht vor dem Bild erfährt, erst eigentlich in den Kommunikationszusammenhang des Bildes einbezieht und seine Reflexion ebenso sehr wie seine Imagination freisetzt. Anders gesagt: Das Bild bezieht seine Wirkung maßgeblich daraus, dass es zwischen zwei verschiedenen Anschauungsordnungen bzw. Dispositiven oszilliert, demjenigen der ungebrochenen Fiktion und dem des uneigentlichen ,Als ob'. Denn der suggestive und so nahsichtig angelegte Eindruck eines tatsächlichen, leibhaftigen Beisammenseins der drei Heiligen mit Christus bricht sich immer neu an der kenntlichen Uneigentlichkeit eines bühnenartigen Szenariums, in dem die Heiligen auf einer karg entworfenen Felsenrequisite wie in einem Rollenspiel jene Figuren von Maria und Johannes vertreten, die eigentlich' auf dem Golgathahügel unter dem Kreuz den toten Christus betrauern und als solche im Sinne einer bildlich hergebrachten Anschauungswirklichkeit aus zahlreich verbreiteten Darstellungen vertraut waren (Abb. 3). Nicht zuletzt aus dieser Rollenfunktion beziehen die drei Ordensheiligen ihre modellhafte Qualität für den Betrachter, werden ihm doch mit der Demutsgebärde links, der compassio bei Franziskus und dem in sich verschlossenen Nachsinnen rechts, wenn man so will, Muster und Standards der meditativen Praxis imd zugleich im Gesamtbild der Gruppe ein idealhaftes, monastisch institutionalisiertes Kollektiv von überzeitlicher Gültigkeit vorgeführt. In der bildintern eingerichteten Verschränkung distinkter Realitätsebenen und in der exponierten, entschieden bildhaften Darbietung des Krazifixus noch
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Klaus Krüger
weiter geht das Beispiel einer italienischen Kreuzigungstafel in Augustinermuseum in Toulouse (Abb. 4). 22 Die Tafel, die der Florentiner Maler Neri di Bicci um 1460 malte, diente der Applikation einer Figurentafel des Gekreuzigten von Lorenzo Monaco, eines Werkes also, das seinerseits vom Ende des Trecento stammt und damit um mehr als ein halbes Jahrhundert älter ist. Als .Figurentafel' gehört es zu jenem in der Zeit um 1300 besonders in der Gattung der Tafelkreuze auftretenden Typus von Bildtafeln, die im äußeren Umriss ihrer Werkgestalt genau mit der dargestellten Bildperson selbst übereinstimmen. Das Gemälde des Neri di Bicci aus dem späteren Quattrocento fuhrt das frühere Werk des Kruzifixus wie eine Preziose reliquiengleich in seiner Bildmitte auf. Es nimmt in seiner Darstellung unmittelbar darauf Bezug: in der räum- und geschehenslogischen Einbindung wie auch in der Gefühlslage stummen Mitleidens. Und doch bewahrt es - etwa in den Nimben und deren perspektivischer Anordnung, in der Haartracht der Trauernden usw. - absichtsvoll die stilistische Differenz. Der thematische Höheranspruch der Bildperson Christi geht hier im herausgehobenen, klar markierten Eigenwert als Bildobjekt auf, dessen höheres Alter zugleich als höhere Aura zu Buche schlägt. Die eschatologische, transhistorische Bedeutimg wird hier also evoziert kraft der Erfahrimg einer inszenierten, innerweltlich messbaren Vergangenheit. Die beiden Gemälde sind nur einzeln herausgegriffene Beispiele für eine Vielzahl strukturell vergleichbarer, sich in ihren Bildverfahren nahe stehender, dabei jedoch durchaus unterschiedlichen Funktionskontexten entstammender Werke. Qualitativ eher randständige Gemälde wie etwa dasjenige des lombardischen Malers Matteo de'Fedeli aus dem fortgeschrittenen Quattrocento (ca. 1480) (Abb. 5), 23 das den Gekreuzigten mittels der ihn hinterfangenden, golden strahlenden Mandorla und der maßstäblich entschiedenen Disproportion aus der Figurengruppe exponiert und ihm auf diese Weise einen Status verleiht, der gleich einem Bildwerk im Bild erscheint, ließen sich hier ebenso anfuhren wie etwa das auf Leinwand gemalte Bild von Niccolo di Liberatore von 1497, das der bei den Franziskanerobservanten eingerichteten Bruderschaft der Disciplinati di Gesii Crocifisso im umbrischen Terni offenbar als Banner diente (Abb. 6). 24 Es stellt den toten Christus am Kreuz inmitten eines
22
Vgl. dazu und zum Folgenden KLAUS KRÜGER: Medium and Imagination. Aesthetic Aspects of Trecento Panel Painting. In: Italian Panel Painting of the Duecento and Trecento. Hrsg. von VICTOR M. SCHMIDT (National Gallery of Art, Studies in the History of Art 61, Symposium Papers XXXVIII), Washington 2002, 57-81, hier S. 59 f.
23
II Cinquecento lombardo. Da Leonardo a Caravaggio. Hrsg. von FLAVIO CAROLI, Mailand, Florenz 2000, S. 82, Kat. Ill, 1. PAOLO RINALDI: Terni. La Pinacoteca Comunale, Mailand 1986, S. 20 f.; Pinacoteca Comunale „Orneore Metelli" di Terni: dipinti, sculture, stampe e arredi dall'Vlll al XIX secolo.
24
H r s g . v o n C O R R A D O FRATINI, M a i l a n d
2000,
S. 4 9 - 5 1 , K a t . 7; ANDREAS DEHMER:
Italieni-
sche Bruderschaftsbanner des Mittelalters und der Renaissance, Berlin 2004, S. 285 und 349, Kat. 1 0 7 .
227
Bild und Bühne
weiten Landschaftsprospektes vor der nahezu bildfüllenden Folie eines schwarzen Velums aus und lässt ihn auf vorderster Bildebene, in nachgerade greifbarer Nähe zum Betrachter, von den beiden Franziskanerheiligen Franziskus und Bernhardinus von Siena emphatisch betrauern, beweinen und liebkosen. Diese besondere Form der visuellen Inszenierung verweist direkt auf jenen normativen Kontext von ritualisierten, in Orden und Bruderschaften kollektiv geübten Praktiken der kirchlichen Andacht, wie ihn etwa die Illustration eines zeitgleich entstandenen Kompendiums von Girolamo Savonarola (Abb. 7), das „zur Unterweisung, Stärkimg und Tröstung der frommen Seelen" und „zur Verteidigung und Obhut des inneren Gebetes" dient, als ein kirchlich reguliertes Szenario des am Altar vor ein liturgisches Tuch platzierten Kruzifixus vor Augen stellt und dabei die intime, persönliche Begegnung mit dem Gekreuzigten als einen im institutionalisierten Raum eingeübten und nach organisierten Mustern vorgeprägten religiösen Habitus (oratione mentale) ausweist. 25 In den selben Zusammenhang ließe sich auch die Vielzahl der seit dem späten Trecento immer häufiger verbreiteten, intermediären Bildensembles stellen, bei denen ein vollrunder, plastischer Kruzifixus einer flachgemalten Szenerie des Kreuzigungsgeschehens mit Assistenzfiguren appliziert wurde, um ihn auf diese Weise in eine räum- und geschehenslogische Kohärenz zu fügen und ihn doch zugleich kraft der ihm eigenen Objektwirklichkeit aus ihr herauszulösen, in wechselseitiger Betonimg des differierenden Wirklichkeitscharakters ihrer jeweiligen Erscheinung als Bildwerk (Abb. 8). 26 Ein bemerkenswertes Beispiel 25
Girolamo Savonarola: Tractato divoto & tutto spirituale [di frate Hieronymo da Ferrara dellordine de frati Predicatori] in defensione & cömendatione delloratione mentale composto ad instructione, conformatione & consolatione delle anime deuote, 1490er Jahre; vgl. Visions of Holiness. Art and Devotion in Renaissance Italy. Hrsg. von ANDREW LADIS/SHELLEY E. ZURAW, Athens, Ga (Giorgia Museum of Art) 2001, S. 249, Kat. 44; GUSTAVE GRUYER: Les illustration des ecrits de J. Savonarole publies en Italie au XV et XVI siecles et les paroles de Savonarole sur Γ art, Paris 1879, S. 88.
26
Vgl. IRIS WENDERHOLM: Bild und Berührung. Skulptur und Malerei auf dem Altar der italienischen Frührenaissance, München, Berlin 2006, dort S. 261, Kat. 112 zur Kreuzigung mit plastischen Kruzifixus in Terni (Abb. 8). Zum unmittelbaren Einbezug plastischer Bildwerke in die Inszenierung liturgischer bzw. paraliturgischer Aufführungen durch Klerus oder Bruderschaften im Kirchenraum vgl. GESINE TAUBERT: Die Marienklagen in der Liturgie des Karfreitags. Art und Zeitpunkt der Darbietung. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft
und
Geistesgeschichte
49
(1975),
S.
607-627;
BELTING
(Anm.
19),
S.
2 1 8 ff.
(„Kreuz und Kreuzabnahme im Kontext von Liturgie, Predigt und Theater"); SARAH BECKWITH: Ritual, Church and Theatre. Medieval Dramas of the Sacramental Body. In: Culture and History, 1350-1600. Essays on English Communities, Identities and Writing. Hrsg. von DAVID A E R S , N e w Y o r k u . a .
1992, S. 6 5 - 8 9 ; JAN-DIRK MÜLLER: M i m e s i s u n d R i t u a l .
Zum
geistlichen Spiel des Mittelalters, in: Mimesis und Simulation. Hrsg. von ANDREAS KABLITZ/ GERHARD
NEUMANN,
Freiburg
i.Br.
1998,
S.
541-571;
JOHANNES
TRIPPS:
Das
handelnde
Bildwerk in der Gotik. Forschungen zu den Bedeutungsschichten des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Hoch- und Spätgotik, 2., erweiterte Auflage, Berlin 2000; II teatro
228
Klaus Krüger
aus Volterra von ca. 1400 etwa (Abb. 9) pointiert den Eigencharakter des (heute verlorenen) Kruzifixus durch seine im Maßstab so nachdrücklich reduzierte und zugleich geradezu idolhaft exponierte Platzierung auf einer gedrehten Säule. 27 Blickt man auf ein sehr viel späteres Beispiel dieser Gattung, ein Gemälde des Raffaelo Vanni von ca. 1650, das einen Kruzifixus des frühen 14. Jahrhunderts darbietet und sich in der Abtei von Monte Oliveto Maggiore bei Siena befindet (Abb. 10), 28 dann dokumentiert sich der lange währende Fortbestand dieser intermediären Bildkombinationen. Das Gemälde zeigt den Gründer der Zisterzienserabtei, den aus einer alten Sieneser Adelsfamilie stammenden Beato Bernardo Tolomei, der den Holzkruzifixus 1313 selbst hierher gebracht haben soll und von dem es im Rekurs auf eine alte, vor allem in der zisterziensischen Hagiographie begründeten Topik heißt, er sei mehrfach in den Zustand einer visionären Entrückung geraten und dabei im Zuge einer wundersamen Verlebendigung eben dieses Bildwerks vom Gekreuzigten direkt angesprochen worden. Dieses Geschehnis setzt das Gemälde in Szene und verleiht ihm kraft der faktischen, leibhaftigen Präsenz des Kruzifixus eine suggestive Authentizität, doch signalisiert zugleich die mediale Kontrafaktur zur gemalten Szenerie auch hier deutlich den Wirklichkeitsstatus der so sichtbar aus einer früheren Zeit stammenden Skulptur als bloßes Bildwerk. Ohne auf die Komplexität und geschichtliche Vielfalt dieser kompositen Bildensembles hier einzugehen, lässt sich sagen, dass ihre Wirkimg maßgeblich in einer unlösbaren Paradoxie gründet. Denn der ,authentische' Charakter des Kruzifixus bleibt doch bei aller materiellen, greifbaren Präsenz derjenige eines Bildwerkes, das sich als solches auch durch sein höheres Alter ausdrücklich ausweist. Demgegenüber erzeugen die Figuren des äußeren Gemäldes, seien es Heilige oder Engel, einen lebendigen und lebensnahen Eindruck, doch bleibt ihr Status, konfrontiert mit der Materialität der Skulptur, unabweisbar fiktiv. Was durch dieses kontradiktorische Ineins von Authentisierung und gleichzeitiger Fiktionalisierung im Auge des Betrachters entsteht, ist ein fortdauerndes, die Imagination forderndes Wechselspiel von Darbietung und Entzug, von Präsenz und Absenz. Betrachtet man die bisher diskutierten Beispiele im systematischen Sinne einer Skala oder Typologie von Bildlösungen und versucht, sie in entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhängen zu verorten, so kann man sagen, dass sich in delle statue. Gruppi lignei di Deposizione e Annunciazione tra XII e XIII secolo. Hrsg. von FRANCESCA FLORES D ' A R C A I S , M a i l a n d 2 0 0 5 .
27
Sumptuosa tabula picta. Pittori a Lucca tra gotico e rinascimento. Hrsg. von MARIA TERESA FILIERI, Livorno 1998 (Kat. Ausstellung Lucca, Museo Nazionale di Villa Guinigi, 28.3.5 . 7 . 1 9 9 8 ) , S. 2 9 2 - 2 9 4 , K a t . 3 5 ; W E N D E R H O L M ( A n m . 2 6 ) , S. 1 8 2 u n d 2 7 0 , K a t .
28
128.
ANGELA NEGRO: Raffaello Vanni. In: Pietro da Cortona, 1597-1669. Hrsg. von ANNA LO BIANCO, Mailand 1997 (Kat. Ausstellung Rom, Museo di Palazzo Venezia, 31.10.199710.2.1998), S. 235-244.
Bild und Bühne
229
ihnen ästhetische Verfahren einer bildlichen Diskursivierang des zuvor angesprochenen, doppelten Dispositivs - von Materialität und Transparenz, Ähnlichkeit und Differenz, Repräsentation und Präsenz etc. - bezeugen, die das seit der Renaissance zunehmend normativ werdende Gebot der mimetisch kohärenten Repräsentation mehr oder weniger entschieden unterlaufen, und die eben aus diesem Bruch mit der Anschauungsordnung einer geschlossenen bildlichen Illusion das besondere performative Potential ihrer Wirkung beziehen. Auf der anderen Seite dieser Skala treten demgegenüber solche Bildverfahren in den Blick, die ihre Reflexivität gerade nicht aus einem offen vorgeführten Kontrast der Materialien oder einer offen exponierten Fiktionsmarkierung beziehen, sondern die allererst und möglichst konsequent der Prämisse mimetischer Repräsentation folgen. Betrachtet man das Beispiel von Vincenzo Foppas Kreuzigungstafel von 1456 in Bergamo (Abb. 11), so könnte man von einer ,kritischen Form' im Bemühen um eine Umsetzung dieses Anliegens sprechen. 29 Die Darstellung setzt, wenn man so will, Lorenzo Monacos zuvor betrachtete Bestrebungen unter den Bedingungen eines perspektivischen Systemraums und damit einer auf die Konsistenz des Wirklichkeitseindrucks zielenden Darstellung um. Sie weist im Vordergrund einen sorgfältig angelegten, perspektivisch konstruierten Boden mit Steinfliesen und rahmender Brüstung in der Art einer Terrasse auf, der sich zum Betrachter hin und gleichsam wie für ihn betretbar öffnet, nach hinten aber auf eine weite, in Aufsicht gegebene Landschaft führt, in deren Vordergrund auf kleinen Hügeln die drei Kreuze stehen. Auf diese Weise visualisiert die Darstellung einen kaum überbrückbaren Realitätskontrast zwischen dem aktuellen Raum des Betrachters und dem fiktiven Wirklichkeitsraum der Kreuzigung. Beide sind in keiner Weise schlüssig aufeinander zu beziehen, sofern die Kreuze offenbar auf die von Säulen gestützte Rahmenarchitektur bezogen sind, der sie sich auch maßstäblich und raumlogisch wie auf vorderster Bildebene zuordnen, während sie zugleich doch in einer rational nicht ausmessbaren Ferne im Landschaftsausblick situiert sind. Bildraum und Betrachterraum sind aufeinander bezogen und doch im selben Zug voneinander dissoziiert. Für das, was Vincenzo Foppa als Bildlösung letztlich anstrebt, doch nur bedingt verwirklicht, nämlich die rationale Anschauungsordnung eines nach stimmigen Regeln der Perspektive aufgebauten Bildraums, bietet Masaccios Trinitätsfresko in Florenz von ca. 1427-28 ein prominentes und in der Forschung vieldiskutiertes Beispiel, auf das hier nur in wenigen Bemerkungen
29 MARIA GRAZIA BALZARINI: Vincenzo Foppa, Mailand 1997, S. 148 f., Kat. 4; Vincenzo Foppa. ULI protagonista del Rinascimento. Hrsg. von GIOVANNI AGOSTI/MAURO NATALE/GIOVANNI ROMANO, Mailand 2002 (Kat. Ausstellung Brescia, Santa Giulia - Museo della Cittä, 3.3.-2.6. 2 0 0 2 ) , S. 75, K a t .
10.
230
Klaus Krüger
eingegangen werden soll (Abb. 12) 30 . Die Darstellung ist ein Bravourstück der täuschenden Rauinfiktion und als solche bekanntermaßen eine Inkunabel in der Geschichte der zentralperspektivischen Bildanlage. Doch ist damit nur ein Aspekt der Darstellung beschrieben. Denn gerade das sinnstiftende Ineins der räumlich illusionierten Wirklichkeit mit der gleichzeitigen Wirklichkeit des Bildes als Fläche, genauer gesagt: Die wechselseitige Rückbindung der einen Wirklichkeit an die andere, ist die eigentliche Bildaufgabe, die sich dem Maler hier stellt, und erst ihre reflektierte Bewältigung bringt schließlich auch die tiefere theologische Dimension der Bildaussage hervor. Das betrifft bereits die beiden knienden Stifterfiguren, Domenico Lenzi und seine Frau, die in subtiler Signifikanz an die fiktive Schwelle zwischen Bild- und Betrachterraum, also genau an die ästhetische Grenze des Bildes platziert und somit in einen ambivalenten Bezug zum bildintemen Raumbereich gesetzt sind: in einen Bezug der raumlogischen Teilhabe einerseits und doch andererseits zugleich des Ausgeschlossenseins. Die Ambivalenz als ein maßgeblicher Grundzug der gesamten Bildanlage wird auch in anderer, weiterreichender Hinsicht klar markiert, sofern sich innerhalb der Raumöffnung das historische Golgathageschehen, das in der Figur des Gekreuzigten zwischen Maria und Johannes vor Augen steht, mit der transhistorisch zu verstehenden Trinität von Gottvater, Heiligem Geist und geopfertem Sohn verschränkt. Das historische Opfer ist also visuell, genauer gesagt: durch die dem Medium eigene Überblendungsmöglichkeit von Raum und Fläche, unlöslich auf das ebenso paradoxale wie heilsgeschichtlich akute Dogma perspektiviert, nämlich dass es in Gott eine Wesenheit, eine Natur gibt, dies jedoch in drei Hypostasen oder Personen. Die deutlich exponierte Dreieckskomposition, die die irdischen Stifter ebenso wie die Kreuzigungsgruppe und Gottvater umfasst, ist dabei auch mittels einer überlegten farblichen Abstimmung, wie sie etwa durch die alternierende Verschränkimg von roten und blauen Gewändern ins Werk gesetzt wird, in ihrer bildhaften Flächenordnung klar akzentuiert. Die Paradoxie des Bildes, als Fläche transparent und in der Transparenz doch zugleich Fläche zu sein, wird auf diese Weise zu einer Erfahrungskategorie für die Paradoxie des Glaubensmysteriums selbst. Eben dieser Zusammenhang bündelt sich letztlich in der die Komposition dominierenden Figur Gottvaters, über dessen Standort im Bildraum sich der Betrachter vergeblich Klarheit zu verschaffen sucht. Stünde er auf dem an der rückwärtigen Kapellenwand angebrachten Sarkophag, über dessen rotem Kasten seine Füße erscheinen, so müsste nach perspektivischem Gesetz auch sein Haupt weiter hinten im Raum erscheinen. Sollte der Betrachter jedoch davon ausgehen, dass er sich nach vorne neigt, so müsste auch sein Haupt konsequenterweise merklich tiefer 30
.TAMES ELKINS: The Poetics of Perspective, Ithaca-London 1994, S. 7, S. 53 ff. und
passim:
M a s a c c i o ' s Trinity. Hrsg. v o n RONA GOFFEN, C a m b r i d g e 1998 (beide mit der f r ü h e r e n Literatur). Vgl. z u m Folgenden auch KRÜGER ( A n m . 17), S. 34 ff.
Bild und Bühne
231
situiert und in entsprechender Verkürzung anzusehen sein. EDGAR HERTLEIN und andere haben aus diesem irritierendem Befund die naheliegende Folgerimg gezogen, dass die raumlogische Venmklärimg eine planvoll ins Werk gesetzte visuelle Strategie ist, die dazu dient, im Rahmen des Systems mimetischer Repräsentation das Überirdische und transhistorisch Wirkliche der Gegenwart Gottes, der schlechterdings weder den raumlogischen Bedingungen des Diesseits noch gar den perspektivischen Darstellungsgesetzen der Malerei unterworfen ist, gleichwohl bildlich zur Anschauung zu bringen. 31 Erst eigentlich vermittels dieser ästhetischen Reflexion - einer Reflexion, die das gemalte Bild, wenn man so will, aus sich heraus, als eine seinem Medium eigene, visuelle Diskursform hervorbringt - vermag sich hier der Ausblick auf das Glaubensgeheimnis und dabei doch zugleich das Bewusstsein um die irdisch limitierte Qualität dieses Ausblicks zu erschließen. Es ist vor diesem Hintergrund schließlich als eine semantisch subtile Pointe der Darstellung zu verstehen, dass der architektonische Aufbau des fingierten Raumgehäuses, in dem die Trinität erscheint, nicht nur der zeitgenössisch geläufigen Struktur eines eucharistischen Altartabernakels assoziiert ist, welches zur Verwahrung des heiligen Sakraments dient, sondern dass darüber hinaus, wie nach JOHN SHEARMAN in jüngerer Zeit auch RONA GOFFEN herausgestellt hat, die perspektivisch höchst präzise berechnete Architekturfiktion zugleich als mathematischer Ausdruck von Gottes Vollendung und Harmonie aufzufassen und folglich als Verweis auf die „wahre Stiftshütte", besser gesagt: auf Gottes Tabernakel (tabernaculiim verum, tabernaculum caelestiim) anzusehen ist, „das nicht mit Händen gemacht, das heißt: das nicht von dieser Schöpfung ist". 32 Masaccios Fresko stellt eine ebenso exemplarische wie singuläre Lösung für die in ihrem Kern paradoxe Aufgabe dar, im Interesse einer theologisch fundierten und doch zugleich auch anschauungsgerechten Transzendenzvergegenwärtigung die räum- und geschehenslogische Illusion des Bildes mit einem metapikturalen Sinn aufzuladen. Der weitergehende bildgeschichtliche Zusammenhang, in dem sich diese Lösung verorten lässt, ist an dieser Stelle nicht zu diskutieren. Doch zeichnet sich ab, dass das besagte Darstellungsziel, nämlich
31 32
EDGAR HERTLEIN: Masaccios Trinität. Kunst, Geschichte und Politik der Frührenaissance in Florenz, Florenz 1979, S. 46 ff. [...] amplius et perfectius tabernaculum non manufactum, id est, iwn huius creationist Hebr. 8,2 und 9,11. Vgl. RONA GOFFEN: Masaccio's Trinity and the Letter to Hebrews. In: Masacc i o ' s T r i n i t y ( A n m . 3 0 ) , S. 4 3 - 6 4 , b e s . S. 5 3 f.; JOHN SHEARMAN: O n l y C o n n e c t . . . A r t a n d
the Spectator in the Italian Renaissance, Princeton 1992, S. 62 ff. Zum gestalttypologischen Zusammenhang mit Sakramentstabernakeln siehe URSULA SCHLEGEL: Observations on Masaccio's Trinity Fresco in S. Maria Novella. In: The Art Bulletin 45 (1963), S. 19-33, bes. S. 31 f.: .TACK FREIBERG: The Tabernaculum Dei. Masaccio and the Perspective Sacrament Tabernacle (Master's Essay: Institute of Fine Arts), New York 1974, bes. S. 93 ff.: HERTLEIN (Anm. 3 1 ) , S. 2 2 9 ff.
232
Klaus Krüger
einen bildlich vermittelten Ausblick auf die faktisch unschaubare, jenseitige Wirklichkeit und auf die aus ihr heraus kommunizierenden himmlischen Personen auch und gerade im System mimetischer Repräsentation zu ermöglichen, in der frühen Neuzeit seine zunehmende, ja paradigmatische Umsetzimg und Ausdifferenzierung durch die Selbstthematisierung der Himmelsschau, sprich: durch das Sujet von Visionsdarstellungen erfuhr. 33 Durch Bilder also, die Vision und Visionär zugleich darstellen, die sowohl den Gegenstand einer Vision zeigen als auch die Art und Weise seiner imaginativen Hervorbringung und Betrachtimg, nicht nur das Was, sondern auch das Wie. Bilder dieser Thematik, die seit dem 14. Jahrhundert in immer größerer Zahl und Vielfalt und für sehr heterogene Funktionskontexte entstehen, schaffen eine Anschauungsordnimg, bei der der Betrachter vor dem Bild ziun Beobachter eines Visionsaktes wird, den er zwar nicht aus eigener imaginativer Kraft hervorgebracht hat, an dem er aber dennoch durch seinen Blick auf das Bild partizipiert, dadurch nämlich, dass das Gemälde, das ihm subsidiär anstelle der Vision vor Augen steht, einen intermediären Status entfaltet und als Membran zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen .hier unten' und .dort oben', zwischen .vor dem Bild' und .hinter dem Bild', kurz: zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarem fungiert. Ein instruktives Beispiel bietet ein Altarbild des Florentiner Malers Santi di Tito von 1593, das sich in San Marco in Florenz befindet und das, dem Gemälde von Raffaelo Vanni (Abb. 10) verwandt, eine bildgeprägte Vision vor Augen stellt (Abb. 13).34 Die Darstellung zeigt den Hl. Thomas von Aquin vor einem Bild des Gekreuzigten, das ihn während seiner Andacht wunderbarerweise angesprochen und ihm mit der Anrede „Gut hast Du über mich geschrieben, Thomas" (Bene scripsisti de nie, Thoma) ausdrücklich für seine theologischen Schriften gedankt haben soll. 35 In der Tat scheint die Realität des ,Bildes im Bild' mit der Darstellung der Kreuzigung hier bruchlos in die Realität des gezeigten Kirchenraumes überzugehen und in ihn zu diffundieren. Die Architekturformen und die Mönche rechts hinten machen deutlich, dass auch hier der fiktive Kirchenraum im Bild demjenigen des Betrachters vor dem Bild direkt korrespondiert. Es handelt sich also um eine zweifache Aktualisierung: Das Kreuzigungsgeschehen dringt in den innerbildlichen Kirchenraum ein, so wie dieser in denjenigen des Betrachters übergeht. Dem 33 34
35
Vgl. für die spanische Malerei die exemplarische Studie von VICTOR I. STOICHITA: Das mystische Auge. Vision und Malerei im Spanien des Goldenen Zeitalters, München 1997. Firenze e la Toscana dei Medieci nell 'Europa del Cinquecento: La comunitä cristiana fiorentina e toscana nella dialettica religiosa del Cinquecento, Florenz 1980 (Kat. Ausstellung Florenz, Chiesa di S. Stefano al Ponte, 1980), S. 211, Kat. 12; JACK SPALDING: Santi di Tito, New York, London 1982, S. 423 ff., Kat. 26 (mit weiterer Literatur). Vgl. GUILELMUS DE TOCCO: Das Leben des heiligen Thomas von Aquino, erzählt von Wilhelm von Tocco, und andere Zeugnisse zu seinem Leben, übertragen und eingeleitet von W I L L E H A L D PAUL ECKERT, D ü s s e l d o r f
1 9 6 5 , S . 2 3 1 (ad
annum
1273).
Bild und Bühne
233
entspricht eine zunehmende Aktualisierung der Personen und ihrer Gewänder: Thomas von Aquin und ihm gegenüber Katharina von Alexandrien, beide dem Betrachter am nächsten, erscheinen in zeitgenössischer Tracht und gerade letztere mit durchaus modischem Haarschmuck, während Maria Magdalena zu Füßen Christi bereits eine zeitlosere Gewandung trägt, und Maria und Johannes schließlich in der hergebrachten ikonographisehen Typik figurieren. Der Einbezug des Betrachters wird umso suggestiver, wenn man bedenkt, dass bei dem monumentalen Format des Bildes mit einer Höhe von 3,60 m auch der Figurenmaßstab im Bild demjenigen davor recht genau entspricht. Die Darstellung visualisiert im Grunde einen topischen Leitgedanken der christomimetischen Bildmystik, nämlich sich durch den Rückzug von der äußeren in die innere Wirklichkeit zugleich derjenigen von Christus zu assimilieren: „Ich habe Lust abzuscheiden und bei Christus zu sein", wie es etwa Paulus im Brief an die Philipper einschlägig formuliert. 36 Das ,Bei-Christus-Sein' (esse cum Christo) des Thomas von Aquin vollzieht sich als ein inneres, imaginatives Erlebnis, doch wird es auf dem Gemälde als ein äußeres Geschehen geradezu bühnenmäßig in Szene gesetzt. Damit erfüllt die Darstellimg eine doppelte Funktion: Zum einen bezeugt sie die transformative Kraft der Imagination, insofern sich die gemalte Kreuzigung unter dem Anblick des Heiligen verlebendigt, und zum anderen lässt sie den Betrachter suggestiv an dieser imaginativen Kraft partizipieren. Suggestiv vor allem deshalb, weil ihm die Darstellung wie bei einem Vexierbild gleichzeitig zwei Sujets zeigt: die ,Vision des Thomas von Aquin' und die ,Kreuzigung Christi mit Heiligen' (d.h. mit Maria und Johannes sowie mit Katharina, Magdalena und Thomas). Indem Santi di Titos Altarbild in San Marco zweierlei in einem thematisiert: die Kreuzigung und den imaginativen Blick auf die Kreuzigung, wird der Betrachter, der vor dem Bild dieselbe Rolle einnimmt wie die Heiligen Katharina und Thomas im Bild, virtuell in das Geschehnis der Kreuzigung mit einbezogen. Doch wird sie ihm nur dann auch zum lebendigen Ereignis, wenn er, wie Thomas, das äußere Bild in eine innere Einbildung transformiert, um ganz .bei Christus zu sein' (esse cum Christo). Das Gemälde und sein performatives Potential dienen ihm also, um es mit einem der maßgeblichen Bildtheoretiker der Katholischen Reform, des Bologneser Kardinals Gabriele Paleotti, zu formulieren, recht eigentlich als ein „Instrument", um sich „mit Gott zu vereinen". 37 36
Desiderium
37
Gabriele Paleotti: Discorso intomo alle imagini sacre e profane, Bologna 1582. In: Trattati d'Arte del Cinquecento. Hrsg. von PAOLA BAROCCHI, Bd. 2, Bari 1961, S. 117-509, hier: S. 215 (soiio [queste imagini] tutte come istrumenti per imire gli uomini con Dio, che e il fine vero e prencipale che si pretende in queste imagini). Zur Bedeutung von Paleottis Schrift und dem darin entwickelten Konzept vom sakralen Bild als einem „Instrument" bzw. Medium der religiösen Kommunikation vgl. PAOLO PRODI: Ricerche sulla teorica delle arti figurative nella riforma cattolica, Bologna 1984, bes. S. 25 ff., S. 55 ff.: CHRISTIAN HECHT: Katholische Bil-
habens dissolvi, et esse cum Christo, Phil. 1, 23.
234
Klaus Krüger
Es ist ein doppelter Sinn, den gerade die nachtridentinische Kirche mit der instrumentellen Funktion des religiösen Bildes verband: nämlich als ein Gegenstand der Kontemplation und zugleich als Anleitung zu ihr zu dienen, mit der Stimulation des religiösen Blicks also zugleich auch dessen Lenkung und Kontrolle zu betreiben. Die Beispiele hierfür sind Legion und müssen an dieser Stelle nicht extensiv erörtert werden. Abschließend sei daher neben das Gemälde von Santi di Tito nur mehr ein etwa zeitgleich entstandenes Altarbild des Francesco Vanni von 1602 gestellt, das erneut die Vision des Thomas von Aquin vor Augen führt (Abb. 14).38 Der Gekreuzigte spricht hier zwar (mittels einer sichtbaren Inschrift) zum ekstatisch entrückten Heiligen, doch ist er auf der vordersten Bildebene zuallererst für den Betrachter positioniert, vor dessen Augen er durch zwei Putti, die einen Vorhang lüften, regelrecht enthüllt wird. Das Arrangement im Vordergrund versammelt mit Büchern, Sanduhr und Totenkopf die klassischen Utensilien der religiösen Vanitas-Kontemplation auf einem Schreibtisch. Als TiOmpe-l'oeil ist es ebenso sehr für den Heiligen wie für den Betrachter aufgestellt. An diesen wendet sich nicht nur die jugendliche Figur vorne rechts, möglicherweise die Personifikation der Theologie, sondern auch - mit gestrenger, emster Miene, die wie eine Mahnung wirkt - der Mönch im Hintergrund. Kurz: der Blick des Gläubigen wie auch sein mentaler Habitus werden durch das Bild in vielfältiger Weise reguliert. Dass sich schließlich der Hl. Thomas, der strahlenumkränzt und in ekstatischer Entrückung über dem Boden schwebt, als Funktionsfigur des Betrachters im Bild genau mit dem perspektivischen Fluchtpunkt des Kirchenraums ins eins gesetzt findet, hat vor diesem Hintergrund durchaus symbolische Bedeutung. Das Imaginäre, so könnte man sagen, wird hier im Inneren der Kirche (intra ecclesiam) recht eigentlich verortet, und insofern auch der Gläubige vor dem Bild sich innerhalb des Kirchenraums befindet, mündet alle Dialektik, die das Bild zwischen vorne und hinten, zwischen suggestiver Nähe und perspektivischem Tiefensog, kurz: zwischen Darbietimg und Entzug erzeugt, am Ende in dieser Bestimmung.
38
dertheologie im Zeitalter von Gegenreformation und Barock. Studien zu Traktaten von Johannes Molanus, Gabriele Paleotti und anderen Autoren, Berlin 1997. La Pittura in Italia. 11 Seicento. Hrsg. von MINA GREGORI/ERICH SCHLEIER, Mailand 1989, Bd. 1, S. 3 2 9 .
Bild und Bühne
235
Abb. 1: Lorenzo Monaco, Christus am Kreuz mit den Heiligen Benedikt, Franziskus und Romuald, ca. 1405, Altenburg, Staatliches Lindenaumuseum
236
Klaus Krüger
Bild und Bühne
Abb. 3: Naddo Ceccarelli, Kreuzigung Christi, ca. 1330-40, Boston, Museum of Fine Arts
237
238
Klaus Krüger
Abb. 4: Neri di Bicci (Rahmenbild) und Lorenzo Monaco (Kruzifixus), Kreuzigung Christi, ca. 1460 und ca. 1400, Toulouse, Musee des Augustins
Bild und Bühne
Abb. 5: Matteo de'Fedeli, Kreuzigung Christi, ca. 1480, Verona, Museo di Castelvecchio
239
240
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Abb. 6: Niccolö di Liberatore, gen. Alunno, Christus am Kreuz mit den Heiligen Franziskus und Bernhardinus, 1497, Terni, Pinacoteca Comunale
Bild und Bühne
C
241
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242
Klaus Krüger
Abb. 8: Giovanni di Pietro, gen. Lo Spagno (Rahmenbild) und Giovanni Tedesco (Kruzifixus), Kreuzigung Christi mit den Heiligen Magdalena und Franziskus, ca. 1510 und ca. 1480-90, Terni, Pinacoteca Comunale
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243
Abb. 9: Cenni di Francesco di Ser Ceiini, Kreuzigung Christi (plastischer Kruzifixus verloren), ca. 1400, Volterra, Pinacoteca Comunale
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Abb. 10: Raffaelo Vanni (Rahmenbild), der Selige Bernardo Tolomei in Verehrung des Kruzifixus, ca. 1650 (Kruzifixus frühes 14. Jh.), Monte Oliveto Maggiore, Abteikirche
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Abb. 11: Vinceiizo Foppa, Kreuzigung Christi, 1456, Bergamo, Accademia Carrara
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Abb. 12: Masaccio, Trinität mit Stiftern, ca. 1427-28, Florenz, Santa Maria Novella
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Abb. 13: Benvenuto Tisi, Vision des Heiligen Thomas von Aquin, 1593, Florenz, San Marco
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Abb. 14: Francesco Vanni, Vision des Heiligen Thomas von Aquin, 1602, Lucca, San Romano
CLEMENS RISI
Erfahrung des Heiligen in der Oper? Zur religiösen Dimension der Affektdarstellung und -Übertragung im Musiktheater des frühen 17. Jahrhunderts
Referring to two examples from music theatre of the early 17th century - Emilio de'Cavalieri's Rappresentatione di Anima et di Coipo (Rome, 1600) and Stefano Landi's II Sant'Alessio (Rome, 1631) - the issue will be explored as to how, in view of the unique character of performance (the temporality and ephemerality of the performative event), a performance which took place in the past can be grasped. Based upon a methodological approach which seeks to trace the relation between staging and perception unique to each performance, the topic of the transformation of the religious in opera, or into opera, will be central to the article. The aim of the article is to demonstrate how the Roman Catholic Church took advantage of the newest techniques of musical and scenic means to move audiences sensorially (by means of expression and evocation of affections) to true belief and devotion.
Die Theaterhistoriographie steht seit jeher vor der theoretischen und methodischen Herausforderung, die sich aus der spezifischen Qualität und der daraus resultierenden Problematik ihres Untersuchungsgegenstandes - der Zeitlichkeit, Flüchtigkeit und Vergänglichkeit des Aufführungsereignisses - ergibt. 1 Das vom Berliner Sonderforschungsbereich „Kulturen des Performativen" fokussierte Verhältnis von Textualität und Performativität vermag dabei zu helfen, die Möglichkeiten und Grenzen auszuloten, über die Aufführungsdimension von performativen Konstellationen der Kopräsenz von Akteuren und Zuschauern zu handeln, die vergangen sind. An zwei Beispielen des Musiktheaters aus dem frühen 17. Jahrhundert, die eine besonders reizvolle Konstellation von musiktheatralen Versuchsanordnungen und theoretischen Überlegungen darbieten, möchte ich mich im Folgenden anhand der musikdramatischen Gestaltung und Überlegungen zur Aufführungsdimension mit der Frage nach der Transformation des Religiösen in der Oper bzw. der Transformation des Religiösen in die Oper beschäftigen, und zwar anhand von Emilio de'Cavalieris Rappresentatione di Anima et di Corpo, uraufgeführt im Jahre 1600 in Ι
Vgl. hierzu ERIKA FISCHER-LICHTE: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Theatergeschichte. In: DIES.: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen, Basel 1993, S. 3-12; FRIEDEMANN KREUDER: Theaterhistoriographie. In: Metzler Lexikon Theatertheorie. Hrsg. v o n E R I K A F I S C H E R - L I C H T E / D O R I S K O L E S C H / M A T T H I A S WARSTAT, S t u t t g a r t 2 0 0 5 , S.
344-346.
Clemens Risi
250
Rom, im Oratorio der Kirche Santa Maria in Vallicella, der sogenannten Chiesa Nuova der Congregazione romana dell Oratorio des Filippo Neri (detto dei Filippini) und Stefano Landis II Sant'Alessio, uraufgeführt 1631 ebenfalls in Rom, im Theater des Palazzo Barberini, der Familie Papst Urbans VIII. 2 Das zentrale Paradigma, das von der zeitgenössischen Theorie angeboten wird - die Formulierang einer Wirkungsästhetik, ausgehend von und zielend auf die Darstellung und Übertragung von Affekten - erweist sich dabei als nahezu ideal, um einerseits der Aufführungsdimension vergangener Erfahrungen nahe zu kommen und andererseits nach der besonderen religiösen Dimension in Aufführungen geistlicher Opern zu fragen. Dazu möchte ich zunächst einen kleinen Exkurs zur speziellen Wirkungsästhetik unternehmen, zur Affekttheorie des Musiktheaters an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, und das heißt zur Theorie der gerade neu entstehenden Gattung der Oper. Seit den 70er Jahren des 16. Jahrhunderts traf sich regelmäßig ein Kreis florentinischer Intellektueller, um ein ehrgeiziges Projekt zu realisieren: die Wiederbelebung der antiken Deklamationspraxis. Das Projekt sollte sich bekanntlich verselbständigen und zu einem völlig neuen Genre führen: dem „in armonia favellare" (Caccini 1601) 3 oder „recitar cantando" (Cavalieri 1600) 4 - also singend sprechen, und zwar nach Maßgabe der menschlichen Affektzustände. Parallel dazu lässt sich in der Madrigalkomposition der Zeit eine zunehmende Abkehr von der kontrapunktischen, durchimitierten Vokalpolyphonie erkennen - eine Tendenz, die über die Oberstimmenbetonung und Zusammenfassung
2
Zu grundlegenden Informationen zu Cavalieris Rappresentatione und Landis II Sant'Alessio vgl. ARNALDO MORELLI: II Tempio armonico. Musica neH'Oratorio dei Filippini in Roma (1575-1705), Laaber 1991 (Analecta Musicologica 27); SABINE EHRMANN: Emilio de' Cavalieris „Rappresentatione di anima, et di corpo". Welttheater, Oper, Oratorium? In: Musikalisches Welttheater. Festschrift Rolf Dammann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von SUSANNE SCHAAL/THOMAS SEEDORF/GERHARD SPLITT, Laaber 1995 (Freiburger Beiträge zur Musikwissenschaft 3), S. 21-41; WARREN KIRKENDALE: Emilio de'Cavalieri „gentiluomo romano". His life and letters, his role as superintendent of all the arts at the Medici court, and his musical compositions, Firenze 2001 (Historiae Musicae Cultores 86), S. 233-294. Zu Landi: MARGARET MURATA: Operas for the Papal Court. 1631-1668, Ann Arbor 1981 (Studies in Musicology 39), S. 19-23, 221-248; SILKE LEOPOLD: Stefano Landi. Beiträge zur Biographie. Untersuchungen zur Vokalmusik, Hamburg 1976 (Hamburger Beiträge zur Musikwissenschaft
3
GIULIO CACCINI: Le miove musiche. und seine Zeit, Laaber 1993, S. 59.
4
Vgl. Frontispiz des Drucks: RAPPRESENTATIONE DI ANIMA, ET Dl CORPO. Nouamente posta in Musica dal Sig. Emilio del Caualliere, per recitar Cantando. Data in luce da Alessandro Guidotti Bolognese. IN ROMA Appresso Nicolo Mutij l'Anno del lubileo. M. DC.; vgl. auch CLAUDIO MONTEVERDI in einem Brief vom 9.12.1616 an Alessandro Striggio: „parlar cantando". Zitiert nach: SABINE EHRMANN: Claudio Monteverdi. Die Grundbegriffe seines musiktheoretischen Denkens, Pfaffenweiler 1989 (Musikwissenschaftliche Studien 2), S. 71.
1 7 ) , T e i l 1, S . 7 0 - 7 4 , 2 7 8 - 3 0 9 .
1601. Zitiert nach: SILKE LEOPOLD: Claudio Monteverdi
Erfahrung des Heiligen in der Oper?
251
der unteren Stimmen schließlich zum Generalbassbegleiteten Sologesang fuhren sollte. Claudio Monteverdi, der mit seinem 1607 in Mantua urau Ige führte η Orfeo das bis heute bekannteste Werk zur frühen Gattungsgeschichte beisteuerte, schrieb zum Thema Musik und Affekt: „Sapendo che gli contrary [dei passioni, od'affetioni, del animo] sono quelli che movono grandemente Fanimo nostro, fine del movere che deve havere la bona Musica". 5 „Ich weiß, daß es die Gegensätze [der Affekte] sind, die unsere Seele heftig bewegen - das Ziel, die Seele zu bewegen, muß die gute Musik haben." Ganz ähnlich formulierte der Jesuitenpater und Universalgelehrte Athanasius Kircher 1650 in seiner Musurgia universalis, wenn er als sein Interesse bezeichnet, „Vtrum, cur, & quomodo Musica vim habeat ad animos hominum commouendos", „ob, warum und in welcher Weise die Musik eine Kraft hat, die Seelen der Menschen zu bewegen." 6 In der Formulierung „ad animos hominum commouendos" bzw. „movere Fanimo nostro" manifestiert sich ein entscheidender Wandel in der musikästhetischen Auffassung von derjenigen des 16. zu der des 17. Jahrhunderts. Es geht nun nicht mehr darum, den Affekt nur zur Darstellung zu bringen, im Sinne einer „demonstratio, repraesentatio oder significatio" 7 . Anstelle des „exprimere" 8 tritt nun das „excitare" 9 , also die Erregung des Affekts im Zuhörer und Zuschauer. Musik will den Menschen aus dem Gleichgewicht bringen, außer sich bringen („animam extra se rapere" 10 ). Kircher kann auch von in diesem Sinne erfolgreich verlaufenen Erregungen in Roms Musiktheater-Szene berichten: die „Auditores" können sich oft nicht beherrschen („contineri nescij"), sie brechen in Geschrei („clamores"), Klagen („gemitus"), Seufzer („suspiria") und Tränen („lachrymas") aus, nach außen getriebene Bewegungen des Körpers brechen aus („exoticos corporum motus erumpentes"),
5
Monteverdi: Vorrede zum 8. Madrigalbuch. 1638. Zitiert nach: EHRMANN (Anm. 4), S. 143 f. bzw. 157.
6
Athanasius Kircher: Musurgia universalis sive ars magna consoni et dissoni, Rom 1650, Bd. 1, S. 549. Zu Kirchers Musurgia universalis und seinem Affektbegriff vgl. auch ULF SCHARLAU: Athanasius Kircher (1601-1680) als Musikschriftsteller. Ein Beitrag zur Musikanschauung des Barock, Marburg 1969 (Studien zur hessischen Musikgeschichte 2), sowie ROLF DAMMANN: Der Musikbegriff im deutschen Barock, Laaber 1995, S. 215-396.
7
D A M M A N N ( A n m . 6), S. 2 2 1 u . 2 2 5 f.
s 9
Hier S. 227. Kircher, Musurgia universalis, Bd. 1, S. 579. Vgl. schon Gioseffo Zarlino: Le Istitutioni harmoniche, Venedig 1558, II, Cap. 8: „mouer l'animo & disporlo a uarij affetti". Zitiert nach: DAMMANN (Anm. 6), S. 225. Vgl. auch Descartes' programmatischen Beginn seines Compendium musicae von 1618: „Compendium musicae renati cartesii. Hujus objectum est Sonus. Finis ut delectet, variosque in nobis moveat affectus". Zitiert nach: SCHARLAU (Anm. 6), S . 218.
10
Kircher, Musurgia universalis,
Bd. 2, S. 202.
252
Clemens Risi
innere Erregung („interiorum affectuum") zeigt sich in äußerlichen Zeichen („signis extrinsecis"). 11 Doch wie konnte es zu solchen Reaktionen kommen? Mit welchen physiologischen Annahmen erklärte man sich das Zustandekommen der Affektübertragung auf den Zuhörer? Kircher tut dies mit Hilfe der auf Hippokrates zurückgehenden und von Galenus überlieferten Humoralpathologie und Temperamentenlehre. Die musikalische Schwingung trifft auf das Trommelfell, wird auf die so genannten Lebensgeister oder „spiritus animales" 12 übertragen; diese melden die Schwingimg dem Gehirn, und das Gehirn bestimmt dementsprechend die Erzeugung eines der Säfte. Der produzierte Saft löst sich in Dampf auf, vermischt sich mit den Lebensgeistern und erzeugt schließlich den Affekt. Eine Beschleimigimg der Lebensgeister führt zu freudiger Empfindung, eine Verlangsamung zu Schmerz und Trauer. Die Seelenempfindung überträgt sich auf das Herz, das Zentrum der Lebensgeister. Vom Herz strömen die Lebensgeister in die Muskeln und provozieren die äußerlich sichtbaren physischen Reaktionen. 13 Kirchers eigentliche Leistimg besteht aber darin, dass er als erster den Versuch unternommen hat, die konkreten Beziehungen von physiologisch erklärtem Affekt und ihn auslösenden musikalischen Mitteln im Detail zusammenzutragen und aufzulisten. Nach Kircher gibt es acht typische Affekte „Octo potissimum affectus sunt, quos Musica exprimere potest". 14 Zu den einzelnen Affekten hat Kircher eine Fülle an musikalischen Regeln zusammengetragen. So etwa zur Darstellung des Affekts der Freude große Terzen („Dur-Terzen"), zielscharfe Intervallsprünge im Rahmen der Dur-Klänge, beschleunigtes Zeitmaß, als tactus tänzerische Tripla, helle Klänge sowie hohe Lagen, energische Dynamik und Dreiklangsbrechungen. 15 Da der Affekt der Trauer als ,außer-ordentlich' gilt, bedarf es zu seiner musikalischen Darstellung außerordentlicher, abnormer Mittel, wie etwa Dissonanzen, unharmonische Relationen, unerlaubte Intervalle („intervalla prohibita"), entlegene Akkordverbindungen mit weit von der „unitas" entfernten Proportionen. 16
11 12
Kircher, Musurgia universalis, Bd. 1, S. 546. Vgl. die von Descartes angenommenen „esprits animaux".
13
SCHARLAU (Anm. 6), S. 222-224. Noch vor Kircher versuchte auch Gioseffo Zarlino, sich in seinen Institutioni harmoniche die Wirkungsweise von Musik mit Hilfe der Lebensgeister oder -safte zu erklären; vgl. Zarlino (Anm. 9), II, Cap. 8; vgl. auch EHRMANN (Anm. 4), S. 9. 14 Dies sind im einzelnen der Affectus „Amoris [der Liebe], Luctus seu Planctus [Trauer oder Schmerzausbruch], Laetitiae & Exultationis [Freude oder Freudenausbruch], furoris & indignationis [Wut oder Entrüstung], Commiserationis & Lacrymarum [des Mitleids oder der Rührung], timoris & Afflictionis [der Furcht oder Niedergeschlagenheit], Praesumptionis & Audaciae [des Vorgenusses oder der Kühnheit], Admirationis [der Bewunderung]". Kircher, Musurgia universalis, Bd. 1, S. 598. 15
DAMMANN ( A n m . 6), S. 2 5 8 .
16
Hier S. 258 u. 386.
Erfahrung des Heiligen in der Oper?
253
Aus eben diesem Potential der Musik, Affekte zu erregen, gewinnt die sich um 1600 formierende Gattung Oper Kapital. Für den Zusammenhang dieser Tagung erscheint nun die Konstellation signifikant, dass eine der ersten Opern überhaupt gerade in einem religiösen Kontext und mit religiösem Inhalt kreiert wurde. Denn dieses eben geschilderte Potential der Musik wird in dieser Oper nutzbar gemacht, transformiert, für die Belange der Kirche, des Religiösen, des Heiligen. Die Musik vermag beim Zuhörer Affekte zu erregen und ihn über diese Erregimg zur Andacht, zur „devozione" zu bewegen, wie uns sowohl der Herausgeber des Erstdrucks von 1600, Alessandro Guidotti, in seiner Vorrede wissen lässt - „la rappresentazione di An im α et di Corpo fatta il passato Febbraro in Roma nellOratorio della Vallicella, con tanto [...] applauso, e manifesta pruova quanto questo stile sia atto a muover'anco a devozione" 17 - als auch ein Ohrenzeuge der Uraufführung, Pietro della Valle, der uns mit seiner Schrift „Della musica dell'etä nostra che non e punto inferiore, anzi e migliore di quella dell'etä passata" von 1640 eine der aufschlussreichsten Bestandsaufnahmen der Zeit hinterlassen hat. Pietro della Valle geht noch einen Schritt weiter, indem er folgende erstaunliche Argumentationskette aufmacht: Nach seiner Ansicht ist es notwendig, dass die Kirche sich der neuen Kompositionstechniken der Oper bedient, um den Hörer nicht zu langweilen - den nach alter Manier singenden Chor der Padri Carmelitani Scalzi „non lo posso sentire senza sommamente annoiarmi" 18 , kann er nicht anhören, ohne sich extrem zu langweilen. Die Orte aber, an denen gut - also nach der neuen Manier - gesungen wird, sind für ihn „di unica dilettazione" 19 , von höchstem Vergnügen, und er erinnert sich an viele Gelegenheiten „di aver sentito eccitarsi in me spiriti di devozione e di compunzione e fino desiderio dell'altra vita e delle cose celesti". 20 Bei diesem Wunsch nach einem anderen, himmlischen Leben bleibt es aber nicht; die Musik wirkt sogar noch einen konkreten Schritt weiter: Della Valle ist überzeugt davon, dass, wenn es die Aufführungen zum Beispiel in der Chiesa Nuova, dem Ort der Uraufführimg von Cavalieris Rappresentatione, nicht geben würde, „non forse sarei andato molte volte di notte per mali tempi e per cattive strade, alle chiese a far del bene" 21 , dann wäre er also nicht so häufig in der Nacht durch schlechte Gegenden gegangen, um in der Kirche Gutes zu tun. Kurz auf eine Formel gebracht: „Cantisi pur dunque nelle chiese per invitare piu gli uomini al ben fare" 22 17
Zitiert nach: ANGELO SOLERTI: L e origini del melodramma, Torino 1903, S. 3. Vgl. auch den Bericht des Paolo Aringhi, eines Zeitgenossen Cavalieris und Beobachter der Esercizi der Oratorianer. In: EHRMANN (Anm. 2), S. 24.
is
PIETRO DELLA VALLE: Della musica dell'etä nostra che non e punto inferiore, anzi e migliore
19
Hier S. 176.
20
Ebd.
21
Ebd.
22
Ebd.
di quella dell'etä passata [1640], In: SOLERTI (Anm. 17), S. 175.
254
Clemens Risi
es möge gesungen werden in der Kirche, um immer mehr Menschen dazu zu bringen, Gutes zu tun. Das heißt also: die neue Art des Sologesangs, die Deila Valle auch für die Kirche einfordert, erzeugt ein sinnliches Vergnügen bei ihm, das ihn in der Folge zur Andacht und zur Reue fuhrt, was wiederum die Handlung auslöst, Gutes zu tun. Dabei gesteht Deila Valle interessanterweise ein, dass dies alles vielleicht nur daran liege, dass er ein „uomo troppo sensuale" sei, womit die Einsicht in die sinnlich-physiologische Wirkung der neuen Musik noch einmal deutlich unterstrichen wird. Umgekehrt lässt sich formulieren, dass die Kirche sich also der neuesten Techniken der musikalischen wie szenischen Gestaltung versichert, um die Zuhörer und Zuschauer über die Affektübertragung zur Devotion und zum rechten Glauben zu bringen. Einige der Mittel seien hier angedeutet: Emilio de'Cavalieris geistliche Oper Rappresentatione di Anima et di Corpo handelt - ausgehend von einer Dialoglauda von 1577 und in der Tradition der moralisierenden Allegorien - vom Streit zwischen Anima und Corpo um den wahren Ort des Friedens. Nach mehreren Szenen, in denen Corpo von Piacere, Mondo und Vita mondän α verlockt wird, sich für die weltlichen Freuden zu entscheiden, sowie Szenen, in denen die Anime dannate aus dem sich öffnenden Höllenschlund abwechselnd mit den aus dem Himmel heraussingenden Anime beate ihr Schicksal beklagen respektive preisen, kann Anima Corpo schließlich davon überzeugen, dass nur im Himmel das Glück zu finden ist. Eine der Besonderheiten, die Filippo Neri in der von ihm begründeten Bruderschaft eingeführt hat, sind die „Esercizi" in volkssprachlichem Italienisch statt Latein und in dialogischer Aiordnung. 23 Dialogische Anordnung ist ja ohnehin Charakteristikum der neuen Gattung Oper mit ihren gesungenen Dialogen, so auch in Cavalieris Rappresentatione. Aber auch das Volkssprachliche hat in gewisser Weise sein Pendant darin, dass die neue Art der Musiksprache eine Nähe des Gesungenen zur gesprochenen Sprache sucht bzw. behauptet, und zwar in dem Konzept des „recitar Cantando" (singend sprechen, wobei das Sprechen entscheidend ist, das jedoch im Ausdruck angehoben und damit dem Singen angenähert wird). Dass Cavalieris Musik darüber hinaus auch in der Tradition der italienischen Volksmusik wurzelt, hat Christina Pluhar in einer Aufführung der Rappresentatione 2004 in Utrecht eindrucksvoll unter Beweis gestellt, indem sie - nach Cavalieris Anweisung in der Partitur - mehrere fremde Musikstücke als Intermedien der Aufführung hinzugefügt hat, etwa gleich zu Beginn noch vor den Prolog des Tempo eine Tarantella, hier gesungen von Nuria Rial und Marco Beasly (Corpo und Tempo), der gerade durch
23
HANS JOACHIM MARX: Festinszenierungen römischer Oratorien und Serenaten im Barockzeitalter. In: Musik in Rom im 17. und 18. Jahrhundert. Kirche und Fest. Hrsg. von MARKUS ENGELHARDT/CHRISTOPH FLAMM, Laaber 2004 (Analecta Musicologica 33), S. 336; dazu auch EHRMANN (Anm. 2), S. 23.
Erfahrung des Heiligen in der Oper?
255
seinen crossover der Gesangsstile zwischen Schlager und Oper die AlteMusik-Szene der letzten Jahre kräftig aufgemischt hat und dadurch in der Aufführung noch einmal ganz deutlich gemacht hat, wie eng aufeinander bezogen die neue Art des Komponierens und ihre traditionellen Wurzeln sind. Eine besondere Pointe bei diesem stilistischen crossover bzw. der Demonstration der gegenseitigen Beeinflussung von Volksmusik und Oper ist übrigens, dass die Tarantella bei Athanasius Kircher als das Beispiel gilt für die Macht der Musik, physiologische Prozesse des menschlichen Körpers zu initiieren bzw. zu beeinflussen - was er dann als Beleg auch für seine Affekttheorie in der Kunstmusik braucht. Cavalieris Komposition ist ganz dem in der Vorrede bereits erwähnten Kontrastprinzip verpflichtet. Der Herausgeber des Erstdrucks aus dem Jahr 1600 schreibt: „questa sorte di Musica da lui [Cavalieri] rinovata commovfe] ä diversi affetti, come ä pietä, et ä giubilo; ä pianto et ä riso [Mitleid, Freude, Weinen und Lachen]." 24 „II passar da uno affetto alkaltro contrario, come dal mesto aH'allegro, dal feroce al mite [von traurig zu fröhlich, von wild nach zahm], e simili, commuove grandemente." 25 Es herrscht „varietä" auf allen Ebenen: bei den Affekten, bei der Besetzung (Wechsel von hohen und tiefen Stimmen, von solistischen und chorischen Teilen), und beim Takt (Wechsel von Zweier- und Dreier-Takten). Einen starken Kontrast bilden etwa die Anime dämmte (die verdammten Seelen) zu den Anime beate (den glückseligen Seelen). Die Anime dämmte können nichts anderes als auf einem Ton, also eintönig, ihr Schicksal in der Hölle mit deklamierten, gepressten, gestöhnten Rufen „Al foco, al foco eterno", das ewige Feuer, zu beklagen, während die Anime beate das ewige Himmelreich „eterno regno" in kunstvoll rhythmisch und melodisch verzierten Melismen preisen (Notenbeispiel l). 2 6 Die Passage der Anime beate „etemo Regno" tritt in einer doppelten Funktion auf: zum einen als rhetorische Figur, indem „Ewigkeit" ausmalend durch die sich ewig hinziehende Melismenkette bezeichnet wird. Zum anderen tritt die Figur aber daneben bzw. in erster Linie auch als materiale Präsenz in Erscheinung, indem sie über die sinnliche Wahrnehmung Wohlgefallen und Staunen über die Virtuosität, die das eigene Können übersteigt, auslöst. Hingewiesen sei noch darauf, dass Cavalieri die Verzierung detailliert notiert hat. Wie der Herausgeber im Vorwort betont, lässt Cavalieri keine improvisierten Verzierungen zu: „che il cantante [...] canti con affetto [...] senza passaggi [...]"; er versucht vielmehr durch die Notation, die affektive Kraft der Verzierung zu kontrollieren und sie nicht dem Sänger zu überlassen.
24 25 26
Zitiert nach: Quellentexte zur Konzeption der europäischen Oper im 17. Jahrhundert. Hrsg. von HEINZ BECKER, Kassel, Basel, London 1981 (Musikwissenschaftliche Arbeiten 27), S. 13. Ebd. Vgl. RAPPRESENTATIONE DI ANIMA, ET DI CORPO (Anm. 4), S. XXX.
256
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Stefano Landi komponierte seine 1631 uraufgeführte Oper II Sant'Alessio auf ein Libretto von Giulio Rospigliosi, des späteren Papstes Clemens IX. Alexius verlässt seine reiche Familie und seine Braut, um ein Dasein in christlicher Askese zu führen. Die Familie trauert. Als Bettler verkleidet, kehrt er unerkannt wieder zum Haus seiner Familie zurück, wird von den Dienern verspottet und lebt unter der Treppe seines Vaterhauses; er wird vom Teufel verführt, sich wieder seinem irdischen Glück zuzuwenden und die Familie zu trösten, widersteht aber allen Verlockungen, mit der Aussicht des nahenden Todes und der Seligsprechimg, wie ihm ein vom Himmel herabschwebender Engel verkündet. Neben dem „recitar Cantando", das noch viel ausgeprägter praktiziert wird als bei Cavalieri, finden sich auch hier wieder mehrere der genannten Mittel wie etwa harmonische Schärfen, 27 also dissonante Intervalle und Akkorde als Mittel zum Ausdruck und zur Übertragung der Affekte. Die Braut von Alexius will vor Trauer über ihren verlorenen Bräutigam nicht mehr leben und gibt sich innerlich dem Tode hin: „Giä moro per Alessio, e giä dal seno Sen fugge Talma, e il viver mio vien meno" 2 8 - „ich sterbe für Alexius, und dem Busen entflieht die Seele, mein Leben schwindet." Die letzten Worte dieser Phrase singt sie auf einem Ton, einem gis ziun Α im Bass und springt damit in eine der stärksten Dissonanzen, eine kleine Sekunde, die dann mehrfach wiederholt wird und sich überhaupt nicht auflösen will (Notenbeispiel 2). Dem Halbton als kleinstem Intervall und kleinstem Bewegungsmaß kommt unter den Intervallen ein besonderes Interesse zu. Chromatik und Enharmonik ziehen nach Athanasius Kircher beim Hörer die Lebensgeister zusammen und verlangsamen ihre Bewegung. Die weiche, matte, träge, schlaffe Wirkungseigentümlichkeit des Halbtons prädestiniert ihn zur Darstellung und Übertragung des Affekts der Trauer, 29 da er beim Hörer ein starkes Gefühl des Unwohlseins und damit Mitleid auslöst. Neben den musikalischen Besonderheiten sind es aber vor allem die spektakulären Bühneneffekte, die den Zuschauer auch über das Visuelle, den Schaueffekt, Staunen machen und damit affizieren sollen. Das Barberini-Theater mit seinen ca. 3.000 Plätzen verfügte natürlich über eine Bühnenmaschinerie, die es erlaubte, Bühnenfiguren, etwa Engel oder die Allegorie der Religion, vom Himmel hereinschweben zu lassen (Abb. 1 und 2) und andere Figuren, etwa Teufel, im Bühnenboden verschwinden zu lassen. Die römische Kirche - vermittelt über die Auftraggeber der Werke, also die Oratorianer bzw. die Familie Urbans VIII., die Barberini - versichert sich der 27 28
Beispiele hierfür wie auch für textausdeutende Koloraturen beschreibt LEOPOLD (Anm. 2), S. 299-302. IL S. ALESSIO. DRAMMA MUSICALE DALL'EMINENTISSIMO, ET REVERENDISSIMO SIGNORE CARD. BARBERINO [...] Posto in Musica DA STEFANO LANDI ROM A N O [...] IN ROMA, Appresso Paolo Masotti. M.DC. XXXIV S. 94.
29
SCHARLAU ( A n m . 6), S. 2 5 0 u .
255.
257
Erfahrung des Heiligen in der Oper?
neuesten Techniken der musikalischen wie szenischen Gestaltung (stile nnovo im Gesang, aufwändige Bühnenmaschinerie und szenische Effekte 30 ), um die Zuhörer und Zuschauer über die Affektübertragimg zur Devotion und zum rechten Glauben zu bringen. Die Inszenierungen der geistlichen Oper lassen sich als eine geschickte Strategie der Kirche lesen - eine Strategie, um die Verfügungsgewalt zu behalten über die wahre Lehre und als Machtdemonstration im Zeichen der Gegenreformation, etwa wenn Opern zur Feier von gelungenen Konversionen zum Katholizismus aufgeführt wurden. 31 In ähnlichem Maße, wie die Kirche versucht, die Autorschaft über den rechten Glauben zu erhalten und alle Risiken einer neu entstehenden oder sich wandelnden Praxis des religiösen Handelns einzudämmen, 32 versuchen die Komponisten durch Aufstellen und Einhalten bestimmter Kompositionsregeln für die Affekte sowie die genaue Notierung der Verzierungen, die perfonnativ sich ereignende Wechselwirkung von Sänger und Zuhörer einzugrenzen, auktorial zu bestimmen. 33 Jedoch: Die Komponisten haben bei allem Streben nach Einfluss auf die performative Variable der Aufführung immer auch ein Gespür dafür, dass sich in der Aufführung Unplanbares ereignen wird und muss, um die besondere Wirkimg zu erzielen. Cavalieri versucht eben nicht, alles genau festzulegen. Es gibt Lücken in der Schrift, auf die er selbst hinweist, etwa in der Frage der genauen Orchesterbesetzung, der Tempowahl oder in der Ergänzung durch instrumentale bzw. getanzte Intermedien. 34 Ein beson-
30
Vgl. MAURIZIO FAGIOLO DELL'ARCO: La festa barocca a Roma. Sperimentalismo, politica, meraviglia. In: Musik in Rom im 17. und 18. Jahrhundert. Kirche und Fest. Hrsg. von MARKUS ENGELHARDT/CHRISTOPH
FLAMM,
Laaber
2004
(Analecta
Musicologica
33),
S.
1-40;
MARX ( A n m . 23), S. 3 3 5 - 3 7 4 ; THOMAS MACHO: D e u s e x M a c h i n a . B e m e r k u n g e n z u r T e c h -
nikgeschichte der Religion. In: Neue Rundschau 115 (2004): Facetten des Heiligen, S. 25-39. 31
So wurde etwa 1637 aus Anlass der Konversion des Landgrafen Friedrich von Hessen zum Katholizismus die Oper Chi soffre speri (Text: Giulio Rospigliosi, ab 1667 Papst Clemens IX.; Musik: Virgilio Mazzocchi/Marco Marazzoli) im Teatro Barberini in Rom aufgeführt. Vgl. BECKER (Anm. 24), S. 40. Zu Landis II Sant'Alessio und der Gegenreformation vgl. auch FREDERICK HAMMOND: Music & Spectacle in Baroque Rome. Barberini Patronage under Urban VIII, New Haven/London 1994, S. 212 f.
32
Etwa über die Einrichtung der Congregatio de Causis Sanctorum, die indirekt auf ein Dekret Urbans VIII. von 1634 zurückgeht. Vgl. dazu HANNO HELBLING: Heiligkeit unter Kontrolle. Die Arbeit Roms an der Gewissheit des Wunderbaren. In: Neue Rundschau 115 (2004): Facetten des Heiligen, S. 107.
33
Vgl. das Vorwort zum Erstdruck von Cavalieris Rappresentatione: „che il cantante habbia bella voce, bene intuonata, e che la porti salda, che canti con affetto, piano, e forte, senza passaggi". Zitiert nach: BECKER (Anm. 24), S. 13; oder auch Claudio Monteverdis Vorrede zum 1624 oder 1626 aufgeführten Combattimento di Tancredi e Clorinda, abgedruckt im 8. Madrigalbuch von 1638: „La voce di Testo dovera essere chiara, ferma [...]; Non dovera far gorghe ne trilli in altro loco, che solamente nel canto de la stanza, che incomincia Notte". Zitiert nach: BECKER (Anm. 24), S. 41.
34
V g l . B E C K E R ( A n m . 2 4 ) , S. 1 3 - 1 6 . NINA TREADWELL b e s c h ä f t i g t s i c h m i t d e r F r a g e n a c h d e r
Autorschaft der ersten Solonummer aus den Florentiner Intermedien von 1589, inwiefern hier
258
Clemens Risi
ders eindrückliches Beispiel ist in dieser Hinsicht das Lamento della Ninfa von Claudio Monteverdi aus seinem 8. Madrigalbuch (1638), in der er explizit der Sängerin der Nymphe die Tempowahl überlässt, und zwar nach Maßgabe ihres Affektempfindens: „il pianto di essa [...] ua cantato a tempo del'affetto del animo, & non a quello dela mano" 35 - ihre Lamentationen sollen im Tempo ihres Affektempfindens und nicht nach dem Tempo des Dirigenten gesungen werden. Es gibt ein Wissen über die Unplanbarkeit und Unverfügbarkeit entscheidender Momente der intensivierten körperlichen Anwesenheit, die ich als Präsenz bezeichnen würde, die über die (intentional gedachte) Produktion von Präsenzeffekten (Gumbrecht) hinausgehen. Präsenzeffekte können produziert werden; das ist eben das, was die Oper mit ihren Regeln und Vorschriften vermag - im entscheidenden Moment ist es dann aber die Auffuhrung, die die Präsenz herstellt bzw. sich ereignen lässt. Von der Seite der Augen- und Ohrenzeugen wird dies auch insofern bestätigt, als etwa der Komponist Filippo Vitali über eine Aufführung seiner Oper L'Aretusa berichtet, dass er über den Sänger des Aminta schweigen muss, denn „quanto bene egli raccontasse il caso di Aretusa solo il puo intendere chi lo senti" 36 - „nur der kann ermessen, wie gut der Sänger den Fall der Aretusa geschildert hat, der ihn gehört hat". Der Effekt eines Sängers kann nicht beschrieben, also nicht notiert, sondern nur erlebt werden. Ebenso ist auch Jacopo Peri, der Komponist der Euridice Rinuccinis aus dem Jahr 1600 nicht in der Lage, die Wirkimg der im Moment der Aufführung produzierten Verzierungen der Sängerin Vittoria Archilei in Worten oder Notenschrift wiederzugeben. 37 Der Effekt liegt in der performativ einzigartigen und ereignishaften Qualität des Stimmproduzierens und kann weder durch Vor-Schrift (Partitur) noch durch Nach-Schrift (Beschreibung) eingefangen werden. Diese Lücke ist das Anzeichen und das Signum einer besonderen performativen Konstellation von Aufführenden und Wahrnehmenden. Eine vergangene Erfahrung lässt sich weder rekonstruieren, wiederholen noch einfangen; es bleibt nur, diese die Sängerin Vittoria Archilei mit ihren ganz besonderen stimmlichen Fähigkeiten und ihrer individuellen Aufführungspraxis als eigentliche Autorin angesehen werden muss und welchen Einfluss ihre (in gewissen Grenzen auch als improvisiert aufzufassende) Ausführung auf den Partiturdruck (als nachträgliche Schrift einer einmaligen und im Prinzip nicht wiederholbaren) Aufführungsrealität hat; vgl. NINA TREADWELL: She descended on a cloud ,from the highest spheres'. Florentine monody .alia Romanina'. In: Cambridge Opera Journal 16 (2004), S. 122.
35
„Die drei Stimmen (der Rahmenerzählung) sind in Stimmbüchern gedruckt, weil sie im festen, mit der Hand geschlagenen (also dirigierten, unveränderlichen) Tempo gesungen werden sollen; die anderen drei Stimmen, die mit schwacher Stimme die Nymphe bemitleiden, sind in der Partitur notiert, damit sie ihrer Klage folgen können, die im Zeitmaß ihres Seelenzustandes (tempo dell'affetto deH'animo) und nicht im festen Tempo gesungen werden sollen." Zitiert nach: LEOPOLD (Anm. 3), S. 287; dt. Übers.: hier S. 164-166.
36
Filippo Vitali: Dedicatoria e prefazione a\V Aretusa [1620]. In: SOLERTI (Anm. 17), S. 95.
37
Vorrede an die Leser abgedruckt in: BECKER (Anm. 24), S. 20-22.
Erfahrung des Heiligen in der Oper?
259
Lücken, die es in sich haben, aufzuspüren, denn zu greifen ist das vergangene Performative nicht. Die Kirche und die Musik hatten immer schon und haben noch immer ein gutes und fruchtbares Verhältnis. Die Kirche wusste immer schon die Musik für ihre Zwecke einzusetzen, wenn auch bereits seit den Kirchenvätern mit klaren Grenzziehungen und Regeln. Und somit ist es kein Wunder, dass die Gegenreformation sich gerade die neue Oper und die die Affekte auslösende neue Art der Textvertonimg zunutze machte, um den Menschen für die richtige Lehre zu gewinnen. Die neue Art der Textvertonung, der stile nuovo, war eigentlich für die neu enstehende Gattung der Oper, die sich ihrerseits als Fortsetzung der favola in miisica mit ihren mythologischen Stoffen darstellte, geschaffen. Es ist nun das Besondere, dass sich die Kirche, in der eigentlich der stile antico praktiziert wurde, ebenso des neuen Stils bemächtigte, um die Hörer über die Affekterregimg zur Andacht zu führen. Der Weg ist die sinnliche, körperliche Wahrnehmung über Prachtentfaltung und Klangwirkimg. Es ist aber nicht nur die Musik, mit deren Einsatz die Kirche sich auskennt; beeindruckend zu beobachten ist auch das Gespür, das die Kirche für das Verhältnis von Inszenierung und Wirkung, mithin den Aufführungsaspekt von Liturgie und kirchlichen Festivitäten, besitzt. Erinnert sei hier an die Befriedigung der Schaulust durch die Kirche, etwa in der Aneignung der jeweils neuesten Mittel des Theaters wie Bühneneffekte, Maschinerien etc. Gemeint ist hier aber auch das Gespür für den richtigen Rhythmus und die richtige Atmosphäre, in unserer Zeit verkörpert insbesondere in der Person des päpstlichen Zeremonienmeisters Piero Marini: Einmal wieder eindrucksvoll sichtbar wurde vor aller Welt Augen bei den Feierlichkeiten zum Begräbnis des alten sowie der Wahl und der Inthronisation des neuen Papstes die Kontinuität des Wissens der Kirche um das essentielle Verhältnis von Inszenierung und Wahrnehmung - die Aufführungsdimension des Heiligen.
260
Clemens Risi
Notenbeispiel 1: RAPPRESENTATIONE DI ANIMA, ET DI CORPO. Nouamente posta in Musica dal Sig. Emilio del Caualliere, per recitar Cantando. Data in luce da Alessandro Guidotti Bolognese. IN ROMA Appresso Nicolö Mutij Γ Anno del Iubileo. M. DC, S. XXX.
Erfahrung des Heiligen in der Oper?
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Notenbeispiel 2: IL S. ALESSIO. D R A M M A MUSICALE DALL'EMINENTISSIMO, ET REVERENDISSIMO SIGNORE CARD. BARBERINO [...] Posto in Musica DA STEFANO LANDI R O M A N O [...] IN ROMA, Appresso Paolo Masotti. M.DC. XXXIV, S. 94.
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Clemens Risi
§
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3
Erfahrung des Heiligen in der Oper?
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JENS ROSELT
Transformationen des Religiösen im zeitgenössischen Theater The search for transformations of the religious in contemporary theater begins with its special mode of experience and participation and locates the interface between religion and theater within a specific transgressive mode of experience. This is illustrated using 20 th century theater manifestos and works of theater t h e o r y b y a u t h o r s s u c h a s JERZY GROTOWSKT, PETER BROOK a n d RICHARD SCHECHNER a n d r e f e r e n c i n g t h e r e l i g i o u s t h e o r i e s o f WTLLTAM JAMES a n d
CHARLES TAYLOR. Finally, an analysis of works by Living Theatre (Paradise Now and Six Public Acts) and Christoph Schlingensief (Passion Impossible) examines the possibilities of social and spiritual experience in the theater.
Eine Putzfrau, ein Arbeitsloser, eine junge Dame, ein pädophiler Mann, ein Vertreter, eine Stewardess und ein Priester - diese Menschen versammeln sich zur Andacht in der Kapelle eines Flughafens. Einzeln betreten sie den Raum, knien vor dem Altar nieder und bekreuzigen sich. Diese Menschen nehmen einander kaum wahr, nichts scheint sie zu verbinden, außer dass sie in einer zehnminütigen Zeremonie miteinander beten und ein Glaubensbekenntnis sprechen. Während so ein intimer Moment der Kontemplation geschaffen wird starren gut 600 Zuschauer in die Gesichter der Gläubigen. Das hier beschriebene Tableau ist die Eröffnungsszene aus Ulrich Seidls Inszenierung Vater unser an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Die Betenden auf der Bühne sind Schauspieler, die sich frontal gegen die Rampe wenden. Ein Altar existiert also nur im gedachten Schnittpunkt ihrer Blicke mit denen des Publikums, wo sich im imaginären Anblick des Gekreuzigten die Perspektiven von Schauspielern und Zuschauern selbst kreuzen mögen. Würde man den Theaterleuten allzu naiv auf den Leim gehen, wollte man angesichts dieser Szene bzw. der in einer Flughafenkapelle spielenden Inszenierung gleich von der Transformation des Religiösen sprechen? Was sehen die Zuschauer auf der Bühne? Menschen bei der Andacht oder Schauspieler bei der Arbeit? Geht es um den Glauben an Gott oder um das glaubhafte Spiel der Schauspieler?' ι
Zu der Inszenierung von Vater unser und dem Verhältnis von Glauben und Glaubwürdigkeit siehe: CHRISTEL WEILER: Glaubensfragen - postdramatisch. In: AufBrüche. Theaterarbeit zwischen Text und Situation. Hrsg. von PATRICK PRIMAVESI/OLAF A. SCHMITT, Berlin 2004 (Theater der Zeit, Recherchen 20), S. 44-52, hier S. 47.
Transformationen des Religiösen im zeitgenössischen Theater
265
Im Grande verweist diese Fragestellung auf den jahrhundertealten Versuch, Religion und Kirche gegen das Theater abzugrenzen und in der Opposition von religiöser Immanenz und theatraler Scheinhaftigkeit eine Art ultimativen Widerspruch zu reklamieren. Insbesondere die Kirche hatte alle rechtlichen und sozialen Register gezogen, um eine Infragestellung dieser Differenz zu tabuisieren. In den letzten Jahren hat es jedoch verstärkt ein Interesse dafür gegeben, nicht nach den Unterschieden, sondern nach den Gemeinsamkeiten zu fragen. Es ist zu Recht der Verdacht geäußert worden, die Theaterfeindlichkeit der Kirche sei nicht darin begründet, dass auf und um die Bühnen all das passiert, was der Kirche zuwider sein muss, sondern dass es eine deutliche Nähe zwischen religiösen und ästhetischen Praktiken gibt. 2 Im Folgenden soll diese Nähe aufgesucht werden, und das Gegenwartstheater erweist sich dabei für manchen überraschend - als ausgezeichneter Ort. Schon ein flüchtiger Blick in die Spielpläne verrät das auffallende Interesse an religiösen Themen. So macht Bruno Cathomas am Maxim Gorki Theater in Berlin die Bibel zum Schwerpunkt einer Inszenierungsreihe oder Christoph Marthaler nennt einen Abend an der Volksbühne Die zehn Gebote. Obwohl derlei Projekte zahlreich sind, soll die Suche nach den Transformationen des Religiösen im zeitgenössischen Theater nicht bei der Vermittlung oder Thematisierimg religiöser Inhalte ansetzen, sondern bei der besonderen Art und Weise des Erlebens und der Teilhabe. In der spezifischen Erfahrungsweise wird der Schnittpunkt von Religion und Theater vermutet. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass im 20. Jahrhundert, dem allgemein ein säkularer Charakter als Markenzeichen zugesprochen wird, im Diskurs tun das Theater religiöse Metaphorik allgegenwärtig ist. 1968 erscheint der einflussreiche Essay The Empty Space von PETER BROOK, in dem der Regisseur von einem Theater spricht, durch welches Unsichtbares sichtbar würde: „The Theatre of the Invisible - Made Visible". 3 BROOK bezeichnet dies als Heiliges Theater („Holy Theatre"). 4 Bei dieser Definition geht er davon aus, dass der größte Teil des alltäglichen Lebens den Sinnen entgeht: „We are all aware that most of life escapes our senses", 5 im Theater hingegen könne eine größere Realität, „a greater reality" 6 gefunden werden. BROOKS Heiligsprechung der Bühne findet im eigentümlichen Verhältnis von Repräsentation und Präsenz seine Begründung: Ihm geht es im Theater um die Erfahrung von Transzendenz, die gleichwohl auf sinnliche Repräsentation angewiesen bleibt. Dieser Widerspruch kann nicht durch ausgefeilte semiotische Ordnungen gelöst werden, sondern produziert eine Spannimg, die der 2
Vgl. PATRICK PRIMAVESI: Theater und Religion - Mit dem Überrest arbeiten. In: Ebd. S. 5361, hier S. 53.
3
PETER BROOK: The E m p t y Space, N e w York 1996, S. 42.
4
Ebd.
5
Ebd.
6
Hier S. 54.
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Jens Roselt
Bühne und den Zuschauern gemeinsam eignet und so zum Signum der Erfahrung im Theater wird: „the tension would be shared by stage and audience - it would be the expression of the unresolved quest for a holiness eternally undefined." 7 Diese prinzipielle Unerfülltheit ist Kennzeichen der Erfahrung des Heiligen: „We have to accept that we can never see all of the invisible." 8 Insofern Heiligkeit nur als Erfahrung denkbar wird, ist sie stets auf das aktuelle Erleben angewiesen. Durch die Ereignishaftigkeit der Aufführung kann sich das Theater als Ort des Heiligen ausweisen: „many audiences all over the world will answer positively from their own experience that they have seen the face of the invisible through an experience on the stage that transcended their experience in life." In dem metaphorischen Nebel, den BROOK hier wabern lässt, kann allerdings so ziemlich jede Theaterauffassimg in Deckung gehen. Auch eingefleischte Naturalisten pflegen den Zauber des Augenblicks im Theater zu beschwören. Wie massiv ein heiliges Theater mit der Tradition des europäischen Theaters bricht, wird deutlich, wenn es um den zentralen Stellenwert des Dramas geht. Dieser wird nämlich in Frage gestellt, wenn der Text nicht die Voraussetzung des Ereignisses ist, sondern durch dieses negiert wird: „a theatre in which the play, the event itself, stands in place of a text." 9 Am dramatischen Theater geschulte Kategorien wie Handlung, Konflikt oder Figur versagen, und stattdessen ist von Ansteckung, Rausch oder Magie die Rede. Die Aufführung gilt nicht als kalkulierter Ablauf der szenischen Repräsentation eines Dramas, sondern wird zur Initiation einer Erfahrung, die das Erleben selbst dramatisiert. Als Pate dieser Entwicklung erscheint ANTONIN ARTAUD, wobei sich auch vielfältige Linien zu NIETZSCHES Überlegungen zum Dionysischen in der „Geburt der Tragödie" ziehen ließen. Für ARTAUD jedenfalls ist theatrales Spiel eine Raserei, die ansteckend sein kann wie die Pest. Nicht der Bühnendialog ist hier das Medium der Mitteilung, sondern spezifisch eignet dem Theater, „was nicht dem Ausdruck durch das Wort, durch die Wörter unterworfen ist". 10 Körperliche und stimmliche Präsenz rücken so in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Damit wird auch der tradierte Status von Akteuren und Zuschauem in Frage gestellt bzw. neu definiert. Schauspieler, BROOK spricht in Anspielung auf ARTAUD von geweihten Schauspielern, „dedicated actors", 11 haben nicht mehr literarisch fixierte Rollenvorgaben zu erfüllen, indem sie die Erfahrungen fiktiver Figuren vorspielen, sondern sie haben im Moment der Aufführung oder der Probe selbst eine Erfahrimg auszulösen, zu deren Teilhabe die Zuschauer
7 s 9 10
Hier S. 63. Hier S. 62. Hier S. 49. ANTONIN ARTAUD: Das Theater und sein Double, Frankfurt a.M. 1979, S. 39.
11
BROOK (ANM. 3), S. 53.
T r a n s f o r m a t i o n e n des Religiösen i m zeitgenössischen Theater
267
aufgerufen sind. Dies ist zwar auch im realistischen Theater ein methodisches Mittel von Schauspielern, doch bleiben diese dabei seit dem 18. Jahrhundert strikt an einen dramatischen Text und die tradierten Konventionen mimetischer Repräsentation gebunden. Diese Vorgabe erfährt im 20. Jahrhundert einen entscheidenden Wandel, wenn die Ereignishaftigkeit der Aufführung, die Körperlichkeit der Darsteller und die (Ko-)Präsenz von Akteuren und Zuschauern ins Zentrum szenischer Arbeit rücken. BROOK etwa erkannte Ansätze zum heiligen Theater in den Happenings der 60er Jahre und im modernen Tanztheater; Arbeiten des Tänzers und Choreografen Merce Cunningham bezeichnete er beispielsweise als sakral. 12 In diesen Zusammenhang sind auch jene Ansätze zu stellen, die die Frage nach der Ritualität von Aufführungen aktualisieren, wie in Hermann Nitschs Orgien- und Mysterientheater, den Heilungs- und Opfemtualen von Joseph Beuys oder Marina Abramovic. 13 Diese durchaus heterogenen Tendenzen haben gemein, dass Theater nicht als Ort perfekter Illusion oder Täuschung definiert wird, sondern als Ermöglichungsraum einer außeralltäglichen, transgressiven Erfahrung gilt, die eben nicht repräsentiert, sondern performativ vollzogen wird. Die Aufführung ist die Initiation dieser Erfahrung, die nicht nur die Performer, sondern auch die Zuschauer einbeziehen kann. Mit der Zurückweisung des Repräsentationsanspruchs des bürgerlichen Theaters wird der Begriff der Erfahrung als ästhetische Kategorie relevant. Interessanter Weise gewinnt er zur selben Zeit auch für die religiöse Sphäre an Bedeutimg. In seinem Werk „The Varieties of Religious Experience" („Die Vielfalt religiöser Erfahrimg") von 1901/02 macht WILLIAM JAMES nicht kirchliche Formen und Praktiken zum Gegenstand seiner Betrachtung, sondern „religious feelings and religious impulses". 14 Diese religiösen Gefühle und Antriebe betrachtet er als Spezialfälle menschlicher Erfahrung, als „special cases of kinds of human experience". 15 Religiosität bekundet sich damit nicht notwendig durch die Mitgliedschaft in einer Kirche bzw. das Befolgen von deren Regeln und der Teilhabe an ihren Ritualen, sondern in der individuellen Erfahrung, die Einzelne auch ohne institutionelle Rahmung zu haben vermögen: Religion, whatever it is, is a man's total reaction upon life . . . To get at them you must go behind the foreground of existence and reach down to that curious sense of the whole residual cosmos as an everlasting presence, intimate or alien, terrible or amusing, lovable or odious, which in some degree everyone possesses. 16
12
Hier S. 57 f.
13
Vgl. ERIKA FISCHER-LICHTE: Verwandlung als ästhetische Kategorie. In: Theater seit den 60er Jahren. Hrsg. v o n DERS., Tübingen, Basel 1998, S. 21-91, hier S. 22 f.
14
WILLIAM JAMES: Varieties of Religious Experience, N e w York o. J., S. 4.
15
Hier S. 25.
κ,
Hier S. 35.
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Sowohl die soziale Sphäre des Religiösen als auch die des Ästhetischen zeigen so ein deutliches Interesse für ein außeralltägliches Erleben, das insofern eine transformierende Wirkung auf den Erfahrenden hat, als dass es seine Einstellung zu sich und der Welt wesentlich prägt. Zu markieren ist allerdings der klare Unterschied beider Auffassungen in Hinblick auf den Stellenwert der Gemeinschaft. Während JAMES religiöse Erfahrung in erster Linie als eine Angelegenheit des Einzelnen ansieht, wird im Theater der Avantgarde nach neuen Formen der Sozialität und Publikumsintegration gefragt. Welche Erfahrungen konkret möglich sind, wie diese initiiert werden und welche Konsequenzen dies für Schauspieler und Zuschauer haben kann, soll anhand zweier Beispiele des amerikanischen Avantgardetheaters der 60er und 70er Jahre gezeigt werden. Vorweg ist darauf hinzuweisen, dass der Bezug von Theater und Religiosität im 20. Jahrhundert nicht ausschließlich auf die christliche Religion zu beschränken ist. Das Interesse an interkultureller Arbeit hat auch Zen, Voodoo, I Ching, fernöstliche Meditationsformen, Hinduismus und Buddhismus für das Theater interessant gemacht. Das erste Beispiel beschäftigt sich mit dem Schauspieler als Initiator der Erfahrung. Es dürfte bereits deutlich geworden sein, dass die konventionelle Vorstellung, wonach der Schauspieler in seiner Rolle gleichsam verschwindet, im Theater der Erfahrung nicht gelten kann. Für einen Theateravantgardisten wie Jerzy Grotowski ist der Schauspieler deshalb ein Wunder: „The actor is a human being who has dis/covered and im/covered himself so much that he re/ veals [=unveils] something of man. He is the miracle." 17 Nicht Verhüllen, sondern Offenbaren ist hier die Devise, denn so kann etwas zur Anschauung kommen, was nicht jenseits der Bühne im Alltag sein Original hat, sondern erst in der aktuellen Aufführung sich einstellen mag. Das heißt auch, dass sich etwas zeigt, was nicht durch Schminke, Kostüme oder rollenadäquates Verhalten bedeutet werden kann, sondern, so der Theateranthropologe RICHARD SCHECHNER, in diesem Theater muss der Darsteller den Mut dazu aufbringen, seine Maske abzulegen: „to lay his mask aside and show himself as he is in the extreme situation of the action he is playing." 18 Wie mit dieser als „spiritual nakedness" 19 bezeichneten Haltung gearbeitet wird, hat SCHECHNER selbst als Regisseur mit der 1967 gegründeten Performance Group in New York gezeigt. Entstanden ist so eine Theaterform, die er als Environmental Theater bezeichnet und deren Versuche er in dem gleichnamigen Buch theoretisch reflektiert. Die Interkulturalität dieses Ansatzes gipfelt in der Idee eines gewandelten Subjektmodells, das westlichen Identitätskonzepten insofern widerspricht, als es den neuzeitlichen Dualismus von Körper und Seele zu überwinden sucht. Für den Darsteller bzw. Performer bedeutet dies, dass er sich seines Körpers 17 is 19
Zit. nach: RICHARD SCHECHNER: Environmental Theater. New York 1973 (1994), S. 128. Hier S. 126. Ebd.
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nicht bedienen kann wie einer Sache: „Don't treat the body as a thing. Your body is not your .instrument', your body is you." 20 Vor dem Hintergrund fernöstlicher Religionen wird vom Performer erwartet, durch Singen, Tanzen, Sprechen und Sich-Bewegen in Kontakt „with his own centers" 21 zu gelangen. Denkbar wird so eine Situation, wo Ich-Grenzen („ego-boundaries") 22 sich verlieren oder zumindest weich werden und der Körper des Menschen nicht mit dessen Haut endet, sondern Auren entfaltet, die den Raum erfüllen und den Kontakt untereinander ermöglichen: „Furthermore, the body doesn't end at the skin. The idea that people generate ,auras' of various kinds is true." 23 Grundlage dafür ist ein umfangreiches Körpertraining, das den Charakter von Exerzitien annimmt, denen die Performer quasi mönchisch nachzugehen haben. Die Arbeit des Performers ist eine Lebensaufgabe („a life's work"), 24 sie findet keinen Abschluss und der Performer wird nie zur Vollendung gelangen. Die Offenbarung, die sich im Moment der Aufführung einstellen soll, ist nicht in erster Linie mit einem höheren Bewusstseinszustand gleichzusetzen, sondern das Wunder beginnt tatsächlich am eigenen Popo. Denn SCHECHNER unterscheidet vier Körpersysteme: Eingeweide, Wirbelsäule, Gliedmaßen und Gesicht. Übungen für die Eingeweide sind beispielsweise das Schließmuskeltraining, das Keuchen und das Schlucken. Dabei soll der Performer lernen, die Arbeit seiner Gedärme anzuerkennen: „to acknowledge the workings of his gut - breathing, salivating, swallowing, gurgling, burping, rumbling, farting, excreting". 25 Solche Übungen können zu körperlichen Grenzerfahrungen wie Übelkeit, Schwindelgefühl oder Erbrechen führen: „A common fantasy accompanying the dizziness, falling, and vomiting is that the body will break open and all kinds of horrid things will spill out: shit, vomit, urine, halfdigested food, foul gases, the guts themselves - all the dark secrets of the inside." 26 SCHECHNER beruft sich dabei sogar auf den Ahnherren der abendländischen Poetik, Aristoteles, den er, was die kathartische Reinigung angeht, wörtlich nimmt: „No wonder Aristotle found the effects of tragedy cathartic working directly on the guts." 27 Die Exerzitien, die SCHECHNER beschreibt, sind Übungen für Performer, an denen Zuschauer keinen Anteil haben. Nur indirekt finden diese Praktiken auch Verwendimg in Inszenierungen. Das zweite Beispiel, das ebenfalls diesem Kontext entstammt, wird deshalb die Möglichkeit einer Initiation der Zuschauer untersuchen. 20 21 23 24 25
Hier Hier Ebd. Hier Hier Hier
26 27
Hier S. 137. Hier S. 142.
22
S. 145. S. 128. S. 132. S. 131. S. 134.
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Paradise Now heißt eine Produktion, mit der das Living Theatre 1968 auf Tournee geht. Die Gruppe zählt zu den einflussreichsten freien Theaterensembles der 50er und 60er Jahre. Sie wurde 1951 von dem Maler Julian Beck und der Schauspielerin und Piscator-Schülerin Judith Malina in New York gegründet und arbeitete ab 1963 bis zu ihrer allmählichen Auflösung in den 70er Jahren überwiegend in Europa. Paradise Now wird als spirituelle und politische Reise angekündigt, die tradierte Grenzen von Innen und Außen in Frage stellt: „It is a spiritual and a political voyage. It is an interior and an exterior voyage. It is a voyage for the actors and the spectators." 28 Der Ablauf der Aufführung folgt einem festgelegten Plan. Die Dramaturgie wird als Leiter aufgefasst, die acht Stufen umfasst. Jede Stufe teilt sich in ein Ritual, eine Vision und eine revolutionäre Handlung. Während die Rituale und Visionen von den Performem vollzogen werden, haben an den Aktionen auch die Zuschauer Anteil. Spirituelle Wegmarken sind das I Ching, der Chassidismus in der Lesart MARTIN BUBERS, die Vedische Vorstellung von Chakren und die Kabbalah. Im Folgenden wird Stufe 1 für eine beispielhafte Beschreibung ausgewählt. Diese beginnt mit dem Ritual des Guerilla Theaters. Die Performer betreten den Raum und obwohl es in der Mitte eine Art Spielplateau gibt, um das herum das Publikum gruppiert ist, tauchen sie auch unter den Zuschauern auf, die sie teilweise direkt ansprechen. Die konventionelle Gegenüberstellung bzw. Trennimg von Akteuren und Publikum wird zunehmend obsolet. Die Performer rufen Gebote oder Verbote des Alltags in den Raiun: „I AM NOT ALLOWED TO TRAVEL WITHOUT A PASSPORT."29 „I'M NOT ALLOWED TO SMOKE MARIJUANA." 30 „I'M NOT ALLOWED TO TAKE MY CLOTHES OFF." 31 Einzelne Zuschauer werden adressiert, ohne einen direkten dialogischen Kontakt aufzubauen. Die Äußerimg jedes einzelnen Verbotes mündet in ein kollektives Schreien oder Kreischen der Performer. Schließlich entledigen diese sich eines Großteils ihrer Kleider und agieren bis ziun Ende der Performance fast nackt. Dem Ritual schließt sich die Vision von Tod und Wiederauferstehung des amerikanischen Indianers an. Die Performer bilden einen zeremoniellen Kreis in der Mitte des Raumes und rauchen gemeinsam eine Friedenspfeife. Dann stellen je vier von ihnen Totempfahle dar, die den Zuschauern präsentiert werden und sodann zeigen sie pantomimisch die Erschießung von Menschen, woraufhin alle Performer wie tot zu Boden fallen. Aus dieser Position wird in den dritten Teil, die Aktion, übergeleitet. Am Boden liegend rufen die Perfor-
28 29 30 31
Judith Malina/Julian Beck: Paradise Now. Collective Creation of The Tiving Theatre, New York 1971, S. 5. Hier S. 15. Hier S. 17. Ebd.
Transformationen des Religiösen im zeitgenössischen Theater
271
mer Aufforderungen an das Publikum: „Free theatre. Feel free. You, the public, can choose your role and act it out." 32 Oder: „Act. Find the pain. Feel it. Make the sound of it." 33 Die immer noch am Boden liegenden Akteure beginnen mit den Knien einen Rhythmus zu schlagen, aus dem sich eine Art indianischer Tanz formiert, in den auch Gesänge einstimmen. Immer wieder sprechen die Performer von staatlicher Repression und von der Befreiung durch Revolution („The plot is The Revolution."). 34 Nicht zuletzt weil von Vietnam die Rede ist, steht diese Arbeit im Kontext der gesellschafts- und kapitalismuskritischen Impulse der späten 60er Jahre. Doch in Paradise Now geht es nicht darum, ein utopisches Gesellschaftsideal zu postulieren oder ideologisch zu zementieren (wobei ein ideologischer Überbau in der Arbeit des Living Theatres freilich immer gegenwärtig ist), sondern das Now des Titels wird wörtlich genommen. Hier und jetzt, in und durch die Aufführung, mit und durch Akteure wie Zuschauer soll sich eine quasi paradiesische Veränderung vollziehen: „Make it real. Do it now." 35 Ziel ist es, eine körperlich sich vollziehende Veränderung der Performer und Zuschauer zu bewirken, die diese bereit macht für revolutionäres Handeln. Was in den gut anderthalb Stunden der Performance passiert, ist eine Art Initiation, die das Publikum aufmischt und in erster Linie körperlich vermittelt wird. Nach Tänzen, Schreiorgien und dem Rauchen von Haschisch haben die Performer ihre Kleider abgelegt. Zuschauer starren auf die unbekleideten Leiber, lachen, johlen oder verwickeln sich und die Performer in Gespräche. Das Publikum wird dabei nicht auf die Funktion beschränkt, Zustimmimg oder Gefallen zu signalisieren; vielmehr wird auch Kritik und Ablehnung laut. Aber auch in diesen Fällen werden die Zuschauer zu handelnden Personen, die ihre Rolle tatsächlich selbst wählen, ohne dass diese durch ein Drama vorgeschrieben wäre. So ergeht auch die Forderung, jeder soll einem anderen etwas geben. Zunächst werden nur Handtaschen weitergereicht, doch schließlich kommt auch Körperflüssigkeit zum Austausch. Einzelne Zuschauer erscheinen auf der Spielfläche, ziehen sich aus, werfen die Kleider ins Publikum, tanzen, schreien, streicheln und küssen einander. Diese Beschreibung bezieht sich auf eine Aufzeichnimg der Berliner Aufführung von Paradise Now im Sportpalast 1970. Nicht jeder der ca. 6000 Zuschauer hat derart enthusiastisch teilgenommen, doch kaum einen scheint das Treiben kalt gelassen zu haben. Zeitweise kann man eine Geräuschkulisse vernehmen, die der eines Fußballstadions gleicht. Es kommt zu Diskussionen und Streitigkeiten zwischen Zuschauern oder Performern, bei denen mitunter Aggressionen hochkommen. „Was ist eigentlich eure revolutionäre Botschaft?" 32
Hier S. 23. Ebd. 34 Hier S. 5. 35 Hier S. 63. 33
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will ein Zuschauer wissen und erhält statt einer ideologischen Breitseite zur Antwort: „Wir wollen den Menschen klar machen, dass sie hier sind. Die Revolution hat keine Führer." Indem man dergestalt Widersprüche beim Zuschauer provoziert, kann deutlich werden, dass das System der Unterdrückung nicht nur durch die eingangs proklamierten Alltagsverbote unterstützt wird, sondern auch durch deren Internalisierung bzw. die Selbstzensur der Zuschauer. Die Forderung nach Befreiung soll deshalb für jeden Einzelnen das Initial sein. Die Rede von Freiheit und Revolution war im Theater jener Jahre keine Seltenheit, Repressalien waren nicht notwendig zu befürchten, doch Performer und Zuschauer, die sich tatsächlich in der Aufführung die Freiheit nahmen und diese gewissermaßen am eigenen Leibe zelebrierten, waren ein Skandal. Beim Festival von Avignon, wo Paradise Now 1968 uraufgeführt werden sollte, wurden die Aufführungen von der Festivalleitimg abgesetzt und die Gruppe aufgefordert, lieber ihre Brechtsche Antigone zu geben. Selbstredend lehnte das Living Theatre diese Bevormundung ab, weil, so heißt es voll messianischem Pathos in der Begründung, „wir nicht Gott und dem Mammon gleichzeitig dienen können, weil wir nicht den Menschen und dem Staat gleichzeitig dienen können, weil wir nicht der Freiheit und der Autorität gleichzeitig dienen können, weil man nicht die Wahrheit sagen und gleichzeitig lügen kann, weil wir nicht Antigone spielen können (ein Stück über ein Mädchen, das sich weigert, despotischen Staatsbefehlen zu gehorchen und statt dessen eine heilige Handlung begeht) und gleichzeitig mit der Antigone ein untersagtes Stück ersetzen". 36 Was die Performer während der Aufführung von Paradise Now machen, sind keine spontanen Improvisationen. Die Texte, die einzelnen Aktionen und ihr Ablauf folgen sehr wohl einem Plan, es gibt eine Art Script, das als solches allerdings erst Monate nach der Uraufführung verfasst wurde. Insbesondere die einzelnen Spielszenen haben einen pantomimisch-schauspielerischen Charakter, schließlich werden die Darsteller im Script ausdrücklich als Schauspieler (actors) und nicht als Performer bezeichnet. Dennoch kann sich im Verlauf der Aufführung in der Interaktion mit den Zuschauem etwas ereignen, was nicht planbar oder kalkulierbar ist. Und hierzu kann auch die Peinlichkeit zählen, das Lächerliche und die Kritik oder Ablehnung. Diese Kontingenz der Aufführung hat den zeitgenössischen Rezensenten Schwierigkeiten gemacht. Der Theaterkritiker BOTHO STRAUSS wollte in den sich entkleidenden Zuschauern eher die bewusste Parodie der „nutzlosen, überholten Befreiungsbeschwörungen der Living-Leute" 37 sehen. Angesichts des dokumentierten Mate-
36 LIVING THEATRE: Avignon Statements. In: NOW. Theater der Erfahrung. Hrsg. von JENS HEILMEYER/PEA FRÖHLICH, K ö l n 1 9 7 1 , S. 2 8 6 f.
37 BOTHO STRAUSS: Theater - Revolution - Therapie. In: Theater heute 2 (1970), S. 26-31, hier S. 2 9 .
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rials der Aufführung kann diese Beobachtung nicht überprüft werden, bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang aber, dass STRAUSS schlussfolgert. Paradise Now habe seinem Massenpublikum nicht standgehalten. Die zunehmende Formlosigkeit der Aktionen und die Übernahme der Bühne durch Zuschauer konnte Paradise Now in ästhetischen Misskredit bringen. Dass es im Paradies nicht so ordentlich zugeht wie auf den Bühnen deutscher Stadttheater, wird der Performance als Fehler vorgerechnet. STRAUSS mokiert sich über einen sich formierenden Chor von Zwischenrufem, der schreit: „Wir wollen keine Revolution. Wir wollen Brikett!" 38 Außerdem hält er es für tadelnswert, dass die Stimmen der Performer über keine ausreichende technische Ausbildung verfügen. Für STRAUSS zeigt sich hier „Anarchie als Ereignis". 39 Obwohl diese Formulierung durchaus im Sinne der Intention des Living Theatres gedeutet werden kann, meint STRAUSS es negativ: Die Auffuhrung ginge hier und jetzt in ein „chaotisches seinen eigentlichen Anlaß unter sich begrabendes Massenmeeting von jungen Leuten" 40 über. Paradise Now ist für ihn gescheitert: „Der poetische Augenblick des Anarchismus ist ausgelebt, er bleibt erinnerungswürdig, sonst aber ziemlich folgenlos." 41 Betrachtet man Aufführungen hingegen aus der Perspektive der Performativität wäre zu konstatieren, dass in gewissem Sinne jede Aufführung notwendig scheitert. Man kann nicht vom Gelingen sprechen, wenn nichts bleibt, was gelungen ist. Auch eine Transformation ist kein Zustand, der auf Dauer gestellt oder tatsächlich bewahrt werden könnte. Bei SCHECHNER heißt es diesbezüglich, dass Inspiration ein Kuchen sei, der gegessen werden muss, um bewahrt zu werden. 42 Die an der klassischen Ästhetik ausgerichteten Kriterien, die sich mit Ereignissen ohnehin schwer tun, kennen keinen Raum für Anarchie. In den Äußerungen des Living Theatre ist immer wieder von Gott oder von der Heiligkeit jedes Menschen die Rede. Außerdem verwendet die Gruppe Rituale, die sich an religiöse Praktiken anlehnen, wie die Anbetung, Taufe oder die Prozession. Als Prozession lässt sich auch die Performance Six Public Acts beschreiben, die 1977 in München stattfand. Fünf öffentliche Akte im öffentlichen Raiun durchzuführen ist in der aufgeheizten Atmosphäre jenes Jahres kurz nach der Befreiung der entführten Lufthansamaschine und dem Freitod der RAF-Terroristen in Stammheim - eine Provokation. Die Performance wird erst genehmigt, dann wirkt der einladende Veranstalter auf das Living Theatre ein, freiwillig zu verzichten, dann wird die Aufführung verboten und findet schließlich doch in einem Randbezirk Münchens statt. Die Performer ziehen.
38 Hier S. 28. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Hier S. 31. 42
SCHECHNER ( A n m . 17), S. 1 3 2 .
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von Zuschauern und zufällig anwesenden Passanten begleitet, bestaunt oder beschimpft, durch Mimchen und machen dabei verschiedene Stationen. Eine Station soll kurz beschrieben werden: Vor dem Haus einer Behörde versammeln sich die Performer. In einer kleinen Zeremonie wird das Gebäude auf den Namen „Haus der lächerlichen Macht" 43 getauft. Sodann gehen die Teilnehmer auf die Knie und beten das Gebäude an. Schließlich treten nacheinander einzelne Performer vor, ritzen sich einen Finger blutig, heben die Hand, ,widmen' ihr Blut unterschiedlichen Opfern staatlicher Gewalt, wie den Menschen in der dritten Welt oder Ulrike Meinhof, und zeichnen mit ihrem Blut nach und nach an die Mauer des Hauses das Zeichen für Anarchie. Schließlich nehmen auch einige Zuschauer unter dem Applaus der Umstehenden an der Zeremonie Teil: „Dies ist das Blut der Menschen, die der Staat wegen ihrer Sexualität in den Selbstmord getrieben hat." Die Prozession durch die Stadt kann tatsächlich zum Kreuzweg werden, wenn die Passanten durch das Treiben der Performer aggressiv werden: Die Transformation des Trottoirs zur Bühne ritueller Handlungen weckt Unmut, wobei die schimpfenden Münchner behaupten, eigentlich keine Zeit zu haben und den Performem nahe legen, sich mit Arbeit zu beschäftigen. Die Praxis des Living Theatre und seine theoretische Reflexion machen deutliche Anleihen aus dem Bereich des Religiösen, doch inwiefern kann jenseits metaphorischer Anspielung von einer Transformation des Religiösen die Rede sein? I m A n s c h l u s s an WILLIAM JAMES hat CHARLES TAYLOR eine F o r m des Reli-
giösen in der Gegenwart beschrieben, die er gerade durch die kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der westlichen Welt seit den 60er Jahren radikalisiert sieht. Er spricht von einem „neuen expressivistischen Glaubenssystem", 44 das ohne explizite Anbindimg an kirchliche oder staatliche Ordnungen an die spirituelle Praxis und die individuelle Glaubenserfahrimg des Einzelnen appelliert. Kennzeichen dieser Entwicklung seien die Suche nach einer „authentischen Lebensweise" und „die Zugewandtheit zum eigenen Ich". 45 Dieser expressive Individualismus fragt nach dem spontanen Selbstausdruck des Einzelnen, der dabei (oder dafür) gleichwohl eine Gruppe von Zeugen beanspruchen muss. Solche „Kollektivrituale" 46 , und eine Performance kann das sein, vermögen eine „gemeinsame Stimmung oder Atmosphäre zu erzeugen", 47 die zwischen den einzelnen Akteuren Momente der „Verschmelzung" 4 8 ermöglicht. Verschmelzimg ist damit eine besondere Form gemeinschaftlicher Erfahrung, deren Bedingimg die Auflösimg von Ich-Grenzen ist. 43
Ich beziehe mich auf eine Videoaufzeichnung der Prozession im Archiv des Living Theatre.
44
CHARLES TAYLOR: Die Formen des Religiösen in der Gegenwart. Frankfurt a.M. 2002, S. 85.
45
Hier S. 72.
46
Hier S. 78.
47
Hier S. 77.
48
Hier S. 78.
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Das Stichwort Verschmelzung kann so auch eine Kategorie benennen, welche einen Aspekt der Konstitution des Publikums von Auffuhrung generell zu beschreiben helfen würde. Wenn man davon ausgeht, dass die Teilnehmer einer Aufführung durch deren Vollzug eine Transformation erfahren, gilt es nicht nur die individuellen und intersubjektiven Erfahrungen in den Blick zu nehmen, sondern auch die Möglichkeit einer transsubjektiven Erfahrung zu erörtern. Diese ist genauer so zu beschreiben, dass sie mehr und anderes ist als die Summe der Einzelerfahrungen der Zuschauer. Mit dem Phänomenologen ARON GURWITSCH kann in diesem Fall von Wir-Erlebnissen gesprochen werden. Seine Definition ist zunächst denkbar einfach. Ein Wir-Erlebnis ist ein Erlebnis, dass man allein nicht haben kann: Ihrem Sinne nach verweisen diese Erlebnisse auf ein ,Wir' und bekunden ihre ,Wirzugehörigkeit' darin, daß in ihrem Vollzug die Mitanwesenheit der anderen als dasselbe Erlebnis vollziehend eine ihrer phänomenologischen Eigenschaften darstellt. Ich allein könnte dieses Erlebnis nicht haben. Weil ich es aber habe, vollziehe ich es mit den Anderen, habe sie in seinem Vollzug anwesend, lebe mit ihnen in ihm. 4 9
Wir-Erlebnisse finden vor einem bestimmten Horizont, in einem spezifischen Milieu bei einer konkreten Situation statt. Unter dieser Voraussetzung unterscheidet GURWITSCH drei Dimensionen der mitmenschlichen Begegnungen: Partnerschaft, Zugehörigkeit und Verschmelzung. Wohlgemerkt es geht um unterschiedliche Dimensionen, nicht um unterschiedliche Arten von Wir-Erlebnissen. Theateraufführungen beispielsweise weisen alle drei Dimensionen in unterschiedlicher Gewichtung auf. Angesichts der hier erwähnten Beispiele soll im Folgenden nur auf die dritte Dimension, also die Verschmelzung, eingegangen werden. Für das Zustandekommen der Verschmelzung in einem Bund haben, so GURWITSCH, die „Gefühlserlebnisse [der Teilnehmer] eine konstitutive Bedeutimg". 50 Für GURWITSCH ist die Verschmelzung im emphatischen Sinne ein Ereignis, das eine außerordentliche nicht alltägliche Erfahrung möglich macht. Was im Bund zwischen den Beteiligten passiert, kann eben nicht auf deren einzelne Intentionen zurückgeführt werden, noch ist es lediglich die Summe ihrer Intentionen. Man kann also von einem Phänomen der Emergenz sprechen, wenn man mit ERIKA FLSCHER-LLCHTE darunter „unvorhersehbar und unmotiviert auftauchende Erscheinungen, die zum Teil nachträglich durchaus plausibel erscheinen", 51 verstehen will. Auch für GURWITSCH „bedeutet das Aufflammen des Bundes den Einbruch von etwas Neuem." 5 2 Bei der Frage, was genau dieses Neue ist, das sich im Bund mani-
49
ARON
GURWITSCH:
1 9 7 7 , S.
Die mitmenschlichen Begegnungen in der Milieuwelt, Berlin, New York
41.
50 Hier S. 197. 51 E R I K A F I S C H E R - L I C H T E : Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004, 52
GURWITSCH ( A n m . 4 9 ) , S.
198.
S.
186.
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festiert, bringt GURWITSCH eine Bandbreite von Möglichkeiten in Anschlag: eine Idee, ein Lebensgefühl, ein Gott oder ein Heros. 53 Um den Vollzug von Bünden genauer zu beschreiben, bezieht sich GURWITSCH auf den Begriff des Charismas in der Lesart MAX WEBERS. In seinem Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft" (posthum 1922) hatte WEBER Charisma dafür verantwortlich gemacht, dass einzelne Persönlichkeiten in besonderer Weise Einfluss und Macht auf eine Gesellschaft ausüben können: ,Charisma' soll eine als außeralltäglich [...] geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt] oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ,Führer' gewertet wird. 5 4
Eine Verschmelzung findet insofern zwischen den Beteiligten statt, als „es sich um ein und dieselbe charismatische Macht handelt, die von ihnen Besitz ergriffen hat, und weil jeder in dem Genossen diese Macht spürt, kann man sagen, daß so etwas wie eine .Verschmelzung' zwischen ihnen sich erei^net." 55 In diesem Sinne kann man auch Schauspielern oder Performern charismatische Qualitäten zusprechen, welche ihre Zuschauer in Bann zu schlagen vermögen. D e r u n g e b r o c h e n e G e d a n k e d e s F ü h r e r p r i n z i p s , d e n GURWITSCH v o n WEBER
übernimmt, muss aus heutiger Sicht irritieren und zum Widerspruch aufrufen. Er kann aber auch Gelegenheit bieten, auf einen Aspekt aufmerksam zu machen, der für die hier beschriebene Theaterbewegung auffallend ist. Diese Gruppen verstehen sich ausdrücklich als kollektiv arbeitende Formationen und dennoch haben in ihnen charismatische Persönlichkeiten tragende Funktionen. So betont SCHECHNER immer wieder die Freiheit des einzelnen Performers bei der Arbeit an den eigenen Ängsten und setzt doch einen Regisseur als entscheidende Instanz ein: „I believe in apprenticeship: conscious observation and imitation, seasoned with critical questioning and experimentation." 56 Die Autorität eines Meisters, die ja auch in religiösen Bereichen wie im Chassidismus relevant ist, hat nicht nur für das Living Theatre und Julian Beck eine Bedeutung, sondern auch für Grotowskis Theaterlaboratorium. Das gemeinsame Arbeiten, das häufig auch gemeinsames Leben ist, kann so sektenartigen Charakter annehmen. Die Performances, von denen hier die Rede war, sind historische Beispiele. Wie alle performativen Vorgänge können diese vergangenen Aufführungen nicht wiederholt werden und die in ihnen gemachten Erfahrungen sind nicht aktualisierbar. Ein heutiger Betrachter wird sich auf Beschreibungen, Rezen53
H i e r S. 199.
54
MAX WEBER: W i r t s c h a f t u n d G e s e l l s c h a f t , F r a n k f u r t a . M . 2 0 0 5 , S. 179.
55
GURWITSCH ( A n m . 4 9 ) , S. 203.
56
SCHECHNER ( A n m . 17), S. 128.
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sionen und Dokumentationsmaterial wie Video- bzw. Filmaufzeichnungen zu beziehen haben. Der Blick auf das Geschehen beispielsweise im Berliner Sportpalast 1970 ist so notwendig ein distanzierter, wobei sich eine Art Gretchen-Frage einstellen mag: Wie ernst war es den teilnehmenden Akteuren und insbesondere den Zuschauern mit dem, was sie taten und wie sie sich verhielten? Auf Grund des Videomaterials, programmatischer Texte und zeitgenössischer Rezensionen ist es kaum möglich, sich eine Vorstellung von der Haltung der Teilnehmer zu machen. Hierbei handelt es sich jedoch nicht lediglich urn ein methodisches Problem, sondern, so die These, die Unmöglichkeit in diesen spezifischen Situationen zwischen Ernst und Parodie, zwischen Teilhabe und Distanz, zwischen Ironie und Wahrhaftigkeit zu unterscheiden, ist selbst schon wesentlicher Aspekt einer transgressiven Erfahrimg, die das Denken in binären Oppositionen aufweicht. Um dies gewissermaßen am eigenen Leibe zu illustrieren, soll abschließend ein zeitgenössisches Beispiel erwähnt werden. Ich beziehe mich auf die Arbeiten der charismatischen Nervensäge Christoph Schlingensief. Obwohl ich viele seiner Aufführungen miterlebt habe, bin ich nicht in der Lage über Ironie und Ernsthaftigkeit, über Teilhabe und Distanz meiner eigenen Haltimg eine definitive Auskunft zu geben. Das Beispiel ist die Aktion Passion impossible - 7 Tage Notruf für Deutschland. Eine Bahnhofsmission, die 1997 herauskam. 57 Die Aufführung entstand zwar am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, fand aber überwiegend nicht im Theater statt, sondern in dessen immittelbarer Nachbarschaft in der ehemaligen Polizeiwache 11 nahe des Hauptbahnhofs, wo für die Performance eine Missionsstation eingerichtet wurde. Jeden Abend wurden die Theaterzuschauer von Schlingensief vor dem Theater abgeholt und in die Mission gebracht, in der sich tagsüber schon eine eigenartige Gruppe zusammengefunden hatte, bei der es kaum möglich war, zwischen Teilnehmern und Zuschauern zu unterscheiden: Theaterzuschauer, Obdachlose, Passanten, Mitglieder der Heilsarmee, Schauspieler, Junkies, Medienvertreter und nicht zuletzt Schlingensief selbst, der neben einem Stab von Mitarbeitern auch seine eigene Truppe um sich geschart hatte, die sich zum Großteil aus körperlich und geistig Behinderten zusammensetzt. Der zeitliche Rahmen der Aufführung ist durch den Titel klar gesetzt: die biblische Siebentagewoche. Nur der erste Abend findet im Großen Haus des Theaters statt, mit einer Benefizgala, um zu Spenden aufzurufen. Daran nehmen zahlreiche Prominente teil. Das charity event wird so als moderner Ablasshandel inszeniert. Eröffnet wird die Gala mit dem missionarischen Statement Schlingensiefs: „Es geht wirklich um einen Aufmarsch, urn eine innere Kraft, die ich wecken will, nicht nur in mir, sondern durch die Welt in mir 57
Vgl. Schlingensief! Notruf für Deutschland. Über die Mission, das Theater und die Welt des Christoph Schlingensief. Hrsg. von J U L I A L O C H T E / W I L F R I E D S C H U L Z , Hamburg 1 9 9 8 .
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und dadurch auch wieder in die Welt hinein." 58 Doch wie bei Aktionen von Schlingensief nicht anders zu erwarten, bringt dieser selbst die Dramaturgie derart aus dem Tritt, dass der Abend nach über vier Stunden in Tumult und Auflösimg endet. Prekär wird beispielsweise eine Szene, in der ein völlig zerrupftes lebendes Huhn aus einer Legebatterie in einem Käfig auf die Showbühne gefahren wird und Schlingensief mit einem Beil in der Hand androht, das Tier zu köpfen, wenn nicht sofort 3000 Mark gespendet werden. An den folgenden Tagen gibt es jeden Abend eine Zusammenkunft in der Mission, die mit dem so genannten offenen Mikrophon eine Plattform für unterschiedliche Darbietungen, Mitteilungen und Diskussionen bietet. Tagsüber werden mobile Einsätze durchgeführt, an denen jeder teilnehmen kann, z.B. eine Prozession durch die Einkaufsmeile Hamburgs, die Mönckebergstraße, in der die lautstark vorgetragene Forderung der Teilnehmer „Wir wollen helfen" offenbar derart anarchistisch wirkt, dass sie sofort die Polizei auf den Plan ruft, die den Zug erst dann in den Bannkreis um das Rathaus ziehen lässt, als geklärt ist, dass es sich wirklich um eine Kunstaktion handelt. Der vierte Tag ist ein Sonntag und Schlingensief zelebriert ein Hochamt auf dem Bahnhofsvorplatz mit Speisimg der Fünftausend; später wird ein regulärer katholischer Gottesdienst besucht und dort schließlich die Kanzel übernommen. Der fünfte Tag wird als Luzifertag bezeichnet und Schlingensief gibt die Parole aus, Räume zu überprüfen und sich von Räumen überprüfen zu lassen. Konkret bedeutet dies, man besetzt das Hauptquartier der Scientology Sekte in Hamburg und lässt sich in deren Gebetssaal im Keller ein Video vorführen, das zeigen soll, wie man nach der Lehre der Sekte von Drogen geheilt werden kann. Danach zieht man zum nächsten Raum: dem „World of Sex" im Rotlichtviertel. Man mag an diesen Aufführungen zahlreiche parodistische Elemente finden, doch es kommt auch immer wieder zu Szenen wie dieser in der Kirche: Eine junge unter Drogen stehende Frau tritt an das Mikrophon, singt mit heiserer Stimme einen Popsong und widmet das Lied ihrer kurz zuvor an einem goldenen Schuss umgekommenen Freundin. In diesen Momenten kann durchaus von Formen der Offenbarung die Rede sein, wenn man darunter mit JAMES einen Bericht über die inneren Erlebnisse von Menschen versteht: „a true record of the inner experiences of great-souled persons wrestling with the crisis of their fate". 59 Doch anders als bei JAMES ist nicht die mehr oder weniger eloquente rhetorische Mitteilung von Interesse, sondern offenbart werden hier wie bei vielen anderen „Auftritten" von Obdachlosen und Junkies in der Mission geschundene Körper, mattes Bewusstsein und gebrochene Stimmen, die von einem extremen Lebensweg gezeichnet sind. Diese Mission ist auch ein Ort der Klage, die öffentlich wird. 58
Ich e n t n e h m e das Zitat einer V i d e o a u f z e i c h n u n g der Gala.
59
.TAMES
( A n m .
14),
S.
7.
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Passion und Mission werden bei diesem Projekt durchaus wörtlich verstanden: Der Leidensweg vieler Obdachloser, die während der Abende in der Mission zur Rede kommen, ist nicht ausgedacht, vorgespielt oder inszeniert. Auch die missionarische Hilfe ist keine bloße Show, die Mission spendet tatsächlich Wärme und Verpflegung. Passion impossible brachte Menschen zusammen, die sich im Hamburger Hauptbahnhof tagtäglich begegnen, ohne von einander Kenntnis nehmen zu wollen. Doch die Passion impossible ist auch eine Mission impossible; sie trägt von Anfang an den Stempel des Scheiterns. Die Erfahrimg von Verschmelzung, welche die Kulturschickeria und soziale Randgruppen gehabt haben mögen (und davon ist in den Berichten die Rede), ist auch immer von vielfältigen Distanzierungen, Beschämungen und Peinlichkeiten durchzogen. Die Trennung von Ernst und Ironie mag eine zu rationale Gegenüberstellung sein, um diesen Aspekt von Aufführungen zu begreifen. Transgression kann für die Zuschauer bedeuten, im Moment der Aufführimg keine eindeutige Haltung zu dem Geschehen und zu sich selbst einnehmen zu können. Man weiß nicht, was man von der Sache halten soll und doch ist man ihr integraler Teil. In diesem Sinne wäre Theater auch immer eine Sache des Glaubens.
Register Namen, Orte, Werke Abramovic, Marina 267 Adam de la Halle 103 Aischylos 4 Alexiusspiel 32-34, 37 Alsfeld 67, 104, 202 Alsfelder Kaufmannsrolle 125 Alsfelder Passionsspiel XII, XIII, XIX, 11, 50, 52, 58-61, 67, 80, 85, 87, 90, 93, 95, 119, 124, 201, 202, 205-210, 215, 216 Alsfelder Prozessionsordnung 67 Die alt und die neu £ e ( K l 1 ) 22 Anger 122, 123 Antigone 272 L Aretusa 258 Artaud, Antonin 266 Augsburg 24 Augsburger ostschwäbisches Georgspiel (K 126) 34, 36 Avignon 272
Biel, Gabriel 123 Bletz, Zacharias 13, 125 The Blvssed Sacrament 109, 123 Bocholt 2 4 , 3 0 , 3 1 , 3 7 Bozen 1 3 , 2 4 , 2 7 , 1 0 4 , 1 2 5 Bozner Fronleichnamsspiel 35 Bozener Osterspiel 104 Bozner Osterspiel II 21 Bozner Passionsspiel von a. 1514 siehe: Vigil Raber-Passion Brandenburger Osterspielfragment 104, 110, 120 Brecht, Bertolt 272 Breslau 123 Brian^on 124 Brook, Peter XXI, 264-267 Brown, Dan 95 Die Brüder Karamasoff 199 Buch der Heiligen Dreifaltigkeit 165
Baldemar von Peterweil 119 Bar-le-Duc XV, 127-133, 135-138 Basel 24 Beck, Julian 270, 276 Benediktbeuern 103, 199 Benediktbewer Osterspiel 109, 117 Benediktbeurer Passionsspiel 109, 117 Benediktbewer Weihnachtsspiel 198 Bergamo 229, 245 Berlin 2 6 4 , 2 6 5 , 2 7 1 , 2 7 7 Berliner Alexiusspielfragment siehe: Alexiusspiel Berliner Rheinisches Osterspiel 32, 70, 109, 123 Berliner Thüringisches Osterspielfragment 120, 123, 141 Berliner Weltgerichtsspiel 49 Bern 38 Berthold von Regensburg 117 Berthold 176 Beuys, Joseph 267
Caccini, Giulio 250 Calw 10 Cathomas, Bruno 265 Ceccarelli, Niccolö 237 Celtis, Konrad 37 Cornwall 124 Croxton 123 Cunningham, Merce 267 Cysat, Renward (= Renwart) 189, 195
ι
13, 66, 126,
de'Cavalieri, Emilio XXI, 249, 250, 2 5 3 257 de'Fedeli, Matteo 226, 239 Delft 124 Deventer 24, 25, 27-30, 34, 37, 43, 45 de Wilkowiecko, Mikolaj 126 di Bicci, Neri 226, 238 di Francesco di Ser Cenni, Cenni 243 di Liberatore, Niccolö 226, 240 di Pagolo Morelli, Giovanni 218-223
Fastnachtspiele aus dem 15. Jahrhundert. Hrsg. von A D E L B E R T VON K E L L E R , 3 Bde., Stuttgart 1853 (Bibliothek des litterarischen Vereins 28, 29, 30), Nachlese 1858 (Bibliothek 46), Nachdruck 1965. Nummerierung nach KELLER, abgekürzt K.
Namen, Orte, Werke di Pietro, Giovanni 242 di Tito, Santi 232-234 Li diz de l 'erberie 103 Donaueschinger Passionsspiel XII, 50, 51, 58, 59, 63, 64, 66, 68, 69, 126, 179 Dortmund 18-20, 24, 32, 34, 37, 40, 41, 168 Dostojewski, Fjodor M. 199 Die drei bösen Weiber (K 56) 22 Dulk, Albert 95 Eger 121, 124 Egerer Fronleichnamsspiel 7, 124 Egmond 123 Einsiedeln 192-194 Eisenach 145 Des Entbist Vasnacht 20 Erlau 163 Erlauer Magdalenenspiel XIII, 80, 85, 87, 88, 95 Erlauer Osterspiel 85, 104-106, 121, 184 Erlauer Wächterspiel 85 Erlauer Weihnachtsspiel I 154 Essen 24, 32, 34 Die Eumeniden/ The Eumenides 4, 137 Euriclice 258 Faust 3 1 , 3 7 , 1 9 7 Floichot, Jehan 121 Florenz 2 2 1 , 2 2 9 , 2 3 2 Folz, Hans 22, 23 Foppa, Vincenzo 229, 245 Frankfurt 13, 20, 68, 179 Frankfurter Dirigierrolle XIX, 48, 67, 68, 74,' 119, 206, 210, 214 Frankfurter Osterspielfragment 119 Frankfurter Passionsspiel XII, XIX, 9, 48, 50, 52, 53, 55-59, 63, 65, 66, 74-79, 147, 179, 206, 210, 211, 215, 216 Frau Ava XVII, 180-182 Galenus 252 Die zehn Gebote 265 Die Geburt der Tragödie 266 Geldern 24, 25, 42 Gerona 118, 125 Gescheiterte Teufelskuppelei (K 57) De la goutte en 1 'aine 103 Greban, Arnoul 122, 123 Gregor I. 207 Grotowski, Jerzy 264, 268, 276 Guarinonius, Hippolytus 114,115 Guben 23
21, 22
281
Haller Passionsspiel 125 Hamburg 277-279 Harlem Fragment 124 Hauser, Johann 25, 26, 37 Heidelberger Passionsspiel 59, 78, 85, 184, 206 Helfrich 32, 33 Helmstedt- Wolfenbütteler Theophiliisspiel 31 Herrad von Landsberg 112 Hie hebt sich ain guot Vasnachtspil siehe: Gescheiterte Teufelskuppelei Hie hebt sich ain Spil an von dreien pösen Weihen, die nemen das Vieh vor der Hölle siehe: Die drei bösen Weiber Hippokrates 252 L 'histoire de la gloriense resurrection du seigneur 126 Hortus Deliciariim 112 Ain hiipsch Spil von Sant Jörigen und des Klings von Libia Tochter und wie sie erlöst ward siehe: Augsburger ostschwäbisches Georgsspiel Hültscher, Henrich 125 Hus, Johannes 112 Immessen, Arnold 176 Innsbrucker Thüringisches Fronleichnamsspiel XVI, 139, 149, 153, 162 Innsbrucker Thüringisches Osterspiel 104, 117, 120, 141, 148. 150, 153, 157, 160, 161, 163 Innsbrucker Thüringisches Spiel von Mariae Himmelfahrt 148, 149, 163 Jacobus de Voragine 85, 86, 92 John von Beverly (= Ioannes Beverlacensis) 145 Die Juden und der Antichrist (K 20) 22 Li jus Adan ou de la Feuiüee 103 Lo Jutgamen General 126 Kaiser Constantinus (K 106) 22, 23 Kircher, Athanasius XX, 251, 252, 255, 256 Klosterneuburger Osterspiel 117 Kock, Reimar 29 Kolmar 24, 34, 37 Krakau 126
282
Register
Landi, Stefano XXI, 249, 250, 256, 257, 261, 262 Leben Jesu XVII, 180-182 Legenda Aurea 85, 86, 92 Lille 134 Limoges 109-111, 116, 117 Linz 37 Living Theatre 264, 270-276 Loocke, Johann 23, 29 Lübeck 29 Lübener Osterspiel-Fragment 122 Ludus Dianae 37 Ludus pasee, Codex Clementinum 125 Ludus paschcili. Tours 109, 117 Ludus pasealis Vigil Raber siehe: Tiroler Osterspiel Luther, Martin 23, 30, 79, 81, 112, 179, 198 Lüttich 152, 153 Luzern 10, 13, 65, 66, 68, 72, 74, 75, 79, 191, 197 Luzerner Osterspiel siehe: Luzerner Passionsspiel Luzerner Passionsspiel XII, 9, 65-68, 70, 72, 75, 76, 79, 125, 126, 179, 189, 191, 194, 195, 197, 198 Magdeburg 29 Mainz 32, 33, 123 Malina, Judith 270 Mantua 251 Manuel, Nildaus 18, 38 Marthaler, Christoph 265 Masaccio 229, 246 Melker Osterspielfragment 121 Mercade, Eustache 121 Mercatoris, Nicolaus 22 Metz 127, 130, 133, 146, 174 Michel, Jehan 123, 124 Un miracle de Nostre Dame, d'un enfant qui fu dotwe au diable 130 Miracle de Theophile XI, 103 Miracle of the Child Given to the Devil siehe: Un miracle cle Nostre Dame Vno miracolo del la nostra Donna: cioe lara presentatione di Stella 122 Le Mistere de la Sainte Hostie 134 Monaco, Lorenzo 224, 226, 229, 235, 236, 238 Monclseer Susannaspiel 25, 26, 30, 37 Monteverdi, Claudio 250, 251, 257, 258 Moraliti nouvelle d'ung empereur 135 Mülheim 31 Münchner Osterspiel 176, 177, 182
Musurgia Universalis 251, 252 Le Mystere de la Passion (Greban) 122 Le Mystere cle la Passion (Michel) 123 Mystere cle la Resurrection de Notre Seigneur Jesus-Christ 124 Le Mvstere de Saint Antoine de Viennois 124 Mystere des Vierges sages et des Vierges folles siehe: Le Sponsus Le Mystere Provengal de la Passion 119 Neustift 148, 162, 164, 166 A new enterlucle [...] of the life and repentaunce of Marie Magdalene 125 New York 168,270 Nietzsche, Friedrich 80, 266 Nitsch, Hermann 267 Nürnberg 20-24, 26, 29, 30, 32, 36 Odo von Cluny 85 Ordinarium Sedunense 193 Die Orestie 4 Orfeo 251 Origny 109, 118 Osterspiel von Muri 106, 109, 117, 191, 197 Paderborn 33 Paleotti, Gabriele 233, 234 Vom Papst und seiner Priesterschaft 38 Paradise Now 264, 270-273 Paris 105, 119, 121, 122, 127 Passion dArras 121 Passion de Semur 109, 121 Passion .Dicht' siehe: Le Mystere Provenqal de la Passion La Passion du Palatinus 118 Passion Impossible - 7 Tage Notru f für Deutschland 164, 177, 179 La Passion Nostre Seigneur 121 Passione e resurrezione del Colosseo 119 Peri, Jacopo 258 Pfäferser Passionsspielfragment 109, 110, " 119 Pfarrkirchers Passion 8, 9, 102, 108, 123 Philippe de Vigneulles 127, 128, 133-135 Plato 131 Prag 103, 112, 118, 120 Pulci, Antonia 124 Quarante
Miracles de la Vierge
119
283
Namen, Orte, Werke Rabelais, Francois 112 Raber, Vigil 13, 27, 28, 37, 39, 44, 106108, 125 Rappresentatione di Anima et di Corpo XXI, 249, 250, 253-255, 257, 260 La rappresentazione del re superbo 122 La rappresentazione dell'ortolano elemosiniere 122 La rappresentazione delta Conversione di Santa Maria Maddalena 122 La rappresentazione di Santa Guglielma 124 Rebhun, Paul 26 Redentiner Osterspiel 10, 49, 178, 179 Regularis concordia 190 De Republiea/The Republic 131 Resurrection 122 Ricordi 218 Riga 38 Rom XX, XXI, 32, 130, 194, 249-251, 253, 257 Rorbach, Job 77 Rosenplüt, Hans 20, 32, 36 Rospigliosi, Giulio (= Clemens IX) 256, 257 Rutebeuf 103, 115 Sachs, Hans 29, 30, 37 Saint Avolz (= Saint Avoid) 133 Salat, Hans 13, 125 Salzburg 24, 25 San Tommaso 122 Sankt Gallen 1 1 9 , 1 9 4 , 1 9 7 Sankt Galler Mittelrheinisches Passionsspiel 46, 78 Sankt Galler Weihnachtsspiel 194, 197199 II Sunt' Alessio XXI, 249, 250, 256, 257, 261, 262 Savonarola, Girolamo 227, 241 Schechner, Richard 6, 264, 268, 269, 273, 276 Schernberg, Dietrich 30, 33 Schlägl-Drkolnä Mastickäf 120 Schlingensief, Christoph 264, 277, 278 Seckau 117 Septem midieres. Sieben Frauen und ein Mann (K 122) 22 Sermo Contra Judaeiis. Paganos et Avianos 153 Siena 227, 228 Sitten 193, 194 Six Public Acts 264, 273 Solingen 31
Spaun, Klaus 34 Spiel vom Sündenfall 176 Spiel von Frau Jutten 30, 33, 34 Ein Spil von dem Herzogen von Burgund siehe: Die Juden und der Antichrist Le Sponsus 102,104,109,110,117 Sterzing 13, 39, 44, 123, 125 Sterzinger Passion siehe: Pfarrkirchers Passion Stockholmer Theophilusspiel 31 Sündenfall und Erlösung 177 Terni 226, 227, 240, 242 The Da Vinci Code 95 Thomas von Aquin 94, 156-158, 232-234, 247, 248 Tiroler David- und Goliath-Spiel 27, 28, 37, 44 Tiroler (Großes) Neidhartspiel 21 Tiroler Osterspiel 21, 22, 108, 125 Tiroler Zweiständespiel 39 Tisi, Benvenuto 247 Toulouse 226, 238 Tractate clivoto & tutto spirituale [...] ad instructione, conformatione & consolatione clelle anime cleuote 227, 241 Tractatus de precatione Dei 112 Trierer Osterspiel 178 Trierer Theophilusspiel 31, 32 Tuotilo von St. Gallen 192 Des Turcken vasnachtspil (K 39) 36 Uerdingen
31
Valle, Pietro della 253, 254 Vanni, Francesco 234, 248 Vanni, Raffaelo 228, 232, 244 Vastelauendes Spil von dem Dode vnde van dem Leuende 22 Vazelle 133 Venlo 24, 25 Vieh 110, 111, 116, 117 Vigil Raber-Passion 106-108, 125 Villinger Passionsspiel 109, 126 Villon, Francois 112 Viol de Dina 134 Vitali, Filippo 258 Voith, Valten 29, 79 Volkmarsen 24, 29 Volterra 2 2 8 , 2 4 3 Von Kinig davicl vnd goliam siehe: Tiroler David- und
Goliath-Spiel
284
Register
Wager, Lewis 125 Waldis, Burkard 38, 39 Wesel 24 Westhoff, Dietrich 18, 19, 34 Wien 117 Wiener Osterspiel 123, 141 Wiener Passionsspielfragment 109, 118 Wiener RubinroUe 122 Wienhäuser Osterspielfragment 78, 183, 184 Willehalm 33 Windsheim 24, 29
Wolfenbütteler Ost erspiel 104, 121 Wolfram von Eschenbach 33 Xanten
20
Zeitglöcklein 176 Zürich 20 Zurzack 13 Die zwen Stenndt siehe: Tiroler Zweiständespiel Zwickau 38 Ζ wolle 24, 34, 38
Sachen Abendmahl 52, 55, 70, 75, 79, 150, 156, 159 Ablass 10, 67, 277 Absenz XIV XX, 152, 161, 228 Affekt, affect XII, XVII, XX, XXI, 72, 74, 79, 220, 249-259 Allegorie 34, 53, 160, 174, 175, 254, 256 Andacht XVII, XXI, 9, 16, 69, 74, 167, 176, 180, 183, 207, 209, 223, 225, 227, 232, 241, 253, 254, 259, 264 Antijudaismus, Antisemitismus 22, 54, 74, 76, 77, 93, 94, 211 Antiphon 155-157, 176, 182, 190, 209 Archetyp 111,203 Artusroman 62 Ästhetik VII, 46, 140, 250, 273 Atmosphäre 60, 115, 259, 273, 274 Auferstehung (s.a. resurrection) XVIII, 15, 51, 77, 78, 93, 146, 156, 160, 163, 178, 191, 192, 195-197, 270 Aura 50, 93, 95, 139, 159, 168, 226, 269 Authentisierung XX, 129, 133, 224, 228 Autorisierung XVIII, 152, 182, 191, 192, 197, 199, 202, 207, 212, 214, 215 Autorität XVIII, 19, 65, 67, 141, 144, 154, 182, 190, 191, 193, 195, 196, 199, 200, 214, 224, 272, 276 Autor XI, 23, 36, 74, 95, 146, 183, 198, 258 Autorschaft 20, 257 Avantgarde XXI, 6, 268 Bildandacht 220, 221, 223 Bühnenanweisungen XIV 201
Charisma 276, 277 Christmas (s.a. Weihnacht) 189 Chronik XV 19, 23, 29, 34, 38, 127, 130, 218 Commedia dell'Arte XV 6, 99-101, 114, 116 Commemoratio 152, 159, 161 Communitas 14, 15, 178, 179 Compassio 35, 69, 70, 78, 225 Composition (s.a. Komposition) 218, 250 Corpus Christi (s.a. Fronleichnam) 151, 153, 156-159, 162 Costume (s.a. Kostüm) 104, 128, 130, 133, 135, 137 Crucifixion (s.a. Kreuzigung) 63, 101 Descensus (s.a. Höllenfahrt) 153, 163 Devil, diabolic (s.a. Teufel) 18, 111, 112, 117, 127, 128, 130-137 Devotion, devotion XVI, 63, 143, 161, 207, 222, 249, 254, 257 Dialogliteratur 173 Didaxe, didaktisch, didactic XIII, XIX, 15, 49, 87, 112, 114-116, 144, 189, 207, 217 Dramenstruktur XVII, 173, 180, 183, 184 Easter (s.a. Ostern) 18, 101, 102, 104, 106, 108-114, 118, 189 Elevati ο crucis 191, 192 Emergenz XXII, 275 Emotion VII, IX, XVII, XVIII, 5, 49, 71, 73, 74, 77, 79, 142, 171, 177, 190, 199, 207-209, 215, 220 Epik XVII, 139, 174, 180, 181
285
Sachen Erinnerung (s.a. memory) XVI, XIX, 72, 74, 90, 140, 141, 143, 159, 177, 207, 219, 273 Eschatologie 78, 226 Ethik, Ethics 128, 129, 131, 133, 138 Eucharistie Χ, XVI, 8, 71, 150-152, 156, 159, 162, 164-167, 174, 197 Fastnachtspiel XI, 18-30, 32, 35-39 Feier XVIII, 8, 13, 25, 152, 155-157, 159, 162, 164, 171, 174-177, 179-182, 189, 190, 192-194, 221, 223, 257, 259 Fest VIII, IX, XI, 3, 6, 12-17, 24, 25, 28, 30, 34, 37, 112, 113, 141, 143, 150, 152, 153, 155, 156, 159, 162, 163, 193, 194, 197, 259, 272 Fiktion XX, 62, 64, 170, 172, 225, 2 2 8 231 Film VII, 277 Frömmigkeit VII-IX, XIX, 32, 69, 74, 79, 142, 151, 152, 159, 166, 173, 174, 177, 180, 185, 208, 223 Fronleichnam (s. a. Corpus Christi) XVI, 12, 150, 152, 156, 159, 167 Gedächtnis (s.a. memory) 65, 72, 73, 140, 178, 190 Gefühl XX, 14, 276 Gegenreformation XXI, 14, 276 Gegenwärtigkeit 54, 139, 140, 144, 149, 151, 154, 157, 159, 160, 178, 271 Geheimnis XVII, 99, 189-191, 193-196, 199, 200, 231, 269 Gemeinschaft IX, XVI, XVII, 7, 12, 1417, 74, 76, 95, 139, 140, 144, 152, 154, 155, 160, 161, 168, 170, 172, 175, 177180, 182, 222, 268, 274 Gencler, Geschlecht X, 88, 95, 101, 109, 115, 145 Gesang 10, 155, 156, 161, 176-178, 182, 190, 193, 209, 220, 221, 223, 251, 254, 255, 257 Geste 7, 91, 104, 142, 146, 161, 182, 218 Gewalt 4, 14-16, 63, 65, 69, 73-76, 88, 89, 94, 95, 131, 213, 257, 274 Hagiographie 228 Heilige IX, XII, XVIII, XIX, XXI, XXII, 4, 62, 87, 201-210, 212-217, 233, 234, 249, 253, 259 Heilsgeschichte XVI, 47, 48, 51, 52, 54, 61, 74, 83, 84, 86, 91, 95, 142, 144, 153155, 160, 161, 163, 166, 180, 183, 201, 230
Hermeneutik 150 Höllenfahrt (s.a. descensus) 51, 198, 199, 209 Humanistendrama 37 Humoralpathologie XX, 252 Identität Χ, XIX, 14, 15, 74, 140, 183, 202, 205, 206, 210, 211-213, 215, 216, 223, 268 Ikonographie 4 8 , 5 2 , 7 9 , 2 1 9 , 2 3 3 Imaginäres XV, XIX, 87, 136, 149, 166, 170, 203, 218, 220, 221, 234, 264 Imagination XII, XVIII, XX, 65, 72, 74, 134, 135, 137, 144, 151, 170, 172, 178, 205, 207, 218, 219, 222-225, 228, 232, 233 Immanenz XVI, XVII, 140, 143, 166, 265 Improvisation XV, XXI, 6, 8, 99, 100, 105, 106, 116, 123, 272 Inkarnation, incarnation XVIII, 189, 192, 202, 206, 216 Jüngstes Gericht
77, 154, 160, 197
Katharsis XI, 6, 14, 16, 269 Kerygma 3, 65, 75, 76, 142 Kirchenjahr 28, 155, 156 Kirchenlehrer 65, 70, 71, 72, 74, 76, 79 Komposition (s.a. composition) 250, 253, 255, 257 Kontemplation 234, 264 Kopräsenz XVII, 249 Kostüm (s.a. costume) XV 12, 65, 127, 146, 201, 268 Kreuzigung XIX, 4, 7, 11, 65, 70, 75, 86, 154, 219, 223, 226, 227, 229, 230, 232, 233, 237-239, 242, 243 Kult VII-IX, XII, 4, 10, 50, 77-79, 142, 151, 170, 179 Latein 11, 13, 26, 29, 33, 37, 50, 60, 164167, 177, 182, 254 Legende VII, XI, 24, 31, 32, 34, 48, 85, 204 Lektüre XVIII, 34, 143, 144, 148, 169, 170, 172, 175, 176, 178, 179, 183 Lesedrama 78, 170, 173, 176, 177 Lesehandschrift 36, 170, 176, 177 Lesetext 26, 31, 148, 173, 176, 177, 197, 198 Liminalität XI, 14, 15 Liturgie VIII, XII, XVI, 46, 52, 54, 55, 142, 143, 150, 152, 154, 156, 159, 163, 167, 174, 178, 197, 203, 222, 227, 259
286
Register
Magie 24, 165, 166, 192, 193, 266 Malerei XIX, 146, 231, 232 Materialität XVI, XVII, 139, 147, 159, 162, 215, 216, 219, 222, 228, 229 Medium, Medialität VIII, IX, XV, XVI, XIX, 18, 37-39, 127, 129, 140, 141, 146, 166, 168, 171-174, 176, 182, 184, 185, 202, 203, 206, 214, 219-222, 224, 228, 230, 231, 233, 266 Memoria XVI, 15, 139, 140, 144, 149, 151, 163, 168, 207 Memorv (s.a. Gedächtnis, Erinnerung) 63, 139 ' Messallegorese 174 Messe 79, 151, 153, 155, 156, 159, 166, 171, 175, 193 Mimesis, mimetisch XII, XVI, XXI, 46, 50, 51, 53, 59, 63-65, 74, 77, 79, 135, 143, 145, 150, 157, 158, 160, 161, 171, 174-177, 180, 229, 231-233, 267 Miracle (s.a. Wunder) 99, 100, 109, 131, 211, 268 Mirakel (s.a. Wunder) XI, 31, 145, 146, 151 Mitleid XVII, 23, 75, 219, 226, 252, 255, 256, 258 Moralität 22, 36, 128, 129, 134, 135 Moriskentanz XI, 28, 37 Musik XX, XXI, 12, 34, 140, 162, 172, 174, 176, 177, 182, 249-257, 259 Mystik 151, 233 Mythos, mythisch, mvth XVII, 3, 4, 8, 15, 74-76, 92, 111, 129, 142, 171, 180, 209, 259 Narration, narrativ, narrative XVII, XIX, 48, 49, 62, 100, 109, 130, 144, 165, 173, 174, 177, 180-183, 204 Neidhartspiel 21 Notation 255 Noten 88, 145, 149, 255, 156, 158, 260, 261 Oper, opera XX, XXI, 249, 250, 253-259 Oralität VII, 102, 103, 115, 116 Oratorium 175, 224 Ostern (s.a. Easter) XIV, XVII, XVIII, 3, 12, 20, 23, 25, 47, 68, 70, 112, 155-157, 171, 174, 175, 179-183, 190, 191, 194, 196, 197, 200, 202 Ostertropus (s.a. quem quaeritis) 47, 190 paraliturgisch 67, 174, 178, 227 Partitur 147, 177, 190, 254, 258
Partizipation X, 5, 6, 74, 140, 168 Passion, passion Χ, XII, 23, 51, 63, 69, 70-72, 74-76, 79, 93, 101, 103, 106, 108, 114, 118, 119, 121-123, 125, 146, 153, 156, 160, 171, 194, 197, 205, 206, 210, 215, 264, 277, 279 Perception (s.a. Wahrnehmung) 249 Performance record (s.a. Zeugnis) 18 Pfingsten 20, 23, 155, 156 Polyperspektivik, polvfocal XII, 57, 61, 218 Proklamator, Precursor XII, 63-70, 75-79, 207-210 Prophetenspiel 1 5 3 , 2 1 0 , 2 1 1 , 2 1 5 Prozession IX, 33, 34, 67, 142, 153, 273, 274, 278 Quem quaeritis (s.a. Ostertropus) 58
46, 47,
Rape 128, 129, 132, 134, 135, 137, 138 Realpräsenz X, 8, 152, 157 Reformation, reformation 18, 26, 30, 38, 39, 79 Regieanweisung 20, 26, 30, 32, 35, 38, 56, 63, 149, 157, 163, 177, 190, 189, 191, 195, 198, 202 Reliquie 166, 167, 226 Resurrection (s.a. Auferstehung) 106, 113, 189 Rezeption, Rezipient XVII, 3, 47-49, 144, 148, 180, 181, 205, 207, 222 Rezitation 220-222 Rhetorik, rhetorisch, rhetoric 48, 61, 65, 73, 115, 116, 218, 219, 255, 278 Risus paschalis 83, 113 Ritual IX-XI, 3-8, 10-12, 14, 16, 17, 46, 49-52, 55, 64, 68, 74, 75, 78, 79, 93, 95, 113, 142, 169, 172, 178, 179, 193, 219, 222, 227, 267, 270, 273, 274 Rollenspiel XIX, 79, 201, 203-205, 209, 212, 215, 217, 225 Sakrament X, 10, 35, 68, 69, 150-152, 157, 160, 163, 164, 171, 203, 212, 225, 231 Schuldrama 29, 37 Seelenfang 21 Selbstreferentialität, selbstreferentiell XIX, 59, 205, 217 Semiotik, semiotisch, Semiotizität XVI, 141, 147, 169, 173, 174, 180, 189, 204, 265
287
Sachen Sexualität, sexualit\> 84, 85, 87, 88, 95, 108, 111, 128, 130, 132, 134, 274 Simultanbühne 35, 55, 195, 196, 198 Simultaneität XII, XIX, 46-57, 61, 62, 144, 205, 206, 211 Sprechakt, Sprechakttheorie XVI, 147, 166, 195, 216 Stimme 177, 202, 214, 216, 250, 251, 255, 228, 273, 278 Tafelbild 219, 220, 224 Tanz XI, 12, 22, 23, 25-30, 37, 84, 86-89, 95, 199, 209, 257, 267, 269, 271 Temperamentenlehre XX, 252 Teufel (s.a. devil) XV, 19, 21, 22, 20, 31, 33, 35, 37, 56, 57, 78, 84-88, 91, 95, 127, 198, 200, 206, 209, 210, 256 Theaterfeindlichkeit 265 Theaterhistoriographie 249 Theologie, theologν XIII, 3, 60, 61, 75, 81, 82, 114, 131, 141-143, 159, 167, 177, 223, 225, 230-232, 234 Topik 222, 228, 233, 249 Transsubstantiation XVI, XXII, 150, 152, 153, 159, 163, 165, 275 Transzendenz XVI, XVII, XXI, 140, 142, 143, 147, 152, 160, 166, 168, 202, 204, 231, 265 Typologie 78, 155, 158, 170, 228, 231 Unmittelbarkeit XV 9, 16, 48, 54, 60, 63, 68, 127, 144, 157, 181, 207, 214, 215, 226, 227 Unverfügbarkeit 57, 62, 204, 258
Vergegenwärtigung Χ, XVII, 8, 15, 17, 51, 55, 142, 143, 146, 151, 154, 171, 180, 182, 207, 222, 231 Verkörperung XV, XVI, XIX, 90, 94, 127, 144, 151, 152, 155, 157, 162, 166, 180, 202, 204, 205, 214, 222, 259 Virtualität, virtiialitv XV 127, 129-132, 136-138, 233 Vision, vision 69, 151, 152, 171, 215, 218, 221, 222, 228, 232-234, 247, 248, 270 Visitatio sepulchri XVI, 100, 101, 109111, 116, 174, 191 Visualisierung, visuell XX, 48, 65, 100, 104, 109, 112, 140, 144, 170, 180, 181, 219, 221, 224, 227, 229-231, 233, 256 Vorhang 190, 195, 234
Wagenbühne 29, 36 Wahrnehmung (s. a .perception) XVII, XIX, XX, 75, 144, 171, 174, 181-183, 205-207, 210, 213, 215, 216, 255, 258, 259 Weihnacht (s.a. Christmas) XVIII, 12, 24, 156, 190-194, 196, 197, 199 Weihnachtstropus 192 Wunder (s. a. miracle, Mirakel) XIV XVIII, 10, 19, 34, 35, 51, 146, 159, 189196, 198-200, 209, 228, 232, 259, 268, 269 Zeugnis (s.a. performance 25, 31, 36, 170
record)
21, 2 3 -